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Handbuch Innovationsmanagement

0717
2013
978-3-7398-0371-5
978-3-8676-4421-1
UVK Verlag 
Wilhelm Schmeisser
Dieter Krimphove
Claudia Hentschel
Matthias Hartmann

Das Buch erleichtert den Einstieg und beleuchtet das Innovationsmanagement aus unterschiedlichen Perspektiven: - Forschung und Entwicklungsmanagement und wissensbasiertes Humankapitalbewertungsmodell - Ideenmanagement und personalwirtschaftlich-organisatorische Rahmenbedingungen - Innovationsprozess im Rahmen des industriellen Managements - Innovationsmarketing - Innovationserfolgsrechnung im Rahmen des Entrepreneurial Finance Es bietet Wissen in kompakter Form und in verständlicher Sprache - anhand unterschiedlicher Denkschulen und deren Methoden und Verfahren. Es unterstützt den Leser bei der eigenständige Einordnung und Beurteilung innovativer Probleme und Strategien. Mit ihrem Fachbuch helfen die Autoren, den Inhalt von aufbauenden Spezialveranstaltungen des Innovations- und Technologiemanagements und der Industriebetriebswirtschaftslehre in den Gesamtzusammenhang der Betriebswirtschaftslehre zu stellen.

<?page no="1"?> Wir widmen dieses Buch Herrn Univ.-Prof. Dr. Werner Pfeiffer ... als deutschem Nestor des Innovations- und Technologie- Managements in der Betriebswirtschaft … zum 80. Geburtstag <?page no="2"?> Wilhelm Schmeisser, Dieter Krimphove, Claudia Hentschel, Matthias Hartmann Handbuch Innovationsmanagement mit weiteren Beiträgen von Reinhard Hünerberg, Bernhard Irrgang, Ulrich Moser, Peter Mühlemeyer, Norbert Thom sowie unter Mitarbeit von Kristin Kirchhoff, Martin Schuster, Christian Jancke, Susanna Ripp, Lydia Clausen, Alexa Hellweg, Edith Teschner, Anja Dittmann UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-86764-421-1 (Print) ISBN 978-3-7398-0371-5 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2013 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> www.uvk-lucius.de/ innovation Vorwort Das Innovationsmanagement führt die allerwichtigste Aufgabe eines Strategischen Managements und des Topmanagements in einer Industrieunternehmung durch. Dahinter steht zumindest die mittelfristige Hoffnung der Unternehmensleitung, dass z.B. im Forschungs- und Entwicklungsbereich genügend Wissen kreiert werden kann, um ausreichende Patente, Erfindungen und erste Prototypen von Artefakten oder Software zu entwickeln, um Innovationen und Prozessinnovationen in der Produktion und im Marketing zu implementieren. Innovationen sind die Umsatz- und EBIT/ Cashflow-Garanten für Wachstum und Arbeitsplätze. Dies gilt natürlich nicht nur für das Unternehmen, sondern für eine exportorientierte Nation, wie die Bundesrepublik Deutschland im Besonderen, die mit dem Maschinenbau, Automobilbau, der Chemie usw. unseren Wohlstand sichert. Das Innovationsmanagement hat in den letzten 70 Jahren einen „Siegeszug“ im Bewusstsein der Menschen und in der globalen Wirtschaft gehalten, beispielsweise in der Raumfahrt. Dabei diskutierten die Wissenschaft und die Science-Fiction- Literatur die permanente Frage, wie die technische Entwicklung aussehen wird und welcher nächste technische Schritt bzw. welche Erfindung diesen Technologiewettbewerb antreiben könnte. Hinzu kam die Technologiefolgenabschätzung z.B. von Kernkraftwerken, die die Chancen und Risiken der wirtschaftlichen sowie die ökologischen und gesellschaftlichen Folgen technischer Neuerungen untersuchen soll. Spätestens seit der Ablösung der mechanischen Uhr durch die Quarzuhr in den 1960er/ 1970er Jahren wird auf Anregung von Ansoff über Schwache Signale im Strategischen Management diskutiert und die methodische Suche nach Innovationen mit Hilfe von „Strategischen Suchfeldern“ von Müller-Stewens in der Betriebswirtschaftslehre systematisch analysiert. Man könnte auch praktisch argumentieren, dass Unternehmen und ganze Branchen technische Entwicklungen verschlafen haben, wie beim Handy zur Fotofunktion und zum Smartphone oder in der Solar- und in der IT-Branche. Damit gefährden die Unternehmen sich selbst und die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass seit den 1980er Jahren die deutsche Betriebswirtschaftslehre die Forschung und Entwicklung bzw. das Innovationsmanagement als eigene betriebswirtschaftliche Funktion in die akademische Lehre an Universitäten und (Fach-)Hochschulen eingeführt hat. Die betriebswirtschaftliche Innovationsforschung ist jedoch mindestens seit den 1960er/ 1970er Jahren in betriebswirtschaftlichen Fächern vertreten. Die Habilitation von Werner Pfeiffer 1971, die „Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung“, und das Technologieportfolio in den 1980er Jahren sind erste Meilensteine der Innovationsforschung. Das Buch von Jürgen Hauschildt „Innovationsmanagement“ (1993) hat im deutschsprachigen Raum sicherlich Maßstäbe gesetzt. Da aber seit 30 Jahren sich die Innovationsforschung und Lehre in den betriebswirtschaftlichen Funktionen sehr stark auseinanderentwickelt haben, vertreten die Verfasser/ innen des Handbuches Innovationsmanagement die Ansicht, dass es wieder einmal Zeit wird, ein Überblickswerk zum „State of the Art“ des <?page no="5"?> 6 Vorwort www.uvk-lucius.de/ innovation Innovationsmanagements zu schreiben, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu stellen. 1 Wir widmen dieses Buch Herrn Prof. Dr. Werner Pfeiffer zum 80. Geburtstag und Herrn Prof. Dr. Günter Müller-Stewens nachträglich zum 60. Geburtstag, auf deren wissenschaftliche Vorarbeiten wir in diesem Buch zurückgreifen. Herrn Dr. Jürgen Schechler von der UVK Verlagsgesellschaft danken wir für die erneut gute Zusammenarbeit. Die Verfasser/ innen Berlin/ Bern/ Dresden/ Erfurt/ Kassel/ Nürnberg/ Paderborn/ Worms 2013 Benutzerhinweise Zu diesem Buch stellen Verlag und Autoren zusätzliche Services unter www.uvk-lucius.de/ innovation bereit: Antworten zu Fragen an den Kapitelenden Gesamtliteraturverzeichnis Glossar mit 200 Begriffserklärungen Die Glossarbegriffe können allerdings auch bequem mittels QR-Code und internetfähigem Handy aufgerufen werden. Die Codes am Seitenrand beziehen sich auf die Begriffe im Text, die mit einem Pfeil markiert sind. 1 Zur Ergänzung des Buches „Handbuch Innovationsmanagement“ werden deutsch- und englischsprachige E-Books zu den Themen Innovationstheorien und Innovationskultur veröffentlicht. Näheres unter www.uvk-lucius.de/ innovation. <?page no="6"?> www.uvk-lucius.de/ innovation Inhaltsübersicht Teil I. Grundsätzliches, Technikphilosophie und Gewerblicher Rechtschutz ......... 15 1 Prof. Dr. habil. Wilhelm Schmeisser Terminologische Grundlagen zum Innovationsmanagement sowie zu den Innovationstheorien ............................................................................................................. 17 2 Prof. Dr. phil. habil. Dr. theol. Bernhard Irrgang Technikphilosophie, technisch-ökonomische Entwicklungspfade, permanente Innovation und Technik als Macht..................................................................................... 53 3 Univ.-Prof. Dr. Dieter Krimphove Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen (zur „Essential Facility“-Doktrin im US-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht) .................................................................................................................................... 75 4 Univ.-Prof. Dr. Dieter Krimphove Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovationen ............................................... 105 Teil II. Erfindungslehre und Ideenmanagement .................................................... 159 5 Prof. Dr.-Ing. Claudia Hentschel Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation .............................................. 161 6 Prof. Dr. Prof. h. c. Dr. h. c. mult. Norbert Thom, Emeritus Vom Betrieblichen Vorschlagswesen zum Ideen- und Verbesserungsmanagement (IVM) ................................................................................................................................... 199 7 Prof. Dr. Peter Mühlemeyer und Susanna Ripp Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument .......................................................... 229 Teil III. Technologiemanagement und Innovationsmarketing............................... 255 8 Prof. Dr. Matthias Hartmann Technologiemanagement .................................................................................................. 257 9 Prof. Dr. Reinhard Hünerberg Innovationsmarketing ....................................................................................................... 283 Teil IV. Bewertung von Innovationen ..................................................................... 343 10 Prof. Dr. Ulrich Moser Bewertung immaterieller Vermögenswerte .................................................................... 345 <?page no="7"?> 8 Inhaltsübersicht Service ....................................................................................................................... 405 Autoren.......................................................................................................................................... 407 Abbildungsverzeichnis................................................................................................................. 411 Tabellenverzeichnis ...................................................................................................................... 414 Index ........................................................................................................................................ 417 <?page no="8"?> www.uvk-lucius.de/ innovation Inhalt Vorwort ............................................................................................................................................ 5 Teil I. Grundsätzliches, Technikphilosophie und Gewerblicher Rechtschutz ......... 15 1 Terminologische Grundlagen zum Innovationsmanagement sowie zu den Innovationstheorien .......................................................................... 17 1.1 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Überlegungen zum Technologie- und Innovationsmanagement ....................................................................................... 18 1.2 Traditionelle, betriebswirtschaftliche Innovations- und Technologielehre: Annahmen, Techniken und Methoden (Technology-Based-View) ......................... 20 1.2.1 Mikroökonomische und technische Subsysteme als Erklärungsansätze für Innovationen bzw. Theorien der Ontogenese ............................................................ 20 1.2.2 Mikro- und makroökonomische Erklärungsansätze für den technischen Fortschritt oder von den Theorien der Phylogenese aus technischer Sicht hin zur technologischen Voraussage ......................................................................................... 27 1.2.3 Möglichkeiten technologischer Voraussagen .............................................................. 35 1.3 Neue Institutionenökonomik: Vom Abrücken nicht nützlicher volkswirtschaftlicher Grundannahmen einer mikroökonomischen Gleichgewichtstheorie hin zu einem patentgeschützten Innovationswettbewerb................................................ 39 1.4 Zum Strategieansatz der Industrial-Organizations-Forschung oder zum Market- Based-View einer Branchenstrukturanalyse und eines Marktgestaltungsansatzes des innovativen Strategischen Managements .............................................. 41 1.5 Zur ressoucenorientierten, strategischen Unternehmensführung: Resource-Based-View of the Firm und zum Stellenwert einer differenzierten Humankapitalbetrachtung für den Innovationswettbewerb..................................... 44 1.6 Vom technologieorientierten Ansatz zum Berliner humankapitalorientierten Innovationsansatz........................................................................................................... 46 2 Technikphilosophie, technisch-ökonomische Entwicklungspfade, permanente Innovation und Technik als Macht ..........................................53 2.1 Über Technik, Technologie und den Umgang mit ihnen: theoretische und politische Technologie ..................................................................... 54 2.2 Technisch-ökonomische Entwicklung, Nutzerorientierung und sozial-kulturelle Einbettung: zur Genese technischer Macht................................................................ 60 2.3 Pfadabhängigkeit, Innovation und Akzeptanz neuer Technologie .......................... 66 2.4 Schluss: Technologische Hypermoderne als permanente Innovation .................... 70 <?page no="9"?> 10 Inhalt www.uvk-lucius.de/ innovation 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen (zur „Essential Facility“-Doktrin im US-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht)...................................................................................75 3.1 Innovationen und Essential Facilities .......................................................................... 75 3.1.1 Zur „Essential Facility-Problematik“ als Innovationsförderung ............................. 76 3.1.2 Zum Anwendungsbereich der „Essential Facility-Problematik“ ............................. 76 3.1.3 Ökonomische Abwägung im Rechtskonflikt .............................................................. 77 3.1.4 Schlussfolgerung: Zur rechtlichen Gestaltung der Nutzungsmöglichkeit an „Essential Facilities“ ...................................................................................................... 80 3.2 US-amerikanisches Recht der „Essential Facility“ ..................................................... 80 3.2.1 Zur Entwicklung der US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin ................. 81 3.2.2 Zum Inhalt der US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin ........................... 83 3.2.3 Zur ökonomischen Bewertung der US-amerikanischen „Essential Facility“- Doktrin und ihre Rechtsfolgen..................................................................................... 83 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin.......................................................... 84 3.3.1 Zur Entwicklung der Europäischen „Essential Facility“-Doktrin in der Entscheidungspraxis der Kommission ........................................................................ 85 3.3.2 Zur Entscheidungspraxis des EuGH .......................................................................... 86 3.3.3 Inhalt und Bewertung der europäischen „Essential Facility“-Doktrin nach ökonomischen Kriterien................................................................................................ 91 3.4 Zum „Essential Facility“-Doktrin im deutschen Recht ............................................ 94 3.4.1 Inhalt der deutschen „Essential Facility“-Regelung im Wettbewerbsrecht ............ 95 3.5 Offene Fragen.................................................................................................................98 3.5.1 Speziell zur Anwendungskonkurrenz des deutschen und des europäischen Rechts............................................................................................................................... 98 3.5.2 Zum zukünftigen Anwendungsbereich der „Essential Facility“-Problematik ....... 99 3.6 Zusammenfassung ....................................................................................................... 101 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation ................................ 105 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems ........ 105 4.1.1 Notwendigkeit rechtlicher Regeln? ............................................................................ 105 4.1.2 Industrielle Revolution als Motor der Immaterialgüterrechte ................................ 105 4.1.3 Ökonomik der Innovation .......................................................................................... 107 4.1.4 Vom Sachenrecht zum geistigen Eigentumsschutz ................................................. 111 4.1.5 Internationales Immaterialgüterschutzrecht ............................................................. 146 4.2 Resümee......................................................................................................................... 153 <?page no="10"?> www.uvk-lucius.de/ innovation Teil II. Erfindungslehre und Ideenmanagement .................................................... 159 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation ........................... 161 5.1 Systematische Innovation - ein Widerspruch? ......................................................... 161 5.2 Lösungen finden mit TRIZ ........................................................................................ 165 5.2.1 Überblick und Einordnung ......................................................................................... 165 5.2.2 Grundlagen von TRIZ ................................................................................................ 166 5.2.3 Ausgewählte TRIZ- Werkzeuge ................................................................................. 169 5.2.4 Weitere TRIZ-Werkzeuge ........................................................................................... 186 5.3 Zukunft gestalten mit Design Thinking .................................................................... 187 5.4 Trends erkennen mit trenDNA.................................................................................. 190 5.5 Systematische Innovationsmethoden in der Praxis ................................................. 194 6 Vom Betrieblichen Vorschlagswesen zum Ideen- und Verbesserungsmanagement (IVM) .................................................................................... 199 Wissensziele ..................................................................................................................199 6.1 Entstehung und Entwicklung des IVM..................................................................... 199 6.2 Ziele und Effizienzkriterien für das IVM ................................................................. 201 6.3 Barrieren gegen das Einreichen von Verbesserungsvorschlägen........................... 203 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM................................................................................... 205 6.4.1 Analyse der Gestaltungsbedingungen........................................................................ 205 6.4.2 Generelle Führungsinstrumente zur Effizienzsteigerung des IVM ...................... 206 6.4.3 Spezifische Gestaltungsinstrumente für das IVM ................................................... 208 6.5 Neuere Entwicklungstendenzen im IVM ................................................................. 221 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument ...................................... 229 7.1 Einleitung/ Zielsetzung des Kapitels ......................................................................... 229 7.2 Kreativität...................................................................................................................... 229 7.2.1 Der Begriff der Kreativität ......................................................................................... 229 7.2.2 Einflussfaktoren der Kreativität ................................................................................. 232 7.2.3 Strukturierung von Kreativitätstechniken ................................................................. 236 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken ............................................................................ 237 7.3.1 Intuitive Methoden....................................................................................................... 237 7.3.2 Diskursive Methoden................................................................................................... 247 7.3.3 Kombinierte Methoden (intuitiv und diskursiv): Walt-Disney-Methode.............. 249 7.4 Kreativitätstechniken in der Praxis ............................................................................ 250 <?page no="11"?> 12 Inhalt www.uvk-lucius.de/ innovation Teil III. Technologiemanagement und Innovationsmarketing............................... 255 8 Technologiemanagement ........................................................................... 257 8.1 Effektivität und Effizienz im Technologiemanagement ......................................... 257 8.2 Strategisches Technologiemanagement ..................................................................... 259 8.2.1 Funktional-abstraktes Denken als Voraussetzung ................................................... 259 8.2.2 Prinzip der S-Kurven................................................................................................... 260 8.2.3 Voraussage neuer Technologien - Technological Foresight................................... 263 8.2.4 Technologie-Indikatoren und Technologie-Trends ................................................. 264 8.3 Operatives Technologiemanagement......................................................................... 266 8.3.1 Denken in Zeiten und Zyklen als Voraussetzung .................................................... 266 8.3.2 Prinzip der Erfahrungskurven.................................................................................... 268 8.3.3 Wissensmanagement.................................................................................................... 269 8.3.4 Standardisierung in Konstruktion und Produktion ................................................. 271 8.4 Taktisches Technologiemanagement ......................................................................... 273 8.4.1 Systematisches Denken als Voraussetzung ............................................................... 273 8.4.2 Prinzip des Technologieportfolios ............................................................................. 274 8.4.3 Management der Koexistenz alter und neuer Technologien .................................. 275 8.4.4 Digitale Innovations- und Technologieplanung ....................................................... 279 9 Innovationsmarketing ................................................................................. 283 9.1 Gegenstandsbereich des Innovationsmarketing....................................................... 283 9.1.1 Innovationsbegriff........................................................................................................ 283 9.1.2 Marketingbegriff........................................................................................................... 286 9.2 Situationsanalyse für Innovationen ............................................................................ 289 9.2.1 Externe Situation.......................................................................................................... 289 9.2.2 Interne Situation........................................................................................................... 291 9.2.3 Innovationsspezifische SWOT-Analyse .................................................................... 292 9.3 Marktziele für Innovationen ....................................................................................... 294 9.3.1 Ökonomische Ziele...................................................................................................... 294 9.3.2 Vor-ökonomische Ziele ............................................................................................... 295 9.4 Marktstrategien für Innovationen .............................................................................. 297 9.4.1 Marktfestlegung ............................................................................................................ 297 9.4.2 Marktzutritt ................................................................................................................... 301 <?page no="12"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 9.4.3 Marktverhalten.............................................................................................................. 304 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen................................................................... 308 9.5.1 Leistungspolitische Innovationsinstrumente ............................................................ 309 9.5.2 Entgelt- und vertragspolitische Innovationsinstrumente........................................ 315 9.5.3 Kommunikationspolitische Innovationsinstrumente .............................................. 321 9.5.4 Distributionspolitische Innovationsinstrumente...................................................... 330 Teil IV. Bewertung von Innovationen ..................................................................... 343 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte................................................ 345 10.1 Anwendungsfälle der Bewertung immaterieller Vermögenswerte......................... 345 10.2 Immaterielle Vermögenswerte als Bewertungsobjekte............................................ 347 10.2.1 Geschäftstätigkeit und Geschäftsmodell als Bestimmungsfaktor des Portfolios immaterieller Vermögenswerte................................................................................... 347 10.2.2 Wettbewerbsvorteile durch Nutzung immaterieller Vermögenswerte .................. 348 10.2.3 Ausgewählte Einteilungen immaterieller Vermögenswerte .................................... 349 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze............................................................................. 351 10.3.1 Ausgangsüberlegungen ................................................................................................ 351 10.3.2 Income Approach ........................................................................................................ 352 10.3.3 Market Approach ......................................................................................................... 355 10.3.4 Cost Approach.............................................................................................................. 356 10.3.5 Anwendung der grundlegenden Bewertungskonzepte bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte................................................................................... 358 10.4 Anwendung des Income Approach bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte........................................................................................................... 362 10.4.1 Analyse des Einkommensbeitrags immaterieller Vermögenswerte am Beispiel einer patentgeschützten Technologie......................................................................... 363 10.4.2 Bewertungsansätze für immaterielle Vermögenswerte auf der Grundlage des Income Approach ........................................................................................................ 365 10.4.3 Diskontierungszinssatz................................................................................................ 377 10.4.4 Berücksichtigung der Besteuerung bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte........................................................................................................... 380 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse bei Einbindung der Bewertungsobjekte in ein Unternehmen ..................................................................................................... 386 10.5.1 Grundlagen der Untersuchung................................................................................... 386 <?page no="13"?> 14 Inhalt 10.5.2 Abstimmung der Bewertungsergebnisse bei Anwendung der Residual-Value- Methode......................................................................................................................... 392 10.5.3 Abstimmung der Bewertungsergebnisse bei Anwendung der MPEEM .............. 396 10.5.4 Abstimmung mit dem Goodwill ................................................................................ 400 Service ..................................................................................................................... 405 Autoren ........................................................................................................................................ 407 Abbildungsverzeichnis................................................................................................................. 411 Tabellenverzeichnis ...................................................................................................................... 414 Index ........................................................................................................................................ 41 <?page no="14"?> Teil I. Grundsätzliches, Technikphilosophie und Gewerbcher Rechtschutz <?page no="16"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 1 Terminologische Grundlagen zum Innovationsmanagement sowie zu den Innovationstheorien von Prof. Dr. habil. Wilhelm Schmeisser Wissensziele Sie sollten wissen, dass seit Archimedes individuelle aber auch Teamleistungen von Erfindern, Forschern und Künstlern immer als hervorragende Leistungen gefeiert und herausgestellt wurden. In der Literatur wird dazu zwischen Wahnsinn und Genie bei außergewöhnlichen Leistungen von Künstlern aber auch von Erfindern philosophiert. Heute spricht man stattdessen von Humankapital. Sie sollten wissen, dass seit über 100 Jahren in den Wirtschaftswissenschaften auf Innovationen und Unternehmerleistung eingegangen wird, wobei der Klassiker sicherlich Josef Schumpeter ist. Seit ca. 1984/ 86 wird Forschungs- und Entwicklungsmanagement bzw. Innovationsmanagement als betriebswirtschaftliche Funktion in Deutschland gelehrt. Die betriebswirtschaftliche Innovationsforschung wird mindestens rudimentär seit den 1950er Jahren in Amerika aber auch in Deutschland betrieben. Sie sollten lernen, dass die Innovationsforschung und -lehre in den letzten 30 Jahren, insbesondere in ausgewählten, betriebswirtschaftlichen Funktionen wie Strategisches Management, Marketing, Produktion, Organisation, Personalmanagement und Finanzierung betrieben wurden, und dass sich dabei mindestens vier Denkschulen herauskristallisiert haben. Sie sollten lernen, dass das Humankapital als Grundlage von Forschungs- und Entwicklungsleistungen erst in neueren Innovationsansätzen einen angemessenen Stellenwert bekommt. Erfindungen und Innovationen werden danach als technische Artefakte und Ergebnisse des Humankapitals angesehen. Die Forschung und Entwicklung, Erfindungen, Produktinnovationen, Prozessinnovationen sowie die montagegerechte Konstruktion nehmen für die Innovationsaktivitäten in Industriebetrieben eine Schlüsselrolle für deren Fortbestand ein und sorgen für das notwendige interne Wachstum. Sie kreieren die für die Zukunftssicherung der Unternehmung notwendigen immateriellen und materiellen Erfolgsfaktoren der Innovationen. Deswegen kann man die finanziellen Ausgaben respektive die Aufwendungen für die Forschung und Entwicklung und für die Innovation in Produktion, Dienstleistung und Marketing als Investitionen zur Erhaltung und Bildung neuer Geschäftsmodelloptionen auffassen. Innovationen als Ergebnis von Auftragsforschungen, eigenen Forschungs- und Entwicklungsergebnissen, externen, technologieorientierten Unternehmenskauf oder Lizenzkauf bestimmen den dauerhaften Markterfolg einer Unternehmung. Dieser Markterfolg der Unternehmung spiegelt sich in der innovativen (Tochter-)Gründungsfinanzierung und/ oder der Innovationserfolgsrechnung der Unter- <?page no="17"?> 18 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation nehmung wider und ist einer der bedeutendsten, strategischen Erfolgsfaktoren jeglichen Strategischen Managements. Deutsche Unternehmer und Unternehmen sind sich seit Jahren darin einig, dass 70-80% des Produkt- und Produktionserfolges sowie der Prozessinnovationen den Anstrengungen des Forschungs- und Entwicklungsbereiches sowie dem betrieblichen Vorschlagswesen zu verdanken sind. 2 Forschung und Entwicklung sowie Innovation bilden deshalb die Säulen der Wettbewerbsfähigkeit, Existenzsicherheit und finanziellen Erfolgswirksamkeit jedes Unternehmens. 1.1 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Überlegungen zum Technologie- und Innovationsmanagement Den konzeptionellen Bezugsrahmen des Buches bilden vier theoretische Grundlagen, Ansätze bzw. Denkschulen und deren terminologische Versuche, das unternehmerische Innovationsmanagement zu beschreiben, zu analysieren, zu prognostizieren und wenn möglich zu gestalten. Jedes Unternehmen durchläuft einen (integrierten) Lebenszyklus, der bei technologischen Innovationen analog bzw. synchron mit dem (finanziellen) Lebenszyklus des (Gründungs-)Unternehmens verläuft und manchmal sogar mit dem Branchen- (produktlebens-)zyklus identisch sein kann. Die wesentlichen technologieorientierten Unternehmensphasen sind: die Ideen-, Innovations-, Gründungs- und Finanzierungsphase, die Innovations-, Diffusions-, Wachstums-und Controllingphase, die Mergersand Acquisitionsphase, oft auch als externe Wachstums- und Reifephase eines Strategischen Managements bezeichnet, weil in dieser Zeit eigene Forschungs- und Entwicklungsergebnisse für das Unternehmen fehlen, aber für ein weiteres Wachstum der Unternehmung notwendig sind. Die Krisenphase, die entweder in einem neuen, unternehmerischen integrierten Produkt-, Innovationslebenszyklus „endet“ oder zur Liquidations- und Insolvenzphase des Unternehmens führt. Der Entrepreneur und/ oder das Intrapreneur-Management muss sich sehr genau mit der Ideenfindung, der Technik, dem Patentrecht zur Erfindung und Innovation, der zukünftigen Produktion, dem Marketing, der Organisation und dem Personalmanagement, dem Controlling und z.B. der Finanzierung seines Unternehmens auseinandersetzen, um den (zukünftigen) Unternehmenswert, die Überlebensfähigkeit sowie die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen. Für unternehmerische Entscheidungsträger stellt sich die Frage, wie sie am besten das unternehmerische Innovationsmanagement steuern und kontrollieren können (siehe E- Book Schmeisser, W.: Innovationserfolgsrechnung, München 2013). Die folgenden Theorien respektive Ansätze und deren terminologische Grundlagen geben einen ersten Überblick zum Innovationsmanagement. 2 Vgl. Schmeisser, W.: Zur Genese neuer Geschäfte in der Industrieunternehmung. Aachen 1997 <?page no="18"?> 1.1 Theoretische Grundlagen 19 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 1: Aspekte zur Innovations- und Technologiepolitik eines Unternehmens Abbildung 2: Innovationsansätze und Innovationstheorien Innovationsmanagementansätze (in Anlehnung an Burr 2004) Ansätze Kriterien wissenschaftlicher Grundlagen Traditioneller Innovationsansatz „Technology- Based View“ Neue Institutionenökonomik „Law and economic- Based View“ Ressourcenorientierte Unternehmensführung „Ressource-Based View“ Strategieansatz der Industrial-Organisation Forschung „Market-Based View“ Grundannahmen Probleme der technischen Ideengewinnung -Erfindungslehre: Probleme der Findung des nächsten technischen Fortschritts Fragen zur Institutionengestaltung: FuE- Organisation und/ oder Vertragsgestaltung, z.B. Lizenzvertrag, Arbeitsverträge für Forscher Aufbau und Einsatz unternehmerischer FuE- Kompetenzen (wissensbasiertes Humankapita) Aufbau von Marktmacht durch Beeinflussung der Wettbewerbskräfte innerhalb einer Branche durch innovatives Verhalten und Performance Wissenschaftliche Grundlagen - Allgemeine Technologie - Erfindungslehre - Kritischer Rationalismus als wissenschaftliches Paradigma der Informationsgewinnung und -verarbeitung - Systemtheorie der Technologie - Property-Rights- Theory -Transaktionskostenansatz - Agency-Theorie - Gewerblicher Rechtsschutz (Patente etc.) - Arbeitnehmererfindungsrecht - Intangible Property - Immaterielle Bilanzierungsüberlegungen des IFRS - Dynamic Capabileties / Kernkompetenzen - Innovationscontrolling - Strategieforschung - Diffusionsforschung - Performanceforschung durch Berliner Balanced Scorecard Ansatz und Innovationserfolgsrechnung Typische Modelle / Ansätze -Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung (Pfeiffer, W. 1971) - Altschullers Erfindungslehre Triz - Technologiefolgenabschätzung Spezifisches/ wissensbasiertes Humankapital z.B. im Konstruktionsbereich mit Outputergebnissen (z.B. Patente) -Berliner BSC-Ansatz - Berliner Humankapitalbewertungsmodell -Technologie Portfoliomethode -Porter-Ansatz (1982- 1984) - Innovationserfolgsrechnung - Innovationsmarketingmodelle und Diffusionsmodelle Staatliche Technologiepolitik und Gewerblicher Rechtschutz Entrepreneurial Finance phasengesteuertes, schöpferisches Unternehmertum zwischen Strategie und Finanzierung Innovationscontrolling / Innovationserfolgsrechnung Forschungs- und Entwicklungsmanagement methodisches Erfinden Innovationsprozess im industriellen Management (Prozessinnovationen) personalwirtschaftliche - organisatorische Rahmenbedingungen zur Innovation und institutionelles Ideenmanagement Innovationsmarketing Technologie- Transfer Technikbewertung Methoden der Zukunftsforschung wissensbasiertes Humankapitalbewertungsmodell „Logistik- und Produktionsbereich“ Patent- Management <?page no="19"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 1.2 Traditionelle, betriebswirtschaftliche Innovations- und Technologielehre: Annahmen, Techniken und Methoden ( Technology-Based-View) 3 1.2.1 Mikroökonomische und technische Subsysteme als Erklärungsansätze für Innovationen bzw. Theorien der Ontogenese Sowohl in der Volkswirtschaft als auch in der Betriebswirtschaft hat man sich schon recht frühzeitig Gedanken darüber gemacht, wie die wirtschaftliche Entwicklung mit/ und ohne technischen Fortschritt verläuft und was der Auslöser von veränderten Produktionsfunktionen, Lebenszyklen und unternehmerischen Erfolgen von Industrieunternehmen sind. „Wer dem Geistig-Schöpferischen in der Wirtschaft über die materiell-wirtschaftlichen Grundlagen hinaus tragende Bedeutung zuerkennen will, der muss über die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Natur die Ideen stellen. Es wird damit der Übergang von einer vorwiegend materiell-technischen zu einer geistig-wirtschaftlichen Auffassung der Volkswirtschaft vollzogen, d.h. der Tatsache Anerkennung verschafft, dass es in erster Linie der menschliche Geist ist, der wirtschaftet. Im Verhältnis zu den materiellen Gebundenheiten hat die Volkswirtschaft bisher diesen geistig-schöpferischen Kräften zu wenig Beachtung geschenkt. In den einzelnen Teilen der Theorie muss der Einsicht Raum gegeben werden, dass oft das Geistig- Schöpferische über die Schwerkräfte, die von der sachlichen Seite der Produktion her wirken, siegt.“ (Bülow, Friedrich: Volkswirtschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1934, S. 267) Modern gesprochen versucht Bülow von einem wissensbasierten Humankapital zu sprechen, das beispielsweise in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung neue technische Sachsysteme kreiert, d.h. z.B. Erfindungen, Prototypen, Patente, montagegerechte Innovationen usw. bereitstellt, um dadurch einen dynamischen Unternehmer und/ oder ein Innovationsmanagement in einem Industrieunternehmen den wirtschaftlichen Diffusionsprozess einer Innovation durch ein Innovationsmarketing zu ermöglichen, und um unter Umständen eine ganze Branche durch Innovationen zu prägen. Auch aus Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“(1911) ist frei interpretiert zu entnehmen, dass er von der klassischen Volkswirtschaft und dem Ideal des freien Wettbewerbs mit „homogenen“ Gütern wenig hält. Er vertrat die Auffassung, dass das bestehende Konsumniveau einer Volkswirtschaft durch Industrieprodukte, vor allem von marktbeherrschenden Konzernen wie Krupp, Siemens, DuPont, General Electric usw. zu verdanken sei. Der Wettbewerb sei eher ein ständiger Prozess der „schöpferischen Zerstörung“, der permanent durch neue Produkte, Dienstleistungen, Verfahren, sprich „Innovationen“ ausgelöst wird. Es handelt sich hier um eine ständige technische „Revolution“ in einzelnen Technikfeldern, die sich auch kombinieren lassen, damit Alt-Technologie abgeschafft und neuen Technologien zum Durchbruch 3 Vgl. dieses Kapitel beruht maßgeblich auf Schmeisser, W. (1997): Zur Genese neuer Geschäfte in der Industrieunternehmung. Aachen 1 Terminologische Grundlagen <?page no="20"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 21 www.uvk-lucius.de/ innovation verholfen wird (vgl. auch Technikphilosophie, Erfindungslehre, Tritz, Betriebliches Vorschlagswesen etc.). Dieses Phänomen wird auch technischer Fortschritt und technische Entwicklung genannt. Dazu veröffentlichte Schumpeter 1939 eine konjunkturtheoretische Untersuchung, die „Business Cycles“. Seiner Meinung nach erfolgt Wirtschaftswachstum in unregelmäßigen Schüben durch Innovationen, Kapitalnachfrage, Wachstumskrisen, Überangebot und Preisverfall, dem dann eine neue technologische Welle folgt. Dies ist ein konzeptioneller Gedanke, den man auch bei Kontradieffs Wellen-Modell (Kontradiff 1926, Burr 2006, S. 39ff.) wiederfindet. Das Handbuch Innovationsmanagement folgt hier dem Unternehmenslebenszyklus, der mit einem Finanzierungszyklus, einem integrierten Produkt- und Innovationszyklus, bestehend aus einem Entstehungszyklus, Marktzyklus und Recyclingzyklus, spiegelbildlich verknüpft ist und im Grenzfall identisch sein kann; d.h. dies sind betriebswirtschaftliche Überlegungen, die sich auf Schumpeters Gedankengebäude stützen. Die meisten Autoren in der Volkswirtschaft und in der Betriebswirtschaft haben nicht das Ziel, die technische Entwicklung eines technischen Sachsystems als ein rationales Konzept einer Naturwissenschaft und einer Ingenieurwissenschaft zu erfassen und zu beschreiben. Sie sehen Technik, Innovation und/ oder technischen Fortschritt als eine Variable bzw. Größe neben anderen an. Technik und Innovation wird meist als vorgegebene, exogene oder endogene Variable eines Modells behandelt. Fragen nach den Ursachen und den Entwicklungspfaden eines Technikfeldes wie Luft- und Raumfahrt, Auto, Solarenergie, Telefon/ Handy/ Smartphone mit Internet, IT-Technologie etc. werden nicht weiter verfolgt. Es wird übersehen, dass nur in den einzelnen Technikfeldern zweckmäßige Wettbewerbsszenarien, Zukunftsprognosen, eine Technikbewertung bzw. Technology Assessment entwickelt werden können, beispielsweise zum Zukunftsauto oder zur Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland, z.B. ohne Atomkraftenergie. Dieser gedankliche Ansatz wird als Technology-Based-View charakterisiert, rationale Ansätze 4 des Technology-Based-View basieren auf dem Grundgedanken, dass es ein allgemeines Technikkonzept bzw. eine Konstruktionswissenschaft gibt, die auf allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien eines Technikfeldes beruhen. Das naturwissenschaftlich-technische physikalische und/ oder chemische Experiment hat hier Pate gestanden. Der Wissenschaftler, Forscher, Konstrukteur und/ oder Erfinder sucht nach erwarteten oder unerwarteten Effekten in einer kontrollierten Versuchsanordnung, also nach denjenigen Variablen, die für erhoffte Effekte oder deren Ausbleiben verantwortlich sind. Die Suche nach denjenigen Effekten, die die Erfindung und damit die Innovation wünschenswert macht, ist Aufgabe und Resultat eines Forschungsprozesses. Bereits „in der kreativitätspsychologischen Version des intuitiven Konzeptes ist implizit die These enthalten, eine Erfindung sei im Grunde nichts anderes als eine neuartige Kombination an sich bereits bekannter Elemente.“ 5 Seit dem 15. Jahrhundert verstehen sich Künstler und Ingenieure nicht mehr nur als Handwerker, die wiederholte, bekannte Handgriffe und Techniken wahrnehmen, um Dinge - Bilder, Produkte - zu duplizieren, sondern ihre Arbeit und ihre Werke zeichnen sich durch intuitive Indivi- 4 Grundsätzliche Anlehnung an Schmeisser, W., 1997 5 Vgl. Ropohl 179, S. 279 <?page no="21"?> 22 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation dualität, Kreativität und Neuheit aus. Albrecht Dürer verstand seine Bilder als künstlerisch neu und einzigartig, signierte sie deshalb in der Mitte jedes Bildes und nutzte den gerade erfundenen Buchdruck, um seine Bilder besser vermarkten zu können. Zwicky 6 , die Ilmenauer Erfinderschule der Konstruktionswissenschaft 7 , oder TRIZ dagegen haben unabhängig von den anderen Methoden eine mehrdimensionale „rationale“ Klassifikationsmethode angegeben, die als morphologische Methode bezeichnet wird. „Beim rationalistischen Konzept der Erfindung gewinnt man aus der Analyse der Erfindungsaufgabe eine Reihe von allgemeinen Merkmalen, die von jeder möglichen Lösung erfüllt sein müssen und sieht für jedes dieser Merkmale eine Zeile der morphologischen Matrix vor. Sodann sucht man die einzelnen Zeilen möglichst lückenlos auszufüllen, indem man alle naturalen Effekte oder konstruktiven Prinzipien zusammenträgt, die das betreffende Merkmal zu realisieren gestatten.“ 8 „Oft besteht der Kern einer wirklich grundlegenden Erfindung … darin, ein neues Lösungsmerkmal oder … ein bekanntes Merkmal in neuartiger Weise zu formulieren.“ 9 Ein anderer rationaler Ansatz, die Illmenauer Erfinderschule, wird von Altschuller gegründet. 10 In einer mehr als 20-jährigen empirischen Forschung anhand der Auswertung von Patentschriften hebt er mehrere Aspekte hervor, die die Erfindungen und die technische Entwicklung prägen: Die meisten Erfindungen sind Weiterentwicklungen/ Variationen bestehender Systemerfindungen (Automotor, Schiffsschrauben, vom Telefon zum Handy und Smartphone mit Fotofunktion, mit Internetfunktion, mit Fernsehen, mit E-Book, anderen Apps etc.), sieht man einmal von selteneren Basiserfindungen, wie bspw. den 3-D-Druckern, als möglichen Auslöser einer neuen industriellen Revolution 11 ab. Das Industrieunternehmen muss demnach von Zeit zu Zeit seine Forschungs- und Entwicklungsingenieure ermutigen und anhalten, eigene Produkte daraufhin zu untersuchen, ob die technische Entwicklung in anderen naturwissenschaftlichtechnischen Bereichen einen derart dramatischen Entwicklungsverlauf genommen hat, dass es sich lohnt, die eigenen Produkte technologisch zu verändern, um bei den Konsumenten einen nahen Veränderungsschritt auszulösen, wie das Handy mit einer Fotofunktion auszustatten, im nächsten Schritt mit dem Internet usw. Hier kann man natürlich auch an die historischen Beispiele der Uhrenindustrie der 1970er Jahre erinnern, die jahrelang die Signale der Elektro- und Informatiktechnik übersahen und damit den technischen Wandel zur Quarzuhr hin. Diese löste die 500 Jahre lang gebaute und verkaufte mechanische Uhr völlig überraschend und schlagartig ab und löste eine Unternehmens- und Branchenkrise in der schweizerischen und deutschen Uhrenindustrie aus. Das war ein unverzeihlicher wettbewerbs- 6 Vgl. Zwicky 1971, S. 88ff. 7 Vgl. Altshuller, 1984, S. 13ff.; Gerhard 1979, S. 67 ff; Schmeisser 1988, S. 25f. 8 Ropohl 1979, S. 279 9 Ropohl 1979, S. 280 10 Vgl. Altshuller 1984, S. 13ff. und 33ff. sowie Schmeisser 1988, S. 25f. 11 Vgl. Götz Hamann: Der Alles-Drucker, Wie neue Technik die Gesetze der Globalisierung verändert, in: Die Zeit, Nr. 41, 4. Oktober 2012, S. 25 <?page no="22"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 23 www.uvk-lucius.de/ innovation orientierter Fehler, der durch einen technologischen Fortschritt in einem anderen Technologiegebiet verursacht worden ist, da man nicht erkannt hatte, dass die Zeit auch mit einer anderen Technologie gemessen werden kann, und die Konsumenten diese innovative Technologie gegenüber allen vorherigen Marktforschungsergebnissen fast zu 99% angenommen haben (Technology-Based-View). In den 1970er Jahren hat die Uhrenindustrie nicht nur eine Innovationschance verstreichen lassen, sondern auch den wirtschaftlichen Misserfolg einer ganzen Industriebranche vorprogrammiert. Aus der Technikgeschichte betrachtet, entwickeln sich technische Systeme in mehreren Etappen. Bei jeder Erfindung existiert ein Vorgänger, z.B. bei der Zeitmessung durch die Babylonier, die 60 Minuten, 24 Stunden, 365 Tage und die Vermessung der Erde und des Weltalls bzw. der Planeten und Sterne mit 360 Graden vor über 5000 Jahren mathematisch und messtechnisch eingeführt haben, die Sonnenuhr, die mechanische Uhr, die Atomuhr oder jetzt die Quarzuhr. Der Schlüssel zur Lösung des Erfindungsproblems und eines potenziellen Innovationsproblems ist darin zu sehen, dass kreative Mitarbeiter besonders im Forschungs- und Entwicklungsbereich die „Gesetze der Entwicklung der technischen Systeme“ vorantreiben, und zwar im Sinne der Ontogenese und Phylogenese nach Ropohl 12 , d.h. von einem Etappenschritt zum nächsten technologisch verstehen und „prognostizieren“ können, im Extrem durch die eigene nächste Erfindung und/ oder durch Prozessinnovationen, die diese Ingenieure auf die nächste Fortschrittsstufe der industriellen Produktion anzuwenden verstehen. 13 Dieser Gedanke wurde auch von Werner Pfeiffer in seiner „Allgemeinen Theorie der technischen Entwicklung“ 14 erstmalig in der betriebswirtschaftlichen Innovationsforschung zugrunde gelegt. Im nächsten Kapitel wird er noch einmal ausführlich beschrieben. Etwas erfinden heißt für Altschüller 15 , ein solches technisches System zu entwickeln, das keine naturwissenschaftlich-technischen Widersprüche aufweist und die technischen Beschränkungen des vorhergehenden technischen Systems auflöst. Dabei sind technische Systeme „ausgezeichnete Erfindungen“, wenn sie grundlegende Veränderungen des bisherigen bzw. vorhergehenden Erfindungsobjektes vorschlagen, auf eine Annäherung des Objektes an eine „ideale Maschine“ ausgerichtet sind und die Erfindung eine Synthese aus mehreren Wirkungen darstellt, d.h. den Anforderungen aus völlig verschiedenen Bereichen entspricht. Eine Erfindung wird zu einer „Schlüssel- oder Basiserfindung“, wenn sie in der Lage ist, durch Kombination von methodischen Verfahren solchen heterogenen Anforderungen an die Technik zu genügen. Altschuller 16 konstatiert, dass bis heute das Erfinden, Forschen und Konstruieren immer noch nicht rational betrieben wird, da man gern auf Kreativitätstechniken, sprich auf intuitive Methoden, zurückgreift. Altschuller plädiert dafür, Erfindungsprinzipien 12 Vgl. Ropohl, 1979, S. 269ff. 13 Vgl. Altschüller 1973, S. 33ff. 14 Vgl. Pfeiffer, Werner, 1971, Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung, Göttingen 15 Vgl. Altshuller 1973, S. 59ff. und S. 113ff. 16 Vgl. Altshuller 1973, S. 33ff. <?page no="23"?> 24 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation ähnlich den Konstruktionsprinzipien zu entwickeln und stellt als Pendant zu den Kreativitätstechniken seine Erfindungslehre vor. Der Forscher oder Konstrukteur kann sich mit derartigen Erfindungsprinzipien zahlreiche Fehlversuche auf dem Wege zur nächsten Erfindung ersparen, wie sie z.B. bei einem nicht gerichteten Vorgehen nach einem denkpsychologischen, intuitiven Konzept der Kreativitätstechniken vorkommen. Die Kreativitätstechniken (Brainstorming, Synektik etc.) gehen implizit oder explizit nach der permanenten „Versuch-Irrtum-Methode“ vor. Bei einer „selbst gestellten, ingenieurmäßig anspruchsvollen“ Erfindungsaufgabe ist es enorm relevant, die bisherigen technischen Widersprüche eines gegebenen Sachsystems zu formulieren, worin möglicherweise bereits schwierige Teilaufgaben der zu lösenden Erfindungsaufgabe stecken. Hintergrund ist, dass der Mensch oft psychisch träge ist und die technische Aufgabe erst einmal im gewohnten, bisher erfolgreichen Denkrahmen lösen will. Hat der Erfinder als notwendige Voraussetzung die jeweiligen technischen Widersprüche herausgefunden und erhält der Erfinder/ Konstrukteur/ Entwicklungsingenieur durch diese Widersprüche erste, vage Entwicklungsvorstellungen darüber, wie sich das gegebene, technische System einen Schritt vorwärts zur „idealen Maschine“ fortentwickeln lässt, sind positive Erfindungsergebnisse wahrscheinlich. Nach Altschuller muss aber noch die hinreichende Voraussetzung erfüllt sein, dass bei der Entwicklung des neuen technischen Systems die passenden Erfindungsprinzipien und -methoden angewendet werden, die ähnliche Widersprüche bei anderen Erfindungen bereits gelöst haben. Kritisch ist anzumerken, dass Altschullers Ansatz keine absolut neuen Erfindungen, wie die Basiserfindungen des Rades oder die Mikroelektronik, erklärt, da er immer bekannte Erfindungslösungen voraussetzt, die noch verbesserungswürdig sind. 17 Angesichts der Tatsache das technische Sachsysteme einen enormen Einfluss ausüben und nicht vom Himmel fallen, stellt sich die Frage erneut, woher Erfindungen tatsächlich kommen und warum sie gerade eine bestimmte und keine andere Beschaffenheit erhalten haben. Ropohl führt zwei Gründe an, die grundsätzlich Erfindungen begründen, „ … dass Handlungssysteme, die Sachsysteme hervorbringen, ihrerseits in aller Regel auch Sachsysteme für die Produktion von Artefakten verwenden und dass überdies die kennzeichnende Funktion dieser Handlungssysteme einen besonderen Typus des technischen Handelns repräsentiert, dergestalt, dass die Umgebungsveränderung, die in solchem Handeln erfolgt, genau darin besteht, die Menge der Artefakte in der Welt zu vermehren.“ 18 1.2.1.1 Zur Herleitung der technischen Entwicklung im ontogenetischen Sinne Versucht man die Entstehung einzelner technischer Sachsysteme zu beschreiben und zu erklären, dann bieten sich die Phasen der technischen Ontogenese an, die von Machlup 1961, Pfeiffer/ Staudt 1975 und Ropohl 1979 präferiert wurden und sich 17 Vgl. Altshuller 1973, S. 77ff. 18 Ropohl 1979, S. 270 <?page no="24"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 25 www.uvk-lucius.de/ innovation durchgesetzt haben. Die vier Phasen der Ontogenese eines technischen Systems sind „Kognition“, „Invention bzw. Erfindung“, „Innovation“ und „Diffusion“. Ein möglicher Beginn eines technischen Sachsystems sind zuerst einmal irritierende, beobachtete Naturerscheinungen eines Forschers, z.B. Wellen, die eine erklärende Kognition erfordern. Der Forscher versucht z.B. diese biologischen, chemischen und/ oder physikalischen beobachtbaren Phänomene messbar zu machen. Dazu behauptet er vorläufig theoretische Hypothesen oder Gesetze, die es ihm erlauben, diese beobachteten Phänomene künstlich herzustellen und mit Hilfe von Experimenten statistisch zu beweisen. Die zweite und im technologischen Sinne fundamentale Phase der Ontogenese ist die Invention, die eigentliche Erfindung eines Sachsystems. In der Erfindung werden erstmals Funktion und Struktur eines neuen Sachsystems wenigstens dem Prinzip nach eindeutig beschrieben und verbal, zeichnerisch, in einem Realmodell oder in einem Prototyp dargestellt. Kriterien einer Erfindung, wie sie im Patentwesen angelegt werden, sind insbesondere Neuheit, Fortschritt und Erfindungshöhe gegenüber dem Stand der Technik sowie Brauchbarkeit.“ 19 Um das obige Beispiel fortzusetzen: Entdeckt der Forscher elektromagnetische Wellen und/ oder Röntgenstrahlen, so ist der Forscher wissenschaftlich herausgefordert, ein experimentelles Messgerät/ Sachsystem zu entwickeln, dass diese Wellen und Strahlen erfassen und messen kann. Zwar sind zahllose Inventionen bekannt, die nie zu einer Innovation führten, aber auch Inventionen wie Röntgenmessgeräte, die zu Röntgenapparaten in der medizinischen Diagnostik, sowie Elektromessgeräte, die zum Telefon, Handy, Radio, Fernsehen usw. geführt haben. Erst mit der Innovation in der Produktion wird das erfundene Sachsystem für die ökonomische Verwendung verfügbar. Führt die Invention z.B. beim Auto zur Imitation von Automobilen in verschiedenen Varianten und eventuell sogar zur Massenproduktion, wie das Modell T bei Ford 1911, markieren diese Formen der Imitation die Diffusion als letzte Phase der Ontogenese. Als Fazit bedeutet die technische Entwicklung eine Ontogenese eines technischen Systems in einem Technikfeld, wie die Erfindung des Autos vor 125 Jahren durch Daimler und deren Variation, Imitation und globale Diffusion weiterer Automobile. „Andererseits ist aber auch dann von technischer Entwicklung die Rede, wenn man die Phylogenese aller Sachsysteme meint; dann ist die „technische Entwicklung“ ein Synonym für den allzu wertbesetzten Ausdruck „technischer Fortschritt“ und für die Bezeichnungen „technischer Wandel“ und „technische Veränderung“, die beide suggerieren könnten, es modifizierte sich eine im Grunde fortbestehende Substanz.“ 20 Als Beispiel einer Phylogenese bietet sich die raumzeitliche Überbrückung des Menschen von A nach B durch technische Systeme an, nämlich mittels eines Pferdefuhrwerks, über das Fahrrad, Motorrad, Auto, Flugzeug hin zur Rakete. 19 Ropohl 1979, S. 274 20 Ropohl 1979, S. 271 <?page no="25"?> 26 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation „Die technische Entwicklung im phylogenetischen Sinn ist identisch mit der Entstehungsgeschichte der Artefakte schlechthin und reicht von den Anfängen der Technik in prähistorischer Zeit über die Gegenwart bis in die Zukunft hinein.“ 21 Mit den künftigen, zu erkennenden Entwicklungsschritten der Phylogenese lassen sich mit den Methoden der technischen Prognostik (z.B. Relevanzbaumverfahren, Szenario- und Delphi-Methode) entsprechende technische Tendenzen voraussagen (Technology Assessment). Dabei lassen sich wertfreie Aussagen zur Energiegewinnung mittels Technikbewertung, wie Techniker gern behaupten, nicht wirklich deduziert tätigen. Zur Energiegewinnung könnten z.B. technische Systeme wie Atomkernkraftwerke oder Windkraftanlagen dienen. Bei den Atomkraftwerken entstehen mehr Gefahren durch potentielle Unfälle, Verstrahlung, das Problem der Entsorgung oder der Atomkriege. Dagegen ist die Windenergie umweltschonend und nachhaltig, mit ganz wenigen Gefahren belastet, die sogar schnell behoben werden können und keine jahrhundertlange Folgen, z.B. Verstrahlung, nach sich ziehen können (vgl. Irrgang, B., Hermeneutische Ethik, 2007). 1.2.1.2 Theorien der Ontogenese Bei der Ontogenese der technischen Entwicklung lassen sich das intuitive Konzept und das rationalistische Konzept unterscheiden. Zum intuitiven Konzept: „Eine eigene Psychologie der technischen Entwicklung ist unseres Wissens bisher wohl noch nicht vorgelegt worden, doch lassen sich die Einsichten der allgemeinen Kreativitätsforschung durchaus übertragen. Demnach besteht der kreative Prozess aus vier Phasen, der Präparation, der Inkubation, der Illumination und der Verifikation“ (Ropohl, 1979, S. 277). In der Präparationsphase besteht die Herausforderung darin, sich mit einem Problem ausführlich auseinanderzusetzen, möglichst viele Informationen zum Problem zu sammeln, die relevant erscheinen oder erste Erklärungsansätze liefern können. In dieser Phase empfiehlt die Konstruktionswissenschaft dem Erfinder/ Konstrukteur/ Forscher, sich über die naturwissenschaftlichen Effekte und konstruktive Prinzipien (vgl. TRIZ), die ihm bereits bekannt sind, zu informieren, oder eine Ermittlung durch zielgerichtete Patent-Informationsrecherchen zu betreiben. Das berühmteste Physik-Beispiel von Archimedes zur Messung des Goldgehaltes einer Krone, ohne diese zu zerstören, steht hier Pate. Die Kreativitätspsychologie geht hier von einer Inkubationsphase aus. Die Phase beschreibt, wie die gesammelten Wissenselemente beim Menschen ins Unterbewusste absinken und sogar im Schlaf zu Assoziationen anregen. Es folgt die Illuminationsphase bzw. die Erleuchtungsphase beim Erfinder (Heureka, ruft Archimedes aus, und meint, er hätte die Idee gefunden). Die Verifikationsphase bezeichnet die wissenschaftliche Überprüfung der Idee, ob die Idee sich einer naturwissenschaftlichen und technischen kritischen Überprüfung als beständig, konstruktiv und funktionsfähig erweist. 21 Ropohl 1979, S. 271 <?page no="26"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 27 www.uvk-lucius.de/ innovation Zum rationalistischen Konzept Den rationalistischen Ansatz eines integrierten Konzeptes innovativer Produktlebenszyklen findet man sowohl in der Konstruktionswissenschaft als auch in der Betriebswirtschaftslehre (vgl. Altschuller 1973). Nach Ropohl 1979, S. 281, erfolgt in der Konzeptionsphase eines Sachsystems, dieses nach dem Modell der Funktion, also was das technische System erbringen oder leisten soll. Dann folgt das Modell der Struktur, nämlich wie das technische System beschaffen sein muss, und ob damit die angestrebte bzw. erwünschte Funktion zu erfüllen ist. Nun erst wird die Funktion und die Struktur des technischen Systems auf die Vereinbarkeit mit naturwissenschaftlichen und technischen Effekten überprüft, um nun konstruktive Prinzipien anzuwenden und eine detaillierte Konstruktion des technischen Systems zu kreieren. Am Ende entsteht ein innovatives, gegenständliches Artefakt. Die Abbildung 1 (vgl. S. 19) zeigt, wie Ideen, Produkt- und Prozess-Innovationen von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, dem Marketing und/ oder dem betrieblichen Vorschlags- und Ideenmanagement angeregt werden. Der Logistikbereich und das Innovationscontrolling mit dem industriellen Management, Fertigung und Montage überprüft die Produktinnovationen, und zwar mit Hilfe einer Kalkulation im Vorfeld und im Nachhinein, hier natürlich mehr auf deren betriebswirtschaftlichen Machbarkeit. Der Vertrieb und der Nutzer/ Markt entscheiden letztendlich über die Annahme oder Ablehnung der „Innovation“. Zur Machbarkeit gehören heute jedoch auch die prognostische Beseitigung bzw. das Recycling eines „verbrauchten“ technischen Sachsystems, aufgrund rechtlicher Regelungen, der Zurückgewinnung von Materialien sowie des Umweltschutzes aus moralischer oder imagemäßiger Notwendigkeit. Eine Institutionalisierung des Ideen-, Innovations- und Forschungsmanagements in der Industrieunternehmung ergeben sich damit aus diesen Überlegungen. 1.2.2 Mikro- und makroökonomische Erklärungsansätze für den technischen Fortschritt oder von den Theorien der Phylogenese aus technischer Sicht hin zur technologischen Voraussage In den Wirtschaftswissenschaften ist es üblich, zuerst von den volkswirtschaftlichen Theorien bei der Innovationsforschung auszugehen, um dann später auf die betriebswirtschaftlichen Innovations-Theorieansätze, wie Market-Based-View und Resource- Based-View, zu kommen. Der Technology-Based-View-Ansatz kann als Voraussetzung dieser beiden (strategisch-orientierten) betriebswirtschaftlichen Ansätze betrachtet werden. Die klassische Volkswirtschaft hat sich mit dem Wettbewerb durch Innovation und technischen Fortschritt schon immer schwer getan. Hintergrund ist ihr wissenschaftlich-methodisches Problemverständnis, sich nur ein eingeengtes, gedankliches Modellkonstrukt vom vollkommenen Markt und idealen Wettbewerb zu machen. Wettbewerb ist volkswirtschaftlich, nach klassischem Verständnis betrachtet, ein Preiswettbewerb, aber kein Innovationswettbewerb. Diese Preis-Nachfrage-Modellkonstruktion ist nach volkswirtschaftlichem Verständnis nützlich und kann deshalb auf die Wirklichkeit mehr oder weniger angewandt werden. Fasst man dagegen den potentiellen technischen Fortschritt als eine Art „Obergrenze“ <?page no="27"?> 28 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation des aktuellen Standes der Ontogenese eines technischen Sachsystems und der Phylogenese auf, dann muss das Ausmaß, die Richtung und das vorläufige technische Ergebnis einer Unternehmensinnovation als Wettbewerb angesehen werden. Aus diesem Grund ist der Technology-Based-View nur schwer in ein mikroökonomisches Gleichgewichtsmodell eines Preiswettbewerbs zu integrieren, da alle Güter homogen sind. Letztendlich setzt das Modell des vollkommenen Wettbewerbs Prämissen voraus, die die Innovation und den technischen Fortschritt vernachlässigen und die technische, gesellschaftliche, wirtschaftliche Wirklichkeit sehr schlecht analysiert. Man findet nur partielle Zugeständnisse an den technischen Fortschritt in volkswirtschaftlichen Modellen wieder. Trotzdem versuchen einige Autoren mittels Prämissen in makroökonomischen Modellen, den technischen Fortschritt wieder „einzufangen“ (vgl. Neue Institutionenökonomik). Diese zu kritisierenden Prämissen der mikroökonomischen Gleichgewichtsmodelle sind (vgl. Schreyögg, G.: Unternehmensstrategie, 1984, S. 8ff.): [1] Homogenität der Güter, eine Prämisse, die keine Innovation erlaubt. [2] Vollständige Information der Marktteilnehmer, eine Prämisse, die die empirische Realität der Unvollkommenheit ignoriert, d.h. hier die Geheimhaltung von Betriebsergebnissen aus der Forschung und Entwicklung, Patente der Unternehmen usw., die den Innovationswettbewerb erst auslöst. [3] Unüberschaubar viele Anbieter und Nachfrager ohne preisliche Marktmacht, eine Prämisse, die im Innovationswettbewerb durch ganz wenige Anbieter und zeitlichräumliche „Monopolpreise“ sich nicht halten lässt. [4] Freier Marktzugang und -austritt, eine Prämisse, die erst einmal definitorisch durch den Marktbegriff zu klären ist. Gerade der Market-Based-View behauptet, dass Innovationen neue Märkte schaffen, mit eigenen, neuen Wettbewerbsregeln und Unternehmensstrategien. Diese Prämisse der Mikroökonomie aber geht von einem gegebenen Markt aus und ein Markt kann nicht entwickelt werden. [5] Unabhängigkeit der unternehmerischen und konsumtiven Entscheidungen der Marktteilnehmer. Auch diese Prämisse ist unter dem Blickwinkel des Technology- Based-View kritisch zu betrachten. Unternehmen und Konsumenten können im Sinne der Ontogenese und Phylogenese technischer Sachsysteme deren Anwendung und Entstehung nicht ignorieren. Unternehmen werden die Innovation wählen, die sich nach der Logik der Ontogenese als „nächster“ technisch-logischer Innovationsschritt für die Unternehmung ergibt. Die Konsumenten werden die Innovation wählen, die sie kinderleicht anwenden und verstehen können, und zwar aus ihrer bisherigen technischen und praktischen konsumtiven Erfahrung heraus. [6] Ein total deduziertes Marktgleichgewicht setzt gewinnmaximierende Unternehmen/ Unternehmer und nutzenmaximierende Konsumenten voraus. Unabhängig davon, ob sich dieses behauptete Marktgleichgewicht axiomatisch überhaupt errechnen lässt. Die maximierenden Erfolge der Unternehmen mittels Innovationen werden kaum durch das mikroökonomische Marktmodell bestimmt, sondern durch den technischen Fortschritt, der aber leider im Modell nicht vorgesehen ist. Als Zwischenfazit lässt sich konstatieren, dass das Innovationsmanagement in der Mikroökonomie ein vernachlässigter Themenbereich ist. Folgt man an dieser Stelle nicht der Makroökonomie mit ihrem vernachlässigten technischen Fortschrittsverständnisses, z.B. in der sogenannten post-keynsianischen Wachs- <?page no="28"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 29 www.uvk-lucius.de/ innovation tumstheorien von Domar und Harrod oder dem neoklassischen Grundmodell, dann kann man sinnvoller auf Pfeiffers Theorie des technischen Fortschritts eingehen. Innovation kann mit Schumpeter als grundsätzlich neue Kombination von Produktionsmitteln verstanden werden, als eine „Andersverwendung des Produktionsmittelvorrates“ 22 , was den Lebenszyklus eines Unternehmens und den Lebenszyklus einer ganzen Branche bestimmt, so auch der Ansatz von Porter (vgl. unten den Market-Based- View in Verknüpfung mit dem Resource-Based-View), und was Innovationen zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor macht, da sie es erlauben, neue Wettbewerbsregeln einzuführen und alte Technologien zu „zerstören“, damit bspw. die bisherige Uhrenbranche nun z.B. Quarzuhren produziert und die bisherige mechanische Uhr abschafft oder z.B. lösen Handy und Internet das klassische Telefon ab. Um ein weiteres Beispiel zu benutzen, der Erfolg des Unternehmens Apple und dessen Produkte wie iPod, Smartphone usw. verändern die technisch-ökonomischen Wettbewerbsspielregeln einer ganzen Branche. Bei einem gegebenen Stand der Technologie zeigt die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion den maximalen möglichen Output bei einem gegebenen Faktoreinsatz, wobei neben Kapital und Arbeit der technologische Fortschritt selbst als dritte unabhängige Variable eingezogen wird (wenn man den Boden und die Umwelt vernachlässigt). Zu fragen bleibt, inwiefern dieses gesamtwirtschaftliche Modell geeignet ist, der Unternehmung Informationen über die technologische Entwicklung zu geben, wie dies der Technology-Based-View im Rahmen der Phylogenese von technischen Sachsystemen zumindest versucht. Technologischer Fortschritt bzw. technologische Entwicklung kann aber auch damit zu erklären versucht werden, dass in ihm die Erlangung neuen technischen Wissens geschieht, wie es in den Theorien der Ontogenese von technischen Sachsystemen beschrieben wird. Damit wird der technologische Fortschritt auf Probleme der Wissensakkumulation bzw. der Gewinnung und Ausbreitung erfahrungswissenschaftlicher Informationen“ reduziert bzw. auf eine Art rationale Erfindungslehre wie TRIZ zurückgeführt. Dieser Ansatz einer Ontogenese in einem technischen Sachsystem wäre nach Werner Pfeiffer geeignet, bedarfsinduzierte (auf Käuferwünschen beruhende) und autonome (auf Forschungs-, Entwicklungs- und Konstruktionsergebnissen beruhende) Innovationen zu erklären und zu prognostizieren. 23 1.2.2.1 Wissensakkumulation als Voraussetzung technischen Fortschritts und technischer Innovationen: Werner Pfeiffers Theorie der technischen Entwicklung als Grundlage für technologische Voraussagen Ausgehend von der Kritik betriebswirtschaftlich orientierter Untersuchungen zum Zusammenhang von Wirtschaft und Technik, die zwar den technischen Fortschritt als ein Zentralproblem einer innovativen Unternehmensführung erkennen und Fragen 22 Schumpeter 1964, S. 103ff.; Die Voraussetzung für eine Andersverwendung sieht Schumpeter in der Verfügung über die Produktionsmittel, was in der Form von Eigentum und/ oder Kredit möglich ist. Siehe auch die Prämissen des Market-Based-View, der von einer Homogenität der Ressourcen aller Unternehmen ausgeht, im Gegensatz zu Schumpeter. 23 Vgl. hierzu die Kritik Pfeiffers an Schmookler, der den technischen Fortschritt ausschließlich von der Nachfrageseite erklärt. Pfeiffer, W.: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung, Göttingen 1971, S. 23f. <?page no="29"?> 30 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation seiner Planung, Organisation und Kontrolle thematisieren, nicht aber generelle „[…] Annahmen über die zukünftige Richtung, den zeitlichen Verlauf und die Wirkung des technischen Fortschritts…“ zulassen, der „…aber weitgehend den empirischen Gehalt und damit die Brauchbarkeit dieser Prognosen…“ bestimmt 24 , lehnt Pfeiffer die Erstellung einer allgemeinen Theorie der technologischen Entwicklung mittels induktiver Methoden ab, die das Phänomen der technischen Entwicklung mit rein makroökonomischen Kategorien zu erklären suchen. 25 Er geht vielmehr von der These aus, dass der technische Fortschritt „… in der Erlangung neuen technischen Wissens besteht.“ 26 Damit kann Werner Pfeiffer implizit als deutscher Nestor des Technology-Based-View und als Gründer und Forscher des deutschen Innovationsmanagements in der Betriebswirtschaft angesehen werden. Für Pfeiffer ist der Prozess der technischen Entwicklung jedoch nicht bloß als Wissensakkumulation innerhalb eines technischen „Sachsystems“ zu verstehen. Auch die Lernprozesse des Ingenieurs werden isomorph zu Funktionsstrukturen des Sachsystems betrachtet, wie sie einem Regelkreis in der Systemtheorie zugrunde liegen. Genau diesen theoretischen Weg verfolgt auch Ropohl mit seiner Habilitation, „Eine Systemtheorie der Technik“ 1979, fast 20 Jahre später, aber auch Röpke aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Röpke sieht in seinem Buch „Strategie der Innovation“ in der Systemtheorie den geeigneten (formalen) theoretischen Erklärungsrahmen, den technischen Fortschritt als ein komplexes Neuerungsphänomen zu beschreiben und zu erklären, das bestimmt wird durch das Zusammenwirken von Individuum, Organisation und Markt, wobei er sich insbesondere mit den Grenzen und Paradigmen der neoklassischen Wachstumstheorie auseinandersetzt. 27 1.2.2.2 Technischer Fortschritt als Informationsgewinnungsprozess Pfeiffers Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung beruht auf zwei grundlegenden Hypothesen 28 : 1. Die Hypothese von der Isomorphie des Prozesses der technischen Entwicklung und des Informationsgewinnungs- und Informationsübertragungsprozesses. 2. Die Hypothese von der technischen Entwicklung als ein sozialer Prozess. Wird der technische Fortschritt in der Erlangung neuen technischen Wissens gesehen (vgl. dazu „wissensbasiertes Humankapital“ z.B. im Forschungs-, Konstruktions- und Entwicklungsbereich der Unternehmung zur Erlangung immaterieller Wirtschaftsgüter, wie Patente), kann das „… Problem der Produktion und Diffusion technischen Wissens (Überführung wissensbasierten Humankapitals in montagegerechter Konstruktion für die Produktion innovativer technischer Sachsysteme und zur kinderleichten und verständlichen Vermarktung dieser Innovationen, d. Verf.) ... auf das allgemeine Problem der Gewinnung und Ausbreitung erfahrungswissenschaftlicher Information (konk- 24 Pfeiffer, W. 1971, S. 16 25 Vgl. Pfeiffers Kritik an Schmookler, siehe dazu Pfeiffer, W. 1971, S. 23ff. 26 Ebenda, S. 28 27 Vgl. Röpke 1977, S. 79ff. 28 Vgl. Pfeiffer, W. 1971, S. 28f. <?page no="30"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 31 www.uvk-lucius.de/ innovation ret heißt dies wissensbasiertes Humankapital in technologiebasiertes Humankapital an die Belegschaft zu überführen, und zwar mittels Personal- und Organisationsentwicklung in den Produktionsprozess und in das Innovationsmarketing im Unternehmen, d. Verf.) zurückgeführt werden.“ 29 Die zweite Hypothese besagt, dass dieser Informationsgewinnungsprozess als sozialer Prozess verstanden wird, d.h., er wird „…mit systematischen kooperativen menschlichen Aktien gleichgesetzt, die durch Institutionen koordiniert werden.“ 30 Dies impliziert, dass die Individuen in diesem Prozess als ersetzbar, austauschbar und vertretbar zu betrachten sind. Beim Innovationsmarketing wird oft auch der Diffusionsprozess neuer, technischer Sachsysteme berücksichtigt. Bei der Analyse des Diffusionsprozesses von Innovation technischer Sachsysteme in seiner zeitlichen Dimension wird beispielsweise der Prozentsatz der Adoptoren festgestellt, der zu den unterschiedlichen Zeitpunkten die Neuerung akzeptiert. Mathematischtheoretische Überlegungen als auch empirische Arbeiten zur Innovation und Diffusion von neuen Produkten, wie die von Brown 31 und Rogers 32 , lassen erkennen, dass die S- Kurve oder die logistische Kurve bei einer großen Anzahl von Diffusionsprozessen von Neuerungen dazu geeignet ist, den zeitlichen Adoptionsprozessverlauf zu beschreiben. Die erste mathematische Ableitung der logistischen Kurve entspricht dem idealtypischen (Branchen-/ Unternehmens-) Produktmarktlebenszyklus bzw. der Gaußschen Normalverteilung. 33 Durch eine Kombination der zeitlichen und sozialen Dimensionen der Diffusion erbringen Rogers, Kiefer, Rogers und Shoemaker 34 u.a. wertvolle Anregungen dazu, wie, wann und warum Innovationen einen sozialen und technischen Informationsgewinnungs- und Verarbeitungsprozess bei Adoptoren und Innovatoren durchlaufen: Es wird der jeweilige Prozentsatz der Adoption festgestellt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt die Innovation aufnimmt (zeitliche Dimension). Die Adopter werden je nach dem Zeitpunkt der Übernahme der Neuerung in Adopterkategorien eingeteilt (Innovatoren 2,5%, frühe Adoptoren 13,5%, frühe Mehrheit 34%, späte Mehrheit 34%, Nachzügler 16%), wobei der Bezugsrahmen dieser Kategorisierung aus dem sozialwissenschaftlich-statistisches Instrumentarium („Gaußsche Normalverteilung“) entnommen wird. Die Adoptorenkategorien werden in einem dritten Schritt mit den Ergebnissen und Methoden der Kommunikationsforschung in Verbindung gebracht, um die Adoptoren mit Fragestellungen der sozialen Schichtung zu analysieren. 35 Das Interesse jedes einzelnen Adopters für eine Innovation durchläuft nach Rogers 36 verschiedene Stadien: 29 Ebenda 1971, S. 28 30 Ebenda 1971, S. 35f.; so spricht Braun ähnlich von der „socialacitivitycalledtechnology“. Braun 1984, p. 101f.; vgl. auch Müller/ Schierenstock 1977, S. 138ff. 31 Vgl. Brown 1979, S. 249ff. 32 Vgl. Rogers 1962, S. 161ff. 33 Vgl. Schütz 1975, S. 68ff.; Nieschlag/ Dichtl/ Hörschgen 1988, S. 173 34 Vgl. Rogers 1962, S. 161ff.; Kiefer 1967, S. 48ff., Rogers and Shoemaker 1971, p. 56ff., p. 182, p. 305 35 Vgl. Nieschlag/ Dichtl/ Hörschgen 1988, S. 170ff. und S. 477f. <?page no="31"?> 32 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation a. Aufmerksamkeit: Der Adopter weiß von der Innovation, hat aber noch keine einzelnen Charakteristika der Innovation wahrgenommen oder erfahren. b. Interesse: Der Adopter wünscht mehr über die Innovation zu erfahren. c. Bewertung: Der Adopter überlegt, ob es vernünftig ist, die Innovation zu testen. d. Versuch: Der Adopter macht in kleinem Ausmaß Erfahrung mit der Innovation, um einzuschätzen, ob sie für ihn brauchbar ist. e. Aufnahme: Die Person beschließt, die Innovation regelmäßig anzuwenden. Rogers und Shoemaker erfassen weitere fünf wahrgenommene Charakteristika der positiv angenommenen Innovation durch den Adopter im Rahmen des Aufnahmeprozesses eines neuen Produktes, nämlich die relative Vorteilhaftigkeit der Innovation gegenüber bisherigen technischen Problemlösungen/ Sachsystemen, die Ein- und Anpassungsfähigkeit der Innovation in bestehenden (technischen) Strukturen, die nicht zu große Komplexität des Neuen, die Möglichkeit, mit der Innovation Versuche zu machen und Erfahrungen zu sammeln sowie die offensichtliche Anschaulichkeit des Vorteils. 37 Gerade die Vorstellung von Rogers and Shoemaker hat eine große Verbreitung bei der Strategie der Diffusion bei Neuproduktentwicklungen im Rahmen des Innovationsmarketings gefunden. Das Schwergewicht des Erklärungsansatzes von Pfeiffer liegt jedoch auf der ersten Hypothese, die im Folgenden zwecks der technologischen Voraussage bzw. der technologischen Prognose oder eines Technology Assessments näher dargestellt werden soll. (vgl. Schmeisser 1997, S. 144ff.) 1.2.2.2.1 Informationsgewinnung als Stufenprozess Die Richtung der Induktionsprozesse der technischen Entwicklung lässt sich aufgrund der Isomorphie von technischer Entwicklung und Informationsgewinnung ableiten. Wissenschaftstheoretisch sind empirische Aussagen, die mit den metaphysischen, nicht nachprüfbaren Aussagen zusammen als synthetische Aussagen bezeichnet werden 38 , mittels Erfahrung überprüfbar und werden als Informationen bezeichnet. 39 Dieser Informationsgewinnungsprozess lässt sich durch drei zeit- und raumunabhängige Grundprinzipien 40 näher charakterisieren: [1] Das methodische Fundamentalprinzip besagt, „… dass die mittels kognitiver Aktionen gewonnenen Aussagen über die Realität hypothetischen Cha- 36 Vgl. Rogers 1962, p. 162ff. 37 Vgl. Rogers/ Shoemaker 1971, S. 42ff. 38 Vgl. Popper 1976, S. 8ff. 39 „Unter Information … soll demnach eine Aussage über die Existenz, die Struktur oder das Verhalten von Phänomenen verstanden werden, deren Form eine Prüfung durch Beobachtung zulässt“ (Pfeiffer, 1971, S. 38). Pfeiffer folgt wissenschaftstheoretisch sehr stark Popper, und wird bei seiner technischen Entwicklung zu allgemein. 40 Vgl. Pfeiffer 1971, S. 43ff. <?page no="32"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 33 www.uvk-lucius.de/ innovation rakter besitzen und dass ihre Gültigkeit anhand der Tatsachen selbst geprüft werden muss.“ [2] Das Variationsprinzip besagt, dass der deduktiv gewonnene, naturwissenschaftlich bewährte Informationsstand den Informationsgewinnungsprozess nicht zum Stillstand bringt, dass das technische Sachsystem vielmehr durch experimentelle Tätigkeit unter extrem variierten Bedingungen zu überprüfen ist. [3] Das Entlastungsprinzip besagt, dass „… die Auswahl der Probleme der Art nach und nach dem erwarteten Schwierigkeitsgrad ihrer Lösung …“ davon abhängt, ob der Überlebensdruck in einer Gesellschaft sehr hoch ist und damit pragmatische Formen technischer Sachsysteme des Überlebens dominieren, oder ob dieser Überlebensdruck gering oder gänzlich beseitigt ist, womit Spielräume frei werden zur Beschäftigung mit bisher unbekannten oder nicht erklärbaren technischen Phänomenen. 41 Der Prozess der Informationsgewinnung verläuft als ein Stufenprozess, wobei die Information der Stufe m die Basis zur Gewinnung der Information der Stufe m+1 abgibt. Der Übergang von einer Stufe zur nächst höheren ist jedoch weder deduktiv noch induktiv ableitbar, sondern verläuft als ein Zufallsprozess, d.h., man kann auch von einer „stochastischen Input-Out-Beziehung“ sprechen. 42 Der Informationsgewinnungsprozess wird dabei begrenzt durch die Reichweite der bestehenden und akzeptierten wissenschaftlichen Theorien und Erklärungen, die gegebenenfalls den Einbau neuer Informationen erst nach einem „Akt schöpferischer Zerstörung“, im Sinne Schumpeters, erlauben. 1.2.2.2.2 Zum Prozess der technischen Entwicklung Pfeiffer geht davon aus, dass der Prozess der technischen Entwicklung, als ein „Spezialfall“ des Informationsgewinnungsprozesses, in v.a. zwei verschiedenen Phasen abläuft, die mittels der Endzielbestimmung der sie tragenden Individuen und Institutionen abgrenzbar sind. Während die Tätigkeit - rationales Handeln wird vorausgesetzt - in der naturwissenschaftlichen Phase“ auf die „…Gewinnung vollkommener Information über die belebte und unbelebte Natur durch Erklärung ihrer Entstehung“ - auf ein konkretes technisches Sachsystem - abzielt, ist die Tätigkeit in der „gütertechnischen Phase“ darauf gerichtet, „…Informationen zur Erweiterung des menschlichen Lebensspielraumes bzw. zur Minderung des Überlebensdruckes durch Güterproduktion“ zu erhalten. Die Annahme unterschiedlicher Interessenrichtungen in den beiden Phasen der technischen Entwicklung unterscheidet Pfeiffers Ansatz von Konzepten, die die technische Entwicklung überwiegend durch ihre Anwendungsorientierung erklären wollen und somit der unternehmerischen oder externen FuE-Tätigkeit eine dominierende Rolle zusprechen. Neue naturwissenschaftliche Informationen haben direkte Bedeutung für das Ordnungsmodell der Naturwissenschaften, sie beinhalten jedoch lediglich eine potentielle 41 Ebenda, S. 48ff. 42 Vgl. Pfeiffer 1971, S. 55 <?page no="33"?> 34 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation Bedeutung, i.S. einer Handlungsanweisung für die Güterproduktion bzw. eines potentiellen technischen Sachsystems (Erfindung), auf die möglicherweise erst bei einem akuten Bedarf zurückgegriffen wird. Die Ingenieurwissenschaften beruhen auf zwei schöpferischen Elementarmethoden, sie verarbeiten zum einen naturwissenschaftliche Informationen, die aufgrund von Beobachtung und Experiment gewonnen werden, z.B. in technischen Sachsystemen mittels Messversuchen und Messgeräten, die bereits potentielle Erfindungen kreieren können. Zum anderen beruhen sie auf der Konstruktion, d.h. der zweckgerichteten Ordnung und Gruppierung bekannten Wissens aus Patenten, der Erfinderlehre und/ oder TRIZ. Dies erklärt, dass die technische Entwicklung aufgrund experimenteller, auf Erfahrungswissen beruhender angewandter Forschung und Entwicklung Produkte bereits dann ermöglicht, wie bei der tausendjährigen Stahlerzeugung, wenn eine naturwissenschaftlich theoretische Erklärung komplexer Probleme noch aussteht oder gerade erst gefunden wurden (erst seit den ca. 1960er Jahren kennt man die naturwissenschaftliche Erklärung und Analyse der Stahlerzeugung). Die Mechanismen der (Prozess-)Induktionen der technischen Entwicklung können aufgrund der Isomorphie mit den Induktionsmechanismen des Prozesses der Gewinnung gütertechnischer Information gleichgesetzt werden. Der Induktionsmechanismus wird ausgelöst durch den „Bedarf“, verstanden als „…ein bewusstes Verlangen nach einer Überlebenschance, d.h. nach einem Gut…“ 43 Hierbei sind zwei Mechanismen der „technischen“ Bedarfsentstehung zu unterscheiden, die den Induktionsmechanismen des Prozesses der Gewinnung gütertechnischer Information entsprechen, und zwar die „Bedarfs-Induktion“ und die „autonome Induktion.“ 44 Die technische Entwicklung ist dann bedarfsinduziert, wenn sich „… permanent objektiv neue Lücken und Mängel im System der Bedarfsentstehung…“ eröffnen. „Der Vorgang des Erkennens dieser Lücken und Mängel ist mit einem Lernprozess isomorph und unterliegt den gleichen Gesetzen.“ 45 Diese objektiv neuen Informationen über Lücken und Mängel bei der Bedarfsdeckung stellen gleichzeitig ‚potentielle gütertechnische Informationen’ eines zu erfindenden technischen Sachsystems dar, da sie einen Handlungsimpuls bedeuten, entsprechende Güter zu produzieren bzw. die hierzu erforderlichen Informationen mittels bisheriger Patente und/ oder einer Erfinderlehre zu gewinnen. Das tatsächliche Ergebnis der Problemlösung bei der technischen Bedarfsdeckung kann bei den von Pfeiffer identifizierten fünf „Typen gütertechnischer Probleme“ positiv oder negativ sein 46 : a. Positive Problemlösung: die Lösung ist voll befriedigend. b. Positive Problemlösung: die Lösung ist jedoch technisch, ökologisch oder ökonomisch unbefriedigend; es wird eine verbesserte Lösung angestrebt, wobei das erforderliche konstruktive Wissen z.B. aus einer Erfinderlehre vorhanden sein kann oder nicht. 43 Pfeiffer 1971, S. 94 44 Ebenda, S. 94ff. 45 Ebenda, S. 95 46 Ebenda, S. 97 <?page no="34"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 35 www.uvk-lucius.de/ innovation c. Negative Problemlösung: das konstruktive Wissen ist zwar vorhanden, neuere konstruktive Basiselemente fehlen aber noch teilweise. d. Negative Problemlösung: das konstruktive Wissen ist nicht vorhanden. e. Leerstelle für nicht erkannte Probleme. Neben diesen bedarfsorientierten Typen, abgeleitet aus der Bedarfs-Induktion, besteht ein weiterer Mechanismus, der der „autonomen Induktion“, der realiter vorhanden ist, da technische Potenziale auch ohne das Bestehen von aktuellen Bedürfnissen hervorgebracht werden können, und zwar zum einen durch naturwissenschaftliche Informationen, die potentiellen Gutscharakter besitzen (die Suche nach Röntgenstrahlen erfordert die Entwicklung von Messgeräten, die diese Strahlung erfassen, und die später als medizinische Geräte weiterentwickelt werden konnten), zum anderen durch nicht intendierte „Kuppelprodukte“, die bei der gütertechnischen Phase der Informationsgewinnung im FuE-Bereich anfallen (die Suche nach neuen Werkstoffen führt zum Nylon und damit zum durchsichtigen Damenstrumpf, ein Produkt, das erst durch sein Vorhandensein einen Bedarf auslöste). Die autonome Induktion der technischen Entwicklung setzt jedoch einen weiteren Informationsgewinnungsprozessschritt voraus, da die Bedarfsrelevanz der potentiellen Güter bzw. technischen Sachsysteme zunächst erkannt werden muss. Danach löst die autonome Induktion weitere, zunächst güterwirtschaftliche Impulse aus, wie die technische Umsetzung experimenteller Anordnungen in Produktionsverfahren (vgl. Prozessinnovationen), was unter Berücksichtigung ökonomischer Kriterien weitere technische Entwicklungen anregt (vgl. Pfeiffer 1971, S. 91ff.). Die Bedarfsrelevanz und die ökonomische Bewertung von Innovationen wird durch die wirtschaftliche Bedarfsdeckung zweckentsprechender Produkte aus dem naturwissenschaftlich-technischen Potenzial „herausfiltert“. Bedarfsinduktion und autonome Induktion wirken ihrerseits wieder auf die technische Entwicklung und den naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisprozess zurück und damit implizit auf die Voraussagbarkeit von Innovationen. 1.2.3 Möglichkeiten technologischer Voraussagen Die „Prognose“ der technischen Entwicklung stellt einzelsowie gesamtwirtschaftlich ein Teilproblem der Strategischen Planung dar, da sie einerseits als Grundlage weiterer gesellschaftlicher Planung des Staates dienen soll, sie andererseits für die Unternehmung selbst direkter Gegenstand der „Innovationsplanung und damit Teil des Strategischen Managements“ ist. 47 Eine solche Prognose im strengen wissenschafts-theoretischen Sinne des kritischen Rationalismus kann definiert werden als „…Deduktion zukünftiger Phänomene aus einer gegebenen Theorie und aus gegebenen singulären Anfangsbedingungen, die in der Sprache dieser Theorie beschrieben sind.“ 48 Der logischen Struktur nach unterscheiden sich Erklärung und Prognose nicht. 49 Nach Popper ist ein Vorgang (Explanandum) dann kausal erklärt, wenn er aus allgemeingültigen, raum- und zeitunabhängigen Theorien, Gesetzen oder Hypothesen und mindestens 47 In Anlehnung an Pfeiffer 1971, S. 110ff. 48 Ebenda, S. 111 49 Vgl. Urban 1973, S. 13ff.; Popper 1976, S. 31ff. <?page no="35"?> 36 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation einer singulären Rand- und Antezedenzbedingung (Explanans) deduktiv abgeleitet werden kann. Im Gegensatz zur Erklärung muss bei einer Prognose im strengen Sinn das Explanans in der Gegenwart gegeben sein, während das Explanandum in der Zukunft liegt und gesucht wird. 50 Für Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler ist jedoch eine Wissenschaftsauffassung, die nur deduktiv-nomologische Erklärungen zulässt, zu eng. 51 Überwiegend werden hier deduktiv-statistische und induktiv-statistische Voraussagen abgegeben, d.h., es werden die theoretisch allgemeinen Gesetze durch „Quasi- Gesetze“ und „empirische Regelmäßigkeiten“ ersetzt, die über den Eintritt künftiger Ereignisse Wahrscheinlichkeitsaussagen zulassen, auch wenn für den Begründungszusammenhang noch keine erklärenden Theorien zur Verfügung stehen. In der bisherigen technologischen Voraussagepraxis wurden und werden jedoch Voraussagen überwiegend aufgrund subjektiv-möglicher Wahrscheinlichkeiten getroffen, wie z.B. bei Kreativitätstechniken, die als Vorausmethoden genutzt werden und die damit nicht mehr intersubjektiv überprüfbar sind. 52 Vorausgesagt werden dann erwartete plausible und damit mögliche Entwicklungen mit meist mehreren Alternativen, die vom Eintritt der jeweiligen Anfangs- und Randbedingungen abhängen. 53 „Zeitraumüberwindende, deduktiv-nomologische Prognosen“, wie das Gravitationsgesetz in der Physik, sind in den Sozialwissenschaften nicht möglich, da zum einen keine Theorie bzw. allgemeingültige Gesetze vorhanden sind, zum anderen die Antezedenz- und Randbedingungen oft selbst in der Zukunft liegen und veränderlich sind, so dass auch sie mittels allgemeiner - aber realiter nicht vorhandener - Sätze prognostiziert werden müssten, was dann zu einem unendlichen Prognoseregress führen würde. 54 Der von Pfeiffer konstruierte Informationsgewinnungsprozess, der einen „…Informationsgewinn nur durch Zerstörung und Umbau des seitherigen theoretischen Bezugssystems“ 55 zulässt, ist zufallsbedingt und kein logisch-deduzierbarer Akt. Daher ist auch eine Prognose der Art und Weise sowie der Richtung der güterwirtschaftlichen (technischen) Entwicklung nicht möglich. „Das einzige Verfahren, sich über die zukünftige Richtung der gütertechnischen Entwicklung zu orientieren, … ist die Antizipation der zukünftigen Entwicklungsschritte bzw. der sie repräsentierenden gütertechnischen Information durch deren Produktion bzw. Gewinnung. Das heißt, dieses Verfahren … ist mit einem Informationsgewinnungsprozess isomorph.“ 56 Werden die Induktionsmechanismen der technischen Entwicklung als Mechanismen der Richtungssteuerung angesehen, ergeben sich bezüglich der Voraussage der technischen Entwicklung drei methodische Ansatzpunkte 57 : 50 Vgl. Lenk 1972, S. 14ff.; Urban 1973, S. 7ff. 51 Zur Gültigkeit von Induktionsschlüssen vgl. Popper 1976, S. 3ff.; von Alemann 1984, S. 28ff. 52 Vgl. Lenk 1972, S. 20ff., Bekannte Kreativitätstechniken für Prognosezwecken sind der Relevanzbaum und der inverse Relevanzbaum, die Szenariotechnik oder die Delphimethode. 53 Vgl. Wild, J., 1981, S. 92ff. Wild spricht hier nicht mehr von Voraussagen, sondern von bloßen subjektiven Erwartungen bzw. Annahmen. 54 Vgl. Urban 1973, S. 51ff. 55 Pfeiffer 1971, S. 111 56 Ebenda, S. 112f. 57 Ebenda, S. 114ff. und vgl. Staudt, E. 1974, S. 38ff. <?page no="36"?> 1.2 Traditionelle Innovations- und Technologielehre 37 www.uvk-lucius.de/ innovation [1] Potenzialorientierte Voraussage: ausgehend von der gegebenen naturwissenschaftlich-technischen Information bzw. den gütertechnischen Entwicklungen wird versucht, ihre gütertechnische Bedeutung zu antizipieren (z.B. beim Elektroauto). [2] Bedarfsorientierte Voraussage: es wird versucht, den zukünftigen Bedarf zu antizipieren sowie die hierzu notwendigen technischen Lösungsmöglichkeiten (altersgerechte Produkte bei einem demographischen Wandel). [3] Synopse von potential- und bedarfsorientierten Voraussagen: wegen der Rückkoppelungsbeziehungen zwischen den beiden Induktionsmechanismen sowie des sozialen Prozesscharakters der technischen Entwicklung sind das zukünftige Wollen und Handeln der Individuen und Gruppen zu antizipieren (z.B. Elektroautos, die automatisch „ohne“ aktive greise Fahrer ihr Ziel erreichen, also altengerecht sind). Im Unterschied zum gütertechnischen Informationsgewinnungsschritt entfällt bei der Voraussage eine experimentelle Überprüfung der zugrunde gelegten Gesetze, was durch einen kritischen Diskurs zu ersetzen ist. 58 Im Rahmen einer Strategischen Management-Planung ist es erforderlich, beide Voraussagearten anzuwenden, da bei alleiniger Anwendung der bedarfsorientierten Voraussage von festgelegten Sachzielen ausgegangen wird und daher die Auswahl sowie die ökonomische Bewertung der gesuchten Problemlösungsalternativen in einem frühen Stadium erfolgen würde. Hierdurch würden die zukünftigen Möglichkeiten im Extremfall auf die Durchführung einer Maßnahme zur Zielerreichung eingeschränkt. Änderungen der Bedarfsund/ oder der Problemstruktur aufgrund sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse und Werthaltungen (Mode, Politik und andere werthaltige Anschauungen) sowie neuer technischer Entwicklungen (Erfindungen und Innovationen) werden mit dieser Art von Voraussage jedoch nicht erfasst. Mit Hilfe der potentialorientierten Voraussage lassen sich weitere mögliche Ziele für die Unternehmung finden und können bisherige relativiert werden. Wirken bedarfsorientierte und potentialorientierte Voraussagen zusammen, kann im Idealfall ein Iterationsprozess erreicht werden. Geht man von den von Pfeiffer zugrunde gelegten Induktionsmechanismen als „allgemeinem Gesetz“ der technischen Entwicklung aus, liegen die Probleme v.a. im Bereich der Diagnose, die auf die Voraussage und die Festlegung der Antezedenz- und Randbedingungen durchschlagen. 59 Problemerkenntnis und -lösung sind abhängig vom Stand des aktuellen verfügbaren Wissens. Es ist jedoch nicht möglich, alle relevanten Einflussfaktoren und Anfangsbedingungen für das vorauszusagende Ereignis zu erfassen. In der Praxis hilft man sich 58 Vgl. Staudt 1974, S. 46ff.; Wild 1981, S. 70ff.: zu den Möglichkeiten und Grenzen eines Technology Assessment; vgl. Braun 1984, S. 98ff.; bislang ist es noch nicht gelungen, die künftige Entwicklung von Werthaltungen vorauszuschätzen, weshalb solche Annahmen, z.B. über eine postindustrielle Gesellschaft, bloße Behauptungen bleiben. Hier mit Bezug auf das Beispiel im Punkt [3] heißt das, die Menschen können vielleicht in fünf Jahren gar kein selbstfahrendes Elektroauto haben wollen. 59 Vgl. Staudt, S. 51 ff; v. Alemann 1984, S. 39ff. <?page no="37"?> 38 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation dadurch, dass die nicht berücksichtigten bzw. nicht erfassten Variablen geschätzt bzw. als konstant gesetzt werden, was dem Schließen eines offenen Modells bzw. Systems entspricht. Diesem Vorgehen liegt implizit die sogenannte Zeitstabilitätshypothese zugrunde, d.h. die Annahme, dass sich die in der Vergangenheit wirksamen Ursache- Wirkungszusammenhänge in der absehbaren Zukunft nicht ändern. Die Selektion von Informationen ist abhängig von den Interessen und subjektiven Wertungen der Prognostiker. Es hat sich gezeigt, dass in Zeiten einer grundsätzlich positiven Haltung zum technischen Fortschritt die Voraussagen zu einer Überschätzung der technischen Entwicklungsmöglichkeiten tendieren (z.B. Atomenergie), während nach Fehlschlägen pessimistische Voraussagen abgegeben werden. 60 Für die Technikvoraussagen stellt die Datenbeschaffung oftmals ein Problem dar, was dazu führt, dass häufig Induktionsschlüsse aufgrund von Fallstudien gezogen werden. 61 Da für die Ursachenanalyse oftmals keine „bewährten Theorien“ zur Verfügung stehen, wird diese dann auf der Grundlage von Plausibilitätsannahmen und Ad-hoc- Hypothesen vorgenommen. Ein bedeutsames Voraussageproblem liegt in der Beendigung des infiniten Prognoseregresses der Antezedenz- und Randbedingungen durch eine Schließung des Modells, so dass dann innerhalb eines geschlossenen Modells argumentiert werden kann. D.h., nur innerhalb des Modells ist dann die Voraussage von Variablen möglich, unter der Fehlerproblematik Drittvariable „zu vergessen“ bzw. „Schwache Signale“ im Sinne von Ansoff zu übersehen. D.h. die Übereinstimmung solcher Voraussagen aus geschlossenen Modellen mit der Realität hängt dann davon ab, ob die gesetzten Randbedingungen sich in der Realität nicht abweichend verhalten und ob alle Einflussfaktoren erfasst wurden. 62 Da für eine kausale Begründung der Voraussagen meist keine theoretische Basis vorhanden ist, beruht sie stark auf den im statisch-induktiven Modell angenommenen Beziehungen (Cluster- und Faktoren-Modells). Die Wahl eines linearen oder exponentiellen statistischen Entwicklungsverlaufs oder Annahmen über die Abhängigkeit von Variablen bestimmen das Ergebnis der Voraussage. 63 Damit zeigt Pfeiffer einen grundsätzlichen Weg auf, wie neue Geschäfte für ein Unternehmen bzw. Erfindungen und/ oder Innovationen gefunden werden können. Erst mit seiner später entwickelten Technologieportfolioanalyse 64 beschreibt Pfeiffer, leider nur qualitativ, eine genauere Anwendung seiner Theorie der technischen Entwicklung für einen Industriebetrieb. Pfeiffer verweist z.B. auf eine Strategische Patentanalyse sowie auf ein heuristisches Vorgehen mit Hilfe der Systemtechnik, wie dies von Ropohl 65 ca. 20 Jahre später eingelöst wird. 60 Vgl. Ayres mit zahlreichen Beispielen, Ayres 1971, S. 38ff. 61 Vgl. Brockhoff 1977, S. 51f.: Generell sind der Informationsbeschaffung zeitliche, personelle und kostenmäßige Grenzen gesetzt. 62 Vgl. Pfeiffer 1971, S. 113; Urban 1973, S. 51ff. 63 Vgl. Popper 1976, S. 31ff. 64 Vgl. Pfeiffer u.a. 1983, S. 77ff. 65 Vgl. Ropohl 1979, S. 269ff. <?page no="38"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 1.3 Neue Institutionenökonomik: Vom Abrücken nicht nützlicher volkswirtschaftlicher Grundannahmen einer mikroökonomischen Gleichgewichtstheorie hin zu einem patentgeschützten Innovationswettbewerb Burr (vgl. Burr, 2004, S. 57ff.), dem hier gefolgt wird, konstatiert, dass sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur noch kein Wettbewerbsbegriff durchgesetzt hat bzw. strittig ist, wie Wettbewerb institutionalisiert und ausgelöst werden könnte. Unklar unter anderem ist, wie der Wettbewerb wahrscheinlich verläuft und/ oder welche Ergebnisse er zeigt bzw. aufweisen könnte, und welche Rolle dabei die Innovationen und die Patente einnehmen. Dass durch die Innovationen zumindest der Versuch unternommen wird, Wettbewerber auszuschalten oder zu übertrumpfen, wird von Picot u.a. (vgl. Picot/ Schneider/ Laub 1989, 360) fast im Sinne von Schumpeters „Schöpferischer Zerstörung“ unterstellt. Burr disputiert dazu die relevanten volkswirtschaftlichen Ansätze: Zum statischen Wettbewerbsgleichgewicht und dessen Funktionen für Innovationen Das Modell des vollkommenen Wettbewerbs galt lange Zeit als Referenzmodell der Wettbewerbstheorie und der Wettbewerbspolitik: „Vollkommene oder homogene Konkurrenz oder vollkommener Wettbewerb herrscht dann, wenn auf einem Markt nur gleiche (homogene) Güter angeboten werden und für diese Güter nur ein einziger Preis möglich ist. …Man bezeichnet daher auch die vollkommene Konkurrenz als eine Marktform, für welche das Prinzip der Preisunterschiedslosigkeit gilt. Dieser Grundsatz kann nur verwirklicht werden, wenn sachliche und persönliche Bindungen und Beziehungen bei den Tauschpartnern keine Rolle spielen und wenn alle Nachfrager den gesamten Markt zu überblicken vermögen.“ (Karl Häuser: Volkswirtschaftslehre, Hamburg 1967, S. 86f.) Daraus lässt sich folgern, dass jede Innovation, die auf Heterogenität und Preisunterschiede wert legt, das vollkommene Wettbewerbsmodell infrage stellt, ein Patent würde darüber hinaus die Problematik des Gleichgewichtsmodells noch verstärken. Dass dieses volkswirtschaftliche Wettbewerbsmodell nicht zu halten ist, machten Kantzenbach und von Hayek mit ihren Funktionen eines dynamischen Wettbewerbsmodell deutlich, indem sie zwar die Funktionen des statischen Modells beibehielten, aber dynamische Funktionen eines realitätsnäheren Modells hinzufügten. (A) Funktionen des statischen Wettbewerbsmodells [1] Ziel und Funktion ist die Ausrichtung der Produktion an die Präferenzstruktur der Nachfrager: „Diese Funktion erfüllt der Wettbewerb, indem das Erbringen markt- und kundengerechter Leistungen durch Gewinne belohnt, das Angebot von Leistungen, die den Kundenpräferenzen nicht <?page no="39"?> 40 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation entsprechen, durch Verluste, im Extremfall mit dem Zwang zum Ausscheiden aus dem Markt bestraft wird.“ (Burr 2004, S. 59f.) [2] Optimale Allokation der Ressourcen: „Unternehmen werden durch (den marktwirtschaftlichen, d. Verf.) … Wettbewerb zur Aufspürung und Erschließung von Effizienzreserven und zur Auswahl der kostenminimalen Faktorkombination gezwungen.“ (Burr 2004, S. 60) [3] Ziel und Funktion ist die Generierung einer am Leistungsprinzip orientierten „gerechten“ Einkommensverteilung: „Wettbewerb verhindert das Entstehen nicht-leistungsbezogener Gewinne bzw. Einkommen.“ (Burr 2004, S. 60) Das Modell der vollkommenen Konkurrenz wird seit Jahrzehnten kritisiert. Hayek (1976, S. 122f.) stellt dem statischen Wettbewerbskonzept der Neoklassik eine dynamische Betrachtung des Wettbewerbsprozesses gegenüber. Hayek betrachtet den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren beim Suchen, Finden und Entdecken neuer Problemlösungen, d.h. neue Produkte und Produktionsverfahren zu finden. Dabei können im Rahmen des Wettbewerbsprozesses konkrete Ergebnisse nicht vorausgesagt werden. Damit werden von Hayek, im Vergleich zu Pfeiffers Theorie der technischen Entwicklung, mehrere Aspekten nicht ins Kalkül gezogen. Er negiert und/ oder nimmt nicht die autonome Induktion im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich zur Kenntnis, er kennt die Theorien der Ontogenese und der Phylogenese nicht und er kennt auch nicht die Möglichkeiten der Technikprognose. Zudem erkennt Hayek nur begrenzt die „schöpferische Zerstörung“ durch neue technische Sachsysteme nach Schumpeter an. (B) Funktionen des dynamischen Wettbewerbsprozesses [1] Verwirklichung des technischen Fortschritts: Wettbewerb wird durch Nachfrage induziert. Damit leistet der Wettbewerb einen Beitrag zum technischen Fortschritt. Unter dem Druck der induzierten Nachfrage werden Unternehmen gezwungen, in Innovationen zu investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. [2] Ziel und Funktion ist eine flexible Anpassung der Produktion und der Fertigungstechnologie an Änderungen der Nachfrage oder Änderungen staatlich festgesetzter Rahmenbedingungen, z.B. beim Katalysator im Auto. (Vgl. Kantzenbach 1967, S. 16f.): „Wettbewerb ist eine Voraussetzung für das allokativ effiziente Funktionieren des Preismechanismus. Das Preissystem sorgt dafür, dass sich die Zusammensetzung des Güterangebotes flexibel an Änderungen der Konsumentenpräferenzen anpasst und die Produktionsfaktoren gemäß den Wünschen der Nachfrager in neue Verwendungen gelenkt werden. Kritisch ist dazu anzumerken, dass ein „Innovationswettbewerb“ nach Schumpeter mit „schöpferischer Zerstörung“ bisheriger technischer Sachsysteme eher Monopolpreise am Anfang einer technischen Entwicklung hervorbringt, unterstützt durch den Schutz intellektueller Eigentumsrechte als einen „idealtypischen Preiswettbewerb“. Hinzu kommt, dass grundlegende Innovationen (vgl. autonome Induktion bei Pfeiffer 1971) <?page no="40"?> 1.3 Neue Institutionenökonomik 41 www.uvk-lucius.de/ innovation fast nie durch Nachfrage ausgelöst werden, höchstens später durch Nachfrage diffusionsmäßig verstärkt werden können. Auch die Anfänge der Patentgesetzgebung nimmt in der Neuzeit den Gedanken auf, dass Technik und Produkte durch geniale Entdecker, Forscher, Erfinder verursacht werden, die zumindest ein zeitliches Monopol haben sollten, um die wirtschaftliche und technische Entwicklung lohnenswert zu verwerten. „Bei den institutionsökonomischen Ansätzen … stehen Fragen der Institutionengestaltung (insbesondere der Vertrags- und Organisationsgestaltung) im Mittelpunkt der Betrachtung … Ausgangspunkt dieser Ansätze ist die Annahme, dass menschliches Verhalten durch Institutionen koordiniert und gelenkt wird.“ (Burr 2004, S. 99) Ansätze der Neuen Institutionenökonomik sind: Property-Rights-Theorie (vgl. den Beitrag von Krimphove in diesem Buch) Transaktionskostenansatz und Agency-Theorie, auf die hier weniger eingegangen werden sollen, wegen folgender Annahmen: „Alle institutionen-ökonomischen Ansätze teilen die gleichen Verhaltensannahmen und Anwendungsvoraussetzungen; die Analyse ist geprägt vom methodologischen Individualismus, d.h. dem Grundsatz, dass Entscheidungen auf der Ebene des Individuums analysiert werden. Dementsprechend werden Ziele nur dem handelnden Individuum und nicht dem Kollektiv von Individuen, wie es beispielsweise ein Unternehmen unterstellt bzw. ihm zugeschrieben wird (vgl. Knudsen 1995, S. 189, zitiert nach Burr 2004, S. 100)“ Auch sollen die institutionen-ökonomischen Ansätze als Kritik und Antwort auf die klassischen Wettbewerbsmodelle verstanden werden, nämlich durch folgende Annahmen: (a) Der beschränkten Rationalität des Individuums, das nur (b) eine beschränkte Informationsaufnahme- und Informationsverarbeitungskapazität besitzt und mit (c) satisfizierenden Handlungsergebnissen zufrieden ist. 1.4 Zum Strategieansatz der Industrial-Organizations-Forschung oder zum Market-Based-View einer Branchenstrukturanalyse und eines Marktgestaltungsansatzes des innovativen Strategischen Managements Strategisches Management und Unternehmensführung ist erst einmal ein deutlicher Kontrast zu den klassischen Gleichgewichtsmodellen und neoklassischen Modellen der Property-Rights-Ansätze der Volkswirtschaft. Strategisches Management unterliegt nicht den Gesetzen der Volkswirtschaft und beabsichtigt selbst Unternehmenswachstum durch Innovationsmanagement und/ oder Mergersand Acquisitionsaktvitäten 66 „nicht marktwirtschaftlich zu erdulden“, sondern zu kreieren. Gleichgültig, ob man Strategisches Management mehr als Gestaltungslehre zu einer innovativen Neuorien- 66 Vgl. Müller-Stewens, G. und Lechner, C., 3. Aufl., 2005 sowie Müller-Stewens, G. und Breuer, M. Corporate Strategy&Governance, 2009 <?page no="41"?> 42 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation tierung versteht oder zur Erklärung der innovativen Handlungsweisen und -ergebnisse von Unternehmen heranzieht: die Strategie setzt immer eine Entscheidung zur Gestaltung der Unternehmenssituation, der Wahl der Ressourcenverwendung und des Produkt-Markt-Konzeptes voraus, und zwar mit zentralen Wettbewerbsschwerpunkten, der Neuausrichtung der Organisation und des Führungskonzeptes sowie der Messung des Erfolges z.B. mit Hilfe einer Berliner Balanced Scorecard. Typische innovative Strategien sind der Eintritt in neue Märkte mit neu entwickelten Produkten und Technologien. 67 Industrial Organization gilt als integriertes Paradigma von volkswirtschaftlicher Marktanalyse und betriebswirtschaftlicher Unternehmensstrategie. Bain 68 und Mason 69 gelten als Gründer des Industrial-Organization-Approaches mit dem Structure- Conduct-Performance-Paradigma. Als eines der herrschenden Paradigmen der Strategieforschung ( Market-Based-View) wurde es aber erst durch die Arbeiten von Michael Porter 1980 bekannt (Competitive Strategy, auf Deutsch: Wettbewerbsstrategien), aber auch 1985 durch Competitive Advantage (auf Deutsch: Wettbewerbsvorteile). Porter veränderte das Structure-Conduct-Performance-Paradigma von Bain und Mason zur Branchenanalyse-Wettbewerbsstrategie(n)-Wertschöpfungskette-Performance-Kausalität um. Dabei werden nach Burr 70 unterschiedliche Hypothesen innerhalb der Industrial-Organization-Forschung geäußert : Die herrschende Ansicht hebt die strukturierte Perspektive hervor, nämlich dass die Marktstruktur, das Unternehmensverhalten (nach Porter die rationale Unternehmensstrategie) und damit die Unternehmensperformance bestimmt. Die abweichende Meinung postuliert einen umgekehrten Zusammenhang, dass die Unternehmensperformance, z.B. der RoI, die Unternehmensstrategie und dadurch auch die Markt-/ Branchenstruktur bestimmt. Der Market-Based-View bzw. der Ansatz Industrial Organizations der Strategieforschung geht nach Burr von folgenden Prämissen aus, die auch kritisch zu beurteilen sind. a. Die primäre Analyseeinheit des Market-Based-View ist die Branche. Nach Porter stehen bei der Branchenanalyse die Wettbewerber des Unternehmens selbst im Fokus, aber auch die Lieferanten, die potentielle Konkurrenz, Substitutionsprodukte sowie die Abnehmer/ Kunden sowie die vom Unternehmen realisierten Produkt- Markt-Kombinationen im Rahmen eines strategischen Verhaltens. Wie man zu der Innovation der Produkt-Markt-Kombination kommt, wird nicht thematisiert (hier fehlt der Ansatz Technology-Based-View). b. Managerhandeln wird als mehr oder weniger rational modelliert. „Entscheidungen des Managements streben die Erreichung eines (mikroökonomischen, d. Verf.) 67 Vgl. Schreyögg, G,. 1984, S. 5 68 Vgl. Bain, J.S.: Industrial Organization, 2nd ed., N.Y. 1968 69 Vgl. Mason, E.S.: Economic concentration and the monopoly problem, Cambridge/ Mass. 1957 70 Vgl. Burr, W.: Innovationen in Organisation, Stuttgart 2004, S. 140ff. <?page no="42"?> 1.4 Strategieansatz der Industrial-Organziations-Forschung 43 www.uvk-lucius.de/ innovation stabilen Gleichgewichtzustandes in Form eines dauerhaften und Wettbewerbsvorteils an.“ (Burr 2004, S. 141) Wie dies praktisch in einem Unternehmen aus den Zahlen des Rechnungswesens kalkuliert werden soll oder im Rahmen einer Branchenanalyse mikroökonomisch konkret erfolgen kann, bleibt ungeklärt. c. Die unternehmerische Ressourcenausstattung wird als exogen gegeben modelliert oder es wird davon ausgegangen, dass ein Unternehmen, nachdem es sich für eine bestimmte Wettbewerbsstrategie entschieden hat, die für die Strategieimplementierung erforderlichen Ressourcen friktionslos und unproblematisch erwerben bzw. aufbauen kann (vgl. Teece/ Pisano/ Shuen 1997, S. 514, Burr 2004, S. 141). Dass die Innovation die Differenzierungsstrategie oder Kostenführerschaftsstrategie bestimmen könnte, wird nicht in Erwägung gezogen. Ebenso wird auch nicht in Erwägung gezogen, wie das Humankapital z.B. des Resource-Based-View die Innovation und die Strategie beeinflussen kann. Fairerweise muss herausgestellt werden, dass Porter die Bedeutung des Resource-Based-View zumindest anerkannt hat. d. Die Unternehmen einer Branche werden grundsätzlich als homogen, d.h. als ökonomische Einheiten mit qualitativ weitestgehend identischer Ressourcenausstattung modelliert (vgl. Barney 1991, S. 100 sowie Peteraf 1990, S. 10ff.). Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen werden auf Unterschiede in der Untergröße und in der ökonomischen Performance, d.h. in den erzielten Renditen, reduziert (vgl. Teece/ Pisano/ Shuen 1997, S. 511 sowie Conner 1991)“ (Burr 2004, S. 141). Kritisch ist an dieser Prämisse anzumerken, wie dies bereits bei Burr selbst herausgehoben wird, dass bei innovativen Unternehmen nicht von homogenen Einheiten auszugehen ist. Gerade durch ihre Ressourcenausstattung und ihr wissensorientiertes und technologisches Humankapital, so der Berliner Ansatz, können Unternehmen neue Wettbewerbsregeln schaffen und die Marktstruktur, die Strategie und das Renditeergebnis enorm verändern. Das beste Beispiel hierzu bildet sicherlich Apple, das einer Branche seit Jahren seine Spielregeln durch Innovationen und deren Vermarktung aufoktroyiert. Der Berliner Ansatz konstatiert zu den Prämissen des Strategieansatzes des Market- Based-View, dass dieser betriebswirtschaftlich-technisch erweitert und verbessert werden kann, damit man zu einem realistischeren Innovationsmanagementansatz kommen kann, und schlägt deshalb weitere Prämissen vor (siehe unten): a. Zuerst einmal die Integration des Technology-View-Ansatzes in den Market-Based- View-Ansatzes, da dieser zumindest erklärt, dass die Erfindung und die Innovation vorhanden sein müssen, um eine neue Produkt-/ Markt-Kombination als Differenzierungsstrategie zu starten. Dadurch ergeben sich die potentiellen Möglichkeiten, die Branche zu gestalten und neue Wettbewerbsregeln in der Branche zu implementieren. b. Zweitens muss im Market-Based-View als weitere, notwendige Bedingung der Resource-Base-View berücksichtigt werden, unter besonderer Berücksichtigung des Humankapitals. Das wissensbasierte Humankapital schafft die Innovation, in dem das Innovationsmanagement die Innovation vom Forschungs- und Entwicklungsbereich in den operativen Bereich der Wertschöpfungskette transferiert, d.h. insbesondere in den Produktions- und Marketingbereich. Das Personalmanagement sorgt mittels Personalentwicklungsaktivitäten dafür, dass die erforderlichen Kompetenzen des wissensorientierten Humankapitals in ein permanentes, organisiertes, <?page no="43"?> 44 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation technologieorientiertes Humankapital überführt wird, um wettbewerbsfähige innovative Produkte produzieren und verkaufen zu können. c. Um mit dem Porter-Ansatz nicht nur eine Strategieformulierung und eine Marktgestaltung einer Branche zu erzielen, ist zu der Wertschöpfungskette ein Corporate Governance-Ansatz für das Unternehmen zu entwickeln, wie ihn Müller-Stewens/ Brauer 2009 vorschlagen. Des Weiteren ist auch eine kalkulierte Strategieimplementierung durchzuführen, wie es der Berliner Ansatz mit der Berliner Balanced Scorecard 71 und den Innovationserfolgsrechnungen 72 fordern. Dadurch wird ein neues Performanceverständnis notwendig. Auf Basis dieser Prämissen lässt sich ein betriebswirtschaftlich-technisches Innovationsmanagement kreieren. Doch zunächst ist noch auf den Inhalt des Resource-Based- View als einen weiteren Strategieansatz eines integrierten Innovationsmanagements einzugehen. 1.5 Zur ressoucenorientierten, strategischen Unternehmensführung: Resource-Based-View of the Firm und zum Stellenwert einer differenzierten Humankapitalbetrachtung für den Innovationswettbewerb Mit dem Resourced-Based-View-of-the-Firm-Ansatz ist ein erneuerter Paradigmenbzw. Perspektivenwechsel gegenüber dem Technology-Based-View, dem neoklassischen Marktmodell, der Institutionenökonomik und dem Market-Based-View erfolgt. In den Vordergrund rückt „…nicht… die marktwirtschaftliche, d. Verf.) Umwelt des Unternehmens, sondern die einem Unternehmen zur Verfügung stehenden internen Ressourcen und Kompetenzen inklusive der über Kooperationen eingebundenen externen Ressourcen und Kompetenzen, (die, d. Verf.) zum Ausgangspunkt der Strategieformulierung zu machen (sind, d. Verf.) (so die Ansicht von Prahalad/ Hamel 1990, sowie Grant 1991, S. 116).“ (zitiert nach Burr 2004, S. 114) Als Begründerin des Resource-Based-View gilt Edith Penrose mit ihrem Werk „The Theory of the Growth of the Firm“, 1959, da sie die Unternehmung als ein System produktiver Ressourcen definiert. In Anlehnung an Schumpeter sieht sie die Aufgabe der Unternehmung in der Schaffung von Innovationen mit den Ressourcen und Kompetenzen des Unternehmens. Nach Bea/ Haas 2013 stellen „Ressourcen bzw. Potenziale [...] speicherspezifische Stärken dar, die es ermöglichen, die Unternehmung in einer veränderlichen Umwelt erfolgreich zu positionieren und somit den langfristigen Unternehmenserfolg zu sichern.“ (Bea/ Haas 2013, S. 30) Burr umschreibt die Kernaussage des ressourcenorientierten Ansatzes derart: „ Ein Unternehmen ist dann im Wettbewerb erfolgreich, wenn es überlegene Ressourcen besitzt und/ oder seine Ressourcen besser nutzt als seine Wettbewerber und dadurch eine überlegene Effizienz und Effektivität erzielt.“ (Burr 2004, S. 114f.) 71 Vgl. Schmeisser, W. / Clausen, L. 2009 72 Vgl. Schmeisser (Hrsg.) 2010 <?page no="44"?> 1. 45 www.uvk-lucius.de/ innovation Dazu hat sich Grant 1991 mit der Klassifikation von Ressourcen (assets) auseinandergesetzt. Er unterscheidet: Tangible (bilanzielle, einzelbewertbare) Ressourcen (bilanziell nach HGB: Vermögenswerte): Zu ihnen zählen alle physisch messbaren, zählbaren und bewertbaren Güter wie Produktionsanlagen, Fuhrpark, Grundstücke usw. Intangible (nicht-physische, schwer bewertbare Wirtschaftsgüter) Ressourcen: Sie umfassen nach Grant jene Vermögensgegenstände wie Unternehmenskultur und -image, organisatorisches und technisches Know-how oder Kundenstamm (-datei). Human-Ressourcen, sie sind schwer beschreibbar für ihn, und umfassen die Kompetenzen, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Mitarbeiter wie deren Knowhow und Motivation. Organizational Capabilities: Grant hebt hervor, dass die Ressourcen nicht von sich aus produktiv sind, sondern ihr strategischer Erfolg, „…hängt vom richtigen Einsatz und der geeigneten Kombination dieser Ressourcen, also von der Führung ab.“ (Bea/ Haas 2013, S. 31) Ein Gedanke der sich bereits bei Gutenberg (1951) in seiner Produktionsfunktion B finden lässt. Dynamic Capabilities: Dazu entwickelt Teece u.a. 1997 einige interessante Aspekte im Sinne Schumpeters, nämlich das Unternehmen in einer dynamischen Umwelt schwer imitierbare „Dynamic Capabilities“ aufbauen müssen. „Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, die es dem Unternehmen erlauben, sich ständig zu erneuern und sich den veränderten Marktbedürfnissen flexibel anzupassen. Da einzigartige Ressourcen v.a. aus Wissen bestehen, betont Teece die wichtige Rolle der Wissensträger und die Bedeutung des konsequenten Managements dieser Wissensträger (Teece [Dynamic Capabilities] 224ff.)“ (Bea/ Haas 2013, S. 31). Zum Konzept der Kernkompetenzen (Core Competence) von Prahalad/ Hamel (1990) Die Grundüberlegung des Konzeptes der Kernkompetenzen basiert auf dem Gedanken, dass ein Bündel von Fähigkeiten und Ressourcen die Kernkompetenzen des Unternehmens widerspiegelt, die wiederum die Grundlage für die Kernprodukte eines Unternehmens darstellen und für den EBIT und damit den Shareholder Value verantwortlich sind, weil sie sich durch schwierige Erzeugbarkeit, Imitierbarkeit und Substituierbarkeit durch Konkurrenzprodukte auszeichnen. Wesentliche Prämissen und Elemente des ressourcenorientierten Ansatzes in Anlehnung nach Burr sind: a. Die meisten Vertreter des ressourcenorientierten Ansatzes wählen das Unternehmen mit deren Zielsetzung und Ressourcen als Ausgangspunkt ihrer Innovations- Strategie-Betrachtung. Für diese Vorgehensweise im Strategischen Management spricht, dass die verfügbaren Ressourcen kontrollierbarer, kalkulierbarer und risikoärmer als die Branche, das Marktsegment und der Kunde sind. Eine Rechenbarkeit der Strategie z.B. mittels Return on Investment und Shareholder Value ist möglich. Eine Branchenanalyse im Hinblick ihrer Potenziale ist darstellbar. b. Elementare Untersuchungseinheiten sind Ressourcen bzw. Kernkompetenzen: <?page no="45"?> 46 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation c. „Essenziell ist in allen ressourcenorientierten Ansätzen der Unternehmensführung die Annahme, dass jedes Unternehmen einen spezifischen Ressourcenpool aufweist und sich dadurch von anderen Unternehmen seiner Branche unterscheidet. Mit dieser Annahme der heterogenen Ressourcenausstattung werden Effizienzunterschiede zwischen Firmen und das unterschiedliche Potenzial von Unternehmen zur Erzielung von Renten (EBITs und Shareholder-Values, d. Verf.) und Wettbewerbsvorteilen (aufgrund der internen und externen Wertschöpfungskette(n) der Unternehmung, d. Verf.) erklärt.“ (Burr, 2004, S. 116) d. Ziel des unternehmerischen Handels sind die Erzielung des Shareholder-Values sowie des permanenten Innovations- und Organisationswandels. e. Zeithorizont des Strategischen Managements: mittelbis langfristig. f. Vertreter dieses Ansatzes gehen davon aus, dass Kernkompetenzen und Innovationen langfristig nutzbare und schwer imitierbare Wettbewerbsvorteile schaffen können. g. Annahmen zur marktwirtschaftlichen Umwelt des Unternehmens: vom „funktionierenden Wettbewerb“ zum Porter-Ansatz“: h. Ressourcenorientierten Ansätzen liegt die explizite oder implizite Prämisse einer unsicheren, dynamischen Umwelt zugrunde, die ein Konzept eines verteidigungsfähigen Wettbewerbsvorteils erfordert. „Ein verteidigungsfähiger Wettbewerbsvorteil liegt vor, wenn er weiter besteht trotz Anstrengungen von Konkurrenten, diesen Wettbewerbsvorteil zu duplizieren, und daher die Anstrengungen der Konkurrenten mangels Erfolgsaussichten beendet worden sind (vgl. Barney 1991, S. 102).“ (zitiert nach Burr 2004, S. 136f.) i. Zielsetzung des Ansatzes ist es, vorläufige deskriptive und präskriptive theoriegestützte Aussagen zu liefern. Kritisch ist zum „Ressourcenorientierten Ansatz“ zu konstatieren, dass er nicht klärt, woher die Erfindungen und Innovationen stammen oder welcher Stellenwert eine Erfindungs- und Konstruktionslehre in einem Unternehmen zukommt. Auch der „Branchenorientierte Ansatz von Porter“ führt hier nicht weiter. Auch wird nur in wenigen Aussagen beim „Ressourcenorientierten Ansatz“ z.B. bei Teece u.a. das Humankapital und seine Varianten angesprochen oder z.B. die Bedeutung und die Funktionen einer innovativen Unternehmenskultur, die aber für ein erfolgreiches Innovationsmanagement existenziell sind. Es liegt also mehr als nahe, einen integrativen Innovationsmanagementansatz zu kreieren. 1.6 Vom technologieorientierten Ansatz zum Berliner humankapitalorientierten Innovationsansatz Betriebswirtschaftliche Innovationsansätze, der technologieorientierte Ansatz, der marktorientierte Ansatz, der ressourcenorientierte Ansatz (vgl. Abb. 3 und und Abb. 4, Seite 47) sowie der Berliner humankapitalorientierte Innovationsansatz liegen dem Handbuch Innovationsmanagement zugrunde. Dabei sind die ersten drei in der betriebswirtschaftlich-technischen Literatur zu finden. <?page no="46"?> 1. 47 www.uvk-lucius.de/ innovation Der Berliner Humankapitalorientierte Innovationsansatz versteht sich als ergänzender Ansatz zu den technologie-, markt- und ressourcenorientierten Ansätzen. Abbildung 3: Betriebswirtschaftliche Innovationsansätze Abbildung 4: Humankapitalmodelle Dabei wird das Humankapital als zu kreierendes notwendiges Wissen in Form von Erfindungen und Patenten im Forschungs- und Entwicklungsbereich herausgehoben. Als weiteres Element wird das technologische Humankapital als erstes hinreichendes, routiniertes, organisatorisches „wissensbasiertes Humankapital“ in Produktion und Marketing mit Hilfe der Transferfunktion der Personalentwicklung als dynamische Fähig- Naturwissenschaftliches technisches Wissen löst Induktionsmechanismen aus Ergebnisse (performance) Innovationsstrategie durch „schöpferische Zerstörung“ Erzeugt Erfindungen und Innovationen: Produkte / Pozesse Marktstruktur (structure) Marktergebnis (performance) Marktverhalten (conduct / strategy) Potential (Ressourcen) Performance Strategie Ressourcenorientierter Ansatz, z.B. Schumpeter, Penrose, Prahalad/ Hamel (resource-based-view) Marktorientierter Ansatz, z.B. Bain, Mason, Porter (market-based-view) Technologieorientierter Ansatz, z.B. Pfeiffer 1971, Ropohl 1979 usw. (technology-based-view) Humankapital des Funktionsorientierten Personalmanagements Arbeitspsychologisches, organisatorisches Humankapital Perspektiven der Humankapitalmodelle Arbeitsökonomischer und Personalökonomischer (volkswirtschaftlicher) Ansatz Berliner Humankapitalmodelle Berliner Humankapitalbewertungsmodell Berliner Humankapitalorientierter Innovationsansatz impliziertes Humankapitalmodell Personal- und Organisationsentwicklung soll betriebliche Kompetenzen, Fähigkeiten und Kenntnisse schaffen Normalerweise durch Ausbildungsberufe „Reparaturen“ an Arbeitsplätzen und Organisationsprozessen bei Motivationsmangel, Burnout, Mobbing etc. Ergänzung zum Funktionenorientierten Personalmanagement • Impliziertes makroökonomisches Humankapital als Summe der Bildungsaktivitäten in Schulen und Universitäten usw. in einer Volkswirtschaft sowie Bildungsaktivitäten als Investitionen in Unternehmen • Zuführung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt I, sprich zurück in die Unternehmen durch Bildungsaktivitäten und Hartz IV usw. Berechnung, Bewertung und Kontrolle des Humankapitals mit Hilfe des Berliner Humankapitalbewertungsmodells deduziert aus dem Berliner Balanced Scorecard-Ansatz auf Grundlage der Finanzorientierten Personalwirtschaft Schaffung von Wissen und Patenten im Forschungs-,Entwicklungs- und Konstruktionsbereich „wissensbasiertes Humankapital“ Übertrag des wissensbasierten Humankapitals in Routinehandlungen in Produktion und Absatz durch Personalentwicklung (technologisches Humankapital) Management des Humankapitals der Innovationen, d.h. des wissensbasierten und technologischen Humankapitals <?page no="47"?> 48 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 5: Implementierung von wissensbasiertem Humankapital in technologiebasiertes Humankapital keit herausgestellt. Als zweite hinreichende Bedingung ist das humankapitalbasierte Innovationsmanagement zu nennen, das als konsequentes Management der Wissensträger bzw. des Humankapitals, dieses im Unternehmen koordiniert. Durch die Koordination der Humankapitalarten werden nachhaltige, zu verteidigende Wettbewerbsvorteile und Performanceleistungen für das Unternehmen geschaffen und sichergestellt (vgl. Abb. 4, S. 47, und Abb. 5, S. 48). Zum Integrierten Berliner Innovationsansatz Der Integrierte Berliner Innovationsansatz versucht alle Aspekte der obigen vier „View-Ansätze“ zu einem Gesamtmodell zu integrieren (vgl. Abb. 6 S. 49), ein Ansatz, der als Konzept dem Handbuch des Innovationsmanagements zugrunde liegt. Es wird vom selektiv-rationalen Erfinder ausgegangen, der im Sinne von Pfeiffers Theorie der technischen Entwicklung oder Ropohls Theorie der Ontogenese der technischen Entwicklung einen autonomen Induktionsmechanismus, sprich eine Erfindung, auslösen kann. Dieser Erfinder, ein selektiv-suchender Fachmann in seinem naturwissenschaftlich-technischen Feld, experimentiert und sucht durch gezielte Informationsverarbeitungen nach dem nächsten „technischen Schritt“ der potenziellen Erfindung, die zu einer sinnvollen Innovation in diesem Bereich führen müsste. Der Integrierte Berliner Innovationsansatz geht zunächst vom Ressourcenorientierten Ansatz aus, der das Unternehmen mit dessen Zielsetzung und Ressourcen als theoretischen Ausgangspunkt der Innovations-Strategie-Betrachtung wählt, und legt folgende Prämissen zugrunde: Forschungs- und Entwicklungsbereich: Kreierung von „wissensbasiertem Humankapital“ und Erfindung(en), Patenten, montagegerechten Entwicklungen (vgl. Bewertung immaterieller Vermögenswerte) Produktionsbereich: in technologiebasiertes Humankapital pro Fertigungsabschnitt / -segment etc. durch montagegerechte Konstruktion für jeden Arbeitsplatz und Facharbeiter Marketingbereich: in technologiebasiertes Humankapital für Vertrieb und Instandhaltung Implementierung bzw. Überführung von wissensbasiertem Humankapital in Innovationen „innovatives, selbst erstelltes Humankapital wird mittels Personalentwicklung überführt“ HR-Performances wissensbasiertes Humankapital in technologieorientiertes Humankapital wird bewertet mittels des (1) Berliner Humankapital-Bewertungsmodells und des (2) Berliner Personal- und Innovations-Risiko-Indexes <?page no="48"?> 1. 49 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 6: Integrativer Berliner Innovationsansatz a. Der Erfinder schafft mit der Erfindung und dem Patent eine erste vorläufige Voraussetzung für eine Innovationsstrategie eines Unternehmens. b. Der Prozess von der Suche, über das Erfinden/ das Innovieren bis zum Patentieren wird im Unternehmen institutionalisiert, und zwar in Form der Forschungs-, Entwicklungs- und Konstruktionsabteilung sowie Patentabteilung. Gerade die institutionalisierte „Forschung“ hat für eine permanente „Erzeugung wissensbasierten Humankapitals“ zu sorgen, deren Ergebnisse Erfindungen und Patente sind. c. Das innovative Strategische Management hat die verfügbaren Ressourcen zu kontrollieren, zu kalkulieren sowie Risiko und Synergien offenzulegen, um einen „Marktorientierten Innovationsansatz“ zu realisieren. Dieser setzt eine Gestaltbarkeit der Branche, des Marktsegmentes und der Kundenwünsche voraus. Durch diese Annahmen lässt sich die Innovation analysieren, gestalten und rechnen. d. Die Innovationsstrategie und deren Wirtschaftlichkeit werden durch permanente Verbesserungs- und Prozessinnovationen sichergestellt. e. Die erste Herausforderung an ein zielgerichtetes Innovationsmanagement von Wissensträgern wird es sein, wissensbasiertes Humankapital der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in technologisches Humankapital und in Innovationen für die operativen Bereiche Produktion und Marketing mittels Personalentwicklungs- und Organisationswandel zu transferieren. D.h., „wissensbasiertes Humankapital der Forscher und Entwickler“ muss in Produktinnovationen und routinemäßige, montagegerechte Konstruktionsanweisungen für die Produktion überführt werden und in Expertenwissen für „Innovationsmarketingmanager“, die für den Vertrieb geschult, vorbereitet und motiviert werden müssen. f. Organizational Capabilities: Der Innovationserfolg hängt vom richtigen Einsatz und der geeigneten Kombination der Ressourcen und der Führung ab. g. Dynamic Capabilities: Durch den humankapitalbasierten Berliner Innovationsansatz werden schwer imitierbare „Dynamic Capabilities“ aufgebaut. Dabei handelt es sich um die humankapitalbasierten Fähigkeiten, die sich ständig erneuern und sich den veränderten Marktbedürfnissen flexibel anpassen. Da die einzigartigen naturwissenschaftlichtechnisches Wissen löst Induktionsmechanismen aus verändert den Unternehmens-(-produkt-) Entwicklungsverlauf / Branchenlebenszyklus erzeugt Erfindungen und Innovationen kreiert wissensbasiertes Humankapital mittels Potentialressourcen im Forschungs- und Entwicklungsbereich / Konstruktion „Erfindungswissen“ und schafft „Patente“ verändert Marktstrukturen Marktverhalten (Innovationsstrategie) durch „Zerstörung“ verändert die Wertschöpfungskette z.B. durch Management-Humankapital Innovationspotential im Produktions-, Marketing-, Personalbereich z.B. technologisches Humankapital Performance mittels Berliner Balanced Scorecard und Innovationserfolgsrechnung <?page no="49"?> 50 1 Terminologische Grundlagen www.uvk-lucius.de/ innovation Ressourcen des innovativen Unternehmens vor allem aus Wissen bestehen, muss die wichtige Rolle der Wissensträger und die Bedeutung eines konsequenten Innovationsmanagements mittels eines Strategischen Managements beachtet werden. h. Durch die Technikphilosophie werden Grundlagen einer innovativen, permanenten und kreativen Unternehmenskultur geschaffen. i. Ziel und Funktion des Innovationsmanagements in der Unternehmung muss eine flexible Anpassung der Produktion und der Fertigungstechnologie im Sinne des ressourcenorientierten Ansatzes an Änderungen der Nachfrage oder Änderungen staatlich festgesetzter Rahmenbedingungen sein. j. Das Unternehmen muss in Lebenszyklen denken und über Innovationsstrategien versuchen, den Marktbzw. die Branchenlebenszyklen zu verändern, zu beeinflussen und zumindest zeitweise zu gestalten. k. Deshalb sind Unternehmen herausgefordert, über interne und externe Wertschöpfungsketten im Unternehmen eine Innovationsstrategie zu implementieren und diese international wettbewerbsfähig in der Branche zu gestalten (Diamant-Ansatz von Porter). l. Eine Performance-Ermittlung der Unternehmung und der Strategien erfolgt durch den Berliner Balance-Scorecard Ansatz und die Innovationserfolgsrechnungen. Im Buch finden sich die einzelnen Annahmen und Bauelemente des Berliner Ansatzes aus der Sicht verschiedener Autoren wieder. Aufgaben [1] Beschreiben und erläutern Sie vier Innovationsansätze. [2] Erläutern Sie die Elemente des Integrierten Berliner Innovationsansatzes. [3] Welche Rolle und welchen Stellenwert besitzt das wissensbasierte Humankapital für das innovierende Unternehmen? [4] Welche Rolle und welchen Stellenwert nehmen das wissensbasierte Humankapital und das technologische Humankapital für das innovierende Unternehmen ein? [5] Welche Ergebnisse erzielt das Humankapital? [6] Wie kann das Humankapital beurteilt und bewertet werden? Literatur Burr, Wolfgang (2004): Innovationen in Organisationen. Kohlhammer, Stuttgart Ehrlenspiel, Klaus (1995): Integrierte Produktentwicklung. Methoden für Prozeßorganisation, Produkterstellung und Konstruktion. Hanser Verlag, München Hauschildt, Jürgen (1997): Innovationsmanagement. Vahlen , München Hübner, Heinz / Jahnes, Stefan (1998): Management-Technologie als strategischer Erfolgsfaktor, Walter de Gruyter, Berlin, New York Littkemann, Jörn (Hrsg.) (2005): Innovationscontrolling, Vahlen, München <?page no="50"?> 51 www.uvk-lucius.de/ innovation Müller-Stewens, Günter (1990): Strategische Suchfelder. 2. Aufl. Wiesbaden Müller-Stewens, Günter / Brauer, Matthias (2009): Corporate Strategy&Governance. Schäffer Poeschel, Stuttgart Müller-Stewens, Günter / Lechner Christoph (2005): Strategisches Management. 3. Aufl., Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart Pfeiffer, Werner (1971): Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung als Grundlage einer Planung und Prognose des technischen Fortschritts, Göttingen Pfeiffer, Werner / Metze, G. / Schneider, W. / Amler, R. 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Oldenbourg, München Schmeisser, Wilhelm / Andresen, Maike / Kaiser, Stephan (2012): Personalmanagement. UTB, München Schmeisser, Wilhelm / Clausen, Lydia (2009): Controlling und Berliner Balanced Scorecard Ansatz. Oldenbourg, München Schmeisser, Wilhelm / Clausen, Lydia / Popp, Rebecca / Ennemann, Carsten / Drewicke, Olaf (2011): Controlling and Berliner Balanced Scorecard Approach. Oldenbourg, München Schmeisser, Wilhelm / Hannemann, Gerfried/ Krimphove, Dieter / Toebe, Marc / Zündorf, Horst (2012): Finanzierung und Investition. UTB, München Schmeisser, Wilhelm / Mohnkopf, Hermann / Hartmann, Matthias / Metze, Gerhard (Hrsg.) (2008): Innovationserfolgsrechnung. Springer Verlag, Heidelberg, Berlin Schmeisser, Wilhelm / Krimphove, Dieter (Hrsg.) (2001): Vom Gründungsmanagement zum Neuen Markt. Strategien für technologieorientierte kleine und mittlere Unternehmen. Gabler, Wiesbaden Schmeisser, Wilhelm / Krimphove, Dieter / Popp, Rebecca ( 2013): International Human Resource Management and International Labour Law, A Human Resource Management Accounting Approach. Oldenbourg, München Schreyögg, Georg (1984): Unternehmensstrategie. De Gruyter, Berlin 1984 Schumpeter, J.A.: Theorie der technischen Entwicklung. Leipzig/ München 1912 Staudt, Erich (1974): Struktur und Methoden technologischer Voraussagen, Göttingen Staudt, Erich u.a. (1980): Innovationsförderung und Technologietransfer. Erich Schmidt Verlag, Berlin <?page no="51"?> 52 1 Terminologische Grundlagen Staudt, Erich: Das Management von Innovationen (Hrsg.) (1986): Das Management von Innovationen. Herausgegeben von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frankfurt am Main Teece, D.J. / Pisano, G. / Shuen, A. (1997): Dynamic Capabilities and Strategic Management, in: Strategic Management Journal 18. Vol. (1997) 7, p. 509-533 Trommsdorff, Volker / Steinhoff, Fee (2007): Innovationsmarketing. 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Phänomene und das Konzept der Einbettungsfaktoren technisch-ökonomischer Entwicklungspfade kennenzulernen und die Einbettungsfaktoren wie die geschichtliche Situation, Stand des Humankapitals (Ausbildung), Kultur und Moral, technisches Entwicklungspotential, gesellschaftliche Realisierungsmöglichkeiten erfassen zu können. Das Konzept technisch-ökonomischer Innovation erfassen zu können und hierfür die Nachfrageorientierung (unter Berücksichtigung insbesondere von Kunden) hervorzuheben. Gestaltungsmöglichkeiten technisch-ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten erfassen, die eher indirekt über die Einbettungsfaktoren greifen. Technikphilosophie Technikphilosophie (Irrgang 2011a; Irrgang 2011b) entstand als relativ junge philosophische Disziplin im Kielwasser der industriellen Revolution. Sie reflektiert praktische wie theoretische Aspekte technischer Praxis, technologischen Wissens und technischen Könnens. Technik wird als ein herausragender Bestandteil menschlicher Kulturen seit Beginn der Menschheitsgeschichte thematisiert und in ihren Wechselwirkungen mit anderen kulturellen Faktoren wie etwa Ökonomie, Religion oder Moral reflektiert. Die Bedeutung von Technik für praktische Orientierung (Wertewandel) und theoretische Erkenntnis im menschlichen Handeln und Denken (Selbsterkenntnis des Menschen) wird aufgezeigt und hinterfragt. Das Wort „Technik“ stammt vom griechischen Begriff techné bzw. technikosé (handwerklich, kunstfertig, kompetent) und meint individuelles oder zunftmäßig überliefertes Verfahrenswissen und dessen Produkte. Zunächst identisch mit dem Begriff Kunst (lat. ars) umfasst Technik Maßnahmen und Verfahren, mit deren Hilfe Menschen unter Ausnutzung von Naturgesetzen, Energie und Stoffen Sachen herstellen. Sie dienen menschlichem Bedarf (Bedürfnissen) und Gebrauch (Realisierung von Zwecken). <?page no="53"?> 54 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation Technologie Der Begriff Technologie meint in der Renaissance noch sprachliche Terminologie, wird aber später für den Bereich der Verfahrenskunde und der technischen Produktionslehre eingeführt. Technik lässt sich geschichtlich verstehen als Kunstfertigkeit bzw. Kompetenz im technischen Handeln (Künstler, Arzt, Architekt, Bauer, Handwerker, Züchter). Dabei interpretiert antike Philosophie Mechanik als widernatürliche Bewegung und als Überlistung der Natur. Insofern wird hier ein Gegensatz zwischen Natur und Technik formuliert. Seit der Neuzeit wird dann mit Hilfe von Technik im Experiment Natur auf ihre Gesetze hin befragt. Die Renaissance ist gekennzeichnet durch den Beginn der Entwicklung des Ingenieurberufes und der Technikwissenschaften. In den USA werden die Begriffe Technik und Technologie gleichsam deckungsgleich verwendet. Technik meint das technische Können und die daraus entspringenden Artefakte wie ihren Gebrauch (ähnlich wie bei Aristoteles). Technologie bezeichnet das technische Wissen und die Lehre vom technischen Wissen (um technische Handlungsabläufe und Funktionskreisläufe) und die daraus entstehenden Maschinen und technologischen Strukturen (Irrgang 2008). Beide Formen gehen ineinander über, bestehen heute auch nebeneinander. Das Gesamt von Technik und Technologie kennzeichnet die technische Welt. 2.1 Über Technik, Technologie und den Umgang mit ihnen: theoretische und politische Technologie Europäische Techniktradition In der europäischen Techniktradition bestand die Tendenz zur Rationalisierung in dem Versuch, technische Handlungen berechenbar zu machen. Nicht zuletzt der ökonomische Verwertungsdruck im Hinblick auf technische Produkte erhöhte die Effizienzanforderungen an weitere Formen kulturell codierter Technikgestalten. Bevorzugter Ansatz in der Interpretation technischen Handelns war die Mathematisierung und Rationalisierung technischer Handlungen. Die mathematische Rationalisierung des Umgangs mit Technik z.B. in der Mechanik ist eine spezifische Hermeneutik, die mit der Hintanstellung des leiblichen Vollzugs als Voraussetzung für Technik und implizites Wissen einhergeht. Als Alternative bietet sich das pragmatische Konzept der Abduktionen (Dewey 1989, Dewey 1995, Peirce 1991, Riemer 1988) an. Hier geht es um technisch induzierte Verallgemeinerungen, die zu einem allgemein geteilten Befund werden. Damit wird ein anderes Modell für die Beurteilung der Rationalität technischen Handelns vorgeschlagen. Technisches Umgangswissen Weniger formalistisch ist das Konzept des technischen Umgangswissens (technischer Kompetenzen), seiner Institutionalisierung in einem tradierten technischen Regelwerk, zumindest in einer Werkstatt, und der Routinisierung z.B. in technischen Faustregeln. Dabei bedeutet die Regelformulierung als Abstraktion vom Leibschema eine erste Form der Theoretisierung. Der „Text“ der Technikhermeneutik ist die Struktur technischer Handlungen (technischer Praxis), die speziell durch implizites Wissen gekennzeichnet ist. Dabei muss ein Hauptziel einer Phänomenologie der Technik sein, die Begrenzung phänomenologischer Forschung auf Wissenschaft zu überwinden und die <?page no="54"?> 2.1 Über Technik, Technologie und den Umgang mit ihnen 55 www.uvk-lucius.de/ innovation Technik als Handlung (Praxis) in den Blick zu bekommen. Um technische Handlungen in ihrer Komplexität verstehbar zu machen, wird eine Interpretation ihrer Struktur mit der Frage nach der Legitimität dieses technischen Handelns zu verknüpfen sein. Jedes Handeln muss sich die Frage nach seiner Rechtmäßigkeit gefallen lassen, nicht nur, wenn die Folgen nachteilig sind, dann aber in besonderem Maße. Eine hermeneutische Modellierung technischen Handelns soll die Reflexion auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Rahmenbedingungen für die Entwicklung technischen Handelns verbessern. Es geht um Modellierungen, die eine diskursive Verständigung über technisches Handeln und seine Bewertung erlauben. Diese Modellierungen sollen die Akzeptabilität bestimmter Formen technischen Handelns (Praxis) beurteilen helfen. Um Technik in ihrer lebensweltlichen Fundiertheit, aber auch in ihrer Entwicklungsdynamik verstehen zu lernen, schlage ich vor, technisches Handeln aus der Perspektive des impliziten Umgangswissens neu zu konzipieren. Albert Borgmann beschreibt den Umgangsaspekt technischen Handelns als Wissen, Prozess und Produkt, sowie als Produktion und Konsum. Technologie ist für ihn wissenschaftlich unterstütztes technisches Handeln (vgl. Borgmann 1984, 10-16). Am Beispiel der Fermentation wird der Charakter der Technologie deutlicher. Die Prozesse der Fermentation sind nicht sichtbar, aber bereits vor Jahrtausenden war ein technischer Umgang mit dem Nicht- Sichtbaren möglich, obwohl eine wissenschaftliche Erklärung für derartige Prozesse nicht zur Verfügung stand. Wissenschaft und Technik Die Erfolgskriterien von Wissenschaft und Technik sind unterschiedlich. Wissenschaft zielt ab auf Repräsentation möglichst genauen Wissens von möglichst kleinen Strukturen. Der instrumentalistische Zugang der Technik hingegen kann zwischen der Alltagssicht und der wissenschaftlichen Sicht nicht scharf trennen. Wissenschaftliches Wissen ist eine notwendige Bedingung moderner Technologie, sie ist allerdings nicht ausreichend zur Begründung von Technologie. Hinzu kommen Diskontinuitäten und Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, die in Technik und Technologie nicht im gleichen Maße auftreten. Technologie ist der heute gängige Umgang mit der Welt. Bacon und Descartes formulierten das Versprechen der Technik. Es ist das Programm einer Herrschaft über die Natur und einer Befreiung von Mühe (Campanella) sowie einer Verbesserung der Lebensbedingungen und einer größeren Befriedigung. Technik impliziert neben einer Kontrolle von Natur und Kultur ein Versprechen von Freiheit und Reichtum (vgl. Borgmann 1984, 38-41). Befreiung durch Technik Technik bezieht sich gemäß Borgmann im Unterschied zur Wissenschaft eher auf Oberflächen. Technik beschäftigt sich nicht mit der Mikrostruktur der Dinge. Man kann mit einem Automobil erfolgreich umgehen, ohne seine einzelnen Teile zu kennen. Vielmehr sind viele Vorstellungen technischer Art vom Umgang mit Oberflächen auch traditionell geprägt. Allerdings kommt es in einem zunehmenden Maße zur Absorption der traditionellen Kultur durch Technologie. Aufgrund dieser Einsicht in den technischen Umgangscharakter mit Oberflächen sind die Unterscheidungen von Mittel und Zwecken sowie von Produktion und Konsum neu zu durchdenken (vgl. Borg- <?page no="55"?> 56 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation mann 1984, 66). Die technologische Befreiung hat negativen Nutzen gebracht. Die Befreiung von Hunger, Krankheit, Analphabetismus und Unannehmlichkeiten aller Art sind nicht zu übersehen. Andere Übel entstanden, z.B. der anwachsende Tod durch Krebs. Technologie hat aber unser Leben nicht in einem positiven Sinne reich gemacht. Der Konsum von Gütern gibt keine Antwort auf die Frage nach einem guten Leben. Dies sieht man an der technologisch bestimmten Muße und Freizeit (vgl. Borgmann 1984, 127). Auch die Technologisierung des Haushaltes brachte nur negativen Nutzen. Die Familie wurde mehr und mehr zum Ort des Konsums. Technologie hat die Autorität der Eltern untergraben und zu Erziehungsproblemen geführt (vgl. Borgmann 1984, 137). Ungewollte Nebenwirkungen des Technikeinsatzes liefen auf eine recht zweideutige Befreiung von Tabus und auf die Zerstörung von Tradition hinaus. Technische Utopie Die technische Utopie einer Befreiung von Mühe und Arbeit führte letztlich zur Glorifizierung der Arbeit und der Automatisierung. Die moderne „conditio humana“ ist gekennzeichnet durch Arbeit, Werk und technische Handlung. Technologie hat die Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ verwischt. Freiheit setzt Bedürfnisbefriedigung voraus, deshalb ist Aufhebung der Armut ein wesentlicher Bestandteil der technischen Utopie. Allerdings fordert die technische Utopie Anpassung und Funktionäre. Technik ist jedoch nicht allein durch ihren Mittelcharakter zu bestimmen. Dann würde der Nichtgebrauch Bedeutungslosigkeit meinen. Dies lässt sich mit der Relikthaftigkeit von technischen Artefakten nicht ganz in Einklang bringen. Auch nichtgebrauchte technische Artefakte haben Folgen. Entscheidend für Technik insgesamt aber ist nicht ihr Nichtgebrauch, sondern die Frage des Nutzens des Gebrauchs technischer Mittel. Oft ist der Umgang mit Technik indirekt, und auch relikthafte Technik impliziert einen Umgang mit ihr - und wenn dieser nur in ihrem Ignorieren besteht. Technisches Handeln Technische Erfindung wie Nutzung von Technik im Umgangs-Paradigma hat damit auch immer Momente des Ausprobierens. Für eine solche Konzeption gibt es prinzipielle Grenzen des Simulierens. Dieses Ausprobieren kann nie vollständig vorher ausgerechnet werden, wenn auch bestimmte Möglichkeiten vorab durch Rechnung als praktisch irrelevant ausgeschlossen werden können. Technisches Handeln stellt keinen blinden Umgang mit Natur oder mit Artefakten dar. Es ist nicht zufallsgesteuert, sondern von einem planmäßigen, zumindest heuristisch induzierten Prozess des Suchens und Findens geleitet. Es gibt Parallelitäten zwischen Wissenschafts- und Technikentwicklung, ohne dass bestehende Unterschiede geleugnet werden sollen. Auch experimentelle Naturwissenschaft ist eine probierende Wissenschaft, nicht zuletzt, weil sie technikbasiert ist. Zudem funktioniert in der Theorie so manches, was in der technischen Umsetzung nicht gelingt (oder erst nach längerem Probieren). Beim Probieren aber gibt es keine absolute Sicherheit. Erproben, Ausprobieren, auf seine implizierten Möglichkeiten hin befragen - es gibt keinen anderen Weg, technisches Handeln auszuloten. Technische Erfahrung kann sich nie auf die bloße Beobachterrolle beschränken. Planmäßiges und rationales Ausprobieren ist verantwortbar, nicht ein Herumstochern im Dunklen. <?page no="56"?> 2.1 Über Technik, Technologie und den Umgang mit ihnen 57 www.uvk-lucius.de/ innovation Verselbständigung der Technik Die Verselbständigung der Technik ist ein spezifisch neuzeitliches Phänomen. In der Neuzeit bringt der kollektive Technikgebrauch völlig neue Chancen und Gefahren mit sich. Welche Struktur hat die neuzeitliche Technik und wie ist sie mit der naturwissenschaftlichen und ökonomischen Entwicklung verflochten? Als anthropologisches Merkmal, das wesentlich zum individuellen und sozialen Leben des Menschen gehört, ist die Technik per se ambivalent. Sie hat zwei komplementäre Aspekte, die sich gegenseitig ergänzen: (1) Sie ist ideengeleitet. Als ideengeleitete Praxis steht sie im Dienst des Menschen. (2) Sie ist naturhaft und als evolutionärer Prozess tendiert sie zur Verselbständigung. Die wissenschaftlichen und technischen Revolutionen der Neuzeit führten zur fortschreitenden Fusion von Wissenschaft, Technik und Ökonomie. Hierdurch verselbständigte sich der technische Fortschritt gegenüber der Technik als einer ideengeleiteten Praxis. Spätestens seit der industriellen Revolution im 18. Jh. ist die Technik höchstens noch indirekt Dienerin der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Technik dient nunmehr der ökonomischen Entwicklung, und diese beherrscht die Gesellschaft (vgl. Falkenburg 2004, 45f.). Die technischen Utopien aus der zweiten Hälfte des 20. Jhs. entwerfen weniger optimistische Bilder als Bacon. Sie berücksichtigen die heute sichtbare Eigendynamik technischer Erfindungen und ihrer gesellschaftlichen Verwertung, und sie malen in schwarzen Farben aus, wie sich die Verhältnisse umkehren: die Gesellschaft wird durch die ökonomische Entwicklung beherrscht: die Technik wiederum macht sich zur Dienerin der ökonomischen Interessen; und die Folgen unkontrollierter Technik drohen global aus dem Ruder zu geraten (vgl. Falkenburg 2004, 55). Technischer Fortschritt Was sich mit dem technischen Fortschritt verselbständigt, ist nicht die Technik, sondern es sind die Folgen kollektiven Technikgebrauchs - die Auswirkungen der Technik auf die Formen menschlichen Zusammenlebens, auf die Umwelt und auf unsere eigene Natur. Die Technik verselbständigt sich, wenn ihr Gebrauch nicht diejenigen Ideen realisiert, die dem Entwurf von Technik zugrunde liegen (vgl. Falkenburg 2004, 93). Soweit die Klimaerwärmung mittlerweile als eine Tatsache akzeptiert wird, die durch kollektiven Technikgebrauch verursacht ist, besteht die Tendenz, sie als ein unabänderliches Naturgeschehen zu betrachten. Der homo faber ist zugleich homo oeconomicus. Technik zielt auf den effizienten sparsamen, zweckrationalen - mit einem Wort ökonomischen - Umgang mit menschlicher Arbeitskraft und anderen knappen Ressourcen (vgl. Falkenburg 2004, 100). Die Ambivalenzen technischen Fortschritts haben mit den Schattenseiten der Effizienzsteigerungen zu tun, die wir der industriellen Produktionsweise und der ökonomischen Verwertung technischer Innovation verdanken. Nur nachhaltige Technik, die langfristig umweltfreundlich und sozialverträglich ist, dient der Gesellschaft (vgl. Falkenburg 2004, 143f.). Technische Kultur Technische Kultur umfasst Technikideale, Technikbilder, technische Weltanschauungen und Ideologien. Diese lassen sich nicht immer auf ethische Prinzipien zurückführen, stellen aber dennoch wertdurchdrungenes Orientierungswissen bereit, wobei unterschiedliche Bewertungen von Techniken nahezu konstitutiv für Technikinterpretationen sind. Konflikte über technisch-kulturelle Werte als Rahmenbedingungen von tech- <?page no="57"?> 58 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation nischem Handeln erfordern einen rationalen Umgang mit Dissensen in der Interpretation und in der Bewertung technischen Handelns, Dissensmanagement (Hubig 1993). Quelle technischer Macht ist die Bewältigung des Alltags. Technik führt zu gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, damit zu Unter- oder Überordnung, in der Geschichte häufig genug zu unterschiedlichen Formen der Versklavung. Technische Lebensformen beeinflussen Gesellschaft und selbstverständlich auch die Art und Weise, wie Menschen leben. Arbeitsdisziplin ist an staatliche Organisation gebunden, an kollektive Arbeit. Die Gestaltung der Technik ist nun ihrerseits eine Machtfrage. Sie erwächst aus zwei Aspekten, nämlich der Kompetenz des Umgangs mit technischen Artefakten und als Dispositiv der technischen Strukturen selbst. Technische Macht erwächst der Routinebildung, Institutionalisierung und Traditionsbildung des Umgangs mit Artefakten, aus dem insgesamt Technik entsteht. Vom Umgang her soll technische Macht neu in ihrem Sinn durchdacht und verstanden werden. Der technische Umgang mit der Natur ist kein Beherrschen der Natur, sondern grundsätzlich versuchend und erprobend, d.h. er kann auch scheitern und er scheitert auch genügend oft. In der marxistischen Interpretation von Technik ist Technik immer eindeutig ein Herrschaftsinstrument, aber Technik als Macht ist grundsätzlich ambivalent (Irrgang 2007b). Es geht darum, eine ökologische und kulturell eingebettete Technik zu entwerfen, die einer möglichst großen Zahl ein lebenswertes Leben mit entsprechender Lebensqualität ermöglicht. Die Maschinenimplementierung technologischer Handlungsschemata ist nicht kapitalistisch oder sozialistisch, sie kann aber in der Arbeitsorganisation sowohl auf die eine wie die andere Art und Weise eingesetzt werden. Durch die vielfältigen, aber immer auch begrenzten Möglichkeiten des Gebrauchs üben technische Artefakte und Strukturen eine gewisse Macht über ihre Nutzer aus. Technische Praxis ist nicht völlig frei, allerdings auch nicht durch Technik determiniert. Die Frage nach technischer Macht stellt sich nicht so eindimensional, wie dies von der traditionellen Kritischen Theorie unterstellt wird. Es gibt nicht eine Alternative zur Moderne, sondern viele Alternativen innerhalb von Entwicklungspfaden, die mehr oder weniger modern sind. Nicht immer sind Konflikte der Motor bei der Entwicklung technischer Praxis und von Technologie, sondern Selbstorganisations- und Einbettungsprozesse der Organisation und Strukturierung technischer Praxis wie Arbeitsteilung, Spezialisierung, Professionalisierung, Ausdifferenzierung des technischen Könnens (Irrgang 2007b). Die Verknüpfung technischer Entwicklungspfade ist dadurch charakterisiert, dass es einen kumulativen Charakter kleiner Verbesserungen gibt, die sich (und bisweilen von Rückschritten) zu Entwicklungspfaden und Entwicklungssträngen verdichten. So kann sich eine Infrastruktur bilden. Hierarchische Verknüpfungsmuster und zentralistische Infrastruktur gehören zusammen (alle Wege führen nach Rom). Es gibt aber auch dezentrale Infrastrukturen. Technische Artefakte stehen in einem methodischen Zusammenhang und entwickeln sich auseinander. Spätere Technik falsifiziert nicht frühere, aber manche Formen von Technik laufen aus und kommen außer Gebrauch. Selbstverständlich gibt es neue Paradigmen, die allerdings über längere Zeiträume eingeführt werden. Vernetzung als Einbettung ist die zweite Dimension neben Entwicklungssträngen in der Technik. Urbanisierung und Metallverarbeitung führen zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Schichten und damit zu technisch bedingter Macht. Handel und Militär erzeugen mit technischen Mitteln übermäßigen Reichtum und begründen Macht. Mit dem Bronzezeitalter erhalten der Schmied und das gesamte Handwerk eine besondere Bedeutung für die technische wie gesellschaftliche Entwicklung (Irrgang 2007b). <?page no="58"?> 2.1 Über Technik, Technologie und den Umgang mit ihnen 59 www.uvk-lucius.de/ innovation Typen von Technik und Technologie Eine delegierte technologische Intelligenz ist schon im Schiffssegel festzustellen, in der Wind- und Wassermühle, in der Schusswaffe. Technische Handlungsmuster sind in der Außenperspektive Ereignisfolgen, die routinisierte technische Handlungsabläufe simulieren für den technischen Umgang mit Instrumenten, Naturprozessen und Maschinen. Technologie ist das rational geplante Umgehen-Können mit technischen Mitteln, um technische Werte hervorbringen zu können. Dabei ist eine dreifache Ordnung der Organisation technologischer Strukturen im Sinne der Mensch-technische-Mittel- Struktur festzustellen: a. Handarbeit mit anfangender Mechanisierung: Werkzeugführung durch den Menschen, wobei erste einzelne Arbeitsschritte von Maschinen übernommen werden können; b. Automatisierung der Produktion, komplexe Schritte im Fertigungsprozess werden von Maschinen selbständig ausgeführt; c. Robotik, maschinelles Wahrnehmen und Lernen inklusive Sprachverstehen, Expertensysteme und automatisches Programmieren. Die Intentionalität eines technischen Artefaktes oder Mittel entstammt nicht dem Artefakt selbst, sondern der technischen Praxis, die dieses Artefakt hervorbringt, instandhält, gebraucht und schließlich entsorgt. Zur Bestimmung der Potenzialität eines technischen Artefaktes ist die es begleitende Praxis mit zu berücksichtigen (Irrgang 2008). Technikgestaltung Die Gestaltung von Macht, auch technischer, erfolgt traditionell und kulturell durch (1) Gewalt, triebhaftes Verhalten, Instinkt (anthropologische Ebene), (2) Recht (institutionelle Ebene), (3) Moral, Religion, Ethik (kulturell-ideengeleitete Ebene). Die Gestaltung von zukünftiger Technik (Irrgang 2007a) muss in stärkerem Maße ergänzt werden durch eine Gestaltung des Gebrauchs von Technik. Gefordert ist eine permanente Reflexion angesichts permanenter Innovation. Wer ist Nutzer welcher Technik? Das ist eine der Leitfragen in diesem Kontext. Das naturwüchsige Vertrauen in Technik aufgrund von Gewöhnung und Trivialisierung muss zumindest ergänzt werden, das ist eine Technologie-Reflexions-Prüfung. Die Verbesserung der menschlichen Lage als Bewertungsmaßstab technischer Entwicklung und von richtig oder falsch genutzten Potenzialitäten und Kapazitäten technischer Art, wie die Emanzipation von der Begrenzung der Natur, dessen Rückschlag wir heute in den ökologischen Problemen erfahren, sind Programme der aufklärerischen Moderne. Technische Entwicklungspfade sind Ergebnisse von Machtkämpfen und von politischen Konflikten wie Kooperationen, kein Schicksal. Oftmals aber sind der Ausgang solcher Konflikte und die Austragung von Kämpfen schicksalhafter Natur (Irrgang 2007a). Politische Technologie Die politische Technologie (Irrgang 2007b) ist lange vernachlässigt worden, vielleicht aber die wichtigste Disziplin einer philosophischen Technologie angesichts der Technizität der Macht. Die Instrumente werden in vielfacher Form als technische Problemlösungsinstanzen angeboten. Dies führt dazu, dass eher Raketen aufgebaut werden als <?page no="59"?> 60 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation Verhandlungen durchgeführt. Jedes technische Projekt begrenzt sich auf eine Teillösung. Die Interferenz und Rückkopplung zwischen verschiedenen technischen Projekten lassen sich nur schwer abschätzen. Die Konsumentenmacht ist eine Form der Demokratisierung der Technik. Sie bedeutet nämlich eine Einflussnahme auf die Technikentwicklung (mit der sich allerdings die kritische Theorie schwer tut). Sie ist lebensweltlich und nicht philosophisch, trotzdem legitim, wie ich meine, wenn sie - im Unterschied zur marktwirtschaftlichen Theorie - nicht das alleinige Kriterium bleibt. Also muss man sich die Frage stellen: wer hat technische Macht, der Ingenieur oder der Auftraggeber oder jeder von beiden in je unterschiedlicher Art und Weise? So lässt sich ein dreifacher Ansatz technischer Macht herausarbeiten: a. die Macht des technischen Könnens (technische Praxis), b. die Macht technischer Artefakte (Installationen, Geräte usw.), c. die Macht der Vernetzung und Rückvernetzung von Praxis und Installationen in so genannten soziotechnischen Systemen. Verflechtung von Ökonomie und Technologie Dabei gibt es emergierende Formen technologischer und technischer Strukturen in ihrer Retinität (Rückvernetzung), welche weder rational noch irrational, weder zufällig noch geplant ist (Irrgang 2007b). Das Gebrauchspotential der Technik erhöhte vor allem der Handel und so wurde die Verflechtung von Ökonomie und Technologie zu einer weiteren Quelle technischer Macht. Zunächst profitierte von neuen Techniken bevorzugt die reiche Oberschicht, die Herrschenden, die auch ein Interesse an neuer Technologie hatten, zudem über die Mittel verfügten, neue Technologien zu besitzen und diese einzuführen. Technik ist eine Quelle des Reichtums einer Gesellschaft, denn sie stellt Güter her oder bereitet die vor, die gehandelt werden. Bisher wurde in der Technikphilosophie die Arbeitsteilung als zentrales gesellschaftliches Konstitutionsprinzip angesehen, die Gebrauchsteilung aber ist mindestens genauso interessant (Irrgang 2007b; Irrgang 2008). 2.2 Technisch-ökonomische Entwwicklung, Nutzerorientierung und sozial-kulturelle Einbettung: zur Genese technischer Macht Technisch-ökonomische Pfadabhängigkeit Das Konzept der Pfadabhängigkeit und die neue positive Rückkoppelungsökonomie wurden von Brian Arthur 1990 (vgl. Arthur 2000) formuliert. Mit Hilfe dieser Theorie lässt sich Innovation wie Technologietransfer anders als vorher erklären. Gemäß diesem Modell lässt sich nicht hundertprozentig vorhersagen, welche Technologie erfolgreich transferiert wird und welche der Innovationen sich letztendlich am Markt durchsetzen werden. Es hängt in gewisser Weise mit der Anzahl von Nutzern zusammen, die in einer gewissen Zeitspanne gewonnen werden können. In einer ganzen Reihe von Fällen setzt sich auch keineswegs das technisch ausgereiftere oder gar technisch bessere Konzept durch. Vielmehr setzten sich Systeme durch, für deren gesellschaftliche Akzeptanz mehr investiert worden ist. Es genügt eben heute nicht mehr, nur noch Technologien zu entwickeln und sie anzubieten, sondern es müssen gewisse Entwicklungs-, Transfer- und Nutzerpfade angeboten werden, damit sich eine bestimmte neue Tech- <?page no="60"?> 2.2 Zur Genese technischer Macht 61 www.uvk-lucius.de/ innovation nologie vor dem Hintergrund bereits eingeführter Standards und angesichts der Notwendigkeit, neue Umgangsformen und neue Standards lernen bzw. vorgeben oder vormachen zu müssen, durchsetzt. So werden auch weiterhin in vielfacher Form wenig umweltfreundliche Technologien verwendet, obwohl rein theoretisch bereits bessere technologische Lösungen möglich sind. Dabei ist es nicht nur eine Frage der ökonomischen, sondern auch der gesellschaftlichen „Kosten“, die entstehen, wenn neue Standards des Gebrauchs für neue Technologien entwickelt werden müssen. Arthurs These von den Entwicklungspfaden und Technologietransferpfaden sollte zudem nicht in dem Sinne missbraucht werden, dass sie als Rechtfertigung für verschiedene Arten von staatlichen Industrielenkungsmaßnahmen gebraucht werden, die auf das Argument zurückgreifen können, dass sie letztendlich konstruiert wurden, um die Entwicklung von niedrigeren Technologisierungsstufen zu verhindern (Esser u.a. 1998, 148). Dabei ist Rosenbergs Konzept eines Lernens durch den Gebrauch zu bedenken, wobei Technik im Anfangsstadium im Fluss ist (Arthur 2000, 13-15). Wenn die Anpassung zunimmt, nehmen auch der Gebrauch und die Erfahrung zu und werden immer mehr eingebettet und inkorporiert in verantwortbare und effektive Technikvarianten. Es gibt jedenfalls einen Anpassungsmarkt mit unterschiedlichen Anpassern (Arthur 2000, 16-27). Einbettung Pfadabhängige Prozesse führen zum Aufbau von Makrostrukturen. Dabei gibt es ein Modell der Strukturierung nach streng gesetzlichen Modellen. Pfadabhängige Prozesse jedoch basieren auf Wahrscheinlichkeiten und nichtlinearen Wechselwirkungen. Es gibt aber auch Modelle strenger Gesetze für nichtlineare Pfadabhängigkeiten (Arthur 2000, 34-40). Die Entstehung von Technologiestrukturen lassen sich aus Pfadabhängigkeiten und der darin unterstellten Wechselwirkung erklären. Zu berücksichtigen sind dabei unterschiedliche Weltsichten (Arthur 2000, 45-49). Professionelle Käufer und Verkäufer sind in Informationsfeedbackkreisen verbunden. Auch die Ablehnung von Risiken beeinflusst Entwicklungspfade. So gibt es eine nicht antizipierte Effektivität, die konstitutiv ist für Pfadentwicklungen. Lerneffekte und Kommunikationsprozesse unterschiedlicher Art über neue Produkte gehen in eine Pfadentwicklung ein (Arthur 2000, 69-80). Das Learning-by-doing, Anpassung, Einbettung sind Formen, die mit diesem Pfadabhängigkeitsmodell erklärt werden können. Formalmathematische Modelle erweisen sich hier als unzureichend. Außerdem sind Verteilungsannahmen von Bedeutung (Arthur 2000, 88). Ein Beispiel für Entwicklungspfade geschichtlicher Art ist die Entwicklung von Städten. Kleine Ereignisse in der Geschichte können große Auswirkungen haben. Wichtig für Pfadabhängigkeitsmodelle sind Lernalgorithmen (Arthur 2000, 136-139) und die geschichtliche wie ökologische Ausgangslage. Da diese Konzeption geschichtlich ist, kann sie im Gegensatz zum ahistorischen Modell des „homo oeconomicus“ Machtaspekte der technisch-ökonomischen Entwicklung berücksichtigen. Innovation Innovation gilt als die Quelle der Produktivität, des materiellen Reichtums und der Zerstörung alter Arbeitsplätze. Der Ansatz bei Systemen der Innovation gilt dem Studium der Innovation und dem technologischen Wandel. Innovationen sind neue Schöpfungen ökonomischer Signatur. Es handelt sich um Prozesse, durch welche technologische Innovationen hervorkommen. Diese sind extrem komplex und umfas- <?page no="61"?> 62 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation sen Wissenselemente, Handlungselemente und die Überführung von technischem Wissen und Handeln in neue Produkte. Innovationen werden heute nicht allein oder von einzelnen Firmen durchgeführt. Wenn wir den Prozess der Innovation beschreiben, verstehen, erklären und möglicherweise auch beeinflussen wollen, müssen wir alle wichtigen Faktoren erfassen, die Innovationen gestalten und beeinflussen. Es geht um die Struktur und die Dynamik solcher Systeme, die als „Nationales System der Innovation“ (NIS) bezeichnet werden (vgl. Edquist 1997, 1-4). Innovationsprozesse Alle Technologien sind durch Menschen sozial gestaltet worden. Das Rahmenwerk spezifischer organisatorischer Formen ist daher kulturell eingebettet. Dafür sind Institutionen zentral. Es geht um industrielle Forschung und Entwicklung, um eine akademische Infrastruktur, um andere Institutionen und staatliche Förderpolitik. Institutionen sind im Sinne von Routinen zu verstehen (vgl. Edquist 1997, 22-28). Es gibt unterschiedliche Arten von Regeln, Normen, Konventionen, die bedeutende Implikationen sowohl für Lernwie für Innovationsprozesse haben (vgl. Edquist 1997, 37-39). Institutionen haben sich in anwachsender Weise als bedeutsam erwiesen für Innovationstheorien. Sahal (1985) und Dosi (1984) haben die Zeichen der Zeit richtig erkannt. Es geht ihnen darum, Begriffe von Institutionen, Organisationen und Märkten im Rahmen einer institutionellen Ökonomie und einer institutionellen Theorie technischen Wandels zu entwickeln. Institutionen sind ein Set von gemeinsamen Grundhaltungen, Routinen, etablierten Praktiken, Regeln oder Gesetzen, die die Beziehungen und die Wechselwirkungen zwischen Individuen und Gruppen regulieren. Institutionelle Rahmenbedingungen sind daher von größter Bedeutsamkeit. Organisationen sind formale Strukturen, die einen expliziten Vorschlag machen und durchsetzen wollen. Sie sind alle Teile oder Faktoren der Taxonomie der Institutionen (vgl. Edquist 1997, 41-49) und technisch begründeter Macht. Innovationssysteme Es gibt viele nationale Innovationssysteme, und diese sind abhängig von der jeweiligen nationalen Infrastruktur. Dabei sind der Zusammenhang und das Ineinandergreifen der Komponenten sehr wichtig für die Infrastruktur. Die Infrastruktur trägt Kompositionscharakter und ist ein entscheidender Faktor bei der Bestimmung technischer Macht und ihrer Symbolik. Organisation von Infrastrukturen, Verwaltung und Management von Infrastruktur ist ebenfalls konstitutiv (Edquist 1997, 96-104). Innovationssysteme leben von technologischen Gelegenheiten, von Kumulation, von Technologie und geeigneten Bedingungen. Auch zur Infrastruktur ist ein sektoraler Zugang möglich. Es gibt dabei tief verwurzelte und kulturelle genauso wie externe Hilfsfaktoren für Infrastruktur. Die inneren Faktoren sind durch Kultur und Geschichte beeinflusst. Es geht um technologische Vorteile. Dabei lassen sich verschiede Ebenen der Interaktion innerhalb einer Pfadabhängigkeit unterscheiden (Edquist 1997, 107-110). Technikhöhe Technikhöhe ist daher ein nicht unerheblicher Faktor technischer Macht. Im Hinblick auf den Umgang mit technischen Mitteln lassen sich drei fundamentale Paradigmen unterscheiden: <?page no="62"?> 2.2 Zur Genese technischer Macht 63 www.uvk-lucius.de/ innovation a. Umgang mit Werkzeugen und natürlichen Prozessen. Dieser setzt implizites Wissen voraus und kann durch Vormachen gelernt werden. Implizites Wissen im Umgang mit technischen Mitteln ist weltweit vorhanden, auch wenn manche technischen Mittel in einer technischen Kultur vorhanden sind, in anderen nicht. Auch auf dieser Ebene findet Techniktransfer statt, meist durch Wanderung kompetenter technischer Akteure. b. Mit der Industriellen Revolution entstehen eine Maschinentechnik und eine Form automatischer Produktion, die nicht allein mit implizitem Wissen bewältigt werden kann, sondern explizites theoretisches und technikwissenschaftliches Wissen voraussetzt. Dieses lässt sich aber mit den herkömmlichen Mitteln der Tradition technischen Wissens nicht mehr vermitteln, jedenfalls nicht in kurzer Zeit, sondern setzt eine hochgradige und spezialisierte technische Ausbildung voraus. Eine solche Kompetenz im Umgang mit Maschinen aufgrund einer Mischung von implizitem mit explizitem Wissen hat zunächst nur der ausländische Ingenieur. Es handelt sich um abstrakte Fähigkeiten, die in Universitäten und in der Industrie gelernt werden können und die Erfahrungen im Umgang mit Maschinen einschließen. Diese können zunächst nur dort gemacht werden, wo diese Maschinen auch vorhanden sind. Unter Anleitung lassen sich diese Umgangserfahrungen auch mit Maschinen erlernen und machen, allerdings mit höherem Arbeitsaufwand. c. Umgang mit vernetzten technologischen Systemen wie Kernkraftwerken, Computern, Mobiltelefonen oder moderner Medizintechnik und Gentechnologie. Auf dieser Stufe ist nicht nur explizites technisches Umgangswissen gefordert, sondern auch naturwissenschaftliches und technologisches Wissen, welches noch eine Stufe abstrakter und entfernter vom impliziten Wissen ist. Der Erwerb eines Umgangswissens mit derartigen Systemen scheint zumindest auf absehbare Zeit sehr langwierig zu sein und eine nicht geringe technische Ausbildung vorauszusetzen (Irrgang 2008). Einbettung Der Prozess des Lernens des Umgangs mit Maschinen ist zeitraubend und auf Versuch und Irrtum angewiesen. Dieser Weg ist nicht ohne Gefahren. Und dass die fremden Ingenieure „mehr“ können als man selbst, erzeugt nicht nur fachliche Probleme, sondern Fragen der Anerkennung, des Sozialprestiges und der kulturellen Einbettung, die gelöst werden müssen, um Technologietransfer erfolgreich durchführen zu können. Außerdem führt die Eigenschaft moderner technologischer Systeme, dass sie autonom ablaufen, zu der ungerechtfertigten Unterstellung, dass sie stets automatisch laufen und der kontinuierlichen Wartung oder Sicherung nicht bedürfen. In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern wird Technik aber nur gewartet, wenn sie nicht mehr funktioniert. Es gibt dort keine Sicherheitskultur wie in Deutschland. Ein zu großes Vertrauen in die Technik erhöht Risiken. Insofern ist es sinnvoll, bestimmte Risiken zu erwarten. Eine sichere Technik wird durch die Technik alleine nicht garantiert, es ist vielmehr der Kontext der Technologie, der die Sicherheit „garantiert“ (z.B. das Warten der Flugzeuge) und dies muss vermittelt werden. Die Wartungsintervalle müssen aus Sicherheitsgründen mit übertragen werden. <?page no="63"?> 64 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation Struktur technischer Entwicklung Aufgrund von Vernetzungs- und Rückkoppelungseffekten ergibt sich so etwas wie eine Struktur technischer Entwicklung, die sich allerdings zeitlich verändert, eine technische Kulturhöhe, ein Kulturniveau als ein sehr komplexer Relationsbegriff. Niveau stammt aus dem Französischen und meint Ebene, waagrechte Fläche. Man kann damit auch Trends des gesellschaftlichen Strukturwandels, Paradigmen des Gebrauchs technischer Mittel sowie kulturelle Muster und Verhaltensformen im Umgang mit Technik bezeichnen. Epochale Niveauunterschiede bestehen z.B. zwischen dem handwerklichen und dem industriellen Paradigma, es können aber auch geringere Unterschiede zwischen technischen Systemen und Strukturen selbst sowie insbesondere bei deren Einbettung auftreten. Unterschiede in der Einbettung sind nicht selten mit Ausbildungsfragen verbunden. Niveauunterschiede können also die technisch-industrielle Ebene betreffen, aber auch die kulturelle, die soziale und die institutionelle. Das größte methodische Problem sind die Vergleichbarkeit und die Paradigmen bzw. Parameter unterschiedlicher technikbezogener kultureller Niveaus, denn diese stehen im Rahmen der Fragen der Bewertung von Technologietransfer im Vordergrund. Infrastruktur und Technikhöhe sind Ausdruck technischer Macht. Konsum Konsum ist zum zentralen Beschreibungselement der modernen Gesellschaft geworden. Entgegen früheren Interpretationen von Technologie bedeutet dies aber nicht, dass die moderne Technik den Menschen entfremden würde. Borgmann kritisiert mit Heidegger die Konsummentalität, obwohl hier ein gewisser Widerspruch in seiner Konzeption aufscheint. Die Verführung durch das Gebrauchen Können bzw. das Konsumieren ist letztendlich keine Form, die Entfremdung begründet, obwohl dies Heidegger und Borgmann zu unterstellen scheinen, nicht zuletzt, weil technische Dinge nicht ausschließlich zu einem passiven Konsum anleiten. Allerdings haben Technologien die Art und den Umfang von Anstrengungen verringert, die notwendig sind, um Güter zu erwerben und zu sammeln. Technologie gibt Anlass für nicht engagierten und passiven Konsum, aber auch für neue Möglichkeiten des Engagements. Postphänomenologische Technikphilosophie unterstützt also die Entfremdungsthese der kritischen Theorie der Technik nicht. Aus diesem Grund ergibt die postphänomenologische Perspektive eine komplett verschiedene Weltsicht und andere Interpretationsansätze für Technologie als die klassische Philosophie der Technologie. Sie ermöglicht einen differenzierteren, sorgfältigeren und empirisch orientierten Blick zur Erforschung von ganz spezifischen Technologien. Die Terminologie der Postphänomenologie ermöglicht es, Technologien nicht nur in den Begriffen ihrer Funktionalität zu beschreiben, sondern ebenfalls als Vermittlung im Hinblick auf die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Welt (Verbeek 2005). Technologische Hypermoderne Ulrich Wengenroth beschreibt den Übergang von der klassischen Moderne zur Hypermoderne in der Technik als den Übergang des Projektes der richtigen, allein naturwissenschaftlich fundierten Technik zugunsten des Projektes der lebbaren und leistbaren Technik und der Rückkehr der Technik als Kunst. Technik wird reflexiv modern, indem sie die Grenzen mathematisch-naturwissenschaftlicher Beschreibungen der <?page no="64"?> 2.2 Zur Genese technischer Macht 65 www.uvk-lucius.de/ innovation materiellen Welt nicht mehr als nur vorläufige Unvollkommenheit leugnet, sondern zu einem Kriterium bei der Methodenwahl macht. Im Unterschied zur klassischen Moderne der Technik, die noch das voraufklärerische Erbe der Eindeutigkeit und Absolutheit von Wahrheit mit sich trug, wendet die Hypermoderne der Technik die gleichen kritischen Erkenntnismethoden wie bei ihren materiellen Gegenstände auch auf sich selbst an. Das Ergebnis ist ein reflektierter Methodenpluralismus in der Technologie, der seine Bewährung in der gesellschaftlichen Praxis erfährt (vgl. Wengenroth 1998, 129). Moderne Technik zeichnet sich durch ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen aus, moderne Industrie ist science-based und mündet in Technoresearch. Alltäglichkeit technologischer Produkte Zweitens kann von einer neuen kulturell signierten Alltäglichkeit technologischer Produkte gesprochen werden. Das Kompositum Innovationssystem legt schon sprachlich nahe, dass es bei der Innovationstätigkeit das Vorhandensein eines Regelmechanismus unterstellt, auf das steuernd eingewirkt werden kann. Insofern ist das Konzept des nationalen Innovationssystems noch ein Erbe des technokratischen Optimismus der 1960er und 1970er Jahre. Darüber hinaus hat das Konzept des nationalen Innovationssystems aus den 1970er Jahren sein implizites Vertrauen auf das Funktionieren des linearen Modells des Innovationsprozesses mitgebracht. Doch die Hoffnungen auf eine planvolle Steuerung oder auch nur prognostizierbare Beeinflussung der Innovationsfähigkeit einer bestimmten Volkswirtschaft haben sich nicht erfüllt. Für neue Technologien gilt offenbar das Saysche Theorem, wonach jedes Angebot seine Nachfrage erzeugt, nicht mehr. Entsprechend sind neue Technologien kein Garant für neue Produkte (Wengenroth 2001, 23-26). Technologischer Lifestyle Die persönliche Ausstattung mit Industriegütern hat längst den Charakter der Kleidung angenommen. Eine gelungene Ästhetisierung des Lebens ist mittlerweile eine viel entscheidendere Voraussetzung für soziale Geborgenheit und Lebensfreude als die Akkumulation von Brennwerten, Kohlehydraten und Wetterschutz. Mit der Tertiarisierung der Wirtschaft und der Semiotisierung der Waren sind die Erfolgsbedingungen technischer Innovationen so offensichtlich von einem „cultural turn“ erfasst worden, dass ihre Reduktion auf ein Innovationssystem nicht einfach nur eine unzulässige Reduktion, sondern eine vollkommene Verkennung ihrer Binnendynamik darstellt. Es ist mittlerweile opinio communis, dass Technik kulturell adaptiert und in höchst unterschiedliche Bedeutungs- und Verwendungszusammenhänge eingepasst wird. Sie transportiert nicht sterile, wertneutrale Funktionalität, die der Nutzer als perfekter „homo oeconomicus“ selbstverständlich rationell zu seinem größten Nutzen einzusetzen vermag, sondern ist Träger symbolischer Konnotationen und kultureller Codes, deren nutzungsspezifische Werte und Kompetenzen er voraussetzt und erzeugt. Im Konsum konstituieren sich die Werte, nach denen sich der Erfolg einer Technik bemisst. Bedeutung und Erleben entziehen sich der genauen Vermessung, zumal dann, wenn ihre Qualität erst in der Vielfalt und Differenz entsteht (Wengenroth 2001, 29-32). <?page no="65"?> 66 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation Benutzerfreundliche Technik Die Integration von Technologien in bestimmte Lebensstile wird zunehmend wichtiger für die Durchsetzung von Innovationen. Damit aber werden Öffentlichkeitsarbeit und Akzeptanzprobleme entscheidend für den Erfolg von Innovationen. Wenn hoch industrialisierte Gesellschaften schneller produzieren und schneller konsumieren können als ihre Vorgänger, dann müssen sie auch schneller wissen, was sie warum konsumieren wollen und das angesichts sehr viel höherer Ansprüche an unser technisches Wissen als Grundlage vernünftiger Entscheidungen. Mit expandierender Technisierung wird das entsprechende Wissen der Konsumenten jedoch immer fragmentarischer und ungenügender (Wengenroth 2004, 3-5). Die subjektive Konsumentenpräferenz im Unterschied zum objektiven Gebrauchswert ist hervorzuheben. Dies ist eine gewisse Objektivität zweiter Ordnung. Werden einfache, eindeutige und unbestritten als modisch empfundene Produkte fast nur mit den zu erwartenden Empfindungen präsentiert, so trat bei den technologieintensiveren Produkten ein technisch-wissenschaftlicher Diskurs in den Vordergrund (vgl. Wengenroth 2004, 6-11). Zunehmende Komplexität der Technik hat den Wunsch nach einfacher und benutzerfreundlicher Technik immer lauter werden lassen. Überall kann man die Grenzen des Menschen angesichts der Technik bemerken, wie dies die Katastrophen zeigen. Ökonomischer Erfolg setzt Benutzbarkeit für alle voraus. Nachdem Funktionalität und geringer Preis ausgereizt waren, verlegte man sich auf das Design des „Joy of Use“. Es wird höchste Zeit, dass sich der Mensch als Maß der Dinge in der Technikgestaltung begreift (vgl. Zühlke 2005, 7-12). Die Ambivalenz der Technik ist in vielen Fällen nicht eine Wesenseigenschaft der Technik, sondern eine Folge ihrer (mehr oder weniger gelungenen) Eingebettetheit in soziale und kulturelle Umstände (den Alltag). 2.3 Pfadabhängigkeit, Innovat tion und Akzeptanz neuer Technologie Entwicklungspfade Die Konzeption der Pfadabhängigkeit weist auf die Voraussetzungen sowohl der Entstehung von Entwicklungspfaden wie ihrer Durchsetzung durch den Gebrauch der neuen Technogien durch bestimmte Nutzergruppen hin. Gemäß dieser Konzeption bedarf es bestimmter Konstellationen sowohl auf der Produzentenwie der Nutzerseite, um Entwicklungspfaden wie Innovationen eine neue Richtung zu geben, das heißt diese zu gestalten. Oft verhindert der Erfolg traditioneller Entwicklungspfade und die Gewohnheit der Nutzer sowie deren frühere Investitionen in die alte Nutzung eine neue Technologie durch Nutzungsverweigerung. Insofern entsteht eine politische Aufgabe, Entwicklungshindernisse für erwünschte technologische Trends z.B. gesetzlich einzuschränken, wenn Gemeinwohlaspekte dies nahelegen. Die Übernahme einer Innovation bzw. innovativen Technologie in eine bestehende Nutzungskultur (d.h. ihre Einbettung) ist nicht als einseitiger Lernprozess der Nutzer zu konzipieren, die dankbar die angeblich neue Technik annehmen, sondern als wechselseitigen Anpassungs-, Korrektur- und Kritikprozess an technischen Strukturen wie an Leitbilder ihres Gebrauchs. <?page no="66"?> 2.3 Pfadabhängigkeit, Innovation und Akzeptanz 67 www.uvk-lucius.de/ innovation Innovationshindernisse Technische Entwicklungspfade sind zu ihrem größeren Teil Nutzungs- und Gebrauchspfade. Neue Technologien müssen, um Akzeptanz zu erlangen, in größere technische, soziale und kulturelle Kontexte eingeordnet werden können. Vor allem das Paradigma der sozialen Verträglichkeit von Innovationen ist herauszustellen. Verhindert werden technologische Innovationen durch einen hohen Stand der eingeführten Technik mit entsprechenden Sicherheitsstandards und Qualitätsmerkmalen, welche die innovative Technik häufig am Anfang noch nicht im gleichen Maße aufweisen kann, die oftmals jahrzehntelange erfolgreiche Geschichte von Entwicklungs- und Nutzungspfaden, die teilweise hohe Investitionskosten erforderlich machten. Die Generation neuer Nutzungspfade erzeugt oft große zusätzliche Innovationskosten, Kosten für die Erzeugung neuen Gebrauchswissens und vor allem -könnens, für die Änderung bestehender Gesetze oder Verordnungen usw. Dazu kommen eingeführte Produktionsverfahren, die sich zum Teil noch nicht amortisiert haben, mangelnde Erfahrung und Vertrauen in neue Produkte und Umstellungskosten. Einbettung Für den Prozess der Erfindung, der Entwicklung und Innovation sind ein unterstützendes personelles Netzwerk sowohl von Produzenten wie Nutzerseite. Beide sind zu charakterisieren, nicht nur wie traditionell die Produzenten, zudem die technische Tradition, das System der Infrastruktur und das technische Hilfsnetzwerk. Der Prozess technologischen Wandels und der Prozess der Entwicklung basierten auf der negativen Feedback-Metapher. Forschung und Entwicklung griffen ineinander und basierten auf dem Dreischritt Erfindung, Entwicklung, Innovation. Zentral war dabei der Gedanke der technischen Tradition (vgl. Staudenmaier 1985, 35-80). Aus kulturtheoretischer Sicht sind technische Produkte Teil eines komplexen Systems von Beziehungen und Bedeutungen, Momente sozialkultureller Konstruktion von Realität und deren Bedeutung. Die materiale Kultur in ihrem Wechselverhältnis mit symbolischen und sozialen Strukturen ist zu untersuchen. Dabei wird der Kulturbegriff auf unterschiedliche Handlungsfelder angewendet. Versteht man unter Kultur in Anlehnung an Clifford Geertz ein geordnetes System von Bedeutungen und Symbolen, vermittelt über gesellschaftliche Interaktion, so lassen sich Produkte als materiell objektivierter Teil von Kultur fassen. Produktkultur ist die Summe zeitgenössischer Produkte und Teil einer Organisationskultur. Die Bedeutung technischer Artefakte erschöpft sich nicht in ihrem Nutzen. Materielle Artefakte sind nicht nur der objektivierte Ausdruck von kulturell erzeugter Wirklichkeit, sondern sie tragen auch zu derer Konstruktion bei. Sie sind Modelle von und für Kultur. Als Manifestationen kollektiver Werte fungieren sie ebenso als Symbole sozialer Integration wie Differenzierung und Klassifikation. Eine Festlegung auf die Nutzen- oder die Gebrauchsfunktion von Produkten ist sozial und kulturell nicht zulässig. Der soziale Gebrauch von Produkten ist weder aus ihren Eigenschaften erschließbar, noch einfach aus der Gebrauchsanleitung abzulesen. Die Unterscheidungen von Nützlichem und Überflüssigem, Natürlichem und Künstlichem ist das Resultat kulturell generierter Selektionen (vgl. Geertz 1994, 191). Vorstudien zu einer Konzeption kulturell eingebetteter technisch-ökonomischer Entwicklung (Irrgang 2002a; Irrgang 2002b, Irrgang 2006; Irrgang 2007b) haben auf die Bedeutung von Anthony Giddens Theorie der Strukturierung gesellschaftlicher Prozesse hingewiesen (Giddens 1988). <?page no="67"?> 68 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation Erfinder In der traditionellen ingenieurmäßigen Ideologie folgte der Erfinder einem Grundmuster linearer Folgerichtigkeit, wodurch Innovationen planbar und berechenbar waren. Eine hermeneutische Konzeption technischen Handelns auf der Basis der These von Umgangswissen sieht hier einen wesentlich komplexeren Prozess: der technisch Handelnde muss eine Innovation als solche erst erkennen und begreifen lernen. Dies ist ein Verstehensprozess. Kognitiver Wandel in der Technologie ist das Ergebnis von überlegten Problemlösungsaktivitäten der Mitglieder relativ kleiner Gemeinschaften technisch Handelnder. Technische Entwicklung ist eine Mischung aus Plan und nicht geplanten Folgen, also keine Evolution oder Selbstorganisation im naturwissenschaftlichen Sinn. Es handelt sich um die Entfaltung, Entwicklung und Entstehung von technischer Mächtigkeit in verschiedenen regionalen Zentren. Die nur teilweise prognostizierbare Entwicklung technischen Handelns unterstellt keine Analogie zu indeterministisch-natürlichen Prozessen. Eine durchgängige Entwicklungslinie lässt sich eruieren, obwohl es im strengen Sinn keine „Entwicklungslogik“ technischen Handelns gibt. Dabei soll die Konzeption des Umgangswissens und instrumentellen Verstehens als Grundlage technischen Handelns einen erkenntnistheoretisch begründeten Fluchtpunkt für die Rekonstruktion technischer Entwicklung abgeben. Das Ergebnis ist eine nichtlineare, multikulturelle, vernetzte, rückkoppelnde Konzeption von Entwicklungspfaden, die vielfach gebrochen, zufallsgetränkt und geschichtlich signiert (Ihde 2000; Irrgang 2002a, Irrgang 2006) mit dem traditionell Modell technischen Fortschritts nur noch eine vage Ähnlichkeit und weitläufige Verwandtschaft besitzen. Nachfragetheorie Im Hinblick auf die Bestandteile innovativer Prozesse, Innovationstrends und ihre Determinanten gibt es die Nachfragesogtheorie und die technologische Anstoßtheorie. Marktkräfte wurden als die Hauptdeterminanten technologischen Wandels angesehen. Dabei gingen Nachfragetheorien vom Bedürfnis bzw. Konsumenten oder Nutzer von Nützlichkeitsfunktionen aus. Gemäß diesen Theorien konnte man a priori wissen, ob eine Innovation Erfolg haben wird oder nicht. Damit konnten die kleineren bzw. größeren technologischen Durchbrüche verstanden werden. Auch mit der Unterstellung von Bedürfnissen ist die Erklärung der Bedürfnisse schwierig. Der Angebotsdruck unterstellt den Markt als Determinante für Innovationen. Theorien des Angebotsdruckes und des Nachfragesoges können aber den Zeitplan von Innovationen nicht erklären. Der technologische Druck und die Bedeutsamkeit ökonomischer Faktoren müssen noch geklärt werden. Insgesamt sollte eine eindimensionale Konzeption einer Wissenschafts-Technologie-Produktion vermieden werden. Zu berücksichtigen sind bei der Erklärung innovativer Effekte die anwachsende Rolle des wissenschaftlichen Inputs, der Komplexität von Forschung und Entwicklung, der Bedeutsamkeit eines Lernens durch Tun. Diffusion Die Diffusion selbst ist als innovativer Prozess anzusehen. Es gibt eine Diffusion von Innovationen zwischen den Unternehmen selbst und eine Diffusion in der Nachfrage von technologischen Produkten. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Fortschritt entlang einer technologisch definierten Linie. Hinzu kommen die endogenen Mechanismen des Wettbewerbes, die ebenfalls Innovation und die technologische Vernetzung <?page no="68"?> 2.3 Pfadabhängigkeit, Innovation und Akzeptanz 69 www.uvk-lucius.de/ innovation verschiedener Sektoren befördern (vgl. Dosi 1984, 285-287). Nur im Rahmen von technischen Entwicklungspfaden lassen sich entsprechende Niveaus und Lücken definieren. Bei allen strukturellen Theorien der Beschreibung von Rahmenbedingungen von Innovationen wurden aber bislang kulturelle Faktoren nahezu vollständig übersehen. Dabei spielen sie bei der Formulierung technologischer Kompetenzen sowohl im Herstellungswie im Anwendungsbereich eine ganz zentrale Rolle. Diffusions- und Durchsetzungsrate einer Innovation sind abhängig vom Lernen durch den Gebrauch neuer Technologien und ihre Einbettung in den Alltag durch Kommunikationsprozesse. Dabei geht es um die ökonomische Implikation des Lernens durch Praxis (Arrow). In einer ganzen Reihe von Fällen setzt sich auch keineswegs das technisch ausgereiftere oder gar technisch bessere Konzept durch. Vielmehr setzten sich Erfindungen durch, für deren gesellschaftliche Akzeptanz mehr investiert worden ist. Es genügt eben heute nicht mehr, nur noch Technologien zu entwickeln und sie anzubieten, sondern es müssen gewisse Entwicklungs-, Transfer- und Nutzerpfade angeboten werden, damit sich eine bestimmte neue Technologie vor dem Hintergrund bereits eingeführter Standards und angesichts der Notwendigkeit, neue Umgangsformen und neue Standards lernen bzw. vorgeben oder vormachen zu müssen, etabliert. So werden auch weiterhin in vielfacher Form wenig umweltfreundliche Technologien verwendet, obwohl rein theoretisch bereits bessere technologische Lösungen möglich sind. Dabei ist es nicht nur eine Frage der ökonomischen, sondern auch der gesellschaftlichen „Kosten“, die entstehen, wenn neue Standards des Gebrauchs für neue Technologien entwickelt werden müssen. Arthurs These von den Entwicklungspfaden und Technologietransferpfaden sollte zudem nicht in dem Sinne missbraucht werden, dass sie als Rechtfertigung für verschiedene Arten von staatlichen Industrielenkungsmaßnahmen gebraucht werden, die auf das Argument zurückgreifen können, dass sie letztendlich konstruiert wurden, um die Entwicklung von niedrigeren Technologisierungs-Stufen zu verhindern (Esser u.a. 1998, 148). Dabei ist Rosenbergs Konzept eines Lernens durch den Gebrauch zu bedenken, wobei Technik im Anfangsstadium im Fluss ist (Arthur 2000, 13-15). Wenn die Anpassung zunimmt, nehmen auch der Gebrauch und die Erfahrung zu und werden immer mehr eingebettet und inkorporiert in verantwortbare und effektive Technikvarianten. Es gibt jedenfalls einen Anpassungsmarkt mit unterschiedlichen Anpassern (Arthur 2000, 16-27). Akzeptanz Gemäß der Entwicklungspfadtheorie führen Innovationen zu Modernisierungsinseln (Orte wie Gruppen; Techno-Freaks). Bestimmte Nutzergruppen entwickeln ihre eigene technologische Kultur, die jeweils durch Verknüpfung von technologischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Faktoren gekennzeichnet ist. Einbettungsprozeduren verlaufen hier anders als bei der Allgemeinbevölkerung, weil bei ihnen spezifische Technologisierungsprozesse bereits stattgefunden haben und die Rahmenbedingungen für Akzeptanz und Einbettung von spezifischen Innovationen höher sind. Damit kann hier eher Akzeptanz für Modernisierungseffekte erreicht werden, dafür erhöht sich aber die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungsgeschwindigkeit zwischen den Modernisierungsinseln und ihrer Umgebung. Solche Gruppen haben Brückenkopfcharakter für die weitere technische Entwicklung. Akteure dieser Gruppen sind in der Regel ihrer traditionellen Kultur nicht mehr im gleichen Maße verbunden wie ihre außerhalb lebenden Freunde oder Familienmitglieder, was zu erheblichen gesellschaft- <?page no="69"?> 70 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation lichen und kulturellen Spannungen führen kann. Sie sind aber andererseits mit der traditionellen Kultur nicht unvertraut und somit für die Aufgabe der kulturellen Anpassung und Einbettung neuer Technologien nicht unvorbereitet und gelegentlich sogar geeignet. 2.4 Schluss: Technologische Hypermoderne als permanente Innovation Technikenthusiasmus Die 60er Jahre des 20. Jh. stellen einerseits den Höhepunkt der Technikeuphorie dar, beförderten aber andererseits die Erkenntnis, dass technischer und wirtschaftlicher Fortschritt nicht gleichzusetzen sind mit humanem und sozialem Fortschritt. Mit der Entschlüsselung des Genoms scheint erneut ein Faszinationsschub ausgelöst worden zu sein, der Allmachtsphantasien und dementsprechende Ängste über die schöpferische Anmaßung des Menschen schürt (vgl. Berg u.a. 2001, 165). Zwei grundlegende Entwicklungen transformierten die technische Hochmoderne in die technologische Hypermoderne, nämlich die immer stärkeren Automatisierungstendenzen durch Informationstechnologie wie durch Robotik, den PC, das Internet und die Datenbanken auf der einen Seite und durch die Umweltproblematik auf der anderen Seite, die Behauptung der Grenzen des Wachstums und der negativen Auswirkungen des Industrialismus und des Produktionswahns auf die Natur. Europa steht in mancherlei Hinsicht noch im Erstarrungsschock der noch nicht abgeschlossenen Hochmoderne, aber insgesamt könnte mit der Hypermoderne ein neuer technologischer Enthusiasmus heranwachsen - möglicherweise in Asien und nicht in Europa. Produktionsparadigma Der Homo Faber war ein Macher, der einen jeweils hohen Wirkungsgrad anstrebte. Die Wurzeln des Homo Faber liegen im Szientismus, im Glauben an eine naturwissenschaftlich physikalische Weltsicht, deren Wurzeln bis zu Comte und seinem Projekt einer sozialen Physik zurückzuführen sind. Das Zeitalter des modernen Ingenieurs, also des Homo Fabers ist die Hochzeit des Technikoptimismus und der Glaube an die Macht des neuzeitlichen Individuums, wobei nicht zu verhehlen ist, dass dieses Zeitalter geprägt ist durch fundamentale Kollektivismen und Totalitarismus, die diesem Zeitalter zwei Weltkriege beschert haben (Irrgang 2010a; Irrgang 2010b). Das Zeitalter des Homo Faber war eine Zeit des Produktionswahns mit Produktionsexzessen einer Massengüterproduktion und die Produktivitätszahlen galten als Gradmesser für die Art des Erfolges einer sozialen Volkswirtschaft (Irrgang 2010b). Die Gegner dieses Models blieben allerdings der Systemdynamik dieses Models verhaftet, in dem sie von Grenzen des Wachstums, Grenzen der Machbarkeit, Grenzen des Gedurften oder Gesollten im Hybrismodell redeten. Grenzziehung ist keine echte Alternative für den Fortschrittsoptimismus der technologischen Hochmoderne, so dass nun die Gefahr besteht, dass sich ein neuer Technologieoptimismus entwickeln kann. <?page no="70"?> 2.4 Hypermoderne als permanente Innovation 71 www.uvk-lucius.de/ innovation Hybris Das Begrenzungsmodel des traditionellen technologischen Utopismus und Fortschrittsglaubens war nicht stark genug, eine neue Richtung für Entwicklungspfade zu formulieren. Technische und ökonomische Entwicklungspfade lassen sich nicht abblocken, sondern müssen durch alternative Entwicklungspfade ersetzt und umgeleitet werden. Das traditionelle Modell des technologischen Fortschrittes impliziert eine lineare Sicht der Vergangenheit als Realisierung von Entwicklungspotentialen im Sinne des Entfaltens und Entwickelns, was am Anfang bereits angelegt war. Es ging um Entwicklungsszenarien von Produktionsmustern beim Homo Faber. Durch den Einbezug der Misserfolge und des Scheiterns und der Tendenzen, die zum Umlenken von Entwicklungspfaden führen, kann man zu einem realistischeren Bild des Forstschritts technologischer Entwicklungspfade kommen und dann den Homo Faber in einem neuen Licht sehen. Das Ende der großen Visionen und der Beginn der Ernüchterung ist verbunden mit dem Bewusstsein und dem Gedanken der Grenzen des Wachstums, wobei sich dieses Model als entscheidender Anreiz für den Homo Faber entpuppt hat, die Grenzen des Wachstums technologisch hinauszuschieben und eine echte Antwort auf die ökologische Krise in dem Sinne zu vermeiden, eine Alternative zu entwickeln im Sinne einer ökonomisch-technologischen Ausformulierung von Nachhaltigkeitsvisionen. Nutzerorientierung Bedeutet nun die Betonung der Nutzerorientierung in der Technologieentwicklung, dass mehr und mehr die Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung in den privaten Bereich abgeschoben werden sollte? Sind aber private Konsumenten überhaupt in der Lage, ihren Konsum nachhaltig auszurichten? Dann wird Nachhaltigkeit zum Luxus für die reiche Oberschicht und die reichen Staaten. Überblickt der „einfache Bürger“ die Folgen seines Handelns? Andererseits wird das private Verhalten unter öffentlichen Druck gestellt, eine Nachhaltigkeitsdiktatur soll es aber nicht geben. Umweltprobleme entstehen in der Regel durch kollektiven traditionellen Technikgebrauch oder gewohnte Verhaltensweisen, nicht zuletzt verursacht durch Kostendruck und gesellschaftliche Anreizstrukturen. Wenn Nachhaltigkeit Erfolg haben will, muss sich diese aus dem Bestehenden heraus entwickeln können, privat wie gesellschaftlich. Eingeschränkte Prognosefähigkeit in Sachen Technik gilt auch für den Staat und seine Organe. Schon diese Einsicht verbietet Ökopaternalismus oder gar die Diktatur des Guten. Die Akzeptanz von umweltgerechtem Verhalten sollte privat wie staatlich erhöht werden. Am besten aus pragmatisch-ethischer Sicht ist immer noch, dass sich nachhaltiges Konsumentenverhalten auch ökonomisch lohnt. Dabei gibt es Bereiche, in denen privates Engagement Grenzen hat. Staatliches Handeln kann sinnvolle Rahmenbedingungen setzen oder veraltete verändern. Aber es hat Grenzen. Technologie entwickelt sich schnell, nicht zwangsläufig in Richtung Nachhaltigkeit, aber immerhin weg von den rauchenden Schloten der Vergangenheit. Vertrackt wird die Lage, weil Technikgestaltung von so vielen Faktoren abhängig ist. Nicht alle sind politisch zu beeinflussen. Staatliches und privates Handeln agieren auf unterschiedlichen Ebenen und sind nur gemeinsam erfolgreich. Nachhaltigkeit und politischer Liberalismus sind keine Gegensätze. <?page no="71"?> 72 2 Technikphilosophie www.uvk-lucius.de/ innovation Leitbild Nachhaltigkeit Worin besteht „Green Technology“? Die Solaranlage auf dem Dach des Eigenheims, dezentrale Biogasfermenter auf dem Bauernhof, das Elektroautomobil - romantische Vorstellungen gemäß dem Leitbild „small is beautiful“ scheinen zu überwiegen. Die technische Realität sieht anders aus. Hässliche Felder mit Sonnensegeln, Wälder als Biomasse, große Windräder auch im Watt, die den Ausblick verstellen, Strommasten größer als die heute üblichen, Staubecken und Pumpanlagen zur Energiespeicherung, große Staudämme usw.? Erneuerbare Energie zu gewinnen bedeutet vielfach zusätzliche Belastung ökologischer Systeme, Umstrukturierung der Art zu leben und unserer Formen sozialer Interaktion, ethische Konflikte wie die Nutzung von Biomasse als nachwachsende Rohstoffe und als Konkurrenz mit dem Nahrungsmittelanbau für eine wachsende Weltbevölkerung möglichst ohne Verwendung von Gentechnik in der Landwirtschaft weltweit. Wird nicht Akzeptanz verloren gehen, wenn es an die tatsächliche Realisierung der Energiewende geht und ihre Nachteile stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung treten? Nachhaltigkeit scheint zur Utopie oder gar Ideologie geworden zu sein. Ein wenig mehr Skepsis und Vorsicht dürfte angebracht sein. Eine innovative technisch-ökonomische Konzeption nachhaltiger Entwicklung im Sinne eines offen angelegten Leitbildes lässt sich vermutlich realisieren, doch nicht auf Befehl und mit verklärtem Blick. Nachhaltigkeit als Zustand wird weder global noch regional erreichbar sein. Auch bei der Verwendung nachhaltiger Entwicklungsstrategien bleiben Natur und Umwelt nicht unangetastet. Eine untergründig romantische Betrachtung des Umweltproblems wirkt ideologieverdächtig. Ökonomische, gesellschaftliche und technische Realisierbarkeit sind nicht als Gegensatz zu nachhaltiger Entwicklung zu verstehen, sondern ihr Ausgangspunkt. Literatur Arthur, B. 2000: Increasing Returns and Path Dependence in the Economy (11994); Ann Arbor Arthur, B. 2009: The Nature of Technology. What it is and how it evolves; New York u.a. Beck, St. 1996: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte; Berlin Berg, Christian, Ralph Charbonnier, Elisabeth Gräb-Schmidt, Sven Wende 2001: (Hg.) Der Mensch als Homo Faber. Technikentwicklung zwischen Faszination und Verantwortung; Münster Borgman, A. 1984: Technology and the Character of Contemporary Life. A Philosophical Inquiry; Chicago, London Dewey, J. 1989: Die Erneuerung der Philosophie; Hamburg Dewey, J. 1995: Erfahrung und Natur; Übersetzt von M. Suhr; Frankfurt am Main, New York Dosi, G. 1984: Technical Change and Industrial Transformation. The Theory and an Application to the Semiconductor Industry; Houndsmills <?page no="72"?> 73 www.uvk-lucius.de/ innovation Edquist, Charles 1997: (Hg.) Systems of innovation. Technologies, institutions and organisations; London/ Washington Esser, J. u.a. 1998: (Hg.) Soziale Schließung im Prozess der Technologieentwicklung; Leitbild; Paradigma, Standard; Frankfurt am Main, New York Falkenburg, B. 2004: Wem dient die Technik? ; Baden-Baden Geertz, C. 1994: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von B. Luchesi u. R. Bindmann; Frankfurt am Main Giddens, A. 1988: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung; Frankfurt am Main, New York Hubig, Ch. 1993: Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden; Berlin, Heidelberg Ihde, D. 2000: Epistemology Engines; Nature 406/ 6, 21 Irrgang, B. 2001: Technische Kultur. Instrumentelles Verstehen und technisches Handeln; (Philosophie der Technik Bd. 1) Paderborn Irrgang, B. 2002a: Technische Praxis. Gestaltungsperspektiven technischer Entwicklung; (Philosophie der Technik Bd. 2); Paderborn 2002 Irrgang, B. 2002b: Technischer Fortschritt. Legitimitätsprobleme innovativer Technik; (Philosophie der Technik Bd. 3); Paderborn 2002 Irrgang, B. 2006: Technologietransfer transkulturell. Komparative Hermeneutik von Technik in Europa, Indien und China; Frankfurt am Main u.a. Irrgang, B. 2007a: Hermeneutische Ethik. Pragmatisch-ethische Orientierung für das Leben in technologisierten Gesellschaften; Darmstadt Irrgang, B. 2007b: Technik als Macht. Versuche über politische Technologie; Hamburg Irrgang, B. 2008: Philosophie der Technik; Darmstadt Irrgang, B. 2009: Grundriss der Technikphilosophie. Hermeneutisch-phänomenologische Perspektiven; Würzburg 2009 Irrgang, B. 2010a: Von der technischen Konstruktion zum technologischen Design. Philosophische Versuche zur Ingenieurstechnik; Münster Irrgang, B. 2010b: Homo Faber. Arbeit, technische Lebensform und menschlicher Leib; Würzburg 2010 Irrgang B. 2011a: Art. Technikphilosophie; in: Philosophie. Geschichte. Disziplinen. Kompetenzen; ed. P. Breitenstein, J. Rohbeck; Stuttgart, Weimar 2011, 335-344 Irrgang B. 2011b: Art. Technikphilosophie; in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe; ed. P. Kolmer, A. G. Wildfeuer; Bd. 3, Freiburg, München 2011, 2167-2179 Irrgang, B., Sybille Winter 2007: Modernität und kulturelle Identität. Konkretisierungen transkultureller Technikhermeneutik im südlichen Lateinamerika; Frankfurt am Main u.a. Pfaffenberger, B. 1992: Social Anthropology of Technology; in: Annual review of Anthropology 21 (1992), 491-516 <?page no="73"?> 74 2 Technikphilosophie Pfeiffer, W. 1971: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung als Grundlage einer Planung und Prognose des technischen Fortschritts; Göttingen Peirce, Ch. S. 1991: Vorlesungen über Pragmatismus; übersetzt von Elisabeth Walther, Hamburg Riemer, I. 1986: Konzeption und Begründung der Induktion. Eine Untersuchung zur Methodologie von Charles S. Pierce, Würzburg 1986 Rosenberg, Nathan 1982: Inside the Black Box: Technology and Economics; Cambridge u.a. Sahal, D. 1985: Technological Guidepost and Innovation Avenues; in: Research Policy 14 (1985) 61-82 Staudenmaier, John 1985: Technology’s Storytellers. Reweaving the Human Fabric; Cambridge Mass., London Verbeek, Peter-Paul 2005: What things do. Philosophical Reflections on Technology, Agency and Design; übers. v. Robert P. Crease; Pennsylvania Wengenroth, U. 1998: Der aufhaltsame Weg in der klassischen zur reflexiven Moderne in der Technik; in: Th. Hänseroth (Hg.): Technik und Wissenschaft als produktive Kräfte in der Geschichte; Dresden, 129-140 Wengenroth, U. 2001: Vom Innovationssystem zur Innovationskultur. Perspektivwechsel in der Innovationsforschung; in: J. Abele u.a.: Perspektivwechsel in der Innovationsforschung; Köln u.a., 23-32 Wengenroth, Ulrich 2004: Gute Gründe. Technisierung und Konsumentenentscheidungen; in Technikgeschichte 71(2004) Heft 1, 1-18 Zühlke, Detlef 2005: Der intelligente Versager. Das Mensch-Technik-Dilemma; Darmstadt Aufgaben [1] Welche Faktoren erzeugen einen technisch ökonomischen Entwicklungspfad? [2] Wie kann man technisch-ökonomische Entwicklungspfade gestalten? <?page no="74"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen (zur „Essential Facility“-Doktrin im USamerikanischen, europäischen und deutschen Recht) von Univ.-Prof. Dr. Dieter Krimphove 3.1 Innovationen und Essential Facilities Innovationen verändern entscheidend Lebens-, Wirtschafts- und Produktionsverhältnisse. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeiten des modernen Datenverkehrs, der Telekommunikation und respektive des Internets. Es steht zu erwarten, dass diese Innovationen - vergleichbar der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts - einen massiven Einfluss auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zukunft ausüben werden. Eine andere innovationsrechtlich wie ökonomisch höchst anspruchsvolle Frage ist, wer Zugang zu derartigen Techniken bekommen soll. Oft sind nämlich Innovationen und innovative Techniken nur mit erheblichem wirtschaftlichem Aufwand zu entwickeln. Nicht nur kleine und mittelständische Unternehmen, die sich eine solche Innovationsforschung und -entwicklung nur selten leisten können, sondern gerade auch Markt-Neulinge (Newcomer) wären aus Kostengründen vom Markt ausgeschlossen. So stellt sich speziell bei der Durchleitung von Energie oder Telekommunikationsaufkommen die Frage, ob ein potentieller Newcomer auf dem Energie- oder Telekommunikationsmarkt für die kostspielige Errichtung eines eigenen Netzes - zusätzlich zu den bestehenden Netzen - sorgen muss, oder ob und ggf. unter welchen Bedingungen er ein bereits bestehendes fremdes Netz seines Konkurrenten nutzen darf. Diese Frage erscheint von besonderer rechtlicher Brisanz, denn die Zulassung der Nutzung eines fremden Rechtes stellt einen Eingriff in das Eigentumsrecht des Netzinhabers dar. Das Eigentumsrecht schützt in den meisten Rechtsordnungen Europas sogar deren Verfassung (siehe Abbildung 7). Im Rahmen des Eigentumsschutzes hat der Eigentümer grundsätzlich das Recht, Dritte von der (Mit-)Nutzung seines Eigentums auszuschließen 73 (Exklusivität des Eigentums). An dem Bestehen eines solchen Ausschlussrechts besteht insbesondere dann ein ökonomisches Interesse des Eigentümers, wenn - wie es häufig der Fall sein wird - die Mitbenutzung fremden Eigentums dieses verbraucht oder abnutzt. 73 Vgl. für Deutschland § 903 BGB <?page no="75"?> 76 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation Belgien: Art. 16 Verfassung Belgiens Dänemark: § 73 Verfassung des Königreichs Dänemark Deutschland: Art. 14 Grundgesetz Estland: Art. 32 Verfassung der Republik Estland Finnland: § 12 finnische Regierungsform Frankreich: Verfassung der Republik Frankreich und Art. 2, Art. 17 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Griechenland: Art. 17 Abs. 2ff. Verfassung der Republik Griechenland Irland: Art. 43 Verfassung der Republik Irland Italien: Art. 42ff., 23 Verfassung der Republik Italien Luxemburg: Art. 16 Verfassung der Republik Luxemburg Niederlande: Art. 14 Verfassung des Königreiches der Niederlande Portugal: Art. 62 Verfassung der Republik Portugal Schweden: Art. 18 Verfassung des Königreiches Schweden Spanien: Art. 33 Verfassung des Königreiches Spanien Abbildung 7: Verfassungsrechtlicher Schutz des Eigentums in Europa 3.1.1 Zur „Essential Facility-Problematik“ als Innovationsförderung Außergewöhnlich große Relevanz hat die Essential Facility-Problematik deshalb für das Thema der Innovation, weil die Beantwortung der Frage, ob ein Marktteilnehmer eigene Facilities zu errichten hat, oder ob er fremde nutzen darf, über den Anreiz entscheidet, eigene Innovation zu betreiben, und mithin forschungs- und entwicklungsfördernd tätig zu sein. 3.1.2 Zum Anwendungsbereich der „Essential Facility-Problematik“ Die „Essential Facility“-Problematik ist dabei nicht auf den Nutzungszugang zu Strom- oder Kommunikationsnetzen beschränkt. Das Spektrum der bislang entschiedenen Streitfälle schließt ebenfalls die Nutzung von „Schienenstrecken“, „Eisenbahnbrücken“ 74 , „Seehäfen“ 75 , und sogar den Zugang zu fremden „Informationen“ 76/ 77 ein. 74 United States ./ . Terminal Railroad association, 224 U.S. 383 (1912), vgl. Klaue: Zur Rezeption der amerikanischen essential-facility-doctrin in das europäische und deutsche Kartellrecht. In: RdE 1996, S. 51ff. (m.w.H.) <?page no="76"?> 3.1 Innovationen und Essential Facilities 77 www.uvk-lucius.de/ innovation 3.1.3 Ökonomische Abwägung im Rechtskonflikt Speziell in den Fällen, in denen die „Essential Facility“ in einem umfangreichen Bauprojekt wie etwa Schienenstränge, Eisenbahnbrücken oder Seehäfen besteht, zeigt sich, wie vielschichtig problematisch die Möglichkeit des Eigentümers einer solchen Facility ist, sich auf sein Eigentumsrecht zu berufen, und damit jeden Dritten von der Nutzung seines Eigentums auszuschließen 78 . Damit der Dritte überhaupt Zugang zum Markt hat und/ oder dort seine Leistungen anbieten kann, müsste er die Facility erneut selber erstellen. Der Neubau von Gleisen, Brücken oder Seehäfen ist in diesem Fall nicht nur teuer, sondern umweltschädlich und oftmals auch geologisch und/ oder technisch nicht möglich. 79 3.1.3.1 Ökonomische Aspekte für die Zulassung Dritter zu fremden „Essential Facilities“ Für die Zulassung eines Dritten zu den im Eigentum eines anderen stehenden „Essential Facilities“ sprechen daher folgende ökonomische Gründe: Fehlleitung und Verschwendung knapper Ressourcen durch hohe Kosten der Erstellung eigener Essential Facilities Ließe man die Fremdnutzung von „Essential Facilities“ nicht zu, so müssten die auf die Nutzung Angewiesenen eigene, weitere „Essential Facilities“ schaffen. Dieses führt zu der gesamtwirtschaftlich problematischen Vervielfachung von Betriebsmitteln. Diese belastet nicht nur die Umwelt. Sie entzieht den Beteiligten Ressourcen, die zur Realisierung anderer wirtschaftlicher Ziele benötigt werden. Die Fehlleitung von knappen Ressourcen - insbesondere von Geld - und damit die Reduktion der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der am Rechtssystem Beteiligten wären die Folgen einer gesetzlichen Nichtzulassung der Nutzung fremder „Essential Facilities“ durch Dritte. Die zusätzliche Errichtung neuer, eigener „Essential Facilities“ steigert die Qualität des Produktes nicht. Entsprechende Aufwendungen binden finanzielle Mittel, die anderen Investitionen und Innovationen nicht mehr zur Verfügung stehen. 80 75 22 Wettbewerbsbericht 1992, Rn. 219; siehe auch: Kommission/ E v. 11.06.1992; B & I Line ./ . Sealink Harbour und Sealink Stena Ltd, (1952) Common Market Law Reports, S. 255ff.; Kommission/ E v. 21.12.1993, Sea Containers ./ . Stena Sealink, ABl. L v. 18.01.1994, Nr. 15/ 8; Kommission/ E v. 21.12.1993, Hafen von Rodby, ABl. L v. 26.02.1994, Nr. 55/ 52 76 EuGH v. 10.07.1991 (Rs T- 69, 70, 76/ 89) Radio Telefis Ereann, The British Broadcasting Cooperation; BBC Enterprises Ltd.; Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. II 1991, S. 485 ff, 535ff. 77 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff. 78 Haar: Marktöffung in der Telekommunikation, 1995, S. 180ff. (m.w.H.) 79 224 US 383 (1912) 80 Diese Problematik erörtert die Ökonomik insbesondere im Zusammenhang mit dem Entstehen von „unproduktiver“ Information, so Scheppele, Legal Secrets, Equality and Efficiency in the Common Law 43ff.; Hirshleifer: The Private and Social Value of Information and the Reward to Inventive <?page no="77"?> 78 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation Gleichzeitig beansprucht ein genereller Ausschluss der Mitnutzung fremder „Essential Facilities“ die Notwendigkeit der Neuproduktion eigener „Essential Facilities“, wie Häfen, Schienenstränge, Stromnetze usw. Dies belastet übermäßig Raum, Natur und Umwelt. 81 Zudem hat die Vervielfältigung von Leitungssystemen den Nachteil einer vielfachen und unnötigen Leistungsanbindung der Kunden an zahlreiche unterschiedliche Netzte und Leistungssysteme. 82 Förderung des Wettbewerbs durch Ermöglichung der „Essential Facility“- Nutzung Ein ökonomisch besonders gravierender Nachteil der Hinderung des Zuganges Dritter zu „Essential Facilities“ ist die damit verbundene Beeinträchtigung des Wettbewerbs. Ist die Nutzung des fremden Eigentums für den Betrieb des Geschäftsbetriebs des Dritten (Newcomer) zwingend notwendig, hat es der Eigentümer der „Essential Facility“ in der Hand, die Zahl seiner Konkurrenten zu bestimmen bzw. zu reduzieren. 83 Die Verweigerung des Nutzungszuganges Dritter zu fremden „Essential Facilities“ verringert Marktzutrittschancen und fördert damit das Entstehen von monopolistischen und oligopolistischen Marktstrukturen. Speziell dieser Aspekt steht im Vordergrund der rechtlichen Behandlung der „Essential Facility“-Problematik in den US-amerikanischen und europäischen Rechtsordnungen. 84 Das Problem der Verweigerung des Nutzenzuganges zu fremden „Essential Facilities“ sehen diese Rechtsordnungen vorwiegend als eine Zentralfrage des Missbrauches einer marktbeherrschenden 85 bzw. einer monopolistischen 86 Unternehmensstellung mit der Gefahr der Beschränkung und/ oder Beseitigung eines funktionstüchtigen Wettbewerbs (workable competition). Activity, in: American Economic Review, Bd. 61 (1971), S. 561ff.; Hirshleifer: Where are we in the Theory of Information? in: American Economic Review, Paper and Proceedings, Bd. 63 (1973), S. 31ff. (m.w.H.) 81 Siehe: United States ./ . Terminal Railrod Association 224 US 383 (1912) 82 Vgl. Büdenbinder: Energierecht nach der Energierechtsreform. In: JZ 1999, S. 62ff, 67 83 Dazu Krimphove: Der Zugang zu fremden Betriebs- und Produktionsmitteln. In: ZfRV 2001, S. 164ff. (m.w.H.) 84 Einzelheiten dazu siehe unten: Kapitel 3; 4; 5 85 Für das US-amerikanische Recht siehe Sec. 2 Sherman Act, (siehe auch sec. 2ff. Clayton Act); für das europäische Recht siehe Art. 81 EG-V (vormals Art. 86 EG-V), für das deutsche Recht siehe Art. 19 Abs. 4, Nr. 4 GWB (vor dem 01.01.1999: § 22, 103 GWB); Einzelheiten zu der unterschiedlichen rechtlichen Behandlung von essential facility in den verschiedenen Rechtssystemen und Rechtsordnungen siehe unten: Kapitel, 3; 4; 5 (m.w.H.) 86 Das US-amerikanische Recht (Sec. 2 Sherman Act) stellt auf die Vermeidung der Beeinträchtigung der Marktstruktur durch deren „Monopolisierung“ ab, siehe unten: Kapitel 3.1, 3.2 (m.w.H.) <?page no="78"?> 3.1 Innovationen und Essential Facilities 79 www.uvk-lucius.de/ innovation 3.1.3.2 Ökonomische Aspekte gegen die Zulassung eines Anbieters zu einer im Eigentum eines anderen Unternehmen stehenden „Essential Facility“ Den ökonomischen Notwendigkeiten einer Nutzungszulassung Dritter zu fremden „Essential Facilities“ stehen jedoch ökonomische Nachteile gegenüber: Verschwendung der Ressource „Essential Facility“ durch Entstehen von Allmendewirtschaft Bei Gegenständen, welche in einer öffentlichen - d.h. nicht ausschließlichen - Nutzung stehen (Allmende), existiert die Gefahr von deren Verschwendung durch Übernutzung oder durch mangelnde Pflege. 87 Ein Eigentümer, welcher alle Nutzungswilligen zur Nutzung seines Eigentums zulassen müsste, hätte kein Eigeninteresse an der Pflege und Verbesserung seiner Betriebsmittel. Er würde damit ja gerade gegenläufig zu seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen die Situation seiner Konkurrenten auf seine eigenen Kosten verbessern. Erst die Ausstellung exklusiver Eigentumsrechte oder einer die Nutzung beschränkenden Ordnung wirkt ressourcenerhaltend und fördert in diesem Fall das vorgegebene wirtschaftliche Ziel der Vermeidung von Verschwendung knapper Ressourcen. 88/ 89 Die Möglichkeit der Herausbildung von eigenständig handelbaren Wirtschaftsobjekten Die Schaffung von Ausschließlichkeitsberechtigungen (Exklusivität) bzw. Privateigentum bewirkt nicht nur den dauerhaften Erhalt der Sache und deren Nutzbarkeit. Das Versehen von „Essential Facilities“ mit einem Exklusiv-Schutz und der Befugnis zur Abwehr nutzungswilliger Dritter fordert ebenfalls das Entstehen eigener neuer wirtschaftlich verwertbarer Rechtspositionen. Genau dieser ökonomische Effekt trat auch mit der gesetzlichen Etablierung des Schutzes des „geistigen Eigentums“ im späten 19. Jahrhundert ein. 90 Damit erweitert die „Spezifizierung“ einer „Essential Facility“ zu einem exklusiv zu nutzenden Recht die wirtschaftlichen Handlungsoptionen der am Rechtsverkehr Beteiligten 91 . Ausschluss des Marktmechanismus durch die Förderung von Konkurrenten mittels unbeschränkter Zulassung zu „Essential Facilities“ Letztlich bewirkt ein freier Zugang aller zu Betriebsmitteln eines Unternehmens die Förderung der Konkurrenten und damit die Aufhebung des Marktselektionsmecha- 87 Varian: Intermediate Microeconomics. A Modern Approach, 1994, S. 557ff. 88 Siehe oben in diesem Buch Kapitel: Organisation der Innovation (m.w.H.) 89 Ein Beispiel für die Herausbildung von exklusiven Eigentumsrechten gibt das ausgehende Mittelalter. Ein stärkeres Bevölkerungswachstum erforderte, den Boden stärker für Ackerbau als für Weideland zu nutzen, um ausreichend Nahrung zu erwirtschaften. Dieser spezifische Nutzungszweck des Bodens machte die Aufgabe der noch im Mittelalter üblichen Allmendewirtschaft erforderlich. North/ Thomas: The Rise of the Western World, A Economic History, 3. Aufl., London 1979 90 Dazu siehe unten Kapitel: 4.1.2 91 Vgl. Kirchner: Eigentum und Eigentumsordnung, in: Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. I, S. 65ff.; S. 82; Kümpel: Einführung in das Effektengeschäft / Ausführung von Effektenorder. In: Schimansky/ Lwowski/ Bunte (Hrsg.): Bankrechtshandbuch, Bd. III, München 1997, S. 2663ff. <?page no="79"?> 80 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation nismus. Nach diesem hat ein Marktteilnehmer dann vom Marktgeschehen auszuscheiden, wenn er - im Vergleich zu seinen Konkurrenten - Waren oder Dienstleistungen zu minderwertiger Qualität und/ oder zu einem zu hohen Preis anbietet. Dieser Selektionsprozess wird erheblich eingeschränkt, wenn den wirtschaftlich und/ oder qualitativ unzureichend produzierenden Konkurrenten keine Kosten entstehen, welche sie zum Austritt aus dem Markt veranlassen könnten. Eigens die US-amerikanische und deutsche Rechtsprechung folgern ebenfalls aus der Eigentumsposition des Netzbetreibers und „Essential Facility“-berechtigten Unternehmens, dass dieses nicht verpflichtet sein kann, fremde Konkurrenten entgegen eigenen Interessen durch die Bereitstellung eines funktionstüchtigen Netzes und den Anschluss hieran übermäßig und auf eigene Kosten wirtschaftlich zu fördern. 92 3.1.4 Schlussfolgerung: Zur rechtlichen Gestaltung der Nutzungsmöglichkeit an „Essential Facilities“ Obige Gegenüberstellung ökonomischer Aspekte verdeutlicht, dass es sich bei der Zulassung oder beim generellen Ausschluss Dritter von der Nutzung einer fremden „Essential Facility“ nicht um ein absolutes „Ja“ oder „Nein“ handeln kann. Die Lösung liegt vielmehr in einem Abwägungsergebnis. 93 Diese Abwägung besteht in einem sinnvollen Austarieren aller oben aufgezeigten ökonomischen Aspekte der „Essential Facility“-Problematik. Die nachstehenden Ausführungen stellen die Abwägung verschiedener und z.T. gegenläufiger ökonomischer Interessen in den unterschiedlichen Rechtsordnungen US-Amerika, Europa und Deutschland vergleichend dar und bewerten deren wirtschaftliche Folgen. Gleichzeitig steckt die Darstellung - durch die Präsentation ihrer Standardfälle - das Spektrum der „Essential Facility“-Problematik ab, und bietet dem Leser einen detaillierten Überblick nicht nur über die deutsche, sondern auch die internationale Rechtslage. 3.2 US-amerikanisches Recht der „Essential Facility“ Seinen historischen Ursprung nahm die Beurteilung der „Essential Facility“- Problematik im US-amerikanischen Recht. Schon frühzeitig führten US-amerikanische Gerichte den Begriff „Essential Facility“ als eigenständiges Begründungselement in ihre Entscheidungsfindung ein. Der Inhalt der Entscheidungen verdichtete sich im 92 Krimphove: Wettbewerbssicherung kleiner und mittelständischer Unternehmen durch Zugangsberechtigung zu fremden Betriebs- und Produktionsmitteln, in: Schmeisser/ Krimphove: Management der Forschung und Entwicklung sowie der Technologiekooperation in kleinen und mittleren Unternehmen. München, 2004 93 Krimphove: Der Einsatz der Ökonomischen Analyse des Rechts als notwendiges Instrument der Europäischen Rechtsvergleichung - dargestellt anhand des Erwerbs vom Nichtberechtigten in den Europäischen Rechtsordnungen. In: ZfRV 1998, S. 185ff, 193f. <?page no="80"?> 3.2 US-amerikanisches Recht der „Essential Facility“ 81 www.uvk-lucius.de/ innovation Laufe der Zeit zu dem so genannten US-amerikanischen Recht der „Essential Facility“- Doktrin. 94/ 95 3.2.1 Zur Entwicklung der US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin Erstmalig befasste sich die US-amerikanische Rechtsprechung (Supreme Court) im Jahre 1912 mit der „Essential Facility“-Problematik in der „Terminal Railroad“- Entscheidung. 96 United States ./ . Terminal Railrod Association (United States ./ . Terminal Railrod Association 224 US 383 (1912)) Vierzehn vormals selbständige Eisenbahngesellschaften schlossen sich zur „Terminal Railroad Association“ zusammen. Dieser Gesellschaft unterstanden alle Eisenbahnbrücken, Bahnhöfe und Gleisanlagen in der Umgebung von St. Louis. Der Bau neuer Gleisanlagen und/ oder Brücken war aus geologischen Gründen nicht möglich. Der Gesellschaftsvertrag ermöglichte es jedem der Mitglieder der Terminal Railroad Association, jedem Konkurrenzanbieter von Bahnbeförderungsleistungen den Zugang zur Nutzung der im Eigentum der Terminal Railroad Association stehenden Bahnanlagen zu versagen. Der Supreme Court bezeichnete die gesamten Bahnanlagen als „Essential Facility“. Er verpflichtete - aufgrund der Sec 1 und 2 Sherman Act - die Terminal Railroad Association, jeder dritten Eisenbahngesellschaft den Zugang und die Nutzung zu den Betriebsmitteln zu denselben Bedingungen vertraglich einzuräumen, wie sie für jedes andere Mitglied der Gesellschaft bestehen. sec. 2. Sherman act: Monopolizing trade a felony; penalty Ever y person who shall monopolize, or attempt to monopolize, or combine or conspire with any other person or persons, to monopolize any part of the trade or commerce among the several States, or with foreign nations, shall be deemed guilty of a felony, and, on conviction thereof, shall be punished by fine not exceeding $10,000,000 if a cor poration, or, if any other person, $350,000, or by imprisonment not exceeding three years, or by both said punishments, in the discretion of the court. 94 Dazu im Einzelnen siehe unten: Kapitel 3 (m.w.H.) 95 Siehe insbesondere: EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mbH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7791ff. (Schlußanträge/ Jakobs) 7808 96 United States ./ . Terminal Railroad Association 224 US 383 (1912) <?page no="81"?> 82 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation Ein Fall, in dem sich US-amerikanische Obergerichte, wesentlich später, mit der „Essential Facility“-Problematik auseinandersetzten, ist der Fall: Gramco Inc. ./ . Providence Fruit & Produce Bldg.. 344 US 817 (1952) Providence Fruit & Produce besaß ein Gelände, auf dem de facto der gesamte örtliche Frucht- und Gemüsehandel stattfand. Auch Gramco hatte dort von Providence Fruit & Produce einen Marktstand gemietet. Nach der Fusion der Gramco mit einem auswärtigen Händler wollte Gramco diesem die Mietrechte an dem Marktstand übertragen. Dies lehnte Providence Fruit & Produce ab. Das Gericht erblickte in der Verweigerung der Nutzung des Marktstandes einen Entzug von „Essential Facilities“. Hierin sah das Gericht einen Verstoß gegen Sec. 2 Sherman Act, sodass die Ablehnung der Nutzung durch den fusionierten auswärtigen Händler rechtlich unzulässig war. Die US-amerikanische Rechtsprechung legte abschließend ihre Kriterien zur Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit des Nutzungsausschlusses von „Essential Facilities“ in der Entscheidung „United States ./ . Otter Tail Power Co 97 “ fest und bestätigte diese in der Entscheidung „Consolidated Gas Company of Florida ./ . City Gas Company of Florida. 98 “ In beiden Fällen ging es um die Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen ein fremdes Leitungssystem zur Durchleitung von Gas genutzt werden durfte. United States ./ . Otter Tail Power Co (United States ./ . Otter Tail Power Co 410 US 366 (1973)) Otter Tail Power Co war ein örtliches Gemeinde-Verbundunternehmen, welches seine Kunden direkt mit Gas belieferte. Einige Gemeinden im Liefergebiet der Otter Tail Power Co wollten diese Versorgung in eigener Regie durchführen. Otter Tail Power Co lehnte gegenüber diesen gemeindlichen Stadtwerken nicht nur die Belieferung zu Vorzugspreisen (Großhandelspreisen) ab. Es untersagte den Gemeinden auch die Nutzung ihres Durchleitungsnetzes zum Bezug von Gas von anderen Gasanbietern. Unter Berufung auf seine bislang ergangenen Entscheidungen zur „Essential Facility“- Problematik 99 sah das US-amerikanische Obergericht den Ausschluss des Nutzungszuganges zum Durchleitungsnetz für gemeindliche Stadtwerke als wettbewerbswidrig unzulässig an und untersagte dieses Verhalten. 97 United States ./ . Otter Tail Power Co 410 US 366 (1973) 98 Consolidated Gas Company of Florida ./ . City Gas Company of Florida Case Nr. 83-1010-CIV- Marcus (1987) 99 Consolidated Gas Company of Florida ./ . City Gas Company of Florida Case Nr. 83-1010-CIV- Marcus (1987); United States ./ . Terminal Railroad Association 224 US 383 (1912); siehe oben Kapitel: 3.2.1 <?page no="82"?> 3.2 US-amerikanisches Recht der „Essential Facility“ 83 www.uvk-lucius.de/ innovation 3.2.2 Zum Inhalt der US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin Aus den oben angegebenen Entscheidungen - insbesondere unter Rückgriff auf den Rechtsstreit United States ./ . Terminal Railroad Association 100 und unter Hinweis auf die im Fall Consolidated Gas Company of Florida ./ . City Gas Company of Florida 101 (s.o.) getroffene Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse zur „Essential Facility“-Problematik - leitet das US-amerikanische Recht in heute gefestigter Rechtsprechung seine „Essential Facility“-Doktrin ab. Der Inhalt dieser Doktrin lässt sich wie folgt zusammenfassen: [1] Der Eigentümer oder Inhaber der „Essential Facilities“ besitzt eine Monopolstellung auf dem sachlich und örtlich relevanten Markt. [2] Die „Essential Facility“ zählt zu den unverzichtbaren Betriebsmitteln, sowohl für den Geschäftsbetrieb des Inhabers als auch für den des Dritten. 102 [3] Die Eigenerstellung der „Essential Facility“ ist dem Dritten 103 tatsächlich nicht möglich oder aus wirtschaftlichen Gründen ausgeschlossen. [4] Der Inhaber der „Essential Facility“ lehnt den Zugang des Dritten bzw. Verhandlungen hierüber ab. 104 [5] Die Ablehnung des Dritten von dem Nutzenzugang zu der „Essential Facility“ schafft dem Inhaber wettbewerbliche Vorteile. [6] In Abwägung der wirtschaftlichen Interessen, sowohl des Eigentümers als auch des Dritten, ist die Verhandlung über einen Zugang des Dritten zu den Betriebsmitteln und über die Konditionen dieses Zuganges dem Eigentümer zumutbar. 105 3.2.3 Zur ökonomischen Bewertung der US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin und ihre Rechtsfolgen US-amerikanische Gerichte und Kartellbehörden gewähren seit der Begründung der „Essential Facility“-Doktrin in der „Terminal Railroad“-Entscheidung dem Dritten ein Recht auf vertragliche Gewährung des Nutzenzuganges zur „Essential Facility“. 100 United States ./ . Terminal Railroad Association 224 US 383 (1912) 101 Consolidated Gas Company of Florida ./ . City Gas Company of Florida Case Nr. 83-1010-CIV- Marcus (1987) 102 United States./ .Terminal Railroad Association of St. Louis, 224 US 383 (1912); United States ./ . Otter Tail Power Co 410 US 366 (1973) 103 Siehe: Fishman ./ . Estate of Wirtz, 807f.2d 520; (7th Cir. 1986) 104 Siehe: Fishman ./ . Estate of Wirtz, 807f.2d 520; (7th Cir. 1986) 105 Vgl. Byras ./ . Bluff City News Co., 609f.2d 843 (6th Cir. 1979); R. H. Brok: The Antitrust Paradox (1978/ 1993), S. 346, siehe auch: Aspen Skiing Co. ./ . Aspen Highlands Skiing Corp. 427 US 585 (1985) <?page no="83"?> 84 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation Somit entscheiden die Beteiligten eines „Essential Facility“-Konfliktes selber über die Zuweisung einer Rechtsposition. Eine staatliche Maßnahme ist nicht notwendig. 106 Die vertragliche Einräumung des Nutzungsrechtes schließt grundsätzlich ein, dass die Vertragsparteien eine der Nutzung angemessene „Gebühr“ vereinbaren. Die Verknüpfung des Nutzungszuganges mit einer entsprechenden Entgeltentrichtungspflicht grenzt die Möglichkeit eines ungehinderten Nutzenzuganges zugunsten des „Essential Facility“-Inhabers ein. Dieser erhält eine Gegenleistung. Seine Maßnahmen zum Erhalt und zur Pflege der „Essential Facility“ werden für ihn sinnvoll. 107 Gleichzeitig verpflichtet hierdurch die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin den Inhaber der „Essential Facility“ nicht zu einer unbegrenzten Förderung seines Konkurrenten. Die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin lässt daher den Selektionsprozess unrentabler Anbieter weitgehend unberührt. Auffällig ist ebenfalls, dass die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin nur dann von „Essential Facility“ spricht, wenn die Betriebsmittel durch den Nutzungswilligen nicht auf andere Weise beschafft werden können. Auch diese Einschränkung des Nutzungszuganges genügt dem oben angegebenen ökonomischen Aspekt der Vermeidung von Ressourcenverschwendung, und dem des Erhalts des Marktmechanismus. Das Merkmal der Erforderlichkeit der „Essential Facility“ für den Geschäftsbetrieb des Nutzungswilligen schafft ebenfalls einen Ausgleich zwischen dem Entstehen „unproduktiver“ und „prohibitiv“ hoher Kosten, welche den Marktzutritt behindern, einerseits und der Fehlleitung knapper Ressourcen durch den ökonomisch bzw. ökologisch unsinnigen Aufbau weiterer „Essential Facilities“ andererseits. 108 Die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin ermöglicht dem Nutzungswilligen nur in diesem Fall den Zugang zu fremden Betriebsmitteln. Sie vermeidet daher grundsätzlich das Entstehen zusätzlicher, unsinniger „Essential Facilities“, reduziert derartige (Mit-)Nutzungen jedoch auf die Fälle zwingender Erforderlichkeit. 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin Die Europäische Kommission und der EuGH entwickelten - unter Rückgriff auf die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin - im Rahmen des europäischen Verbotes des Missbrauches einer beherrschenden Unternehmensstellung eine eigene europäische „Essential Facility“-Doktrin. Überaus vielfältig ist die Entscheidungspraxis des EuGH und der Europäischen Kommission. Ähnlich dem US-amerikanischen Recht ist auch hier festzustellen, dass sowohl die Kommission, als auch der EuGH unkritisch die „Essential Facility“-Problematik mit 106 Einzelheiten siehe Krimphove, in: Krimphove: Rechtstheoretische Aspekte der „Neuen Ökonomischen Theorie des Rechts“. In: Rechtstheorie, 2000, Heft 2 (m.w.H.) 107 Siehe oben Kapitel: 3.2.2.2 108 Siehe oben Kapitel: 3.2.2.2 <?page no="84"?> 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin 85 www.uvk-lucius.de/ innovation Sachverhalten der Wettbewerbsverzerrung durch Liefer-, Leistungs- und Abnahmeverweigerung dogmatisch vermischen. 109/ 110 So liegen in den gelegentlich im Zusammenhang mit der „Essential Facility“-Problematik angeführten Entscheidungen „Commercial Solvents“ 111 , „Telemarketing“ 112 , „Aer Lingus“ 113 , „Metro“ 114 , „Cartier“ 115 , „Tipp-Ex“ 116 , „Hafen von Rodby“ 117 , „Delmitis“ 118 , „Sacchi“ 119 , „Peugeot I“ 120 und „Peugeot II“ 121 , Sachverhalte zugrunde, welche ausschließlich der Problematik des wettbewerbsrechtlich unzulässigen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung durch „Leistungs- oder Belieferungsverweigerung“ zuzuordnen sind. Lediglich auf dem Spezialgebiet des europäischen Luftverkehrs hat der europäische Gesetzgeber die Richtlinie 96/ 67/ EG des Rates v. 15.10.1996 über den Zugang zum Markt der Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft 122 erlassen. 3.3.1 Zur Entwicklung der europäischen „Essential Facility“-Doktrin in der Entscheidungspraxis der Kommission Einen entscheidenden Durchbruch zur Formulierung der europäischen „Essential Facility“-Doktrin hatten die Entscheidungen der Kommission in den sog. Hafenentscheidungen. Anhand der Sachverhalte „B & I Line ./ . Sealink Harbour and Sealink Stena Ltd“ 123 , „Sea Containers ./ . Stena Sea-link“ 124 bildet die Kommission die Entscheidungskriterien ihrer „Essential Facility“-Doktrin heraus. 109 Vgl. insbes. die Einordnung der Problematik bei: Groeben/ Thiesing/ Ehlermann: Kommentar zum EWG-V, 4.Aufl. Baden-Baden, 1991, Art. 86, Rn. 201ff. 110 Zur Notwendigkeit und zum Inhalt dieser Unterscheidung, siehe unten: Kapitel 6.3 (m.w.H.) 111 EuGH v. 06.03.1974 (Rs. 6, 7 73) Commercial Solvents Cooperation ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1974, S. 223ff. 112 EuGH v. 03.10.1985 (Rs. 311/ 84) SA centre belge d’études de marché - Télémarketing (CBEM) ./ . SA Compagnie Luxembourgoise de télédiffusion (CLT), SA Information publicité Benelux (IPB) Slg. 1985, S. 3261ff. 113 Kommission/ E v. 26.02.1992 British Midland ./ . Aer Lingus, ABl. L v. 10.04.1992, Nr. 96, S. 34ff. 114 EuGH v. 2510.1977 (Rs. 26/ 76) Metro SB-Großmärkte GmbH & Co ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1977, S. 1875ff. 115 EuGH v. 13.01.1994 (Rs. C-376/ 92) Metro ./ . Cartier; Slg. I 1994, S. 15ff. 116 EuGH v. 16.02.1990 (Rs. C-297/ 87) Tipp-Ex Gmbh ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1990, S. 261ff. 117 Kommission/ E v. 21. 12. 1993, Hafen von Rodby, ABl. L v. 26. 2. 1994, Nr. 55/ 52 118 EuGH v. 28.02.1991 (Rs. C-234/ 89) Stergios Delimits ./ . Henninger Bräu, Slg. I, S. 935 119 EuGH v. 30. 4. 1974 (Rs. 115/ 73) Guiseppe Sacchi (Strafverfahren), Slg. 1974, S. 409ff., 413 120 EuGH v. 12.07.1991 (Rs. T.23/ 90) Peugeot ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. II 1991, S. 653ff. 121 EuGH v. 16.06.1994 (Rs. C-322/ 93) Automobiles Peugeot SA, Peugeot ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I, 1994, S. 2727ff. 122 ABl. L 272/ 3611, v. 25.10.1996 123 Kommission/ E v. 11. 6. 1992, B & I Line ./ . Sealink Harbour and Sealink Stena Ltd, (1952) Common Market Law Reports, S. 255ff. 124 Kommission/ E v. 21.12.1993, Sea Containers ./ . Stena Sealink, ABl. L v. 18.01.1994, Nr. 15/ 8 <?page no="85"?> 86 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation B & I Line ./ . Sealink Harbour und Sealink Stena Ltd. (Kommission/ E v. 11.06.1992. In: 5 Common Market Law Reports, S. 255ff.) Einer Tochtergesellschaft der Stena-Gruppe gehört der Hafen von Holyhead. Eine weitere Tochter der Stena-Gruppe unterhält einen Fährverkehr von diesem Hafen nach Irland. Dieselbe Fährverbindung bedient das Unternehmen B & I Line. Aufgrund technischer/ geographischer Eigenheiten des Hafens kommt es durch die gleichzeitige Nutzung beider Konkurrenten zu gegenseitigen Behinderungen in der Abfertigung. Die Stena-Gruppe schreibt deswegen der B & I Line bestimmte eingeschränkte Abfertigungszeiten vor. Die Kommission bewertete die Reduktion der Abfertigungszeiten durch die Stena- Gruppe als ein missbräuchliches Ausnutzen deren marktbeherrschender Stellung. Denn dem Konkurrenten B & I Line würde durch die Einschränkung der Abfertigungszeiten der Zugang zu jenen Bedingungen genommen, die für den Geschäftsbetrieb der B & I Line notwendig sind. Noch direkter stellte sich die Problematik der Nutzung von „Essential Facilities“ im folgenden Fall dar. Sea Containers ./ . Stena Sealink (Kommission/ E v. 21.12.1993, ABl. L v. 18.01.1994, Nr. 15/ 8). Das Unternehmen Sea Containers wollte den Fährvertrieb von Holyhead nach Irland aufnehmen. Mit diesem Angebot trat es in Konkurrenz zu B & I Line, Sealink Harbour und Sealink Stena Ltd. Stena verweigerte Sea Containers den Zugang zum Hafen und berief sich hierzu auf die fehlenden Kapazitäten des Hafens. In einem Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat die Kommission - unter ausdrücklichem Hinweis auf den Gesichtspunkt der unzulässigen Vorenthaltung von „Essential Facilities“ durch ein marktbeherrschendes Unternehmen - die Verpflichtung der Stena abgeleitet, Sea Containers den Zugang zum Hafen zu gewähren. 125 3.3.2 Zur Entscheidungspraxis des EuGH Wie die Entscheidungspraxis der Kommission greift auch der EuGH auf die USamerikanische „Essential Facility“-Doktrin zurück. So befasst sich der EuGH in seinem Urteil „Magill“ 126 , und einer diesem Sachverhalt entsprechenden Entscheidung „La Cinq“ 127 , sogar mit dem „Nutzungszugang zu Informationen“ oder im 125 Kommission/ E v. 21.12.1993, Sea Containers ./ . Stena Sealink, ABl. L v. 18.01.1994, Nr. 15/ 8 126 EuGH v. 10.07.1991 (Rs T- 69, 70, 76/ 89), Slg. II 1991, S. 485ff., 535ff. auch: EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Slg. I 1995 S. 743ff. 127 EuGH v. 24.01.1992 (Rs. T-44/ 90) La Cinq SA ./ . Europäische Kommission, Slg. II S. 1ff. SA ./ . Europäische Kommission, Slg. II S. 1ff. SA ./ . Europäische Kommission, Slg. II S. 1ff. <?page no="86"?> 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin 87 www.uvk-lucius.de/ innovation Fall „Bronner“ 128 mit dem Zugang zu einer Verteilungs- und Vertriebseinrichtung eines Konkurrenten. Magill (EuGH v. 10.07.1991 (Rs T- 69, 70, 76/ 89), Slg. II 1991, S. 485ff., 535ff. auch: EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Slg. I 1995 S. 743ff.) Der irische Verlag „Magill TV Guide Ltd.“ vertreibt eine Programmzeitschrift. Marktmächtige staatliche Programmanbieter - wie die Independent Television Publications Limited (ITV), die British Broadcasting Corporation (BBC) und der irische Rundfunkanbieter Radio Telefis Ereann (RTE) - verweigern Magill die wöchentliche Bekanntgabe ihres Rundfunk-Programmangebotes. Die staatlichen Rundfunkanstalten publizieren ihrerseits jeweils eigene Programmzeitschriften, in denen sie nur über ihr eigenes Programm informieren. Auch geben sie Ankündigungen ihres Programmes an andere Tageszeitungen ab. All diese Publikationen decken den örtlichen Markt mit Vorschauen auf das Programm dieser Sender ab. Bereits die Kommission untersagte das Vorgehen der drei Rundfunkanbieter und verpflichtete sie zur jeweils rechtzeitigen Bekanntgabe der Programminformationen an „Magill TV Guide Ltd.“. 129 Denn die Rundfunkanstalt missbrauche durch die Vorenthaltung der für den Geschäftsbetrieb eines Konkurrenten unverzichtbaren Information gemäß Art. 102 AEUV (z.Z. der Entscheidung: Art. 86 EG-V) in unzulässiger Weise ihre marktbeherrschende Stellung. Das Gericht wies die daraufhin erhobenen Klagen der Rundfunkanstalten 130 und die im Anschluss an die Urteilsfindung eingelegten Rechtsmittel der Radio Telefis Ereann (RTE) und der Independent Television Publications Limited (ITV) u.a. 131 mit der Begründung ab, die Programmanbieter missbrauchten ihre Oligopolstellung deshalb gegenüber „Mail TV Guide Ltd.“, weil sie das Auftreten eines Konkurrenzproduktes verhindern und somit auf dem Markt der wöchentlich erscheinenden Programmzeitschriften ihr Monopol sichern wollten. 132 Ebenfalls um den Ausschluss eines potentiellen Wettbewerbers durch dessen Nichtzulassung zu der für seinen Betrieb notwendigen Information ging es im Fall: 128 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff. 129 Kommission/ E v. 21.12.1988, ABl. L 1989, Nr. 78/ 43 130 EuGH v. 10.07.01991 (Rs T- 69, 70, 76/ 89) Radio Telefis Ereann, The British Brodcasting Cooperation; BBC Enter-prises Ltd.; Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. II 1991, S. 485ff., 535ff. 131 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995, S. 743ff. 132 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995, S. 743ff., Rn. 48ff. <?page no="87"?> 88 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation La Cinq (EuGH v. 24.01.1992 (Rs. T-44/ 90) La Cinq SA ./ . Europäische Kommission, Slg. II S. 1ff. SA ./ . Europäische Kommission, Slg. II S. 1ff. SA ./ . Europäische Kommission, Slg. II S. 1ff.) 133 La Cinq ist ein privater Nachrichtensender, der nicht in die „Union Européenne de Radiodiffusion“ (UER Genf) aufgenommen wurde. La Cinq hatte damit keine Möglichkeit zum gleichberechtigten Bezug von Nachrichten- und Sportsendungen, welche zwischen den Mitgliedern der UER im Rahmen der Eurovision ausgetauscht werden. Die Kommission erachtete im Verfahren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes das Vorenthalten von Information als zulässig. Obschon die Kommission zur rechtlichen Prüfung des Falles auch den Umstand heranzog, dass der Ausschluss von La Cinq aus dem Nachrichtenverbund ein unzulässiger Missbrauch einer marktbeherrschenden Unternehmensstellung darstellen könne, verneinte sie dies in konkretem Fall. Denn sie konnte nicht sicherstellen, dass La Cinq alle zulässig aufgestellten Voraussetzungen einer Mitgliedschaft im UER erfüllte. In der Entscheidung im Hauptverfahren lehnte das Gericht in erster Instanz die Entscheidung der Kommission als rechtsfehlerhaft ab. Die gerichtliche Begründung bezog sich dabei jedoch weniger auf die „Essential Facility“-Doktrin als auf den Umstand, dass die an die Mitgliedschaft von La Cinq gestellten Voraussetzungen diskriminierend waren, nachdem andere Bewerber zur Erfüllung derartiger Voraussetzungen nicht herangezogen worden waren. Einen für die Gesamtproblematik der „Essential Facility“ charakteristischen Sachverhalt hatte der EuGH in dem Rechtsstreit „Bronner“ zu entscheiden. Zwar lehnt der EuGH in seiner Entscheidung einen Anspruch auf Nutzungszugang zur „Essential Facility“ ab. Der EuGH nutzt jedoch seine Urteilsbegründung, um die wesentlichen Voraussetzungen und Inhalte der europäischen „Essential Facility“- Doktrin festzusetzen. Bronner (EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mbH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff.) Die Oscar Bronner GmbH & Co. KG produziert und verlegt die Tageszeitung „Der Standard“. Diese Zeitung hat auf dem relevanten Markt lediglich einen Anteil von 3,6% bei der Druckauflage und 6% bei den Werbeeinnahmen, verglichen mit den Konkurrenzprodukten. Insbesondere die von der Mediaprint GmbH & Co. KG verlegten Tageszeitungen „Neue Kronen Zeitung“ und „Kurier“ halten demgegenüber einen Marktanteil von 46,8% bezüglich der Auflagen und einen Anteil von 42% bei den Werbeeinnahmen. Beide Zeitungen werden von 71% aller Zeitungsleser konsumiert. 133 Vgl. in diesem Zusammenhang - wenngleich nicht zur Essential Facility-Problematik zählend: Kommission ./ . International Business Machines, EG-Bulletin, 1984 Nr. 10, S. 105ff.; 14 Bericht über Wettbewerbspolitik, Nr. 94ff. <?page no="88"?> 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin 89 www.uvk-lucius.de/ innovation Die Mediaprint GmbH & Co. KG vertreibt ihre Zeitungen in einem eigens von ihr hierfür eingerichteten Hauszustellungssystem. Bronner beantragt für den Vertrieb seiner Zeitung den entgeltlichen Zugang zu diesem Zustellungssystem. Dies lehnt die Mediaprint GmbH & Co. KG mit der Begründung ab, sie habe dieses System unter hohem finanziellen und administrativen Aufwand geschaffen und eine Aufnahme des „Standard“ überlaste dieses System. Der EuGH hat das Ansinnen der Oskar Bronner GmbH & Co. KG auf Zugang zu dem Verteilungssystem der Mediaprint GmbH & Co. KG abgelehnt. Er begründet seine Entscheidung im Wesentlichen mit der Überlegung, dass der Oskar Bronner GmbH & Co. KG andere Möglichkeiten des Vertriebes ihrer Tageszeitung zur Verfügung stünden, und es der Oskar Bronner GmbH & Co. KG auch zuzumuten ist, diese Gelegenheiten (z.B.: Postzustellung, Laden- oder Kioskverkauf) zu nutzen. 134 Unter Rückgriff insbesondere auf die Entscheidungen Magill 135 (s.o.), Telemarketing“ 136 (s.o.) sowie Commercial Solvents“ 137 (s.o.) nahm der Gerichtshof die Gelegenheit wahr, die wesentlichen Merkmale einer europäischen „Essential Facility“-Doktrin aufzuführen und im Zusammenhang darzustellen: Der EuGH nimmt danach einen i.S.d. Art. 102 AEUV (z.Z. der Entscheidung Art 82 EG-V) relevanten Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung immer dann an, wenn der Zugang zur Nutzung für die Tätigkeit des Zugangswilligen unentbehrlich ist, 138 die Verweigerung des Nutzenzuganges geeignet wäre, jeglichen Wettbewerb auszuschließen 139 und die Nutzungsverweigerung nicht durch vorrangige Interessen des Eigentümers gerechtfertigt wäre. 140 Unter Zugrundelegung seiner Entscheidungen Magill (s.o.) und Bronner (s.o.) hat der EuGH die „Essential Facility“-Problematik auch auf die bereits von einem Marktteilnehmer entwickelten Instrumente zur Vornahme einer Marktanalyse übernommen: 134 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 42ff. 135 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften (ITP) ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff. 136 EuGH v. 03.10.1985 (Rs. 311/ 84) SA centre belge d’études de marché - Télémarketing (CBEM) ./ . SA Compagnie Luxembourgoise de télédiffusion (CLT), SA Information publicité Benelux (IPB) Slg. 1985, 3261ff. 137 EuGH v. 06.03.1974 (Rs. 6, 7 73) Commercial Solvents Cooperation ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1974, S. 223ff. 138 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 40 139 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 23, 27, 41. 140 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 41 <?page no="89"?> 90 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation IMS Health (EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01); IMS Health GmbH & Co. OHG ./ . NDC Health GmbH & Co. KG, Slg I 2004, S. 5039ff.) Die IMS verwendet ein von ihm entwickeltes, urheberrechtlich geschütztes und überaus komplexes System, das mit Hilfe von 2847 Segmenten ( sog. Bausteinen) den Arzneimittelmarkt in regionale Segmente einteilt, um so den Absatz von Arzneimitteln in Deutschland gezielt zu erfassen und das Marktgeschehen in den einzelnen regionalen Marktbestandteilen exakt zu interpretieren. An dieses komplexe Erfassungssystem sind alle ihm angeschlossenen Apotheken gewöhnt. Die Neueinführung der Markterfassung durch ein neues System von nunmehr 2201 Segmenten durch die Konkurrenzfirma NDC scheitert an der mangelnden Umstellungsbereitschaft der Systemnutzer (Apotheken und Arztpraxen). Die NDC geht daher dazu über, dem IMS sehr ähnliche Segmentierungsstrukturen den Ärzten und Apothekern anzubieten, und beantragt hierfür eine Lizenz bei der IMS. Gegen die Übernahme ihres langjährig entwickelten Segmentierungssystems wehrt sich die IMS und will daher auch dem Newcomer NDC keine Lizenz erteilen. Der EuGH untersucht, ob die Lizenzverweigerung der IMS ein Missbrauch deren marktbeherrschender Unternehmensstellung im Sinne des Art. 102 AEUV darstellt. Das Gericht entscheidet diesen Fall selbst nicht, sondern liefert dem Vorlagegericht Prüfungskriterien. Danach ist das Urheberrecht der IMS an der Entwicklung des komplexen Segmentierungssystems abzuwägen bzw. an dem Aufwand seiner Entwicklung durch den Urheber, mit der die Unerlässlichkeit des Systems für den Zugang zum Markt des Dritten gemessen wird (hier: NDC) und mit dessen Möglichkeit, ein ähnliches System selber zu entwickeln (Alternativlösung). Hinsichtlich der Frage, ob die Verweigerung einer Lizenz an NDC missbräuchlich ist, stellt das Gericht grundsätzlich fest, dass ein Inhaber einer Essentials Facility (hier: die 2847 Bausteine der IMS) grundsätzlich nicht missbräuchlich handelt. Denn sein Urheberrecht geht vor, bis auf den besonderen Ausnahmefall, in dem die stetige Verweigerung der Lizenzerteilung zur Nutzung der „Essential Facility“ das Angebot eines neuen Erzeugnisses, wonach eine potentielle Nachfrage besteht, verhindert und so geeignet ist, jeglichen Wettbewerb auf dem Markt auszuschließen. Allerdings lässt der EuGH selbst in einem außergewöhnlichen Sonderfall die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Lizenzverweigerung zu. Gerade die Neuheit der Leistung, die das Unternehmen NDC anbieten will, muss das Vorlagegericht besonders prüfen. In seiner Folgeentscheidung zu der oben zitierten IMS-Health-Entscheidung (s.o.) deutete der EuGH im Jahr 2007 das Merkmal der „Neuheit“ mit dem Hinweis, dass die Neuheit des Produktes oder der Dienstleistung nicht alleinentscheidend sei, denn es geht, im Rahmen der Feststellung dieses Merkmals allerdings, vorwiegend um den Verbraucher und dessen Schutz. Würden daher die Wahlmöglichkeiten des Verbrauchers erheblich eingeschränkt, läge hierin ein weiteres Indiz des Missbrau- <?page no="90"?> 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin 91 www.uvk-lucius.de/ innovation ches der marktbeherrschenden Unternehmensstellung des „Essential Facility“- Inhabers. 141 Microsoft ./ . Kommission: EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff. Microsoft entwickelt für den Markt ein breites Spektrum von Software-Produkten, insbesondere auch das Betriebssystem für Endnutzer, „Client-PCs“. Das Unternehmen Sun rügte gegenüber der Europäischen Kommission, Microsoft habe sich geweigert, ihm die erforderlichen Informationen und die nötige Technologie zur Verfügung zu stellen, um die Interoperabilität ihrer Betriebssysteme für Arbeitsgruppenserver mit dem Windows-Betriebssystem „Client-PCs“ zu ermöglichen. Die Europäische Kommission sah hierin einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch das Unternehmen Microsoft, und verhängte gegen Microsoft ein Gesamtbußgeld in Höhe von 497.196.304 €. Microsoft wandte sich mit einer Klage vor dem EuGH gegen die Rechtsansicht der Kommission. In dieser Entscheidung machte der EuGH gleichzeitig - speziell unter Rückgriff auf seine Entscheidung Magill (s.o.) - klärende Ausführungen zu der Möglichkeit, die Zugangsverweigerung zu einer „Essential Facility“ durch das Recht auf Schutz des geistigen Eigentums zu rechtfertigen. In dem Spezialfall, dass die „Essential Facility“ eine Erfindung ihres Inhabers ist und somit in den Schutz dessen geistigen Eigentums fällt, lässt der EuGH allerdings das Recht auf Schutz des geistigen Eigentums des Erfinders nicht zur Verweigerung des Zugangs zur „Essential Facility“ ausreichen. Denn andernfalls könnte das Recht auf Schutz des geistigen Eigentums immer und in jedem Fall als gerechtfertigter Verweigerungsgrund für die Nichtzulassung des Dritten zur „Essential Facility“ angesehen werden und den berechtigten Interessen von Newcomern entgegenstehen. 142 3.3.3 Inhalt und Bewertung der europäischen „Essential Facility“-Doktrin nach ökonomischen Kriterien Aus der Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission wie auch aus der des EuGH lassen sich folgende inhaltliche Grundsätze der europäischen „Essential Facility“-Doktrin ableiten: [1] Es muss eine marktbeherrschende Unternehmensstellung des Eigentümers (Inhabers) der „Essential Facility“ i.S.d. Art. 102 AEUV bestehen. 143 141 EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff. (insbesondere Rn. 648ff., Rn. 652, 663 142 EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff., Rn. 666ff., 688ff. 690 143 Commercial Solvents Cooperation ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1974, S. 223ff., Rn. 22ff., 25 <?page no="91"?> 92 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation [2] Der Ausgeschlossene tritt auf dem Markt des „Essential Facility“-Eigentümers auf und ist dessen potentieller Konkurrent. 144 [3] Die Nutzung der „Essential Facility“ muss für den Geschäftsbetrieb des Nutzungswilligen unentbehrlich sein. 145 [4] Der Inhaber schließt einen Nutzungswilligen von dem Zugang zu den „Essential Facilities“ dauerhaft aus. 146 [5] Die Nutzungsverweigerung ist geeignet, jeglichen Wettbewerb auszuschließen 147 , indem sie das Entstehen eines neuen Erzeugnisses oder einer neuartigen Dienstleistung, die der „Essential Facility“-Inhaber nicht anbietet 148 und nach dem/ der eine potentielle Nachfrage besteht 149 , unmöglich macht. Unter den oben aufgeführten Bedingungen sieht die europäische „Essential Facility“-Doktrin den Ausschluss eines Nutzungswilligen von „Essential Facilities“ grundsätzlich als unzulässig, da wettbewerbswidrig an. [6] Die Verweigerung des Zuganges zu fremden Vertriebsmitteln kann aber im Einzelfall gerechtfertigt sein. 150 144 Commercial Solvents Cooperation ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1974, S. 223ff. 25; EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 41. 145 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff., Rn. 53 146 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff., Rn. 54 147 EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff., Rn. 56; EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 38, 40 148 IMS Health (EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01); IMS Health GmbH & Co. OHG ./ . NDC Health GmbH & Co. KG, Slg I 2004, S. 5039ff., Rn. 37ff., 49, 52 149 EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01); IMS Health GmbH & Co. OHG ./ . NDC Health GmbH & Co. KG, Slg I 2004, S. 5039ff., Rn. 44ff.; EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff., Rn. 917ff. 150 EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff., Rn. 666ff., 688ff.; EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01); IMS Health GmbH & Co. OHG ./ . NDC Health GmbH & Co. KG, Slg I 2004, S. 5039ff., Rn. 37 (m.w.H.) <?page no="92"?> 3.3 Zur europäischen „Essential Facility“-Doktrin 93 www.uvk-lucius.de/ innovation Die Berufung allein auf den Umstand, dass die „Essential Facility“ zu dem geistigen Eigentumsrecht ihres Erfinders und Inhabers gehöre, genügt zur Rechtfertigung der Zugangsverweigerung im Einzelfall allerdings nicht. 151 Der Hauptunterschied der europäischen „Essential Facility“-Doktrin zur US-amerikanischen besteht allerdings in dem unterschiedlichen Grad der Betonung der parteiinternen Verhandlung: Während die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin als Rechtsfolge die Aufnahme von Verhandlungen zum Zweck der Gewährung eines Nutzenzuganges enthält, untersagt die europäische „Essential Facility“-Doktrin den aktuellen Nutzungsausschluss als wettbewerbswidrig. Sie eröffnet damit dem Nutzungswilligen den Zugang zu der „Essential Facility“ im konkreten Einzelfall. Die europäische „Essential Facility“-Doktrin ist verglichen mit der US-amerikanischen sehr viel weiter konzipiert. Sie bietet Gelegenheit, alle oben aufgeführten ökonomischen Einzelaspekte der Essential Facility-Problematik in sie aufzunehmen. Hierzu dienen insbesondere die Merkmale der „Unentbehrlichkeit“ der „Essential Facility“ für den Nutzungswilligen und das Element der „Rechtfertigung“ der Nutzungsverweigerung an einer „Essential Facility“. Speziell im Rahmen der Feststellung der Rechtfertigung der Nutzungsverweigerung wägen der EuGH und die Kommission die Rechtspositionen des Eigentümers mit denen des Nutzungswilligen ab. Gerade in dem Aspekt der Verhinderung des Herausbildens neuer Produkte oder neuer Dienstleistungen berücksichtigt der EuGH die besondere Rolle der „Essential Facility“-Problematik für die Innovationskraft einer Wirtschaft. Die europäische „Essential Facility“-Doktrin prüft unter dem Aspekt der Unentbehrlichkeit der „Essential Facility“ die Frage, ob dem Nutzungswilligen nicht auch Alternativen zur Verfügung stehen, welche einen Eingriff in das fremde Eigentum vermieden. Ob dem Nutzungswilligen derartige Alternativen zur Verfügung stehen, ist - wie im Fall geographischer Beschränkung - eine tatsächliche Fragestellung des Einzelfalles. Diese Frage kann aber auch zu einer reinen Wertungsfrage werden; dies etwa dann, wenn die Erstellung oder Benutzung einer Alternative zwar technisch möglich, jedoch mit wirtschaftlichem Aufwand für den Nutzungswilligen verbunden ist. Im Gegensatz zur US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin enthält die europäische „Essential Facility“-Doktrin ausdrücklich das Element der „Rechtfertigung der Nutzungsverweigerung“. Zu ihrer Bejahung wägt der EuGH die wirtschaftlichen und wettbewerblichen Interessen der Beteiligten ab: Als solche Interessen nennt der EuGH explizit: a. das Eigentumsrecht an der „Essential Facility“ und die damit verbundene Privatautonomie auf Einräumung eines Zuganges 152 und 151 EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff., Rn.690 152 Commercial Solvents Cooperation ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1974, S. 223ff.; EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 26; vgl. auch: EuGH v. 03.10.1985 (Rs. 311/ 84) (Rs. 311/ 84) SA centre belge d’études de marché - <?page no="93"?> 94 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation b. die Gefährdung der Funktionstüchtigkeit des Systems durch Gewährung des Nutzungszuganges. 153 Der Katalog ist nicht abschließend, sodass zusätzliche betriebswie volkswirtschaftliche Aspekte im Einzelfall einzubeziehen sind. 3.4 Zur „Essential Facility“-Doktrin im deutschen Recht Das deutsche Recht fand - verglichen mit den Regelungen europäischer Mitgliedsstaaten 154 - relativ früh zu einer Beurteilung des Nutzenzuganges zu „Essential Facility“. Mit der 6. GWB-Novelle schuf der deutsche Gesetzgeber dann erstmalig mit § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB eine eigenständige Regelung der „Essential Facility“-Problematik. § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB greift auf die Grundsätze dieser europäischen und mithin der US-amerikanischen „Essential Facility“-Doktrin zurück. Zudem regelt das deutsche Recht den Zugang zu „Essential Facilities“ ebenfalls in zahlreichen sehr verschiedenartigen Spezialregelungen des Transport-, Energiewirtschafts-, Post - und Telekommunikationsrechtes. 155 § 19 Abs. 4 4 GWB Ein Missbrauch liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, wenn es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem Télémarketing (CBEM) ./ . SA Compagnie Luxembourgoise de télédiffusion (CLT), SA Information publicité Benelux (IPB Slg. 1985, 3261ff.; EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff., Rn. 49f., Zur Bedeutung des Eigentums an einem Recht des gewerblichen Rechtsschutzes: EuGH v. 10.07.1991 (Rs T- 69, 70, 76/ 89) Radio Telefis Ereann, The British Brodcasting Cooperation; BBC Enterprises Ltd.; Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. II 1991, S. 485ff., 535ff.; EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff., 822, Rn 49ff. 153 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 28 154 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mbH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 28 154 Frankreich: Art. 8 Ordonnance Nr. 86. 1243, v. 03.12.1986 (Codes Dalloz, Code de Commerce, 1990/ 91, S. 523; Spanien: Art. 6 Gesetz Nr. 16/ 1989 v. 17.07.1989 (Defensa de la Competenica, BOE, Nr. 170 v. 18.07.1989); Tribunal de la Defensa de la Competenica v. 01.02.1995 (Rs. 350/ 94 3 C) Communications España ./ . Telefónica de España; Griechenland: Art. 2c Gesetz Nr. 703/ 1977; Portugal: Art. 3 Abs. 4 und Art. 2 f und g, Dekret Nr. 371/ 93; Finnland: § 7 Lakikilpailunrajoituksista (Gesetz zur Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen) v. 27.05.1992, 480 155 Einzelheiten siehe unten Kapitel: 3.4.1.2 <?page no="94"?> 3.4 Zur „Essential Facility“-Doktrin im deutschen Recht 95 www.uvk-lucius.de/ innovation vor- oder nachgelagerten Markt als Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden; dies gilt nicht, wenn das marktbeherrschende Unternehmen nachweist, dass die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. 3.4.1 Inhalt der deutschen „Essential Facility“-Regelung im Wettbewerbsrecht Nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB stellt es bei einem marktbeherrschenden Unternehmen einen Missbrauch dessen Unternehmensstellung dar, wenn sich das Unternehmen weigert, einem anderen Unternehmen - gegen Entgelt - Zugang zu eigenen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren. Das andere Unternehmen muss allerdings auf den Zugang zur Nutzung angewiesen sein, um auf dem vor- oder nachgelagerten Markt des „Essential Facility“- Inhabers als Wettbewerber aufzutreten. Weist der „Essential Facility“-Inhaber jedoch nach, dass die Mitnutzung nicht möglich oder ihm aus einem anderem Grunde unzumutbar ist, entfällt die Nutzungsmöglichkeit nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB. 3.4.1.1 Nutzeneinräumung gegen Entgelt Ausdrücklich enthält § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB den Hinweis auf ein für die Nutzungsgewährung zu zahlendes Entgelt. Ein Recht zur (Mit-)Nutzung der „Essential Facility“ besteht also nur dann, wenn der Nutzungswillige ein Entgelt anbietet. § 19 GWB 1 Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten. 2 … 3 … 4 Ein Missbrauch liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen (1). … (2). … (3). … (4) sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, wenn es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgela- <?page no="95"?> 96 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation gerten Markt als Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden; dies gilt nicht, wenn das marktbeherrschende Unternehmen nachweist, dass die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Das Entgelt muss angemessen sein. Hier stellt sich das Problem der Festlegung der Angemessenheit des Entgeltes im konkreten Einzelfall. Diese Frage lässt der Wortlaut des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB offen. Betriebswirtschaftliche Kriterien wie die Kompensation des Gewinnausfalles des „Essential Facility“-Eigentümers, der Grad der Abnutzung der „Essential Facility“ durch die Doppelnutzung, oder der geschätzte Wert, den die Nutzung für den Dritten oder für den Eigentümer einnimmt, ist im Rahmen der Überlegung über die angemessene Höhe des Entgeltes miteinzubeziehen. Bei der Feststellung der Höhe des Entgeltes sind aber auch wettbewerbsrechtliche Gründe anzuführen: In keinem Fall muss der „Essential Facility“-Inhaber den Nutzungswilligen besser stellen als sich selbst. Dies gebietet der Grundsatz, dass der „Essential Facility“- Inhaber keine Förderung seiner Konkurrenten betreiben muss. Denn durch eine solche Konkurrenten-Förderung wäre der wettbewerbliche Selektionsmechanismus beeinträchtigt. Bietet der „Essential Facility“-Eigentümer einem Dritten die Nutzung der „Essential Facility“ gegen Entgelt an, so kann in der Höhe dieses Entgeltes ein Anhaltspunkt für die „Angemessenheit“ des von dem Nutzungswilligen zu entrichtenden Entgeltes gesehen werden (Meistbegünstigungsklausel). Nach dem Sinn und Zweck des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB ist ein Entgelt dann nicht „angemessen“, wenn seine Höhe zum Ausschluss des oder der Nutzungswilligen und damit zur kompletten Abschottung des Marktes führt. Das Abstellen auf die Konkurrenzverhältnisse auf dem vorbzw. nachgelagerten Markt macht eine exakte Abgrenzung des Marktes des „Essential Facility“-Inhabers zu den vorbzw. nachgelagerten Märkten, auf denen auch der Nutzungswillige auftritt, unumgänglich. Die hier angesprochene Abgrenzung kann im Einzelfall extrem schwierig sein. Sie muss stets sehr differenziert, nach den hierfür entworfenen Kriterien des sachlich, örtlich und ggf. zeitlich relevanten Marktes erfolgen. 3.4.1.2 Spezialgesetzliche Ansprüche auf Zugang zu fremden Betriebsmitteln im deutschen Recht Neben dem § 19 Abs. 4 4 GWB bestehen im deutschen Recht zahlreiche spezialgesetzliche Regelungen der „Essential Facility“-Problematik: <?page no="96"?> 3.4 Zur „Essential Facility“-Doktrin im deutschen Recht 97 www.uvk-lucius.de/ innovation Norm „Essential Facility“ Anspruch auf: gegen Entgelt Höhe des Entgeltes besondere Voraussetzungen Ausschluss der Nutzung § 14 AEG (Allgemeines Eisenbahn- Gesetz) Eisenbahninfrastruktur u. entspr. Leistungen diskriminierungsfreien Zugang § 14 Abs. 1 + § 20ff. Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung - EIBV § 14 Abs. 4 AEG angemessener Kostenersatz; §§ 20f. EIBV auch zur Schaffung von Anreizen zur Störungsvermeidung § 21 EIBV mögl. Verlangen v. Sicherheitsleistungen vom Nutzer § 5 Abs. 1 EIBV Übernutzung v. Trassen § 9 Abs. 3 EIBV §§ 20ff., 30 EnWG (Gesetz über die Energie- und Gasversorgung) Leitungssysteme der Energie- (Elektrizitäts- und Gasversorgung) § 6 verhandelter diskriminierungsfreier Nutzenzugang § 20 Abs. 1a + 20 Abs. 1 kostenangemessen, transparent, nicht ungünstiger als bei anderen Nutzern, nutzerdiskriminierungsfrei §§ 21, staatl. Entgeltbindung § 21 Abs. 2 - 4; 23a Berücksichtigung Leistungseffizienz § 21a i.S.v. umweltverbraucher- und preisverträglich § 1 Gewährung nicht mögl. oder dem Netzbetreiber unzumutbar § 20 Abs. 2 § 16, 21 TKG (Telekommunikationsgesetz) Netze und Einrichtungen der Telekommunikation § 3 verhandelter diskriminierungsfreier Nutzenzugang §§ 16, 19, 22 ggf. staatl. Nutzungseinräumung § 21 + § 27ff. 30ff. transparent § 20, diskriminierungsfrei § 19, zu gleichen Kostenbedingungen wie sie für den Eigentümer gelten § 33 Abs. 2 staatl. Entgeltgenehmimigung/ Genehmigung v. Obergrenzen §§ 30, 34 Ziel: ausgewogene Marktstruktur § 2, unter Vermeidung marktbeherrschender Stellung § 21; 27ff. Nichtzugang sachl. gerechtfertigt § 21 Abs. 1 u.a.: fehlende verfügb. Kapazitäten, auch Anfangsinvestitionen des Essential Facility- Inhabers, dessen geistige Schutzrechte <?page no="97"?> 98 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation § 29 Abs. 1 PostG (Postgesetz) Postfach § 29 Abs. 1 Nutzungsgestattung § 29 Abs. 1 + § 29 Abs. 1 festgelegt durch Genehmigung od. Überprüfung § 29 Abs. 1 i.V.m. §§ 19, 20, 25 i.V.m. § 28 Abs. 2 marktbeherrschende Stellung § 29 Abs. 1 sachlich nicht gerechtfertigt § 29 Abs. 1 § 29 Abs. 2 PostG Information betr. Adressenänderung § 29 Abs. 2 Nutzungsgestattung § 29 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 + § 29 Abs. 2 i.V.mit Abs. 1 festgelegt durch Genehmigung od. Überprüfung § 29 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. §§ 19, 20, 25 i.V.m. § 28 Abs. 2 marktbeherrschende Stellung § 29 Abs. 2 i.V.mit Abs. 1 sachlich nicht gerechtfertigt § 29 Abs. 2 i.V.mit Abs. 1 Tabelle 1: Zugang zur Nutzung einer „Essential Facility“ nach den wichtigsten deutschen Spezialgesetzen 3.5 Offene Fragen Trotz oder gerade wegen der Vielschichtigkeit der unterschiedlichen nationalen und internationalen Regelungen, sowie insbesondere aufgrund der stark zunehmenden technischen Innovationen bleiben einige Fragen bei der Behandlung der „Essential Facility“-Problematik offen. 3.5.1 Speziell zur Anwendungskonkurrenz des deutschen und des europäischen Rechts Grundsätzlich geht das europäische Recht dem nationalen vor. Dies hat der EuGH bereits sehr früh in ständiger Rechtsprechung anerkannt. 156 Besteht also ein Sachverhalt, in dem die Verweigerung des Nutzungszuganges zu einer „Essential Facility“ den Missbrauch einer Unternehmensstellung auf dem „Gemeinsamen Markt“ oder dessen wesentlichem Teil ausmacht, und ist dieser Missbrauch in der Lage, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, so beurteilt sich dieser Rechtsstreit nach europäischem Recht. 157 Problematisch ist insbesondere die derzeit immer deutlicher zu beobachtende inhaltliche Auseinanderentwicklung der deutschen und der europäischen Rechtslage: Beispielsweise gewährt § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB des deutschen Rechts einen Anspruch auf Nutzungszugang erst dann, wenn der Nutzungswillige auf einem „vor“- 156 Siehe: Costa/ ENEL, EuGH v. 15.07.1964 (Rs. 6/ 64), Slg. 1964, S. 1251ff.; Walt Wilhelm; EuGH v. 13.02.1969 (Rs. 14/ 68, Slg. 1969, S. 1ff. 157 Krimphove: Europarecht: Stuttgart 2010, S. 8ff. (m.w.H.) <?page no="98"?> 3.5 Offene Fragen 99 www.uvk-lucius.de/ innovation und/ oder „nachgeordneten“ Markt tätig werden kann. Die derzeitige europäische Rechtslage bezieht offensichtlich auch die Möglichkeit ein, dem Nutzungswilligen einen Anspruch zum Tätigwerden selbst auf jenem Markt zu geben, auf dem er mit dem Inhaber der „Essential Facility“ konkurriert. Eine weitere gravierende Veränderung kündigt sich dadurch an, dass der EuGH einerseits den Zugang zu der „Essential Facility“ erst dann gewährt, wenn der Zugang ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung billiger anbieten will. Gleichzeitig möchte der EuGH - zur inhaltlichen Bestimmung der Produkt- oder Dienstleistungsneuheit - nicht auf die Substanz des Produktes oder den Inhalt der Dienstleistung abstellen, sondern vielmehr auf den Verbraucherschutz. Ein Zugang zu der Essential Facility soll also davon abhängig sein, ob der Verbraucher hierdurch eine größere Wahl an Produkten und Dienstleistungen hat. 158 Diskussionswürdig erscheint ferner die unterschiedliche Behandlung der Rechtfertigung einer Zugangsverweigerung, wenn diese einen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung des „Essential Facility“-Inhabers darstellt. Das Ausmaß und die Stellung des gewerblichen Eigentumsschutzes des „Essential Facility“-Inhabers ist im deutschen und europäischen Recht noch unterschiedlich. Allerdings handelt es sich bei dieser Problematik um eine Spezialfrage des Rechts des geistigen Eigentumsschutzes. 159 Eine Lösung dieser Frage und anderer noch offener Fragen ist insbesondere von einer zukünftigen Rechtsprechung des EuGH zu erwarten. 3.5.2 Zum zukünftigen Anwendungsbereich der „Essential Facility“- Problematik Eine der gewichtigsten Problematiken besteht noch heute sowohl für das USamerikanische, das europäische wie das deutsche Recht in der Begriffsbestimmung der „Essential Facilities“: Je unschärfer dieser Begriff gefasst ist, desto mehr Anwendungsfälle lassen sich unter ihn subsumieren. Aktuelle und zukünftige Unsicherheiten bestehen im Wesentlichen in den beiden folgenden Problembereichen: 3.5.2.1 Zur schwierigen Abgrenzung der „Essential Facility“-Problematik von Sachverhalten sonstiger Wettbewerberbeeinträchtigung Oft vermischen die US-amerikanische und europäische „Essential Facility“-Doktrin Sachverhalte der „Essential Facility“-Problematik, mit denen es zu Konkurrentenbehinderung durch Liefer-, Leistungs- und Abnahmeverweigerung kommt. 160 Dabei ist diese Unterscheidung nicht nur eine ausschließlich dogmatische: Während die Konkurrentenbeeinträchtigung durch Liefer-, Leistungs- und Abnahmeverweigerung die Zulässigkeit der wettbewerblichen Diskriminierung von Mitbewerbern darstellt - was insofern zur wettbewerblichen „Verhaltenskontrolle“ zählt - enthält die „Essential Facility“-Problematik zusätzliche Eigenheiten. So steht die Untersagung einer Diskriminie- 158 Siehe insbes.: EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff. (Rn. 648ff., Rn. 652, 663) 159 Dazu siehe obere Kapitel 160 Siehe oben Kapitel: 3.2 (m.w.H.); 3.3 (m.w.H.) <?page no="99"?> 100 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation rung nicht in ihrem vorrangigen Interesse. Sie reguliert vielmehr primär den Zugang zur Nutzung fremden Eigentums an Betriebsmitteln, d.h. Netzen und Infrastrukturen. 3.5.2.2 Offene Anwendungsbereiche der „Essential Facility“-Problematik Extrem problematisch erweist sich die Unklarheit der Definition der „Essential Facility“ bezüglich der von ihr erfassten Sachverhalte: Bereits die US-amerikanische und die europäische „Essential Facility“-Doktrin fassen eine Vielzahl äußerst verschiedenartiger Phänomene, wie Energieleitungen, Telekommunikationsnetze, Schienenstrecken, Eisenbahnbrücken 161 oder Seehäfen 162 und sogar der Zugang zu Geschäftsinformation 163 , unter den Begriff „Essential Facility“. Auch Lizenzen - also Nutzungsberechtigungen für fremdes geistiges Eigentum - können „Essential Facilities“ darstellen. Die US-amerikanische „Essential Facility“-Doktrin schränkte schon frühzeitig die Vielzahl ihrer Anwendungsfälle dadurch ein, dass sie - ungeachtet der Erscheinungsformen der Betriebsmittel - diese - und zwar per definitionem - nur dann als „Essential Facility“ akzeptiert, wenn diese für den Geschäftsbetrieb des Nutzungswilligen unentbehrlich sind. 164 Eine ähnliche Inhaltsbestimmung nimmt heute auch die europäische Rechtsprechung ein. 165 Die inhaltliche Umgrenzung eines Rechtsobjekts allein aus der Notwendigkeit eines Gebrauchs erscheint schon methodisch äußerst fraglich. Leitungsnetze und Transporteinrichtungen wie auch Kundenerfassungssysteme könnten ebenso unter eine solche Begriffsbestimmung der „Essential Facility“ fallen wie Buchhaltungssoftware, Mitarbeiter oder letztlich der Kundenstamm selbst. Eine inhaltliche, sich am äußeren Erscheinungsbild der „Essential Facility“ orientierende Einordnung der unterschiedlichen Phänomene dürfte auch zukünftig aufgrund der sich rapide entwickelnden Technologien gesetzgeberisch kaum sinnvoll möglich sein. So bleibt nur die begriffliche Eingrenzung anhand anderer Tatbestandsmerkmale. 161 United States ./ . Terminal Railroad association, 224 U.S. 383 (1912), vgl. Klaue: Zur Rezeption der amerikanischen essential-facility-doctrin in das europäische und deutsche Kartellrecht. In: RdE 1996, S. 51ff. (m.w.H.) 162 22 Wettbewerbsbericht 1992, Rn. 219; siehe auch Kommission/ E v. 11.06.1992; B & I Line ./ . Sealink Harbour und Sealink Stena Ltd, (1952) Common Market Law Reports, S. 255ff.; Kommission/ E v. 21.12.1993, Sea Containers ./ . Stena Sealink, ABl. L v. 18.01.1994, Nr. 15/ 8; Kommission/ E v. 21.12.1993, Hafen von Rodby, ABl. L v. 26.02.1994, Nr. 55/ 52 163 EuGH v. 10.07.1991 (Rs T-69, 70, 76/ 89) Radio Telefis Ereann, The British Brodcasting Cooperation; BBC Enterprises Ltd.; Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. II 1991, S. 485ff., 535ff.; EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff.; EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff.; MS Health (EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01); IMS Health GmbH & Co. OHG ./ . NDC Health GmbH & Co. KG, Slg I 2004, S. 5039ff. 164 United States/ Terminal Railroad Association of St. Louis, 224 US 383 (1912); United States ./ . Otter Tail Power Co 410 US 366 (1973) 165 EuGH v. 26.11.1998 (Rs. C-7/ 97) Oskar Bronner Gesellschaft mbH & Co. KG ./ . Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Gesellschaft mgH & Co. KG u.a., Slg. I 7791ff., 7831, Rn. 40; EuGH v. 06.04.1995 (Rs. C-241/ 91 P und C-242/ 91 P), Radio Telefis Ereann (RTE), Independent Television Publications Limited ./ . Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. I 1995 S. 743ff., Rn. 53 <?page no="100"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 3.6 Zusammenfassung Kein Rechtsgebiet wie das der „Essential Facility“ ist so stark entscheidend von ökonomischen Parametern abhängig und geprägt. Die „Essential Facility“-Problematik setzt unmittelbaren Einfluss auf den Tatbestand der Innovation voraus. Denn ihre Beantwortung entscheidet über die Frage, ob ein Dritter an der Innovation eines anderen teilhaben darf, oder ob er selbst eigene Innovationen schaffen muss. Die Beantwortung, wie eine Rechtsordnung mit dem Umgang der „Essential Facility“-Problematik umgeht, ist daher ein Markenzeichen für die Innovationsfreudigkeit dieser Rechtsordnung. Die Problematik lässt sich ebenfalls nur unter wirtschaftlichen Aspekten betrachten: Es ist dabei in Rechnung zu stellen, dass der Zugang zu fremden Produktions-, Betriebs- und Vertriebsmitteln immer einen Eingriff in das Eigentum des „Essential Facility“-Inhabers ist. Einen solchen schwerwiegenden Rechtseingriff können andere wirtschaftliche Werte rechtfertigen: Da der Inhaber einer „Essential Facility“ Eigentümer einer Infrastruktur oder einer technischen Einrichtung ist, die sich praktisch nicht oder ökonomisch nur unter unverhältnismäßigem Aufwand duplizieren lässt, besitzt er an diesem besonders wichtigen Betriebs- und Produktionsmittel ein „Nutzungsmonopol“. Er kann somit einem potentiellen Leistungsanbieter den Zugang zu notwendigen Betriebsmitteln verwehren und ihn so vom Wettbewerb vollständig ausschließen. Dies ermöglicht dem Inhaber der „Essential Facility“ letztlich, den Markt zu kontrollieren und eine Wettbewerbsstruktur zu schaffen, in der der Preis-/ Leistungs- Mechanismus nicht mehr funktioniert. Aufgrund ihrer speziell im Vergleich zu Großunternehmen geringen Finanzkraft, trifft dies speziell kleine und mittlere Unternehmen und/ oder Newcomer. Sie sind nämlich wirtschaftlich kaum in der Lage, eigene Versorgungseinrichtungen, wie Leitungskabel, Häfen oder Schienennetze, selbst zu errichten bzw. zu unterhalten. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen sind daher auf die Mitbenutzung/ Nutzungseinräumung fremder Netze bzw. Betriebsmittel angewiesen. In gerade dem Ausschluss der oben Genannten vom Marktgeschehen läuft eine Wirtschaftsordnung Gefahr, ihre Produktvielfalt stark einzugrenzen. Die US-amerikanische, die europäische „Essential Facility“-Doktrin sowie die deutsche Rechtslage gelten die oben genannten Parameter höchst unterschiedlich gegeneinander ab, und kommen so zu unterschiedlichen Ergebnissen. In einem historischen Prozess hat sich jedoch in allen drei Rechtsordnungen folgende grundsätzliche Gemeinsamkeit herausgebildet: <?page no="101"?> 102 3 Eigene Innovation oder Zugangsberechtigung zu fremden Innovationen www.uvk-lucius.de/ innovation 1. Von Essential Facilities spricht man nur, wenn der Nutzungswillige aus tatsächlichen und ökonomischen Gründen die „Essential Facility“ nicht selbst herstellen kann, 2. jedoch notwendig auf die (Mit-)Nutzung einer fremden Facility angewiesen ist, 3. sodass sein Ausschluss vom Zugang und von der Nutzung der Essential Facility ihn dauerhaft vom Wettbewerbsgeschehen ausschließt 4. und somit den Wettbewerb beeinträchtigt. 5. Grundsätzlich hat jeder Eigentümer das Recht, einem anderen den Zugang und die Nutzung zu seinem Eigentum zu verwehren (Exklusivität des Eigentums). 6. Besitzt aber der Inhaber einer „Essential Facility“ eine marktbeherrschende Unternehmensstellung, so wird die Zugangsverweigerung zur „Essential Facility“ grundsätzlich als Missbrauch dieser Stellung angesehen. 7. Dieser wettbewerbswidrige Akt führt nicht nur zu wirtschaftlichen Sanktionen in Form von Buß- oder Strafgeldern. 8. Er verpflichtet den Inhaber, mit dem Nutzungswilligen eine einverständliche Absprache (Vertrag) über die (Mit-)Nutzung der „Essential Facility“ zu schließen. 9. Inhalt des Vertrages ist dann auch eine Vergütung des „Essential Facility“- Inhabers. 10. Deren Höhe ist so bemessen, dass die Mitbenutzung ihn für den entstandenen Aufwand seiner Entwicklungskosten, die Beeinträchtigung seines Eigentumsrechtes - nicht aber wegen des Verlustes seines Wettbewerbsmonopols - entschädigt. Abbildung 8: TOP 10 der heutigen Inhalte der Essential Facility-Lösung Alle anderen, hier nicht erwähnten Einzelheiten regeln die oben erwähnten drei Rechtsordnungen unterschiedlich. Obschon die Beschäftigung mit der Problematik der „Essential Facilities“ seit etwa 90 Jahren weit fortgeschritten ist, bleiben bis heute zahlreiche Fragen offen. Diese betreffen insbesondere das Abgrenzungsverhältnis der Geltung von nationalem und europäischem Recht der „Essential Facility“. Die stark voranschreitende technische Entwicklung neuer Technologien insbesondere auf dem Sektor der Telekommunikation wird hauptsächlich den EuGH zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dieser Problematik veranlassen. <?page no="102"?> 103 www.uvk-lucius.de/ innovation Literatur OECD: Policy Roundtables: The Essential Facilities Concept, OCDE/ GD(96)113 Doc. 40918, Paris 1996 Sullivan, E. Th.; Hovenkamp, H.: Antitrust Law, Policy, and Procedure: Cases, Materials, and Problems, 6. Ed., S. 701ff., 2009 Krimphove, Dieter: The Application of Modern Technology in International Human Resource Management; A comparison of the Essential Facility doctrine in US-American, European, and German law. In: Clermont; Schmeisser; Krimphove: Strategisches Personalmanagement in globalen Unternehmen, S. 701-725, Vahlen, München, April 2001 Krimphove, Dieter: Wettbewerbssicherung kleiner und mittelständischer Unternehmen durch Zugangsberechtigung zu fremden Betriebs- und Produktionsmitteln; Eine ökonomische Analyse der „Essential Facility“-Doktrin im US-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht. In: Schmeisser; Krimphove: Management der Forschung und Entwicklung sowie der Technologiekooperation in kleinen und mittleren Unternehmen, Vahlen, München, April 2004 Aufgaben [1] Diskutieren Sie kritisch die Möglichkeit der US-amerikanischen, der europäischen und der deutschen Essential Facility-Doktrin, ökonomische Wertungen in ausreichendem Umfang aufzunehmen. [2] Welche der drei Konzeptionen erscheint hierzu die geeignetste? [3] Spielt es dabei - nach Ihrer Ansicht - eine entscheidende Rolle, dass das deutsche „Essential Facility-Recht“ gesetzlich festgelegt ist, während das US-amerikanische und europäische Recht (sog. Case-Law) überwiegend von der Rechtsprechung geprägt wird? [4] Welche zukünftigen Anwendungsfälle der „Essential Facilities“ sind denkbar? (Mit-)Nutzung von Computerprogrammen? Markt-Informationen? Gentechnische Erfindungen? Etc.? Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen zu den Entscheidungen des EuGH: EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01; Slg I 2004, S. 5039ff. und EuGH v. 17. 09.2007 (Rs. T-201/ 04), Slg. II 2007, S. 3601ff. <?page no="104"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 4 Ökonomiscch/ juristische Konzeption der Innovation von Univ.-Prof. Dr. Dieter Krimphove 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems Rechtsnormen belegen die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems, denn innovationsfreundliche Regelungen bieten ihren Adressaten (ökonomische) Anreize: a. zur kreativen Entwicklung von Innovationen, b. zu ihrer gezielten Weiterveräußerung - i.d.R. durch den Verkauf ihrer Nutzungsgenehmigungen; sprich von Lizenzen - sowie c. zur Entwicklung und zur Intensivierung privater wie unternehmerischer Forschungs- und Entwicklungstätigkeit. Ein solches Rechtssystem unterstützt nicht nur die Wirtschafts- und Innovationstätigkeit seiner Mitglieder. Gleichzeitig steigert es die wirtschaftliche Prosperität seiner Volkswirtschaft, indem es als Motivator einer beständigen technisch, künstlerischen Erneuerung wirkt und so die evolutionäre Anpassungsfähigkeit des Wirtschaftssystems an sich ständig wandelnde Herausforderungen unterstützt. Letztlich verschaffen innovationsfreundliche Rechtsvorschriften einer Ökonomie wettbewerbliche Evolutionsvorteile gegenüber anderen Wirtschaftssystemen. 4.1.1 Notwendigkeit rechtlicher Regeln? Erfindungen, d.h. Innovationen - seien sie technischer, gestalterischer oder künstlerischer Art -, hat der Mensch schon seit dem Beginn seiner Entwicklungsgeschichte vorgenommen: Der Faustkeil (ca. 17,5 Mio. v. Chr.), der Speer (ca. 420.000 Jahre v. Chr.), die Venus von Willendorf (ca. 25.000 v. Chr.), die Höhlenzeichnungen von Lascaux (ca. 17.000 - 15.000 v. Chr.), das Rad (ca. 8.000 - 5.500 v. Chr.), die Pyramiden (ca. 2.680 - 2.180 v. Chr.), der Flaschenzug (ca. 230 v. Chr.). All dies waren Innovationen, die der Mensch auch ohne das Recht des geistigen Eigentums, geschweige denn seiner Vorstellung hiervon, hervorgebracht hat. Es ist daher zu fragen, ob die Verrechtlichung des Gebiets technischer/ gestalterischer Erfindungen oder künstlerischer Neuerungen - also die Verrechtlichung von Innovationen - überhaupt nützlich oder gar notwendig sein kann. 4.1.2 Industrielle Revolution als Motor der Immaterialgüterrechte Noch Mitte des 19. Jahrhunderts sah man einen solchen Schutz als absolut überflüssig an. Man sprach vielmehr von dem „Naturrecht des Erfinders“, ohne sich im Einzelnen klar darüber zu sein, welchen Inhalt und welches Ausmaß diese Rechtsposition dem Erfinder geben könnte. Speziell die aufkommenden Wirtschafsverhältnisse der industriellen Revolution führten rasch an die wirtschaftlichen Grenzen dieses (rechtsfreien) Zustandes: <?page no="105"?> 106 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Erfindungen waren nicht mehr das Privatvermögen und auch nicht das gelegentliche und meist mehr oder weniger zufällig eintretende Ergebnis individueller „Tüfteleien“. Denn Innovationen mussten nun planmäßig, d.h. gezielt und gesteuert, erfolgen, um die immer komplexer werdenden Arbeitsabläufe rationaler und effizienter zu gestalten. Zur gesellschaftlichen Sicherstellung dieser Innovationstätigkeit genügte daher nicht mehr eine rein „intrinsische“ Motivation, i.S.e. individuellen Forscherdrangs oder als das persönliche Interesse an wissenschaftlich technischen Entdeckungen. Vielmehr bedurfte es jetzt einer „extrinsischen“, also einer von außen kommenden wirkungsvollen Motivation. 166 Diese bestand in der wohl überzeugendsten Motivation; nämlich der von Geld. Sehr schnell bildete sich daher die Regel heraus, den Gebrauch vorgenommener Innovationen nur gegen ein Entgelt zu erlauben, d.h. die Erfindung zu lizenzieren und die Lizenz an Nutzungswillige zu verkaufen. Ein solcher Verkauf gelingt nur dann, wenn eine Rechtsordnung dem Erfinder seine Erfindung ausschließlich zuspricht und andere von der Nutzung der Innovation ausschließt (Exklusivität). Anderenfalls wäre die Erfindung ein Allgemeingut. Damit könnte sich jeder Nutzungswillige die Erfindung ohne Weiteres - also auch ohne eigene, finanzielle Aufwendungen bezahlen zu müssen - aneignen. Bezeichnenderweise entstehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts derartige, exklusive Schutzrechte am geistigen Eigentum. Bezugnehmend auf den wirtschaftlichen/ ökonomischen Gehalt ihres Regelungsgegenstandes bezeichnen die europäischen Rechtsordnungen diese exklusiven Schutzrechte des Erfinders mit den Begriffen „gewerblicher Rechtsschutz“, „gewerbliches Eigentum“, „propriété industrielle“ (fr.) bzw. „industrial property“ (engl.). Die Bezeichnung „Gewerblicher Rechtsschutz“ greift zu kurz, schließt es doch notwendig das private Urheberrecht aus seinem Regelungsbereich aus. Der Urheber-, Autorenbzw. Künstlerschutz entstand in einer der heutigen Ausgestaltung vergleichbaren Form früher - in Preußen bereits 1837. Es ist aber nicht allein in seiner Zielsetzung, sondern auch in seinem ökonomischen Gehalt mit den sog. gewerblichen Schutzrechten vergleichbar. Nachfolgende Ausführungen betrachten daher unter dem Begriff des Schutzes des geistigen Eigentums sowohl den gewerblichen Rechtsschutz als auch das sog. Urheberrecht. Entstehungsjahr geistiger Eigentumsschutz 1876 Musterschutz 1877 Patentschutz 1891 Gebrauchsmusterschutz Tabelle 2: Entwicklung des „gewerblichen Rechtsschutzes“ in Deutschland 166 D.G. Myers, Psychology, New York 2004, S. 330f. <?page no="106"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 107 www.uvk-lucius.de/ innovation Erst in der geistesgeschichtlichen Epoche der Industriellen Revolution entsteht übrigens das uns heute vor Augen stehende Bild des klassischen Erfinders, der in seinem Arbeitszimmer, seinem Büro, seiner Werkstatt neue Erfindungen erarbeitet, um davon leben zu können. In früheren, vorindustriellen Zeiten übernahm diese Aufgabe, wenngleich nur unvollkommen, der Wissenschaftler, der seine Neuheiten praktisch als Beweis der Richtigkeit seines wissenschaftlichen Systems der Öffentlichkeit präsentierte. Es scheint, dass die derzeitige ökonomische Notwendigkeit zur planmäßigen Erzeugung von Innovationen der Entwicklung/ Dynamik der der Industriellen Revolution nicht nur gleicht, sondern diese noch an Intensität bei Weitem übersteigt. Denn speziell die angespannte Konkurrenzsituation auf den hart umkämpften Märkten der sich beständig ändernden Informations- und Kommunikationstechnik steigert den aktuellen Innovationsdruck heute um ein Vielfaches mehr, als es zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also zu Beginn der Industriellen Revolution, war. 4.1.3 Ökonomik der Innovation Die betont ökonomische Qualität des Immaterialgüterrechts bzw. des Rechts des Schutzes des geistigen Eigentums (auch: „intellectual property“) kommt in zwei Aspekten zum Ausdruck; nämlich in a. der Verrechtlichung des geistigen Eigentums und b. dessen Schutz durch die nationalen oder/ und internationalen Rechtsordnungen. Deren ökonomischer Gehalt sei zunächst am Beispiel der Herausbildung bzw. „Spezifizierung“ des Eigentumsrechtes an Grund und Boden dargestellt. 4.1.3.1 „Spezifizierung“ eines Rechtsguts oder von der Allmende zum exklusiven Eigentumsrecht Als Allmende bezeichnet man eine Ressource, die unbegrenzt einer Vielzahl von Personen zur Nutzung zur Verfügung steht. 167 Beispiel Man denke nur an die landwirtschaftliche Situation des frühen Mittelalters oder an die der Besiedlung Amerikas im 18. Jahrhundert. Hier konnten die Siedler zunächst unbegrenzt Land etwa als Weidefläche besetzen und zu ihrer eigenen Versorgung nutzen. Die Ressource „Land“ war so unbegrenzt, dass mehrere Nutzer die Weideflächen nutzen konnten. Es entstand so eine Allmende. 167 Siehe z.B.: Michael A. Heller: The Tragedy of the Anticommons. Property in the Transition from Marx to Markets. In: Harvard Law Review Vol. 111 (1998), S. 622ff. (m.w.H.); auch: J. Radkau: Natur und Macht - Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2002 (m.w.H.) <?page no="107"?> 108 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Eine Allmende ist allerdings aus wohlfahrtsökonomischer Sicht als problematisch anzusehen: Insbesondere bei einer einsetzenden Konkurrenz um die Nutzung der Ressourcen zeigt sich die wirtschaftliche Mangelhaftigkeit der Allmende-Wirtschaft: Da die Allmende beliebigen Nutzern den Gebrauch des gemeinen Gutes eröffnet, birgt die Allmende die Gefahr, dass das Gut übernutzt und damit beschädigt wird. Insbesondere bei zunehmender Bevölkerungsdichte und damit mit zunehmendem Gebrauch der Ressourcen müssen sich viele Nutzungswillige die Allmende teilen. Es kommt somit zu deren Übernutzung und damit zu ihrer Verschwendung. Die Übernutzung kann sogar zum völligen Ausfall der Ressourcen, damit zu Versorgungsengpässen und Nahrungskatastrophen der (anwachsenden) Bevölkerung führen. 168 Merksatz Es ist gerade die Verknappung von Ressourcen, die zur Notwendigkeit ihrer Verrechtlichung führt. Diesem gesamtwirtschaftlichen Missstand war und ist nur dadurch abzuhelfen, dass man a. die zu nutzende Allmende abbzw. einteilt, um b. die vielen Nutzungswilligen von einer (Über-)Nutzung abzuhalten c. und die knappe Ressource einem Einzelnen oder einigen wenigen Berechtigten ausschließlich zuweist. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von einer Spezifizierung des Eigentumsrechts. 169 Beispiel Einen historischen Beleg für die ökonomische Notwendigkeit der Spezifizierung von Handlungsrechten - und damit für das Entstehen exklusiver Eigentumsrechte - führen North und Thomas an: Sie wiesen nach, dass jene Staaten (z.B. England), die individuelle Eigentumsrechte an Grund und Boden herausbildeten, wesentlich schneller und erfolgreicher prosperierten als jene Staaten (insbes. Spanien), welche den unspezifischen Gemeingebrauch an Grund und Boden (Allmende) fortsetzten. 170 Das wirtschaftliche Schwergewicht verlagerte sich vom ausgehenden Mittelalter bis zur Neuzeit von Südnach Nordeuropa. Speziell in England, wo Grundherren schon geschichtlich früh damit begannen, im Gemeingebrauch stehende Weideflächen (Allmende) eigenmächtig einzuzäunen, um sie so zu ihrem exklusiven Eigentum zu machen und dadurch Dritte von der (Über-)Nutzung nun ihres so entstandenen Eigentums fernzuhalten, gelang der Aufstieg der englischen Landwirtschaft und damit auch die Verbesserung der Lebensverhältnisse. England begründete 168 Hardin: The Tragedy of the Commons, in: Science, 162 (1968), S. 1243ff. (m.w.H.) 169 Grundlegend dazu: R. Coase, The Problem of Social Cost. In: Journal of Law and Economics 3/ 1960, S. 1ff.; Posner, The Economic Analysis of Law, Boston 1972, S. 29 170 The Rise of the Western World, A Economic History, S. 9ff. (m.w.H.), S. 25ff. (m.w.H.) <?page no="108"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 109 www.uvk-lucius.de/ innovation durch diesen Schritt seine Vorherrschaft gegenüber südeuropäischen Ländern, speziell gegenüber Spanien. 171 4.1.3.2 Zuweisungsproblematik War eine Spezifizierung von Eigentumsrechten notwendig, um der gesamtwirtschaftlichen missliebigen Verschwendung der Ressourcen Einhalt zu gebieten, so stellt sich zusätzlich eine wirtschaftlich andere Folge-Problematik; nämlich die der ökonomisch effizienten oder gerechten Zuweisung der knappen Ressource. Ließe man die Frage der Zuteilung eines spezifizierten Rechts unbeantwortet, so entschiede in erster Linie „das Recht des Stärkeren“ über die Zuteilung der Ressourcen: Jeder nutzungswillige Bürger würde die Ressource mit Gewalt besetzen und sie verteidigen, indem er mit Gewalt schwächere Nutzungswillige von der Nutzung ausschlösse. Eine solche, als ungerecht empfundene 172 Lösung erscheint ebenfalls aus ökonomischer Sicht ineffizient. Der Besetzer einer Ressource müsste nämlich umfangreiche Transaktionskosten aufwenden, um die Ressource in sein Vermögen zu bringen (Erwerbskosten) und - in weitaus höherem Maße - um seine exklusive Eigentümerstellung gegenüber anderen verteidigen zu können (Verteidigungskosten). Andere Nutzungswillige würden ihrerseits danach trachten, die Ressource zu erwerben. Hierzu müssten sie „aufrüsten“, d.h. ebenfalls Transaktionskosten in Form von Erwerbskosten aufwenden. Eine solche, transaktionskostenintensive Situation ist ökonomisch unbefriedigend, denn Transaktionskosten erhöhen weder die Qualität eines Wirtschaftsgutes noch steigern sie deren Verfügbarkeit oder Distribution. Vielmehr verteuern sie die Übertragung der Ressource und reduzieren so die Bereitschaft der Wirtschaftsparteien zum Handel mit Wirtschaftsgütern. Transaktionskosten erschweren damit die Zuweisung von Gütern und Dienstleistungen an die sie benötigenden Nachfrager (effiziente Ressourcen-Allokation). Transaktionskosten können, eben durch die Einschränkung der Zuweisung bzw. der Verteilung von Gütern auf dem Markt, sogar zu Versorgungsengpässen und Verschwendung der Wirtschaftsgüter führen. Eine durch Transaktionskosten verringerte Möglichkeit der Absetzbarkeit eines Gutes reduziert auch die Bereitschaft des Eigentümers, dieses für den Markt attraktiv zu halten. Die fehlende Reparatur, Wartung und Pflege von Wirtschaftsgütern ist die Folge von Transaktionskosten. Dies führt dann zur Verschwendung von Wirtschaftsgütern. Indem Transaktionskosten Waren und Dienstleistungen mit fremden (sog. externen) Kosten belasten, verzerren sie zudem das ungestörte Funktionieren des 171 Zu weiteren geschichtlichen Beispielen siehe: Krimphove: Rechtstheoretische Aspekte der neuen Ökonomischen Theorie des Rechts. In: Zeitschrift für Rechtstheorie, Rechtstheorie Bd. 32, 2001, S. 497ff. 172 K. Marx: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke London 1974, Kapitel 24 <?page no="109"?> 110 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Preis/ Leistungsmechanismus; Transaktionskosten behindern damit das Wettbewerbsgeschehen. Dies kann sogar das Entstehen enger oligopolistischer oder monopolistischer Marktstrukturen begünstigen. Ferner binden Transaktionskosten finanzielle Mittel, die so nicht mehr den Alternativaufwendungen, etwa der Produkt- und Dienstleistungsinnovation, Forschung und Entwicklung, zur Verfügung stehen. Damit vermeidet eine transaktionskostenintensive Wirtschaftssituation gerade die Förderung von Innovationen. 173 Zur Vermeidung dieser missliebigen Transaktionskosten bedarf es einer gesetzlichen Zuweisungsregel von Eigentum. Diese Zuweisungsregel besteht zum einen in der Gewährung der Vertragsfreiheit. Mit der Vertragsfreiheit sind die Parteien in der Lage, ihr Eigentum an diejenige Partei zu übertragen, die glaubt, dieses am effizientesten nutzen zu können, und die daher für den Erwerb des Eigentums einen höheren Preis als andere bezahlen wird. Erscheint die Zuweisung des Eigentums derart einseitig, dass die wirtschaftlichen Betätigungsrechte der Allgemeinheit erheblich beschnitten werden, so bieten sich für diese Situationen staatliche Umverteilungsregeln in Form von gesetzlich legitimierten Enteignungen (Naturalisation) an. 4.1.3.3 Durchsetzung der spezifizierten und zugewiesenen Rechtsposition Mit der Spezifizierung eines Rechts und dessen gerechter Verteilung ist es allerdings noch nicht getan. Voraussetzung ist ferner, dass die Rechtspositionen an dem Recht und seine Veräußerungsmöglichkeiten auch gesichert werden. Merksatz Eine Rechtsposition, der kein Mittel zu ihrer Durchsetzung zur Verfügung steht, ist - de facto - inhaltsleer und verdient ihren Namen nicht. Die bereits festgestellten, spezifizierten Rechtspositionen und ihre Verteilungsregeln am Markt bedürfen daher zu ihrer Wirksamkeit eines besonderen Schutzes. Diese Durchsetzung übernimmt grundsätzlich in allen Rechtsordnungen der Welt der Staat mit seinen Behörden wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten, Gerichtsvollziehern etc.. Die staatliche Durchsetzung erzeugt zwar auch Transaktionskosten in Form der sog. Durchsetzungskosten, denn die oben genannten staatlichen Behörden müssen eingerichtet und unterhalten werden. Der Staat nutzt aber arbeitsteilig die effizientere Ausbildung seiner Behörden bzw. deren Mitarbeiter. Aufgrund der Spezialisierung und besseren Ausbildung ist die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols ökonomisch 173 Krimphove: Europäisches Sachenrecht, Lohmar 2006: Teil I, Kapitel 3 (m.w.H.) <?page no="110"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 111 www.uvk-lucius.de/ innovation effizienter; d.h. transaktionskosten-günstiger als die Gewaltausübung von Privaten. Dieser Umstand verdeutlicht die Rechtfertigung des staatlichen Gewaltmonopols. 4.1.4 Vom Sachenrecht zum geistigen Eigentumsschutz Die oben am Entstehen des Eigentumsrechts an Sachen, seiner Zuweisung und der Durchsetzung von Eigentumsregeln erläuterten ökonomischen Grundsätze finden gleichermaßen Anwendung auf das Recht des geistigen Eigentums: 4.1.4.1 Zur ökonomischen Notwendigkeit von Immaterialgüterrechten Wie bereist dargestellt, 174 entfiele - ohne die Spezifizierung des geistigen Eigentumsrechts - jegliche Motivation planmäßig Innovationen vorzunehmen. Die Erfindung wäre ein Gemeingut, das einer Mehrheit von Nutzern ohne Weiteres und insbesondere ohne Gegenleistung zusteht. Ein Erfinder, der in aufwendiger, energie- und zeitraubender Tätigkeit eine Neuheit geschaffen hätte, könnte seine Erfindung - da sie ohnehin allen Nutzern frei zugänglich wäre - nicht vermarkten, um dadurch seinen Erfindungsaufwand ersetzt zu erhalten. Allenfalls bliebe ihm - in dieser Rechtssituation - die Alternative, seine Innovation in die eigene Produktion eines innovativen Produkts oder einer Dienstleistung einfließen zu lassen, um diese gewinnbringend auf dem Markt anzubieten. Für den Zeitraum, in dem die Innovation noch nicht allbekannt ist, kann er seinen Forschungsvorsprung durch den verstärkten Verkauf der Produkte oder Dienstleistungen wirtschaftlich nutzen. I.d.R. dürfte dieser Zeitraum aber marginal sein, so dass der Erfinder seine Erfindungskosten hierdurch nicht decken kann. Der Innovator erlebt seine Erfindungstätigkeit in dieser Situation als Verlustgeschäft. Dieses wird er daher einstellen. Der Gesamtwirtschaft geht daher das Potenzial an Forschung und Entwicklung verlustig. Der weitere ökonomische Nachteil besteht in dieser Situation darin, dass der Innovator, um den Zeitraum des Verkaufs seiner Produkte möglichst zu verlängern - und damit möglichst lange einen Gewinn zu erzielen (sog. Pioneer-Prämie) - seine Innovation grundsätzlich geheim halten wird. Allein das Verbergen der Innovation entzieht der Gesamtwirtschaft technisches wie künstlerischen Know-how. Es dient daher der Prosperität der Gesamtwirtschaft nicht. Nur die Spezifizierung des immateriellen, geistigen Eigentums - als eine eigens geschützte exklusive wie handelbare Rechtsposition - bietet die Möglichkeit, die „Idee“ selbst zu veräußern und dadurch getätigte Forschungs- und Entwicklungskosten zu decken. Dies erzeugt die wohlfahrtsökonomischen Anreize innovativ tätig zu werden. Um diesen ökonomischen Anforderungen 175 gerecht zu werden, spezifizieren alle Rechtsordnungen, und insbesondere die deutsche, das geistige Eigentum sehr genau und differenziert. 174 Siehe oben Kapitel: 4.1.1; Kapitel: 4.1.3.1 (m.w.H.) 175 Siehe unten Kapitel: 4.1.4.2 (m.w.H.) <?page no="111"?> 112 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Die europäischen Rechtsordnungen nehmen die Spezifizierung der Immaterialgüterrechte sehr ernst. Sie statuieren insbesondere einen Anspruch des Schutzrechtes, mit dem der Rechtsinhaber jeden Dritten von der Nutzung des Rechtes ausschließen kann ( Exklusivität). Tabelle 3: Die Rechtsfolgen der Verletzung des geistigen Eigentumsschutzes Immaterialgüterrecht Garantien des Ausschlusses Dritter von der Nutzung (Exklusivität) Rechtsfolgen Patent § 9 PatG Schadenersatz Unterlassen (bei Wiederholungsgefahr) (§ 139 PatG) Vernichtung (§ 142 PatG) Gebrauchsmuster § 11 Abs. 1 Satz 2 GebrMG Schadenersatz Unterlassen (bei Wiederholungsgefahr) Vernichtung (§ 24a GebrMG) Halbleiter § 6 HalblSchG; Art. 1 Abs. 1 Rl. 87/ 54/ EWG Schadenersatz Unterlassen Vernichtung (§ 9 Abs. 2 i.V.m. § 24a GebrMG) Pflanzensorten § 10 SortSchG Beseitigung Unterlassen (37 Abs. 1 SortSchG) Schadenersatz (37 Abs. 2 SortSchG) Vernichtung (§ 37a SortSchG) Geschmacksmuster § 38 Abs. 1 GeschmMG Beseitigung Unterlassen (§ 42 Abs. 1 GeschmMG) Schadenersatz (§ 42 Abs. 2 GeschmMG) Vernichtung (§ 43 GeschmMG) Schriftzeichen Verweis auf die Regelungen des GeschmMG; Art. 2 Abs. 1 SchriftZG Beseitigung Unterlassen (§ 42 Abs. 1 GeschmMG) Schadenersatz (§ 42 Abs. 2 GeschmMG) Vernichtung (§ 43 GeschmMG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 SchriftZG) Urheberrecht § 14 und §§ 15ff., § 23 UrhG Schadenersatz Unterlassen (bei Wiederholungsgefahr) (§ 97 UrhG) Vernichtung v. Plagiaten etc. Rückruf v. Vervielfältigungen Überlassung d. Vervielfältigungen (gegen Entgelt) (§ 98 UrhG) <?page no="112"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 113 www.uvk-lucius.de/ innovation Im Fall der Verletzung dieses Exklusivrechtes stehen dem Verletzten Schadenersatzansprüche und bei Wiederholungsgefahr Unterlassensansprüche zu. Wie sehr den Rechtsordnungen der Schutz des geistigen Eigentums gelegen ist, verdeutlicht die Rechtsfolge der Vernichtung des rechtswidrig hergestellten Produktes. Jährlich vernichten die europäischen Rechtssysteme - zur Einhaltung und Durchsetzung des Immaterialgüterschutzes - Werte in Millionenhöhe. Die erhebliche Wertezerstörung scheint jene volkswirtschaftlichen Schaden an Anreizverlusten zu Forschungs- und Innovationstätigkeiten offensichtlich nicht zu übersteigen, anderenfalls wäre ein Rechtssystem, das sich solcher einschneidender Rechtsfolgen bedient, ökonomisch ineffektiv und müsste (im Fall entsprechender Rechtswahlmöglichkeiten) den „Markt“ verlassen. Dass dem nicht so ist, beweist die langjährige Existenz des Vernichtungsanspruches und die ihn verwendenden Rechtssysteme. Auch die Europäische Union hat am 22.07.2003 in Art. 17 der VO 1383/ 2003 den Vernichtungsanspruch europaweit fortgeschrieben. 176 4.1.4.2 Ökonomische Nachteile von geistigen Eigentumsrechten Da - wie gesehen - Anreize zu Forschung- und Entwicklung nur dann bestehen, wenn der Erfinder seine Erfindungsrechte exklusiv nutzen darf, gewähren alle Schutzrechte des geistigen Eigentums dem Erfinder das Recht, jeden Dritten von der Innovation auszunehmen. Dieses Exklusivrecht am geistigen Eigentum kann demgegenüber auch eine marktbeherrschende Wettbewerbsstellung des Rechtsinhabers begründen. Zumindest erhält der Innovator die Möglichkeit, seinen Innovationsvorsprung exklusiv zu nutzen und dadurch anderen den gleichberechtigten Zugang zum Wettbewerbsgeschehen erheblich zu erschweren. 177 Kann der Innovator seinen Wissensvorsprung derart ausbauen, dass er Mitbewerbern - durch die Vorenthaltung des Zugangs zu seiner Innovation - ein notwendiges und erforderliches Hilfsmittel zu ihrem Zugang oder Bestand auf einem Markt vorenthält, so liegt ein Anwendungsfall der „Essential Facility“-Problematik vor. Diese bezieht sich nämlich nicht nur auf die Verweigerung des Zugangs der Konkurrenten zu notwendig erforderlichen Strom- oder Kommunikationsnetzen, Schienenstrecken, Eisenbahnbrücken, Seehäfen, sondern auch zu fremder Information. Letztlich wendet der EuGH die Essential Facility-Problematik - in seiner Entscheidung „IMS Health“ 178 - auch auf das bereits von einem Marktteilnehmer entwickelte urheberrechtlich geschützte innovative Verfahren zur Marktanalyse, und - in dem Fall Microsoft/ Kommission 179 - auf den Zugang eines fremden Unternehmens zu einem 176 Verordnung (EG) Nr. 1383/ 2003 des Rates vom 22.07.2003 über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen ABl. L v. 02.08.2003 196, S. 7ff. 177 Dixon/ Greenhalgh: The Economics of Intellectual Property: A Review to Identify Themes for Future Ressearch, Working Paper (2002), 1-67; siehe auch: Dam: Die ökonomischen Grundlagen des Patentrechts. In: Ott/ Schäfer (Hrsg.): Ökonomische Analyse der rechtlichen Organisation von Innovationen, 1994, S. 287ff. (m.w.H.) 178 EuGH v. 29.04.2004 (Rs. C-418/ 01); IMS Health GmbH & Co. OHG ./ . NDC Health GmbH & Co. KG, Slg I 2004, S. 5039ff. 179 EuGH v. 17.09.2007 (Rs. T-201/ 04), Microsoft Corp. ./ . Kommission, Slg. II 2007, S. 3601ff. <?page no="113"?> 114 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation von Microsoft entwickelten Betriebssystem an, das im geistigen Eigentum des Unternehmens Microsoft steht. Gerade eine solche wettbewerbsreduzierende Wissensmonopolstellung gilt es in einer ökonomisch effizienten Rechtsordnung vorzubeugen und zu reduzieren. Denn sie führen neben dem Wissensmonopol, einer Marktbeherrschung und -beeinträchtigung zu Eingriffen in die Marktstruktur und in den Preis-/ Leistungswettbewerb. Damit belasten sie ebenfalls die Verbraucher. Merksatz Rechtsordnungen, die das geistige Eigentum rechtlich spezifizieren und exklusiv schützen, um dadurch einerseits notwendige Innovationsanreize für Forschung und Entwicklung bereitzustellen, müssen andererseits die Rechtspositionen des geistigen Eigentumsschutzes (Immaterialgüterrechte) inhaltlich so spezifizieren, dass eine Beeinträchtigung des Wettbewerbsgeschehens durch Immaterialgüterrechte ausgeschlossen, oder zumindest weitgehend ausgeschlossen ist. Diese grundsätzliche Abwägung beider ökonomischer Zielvorgaben gelingt allen Rechtsordnungen speziell dadurch, dass [1] sie das Schutzrecht oder den Schutzanlass inhaltlich genau exakt eingrenzen; [2] sie den Schutz geistigen Eigentums erst dann zulassen, wenn die technische/ gestalterische oder künstlerische Innovation eine besondere Erfindungshöhe, oder eine (gestalterische) Eigenheit (Individualität) besitzt; [3] sie Schutzrechte auf jenen Innovator reduziert, der die Erfindung als erster angemeldet hat (Prioritätsprinzip); [4] sie die Durchsetzung des Schutzes des geistigen Eigentumsrechts in die Hand des Innovators selbst legen; [5] sie das Bestehen des exklusiven geistigen Eigentumsrechts zeitlich begrenzen und [6] sie in Ausnahmefällen die Exklusivität des geistigen Eigentums, d.h. die Möglichkeit, jeden Dritten von der Nutzung der Innovation auszuschließen, durch die Vergabe von Zwangslizenzen durchbrechen. 180 4.1.4.2.1 Zu [1]: Spezifizierung des deutschen Schutzrechtes des geistigen Eigentums Ein inhaltlich nicht genau bezeichnetes Schutzrecht ist von anderen nicht abgrenzbar. Sein Anwendungsbereich - und insbesondere die Möglichkeit jeden nutzungswilligen Dritten von einem geistigen Erzeugnis auszuschließen - gerät daher zu weit. Die unscharfe Spezifizierung des zu schützenden Gegenstandes eröffnet daher dem Erfinder ein ausuferndes und zu umfassendes Recht, Dritte von der Nutzung seiner Innovation und damit generell vom Wettbewerbsgeschehen auszuschließen. 180 Gordon: systematische und fallbezogene Lösungsansätze für Marktversagen bei Immaterialgütern. In: Ott, Schäfer: Ökonomische Analyse der rechtlichen Organisation von Innovationen. S. 327 (m.w.H.) <?page no="114"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 115 www.uvk-lucius.de/ innovation Das deutsche, wie auch das europäische Recht kommen diesem Erfordernis der Schutzrechtseingrenzung in qualifiziertem Maße dadurch nach, dass sie nicht etwa pauschal jede geistige Arbeit unter ihren exklusiven Schutz stellen, sondern a. für jeden einzelnen Anlass differenzierte Immaterialgüterschutzrechte (wie den Patent-, Gebrauchs-, Geschmacksmuster-, Schriftzeichen-, Sorten- und Halbleiterschutz, den Schutz gestalterischer, künstlerischer „Produktion, Erfindung und Innovation“ durch das Urheberrecht und durch den Markenschutz) bereitstellt und b. deren individuelle Inhalte und Befugnisse für jede Spezifizierung, d.h. für jedes Recht, individuell ausgestalten: Ein Patent schützt die auf erfinderischer Tätigkeit beruhende und gewerblich nutzbare technische Erfindung (§ 1 Abs. 1 PatG). Hierzu zählen auch Verfahren. Das sog. „Erzeugnispatent“ gewährt beispielsweise Schutz für die Erfindung von Maschinen, Maschinenteilen, deren Anordnung, sowie Schutz für die Erfindung von elektronischen Schaltungen, chemischen Stoffen und Arzneimitteln. Ein „Verfahrenspatent“ schützt die Innovation, z.B. von Arbeitstechniken und Arbeitsweisen zur Herstellung eines Produktes, zu dessen Bearbeitung, aber auch zu dessen Verwendung. Das Gebrauchsmusterrecht erfasst ebenfalls jede auf einem erfinderischen Schritt beruhende und gewerblich anwendbare technische Erfindung, wie Maschinen, Maschinenteile, deren Konstruktion, Stoffe, etwa chemische Zusammensetzungen, Nahrungs- und Arzneimittel (§ 1 Abs. 1 GebrMG), aber keine Verfahren. Per definitionem scheiden aus dem Schutz sowohl des Patentsals auch des Gebrauchsmusterrechts Entdeckungen, wissenschaftliche Theorien, mathematische Methoden, ästhetische Formschöpfungen, Pläne, Verfahrensweisen für gedankliche, geschäftliche Tätigkeiten, Spiele, Computerprogramme und Informationswiedergaben aus (für das Patentrecht § 1 Abs. 3 PatG; für das Gebrauchsmusterrecht § 1 Abs. 2 GebrMG). Die Spezifizierung des Gebrauchsmusterrechts gleicht im Wesentlichen der des Patentrechts. Beide Normbereiche schützen „technische“ Innovationen. Das Gebrauchsmusterrecht kommt einem praktischen Bedürfnis des Wirtschaftsverkehrs nach einem vereinfachten und kostengünstigeren Verfahren nach. 181 Aus diesem Grund bezeichnet man den Gebrauchsmusterschutz als „Kleines Patent“. Merksatz Die Bezeichnung „kleines Patent“ darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schutzumfang bei beiden Rechten ähnlich hoch ist, so dass der Gebrauchsmusterschutz keine rechtlich minderwertige Alternative zum Patent darstellt. Der Halbleiterschutz gewährt einen Erfindungsschutz auf endgültige Formen eines Erzeugnisses, das - in einer dreidimensionalen Anordnung - sowohl eine Schicht eines halbleitenden Materials als auch eine oder mehrere Schichten aus lei- 181 BT-DruckS 10/ 3903 v. 26.09.1985, S. 15 <?page no="115"?> 116 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation tendem, isolierendem oder hableitendem Material aufweist und eine elektronische Funktion besitzt. (§ 1 HalblSchG) 182 Den Schutz einer Pflanzensorte gewährt das Sortenschutzgesetz (§§ 1ff. Sort- SchG) nicht nur für die Erzeugung und Züchtung, sondern - in Abweichung zum Patent- und Gebrauchsmustergesetz - auch für die Entdeckung einer unterscheidbaren homogenen, beständigen und neuen Pflanzensorte. Das Geschmacksmustergesetz bietet den Schutz des Entwurfs von Mustern und Modellen, also von mehrdimensionalen, insbesondere optisch gestalten Erzeugnissen (§§ 1, 7 GeschmMG). 183 Gegenstand des Schutzes ist hier das „Design“. Damit besitzt der Geschmacksmusterschutz in der Praxis eine extrem große Verbreitung. Beispielsweise lassen sich geschmacksmusterrechtlich schützen: Textilien, Verpackungen, Spielzeug, alle Haushaltsgeräte, Elektrogeräte, wie Schalter, Zugtypen wie der ICE, Computersoftware, Lampen, aber auch Lebensmittel und Arzneimittel. Auch für einzelne Teile eines Erzeugnisses steht der Geschmacksmusterschutz zur Verfügung: Scherkopf eines Trockenrasierers 184 , Glaslampe einer Leuchte 185 , Kotflügel 186 oder/ und Felgen 187 eines PKW. Typographische Schriftzeichen bezieht § 1 Abs. 2 und § 61 des GschmMG i.V.m. Art. 2 des Schriftzeichengesetztes (SchriftZG) ausdrücklich in den Schutz des Geschmacksmustergesetzes ein. Geschützt sind hier nicht isoliert einzelne Zeichen, Zahlen oder Buchstaben, sondern die Gesamtheit aller einen neuen Schrifttypus bildenden Zeichen (sog. Zeichensatz). 188 Der Urheberschutz gilt nach §§ 1-4 UrhG für Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst. Es bezieht sich auf Sprachwerke, Musikwerke, Werke der bildenden Kunst, Darstellungs-, Tanz- und Theaterwerke, Lichtbilder, Filme, Zeichnungen und Pläne, Skizzen, Tabellen, deren Bearbeitung sowie Übersetzungen und Sammlungen. Auch Spielideen unterliegen in ihrer Verkörperung dem Urheberschutz. 189 Der Urheberschutz weist eine geringfügige Eigenheit in der Konzeption des geistigen Eigentums zu den oben genannten gewerblichen Schutzrechten auf. Die hier verfolgte ökonomische Betrachtung des geistigen Eigentums-Schutzrechtes, d.h. der gesellschaftlichen Organisation von Innovation, rechtfertigt aber die Aufnahme des Urheberrechtes in den Darstellungszusammenhang. Hierfür spricht letztlich auch die inhaltliche Nähe des Geschmacksmusterrecht zum Urheberrecht. 190 182 Siehe auch: Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 87/ 54/ EWG des Rates vom 16. Dezember 1986 über den Rechtsschutz der Topographien von Halbleitererzeugnissen; ABl. L 24, v. 27.01.1987, S. 36ff. 183 Art. 1 a Richtlinie 98/ 71/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen; ABl. L 289 vom 28.10.1998, S. 28ff. 184 BGH, GRUR 1977, S. 602 185 BGH, GRUR 1981, S. 273 186 BGH, GRUR 1987, S. 518f. 187 BGH, GRUR 1995, S. 115 188 Siehe: Begründung zu Art. 2Abs. 1 Gesetz zum Wiener Abkommen vom 12. Juni 1973 über den Schutz typographischer Schriftzeichen und ihre internationale Hinterlegung (Schriftzeichengesetz) 6. Juli 1981 (BGBl. 1981 II S. 382); BT-DruckS v. 24.04.1980 8/ 3951 189 LG Mannheim: v. 29.02.2008 (Az.: 7 O 240/ 07) (m.w.H.) = GRUR-RR 2008, 388 190 Dazu siehe unten Kapitel: Inhaltliche Überschneidungen von Urheberrecht und Geschmacksmusterrecht (m.w.H.) <?page no="116"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 117 www.uvk-lucius.de/ innovation Immaterialgüterrecht Inhalt Normen Ausschluss des geistigen Eigentumsschutzes Patent auf erfinderischer Tätigkeit beruhende und gewerblich nutzbare technische Erfindung / Verfahren § 1 Abs. 1 PatG keinen Schutz genießen: Entdeckungen, wissenschaftliche Theorien, mathematische Methoden, ästhetische Formschöpfungen, Pläne, Verfahrensweisen für gedankliche, geschäftliche Tätigkeiten, Spiele, Computerprogramme, Informationswiedergabe (§ 1 Abs. 3 PatG; § 1 Abs. 2 GebrMG) Gebrauchsmuster auf erfinderischem Schritt beruhende und gewerblich anwendbare technische Erfindung § 1 Abs. 1 Gebr- MG Halbleiter auf dreidimensionale Strukturen von mikroelektronischen Halbleitererzeugnissen (sog. Mikrochip) § 1 HalblSchG; Art. 1 Abs. 1 Rl. 87/ 54/ EWG (-) Pflanzensorten Züchtung oder Entdeckung einer unterscheidbaren homogenen, beständigen und neuen Pflanzensorte § 1ff. SortSchG (-) Geschmacks- Entwurf/ Design von Mustern und Modellen, also von mehrdimensionalen, insbesondere optisch gestalteten Erzeugnissen §§ 1, 7 Geschm- MG; Art. 1 a Rl. 98/ 71/ EG keinen Schutz genießen: Optische Erscheinungsformen, die lediglich durch die technische Form bedingt sind, (z.B.: passgenau ausgerichtete Erzeugnisse deren Gestalt notwendig aus dem Zusammenbau mit einem anderen Muster folgt), gegen die guten Sitten verstoßende Muster, Muster in Form von Abzeichen, Wappen und Emblemen von öffentlichem Interesse (§ 5 GschmMG) Schriftzeichen Neue Schrift i.S.d. Zeichensatzes, d.h. Gesamtheit aller, einen neuen Schrifttypus bildende Zeichen, insbesondere Computerschriften (Fonts) Verweis auf die Regelungen §§ 1, 7 GeschmMG; Art. 1 a Rl. 98/ 71/ EG in: § 1 2 und § 61 des GschmMG; Art. 2 Abs. 1 SchriftZG Urheberrecht Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst, speziell für Sprachwerke, Musikwerke, Werke der bildenden Kunst, Darstellungs-, Tanz- und Theaterwerke, Lichtbilder, Filme, Zeichnungen und Pläne, Skizzen, Tabellen, deren Bearbeitung sowie Übersetzungen und Sammlungen §§ 1-4ff. UrhG keinen Schutz genießen: Normen sowie amtliche Werke (Erklärungen), die zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht sind (§ 5 UrhG) Tabelle 4: Übersicht über die Schutzinhalte des geistigen Eigentums in Deutschland <?page no="117"?> 118 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation 4.1.4.2.2 Zu [2]: Neuheit und Erfindungshöhe Innovationen, die keinen innovativen zusätzlichen Nutzen zu dem bereits bestehenden Vorteil versprechen, unterfallen dem Schutz der deutschen Rechtsordnungen nicht. Der ökonomische Grund besteht darin, dass zum Hervorbringen lediglich nachgemachter, kopierter bzw. plagiierter Produkte kein oder nur ein geringer Aufwand des Innovators genügt. Dieser verschwindend geringe Aufwand rechtfertigt die Etablierung eines exklusiven Eigentumsschutzes nicht, der dazu führen würde, jeden Dritten von der wirtschaftlichen Nutzung des Plagiates und damit vom Markt auszuschließen, und so den Markt zu monopolisieren bzw. das Wettbewerbsgeschehen zu beeinträchtigen. 191 Merksatz Mit Hilfe des Merkmals der „Erfindungshöhe“ oder dem der „Gestaltungseigenart“ will der Gesetzgeber gerade das Erzeugen von Plagiaten vermeiden, indem er für deren Hervorbringung keine ökonomischen Anreize schafft. Damit sind derartige Erfindungen nicht nur anreizloses Allgemeingut, sie tragen auch nicht zu einer Wettbewerbsverengung bei. Patent Eine Innovation i.S.e. technischen Erfindung nach § 1 PatG ist dann erst durch ein Patent zu schützen, wenn sie neu ist und eine Erfindungshöhe besitzt, d.h. wenn die Innovation nicht schon zum Stand der Technik zählt (§ 3 PatG) und diesen inhaltlich übersteigt (§ 4 PatG). Der Stand der Technik resultiert dabei nicht allein aus dem zurzeit der Antragstellung kursierenden schriftlichen Material, sondern auch aus den allen entsprechenden Informationsquellen - also auch aus mündlichen Mitteilungen, der Benutzung des Gegenstandes und sonstiger Umstände - mit denen die Erfindung der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde (§ 3 Abs. 1 Satz 2 PatG) (absoluter Neuheitsbegriff). Gerade bei Pionierentwicklungen (Glühbirne, Dampfmaschine, Computer) werden die Neuheit und insbesondere die Erfindungshöhe sehr groß sein. Oft erreicht eine Innovation einen solchen Entwicklungssprung nicht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Innovation Details einer bereits getätigten Erfindung lediglich abwandelt. Ob und wann geringere Erfindungshöhe ausreichen, eine nach dem Patentrecht schützenswerte Innovation anzunehmen, ist eine überaus schwierig zu beantwortende Frage des Patentrechts, die das DPMA in einem streng formalisierten Patentverfahren eingehend prüft. 192 Maßgeblich für das Vorliegen einer Entwicklungshöhe der technischen Erfindung ist die Überlegung, ob die Innovation von jedem Durchschnittsfachmann, aufgrund dessen eigenen Fachwissens, aus dem Stand der Technik hätte abgeleitet werden können; 191 Einzelheiten siehe oben Kapitel: 4.1.4.2 (m.w.H.) 192 Nur im Fall der Patent- oder der Sortenschutze prüft das DPMA die Neuheit bzw. Eigenheit, die erfinderische Leistung der Innovation und ihrer gewerblichen Anwendbarkeit. <?page no="118"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 119 www.uvk-lucius.de/ innovation oder nicht. Nur im letzten Fall liegt die zur Patentierung geforderte Erfindungshöhe vor. Die Patentierung einer Innovation ist - mangels deren Erfindungshöhe nach § 4 PatG - abzulehnen bei bloßen Veränderungen von Dimensionen oder der Übertragung bereits bekannter Verfahren und Erzeugnisse auf einen anderen Zusammenhang (der Übertrag eines Spezialverfahrens zum Verschweißen von Blechdosen auf die Herstellung von Dachrinnen; die Verwendung hitzebeständiger Außenbeschichtungen auf Motoren). 193 Gebrauchsmuster Auch der Gebrauchsmusterschutz setzt eine Neuheit der Innovation voraus. Wie auch beim Patent darf sich das Gebrauchsmuster nicht bereits aus dem Stand der Technik ergeben, der zurzeit der Antragstellung der Innovation bestand. Verwandte das Patentrecht allerdings den sog. absoluten Neuheitsbegriff, d.h. war es für das Patentrecht gleichgültig, ob der Stand der Technik durch schriftliche oder mündliche Beschreibungen oder durch die Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zum Stichtag bekannt war, so stellt das Gebrauchsmustergesetz zur Ermittlung des Stands der Technik auf einen sog. relativen Neuheitsbegriff ab. D.h. der Stand der Technik bemisst sich ausschließlich nach dem schriftlichen Inhalt von Dokumentationen. Mündliche Beschreibungen, der Gebrauch des Gegenstandes sowie andere Möglichkeiten, die den Stand der Technik bilden, bleiben im Gebrauchsmusterrecht unberücksichtigt. Auch hinsichtlich des erfinderischen Schritts bzw. der Erfindungshöhe bestehen Unterschiede zwischen Patent- und Gebrauchsmusterrecht. So verlangt das Gebrauchsmustergesetz keinen gleichgroßen, technischen, innovativen Entwicklungssprung wie bei der Vergabe eines Patents. D.h. die Erfindungshöhe des Gebrauchsmusters kann gegenüber seinem Vorläufer geringer sein als bei einem patentierbaren Erzeugnis. 194 Der Wortlaut des Gebrauchsmustergesetzes deutet diese Unterscheidung an, indem er, anders als beim Patentrecht, nicht von einer erfinderischen Tätigkeit, sondern lediglich von einem erfinderischen Schritt spricht. Der BGH möchte - seit seiner problematischen Entscheidung „Demonstrationsschrank“ 195 - eine solche Differenzierung zwischen dem Patent- und Gebrauchsmusterrecht nicht mehr treffen und verlangt eine dem Patentrecht vergleichbare Erfindungshöhe auch für das Gebrauchsmuster. 196 In der Praxis stellt sich die Problematik kaum. Denn die Feststellung der Erfindungshöhe 193 Weitere Beispiele siehe auch Eisenmann/ Jautz: Grundriss gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 9. Auflage, Heidelberg 2012, S. 65 194 Schon RGZ 99, 211, 212f. 195 BGHZ 20.06.2006 - X ZB 27/ 05 (Demonstrationsschrank) = BGHZ 168, 142ff. 196 Siehe dazu: Bundespatentgericht: Beschlüsse v. 02.08.2000 - 5 W (pat) 434/ 99, Leitsatz in Mitt. 2002, 46; BPatGE 47, 215 = GRUR 2004, 852; Goebel, zu BGHZ 168, 142ff. In: GRUR 2008, 301ff. (m.w.H.) <?page no="119"?> 120 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation ist beim Patent wie beim Gebrauchsmuster eine Frage des Einzelfalls. Im Rahmen dieser individuellen Betrachtungsweise stehen genügend Wertungsmöglichkeiten zur Verfügung, die in der jeweiligen Rechtsmaterie die sog. Erfindungshöhe begründen oder ablehnen können. Merksatz Im Gegensatz zum Patent findet zudem eine Sachprüfung der Erfindungshöhe des Gebrauchsmusters bei seinem Erteilungsverfahren nicht statt. Fall: „Erst denken, dann reden“ Der Physik-Professor Dr. Lüke hat in jahrelanger Forschungsarbeit ein Verfahren entwickelt, nach dem die Energieverluste, die bei der Umwandlung von Energie in andere Energieformen (z.B.: thermische Energie in Bewegungsenergie) üblicherweise anfallen, bis zu 73% reduziert werden. Diese, seine neue Erfindung, konnte er bereits auf drei Fachkongressen vorstellen, was maßgeblich seine Chancen erhöht, für diese Erfindung in Kürze den international begehrten Innovations- und Forschungspreis der RESI Stiftung zu bekommen. Er überlegt sich, ob er seine Erfindung patentieren lassen sollte. Lösung Dem Gegenstand nach handelt es sich um eine technische Erfindung im Sinne des § 1 Abs. 1 Patentgesetz (PatG). Diese Erfindung beruht auch auf seiner erfinderischen Tätigkeit und weist durch die erstmalig bestehende Möglichkeit einer umfassenden Energieeinsparung eine ausreichende Erfindungshöhe auf. Ebenfalls ist diese Erfindung gewerblich anwendbar i.S.d. § 1 Abs. 1 PatG. Zweifel bestehen allerdings an der Neuheit der Erfindung. Diese bestimmt sich nach § 3 PatG nach dem Stand der Technik, der zurzeit der Antragstellung besteht. Die reine Erfindung gilt daher als neu, wenn sie nicht schon bereits zum Stand der Technik gehört (§ 3 Abs. 1 PatG). Der Stand der Technik ergibt sich dabei nicht nur aus schriftlichen Dokumentationen, sondern auch aus allen Umständen, mit denen die Erfindung der Öffentlichkeit bekannt gemacht wird (§ 3 Abs. 1 Satz 2 PatG) (absoluter Neuheitsbegriff). Den Stand der Technik bilden daher auch mündliche Mitteilungen, die Benutzung des Gegenstandes und sonstige Umstände. 197 Da Herr Dr. Lüke seine technische Innovation in drei öffentlichen Fachkongressen vorgestellt und damit einem großen Publikum bekannt gemacht hat, zählt seine Erfindung bereits heute - also vor ihrer Anmeldung - zum Stand der Technik. Damit ist seine Erfindung nicht mehr neu und er kann sie nicht mehr als Patent eintragen lassen. 197 BGHR PatG (1968) § 2 Satz 1 - Druckschrift 1; MDR 93,749; siehe auch: BPatG v. 20.09.2011, AZ 12 W (pat) 301/ 09 <?page no="120"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 121 www.uvk-lucius.de/ innovation Es bleibt Herrn Dr. Lüke die Möglichkeit, seine Erfindung als Gebrauchsmuster schützen zu lassen. Das Gebrauchsmustergesetz stellt zwar grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie das Patentgesetz auf (siehe § 1-3 GebrMG). Dennoch ergibt sich im Gebrauchsmustergesetz der wesentliche Unterschied, dass sich der „Stand der Technik“ nunmehr allein aus schriftlichen Dokumenten, die zurzeit der Antragstellung vorliegen, ermittelt (relativer Neuheitsbegriff) (§ 3 Abs. 1 S. 1 GebrMG). Da Dr. Lüke seine technische Innovation noch nicht in Schriftform veröffentlicht hat, zählt seine Innovation noch nicht zu dem Stand der Technik, wie ihn das Gebrauchsmustergesetz verlangt. Aus diesem Grund ist ihm zu raten, seine Erfindung (noch) als Gebrauchsmuster einzutragen. Halbleiter Das Halbleiterschutzrecht entspricht in weiten Teilen dem Gebrauchsmusterschutzrecht. Eine Halbleiter-Innovation ist daher auch dann nur schutzwürdig, wenn sie neu ist (§ 1 Abs. 1 HalblSchG). Von einer Erfindungshöhe spricht das Halbleitergesetz in diesem Zusammenhang zwar nicht. Es verlangt allerdings in § 1 Abs. 1 S. 2 HalblSchG, dass die Topographie eine nicht alltägliche Eigenart aufweist. Diese Eigenart muss das Ergebnis geistiger Arbeit sein. Das Merkmal der Eigenheit gewährleistet, dass tatsächlich nur eine neue, mit einem technisch kommerzialisierbaren Eigenwert erdachte Topographie schutzwürdig ist, und dass für einen Kopie bereits bestehender Strukturen keine Anreize des geistigen Eigentumsschutzes geschaffen werden. 198 Pflanzensorten Auch eine schutzwürdige Pflanzensorte muss neu sein (§ 1 Abs. 1 4 SortSchG). Neu ist die Sorte dann, wenn die Pflanze oder Pflanzenteile noch nicht mit Zustimmung des berechtigten zu gewerblichen Zwecken in den Verkehr gelangt ist (§ 6 Sort- SchG). Der Begriff der Erfindung oder Erfindungshöhe ist dem Sortenschutz völlig fremd. Die schützenswerte biologische Neuerung beruht nämlich nicht auf einem technischen Handeln, sondern auf der Wirkung von Naturkräften. Das Sortenschutzrecht erfordert daher keine qualitativen Verbesserungen, wie etwa das Patent- oder das Gebrauchsmustergesetz. 199 Es genügt zur Gewährung des Sortenschutzes, wenn die neue Sorte zumindest eine Ausprägung aufweist, die sie von einer anderen, bereits bekannten Sorte deutlich unterscheiden lässt (Unterscheidbarkeit) (§ 3 Abs. 1; § 1 Abs. 1 1 SortSchG). 198 Siehe auch § 1 Abs. 2 HalblSchG, der die bloße Nachbildung aus dem Topographienschutz bewusst ausnimmt. 199 Siehe oben Kapitel: Patent; Kapitel: Gebrauchsmuster <?page no="121"?> 122 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Geschmacksmuster Auch der Design-Schutz des Geschmacksmustergesetzes bedarf zu seiner ökonomischen Rechtfertigung 200 der Neuheit des Entwurfs bzw. des Musters (§ 2 Abs. 1 GschmMG). Dieses ist gemäß § 2 Abs. 2 GschmMG dann neu, wenn vor seinem Anmeldetag ein identisches Muster nicht der Öffentlichkeit zugänglich war; etwa durch sein Bekanntmachen, Ausstellen oder sein Verwenden (§ 5 GschmMG). Nur unwesentliche Abweichungen des Erscheinungsbildes beseitigen die Identität nicht. Der Geschmacksmusterschutz bezieht sich vorwiegend auf die Gestaltung eines Objektes. Insofern ist auch hier, wie beim Sortenschutz, die Forderung nach einer bestimmten Erfindungshöhe, wie sie beim Patent- und Gebrauchsmusterschutz erforderlich war, nicht nötig. Dem Geschmacksmusterrecht genügt vielmehr, dass das Muster eine ihm eigene individuelle Beschaffenheit; eine Eigenart aufweist (§ 2 Abs. 1 GschmMG). Diese, seine Eigenart, muss keine höhere gestalterische eigene Qualität im Vergleich mit Vorgängerprodukten besitzen. Es reicht, dass das neue Design im Vergleich zum Erscheinungsbild anderer Produkte verschieden ist. Hierüber entscheidet der sog. „informierte Benutzer“ (§ 2 Abs. 3 GschmMG). Der EuGH qualifiziert in seiner Entscheidung „Pepsi-Frisbee-Scheibe“ 201 einen „informierten Benutzer“ als jeden Benutzer, der zu einer durchschnittlichen Aufmerksamkeit auch über eine besondere Wachsamkeit verfügt. Die Sicht des EuGH zum informierten Benutzer im Recht des gewerblichen Rechtsschutzes entspricht damit seiner Rechtsprechung zum „europäischen Verbraucherverständnis“ im „europäischen Werberecht“. Auch hier gab der EuGH den nationalen Gerichten das Bild eines durchaus kritisch entscheidenden Verbrauchers vor. 202 Zensur oder Plagiatsschutz Der Gesetzgeber will keine geschmacklichen Kriterien für die äußere Erscheinung eines Produktes aufstellen. Es kommt ihm nicht darauf an, eine Zensur bezüglich der Qualität des Erscheinungsbildes eines Musters auszuüben. Alle Muster-, Modell- und Design-Formen - selbst wenn sie als überaus kitschig, billig und abgeschmackt gelten - genießen daher denselben Schutz des Geschmacksmustergesetzes. Durch die eher geringen Anforderungen, die das Geschmacksmusterrecht bezüglich der Gestaltungsqualität von Mustern und Modellen aufstellt, erzeugt es die besonders große wettbewerbliche Gefahr, andere Nutzungswillige vom Markt auszuschließen. 203 Eine solche ökonomisch schwerwiegende Gefahr ist ökonomisch wie rechtstechnisch im Geschmacksmustergesetz nur dadurch zu lösen, dass man an das Kriterium der „Eigenart“ des Produktes hohe und qualifizierte Anforderungen stellt. Tatsächlich bildet die Frage, inwieweit sich ein Muster - aus der Sicht des informierten Benutzers - 200 Dazu siehe oben Kapitel: 4.1.4.2.2 201 EuGH v. 20.10.2011. PepsiCo, Inc. ./ . Grupo Promer Mon Graphic SA (Rs. C-281/ 10); Rn. 47ff., 53ff., 59 (m.w.H.) 202 Hierzu im Einzelnen: Krimphove: Europäisches Werberecht. München 2002; S. 137ff. (m.w.H.) 203 Siehe oben Kapitel: 4.1.4.2 (m.w.H.) <?page no="122"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 123 www.uvk-lucius.de/ innovation von dem anderen bereits existenten unterscheidet, eine höchst schwierig zu beantwortende Frage des jeweiligen Einzelfalls. Schriftzeichen In Anlehnung an das Geschmacksmustergesetz müssen Schriftzeichen „neu“ sein und eine Eigentümlichkeit aufweisen (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 SchriftZG). Werke des Urheberrechts Das Werk eines Urhebers muss im Gegensatz zu dem oben genannten Schutzrecht weder neu sein, noch eine charakterisierende Eigenart aufweisen. Das einzige Kriterium, einem Werk Urheberrechtsschutz einzuräumen, besteht darin, dass es eine geistige Schöpfung enthält, d.h., dass das Werk einen geistigen Inhalt hat, 204 der sich in einer wahrnehmbaren Formgestaltung konkretisiert. 205 Der geistige Inhalt des Werkes An das Merkmal des geistigen Inhalts knüpft die Rechtsprechung strenge Voraussetzungen. So muss das urheberrechtlich geschützte Werk eine „beträchtliche Schöpfungshöhe“ aufweisen. 206 D.h., das Werk muss aus der Masse des Alltäglichen, des Allgemeingängigen und Üblichen, als individuelle Schöpfung heraustreten. Dies erfüllt ein lediglich mit reiner handwerklicher Tätigkeit hergestelltes Erzeugnis nicht. 207 Diese Anforderung gilt auch für Sammlungen, die Einteilungen oder Anordnungen einzelner Werke. Den urheberrechtlichen Schutz genießen eine Sammlung, eine Einteilung und die Anordnung von Werken, wenn sie selbst - in ihrer Konzeption - einen geistigen, schöpferischen Inhalt aufweisen. 208 Die wahrnehmbare Form des Werkes Eine Innovation, die lediglich in der Vorstellungswelt des Urhebers ausgearbeitet ist, genießt keinen urheberrechtlichen Schutz. Sie muss vielmehr eine für einen Dritten sinnlich wahrnehmbare und damit äußere Formgestaltung haben. Merksatz Während das Patent-, Gebrauchsmuster-, der Halbleiter-, Sorten-, Geschmacksmusterschutz eine „Idee“ als solche schützen, genießt im Urheberrecht das Werk, 204 BGH GRUR 1979, S. 464f.; BGHZ 44, S. 289ff., 293 205 BGHZ 18, S. 178; BGH GRUR 197, S. 464f. (m.w.H.) 206 BGH, GRUR 1981, S. 517ff., 519; BGHZ 22, S. 209ff., 215 207 BGH, GRUR 1981, S. 517ff., 519 208 BGH, GRUR 1982, S. 37ff., 39 (m.w.H.) <?page no="123"?> 124 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation also nicht die Idee selber, sondern deren Verkörperung, den Schutz des geistigen Eigentums. 209 Einfälle, Pläne, Geschmacksfragen, Konzeptionen, konkrete Planungen, Strategien und Werbekonzepte, Produktideen und künstlerische Inspirationen können somit nur in ihrer konkreten wahrnehmbaren Formgestaltung dem Urheberrechtsschutz unterfallen. Da sich der Schutz des Urheberrechts allein auf die wahrnehmbare Formgestaltung einer Idee bezieht, ist es ebenfalls folgerichtig, dass außerhalb der urheberrechtlich geschützten Formgestaltung liegende innovative Ideen nicht selbst dem urheberrechtlichen Schutz unterliegen. Sie sind auch nicht bei der Feststellung der notwendigen geistigen Schöpfungshöhe des Werkes zu veranschlagen. 210 Beispiel So ist die Überlegung, dass die Verniedlichung der Abbildung eines Bären bei der Zielgruppe einen hohen Werbeeffekt hat, selbst nicht urheberrechtlich relevant. Den Schutz genießt allenfalls - sofern die entsprechende erforderliche Schöpfungshöhe erreicht ist - die Verniedlichung der Formgestaltung des Bären selbst. 211 Inhaltliche Überschneidungen von Urheberrecht und Geschmacksmusterrecht Das Urheberrecht - speziell wenn es Kunstwerke betrifft - weist große inhaltliche Überschneidungen zum Geschmacksmusterrecht auf. Inhaltlich unterscheiden sich beide Schutzrechte dadurch, dass das Urheberrecht eine erhebliche individuelle, geistige Schöpfungshöhe erfordert, während das Geschmacksmusterrecht lediglich die Eigenart - d.h. die Unterschiedlichkeit - des Erzeugnisses verlangt. Da beide Rechte unabhängig voneinander bestehen, kann ein und dasselbe Objekt in den Schutzbereich beider Gesetze fallen. In dieser Rechtssituation verdoppelt sich der Schutz des geistigen Eigentums nicht. Lediglich gewähren beide Schutzrechte einen unterschiedlichen Schutz. Aus ökonomischer Sicht schadet daher das Zusammentreffen von Urheberrechtsschutz und Geschmacksmusterschutz nicht. Art. 96 Abs. 2 der Europäischen Geschmacksmuster-Verordnung (VO 6/ 2002) 212 trägt diesen Umstand eigens Rechnung, indem sie das Zusammentreffen von Geschmacksmuster- und Urheberrecht eigens aufführt. 209 Siehe: BGH, GRUR 1979, S. 464ff.; auch schon: BGH GRUR 1958, S. 500f. 210 Bereits: BGH, GRUR 1959, S. 251ff. 211 Etwa: der Bären Marke-Bär, der Mecki-Igel (BGH GRUR 1958, S. 500f.); Alf (OLG Hamburg, GRUR 1991, S. 207ff.); der Sarotti-Mohr 212 Verordnung (EG) Nummer 6/ 2002 des Rates vom 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. L 2001 3, S. 1ff. ber. ABl. L 2002, 179, S. 31ff.) <?page no="124"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 125 www.uvk-lucius.de/ innovation Fall: Türschild Ein Gebrauchs-Grafiker entwirft für ein Unternehmen ein Türschild. Welcher geistige Eigentumsschutz steht ihm für diese Leistung zu? Lösung Das Türschild erfüllt zwar die inhaltlichen Anforderungen an die Gewährung eines Geschmacksmusterschutzes. Denn es ist neu (i.S.d. § 2 Abs. 1, i.V.m. § 5 und § 2 Abs. 2 GschmMG) und es weist gegenüber anderen Türschildern eine Eigenheit (i.S.d. §§ 2 Abs. 1; § 2 Abs. 3 GschmMG) auf. Allerdings ist das Türschild als Geschmacksmuster (noch) nicht angemeldet und eingetragen. Da der Schutz des Geschmacksmusters erst mit der Eintragung eintritt (§ 27 GschmMG), besteht derzeit noch kein Geschmacksmusterschutz. Das Türschild könnte jedoch Urheberrechtsschutz genießen. Die Möglichkeit eines Urheberschutzes besteht parallel zum Geschmacksmusterschutz. Allerdings muss das Türschild als urheberrechtliches Werk die Voraussetzungen des § 1 UrhG erfüllen. Dies hängt insbesondere davon ab, ob es eine in seiner Gestaltung zum Ausdruck kommende individuell, geistige Schöpfungshöhe aufweist. Eine solche geistige Schöpfung kann auch in dem Schriftbild sowie der sonstigen optischen Gestaltung des Schildes liegen. Voraussetzung ist dann, dass die Gestaltung nicht dem alltäglichen, nach allgemeinen Handwerksregeln Üblichen entspricht, sondern dass die Aufmachung des Türschildes - einem Kunstwerk entsprechend - künstlerisch/ gestalterisch hierüber hinausgeht. Der BGH spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit eines „ästhetischen Überschusses. 213 “ Einen solchen „ästhetischen Überschuss“ hat der BGH in dem konkreten Fall - in der einfachen Gestaltung des Türschildes - zwar nicht feststellen können 214 , anderen Gestaltungsformen eines Türschilds, die mit wesentlich aufwändigeren Mitteln eigenständige Gestaltungsideen ausdrücken, kämen aber durchaus ein „ästhetischer Überschuss“ und damit die urheberrechtlich geforderte Schöpfungshöhe zu. 213 BGH 22, S. 209ff., 215ff. 214 BGH 22, S. 209ff., 215ff. <?page no="125"?> 126 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 9: Ökonomischer Nutzen der Innovation Immaterialgüterrecht Unterscheidungswert zu bestehenden Innovationen Normen Patent Neuheit: d.h. Innovation gehört nicht bereits zu dem, sich aus sämtlichen Infoquellen ergebenden, Stand der Technik; „absoluter Neuheitsbegriff“ § 3 PatG Erfindungshöhe: wenn Innovation den derzeitigen Stand der Technik übersteigt. § 4 PatG Gebrauchsmuster Neuheit: d.h. Innovation gehört nicht bereits zum, schriftlich dokumentierten, Stand der Technik; „relativer Neuheitsbegriff“ § 3 Abs.1 GebrMG Erfindungshöhe (geringer als beim Patent) § 1 Abs. 1 GebrMG Halbleiter Neuheit § 1 Abs. 1 und Abs. 2 HalblSchG Aufweisen einer nicht alltäglichen Eigenart Pflanzensorten Neuheit § 1 Abs. 1 4, § 6 SortSchG deutliche Unterscheidbarkeit zu bereits bestehender Sorte (§ 3 Abs. 1; § 1 Abs. 1 1 SortSchG) Geschmacksmuster Neuheit § 2 Abs. 1, i.V.m. § 5 und § 2 Abs. 2 GschmMG Gebrauchsmuster Patent Erfindungshöhe Halbleiter Geschmacksmuster Werk des Urhebers Schöpfungshöhe Eigenheit Sorte <?page no="126"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 127 www.uvk-lucius.de/ innovation Eigenart (unabhängig von der geistigen, gestalterischen oder künstlerischen Höhe des Musters od. Modells) dessen Unterschiedlichkeit § 2 Abs. 1; § 2 Abs. 3 GschmMG Schriftzeichen neu Art. 2 Abs. 1 Satz 1 SchriftZG Eigentümlichkeit Urheberrecht besondere individuelle, geistige Schöpfungshöhe § 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 UrhG Wahrnehmbare Formgestaltung Tabelle 5: Ökonomischer Nutzen der Innovation 4.1.4.2.3 Zu [3]: Interessenkonfliktlösung durch das Prioritätsprinzip Sowohl die nationalen Gesetzgeber als auch der europäische lösen den Konflikt zwischen dem Schutz des geistigen Eigentumsrechts und damit der Schaffung von Anreizen zu Innovation einerseits und der Vermeidung einer monopolistischen Marktstellung mit allen ihren Wettbewerbseinschränkungen andererseits mit Hilfe des sog. Prioritätsprinzips. Danach genießt nur derjenige ein vorrangiges, d.h. prioritäres, exklusives Schutzrecht, der seine Erfindung als erstes angemeldet oder dessen Eintragung veranlasst hat. Nur er kann - mit Hilfe seines exklusiven Schutzrechtes - alle anderen von der Nutzung seiner Innovation abhalten und so weitgehend vom Marktgeschehen ausschließen. So ökonomisch plausibel die Prioritätslösung zur Lösung des oben angegebenen Konfliktes auch sein mag, - verhilft sie doch nur dem schnelleren und damit leistungsfähigen Unternehmen zu einem erheblichen Marktvorteil - so führt das Prioritätsprinzip doch - speziell im Recht der Schutzes des geistigen Eigentums - zu einschneidenden und auch ökonomisch problematischen Folgen. Dies verdeutlichen folgende Beispiele: Beispiel 1 Das pharmazeutische Unternehmen A ist - wie sein Konkurrent B - seit mehreren Jahrzehnten und mit erheblichem Kostenaufwand bemüht, einen Impfstoff gegen Krebs zu entwickeln. Gelingt dem Unternehmen A diese Erfindung und lässt es sich mit dem geistigen Eigentumsschutzrechts eines Patents schützen, sind sämtliche Aufwendungen, die das Unternehmen B zur Erreichung des gleichen Zwecks getätigt hat, vollständig nutzlos. In der Praxis kann dies gerade im hoch kostenträchtigen Medizinbereich dazu führen, dass das Unternehmen B - aufgrund seiner milliardenschweren „Fehlinvestition“ - nicht mehr konkurrenzfähig bleibt und den Markt sogar dann verlassen muss, wenn es die gleiche spektakuläre Erfindung nur kurze Zeit nach der Patentanmeldung des A zum Patent hätte anmelden können. 215 215 Zu einer anderen Problematik, nämlich der Möglichkeit, speziell im Medikamenten-Handel Zwangslizenzen zuzulassen, siehe die Entscheidung eines indischen Gerichts, das Bayer zwang, sein <?page no="127"?> 128 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Posner verglich bereits 1987 diese Situation mit der einer erfolglosen Schatzsuche. 216 Der Sachverhalt fehlinvestierter Forschungs- und Entwicklungskosten stellt sich im Wettbewerb um Güter und Dienstleistungen anders. Beispiel 2 Der Obsthändler A hat sich am Markt etabliert und erzielt durch den Verkauf seines Handelsgutes eine Vergütung am Markt. Da - im Gegensatz zum Immaterialgüterrecht - nun kein Exklusivrecht auf alleinige Nutzung des Marktes existiert, kann der Obsthändler A keine anderen Konkurrenten vom Markt ausschließen oder diesen den Zugang zum Markt erschweren. Weitere Obsthändler werden folglich oft erhebliche Kosten (insbesondere in Form von Werbekosten) aufwenden, um ebenfalls auf dem Markt als Obsthändler tätig sein zu können. Mangels der Möglichkeit, Dritte vom Markt auszuschließen, werden ihre Marktzugangs-Investitionen daher nicht verloren sein. Die konkurrierenden Marktteilnehmer teilen sich bei dieser Sachlage die Marktgewinne, bis diese durch das Anwachsen des Auftretens immer neuer Konkurrenten immer geringer werden und dann die Verkaufstätigkeit des bzw. der zu teuer leistenden Anbieter deren Betriebskosten nicht mehr decken und diese zum Verlassen des Marktes zwingt. Bestehende Rechtsordnungen lösen den Konflikt fehlinvestierter Aufwendungen im Innovationenwettbewerb nicht. 217 Zur Lösung seien hier drei Lösungsansätze vorgestellt: Antizipierter geistiger Eigentumsschutz oder Anwartschaften am Immaterialgüterschutz Eine zumindest theoretische Lösung besteht in der quantitativen Minimierung des Konfliktpotentials. Dies kann in dem Vorverlegen des gesetzlichen Schutzes des geistigen Eigentums zeitlich bestehen. Das jeweilige Schutzrecht (Patent, Gebrauchsmuster) verleiht die zuständige Behörde nicht erst mit Vorliegen einer gemachten Erfindung, sondern bereits im Vorfeld ihrer Entstehung, nämlich bereits in der Erforschungs- und Entwicklungsphase. 218 Auf diese Weise erscheint es möglich, konkurrierende Innovatoren auszuschließen und Patent für ein Krebsmedikament einer indischen Firma zu überlassen. In: Deutsche Mittelstands- Nachrichten URL-Link: www.deutsche-mittelstands-nachrichten.de/ 2012/ 03/ 40072/ 216 Landes/ Posner: Trademark Law: An Economic Perspective. In: Journal of Law and Economics, Bd. 30 (1987), S. 265ff., 267f.; siehe dazu: Dam: Die ökonomischen Grundlagen des Patentrechts. In: Ott/ Schäfer (Hrsg.): Ökonomische Analyse der rechtlichen Organisation von Innovationen, 1994, S. 287ff., 295f. (m.w.H.) 217 Posner verweist auf eine US-amerikanische Regel, nach der der besonders engagierte Sucher eines aufgegebenen Eigentums andere vor ihrer Suche ausschließen kann. Posner: Economic Analysis of Law (4. Aufl.) New York 1992, S. 35 218 Rechtstechnisch entstünde dabei ein Anwartschaftsrecht auf geistigen Eigentumsschutz der später eingetragenen Innovation. <?page no="128"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 129 www.uvk-lucius.de/ innovation ihnen frühzeitig schädliche Anreize zur Fortsetzung ihrer Parallelforschung und damit zu Fehlinvestition zu nehmen. Eine solche Lösung ist aus verschiedenen Gründen unbrauchbar: Zum einen ist nicht gesichert, dass die antizipierte und bevorrechtigte Forschungsleistung auch tatsächlich zu einer innovativen - und damit eintragungsfähigen - Erfindung führen wird. Scheitern die Entwicklungsversuche des Bevorrechtigten, so hat dieser einerseits Fehlinvestitionen getätigt und andererseits - durch den Ausschluss seines Forschungskonkurrenten - die Entwicklung dessen Innovation verhindert. Bei dieser Lösung stellt sich die Frage, wann die Rechtsordnung einem Erfinder an einer bloßen Forschungstätigkeit ein prioritäres Ausschlussrecht gegenüber anderen Entwicklern einräumen soll. Oft ist nämlich im Verlauf der Entwicklung nicht eindeutig, welcher Forscher der erfolgreichste sein wird, d.h. wer seine Erfindung tatsächlich als Erster der Öffentlichkeit vorstellen kann. Die obige Lösung läuft zudem Gefahr, dass sie das Streben der Erfinder um die Realisierung der besten Entwicklung in kürzester Zeit einschränkt. Ein Innovationswettbewerb findet unter den Erfindern nicht mehr statt. Vielmehr offeriert diese Lösung dem Markt und seinen Beteiligten ökonomisch sinnlose Anreize, auf Parallelforschungen zu verzichten. Forschungsauktion Eine weitere Lösung der o.g. Problematik nutzlos aufgewandter Forschungstätigkeit - also die Option, eine Innovation erfolgreich anzumelden und damit exklusiv auf dem Markt zu bringen - ist, sie unter den Forschungskonkurrenten zu versteigern. 219 Eine Auktionslösung weist das exklusive „Forschungsrecht“ demjenigen zu, dem die Entwicklung der Innovation am meisten wert ist; sei es, dass er die geringeren Forschungs- und Entwicklungskosten als seine Konkurrenten veranschlagt, sei es, dass er sich einen höheren Innovationsgewinn als andere verspricht. Gegen diese Lösung stehen allerdings die schon oben vorgetragenen Kritikpunkte. Insbesondere schließt auch die Auktionslösung nicht aus, dass derjenige, dem das ausschließliche Forschungsrecht zugewiesen wird, dieses auch erfolgreich in eine Erfindung überführt. Ebenfalls spricht gerade nicht die Allokation des Forschungsrechts an den, der sich von dessen Ausübung am meisten verspricht, für ein ökonomisches bzw. juristisch gerechtes Resultat. Denn erstens erscheint die Einschätzung, ob ein Forschungsvorhaben gelingen wird oder nicht, nicht nur als spekulativ, sondern auch als subjektiv. Zweitens ist auch hier das Unternehmen im Vorteil, dass über die meisten finanziellen Mittel verfügt. Und daher einen Forschungsmisserfolg relativ (im Vergleich zu seinen Konkurrenten) leicht verkraften kann und somit nicht risikoavers auftreten muss. 219 Siehe Käufer: Innovationspolitik als Ordnungspolitik. In: Ott/ Schäfer (Hrsg.): Ökonomische Analyse der rechtlichen Organisation von Innovationen, 1994, S. 1ff. <?page no="129"?> 130 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Ferner lassen sich Innovatoren - insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen - von hohen Forschungs- und Entwicklungskosten abschrecken. Diese Kosten steigern noch die Ausgaben zur Ersteigerung der Erfindungsoption. 220 Forschungsgemeinschaften Als dritter weiterer Lösungsversuch bleibt die Organisation der Forschung in sog. Forschungsgemeinschaften. Nutzlos aufgewandte Forschungs- und Entwicklungskosten könnten mit Hilfe einer sog. Forschungsgemeinschaft dadurch umgangen werden, dass ein Mitglied der Gemeinschaft seine eigene Forschungstätigkeit einstellt und sich - quasi als Ausgleich hierfür - im Vorfeld von einem noch tätigen Forschungspartner der Kooperation Bezugsrechte - sog. Lizenzoptionen - an der zukünftigen Erfindung übertragen lässt. Die oben bereits geäußerte Kritik steht auch diesen und ähnlichen Modellen der gemeinsamen Forschungskooperation entgegen. Hinzu tritt der Umstand, dass die Ausgestaltung derartiger Forschungskooperation stark einem Submissionskartell gleicht. Submissionskartelle sind nach § 1 GWB und - aus europäischer Sicht - nach Art. 101 AEUV grundsätzlich verboten. Zwar besteht die Möglichkeit ihrer Freistellung, jedoch ist unklar, was genau die Kriterien zur Freistellung von kartellrechtlich agierenden Forschungsgemeinschaften sind. Der Forderung, derartige Kartelle vom Kartellrecht auszunehmen, 221 ist aufgrund der wettbewerbseinschneidenden und gerade auch der innovationsverhindernden Folgen von Forschungskartellen nicht bedenkenlos zu folgen. Überaus problematisch an der Konstruktion erscheint auch der Umstand, dass der Beteiligtenkreis der Forschungsgemeinschaft nicht abschließend feststeht. So können sich nicht die an diesem Kartell beteiligten Forscher auch mit der Erforschung der Innovation beschäftigen, nachdem die Partner der Forschungsgemeinschaft das Forschungskartell begründet haben. Der ökonomische Zweck des Forschungskartells ginge dann verlustig. 222 Auch rechtlich spricht in den europäischen Mitgliedsstaaten zum Großteil verfassungsrechtlich geschützte Forschungsfreiheit gegen einen solchen Vorschlag. Staatliche Forschungsförderung In dieser Situation verspricht allenfalls die Alternative der staatlichen Forschungsförderung Abhilfe. Staatliche Forschungsförderung könnte, insbesondere im Bereich der Grundlagenforschung, finanzielle Mittel zur Verfügung stellen und damit nicht nur den Forschungs- und Innovationswettbewerb, sondern auch den Leistungswettbewerb auf einem Markt aufrechterhalten. 220 Siehe auch: Aoki: R&D Competition for Product-Innovation: An endless Race. In: American Economic Review, 1991, Bd. 81, S. 252ff. 221 So insbesondere: Kirchner: In: Patentrecht und Wettbewerbsbeschränkungen. In: Ott/ Schäfer (Hrsg.): Ökonomische Analyse der rechtlichen Organisation von Innovationen, 1994, S. 157ff. 222 Ähnlich: Aoki: R&D Competition for Product-Innovation: An endless Race, In: American Economic Review, 1991, Bd. 81, S. 252ff.; Besen/ Raskind: An Introduction to Law and Economics of Intellectual Property. In: Journal of Economic Perspectives, 1991, Bd. 5, S. 3ff. <?page no="130"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 131 www.uvk-lucius.de/ innovation Allerdings stellt diese Maßnahme ebenfalls - nun in Form einer Beihilfezahlung - eine staatliche Einflussnahme auf die Forschungstätigkeit dar. Diese ist aber, nach Ansicht des Verfassers, zur Vermeidung der oben beschriebenen ökonomisch missliebigen fehlgeleiteten Forschungsaufwendungen 223 eher gerechtfertigt, als die drei bislang oben angedeuteten Alternativen. 4.1.4.2.4 Zu [4]: Private Verantwortung beim Schutz des geistigen Eigentums Eine inhaltlich qualifizierte Einschränkung des Rechts des geistigen Eigentums, die nötig ist, um einerseits den Innovatoren nicht notwendige Anreize zu Forschung und Entwicklung zu nehmen, andererseits diese nicht in die Lage zu versetzen, mit Hilfe ihres exklusiven Immaterialgüterrechts die Geschäftstätigkeit seiner Konkurrenten zu behindern und den Wettbewerb einzuschränken, erreicht eine Rechtsordnung auch dadurch, dass sie den Schutz des geistigen Eigentumsrechts in die Hand des Innovators selbst legt. Dieser kann dann entscheiden, ob und ggf. wie lange 224 er sein geistiges Eigentum aktiv schützen lassen will. Im Einzelfall kann es nämlich aus wirtschaftlichen Gründen für den Innovator nicht wünschenswert erscheinen, seine Innovation mit Hilfe staatlich gewährter Immaterialgüterschutzrechte schützen zu lassen. Wirtschaftlich sprechen im Wesentlichen zwei Kostengründe gegen einen Schutz des geistigen Eigentums: Prohibitive Eintragungs- und Verfahrenskosten Übersteigen die Kosten der Rechtseintragung den erwarteten Innovationsgewinn, so wird der Erfinder sein Recht nicht eintragen lassen wollen. Hier bleibt ihm lediglich die Möglichkeit, die Erfindung selbst zu produzieren und in Eigenproduktion zu vertreiben. In diesem Fall wird er die Innovation möglichst lange geheim zu halten versuchen, um so für eine möglichst lange Zeit den Gewinn aus diesem Vertrieb (sog. Innovationsprämie) ziehen zu können. 225 Rechenbeispiel Der Informatiker Dr. Kemper hat im Jahr 2013 für den Heimcomputer (Atari 400/ 800/ 1200/ 130/ XL/ XE) aus dem Herstellungsjahr 1985 eine Verbesserung des Laufwerksystems entwickelt. Der Typ des oben genannten Heimcomputers ist seit langem nicht mehr auf dem Markt und in allgemeinem Gebrauch. Lediglich einige Spezialisten verwenden noch heute diesen, aus heutiger Sicht „historischen“ Computertyp. Aus diesem Grunde kann Dr. Kemper seine patentierte Innovation an ein mittelständisches Unternehmen lediglich zu einem Geschäftsgewinn von 400 € verkaufen. Dr. Kemper fragt, ob er seine Erfindung patentieren lassen soll. 223 Siehe oben Kapitel: 4.1.4.2.3 (m.w.H.) 224 Zur Dauer der Schutzrechte und deren Verlängerung sie unten Kapitel: 4.2.5 225 Siehe oben Kapitel: 4.1.4.1 <?page no="131"?> 132 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Lösung Zur Frage, ob er seine Erfindung patentrechtlich schützen lassen will, muss er seinen erwarteten Innovationsgewinn gegen die anfallenden Patentgebühren aufrechnen. Nur wenn der Innovationsgewinn höher ausfällt als die Eintragungskosten, lohnt sich eine Patentierung seiner Erfindung. Die Höhe der vom DPMA erhobenen Patentgebühren überschätzen Patentanmelder leicht. Die Anmeldegebühr für ein Patent - Stand: 1. Oktober 2009 - beträgt 60 €, sofern die Anmeldung nicht in elektronischer, sondern in Papierform erfolgt. Die Gebühr für die Prüfung des Patents - die anfällt, wenn man keine vorjährige Patentrecherche beantragt hat - beträgt 350 €. Mit der Berechnung der eigenen Leistung zur Stellung des Patentantrages (Telefonate, Schreibmaterial, Schreibkraft, Post und Zustellungsgebühren etc.) in Höhe von circa 90 € erfordert die Stellung eines Patentantrages einen Aufwand von circa 500 €. Erst im dritten Jahr seit der Patentanmeldung fallen Jahresgebühren an; (für das 3. Jahr 70 €; für das 4. Jahr 70 €; für das 5. Jahr 90 €; für das 6. Jahr 130 €). In dieser Situation lohnt der Innovationsgewinn (400 €) den Anmelde-Aufwand (500 €) nicht. Dr. Kemper wird überlegen, ob er seine Idee dadurch nutzt, dass er Atari-Heimcomputer nun mit seiner Verbesserung herstellt und vertreibt. Einen solchen Innovationsgewinn kann er aber nur solange erzielen, solange seine Innovation nicht bekannt geworden ist. Denn als nicht geschütztes Allgemeingut steht sie dem Wirtschaftsverkehr ohne Weiteres offen. Anders stellt sich die Überlegung dar, wenn Dr. Kemper seine Erfindung nicht patentieren lassen will, sondern für sie beim DPMA Gebrauchsmusterschutz beantragt: Die Anmeldegebühr beträgt nur 40 €. Selbst die Recherche - die für die Eintragung des Rechtes zwar sinnvoll, aber nicht gesetzlich vorgeschrieben ist - kostet Herrn Dr. Kemper nur 250 €. Zusammen mit seinem eigenen Aufwand (circa 90 €) errechnen sich seine Rechtskosten auf 380 €. Seinen Kosten (380 €) steht somit ein Innovationsgewinn von 400 € gegenüber. <?page no="132"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 133 www.uvk-lucius.de/ innovation In dieser Situation wird sich Dr. Kemper für die Eintragung eines Gebrauchsmusterschutzes entscheiden. Erst nach drei Jahren entstehen weitere Gebühren für den Fall, dass Dr. Kemper sein Recht aufrechterhalten möchte: nach drei Jahren 210 €; nach sechs Jahren 350 €; nach acht Jahren 530 €. Spätestens nach drei Jahren ergibt sich somit ein anderer Kosten-/ Gewinnerwartungs-Saldo. Dr. Kemper wird dann kritisch zu überprüfen haben, ob sich bei den jetzt jeweils anfallenden Gebühren die Aufrechterhaltung des Schutzes seiner Innovation noch lohnt. Prohibitive Such- und Lizenz-Veräußerungskosten Hat der Innovator bereits einen Abnehmer für seine Innovation (Lizenznehmer) gefunden (obiges Beispiel), kann er mit einem festen Innovationsgewinn rechnen. Ferner fallen ihm keine zusätzlichen Kosten zur Vermarktung seiner Innovation an. Gerade Vermarktungskosten können derart hoch sein, dass sich ein Erfinder ernsthaft fragen muss, ob er seine Erfindung tatsächlich schützen lassen und an den Markt bringen will, oder ob er diese lediglich für seine Eigenproduktion verwenden möchte. Fälle hohen Vermarktungsaufwandes kommen in der Praxis insbesondere dann vor, wenn der Anwendungsbereich der Innovation derartig speziell ist, dass nur wenige Interessenten zur Verfügung stehen, und dem Innovator daher das Auffinden eines geeigneten, zahlungswilligen Nutzers (Lizenznehmers) nur unter großem Aufwand möglich ist. Prohibitive Durchsetzungskosten Prohibitiv hoch können insbesondere die Durchsetzungskosten von Schutzrechten sein. Auch diese können den Innovator davon abhalten, seine Innovation durch die Beantragung eines Immaterialgüterrechts schützen zu lassen. Denn der Rechtsinhaber muss seinerseits selbst aufklären, ob seine Rechtsposition verletzt wird, d.h. ob jemand dieses Recht widerrechtlich wirtschaftlich nutzt, ein inhaltlich gleichartiges Recht zur Eintragung bringen will oder die geschützte Idee kopiert. Merksatz Nur im Fall der Eintragung des Patentrechts oder des Sortenschutzes prüft das DPMA inhaltlich, ob die zu ihrer patentrechtlichen Eintragung angemeldete Innovation einer bereits eingetragenen Erfindung entspricht bzw. wesentlich gleicht. Bei den anderen Immaterialgüterrechten (Gebrauchsmuster, Halbleiter, Schriftzeichen, Geschmacksmuster) erfolgt vor der Eintragung keine inhaltliche oder materielle Prüfung [ 1] der Neuheit, bzw. Eigenheit, <?page no="133"?> 134 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation [2] der erfinderischen Leistung und [3] ihrer gewerblichen Anwendbarkeit der Innovation. Zur Eintragung dieses Rechts genügt lediglich die formelle Prüfung eventuell bestehender absoluter Eintragungshindernisse. Im Fall der inhaltlichen Beeinträchtigung eines Gebrauchsmuster-, Geschmacksmuster-, Halbleiter-, oder Schriftzeichenrechtes kann der Inhaber des früheren Schutzrechtes (sog. prioritäres Schutzrecht) in einem besonderen - von ihm zu beantragenden Löschungsverfahren - die Löschung des fremden, sein Recht beeinträchtigenden Schutzrechtes aus dem Register beantragen. Merksatz Um den Löschungsanspruch geltend machen zu können, muss der Rechtsinhaber selbst und auf eigene Kosten eruieren, ob ein neues Schutzrecht sein prioritäres Recht beeinträchtigen kann. Das Auffinden von Schutzrechtsverletzungen kann, je nach dem inhaltlichen Umfeld der Erfindung, dem Schutzrechtberechtigten extrem hohe Kosten verursachen: Nur geringe Suchkosten erfordern Erfindungen, deren spezieller Einsatzbereich inhaltlich eng umrissen ist. Beispielsweise lässt sich eine inhaltliche Kopie der gebrauchsmustergeschützten Spezialerfindung einer lichtdurchlässigen Schutzabdeckung für eine LCD-Rückstrahlleuchte leicht erkennen. Erhebliche Kosten beim Ermitteln der Schutzrechtsverletzungen entstehen daher nicht. Anders liegt der Sachverhalt, wenn die Innovation - wie in vielen Fällen - gerade wegen ihrer universellen Verwendbarkeit zahlreichen Anwendungsfällen zur Verfügung steht. Beispiel Das technische Verfahren einer staubdichten Versiegelung von Hohlräumen ist nicht nur bei Uhrgehäusen, sondern ebenfalls bei Medikamentenverpackungen, bei Elektro- und Gasmotoren, bei der Produktion von Leuchtstoffröhren bis Lebensmittelverpackungen anwendbar. Das Entdecken macht einer Nachahmung dieses Verfahrens, d.h. das Aufdecken der Beeinträchtigung des Patentschutzes in diesen Fällen in der Praxis weitaus schwieriger und damit kostenaufwändiger. Speziell im letztgenannten Fall können derartige Suchkosten derart prohibitiv hoch sein, dass der Innovator auf den Schutz seines geistigen Eigentums verzichten wird. Seine Erfindung wird dann zu einem Allgemeingut, das - da es ja ohnehin frei verfügbar ist - nicht im Wirtschaftsverkehr verkauft werden kann und damit nicht zum Ersatz des Erfindungsaufwandes zur Verfügung steht. <?page no="134"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 135 www.uvk-lucius.de/ innovation Merksatz Je spezieller der Anwendungsbereich der technischen Erfindung, desto geringer werden in der Praxis die Kosten der Feststellung ihrer (einer) Schutzrechtsverletzung(en) sein. Weder die deutsche noch die europäische Rechtsordnung greift die Problematik hoher Rechtsdurchsetzungskosten, insbesondere hoher Ermittlungskosten der Schutzrechtsverletzung, auf. Bei den Innovationen, deren Schutzrechtsverletzungen nur sehr schwer und kostenaufwändig zu ermitteln sind, handelt es sich in der Regel um Produkte der Grundlagenforschung. Wirtschaftssysteme egalisieren diesen ökonomisch nicht gewollten Unterschied der Kosten der Aufdeckung von Schutzrechtsverletzungen durch eine besondere staatliche Förderung der Grundlagenforschung. 226 Verlängerungsgebühren Auch mit dem Instrumentarium der Staffelung der Gebühren zur Aufrechterhaltung eines Schutzrechtes greift der Gesetzgeber in den oben beschriebenen Konflikt zwischen dem notwendig zu schützenden geistigen Eigentum des Innovators einerseits und der Gefahr des Entstehens wissensmonopolistischer Strukturen durch den exklusiven Schutz geistigen Eigentums andererseits steuernd ein. Innerhalb der Schutzdauer des jeweiligen Schutzrechtes 227 fordert der Gesetzgeber vom Rechtsinhaber nämlich weitere, in ihrer Höhe gestaffelte Gebühren zur Aufrechterhaltung seines bereits eingetragenen Schutzrechtes. Zahlt der Rechtsinhaber diese Gebühren nicht, verfällt sein Schutzrecht und die Erfindung steht somit als Allgemeingut allen Interessierten uneingeschränkt zur Verfügung. Immaterialgüterrecht Gebühr zur Aufrechterhaltung des Schutzrechts Patent im 3. Patentjahr 70,00 € im 4. Patentjahr 70,00 € im 5. Patentjahr 90,00 € im 6. Patentjahr 130,00 € Gebrauchsmuster nach 3 Jahren 210,00 € nach 6 Jahren 350,00 € 226 Dazu siehe oben Kapitel: Staatliche Forschungsförderung (m.w.H.) 227 Dazu siehe unten Kapitel: Zur zeitlichen Begrenzung des Immaterialgüterschutzrechtes <?page no="135"?> 136 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation nach 8 Jahren 530,00 € Pflanzensorten je nach Sorte/ Art und Folgejahr (Bekanntm. Nr. 19/ 09 des Bundessortenamts über Gebühren v. 01.12.2009) 50 - 900 € Geschmacksmuster für 6. bis 10. Schutzjahr 90 € für 11. bis 15. Schutzjahr 120 € für 16. bis 20. Schutzjahr 150 € für 21. bis 25. Schutzjahr 180 € Tabelle 6: Staffelung der Schutzrecht-Verlängerungsgebühren (Stand 2012) Beispiel Erwartet der Rechtsinhaber eines Patents, dass der Gewinn aus seiner Erfindung im 6. Patentjahr (neben den Anmeldebzw. Eintragungs- und den Rechtsdurchsetzungskosten 228 ) die Kosten von 130 € nicht mehr decken wird, so wird er auf die Kostenzahlung verzichten und damit den Patentschutz einstellen. Er kann dann keinen anderen Nutzungswilligen von der Nutzung dieser Innovation mehr ausschließen. Der Innovator beendet - nach seinem eigenen Entschluss - sein bisheriges Wissens- Monopol. Er kann daher andere nicht mehr von der Nutzung dieses Wissens ausschließen. Dies steigert die Wettbewerbsfähigkeit seiner Konkurrenten und führt zu einer ausgeglichenen Wettbewerbssituation mit allen ihren ökonomischen Vorteilen. Ähnliche Möglichkeiten bietet auch der Verzicht des Rechtsinhabers auf sein Schutzrecht (siehe: Patent § 20 Abs. 1 PatG; Gebrauchsmuster § 23 Abs. 3 GebrMG; Sorten § 31 .SortSchG; Geschmacksmuster 36 Abs. 1 2 und Abs. 2 GschmMG) und der Verfall des Schutzrechts durch dessen Nichtgebrauch innerhalb einer gesetzlich bestimmten Frist (§ 5 Abs. 4 HalblSchG; siehe auch Patent § 24 Abs. 5 PatG; Gebrauchsmuster § 20 Abs. 1 GebrMG i.V.m. § 24 PatG). 228 Dazu siehe oben Kapitel: Prohibitive Eintragungs- und Verfahrenskosten - Beispielsfall <?page no="136"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 137 www.uvk-lucius.de/ innovation 4.1.4.2.5 Zu [5]: Einschränkung der Monopolwirkung des Schutzrechtes durch seine zeitliche Einschränkung Den wirksamsten Einfluss auf die Lösung des bestehenden Konfliktes zwischen dem Erfinderschutz und der Vermeidung monopolistischer Wissens- und Marktvorteile bietet der Gesetzgeber dadurch, dass er die Exklusivität der Schutzrechte - d.h. deren Möglichkeiten, jeden Dritten von ihrem Gebrauch auszuschließen - zeitlich begrenzt. Zur zeitlichen Begrenzung des Immaterialgüterschutzrechtes Die Schutzdauer einzelner Schutzrechte ist sehr unterschiedlich. Sie passt sich vorrangig den technischen, natürlichen Gegebenheiten (beim Patent und Sortenschutz), dem wirtschaftlichen Entwicklungsaufwand und insbesondere - wie speziell beim Urheberrecht - der persönlichen Bindung des Werkherstellers zu seinem Werk an, und reicht von 10 Jahren beim Gebrauchsmusterrecht (gerechnet ab der Anmeldung des Schutzrechtes) bis zu 30 Jahren bei einigen Sorten geschützter Pflanzenarten oder bis zu 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers beim Urheberrecht. Immaterialgüterrecht Schutzdauer Normen Patent 20 Jahre (seit Anmeldung) +5 Jahre Verlängerung (seit Auslaufen) § 1 Abs. 1 PatG; 16a Part i.V.m. Art. 13 Abs. 1 VO 1610/ 96 od. 13 Abs. 1 VO 469/ 2009 Gebrauchsmuster 10 Jahre (seit Anmeldung) § 23 GebrMG Halbleiter 10 Jahre (seit geschäftlicher Verwertung) § 5 Abs. 2 HalblSchG; Pflanzensorten 25 Jahre: bei Hopfen, Kartoffel, Rebe und Baumarten (seit Eintragung) sonst 30 Jahre (seit Eintragung) § 13 SortSchG Geschmacks- 25 Jahre (seit Anmeldung) § 27 GeschmMG Schriftzeichen 10 Jahre (seit Anmeldung) + 5 bis max. 25 Jahre Verlängerung (seit Auslaufen) Art. 2 Abs. 4 SchriftZG Urheberrecht 70 Jahre (nach Tod des Urhebers) § 64 UrhG Tabelle 7: Gesetzliche Schutzdauer des Rechts Zur Erschöpfung des Immaterialgüterschutzes Mehr noch als in den gesetzlichen Fristen zur Limitierung des Schutzes von Immaterialgüterrechten manifestiert sich der ökonomische Konflikt zwischen der Notwendigkeit des Schutzes geistigen Eigentums einerseits und der Unberührtheit des Marktes von <?page no="137"?> 138 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation wettbewerbsbeeinträchtigenden Wissensmonopolen andererseits 229 in dem Grundsatz der „Erschöpfung von Immaterialgüterrechten“. Der Erschöpfungsgrundsatz grenzt nämlich zeitlich die Möglichkeit des Rechtsinhabers eines Immaterialgüterrechts ein, jeden Dritten von der Nutzung seines Rechtes auszuschließen. Denn der Erschöpfungsgrundsatz versagt dem Schutzrechtsinhaber, sich auf seinen exklusiven Schutz seiner Innovation dann zu berufen, wenn er diese freiwillig in den Wirtschaftsverkehr gebracht hat. Veräußert also der Schutzrechtsinhaber ein mit seinem Schutzrecht hergestelltes Produkt, ist hiermit sein Immaterialgüterrechtsschutz erschöpft. Der ökonomische Hintergrund des Erschöpfungsgrundsatzes liegt darin, dass der Rechtsinhaber mit dem erstmaligen Inverkehrbringen seines innovativen Produktes einen „Lohn“ bereits erhalten hat. Immaterialgüterrecht Erschöpfungsgrundsatz Patent Rspr. (BGH GRUR 80, 38f.; BGH GRUR 73, 518ff., 520; BGH GRUR 59, 232f. Speziell bei patentiertem biologischem Material: § 9b PatG Gebrauchsmuster § 13 Abs. 3 GebrMG (Rechtsprechung: (z.B.: Urteil des OLG Düsseldorf vom 08.10.2008 VI-U (Kart) 42/ 06)) Halbleiter § 6 Abs. 5 HalblSchG Pflanzensorten § 10b SortSchG Geschmacksmuster §§ 48 GeschmMG Schriftzeichen Verweis auf die GschmMG Art. 2Abs. 1 SchriftZG Urheberrecht §§ 17 Abs. 2; (§ 87b Abs. 2) 69c 3 Satz 2 UrhG Tabelle 8: Die Erschöpfung des geistigen Eigentumsrechts im deutschen Recht Fall Herrn Stroop gelingt die Erfindung und Patentierung technisch revolutionärer, da nur 5 Gramm schwerer, Mini-Akkus zum Dauerbetrieb von PCs. Mit einem Patent versehen, stellt er diese neuen Mini-Akkus her und verkauft sie in hoher Stückzahl. Der Käufer eines oder mehrerer Mini-Akkus hat die Möglichkeit - ohne Zustimmung des Patentinhabers - die Mini-Akkus an Andere weiterzuverkaufen. Gegenüber den Käufern kann sich der Patentinhaber, zur Vermeidung der Weiterverkäufe, nicht (mehr) auf sein Exklusivrecht des Patents berufen, nachdem er die Mini-Akkus selbst freiwillig in den Wirtschaftsverkehr gebracht hat. 229 Siehe oben Kapitel: 4.1.4.2.1 und Kapitel: 4.1.4.2.2 <?page no="138"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 139 www.uvk-lucius.de/ innovation Fall Ändert sich an dem Ergebnis etwas, wenn Herr Stroop seine Erfindung nicht selbst produziert, sondern Frau Sanow die Herstellung der Mini-Akkus übernimmt? Lösung Am Ergebnis ändert sich im Wesentlichen nichts: Herr Stroop hat - durch Erteilung einer entsprechenden Lizenz - die Verwertung und wirtschaftliche Nutzung seines Erfindungsrechts an Frau Sanow übertragen. Damit ist nicht mehr er, sondern Frau Sanow Inhaber des geistigen Schutzrechts, des Patents. Bringt Frau Sanow die Mini-Akkus in den Wirtschaftsverkehr, so erschöpft sich ihr Recht auf den Ausschluss jedes Dritten von der Verwertung ihres Patents. Merksatz Die Geltung des Erschöpfungsgrundsatzes kann der Inhaber des Schutzrechts auch vertraglich nicht ausschließen. 230 Voraussetzung der Rechtserschöpfung ist ein freiwilliges „Inverkehrbringen“ des Produktes. Daran fehlt es, wenn das Produkt dem Inhaber des Schutzrechts abhandenkommt und dann der Dieb oder Finder es in den Verkehr bringt. Hätte Frau Sanow den Mini-Akku anlässlich eines Verkaufsgespräches verloren, dürfte ihr Gesprächspartner den patentierten Mini-Akku weder nachbauen noch veräußern (§ 139 Abs. 1 i.V.m. § 9 PatG). Hierzu fehlt dem Gesprächspartner die Erlaubnis (Lizenz). Frau Sanow steht nun gegen den Nachbauer ein Schadenersatzanspruch (§ 139 Abs. 2 PatG) und, bei Wiederholungsgefahr, ein Unterlassenanspruch (§ 139 Abs. 1 PatG) zu. Ihr Recht, jeden Weiterverkauf zu verhindern (§ 9 Satz 1 1 PartG), ist nicht etwa erloschen, denn sie hat den Mini-Akku nicht freiwillig in den Verkehr gebracht. Merksatz Der Erschöpfungsgrundsatz gilt nur auf der Stufe der Handlung, die zu der Rechtserschöpfung geführt hat. So kann sich der Rechtsinhaber - nach seinem Verkauf des aufgrund seines Rechtes produzierten Gutes - nicht mehr auf den gesetzlichen Schutz seines geistigen Eigen- 230 BGH: GRUR 2010, S. 822 (m.w.H.); BGH GRUR 2001, S. 153; LG Hamburg: ZUM 2007, S. 159 <?page no="139"?> 140 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation tums berufen, um dadurch den Weiterverkauf des Produktes zu verhindern. Eine durch den Vertrieb des Produktes eintretende Rechtserschöpfung rechtfertigt allerdings nicht die Nachahmung oder Verfälschung dieses Produkts. Beispiel Der Verkauf des Medikaments X-PLEX an einen japanischen Importeur und Großhändler berechtigt diesen - nach dem Erschöpfungsgrundsatz - zum Weitervertrieb dieses Medikaments, ohne für jeden einzelnen Weiterverkauf entsprechende Gebühren an den Erfinder des Medikaments zahlen zu müssen. Hierfür (abgedeckt) hat der Vertreiber ja schon seine Verkaufsgebühr vom Weiterverkäufer erhalten. Nicht aber berechtigt der Weiterverkauf des Medikaments japanische Unternehmen zum Kopieren dieses Produktes und zum wirtschaftlichen Weiterverkauf dieses Plagiats. Der Erschöpfungsgrundsatz gilt auch nur für das konkrete Produkt, dass der Rechtsinhaber in den Verkehr gebracht hat; nicht aber für andere, möglicherweise gleichartige Produkte des Herstellers. Einen diesbezüglich aufschlussreichen Fall hatte das Landgericht München I zu entscheiden. 231 Fall: LG München I vom 4. April 2008 (Az. 30 O 8684/ 07) Der Entwickler von Software, Microsoft, hatte die Befugnis zur Nutzung all ihrer Einzelfunktionen gebündelt in sog. Volumenlizenzverträgen verkauft. Der Käufer beabsichtigte, einzelne Lizenzen aus diesem Paket weiterzuverkaufen. Dies untersagte Microsoft. Erlöschen könne - so die Ansicht Microsofts - nur das von Microsoft freiwillig in den Verkehr gebrachte Produkt, nämlich das zuvor im Rahmen von Volumenlizenzverträgen abgegebene Bündel von Lizenzen, denn nur hierfür habe Microsoft eine Kaufvergütung erhalten. Für die Abgabe von Einzellizenzen bedürfe es daher noch der (entgeltlichen) Zustimmung Microsofts. Diese sehr formale Sicht teilt das Gericht nicht. Einzellizenzen sind Bestandteile des mit dem Volumenlizenzvertrag in den Markt gegebenen Gesamtbündels an Nutzungserlaubnissen. Aus diesem Grund bezieht sich der Erschöpfungsgrundsatz nicht nur auf das Paket an Lizenzen, sondern auf jede einzelne. Eine weitere kostenpflichtige Zustimmung zu dem Weiterverkauf einzelner Rechte brauchte daher Microsoft nicht mehr abzugeben. 232 Gerade in der Praxis des internationalen Rechtsverkehrs nimmt der Erschöpfungsgrundsatz eine zentrale Bedeutung ein. Zahlreiche internationale Rechtsvorschriften kennen daher den Erschöpfungsgrundsatz, z.B.: EU-Sortenschutz 16 VO 2100/ 94; Pflanzenzüchtungen = Art. 16 Intern. Abkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (PflanzZüG); EU-Geschmacksmusterschutz = VO 6/ 2002; sämtliche Rechte des gewerblichen Eigentums (Art. 6 TRIPS 233 ). 234 231 Siehe auch: MMR 2008, S. 563 232 Auch das LG Hamburg urteilte am 29. Juni 2006 (315 O 343/ 06) - siehe: ZUM 2007, S. 159 233 BGBl. II 1994, S. 1565, 1730; BGBl. II 1994, S. 1438; BGBl. II 1995, S. 456 <?page no="140"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 141 www.uvk-lucius.de/ innovation Erschöpfungsgrundsatz und Stabilisierung des Binnenmarkts Der EuGH wendet den Erschöpfungsgrundsatz nicht nur auf den oben wiederholt geschilderten ökonomischen Konflikt zwischen dem Erfindungsrecht und dem unbehinderten Wettbewerb an. Vielmehr nutzt der EuGH den Erschöpfungsgrundsatz auch, um dem Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit auf dem Europäischen Binnenmarkt ausreichend Geltung zu verschaffen. Hat nämlich der Inhaber die Lizenz mit einer sog. Gebietsschutzklausel versehen, d.h. erlaubt er den Weiterverkauf nur insofern dieser in den geografischen Grenzen eines bestimmten Markes erfolgt, so schottet der Lizenzinhaber die einzelnen Märkte geographisch ab. Der Transfer von Gütern unter den abgeschotteten Märkten ist - entsprechend der Gebietsschutzklausel - nicht möglich. Dieser Sachverhalt verstößt dann gegen die europäische Warenverkehrsfreiheit, die die ungehinderte Zirkulation von Waren im gesamten europäischen Binnenmarkt nach Art. 34ff. AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) garantiert. Oft besteht das Bedürfnis, die widerstrebenden Interessen (der Warenverkehrsfreiheit einerseits und die des sie einschränkenden rechtfertigenden Grundes andererseits) möglichst nebeneinander zur Geltung zu bringen. So ist es insbesondere auch beim geistigen Eigentum und seinem Schutz. Zwischen diesen beiden Interessengegensätzen, dem Schutz des geistigen Eigentums einerseits und der Warenverkehrsfreiheit andererseits, nimmt der EuGH insbesondere seit dem Fall Centrafarm I eine interessante Abwägung vor und kommt zu folgendem Ergebnis: Fall: Centrafarm I: EuGH v. 20. 5. 1976 (Rs. 104/ 75) Officier van Justitie gegen Adrian de Peijper, Geschäftsführer der Firma Centrafarm B.V. und Intercen B.V., Slg. 1976, S. 613 235 Das niederländische Unternehmen Centrafarm B.V. erwarb von einem englischen „Lizenznehmer“ des Schweizer Konzernunternehmens Hoffmann La Roche das Medikament „Valium“. Centrafarm B.V. beabsichtigte, dieses Medikament in die Niederlande einzuführen, um es auf dem niederländischen Markt - unter der Bezeichnung „Valium“ - verkaufen zu können. Auf dem niederländischen Markt vertreiben bereits der Schweizer Konzern Hoffmann La Roche bzw. deren niederländischer Lizenznehmer das Medikament unter dem für sie geschützten Warenzeichen „Valium“. Da Centrafarm B.V. nicht die für eine Einfuhr in die Niederlande erforderlichen Kontrollzeugnisse für die Menge Valium vorlegen konnte [Kontrollzeugnisse sind nur vom Hersteller (der schweizerischen Hoffmann La Roche) auszustellen], verweigerten die niederländischen Behörden eine Einfuhr dieses Valiums. 234 Zur Bedeutung der internationalen Immaterialgüterschutzrechte im Einzelnen siehe unten Kapitel: 1.5 (m.w.H.) 235 Siehe auch: EuGH Slg. 1974, S. 1147, 1163 = GRUR Int. 1974, S. 454ff.; EuGH Slg. 1981, S. 2063, 2080 = GRUR 1982, S. 47f. EuGH, EuGH Slg. 1985, S. 2281ff., 2298 = GRUR Int. 1985, S. 822ff.; EuGH Slg. 1996, S. 6371, 6384 = GRUR Int. 1997, S. 250ff.; EuGH Slg. 1997, S. 3954, 3961f. = GRUR Int. 1997, S. 911ff., 912 <?page no="141"?> 142 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Das niederländische Einfuhrverbot bildet einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV. Denn die Importuntersagung greift tatsächlich und unmittelbar in die Möglichkeit des grenzüberschreitenden Warenaustausches ein. Der Einwand des Herstellers Hoffmann La Roche, es bestehe ein exklusives Schutzrecht (hier das Warenzeichenrecht), wäre grundsätzlich möglich, um den ausschließlichen Schutz von Hoffmann La Roche zu gewährleisten. Das kommerzielle (geistige) Eigentum stellt nach Art. 36 AEUV sogar einen eigenen Rechtfertigungsgrund für einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit dar. Denn ohne seinen europaweiten exklusiven Schutz könnten Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen nicht amortisieren. Sie verlören ihre Motivation zur Forschung und Produktentwicklung. Gebietsabsprachen, welche den Vertrieb eines lizenzierten Produktes in einem bestimmten Territorium schützen, müssen daher auch dann zulässig sein, wenn sie sich auf das Gebiet eines Mitgliedstaates beziehen. Auf der anderen Seite darf der Schutz des geistigen Eigentums nicht dazu führen, dass Unternehmen bzw. Inhaber von Warenzeichen den Markt mittels ihrer Rechte, d.h. durch Lizenzen, abschotten. In diesem Fall wäre nämlich für die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV kein Raum. Der EuGH löst diesen Konflikt unter Berufung auf den Erschöpfungsgrundsatz: Solange der Hersteller das geschützte Produkt noch nicht freiwillig auf den Markt gebracht hat, besteht sein Schutz. Sobald aber das Herstellerunternehmen selbst das Medikament „Valium“ auf den Europäischen Binnenmarkt bringt, ist sein Schutz auf dem Europäischen Binnenmarkt erschöpft (sog. Erschöpfungsgrundsatz). Das Immaterialgüterrecht steht somit nicht mehr der Anwendung der Warenverkehrsfreiheit entgegen. Hoffmann La Roche konnte sich folglich gegenüber dem Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit nicht mehr auf den Schutz seines geistigen Eigentums in den Niederlanden berufen. Parallelimporte desselben Medikamentes in die Niederlande durch das Unternehmen Centrafarm B.V. waren daher zulässig. 4.1.4.2.6 Zu [6]: Die Erteilung von Zwangslizenzen Als „Zwangslizenz“ bezeichnet das Gesetz (siehe: § 24 Abs. 1 PatG) die Erlaubnis zur nicht-ausschließlichen Nutzung des Gegenstandes eines geistigen Eigentumsschutzrechts. Die Möglichkeit, Zwangslizenzen zu erteilen, ergibt sich insbesondere für Patente, Gebrauchs- oder Geschmacksmuster, Halbleiter, für eine geschützte Sorte oder urheberrechtlich geschützte Werke. Die Zwangslizenz erteilt ausschließlich die zuständige Schutzbehörde (z.B. das DMPA). a. Die Erteilung einer Zwangslizenz hebt die Möglichkeit des Innovators auf, Dritte von der Erfindung auszuschließen. Mit dem Zugang zu einer fremden geistigen Leistung sichert der Staat einerseits den Wettbewerb, denn jetzt kann der Rechtsinhaber seine Konkurrenten nicht mehr von der Innovation ausschließen. <?page no="142"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 143 www.uvk-lucius.de/ innovation Beispiele Ein Beispiel hierfür wäre ein Fuzzy-Logik-gesteuertes Computerprogramm, das Kollisionen selbst von führerlosen Nicht-Schienenfahrzeugen (Pkw, Lkw) verhindert, oder ein PC-Programm, das den Bedarf und die Verschreibung von Apotheken und Arztpraxen und damit deren Vertriebsverhalten mit 89%iger Zuverlässigkeit mittels einer „verdeckten“ monatlichen Datenabfrage in dem System der ihm angeschlossenen Einrichtungen ermittelt. b. Die Erteilung einer Zwangslizenz dient aber andererseits oft auch der Erreichung dringender gesundheitspolitischer oder humanistischer Maßnahmen. Beispiel Die Erteilung einer Zwangslizenz für ein (teures) AIDS-Medikament erfolgt beispielsweise zugunsten eines sog. Entwicklungslandes, um die sonst anfallenden Lizenzkosten für dieses Medikament drastisch zu senken und so die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Unabhängig davon, welcher der beiden oben angegebenen Alternativen vorliegt, stellt die Erteilung einer Zwangslizenz immer einen Eingriff in das Recht des Innovators dar. Dieser staatliche Eingriff kann allen Teilnehmern eines Rechts- und Wirtschaftssystems Anreize vermitteln, ihre Forschungs- und Entwicklungstätigkeit zu beschränken oder ganz einzustellen. Ein diesbezüglich anschauliches Beispiel bildet der Fall Nexavar. 236 Fallstudie Nexavar Der Konzern Bayer entwickelte kostenaufwendig das patentrechtlich geschützte Krebsmedikament „Sorafenib“ und verkauft dies unter dem Handelsnamen „Nexavar“. „Nexavar“ unterbindet die Blutzufuhr zu Krebszellen und verlangsamt deren Wachstum. Es findet besondere Anwendung zur Behandlung von fortgeschrittenem, nicht mit Standardtherapien zu behandelndem Nierenkrebs und zur Behandlung von Leberzellkarzinomen (HCC). Ein indisches Patentgericht räumte dem indischen Konkurrenten, „Natco Pharma“, mit der Begründung, die notleidende Bevölkerung Indiens mit diesem Medikament versorgen zu können, eine Zwangslizenz an „Nexavar“ ein und verpflichtete somit Bayer, sein Patent an „Nexavar“ an „Natco Pharma“ zu übertragen. Die Zwangslizenz ermöglicht es indischen Herstellern, das Originalmedikament billiger herstellen und vertreiben zu können, wenn indische Unternehmen die hierfür sonst notwendige Lizenz erwerben müssten. Bayer enthält als Aus- 236 Zwangslizenz: Bayer muss Patent für Krebsmedikament an indische Firma weitergeben. In: Deutsche Mittelstands Nachrichten 17.03.12, auch URL-Link: http: / / www.deutsche-mittelstands-nachrichten.de/ 2012/ 03/ 40072/ (Stand 14.5.2010) <?page no="143"?> 144 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation gleich seines Entwicklungsaufwandes lediglich eine im Vergleich zu den üblichen Vertriebsbedingungen geringe, umsatzabhängige Lizenzgebühr. Allein diese Entscheidung hat erhebliche ökonomische Auswirkungen. Zwar scheint sich die Entscheidung noch in den zugegebenermaßen sehr weit gesteckten internationalen Grenzen der Erteilung von Zwangslizenzen zu halten (Art. 31f. TRIPS 237 ); obgleich es verwunderlich ist, dass sich Indien, als zukünftige Industrienation und aufstrebende Atommacht, auf den Umstand berufen darf, dass seine arme Bevölkerung das Medikament „Nexavar“ nicht bezahlen könne. Jedoch sieht sich diese Entscheidung ernstzunehmender wirtschaftlicher Kritik ausgesetzt. Der Erteilung der Zwangslizenz steht nämlich der immense Kostenaufwand, den Bayer jahrelang für die Forschung und Klinikerprobung ausgegeben hat, gegenüber. Diese Kosten lassen sich auch kaum durch die zugesagte umsatzabhängige Lizenzgebühr kompensieren. Insbesondere besteht die begründete Gefahr, dass der Schaden des Innovators Bayer ausufert. Der Zwangslizenznehmer kann das Medikament „Nexavar“ nicht nur billiger herstellen und auf dem indischen Markt vertreiben. Da Indien die Umsetzung und Kontrolle international patentrechtlicher Regelungen - wie etwa das TRIPS - nur zögerlich ausführt, besteht die Gefahr, dass einzelne indische Medikamentenhersteller und -vertreiber das Medikament „Nexavar“ nicht nur dem indischen Markt zur Verfügung stellen, sondern es - unter Ausnutzung ihres Marktvorteils - auf zahlreichen internationalen Märkten konkurrenzlos günstiger anbieten und gewinnbringend verkaufen. Bereits jetzt überlegt Bayer seine Finanzmittel zur Entwicklung neuer Medikamente erheblich zu reduzieren und sich geschäftlich stärker auf den Vertrieb von Saatgut und Pflanzentechnologien zu konzentrieren. Auch der weltweit operierende Pharmakonzern Pfizer gab - als Reaktion auf die Erteilung der Zwangslizenz - an, sein kostenaufwendiges Engagement zur Entwicklung von Krebsmedikamenten deutlich herabzusetzen. Sollte das Urteil des indischen Gerichts juristisch nicht durch Rechtsmittel aufgehoben werden können, so droht der Rückgang von Innovationen auf dem Arzneimittelmarkt. Damit träte - und zwar weltweit - die gegenteilige Wirkung ein, mit der das indische Gericht die Erteilung der Zwangslizenz begründet. Die obige Fallstudie verdeutlicht ebenfalls, wie schnell und sensibel Innovationsmärkte auf die Ausgabe von Zwangslizenzen reagieren. Erfolgt die „Vergesellschaftung“ des geistigen Eigentums - in Gestalt der Erteilung einer Zwangslizenz - unmittelbar nach der Marktreife der Innovation oder sind dessen Entwicklungskosten sehr hoch, kann der Innovator seine Kosten noch nicht einmal 237 BGBl. II 1994, S. 1565, 1730; BGBl. II 1994, S. 1438; BGBl. II 1995, S. 456; zum Internationalen Recht des geistigen Eigentumsschutzes siehe unten Kapitel: 1.5 (m.w.H.) <?page no="144"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 145 www.uvk-lucius.de/ innovation vollständig durch das zwischenzeitliche Marktergebnis (Pionierprämie) kompensieren. In diesem Fall sehen zahlreiche Rechtsordnungen daher eine notwendige Entschädigungszahlung der Zwangslizenznutzer vor. Im deutschen Recht erfolgt eine angemessene Entschädigung des Innovators. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ ist - aus den hier aufgerufenen ökonomischen Gründen - so zu bemessen, dass die Entschädigungshöhe zumindest den Entwicklungsaufwand des Erfinders deckt. Immaterialgüterrecht Voraussetzungen Normen Vergütung Verfahren Patent erfolgloses Bemühen des Nutzungswilligen um Erhalt der Nutzungserlaubnis und nicht bestehende Verwertungsmöglichkeit bei Erfindung von erheblichem wirtschaftlichem Wert § 24 Abs. 1 PatG § 24 Abs. 2 PatG + § 24 Abs. 6 Satz 4 (angemessen nach wirtschaftlichem Wert des Patents) § 81ff. PatG Erteilung Zwangslizenz im öffentlichen Interesse Nichtausübung oder nur geringfügige Nutzung des Patents im Inland und Öffentliches Interesse, hier: Zwangslizenz nötig zur Sicherstellung um ausreichende Versorgung des Inlandsmarktes § 24 Abs. 5 PatG Gebrauchsmuster erfolgloses Bemühen des Nutzungswilligen um Erhalt der Nutzungserlaubnis und Verwertungsunmöglichkeit bei biologischen Erfindung von erheblichem wirtschaftlichem Wert § 20 GebrMG i.V.m. § 24 Abs. 1 § 20 GebrMG i.V.m. § 24 Abs. 2 + § 20 GebrMG i.V.m. § 24 Abs. 6 Satz 4 (angemessen nach wirtschaftlichem Wert des Gebrauchsmusters) § 20 GebrMG i.V.m. § 81ff. PatG Erteilung Zwangslizenz im öffentlichen Interesse Nichtausübung oder nur geringfügige Nutzung des Gebrauchsmusters im Inland und Öffentliches Interesse, hier: § 20 GebrMG § 24 Abs. 5 PatG <?page no="145"?> 146 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Zwangslizenz nötig zur Sicherstellung um ausreichende Versorgung des Inlandsmarktes Halbleiter erfolgloses Bemühen des Nutzungswilligen um Erhalt der Nutzungserlaubnis und Verwertungsunmöglichkeit bei biologischen Erfindungen von erheblichem wirtschaftlichem Wert § 24 Abs. 4 PatG + § 24 Abs. 6 Satz 4 (angemessen nach wirtschaftlichem Wert der Erfindungen) § 81ff. PatG Öffentl. Interesse, hier: Beseitigung eines festgestellten wettbewerbswidrigen Verhaltens Pflanzensorten Keine oder nicht genügende Einräumung der Nutzung an Sorten- Innovation und Verwertungsunmöglichkeit biologischer Erfindungen von erheblichem wirtschaftlichem Wert § 12 Sort- SchG § 12a SortSchG i.V.m. Art. 12 Rl. 98/ 44 + § 12 Abs. 1 Satz 2 Sort- SchG + § 12a Abs. 1 Satz 2 Sort- SchG § 18 Abs. 1 5; §§ 21ff. Sort- SchG Erteilung Zwangsnutzung im öffentlichen Interesse Urheber Sonderfall: nur für Tonträgerhersteller in Bezug auf Musikwerk oder Sprach- / Musikwerk. nicht, wenn Urheberrechte von Verwertungsgesellschaft wahrgenommen oder Werk nicht mehr der Urheber- Überzeugung entspricht (ggf. Rückruf von Nutzungsrechten) Nicht zur Herstellung eines Films. 42a UrhG 42a UrhG (unter angem. Bedingung) 42a Abs. 6 örtliche Zuständigkeit bei Klage Tabelle 9: Erteilung einer Zwangslizenz 4.1.5 Internationales Immaterialgüterschutzrecht Merksatz Das Recht des geistigen Eigentums gilt nur in dem Land, in dem der Innovator das Immaterialgüterrecht eingetragen bzw. angemeldet hat. Im Fall eines urheberrechtlichen Werkes greift das nationale Gesetz jenes Landes (z.B. Deutschland) ein, dessen Staatsangehörigkeit der Urheber besitzt (§ 120 UrhG). <?page no="146"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 147 www.uvk-lucius.de/ innovation Die jeweilige territoriale Geltung nationalen Immaterialgüterschutzrechts führt dazu, dass ein in Deutschland erteiltes Patent nicht in Frankreich oder den USA gilt. Mit der Zunahme der Europäisierung und Internationalisierung der Märkte, d.h. mit ihrer weltweiten Verflechtung, nimmt das Bedürfnis zu, den Schutz des geistigen Eigentums weltweit zu organisieren. So sind Schutzrechtsverletzungstatbestände wie Raubkopien, Plagiate, Produkt- Piraterie und Parallelimporte gerade keine auf den nationalen Markt beschränkten Tatbestände. Diese Phänomene treten besonders vielfältig auf den internationalen Arzneimittel-, Möbel-, Auto- und Unterhaltungselektronikmärkten auf. Gerade urheberrechtlich geschützte Werke, wie insbesondere Kompositionen und Musiksendungen, beschränken sich gerade nicht ihrem Wesen nach auf regionale oder nationale Märkte, sondern strahlen in internationale Märkte aus. Schon früh, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entstanden vielfältige Versuche, den Schutz der Innovationstätigkeit weltweit einheitlich zu organisieren. Das bis heute angestrebte Ziel ist die Schaffung eines einheitlichen Schutzrechtes, das dem Innovator - unabhängig seines Wohnsitzes, seiner Nationalität oder des Ortes, an dem die Erfindung vorgenommen wurde - weltweit die gleichen Schutzrechte verleiht. Speziell durch die Legalisierung der Bedingung für die Erteilung und Durchsetzung des Schutzes des geistigen Eigentums - insbesondere durch die Angleichung der Vorschriften über die Schutzrechtdauer - lassen sich Standortvorteile einzelner nationaler Rechtsordnungen zugunsten eines einheitlichen fairen Wettbewerbs aufheben. Dieses hohe Ziel hat man bis heute noch nicht erreicht. Auf seinem Weg sind jedoch Einzelvorschriften entstanden, die, wenn z.Z. auch nur rudimentär und bruchstückhaft, die Weltwirtschaftsordnung dem weit gesteckten Ziel einer internationalen Gesamtordnung für Immaterialgüterrechte näherbringen: Merksatz Das generelle Problem internationaler Abkommen besteht darin, dass sie nur für jene Staaten gelten, die ihre Vertragsparteien sind und die sie ratifizieren. In der Praxis bedeutet dies, dass derzeit im internationalen Recht des Schutzes des geistigen Eigentums eine höchst unklare und komplexe Rechtssituationen besteht. Als Regelungswerke des Immaterialgüterrechtsschutzes auf internationaler Ebene sind zu nennen: 4.1.5.1 Pariser Verbandsübereinkommen (PVÜ) Das Pariser Verbandsübereinkommen 238 (PVÜ) aus dem Jahr 1883 stellt einen ersten Schritt zur internationalen Vereinheitlichung des gewerblichen Eigentumsschutzes dar. Es bezieht sich auf Erfindungspatente, Gebrauchsmuster, gewerbliche Muster oder Modelle (Geschmacksmuster) und Marken (Art. 1 Abs. 1 PVÜ). 238 BGBl. II 1970, S. 391, ber. BGBl. II 1985, S. 975 <?page no="147"?> 148 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Das Pariser Verbandsübereinkommen enthält keine eigenständige, materiell-rechtliche Schutzregelung des geistigen Eigentums. Es statuiert vielmehr einzelne Grundsätze, die in allen seinen circa 180 Vertragsstaaten gelten: Ein bedeutender Grundsatz ist der der Inländer(gleich)behandlung (Art. 2 Abs. 1 EVÜ). Nach diesem Grundsatz sind alle Angehörige eines Vertragsstaats in jedem anderen Vertragsstaat des PVÜ wie dessen Inländer zu behandeln. Beispiel Ein Deutscher, der in Ägypten ein Patent anmeldet, hat daher diese Patentanmeldung wie jeder Deutsche vorzunehmen. Zusätzliche Anforderungen, die allein aus der Staatsangehörigkeit der Patentstelle resultieren, darf das DPMA nach Art. 2 Abs. 1 PVÜ nicht stellen. Der in Art. 4 PVÜ aufgeführte Grundsatz der Unionspriorität bewirkt die vertragsstaatenweite Anerkennung der Priorität der Anmeldung der Innovation. So kann ein Recht, das in einem Vertragsstaat angemeldet wurde, in einer Frist [bei Patenten 12 Monate, bei Gebrauchsmustern 6 Monate] in einem anderen Vertragsstaat - ohne eine erneute Anmeldung in diesem Land - eingetragen werden. Bei der Feststellung der Priorität gilt der Zeitpunkt der Anmeldung in jedem beliebigen Vertragsstaat des PVÜ. 4.1.5.2 Haager Musterabkommen (HMA) Einen weitergehenden Schutz als das PVÜ bietet das Haager Musterabkommen aus dem Jahr 1925 (HMA); oder wie es nach seiner Novellierung aus dem Jahre 2003 heißt, Das Haager Abkommen über die internationale Eintragung gewerblicher Muster oder Modelle. 239 Dieses völkerrechtliche Abkommen - dem Deutschland bereits 1928 beigetreten ist - gilt für Geschmacksmuster, also für Muster und Modelle. Das HMA ermöglicht eine Anmeldung des Geschmacksmusters bei einem nationalen Büro eines Mitgliedstaates oder beim Internationalen Büro (Art. 22 HMA) (WIPO) 240 in Genf (Art. 3f. HMA). Enthält die Anmeldung die in Art. 5 HMA abzugebenden Angaben, trägt das Internationale Büro das angemeldete Muster oder Modell in das internationale Register ein (Art. 10 Abs. 1 HMA), und veröffentlicht diese Eintragung nach sechs Monaten im „International Design Bulletin“ (Art. 10 Abs. 3 HMA). Die Eintragung besitzt die Wirkung, dass ihr Datum in jedem Vertragsstaat als das maßgebliche Datum der Antragstellung auf Schutzrechtserteilung angesehen wird (Art. 14 HMA). Die internationale Eintragung nach Art. 10 HMA konserviert daher das Datum der Antragstellung auf Erteilung eines Geschmacksmusters in jedem nationalen Mitgliedstaat des HMA. Mit dieser ihrer verwaltungstechnischen Regelung schafft das HMA aber natürlich kein eigenes internationales Geschmacksmusterrecht. Es gibt 239 BGBl. II 2010, S. 190 240 WIPO: Wold Intellectual PropertyOrganization = OMPI (fr.): Organisation Mondial de la Propriété Intellectuelle <?page no="148"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 149 www.uvk-lucius.de/ innovation aber dem internationalen Anmelder die Möglichkeit, mit seiner internationalen Anmeldung die zeitliche Priorität seines Geschmacksmusterrechts in jedem Mitgliedstaat des HMA zu begründen. 4.1.5.3 Patent Cooperation Treaty (PCT) Ein einheitliches Anmeldeverfahren gewährt ebenfalls der Patent Cooperation Treat 241 (PCT) aus dem Jahr 1970, der in Deutschland am 25.1.1978 in Kraft trat. 242 Neben diesem prioritätswahrenden, einheitlichen Anmeldeverfahren für Patente besitzt das PCT-Verfahren noch den Vorteil einer einheitlich internationalen Recherche. Diese ermittelt den „Stand der Technik“, der maßgebliche Bedeutung für die Feststellung der Neuheit der Innovation hat (Art. 12ff. PCT). Der Innovator kann ein internationales vorläufiges PCT-Prüfverfahren beantragen (Art. 31 PCT). Dieses Verfahren stellt dann - in der sog. „written opinion“ (Art. 35 PCT) - das Vorliegen der Neuheit der Erfindung, ihr Beruhen auf einer erfinderischen Tätigkeit und ihre gewerbliche Anwendbarkeit fest (Art. 33 PCT). Die Entscheidung über die Patentierung verbleibt allerdings immer in der Zuständigkeit nationaler Behörden. Weder die internationale Recherche noch das Ergebnis der vorläufigen internationalen Prüfung sind für die nationalen Behörden verbindlich. Die nationalen Behörden können daher - auch bei einer zuvor nach dem PCT durchgeführten erfolgreichen internationalen Recherche oder nach einem Patent-Prüfungsverfahren - die Patentierung der Innovation ablehnen, wenn diese, ihrer Meinung nach, nur dem bestehenden Stand der Technik entspricht und damit keine ausreichende Erfindungshöhe aufweist. Das PCT-Verfahren ist somit kein eigenes Verfahren der internationalen Patenterteilung. Die Patentierbarkeit der Innovation prüft vielmehr in einem „ nationalen Verfahren“ die jeweilige nationale Patentbehörde. Die Vorteile des PCT-Verfahrens für den Erfinder bestehen ausschließlich darin, dass das PCT-Verfahren ein „zentrales Anmeldeverfahren“ darstellt. Der Anmelder muss daher nur einen Patentanmeldeantrag stellen, der in grundsätzlich allen PCT- Vertragsstaaten gilt und dort die Priorität der Patentanmeldung sichert. 241 Vertrag über die Internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens 242 BGBl. II 19765, S. 664 <?page no="149"?> 150 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Ferner kann er die vorläufige Patentprüfung nutzen, um die Chancen der Patentierung seiner Erfindung in den „ nationalen Verfahren“ zumindest unverbindlich einzuschätzen. 4.1.5.4 Europäisches Patentübereinkommen (EPÜ) Einen wesentlichen Schritt weiter als der PCT geht das europäische Patentübereinkommen (EPÜ). 243 Es realisiert zwar nicht die Zielvorgaben nach einem europaweit geltenden EU-Patent. 244 Jedoch geht es über ein rein zentralisiertes Anmelde- und Prüfverfahren hinaus und schafft ein einheitliches europäisches Patenterteilungssystem. In diesem System beantragt der Erfinder beim Europäischen Patentamt (EPA) die Erteilung eines Patents für - jeweils von ihm zu benennenden - einen oder mehrere Mitgliedstaaten des EPÜ (Art. 79 EPÜ). Zu den Mitgliedstaaten des EPÜ zählen nicht nur die Länder der Europäischen Union, sondern auch die Schweiz und die Türkei. Nach einer Anmeldung des Patents - unter Benennung jener Mitgliedsländer, in der der Antragsteller Patentschutz erlangen möchte (Art. 75ff., Art. 78 EPÜ) - recherchiert das EPA den Stand der Technik (Art. 54 EPÜ) und prüft die Patentierbarkeit der Erfindung (Art. 97 EPÜ). Voraussetzungen der Erteilung des europäischen Patents nach dem EPÜ für die Erfindungen auf technischem Gebiet sind dabei, wie im deutschen Recht 245 , die Neuheit, das Beruhen der Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit und die gewerbliche Anwendbarkeit der Erfindung (Art. 52ff. EPÜ). Liegen die oben genannten Voraussetzungen vor, erteilt das EPA - für die vorher bezeichneten Mitgliedstaaten - das europäische Patent und macht sie im europäischen Patentblatt bekannt (Art. 97 Abs. 1 und Abs. 3 EPÜ). 4.1.5.5 Europäische Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung (VO 6/ 2002) Auf europäischer Ebene hat sich mit der Verordnung (EG) Nr. 6/ 2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster 246 ein echtes europäisches Gemeinschaftsgeschmacksmuster-Schutzrecht etabliert. Als vollständig eigenständiges europäi- 243 ABl. L. 2002 3, S. 1 geänd. 2.ÄndVO (EG) 1891/ 2006 v. 18.12.2006 (ABl. L 2006, 386, S. 14) 244 Die entsprechenden Versuche des sog. Luxemburger Gemeinschaftspatent-Übereinkommens (GPÜ) zur Realisierung eines europäischen Gemeinschafts- oder EU-Patents, auch Community Patent genannt, gelten als nicht durchsetzbar. 245 Art. 1 PatG, dazu siehe oben Kapitel: Patent (m.w.H.) 246 ABl. L 3 v. 05.01.2002, S. 1ff. <?page no="150"?> 4.1 Einfluss von Recht auf die Innovationsfähigkeit eines Wirtschaftssystems 151 www.uvk-lucius.de/ innovation sches Regelungswerk tritt die Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO neben die nationalen Geschmacksmusterschutzregelungen, also neben das deutsche GschmMG. Die Vorschriften der Europäischen VO 6/ 2002 entsprechen dabei grundsätzlich dem des deutschen GschmMG: Allerdings kennt die VO 6/ 2002 das dem deutschen Recht völlig fremde „nicht eingetragene Geschmacksmusterschutzrecht“. Dieses hat eine Schutzdauer von nur drei Jahren (Art. 11 Abs. 1 VO 6/ 2002). Es wird nicht eingetragen (Art. 12ff. VO 6/ 2002) und es beginnt, wenn es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird (Art. 1 Abs. 2 lit. a VO 6/ 2002). Das europäische „nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht“ weist einige Parallelen zum deutschen Urheberrecht auf. Der europäische Gesetzgeber hat es speziell für den Schutz von Erzeugnissen geschaffen, die lediglich eine kurze Lebensdauer haben, und für die sich daher das aufwändige Eintragungsverfahren nicht lohnt. 247 Im Gegensatz zum deutschen Urheberrecht (§ 14 und §§ 15ff., § 23 UrhG) und auch zum „eingetragenen Europäischen Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht“ (Art. 19 Abs. 1 VO 6/ 2002) begründet das „nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht“ kein Exklusiv- oder Ausschließungsrecht der Inhaber eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters. Es kann lediglich die Nachahmung des geschützten Musters verbieten (Art. 19 Abs. 2 VO 6/ 2002). Voraussetzung Geschmacksmuster Gemeinschaftsgeschmacksmuster Inhalt § 1 GschmMG Art. 3 VO 6/ 2002 Schutzausschließung § 3 GschmMG Art. 8f. VO 6/ 2002 Qualität der Innovation: Neuheit und Eigenheit § 2 GschmMG Art. 4 VO 6/ 2002 Fehlende materielle Prüfung § 19 Abs. 2 GschmMG Art. 45 VO 6/ 2002 Anmeldungseintragung Bekanntmachung §§ 11, § 19 Abs. 2, § 20 GschmMG Art. 36ff., 45ff., 49 VO 6/ 2002 Exklusivität des Rechts § 38 GschmMG Art. 19 VO 6/ 2002 Schutzdauer (max. 25 Jahre) §§ 27 Abs. 2 GschmMG Art. 12 VO 6/ 2002 Erschöpfung des Rechts § 48 GschmMG Art. 21 VO 6/ 2002 Tabelle 10: Entsprechungen des deutschen und des Europäischen Geschmacksmusterschutzes 4.1.5.6 Urheberrechtsschutz im internationalen Recht Den Schutz des Urheberrechts gewähren auf internationaler Ebene zahlreiche völkerrechtliche Einzelabkommen. Als völkerrechtliche Verträge wenden sich diese Abkommen lediglich an die Vertragsparteien. Im Gegensatz zu den patentrechtlichen Vereinbarungen gewähren sie den einzelnen Urhebern keine eigenständigen Rechte. Ihr Inhalt besteht überwiegend darin, ihre Mitgliedstaaten zur Einhaltung bestimmter 247 Begründung 16 und 17 zu Verordnung (EG) Nr. 6/ 2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. L 3 v. 05.01.2002, S. 1ff.) <?page no="151"?> 152 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Grundsätze, insbesondere dem Inländer(gleich)behandlungsgrundsatz oder zu im Voraus festgelegten Formvorschriften, zu verpflichten. Revidierte Berner Übereinkunft (RBÜ) v. 09.09.1886 in der Fassung v. 24.07.1971 248 Welturheberrechtsabkommen vom 27.04.1971 249 Rom-Abkommen (Internationales Abkommen über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgergeräten und der Sendeunternehmen v. 26.10.1961) 250 Straßburger Abkommen zum Schutz von Fernsehsendungen 251 Abkommen zur Erleichterung der Einfuhr von Waren, Mustern und Werbematerial v. 07.11.1952 252 Wiener Abkommen über den Schutz typographischer Schriftzeichen und ihre internationale Hinterlegung 253 Trade related Property Rights (TRIPS) v. 15.04.1994 254 Aufgrund der Komplexität der Rechtsbeziehungen des Urhebers zu seinem Werk, zu dessen Veröffentlichung und zum Rechtsverkehr einerseits und aufgrund der stark divergierenden nationalen Vorstellungen zum Schutz des Urhebers andererseits existieren zahlreiche, sehr verschiedene internationale Urheberrechts-Abkommen. Diese beinhalten - aufgrund der oben genannten Schwierigkeiten - auch nur wenige Mindeststandards des Urheberschutzes. Zahlreiche dieser Normen - insbesondere die älteren Datums - leiden unter der Tatsache, dass sie den Urheberschutz - anders als die moderne Rechtslehre - kaum von dem gewerblichen Rechtsschutz des Geschmacksmusterschutzes abgrenzen. So besteht die Gefahr, dass sie beide inhaltlich unterschiedliche Rechte des geistigen Eigentums konturlos vermischen. In diesem Zusammenhang fällt auch die dogmatische Schwäche des internationalen Urheberrechts auf. Diese besteht darin, dass die Mitgliedstaaten den nachstehenden Abkommen ihrerseits von einem jeweils nationalen eigenen Werkbegriff ausgehen, und dass selbst die nachstehenden Abkommen keinen einheitlichen, fest umrissenen Begriff des urheberrechtlich geschützten Werkes festschreiben. 255 Es ist daher kaum möglich, den Schutzinhalt des internationalen Urheberrechtes festzustellen. Ob daher ein Werbeslogan, die Sammlung von Fotografien, die Choreografie eines Tanzes, ein Computer- 248 RBÜ v. 09.09.1886: RGBl. 1887, S. 493, 506, 508, 514, in der Fassung vom 24.07.1971: BGBl. II 1974, S. 1079; geändert: BGBl. II 1985, S. 81 249 Fassung v. 06.09.1952: BGBl. II 1953, S. 101; geändert: BGBl. I 1965, S. 1273, 1292, revidierte Fassung [Paris] v. 27.04.1971: BGBl. II 1974, S. 1309 250 BGBl. II 1965, S. 1243; BGBl. II 1966, S. 1473; BGBl. II 1967, S. 2004 251 BGBl. II 1965, S. 1234; BGBl. II 1965, S. 134, 135; geändert durch: Zusatzprotokoll v. 14.01.1974: BGBl. II 1974, S. 1313; BGBl. II 1975, S. 2; Zusatzprotokoll v. 31.03.1983: BGBl. II 1984, S. 1014; BGBl. II 1986, S. 473; Zusatzprotokoll v. 20.05.1989: BGBl. II 1989, S. 986 252 BGBl. II 1995, S. 633 253 BGBl. II 1981, S. 382 254 BGBl. II 1994, S. 1565, 1730; BGBl. II 1994, S. 1438; BGBl. II 1995, S. 456 255 Auch Schotthöfer: Handbuch des Werberechts in den EU-Staaten, Internationales Werberecht, Rn. 62ff. <?page no="152"?> 4.2 Resümee 153 www.uvk-lucius.de/ innovation spiel etc. ein Werk darstellen, das in den einzelnen Vertragsländern der internationalen Urheberrechts-Abkommen urheberrechtlich geschützt ist, bleibt daher offen. 4.2 Resümee Dem „Recht der Innovation“, also dem Recht des Schutzes des geistigen Eigentums, liegt der Konflikt zugrunde, dass ein Innovator einerseits die Kosten seiner Innovationstätigkeit ersetzt erhalten muss, sonst fehlen Innovatoren wesentliche Anreize zu Forschung- und Entwicklung. Eine solche Rechtsposition vermittelt nur ein Eigentumsrecht - nämlich das Recht des geistigen Eigentums -, das dem Innovator die Möglichkeit gibt, jeden Dritten von der Nutzung seiner Innovation auszuschließen. Andererseits darf ein solches Exklusivrecht nicht dazu führen, dass der Innovator - mittels Ausübung dieses Ausschlussrechts - Konkurrenten den Zugang zum Markt versperrt und aus seinem Wissensmonopol ein Marktmonopol ableitet. Denn hierdurch beeinträchtigt er das Wettbewerbsgeschehen, setzt den Preis-Leistungsmechanismus außer Kraft und beeinträchtigt dann die Verbraucherentscheidungen. Mit Hilfe ihrer Immaterialgüterrechte (gewerblicher Eigentumsschutz und Urheberrechte) bzw. dem geistigen Eigentumsschutz vermitteln die Rechtsordnungen zwischen diesen diametralen Interessengegensätzen i.S.e. praktischen Konkordanz: Weder darf der Innovator sein geistiges Eigentum umfassend - d.h. auch wettbewerbsbeeinträchtigend - einsetzen, noch darf die Innovation zu einem von Allen ohne Weiteres zugänglichem Allgemeingut und die Forschungstätigkeit zu einem Verlustgeschäft des Innovators werden. Wie komplex die Deutsche Rechtsordnung beide Zielsetzungen gegeneinander abwägt, dokumentiert nachstehende Gesamtübersicht über das deutsche Immaterialgüterrecht. Trotz der inzwischen ausgewogenen Ergebnisse, die das deutsche Recht des Schutzes des geistigen Eigentums erreicht, verbleiben im Wesentlichen zwei bislang unaufgelöste Problemkreise. Diese bestehen insbesondere in den immensen Kostenverlusten beim Wettlauf um Innovationen und in den umfangreichen Kosten der Ermittlung von Immaterialgüterrechtsverstößen und deren Durchsetzung. Des Weiteren überlagern sich zur Zeit europäische und internationalrechtliche Entwicklungen. Längst ist das Immaterialgüterschutzrecht seiner regionalen oder nationalen Bedeutung entwachsen und zu einer internationalen Rechtsmaterie des Wirtschafts- Völkerrechts mutiert. Innovationen werden nicht nur weltweit gemacht, sondern mittlerweile auch weltweit plagiiert. Einen eigenen, folgewirksamen Einfluss nimmt hier die Rechtsprechung internationaler, grenzüberschreitender Gerichte ein, insbesondere die des EuGH. Sie beschäftigt sich vorwiegend nicht allein mit der oben angegebenen Problematik, sondern mit der Frage, inwieweit die Schutzrechte des geistigen Eigentums den internationalen/ europäischen Handel von Produkten, Dienstleistungen und Know-how behindern. <?page no="153"?> 154 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 11: Zusammenfassung des Deutschen Immaterialgüterrechts <?page no="154"?> 4.2 Resümee 155 www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 11 (Forts.): Zusammenfassung des Deutschen Immaterialgüterrechts <?page no="155"?> 156 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 11 (Forts.): Zusammenfassung des Deutschen Immaterialgüterrechts <?page no="156"?> 4.2 Resümee 157 www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 11 (Forts.): Zusammenfassung des Deutschen Immaterialgüterrechts <?page no="157"?> 158 4 Ökonomisch/ juristische Konzeption der Innovation Solche und ähnliche wirtschaftspolitische Anlässe dürfen nicht zum Anlass gemacht werden die Zielsetzungen und Wertungen des bislang funktionierenden Systems der Immaterialgüterrechte infrage zu stellen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Protagonisten eines nationalen, europäischen und weltweiten Wirtschafts- und Wettbewerbssystems mit stark zunehmendem Innovationsdruck, eigene nationale wie internationale Sichtweisen und Interessen in einem sich evolutionär wandelnden, weltweiten System des Schutzes und der Organisation von Innovationen interessenabwägend integrieren können. Literatur Michael A. Heller: The Tragedy of the Anticommons. Property in the Transition from Marx to Markets. In: Harvard Law Review Vol. 111 (1998), S. 622ff., 1998 Krimphove: Europäisches Sachenrecht, Lohmar 2006 Gordon: Systematische und fallbezogene Lösungsansätze für Marktversagen bei Immaterialgütern. In: Ott, Schäfer: Ökonomische Analyse der rechtlichen Organisation von Innovationen. S. 327ff. Posner: Economic Analysis of Law (4. Aufl.) New York 1992 Besen; Raskind: An Introduction to Law and Economics of Intellectual Property. In: Journal of Economic Perspectives, Bd. 5, 1991 Aufgaben [1] Wie beurteilen Sie die politische Forderung, den Schutz des geistigen Eigentums im Internet ganz aufzugeben? [2] Welche ökonomische Bedeutung kommt der Erweiterung der Erteilung von Zwangslizenzen im Umweltbereich und ihre Zuweisung an sog. Entwicklungsländer zu? [3] Diskutieren Sie Maßnahmen, die zwar das geistige Eigentumsrecht des Erfinders schützen, doch den Nutzen seiner Erfindung der Allgemeinheit zugute kommen lassen. [4] Welche Bedeutung nimmt derzeit das nationale Recht gegenüber dem internationalen gewerblichen Rechtsschutz ein? [5] Wie prognostizieren Sie die Entwicklung beider unterschiedlicher Rechtsbereiche? <?page no="158"?> Teil II. Erfindungslehre und Ideenmanagement <?page no="160"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation von Prof. Dr.-Ing. Claudia Hentschel Wissensziele Sie sollen die Bedeutung der systematischen Innovation für heutige sowie zu künftige Markt- und Kundenanforderungen erkennen. Sie sollen die Grundzüge der systematischen Innovation mit Hilfe der Theorie des erfinderischen Problemlösens (TRIZ) kennenlernen. Sie sollen anhand einfachster Problemstellungen einzelne TRIZ-Werkzeuge anwenden und die Veränderung Ihrer Denkweise bei der Lösung erfahren. Sie sollen weitere neue Methoden der systematischen Innovation kennenlernen. Sie sollen die Konsequenzen systematischer Innovationswerkzeuge für den Innovationsprozess interpretieren. 5.1 Systematische Innovation - ein Widerspruch? Technologische Entwicklung ist so alt wie die Menschheit selbst. Innovationen sind dabei der Motor. Auch wenn viele Innovationen die Menschheit weit vorangebracht haben, wie das Rad, das Automobil, das Telefon, das Flugzeug, Antibiotika oder der Computer, so sind die Mehrzahl dieser Innovationen eher zufällig und über einen langen Zeitraum hinweg entstanden und meist von Einzelpersonen initiiert. Zufall sowie ein langer Zeitraum zwischen Idee und erfolgreicher Anwendung gelten in der heutigen Welt der Produktentwicklung und Innovation zunehmend als ineffizient. Der Bedarf nach systematischer, methodischer Innovation in kürzeren Zeitabschnitten wächst in dem Maße, wie eine Gesellschaft oder ein Unternehmen Wettbewerbsfähigkeit anstrebt. Dabei wird technologische Wettbewerbsfähigkeit durch neue Ideen und Erfindungen in der Produktentwicklung sowie deren Umsetzung zu einem marktfähigen Produkt bestimmt. Jedes neue technische Produkt, sei es ein Gerät oder ein Verfahren, folgt der Hauptfunktion, die zu erfüllen ist, einer Idee und dem Konzept, das zu Beginn des eigentlichen Entwicklungsprozesses erarbeitet werden muss. Dabei ist die Funktion eines Produktes keine technische Lösung, sondern die Aufgabe, die erledigt werden muss. <?page no="161"?> 162 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Beispiel Die Hauptfunktion eines Lochers ist es, Löcher in ein Blatt Papier einzubringen. Hilfsfunktion ist das Ausrichten und Halten des Papiers, Zusatzfunktion ist das Auffangen der Papierschnipsel. Mögliche Konzeptvarianten für die Hauptfunktion sind es, die Löcher zu stanzen (herkömmliche Methode), zu schneiden oder mit dem Laser zu erzeugen. Je nach Auswahl des Lösungskonzeptes wird sich die Produktion für den Hersteller, aber auch die Anwendbarkeit und Handhabung des Lochers später für den Kunden maßgeblich unterscheiden. Dabei sind immer noch zu viele Unternehmen der Vorstellung verhaftet, allein eine große Anzahl von Ideen führe zum gewünschten Fortschritt. Daher werden mit Hilfe von Kreativitätstechniken wie Brainstorming, morphologischer Analyse und anderen Methoden möglichst viele Ideen produziert, die hinterher dokumentiert, bewertet und überwiegend verworfen werden müssen, denn man kann unmöglich alle Ideen gleichermaßen realisieren. Zudem haben diese klassischen Kreativitätstechniken den Nachteil, allzu beliebige Lösungen zu produzieren und sehr von der Zusammensetzung und Qualifikation der Teilnehmer abhängig zu sein (Abbildung 10). Abbildung 10: Effizienzunterschiede der Methoden 256 Viel effizienter wäre es, nur einige wenige und dafür gute Ideen zu produzieren; idealerweise sogar nur eine einzige richtige. Auch wenn dieses Extrem vermutlich nicht erreichbar ist, geht es bei TRIZ und anderen Methoden der systematischen Innovation darum, eine einmal gefundene Lösungsrichtung als Basismodell für die weitere Ausar- 256 Vgl. Koltze, K.; Souchkov, V., 2011 <?page no="162"?> 5.1 Systematische Innovation - ein Widerspruch? 163 www.uvk-lucius.de/ innovation beitung der Problemlösung und Anpassung auf das spezifische Ausgangsproblem zu verstehen. Der Lösungsraum ist eingeschränkt worden, jedoch wird durch diese Fokussierung jedes Trial-and-Error gestoppt und in Erfolg versprechende Bahnen gelenkt, was die benötigte Zeit erheblich verkürzt. Bei Innovation geht es im Grunde immer darum, den Beginn des Prozesses anzustoßen, methodisch zu unterstützen, und am Ende des Innovationsprozesses für das eine richtige Problem eine richtige Idee auch realisiert und vermarktet zu haben. Dabei entscheiden bekannterweise nur die Kunden über den Erfolg am Markt. Innovative Ideen deshalb allein aus den Kundenwünschen abzuleiten, führt ebenfalls in die Irre: allzu leicht sind Kunden in der ihnen bekannten Denkwelt gefangen und wünschen sich oftmals Lösungen, die keinen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bieten, oder sie verändern ihre Wünsche so oft, dass aus Unternehmenssicht der Eindruck entsteht, sie wüssten nicht was sie wollten. Es kommt also für innovative Unternehmen zunehmend darauf an, den wahren Kundennutzen, verborgene Bedürfnisse und funktionale Anforderungen an ein Produkt zu erkennen. Der Kunde kauft das Produkt nicht aufgrund der konkreten, technisch raffinierten Lösung, sondern nur, weil er sich einen Nutzen davon verspricht. Beispiel Zum Beispiel kann eine Jacke technisch gesehen mit Knöpfen, Bändern, Reißverschlüssen oder Klettverschlüssen geschlossen werden. Das Konzept, das die bessere Handhabung, Geschwindigkeit und/ oder Dichtigkeit beim Schließen der Jacke verspricht, wird dann vom Kunden bevorzugt, er kauft nicht die technische Lösung um ihrer selbst willen. Der Wunsch nach einem Klettverschluss ist seitens der Kunden nie geäußert worden; latent war das Bedürfnis nach einem nicht klemmenden Reißverschluss aber immer vorhanden. Sicherlich hätte man den Reißverschluss verbessern können, aber die Erfindung des Klettverschlusses als Alternative hat neben einer konkreten Problemlösung wiederum völlig neue Geschäftsfelder eröffnet, neben der Jacke also auch Schuhe, Taschen und Abdeckhauben mit Klettverschlüssen zu versehen. Auch wenn der Erfinder des Klettverschlusses, Georges de Mestral (1907-1990), sich wie viele Erfinder hat vorwerfen lassen müssen, er hätte seine Erfindung ja „nur“ von der Natur abgeschaut, so ist der heute bekannte Klettverschluss erfolgreiches Ergebnis eines erfinderischen Prozesses vom Erkennen des Problems über die erfinderische, vorher noch nie da gewesene Lösung unter Nutzung eines Effektes aus der Natur bis hin zur Umsetzung in ein technisch herstellbares Produkt. Dieser Schritt der Umsetzung in die technische Welt oder Realisierung ist nicht trivial. Dennoch ist erkennbar, dass diese vergleichsweise späte Phase des Innovationsprozesses bereits ausführlich mit Methodenwissen und Tools unterstützt wird: vom CAD- Werkzeug über Finite-Elemente-Berechnungen bis hin zu Projektmanagement- und Produktionsplanungs- und Steuerungs-Software ist der Entwickler bereits mit vielen Werkzeugen und Hilfsmitteln ausgestattet. Im Gegensatz dazu überlässt man Erfinder und/ oder Entwickler in den frühen Phasen des Innovationsprozesses häufig sich selbst, in der Hoffnung, ihnen möge schon eine geeignete Problemstellung einfallen, und deren Durchbruchslösung gleich dazu. <?page no="163"?> 164 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Viele verkennen, dass auch der frühe Prozessschritt des Erfindens und Konzipierens systematisch gestaltet und methodisch unterstützt werden kann. Wenn es gelingt, Probleme mit bestehenden Produktlösungen erkennbar zu machen, um dann von der Natur vorgegebene Effekte zu nutzen und mit persönlichen oder gesellschaftlichen Bedürfnissen zu nützlichen Wirkungsketten und wenigen, guten Ideen zu kombinieren, wird Innovation planbarer. Ist diese Kombination dann noch nie da gewesen, so spricht man von einer echten Erfindung, einer Invention, im Unterschied zur Idee, bei der es ausreichte, bekannte Elemente neu zu kombinieren. Die Invention nutzt damit vorhandenes Wissen über naturwissenschaftliche Effekte und besonderes Können, um eine neue Problemlösung zu verwirklichen. Erst die Umsetzung dieser Invention in ein Produkt, das am Markt erfolgreich ist, ist dann eine Innovation. Im frühen Produktentwicklungsprozess ist also zunächst eine Problemsituation und der Bedarf für eine Problemlösung zu erkennen, ja herauszuschälen und zu benennen. Die Fähigkeit dazu bringen nur wenige Menschen mit, sie ist aber erlernbar. Beispiel Wir nehmen allzu gern Situationen und Produkte hin wie sie sind, weil wir uns an sie gewöhnt haben. Wenn zähflüssiger Honig jahrzehntelang in Gläsern angeboten wurde, bei denen es einiges Geschick verlangt, ihn von dort auf ein Brötchen zu löffeln, dann hat das beim Kunden nie zu Beschwerden oder dem Wunsch einer anderen Honigverpackung geführt. Als ein großes Unternehmen den Honig in einer der Duschgel-Flasche nachempfundenen Verpackung anbot, die auf dem Flaschenkopf stehend eine leichtere Honighandhabung (speziell für Kinder) ermöglichte, und diesem Produkt einen flotten Namen verpasste, ist sicherlich nicht das ideale Produkt geboren worden, aber das bestehende wurde einen Schritt verbessert. Der Bedarf seitens des Kunden ist aus seiner Beobachtung ermittelt worden, nicht aus seiner Befragung. Diese Ausgangsproblemstellung und der Bedarf für eine neue Problemlösung können also analytisch ermittelt, als technische Problemstellung formuliert und diese kann dann in ein Produktkonzept überführt werden. Die Produktkonzeption betrachtet dabei eine Reihe von alternativen Lösungsteilen bei gegebenen Randbedingungen und impliziert, das beste Gesamtkonzept aus einer Reihe von Möglichkeiten auszuwählen. Aus diesem Bewertungsprozess geht dann das eigentliche Produktkonzept hervor, das die Schnittstelle zu allen nachfolgenden Unternehmensbereichen bildet, von der Produktplanung bis zur Realisierung. Die Realisierung arbeitet das Konzept konstruktiv und physisch zunächst prototypisch und dann als ein in gewünschter Menge herstellbares Produkt aus. In der frühen Konzeptionsphase, die im Vergleich zu den anderen Entwicklungsphasen mit vergleichsweise wenig methodischer Unterstützung auskommen musste, können Entwickler heute sehr stark von Methoden der systematischen Innovation und ihren Werkzeugen profitieren: mit ihrer Hilfe können höherwertigere Ideen und kreativere Lösungen erarbeitet werden, und das in kürzerer Zeit. Systematische Innovation klingt paradox, ist aber mit Hilfe der drei nachfolgend beschriebenen Ansätze möglich. <?page no="164"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 165 www.uvk-lucius.de/ innovation 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 5.2.1 Überblick und Einordnung TRIZ ist die Abkürzung für den Begriff „Theorie des erfinderischen Problemlösens“ in der russischen Sprache. Im Vordergrund steht dabei weniger eine Theorie als der praktikable Ansatz, den Innovationsprozess in den frühen Phasen gleichzeitig auf Erfolg versprechende Ansätze zu fokussieren und dennoch neue Denkansätze zuzulassen. Die Systematik geht zurück auf die Arbeiten des russischen Ingenieurs und Erfinders Genrich S. Altshuller (1929-1998) und besteht aus einer Vielzahl von Werkzeugen zum Erzeugen von zielgerichteter Kreativität durch kompromisslose, Widersprüche überwindende und strukturierte Ansätze, die vorwiegend technische Problemstellungen auf innovative Art zu lösen helfen 257 . Die Werkzeuge von TRIZ sind dabei den einzelnen Schritten im Erfindungsprozess von der Analyse über die Ideenfindung bis hin zur Bewertung der Ideen zugeordnet und können jedes für sich, aber auch hintereinander angewendet werden (Abbildung 11). Abbildung 11: Rahmenplan der TRIZ-Werkzeuge 258 Der Charme dieses Methodenbaukastens besteht darin, dass die von Altshuller zugrunde gelegte Logik die Herangehensweise an Problemstellungen revolutioniert und dadurch häufig Lösungsansätze auftauchen, die vormals nicht bedacht wurden. Dabei verändern sie die Denkweise und lassen so Ideen aufkommen, die man ohne diese Werkzeuge vermutlich nicht gehabt hätte. Die Methoden sind heute weltweit anerkannt 257 Vgl. Altshuller, G. S., 2004 258 Vgl. Gundlach, C.; Nähler, H. T. (Hrsg.), 2006 <?page no="165"?> 166 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation und werden in vielen Entwicklungsprozessen überwiegend großer Unternehmen in unterschiedlichen Fachdisziplinen erfolgreich eingesetzt. Die Einsatzbreite ist dabei bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Dies mag einerseits an der Komplexität des gesamten Methodenbaukastens mit seiner großen Anzahl von Werkzeugen liegen: TRIZ verlangt technisches Interesse, Spaß an methodischem Vorgehen, Abstraktionsvermögen, praktische Übung und nicht zuletzt die Bereitschaft, Umwege zu gehen, die zunächst den Eindruck erwecken, man entferne sich eher vom Entwicklungsziel als dass man darauf hinarbeitet. Andererseits ist die Vermittlung von TRIZ durchaus zu verbessern: Das Lehren von TRIZ muss sich noch mehr am Bedarf und an den Interessen der Lernenden denn an den Fähigkeiten des Lehrenden ausrichten. Um an das Interesse des Lernenden anzuknüpfen und den späteren Anwendungsbezug zu stärken, bieten sich Aufgabenstellungen und Technologien an, mit denen sich der Lernende bestmöglich identifizieren kann. Zugleich sollte die Aufgabenstellung oder Technologie ein hohes Erfindungspotenzial aufweisen oder der Wunsch danach sehr ausgeprägt sein. Als erfinderisches Potenzial einer Aufgabe oder Technologie gilt hier die Möglichkeit, aus dem ihr zugrunde liegenden Wissen neue, innovative Produkte zu kreieren oder die mit ihnen verbundenen Problemstellungen zu lösen. Dabei muss der Entwickler auch auf fachfremdes Wissen zugehen und dieses für sein eigenes Einsatzfeld nutzen wollen. 5.2.2 Grundlagen von TRIZ Altshuller postulierte drei wesentliche Erkenntnisse 259 , die er aus der Analyse von zahlreichen Patenten gewann, und deren Bedeutung sich auch nach aktueller Weiterführung der Analyse mit neuesten Patenten bestätigt: 1. Jeder erfinderischen Aufgabe liegt ein zunächst als unüberwindbar erachteter Widerspruch oder Konflikt zugrunde. Erst die Beseitigung dieses Widerspruchs, nicht die Kompromisslösung, sorgt für wirklich innovative Lösungen. 2. Vielen Erfindungen liegen immer wieder dieselben innovativen Lösungsprinzipien zugrunde, die man bei Kenntnis der Konflikt- oder Widerspruchssituation wiederholt einsetzen kann, um die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche, schnellere Lösungsfindung zu erhöhen. 3. Die Evolution von technischen Systemen folgt bestimmten, immer wiederkehrenden Mustern, die progressiv genutzt werden können. Aus diesen Erkenntnissen entwickelte Altshuller verschiedene Werkzeuge als strukturierte Vorgehensmodelle zum systematischen Erzeugen innovativer Lösungen 260 . Alle Werkzeuge orientieren sich dabei an einem grundlegenden Denk- und Vorgehensmodell (Abbildung 12). 259 Vgl. Gundlach, C.; Nähler, H. T. (Hrsg.), 2006 260 Vgl. Altshuller, G. S., 1998 <?page no="166"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 167 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 12: Das TRIZ Denk- und Vorgehensmodell Die konkrete Problemstellung wird in ein abstraktes Problemmodell überführt, um mit Hilfe ausgewählter Werkzeuge bislang vorliegende Denkbarrieren auf innovative Art zu überwinden und ein abstraktes Lösungsmodell durch Analogien in fachfremden Bereichen zu formulieren. Dieses abstrakte Lösungsmodell wird anschließend auf das real vorliegende Problem zurückübertragen. Diese Vorgehensweise mag umständlich erscheinen, ermöglicht aber den Blick auf originelle Lösungen zu richten, die jenseits des eigenen Fachgebiets und damit des psychologische Trägheitsvektors liegen können. Ein beispielhaftes Denkmodell, das in ein TRIZ-Werkzeug eingeflossen ist, ist das des idealen Endresultat IER (engl.: IFS - Ideal Final Solution). Ein Endresultat ist dann ideal, wenn es die Funktion erfüllt, selbst aber gar nicht vorhanden ist. Dies ist natürlich Utopie, dennoch folgt die Entwicklung technischer Systeme genau dieser Richtung. Wenn man sich die Versuche, ein Perpetuum mobile zu konstruieren, in den Technikmuseen der Welt anschaut, dann folgen doch unsere aktuellen Versuche und Ansätze der Energieeinsparung genau diesem nicht erreichbaren Extremziel: Entwickler versuchen, entweder schädliche Anteile wie Energieverbrauch zu verringern oder zu vermeiden, positive Funktionen wie Wirkungsgrad zu vermehren, oder beides. In der Rückschau sind dabei häufig genau jene Erfindungen nützlich gewesen, die vordem gerade nicht in diesem Fachgebiet erarbeitet worden sind. Beispiel Der Nutzen eines Motors für die individuelle Fortbewegung ist anfänglich nicht für diesen Zweck erkannt worden. Auch die Nutzung von Funkwellen verfolgte zunächst einen militärischen Zweck, bevor man damit den Wunsch nach individueller Kommunikation erfüllt hat. So, wie die Mathematik Methoden zur Lösung bestimmter Aufgabentypen bereitstellt, können Methoden der TRIZ in Abhängigkeit des Ausgangsproblems genutzt werden, beispielsweise die Ideallösung zu erzeugen, die als Richtung für die weitere Problembehandlung dient, auch wenn die ideale Lösung nicht realisierbar ist. Analog kann TRIZ als Mathematik der Erfindung verstanden werden: TRIZ erkennt die Richtung, die idealerweise einzuschlagen ist, und beschleunigt damit den Entwicklungsprozess. <?page no="167"?> 168 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Gleichwohl sind Erfindungen nicht automatisch nützlich, sie vergrößern den Nutzen für den Kunden ebenfalls nur im Idealfall. Kein Kunde kauft ein Produkt um seiner selbst willen, sondern immer, um mit ihm eine Funktion auszuführen. Sieht man vom reinen Liebhaberprodukt ab, so kaufen wir Spülmaschinen, um saubere Teller zu haben, Waschmaschinen um der sauberen Kleidung willen. Eine Erfindung, die nicht in ein passendes Umfeld trifft, mag der Welt lange verborgen bleiben. Beispiel So hat die Erfindung des Automobils zunächst Angst ausgelöst, denn die realistische Vorstellung, damit auf unwegsamem Gelände liegen zu bleiben, verdeckte den späteren Nutzen. Erst als diese Hindernisse in Form glatter Straßenbeläge und dichter Tankstellennetze beseitigt wurden, konnte das Auto seinen Siegeszug antreten. Aber auch Kundenbedürfnisse allein sind selten innovativ, ihnen liegen sogar meist widersprüchliche oder konfliktäre Anforderungen zugrunde: So soll ein Auto zum Beispiel sportlich und bequem, oder gleichzeitig groß und klein sein, oder die Stabilität des Produktes soll hoch, und das Gewicht gleichzeitig niedrig sein. In der TRIZ- Konflikte-Tabelle, einem weiteren TRIZ-Werkzeug, stehen sich technische Parameter wie Gewicht und Stabilität einander gegenüber, sie reflektiert die bisherige Patentliteratur und liefert in ihren Feldern die häufigsten innovativen Lösungen in abstrakter Form. Somit erlaubt dieses Werkzeug, sich Anregungen aus vorangegangenen, auch fachfremden Patenten zunutze zu machen, ohne die jeweiligen Details der patentierten Lösungen durchzuarbeiten oder sich in ihnen zu verzetteln. Den Löwenanteil der TRIZ-Beispiele in der Literatur bilden technische Problemstellungen, liegen ihnen doch Analysen aus Patenten zugrunde, die genau diese technischen Problemstellungen abbilden. Dadurch fühlen sich aber gerade Nicht-Techniker häufig abgeschreckt, sich mit den Denkmodellen auseinanderzusetzen. In den nachfolgenden Kurzbeschreibungen einiger ausgewählter Werkzeuge werden daher bewusst einfache Beispiele benannt, die die Denkweise auch für Nicht-Techniker erschließen helfen, denn TRIZ bietet sich überall dort an, wo eine Lösung für ein Problem nicht auf der Hand liegt, weil ein großes Suchfeld vorliegt (Ziel: Einschränkung des Lösungsraums), eine hohe Zahl von potenziellen Versuchen notwendig erscheint, aber die Zeit dafür nicht ausreichend vorhanden ist (Ziel: Minimierung der Schleifen in der Konzeptentwicklung), Widersprüche in der Aufgabe stecken, die nicht ohne Weiteres überwindbar erscheinen (Ziel: Lösen schwieriger, erfinderischer Problemstellungen) und kein Kompromiss, sondern eine neue, bahnbrechende oder „beste“ Lösung gesucht wird (Ziel: Erarbeitung einer innovativen Lösung). <?page no="168"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 169 www.uvk-lucius.de/ innovation 5.2.3 Ausgewählte TRIZ- Werkzeuge 5.2.3.1 Ressourcen-Checkliste Bevor ein System, also ein Produkt, Prozess oder eine Dienstleistung, verändert wird, ist im Rahmen eines TRIZ-Projektes danach zu fragen, welche Ressourcen bereits vorhanden sind. Definition Unter Ressourcen versteht TRIZ (anders als in der BWL! ) sämtliche Substanzen, Charakteristika und Energie, die in und um ein System vorhanden sind (Abbildung 13). Bestenfalls sind diese zu nutzen, um das System und/ oder sein Umfeld zu verbessern, bevor neue Bestandteile in das System eingebracht werden und diese das System unnötig verkomplizieren. Abbildung 13: Ressourcen-Checkliste 261 Dabei ist die Aufzählung der Ressourcen-Arten als eine vollständige Liste zu verstehen, die für die Verbesserung des Systems, also Produkt, Prozess oder Dienstleistung, herangezogen werden können. So wie der Turbomotor die Abwärme erneut für den Prozess nutzt, um dadurch einen höheren Wirkungsgrad zu erzeugen, so kann man sich zu jedem bestehenden System fragen, ob nicht ein ungenutzter Bestandteil das System verbessern hilft (siehe Aufgabe 1). Die Ressourcen-Checkliste weitet dafür den Blick, indem nicht nur sichtbare, sondern auch bislang unsichtbare Systembestandteile aufgezählt und für die spätere Lösung erschlossen werden. 261 Vgl. Hentschel, C.; Gundlach, C.; Nähler, H. T., 2010 <?page no="169"?> 170 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Beispiel Am Beispiel der Waschmaschine ist es als eine Ressource anzusehen, die verschiedenen Kleidungsstücke in der Trommel zu nutzen, und zwar dahin gehend, dass sie durch Bewegung der Trommel auch untereinander Reibung erzeugen, was den schmutzlösenden Effekt über die Berührung mit der Trommelwandung hinaus verstärkt. Hält man sich historische Beispiele von Waschbrettern vor Augen, bei der Reibung ausschließlich zwischen Kleidung und Waschbrett erzeugt wurde, hat diese zusätzliche Reibung den Waschvorgang deutlich verbessert und die Handhabung vereinfacht. 5.2.3.2 Idealität Das Denkmodell der TRIZ sieht vor, jede Entwicklungsaufgabe zunächst einer kritischen Systemanalyse zu unterziehen und die Wunsch- oder Zielvorstellung zu formulieren, das sogenannte Ideale Endresultat oder Ideal Final Result (IER oder IFR). Altschuller geht davon aus, dass das beste Produkt nicht das „schöne“ oder „starke“ Produkt ist, sondern eines, das seine Funktion erfüllt, das idealerweise „von selbst“ arbeitet oder sogar „gar nicht vorhanden“ ist. Die erfinderische Aufgabe besteht nun darin, sich diesem Leitbild, so absurd es klingen mag, maximal anzunähern. Damit dies gelingt, schlägt Altschuller vor, die zu lösende Aufgabe zuvor ebenfalls sehr abstrakt zu formulieren, und dabei die reine Funktion in den Vordergrund zu stellen. Deutlich wird hierbei, dass wir viele Produkte kaufen, die wir eigentlich gar nicht haben wollen, wir wollen lediglich deren Funktion. Das ist daran erkennbar, dass wir uns über die Anschaffung eines Besens oder einer Waschmaschine nicht wirklich freuen. Wir wollen die Funktion, nicht das Produkt selbst. Beispiel Die eigentliche Funktion einer Waschmaschine ist nun, Schmutz aus der Kleidung zu entfernen. Sicherlich hat man einerseits durch bessere Waschmittel und andererseits durch neue Trommelformen, Mitnehmern in der Trommel und Lochmuster in der Trommel selbst die Maschine deutlich verbessert. Eine bessere Waschmaschine wäre eine, die weniger von allem (Werkstoffe, Energie, Wasser, Waschmittel, …) verbraucht. Die ideale Waschmaschine wäre aber eine, die gar nicht vorhanden ist, und dennoch wäre die Kleidung immer sauber. Dies ist wohl Utopie, gibt aber die Entwicklungsrichtung vor. Alle Versuche, die Waschmaschine zu verbessern und Kleidung mit weniger Wasser, weniger Waschmittel, weniger Energie und weniger Handgriffen zu reinigen, weisen in diese Richtung. Umgekehrt kann man sich als IFR die sich selbst reinigende oder sogar gar nicht erst verschmutzende Kleidung als Orientierungsrichtung vorstellen (Abbildung 14). <?page no="170"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 171 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 14: Idealität am Beispiel Kleidung 262 Mit dem IFR sind allgemein anerkannte Idealvorstellungen formuliert (siehe Aufgabe 2). Damit erübrigen sich prinzipiell auch Kundenbefragungen, um das Entwicklungsziel zu formulieren. Man denkt quasi rückwärts vom IFR, um die erste realisierbare oder die erste vermarktbare Lösung zu finden. Das spart Zeit, indem zaghafte Iterationen weg vom Ist-Zustand, die zudem möglicherweise vom IFR wegführen könnten, gar nicht erst angedacht werden. Definition Unter Idealität versteht TRIZ das Verhältnis von Nutzen zu Kosten und schädlichen Wirkungen des Produktes, Prozesses oder der Dienstleistung. Dies stellt eine Umkehrung des in der BWL üblichen Kosten-Nutzen-Denkens dar. Das ideale Produkt ist also ein Produkt, das nur Vorteile und keinerlei Nachteile hat; umgangssprachlich würde man vielleicht vom „perfekten Produkt“ sprechen. Alle Versuche der Entwicklung zielen darauf ab, die Idealität eines Systems zu erhöhen und folgen mehr oder weniger diesem Wunsch, indem entweder der Zähler des Bruches erhöht, der Nenner reduziert oder beides versucht wird: 0) (0 Schäden) (Kosten Nutzen ) Result(IFR Final Ideal t(IER) Endresulta Ideales Beim Denkmodell der Idealität wird der Weg zur idealen Lösung meist von einem unüberwindbaren Widerspruch blockiert. So hat die Idealität in der Realität Grenzen, die TRIZ mit einer erfinderischen Lösung hinauszuschieben sucht. 262 Vgl. Mann, D.; Zinner, V., 2010 <?page no="171"?> 172 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation 5.2.3.3 (Physikalische) Widersprüche und (technische) Konflikte 5.2.3.3.1 Technische Widerspruchsparameter Generell unterstützt TRIZ das Denken in Analogien und überwindet dabei Fachdisziplinen und Gewohnheiten. Als grundlegendes Konzept der Abstraktionswerkzeuge in TRIZ kann das Denken in Widersprüchen aufgefasst werden. Erfinderische Problemstellungen sind immer dadurch gekennzeichnet, dass für deren Überwindung (noch) kein zufriedenstellender Lösungsweg aufzeigbar ist. Jedem ungelösten Problem liegt ein zunächst als unüberwindbar erachteter Widerspruch zugrunde, den es zunächst einmal zu formulieren gilt (Abbildung 15). Abbildung 15: Vom Problem zum Widerspruch oder: Arten von Widersprüchen nach TRIZ Definition Ein physikalischer Widerspruch liegt vor, wenn eine Aufgabe gleichzeitig einen gegensätzlich ausgeprägten Systemparameter fordert. Ein technischer Widerspruch oder Konflikt liegt vor, wenn durch Verbesserung eines technischen Systemparameters sich ein anderer Systemparameter verschlechtert. Beispiel Wenn ein Bauteil gleichzeitig heiß und kalt sein muss, um bearbeitet werden zu können, oder der Wunsch besteht, einen großen Koffer zu packen, gleichzeitig soll der Koffer aber klein sein, um ihn besser verstauen zu können, dann werden physikalische Widersprüche daran deutlich, dass ein und derselbe Parameter in gegensätzlicher Ausprägung gefordert wird. Wird hingegen ein stabiles Produkt gefordert, das gleichzeitig wenig wiegen soll, dann stehen sich zwei verschiedene Parameter konfliktär gegenüber: Stabilität und Gewicht. Die Praxis löst solche Widersprüche häufig „nur“ durch Kompromisse, wählt beispielsweise eine lauwarme Bearbeitungstemperatur oder macht den Koffer mittelgroß oder das Bauteil ein wenig leichter, dadurch büßt man aber auch Stabilität ein. TRIZ versucht nun, alle Anforderungen gleichermaßen zu erfüllen. Dazu destillierte TRIZ administrativer Widerspruch - „offenes Problem“ Es wird ein (offenes) Problem formuliert, zu welchem es keine bekannte Lösung und keinen klar definierten Lösungsraum gibt. Es wird eine „erfinderische Situation“ beschrieben. „es muss ETWAS getan werden - das WIE ist unbekannt“ technischer Widerspruch - „Konflikt“ Ein Parameter eines Systems soll/ muss verbessert werden, ein anderer darf sich jedoch nicht verschlechtern. physikalischer Widerspruch - „Widerspruch“ Ein und derselbe Parameter muss in einem System, um einer Forderung gerecht zu werden, einmal einen bestimmten Zustand und für eine weitere Forderung den entgegengesetzten Zustand einnehmen. <?page no="172"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 173 www.uvk-lucius.de/ innovation aus der Analyse von mehr als 3 Millionen Patenten zunächst 39 Parameter heraus, die die Grundlage für alle Widerspruchssituationen lieferten (Abbildung 16). Abbildung 16: Die 39 technischen Parameter In der Weltpatentliteratur wiederholen sich also die Parameter, die zu Problem- und damit Konflikt- oder Widerspruchssituationen führen, die eine Erfindung ausmachen. Umgekehrt formuliert: Diese 39 Parameter haben bislang ausgereicht, alle der Patentliteratur zugrunde liegenden Problemstellungen abstrakt zu formulieren. Aktuelle Quellen weisen nach, dass sich daran bis heute wenig geändert hat: Die Patentliteratur ist nach Analyse neuerer Patente auf nur 9 zusätzliche Parameter gestoßen, die zu Zeiten von Altschuller noch nicht so wichtig waren: Kompatibilität oder Geräuschentwicklung sind zwei von ihnen. Somit wären heutige Patente auf Widersprüche zurückzuführen, die aus höchstens 2 aus 48 aktualisierten Parametern bestehen. 263 Unabhängig davon, auf welcher Datenbasis man arbeiten möchte, Ziel ist es zunächst immer, eine Problemstellung so zu formulieren, dass sie nur mit Hilfe von zweien der technischen Parameter als sogenannter technischer Konflikt formuliert werden kann, denn jeder Widerspruch ist der Schlüssel zu einer erfinderischen Lösung (siehe Aufgabe 3). Den Kern jedes technischen Konfliktes bildet dann ein physikalischer Widerspruch, der denselben Parameter in gegensätzlicher Ausprägung fordert: Der Fahrradhelm soll leicht sein, damit der angenehm zu tragen ist, und er soll schwer sein, damit er stabil ist und schützt, gleiches gilt für den Koffer. Diese quasi absurde Forderung soll nach TRIZ nicht durch einen Kompromiss, sondern durch gleichzeitige Bedienung dieses 263 Vgl. Mann, D.; Dewulf, S.; Zlotin, B.; Zusman, A., 2008 1. Gewicht eines bewegten Objekts 21. Leistung 2. Gewicht eines unbewegten Objekts 22. Energieverschwendung 3. Länge eines bewegten Objekts 23. Materialverschwendung 4. Länge eines unbewegten Objekts 24. Informationsverlust 5. Fläche eines bewegten Objekts 25. Zeitverschwendung 6. Fläche eines unbewegten Objekts 26. Materialmenge 7. Volumen eines bewegten Objekts 27. Zuverlässigkeit 8. Volumen eines unbewegten Objekts 28. Messgenauigkeit 9. Geschwindigkeit 29. Fertigungsgenauigkeit 10. Kraft 30. äußere negative Einflüsse auf Objekt 11. Spannung, Druck 31. schädliche Nebeneffekte des Objekts 12. Form 32. Fertigungsfreundlichkeit 13. Stabilität des Objekts 33. Benutzungsfreundlichkeit 14. Festigkeit 34. Reparaturfreundlichkeit 15. Haltbarkeit eines bewegten Objekts 35. Anpassungsfähigkeit 16. Haltbarkeit eines unbewegten Objekts 36. Komplexität in der Struktur 17. Temperatur 37. Komplexität in der Kontrolle / Steuerung 18. Helligkeit 38. Automatisierungsgrad 19. Energieverbrauch eines bewegten Objekts 39. Produktivität 20. Energieverbrauch eines unbewegtes Objekt <?page no="173"?> 174 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Gegensatzes erfüllt werden. Dazu und zur Auflösung der technischen Konflikte stellt TRIZ die sogenannten Innovativen Grundprinzipien bereit. 5.2.3.3.2 Innovative Grundprinzipien Wann immer ein Patent zur Bewilligung kam, hat es ja neben der Problemstellung eine Lösung für diese spezielle Problemstellung mitgebracht, die zudem neu und technisch umsetzbar war. Altschuller stellte in seinen Patentanalysen die zunächst 39 technischen Parameter, die die Problemstellungen charakterisierten, sich selbst gegenüber und füllte jede Zelle der so entstehenden Matrix mit den bei dieser Problemkonstellation am häufigsten erfolgreichen Lösungen. Um sie wiederum leichter lesbar zu machen, hat er auch die vorgefundenen Lösungen um ihre Detailinformationen bereinigt (Abbildung 17). Abbildung 17: Die klassische TRIZ-Widerspruchsmatrix (Ausschnitt) Die Tabelle stellt hier den Widerspruch zwischen „Länge eines bewegten Objektes“ (Parameter 3) und „Gewicht eines bewegten Objektes“ (Parameter 1) heraus. In dieser Zelle der Matrix finden sich nun diejenigen Problemlösungen in abstrakter Form, die in der Patentliteratur am häufigsten erfolgreich waren. In der Konstellation des Parameters 3 versus 1 also die innovativen Grundprinzipien 8, 15, 29 und 34 mit ihren jeweiligen Bedeutungen. Altschuller erkannte also, dass sich nicht nur die im Konflikt stehenden Parameter in den Patenten wiederholten, sondern gerade auch die darin verwendeten Lösungen. Diese Lösungen wurden von ihm begrifflich so abstrahiert, dass er alle in der Patentliteratur vorgefunden Lösungen mit nur 40 sogenannten Innovativen Grundprinzipien formulieren und mit eindeutigen Nummern versehen konnte (Abbildung 18). <?page no="174"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 175 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 18: Die 40 innovativen Grundprinzipien Diese 40 innovativen Grundprinzipien stellen abstrakte Lösungsvorschläge dar, hinter denen Lösungen realer Patentschriften stehen. Die Zellen der TRIZ-Widerspruchsmatrix wurde von Altschuller zunächst aus 39 technischen Parametern aufgebaut. 264 Jüngere Studien erweiterten sie auf 48 technische Parameter. 265 Bis heute zeitigt die klassische Altschullersche 39 x 39-Matrix gute Lösungsansätze, so dass sie immer noch gern genutzt wird. Zu allen Fassungen gibt es mittlerweile interaktive Versionen mit Beispielen im Internet. In allen Fassungen finden sich bis heute die 40 innovativen Prinzipien als diejenigen Lösungen, die bei gegebener Konfliktsituation in der Patentliteratur am häufigsten erfolgreich zum Einsatz kamen. Auch jüngste Patentanalysen hatten den von Altschuller formulierten 40 sogenannten innovativen Grundprinzipien nichts hinzuzufügen. Daher wird die Widerspruchsmatrix als Problemlösungswerkzeug verstanden, das für jede Parameterkonstellation die besten innovativen Lösungsprinzipien in Form von abstrakten Begriffen vorschlägt, die dann als Hilfen zur zielgerichteten Ideengenerierung fungieren können. Wollte man beispielsweise den Fahrrad- oder Motorradhelm verbessern, sollte lange Zeit beispielsweise die Stabilität zunehmen, das Gewicht aber abnehmen, oder zumindest gleich bleiben. Dieser aus den zwei Parametern bestehende Konflikt war in so vielen Patentschriften aus den unterschiedlichsten Branchen Grundlage für eine innovative Problemlösung, dass man sich die Lösungsansätze nun aus diesen erfolgreichen Patentanmeldungen zunutze machen und diese auf sein Problem übertragen konnte, ohne die Details aus den jeweiligen Patentschriften zu kennen, die ja zudem aus fremden Branchen stammen. Im Gegenteil, man nutzt das gesamte Ideenspektrum ohne sich in den Details zu verlieren. 264 Vgl. Altshuller, G. S., 1998 265 Vgl. Mann, D.; Dewulf, S.; Zlotin, B.; Zusman, A., 2008 <?page no="175"?> 176 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Beispiel So hatte und hat die Flugzeugindustrie das genannten Problem „Stabilität versus Gewicht“ bei quasi jedem Bauteil zu lösen, gleiches gilt für die Automobilindustrie oder die oben angesprochenen Beispiele Helm sowie Koffer. Als typische Lösungen galten in allen Branchen Innovationen von Klebestatt Schraubverbindungen bis hin zu Kohlefaser und geschäumten Werkstoffen, auch geschäumten Metallen. Altschuller hat diese Lösungen unter dem abstrakten Sammelbegriff „Verbundwerkstoffe“ subsumiert, damit die Einzelheiten eines jeden Patents zugunsten der schnelleren Lesbarkeit zunächst verschwinden. Dahinter verbergen sich Verbundmaterialien, die den homogenen Stoff ersetzt haben, sowie Zusammensetzungen von Stoffen in unterschiedlichen Aggregatzuständen, die in den analysierten Patenten regelmäßig zum Einsatz kamen. Wenn diese Lösungen in anderen Branchen schon vorgedacht wurden, warum sollte man nicht probieren, sie auch auf das aktuellere Problem des Helms oder Koffers zu übertragen? So sind Helme aus Kunststoff- Schäumen mittlerweile gang und gäbe, ebenso Koffer, teilweise in Kombination mit dünnen Metallfolien oder Geweben. Der Versuch, sich die vorstrukturierten Lösungsmechanismen abzuschauen und sie auf das eigene Problem anzupassen, beschleunigt den Innovationsprozess, indem dieser sofort auf diese Lösungsrichtung fokussiert, vorausgesetzt, das Problem ist hinreichend analysiert und das „richtige“ Problem als Ausgangspunkt definiert (siehe Aufgabe 4). Da einige Übung im Umgang mit der Problemanalyse sowie den Begriffen der 39 technischen Parameter und 40 innovativen Grundprinzipien erforderlich ist, sei es für eine aktuelle Problemstellung bei einem Mülleimer noch einmal erläutert. In der Praxis lohnt sich zum Einstieg in die zielführende Anwendung immer ein TRIZ- Moderator. Beispiel Aus heutiger Sicht könnte sich eine aktuelle Problemstellung bei einem Mülleimer folgendermaßen darstellen: Der Mülleimer soll ein großes Fassungsvermögen haben, aber keinen Geruch erzeugen. In der Formulierung der 39 technischen Parameter ist nun das Problem so auszudrücken, dass 2 dieser 39 Parameter das Problem beschreiben, also den Widerspruch bilden. Je nachdem, wie man das Problem modelliert, kann man auch mehrere Widerspruchsformulierungen herausarbeiten. Das Fassungsvermögen des Mülleimers ist in diesem Problemfall als „Volumen eines unbeweglichen Objektes“ (Parameter 8) zu interpretieren. Die Geruchsentwicklung als solche ist in der Liste der 39 technischen Parameter zwar nicht unmittelbar zu finden, wäre aber beispielsweise in „Leistung“ (Parameter 21) und/ oder „Zuverlässigkeit“ (Parameter 27) zu übersetzen. Genau genommen soll sich das Volumen verbessern, dann verschlechtert sich aber die Leistung und/ oder Zuverlässigkeit. Diese Formulierungen bestimmen die Matrixzellen, aus denen die am häufigsten erfolgreichen prinzipiellen Lösungen vorangegangener Patente, die dieselbe Widerspruchssituation zum Gegenstand hatten, in abstrakter Form abgelesen werden können: Zeile 8 und Spalte 21 liefern die innovativen Grundprinzipien 30 und 6. In der Liste der 40 innovativen Grundprinzipien bedeutet 30: Flexible Hüllen und <?page no="176"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 177 www.uvk-lucius.de/ innovation dünne Folien, und 6: Mehrzwecknutzung und Multifunktionalität. Zeile 8 und Spalte 27 liefern die innovativen Grundprinzipien 2, 35 und 16, also 2: Abtrennen, 35: Veränderung des Aggregatzustandes und 16: Partielle oder überschüssige Wirkung. Diese abstrakten Begriffe werden nun als Grundlage für ein gezieltes Brainstorming genutzt, indem die Arbeitsgruppe versucht, daraus Lösungen für den Mülleimer zu generieren. Dabei können wiederum Beispiele, die den Prinzipien hinterlegt sind, sehr hilfreich sein, den Gedankensturm anzuregen. Hier seinen 2 der 40 innovativen Grundprinzipien mit Hintergrundbeispielen belegt. Das innovative Grundprinzip 2 „Abtrennung“ bedeutet: das störende Teil eines Objektes abtrennen oder entfernen, oder den notwendigen Teil oder die wesentliche Eigenschaft allein einsetzen oder herausnehmen. Als Beispiele können gelten… 1. Das Benutzen von auf Band aufgezeichneten Vogelstimmen als Geräuschuntermalung in einer Sauna (das vom Vogel abgetrennte „Objekt“ Vogelstimme wird eingesetzt). 2. Die geräuschvolle Turbine samt Sammelbehälter eines Zentralstaubsaugers wird im Keller oder in der Garage platziert, damit keine Geräusche beim Staubsaugen im Raum entstehen. Das Prinzip Nummer 16 „Partielle oder überschüssige Wirkung“ bedeutet: bei Schwierigkeiten, 100% der geforderten Funktion zu erfüllen, ist das Problem dadurch zu vereinfachen, indem etwas mehr oder weniger von der geforderten Funktion verwirklicht wird. Beispiel 1. Beim Verfugen von Fliesen wird großflächig Material aufgebracht und dann das überflüssige Material mit einem Schwamm entfernt. 2. Beim Befüllen eines Eisbechers wird mehr Eis eingebracht und die überschüssige Menge mit einem Spachtel abgenommen. 3. Beim Druck wird Farbe auf die gesamte Druckplatte aufgebracht, nur die Farbe, die auf den erhabenen Stellen zu liegen kommt, gelangt auf die zu bedruckende Fläche. Auf den Mülleimer übertragen könnte dies bedeuten, viele einzelne Müllbeutel in einem zu integrieren, oder man könnte so viel Müll in dem Mülleimer zusammenpressen, dass kein Geruch mehr entsteht, da der für die Geruchsbildung erforderliche Sauerstoff fehlt. Alternativ könnte man den Müll zerkleinern oder die den Geruch tragende Luft durch Unterdruck abführen. Auch jüngste Analysen hatten der vergleichsweise geringen Zahl innovativer Grundprinzipien in mehr als 3 Millionen analysierten Patenten nichts hinzuzufügen. Sowohl die technischen Parameter als auch die innovativen Prinzipien der TRIZ können als abstrakte Werkzeuge verstanden werden, auf Problemformulierungen sowie Lösungen <?page no="177"?> 178 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation und Wissen zurückzugreifen, ohne die Detailinformationen mitzuführen, wo dieses Wissen bislang genau zur Anwendung kam. Betrachtet man die Widerspruchsmatrix genau, dann finden sich auf der Diagonalen die Widerspruchsparameter, die sich selbst widersprechen. Diese Formulierungen bilden ja die eingangs genannten physikalischen Widersprüche, in denen ein Parameter in gegensätzlicher oder ein und dieselbe Eigenschaft in unterschiedlicher Ausprägung gefordert wird. Der physikalische Widerspruch bildet quasi die Grundlage aller Widersprüche, das klassische Paradoxon, er ist der Kern jedes Problems. Für diese Fälle hält TRIZ vier sogenannte Separationsprinzipien und zwei Zusatzstrategien vor, die diese Grundform aller Widersprüche lösen helfen: 1. Separation im Raum: Eine widersprüchlich geforderte Eigenschaft wird an einer Stelle erfüllt, an einer anderen Stelle nicht erfüllt. 2. Separation in der Zeit: Eine widersprüchlich geforderte Eigenschaft wird zu einem Zeitpunkt erfüllt, zu einem anderen Zeitpunkt nicht erfüllt. 3. Separation durch Bedingungswechsel: Eine widersprüchlich geforderte Eigenschaft wird unter einer Bedingung erfüllt, unter einer anderen Bedingung nicht erfüllt. 4. Separation eines Systems und seiner Teile (Separation durch Systemübergang): Eine widersprüchlich geforderte Eigenschaft ist im übergeordneten System vorhanden, im Systemelement nicht vorhanden. 5. Befriedigung der Anforderungen 6. Umgehen/ Vermeiden der Anforderungen Die 4 Separationsprinzipien und 2 Zusatzstrategien sind als nochmalige Verdichtung der 40 abstrakten innovativen Grundprinzipien zu verstehen und bilden die Grundlösungen aller technischen Problemstellungen. Hinter jedem dieser 6 Begriffe stehen jeweils 3-6 der 40 innovativen Grundprinzipien. Die Denkweise soll hier anhand der 4 Separationsprinzipien verdeutlicht werden: Beispiel Ein Pflaster soll kleben, wenn man es auf die Wunde am Arm legt, es soll aber nicht kleben, wenn man es abziehen will, weil es sonst Schmerzen verursacht. Lösungsfindung nach den 4 Separationsprinzipien: 1. Separation im Raum: Die Wundauflage des Pflasters wird mit einer Mullbinde auf die Wunde gelegt und der Arm damit umwickelt, die Befestigung findet nicht auf der Haut statt. 2. Separation in der Zeit: Das Pflaster ist mit einem zeitabhängigen Kleber versehen, der nach 24 Stunden seine Klebefähigkeit verliert („24-Stunden-Pflaster“). 3. Separation durch Bedingungswechsel: Bei normaler Temperatur und/ oder Lichtverhältnissen klebt das Pflaster, bei UV-Licht-Bestrahlung mit einer Speziallampe versagt der Kleber und man kann das Pflaster leicht entfernen. 4. Separation durch Systemübergang: Die Ursache für die Wunde wird vermieden. Die beiden Zusatzstrategien lassen folgende Ideen naheliegend erscheinen: 5. Befriedigung der Anforderungen: Das Pflaster liegt in flüssiger Form vor, wird aufgesprüht und muss gar nicht mehr entfernt werden, weil es sich selbst auflöst. <?page no="178"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 179 www.uvk-lucius.de/ innovation 6. Umgehung/ Vermeidung der Anforderungen: Das Pflaster hält durch Adhäsion von selbst und benötigt keine weitere Fixierung mehr. (siehe Aufgabe 5) 5.2.3.4 Operator Material l-Zeit-Kosten MZK Der Operator Material-Zeit-Kosten (MZK) oder auch Dimension-Time-Cost (MTC) ist ähnlich anzuwenden wie das Zero-Base-Budgeting in der BWL: Zunächst wird für eine gegebenen Problemstellung gefragt, wie die Lösung aussähe, wenn gar kein Material, gar keine Zeit und gar keine Kosten angesetzt würden. Diese drei Extrempositionen werden dann mit ihrem Gegenteil verglichen: Wie sähe die Lösung aus, wenn man beliebig viel Material (oder Platz), beliebig viel Zeit und/ oder Geld hätte? Insgesamt ergeben sich so zunächst sechs extreme Denkhaltungen, die zu neuen Lösungsideen anregen sollen. Häufig relativiert sich angesichts dieser Extremforderungen bereits die bestehende Situation und lässt sie gar nicht mehr so schlecht erscheinen. Oftmals würde ein Ergebnis (Produkt oder Prozess) nicht dadurch erheblich besser, dass man sich mehr Zeit, Geld oder Platz für seine Bearbeitung wünscht. Beispiel Ein Student hat seine Bachelorarbeit fast fertig. Nun möchte er die Bearbeitungszeit verlängern, um noch einige Feinheiten wie Schriftgrößen der Bildunterschriften zu formatieren und ein Unterkapitel einzufügen, an dem noch gearbeitet wird. Der Betreuer kommt dieser Bitte nicht nach und fragt: „Wie sähe die Arbeit aus, wenn Sie nächste Woche abgäben? Und wie, wenn Sie noch 3 weitere Monate Zeit hätten für die Fertigstellung? “ Der Student erkennt erst jetzt, dass seine Änderungen eher Nebensächlichkeiten betreffen, die Verlängerung erscheint plötzlich nicht mehr attraktiv. Das noch offene Unterkapitel wird nach dem aktuellen Stand in den bestehenden Text integriert, er erlernt die automatisierte Formatierung von Bildunterschriften, die Schriftgrößenänderung entfällt und die Verlängerung wird zurückgezogen. Hier scheint die aus der BWL bekannte 80/ 20-Regel durch, nach der 80% des Ergebnisses bereits nach 20% der Zeit erbracht werden, nur dass der Operator MZK diesen Umschlagpunkt zwar in der Gänze weniger genau, dafür aber deutlich für einen bestimmten Parameter definiert. Neben diesen extremen Konfrontationen ermittelt der Operator MZK, wann ein bestehender Nachteil in sein Gegenteil kippt - oder umgekehrt. So erhält man ein Gespür dafür, welche Parameter des Produktes in welcher Ausprägung gefordert werden. Beispiel Es soll bei der Gestaltung eines Mobiltelefons die optimale Größe des Bildschirms ermittelt werden. Der Parameter, um den es hier geht, ist also die Bildschirmdiagonale. Wie sähe das Telefon aus, wenn der Bildschirm riesig groß oder sogar unendlich groß wäre? Und wie sähe es aus, wenn er ganz klein oder gar kein Bildschirm hätte? Hier kommen einem Ideen zum ausklappbaren Bildschirm bis hin zum Leuchtfeld, das ganz ohne Material, allein mit einem Lichtfeld auskommt. Auf der Skala der Bildschirmgröße von 0 bis unendlich mag erkennbar sein, ab wann ein <?page no="179"?> 180 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation physisch vorhandener Bildschirm noch lesbar ist, und ab wann man bereits von einer Kinoleinwand sprechen mag. Diese Skala der Bildschirmdiagonale, hinterlegt mit den jeweils in der Herstellung anfallenden Kosten, erleichtert dann die Entscheidungsfindung und ist wohl ein Grund, warum Hersteller derzeit Touchscreens und zukünftig eher Beamer in ihre Mobiles einbauen, möge der Kunde doch selbst entscheiden, wie groß er sein Display einstellen mag und auf welche Oberfläche er zukünftig schauen möchte. Bleibt man beim altbekannten Bildschirmrahmen im Mobile, so hat sich eine als ergonomisch anerkannte Größe gemeinhin durchgesetzt, die sicherlich von einigen Anwendern als zu klein empfunden wird, so dass hier Neuerungen zu erwarten sind (siehe Aufgabe 6). 5.2.3.5 Stoff-Feld d-Analy yse SFA Nicht allen technischen Problemen liegt ein fundamentaler physikalischer Widerspruch oder technischer Konflikt zugrunde und nicht immer lassen sich die ein System bestimmenden Parameter eines Problems beliebig dehnen. Liegt der Schwerpunkt darin, ein technisches System hinsichtlich seiner Idealität zu verbessern, es effizienter oder in bestehenden Parametern besser arbeiten oder weniger schädlich sein zu lassen, kommt das TRIZ-Modell der Stoff-Feld-Analyse in Betracht. Jedes funktionsfähige System besteht aus mindestens zwei Grundelementen, die über einen Vermittler miteinander in Beziehung stehen, beispielsweise in Form eines Feldes oder einer Energiequelle. Entfernt man eines dieser Systemelemente, so bricht das System zusammen, es funktioniert nicht mehr. Will man das bestehende System nun optimieren, so betrachtet man dieses Wirkungsdreieck genauer und modelliert sie als Triade von Stoffen und Feld 266 . Ähnlich der erlaubten Operationen bei der Modifikation von Dreiecken in der Geometrie kennt TRIZ zur Verbesserung und Ergänzung von solchen Wirkungstriaden genau 76 Standardlösungen, bei denen dann wiederum die analoge Denkweise in Vordergrund steht. Gelingt es, ein Problem in Form eines solchen Dreiecks zu modellieren, dann können die 76 Standardlösungen gezielt Ideen provozieren helfen. Das TRIZ-Werkzeug der SFA ist im Laufe der Zeit weiterentwickelt und ergänzt worden. So hat sich nicht nur die Liste der technischen Parameter auf derzeit 48 verlängert, sondern auch die SFA wurde mit dem Tool-Feld-Funktion-Modell (TOP-Modell) praktischen Anforderungen und Bedingungen angepasst. Die Modellierung mit Hilfe dieses Werkzeuges gilt als äußerst effizient, aber schwierig und sollte von einem erfahrenen TRIZ-Moderator begleitet werden. Sie wird hier nicht vertieft. 5.2.3.6 Antizipierende Fehlererkennung AFE Ein weiteres TRIZ-Werkzeug, die Antizipierende Fehlererkennung AFE (engl: AFD: Anticipatory Failure Determination), dient dazu, innovative Lösungen zu einem Problem zu finden, indem man das Problem bewusst und absichtlich erzeugt oder sogar verstärkt. Im Rahmen der AFE wird die Frage gestellt, wie man das System dazu bringen kann zu versagen, sich bewusst selbst zu zerstören oder rückwärts abzulaufen. 266 Vgl. Hentschel, C.; Gundlach, C.; Nähler, H. T., 2010 <?page no="180"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 181 www.uvk-lucius.de/ innovation Daraus ergeben sich dann neue Strategien zur Vermeidung oder Umgehung des Problems. Die hierzu gefundenen Lösungen setzen ein hohes Maß an Kreativität frei, in umgekehrter Form wiederum für die Auflösung des Problems zu sorgen. Beispiel Die Konstruktion eines Einkaufswagens soll verbessert werden. Die AFE fragt nun gezielt danach, wie die Hauptfunktion des Einkaufswagens, Waren zu transportieren, gezielt gestört werden kann. Antworten wären, die Räder zu blockieren, den Chip zum Losschließen nicht vorrätig zu haben, den Griff des Wagens oder die Wandung des Korbs zu entfernen. Aus den Antworten lassen sich nun konkrete Ideen zur Verbesserung des Einkaufswagens ableiten, beispielsweise sind die Räder zu verbessern, oder der Wagen hat einen verschiebbaren Boden, um große Teile wie Getränkekästen in großer Menge zu transportieren (siehe Aufgabe 7). 5.2.3.7 Effekte Definition Unter Effekten versteht TRIZ die naturgegebenen Wirkungsweisen, die in einem Produkt oder Prozess die Funktionsweise ausmachen. Effekte spiegeln Altschullers Anliegen, Wissen nicht nach Fachgebieten (Physik, Elektrotechnik, Thermodynamik, Chemie, Biologie, Geometrie, Mechanik, …), sondern nach den reinen Wirkweisen zu klassifizieren, um es so besser verfügbar zu machen. Da sich bei jedem Entwickler mit seinem Erfahrungshorizont auch bevorzugte Denkrichtungen entlang seiner Spezialdisziplin ausprägen, und niemand alles wissen kann, ist eine fachneutrale Darstellung von naturwissenschaftlichen Effekten besonders hilfreich, neue Lösungsansätze zu generieren. Altschuller erkannte, dass Erfindungen gerade dann erfolgreich waren, wenn Effekte aus einem fachfremden Fachgebiet genutzt wurden, und nicht aus dem Fachgebiet, aus dem die Problemstellung kam. Beispiel Beispielsweise ist der Lotuseffekt ein aus der Biologie bekannter Effekt: Die Lotuspflanze hat eine noppenartige Oberflächenstruktur, die einem Wassertropfen keinen Halt bietet und jede Ablagerung auf dem Blatt sofort wegspülen hilft. Dieser Effekt war mehrere Jahrzehnte nur unter Biologen bekannt. Anwendungen in der Technik ließen lange auf sich warten, weil er in den Ingenieurwissenschaften zunächst unbekannt war. Die Anforderung, selbstreinigende Oberflächen zu konstruieren, machte den Lotuseffekt aus der Welt der Biologie auch im Ingenieurwesen bekannt, stellte aber die Ingenieure vor die Herausforderung, technische Oberflächen länger haltbar zu machen als das Lotusblatt in der Natur, das einfach nachwachsen kann. Dieses Ziel ist nach jahrelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit erreicht worden, so dass zunehmend selbstreinigende Oberflächen, beispielsweise auf Sanitärkeramik oder Wandfarben zum Einsatz kommen. Dass dies nur schleppend erfolgt, ist eine Ausprägung der Innovati- <?page no="181"?> 182 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation onswiderstände. Generell gilt es als vielversprechend im erfinderischen Sinne, verstärkt Wissen aus fachfremden Branchen für das eigene Fachgebiet zu nutzen. Als weiteres Beispiel zur Nutzung solchen fachfremden Wissens soll die Weiterentwicklung von Wundpflastern herangezogen werden. Beispiel Nach der Optimierung von Wundauflagen über selbstklebende Pflaster bis hin zum Sprühpflaster werden nun Verfahren aus Deutschland bekannt, die mit Strom oder Ultraschall funktionieren. Man konnte feststellen, dass der hauteigene Stromfluss in chronischen Wunden sehr reduziert oder zum Erliegen gekommen ist. Bei der Elektrostimulation wird eine Spezialelektrode auf die schlecht heilende Wunde geklebt und an ein Stimulationsgerät angeschlossen. Die elektrische Spannung sorgt für einen schwachen Stromfluss, der die Wundheilung anregt. Bei der Ultraschalltherapie erzeugt man zudem winzige Bläschen, die schädliches Keimwachstum in der Wunde hemmen und eine erhöhte Durchblutung hervorrufen. Beides reinigt nicht nur die Wunde, sondern unterstützt die Heilung, da gesundes Gewebe unbeeinträchtigt bleibt. Beide Verfahren lassen erwarten, dass zukünftig wohl Strom führende Pflaster einen neuen Entwicklungsschritt bedeuten. Um fachfremdes Wissen gezielt für die eigene Problemstellung abzufragen, stehen heutzutage rechnerunterstützt sogenannte Effekte-Datenbanken zur Verfügung. Ein gutes Beispiel ist beispielsweise unter www.creax.com (siehe Function Database Abbildung 19) zu finden. Abbildung 19: Bildschirmausschnitt „Function Database“ der Firma CREAX, Belgien Dort sind naturwissenschaftliche Effekte unabhängig von ihrer fachlichen Zuordnung nach funktionalen Kriterien aufgelistet. Die Suche darin wird auf die reine Funktion in Form eines aktiven Verbs (beispielsweise „detect“, „clean“, „move“, …) und eines Aggregatszustandes (beispielsweise „liquid“, „solid“, …) abstrahiert und dann die Suche gestartet. Die Datenbank listet nun nicht nur alle naturwissenschaftlichen, sondern auch technischen Effekte auf, die für diese Funktion bereits zu Anwendung kamen, und zwar unabhängig vom Fachgebiet, in dem der Effekt entdeckt wurde. <?page no="182"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 183 www.uvk-lucius.de/ innovation Beispiel Wollte man beispielsweise das Problem der Entdeckung eines flüssiges Kühlmittel leckenden Gefäßes mit Hilfe einer solchen Effekte-Datenbank lösen, so würde man abstrahieren in die Funktion „detect a liquid“ und erhielte beispielsweise fünf Möglichkeiten der Erkennung einer Flüssigkeit im Raum: vom Bernoulli-Effekt, über die Corona-Entladung, Photolumineszenz, Piezo-Effekt bis hin zur Radioaktivität. Diese fünf Lösungsansätze werden technisch erklärt und mit bekannten Beispielen der praktischen Anwendung hinterlegt. So wäre Kühlmittel beispielsweise mit einem fluoreszierenden Farbstoff zu versehen, so dass Lecks sich selbst farblich markieren und unter ultraviolettem Licht sichtbar werden. Die Datenbanken bieten neben den reinen Benennungen möglicher Lösungen Erklärungen der Effekte, animierte Dokumentationen von deren Funktionsweise sowie Beispiele ihres bislang erfolgten Einsatzes in der Praxis. Sie werden ständig ergänzt und erweitert. Effekte-Datenbanken sind also aktuelle, animierte Naturwissenschaftskataloge, deren Inhalt fachunabhängig gegliedert ist, was ihren Einsatz besonders für Nicht- Techniker interessant macht (siehe Aufgabe 8). Aber auch Fachexperten schätzen den Blick über den Tellerrand und kommen mit Hilfe von Effekte-Datenbanken auf innovative Problemlösungen, da sie mit fachfremden Lösungsansätzen konfrontiert werden, die in ihr eigenes Fachgebiet möglicherweise noch nicht durchgedrungen sind. 5.2.3.8 Evolutionsgesetze, S-Kurve und Trends Die technische Entwicklung oder Evolution unterliegt Gesetzmäßigkeiten, die TRIZ unter dem Begriff Evolutionsmuster zusammenfasst. Die Evolutionsmuster, die TRIZ bereitstellt, orientieren sich an der Veränderung von Erfindungen über ihren zeitlichen Verlauf und den Fortschritt hinweg. Ein Produkt durchläuft somit nicht nur einen Lebenszyklus, sondern darüber hinaus auch verschiedene Entwicklungsstufen. 267 Der Erfolg eines Produktes hängt auch davon ab, diese gesamtübergreifenden Entwicklungsstufen im Auge zu haben. Von Altshuller wurden aus der Analyse von Patenten über die Zeit acht Grundprinzipien der technischen Evolution in der folgenden Reihenfolge extrahiert: 1. Jedes System entwickelt sich entlang eines Lebenszyklus stufenweise von der Geburt über Kindheit, Wachstum, Reife und Tod. 2. Die Entwicklung erfolgt entlang zunehmender Idealität. 3. Einzelne Systemteile entwickeln sich uneinheitlich, wodurch neue Probleme entstehen oder vordem verdeckte Probleme deutlich werden. 4. Jedes System entwickelt sich hin zu mehr Dynamik, Steuer- und Regelbarkeit. 5. Jedes System erfährt durch hinzugekommene Funktionen einen Komplexitätszuwachs, der durch geniale Vereinfachung wieder abgebaut wird. 6. Es werden zunehmend passende mit unpassenden Elementen kombiniert, dabei werden übereinstimmende Elemente zusammengeführt und nicht-übereinstimmende eliminiert. 267 Vgl. Herb, R.; Herb, T.; Kohnhauser, V., 2000 <?page no="183"?> 184 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation 7. Jedes System wird miniaturisiert und setzt verstärkt Felder ein. 8. Mit jeder Entwicklung wird eine immer geringere menschliche Interaktion mit dem System angestrebt. Sie helfen, über eine gefundene Lösung hinauszudenken und die Frage nach dem nächsten verbesserten Wirkprinzip zu beantworten. Das erste Muster, die stufenweise Evolution, beschreibt beispielsweise die Potenzialentwicklung von Technologien und Systemen über die Zeit. TRIZ kennt verschiedene Evolutionsmuster. Das bekannteste ist die S-Kurven-Theorie, die im Rahmen der TRIZ ständig weiterentwickelt wird. Sie soll in ihren Grundzügen anhand des einfachen Beispiels eines Messgerätes verdeutlicht werden (Abbildung 20). Das zweite Entwicklungsprinzip, die Vergrößerung der Idealität, ist wohl das wichtigste dieser acht Entwicklungsgesetzte. Es besagt, dass mit fortschreitender Entwicklung versucht wird, die sog. schädlichen Funktionen eines Systems zu eliminieren während das System trotzdem alle gewünschten Funktionen zur Verfügung stellt. Idealität wurde bereits weiter oben erläutert. Sie wird definiert als das Verhältnis aller gewünschten, nützlichen Funktionen zu der Anzahl aller schädlichen Funktionen, einschließlich verursachter Kosten. Der Entwicklungstrend verläuft nun in Richtung steigender Idealität, auch wenn das vollkommene Design nie erreicht werden wird. Abbildung 20: S-Kurve und Evolutionsstufen am Beispiel Messgerät 268 Das dritte Prinzip, die uneinheitliche Entwicklung der Systemteile, drückt aus, dass jedes Teilsystem bzw. Komponente seine eigene S-Kurve hat. An Komponenten, die bereits in der Reifephase sind, lässt sich nicht mehr viel verbessern, es sei denn, man beginnt auf einer neuen S-Kurve. Unterentwickelte Systemteile hingegen verbessern mit jedem weiteren Entwicklungsschritt durchaus die Gesamtleistung des Systems. Ein 268 vgl. Kummert, B., 2012 <?page no="184"?> 5.2 Lösungen finden mit TRIZ 185 www.uvk-lucius.de/ innovation modulares Systemkonzept stellt somit die beste Möglichkeit dar, Teilsysteme unabhängig voneinander weiterzuentwickeln und dabei das Gesamtsystem zu verbessern. Mit dem vierten Prinzip, der Erhöhung der Dynamik der Steuerung, wird ein verbreiterter Einsatzbereich des Systems angestrebt. Es kommen Funktionen hinzu oder eine einfache Steuerung wird durch eine Regelung ersetzt, wodurch sich das Einsatzfeld des Systems beträchtlich vergrößert. Die meisten Systeme haben zuerst diese Tendenz, sie werden immer komplexer, bis das nachfolgend beschriebene Prinzip diese Entwicklung stoppt. Das fünfte Prinzip beschreibt die Vereinfachung von Systemen, also weg von der Komplexität hin zur Einfachheit. So entwickelten sich Heimwerkergeräte in den 1960er Jahren zu komplexen Universalkombinationen, mit denen man beispielsweise eine Kreissäge zu einer Drechselmaschine umrüsten konnte. Allerdings hat sich herausgestellt, dass keine Kombinationsmaschine so leistungsfähig war wie eine spezialisierte Einzelmaschine. Der gegenläufige Trend setzte ein. Wo hingegen Zusatzfunktionen die Handhabung erleichtern, entwickeln sich integrierte Geräte, die ganze Arbeitsfolgen in einem Arbeitsgang erledigen. So können beispielsweise heutige Kopiersysteme in einem Arbeitsgang beidseitig kopieren, sortieren, heften und stellen dadurch wieder ein neues Monosystem, das Kopiercenter, dar. Das sechste Prinzip beschreibt die Tendenz, dass gezielt passende und unpassende Komponenten kombiniert werden und dadurch unerwünschte Funktionen ausschließen helfen. Beispielsweise werden Profile von Autoreifen nicht mehr ausschließlich ganz regelmäßig gestaltet, da sich herausgestellt hat, dass sich dadurch unangenehme Resonanzen beseitigen lassen. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die unterschiedlich großen Vorder- und Hinterräder bei einem Traktor. Der siebente Trend, Miniaturisieren und der Einsatz von Feldern, lässt sich sehr gut in der Elektronik und Elektrotechnik beobachten. Die Fortschritte auf diesen Gebieten haben auf alle anderen Fachgebiete ausgestrahlt. Das achte Prinzip, geringere menschliche Interaktion, erlaubt, den Menschen von gefährdenden Tätigkeiten fernzuhalten oder mühseligen Tätigkeiten zu entlasten. Somit kann er sich anspruchsvolleren Aufgaben zuzuwenden. Als Beispiel wäre die automatische Niveauregelung bei Autoscheinwerfern oder die automatische Verkehrsfunkzuschaltung beim Autoradio zu nennen. Diesen Evolutionsmustern liegen analog der 39 technischen Widerspruchsparameter oder der 40 innovativen Grundprinzipien abstrakte Formulierungen zugrunde: wie oben am Beispiel des Messgerätes erkennbar, begann die Entwicklung mit einem starren System. Im nächsten Entwicklungsschritt ist eine begrenzte Beweglichkeit in Form von zunächst wenigen, dann mehr Gelenken eingebaut, bis zum Gliedermaßstab oder Zollstock. Das Maßband als komplett flexible Form bildet denn darauffolgenden Entwicklungsschritt. Zuletzt wird dieses System gegen ein feldförmiges, laserbasiertes System ergänzt, das zudem eine höhere Genauigkeit mit einer prinzipiell unendlichen Länge bei gleichzeitig kleinerer Bauweise verbindet. Das System ist dynamischer geworden. Dieser Trend zur Dynamisierung kann analog an fast allen anderen technischen Produkten beobachtet, nachvollzogen oder prognostiziert werden, so dass TRIZ zunehmend in die Erforschung von Trendentwicklungen und -voraussagen einfließt. <?page no="185"?> 186 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Beispiel Der Trend zur Dynamisierung sei hier am Beispiel der KFZ-Lenkung dargestellt Das System der starren Lenkstange wurde zunächst durch ein, dann mehrere Gelenke dynamisiert, dann durch eine flexible Lenkwelle ersetzt. Eine hydraulische Lenkung bildete den Schritt zum Übergang zu einer elektronischen Lenkung, die prinzipiell auch ohne Lenkrad möglich wäre. Dem Trägheitsgrad der Konsumenten ist es zu verdanken, dass sie dennoch ein klassisches Lenkrad vorfinden. Die Frage ist, wann dieses durch Joysticks oder andere „Lenksysteme“ ersetzt wird (Bild 21). Das Beispiel der KFZ-Lenkung ist nur stellvertretend für eine Fülle technischer Systeme, von der Computertastatur über Raumheizsysteme bis hin zur Sehhilfe, auf die diese Entwicklungstrends analog angewendet werden können (siehe Aufgabe 9). Abbildung 21: Trend zur Dynamisierung am Beispiel KFZ-Lenkung 269 5.2.4 Weitere TRIZ-Werkzeuge Die gesamte Palette von TRIZ umfasst noch eine Vielzahl weiterer Werkzeuge, die allesamt die Entwurfsphase unterstützten und in europäischen Erfindungsprozessen neu sind. Hierzu gehören Werkzeuge wie Innovationscheckliste, Neun-Felder-Modell, Systemmodell, Funktionsanalyse, Trimming, Problemformulierung, Feature Transfer oder Zwergemodell, 269 Vgl. Herb, R.; Herb, T.; Kohnhauser, V., 2000 <?page no="186"?> 5.3 Zukunft gestalten mit Design Thinking 187 www.uvk-lucius.de/ innovation auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Mittlerweile findet sich einige deutschsprachige Literatur, die den Zugang erleichtert. 270 Darin finden sich neben vielen praktischen Beispielen auch weiterführende Literaturangaben zur Vertiefung. Nicht zuletzt werden alle Methoden in einen standardisierten Ablaufplan gefügt, der unter dem Kürzel ARIZ (Algorithmus zur Lösung von Erfindungsaufgaben) bekannt ist. Die Ursprünge dieses Algorithmus gehen zurück auf das Jahr 1956 (ARIZ-56). Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche Ergänzungen vorgenommen, so dass der Zeitbezug immer am Namen (z.B. ARIZ-95) erkennbar ist. Im Rahmen der TRIZ-Philosophie wird ARIZ als ein universelles Werkzeug angesehen, das zum Einsatz kommt, wenn die elementaren Prinzipien oder Standards keine zufriedenstellende Lösung liefern. Dieses Vorgehensmodell überführt auch unscharfe Problemsituationen in konkrete Aufgabenstellungen, deren Lösung sich dann sehr massiv am Idealen Endresultat orientieren. Für Laien ist zunächst schwer nachvollziehbar, dass hier von den Beteiligten einerseits größte Loslösung von bekannten Denkweisen abverlangt wird, und andererseits eine strikte Vorgehensweise die Arbeit strukturiert. Experten lieben gerade diesen Widerspruch, nicht nur, weil besonders innovative Lösungen zu erwarten sind, sondern weil diese Arbeitsweise Spannung und Spaß verbindet. Alle Werkzeuge von TRIZ erfordern ausführliche Erläuterung und einige Übung. Gemeinsam ist ihnen, dass die Lösung immer am Ende eines ausführlichen Analyse- und Modellierungsprozesses steht, der zunächst mühselig erscheinen mag, jedoch immer zu neuen Erkenntnissen und Sichtweisen auf die Situation führt. Insofern ist von Anwendern des TRIZ-Werkzeugkastens oft zu hören, dass vorher ja am „falschen“ Problem gearbeitet wurde, oder dass „völlig neue Horizonte eröffnet“ wurden, die das Problem und die dann gefundene Lösung dann „ganz einfach“ erscheinen ließen. 271 Quasi nebenbei sorgen die TRIZ-Werkzeuge für eine ausgezeichnete Visualisierung des Problems und der diskutierten Lösungsansätze, so dass in der Arbeitsgruppe ein einheitliches Verständnis über den Stand der Diskussion erreicht wird - ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Die spielerische Denk- und Arbeitsweise, die mit TRIZ gefördert wird, passt auch zu anderen, neueren Werkzeugen, von denen hier zwei weitere vorgestellt werden. 5.3 Zukunft gestalten mit Design Thinking Eine jüngerer Ansatz im Rahmen der systematischen Innovation ist das Design Thinking. Hier steht ebenfalls ein Prozess im Vordergrund, dessen sechs iterative Schritte dazu führen, gleichzeitig das Denken zu befreien und dennoch auf ein funktionierendes Ergebnis hin zu fokussieren, beispielsweise die Entwicklung eines innovativen Produktes, Prozesses oder einer Dienstleistung. Im Mittelpunkt steht dabei ein nutzerzentrierter Prozess eines multidisziplinären Teams, bei dem immer sehr brauchbare, manchmal auch überraschende Lösungen von hoher Qualität für das eingangs formulierte Problem herauskommen. 270 Vgl. Hentschel, C.; Gundlach, C.; Nähler, H. T., 2010 und vgl. Koltze, K.: Souchkov, V., 2011 271 Vgl. Schweizer, P., 2008 <?page no="187"?> 188 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Die Design Thinking Schools der Stanford University in Kalifornien und des Hasso- Plattner-Instituts HPI in Potsdam untergliedern den Design Thinking Prozess zu Lehrzwecken in sechs höchst iterative Schritte wie folgt 272 : 1. Verstehen („understand“) 2. Beobachten („observe“) 3. Standpunkt definieren („define point-of-view“) 4. Ideen finden („ideate“) 5. Prototypen entwickeln („prototype“) 6. Testen („test“). Analog zu TRIZ wird auch hier die eigentliche Lösungsentwicklung weit ans Ende des Prozesses geschoben und den analytischen Anfangsphasen große Bedeutung für die spätere Qualität der Lösung beigemessen. Am Anfang stehen nämlich neben dem Verstehen der sogenannten „Design Challenge“, also der Spezifikation der genauen Aufgabenstellung, die Beobachtung des Kunden und/ oder Produktnutzers in seinem realen Umfeld. Dies ist eine sehr große Herausforderung an die Entwickler, denn es gilt hier, die „echten“ Experten in der realen Welt zu finden und sich selbst im Prozess so weit zurückzunehmen, dass eine quasi ethnografische Studie möglich ist. Nur diese erlaubt es, womöglich einen neuen Standpunkt zu erkennen, zu verstehen und dem späteren Nutzer wirklichen Nutzen zu generieren. Beispiel Gilt es beispielsweise, einen neuen Kinderautositz zu entwickeln, dann ist eher nicht die Befragung der Nutzer angedacht, sondern deren Beobachtung im kompletten Umfeld. Dazu gehört auch zu erforschen, wie Kindersitze transportiert, gelagert, eingebaut, festgezurrt und gereinigt werden - oder auch nicht. Da man am Schreibtisch nicht herausfinden kann, wie eine Autofahrerin und/ oder ein Vater denkt, wenn er einen Kindersitz einbauen und benutzen will, muss man beide beobachten, einschließlich aller Schwierigkeiten, einen Kindersitz mit Kind auf dem Arm beispielsweise vom Kofferraum auf die Rücksitzbank zu positionieren und das Kind anzuschnallen, obwohl der Sitz nun die Gurtschnallen verdeckt. Natürlich wird man die Beteiligten auch befragen, hier aber stellt sich das häufig viel zu höfliche Antwortverhalten der Nutzer, die zudem durch ihre Gewohnheiten geblendet sind („Es ist eben schwierig, einen Kindersitz festzuzurren“), in den Weg für eine wirklich neue Produktlösung mit hohem Nutzen. Zusätzlich zum Gebrauch des Produktes werden Informationen zur Herstellung, Transport, Verkauf und Entsorgung zusammengetragen und es gehört unbedingt dazu, sich auch selbst in diese Rollen zu begeben. So wird der Entwickler sich nicht zuletzt in die Situation des Kindes begeben, das festgezurrt wird. Sind diese Punkte hinreichend notiert, wird ein idealtypischer, fiktiver Standpunkt, die sogenannte „Persona“ definiert. 272 Vgl. Plattner, H.; Meinel, C.; Weinberg, U., 2009 <?page no="188"?> 5.3 Zukunft gestalten mit Design Thinking 189 www.uvk-lucius.de/ innovation Definition Eine „Persona“ im Design Thinking ist eine fiktive Verkörperung einer definierten Person mit all ihren Eigenheiten, Eigenschaften und Verhaltenswerten und -normen. Sie wird bis hin zu ihrem Alter, Familienstand, körperlichen Gebrechen, Kleidungsvorlieben und Hobbys, ja bis hin zu ihrem fiktiven Namen vom Design Team entworfen und dient als Projektionsfläche für die späteren Ideen und Lösungen. Dabei kommt es darauf an, diese Person so lebendig wie möglich vor den Augen des Entwicklungsteams entstehen zu lassen, gern auch mit Hilfe von Story-Telling und Rollenspiel. Das ist wichtig, da das Team für den speziellen Blickwinkel („point-ofview“ POV) genau dieser Persona die wichtigste Problemstellung später genau definieren und damit die Lösung besser fokussieren kann. Der Prozessschritt „ideation“ ist dann ein echtes Brainstorming, in dem es darum geht, für die fiktive Persona möglichst viele Vorschläge zu generieren, wie man nur für sie das Produkt verbessern kann. Die Vorschläge werden auf kleine Klebezettel skizziert, dabei werden sie nicht bewertet, sondern erst einmal unter der Maßgabe „Masse statt Klasse“ gesammelt. Das stellt sich in der Praxis häufig als schwierig heraus; allzu schnell ist man im Team versucht, Kommentare zu Ideen anderer abzugeben. Gelingt es, den Bewertungsgeist in dieser Phase auszuschalten, hat man genügend Ideen, die nachfolgend prototypisch kombiniert, realisiert und ausgebaut werden können. Pro Brainstorming können und sollen in einem Team dabei leicht 200 und mehr Ideen generiert und Klebezettel bemalt werden. Der Prototypenbau ist dann ein physischer Prozessschritt, in dem handwerklich eine Idee auf nachvollziehbare Weise realisiert wird. Wenngleich Prototypen im technischen Sinne schon sehr elaborierte Veranschaulichungen auf dem Niveau von Versuchsmodellen sein können, so ist her eher ein Modell gemeint, das mit einfachen Bastelmaterialien wie Kartons, Klebestiften, Papier und Zeitschriften schnell zu erstellen ist. Schnelle Prototypen müssen nicht teuer und perfekt sein und schon gar nicht funktionieren, aber sie sollen illustrieren, worum es dem Designteam geht. Drückt man diesen Prototypen in der Phase „Test“ einer anderen, nicht beteiligten Person oder sogar einem späteren potenziellen Kunden in die Hand, und bittet man diese Person, den Prototypen hinsichtlich der Fragestellung, z.B. besserer Kindersitz, zu interpretieren, kann man sogleich die Stärken und Schwächen der Idee aufnehmen, hat also eine reale Testsituation mit einem kleinen Qualitätsregelkreis geschaffen. Es empfiehlt sich wie in der Brainstorming-Phase, „Killerphrasen“ wie „Das geht aber nicht…“ und „Das kenne ich schon….“ zu vermeiden und um Feedback in der Form „Was ich gut finde ...“ und „Was ich mir wünschen würde …“ zu bitten, um die positive Denkhaltung weiterzuführen. Bei nicht-physischen Produkten wie Dienstleistungen bieten sich hier auch Rollenspiele oder gespielte Abläufe an, die von den Testpersonen kommentiert werden. Die Erfahrungen der Testperson liefern dann die weitere Entwicklungsrichtung, in die der Prototyp verbessert werden kann, der Prototyp wird also gebaut um zu lernen. <?page no="189"?> 190 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Diese Schritte werden dann iterativ wiederholt. Kennzeichen aller Schritte ist das Denken und Entwickeln in Bildern: Es wird gezeichnet, gebaut und gespielt, kaum geschrieben. Für das Brainstorming gilt, wilde Ideen zuzulassen, nur darauf können sich weitere wirklich neue Ideen formieren, andernfalls bleibt man bei dem ewig machbaren Mittelmaß. Jeder dieser Prozessschritte wird mit einem engen Zeitlimit versehen, was die Kreativität noch beflügelt, weil Spontaneität ins Spiel kommt. Und ein Spiel ist es tatsächlich, das zeigt die Atmosphäre jedes Mal, und obwohl hart gearbeitet wird, ist ein Design Team am Ende von ihrer eigenen Lösung immer positiv überrascht, weil sie als Teamergebnis entwickelt wurde, nicht als Ergebnis eines Einzelnen. Design Thinking hat bis heute eine Vielzahl von Arbeitsmethoden hervorgebracht, die den vorgenannten sechs Phasen zuzuordnen sind. Einige seien hier aufgezählt: Stakeholder Map Mood Board Business Model Canvas Storyboarding Role Play Customer Journey Map Self Documentation Ethnography Product Box … Sie werden zunehmend auch im europäischen Raum bekannt und beliebt. Wenngleich das Design Thinking unabhängig von TRIZ in den USA durch die Firma IDEO 273 seit den 1990er Jahren entwickelt wurde, so stellt diese Innovationsmethode analog zu TRIZ eine Abkehr dar von der gegenüber Kunden häufig anzutreffenden Entwicklerhaltung „Meine Lösung ist Ihr Problem“. Vielmehr gilt es, den Innovationsprozess so zu modellieren, dass Offenheit und Transparenz entsteht für Lösungen, die alle Beteiligten akzeptieren können. Das ist umso mehr erforderlich, je mehr diese Lösungen in die Zukunft reichen sollen. 5.4 Trends erkennen mit trenDNA Trends beschreiben Veränderungen der Wirtschaft und Gesellschaft. Sie zeigen sich in unseren Lebensweisen, in Kultur, Politik und Wirtschaft und verändern Wünsche, Gewohnheiten, Märkte und Institutionen. Beobachtbare Trends werden zu Megatrends verdichtet 274 , die in der Corporate Strategy auch großer Unternehmen die Geschäftsfelder ausrichten helfen. 273 Vgl. Kelley, T., 2002 274 Naisbitt, J., 2007 <?page no="190"?> 5.4 Trends erkennen mit trenDNA 191 www.uvk-lucius.de/ innovation Für die Bundesrepublik Deutschland wurden im Jahr 2010 von der z-punkt Foresight Company 275 20 Megatrends wie folgt formuliert: 1. Demographischer Wandel 2. Neue Stufe der Individualisierung 3. Boomende Gesundheit 4. Frauen auf dem Vormarsch 5. Kulturelle Vielfalt 6. Neue Mobilitätsmuster 7. Digitales Leben 8. Lernen von der Natur 9. Ubiquitäre Intelligenz 10. Konvergenz von Technologien 11. Globalisierung 2.0 12. Wissensbasierte Ökonomie 13. Business Ökosysteme 14. Wandel der Arbeitswelt 15. Neue Konsummuster 16. Umsteuern bei Energie und Ressourcen 17. Klimawandel und Umweltbelastung 18. Urbanisierung 19. Neue politische Weltordnung 20. Wachsende globale Sicherheitsbedrohungen Definition Megatrends sind langfristige und übergreifende Transformationsprozesse, die die Märkte der Zukunft prägen. Sie unterscheiden sich von Trends hinsichtlich ihres Zeitraumes, ihrer Reichweite und ihrer Wirkungsstärke. Megatrends sind über Jahrzehnte hinweg beobachtbar, wirken umfassend politisch, sozial und wirtschaftlich und wirken auf alle Akteure, von Individuen bis hin zu Organisationen. Geprägt wurde der Begriff Megatrend Anfang der 1980er Jahre von John Naisbitt, der als Wegbereiter der Trend- und Zukunftsforschung mit seinen Analysen Entwicklungen wie die Globalisierung oder die Informationsgesellschaft prognostizierte 276 ). In der Praxis der Unternehmenswelt zeigt sich, dass für jedes Unternehmen aus der eigenen Perspektive verschiedene Trends von Bedeutung sind. 275 Siehe URL: http: / / www.z-punkt.de/ 276 Vgl. Naisbitt, 2007 <?page no="191"?> 192 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Fast jedes Unternehmen investiert heute dahin, Trendinformationen zu sammeln, ohne dass die Kenntnisse über Trends allein dabei zu bahnbrechenden Lösungen führten. Die Frage ist zunehmend, wie Trends zu einem Mehrwert für Unternehmen werden. TRIZ bedient zunehmend den Wunsch von Produktentwicklern nach einer handhabbaren Methode, zukunftsfähige innovative Produkt- und Prozessideen bereitzustellen. Ziel dabei ist es, nicht „nur“ Vermutungen anzustellen, sondern objektivierbare und reproduzierbare Antworten auf die Frage zu erhalten, welche Eigenschaften ein Produkt in Zukunft haben muss, um erfolgreich zu sein. Analysen haben gezeigt, dass es nicht reicht, einem Trend zu folgen, vielmehr bestimmen die Widersprüche und Zusammenhänge zwischen den Trends den Innovationserfolg. Diese Widersprüchlichkeit lässt deutlich die oben beschriebene TRIZ-Philosophie durchscheinen. Ein ganz junger Ansatz, der dieses widerspruchsorientierte Denken für die Zukunftsforschung verankert, sind die Methoden der trenDNA 277 . Diese Methodensammlung beinhaltet die für eine begrenzte geographische Region zusammengetragenen Konsumer- und Markttrends und stellt sie untereinander in Beziehung. So ist beispielsweise erkennbar, dass für den deutschsprachigen Raum ein Trend hin zur Umkehrung der Bevölkerungspyramide mit zukünftig mehr alten Menschen gilt, gleichzeitig die Alten aber in ihrem Verhalten immer jünger werden. Man spricht von den „jungen Alten“, deren Konsumgewohnheiten nicht ihrem tatsächlichen Lebensalter entspricht: Die heute 60-Jährigen sind so aktiv und gesund wie früher die 50-Jährigen und wünschen keine Produkte für alte Menschen, sondern spezielle Produktmerkmale, die auch jungen Menschen dienlich sind. Beispiel Wenn der Aufdruck auf einer Cremetube oder einer Shampoo-Flasche für Menschen mit Brille ohne diese nicht lesbar ist, dann verlangt das nicht nach einer „Cremetube für Alte“ oder „Shampoo-Flasche für Alte“, sondern einfach nach einer größeren Schrift. Diese Produktmodifikation kommt dann allen zugute und „brandmarkt“ weder den älteren Konsumenten noch das Produkt. Ein weiteres Beispiel ist einerseits ein Trend hin zu mehr Individualität, andererseits der Trend hin zum Herdentrieb oder „Tribalismus“ - wie man beim Blick in ein Fußballstadion bestätigen mag. trenDNA geht nun davon aus, dass nicht das Kompromiss- Produkt erfolgreich ist, das die Forderungen der beiden Extrempositionen miteinander vermischt und daraus ein Optimum generiert, sondern nur das Produkt eine innovative Durchbruchslösung werden kann, das den Widerspruch beider Extreme ohne Kompromisse überwindet (Abbildung 22). Bahnbrechende, innovative Lösungen basieren auf Verbindungen von Trendwidersprüchen, die vorher kaum vorstellbar waren. Der Erfolg von Social Media wie facebook 278 und Twitter 279 ist womöglich durch die gleichzeitige Bedienung von Individualitäts- und Tribalismus-Wünschen seiner Kunden zu erklären, ein Widerspruch, der durch diese Geschäftsmodelle auf kompromisslose Weise überwunden wird (siehe Aufgabe 10). 277 Vgl. Mann, D.; Özözer, Y., 2009 278 Siehe URL: https: / / www.facebook.com/ 279 Siehe URL: https: / / twitter.com/ <?page no="192"?> 5.4 Trends erkennen mit trenDNA 193 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 22: Herausforderung im Umgang mit widersprüchlichen Trends 280 trenDNA hat für verschiedene geographische Regionen derzeit je ca. 160 konfliktäre und komplementäre Trends zueinander in Beziehung gesetzt. Das Ergebnis ist auf sogenannten Trendkarten verzeichnet, so dass die Trends zunächst als handhabbares Werkzeug in Form von großen Spielkarten in Ideenwerkstätten genutzt werden kann. Zusätzlich erkennt man darauf deren Beziehungsstruktur im sogenannten Trendnetzwerk. Dieses Netzwerk dient der methodischen Unterstützung im Umgang mit Trendwidersprüchen sowie sich untereinander verstärkenden Trends. So verstärkt in Deutschland der Trend „Gesundheitswahn“ den Trend hin zur „Kennzeichnung von Lebensmitteln“, der wiederum den Trend „Bio-Boom“ befeuert. Auf die Aufzählung der aktuell 160 Trends, die für 2010 für Deutschland generiert wurden, soll an dieser Stelle verzichtet werden. 281 Die Methode liefert eine gut nachvollziehbare Arbeitsanweisung zur Erstellung des für das eigene Produkt- oder Marktbeispiel spezifischen Trendnetzwerkes. Mit Hilfe eines manuell durchführbaren Algorithmus kann man die Bedeutung der ausgewählten Trends quantifizieren und erhält nachvollziehbare Entscheidungshilfen bei der Trendauswahl, die dann als Grundlage für eigene widerspruchsorientierte Ideen gute Wegweiser sind. Auch im Prozess der trenDNA ist der Begriff Idealität Ausgangspunkt aller Überlegungen, allerdings kann hier zusätzlich noch mit Verhaltensweisen und Werten von unterschiedlichen Generationen-Archetypen und Denkstilen gearbeitet werden. trenDNA wird regelmäßig aktualisiert und ist für verschiedene geographische Kulturräume verfügbar. Alle Einzelwerkzeuge der trenDNA atmen die TRIZ-Logik, nach der Widersprüche kompromisslos zu überwinden, Ideen und Lösungen ganz am Ende des Prozesses generiert und Ideengenerierungsphasen zunächst durch aktive Modellierung, Analyse und Abstraktion gestützt werden. 280 Vgl. Mann, D.; Zinner, V., 2010 281 Vgl. Mann, D.; Zinner, V., 2010 <?page no="193"?> 194 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation 5.5 Systematische Innovation nsmethoden in der Praxis Unternehmen sind heutzutage erfolgreicher, wenn sie beim Thema Innovation nicht auf Zufall, sondern auf Systematik bauen. Auch wenn die Begriffe „Systematik“ und „Innovation“ wie ein Oxymoron klingen, gelingt nur durch die Kombination beider die geforderte Schnelligkeit bei gleichzeitiger Originalität, mit der die Produkte auf den Markt gebracht werden. Systematische Innovationsmethoden wie TRIZ, Design Thinking und trenDNA beschleunigen den Innovationsprozess in den wichtigsten Unternehmensbereichen: 282 Unternehmensführung, Innovationsmanagement, Marketing und Kundenorientierung, Qualitätssicherung, Entwicklung und Konstruktion, Produkt- und Prozessoptimierung sowie Patentwesen, indem sie die Erfindungszeit reduzieren und gleichzeitig die übergeordneten Prozesse für innovatives Denken definieren helfen. Dies liefert Struktur im Arbeitsprozess bei gleichzeitigem Freiraum für die kreative und dennoch gezielte Ideenfindung. 283 Diese Ansprüche an Innovatoren, ebenfalls widersprüchlich, fordern von den Ausführenden einerseits Disziplin in der Abarbeitung der Methodenschritte und andererseits ein hohes Maß an Gedankenfreiheit in den kreativen Arbeitsphasen. Dieser Anspruch ist für manche Menschen nicht einfach auszuhalten. Nur beides zusammen erlaubt, regelmäßig Innovationen quasi auf Knopfdruck zu produzieren. Der Begriff Innovation wird gerade in Deutschland sehr ambivalent verstanden. Während sich Innovationen in ausgewählten Technologiebereichen wie Solarenergie und Mobilfunk großer Beliebtheit erfreuen, sind andere, wie Nano- und Gentechnologie, in der breiten Öffentlichkeit anscheinend mit einem Fluch belegt, der jeden Fortschritt beschwerlich macht. Wenn große Unternehmen, Wissenschaft und Forschung hier voranpreschen, dann scheint die Anerkennung durch die Masse der deutschen Bevölkerung nicht übermäßig hoch. Dabei ist doch Wissen immer besser als Nichtwissen, Beteiligung an der Entwicklung neuer Technologien immer besser, als sie anderen allein zu überlassen. Das Erlernen von systematischen Innovationsmethoden ist ein Weg, komplexe Technologiethemen näher an die Menschen heranzubringen. Methoden der systematischen Innovation kommen heute nicht nur bei der Entwicklung physischer Produkte zum Einsatz, sondern auch bei Entwicklung neuer Dienstleistungen sowie Firmenkulturen. Sie geben in allen Bereichen zunehmend auch Nicht- Technikern einen konkreten Anstoß, die Zukunft zu erfinden und selbst Ideen zu entwickeln, quasi eine Haltung der Art „Wirtschaftswunder“ zu produzieren. Systematische Innovationsmethoden sind ein Weg, 282 Vgl. Schweizer, P., 2008 sowie Livotov, P.; Petrov, V., 2009 283 Vgl. Terninko, J; Zusman, A.; Zlotin, B.; Herb, R. H., 1998 <?page no="194"?> 5.5 Systematische Innovationsmethoden in der Praxis 195 www.uvk-lucius.de/ innovation Überraschungen auszuhalten, in Möglichkeiten denken zu lernen, Zukunftsbegeisterung zu wecken und Fortschritt aktiv zu produzieren. Diese Haltung erlaubt es, die Zukunft eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen und Lösungen zu produzieren, die jenseits bislang verfolgter Lösungspfade liegen. Ein letztes Beispiel soll diesen Zusammenhang verdeutlichen: Beispiel Salz, Pfeffer, Zucker und andere Gewürze galten Jahrhunderte lang nicht nur als begehrte Luxusgüter, sondern waren für die Haltbarmachung von Nahrungsmitteln unerlässlich, insbesondere Fleisch und Fisch. Neben der geschmacklichen Wirkung war die keimtötende und Fäulnisgeruch überdeckende Wirkung von Gewürzen der Hauptgrund dafür, lange Seewege und sogar Handelskriege in Kauf zu nehmen, um ihrer habhaft zu werden. Gerade in wärmeren Gefilden erlaubten nur Gewürze, Früchte und Fleisch durch Pökeln und Einlegen haltbar zu machen. Nun kann man die Verfahren des Pökelns und Einlegens durchaus bis heute variieren und verbessern, erst die Erfindung der künstlichen Kühlung aber machte ganze Imperien und Gewürzmonopole hinfällig. Dieser Lösungsweg des Kühlens mit Eis, der jenseits der ursprünglichen Technik des Einlegens liegt, ist verhältnismäßig spät betreten worden, und erst die Erfindung von kleinen Elektromotoren, Kompressoren und Verdampfern machte den Kühlschrank, ja alle Haushaltsgeräte zu dem, was sie heute sind. In absehbarer Zukunft wird auch dieser Lösungspfad des Kühlens durch Kompression und Verdampfen von Kühlmittel wohl der Geschichte angehören, und zwar wenn wir die Entwicklung vorantreiben, frische Lebensmittel beispielsweise mit Licht statt mit niedrigen Temperaturen länger haltbar zu machen. Nicht nur Unternehmen, die heute Kühlschränke produzieren, müssen sich also fragen: „Was macht mein Produkt/ meinen Prozess/ meine Dienstleistung in der Zukunft überflüssig? “ Es gilt, die Antwort selbst zu finden. Literatur Altschuller, G. S.: Erfinden - Wege zur Lösung technischer Probleme. Limitierter Nachdruck der 2. Auflage. Hrsg.: Prof. Dr. M. Möhrle, Cottbus: PI - Planung und Innovation. 1998 Altshuller, G. S.: And Suddenly the Inventor Appeared. TRIZ, The Theory of Inventive Problem Solving. Hrsg.: Shulyak, L. Worcester, Massachusetts: Technical Innovation Center, Inc. 2004 Gundlach, C.; Nähler, H. T. (Hrsg.): Innovation mit TRIZ. Konzepte, Werkzeuge, Praxisanwendungen. Düsseldorf: sympsion publishing. 2006 Hentschel, C.; Gundlach, C.; Nähler, H. T.: TRIZ - Innovation mit System. München: Hanser Verlag. 2010 <?page no="195"?> 196 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation www.uvk-lucius.de/ innovation Herb, R.; Herb, T.; Kohnhauser, V.: TRIZ - Der systematische Weg zur Innovation. Landsberg/ Lech: mi-Verlag. 2000 Kelley, T.: Das IDEO Innovationsbuch. Wie Unternehmen auf neue Ideen kommen. 1. Auflage. München: ECON Ullstein Verlag. 2002 Koltze, K.: Souchkov, V.: Systematische Innovation. TRIZ-Anwendung in der Produkt- und Prozessentwicklung, München: Hanser Verlag. 2011 Kummert, B.: Einführung TRIZ - Studiengang Innovationsmanagement. TRIZ-Kompetenzzentrum Österrreich: Graz, 2012 Livotov, P.; Petrov, V.: Innovationstechnologie TRIZ. Produktentwicklung und Problemlösung. Hannover: TriS Europe. 2009 Mann, D.; Dewulf, S.; Zlotin, B.; Zusman, A.: Matrix 2003 - Update der Widerspruchsmatrix. 1. Auflage. Hrsg.: Nähler, H. T.; Gundlach, C. Kassel: c4pi. 2008 Mann, D.; Özözer, Y.: trenDNA - Understanding populations better than they understand themselves. Clevedon (UK): IFR Consultants Ltd. 2009 Mann, D.; Zinner, V.: trenDNA - Trends von morgen für Innovationen von heute. Wennigsen: c4pi Center for Product Innovation GbR. 2010 Naisbitt, J.: Mind Set! Wie wir die Zukunft entschlüsseln. München: Hanser Verlag. 2007 Plattner, H.; Meinel, C.; Weinberg, U.: Design Thinking. Innovation lernen - Ideenwelten öffnen. München: mi-Verlag. 2009 Schweizer, P.: Systematisch Lösungen realisieren. 2. überarbeitete Auflage. Zürich: vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich. 2008 Terninko, J; Zusman, A.; Zlotin, B.; Herb, R. H.: TRIZ - Der Weg zum konkurrenzlosen Erfolgsprodukt: Ideen produzieren, Nischen besetzen, Märkte gewinnen. Landsberg/ Lech: verlag moderne industrie. 1998 <?page no="196"?> 197 www.uvk-lucius.de/ innovation Aufgaben Aufgabe 1 (zur Ressourcen-Checkliste) Betrachten Sie mit Hilfe der Ressourcen-Checkliste das System „Küchenspüle“. Arbeiten Sie dabei die verschiedenen Arten von Ressourcen systematisch ab, um sich die verfügbaren Systemanteile zu verdeutlichen, die gegebenenfalls in der Küche nutzbar sind. Aufgabe 2 (zur Idealität/ zum IFR) Führen Sie ein kurzes Brainstorming durch zu der Frage 1: „ Wie kann man ein Portemonnaie verbessern? “ Anschließend führen Sie ein Brainstorming durch zu der Frage 2: „Wie sieht das ideale Portemonnaie aus? “. Aufgabe 3 (zu den 39 technischen Parametern) Überlegen Sie sich am Beispiel einer Waschmaschine mögliche Problemstellungen, die Sie dann mit Hilfe der 39 technischen Parameter abstrahieren. Aufgabe 4 (zu den 40 Innovativen Grundprinzipien) Ihr zu verbesserndes System ist ein Reisekoffer. Überlegen Sie sich mit Hilfe der Prinzipien 15 „Dynamisierung“, Prinzip 25 „Selbstbedienung“ und Prinzip 27 „Billige Kurzlebigkeit“ und Prinzip 30 „Flexible Hüllen und dünne Folien“ Anregungen zur Verbesserung zukünftiger Modelle. Aufgabe 5 (zu den physikalischen Widersprüchen und 4 SEP) Formulieren Sie einen physikalischen Widerspruch für einen Kochherd und lösen Sie ihn mit Hilfe eines der Separationsprinzipien auf. Aufgabe 6 (zum Operator MZK) Überlegen Sie sich mit Hilfe des Operators MZK mögliche Ausprägungen Ihrer Urlaubsdauer. Der Parameter, den Sie nun den Extremen unterziehen, ist also die Urlaubszeit in Tagen. Wie sähe er aus, wenn er einen Tag dauern würde? Und wie, wenn er drei Wochen lang ist? Und wie, wenn Sie zehn Wochen Urlaubszeit hätten? Und wie, wenn er gar nicht mehr aufhören würde? Aufgabe 7 (zur Antizipierenden Fehlererkennung) Überlegen Sie mit Hilfe der typischen Fragestellung der AFE Verbesserungen für eine Brille. Aufgabe 8 (zur Effektedatenbank) Schauen Sie sich die Struktur der Function Database unter www.creax.com an und versuchen Sie, das Problem der Entfernung von festem Zahnbelag als Funktion zu modellieren und Lösungsansätze herauszusuchen. <?page no="197"?> 198 5 Ausgewählte Methoden der systematischen Innovation Aufgabe 9 (zu den Evolutionsgesetzen und der S-Kurve) Verdeutlichen Sie anhand des Beispiels „Computertastatur“ das Evolutionsprinzip „Zunehmende Idealität“, indem Sie mindestens drei Entwicklungsstufen formulieren. Aufgabe 10 (zu den Trends) Nennen Sie zwei widersprüchliche Trends am Beispiel „Esskultur“ und/ oder „Nahrungsmittel“, die unsere Gesellschaft schon heute prägen. Versuchen Sie dann, aus diesen beiden Extremen ohne Kompromisse ein innovatives Geschäftsmodell abzuleiten, indem Sie beide Trends gleichermaßen in Ihrer Lösung berücksichtigen. <?page no="198"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 6 Vom Betrieblichen Vorschlagswesen zum Ideen- und Verbesserungsmanagement (IVM) von Prof. Dr. Prof. h. c. Dr.h. c.mult. Norbert Thom, Emeritus Wissensziele Sie sollen einen Überblick über Ursprünge und große Entwicklungslinien des IVM erhalten sowie erkennen, wie dieses Managementinstrument kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Sie sollen die wichtigsten Ziele für das IVM kennen und erfahren, wie sich die Effizienz des IVM messen lässt. Sie lernen, welche Barrieren Mitarbeitende typischerweise davon abhalten können, sich mit konstruktiven Ideen und Verbesserungsvorschlägen am IVM zu beteiligen. Sie erfahren ausführlicher, wie das IVM zu gestalten ist, um eine hohe Effizienz zu erreichen. Dazu gehören generelle Führungsinstrumente (z.B. die Unternehmenskultur) und spezielle IVM-Gestaltungsaspekte (z.B. Werbung, Anreize, Organisation). Sie sollen einige Entwicklungstendenzen kennenlernen, die das aktuelle und zukünftige IVM beeinflussen. Eine kleine Fallstudie zeigt Ihnen, wie ein Industrieunternehmen nachhaltigen Erfolg mit seinem spezifischen IVM erreicht. 6.1 Entstehung und Entwicklung des IVM Nur derjenige kann den heutigen Stand des IVM verstehen, der die Entwicklungsgeschichte hinreichend kennt. Im Vergleich zu manchen anderen Managementkonzepten gibt es beim IVM eine große Tradition sowie einen langen Lern- und Optimierungsprozess. Der Kerngedanke blieb jedoch über Jahrhunderte hinweg immer erhalten: es geht darum, allen Mitarbeitenden die Chance zur eröffnen, zur Fortentwicklung einer sie umgebenden Institution durch eigene umsetzbare Ideen wirksam beizutragen. Das Instrumentarium zur konkreten Ausgestaltung dieses Grundgedankens wurde vom Zeitgeist, von neu aufkommenden Managementkonzepten mit ähnlichen Zielsetzungen und von neuen technologischen Möglichkeiten beeinflusst. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte änderten sich die Termini für dieses Instrument der Ideenförderung und -umsetzung. Während in früheren Jahren vom Vorschlagswesen oder Betrieblichem Vorschlagswesen (BVW) gesprochen wurde, werden heute <?page no="199"?> 200 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation meist die Bezeichnungen Ideenmanagement und Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP) verwendet. In diesem Kapitel spricht der Verfasser von Ideen- und Verbesserungsmanagement (IVM). Das Wort Ideenmanagement hebt stärker die Ideengenerierung und Ideenakzeptierung hervor, während der Terminus Verbesserungsmanagement vor allem die Ideenrealisierung und die damit angestrebte Wirkung betont. Alle Phasen des Innovationsprozesses (Ideengenerierung, akzeptierung und -realisierung) sind zu durchlaufen, um mit neuen Ideen die Effizienz von Betrieben aller Art fortlaufend zu verbessern. Die genaue Entstehung des IVM und seiner Vorläufer ist umstritten. Erste Pioniere setzten in Schweden bereits um das Jahr 1750 eine „Königliche Kommission“ ein, um Vorschläge der Bürger (besser „Untertanen“) zu sammeln und zu prüfen. Zur gleichen Zeit wurden Briefkästen am Dogenpalast der Stadt Venedig angebracht. In diese konnten die Einwohner Anregungen zur Verbesserung des Stadtlebens einwerfen. In der modernen Arbeitswelt kann Alfred Krupp als ein Pionier des IVM gelten, da er im Jahre 1872 dieses Instrument in Deutschland institutionalisierte. In Großbritannien und den USA sind vergleichbare Ansätze unabhängig voneinander um das Jahr 1880 erkennbar. In der Zeit bis zum 2. Weltkrieg setzten bekannte private und öffentliche Institutionen ein Vorschlagswesen ein (Beispiele: Bally Schuhfabriken, Zeiss-Werke, Farbenfabriken Bayer, Siemens, Department of the US-Navy, Philips, Schweizerische Bundesverwaltung, Schweizerische PTT-Betriebe, Schweizerische Bundesbahnen, IBM, Bosch, Farbwerke Hoechst). In den Nachkriegsjahren kam es im deutschsprachigen Raum zu einem beachtlichen Aufschwung des Vorschlagswesens. Immer mehr wurde man sich des Wertes von mitdenkenden und mithandelnden Arbeitnehmern bewusst. In den 1960er und 1970er Jahren war dann eher eine Stagnation zu verzeichnen. Hingegen erlebte das Instrument in den 1980er Jahren eine Revitalisierung und neue Blüte, weil sein Kerngedanke auch in den neu aufkommenden Konzepten der Betriebsoptimierung enthalten war. Zu denken ist hier insbesondere an das Lean Management, Kaizen, den Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) oder das Total Quality Management (TQM). Durch den Einfluss von Gruppenarbeit und Qualitätszirkeln entwickelte sich das Vorschlagswesen vom primären Rationalisierungsergänzend auch zum Führungs- und Motivationsinstrument. In der damaligen Zeit wurden im deutschsprachigen Raum relativ strenge Anforderungen an einen Verbesserungsvorschlag (VV) gestellt. (1) Der VV soll eine möglichst präzise dargestellte Lösung zur Verbesserung eines gegenwärtigen Zustandes enthalten. Daher ist mit ihm konkret zu beschreiben, was verbesserungsbedürftig ist. Ferner ist aufzuzeigen, wie die Verbesserung realisiert werden kann. Der Reifegrad dieser Ausarbeitung kann variieren. Dies ist bei der Bewertung und Honorierung des VV zu berücksichtigen. (2) Der VV muss für den vorgesehenen betrieblichen Anwendungsbereich eine nutzenbringende Neuerung enthalten. Der Nutzen kann beispielsweise liegen in: Kostenreduktion, Sicherheitsverbesserung, Umweltschutz, Unfallverhütung und Gesundheitsförderung, Qualitäts- und Imageverbesserung und dergleichen. <?page no="200"?> 6.2 Ziele und Effizienzkriterien für das IVM 201 www.uvk-lucius.de/ innovation (3) Der VV wird nur dann materiell speziell entlohnt (anerkannt), wenn er nicht unmittelbares Ergebnis aus der Erfüllung der zugewiesenen Stellenaufgaben des Einreichers ist, sondern eine über den Rahmen des Arbeitsvertrages hinausgehende (freiwillige) Sonderleistung darstellt. Es bestand die Gefahr, das Vorschlagswesen immer enger zu reglementieren, zu zentralisieren und damit zu bürokratisieren. Daher haben sich in den 1990er Jahren viele Unternehmen vom traditionellen Vorschlagswesen verabschiedet. Mit dem Ausbau in Richtung Vorgesetztenmodell (siehe unten) wurden die Führungskräfte stärker in die Verantwortung eingebunden. Es entstand ein aktives Führungsinstrument. Einreicher sollten gefördert werden. Der Vorgesetzte bietet Hilfe an, tritt in Dialog mit seinen Mitarbeitenden und erhält die Kompetenz, Ideen innerhalb seines Verantwortungsbereichs zu fördern, zu bewerten, zu realisieren und zu honorieren. Es entstand in der Fachliteratur der Begriff des Ideenmanagement (Spahl 1975: S. 20), verstanden als ein integriertes Konzept, welches verschiedene Instrumente der Ideenfindung-, -erfassung, -bewertung und -umsetzung vereint. Die Praktiker verwendeten das Wort Ideenmanagement jedoch bereits, wenn sie eine flexiblere, spontanere, also weniger formelle und entbürokratisierte moderne Form des BVM meinten. Die Sprache deckte also bei Fachautoren und Praktikern des Vorschlagswesens nicht denselben Begriffsinhalt ab. Sicher war der Übergang von einem korrekten Bearbeiten der eher zufällig eingereichten VV in Richtung einer echten Führungsaufgabe erkennbar. Im neuen Konzept werden kürzere Bearbeitungszeiten angestrebt. Die Vorgesetzten ermuntern ihre Mitarbeitenden zur Ideenabgabe, auch Gruppenvorschläge sind sehr erwünscht oder sie erfahren sogar eine spezielle Förderung. Anonymität des Einreichers ist nun nicht mehr sinnvoll, die Ideenbearbeitung und -umsetzung erfolgt dezentral. Der neue Grundsatz lautet: von der Administration eingereichter Ideen zum aktiven Management des gesamten Prozesses der Ideenproduktion und Ideennutzung, um mit Verbesserungen z.B. wirtschaftliche, soziale und weitere Ziele zu erreichen. Damit war die Entwicklung beim gegenwärtigen IVM angelangt. Auf neuere Entwicklungstendenzen geht der Verfasser später ein. Zunächst ist zu klären, welche Ziele mit diesem Managementinstrument erreicht werden sollen und wie seine Effizienz messbar gemacht werden kann. 6.2 Ziele und Effizienzkriterien für das IVM Schon die ersten Anwender des Vorschlagswesens wollten damit nicht nur rationalisieren, sondern auch die Arbeit für ihre Mitarbeiterschaft vereinfachen und letzterer ein Forum der „freudigen, selbsttätigen Zusammenarbeit“ (Siemens im Jahre 1910) ermöglichen. Dennoch stand um 1980 die Rationalisierung noch eindeutig im Vordergrund. Bei einer Umfrage, die 2008 in der Schweiz durchgeführt wurde (Thom/ Piening 2009: S. 14ff.), ergab sich ein differenziertes Spektrum von Zielen für das IVM. Die sieben wichtigsten Ziele waren in dieser Rangfolge: (1) Qualitätsverbesserung, (2) Wirtschaftlichkeitsverbesserung, (3) Produktivitätssteigerung, (4) Erhöhung der Arbeitssicherheit, (5) Vermittlung von Anerkennung und Wertschätzung, (6) Arbeitserleichterung und (7) Steigerung der Innovationsfähigkeit. <?page no="201"?> 202 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Wird diese jüngere Studie mit älteren Befunden verglichen, so entsteht das Bild, dass die Wirtschaftlichkeitsverbesserung immer noch den sozialen Zielen und der Innovationsförderung vorangeht. Allerdings kann das moderne Ziel der Qualitätsverbesserung viele Dimensionen (z.B. ökonomische, soziale, ökologische) umfassen, wenn es im Sinne des Total Quality Managements (TQM) verstanden wird. Werden nicht nur Vertreter des Managements befragt (z.B. Ideenmanager), sondern auch Betriebsräte (Arbeitnehmervertreter), so rücken Ziele wie die Erhöhung der Arbeitssicherheit und Personalführung in der Zielhierarchie nach oben. Grundsätzlich sind die Unternehmensleitung und die weiteren Anspruchsgruppen frei in der Setzung von Zielen für das IVM. Dies hat jedoch Auswirkungen auf die später zu behandelnde zielführende Gestaltung des IVM. Bezüglich der Effizienz des IVM besteht weitgehend Einigkeit. Allerdings können einzelne Kennzahlen in Abhängigkeit von der Zielhierarchie unterschiedlich gewichtet werden. Die wichtigsten Kennzahlen zur Messung der Effizienz des IVM sind: (1) Beteiligungsquote Anteil der eingereichten VV pro 100 Teilnahmeberechtigte. Sie drückt die Mitwirkungsbereitschaft der Arbeitnehmer aus. Allerdings kann sie auch einen hohen Wert einnehmen, wenn wenige Personen sehr viele VV einreichen. (2) Annahmequote Prozentsatz der angenommenen von den eingereichten VV. Sie steht für die inhaltliche Qualität der VV, aber auch für die Änderungs- und Innovationsbereitschaft der am Annahmeverfahren beteiligten Personen. (3) Durchführungsquote Prozentsatz der durchgeführten von den angenommenen VV. Damit wird der Rationalisierungs- und Innovationsbeitrag des IVM gemessen, dessen Gesamtnutzen steigt, wenn die Durchführungsquote hoch ist. Diese Kennzahl kann weiterhin ein Indikator für Änderungswiderstände im Umsetzungsprozess (in der Ideenrealisierung) sein. (4) Inhaltliche Vielfalt der VV In einem effizienten IVM beteiligen sich alle Fachgebiete der jeweiligen Institution. Die VV beziehen sich inhaltlich auf vielfältige Objekte und Prozesse. Je ausgewogener die Verteilung der VV, umso entwickelter ist ein IVM. (5) Kosten-Nutzen-Relationen des IVM Es kann z.B. das Verhältnis von Einsparungen zu ausgezahlten Prämien oder von Einsparungen zu den gesamten IVM-Kosten gemessen werden. Allerdings ist es sehr schwierig, nichtmonetären Nutzen (z.B. Verbesserung der Identifikation mit der eigenen Arbeit oder Gesundheitsverbesserung) angemessen zu berücksichtigen. (6) Mitarbeiterbezogene IVM-Effizienz Hier werden Auswirkungen der VV auf die Mitarbeiterschaft gemessen. Beispiele sind: Reduktion von Unfällen; Verringerung von Fluktuation und Fehlzeiten infolge speziel- <?page no="202"?> 6.3 Barrieren gegen das Einreichen von Verbesserungsvorschlägen 203 www.uvk-lucius.de/ innovation ler VV; veranlasste Personalentwicklungsmaßnahmen für Arbeitnehmer mit reger und qualifizierter IVM-Beteiligung; Struktur (Diversität) der Einreicher unterteilt nach Merkmalen wie z.B. Geschlecht, Ausbildungsstand, Alter, Dienstalter, Nationalität etc. (7) Ausgezahlte Prämien für VV Die Prämiensumme sowie Höchst- und Durchschnittsprämien oder Prämien pro Arbeitnehmer geben Hinweise auf die Ersparniswirkung und das Anreizpotential des IVM. (8) Effizienz des IVM-Systems Anteil der im Berichtszeitraum abschließend behandelten VV, Bearbeitungsdauer für VV, Anzahl der Beschwerden gegen Entscheidungen über VV. (9) Anteil schutzwürdiger VV Prozentsatz von VV, für die der Schutz des geistigen Eigentums (z.B. Patent und Gebrauchsmuster) gewährt wird. Hiermit kommt der außerordentlich hohe Innovationsgehalt und Reifegrad der VV zum Ausdruck. Allerdings ist dies nicht auf alle VV inhaltlich anwendbar (wegen mangelnder Patentierfähigkeit) und es hängt z.B. von der Patentpolitik eines Unternehmens ab, ob möglichst viele oder wenige Patente beantragt werden. Jede Institution hat selbst zu entscheiden, welche Kennzahlen sie wie oft erhebt und auswertet. Kennzahlen der genannten Art dienen als Ausgangs- und Zielort für die Weiterentwicklung eines IVM. Vergleiche innerhalb eines Unternehmens und eines Konzerns sind aufgrund eindeutiger Definitionen eher möglich als Branchenvergleiche und internationale Benchmarks. Bevor auf die Frage der effizienten Gestaltung des IVM eingegangen wird, ist zunächst die Frage zu klären, warum sich nicht alle Mitarbeitenden wie selbstverständlich mit regelmäßigen VV am IVM beteiligen. 6.3 Barrieren gegen das Einreichen von Verbesserungsvorschlägen Nur in Ausnahmefällen erreichen Unternehmen eine Beteiligungsquote von 100 Prozent und mehr. Daher stellt sich die Frage: Welche Barrieren halten potentielle Teilnahmeberechtigte davon ab, sich mit VV am IVM zu beteiligen? Mehrere Forschungsarbeiten (vgl. die Quellen in Thom 2003 und Thom/ Piening 2009) haben belegt, dass es sich um Hemmnisse aufgrund von Unfähigkeit (Nicht-Können), Trägheit (Nicht- Wollen) und Angst (Nicht-Wagen) handelt. Am schnellsten zu beseitigen wäre eine weitere Barriere, nämlich die Unkenntnis über das jeweilige IVM (Nicht-Wissen). Darauf wird im Rahmen der Gestaltung unter dem Aspekt der Werbung eingegangen. Die drei zuerst genannten Hindernisse erläutert der Verfasser nachstehend unter den Begriffen: Fähigkeits-, Willens- und Risikobarrieren. (1) Fähigkeitsbarrieren entstehen aus Denkschwierigkeiten. Solche Mitarbeitende haben keine kritische Einstellung zum betrieblichen Geschehen. Sie leiden unter Kritiklosigkeit oder gar Betriebsblindheit. Falls sie über Kritikfähigkeit verfügen, mangelt es <?page no="203"?> 204 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation ihnen möglicherweise an Einfallsreichtum, d.h. der Fähigkeit zur gedanklichen Ausarbeitung eines konstruktiven VV. Für den Fall, in welchem der vorgenannte Kreativitätsmangel nicht vorliegt, kann es dennoch zu keinem VV kommen, wenn die entsprechende Person Artikulationsschwierigkeiten hat. Diese spezielle Barriere ist besonders hoch, wenn ausschließlich schriftliche und eindeutig formulierte VV erwartet werden. Die Präferenz für eine mündliche VV-Abgabe signalisiert nicht selten ein Problem mit der Schriftform auf Papier oder in elektronischen Kanälen. (2) Willensbarrieren haben verschiedene Ursachen. Zum einem kann eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Betriebsgeschehen vorliegen. Sie zeigt sich in einer geringen Identifikation mit der Berufstätigkeit und mangelnder Bereitschaft zu kreativer und konstruktiver Mitarbeit. Gravierender ist der Fall echter Ressentiments gegenüber dem Betrieb. Diese können auf grundsätzlichen ideologischen Interessengegensätzen zum Arbeitgeber beruhen (Ausbeutungsfurcht, Übervorteilung durch Führungskräfte, die sich selbst überhöhte Sonderzahlungen gewähren). Die empirische Forschung zeigt auch, dass ein derartiges Misstrauen durch konkrete schlechte Erfahrungen im Einzelfall begründet sein kann, etwa weil einem solchen Angestellten eine eigene Idee durch einen Vorgesetzten gestohlen wurde. Eine dritte Ursache für Willensbarrieren kann im Änderungswiderstand liegen. Hier zeigt eine Person ihre mangelnde Bereitschaft, einen VV unvoreingenommen zu prüfen (eher bei Experten oder Vorgesetzten) oder nach seiner Annahme an der zügigen Realisierung des VV (hier auch bei Kollegen) mitzuwirken. (3) Risikobarrieren ergeben sich zum einen infolge der Furcht vor materiellen Nachteilen aus VV. Konkret heißt dies: Ein Vorschlag zur Rationalisierung oder Reorganisation kann zu Einkommensverlusten, zu Kurzarbeit oder gar zu einem Arbeitsplatzverlust führen. Zum anderen wagt sich ein Arbeitnehmer nicht, VV einzureichen, weil er sich vor ideellen Nachteilen aus diesem Engagement fürchtet. Von seinen Kollegen geht beispielweise ein Konformitätsdruck aus. Dieser bewirkt, dass vorschlagsfreudige Personen als übereifrig und ungebührlich strebsam eingeschätzt werden. Vorgesetzte können die Reaktion ihres eigenen Vorgesetzten fürchten, weil dieser regelmäßig das Signal aussendet, dass der nachgeordnete Vorgesetzte längst selbst auf die guten Ideen hätte kommen müssen. Nun müsse ihm eine subalterne und schlechter ausgebildete Person aufzeigen, wie man es besser machen solle. Anders ausgedrückt: Ein Zwischenvorgesetzter kann nicht damit rechnen, dass er Anerkennung dafür erhält, wenn unter seinen direktunterstellten Personen eine hohe Beteiligungsquote erreicht wird. Daher kommuniziert er selbst, dass allfällige Verbesserungen auf den Dienstweg vorgebracht und im Rahmen des ordentlichen Arbeitsprozesses realisiert werden sollen. Damit erübrigen sich formelle VV. Die genannten Barrieren müssen durch effiziente Gestaltungsinstrumente für das IVM überwunden werden. Die abschließende Fallstudie zeigt an einem Industrieunternehmen auf, wie die genannten Barrieren zu überwinden sind und eine Beteiligungsquote von über 100 Prozent erreichbar ist. <?page no="204"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 205 www.uvk-lucius.de/ innovation 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM Bevor auf einzelne Instrumente zur effizienten Gestaltung des IVM einzugehen ist, soll zunächst die Ausgangslage für einen systematischen Gestaltungprozess geklärt werden. Jedes Unternehmen hat seinen spezifischen Kontext zu analysieren und dabei zu klären, inwieweit dieser die Gestaltungsmöglichkeiten beeinflusst. Es hat sich bewährt, die relevanten außerbetrieblichen, die betrieblichen und die personellen Bedingungsgrößen zu reflektieren. 6.4.1 Analyse der Gestaltungsbedingungen Das Umfeld eines Unternehmens kann einen erheblichen Innovations- und Rationalisierungsdruck auslösen. Daher sind die wichtigsten Umweltkomponenten (wirtschaftliche, rechtlich-politische, technologisch-wissenschaftliche, soziale und ökologische Umwelt) zu beobachten und ihre Veränderungshäufigkeit und -geschwindigkeit einzuschätzen. Die empirische Forschung (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 172f.) zeigt, dass die Konkurrenzintensität einen erheblichen Einfluss auf das IVM hat. Dies ist leicht nachvollziehbar, wenn konkurrenzintensive Branchen (z.B. Automobilbau, Chemie, Elektrotechnik und Elektronik) mit Sektoren verglichen werden, die im Grenzfall sogar eine monopolartige Stellung haben (z.B. öffentliche Verwaltung). Die Konkurrenzintensität fördert die Anstrengungen im IVM. Ähnlich positive Impulse gehen vom technologischen Fortschritt aus. Ganz speziell hat die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien einen treibenden Einfluss auf die IVM-Gestaltung. Hingegen sind nur sehr wenige gesetzliche und politische Vorgaben umzusetzen. Diesbezüglich haben die Unternehmen einen großen Gestaltungsspielraum und relativ wenige Normen zu beachten (in Deutschland z.B. Mitbestimmungsregeln). Bei den betrieblichen Bedingungsgrößen ist sicher die jeweilige Branche und das konkrete Produkt- und Dienstleistungsangebot zu analysieren. Es ist nicht verwunderlich, dass sich unter den Pionieren des Vorschlagswesens viele Industrieunternehmen befanden. Auch heute sind Unternehmen mit konkreten Produkten, welche die Arbeitnehmer auch als Kunden und Verbraucher selbst kennen (z.B. Automobile) sehr aktiv im IVM. Unternehmen mit hochspezialisierten Dienstleistungen und starker Abgrenzung der Zuständigkeiten einzelner Berufsgruppen (z.B. Krankenhäuser) haben sicherlich eine ungünstigere Ausgangslage. Gleichwohl spricht nichts dagegen, auch hier die betrieblichen Prozesse im Interesse einer gesteigerten Produktivität, erhöhten Sicherheit und verbesserten Kundenzufriedenheit fortlaufend weiterzuentwickeln und daran die Mitarbeiterschaft aktiv teilhaben zu lassen. Die Unternehmensgröße hat insofern einen Einfluss, als Großunternehmen die Professionalisierung ihrer vollamtlichen Ideenmanager intensiver betreiben und ihnen häufig mehr finanzielle Ressourcen (z.B. für nützliche Software, Werbemaßnahmen und Prämienauszahlungen) zur Verfügung stellen. Auf jeden Fall müssen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) das IVM-Instrumentarium an ihre Verhältnisse anpassen (z.B. eine schlanke Organisation für die Ideeneinreichung und -umsetzung, weniger Reglementierung, mehr Einbezug der obersten Führungsebene). Auch KMU können ein sehr wirksames IVM betreiben. Die empirische Forschung (vgl. Thom/ Piening <?page no="205"?> 206 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation 2009: S. 173f.) weist auf die herausragende Bedeutung der geltenden Führungsgrundsätze und -richtlinien für die Gestaltung eines IVM hin. Wenn in diesen die Vorgesetzten aufgefordert werden, einen partizipativen Führungsstil als Grundverhaltensmuster zu wählen und ihren Mitarbeitenden mit Wertschätzung zu begegnen sowie Förderungsverantwortung zu übernehmen, dann sind gute Voraussetzungen für hohe Beteiligungsquoten und andere positiv ausgeprägte Kennzahlen gegeben. Bei den personellen Bedingungsgrößen ist der Qualifikationsstand (inkl. Wissen und Fähigkeiten) der Belegschaft relevant. Auf der Ebene der Facharbeiterschaft und der Sachbearbeiterstufe hat der deutschsprachige Raum aufgrund des dualen Berufsausbildungssystems sicherlich im internationalen Vergleich sehr gute Voraussetzungen für nützliche VV. Mehrere Fallstudien des Verfassers (vgl. ein Beispiel am Ende dieses Kapitels) zeigen jedoch, dass auch Mitarbeitende mit relativ geringer Formalqualifikation (Bildungsabschlüsse) bei hilfreicher Moderation und der Möglichkeit zur mündlichen Ideenabgabe hohe Beteiligungsquoten erreichen können. Von höchster Relevanz ist die aktuell vorherrschende Einstellung des Managements zum IVM. Im besten Fall wird dieses Führungskonzept und Managementinstrument voll akzeptiert und die Führungskräfte erkennen die damit gegebenen Chancen zur Verbesserung von Prozessen und Produkten. Nach der sorgfältigen Analyse der erwähnten Kontextbedingungen beginnt die eigentliche Gestaltung des IVM. Dabei sind zunächst die generellen Führungsinstrumente so auszurichten, dass die Mitarbeiterschaft den klaren Willen der Unternehmensleitung verspürt: Mitarbeiterengagement in Form von VV ist sehr willkommen, d.h. dieses Engagement wird als ziel-, strategie-, struktur- und kulturgerecht empfunden. 6.4.2 Generelle Führungsinstrumente zur Effizienzsteigerung des IVM 6.4.2.1 Unternehmennskultur Unter Unternehmenskultur verstehen wir die Gesamtheit der Normen, Wertvorstellungen und Denkhaltungen, die das Verhalten der Unternehmensmitglieder aller Hierarchiestufen prägen und somit das Erscheinungsbild eines Unternehmens beeinflussen. Sie äußert sich daher in der Art und Weise, wie in einem Unternehmen Probleme erkannt, bearbeitet und gelöst werden. Der Bezug zum IVM ist leicht feststellbar. Es ist wichtig, dass im gelebten Wertesystem einer Institution der Bereitschaft und der Fähigkeit zur Erarbeitung, Förderung und Umsetzung von neuen Ideen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. In einer solchen Unternehmenskultur wird ein (begrenztes) Risiko bei Betreten von Neuland in Kauf genommen, eine offene Kommunikation gepflegt und auf die Leistungsfähigkeit des Personals vertraut. Die Unternehmenskultur beeinflusst ihrerseits die Handhabung der weiteren Führungsinstrumente. Die empirische Forschung weist ihr bezüglich der Förderung eines effizienten IVM eine herausragende Position zu (Thom/ Piening 2009: S. 173f.). Auf die Unternehmenskultur wirken sich auch Nationalkulturen aus. Nehmen wir als Beispiel Japan. Die dort vorherrschenden Werte haben günstige Voraussetzungen für ein Gruppenvorschlagswesen und Qualitätszirkel geschaffen. Der deutschsprachige Raum hat eine Neigung zur Schaffung von Ordnung durch schriftliche Regelungen. <?page no="206"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 207 www.uvk-lucius.de/ innovation Dies findet seinen Niederschlag in den ausführlichen Betriebsvereinbarungen (Deutschland, Österreich) und Reglementen (Schweiz) für das IVM. 6.4.2.2 Zum Ziel- und Strategiesystem Durch klare, zugleich schriftliche und mündliche Aussagen der Unternehmensleitung soll der Mitarbeiterschaft ins Bewusstsein gebracht werden, warum das IVM ein wirksames Instrument ist, um Qualitäts-, Wirtschaftlichkeits-, Innovations-, Humanisierungs- und Personalentwicklungsziele zu erreichen. Langfristig gültige Oberziele können bereits im Rahmen von Führungs- und Unternehmensgrundsätzen festgelegt sein. Für kürzere Perioden bietet sich das Management-by-Objectives (Führung durch Zielvereinbarung) an. Gedacht ist beispielsweise an die Ausprägung von oben genannten Kennzahlen in einzelnen Organisationseinheiten oder für das Gesamtunternehmen. Allerdings bleibt ein VV nur dann prämierungsfähig, wenn er nicht unmittelbar aus der Erfüllung eines im Mitarbeitergespräch verbindlich vereinbarten persönlichen Zieles entsteht, sondern eine freiwillige Sonderleistung darstellt. Es kann jedoch mit Führungskräften vereinbart werden, dass für ihre Bereiche VV mit bestimmten Zielen (z.B. Energieeinsparung, Verbesserung der Weiterbildung am Arbeitsplatz) im nachfolgenden Jahr prioritär sind. In einfachen Worten kann eine Unternehmensleitung kommunizieren, ob sie für bestimmte Produkt-Markt-Kombinationen beispielsweise eine Strategie der Kostenführerschaft oder der Differenzierung verfolgt. Die Mitarbeitenden wissen danach, ob eher VV zur Kostensenkung oder zur Aufwertung der Produktqualität gemäß den Kundenwünschen gefragt sind. Im Rahmen von Restrukturierungen mit Sparmaßnahmen kann es gelingen, die Belegschaft zur konstruktiven Mitwirkung am IVM zu gewinnen. Allerdings würden die Risikobarrieren steigen, wenn Einreicher von VV sich selbst und ihren Kollegen mit Rationalisierungsvorschlägen schaden könnten (Lohnreduktion, Arbeitsplatzverlust etc.). Alles in allem gewinnt ein IVM an Legitimität und Durchsetzbarkeit, wenn es klare Bezugspunkte im Ziel- und Strategiesystem eines Unternehmens findet. 6.4.2.3 Rahmenstrukturen Das IVM kann grundsätzlich in allen Rahmenstrukturen (Organisationsformen für die obersten Ebenen eines Unternehmens) zum Erfolg gebracht werden. Wichtig ist lediglich, dass bei der Gestaltung dieser Organisationsformen für das Gesamtunternehmen (z.B. funktionale, divisionale oder Matrix-Organisation) bestimmte Effizienzkriterien Beachtung fanden (vgl. ausführlicher Thom/ Wenger 2010: S. 14 -153). Aus der Sicht des IVM erweist es sich als günstig, wenn die Stellenaufgaben einen Bezug zu den Zielen des Unternehmens enthalten sowie die durchgängige Übereinstimmung von Aufgaben, Kompetenz und Verantwortung (Kongruenzprinzip) gegeben ist. Außerdem ist es förderlich, wenn die ganzheitliche Bearbeitung einer Aufgabe ermöglicht wird, die personelle Zuordnung zu einer Führungsperson eindeutig ist und günstige stellenbezogene Entwicklungsmöglichkeiten gewährt werden. Dies geht einher mit ausreichenden Entscheidungs- und Handlungsspielräumen und einer angemessenen Fehlertoleranz (Lernchancen). <?page no="207"?> 208 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Der Einfluss der behandelten generellen Führungsinstrumente ist zwar beachtlich, grundsätzlich jedoch eher indirekter Natur. Die nachfolgend behandelten Aktionsparameter wirken unmittelbarer auf die Effizienz eines IVM. Die Effizienzförderung erreicht nur dann eine nachhaltige Wirkung, wenn die Rahmenbedingungen durch die generellen Führungsinstrumente innovationsfördernd ausgeprägt sind. 6.4.3 Spezifische Gestaltungsinstrument te für das IVM 6.4.3.1 Werbung für das IVM Keine teilnahmeberechtigte Person in einem Unternehmen soll behaupten können, sie habe diese Möglichkeit zum Einbringen von VV nicht gekannt. Wissensbarrieren sind zu eliminieren. Daher sind alle Betriebsangehörigen über die Funktionsweise des IVM zu informieren (Aufklärung) und zur Teilnahme einzuladen (Motivierung). Der Teilnahmeappell darf allerdings nicht zu massiv oder gar zwingend formuliert werden. Nichtteilnehmer (siehe die oben genannten Barrieren) könnten sich diskriminiert fühlen und der Charakter der Freiwilligkeit geht verloren. Auch im Zeitalter der elektronischen Kommunikation finden klassische Formen der Werbung noch verbreitet Anwendung. Hierzu zählen: Anschlagbretter, Mitarbeiterzeitschriften, Broschüren, Plakate, Informationsschreiben an die Mitarbeitenden oder die Erwähnung von IVM-Kennzahlen im Geschäftsbericht. Als weitere Werbemittel können verwendet werden: Wettbewerbe und Preisausschreibungen, Informationen bei Stellenantritt oder im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen. Das Intranet ist heute ein dominanter Werbekanal. Nicht zu vergessen ist die hohe Wirksamkeit mündlicher Informationen. Diese sind besonders glaubwürdig, wenn sie von erfolgreichen und sehr zufriedenen Teilnehmern am IVM kommen. Weiterhin empfehlenswert ist die Nutzung von überbetrieblichen Informationsträgern. Neben dem bereits erwähnten Geschäftsbericht oder einem Sozialbericht mit einer IVM-Leistungsbilanz eignen sich entsprechende Hinweise in Zeitungen und Zeitschriften. Online-Zusatzdokument Zeitungsbeitrag „Ideen der Mitarbeiter sparen Millionen“ Auch Rundfunk- und Fernsehanstalten berichten von Zeit zu Zeit über besonders erfolgreiche IVM-Anwender oder allgemein über dieses Managementinstrument, das abgesehen von seiner wirtschaftlichen und sozialen Wirkung offensichtlich auch gesellschaftliche Akzeptanz erreicht. Neben den Informationsmedien ist die Informationshäufigkeit festzulegen. Aus empirischen Untersuchungen ist bekannt, dass es bei gleichem Budget wirksamer ist, einmal pro Monat als geballt einmal pro Jahr zu werben (Thom/ Piening 2009: S. 46). Hinsichtlich der inhaltlichen Werbebotschaft empfiehlt es sich, nicht einseitig die durch VV erreichbaren Prämien hervorzuheben. Fortschrittliche Unternehmen betonen auch die Chance zur Persönlichkeitsentfaltung („Zeigen Sie, was in Ihnen steckt“). Hingegen <?page no="208"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 209 www.uvk-lucius.de/ innovation wäre es nicht klug, direkt auf Aufstiegschancen hinzuweisen, denn für einen echten Aufstieg sind mehr Voraussetzungen zu erfüllen als die rege und erfolgreiche Beteiligung am IVM. Die Werbung ist zielgruppenspezifisch zu differenzieren. So sollten Hochschulabsolventen in betriebswirtschaftlichen, juristischen oder technischen Positionen anders angesprochen werden als Facharbeiter in der Produktion und Logistik. Die empirische Forschung und die Erfahrung aus der Unternehmenspraxis zeigen, dass mit Hilfe einer kulturgerechten und zielgruppendifferenzierten Werbung insbesondere Willens- und Risikobarrieren überwunden werden können. 6.4.3.2 Anreize für Teilnehmer am IVM Neben den Kenntnissen der Motive von potentiellen Teilnehmenden ist für die Gestaltung eines IVM-Anreizsystems ein Bewertungsverfahren erforderlich. Für praktische Bedürfnisse genügt es, durch Mitarbeitergespräche und Belegschaftsbefragungen jeweils vorrangige Bedürfnisse der Unternehmensmitglieder festzustellen und ihre Bedeutung anhand einiger theoretischer Erklärungsansätze zu reflektieren. Die empirische Forschung lässt darauf schließen, dass Mitarbeitende sowohl nach einer Geldprämie streben als auch eine persönliche Anerkennung haben möchten. Weiterhin ist es oft ein Anliegen, sich selbst die Arbeit zu erleichtern und die Gelegenheit zur schöpferischen (kreativen) Mitarbeit zu erhalten (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 60ff.). Beim Gruppenvorschlagswesen kann ein Gruppenmitglied darüber hinaus vom Wissen und der Erfahrung der anderen Mitglieder profitieren und Anerkennung für die eigenen Beiträge unmittelbar durch die Kollegen erhalten (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 108ff.). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass ein wirksames Anreizsystem sowohl intrinsische als auch extrinsische Bedürfnisse zu befriedigen hat. Für Letztere sind materielle und immaterielle Anreize zur Verfügung zu stellen (vgl. hierzu generell Thom/ Ritz 2008: S. 351). 6.4.3.2.1 Zum materiellen Anreizsystem Hier ist zu unterscheiden, ob es sich um VV mit quantifizierbarem Nutzen handelt oder nicht. Falls sich der Nutzen berechnen lässt, bedarf es Antworten auf folgende Fragen: (1) Wie hoch soll der Prämiensatz festgelegt werden? Ein Einreicher eines anerkannten VV wird prozentual an der errechenbaren Jahresersparnis (abzüglich der Durchführungskosten für seinen VV) beteiligt. In der Wirtschaftspraxis existieren erhebliche Unterschiede, da die Unternehmen in der Festlegung einen großen Spielraum haben. Aus juristischer Sicht wird ein Prämiensatz von 15 bis 35 Prozent in Deutschland als nicht „unbillig“ angesehen. In der Schweiz liegt der Prämiensatz im Allgemeinen niedriger als in Deutschland und überschreitet nur selten 20 Prozent der erzielten Nettoeinsparung des ersten Jahres nach Umsetzung des VV. Dabei kann eine Nachprämierung auf der Basis der tatsächlich erzielten Ersparnis (über das erste Jahr hinaus) im deutschsprachigen Raum gewährt werden. <?page no="209"?> 210 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Es gibt keine dem Verfasser bekannte Studie, die nachweisen könnte, wie eine Erhöhung des Prämiensatzes direkt die Beteiligungsquote signifikant verbessert. Eher scheint es so, dass die Transparenz der Prämienregelung und kurze Zeitspannen bei der Umsetzung von VV (abgesehen von den bereits erwähnten positiven Einflüssen durch Führungsgrundsätze und die Unternehmenskultur) sich günstig auf die Beteiligungsquote auswirken (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 50f.). Daher erstaunt es nicht, wenn sich die Stimmen mehren, die zu einer Zurückhaltung beim Prämiensatz raten. Hingegen steht von gewerkschaftlicher Seite die Maximalforderung im Raum, den Nutzen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu teilen, was zu einem Prämiensatz von 50 Prozent führen würde. (2) Soll der Arbeitgeber die Steuern und Sozialabgaben für die gewährten Prämien übernehmen? Eine beachtliche Minderheit der Unternehmen bejaht diese Frage. Es sei beteiligungsmotivierend, wenn Arbeitnehmer nicht den Staat und Sozialversicherungen an ihrem Erfolg aus einer freiwilligen Sonderleistung beteiligen müssten. Für die Mehrheit steht hingegen dem Vorteil auf Seiten der Mitarbeitenden ein erheblicher administrativer und finanzieller Aufwand seitens des Unternehmens gegenüber. In schweizerischen Unternehmen stand die Übernahme von Steuern bisher äußerst selten zur Debatte. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass das Steuerniveau (wenngleich bei den Einkommenssteuern kantonal verschieden) in diesem Land niedriger liegt als in Deutschland und in Österreich. (3) Soll es Mindest- und Höchstprämien geben? Nicht wenige Unternehmen entscheiden sich für eine Mindestprämie (z.B. in Höhe von 50 Euro), um einen unangemessenen Verwaltungsaufwand im IVM sowie den unwürdigen Eindruck einer „Trinkgeldzahlung“ zu vermeiden. Die Festlegung von Höchstgrenzen ist umstritten. Das Thema ist keineswegs trivial, sind doch in Deutschland beispielsweise schon 440.000 Euro und in der Schweiz immerhin 100.000 Franken für einen einzigen VV ausgezahlt worden. Die große Mehrheit legt keine Höchstgrenzen fest. Angesichts der üblichen Prämiensätze (siehe oben) ist der Arbeitgeber auch bei sehr hohen Prämien immer auf der Gewinnerseite. In öffentlichen Unternehmen (z.B. Bundespost) tut man sich mit der Freigabe schwerer. Insbesondere in öffentlichen Verwaltungen wird befürchtet, dass es bei einer allzu großzügigen Ausschüttung von Prämien zu einer Umverteilung von Haushaltsmitteln oder zu einer Ausweitung des Verwaltungshaushaltes komme. Bei einer solchen Argumentation wird deutlich, dass im öffentlichen Sektor das betriebswirtschaftliche Rechnungswesen nicht immer den höchsten Entwicklungsstand erreicht. Nicht betriebswirtschaftlich, allenfalls moralisch oder moralisierend nachvollziehbar sind Argumente, eine unbegrenzte Prämienauszahlung könne die Begünstigten zu einer exzessiven Verhaltens- und Lebensweise verführen. Vielmehr entspricht es dem unternehmerischen Denken, wenn keine Höchstgrenzen festgelegt werden. Wenn ein VV in Tochtergesellschaften eines Konzerns mehrfach genutzt werden kann, ist dies in der Prämie zu berücksichtigen. <?page no="210"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 211 www.uvk-lucius.de/ innovation (4) Sollen Korrekturfaktoren angesetzt werden? Rein betriebswirtschaftlich betrachtet ist kaum einzusehen, weshalb personenbezogene Korrekturfaktoren (z.B. Multiplikation des Prämienwertes mit 0,5 oder 1,5) angesetzt werden, denn der Nutzen des VV sei entscheidend, nicht jedoch die Person des Einreichers. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass es aufgrund der organisatorischen Eingliederung unterschiedlichen Chancen zur Ideengenerierung bei sonst gleichen Voraussetzungen bezüglich Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit geben kann. Zu denken ist hier an die Art der Aufgabe sowie die Stellung im inner- und überbetrieblichen Informationsfluss. Dies führt bei der Mehrheit der Unternehmen zur Wahl von personenbezogenen Korrekturfaktoren. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Mitarbeitende - auch aus unteren Ebenen der Hierarchie - in stufen-, bereichs- oder unternehmensübergreifenden Projekten und Kooperationsgremien mitwirken, sollte in Zukunft die Zweckmäßigkeit dieser Regelung erneut geprüft werden. Überzeugender können die Argumente für sachbezogene Korrekturfaktoren sein. Demnach sollen Unterschiede in Abhängigkeit von der Originalität und der Reife/ Brauchbarkeit der VV gemacht werden. Eine beachtliche Minderheit der Unternehmen entscheidet sich für solche Korrekturfaktoren, die sich auf die Qualität der VV beziehen. Insgesamt zeigen die dargestellten Argumente und empirischen Befunde, wie groß die Gestaltungsspielräume im materiellen Anreizsystem sind. Die verschiedenen Teilgerechtigkeiten bei der Ermittlung von Löhnen kommen auch hier zum Tragen (vgl. Thom/ Osterspey 2009). Daher sind Grundsatzfragen folgender Art zu beantworten: Soll im Vordergrund die Leistung stehen, sind die notwendigen Voraussetzungen bezüglich Ausbildung und Erfahrung sowie hierarchischer Position zu berücksichtigen, will man sich mit dem Markt, z.B. den branchenüblichen Gepflogenheiten, vergleichen, soll rein betriebswirtschaftlich kalkuliert werden oder müssen auch soziale Aspekte Berücksichtigung finden? Nicht vergessen werden darf schließlich die Ertragskraft (finanzielle Stärke) der Unternehmen, die ein IVM betreiben. Innerhalb des materiellen Anreizsystems hat ein Unternehmen weiterhin zu regeln, wie es VV mit nicht quantifizierbarem Nutzen honorieren will. In den deutschen, österreichischen und schweizerischen IVM-Statistiken zeigt sich, dass die Mehrheit der VV hinsichtlich des Nutzens nicht exakt kalkuliert werden kann. Online-Zusatzdokument Vorschlagswesen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein Für diesen Fall sind spezielle Bewertungsschemata zu gestalten. Hierin sollten mehrere Bewertungskriterien möglichst ausgewogen Berücksichtigung finden. Bewährt haben sich in der Unternehmenspraxis u.a. die nachfolgenden Kriterien (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 56): der geschätzte Nutzen für den Betrieb, der Fleiß, die Mühe, das Engagement der VV-Einreicher, <?page no="211"?> 212 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation die Originalität und der Neuigkeitsgehalt ihrer VV, die Vergleichbarkeit mit bereits gewährten Prämien im Sinne einer „relativen“ Gerechtigkeit, die Werbewirksamkeit und Anreizwirkung für potentielle Teilnehmende am IVM. Unabhängig von der Möglichkeit, den Nutzen eines VV in Geldeinheiten berechnen zu können, sind in jedem (materiellen) Anreizsystem zwei weitere Fragen zu klären (1) Welcher Personenkreis soll berechtigt sein, Prämien für seine VV zu erhalten? In Expertenkreisen geht die Tendenz dahin, wenn überhaupt nur sehr wenige Arbeitnehmer von der Prämienberechtigung auszuschließen. Dies könnten z.B. nach strengster Auslegung des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes (Paragraph 5, Absatz 3) die leitenden Angestellten sein oder nach schweizerischem Sprachgebrauch die obersten Kaderpersonen der jeweiligen Institution. Mit zunehmender Hierarchiestufe wird es generell immer schwieriger, den VV einer Führungskraft als echte Sonderleistung einzustufen, haben doch diese Personen den Dauerauftrag, in ihrem Verantwortungsbereich ständig die Betriebsprozesse und Leistungsergebnisse zu optimieren. Die Empirie zeigt, dass im deutschsprachigen Raum nur ein kleiner Prozentsatz der Arbeitnehmer (ca. 0,5 bis gut 2%) nicht prämienberechtigt ist. Dieser Personenkreis erhält in seinem Vergütungspaket meist andere Zuwendungen für außerordentliche Leistungen. Generell ist die Tendenz erkennbar, dass auch Führungspersonen zur Teilnahme am IVM motiviert werden sollen. Es wird damit eine Wirtschaftlichkeitsverbesserung sowie eine Qualitäts- und Innovationsförderung erhofft. (2) Sollen Ausschlusszeiten festgelegt werden? In der Anlaufzeit von neuen Aggregaten verhängen einige Unternehmen Sperrfristen für VV. Dem ist entgegen zu halten, dass eine realistische Einschätzung der Wirkungsdauer solcher Vorschläge eine spezielle Regelung überflüssig macht. Zwar neigt der deutschsprachige Raum zu einer Regelung aller Sonderfälle. An dieser Stelle besteht jedoch die Chance zur Verschlankung der entsprechenden Bestimmungen. Sie sollen überschaubar und vom durchschnittlichen VV-Einreicher gut nachvollziehbar sein. Schwierige Sonderfälle behandeln zuständige Bewertungsgremien. 6.4.3.2.2 Zum immateriellen Anreizsystem Schon mit Prämien können über das Materielle hinaus zugleich auch Anerkennungsbedürfnisse befriedigt werden. Die generellen Motivationstheorien und die IVM-Fachliteratur zeigen, dass den immateriellen Anreizen insgesamt eine hohe Bedeutung beizumessen ist. Anerkennung kann den VV-Einreichern zunächst über die innerhalb des IVM-Systems tätigen Personen zuteil werden. Gemeint sind hier die Ideenmanager oder Mitglieder in Kommissionen für das IVM. Die unmittelbaren Vorgesetzten sowie die Personalleitungen sind weitere wichtige Anerkennungsgeber. Auch öffentliches Lob in Personalzeitschriften oder Betriebsversammlungen und anderen Kommunikationsforen ist möglich. Übertriebene Anerkennung der VV-Einreicher bei solchen öffentlichen Herausstellungen ist jedoch in unserem Kulturkreis zu vermeiden, weil dadurch Neid- <?page no="212"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 213 www.uvk-lucius.de/ innovation gefühle aktiviert und Risikobarrieren erhöht werden. Die Anerkennung durch Kollegen kann gleichwohl ein wichtiger Anreiz sein. Zweifellos erhält der primär intrinsisch motivierte VV-Einreicher eine Anerkennung allein dadurch, dass seine Idee so schnell wie möglich umgesetzt wird. Ein erfolgreicher Vorschlagender kann durch sein Engagement signalisieren, dass er über Fähigkeiten verfügt, welche die Anforderungen seines Stellenprofils übersteigen (z.B. stellen- und abteilungsübergreifende Kenntnisse). Das konstruktive und kreative Mitdenken lässt sich durchaus im Beurteilungssystem erfassen und kann anschließend in Überlegungen hinsichtlich der Förderung von Mitarbeitenden (z.B. durch Weiterbildung) einfließen. Allerdings müssen solche Personalentwicklungsmaßnahmen immer auch vom betrieblichen Bedarf her legitimiert sein. Die Personalentwicklung ist primär als Investition (ins Humanvermögen) und nicht als punktuelles Belohnungssystem zu konzipieren. Dennoch erscheint eine informationelle Verknüpfung vom IVM mit der Personalentwicklung ausbaufähig, um Talente auf allen Ebenen frühzeitig zu erkennen. Nicht nur an die Einreicher von Ideen denkt der Gestalter eines differenzierten Anreizsystems, sondern auch an die Vorgesetzten von besonders vorschlagsaktiven Organisationseinheiten sowie an sorgfältig, unvoreingenommen und schnell arbeitende Gutachter. Sie verdienen ebenfalls Anerkennung für ihr kulturgerechtes Verhalten. Besonders herausragende Leistungen sollten Eingang in die Personalentwicklungsplanung für Fach- und Führungskräfte finden. Ein Anreizsystem kann auch flexibel im Sinn eines Cafeteria-Ansatzes gestaltet werden. Der Arbeitgeber ermöglicht damit dem Arbeitnehmer eine freie Auswahl innerhalb eines bestimmten Budgets und einer limitierten Zahl von Anreizen. Dazu können alle bisher genannten Anreize gehören und weiterhin z.B. Incentive-Reisen, Freizeit- und Gesundheitsförderungsangebote. Der Gestalterphantasie sind hier fast keine Grenzen gesetzt. Letztere kommen eher aus der praktischen Handhabbarkeit und der gefühlten Wertigkeit (am leichtesten vergleichbar ist immer die Prämie) innerhalb einer Belegschaft. Der Cafeteria-Ansatz entspricht jedoch der Erkenntnis, dass die Bedürfnisse und ihre Vordringlichkeit nach Zielgruppen und jeweiliger Phase im Lebenszyklus eines Mitarbeitenden variieren. Die Ausführungen zum Anreizsystem sollten zeigen, dass die Unternehmen mit Hilfe intrinsischer und extrinsischer Anreize wirksam zur Überwindung von Willens- und Risikobarrieren beitragen können. Die Ausrichtung des Anreizsystems am Ziel- und Strategiesystem sowie an der Kultur einer Unternehmung fördert die Kohärenz der generellen und speziellen Gestaltungsgrößen. 6.4.3.3 Organisation des IVM Weil ein IVM als Daueraufgabe verstanden wird, sind durch organisatorische Maßnahmen Effizienzvorteile zu erwarten. Hierbei können prozess- und strukturbezogene Aspekte unterschieden werden. Traditionell verwendet die Fachsprache dafür synonym die Termini Ablauf- und Aufbauorganisation (Thom/ Wenger 2010). <?page no="213"?> 214 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation 6.4.3.3.1 Ablauforganisatorische Aspekte Effizient ist die Prozessorganisation eines IVM dann, wenn ein breiter Zustrom von VV gefördert und die Prozessdauer zwischen VV-Abgabe und Ideenrealisierung unter Beachtung der Zufriedenheit aller Prozessbeteiligten gefördert wird. In diesem Gestaltungsfeld sind verschiedenen Fragen zu beantworten. (1) Welche Einreichungswege sollen geöffnet werden? Der Dienstweg (über die jeweiligen Direktvorgesetzten) ist nach heutiger Vorstellung der normale Einreichungsweg, vorausgesetzt, in den Organisationseinheiten herrscht ein innovationsförderliches Klima. Aus Misstrauen gegenüber der Hierarchie führten die Vorschlagswesenpioniere Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einen vom Dienstweg unabhängigen Kommunikationskanal ein (z.B. Briefkästen, welche die Unternehmer selbst leerten). Vorgesetzte äußerten hingegen in Befragungen (vgl. Losse/ Thom 1977: S. 82) mehrheitlich den Wunsch, alle Verbesserungsideen sollten zuerst mit ihnen diskutiert werden. Mit Blick auf die Realität (vgl. Etienne 1997: S. 74ff.) empfiehlt es sich jedoch auch die Möglichkeit einzuräumen, den direkten Vorgesetzten zu umgehen. Um vorhandene Risikobarrieren zu überwinden, liegt die beste Lösung darin, mehrere Einreichungswege zur freien Auswahl zu überlassen. Wird dann der Dienstweg nur selten beschritten, darf dies als Indikator für eine wenig innovationsfreundliche Subkultur in der entsprechenden Organisationseinheit interpretiert werden. (2) Soll es möglich sein, VV auch anonym einzureichen? Heute herrscht die Expertenmeinung vor, den Anonymitätsschutz nur als Notlösung zu betrachten. Wiederum ist die starke Inanspruchnahme dieses Rechtes ein deutlicher Hinweis auf kulturelle und klimatische Störungen in den Mitarbeiter-Vorgesetzten- Beziehungen. (3) Müssen VV immer schriftlich eingereicht werden? Es verbessert die Beteiligungsquote, wenn kein Schriftzwang für die VV-Einreichung besteht. Weiterhin lässt sich dadurch die Annahmequote steigern. Die mündliche Frage im Dialog mit Vorgesetzten, ob die Verbesserungsidee überhaupt brauchbar und zeitgerecht erscheine, wird möglicherweise sofort beantwortet und führt gegebenenfalls zur Überarbeitung des Vorschlagsentwurfs oder zum Verzicht auf Einreichung eines VV. Damit werden Bearbeitungskosten für chancenlose Ideen gespart. (4) Wie viel Kapazität für die Vorschlagsbearbeitung ist sinnvoll? VV sind schnell und umsichtig zu bearbeiten. Der potentielle Nutzen kann dadurch früher wirksam werden und motivational ist das rasche Feedback an den Erarbeiter einer Sonderleistung vorteilhaft. Griffige Kriterien zur Beurteilung des Wertes eines VV und eine leistungsfähige elektronische Unterstützung (Ideenbank, spezifische Software) helfen bei der Reduktion der Prüftage. Weiterhin ist die Kapazität der beteiligten Stellen und Gremien so zu gestalten, dass Schnelligkeit und Sorgfalt bei der Ideenbearbeitung optimiert werden. Dies ist eine Frage der Aufbauorganisation. <?page no="214"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 215 www.uvk-lucius.de/ innovation 6.4.3.3.2 Aufbauorganisatorische Aspekte Die Bestimmung der Aufgabenträger sowie die Festlegung ihrer Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung sind Gegenstand aufbauorganisatorischer (struktureller) Regelungen. (1) Welchen Beitrag leistet das Topmanagement? Zu den Aufgaben der obersten Führungskräfte gehören die Aushandlung und inhaltliche Prägung der IVM-Betriebsvereinbarung bzw. -reglemente. Weiterhin haben sie regelmäßig eine Effizienzkontrolle durchzuführen und die Erklärung des mit dem IVM verfolgten Anliegens sowie seiner Einfügung in die generellen Führungsinstrumente (siehe oben) zu fördern. Dazu eignen sich innerbetriebliche Kommunikationsgelegenheiten, aber ebenso Interviews in externen Medien. Auch im Anreizsystem können die obersten Führungskräfte eine wichtige Rolle übernehmen, beispielsweise wenn sie Entscheidungen über besonders hohe Prämien oder andere sehr wertvolle Anreize für die erfolgreichsten VV-Einreicher treffen und diese persönlich auszeichnen. Bei geringen Durchführungsquoten analysieren sie die Gründe für Änderungswiderstand und tragen kraft ihrer hierarchischen Macht zur Überwindung der Barrieren bei. Das IVM hat nur bei voller Unterstützung durch das Topmanagement beste Entfaltungschancen. Dafür gibt es eindrucksvolle empirische Belege (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 71ff.). (2) Wie sollen die direkten Vorgesetzten mitwirken? Heute wird sehr stark die Implementierung des Vorgesetztenmodells gefordert. Danach sind die Ideen direkt beim zuständigen Vorgesetzten einzureichen und mit ihm zu besprechen. Viele Vorschläge, die seinen eigenen Verantwortungsbereich betreffen und nicht allzu komplex sind, kann er selbst beurteilen, honorieren, realisieren oder ablehnen, ohne die zentralen Organe des IVM einzubeziehen. Umfangreichere Vorschläge oder solche, die mehrere Abteilungen betreffen und über die er nicht alleine entscheiden kann, werden vom Vorgesetzten an den zentralen Ideenmanager weitergeleitet. Durch dieses Modell werden die unmittelbaren Vorgesetzten insgesamt stärker in die Verantwortung für ein effizientes IVM eingebunden. Sie können ihre Mitarbeitenden zur Teilnahme am IVM motivieren, Beratung und Unterstützung (bis hin zur Koautorenschaft) bei der Formulierung der VV anbieten. Dies führt zu einer besseren Kommunikation. Die Bearbeitungszeiten werden kürzer, Feedback erfolgt direkt und schnell, die Anliegen der Mitarbeitenden erfahren Beachtung. Die Kennzahlen für ein IVM mit Vorgesetztenmodell sind dem klassischen zentralen Modell überlegen (vgl. die in Thom/ Piening 2009: S. 78ff. genannten Quellen). Dies alles gilt nur unter der Voraussetzung, dass ein vertrauensvolles Klima herrscht und die Vorgesetzten ihre Förderungsverantwortung aus voller Überzeugung wahrnehmen. (3) Wie lassen sich die Betriebsräte (Arbeitnehmervertreter) ins IVM einbinden? Nach Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes in Deutschland (1.1.1972) stieg die Zahl der Betriebsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung zum Vorschlagswesen geradezu sprunghaft an. Die ganz große Mehrheit der deutschen Betriebsräte hat ein sehr positives Verhältnis zum IVM entwickelt. Sie sehen darin <?page no="215"?> 216 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation einen Beitrag zur vertrauensvollen Zusammenarbeit. In Unternehmen mit nachweisbarer positiver Einstellung der gewählten Arbeitnehmervertreter war eine überdurchschnittliche Beteiligungsquote feststellbar (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 82). Auch die Arbeitgeberseite und ihre Beauftragten (Ideenmanager) sind davon überzeugt, dass der Betriebsrat einen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des IVM hat und dass durch ihn ein höheres Ansehen dieses Managementkonzeptes entstanden sei. Das Verhalten der Arbeitnehmervertreter ist in diesem Zusammenhang durch eine ausgeprägte Sachlichkeit und Kooperativität gekennzeichnet. Im IVM sehen die Betriebsräte eine Möglichkeit, zur persönlichen und beruflichen Entfaltung der Arbeitnehmer beizutragen (vgl. auch Paragraph 75, Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes). Die Beschäftigten können unmittelbar am Betriebsgeschehen partizipieren, erhalten eine Chance zur leistungsbezogenen Einkommenssteigerung, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ihres Unternehmens und damit letztlich auch zur Stärkung der Arbeitsplatzsicherheit. Das Hauptinteresse von Betriebsräten gilt einer wirksamen Organisation des IVM und einem fairen Anreizsystem. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 hat im Jahre 2001 umfangreiche Änderungen erfahren. Das Gesetz wurde im Paragraphen 75 in Richtung freie Entfaltung der Persönlichkeit, Selbständigkeit und Eigeninitiative der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer und Arbeitsgruppen erweitert. Diese Rechtsnorm stellt eine ideale Rahmenbedingung für ein modernes IVM dar. Dem Verfasser sind keine Studien über die Einstellung von Betriebs- und Personalkommissionen (mit schwächeren Mitbestimmungsrechten als in deutschen und österreichischen Betriebsräten) in schweizerischen privaten und öffentlichen Unternehmen bekannt. Allerdings hat die Schweiz wesentlich stärkere direktdemokratische Mitwirkungsrechte und damit günstige Voraussetzungen für ein öffentliches Vorschlagswesen für alle Bürger in ihrem jeweiligen Gemeinwesen (vgl. Thom/ Ritz 2008). (4) Welche Rolle spielen die Ideenmanager (IVM-Beauftragten)? Die IVM-Aufgabenträger mit dem normalerweise höchsten Zeiteinsatz sind die Ideenmanager, die traditionellerweise BVW-Beauftragte genannt wurden. Je nach Unternehmensgröße und VV-Aufkommen sind sie haupt- oder nebenamtlich tätig. Früher hielt man einen hauptamtlichen Ideenmanager in einer Organisationseinheit für erforderlich, wenn dort rund 300 bis 500 VV pro Jahr zu bearbeiten waren. Mit Hilfe neuzeitlicher Software sind diese Personen jedoch sicherlich in der Lage, 700 und mehr VV in einem Jahr abschließend zu bearbeiten. Die Bearbeitungskapazität hängt wesentlich von der informationstechnischen Ausstattung, vom Ausbildungs- und Erfahrungsstand sowie Engagement der Ideenmanager und von der durchschnittlichen Problemhaltigkeit der VV ab. Es macht einen Unterschied, ob viele Bagatellvorschläge oder komplexe und innovative VV eingereicht werden. Zu den wichtigsten Aufgaben der Ideenmanager gehören die Sammlung der VV, ihre Zuteilung zu weiteren Aufgabenträgern im Prüfungs-, Bewertungs- und Realisierungsprozess, ferner die Beratung von Einreichern und Vorgesetzten, die Planung, Durchführung und Erfolgskontrolle der Werbung, die Erstellung der Statistik (Kennzahlenberechnung) sowie die Überwachung der Einhaltung von relevanten Normen (Gesetze, tarifliche Vereinbarungen, Betriebsvereinbarungen, Reglemente etc.) für das IVM. <?page no="216"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 217 www.uvk-lucius.de/ innovation Diese umfangreichen Aufgaben können Ideenmanager nur dann effizient und effektiv erfüllen, wenn ihnen umfassende Informationsrechte (z.B. Einsicht in alle VVbezogenen Dokumente), Beauftragungsrechte (z.B. zur Gutachtenanfertigung, Erprobung), unmittelbare Berichtsrechte an weitere Prozessbeteiligte (z.B. Prüfungs- und Bewertungskommission, Topmanagement, Einigungsstelle) sowie Kontrollrechte (z.B. hinsichtlich der zur Durchführung vom Arbeitgeber angenommenen VV) zugestanden werden. Für die fachliche und hierarchische Einordnung der Ideenmanager empfiehlt sich die Beachtung der Prinzipien „Interessen-Neutralität“, „Unabhängigkeit“ sowie „optimale Distanz zu Einreichern von VV und Entscheidern über VV“. Für die Interessen-Neutralität und Unabhängigkeit kann z.B. die Einordnung in den Personalbereich (Human Resource Management) sprechen. Auch die Fachgebiete Qualitätsmanagement oder Innovationsmanagement sind unter diesem Aspekt geeignet, weil alle genannten Ressorts den Charakter einer Querschnittsfunktion aufweisen und außerdem signalisieren, dass es beim IVM entweder um die Ausschöpfung menschlicher Leistungspotentiale oder um die Erreichung von Qualitäts- und Innovationszielen geht. Die höchste hierarchische Zuordnung (Direktunterstellung beim Vorstand bzw. bei der Geschäftsführung) kann zwar die Durchsetzungskraft gegenüber der nachgeordneten Hierarchie verbessern, gleichzeitig aber, insbesondere in Großunternehmen, auch Schwellenängste in der Mitarbeiterschaft erhöhen. In einem solchen Falle (maximale Hierarchiestufe) wird sich zwar vermutlich die Annahmequote erhöhen, die Beteiligungsquote hingegen könnte beeinträchtigt werden. Eine empirische Bestätigung für diese Vermutung findet sich in der Fachliteratur (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 90). Vom Aufgabenprofil her betrachtet, handelt es sich bei der Stelle des Ideenmanagers um einen Stabsbereich. In sehr großen Unternehmen kann der Ideenmanager beispielsweise der unmittelbare Vorgesetzte von zehn Mitarbeitenden sein. Dann hat er innerhalb seiner Stabsabteilung ein Weisungsrecht. Hinzu können fachliche Anordnungsrechte an dezentrale Beauftragte und Kontaktleute (z.B. in Werken) kommen. Ob er in der Prüfungs- und Bewertungskommission ein volles Stimmrecht oder gar den Vorsitz hat, hängt vom Rollenverständnis ab: Je mehr er nach jeweiligem Stellenprofil oder seinem Selbstverständnis die Rolle eines „Ideenanwalts“ übernimmt, umso weniger eignet er sich gleichzeitig als „Richter“. Seine Einflussmöglichkeiten bei der Gestaltung der Betriebsvereinbarung bzw. des Betriebsreglements sind oft beträchtlich. Generell wirkt der Ideenmanager stark bei allen organisatorischen Fragen sowie bei der Werbung und weiteren Sondermaßnahmen (z.B. Ideenwettbewerbe) mit. Hinsichtlich der persönlichen Anforderungen an Ideenmanager sind folgende empirischen Erkenntnisse vorhanden: Dieser wichtige IVM-Akteur erfährt in den letzten Jahrzehnten eine Professionalisierung. Schon zu Beginn der 1980er Jahre hatte mehr als die Hälfte der vom Deutschen Institut für Betriebswirtschaft befragten Vorschlagswesenbeauftragten einen Hochschulabschluss aufzuweisen. Meist verfügten die Stelleninhaber über eine langjährige Berufserfahrung und spezifische Betriebserfahrung im Unternehmen, in welchem sie jetzt als Ideenmanager agierten. Überdurchschnittliche Anforderungen werden an die <?page no="217"?> 218 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Organisationskenntnisse und an das Organisationsgeschick gestellt. Weiter häufig genannte Schlüsselqualifikationen sind: Verhandlungsfähigkeiten, Einfallsreichtum, Initiative, Vorstellungsfähigkeit hinsichtlich der praktischen Umsetzbarkeit von Ideen und Hartnäckigkeit bezüglich der definitiven Realisierung von VV, die seitens des Arbeitgebers angenommen worden sind. Inzwischen sind Weiterbildungs- und Zertifizierungsmöglichkeiten für Ideenmanager im deutschsprachigen Raum ausgebaut worden (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 93). Im Vorgesetztenmodell verändert sich das generelle Aufgabenprofil in folgenden Dimensionen: Mehr übergeordnete Koordinationsfunktionen, ausgeprägtere konzeptionelle, überwachende und kulturgestaltende Tätigkeiten, höhere Anforderungen bezüglich der Weiterentwicklung des Gesamtkonzeptes und seiner Abstimmung mit ähnlich gelagerten bzw. übergeordneten Managementkonzepten. Das Vertrauen der übergeordneten Führungsebenen und von Vorgesetzten in der ganzen Hierarchie sowie bei potentiellen VV-Einreichern ist für eine erfolgreiche Funktionsausübung unabdingbar. (5) Welchen Beitrag haben die Fachgutachter zu leisten? Jede Person, die einem Ideenmanager als geeignet erscheint, ein fachlich kompetentes Urteil über die Nützlichkeit eines VV abzugeben, kann mit der Anfertigung eines Gutachtens nach festgelegten Beurteilungskriterien beauftragt werden. Die Bearbeitungsdauer, die Annahmequote und letztlich die Beteiligungsquote werden von der Art der Aufgabenerfüllung der Fachgutachter wesentlich beeinflusst. Entscheidend sind dabei die persönliche Einstellung (z.B. helfend, einfühlend in die Gedankengänge der Einreicher) und die Arbeitsweise (z.B. objektiv, die relative Gerechtigkeit anstrebend, termintreu) der Gutachter zu/ bei VV. Empirische Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich die Gutachter bei Ablehnungen von VV aus psychologischen Gründen besonders viel Mühe geben sollten. Dies begünstigt die Aufrechterhaltung der Bereitschaft zur Ideengenerierung auch bei Misserfolgserlebnissen. Eine Minderheit der Unternehmen hat Regelungen bezüglich einer finanziellen Abgeltung der Gutachtertätigkeit. Diese orientieren sich beispielsweise an den erreichten Einsparungen durch die VV und an der Termintreue bei der Erstellung der Gutachten. Auf jeden Fall ist eine immaterielle Anerkennung für diese verantwortungsvolle Tätigkeit im IVM angemessen (z.B. Dank-Essen, formelle Zeichen der Wertschätzung durch das Topmanagement). (6) Welchen Beitrag zum IVM haben Kommissionen zu leisten? Durch eine Prüfungs- und Bewertungskommission werden die Fachgutachten überprüft. Weiterhin ist festzustellen, ob der VV über die üblichen Aufgaben eines Stelleninhabers hinausgeht und daher eine prämienberechtigte Leistung darstellt. Schließlich wird die Idee bewertet und eine materielle oder immaterielle Honorierung festgelegt, wobei der Ideenmanager zuvor entsprechende Vorschläge unterbreitet haben kann. Es liegt in der freien Entscheidung des Arbeitgebers, einen VV definitiv anzunehmen, ihn umzusetzen und die VV-Einreicher gemäß dem Antrag der Kommission zu honorieren. Der Arbeitgeber folgt in aller Regel dem Kommissionsvorschlag. Dies ist umso wahrscheinlicher als die Kommission sorgfältig mit betriebserfahrenen und vertrauenswürdigen Personen besetzt wurde und diese eine umsichtige Arbeitsweise pflegen. <?page no="218"?> 6.4 Effiziente Gestaltung des IVM 219 www.uvk-lucius.de/ innovation In diese Kommissionen werden Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter delegiert. Dies ist sinnvoll, gehört es doch auch zu den Aufgaben dieses IVM-Gremiums zu überprüfen, ob der unzulässige Versuch unternommen wird, mit Hilfe des IVM Änderungen durchzusetzen, für welche andere Organe (z.B. Vorstand/ Geschäftsleitung, Aufsichtsrat/ Verwaltungsrat, Sozialpartner/ Tarifvertragsparteien) zuständig sind. Es kann vorkommen, dass sich dieselbe Kommission mit Einsprachen von solchen Arbeitnehmern befasst, deren VV in einen vorgängigen Entscheid abgelehnt wurden. In der strengen Governance-Ordnung sind für diese Einsprüche/ Rekurse gesonderte Einspruchsstellen zuständig, welche nicht von denselben Personen besetzt werden wie die Prüfungs- und Bewertungskommissionen. Dies wird jedoch personell nur in großen Unternehmen möglich sein, die über ein hinreichendes Personalreservoir verfügen. Bei einem effizienten IVM werden solche Einspruchsstellen nur sehr selten in Anspruch genommen. Auf jeden Fall sorgt eine korrekte Kommissionsarbeit dafür, das Vertrauen in die Einrichtung IVM zu stärken. Arbeitnehmervertreter wirken mit und können damit verhindern, dass sich Führungskräfte an den VV auch aus unteren Stufen der Hierarchie bereichern. Das Arbeitspensum solcher Kommissionen wird reduziert, wenn im Vorgesetztenmodell eine Vielzahl von Entscheidungen bereits durch die direkten Vorgesetzten der VV-Einreicher getroffen wird oder wenn dem Ideenmanager Entscheidungsbefugnisse bis zu einem bestimmten Betrag der Honorierung eingeräumt werden. In der Schweiz hat ein besonders erfolgreiches Unternehmen im IVM (rund 100-prozentige Beteiligungsquote) einer Ombudsperson weitreichende Entscheidungskompetenzen zugeordnet. Diese letzte Regelung zeigt exemplarisch, welchen Gestaltungsspielraum die Unternehmen hinsichtlich der organisatorischen Regelungen für ihr IVM haben. (7) Worauf ist bei der organisatorischen Gestaltung des IVM generell zu achten? Die Vielzahl der bisher genannten Regelungsaspekte könnten den Eindruck erwecken, dass hiermit eine bedenkliche Komplexität geschaffen und der Aufwand für das IVM- System in die Höhe getrieben wird. In der Tat heben diesen potentiellen Organisationsaufwand gerne solche Unternehmen hervor, die sich nicht für die Einrichtung eines IVM entschieden haben. Die organisatorische Gestaltung muss situationsgerecht erfolgen. In kleinen und mittleren Unternehmen kann diese Organisation stark verschlankt und auf den Kern reduziert werden. So sind Beispiele bekannt, in denen die ganze Aufbauorganisation aus einem Dreipersonengremium besteht, dem ein Geschäftsleitungsmitglied, der Betriebsratsvorsitzende und ein Techniker angehören (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 99). Grundsätzlich müssen die wesentlichen Bearbeitungsschritte (wer macht was? ) jedem Arbeitnehmer bekannt sein (Abgabe, Prüfung, Bewertung, Anerkennung). Dadurch wächst Vertrauen und Willensbarrieren lassen sich abbauen. Für jedermann nachvollziehbare Darstellungen werden nach dem Grundsatz „Übersichtlichkeit geht vor Vollständigkeit“ gestaltet. <?page no="219"?> 220 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Online-Zusatzdokument Einfache Darstellung einer klassischen BVW-Organisation (8) Sollen informale und formale Gruppen im IVM gefördert werden? Es gab schon seit vielen Jahren informale Gruppen im Vorschlagswesen. In sogenannten Einreichergemeinschaften spannten mindestens zwei Personen freiwillig zusammen, um einen VV auszuarbeiten und ihn als gemeinsame Autoren einzureichen. Dies wurde von Seiten des Arbeitgebers nicht offiziell organisiert und die Einreichergemeinschaften erhielten keinerlei Unterstützung etwa in Form von Trainingsmaßnahmen. Ende der 1960er Jahre tauchten erste Forderungen von Fachautoren auf, zur Verbesserung der Effizienz des Vorschlagswesens sowie des gesamten Betriebsklimas ein organisiertes Gruppenvorschlagswesen einzuführen. Teilweise war auch von „Vorschlagszirkeln“ die Rede. Aber bald wurde vor einer gewissen Gruppeneuphorie gewarnt. Bei nüchterner Analyse können folgende Vorteile der Vorschlagsgruppen identifiziert werden: Die Problemsuche lässt sich durch die Beteiligung mehrerer Personen intensivieren und Fehler bei der Problemanalyse können durch die gegenseitige Kritik der Gruppenmitglieder schneller entdeckt werden. Dies gilt nur, wenn die Gruppenmitglieder keinem kritikfeindlichen Konformitätsdruck ausgesetzt sind. Im günstigen Fall bleibt es nicht bei der Addition des Wissens, sondern es kommt bei der direkten Interaktion der Gruppenmitglieder zu neuen Informationsverknüpfungen. Dies ist umso wahrscheinlicher, je mehr die Gruppenmitglieder einen unterschiedlichen Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund einbringen und ein positiver Wettbewerbsgeist in der kreativen Ideenfindung entsteht. Bevor ein organisiertes Gruppenvorschlagswesen eingeführt wird, sollte geprüft werden, ob in der jeweiligen Belegschaft auf Mitarbeiter- und Vorgesetztenstufe eine positive Einstellung zur Gruppenarbeit vorhanden ist. Danach sind Trainingsmaßnahmen z.B. für Gruppenarbeitstechniken sinnvoll. Parallel zum informellen und formellen Gruppenvorschlagswesen entwickelte sich im deutschsprachigen Raum eine Qualitätszirkel-Bewegung, welche durch japanische Erfahrungen inspiriert wurde. Auf Feinheiten in der Unterscheidung der verschiedenen gruppenbasierten Konzepte kann im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden. Die Spezialliteratur führt hier weiter (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 112ff.). Online-Zusatzdokument Vergleich von Gruppenvorschlagswesen und Qualitätszirkeln Der Vergleich der verschiedenen Gruppenkonzepte zeigt, dass sich informelle Einreichergemeinschaften mit Qualitätszirkeln verbinden lassen. Die Überschneidungen zwischen formellen Vorschlagsgruppen und Qualitätszirkeln sind teilweise so groß, dass es kaum ratsam erscheint, beide gleichzeitig einzuführen. Hier muss sich das Topmanagement für das eine oder andere Konzept entscheiden. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist die Einrichtung von Ideenteams - auf welcher Hierarchiestufe und mit welcher Teilnehmerkomposition auch immer - anhand folgender zwei Prüffragen zu beurteilen: <?page no="220"?> 6.5 Neuere Entwicklungstendenzen im IVM 221 www.uvk-lucius.de/ innovation Erstens, welche Einrichtung führt bei gleichem Mitteleinsatz zur besseren Ausschöpfung des Ideenpotentials einer Belegschaft und damit auch zur besseren persönlichen Entfaltung ihrer Mitglieder? Zweitens, rechtfertigen bessere und schnellere Ideen (VV) einen höheren Mitteleinsatz? Zur Beantwortung dieser Fragen wird jedes Unternehmen in unterschiedlich langen Lernprozessen jeweils individuelle Lösungen finden müssen. Auf diesem Weg hilft das laufende IVM-Controlling (anhand der eingangs genannten Kennzahlen) und nach längeren Zeitabständen (z.B. alle 5 bis 10 Jahre) eine umfassendere Evaluation (Auditing-Prozess). 6.5 Neuere Entwicklungstendenzen im IVM Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es in der langen Entwicklungsgeschichte bis zum heutigen IVM viele Anregungen aus jeweils zeitgerechten Führungsinstrumenten gegeben hat. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn das IVM immer auch als Teil anderer Managementkonzepte gesehen wird. Drei solcher Integrationsmöglichkeiten sollen kurz aufgezeigt werden (vgl. Thom/ Piening 2009: S. 157ff.). (1) Schon seit den 1970er Jahren gibt es Anregungen, das IVM in ein umfassendes Innovationsmanagement zu integrieren. Die Generierung und Bewertung von Ideen werden oft als die schwierigsten Phasen im ganzen Innovationsprozess erachtet. Das IVM hilft hier, vorhandenes innerbetriebliches Potenzial besser auszuschöpfen. Natürlich ist allseitig bekannt, dass die große Mehrheit der Ideen aus dem IVM eher operative Verbesserungsmöglichkeiten betrifft. Weitreichende Produkt-, Prozess- und Sozialinnovationen werden daher mit strategisch ausgerichteten Instrumenten des Innovationsmanagements erarbeitet werden müssen. Zu denken ist hier beispielsweise an die Forschung und Entwicklung, die Produktplanung und die Organisationsentwicklung. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, welche hochwertigen Ideen aus dem weit zugangsoffenen IVM resultieren. (2) Spätestens in den 1990er Jahren wurde die traditionelle Qualitätssicherung auf breiter Front vom Konzept Total Quality Management (TQM) abgelöst. Dieses betont die Bedeutung der Unternehmenskultur (umfassendes Qualitätsstreben als tief verankerter Unternehmenswert) und weist eine starke Mitarbeiterförderung auf. Damit ergeben sich offensichtliche Bezugspunkte zum IVM. Im Kern des TQM findet sich der Gedanke der kontinuierlichen Verbesserung in allen Funktionsbereichen durch Beteiligung möglichst aller Mitarbeitenden. Hierzu kann ein modernes IVM nach den bisherigen Ausführungen gewiss einen ernstzunehmenden Beitrag leisten. (3) Nach der Jahrhundertwende erschienen immer mehr Publikationen zum Wissensmanagement (vgl. u.a. Harasymowicz-Birnbach 2008). Dessen Kernbestandteile liegen in der Identifikation, im Erwerb, in der Entwicklung, Verteilung und schließlich in der Nutzung sowie Bewahrung von organisationalem Wissen. Das IVM kann sicher einen Beitrag zum Wissensmanagement erreichen, denn es geht in beiden Konzepten darum, die Mitarbeitenden mit ihrem impliziten Wissen für die kontinuierliche Verbesserung betrieblicher Prozesse und Leistungen zu gewinnen. Besonders wichtig ist in diesem <?page no="221"?> 222 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Kontext die Erfassung des impliziten Wissens. Darunter können wir diejenigen Wissensanteile verstehen, die von einem Wissensträger - oftmals unbewusst - über Jahre hinweg erworben wurden. Sie sind erfahrungsgebunden und können für Verbesserungen oder gar Innovationen wertvoll sein. Als realistische Verknüpfung beider Konzepte können sogenannte Communities of Practice (CoP) dienen. In diesen kommen Menschen aus sämtlichen Anspruchsgruppen zusammen, um eigeninitiativ Wissen und Erfahrungen zu einem selbst gewählten Thema oder einer neuen Problemstellung auszutauschen. Geschieht dies innerbetrieblich, so kann auch von einer lernenden Organisation gesprochen werden. Aus den vorstehenden Ausführungen sollte deutlich werden, dass sich das IVM sowie das Innovations-, Qualitäts- und Wissensmanagement gegenseitig ergänzen und verstärken können. In jüngerer Zeit gibt es auch Bestrebungen das IVM mit unternehmensübergreifenden Ansätzen zu verbinden. (1) Unter dem Terminus „Integriertes Ideenmanagement“ plädieren die Fachautoren Voigt/ Brem (2005) dafür, interne und externe Ideenlieferanten miteinander zu verbinden. Sie stellen sich vor, die Ideen von Mitarbeitenden, Kunden, Lieferanten und sogar von Konkurrenten zusammenzubringen und daraus Innovationen zu entwickeln. Neben monetären Anreizen setzen sie dabei stark auf intrinsische Anreize und streben eine Win-win-Situation für alle Beteiligten an. In explorativen Experteninterviews dieser Autoren wurde dem integrierten Konzept eine Erfolgschance gegeben, besonders was die Einbindung von Kunden und Lieferanten betrifft. Letztere sollten jedoch nicht direkt über das IVM einbezogen werden, sondern es sei besser, diese externen Partner über die entsprechenden Funktionalbereiche wie Vertrieb, Einkauf oder Produktion einzubinden. Das Erfolgspotential wird für junge und innovative Unternehmen vergleichsweise höher eingeschätzt. Dennoch wurden auch Bedenken vorgetragen. Sie liegen u.a. in der Komplexität dieser Verbindung, nicht zuletzt auch in rechtlichen Hemmnissen (z.B. eindeutige Zuordnung des geistigen Eigentums). Online-Zusatzdokument Bedenken der Experten zum Integrierten Ideenmanagement Die vom Verfasser und seiner Koautorin (Thom/ Piening 2009: S. 180) befragten Schweizer Ideenmanager äußerten sich sehr zurückhaltend zum Einbezug unternehmensexterner Personen in das IVM. Es sei schwerer, einem Externen mitzuteilen, dass sein VV nicht mit den betrieblichen Gegebenheiten und Plänen übereinstimme. Außerdem passe das übliche Anreizsystem, welches vom Arbeitsrecht geprägt ist, nicht für eine Honorierung externer Personen. (2) Unter dem Fachbegriff „Open Innovation“ wird ebenfalls der Einbezug externer Quellen gemeint. Dies gilt besonders für die Generierung und Bewertung innovativer Ideen. Man erhofft sich eine lebhafte, engagierte und hochproduktive Form der Zusammenarbeit über die Unternehmensgrenzen hinweg. Das neue Konzept ist vor dem Hintergrund moderner Informations- und Kommunikationstechnologien in einem veränderten Kontext zu sehen. Durch das Internet bestehen für Unternehmen beste <?page no="222"?> 6.5 Neuere Entwicklungstendenzen im IVM 223 www.uvk-lucius.de/ innovation Möglichkeiten des kostengünstigen, informellen und netzwerkartigen (nicht hierarchischen) Wissensaustausches mit externen Organisationen und Individuen. Ein Schweizer Unternehmen baute beispielsweise eine Innovatoren-Community im Internet auf. Um Ideen von außerhalb der Firmengrenzen zu erschließen, schreiben Unternehmen (z.B. Automobilhersteller) auf der Internetplattform Atizo.com Innovationsprojekte aus und greifen so auf das Know-how der Innovatoren-Community unter Einsatz von monetären Anreizen zurück. Inzwischen liegen weitere Erfahrungen und wissenschaftliche Auswertungen vor, die diesem Konzept eine gute Zukunftschance geben. Eine direkte Verbindung zum IVM ist nicht gegeben. Vielmehr wird mit Open Innovation ein neuer Kanal eröffnet, der sich mit einer sehr präzisen Fragestellung an externe Interessierte wendet und für deren Engagement spezielle Anreize setzt. (3) Im Zusammenhang mit dem IVM lässt sich ein überbetrieblicher Erfahrungsaustausch pflegen. Das Deutsche Institut für Betriebswirtschaft kann diesbezüglich schon auf eine lange Erfahrung zurückschauen. Auch in den anderen deutschsprachigen Ländern bestehen analoge Foren zum Austausch von Erfahrungen mit spezifischen Instrumenten und neuen Gestaltungsversuchen im Bereich des modernen IVM. Auch kann man die Leistungsfähigkeit seines IVM im Rahmen von nationalen Wettbewerben vergleichen und von den Besten lernen (vgl. die Aktivitäten des Deutschen Instituts für Ideen- und Innovationsmanagement GmbH). Im Rahmen der Forschung und Lehre weist das Institut für Organisation und Personal (IOP) der Universität Bern in den Jahren 1991 bis 2012 eine lange Erfahrung mit dem IVM auf. Zweimal vergab das IOP einen IOP-Award für das beste IVM in der Schweiz. Zur Selektion der besten IVM-Anwender wurden Kriterien für ein exzellentes IVM entwickelt und öffentlich zugänglich gemacht (Thom/ Piening 2009: S. 195ff.). Online-Zusatzdokument Kriterien für ein exzellentes Ideenmanagement Das Unternehmen, welches sowohl 2005 (IOP-Award-Gewinner) als auch 2011 Spitzenwerte erreichte und deshalb einen Nachhaltigkeitspreis (2011) erhielt, wird in der unten folgenden Fallstudie mit seinem spezifischen Konzept des IVM als Lernbeispiel vorgestellt. Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Grundgedanke des Vorschlagswesens ist bis zu den heutigen Formen des modernen IVM erhalten geblieben. Es geht darum, die Kreativität und Problemlösungsfähigkeit der Mitarbeitenden der gesamten Institution, in welcher sie arbeiten, zur Entfaltung zu bringen. Dies ist ökonomisch sinnvoll und ethisch bestens begründet. Die optimale Implementierung des Managementkonzepts IVM stellt hohe Ansprüche an die beteiligten Fach- und Führungskräfte. Sie müssen betriebswirtschaftliche, psychologische, technische und teilweise auch rechtliche Dimensionen bei der Systemgestaltung sinnvoll integrieren, damit die angestrebten Ziele in optimaler Weise erreicht werden können. <?page no="223"?> 224 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Darüber hinaus sollen die Systemgestalter für ein IVM in einem größeren Rahmen denken können. Dies ist notwendig, um die Anschlussfähigkeit des IVM an komplementäre und umfassendere Konzepte (z.B. Innovations-, Qualitäts- und Wissensmanagement) zu sichern sowie neue Technologien (z.B. Internetplattformen) und unternehmensexterne Ressourcen parallel zum innerbetrieblichen Ideenfluss in einen umfassenden Ideenpool einfließen zu lassen, aus welchem kleinere und gewichtigere Innovationen, zumindest jedoch fortlaufende Verbesserungen entstehen können. Für eine Unterschätzung des IVM besteht nicht der geringste Anlass. Entweder man betreibt seine Gestaltung mit höchstmöglicher Professionalität oder man verzichtet auf seine Einführung. Literaturhinweise *284 Etienne, Michèle (1997): Grenzen und Chancen des Vorgesetztenmodells im Betrieblichen Vorschlagswesen. Eine Fallstudie. Peter Lang Verlag: Bern u.a. Harasymowicz-Birnbach, Joanna (2008): Effektivitäts- und effizienzorientierte Diagnose des Wissensmanagements. Konzeptionelle Grundlagen - empirische Studien - ausgewählte Gestaltungsempfehlungen. Haupt Verlag: Bern u.a. Losse, Klaus Heinz; Thom, Norbert (1977): Das Betriebliche Vorschlagswesen als Innovationsinstrument. Eine empirisch-explorative Überprüfung seiner Effizienzdeterminanten. Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main/ Bern Spahl, Siegfried (1975): Handbuch Vorschlagswesen. Praxis des Ideenmanagements. Verlag Moderne Industrie: München Thom, Norbert (2003): Betriebliches Vorschlagswesen - ein Instrument der Betriebsführung und des Verbesserungsmanagements. 6. Auflage. Peter Lang Verlag: Bern u.a. Thom, Norbert; Osterspey, Anna (2009): Gibt es einen gerechten Lohn? Betriebswirtschaftliche und ethische Überlegungen. In: Betriebswirtschaft und Ethik, hrsg. von Birgit Feldbauer-Durstmüller und Helmut Pernsteiner, Linde Verlag: Wien, S. 145-170 Thom, Norbert; Piening, Anja (2009): Vom Vorschlagswesen zum Ideen- und Verbesserungsmanagement. Kontinuierliche Weiterentwicklung eines Managementkonzepts. Peter Lang Verlag: Bern u.a. Thom, Norbert; Ritz, Adrian (2008): Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor. 4. Auflage. Gabler Verlag: Wiesbaden Thom, Norbert; Wenger, Andreas P. (2010): Die optimale Organisationsform. Grundlagen und Handlungsanleitung. Gabler Verlag: Wiesbaden Voigt, Kai-Ingo; Brehm, Alexander (2005): Integriertes Ideenmanagement als strategischer Erfolgsfaktor junger Technologieunternehmen. In: Integriertes Ideenmanagement, hrsg. von Erich J. Schwarz und Rainer Harms. Deutscher Universitäts-Verlag: Wiesbaden, S. 175-200 * Dieser Beitrag basiert wesentlich auf Thom (2003) und Thom/ Piening (2009) <?page no="224"?> 6.5 Neuere Entwicklungstendenzen im IVM 225 www.uvk-lucius.de/ innovation Fallstudie Ausgewählt wird das schweizerische Industrieunternehmen Perlen Papier AG (kurz PPA), das in der Zentralschweiz (Raum Luzern) angesiedelt ist und zur CPH Chemie + Papier Holding AG gehört. Es erhielt im Jahre 2005 den IOP-Award für das beste IVM der Schweiz und im Jahre 2011 den entsprechenden IOP-Nachhaltigkeitspreis für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung seines maßgeschneiderten und langfristig außerordentlich leistungsfähigen IVM. Die im Weiteren genannten Zahlen basieren auf dem Referenzjahr 2007. Danach fand ein Wechsel in der KVP-Koordination statt. In diesem Jahr erwirtschaftete die PPA einen Umsatz von rund 240 Millionen Schweizer Franken (CHF) als Produzent von Zeitungsdruckpapier und einziger Hersteller von Magazin-Papieren in der Schweiz. Das stark exportorientierte Unternehmen beschäftigte seinerzeit rund 400 Mitarbeitende, die im Bezugsjahr 700 Ideen (VV) hervorbrachten. Von 2001 bis 2007 wurden mit den VV der Mitarbeitenden Einsparungen von über 5 Millionen CHF erzielt. Hinzu kommen vielfältige nicht berechenbare Nutzenelemente. Mit welchem IVM-Konzept erreichte die PPA diese ganz ungewöhnlich guten Effizienzwerte? Bis etwa zur Jahrhundertwende verfügte die PPA über ein traditionelles Betriebliches Vorschlagswesen (BVW), das von den Teilnahmeberechtigten nur selten genutzt wurde. Mit dem Eintritt eines neuen Chief Executive Officer (CEO) im Jahre 1999 begann in der PPA ein Kulturwandel. Das bisher sehr konservative und hierarchisch geprägte Unternehmen wurde stark verändert. Von nun an stellte der CEO die Mitarbeitenden sehr deutlich ins Zentrum des Unternehmensgeschehens. Er führte einen Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) ein. Dadurch wurde das traditionelle BVW beinahe unbedeutend und schließlich abgeschafft. Alle Aktivitäten, die inhaltlich einem IVM entsprachen, wurden nun unter dem Begriff KVP zusammengefasst. Dabei kopierte man nicht ein bekanntes Modell aus dem Ausland oder aus der Literatur, sondern entwickelte eine unternehmensspezifische Variante. Ein Wesensmerkmal des KVP der PPA besteht im „KVP-Haus“ und den darin befindlichen Methoden. Online-Zusatzdokument KVP-Haus der Perlen Papier AG Das KVP-Haus umfasst die drei Hauptkomponenten: (1) Einzelvorschlag (individueller Verbesserungsprozess) sowie zwei Varianten der Verbesserungen im Team, die (2) Kurzmoderation und die (3) Moderation. Einzelvorschläge können alle Mitarbeitenden mittels einer KVP-Verbesserungskarte („grüne Karte“ genannt) jederzeit einreichen. Die zwei Teammethoden wurden eingeführt, um möglichst viele Firmenangehörige zur Teilnahme am KVP zu bewegen und die Innovationsbereitschaft möglichst breit abzustützen. <?page no="225"?> 226 6 Ideen- und Verbesserungsmanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Mit der Kurzmoderation wird auf einem speziellen Chart mit Hilfe einer visualisierten Problemlösungsmethode ein Thema bzw. ein Problem systematisch bearbeitet. Hat ein PPA-Mitglied ein Problem, das es nicht selbst lösen kann, lädt es diejenigen Mitarbeitenden zu einer Kurzmoderation ein, von denen es annimmt, dass sie ihm bei der Problemlösung helfen könnten. Wir können von Ad-hoc-Teams sprechen. Inzwischen wird seit Jahren diese Problemlösungsmethode auf allen Hierarchiestufen intern geschult und erfolgreich angewendet. Eine Moderation umfasst mehrere Sitzungen und wird bei komplexeren Problemstellungen angewandt. Ein zentrales Gestaltungsprinzip im KVP der PPA ist das Vorgesetztenmodell. Mit dem Vorgesetztenmodell wird das organisatorische Prinzip der Dezentralisierung realisiert und die Führungsverantwortung aller Linienkräfte für den KVM der PPA hervorgehoben. Die Organisation der PPA betont auch die Prozessverantwortung der Führungskräfte. Zusätzlich zu den Vorgesetzten tragen weitere Aufgabenträger zum Erfolg des KVP bei. Ein KVP-Koordinator überwacht die Funktionsweise des KVP mit Blick auf das Gesamtunternehmen und gibt Impulse für die Weiterentwicklung. Der dezentrale Charakter des KVP der PPA wird durch weitere rund 100 Mitgestalter eindrucksvoll belegt: Es gibt 21 sogenannte „Tafelbetreuer“ und rund 80 ausgebildete Moderatoren. Die Tafelbetreuer unterstützen die jeweiligen Vorgesetzten von Organisationseinheiten in ihrer KVP-Tätigkeit, koordinieren die KVP-Arbeit im eigenen Team, sorgen für die Information und Visualisierung an der speziellen Tafel und pflegen die KVP-Datenbank ihrer Organisationseinheit. Sie arbeiten überdies eng mit dem KVP- Koordinator zusammen. Dieser organisiert in jedem Quartal ein Treffen aller Tafelbetreuer zum gegenseitigen Erfahrungs- und Informationsaustausch. Hat ein Arbeitnehmer der PPA eine Idee mittels der „grünen Karte“ an die Tafel geheftet, tritt der Tafelbetreuer in Aktion. Er nimmt diese Ideenkarte an sich, gibt diesen VV in seine Datenbank ein, sucht bei eventuellen Unklarheiten das direkte Gespräch mit dem Einreicher und gegebenenfalls auch mit dessen direktem Vorgesetzten. Wenn er vom Nutzen des VV überzeugt ist, sorgt er selbst für die Umsetzung der eingereichten Idee. Jedem Tafelbetreuer steht ein Budget zur Verfügung, womit er kleinere Verbesserungen direkt realisieren kann. Komplexe VV werden der zuständigen Abteilung bzw. weiteren Organisationseinheiten weitergeleitet und von den dortigen Vorgesetzten an die Hand genommen. Aus der bisherigen Falldarstellung wird deutlich: Die Organisation des KVP der PPA führt zu einer schnellen und unkomplizierten Umsetzung von Ideen möglichst vieler Mitarbeiter. Die eingangs genannte Beteiligungsquote spricht für sich, insbesondere wenn man diese mit den Werten der nationalen Statistik vergleicht. Weitere Erfolgsfaktoren liegen in der Unternehmenskultur. Nach Aussage des seinerzeit zuständigen KVP-Koordinators hat man den Zustand erreicht, dass die PPA- Mitglieder nicht mehr in eng abgegrenzten „Gärtchen“ denken. Die Teamarbeit wird durchgängig gepflegt. Man legt Wert auf die Integration möglichst aller Arbeitnehmer in den KVP und investiert in die Schulung auf dem Gebiet der Ideenentwicklung. Inzwischen hat sich nicht zuletzt aufgrund der erreichten Erfolge ein gewisser Stolz auf dieses selbst entwickelte und kultivierte System des IVM bei der Mitarbeiterschaft der PPA entfaltet. Die externen Auszeichnungen (sie werden auf der Firmen-Homepage erwähnt) und die aner- <?page no="226"?> 6.5 Neuere Entwicklungstendenzen im IVM 227 kennenden Presseberichte verstärken diese Identifikation. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten bei erheblichem Konkurrenzdruck durch ausländische Wettbewerber hat das Unternehmen PPA sein KVP aufrechterhalten und weiterhin neuen Entwicklungen erfolgreich angepasst (vgl. auch den Geschäftsbericht 2011 der CPH Chemie + Papier Holding AG). Eine Verknüpfung mit der Arbeitssicherheit ist angedacht. Dagegen ist ein Einbezug von Kunden und Lieferanten in dieses IVM nicht vorgesehen. Aufgabenstellung Analysieren Sie unter Bezugnahme auf den knappen Falltext (sowie ggf. weiterer Internetrecherchen: www.perlenpapier.ch) und auf die im ganzen Kapitel genannten allgemeingültigen Effizienzgrößen und Gestaltungselemente für ein IVM, welche Gründe den ungewöhnlichen und nachhaltigen Erfolg des KVP dieses Industrieunternehmens erklären können. <?page no="228"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument von Prof. Dr. Peter Mühleme yer und Susanna Ripp „Denn wer lange bedenkt, der wählt nicht immer das Beste.“ Johann Wolfgang von Goethe 7.1 Einleitung/ Zielsetzung des Kapitels Die Globalisierung, sowie die Verkürzung der Halbwertszeit des Wissens als auch der permanente Wandel der Informations- und Kommunikationstechnologien verkürzen immer häufiger die Produktlebenszyklen. Die Fähigkeit zum Wandel und zur Innovation sowie das damit verbundene Know-how sind damit entscheidende Determinanten der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens. Um dauerhaft am Markt erfolgreich zu sein, benötigt ein Unternehmen permanent marktgerechte Innovationen. Diese wiederum können nur mittels personaler Kompetenz, also durch die Innovationskompetenz der Mitarbeiter und deren geeigneter Kreativität, entwickelt werden. Innovationen verlangen nach Ideen. Ideen wiederum müssen zunächst aufgeworfen werden, um dann praxisorientiert weiterentwickelt zu werden. Dieser Teilprozess der Innovation wird auch als Invention bezeichnet. 285 Dieser Prozess kann von einer Gruppe, die mit der Problemstellung vertraut ist, aber auch von einer Einzelperson durchgeführt werden. Als methodische Hilfestellung sind zahlreiche Techniken, die die Kreativität fördern und den Ideenfindungsprozess unterstützen können, bekannt und hier als wertvolles Instrument nutzbar. 286 Im Folgenden werden nach einer kurzen Einführung in das Themenfeld Kreativität ausgewählte Kreativitätstechniken vorgestellt, die sich in der Praxis vielfach bewährt haben und zu innovativer Ergebniswirksamkeit führen. 7.2 Kreativität 7.2.1 Der Begriff der Kreativität Der Begriff „Kreativität“ stammt vom lateinischen Wort „creare“ ab, was so viel bedeutet wie erschaffen, erzeugen, hervorbringen. 287 In dem Wort Kreativität spiegeln sich schon die beiden wichtigsten Aspekte wider: freies und logisches Denken in 285 Zu diesen Systematisierungsfragen betrieblicher Innovationen vgl. Rogers/ Shoemaker: Comunications of Innovations, S. 20ff. sowie Staudt: Innovation, S. 486-487. 286 Mühlemeyer. Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument, S. 14. 287 URL: www.frag-caesar.de [19.09.2012]. <?page no="229"?> 230 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation Kombination 288 sowie das Dynamische, das Prozessartige, das der Kreativität innewohnt. 289 Kreativität ist also dabei nicht die bloße Eigenschaft, etwas Künstlerisches zu erschaffen, sondern vielmehr die Fähigkeit zu schöpferischem Denken und Handeln. Die geistige Grundstruktur der Kreativität ist bei jedem Menschen vorhanden, auch wenn sie unterschiedlich genutzt wird. 290 Ihre Entwicklung ist jedoch bei jedem Menschen abhängig von dessen Persönlichkeit, Erfahrungen, Motivation, Anstrengung und Ausdauer. 291 Definitionen für Kreativität gibt es in der Literatur mannigfaltige. Der Wegbereiter von Kreativität in Deutschland, Helmut Schlicksupp 292 , bezieht sich dabei auf eine Definition, die 1956 von dem Autor Drevdahl im Journal of Clinical Psychology veröffentlicht wurde: „…Kreativität ist die Fähigkeit von Menschen, Kompositionen, Produkte oder Ideen gleich welcher Art hervorzubringen, die in wesentlichen Merkmalen neu sind und dem Schöpfer vorher unbekannt waren. Sie kann in vorstellungshaften Denken bestehen oder in der Zusammenfügung von Gedanken, wobei das mehr als eine reine Aufsummierung des bereits Bekannten darstellt. Kreativität kann das Bilden neuer Muster und Kombinationen aus Erfahrungswissen einschließen und die Übertragung bekannter Zusammenhänge auf neue Situationen ebenso wie die Entdeckung neuer Beziehungen. Das kreative Ergebnis muss nützlich und zielgerichtet sein und darf nicht in reiner Phantasie bestehen - obwohl es nicht unbedingt sofort praktisch angewendet werden braucht oder perfekt und vollständig sein muss. Es kann jede Form des künstlerischen oder wissenschaftlichen Schaffens betreffen oder prozesshafter oder methodischer Natur sein…“ 293 Die Kreativität ist so alt wie die Menschheit selbst, die Kreativitätsforschung entstand jedoch erst in den 1960er Jahren in den USA als Folge des sogenannten „Sputnik-Schocks“ im Jahre 1957, als der Bedarf an kreativen Wissenschaftlern Staat und Industrie dazu brachten, psychologische Untersuchungen zum Thema der Kreativität zu finanzieren und zu fördern. 294 In dieser Zeit entwickelte sich eine anwendungsorientierte Kreativitätsforschung, die die vier Bereiche kreative Person, kreativer Prozess, kreatives Umfeld und kreatives Produkt betrachtet. 295 288 Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 103. 289 Landau: Psychologie der Kreativität, S. 9. 290 Malorny, Schwarz, Backerra: Die sieben Kreativitätswerkzeuge, S. 6. 291 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 1. 292 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Schlicksupp: Ideenfindung, S. 32. 293 Drevdahl: Factors of importance of creativity, S. 21. 294 Landau: Psychologie der Kreativität, S. 9. 295 Vgl. hierzu auch Kapitel 2.2. <?page no="230"?> 7.2 Kreativität 231 www.uvk-lucius.de/ innovation Seit den 1960er Jahren dient das Hemisphären-Modell zur Erklärung der Kreativität. Es besagt, dass die beiden Gehirnhälften im Wesentlichen voneinander unabhängige Aufgaben auf unterschiedliche Weise ausführen. 296 Die rechte Hemisphäre ist dabei für das analoge Denken verantwortlich, also die schnelle räumliche Verarbeitung, die Synthese aller bisherigen Erfahrungen und der visuellen Eindrücke. In der linken Hemisphäre hingegen sitzt das sogenannte „digitale Denken“, welches für das logische Denken, die Organisation sowie Analyse der Informationen zuständig ist. Erst wenn beide Gehirnhälften verknüpft sind, also die kreative (rechts) mit der analytischen (links) Hemisphäre zusammenarbeitet, kann Kreativität entstehen und somit Ideen und letztlich Innovationen generiert werden. Abbildung 23: Informationsverarbeitung im Gehirn 297 Bei allen menschlichen Aktivitäten sind immer beide Gehirnhälften beteiligt, allerdings wird die linke Hemisphäre aufgrund unserer dynamischen Umwelt weitaus mehr eingesetzt. Insbesondere bei Routinearbeiten unter anderem auch im Arbeitsalltag kommt die linke Seite vielmehr zum Tragen. Sollen jedoch Innovationsprozesse angestoßen, also neue Ideen gewonnen werden, so sind die Fähigkeiten der rechten Hemisphäre gefragt. Da allerdings die rechte weitaus weniger gefordert wird, ist diese oftmals sehr untrainiert. Hier greifen die unterschiedlichen Kreativitätstechniken, denn diese fordern sowohl die rechte als auch die linke Hemisphäre, wodurch sie ein unverzichtbares Instrument bei dem Prozess der Ideengewinnung darstellen. 298 296 Springer/ Deutsch: Linkes/ rechtes Gehirn: funktionelle Asymmetrien, S. 170ff. 297 Eigene Darstellung in Anlehnung an: Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 103 sowie Malorny, Schwarz, Backerra: Die sieben Kreativitätswerkzeuge, S. 9. 298 Malorny, Schwarz, Backerra: Die sieben Kreativitätswerkzeuge, S. 9. <?page no="231"?> 232 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation 7.2.2 Einflussfaktoren der Kreativität Abbildung 24: Einflussfaktoren auf die Kreativität 299 7.2.2.1 Die kreative Person Nach Eigenschaften, die eine kreative Person von einer nicht kreativen Person unterscheiden, wurde lange gesucht. Früher verband man Kreativität oft mit geistigen Krankheiten und nicht selten liegen Genialität und Wahnsinn wahrlich dicht bei einander - denke man nur alleine an Vincent van Gogh. Ebenso ist durch Studien 300 belegt, dass zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und kreativen Aktivitäten Wirkungszusammenhänge bestehen. Je positiver bestimmte Eigenschaften wie z.B. Selbstbewusstsein, Energiepotenzial, Neugier oder auch Denken in komplexen und vernetzten Systemen vorliegen, desto kreativer wird die Person sich auch verhalten. Drei wesentliche Einflussfaktoren der Kreativität sind Tätigkeitsdrang bzw. Motivation, Kognitionen und Informationsverarbeitung sowie die Persönlichkeit des Menschen. a. Motivation [1] Damit ein Mensch motiviert ist, kreative Ideen zu entwickeln, bedarf es seinerseits eines hohen Grades an einer fachlichen Integration und ist ebenso abhängig von dessen Emotionen. Die fachliche Integration bewirkt dabei eine erhöhte Informationsaufnahme und eine Konzentrierung auf das Wesentliche, während die Motivation und nicht zuletzt der Flow Spaß an der Tätigkeit bewirkt. Motivation kann gemäß der Maslow’schen Bedürfnispyramide bis zu einem gewissen Grad gesteigert werden und ist wichtig bei der kreativen Tätigkeit. Doch gemäß Abbildung 25 kann eine gestärkte Motivation nur bis zu einem gewissen Grad auch zu einer Kreativitätssteigerung führen. 299 Malorny, Schwarz, Backerra: Die sieben Kreativitätswerkzeuge, S. 10. 300 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 4ff. <?page no="232"?> 7.2 Kreativität 233 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 25: Verhältnis von Kreativität und Motivation 301 b. Kognitionen und Informationsverarbeitung [2] Hierunter versteht man Wissen, das dem Problemlösenden zur Verfügung steht. Die Menge der Ideen ist natürlich abhängig von der Verfügbarkeit dieser Kognitionen, denn umso mehr davon vorhanden sind, umso mehr Assoziationen und Analogien können gebildet werden. Dabei muss jedoch Allgemeinwissen und Fachwissen unterschieden werden, denn während ersteres das kreative Denken fördert, so wird es vom Fachwissen eingegrenzt. c. Persönlichkeit [3] Der Persönlichkeit selbst kommt als Basis für Kreativität eine überragende Bedeutung zu. So lassen sich nach Berth (1992) drei wesentliche Typen von Persönlichkeiten unterscheiden: Der Entdecker: aufgeschlossen, spontan und neugierig Der Analytiker: besonnen, pflichtorientiert, kontrolliert, korrekt und skeptisch Der Realisierer: geistig flexibel, sozial sensibel, veränderungsbereit, unkonventionell, distanziert, begeisterungsfähig. [4] In diesen „Reinformen“ sind diese drei Persönlichkeitstypen sehr selten anzutreffen - für den kreativen Prozess wäre eine Mischung aus diesen drei Typen optimal. Insbesondere eine große Komplexität einer Persönlichkeit lässt ein stark ausgeprägtes kreatives Verhalten und losgelöstes Denken entstehen. Gleichermaßen stellen empirische Untersuchungen zur Förderung von Innovation und Kreativität im Rahmen eines betrieblichen Innovationsmanagements 302 immer wieder die Bedeutung der personalen Kompetenzförderung in Verbindung mit geeigneten organisatorischen Rahmenbedingungen und eines entsprechenden kulturellen (Unternehmems- )Umfeldes als Notwendigkeit für die Förderung von Kreativität heraus. 303 301 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 5. 302 Vgl. hierzu in der Rolle von Innovationsaktivem Personal inbesondere Mühlemeyer, P.: Personalmanagement in der betrieblichen Forschung und Entwicklung 303 Vgl. hierzu insbesondere Staudt/ Bock/ Mühlemeyer/ Kriegesmann: Der Arbeitnehmererfinder im betrieblichen Innovationsprozess - Ergebnisses einer empirischen Untersuchung, S. 32. <?page no="233"?> 234 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation 7.2.2.2 Der kreative Prozess Nach Geschka/ Reibnitz (1977) wird der kreative Prozess in drei Phasen untergliedert: a. Vorbereitungsphase [5] Hier wird das Problem erkannt und definiert, in seine Komponenten zerlegt und analysiert. Auch werden bereits benötigte (Hintergrund-)Informationen gesucht und gesammelt. 304 [6] In dieser Phase müssen Zusammenhänge transparent gemacht werden und das relevante Wissen aufbereitet werden. Hier wird hauptsächlich die linke Hemisphäre eingesetzt. 305 b. Intuitive Phase [7] Die zweite Phase besteht aus der Inkubation (Entfremdung) und der Illumination (Erleuchtung). [8] In der Phase der Entfremdung werden die Probleme verarbeitet und kreative Ideen entwickelt, in der Phase der Erleuchtung hingegen werden Problemlösungen erarbeitet. [9] Während der Inkubation ist es wichtig, Abstand zum Problem zu gewinnen, denn nur so lassen sich Ideen entwickeln, die fernab von festgefahrenen Lösungsansätzen sind. 306 Es sollten also während der Inkubation entspannende Aktivitäten durchgeführt werden, damit das Problem an das Unterbewusste abgegeben werden kann. Im Unterbewusstsein können dann die Gedanken mit bisherigen Erfahrungen in Verbindung treten. [10] In dieser Phase kommt die rechte Hemisphäre stark zum Tragen bei parallelem starkem Einsatz der linken Hemisphäre, wodurch gleichzeitig zahlreiche Informationen verarbeitet werden. 307 [11] Mit der Entstehung der ersten Geistesblitze beginnt die Phase der Illumination. Erste Lösungsansätze werden ersichtlich, wenn auch noch wenig detailliert. Hier ist eine angenehme und entspannte Atmosphäre wichtig, da so der Lösungsentwicklungsprozess am besten angestoßen wird. 308 c. Kritische Phase [12] Die letzte Phase des kreativen Prozesses umfasst die genaue Analyse und Bewertung der in der Illumination entwickelten Ideen in Bezug auf die Problemlösungsrelevanz und Entwicklungsmöglichkeiten. 309 [13] In der letzten Phase des kreativen Prozesses wird wieder mehr die analytische, linke Hemisphäre eingesetzt. 310 304 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 10. 305 Backerra, Malorny, Schwarz: Kreativitätstechniken, S. 28. 306 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 10. 307 Backerra, Malorny, Schwarz: Kreativitätstechniken, S. 28ff. 308 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 10. 309 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 11. 310 Backerra, Malorny, Schwarz: Kreativitätstechniken, S. 29. <?page no="234"?> 7.2 Kreativität 235 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 26: Der kreative Prozess 7.2.2.3 Das kreative Produkt Das kreative Produkt (Idee/ Gedanke) ist das Resultat des kreativen Prozesses. Problematisch wird es, wenn definiert werden soll, ab wann eine Idee kreativ ist oder ob es sich nur um eine Erkenntnis handelt. 311 Kreativ ist ein geistiges Produkt, wenn davon ein Wertezuwachs in einem bestimmten Lebensbereich zu erwarten ist, wobei hier als Maßstab zur Messung des Kreativitätsgrades existierende Normen und Werte der Gesellschaft herangezogen werden. 312 Dennoch erweist sich eine allgemeingültige Definition als äußerst schwierig. Fragestellungen des tatsächlichen Neuerungsgehaltes von Innovationen (im Rahmen von Produkt-, Prozess- und Sozialinnovationen) sind seit langer Zeit immer wieder Gegenstand der wissenschaftlichen Innovationsforschung. 313 7.2.2.4 Das kreative Umfeld Den vorherrschenden Umweltbedingungen bzw. dem Umfeld kommen beim kreativen Prozess eine zentrale Bedeutung zu: Ein kreativer Mensch reagiert mit großer Sensibilität auf Veränderungen und Spannungen. Da diese jedoch häufig den kreativen Prozess anstoßen, dürfen sie das kreative Handeln nicht behindern. 314 Neben den Umwelteinflüssen Information, Material und Zeit sind es insbesondere auch die sozialen Kontakte, die sich auf das Ausmaß der kreativen Ideen auswirken. Durch die permanente Wechselwirkung sind der kreative Mensch und sein kreatives Umfeld nicht voneinander zu trennen. 311 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 3. 312 Aschenbrücker: Kreativitätspotentiale und deren Förderung, S. 1028. 313 Vgl. hierzu z.B. Staudt/ Schmeisser: Invention und Kreativität als Führungsaufgabe, S. 356. 314 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 11. <?page no="235"?> 236 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation In Bezug auf den betrieblichen Alltag, haben also die Arbeitsbedingungen sprich Arbeitsklima, Arbeitskultur, Unternehmenskultur, Führungsstil, Sanktionen und Anreizsysteme einen großen Einfluss auf die im Unternehmen herrschende Kreativität. 315 7.2.3 Strukturierung von Kreativitätsstechniken In der Literatur findet man unterschiedliche Möglichkeiten, Kreativitätstechniken zu unterteilen. Eine Strukturierung erweist sich als äußerst schwierig, da durch verschiedene Varianten viele Techniken Elemente aus mehreren Kategorien aufweisen. Jedoch lassen sich zwei große Gruppen an Kreativitätstechniken unterscheiden - zum einen die Methoden, die die Intuition anregen und verstärken (intuitive Techniken) und zum anderen die systematisch-analytischen (diskursiven) Methoden. Daneben kann eine weitere Klassifizierung vorgenommen werden, wobei Assoziation/ Abwandlung und Konfrontation einander gegenüberstehen. Abbildung 27: Strukturierung von Kreativitätstechniken 316 In Bezug auf die Generierung neuer Ansätze innerhalb des Innovationsprozesses soll nun eine Strukturierung der Kreativitätstechniken für den Gebrauch in der betrieblichen Praxis vorgestellt werden, wobei darauf zu achten ist, dass die Methode möglichst konträr zur täglichen Arbeitssituation gewählt wird, um eine bestmögliche Stimulation hervorzuheben. 317 315 Vgl. Mühlemeyer: R&D Personnel Management by Incentive Management, S. 59. 316 Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 104ff. 317 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 104ff. Freie Assoziation Strukturierte Assoziation Kombination Konfrontation Weitere Keine Struktur, keine Kritik, alle Äußerungen zugelassen und erwünscht Eine vorgegebene Struktur wird durchlaufen Neuartiges Zusammenfassen bestehender Elemente Übertragung problemfreier Prinzipien Brainstorming Walt-Disney- Methode Morphologischer Kasten Synektik Bionik Ringaustausch 6-Hüte- Methode Reizwortanalyse Osborne- Checkliste Methode 6-3-5 Attribute Listing Visuelle Konzentration Kopfstand Mindmapping TRIZ Relevanzbaumanalyse <?page no="236"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 237 www.uvk-lucius.de/ innovation 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken Nachfolgend werden bekannte gleichwohl aufgrund der existierenden Vielzahl ausgewählte Kreativitätstechniken unter Einbezug des folgenden Merkmals strukturiert: Intuitive Techniken Diskursive Techniken Kombinative Techniken intuitiv & diskursiv Brainstorming Morphologischer Kasten Walt-Disney-Methode Mind Mapping Osborn-Checkliste Methode 6-3-5 Reizwortanalyse Synektik Abbildung 28: Strukturierung von Kreativitätstechniken 318 7.3.1 Intuitive Methoden Intuitive Techniken basieren auf spontanem Verstehen und Erkennen von Sachverhalten und zielen darauf ab, aus dem Unterbewusstsein heraus spontane Ideen und Lösungen wachsen zu lassen. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen hauptsächlich mündlichen (Brainstorming) und schriftlich fixierten Methoden, welche unter der Technik Brainwriting zusammengefasst werden und somit den Oberbegriff für alle schriftlichen Formen des Brainstormings darstellt. Das Ziel von beiden Techniken ist die Gewinnung einer größtmöglichen Anzahl an Ideen, die zur Lösung eines Problems beitragen sollen. Der Vorteil des Brainwriting gegenüber dem Brainstorming liegt darin, dass alle Teilnehmer sich gleichermaßen, da schriftlich, äußern und somit auch eher introvertierte Personen ihren Beitrag leisten können, da sie zum einen mehr Zeit haben, ihre Gedanken zu ordnen und zum anderen keinen Hemmungen, in der Gruppe zu sprechen, gegenüberstehen. Darüber hinaus können die Teilnehmer von Brainwriting-Methoden auch räumlich voneinander getrennt sein, was eine große Zeitersparnis mit sich bringt. 319 Im Folgenden sollen die beiden Techniken sowie Abwandlungen dazu näher dargestellt werden. 7.3.1.1 Brainstorming Das Brainstorming ist nicht nur die bekannteste, sondern auch älteste Kreativitätstechnik und wurde von Alex F. Osborn (1888-1966) in den 1930er entwickelt. Sie dient zur 318 Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 3. 319 Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 29ff. <?page no="237"?> 238 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation Sammlung vielfältiger Ideen innerhalb kürzester Zeit und ist eine Gruppenkreativitätsmethode. Hierbei sollte es sich um eine möglichst heterogene Gruppe zwischen vier und zwölf Personen handeln, sowie einem sachkundigen Moderator, dem wiederum ein Assistent zugeordnet ist. 320 Die Teilnehmer dieses Ideenentwicklungsprozesses werden anhand unterschiedlicher Arbeitsbereiche ausgewählt. Der Moderator/ Leiter sammelt alle Beiträge, die von den beteiligten Personen vorgetragen werden und trägt dafür Sorge, dass alle Ergebnisse sichtbar und verständlich festgehalten werden. Hier liegt der Schwerpunkt in der Quantität der Beiträge, die erst zu einem späteren Zeitpunkt analysiert und diskutiert werden, denn die oberste Regel lautet, dass jegliche Kritik während des Ideensammlungsprozesses verboten ist. Die erste Phase dieses Prozesses beginnt, indem der Moderator das zentrale Problem auf ein Whiteboard oder einen Flipchart schreibt und der Assistent die Gruppenbeiträge ohne Wertung daneben fixiert. In der zweiten Phase werden die Beiträge gewichtet und somit nach ihrer Wichtigkeit geordnet, dabei fällt es dem Moderator als Aufgabe zu, dass Ideen nicht gleich aufgrund ihrer Realitätsfremde oder aufgrund mangelnder (finanzieller) Ressourcen verworfen werden. Auch muss er unsachlicher Kritik konstruktiv entgegen wirken. In der Praxis hat sich Brainstorming vielfach bewährt - dies liegt hauptsächlich auch im Kritikverbot begründet, welches zunächst auch die abwegigsten Lösungsvorschläge zulässt. In der Regel dauert ein Brainstormingprozess in etwa 30 Minuten, danach folgt die Phase der Gewichtung und Analyse. Viele Unternehmen nutzen daher den Vorteil dieser konstruktivistischen Didaktik-Methode, um Unternehmensprozesse zu optimieren, indem Probleme auf den unterschiedlichsten Unternehmensebenen identifiziert und auf einen Lösungsweg gebracht werden. 321 Der Brainstormingprozess reicht dabei über den gesamten Problemlösungsprozess, das heißt von der Fragestellung, Problemklärung und Neuformulierung bis hin zur Problemlösung selbst. 322 Heutzutage gibt es zahlreiche Abwandlungen/ Versionen dieser Brainstormingtechnik, wie z.B. den „Crawford Slip“ oder auch die Methode „Nimm fünf“. Auch stammen die meisten japanischen Kreativitätstechniken vom Brainstorming ab. Zu nennen wäre hier die „Lotusblütentechnik“, die „Mitsubishimethode“, die „NHK-Methode“ oder auch die sogenannte „TKJ-Methode“. 323 Wesentlich ist bei allen Brainstorming-Methoden, dass folgende vier Grundregeln eingehalten werden: 324 320 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 84. 321 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 126ff. 322 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 84. 323 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 126ff. <?page no="238"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 239 www.uvk-lucius.de/ innovation [1] Jede Kritik an den gewonnenen Ideen ist verboten. [2] Zuerst Quantität, dann Qualität. [3] Alle Ideen können und sollen auch weiterentwickelt werden. Es besteht kein Urheberrecht. [4] Auch die verrücktesten Ideen sind willkommen. Im Folgenden soll aus rein informativen Gründen noch die Methode „Nimm fünf“ und die „NHK-Methode“ kurz dargestellt werden. 7.3.1.1.1 „Nimm fünf“ „Nimm fünf“ ist im Prinzip ein 40-minütiges Spiel mit Gruppen von je fünf Teilnehmern. Dieses Spiel eignet sich für viele Arten von Problemen, aber ganz besonders bei Herausforderungen in strategischen Planungen sowie bei der Konstruktion von Vorausschaufragebögen. 325 Das Spiel umfasst die sechs Phasen: [1] Auswahl des Themenbereiches. [2] Ein Moderator beschreibt diesen und erklärt den Teilnehmern die Hintergründe. [3] Die Teilnehmer haben nun zwei Minuten Zeit, ihre Ideen aufzuschreiben. [4] Die Teilnehmer werden in Fünfergruppen aufgeteilt und bearbeiten für eine Ideensammlung längere Listen, die sie hinsichtlich ihrer Wichtigkeitsrangordnung sortieren. [5] Alle Fünfergruppen erstellen in einer gemeinsamen Sitzung eine Liste, die die zehn wichtigsten Ideen erarbeitet und protokolliert. [6] Diese zehn Ideen werden anschließend weiter diskutiert, analysiert und bewertet. 7.3.1.1.2 NHK-Methode Die NHK-Methode geht auf Hiroshi Takahashi zurück und ist ein relativ lang dauernder Prozess, denn analog zu den Umdrehungen einer Waschmaschine werden die Ideen immer wieder neu gemischt und getrennt wodurch wiederum neue Ideen entstehen. 326 Die NHK-Methode besteht aus folgenden Phasen: [1] Alle Teilnehmer schreiben zu einem vorgetragenen Problem fünf Ideen auf unterschiedliche Karten. 324 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Rabl: Kreativitätstechniken, S. 84ff. 325 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 185ff. 326 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 155ff. <?page no="239"?> 240 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation [2] Unterteilung der Teilnehmer in Fünfergruppen. Jede Person stellt eine eigene Idee vor, dabei schreiben die anderen Teilnehmer ihre Gedanken dazu auf zusätzliche Karten. [3] Die Karten werden eingesammelt und thematisch sortiert. [4] Es werden neue Zweier- oder Dreiergruppen gebildet - diese bearbeiten eine oder mehrere Karten im Rahmen eines Brainstormings, so dass neue Ideen basierend auf alten entwickelt werden. Diese Phase sollte in etwa 30 Minuten dauern. Auch die in dieser Phase gebildeten Ideen werden auf Karten geschrieben. [5] Nun sortieren alle Gruppen die Karten anhand der Themen und die Ideen werden vorgestellt. Ein Gruppenleiter hält die geäußerten Ideen auf einem Flipchart/ Whiteboard fest. [6] Alle Teilnehmer bilden neue Zehnergruppen, in denen zu allen auf dem Flipchart vorhandenen Vorschlägen ein Brainstorming durchgeführt wird. 7.3.1.2 Osborn-Checkliste Alex F. Osborn entwickelte neben dem Brainstorming noch weitere Kreativitätstechniken, wie die nach ihm benannte Osborne-Checkliste als zweiten Teil des Brainstormings, um eine Erweiterung des betrachteten Umfeldes eines Problems und dessen Lösungen zu erreichen. 327 Dabei werden mit Hilfe eines Fragenkatalogs neue Gesichtspunkte ermöglicht. Insbesondere bei der Fortentwicklung einer Produkt- oder Verfahrenstechnik eignet sich dieses Kreativitätsinstrument besonders gut, denn anhand der Fragen lassen sich potenzielle Veränderungsmöglichkeiten eines Produktes oder Verfahrens systematisch analysieren. Die Fragen werden dabei nicht nur oberflächlich behandelt, sondern auf Lösungsvarianten untersucht. 328 Wichtig ist, die Osborn-Checkliste nicht zu früh abzuschließen, denn nur bei starkem Analysieren und weiterentwickeln der Ideen, ist es gewährleistet, auch unkonventionelle Lösungsmöglichkeiten zu schaffen. 329 Genau wie beim Brainstorming kann die Osborn-Checkliste über den gesamten Problemlösungsprozess angewendet werden. 330 Vorgehensweise: [1] Genaue Definition der Fragestellung. [2] Anhand der Checkliste wird in verschiedene Richtungen gedacht. [3] Checkliste besteht aus neun vorgegebenen Bereichen, die um beliebig viele problemspezifische Bereiche ergänzt werden können. 327 Osborn: Applied Imagination, S. 297ff: 328 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 85: 329 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 111ff. 330 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 85. <?page no="240"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 241 www.uvk-lucius.de/ innovation [4] Alle Bereiche müssen gründlich analysiert und durchgearbeitet werden, um neue Möglichkeiten zu entwickeln. [5] Analyse der entwickelten Möglichkeiten zur Festlegung der umzusetzenden Lösungskomponenten. Beispiel Osborn-Checkliste für Waschmittelverpackung 331 7.3.1.3 Brainwriting Das Brainwriting ist eine Weiterentwicklung des Brainstormings und funktioniert im Prinzip wie das Brainstorming, nur dass die Ideen nicht verbal, sondern schriftlich vorgetragen werden. Dabei schreibt jeder Teilnehmer seinen Lösungsvorschlag auf ein Blatt Papier und reicht es zum nächsten Teilnehmer weiter, so dass jeder Teilnehmer den Lösungsvorschlag seines Nachbarn weiter bearbeitet und weitergibt. Üblich ist ein Durchlauf von bis zu drei Mal, wodurch die Produktion guter Ideen gefördert wird. Dem Moderator fällt bei dieser Kreativitätstechnik die Aufgabe zu, die entwickelten Ideen zu lesen und an das Whiteboard zu schreiben oder eben eine weite- 331 Eigene Darstellung in Anlehnung an: Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 109ff. Bereich Ideen dazu 1. Andere Verwendungsmöglichkeiten Könnte Verpackung auch für andere Zwecke eingesetzt werden (bspw. als Aufbewahrungsbehältnis)? 2. Anpassen Welche Verpackungen ähneln der Waschmittelverpackung? 3. Modifizieren Können Eigenschaften wie Größe, Farbe, Form, Geruch der Verpackung verändert werden? 4. Vergrößern Kann die Verpackung ergänzt werden? Kann die Verpackung stabiler gemacht werden? 5. Verkleinern Kann die Verpackung minimiert werden? Kann die Verpackung kleiner gemacht werden? 6. Ersetzen Kann die eine oder andere Eigenschaft der Verpackung durch andere ersetzt werden? 7. Umgruppieren Können Teile der Verpackung anders angeordnet werden? 8. Umkehren Lässt sich die Verpackung ins Gegenteil umkehren? Wie wäre das Gegenteil der Hauptverpackungseigenschaft? 9. Neu kombinieren Lassen sich einzelne Eigenschaften oder Elemente der Verpackung neu kombinieren? Lassen sich einzelne der während der Sitzung erarbeiteten Ideen kombinieren, sodass eine Produktvariante entsteht? <?page no="241"?> 242 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation re Runde zu fordern. So hat dieser weniger Einflussmöglichkeiten als beim Brainstorming, aber auch die Spontanität der Ideensammlung ist bei dieser Technik somit eingeschränkter. Hilfreich ist bei dieser Methode die Anwendung einer dreispaltigen Tabelle wie in Abbildung 29 dargestellt. Abbildung 29: Brainwriting 332 Die erste Runde zur Ideenfindung sollte dabei in etwa zwei Minuten umfassen, für die Bearbeitungen kann wesentlich mehr Zeit eingeräumt werden. Alle Formen des Brainwritings haben den Vorteil, dass sie die Nachteile von Gruppendiskussionen vermeiden, wie sie bei den Methoden des Brainstormings auftreten können (siehe hierzu auch Kapitel 3.1), 333 denn da beim Brainwriting das geschriebene Wort anstelle der direkten Kommunikation tritt, eignet es sich insbesondere auch bei Gruppen mit dominanten Persönlichkeiten oder wenn Konflikte zu erwarten sind. 334 7.3.1.3.1 Brainwriting 6-3-5 oder auch Methode 635 Das Brainwriting wurde von Bernd Rohrbach zu der Methode 6-3-5 weiterentwickelt. Hier erstellen sechs Personen innerhalb von fünf Minuten drei neue Ideen. Nach fünf Minuten geben die Teilnehmer ihre Ideen an den nächsten Teilnehmer weiter, der wiederum seine Ideen hinzufügt. Beendet wird dieser Zyklus, wenn alle Teilnehmer jeden Zettel bearbeitet haben. Rein theoretisch können so innerhalb von etwa 30 Minuten 108 Ideen entwickelt werden - praktisch kann man aufgrund von Wiederholungen mit ca. 60 guten Ideen rechnen, wodurch diese Kreativitätstechnik einen sehr produktiven Stellenwert einnimmt. 335 332 Eigene Darstellung. 333 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 70. 334 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 88. 335 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 133. <?page no="242"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 243 www.uvk-lucius.de/ innovation Vorgehensweise [1] Präzise Definition des Problems [2] Drei Lösungsvorschläge fixieren [3] Weitergabe des Formulars an Tischnachbarn [4] Auswertung 336 Abbildung 30: Beispiel für ein 6-3-5-Formular 1 7.3.1.3.2 Mind Mapping Mind Mapping ist ein individueller Brainstorming-Prozess und wurde im Jahre 1974 von Tony Buzan, einem Mitglied der Learning Method Groups, entwickelt. Sie dient dazu, Problemstellungen zu strukturieren und zu visualisieren, und basiert somit auf dem Zusammenspiel von den beiden Gehirnhemisphären. 337 Beim Mind Mapping ist man daran interessiert, verschiedenste, abwegigste Ideen zu entwickeln und alles, was einem in den Sinn kommt, schriftlich und grafisch zu fixieren. Zunächst zählt auch hier die Quantität der Ideen und erst später die Qualität. 338 Mind Mapping lässt sich hervorragend mit anderen Kreativitätstechniken kombinieren und kann so den Teilnehmern bei langen Workshops eine gute Unterstützung sein. Die Vorgehensweise ist folgende: zu einem Problem werden alle Gedanken gesammelt und durch eine grafische Fixierung gleichzeitig sortiert. Dabei gibt es verschiedene Grundstrukturen, wie man das Mind Mapping grafisch gestalten kann. 336 Knieß: Kreativitätstechniken , S. 70. 337 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 45 338 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 104. Problem: ________________________________________ Datum: ______ Blatt-Nr.: _____ <?page no="243"?> 244 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 31: Verschiedene Mind-Mapping-Strukturen: Sonne, Schneeflocke, Baum, Zellen, Schaltplan (von links nach rechts) Mind Mapping eignet sich hervorragend, um neue Ideen zu entwickeln und Problemlösungen mit sämtlichen Pro und Contras darzulegen. So ist Mind Mapping für zahlreiche Situationen ein sehr effektives Kreativitätsinstrument - sei es für eine Einzelperson oder für eine Gruppe mit bis zu vier Personen. 339 Darüber hinaus ist Mind Mapping äußerst vielseitig und lässt sich beispielsweise zum Protokollieren von Besprechungen und Referaten, zum Vorbereiten von Vorträgen und Berichten oder auch zum Lernen anwenden. 340 Vorgehensweise: [1] Fixierung des Grundproblems innerhalb einer gewählten Mind Mapping- Struktur. [2] Sammlung aller Ideen zu diesem Problem mit schriftlicher Fixierung innerhalb der Mind-Mapping-Struktur. [3] Dadurch Generierung neuer Ideen und Gedanken zum Grundproblem. 341 7.3.1.4 Synektik Ziel dieser Kreativitätstechnik ist die Stimulation unbewusst ablaufender Denkprozesse. Der amerikanische Psychologe William J. J. Gordon entwickelte die Synektik und machte sie 1961 in seinem Buch „Synectis: The development of creative capacity“ der Welt zugänglich. 342 339 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 104. 340 Gassmann, Sutter: Praxiswissen Innovationsmanagement, S. 303. 341 Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 107. 342 Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 20. <?page no="244"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 245 www.uvk-lucius.de/ innovation Synektik (= etwas miteinander in Verbindung bringen) ist die psychologisch fundierteste Methode der gemeinsamen Ideenfindung in Gruppen und umfasst drei grundlegende Charakteristika: [1] Auswahl möglichst kreativer und hochqualifizierter Teilnehmer [2] Intensive Schulung [3] Konfrontation mit schwierigen Aufgaben, die den Teilnehmern ein hohes Maß an Kreativität abverlangen. 343 Die Synektik beruht darauf, dass zwei voneinander völlig unabhängige Denkebenen zusammengeführt werden und man so zu einer völlig neuen Lösung gelangt. 344 Synektik ist eine Form des Gruppen-Brainstormings und basiert hauptsächlich auf den Formen der Analogien bzw. Metapherentwicklung, der Assoziation und der Exkursionstechnik. 345 Dabei folgt die Synektik dem Motto: „Mach dir das Fremde vertraut und entfremde das Vertraute“ 346 und sie setzt sich aus neun Schritten zusammen: [1] Analyse des Problems 347 Lückenlose Sammlung problemspezifischer Informationen sowie die genaue Abgrenzung und Formulierung des Problems. [2] Spontane Lösungen Spontane Lösungsvorschläge schaffen bei den Beteiligten sozusagen Platz für neue Ideen. [3] Neudefinition des Problems Probleme, die einer Neuformulierung bedürfen, werden aufgedeckt. [4] Suche nach direkten Analogien Das Problem wird mit der Absicht auf Verfremdung in einen anderen Bereich wie z.B. die Natur, Medizin oder Technik übertragen und jeder Teilnehmer schreibt seine Analogie auf eine Karte, also pro Analogie wird eine Karte erstellt. Diese werden dann auf einer Tafel angebracht und anschließend die interessanteste zur Weiterentwicklung ausgewählt. 343 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 107. 344 Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 79. 345 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 184. 346 Gassmann, Sutter: Praxiswissen Innovationsmanagement, S. 294. 347 Vgl. zu folgenden Ausführungen: Knieß: Kreativitätstechniken, S. 108ff. <?page no="245"?> 246 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation [5] Bildung persönlicher Analogien Jeder Teilnehmer bildet persönliche Analogien (grundsätzlich in der Ich- Form), wodurch sich die Gruppe mit den gefunden Analogien identifiziert und sich die Teilnehmer in die Rolle des Objektes (Eigenschaften und Verhaltensweisen) einfühlen. [6] Bildung symbolischer Analogien Im Anschluss sollen symbolische Analogien zu den persönlichen Beiträgen, bestehend aus einem Substantiv und einem Adjektiv, gebildet werden, wodurch bewusst eine unter Umständen provozierende Konfliktsituation geschaffen werden soll. Die Lösungen der symbolischen Analogie werden dann wieder auf Karten geschrieben, an der Tafel angebracht und die beste Analogie zur Weiterverarbeitung zugrunde gelegt. [7] Zweite Suche nach direkten Analogien und Analyse Es werden erneut direkte Analogien gebildet, die allerdings aus der ersten direkten gewählt wurden. Danach wird wieder die beste Analogie ausgewählt, nach Strukturmerkmalen durchleuchtet, in ihre Merkmale zerlegt sowie beschrieben. [8] Übertragung auf das Ausgangsproblem In dieser Phase erfolgt die Transformation der gewonnenen Anregungen (Strukturmerkmale und deren Beziehungen) auf das Ausgangsproblem. Hier steht die Frage „Wie kann die erhaltene neue Struktur zur Lösung des Problems genutzt werden? “ im Fokus. Hier findet also die eigentliche Ideenfindung, die nach den Regeln des Brainstormings ablaufen kann, statt und hat zum Ziel, die Lösungsansätze der problemfremden Formationen auf das eigentliche Ausgangsproblem zu übertragen (auch Force Fit genannt). [9] Entwicklung, Fixierung und Bewertung von Lösungsansätzen. 7.3.1.5 Reizwortanalyse Entwickelt wurde die Reizwortanalyse von Geschka und Schaude als ein Instrument, welches die Intuition fördert. 348 Bei dieser Einzel- oder Gruppenkreativitätstechnik werden aus zufällig ausgewählten Reizwörtern, die nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun haben, Ideen abgeleitet. Dabei notieren sich alle Teilnehmer, was ihnen zu den Reizwörtern einfällt. Anschließend werden die notierten Ideen analysiert und auf das eigentliche Problem übertragen. 349 Es handelt sich sozusagen um eine verkürzte Variante der Synektik, da die Phase der Analogiesuche weggelassen wird. 348 Backerra, Malorny, Schwarz: Kreativitätstechniken, S. 93. 349 IHK Hannover: Methoden und Techniken für Kreative Lösungen und Bewertungen von Ideen, S. 5. <?page no="246"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 247 www.uvk-lucius.de/ innovation Vorgehensweise [1] Schriftliche Problemdefinition [2] Suche nach zehn beliebigen gegenständlichen problemfremden Reizwörtern (hier ist auch ein „Begriffsbrainstorming“ möglich) [3] Analyse der Reizwörter nach Prinzipien, Merkmalen, Strukturen und Gestaltausprägungen [4] Übertragung der Ergebnisse aus der voran gegangenen Analyse auf das Grundproblem mit Lösungsfindung für das Grundproblem. 350 7.3.2 Diskursive Methoden Das Wort „diskursiv“ stammt ursprünglich vom lateinischen Wort „discurrere“, was „auseinanderlaufen“ bedeutet. Dabei bedeutet diskursives Denken, dass neue Erkenntnisse durch logisch fortschreitendes Denken von Begriff zu Begriff gewonnen werden. Diese Kreativitätstechniken gehen sehr systematisch vor: zu bearbeitende Probleme werden genau analysiert und dann bis ins kleinste Detail aufgedröselt. So lassen sich auch komplexe Problemstellungen komplett erfassen, bevor dann die Lösung Schritt für Schritt erarbeitet wird. 351 7.3.2.1 Morphologischer Kasten Diese Technik wurde von dem Schweizer Astrophysiker Fritz Zwicky in den 1950er Jahren entwickelt. Die Morphologie ist eine der bedeutsamsten Methoden und ist frei übersetzt die „Lehre vom geordneten Denken“. 352 Die Basis hierbei ist eine Matrix auf deren vertikaler Achse eine Checkliste möglicher Attribute des Produktes angesiedelt ist. Auf der horizontalen Achse befindet sich eine Checkliste, die Hinweise zu den verschiedenen Modifikationen enthält. Bei dieser Technik werden also Ideen aufgrund der direkten Konfrontation verschiedener Aspekte aus beiden Checklisten entwickelt. Dabei werden solche Faktoren ausgewählt, die zu einer neuen Sicht der Problemlage beitragen. 353 Es wird also ein festgelegtes Suchfeld systematisch, vollständig und ohne Überschneidungen nach allen erdenklichen Kriterien gegliedert, wodurch das Gesamtproblem in voneinander unabhängige Elemente, für die jeweils getrennt Ideen gesammelt werden, zerlegt und somit eine Gesamtlösung als Kombination der Einzellösungen gebildet wird. 354 Dabei wird eine Matrix bestehend aus Parameter und Ausprägung erstellt, in die die unterschiedlichen Lösungswege eingetragen werden. 350 Backerra, Malorny, Schwarz: Kreativitätstechniken, S. 93. 351 Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 96. 352 URL: www.uni-karlsruhe.de [17.09.2012]. 353 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 153. 354 Rabl: Kreativitätstechniken, S. 87. <?page no="247"?> 248 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation Merkmal Ausprägungen Form Bordeaux Burgunder Champagner Schlegel Sachsenkeule weitere Glasflaschenformen Farbe durchsichtig Grüntöne Brauntöne Blautöne sonstige Farben Verschluss Glasstopfen Silikonstopfen Schraubverschluss Kunsstoffkorken gepresster Korken gewachsener Korken Größe 0,75 L 1 L 1,5 L 3,0 L 6,0 L 12,0 L Abbildung 32: Morphologischer Kasten und Lösungsmöglichkeiten für Weinflaschen 355 Neben der zweidimensionalen Matrix kann auch eine dreidimensionale erstellt werden, wobei eine dritte Faktorengruppe hinzu kommt. 356 Wichtig hierbei ist es, dass die Faktoren lösungsrelevant, für alle Ausprägungen gültig und voneinander logisch unabhängig sein müssen. 357 In der Regel wird der Morphologische Kasten innerhalb einer Gruppe erstellt und bearbeitet. Vorgehensweise Bestimmung und Auflistung aller relevanten Elemente eines Grundproblems. Diese müssen voneinander unabhängig sein. Bestimmung und Zuordnung der verschiedenen Ausprägungen eines Parameters. Kombination der unterschiedlichen Parameterausprägungen, wodurch mögliche Lösungen des Problems gebildet werden (siehe Abbildung 32). 358 7.3.2.2 Attribute-Listing Das Attribute-Listing ähnelt dem morphologischen Kasten sehr stark und ist eine systematisch-analytische Kreativitätstechnik. 359 Sie wurde von Robert P. Crawford in den 355 Eigene Darstellung in Anlehnung an Dries: Kreativität, S. 72. 356 Higgins, Wiese: Innovationsmanagement, S. 153. 357 Schröder: Heureka, ich habs gefunden, S. 260. 358 Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 112. 359 URL: www.wirtschaftslexikon.gabler.de [17.09.2012]. <?page no="248"?> 7.3 Ausgewählte Kreativitätstechniken 249 www.uvk-lucius.de/ innovation 1930er Jahren entwickelt. Eingesetzt werden kann sie, wenn eine Beschaffenheit eines Produktes oder Verfahrens analysiert und verbessert werden soll. 360 Hier werden alle wichtigen Eigenschaften beispielsweise von einem Produkt in einer Tabelle erfasst und hiervon wiederum Varianten gesucht und ebenso in dieser Tabelle fixiert. Am Ende wird erst eine Auswahl der Varianten vorgenommen, wenn alle Möglichkeiten gefunden sind. 361 Beispiel Attribute-Listing Waschmittelverpackung 362 Merkmal derzeitige Lösung erwünschte Entwicklungsrichtung Möglichkeiten anderer Gestaltung Material Karton widerstandsfähiger PET Tragegriff Hartplastik handlicher/ bequemer Schaumstoff Farbe einfarbig auffälliger regenbogenfarbig Vorgehensweise Zerlegung des zu verbessernden Produktes/ Verfahrens in seine Komponenten Beschreibung der derzeitigen Lösungsmerkmale der definierten Merkmale Systematische Suche nach alternativen Gestaltungsmöglichkeiten Auswahl und Realisierung der neugefundenen Gestaltungsmöglichkeiten 363 7.3.3 Kombinierte Methoden (intuitiv und diskursiv): Walt-Disney- Methode Diese Kreativitätstechniken weisen sowohl intuitive als auch diskursive Elemente auf, d.h. dass diese Methoden sowohl des intuitiven Sammelns von Einfällen als auch Phasen des logisch-strukturierten Denkens beinhalten. 364 Walt-Disney-Methode Diese Methode entstand während der täglichen Arbeit von Walt Disney (1901-1966), dem US-amerikanischen Trickfilmproduzent. Disney wandte diese Kreativitätstechnik alleine oder aber auch in seinem Team regelmäßig an und sie basiert auf Imagination. Dabei müssen die Teilnehmer in drei unterschiedliche Rollen schlüpfen und nachein- 360 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 137. 361 URL: www.wirtschaftslexikon.gabler.de [17.09.2012]. 362 Eigene Darstellung in Anlehnung an Knieß: Kreativitätstechniken, S. 139. 363 Knieß: Kreativitätstechniken, S. 138ff. 364 Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken, S. 130. <?page no="249"?> 250 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation ander die Perspektiven des Träumers, Kritikers und Realisten einnehmen, um ein Problem oder eine Lösungsvariante zu betrachten. Um dies zu vereinfachen, müssen die Teilnehmer dabei auch räumlich drei verschiedene Standorte einnehmen. Für den Bereich des Träumers richtet man dabei beispielsweise Blumen und ein schönes Landschaftsbild her, der Bereich des Realisten wird mit normalen Arbeitsgeräten wie einem PC ausgestattet, während der Bereich des Kritikers karg gestaltet sein kann. Sind die Bereiche eingerichtet, müssen die Teilnehmer die verschiedenen Rollenperspektiven kennenlernen. Dazu werden die einzelnen Bereiche abgegangen und vertraut gemacht. Anschließend werden die einzelnen Perspektiven erläutert: so muss der Träumer beispielsweise intuitiv an das Problem herangehen. Er muss in Bildern denken und Visionen entwickeln. Vorgehensweise Definition des Problems in neutraler Umgebung. Träumer: alles ist erlaubt. In entspannter Atmosphäre werden Ideen entwickelt, unabhängig von ihrem Realitätsbezug. Realist: die Entwürfe werden einem Realitätscheck unterzogen. In einer vorgegebenen Zeit müssen zu den Entwürfen Zahlen, Daten und Fakten recherchiert werden. Kritiker: in angespannter Atmosphäre werden Destruktivität und Kritik gefördert, wodurch (Denk-)Fehler aufgedeckt werden sollen. Diese sind Ausgangspunkt einer erneuten Problemdefinition. 365 7.4 Kreativitätstechniken in der Praxis Im Folgenden sei in Anlehnung an Geschka eine Gegenüberstellung häufig auftretender Problemtypen mit den geeigneten dargestellten Kreativitätstechniken vorgestellt, um die Anwendung in der betrieblichen Praxis zu verdeutlichen. Dabei werden nur diejenigen Techniken empfohlen, die im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurden. 365 Müller-Prothmann, Dörr: Innovationsmanagement, S. 111. Problemtyp Beschreibung Empfohlene Technik 1. Erkennen und Analysieren des Problems Darstellen und Verdeutlichen eines Problems Mind Mapping Morphologischer Kasten 2. Ideensammlung Alternativen für einen bestimmten Zweck werden gesucht Brainstorming <?page no="250"?> 7.4 Kreativitätstechniken in der Praxis 251 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 33: Gegenüberstellung häufig auftretender Problemtypen und geeigneter Kreativitätstechniken 366 366 In Anlehnung an: Geschka: Kreativitätstechniken und Methoden der Ideenbewertung, S. 18ff. 3. Vorgehensproblem Es wird ein Weg gesucht, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen Brainwriting Brainstorming 4. Verbesserungsaufgaben Ein bestehendes Produkt, Konzept, Prozess soll verbessert werden Attribute Listing Osborn-Checkliste Brainstorming Brainwriting 5. Anwendungssuche Suche nach Anwendungsmöglichkeiten einer neuen Technologie Brainstorming Brainwriting 6. Verhaltensänderungen bewirken Menschen sollen so beeinflusst werden, dass sie sich in bestimmter Weise verhalten Mind Mapping Reizwortanalyse 7. Technisches Erfindungsproblem Ein technisches Problem soll in neuer Weise gelöst werden Reizwortanalyse Osborn-Checkliste Morphologischer Kasten 8. Lösungsfindung im Marketing Namensfindung, Aufmerksamkeit erwecken Brainstorming Brainwriting Morphologischer Kasten Reizwortanalyse 9. Systemkonzeptentwicklung Ein komplexes Problem, das aus mehreren zusammenwirkenden Komponenten besteht, ist bestmöglich zu lösen. Morphologischer Kasten Brainwriting 10. Erklärungsproblem Eine Erklärung für ein Phänomen, ein Ergebnis oder einen Effekt ist zu finden. Nicht mit einer Technik alleine lösbar. Voranalysen sind erforderlich (mit Brainstorming). Nach der Analyse ergibt sich ein Problem vom Typ 1-9. <?page no="251"?> 252 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument www.uvk-lucius.de/ innovation Fragen 1. Definieren Sie den Begriff „Kreativität“. 2. Durch was entstand in den 1960er Jahren die Kreativitätsforschung? 3. Auf welchen vier Bereichen basiert die anwendungsorientierte Kreativitätsforschung? 4. Was versteht man unter dem Hemisphären-Modell? 5. Inwiefern können Kreativitätstechniken die Kreativität fördern? 6. Welche drei wesentlichen Einflussfaktoren wirken auf die kreative Person ein? 7. Welche drei Phasen umfasst der kreative Prozess? 8. Inwiefern wirkt sich das kreative Umfeld auf die Kreativität aus? 9. Erklären Sie den Unterschied zwischen intuitiven und diskursiven Kreativitätstechniken. 10. Skizzieren Sie kurz den Brainstroming-Prozess. 11. Was versteht man unter Brainwriting? 12. Erläutern Sie die Vorgehensweise der Methode 6-3-5. 13. Welches sind die drei grundlegenden Charakteristika der Synektik? 14. Beschreiben Sie die Reizwortanalyse. 15. Bei welcher Problemstellung lässt sich das Attribute-Listing einsetzen? 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Schröder, Marion (2008): Heureka, ich hab’s gefunden: Kreativitätstechniken, Problemlösungen & Ideenfindung, Herdecke-Witten. Springer, S.P./ Deutsch, G. (1993): Linkes/ rechtes Gehirn: funktionelle Asymmetrien, 2. Aufl., Heidelberg. Staudt, Erich (1985): Innovation, in: DBW 45 Jahrgang 1985, Heft 4. Staudt/ Bock/ Mühlemeyer/ Kriegesmann (1992): Der Arbeitnehmererfinder im betrieblichen Innovationsprozess - Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in: ZfbF, Heft 2 1992. Staudt, Erich/ Schmeisser, Wilhelm (1988): Invention und Kreativität als Führungsaufgabe in: Handwörterbuch der Führung, Stuttgart. Völker, Rainer/ Thome, Christoph/ Schaaf, Holger (2012): Innovationsmanagement, Stuttgart. <?page no="253"?> 254 7 Kreativitätstechniken als Innovationsinstrument Alle Kreativitätstechniken im Überblick Internetquellen www.hannover.ihk.de/ fileadmin/ data/ Dokumente/ Themen/ Innovation/ Kreativtechniken.pdf www.frag-caesar.de/ lateinwoerterbuch/ creare-uebersetzung-1.html www.wirtschaftslexikon.gabler.de/ Archiv/ 123662/ attribute-listing-v2.html www.imihome.imi.uni-karlsruhe.de/ nmorphologischer_kasten_b.html http: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ Archiv/ 82263/ innovationsforschung-v5.html <?page no="254"?> Teil III. Technologiemanagement und Innovationsmarketing <?page no="256"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 8 Technologiemanagement von Prof. Dr. Matthias Hartmann Wissensziele In diesem Beitrag wird Innovation aus der Perspektive des Technologiemanagements behandelt. Dabei wird die Sicht auf ein Unternehmen eingenommen. Sie sollen verstehen: Technologien sind wesentliche Innovations- und Wettbewerbstreiber für Unternehmen und müssen daher effektiv ausgewählt und effizient gesteuert werden. Technologiemanagement erfordert strategisch die Identifikation neuer Problemlösungen. Technologiemanagement erfordert operativ die Beherrschung von Technologien zur Konstruktion von Produkten und Senkung der Stückkosten. Technologiemanagement erfordert taktisch die Transparenz in der Steuerung von Technologien. 8.1 Effektivität und Effizienz im Technologiemanagement Innovation wird in diesem Beitrag aus einer subjektivistischen Sichtweise betrachtet. Relevant ist die Sichtweise eines Unternehmens. Es geht nicht um grundsätzliche, objektive Innovationen und erstmals in der Welt auftretende Technologien. Innovationen bzw. Technologien können auf dem Markt bereits existieren. Wenn nun ein Unternehmen eine solche Technologie erstmals einsetzt, so ist dies - subjektiv gesehen - eine Innovation, die die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens verbessern soll. 367 Innovation bedeutet aus der Perspektive des Technologiemanagements, die richtige Technologie zu identifizieren (Effektivität) und diese produktiv und wirtschaftlich einzusetzen (Effizienz). Als Technologie wird das Wissen über ein Lösungsprinzip bezeichnet, das in Produkten und Prozessen enthalten ist. 368 Der Begriff „Technologie“ wird vielfach als die Wissenschaft von der Technik verstanden. Diese Unterscheidung der Begriffe Technologie und Technik wird im angelsächsischen Sprachraum nicht getroffen, wenn von „technology“ die Rede ist. Der Begriff Technologie ist mithin unterschiedlich weit auslegbar. Einerseits wird in der engeren Fassung von Technologie als Ausdruck von Wissen(schaft) gesprochen, ande- 367 Dieser Beitrag basiert auf der Denkschule von Prof. Dr. Werner Pfeiffer; vgl. http: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Werner_Pfeiffer 368 Hartmann, Matthias: Technologie-Bilanzierung, Göttingen 1997, S. 48ff. <?page no="257"?> 258 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation rerseits wird Technologie in der weiteren Fassung nicht nur als Wissen von der Technik, sondern auch als Ausprägung des technischen Wissens in materiellen und immateriellen Objekten bezeichnet. Während Technologiemanagement sich mit technischen Lösungsprinzipien beschäftigt, erweitert Innovationsmanagement die Technologieperspektive um Fragen zu Personal, Organisation, Sachmitteln, Zulieferer und Produkte. Die Übergänge sind fließend. 369 Technologien sind die zentralen Überlebensdeterminanten eines Unternehmens. Veraltete Technologien in Sachmitteln bzw. Prozessen und Produkten bei gleichzeitig guten Mitarbeitern, guter Organisation und guten Zuliefern führen zum Niedergang eines Unternehmens (siehe offensichtliche Beispiele in der Halbleiterindustrie und Mobilfunkbranche). Technologien dominieren direkt (Produkt) oder indirekt (Prozess) den Wertschöpfungsprozess und sind das gestaltungsbedürftigste Element der strategischen Planung. Technologien sind gleichermaßen die Basis für Produkte und Prozesse. Dabei definieren „Ablösetechnologien“ die Richtung des Geschäfts. Akzeptiert man diese Thesen, dann sind Technologien die gestaltungsfähigste Unternehmensvariable, denn technologische Ressourcen sind steuerbar. Allerdings bedürfen technologische Innovationen einer langfristigen Planung. Technologien sind zudem die zentralen Überlebensdeterminanten ganzer Industrien, wenn sie auch objektiv neu sind. Denn neue Technologien substituieren bestehende Lösungen und Marktstandards (Dominant Designs) und damit auch diejenigen Unternehmen, die an alten Technologien, Standards und Strukturen festhalten. Mithin verändert sich die industrielle Logik (Dominant Industry Logic) im Kontext der technologischen Entwicklung. 370 Im Folgenden wird Technologiemanagement aus strategischer, operativer und taktischer Perspektive betrachtet. Strategisches Technologiemanagement sucht nach grundsätzlichen Problemlösungen. Die operative Perspektive sucht nach den besten Einsatz- und Durchsetzungsmöglichkeiten im Betrieb (Operations). Die taktische Perspektive sucht nach dem bestmöglichen Management der Vielfalt von Technologien. Strategie ist die subjektive Erkenntnis über das Wesen einer grundsätzlichen Lösung. Das Ergebnis einer Strategie ist ein Finalbild, im militärischen Sinne ein zu erreichender Endzustand 371 bzw. im technischen Sinne eine Prinzipkonstruktion in der Zukunft. Operationen sind zeitlich und sachlich zusammenhängende Aktivitäten einer Organisation zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles. Eine Operation kann strategischer oder taktischer Natur sein. Eine strategische Operation ist eine abgeschlossene, selbständige Aktivität zur Erreichung eines weitergesteckten, strategischen Zieles. Im Sinne der Betriebswirtschaftslehre kann dies ein strategisch initiiertes Projektprogramm sein. 369 Schuh, Günther; Klappert, Sascha; Moll, Torsten: Ordnungsrahmen Technologiemanagement, in: Schuh, Günther, Klappert, Sascha, Technologiemanagement: Handbuch Produktion und Management 2, Heidelberg 2011, S. 11-31 370 Vgl. Henderson, Rebecca M.; Clark, Kim B.: Architectural Innovation: The Reconfiguration of Existing Product Technologies and the Failure of Established Firms, in: Burgelman, Robert A.; Christensen, Clayton M.; Wheelwright, Steven C., Strategic Management of Technology and Innovation, 5. Auflage, New York 2009, S. 496-509, hier: S. 499ff. 371 Vgl. Clausewitz, Carl v.: Vom Kriege, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 77 <?page no="258"?> 8.2 Strategisches Technologiemanagement 259 www.uvk-lucius.de/ innovation Eine strategische Operation zielt immer auf einen Schwerpunkt unternehmerischen Handelns (Center of Gravity), um Handlungshoheit zu erhalten. Eine taktische Operation ist demzufolge ein einzelnes Projekt oder eine einzelne betriebliche Aktivität. Der Begriff Operations Mangement bedeutet in diesem Sinne das Durchsetzen von Unternehmenszielen. Operation ist nicht - wie oft behauptet - operationalisierte Taktik oder etwas hierarchisch-Kleinteiligeres als Taktik. Taktik ist die Lehre von der Führung bzw. die Kunst der Führung von Mitarbeitern und Unternehmensressourcen zur Erreichung eines Zieles. Strategie und Taktik bilden ein Begriffspaar, während Operation deren Durchsetzung bedeutet. 372 8.2 Strategisches Technologiemanagement Strategisches Technologiemanagement umfasst die Identifikation, Analyse und Bewertung neuer Lösungsprinzipien und infolge die Erstellung neuer Produktund/ oder Prozessinnovationen in einem Unternehmen. 8.2.1 Funktional-abstraktes Denken als Voraussetzung Zur Identifikation der richtigen Technologien ist funktional-abstraktes Denken notwendig. Es wird nach dem grundsätzlichen Zweck einer Lösung gefragt. 373 Beispiel: Ein Schlüssel für die Haustür hat die Funktion der Informationsspeicherung, denn in die Struktur eines Metallschlüssels ist ein Code gefräst. Zu einem Schlüssel sind nun andere Gegenstände funktional-äquivalent, die die gleiche Funktion haben. So speichert auch der Augenhintergrund eines Menschen oder ein Transponder Informationen. Industriell bedeutsam ist nun die Erkenntnis, dass konventionelle Metallschlüssel von anderen Produkten zunehmend substituiert werden. Ein Hersteller konventioneller Metallschlüssel wird damit rechnen müssen, dass sein Produkt zunehmend an Marktattraktivität verliert. Die Funktion eines Produktes kann identifiziert werden in einer 9-Felder-Matrix, in der vertikal die Klassen Materie, Energie und Information sowie horizontal die Transformationsarten Transport, Wandlung und Speicherung abgetragen werden. In dieser Matrix können alle technischen Objekte einsortiert und damit deren funktionalabstrakte Lösungsprinzipien identifiziert werden. 374 Produkte und Prozesse unterliegen gleichermaßen der Notwendigkeit funktionalabstrakten Denkens. Die Gefahr und Chance der Substitution der technologischen 372 Vgl. Teßmer, Friedmar: „Diese Richtung wie ich zeige ...“. Über den Einsatz von Streitkräften, Darmstadt 2002, S. 12f. sowie Hartmann, Matthias: Komplexitätsreduktion als Kunst, in: Hartmann, Matthias (Hrsg.), Berichtswesen für High-Tech-Unternehmen, Berlin 2004, S. 42ff. 373 Vgl. Burgelman, Robert A.; Christensen, Clayton M.; Wheelwright, Steven C.: Strategic Management of Technology and Innovation, 5. Auflage, New York 2009, S. 4ff. 374 Vgl. Ropohl, Günter: Allgemeine Technologie. Eine Systemtheorie der Technik, 3., überarbeitete Auflage, Karlsruhe 2009, S. 131. <?page no="259"?> 260 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Basis eines Produktes oder Prozesses durch innovativere Technologien ist ständig gegeben. Die DIN 8580 gibt für die Fertigungstechnik gute Hinweise auf die funktionale Äquivalenz von Technologien. Technologien können den Hauptgruppen der Fertigungstechnik (Urformen, Umformen, Trennen, Fügen, Stoffeigenschaft ändern und Beschichten) zugeordnet werden. Dabei gibt es mehrere Technologien je Hauptgruppe, die sich wechselseitig ersetzen können. Darüber hinaus können die Hauptgruppen der Fertigungstechnik dieselbe Funktion erfüllen. So repräsentiert Fräsen eine Trenntechnologie und Sintermetallurgie eine Urformtechnik. In der Industrie hat z.B. die Sintermetallurgie die Frästechnik für bestimmte Anwendungen ersetzt. Für die Verfahrenstechnik und andere Disziplinen gibt es analoge Systematiken. 8.2.2 Prinzip der S-Kurven Anhand der S-Kurve kann das Prinzip des strategischen Technologiemanagements dargestellt werden. S-Kurven zeigen, dass - aus strategischer Perspektive - nicht die Entwicklung einer Technologie erfolgskritisch ist, sondern das Management der Technologiebrüche in der Entwicklung. 375 Es geht um das Management von Diskontinuitäten. Die Entwicklung einer Technologie erfolgt in den Phasen Schrittmacher-, Schlüssel- und Basistechnologie und kann anhand einer S-Kurve beschrieben werden. Eine Schrittmachertechnologie ist in einem frühen Entwicklungsstadium und kann potenziell ein großes Wettbewerbspotential bedeuten. Es gibt erste Anwendungen in Produkten oder Prozessen. Eine Schlüsseltechnologie hat einen deutlichen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens, da sie noch von wenigen Konkurrenten beherrscht wird. Die Technologie wird bereits vermehrt in Produkten oder Prozessen eingesetzt. Eine Basistechnologie wird von nahezu allen Wettbewerbern beherrscht und hat daher nur noch eine geringe Ertragsbzw. Kostenhebelwirkung. Die Technologie ist in den meisten Produkten und Prozesse integriert. Eine S-Kurve bildet die aktuelle Technologie ab. Eine zweite S-Kurve bildet eine neue, noch nicht eingesetzte Technologie ab. Im Modellfall ist die S-Kurve der neuen Technologie nach oben und nach rechts versetzt: nach oben, weil eine neue Technologie im Modellfall eine höhere Leistungsfähigkeit hat; nach rechts, weil die neue Technologie im Zeitablauf erst später entdeckt wird. 375 Christensen, Clayton M.: Exploring the Limits of the Technology S-Curve, in: Burgelman, Robert A.; Christensen, Clayton M.; Wheelwright, Steven C.: Strategic Management of Technology and Innovation, 5. Auflage, New York 2009, S. 259-284. <?page no="260"?> 8.2 Strategisches Technologiemanagement 261 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 34: S-Kurve, FuE-Produktivität und Erfahrungskurve Mit Hilfe der S-Kurve können Technologien verglichen werden. Man spricht daher auch von einem komparativen Messen. Das Messen erfolgt auf der Basis von technischen Gesetzmäßigkeiten. Wie noch zu zeigen sein wird, hat eine Technologie immer absolute Grenzen, die einen Anhalt zur Abschätzung von unterer und oberer Grenze der korrespondierenden S-Kurve dienen kann. Mithin lässt sich eine S-Kurve pragmatisch bemessen und damit für strategische Entscheidungen nutzbar machen. Am Beispiel des Übergangs von Segelschiffe auf Dampfschiffe kann die Bedeutung des Technologiewechsels anschaulich gezeigt werden. Am Freitag, den 13. Dezember 1907 sank das Segelschiff Thomas W. Lawson. Alle Besatzungsmitglieder bis auf den Leistungsfähigkeit FuE - Produktivität Stückkosten Zeit / Aufwand Zeit / Aufwand Zeit Kosten 1 Kosten 2 Umsatz 1 Umsatz 2 Langfristig Kurzfristig Optimist Pessimist Optimist Pessimist Ph 1 Ph 2 Ph 3 Planungshorizont Phase 1 = Schrittmachertechnologie Phase 2 = Schlüsseltechnologie Phase 3 = Basistechnologie Kostenhöcker Sailingship- Effekt Technologie 1 Technologie 2 <?page no="261"?> 262 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Kapitän und einen Matrosen verloren ihr Leben. Die Thomas E. Lawson war mit sieben Masten gebaut worden, um der zunehmenden Konkurrenz durch Dampfschiffe entgegentreten zu können. Die Segeltechnologie war jedoch an ihre Grenzen (oberer Rand der S-Kurve) gestoßen (schwer lenkbar, instabil) und eine Weiterentwicklung war nicht möglich. Die neue Dampfmaschinentechnologie begründete eine neue S-Kurve und war grundsätzlich leistungsfähiger. 376 Anhand der S-Kurve sind drei Fehler unternehmerischen Handelns aufzeigbar: Bei einer Schrittmachertechnologie unterschätzt das Management die Bedeutung dieser Technologie. Es wird zu wenig in Forschung und Entwicklung investiert und das Unternehmen verliert darüber einen zukünftigen Wettbewerbsvorteil. In der Phase der Schlüsseltechnologie wird die Bedeutung der Komplementärtechnologien unterschätzt. Es wird in die Entwicklung der Schlüsseltechnologie investiert, jedoch z.B. die Notwendigkeit zum Simultaneous Engineering (parallele Anpassung von Produkt- und Produktionstechnologie) unterschätzt. Bei Basistechnologien überschätzt das Management die Attraktivität des bisherigen, eigenen technologischen Wissens, das bereits durch neue Technologien entwertet wird. Dieses Phänomen wird auch als Sailing-Ship- Effekt bezeichnet (siehe Segelschiff Thomas W. Lawson). Der Sailing-ship-Effekt beschreibt das Phänomen, dass Unternehmen weiterhin auf alte Technologien setzen und versuchen, durch zusätzliche Investitionen in eine alte Technologie deren Leistungsfähigkeit noch zu verbessern. Dies kann jedoch nur geringen Erfolg haben, denn es widerspricht dem Prinzip der S-Kurven. Das S-Kurven-Konzept ist ein heuristisches Mittel, um Klarheit über die Entwicklung einer Technologie in Phasen und die diskontinuierlichen Übergänge von einer Technologie auf eine andere Technologie zu erhalten. Das Konzept der S-Kurven wird ergänzt durch sogenannte Hüllkurven oder Trend Curves, die eine Vielzahl von S- Kurven umhüllen bzw. beinhalten. Solche Mega-S-Kurven haben ebenfalls das Potenzial zur Substitution von alt zu neu (z.B. Digitalisierungstrend). 377 Am Beispiel der S-Kurve kann auch ein Messkonzept für technologischen Fortschritt vorgeschlagen werden, das im weiteren Verlauf dieses Beitrages wieder aufgegriffen wird. Beim klassifikatorischen Messen werden Technologien in Klassen eingeteilt. Eine Technologieklasse enthält Technologien aus ähnlichen Wissenschaftsdisziplinen. Solche Technologieklassen finden sich in der Literatur in sogenannten Technologielisten wieder, die den Charakter von Aufzählungen haben. Beim komparativen Messen werden Technologien miteinander verglichen. Mit Hilfe der S-Kurve kann prinzipiell verdeutlicht werden, dass eine Technologie leistungsfähiger als eine andere Technologie ist. Beim metrisierenden Messen wird der aktuelle Status einer Technologie in eine bestimmte Phase - Schrittmacher-, Schlüssel- und Basistechnologie - eingeordnet, und dieser Phase wird ein Wert zugemessen (z.B. 1, 2 oder 3). Wie später zu zeigen sein wird, kann mit diesen Werten eine technologische Unternehmensbewertung erfolgen. 376 Vgl. Foster, Richard N.: Innovation. Die technologische Offensive, Wiesbaden 1986, S. 23ff. 377 Vgl. Modis, Theodore: Die Berechenbarkeit der Zukunft. Warum wir Vorhersagen machen können, Basel u.a. 1994, z.B. S. 167ff. <?page no="262"?> 8.2 Strategisches Technologiemanagement 263 www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 35: Bewertung von Technologien 8.2.3 Voraussage neuer Technologien - Technological Foresight Anhand des S-Kurven-Prinzips wird deutlich, dass eine Technologie immer durch eine neue Technologie bedroht wird. Diese Erkenntnis verhilft dazu, Trendbrüche in der technologischen Entwicklung vorauszusagen (die Übergänge von einer S-Kurve auf eine nächste S-Kurve). Damit wird ebenfalls deutlich, dass für die Zukunft nach einer Ablösetechnologie gesucht werden muss. Die noch nicht bekannte Ablösetechnologie definiert die Forschungsrichtung. Das mag zunächst wie ein Widerspruch klingen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wissen schaffen - also Forschen - ist ein Prozess, der nach Popper von Hypothesen getrieben wird. 378 Die Hypothese der Existenz einer Ablösetechnologie macht handlungsfähig, da nach der Ablösetechnologie gesucht werden muss. Pfeiffer formulierte dazu pointiert, dass Erfindungen nur vorausgesagt werden, indem man sie selbst macht. 379 Voraussagen über neue Technologien erfolgen über die Konstruktion von Prinziplösungen bzw. technologischen Referenzsystemen (im Sinne einer Ablösetechnologie auf einer neuen S-Kurve). Im Sinne der Allgemeinen Theorie der technischen Entwicklung 380 ist die technische Entwicklung ein Stufenreaktionsprozess kreativer und diskursiver Natur mit Zufallscharakter. Dieser Prozess wird entweder durch einen (Markt-)Bedarf ausgelöst (Technology-Pull) oder durch Forschung in Gang gesetzt (Technology-Push). Der Prozess selbst ist zum einen ein Informationsgewinnungsprozess und zum anderen ein sozialer Prozess. 378 Popper, Karl: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973. 379 Pfeiffer, Werner: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung, Göttingen 1971, S. 113. 380 Pfeiffer, Werner: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung, Göttingen 1971. 0 Schlüsseltechnologien - Frühes Entwicklungsstadium - Gravierende Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit, großes Wettbewerbspotential erkennbar - Nur vom „First“ bzw. „First-Gruppe“ beherrscht - Beginnende Integration in Produkte/ Prozesse Schrittmachertechnologie 3 4 - Deutlicher Einfluss auf Wettbewerbsfähigkeit - Erfolgskritische Technologie, Eignung zur Differenzierung - Noch von wenigen beherrscht - Bereits deutlich ansteigende Intensität der Integration in Produkte/ Prozesse 2 Hohe Technologie- Attraktivität Niedrige Technologie- Attraktivität Basistechnologien - Geringe Ertrags-/ Kostenhebelwirkung - Kaum mehr Differenzierung möglich; konstituiert die Industriestruktur - Von „allen“ Wettbewerbern beherrscht - die „Informationen liegen auf der Straße“ - In den meisten Produkten und Prozesse integriert; d.h. das potentielle Anwendungsartenspektrum annähernd ausgeschöpft 1 <?page no="263"?> 264 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Für den Informationsgewinnungsprozess kommt die Technologie-Frühaufklärung (Technology Foresight) zum Einsatz. Technologie-Frühaufklärung setzt sich systematisch mit der Zukunft auseinander, indem technologierelevante Signale aufgenommen, eingeordnet und interpretiert werden. 381 Dazu gibt es eine Reihe von unterstützenden Methoden: Szenariotechnik, Patentanalyse, Technology-Roadmapping, Delphi, Technology-Scouting u.a. Zur Strukturierung des Informationsgewinnungsprozesses in Unternehmen werden FuE-Handbücher u.ä. eingesetzt. Letztlich ist der Forschungs- und Entwicklungsprozess eine stetige Abfolge von Versuch und Irrtumserkennung. Popper spricht im Kritischen Rationalismus von der Notwendigkeit Theorien zu falsifizieren, um auf ein neues Erkenntnisniveau zu kommen. 382 Technische Entwicklung als sozialer Prozess bedeutet die Notwendigkeit zur Kommunikation in den Unternehmen 383 und zwischen den Unternehmen (Kooperationen) bis hin zu gemeinschaftlicher Forschung in Joint Ventures 384 oder der Akquisition von Start-ups. Und letztlich erfolgt Kommunikation mit Hochschulen, die mit Forschungsaufträgen betraut werden. Entscheidend ist die Fähigkeit zum Aufbau von Innovations- und Technologienetzwerken. 385 8.2.4 Technologie-Indikatoren und Technologie-Trends Ein Produkt oder ein Prozess besteht aus Technologien. Nun kann man an ein Produkt oder einen Prozess technologische Trends anlegen, um ein Finalbild zu erhalten, wie das Produkt oder der Prozess in der Zukunft aussehen könnte. Technologische Trends hinterfragen technische Funktionen im Gegensatz zu technischen Trends, die technische Strukturen fortschreiben. 386 Die oben bereits genannten Hüllkurve (Trend Curves), die mehrere S-Kurven zusammenfassen, basieren auf den technischen Trends, da technische Trends physikalische Grenzen haben. Mit Hilfe eines Indikatorensystems zur Bewertung des Leistungspotenzials einer Technologie können technologische Trends gebildet werden, mit denen die gegenwärtige Struktur eines Produktes oder Prozesses hinterfragt wird. 387 Durch Hypothesenbildung 381 Vgl. Gerpott, T.: Strategisches Technologie- und Innovationsmanagement, Stuttgart 2005. 382 Popper, Karl: Logik der Forschung, 9. Auflage, Tübingen 1989, S. XV. 383 Vgl. Müller, Adrian W.; Müller-Stewens, Günter: Strategic Foresight. Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen, Stuttgart 2009 sowie Götz, Klaus, Weßner, Andreas: Strategic Foresight. Zukunftsorientierung im strategischen Management, Frankfurt am Main 2010, insb. S. 28ff. 384 Vgl. beispielhaft Spur, Günter; Eßer, Gerd: Produktionsinnovationen. Jahrbuch der inpro- Innovationsakademie, München 2012. 385 Strebel, Heinz; Hasler, Arnulf: Innovations- und Technologienetzwerke, in: Strebel, Heinz (Hrsg.), Innovations- und Technologiemanagement, 2. Auflage, Wien 2007, S. 349-384. 386 Vgl. zu Trends in der Produktionstechnik Abele, Eberhard; Reinhard, Gunther: Zukunft der Produktion, München 2011, S. 72ff. 387 Vgl. Hartmann, Matthias: Technologie-Bilanzierung, Göttingen 1997, S. 173ff. sowie Wyk, Rias J.: The Notion of Technological Limits, An aid to technological forecasting, in Futures June 1985, S. 214-223, hier: S. 219. <?page no="264"?> 8.2 Strategisches Technologiemanagement 265 www.uvk-lucius.de/ innovation entstehen Suchfelder für Technologien, die zunächst zu abstrakten Ideen, dann weiter zu Forschungsprojekten und schließlich zur Konstruktionsarbeit führen. Beispiel Man bildet die Hypothese, dass die Know-how-Intensität eines Produktes immer mehr zunimmt, d.h. Gegenstände werden immer kleiner (dematerialisieren) und es wird immer mehr Wissen integriert. Also ergibt sich die Frage, mit welcher Technologie könnte der Gegenstand weiter verkleinert werden. Mobiltelefone oder die Virtualisierung von Servern sind ein anschauliches Beispiel für einen solchen Trend. 388 Abbildung 36: Indikatorensystem zur Bewertung des Leistungspotenzials einer Technologie Der Trend zur Leistungssteigerung meint Verbesserung der Effizienz durch eine Technologie zur Erfüllung einer definierten Funktion. Dieser Trend kann weiter operationalisiert werden durch den Trend zur steigenden (quantitativen und qualitativen) Kapazität und den Trend zur steigenden (statischen und dynamischen) Elastizität. Der Trend zur Impulsreduktion betrifft zum einen die quantitative Impulsreduktion und zum anderen die qualitative Impulsreduktion. Während die quantitative Impulsreduktion sich auf die Zahl der notwendigen Impulse bezüglich eines Prozesses bezieht, betrifft die qualitative Impulsreduktion die Verringerung der Stärke von Impulsen bezüglich eines Prozesses. Es geht um die Einsparung von Energie, um das Streben nach einem immer höheren Wirkungsbzw. Nutzungsgrads. Der Trend zur Systemintegration bezeichnet den Weg von der Element- oder Teileebene über die Modulebene hin zur Systemlösung und beschreibt zum einen den Trend zur Funktionsintegration und zum anderen den Trend zur Strukturintegration. Beim Trend zur Funktionsintegration werden unterschiedliche - bis dato nicht kombinierte - Funktionen in einem System kombiniert (z.B. Smartphones). Der Trend zur Strukturintegration subsumiert u.a. den Trend zur Standardisierung im Sinne einer 388 Hartmann, Matthias; Venhofen, Jürgen: Strategisches Innovations- und Technologiemanagement für E-Discovery, in: Hartmann, Matthias (Hrsg.), Internationale E-Discovery und Information Governance, Berlin 2011, S. 231-246. Leistungspotential Leistungsstärke Impulsnotwendigkeit Systemintegriertheit Know-how- Intensität Extreme Eigenschaften Qualitative Impulsnotwendigkeit Quantitative Impulsnotwendigkeit Funktionsintegriertheit Strukturintegriertheit Grad der Dematerialisierung Know-how- Anteil Extreme Präzision Extreme Dimensionen Kapazität Elastizität <?page no="265"?> 266 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Vereinheitlichung der Systembestandteile, den Trend zur Modularisierung sowie den Trend zur Integralteilfertigung. Der Trend von der Materialzur Know-how-Intensität unterscheidet in einer analytischen Sichtweise den Trend zur Dematerialisierung vom Trend zur Know-how- Intensität. Der Trend zur Know-how-Intensität zeugt von einem ansteigenden Wert des Wissens in Produkten. Das in den Techniken inhärente Know-how wird damit zum zentralen Schlüssel für die Entwicklung neuer Produkte und Prozesse. Dematerialisierung bedeutet, dass der Materialeinsatz zur Lösung technische Probleme kontinuierlich zurückgeht. Der Trend zu extremen Eigenschaften unterscheidet einen Trend zu extremer Präzision und einen Trend zu extremen Dimensionen. Der Trend zur Präzision beschreibt produkttechnisch eine extrem ausgeprägte Eigenschaft bzw. prozesstechnisch die Genauigkeit, mit der ein System (be-)arbeitet. Der Trend zu extremen Dimensionen hat zwei gegenläufige Ausprägungen, denn es ist zu beobachten, dass technische Objekte einerseits immer größer werden und andererseits immer weiter miniaturisiert werden. Technologische Trends fungieren mithin als Informationssystem zur technologischen Voraussage und ermöglichen eine Konstruktion von Prinziplösungen bzw. technologischen Referenzsystemen. 8.3 Operatives Technologiemanagement Operatives Technologiemanagement sichert die Effizienz betriebswirtschaftlichen Handelns (Operations) im Sinne des Betriebs eines Unternehmen. Es geht darum, das Wissen vorhandener und neuer Technologien im Betrieb zu bündeln, um ein oder das gemeinsame Unternehmensziel zu erreichen. 8.3.1 Denken in Zeiten und Zyklen als Voraussetzung Zeit ist die wesentliche operative Unternehmensressource. Zwar berücksichtigt eine strategische Erkenntnis oder ein strategischer Plan immer die zeitliche Dimension. Während jedoch Strategie die Einsicht in grundlegende Zusammenhänge ist, hat eine Operation zwingend einen zeitlichen Ablauf. Eine Strategie ist ein Konzept, während eine Operation in der zeitlichen Realisierung einen Erfolg oder Misserfolg zeitigt. Entsprechend ist im operativen Technologiemanagement das Denken in Lebenszyklen wichtig. Allerdings ist oft ein punktuelles Denken in Marktzyklen festzustellen. So wird z.B. ein Marktportfolio zur Vorbereitung von Produktentscheidungen eingesetzt. Ein Marktportfolio bildet aber immer nur eine Momentaufnahme der Marktsituation ab. In der Entwicklung befindlichen Technologien und deren Dynamik (S-Kurven) werden nicht betrachtet. So steht z.B. infrage, ob aus einem Star im Falle eines Technologiebruches überhaupt (noch) eine Cashcow werden kann. 389 389 Vgl. Pfeiffer, Werner, Metze, Gerhard, Schneider, Walter; Amler, Robert: Technologie-Portfolio zum Management strategischer Zukunftsgeschäftsfelder, 1. Auflage, Göttingen 1982 (6. Auflage, Göttingen 1991), S. 64ff. <?page no="266"?> 8.3 Operatives Technologiemanagement 267 www.uvk-lucius.de/ innovation Im Technologiemanagement muss vielmehr über den gesamten Lebenszyklus hinweg gedacht werden. Einem marktfähigen Produkt oder Prozess ist immer ein Entwicklungszyklus vorgeschaltet. Und auf einen Marktzyklus folgt der Entsorgungszyklus. Der Beobachtungszyklus ist allen drei vorgenannten Zyklen überlagert und kennzeichnet einen abnehmenden Grad der Ungewissheit und eine zunehmende Intensität der (Re-)Aktion. Abbildung 37: Integrierter Technologielebenszyklus Der Beobachtungszyklus nutzt die Möglichkeiten der technologischen Voraussage, um (neue) Technologien zu identifizieren, die dann in Produkten und Prozessen zur Marktreife entwickelt werden. Und bei der Entwicklung von Produkten und Prozessen muss bereits deren Entsorgung vorgedacht werden (Technologiefolgen-Abschätzung bzw. Technology Assessment). So fällt im Marktzyklus prozessinduzierter Rückstand an, und nach Verwendung des Produktes ist der produktinduzierte Rückstand zu entsorgen. Aufgrund der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Zyklen wird auch von einem integrierten Technologie-Lebenszyklus gesprochen. Im operativen Handeln können nun drei zeitliche Ansätze unterschieden werden. Erstens: Vermeiden von Aktivitäten (ohne Wertzuwachs) bedeutet auch Vermeiden von Zeitverbräuchen. Zweitens: Planen von Aktivitäten zur optimalen Wahl eines Zeitpunktes (z.B. zur Festlegung des Markteintritts als First oder Followers bzw. zur Vermeidung eines Pioneers Burnout). Drittens: Gestalten von Aktivitäten zur Reduktion von Zeitverbräuchen. Letzteres unterscheidet wiederum die Beschleunigung, die Parallelisierung, die Integration und die Synchronisation von Aktivitäten. Mit Parallelisierung kann z.B. ein Simultaneous Engineering gemeint sein, bei dem ein Produkt konstruiert und parallel dessen Produktionsprozess vorbereitet wird. Mit Integration kann ein Resident Engineering oder auch eine Earlierst Supplier Integration gemeint sein, bei dem ein Zulieferer möglichst frühzeitig in den Konstruktions- oder Fertigungsprozess mit einbezogen wird. Synchronisierung kann die zeitliche Abstimmung zweier Technologien zur Funktionserfüllung in einem Produkt oder die zeitliche Abstimmung zweier Technologien in einem Produktionsprozess meinen. Z i Grad der Ungewissheit, Intensität der (Re-)Aktion kumulierte Kosten Umsatz bzw. Gewinn kumulierte Entsorgungskosten Beobachtungszyklus Entstehungszyklus Marktzyklus Entsorgungszyklus <?page no="267"?> 268 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation 8.3.2 Prinzip der Erfahrungskurven Die Erfahrungskurve besagt: Eine Verdopplung der kumulierten Produktionsmenge führt potenziell zu einer Verringerung der Stückkosten um 20 bis 30 Prozent. Dabei ist das Wort „potenziell“ wichtig, denn die Reduktion erfolgt nicht automatisch, sondern muss erarbeitet werden. Die Erfahrungskurve hat strategische Bedeutung beim Streben nach Marktanteilen mittels der Penetrationspreissetzung. 390 Die Erfahrungskurve hat operative Bedeutung, wenn es um den zeitgenauen Einstieg in eine neue Technologie und das Sammeln von Erfahrungswissen geht. So kann es sein, dass eine Technologie (strategisch) bereits bekannt ist, das Unternehmen mit dem Einsatz in Produkten oder Prozessen noch abwartet, um das Überraschungsmoment im Marktauftritt richtig terminieren zu können. Anhand von S-Kurve und Erfahrungskurve kann hier das Pessimismus-/ Optimismus- Phänomen im unternehmerischen Handeln gezeigt werden. In Abbildung 34 ist zu sehen, dass in der Phase des Auftretens einer neuen Technologie deren Erfahrungskurve noch höhere Stückkosten zeitigt, während die Erfahrungskurve der alten Technologie noch niedrigere Stückkosten hat. Ein traditionell denkender Unternehmer ist bezüglich der alten Technologie optimistisch und pessimistisch bezüglich der neuen Technologie. In Kenntnis der Erfahrungskurve argumentiert der Unternehmer sogar, die Stückkostenpotenziale der alten Technologie auszunutzen. Somit kann es dazu kommen, dass dieser Unternehmer die neue Technologie ignoriert. 391 Ein innovativer Unternehmer hingegen weiß, dass die Erfahrungskurve der neuen Technologie die Erfahrungskurve zu einem bestimmten Zeitpunkt schneiden wird. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass nach dem Prinzip der S-Kurven die neue Technologie eine prinzipiell höhere Leistungsfähigkeit erreichen wird und damit eine prinzipiell niedrigere Kostenbasis schaffen wird. Aus dieser Kenntnis heraus wird der innovative Unternehmer sich zumindest für die neue Technologie interessieren und diese gegebenenfalls in Versuchsanordnungen testen, um Erfahrungen zu sammeln. Damit fährt der innovative Unternehmer die Erfahrungskurve der neuen Technologie bereits ab und kann zum Zeitpunkt eines realen Einsatzes des Produktes oder Prozesses auf einem niedrigeren Kostenniveau im Markt starten. Der traditionell denkende Unternehmer wird erst bei Marktrelevanz der neuen Technologie eine neue Erfahrungskurve begründen und startet damit allerdings auf einem höheren Kostenniveau am Anfang der Erfahrungskurve. Die Differenz zwischen den Erfahrungskurven von alter und neuer Technologie wird auch als Kostenhöcker bezeichnet. Dieser Kostenhöcker ist für den traditionell denkenden Unternehmer der Grund pessimistisch zu sein. Ein innovativer Unternehmer ist jedoch optimistisch bezüglich der neuen Technologie, denn er kennt das Prinzip der 390 Vgl. Grant, Robert M.; Nippa, Michael: Strategisches Management, 5. Auflage, München 2006, S. 319ff. 391 Vgl. Christensen, Clayton M; Matzler, Kurt; Eichen, Stephan F.: The Innovator‘s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, München 2011. <?page no="268"?> 8.3 Operatives Technologiemanagement 269 www.uvk-lucius.de/ innovation S-Kurven und der korrespondierenden Erfahrungskurven und versteht die dahinter liegende Kostenmechanik. Somit ist einerseits der Zeitpunkt für den Start einer neuen Erfahrungskurve operativ relevant. Andererseits ist die Geschwindigkeit relevant, mit der ein Unternehmer die Stückkosten reduziert. Da sich die Stückkosten nicht automatisch um 20-30% reduzieren, ist die Fähigkeit zu lernen wichtig. Denn Stückkosten reduzieren sich nur potenziell, also in Abhängigkeit vom Lernaufwand und dem Zugewinn an Erfahrungswissen. Einflussfaktoren hierzu können sein: Komplexität des Produktes (z.B. Variantenvielfalt) oder Prozesses (z.B. Vielfalt neuer Werkzeuge und Maschinen), Planungsqualität der Produktion, Produktionsgeschwindigkeit, Qualifikation der Mitarbeiter und Unterbrechungen beim Einüben/ Lernen neuer Prozesse. 8.3.3 Wissensmanagement Lernen bedeutet Aneignung von Wissen. Technologiemanagement setzt damit Wissensmanagement voraus. Wissen lässt sich in drei Wissenskomponenten untergliedern: Erstens kann ein Unternehmen über Gesetzeswissen verfügen, d.h. mittels einer Theorie sind wissenschaftliche Erklärungen über eine Technologie möglich. Zweitens kann ein Unternehmen über Beobachtungswissen verfügen. Beobachtungswissen ist Ursache-Wirkungswissen, d.h. über Versuchsbzw. Probierverhalten werden Erkenntnisse gewonnen. Drittens kann ein Unternehmen Fertigkeitsbzw. Geschicklichkeitswissen besitzen, das man auch als technisches Können bezeichnen kann. Verfügt ein Unternehmen über alle drei vorgenannten Wissenskomponenten und vermag die einzelnen Wissenskomponenten lösungsbezogen zu kombinieren, hat das Unternehmen ein sogenanntes Systemprinzip-Wissen. 392 Wissen kann implizit oder explizit in einem Unternehmen vorliegen. Implizites Wissen ist für das Management von Technologien nur schwer zu steuern. Explizites Wissen ist notwendig, um explizit entscheidungsfähig zu werden. Dies erfordert zunächst eine Inventur des Wissens über Technologien, die - nach kaufmännischen Regeln - die Grundlage für eine Wissensbzw. Technologie-Bilanz sein kann. 393 Für das Technologiemanagement mit S-Kurve und Erfahrungskurve ist der jeweilige Vorbereitungsgrad eines Unternehmens wichtig. Es sei daran erinnert, dass dieser Beitrag Innovationsmanagement aus einer subjektivistischen Perspektive eines Unternehmens sieht. Eine bestimmte Technologie kann im Markt grundsätzlich bereits bekannt sein. Wenn das Unternehmen diese Technologie noch nicht kennt, dann ist die Einführung dieser Technologie für das Unternehmen ein Lernprozess und damit eine Innovation. Lernen wird einerseits determiniert durch die Wissensbasis und durch die Geschwindigkeit des Lernens. Bei der Wissensbasis wird wiederum unterschieden, ob die Wissensbasis allgemeiner Natur ist oder (nur) speziell auf eine Anwendung ausgerichtet ist. 392 Vgl. Pfeiffer, Werner: Innovationsmanagement als Know-how-Management, in: Hahn, D. (Hrsg.), Führungsprobleme industrieller Unternehmungen. Friedrich Thomée zum 60. Geburtstag, Berlin, New York 1980. 393 Vgl. Hartmann, Matthias: Technologie-Bilanzierung, Göttingen 1997. <?page no="269"?> 270 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Eine allgemeine Wissensbasis bietet einen besseren Vorbereitungsgrad für neue Technologien. Konzentriert sich ein Unternehmen beim Übergang auf neue Technologien (nur) auf den Erwerb des speziell dafür notwendigen Wissens, so entgehen ihm eventuelle technologische Erkenntnisse und damit eventuell Marktchancen. Damit ergeben sich für das Wissensmanagement über Technologien drei Optionen: Wie bereits bei der Erfahrungskurve ausgeführt, ist erstens der Startzeitpunkt des Lernens relevant. Zweitens ist die Wissensbasis entscheidend, von der aus das Lernen gestartet wird. Und drittens ist die Lerngeschwindigkeit ausschlaggebend. Wurde im strategischen Technologiemanagement eine attraktive Technologie identifiziert, so stellt sich im operativen Technologiemanagement die Frage, wann mit der Anwendung begonnen werden soll, ob schon Vorkenntnisse vorhanden sind, und wie die Erfahrung im Einsatz dieser Technologie möglichst beschleunigt werden kann. Allerdings ist mit Zeitkonstanten der Vorbereitung zu rechnen. Lernen lässt sich nicht beliebig beschleunigen. Die Differenz zwischen aktueller Wissensbasis und zukünftig notwendiger Wissensbasis ist zu definieren. Auch hier kommt es nicht auf Scheingenauigkeiten, sondern auf eine Schätzung an. Bricht man diese Erkenntnis auf die vorgenannten Wissenskomponenten herunter, so entsteht ein konkretes Handlungsprogramm. Die Durchsetzung solcher Handlungsprogramme muss organisiert werden. Dazu sind Promotoren in einem Unternehmen notwendig. Der Fachpromotor verfügt über das fachlich-inhaltliche Wissen. Der Machtpromotor verfügt über die zur Durchsetzung notwendigen Ressourcen. Der Prozesspromotor verfügt über die systematische Kenntnis der Abhängigkeiten in einem Unternehmen und unterstützt bei der Durchsetzung des Handlungsprogramms. Ergänzt wird dieses Rollenkonzept durch den Technological Gatekeeper, der über ein übergreifendes Wissen zum betreffenden Technologiebzw. Wissensbereich verfügt. 394 In Anlehnung an die bilanzielle Unternehmensbewertung kann man bei der Wissensbasis auch von der Substanzqualität bzw. den technologischen Kernkompetenzen eines Unternehmens sprechen, die in der konventionellen Unternehmensbewertung vielfach unbzw. unterbewertet bleiben. 395 Die explizite Bewertung der Substanzqualität, mithin die rechtliche Dokumentation des Wissens spielt insbesondere bei Patentstreitigkeiten eine große Rolle. Man spricht dabei vom Schutz der Intellectual Property Rights (IPR). 396 Diese haben insbesondere bei länderübergreifenden Patentstreitigkeiten eine große Bedeutung, bei denen die Rechtssysteme unterschiedlich intensiven Schutz des Wissens garantieren. Für die operative Umsetzung von Patenten gibt es allerdings ebenso Grenzen, denn Patente sind rechtliches Dürfen, nicht aber faktisches Können. Denn Gesetzeswissen ist theoretisches Wissen und muss durch Beobachtungswissen und insbesondere durch Fertigkeitsbzw. Geschicklichkeitswissen ergänzt werden. 394 Vgl. Gelbmann, Ulrike; Vorbach, Stefan: Das Innovationssystem, in: Strebel, Heinz (Hrgs.), Innovations- und Technologiemanagement, 2. Auflage, Wien 2007, S. 97-155. 395 Vgl. Hartmann, Matthias: Technologie-Bilanzierung, Göttingen 1997, S. 50. 396 Vgl. Chesbrough, H.: Open Business Models. How to Thrive in the New Innovation Landscape, Boston 2006, S. 82-93. <?page no="270"?> 8.3 Operatives Technologiemanagement 271 www.uvk-lucius.de/ innovation 8.3.4 Standardisierung in Konstruktion und Produktion Ein Prinzip zur Gestaltung von Produkten und Prozessen ist der Konstruktionshebel, der den Zusammenhang von Kostenfestlegung und Kostenverursachung darstellt. Der Kostenhebel besagt, dass die Konstruktion nur ca. 10% der Gesamtkosten eines neuen Produktes verursacht, dafür aber ca. 70% der Herstellkosten festlegt. Überspitzt formuliert macht es weniger Sinn, in der Produktion und in der Logistik nach Kosteneinsparpotenzialen zu suchen, bevor nicht die Optimierungspotenziale in der Konstruktion ausgeschöpft wurden. Ebenso ist der Gestaltungsspielraum des Einkaufs bereits festgelegt durch die Konstruktion. Bei der heutzutage niedrigen Fertigungstiefe ist die Bedeutung des Einkaufs geradezu diametral zur Konstruktion zu sehen: Der Einkauf verursacht die meisten Kosten, legt jedoch nur wenig Kosten für Produktion und Produkte fest. In Kenntnis des Prinzips des Konstruktionshebels kann nun versucht werden, die festgelegten Kosten durch Vereinheitlichung zu senken. Dies kann durch fünf Standardisierungsansätze erfolgen: Die Teilefamilienfertigung ist zwar keine Standardisierung im engeren Sinne, dennoch können damit die Fertigungskosten gesenkt werden. Durch Teilefamilienfertigung werden form- und maßähnliche Teile oder Teile mit fertigungstechnischer Ähnlichkeit zusammengefasst. Durch Vermerke in den Stücklisten und Arbeitsplänen wird der Produktion aufgezeigt, wo größere Fertigungslose möglich sind. Die Wiederholteileverwendung zielt darauf ab, ein für ein bestimmtes Produkt entwickeltes Bauteil an verschiedenen Orten des gleichen Produktes oder in verschiedenen Produkten wieder zu verwenden. Die Wiederholteile werden ebenso in den Stücklisten markiert. Normierung ist die Vereinheitlichung von Eigenschaften. Diese kann zum einen überbetrieblich erfolgen durch die Verwendung von Normen aus ISO (International Standardization Organization), DIN (Deutsche Industrienorm), VDI (Verband der Automobilindustrie). Zum anderen können Werksnormen festgelegt werden. Ein Baukasten enthält Teile oder Teilsysteme, aus denen sich wiederum Produkte oder Produktteile zusammensetzen lassen. Volkswagen hat dieses Prinzip erweitert zum modularen Querbaukasten (MQB), der die Einzelkosten um 20% sinken ließ. Bei der Typisierung wird das gesamte Produkt durch die Standardisierung von Eigenschaften vereinheitlicht. Die vorgenannten Standardisierungsansätze helfen die Kostenposition eines Produktes grundsätzlich niedriger anzusetzen. Ein Widerspruch zwischen Innovation und Standardisierung besteht dann nicht, wenn die Standardisierung zum Zwecke der Innovation genutzt wird. So wird der neue Golf VII trotz des Einsatzes aller vorgenannten Standardisierungsansätze als ein technisch vollkommen neues Fahrzeug bezeichnet. 397 Grundlage einer Standardisierung von Produkten und Prozessen sind Stücklisten und Arbeitspläne. Da Stücklisten und Arbeitspläne nicht nur in der Konstruktionsabteilung 397 Vgl. Ritter, Johannes: „Da scheppert nix mehr“, in FAZ v. 6.9.2012, S. 17. <?page no="271"?> 272 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation entstehen, sondern auch bei der Angebotserstellung, der Teilebeschaffung, der Kalkulation, im Kundendienst usf. genutzt werden, sind Stücklisten und Arbeitspläne eine sinnvolle gemeinsame Sprachbasis zwischen Techniker und Kaufmann. Stücklisten und Arbeitspläne sind auch die Grundlage für das Target Costing. In Anlehnung an Target Costing ist eine Technologiekostenanalyse möglich. Eine Technologiekostenanalyse (TKA) zeigt, wie die Kosten von Technologien im Verhältnis zu ihren zukunftsbezogenen Leistungspotentialen bewertet werden können. Ziel der Technoogiekostenanalyse ist es, Relationen zwischen Technologiewerten und Kostenwerten herzustellen, um letztlich das Kostenniveau und die Kostenstruktur eines Produktes oder Prozesses beeinflussen zu können. Abbildung 38: Technologiekostenanalyse (TKA) Man kann die Technologiekostenanalyse dabei als eine potentialseitige Ergänzung des Target Costing bezeichnen, da sie durch die kostenmäßige Bewertung zukunftsbezogener Leistungspotentiale über den zeitlichen Betrachtungshorizont des Target Costing weit hinausgeht. Dadurch gelingt es, dem Nutzen einer Technologie einen Kostenwert zuzuordnen, der zwar zunächst nur heuristischen Charakter hat, jedoch eine direkte Verbindung von Technologiewert und Kostenwert schafft. TA = 4 TA = 2 TA = 1 TA = 2 0,44 € 0,22 € 0,11 € 0,22 € 0,46 € 0,15 € 0,18 € 0,20 € Chip- und Halbleitertechnik Chip-Implantieren nach Heißklebetechnik Anwendung der Drucktechnik Softwarecodierung sequentiell Technologiearten der Speicherchipkarte Technologieattraktivität (TA = 9) Soll-Technologiekosten je Stück (STK = 0,99 €) Ist-Technologiekosten je Stück (ITK = 0,99 €) Berechnung: TA = 9 entspricht 0,99 € daraus folgt: TA = 1 entspricht 0,11 €, TA = 2 entspricht 0,22 € usw. Schritt 1 Schritt 3 Schritt 2 Analyse und Bewertung der Technologiearten Ermittlung der „Soll- Herstellkosten je Technologieart“ Ermittlung der „Ist- Herstellkosten je Technologieart“ <?page no="272"?> 8.4 Taktisches Technologiemanagement 273 www.uvk-lucius.de/ innovation Ziel der Technologiekostenanalyse ist es, Relationen zwischen Technologiewerten und Kostenwerten herzustellen, um das Kostenniveau und die Kostenstruktur eines Produktes oder Prozesses aus Technologie-Perspektive bewerten zu können. Durch daraus ableitbare Handlungsempfehlungen sollen letztlich Produkte bzw. Prozesse sowohl hinsichtlich ihrer technologischen Leistungsfähigkeit als auch der jeweiligen Wirkungen auf Kostenniveau und Kostenstruktur aktiv beeinflusst werden. 398 8.4 Taktisches Technologiemanagement Taktik ist die Lehre von der Führung. Taktisches Technologiemanagement bedeutet die Einbeziehung aller notwendigen Mitarbeiter und Unternehmensressourcen in den Führungs- und Entscheidungsprozess. Dies setzt systematisches Denken voraus. 8.4.1 Systematisches Denken als Voraussetzung Jedes technische Objekt kann als System definiert werden, das eine Funktion besitzt (siehe funktionale Definition weiter oben). Diese Funktion kommt in einer Struktur zum Ausdruck. 399 Diese Struktur besteht aus fünf Faktoren: Input, Personal, Organisation, Sachmittel und Output. Das technische Objekt unterliegt einem Prozess, der in Raum und Zeit abläuft. Und letztlich wird das System gelenkt, indem es gesteuert und geregelt wird. Systematisches Denken erfordert eine ganzheitliche, interdisziplinäre und integrierte Herangehensweise. Ganzheitlichkeit bedeutet, ein technisches Objekt in all seinen systematischen Komponenten zu erfassen, d.h. in Funktion, Struktur (alle fünf Faktoren), Prozess und Lenkung. Interdisziplinarität bedeutet, ein technisches Objekt aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu betrachten. Integriertheit bedeutet, ein technisches Objekt in seinen Abhängigkeiten zu erfassen. In einem Entscheidungsprozess sind alle Einflussfaktoren (Ganzheitlichkeit) interdisziplinär und in allen Abhängigkeiten (Integriertheit) zu erfassen. Beispiel Bei der Einführung einer für einen Automobilzulieferer neuen Urformtechnologie (Presse für Pulvermetallurgie) wurde der Kauf der neuen Presse nicht systematisch betrachtet. Es war u.a. nicht transparent, dass auch der Prozess und die Teamverantwortung (Regelung) in der Fertigung neu definiert werden mußte. Die neue Technologie wurde nicht interdisziplinär geprüft, sodass Experten in den folgenden Fertigungsschritten Sintern und Kalibrieren nicht rechtzeitig zur Verfügung standen. Und der Einsatz der neuen Technologie wurde nicht integriert im Unternehmensgeschehen betrachtet. So erforderte die neue Technologie z.B. neue Prüftechniken (Output), besondere Presswerkzeuge (Sachmittel) eine andere Qualifikation der Bediener (Personal), eine Veränderung des Fertigungslayouts (Organisation) und neue Materialien (Metallpulver) (Input). 398 Vgl. Hartmann, Matthias: Technologie-Kostenanalyse, in: Schmeisser, W.; Mohnkopf, H.; Hartmann, M.; Metze, G. (Hrsg.), Innovationserfolgsrechnung, Berlin und Heidelberg 2008, S. 291-303. 399 Vgl. Ropohl, Günter: Allgemeine Systemtheorie, Berlin 2012. <?page no="273"?> 274 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Eine durchgeführte Systemwirtschaftlichkeitsrechnung listete alle Konsequenzen der Technologieentscheidung auf. Die zunächst nur qualitativen Sachgrößen wurden schrittweise quantifiziert und monetarisiert. Dabei geht es um Größenordnungen und nicht um Scheingenauigkeiten. So ergaben sich für das Controlling laufende Kosten in Höhe von 552.159 € für die Presse (ohne Materialien). Die Systemwirtschaftlichkeitsrechnung ergab zusätzliche 601.080 € an verborgenen Kosten. Die realen Kosten waren also mehr als doppelt so hoch wie vom Controlling angenommen. Die Anwendung des 5-Faktoren-Modells für die unternehmensinterne Systemanalyse wird unternehmensextern ergänzt durch das System-Umwelt-Modell. Zunächst ist die Unterscheidung Umwelt/ Umfeld notwendig. Die Umwelt enthält alle Tatbestände außerhalb eines Systems. Das Umfeld ist ein Teil der Umwelt und enthält nur die entscheidungsrelevanten Tatbestände für ein System. Mit Hilfe des System-Umwelt- Modells wird geprüft, welche Auswirkungen die Kunden, die Zulieferer, die Konkurrenz, die Naturwissenschaften und die Gesellschaft auf eine Technologieentscheidung haben könnten. 8.4.2 Prinzip des Technologieportfolios Das Technologieportfolio dient dem Management strategischer Zukunftsgeschäftsfelder, indem Technologien auf der Basis von deren Attraktivität und der verfügbaren Unternehmensressourcen verglichen werden. So werden Technologieentscheidungen vorbereitet und Parallelentwicklungen in größeren Unternehmen vermieden. Die Methodik ist wie folgt: Eine Technologie wird in eine unabhängige und eine abhängige Dimension eingeordnet. In der unternehmensunabhängigen Dimension (Technologie-Attraktivität) wird der Gedanken der S-Kurve wieder aufgenommen. Die S-Kurve wird als Indikator fürs das Weiterentwicklungspotenzial einer Technologie genutzt und um die Marktgrößen Anwendungsbreite und Kompatibilität ergänzt. Die Anwendungsbreite zielt auf das potenzielle Marktvolumen ab. Die Kompatibilität fragt nach der Anschlussfähigkeit an andere Technologien. So war die Glühlampe zur Zeit der Erfindung durch Thomas Edison nicht kompatibel zu den Gebäudeinfrastrukturen. Die Leitungen wurden zunächst über Putz gelegt. Allerdings waren die Weiterentwickelbarkeit und die Anwendungsbreite aus der damaligen Sicht enorm hoch. In der unternehmensabhängigen Dimension wird nach der Ressourcenstärke eines Unternehmens bezüglich einer Technologie gefragt. Dabei wird die Erfahrungskurve als Indikator für den Beherrschungsgrad einer Technologie genutzt und um die Unternehmensgrößen Reaktionsfähigkeit und Potenziale, insbesondere Finanzkraft ergänzt. Nach der Positionierung von Technologien in einem Technologieportfolio können Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. (1) Im rechten oberen Bereich des Portfolios befindliche Technologien sollten im eigenen Unternehmen weiterentwickelt werden, um den Wettbewerbsvorsprung zu halten. Hier sollte auch der Schwerpunkt der Investitionstätigkeit liegen. (2) Technologien im linken unteren Bereich sollten desinvestiert werden, da die Investitionen in solche Technologen keine prinzipielle Verbesserung der Leistungsfähigkeit (siehe S-Kurve) erwarten lassen. (3) Schlussendlich gibt es noch die Selektionsfelder auf einer Linie von links oben nach rechts unten. Eine Technologie im linken oberen Bereich erfordert entweder hohe Investitionen oder einen konsequenten Rückzug aus dieser Technologie. Für eine Technologie in der Mitte des Portfolios sind <?page no="274"?> 8.4 Taktisches Technologiemanagement 275 www.uvk-lucius.de/ innovation alle Handlungsoptionen denkbar. Eine Technologie im unteren rechten Bereich sollte überprüft werden, ob geringe Investitionen zum Halten des technologischen Vorsprungs sinnvoll sind, oder ob gleich desinvestiert werden sollte. 400 Abbildung 39: Technologieportfolio Zum Technologieportfolio darf noch angemerkt werden, dass nach der erstmaligen Publikation des Technologieportfolios durch Pfeiffer im Jahre 1982 eine Vielzahl von ähnlichen Portfolien generiert wurden, so z.B. ein Technologie-Markt-Portfolio oder ein Innovationsportfolio. Diese Derivate zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Grundprinzip des Technologieportfolios nicht verstanden haben, denn die Technologie-Attraktivität berücksichtigt bereits das Marktpotenzial in der Anwendungsbreite. 8.4.3 Management der Koexistenz alter und neuer Technologien Technologieportfolien werden entscheidungsbezogen erstellt, d.h. es werden nicht alle in einem Unternehmen eingesetzten Technologien sowie deren potenzielle Ablösetechnologien abgebildet. Die Vielfalt eingesetzter Technologien erfordert jedoch Transparenz über alle Technologien. Denn alte Technologien werden nicht immer radikal substituiert, sondern werden teilweise parallel zu neuen Technologien eingesetzt. So weisen Speicherbänder längst nicht die Leistungsfähigkeit neuer Speicherme- 400 Vgl. Pfeiffer, Werner, Metze, Gerhard, Schneider, Walter; Amler, Robert: Technologie-Portfolio zum Management strategischer Zukunftsgeschäftsfelder, 1. Auflage, Göttingen 1982 (6. Auflage, Göttingen 1991). Weiterentwicklungspotential In welchem Umfang sind auf diesem Gebiet eine technische Weiterentwicklung und eine damit verbundene Kostensenkung oder Leistungssteigerung möglich? Anwendungsbreite Wie ist die Ausbreitung der möglichen technischen Weiterentwicklungen hinsichtlich der Anzahl der Einsatzbereiche und der Mengen je Einsatzbereich zu beurteilen? Kompatibilität Ist durch die möglichen technischen Weiterentwicklungen mit positiven und/ oder negativen Auswirkungen auf andere von uns angewandte Technologien zu rechnen? Beherrschungsgrad Wie ist unsere Lösung in technisch-wirtschaftlicher und qualitativer Hinsicht im Verhältnis zur wichtigsten Konkurrenzlösung einzuschätzen? Potentiale Stehen finanzielle, personelle, sachliche und rechtliche Ressourcen zur Ausschöpfung der in diesem Bereich noch bestehenden Weiterentwicklungsreserven zur Verfügung? (Re-)Aktionsgeschwindigkeit Wie schnell können wir im Vergleich zur Konkurrenz eventuelle technische Weiterentwicklungsmöglichkeiten aussschöpfen? Ressourcenstärke Technologie-Attraktivität <?page no="275"?> 276 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 40: Technologiebilanz eines Chipkartenunternehmens A. Prozesse I. Prozesse in der Beobachtungsphase • Digitales Bedrucken von Plastik 9 • Interoperabilität der Kartensysteme 8 II. Prozesse in der Entstehungsphase • Interaktive Codierung der Chips 24 III. Prozesse in der Marktphase • Bedrucken von Plastik nach 3 konventionellen Methoden • Laminieren 3 • Magnetstreifencodierung 2 • Implantieren von Chips 4 • Sequentielle Codierung der Chips 11 • Optisches Personalisieren 4 (Lasergravur bzw. Thermotransfer) IV. Prozesse in der Entsorgungsphase • Stanzen und Schneiden 1 • Prägen von Karten 1 B. Produkte I. Produkte in der Beobachtungsphase • Hybridkarten: kontaktbehaftete/ 11 kontaktlose Chipkarten II. Produkte in der Entstehungsphase • Hybridkarte: analog/ digital 9 • Hybridkarte: Optochipkarte 17 • Multifunktionale Prozessorkarte 21 III. Produkte in der Marktphase • Prozessorchipkarte 14 • Speicherchipkarte 9 • Magnetstreifenkarte 6 • Prägekarte 5 • Plastikkarte ohne Datenträger 4 IV. Produkte in der Entsorgungsphase • Dünnplastikkarte 2 • Papierkarte 2 Technologiebilanz für ein Chipkartenunternehmen Technologie-Verwendung Technologie-Herkunft Summe Summe A. Eigentechnologien I. Technologien mit Systemprinzip-Wissen • Prägen 0 • Softwarecodierung sequentiell 2 • Trenntechnologie 1 • Papierpersonalisierungstechnik 0 • Papierfalztechnik 0 II. Technologien mit Gesetzeswissen • Pixeldruck 3 • Pflichtenheft für Maschinen zur 4 interaktiven Softwarecodierung III. Technologien mit Gesetzes- und Beobachtungswissen • Laminiertechnik nach Insert-Methode 3 • Chip-Implantierung in optische Karten 3 • Codierung der Optochipkarte 4 IV. Technologien mit Beobachtungs- und Fertigkeitswissen • Anwendung der Drucktechnik 1 • Anwendung der Laminiertechnik 2 • Chip-Implantieren nach 2 Heißklebetechnik • Optische Personalisiertechnik 2 • Softwarecodierung interaktiv 4 • Anwendung der Kryptotechnologie 4 B. Fremdtechnologien I. Technologien mit Systemprinzip-Wissen • Prägemaschinen 1 II. Technologien mit Gesetzeswissen • Analogtechnologie 0 • Radiofrequenztechnologie 2 • Antennenherstellungstechnologie 2 • Verbindungstechnologie 3 Modul-Antenne • Verschlüsselungsalgorythmen 3 III. Technologien mit Gesetzes- und Beobachtungswissen • Magnetstreifenmaterialtechnologie 1 • Optokartentechnologie 1 IV. Technologien mit Beobachtungs- und Fertigkeitswissen • Druckfarbenmischung 1 • Druckfarben für unterschiedliche 2 Kunststoffe • Druckmaschinen 1 • Laminiermaschinen 1 • Implantiermaschinen 2 • Personalisierungsmaschinen für 2 Thermotransfer und Laser • Chipbzw. Halbleitertechnologie 4 • Chipkartenbetriebssysteme 3 • Softwaretechnologie für 2 Betriebssysteme • Know-how über Betriebssystemwechsel 3 • Personalisiermaschinen für 3 Chipcodierung C. Technologieüberschuss 17 24 27 2 70 11 47 38 4 100 3 7 10 15 35 1 10 2 24 37 98 Summe Summe 170 170 <?page no="276"?> 8.4 Taktisches Technologiemanagement 277 www.uvk-lucius.de/ innovation dien auf, dennoch werden Speicherbänder zur langfristigen Archivierung in Rechenzentren genutzt. Damit lösen innovative Technologien alte Technologien gegebenenfalls nur in einer Teilmenge von Anwendungsfällen ab. Es kommt mithin auf die präzise Definition der zu erfüllenden Funktion an, wenn über Ablösetechnologien diskutiert wird. Für das Management stellt die Koexistenz alter und neuer Technologien eine enorme Herausforderung dar, die gerne mit dem Begriff Komplexitätsmanagement überschrieben wird. Wenn also in Rechenzentren und Fabriken sowie in Produkten nicht nur eine große Anzahl von Technologien zu Einsatz kommen, sondern auch funktional-äquivalente Technologien unterschiedlicher Entwicklungsstufen koordiniert werden müssen, so sind zu aller erst systematische Übersichten notwendig. Mithin besteht der Bedarf an einer Inventur der Technologien eines Unternehmens. Kaufmännisch entsteht aus einer Inventur die Bilanz. Daher ist eine Technologiebilanz erforderlich. In einer Technologiebilanz werden die zuvor inventarisierten Technologien mit den dazugehörigen Produkten und Prozessen in einem systematischen Bilanzschema abgebildet werden. Als Bewertungseinheit wird die Technologieattraktivität genutzt. 401 Die Bewertung eines Produktes bzw. Prozesses ergibt sich durch die Summe der darin enthaltenen Technologien. Die Berechnungsmethodik lässt sich folgendem Bild entnehmen. Abbildung 41: Verrechnungsmethodik einer Technologiebilanz Das Zusammenwirken aller Technologien im Betrieb kann visuell anhand von Technologiearchitekturen dargestellt werden. Zum ersten können Technologiearchitekturen für Produkte erstellt werden. Ausgangspunkt kann ein Digital Mock-Up (Digitales 401 Vgl. Hartmann, M.: Theorie und Praxis technologischer Unternehmensbeurteilung, in: ZfB 9/ 1998, S. 1009-1027. Bewertung des Leistungspotentials von Technologien auf der Passivseite Bewertung des Anwendungspotentials von Technologien in Produkten/ Prozessen auf der Aktivseite + Trenntechnologien 1 + Papierpersonalisierungstechnik 0 + Anwendung der Drucktechnik 1 = Papierkarte 2 Produktbeispiel + Chip- und Halbleitertechnologie 4 + Softwaretechnologie für 2 Betriebssysteme + Anwendung der Kryptotechnologie 4 + Verschlüsselungsalgorithmen 3 + Pflichtenheft für Maschinen zur 4 interaktiven Softwarecodierung + Personalisierungsmaschinen für 3 Chipcodierung + Softwarecodierung interaktiv 4 = Interaktive Codierung der Chips 24 Prozessbeispiel <?page no="277"?> 278 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 42: Unternehmensarchitektur Versuchsmodell) sein, in dem das Produkt und die dahinter liegenden Technologien digital und vollständig beschrieben sind. Zweitens können Technologie-Architekturen die in einem Fertigungsbzw. Betriebsprozess enthaltenen Technologien abbilden (Digitale Fabrik). Hierzu wird z.B. die Infrastruktur der Fertigung bzw. eines Rechenzentrums aufgenommen und in einem Modell dargestellt. Je nach Systemdefinition (was umfasst der Prozess? ) werden mehr oder weniger Infrastrukturelemente miteinbezogen. Strategie des Unternehmens - Strategischer Rahmen der Unternehmensarchitektur - Landkarte der Geschäftsprozesse GF Operations Finanzen Personal Individualsysteme Report Vertrieb DB2 Standardsysteme SAP Oracle Tool Tool MS Office MS SQL Fileserver Standort Applikationserver Storage DB DB Produkt Komponente • Komponentennr. • Lieferant • ... • Produktnr. • Produktklasse • ... Teil • Teilnr. • Preis • … Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Vertrieb Architektur der Informationssysteme Architektur der Informationen/ Daten Aufbau der Unternehmensorganisation Architektur der IT-Infrastruktur IT Produktion Vertrieb Finanzen Logistik Personal Informationstechnologie Clients ggf. ergänzt um die Infrastruktur der Fertigungsanlagen und Gebäude <?page no="278"?> 8.4 Taktisches Technologiemanagement 279 www.uvk-lucius.de/ innovation Technologiearchitekturen sind hervorragende Diskussionsobjekte. Es empfiehlt sich, solche Darstellungen bzw. Ausschnitte davon auf DIN-A0 auszudrucken und gut sichtbar aufzuhängen. So wird systematisches Denken von Grund auf geschult, und tayloristisches Verhalten bei Management und Mitarbeitern verringert. Technologiearchitekturen sollten sinnvollerweise mit der Unternehmensarchitektur verknüpft sein. 402 Eine Unternehmensarchitektur besteht aus den fünf Ebenen Geschäftsprozessarchitektur, Organisationsaufbau, Informationsarchitektur, Informationssystemarchitektur und Infrastrukturarchitektur. Technologien sind in Informationssystemen (Applikationen) und in Infrastrukturen (Rechenzentren und Fabriken) enthalten. In digitalen Modellen solcher Unternehmensarchitekturen werden Verknüpfungen hergestellt, sodass die Auswirkungen von Technologieänderungen auf Geschäftsprozesse, Aufbauorganisation (Zuordnung, Verantwortung, ...), Informationen (Datenbankmodelle, Entity-Relationship-Modelle, semantische Netze, ...), Informationssysteme (CAD, ERP, ...) und Infrastrukturen (Server, CNC-Maschinen, Gebäude, ...) transparent dargestellt werden können. 8.4.4 Digitale Innovations- und Technologieplanung Die Herausforderung bei immer komplexer werdenden Forschungs- und Innovationsprozessen ist die Fähigkeit, den Informationsmangel im Datenüberfluss bekämpfen zu können. Es geht um die digitale Unterstützung der Kreativ- und Konstruktionssprozesse. Laut der inpro-Innovationsakademie sind unzureichende Spezifikationen das mit Abstand größte Problem bei der Umsetzungsplanung von Produktionsinnovationen (bei insgesamt zwölf vorgegebenen Problemen). Das zweitgrößte Problem sind Kommunikations- und Abstimmungsprobleme. Digitale Innovations- und Technologieplanung als computerbasierte Unterstützung der Versuchs- und Konstruktionsarbeit ist ein wesentliches Mittel, um hier Abhilfe zu schaffen. 403 Zu den Werkzeugen, die eine verbesserte Spezifikationen ermöglichen, zählen Digital Mock-Up-Modelle für Produkte als auch Digitale Fabriken für die Prozesse. Ein PDM (Product Data Management) soll dafür sorgen, dass die Datengrundlagen für die Spezifikationen über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes (PLM = Product Lifecyle Management) zur Verfügung stehen. Unter dem Stichwort Electronic Collaboration werden Werkzeuge subsumiert, die eine verbesserte Kommunikation und Abstimmung ermöglichen. E-Collaboration-Werkzeuge haben drei Komponenten: Erstens gibt es einen virtueller Projektraum mit einem Single Point of Entry sowie den klassischen Funktionalitäten wie Unified Messaging und Möglichkeiten für Präsentationen sowie Audio- und Videokonferenzen. Zweitens wird inhaltlich eine Programm- und Projektsteuerung ermöglicht, ein Dokumenten-Management-System (DMS) und eine Erfahrungsdatenbank bereit gestellt. 402 Vgl. Hartmann, Matthias: Komplexitätsreduktion als Kunst, in: Hartmann, Matthias (Hrsg.), Berichtswesen für High-Tech-Unternehmen, Berlin 2004, S. 50ff. 403 Vgl. Spur, Günter, Eßer, Gerd (Hrsg.): Produktionsinnovationen, München 2012, S. 7. „inpro Innovationsgesellschaft für fortgeschrittene Produktionssysteme in der Fahrzeugindustrie mbH“: <?page no="279"?> 280 8 Technologiemanagement www.uvk-lucius.de/ innovation Bei der Programm- und Projektsteuerung erfolgt mit Hilfe von Project-Cockpits die Projektfortschrittskontrolle, das Kosten-Controlling, die Prüfung von Unregelmäßigkeiten und gegebenenfalls deren automatische Eskalation. Die DMS ermöglichen einen Zugriff auf standardisierte und gleichzeitig anwenderspezifische Dokumentenformate, verteilen automatisch Änderungsmeldungen an vordefinierte Teams oder Kollegen und kontrollieren die Zugriffsrechte sowie das Ein- und Auschecken von Dokumenten. Drittens wird kontinuierlich eine Erfahrungsdatenbank aufgebaut, die neues Wissen (automatisch) sammelt und an die Teams und Kollegen meldet, die eine verbesserte Entscheidungsfähigkeit ermöglicht und die relevante Daten/ Informationen/ Wissen möglichst konsolidiert und klassifiziert. Hierbei wird zunehmend unternehmensübergreifend (Open Innovation) 404 gearbeitet und global zur Verfügung gestellt. Es kommt somit immer mehr darauf an, bereits vorhandene Informationen zweckorientiert im weltweiten Netz zu recherchieren (Enterprise Analytics for Big Data) 405 . Stichwörter hierzu sind semantische Netze (z.B. der Knowledge Graph von Google), Thesauri und Taxonomie sowie konkreter Enterprise Data Management (EDM), Electronic Records Management (ERM) und Enterprise Content Management (ECM). Digitale Innovations- und Technologieplanung ist eine Antwort auf die zunehmende Komplexität und den permanenten Zeitdruck im Technologiemanagement. Denn die wachsende Komplexität im Zusammenwirken unterschiedlicher Technologien, die Koexistenz alter und neuer Technologien sowie sich verkürzenden Marktzyklen erfordern zunehmend virtuelle Entwicklungen und Tests am Computer. Abschließend sei betont: Die grundlegende Herausforderung unserer Zeit ist die Systematisierung von Wissen, Informationen und Daten. Die darauf aufbauende Bewirtschaftung von Wissen, Informationen und Daten ermöglicht Effektivität und Effizienz im Technologiemanagement. 406 404 Chesbrough, H.: Open Innovation. The new Imperative for Creating and Profiting from Technologies, Boston 2003. 405 Davenport, Thomas A.: Enterprise Analytics, New Jersey 2013. 406 Hartmann, Matthias: Systematische E-Discovery und Information Governance, in: Hartmann, Matthias (Hrsg.): Internationale E-Discovery und Information Governance, Berlin 2011, S. 1-20. <?page no="280"?> 281 www.uvk-lucius.de/ innovation Fragen [1] Was ist eine Technologie? [2] Welche Bedeutung haben Technologien im Wettbewerb von Unternehmen? [3] Warum ist funktional-abstraktes Denken im strategischen Technologiemanagement notwendig? [4] Welche Aussagen können anhand von S-Kurven getroffen werden? [5] Kann die technische Entwicklung vorausgesagt werden? [6] Wie können Technologietrends für die Entwicklung neuer Produkte genutzt werden? [7] Welche Bedeutung hat Zeit im operativen Technologiemanagement? [8] Welcher Zusammenhang besteht zwischen S-Kurven und Erfahrungskurven? [9] Wie kann Wissen aus Sicht des Technologiemanagements systematisiert werden? [10] Was ist das Prinzip des Konstruktionshebels? [11] Was bedeutet systematisches Denken im taktischen Technologiemanagement? [12] Wie ist ein Technologieportfolio strukturiert, und welche Entscheidungen können anhand eines Technologieportfolios vorbereitet werden? [13] Wie kann es zu einer Koexistenz alter und neuer Technologien in einem Unternehmen kommen? [14] Welche Probleme adressiert eine digitale Innovations- und Technologieplanung? Literatur Abele, Eberhard; Reinhard, Gunther: Zukunft der Produktion, München 2011 Burgelman, Robert A.; Christensen, Clayton M.; Wheelwright, Steven C.: Strategic Management of Technology and Innovation, 5. Auflage, New York 2009 Chesbrough, H.: Open Innovation. The new Imperative for Creating and Profiting from Technologies, Boston 2003 Christensen, Clayton M; Matzler, Kurt; Eichen, Stephan: The Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, München 2011 Hartmann, Matthias: Technologie-Bilanzierung, Göttingen 1997 Pfeiffer, Werner: Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung, Göttingen 1971 Pfeiffer, Werner, Metze, Gerhard, Schneider, Walter; Amler, Robert: Technologie-Portfolio zum Management strategischer Zukunftsgeschäftsfelder, 1. Auflage, Göttingen 1982 (6. Auflage, Göttingen 1991) Ropohl, Günter: Allgemeine Technologie. Eine Systemtheorie der Technik, 3., überarbeitete Auflage, Karlsruhe 2009 Schuh, Günther; Klappert, Sascha; Moll, Torsten: Ordnungsrahmen Technologiemanagement, in: Schuh, Günther, Klappert, Sascha, Technologiemanagement: Handbuch Produktion und Management 2, Heidelberg 2011, S. 11-31 Spur, Günter; Eßer, Gerd: Produktionsinnovationen. Jahrbuch der inpro-Innovationsakademie, München 2012 <?page no="282"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 9 Innovationsmarketing von Prof. Dr. Reinhard Hünerberg 9.1 Gegenstandsbereich des Innovationsmarketing Wissensziele Im ersten Kapitel wird die konzeptionelle Basis des Innovationsmarketing erläutert. Dazu sind Inhalt und Umfang der Begriffe Innovation und Marketing und ihre wechselseitige Verbindung festzulegen. Daraus ergibt sich das Verständnis für das Konzept des Innovationsmarketing. 9.1.1 Innovationsbegriff Innovation ist von vielen Autoren ausführlich und teilweise in kontroverser Weise definitorisch behandelt worden. Dazu wurden zahlreiche Kriterien herangezogen, die im Zusammenhang mit Innovationen eine Rolle spielen können (vgl. u.a. Hauschildt / Salomo, 2011, S. 3ff.). Hier wird Innovation ebenfalls nach einer Reihe ausgewählter konstitutiver Begriffsmerkmale beschrieben. Aus ihnen ergeben sich verschiedene Arten der Innovation, die unterschiedliche marketingrelevante Herausforderungen und Aufgaben mit sich bringen. Es wird allerdings von der wissenschaftstheoretischen Auffassung ausgegangen, dass Definitionen kein Wahrheitsgehalt - wie explanatorischen Aussagen - zukommt, sondern lediglich Zweckmäßigkeit, zum Beispiel im Sinne der eindeutigen Begriffsverwendung gemäß dem praktischen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch. 9.1.1.1 Konstitutive Begriffsmerkmale Der Terminus Innovation ist unmittelbar abgeleitet aus dem lateinischen innovare, innovatio = erneuern, Erneuerung. Daher kann der Neuheitsgrad von Bezugsobjekten als zentraler konstitutiver Begriffsbestandteil postuliert werden. Allerdings lässt sich ‚neu’ in unterschiedlicher Weise interpretieren, so dass sich daraus ein durchaus weiter Begriffsumfang mit zahlreichen Innovationsarten ableiten lässt, wie in 9.1.1.2 gezeigt wird. Weiterhin ergibt sich aus dem lateinischen Ursprung des Wortes, dass Innovation das Ergebnis geplanter Aktivität eines Handelnden/ mehrerer Handelnder ist. Als weiteres konstitutives Begriffsmerkmal wird daher die Existenz von Innovatoren und deren geplantem Handeln festgelegt. Wenn es um eine geplante Handlung von Menschen geht, findet der Vorgang über einen Zeitraum in mehreren Stufen statt, es liegt also ein Prozess vor. Daraus folgt das Verständnis von Innovation als einem Prozessablauf. Schließlich impliziert ‚innovare‘ aber auch die Realisierung von etwas Neuem, der Prozess muss zu einem realen Ergeb- <?page no="283"?> 284 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation nis führen. Innovation kann daher zum einen als Prozessablauf, zum anderen als Prozessergebnis verstanden werden. Eine andere Frage ist allerdings, inwieweit sich Letzteres auch als erfolgreich erweist. Innovation kann nach dem Wortursprung als die Schaffung von etwas konkret Neuem durch bewusstes Handeln von Menschen im Rahmen eines Prozesses verstanden werden. 9.1.1.2 Arten der Innovation Aus dem festgelegten Begriffsinhalt ergeben sich zahlreiche Arten der Innovation. Die meisten der den Innovationsausprägungen zugrunde liegenden Dimensionen sind kontinuierlicher Natur, sind also mehr oder weniger stark vorhanden, wie Abbildung 43 zeigt. Es wird die dort verwendete Profildarstellung vorgeschlagen, da die Dimensionen zur Ableitung der Innovationsarten weitgehend kombinierbar sind und in ihrer Gesamtheit spezifische Innovationstypen abbilden. Im Folgenden sei zunächst auf wesentliche Dimensionen verwiesen, die explizit oder implizit aus dem Begriffsinhalt folgen und als Grundlage für die Ableitung von Innovationsarten dienen, (vgl. hierzu u.a. Trommsdorff/ Steinhoff, 2007, S. 26ff.) Der Neuheitsgrad bzw. die Innovationshöhe (z.B. bahnbrechende bzw. disruptive Neuheit, radikale Neuheit, Verbesserungs-Neuheit u.ä.) ergibt sich aus dem Vergleich mit bestehenden Problemlösungen. Das Ergebnis eines Innovationsprozesses kann grundlegend neuartig sein und beispielsweise einen völlig neuen technischen Ansatz darstellen (z.B. Elektroantrieb anstelle Verbrennungsmotor) oder in Verbesserungen mehr oder minder zahlreicher Objektelemente bestehen (z.B. Weiterentwicklung einer Modellreihe). Der Neuheitsgrad einer Innovation entzieht sich selbst aus Expertensicht einer objektiven quantitativen Beurteilung. Der Neuheitsbezugsrahmen determiniert den Geltungsbereich (z.B. für alle Märkte, für spezifische Märkte, für bestimmte - z.B. das eigene - Unternehmen u.ä.). Der Neuheitscharakter hängt wesentlich von der Wahrnehmung durch betroffene Personen ab. Diese beurteilen Neuheit nach ihren Kenntnissen und Erfahrungen. Für die Feststellung des Neuheitsgrades ist daher auf interne Gruppen (Innovatoren, insbesondere Unternehmen) und externe Subjekte (insbesondere Zielgruppen bzw. Märkte) abzustellen. Hieraus resultiert die übliche Unterscheidung in Unternehmens- und Marktneuheit. Es ist jedoch gerade im Falle der Marktneuheit der Markt genauer abzugrenzen. Es kann sich um eine Weltneuheit handeln (globaler Markt), um eine nationale Neuheit (nationaler Markt) oder um Personengruppen in geographisch Märkten wie etwa späte Folger, die Innovationen nicht sofort nach Markteinführung übernehmen. Der Unterschied zu dem vorgenannten Neuheitsgrad ist fließend; denn dieser hängt in den jeweiligen Zielgruppen ebenfalls von deren - subjektiver - Einschätzung ab. Innovationen können mehr oder minder auf physische Gegebenheiten ausgerichtet sein (Materialitätsgrad der Innovation, z.B. physisches Produkt, Dienstleistung). Sie umfassen das Geschäft mit Konsumgütern (B-to-C) sowie den Austausch von Industriegütern und Transaktionen mit sonstigen gewerblichen Abnehmern (B-to-B); aber neben physischen Gütern sind auch Dienstleistungen im B-to-C und B-to-B Bereich zu nennen. Das Kriterium des physischen Anteils einer Innovation ist ebenfalls abge- <?page no="284"?> 9.1 Gegenstandsbereich des Innovationsmarketing 285 www.uvk-lucius.de/ innovation stuft und insgesamt schwer bestimmbar, weil in der Regel eine enge Verknüpfung zwischen materiellen und immateriellen Angebotsbestandteilen vorliegt. So sind rein physische Leistungen selten, da in der Regel schon durch den Verkaufsprozess Dienstleistungselemente einfließen. Innovationen sind mehr oder minder direkt mit einem möglichen Marktangebot verknüpft (Marktrelevanz, z.B. direkte Marktrelevanz, indirekte Marktrelevanz u.ä.). Die vorgenannten Produkt- und Dienstleistungsinnovationen müssen Potenzial für eine Vermarktung besitzen. Zudem lassen sich auch (interne) Prozessabläufe verändern, die der internen Leistungserstellung dienen. Diese Prozessinnovationen können dem Marktangebot, zum Beispiel durch besseres Qualitätsniveau, niedrigeren Preis, neue Standorte, zugutekommen. Zusätzlich kann Kundenausrichtung (z.B. kundenfern, kundennah u.ä.) genannt werden. Innovationen entsprechen mehr oder weniger manifesten oder latenten Bedürfnissen von Kunden. Eine solche Kompatibilität zwischen Angebot und Nachfrage ist häufig Voraussetzung für Marktrelevanz. Sie lässt sich im Vorhinein schwer prognostizieren und ist zudem durch Marketingbemühungen veränderbar. Letztere Möglichkeit wird als Kernaufgabe des Innovationsmarketing im weiteren Verlauf dieses Beitrags thematisiert. Abbildung 43: Profil von zwei Innovationssituationen auf Basis von sechs Innovationsdimensionen <?page no="285"?> 286 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Die Innovation kann mehr oder minder weit von einem praktischen Einsatz entfernt sein (Realisierungsgrad, z.B. manifeste Idee, Pilotprojekt, neu auf einem Markt eingeführtes Angebot). Zwar ist im Zusammenhang mit dem Begriffsinhalt die Realisierung genannt worden, doch kann diese verschieden weit vorangeschritten sein. Eine bloße Idee ist nach dem hier dargelegten Verständnis noch keine Innovation, sondern nur eine Invention. Sobald aber die Idee zu konkreten Realisierungsschritten von Marktforschung, Finanzierung, konkreter Planung über Versuche und Tests bis zur Markteinführung weiterentwickelt wird, lässt sich von Stufen einer Innovationsrealisierung sprechen. 9.1.2 Marketingbegriff Der Marketingbegriff gehört zu den am häufigsten diskutierten Managementtermini (vgl. z.B. Homburg, 2012, S. 6ff.). Je nach Begriffsinhalt bauen darauf verschieden weite Konzepte auf, die dann auch für den Innovationskontext von Bedeutung sind. 9.1.2.1 Inhalt Die Vielzahl der Marketingauffassungen lässt sich grob drei Kategorien zuordnen. Ursprünglich bezog sich Marketing auf die letzte Stufe der Wertschöpfungskette, den Absatz bzw. Verkauf/ Vertrieb. In Deutschland wurde bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts von Absatzwirtschaft gesprochen, ehe sich die anglo-amerikanische Bezeichnung Marketing durchsetzte. Dieses funktionale Verständnis von Marketing ist auch heute durchaus noch verbreitet. Eine andere, eher technische Abgrenzung bezieht sich auf alle unternehmerischen Maßnahmen, die zur Beeinflussung von Märkten herangezogen werden, insbesondere solche kommunikativer Natur. Zudem entwickelte sich das Konzept der marktorientierten Unternehmensführung, das für jegliches unternehmerische Handeln Marktüberlegungen postuliert, sobald der Markt - wie in den meisten Fällen - als Engpass anzusehen ist. Diese unternehmensphilosophische Sicht ging mit einer gewissen Dominanz des Marketing einher, die zahlreiche Unternehmensaufgaben zu Marketingproblemen machte. Beispiele sind Beschaffungsmarketing und internes Marketing bis hin zur Erweiterung des Marketingkonzepts auf alle Austauschprozesse. Im Hintergrund aller drei Ausrichtungen und in diesem Beitrag im Vordergrund stehen explizit oder implizit die passive Anpassung an Marktgegebenheiten, speziell an vorhandene und potenzielle Kunden mit ihren Wünschen, sowie die aktive Marktveränderung, insbesondere durch Transformation latenter in reale Kundenbedürfnisse. Den Abnehmern kommt zwar dominierende Bedeutung zu, aber auch die weiteren Marktbeteiligten wie Konkurrenten, Lieferanten, Distributionsmittler und sonstige Beeinflusser von Marktbedingungen determinieren die Handlungsmöglichkeiten. Marketing kann als die Beeinflussung von Kunden und anderen Marktbeteiligten durch eine marktorientierte Unternehmensführung, die sich letztlich in Absatzerfolgen niederschlagen soll, verstanden werden. <?page no="286"?> 9.1 Gegenstandsbereich des Innovationsmarketing 287 www.uvk-lucius.de/ innovation 9.1.2.2 Innovation und Marketing Die Verknüpfung von Innovation und Marketing zum Innovationsmarketing kann zum einen als die Entwicklung von Innovationen für das Marketing im Sinne neuer Marketingansätze, beispielsweise E-Commerce vor nicht allzu langer Zeit, verstanden werden (vgl. u.a. Belz/ Schögel/ Tomczak, 2007, S. 3ff.). Zum anderen lässt sich Innovationsmarketing auf den Einsatz von (bekannten oder neuen) Marketingkonzepten für innovative Angebote - etwa Werbung für neuartige Finanzierungsprodukte von Banken - beziehen. Im Vordergrund des Interesses steht der letztere Fall, wobei jedoch innovative Marketingansätze nicht außer Acht gelassen werden sollten, zumal Innovationsobjekte neuartige Marketingtechniken zur Realisierung erfordern können. Die verschiedenen zuvor aufgezeigten Innovationsarten können ganz unterschiedliches Marketing notwendig machen. So sind kundenferne Innovationen auf viel weitreichendere Erklärung und Überzeugungsarbeit, also Kommunikationsunterstützung, angewiesen als kundennahe und selbsterklärende oder bereits woanders bzw. schon in vergleichbarer Form vermarktete Innovationen. Daher weist das Innovationsmarketing eine gewisse situationsabhängige Variabilität auf. Christensen (2003, S. XVI ff.) postuliert für disruptive Innovationen sogar die Notwendigkeit völlig neuartiger - „revolutionärer“ - Vorgehensweisen. Abbildung 44: Der generelle Marketingprozess als Basis für Innovationsmarketing Situationsanalyse u. -prognose Marktverhältnisse (Nachfrage, Konkurrenz, Partner) Makrobedingungen eigenes Unternehmen Zielfestlegung Ableitung von Marketingzielen aus Unternehmenszielen (langfristig / kurzfristig) Strategiewahl Marktfestlegung Marktverhalten / -positionierung Marktimplantation / -zutritt Instrumentaleinsatz Leistungspolitik Entgelt- und Vertragspolitik Distributionspolitik Implementierung Informationsbeschaffung Planung Kontrolle Organisation / Führung Kommunikationspolitik <?page no="287"?> 288 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Innovationsorientiertes Marketing selbst ist über das Bezugsobjekt - die genannten verschiedenen Typen von Innovationen - hinaus zunächst keine spezielle Marketinglehre, sondern greift auf die Aufgaben und Lösungsansätze zurück, die bei allen Marktproblemen betrachtet werden. Allerdings sind die zu lösenden Probleme durch spezifische Bedingungen, teilweise besondere Komplexität, geprägt, so dass innovationsorientierte Marketingkonzepte spezielle situationsbezogene Einzelfalllösungen sind, die durch die aufgezeigten konstitutiven Begriffsmerkmale von Innovationen eine gemeinsame Prägung aufweisen. In den Kapiteln 9.2 bis 9.4 werden daher die typischen Aufgabenstellungen des Marketingmanagement aus Innovationssicht untersucht und für verschiedene Innovationstypen grundsätzliche Lösungsvorschläge abgeleitet. Dabei handelt es sich um die Situationsanalyse bzw. -prognose, die Setzung von Marktzielen, die Formulierung von Marktstrategien, den Einsatz von Marketinginstrumenten, jeweils auf Basis von Informations-, Planungs- und Kontrolltechniken (vgl. Abbildung 44). Da es sich bei Letzteren um eingeführte betriebswirtschaftliche Methoden handelt, wird auf diese im vorliegenden Beitrag - anders als bei vielen Autoren, die sich mit Innovationsmarketing beschäftigen (vgl. z.B. Trommsdorff/ Steinmann, 2007) - nicht im Detail eingegangen. Innovationen enthalten mehr oder minder zahlreiche objektive und/ oder subjektive Neuheitselemente. Die Spannbreite der Ausprägungen ist weit und kann insbesondere durch Neuheitsgrad, Neuheitsbezugsrahmen, Materialitätsgrad, Marktrelevanz, Kundenausrichtung, Realisierungsgrad gekennzeichnet werden. Marketing wird in weiter Abgrenzung als marktorientierte Unternehmensführung verstanden; Innovationsmarketing ist auf die Spezifika der einzelnen Innovationssituationen angewandtes Marketing. Fragen 1. Was folgt aus dem etymologischen Ursprung des Terminus Innovation? 2. Warum ist der Innovationsbegriff wenig präzise? 3. Wie lässt sich Marketing definieren? 4. Warum ist die Dimension Kundenausrichtung von besonderer Bedeutung für das Innovationsmarketing? 5. Worauf beruht die Besonderheit einer Fachrichtung Innovationsmarketing? <?page no="288"?> 9.2 Situationsanalyse für Innovationen 289 www.uvk-lucius.de/ innovation 9.2 Situationsanalyse für Innovationen 9.2.1 Externe Situation 9.2.2 Interne Situation 9.2.3 Innovationsspezifische SWOT-Analyse Die Situationsanalyse/ Situationsprognose bezieht sich in vereinfachter Form regelmäßig auf die Situation am Markt (externe Marktfaktoren: Opportunities and Threats bzw. Chancen und Risiken) sowie die Situation des eigenen Unternehmens (interne Unternehmensfaktoren: Strengths and Weaknesses bzw. Stärken und Schwächen). Die SWOT-Analyse verbindet diese vier Grundausprägungen miteinander (vgl. u.a. Piercy, 2008, S. 259ff.). Für Innovationszwecke ergeben sich dabei besondere Herausforderungen. 9.2.1 Externe Situation Die externe Marktsituation mit ihren Chancen und Risiken ist geprägt durch eine Reihe von Einflussgrößen, welche Erfolgsfaktorenbzw. Misserfolgsfaktoren von Innovationen darstellen. Hier wird von drei großen Kategorien ausgegangen, aus denen Innovationstreiber oder Innovationsblockaden resultieren: Makro-Umfeld, Marktverhältnisse, Technologiesituation (vgl. aus internationaler Perspektive u.a. Wright/ Hünerberg, 2011, S. 24ff.). 9.2.1.1 Makro-Umfeld Das Makro-Umfeld beinhaltet generelle, von einzelnen Unternehmen kaum beeinflussbare Rahmenbedingungen politischer, rechtlicher, soziographischer und demographischer, makroökonomischer, kultureller und anderer Art, welche den weiteren Rahmen für wirtschaftliches Handeln auf Märkten aufspannen. Beispiele für entsprechende Sachverhalte sind politische Entscheidungsstrukturen, gesetzliche Wettbewerbsregelungen, Bedeutung sozialer Gruppen, Bevölkerungsentwicklung, Bruttoinlandsprodukt. Im Zusammenhang mit Innovationen geht es dabei insbesondere um die Frage, inwieweit die Existenz eines bestimmten Umfeldes Entstehung und Realisierung von Innovationen eher fördert oder hindert. Dabei handelt es sich zum einen um die generelle „Innovationsatmosphäre“, zum anderen um konkrete Einzeleinflüsse. So dürfte die Chance, dass Innovationsideen überhaupt generiert und weiterentwickelt werden, in einem günstigen wirtschaftlichen Umfeld mit entsprechenden Belohnungsanreizen für Innovatoren höher sein. Positiv werden sich das Vorhandensein staatlicher Förderprogramme, eine entsprechende Ausbildung und kulturelle Prägung der Bevölkerung mit Blick auf Innovationsinitiativen und Innovationsakzeptanz sowie freiheitliche Gesellschaftsstrukturen auswirken. Der Schutz von Ideen bzw. ihrer Realisierung durch gewerbliche Schutzrechte ist ein weiterer genereller Anreiz für innovatives Handeln. Konkrete politische, wirtschaftliche und sonstige nationale bzw. supranationale Entscheidungen können nicht nur die generelle Atmosphäre für Innovationen prägen, <?page no="289"?> 290 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation sondern auch direkte Felder der Innovation erschließen oder blockieren. Beispielhaft sei auf die politische Entscheidung zur sogenannten Energiewende in Deutschland verwiesen, die Innovationen in bestimmten Bereichen wie nachhaltiger Energieerzeugung positiv beeinflusst und negative Auswirkungen für andere, speziell die Kernenergie, hat. Das Montrealer Abkommen zum Schutz der Ozonschicht (u.a. Verbot der FCKW) von 1989 ist ein Beispiel für ein multilaterales Abkommen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Innovationstätigkeit. 9.2.1.2 Marktverhältnisse Marktverhältnisse beschreiben die durch Unternehmen grundsätzlich beeinflussbare Nachfrage-, Konkurrenz- und Partnersituation auf Märkten. Hierzu gehören insbesondere Zahl, Art und Verhalten der auf Märkten befindlichen und potenziell hinzutretenden Akteure. Gerade Informationen über mögliche Kunden stellen die besondere Herausforderung für die Marktforschung dar, denn es gilt herauszufinden, in welche Richtung sich Bedürfnisse bewegen bzw. leiten lassen. Aus der Innovationsperspektive ist nicht nur abzuschätzen, für welche Kunden/ Kundengruppen geplante bzw. mögliche Innovationen relevant sein können, sondern wie Reaktionen bei infrage kommenden Kunden, aber auch bei Wettbewerbern und bei Partnern, etwa dem Handel, im Einzelnen aussehen werden (vgl. 9.5.1.1). Die Nachfrageseite ist insbesondere auch auf ihre Innovations(akzeptanz)neigung zu überprüfen. Es gibt mehr oder minder innovationsfreudige Nachfrager. In diesem Zusammenhang spielt der (idealtypische) Verlauf der Innovationsadoption eine Rolle, der in aggregierter Betrachtung z.B. zu den Gruppen der Frühadopter, frühen Mehrheit, späten Mehrheit, Nachzügler führt (vgl. Rogers, 2003, S. 282ff.). In diesem Beitrag wird allerdings nur zwischen frühen und späten Adoptern differenziert (vgl. z.B. 9.5.2.2). Selbst Einzelpersonen können - gerade als besonders frühe Adopter („Innovationsführer“) - eine zentrale Rolle spielen, speziell im Zusammenhang mit der Kommunikation (vgl. 9.5.3.3). Bei der Konkurrenz ist zwischen genereller Konkurrenz durch Wettbewerber der gleichen oder verwandter Branchen und spezieller Innovationskonkurrenz zu unterscheiden. Branchenwettbewerber können auf Innovationen mit Marketingmaßnahmen für eingeführte Produkte wie Preisreduktionen, Kommunikationsmaßnahmen usw. reagieren. Es ist aber auch spezieller Innovationswettbewerb denkbar, wenn eine Reaktion durch Gegeninnovationen oder Imitationen erfolgt. Hierbei spielt der Reaktionszeitraum der Konkurrenten eine ausschlaggebende Rolle, der zu einem mehr oder minder ausreichenden zeitlichen Innovationsvorsprung für den ursprünglichen Innovator führen kann. Der globale Wettbewerb zwischen Apple und Samsung bei Smart Mobile Phones und Tablet PCs ist ein Beispiel hierfür, das gleichzeitig die Bedeutung des Rechtsrahmens und der Rechtsprechung aufzeigt. Häufig kann die mangelnde Akzeptanz von Innovationen durch Partner den Markterfolg verhindern, besonders wenn die Abhängigkeit von diesen hoch ist. Daher ist die (potenzielle) Partnersituation ein wesentliches Analysefeld. Der Markt ist rechtzeitig mit Blick auf die notwendige Mitwirkung von Partnern an der Innovationsvermarktung zu untersuchen. So kann ein grundlegendes Spannungsfeld zwischen eigener Innovationspolitik und der von Partnern vorliegen. Beispielsweise stoßen die Herstellerbemühungen um <?page no="290"?> 9.2 Situationsanalyse für Innovationen 291 www.uvk-lucius.de/ innovation die Vermarktung von Lebensmittel-Innovationen an Grenzen der Innovationsakzeptanz des Lebensmittelhandels (vgl. 9.5.4.2). Andererseits können marktmächtige Innovatoren auf Distributionsmittler u.U. erheblichen Einfluss nehmen. 9.2.1.3 Technologiesituation Die Technologiesituation bezieht sich auf den Grad des technologischen Fortschritts, die Verfügbarkeit von Technologie und die daraus resultierende technologische Infrastruktur in einem definierten Markt. Sie ist eine wesentliche Rahmenbedingung speziell für stark technologisch geprägte Innovationen. Je höher entwickelt ein Markt in dieser Hinsicht ist, umso mehr sind Innovationen mit hohem absolutem Neuheitsgrad für einen Wettbewerbsvorsprung erforderlich. Weniger entwickelte Märkte können dagegen durch Übernahme von Technologien, die bereits in anderen Märkten existieren, innovativen Fortschritt bedeuten. Allerdings ist die Erwartung potenzieller Kunden zu berücksichtigen, die sich wegen internationaler oder sogar globaler Vernetzung an der Technologiesituation in führenden Technologiemärkten orientieren können. So lassen sich Mode- und Technikinnovationen heute häufig nicht auf Teilmärkte eingrenzen und von anderen abkoppeln. In Schwellenländern etwa ist der Übernahmedruck für bestimmte Innovationen, die zu Statussymbolen geworden sind wie die neueste Smartphone-Generation, besonders hoch. Es ist schwierig, die Technologiesituation in Märkten zu messen. Am ehesten möglich ist das in geographisch abgegrenzten Märkten, insbesondere in Staaten. Zu unterscheiden ist zwischen der aktiven Technologiestärke im Sinne des Erfindungsreichtums der in einem Lande lebenden Bevölkerung (z.B. auf Basis des Kriteriums der Zahl an Patentanmeldungen) und der passiven Technologiestärke im Sinne der zuvor erwähnten Übernahme von Technologien (z.B. als Nutzung für die Infrastruktur oder als Ausstattungsgrad der Gesamtbevölkerung mit bestimmten Technologieprodukten). Auch die Zahl der in der (angewandten) Forschung Beschäftigten, die Anzahl an Forschungsinstitutionen, der zur Verfügung gestellten Forschungsgelder und weiterer Kriterien des Makro-Umfeldes prägen die Technologiesituation und die daraus resultierende aktive Innovationskraft. 9.2.2 Interne Situation Die interne Situation bezieht sich auf das eigene Unternehmen, das als Innovator auftritt bzw. auftreten will. Es sind alle Faktoren, die Innovationen generell bzw. spezifische Innovationsvorhaben betreffen, zu berücksichtigen. Als wesentliche interne Einflusskategorien sind finanzielle Faktoren, organisatorisch-personelle Struktur, spezifische Marketing- und Innovationskompetenz zu nennen (vgl. u.a. Hauschildt/ Salomo, 2011, S. 25ff.). Die finanzielle Eigen- und Fremdkapitalbasis ist häufig eine Restriktion für Innovationsprojekte. Die Einwerbung von Risikokapital kann eine zentrale Voraussetzung für umfangreiche Innovationsvorhaben sein. Nicht nur die Innovationen als solche, sondern auch die Möglichkeiten des Innovationsmarketing werden durch die finanziellen Ressourcen determiniert, da hier Marketingmaßnahmen regelmäßig mit investitionsartigen Ausgaben, z.B. für größere Werbekampagnen oder Distributionswegeerschließung, erforderlich sind. <?page no="291"?> 292 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Die organisatorisch-personelle Struktur im Innovationskontext betrifft die Innovationskultur des Unternehmens und deren Förderung durch entsprechende Aufbau- und Ablaufstrukturen. Entscheidend für den Innovationsdruck im Unternehmen und den Innovationserfolg ist die personelle Ausstattung. Innovationsorientierung von der Leitungsbis zur Ausführungsebene und die Existenz entsprechender Anreize ist daher eine zentrale interne Stärke. Marketing- und Innovationskompetenz beruht wesentlich auf Erfahrungen mit generellen Marketingaktivitäten und speziell mit der Vermarktung von Innovationen. Diese Kompetenzeigenschaft ist eng verbunden mit der erwähnten organisatorisch-personellen Unternehmensstruktur. Hinzu kommen die interne Verfügbarkeit über Marktdaten, z.B. zu den Marktverhältnissen, und deren intelligente Nutzung sowie die Einbindung in innovationsorientierte Netzwerke, z.B. an Hochschulen. Schließlich ist eine entsprechende Reputation für Innovatoren von Bedeutung, denn ein bestehendes Image als innovationsfreudiges und -erfolgreiches Unternehmen vermag Akzeptanzbarrieren in Märkten abzubauen. 9.2.3 Innovationsspezifische SWOT-Analyse Die SWOT-Analyse für Zwecke des Innovationsmarketing besteht in einem ersten Schritt in der Zusammenstellung der externen und der internen innovationsrelevanten Rahmenbedingungen positiver und negativer Art, wie in 9.2.1 und 9.2.2 beispielhaft aufgezeigt. Es ist dabei besonders zu beachten, dass es sich um eine zukunftsorientierte Analyse handeln muss, also die Gegenwartsbzw. Vergangenheitssituation, welche die Basis darstellt, in die Zukunft überführt wird. Aus der Verknüpfung dieser prognostizierten Stärken/ Schwächen und Chancen/ Risiken ergeben sich Grundsatzaufgaben, die unmittelbar einen Rahmen für spezifische Marketingzielsetzungen bilden, wie sie in 9.3 dargestellt werden. Abbildung 45 gibt einen Überblick hierzu. Abbildung 45: Rahmenschema für innovationsspezifische SWOT-Analyse Chancen (Opportunities) Risiken (Threats) Stärken (Strengths) Schwächen (Weaknesses) Markt Unternehmen Einsatz interner Innovationsstärken zur Nutzung von externen Innovationschancen Nutzung von externen Innovationschancen zur Überwindung interner Innovationsschwächen Einsatz interner Innovationsstärken zur Überwindung von externen Innovationsrisiken Minimierung interner Innovationsschwächen und Vermeidung externer Innovationsrisiken 1 4 3 2 <?page no="292"?> 9.2 Situationsanalyse für Innovationen 293 www.uvk-lucius.de/ innovation Die Schwierigkeit liegt darin, dass in der Regel im Unternehmen nicht durchgängig Stärken oder Schwächen, auf Märkten nicht durchgängig Chancen oder Risiken vorliegen, sondern gemischte Situationen vorherrschen, die insgesamt zu einer jeweils eher positiven oder negativen Lage führen. Daher ist eine Detailanalyse für jede Variablenkombination vorzusehen. Beispielhaft sei für jedes der vier Felder ein möglicher Fall genannt. Der erste Fall stellt die günstigste Situation dar. Beispielsweise kann die Erfahrung des Unternehmens mit der Vermarktung vergleichbarer Innovationen (Stärke) eingesetzt werden, um eine latente Akzeptanz für einen weiteren Innovationsschritt (Chance) in Verkaufserfolge zu überführen. Anführen ließe sich die Einführung einer neuen Generation von Mobiltelefonen durch einen der Global Player auf diesem Gebiet. Der zweite und der dritte Fall enthalten eine positive und eine negative Komponente. Im zweiten Fall könnte etwa eine erkennbare Akzeptanz bei der Zielgruppe (Chance) dazu dienen, erstmals als Innovator aufzutreten und mangelnde Erfahrung mit der Einführung von Innovationen (Schwäche) auszugleichen. Anführen ließe sich ein neu gegründetes Unternehmen, das mit einer vom Markt begrüßten innovativen Idee in den Markt eintritt. Im dritten Fall seien Größe und überlegene Finanzkraft (Stärken), die starke Innovationskonkurrenz (Risiko) überwinden hilft, als Beispiel genannt. Hier sind Großunternehmen anzuführen, die sich als späte Folger einem Trend anschließen. Der vierte Fall repräsentiert die ungünstigste Ausgangssituation, die häufig zur Aufgabe der Innovationsidee führen wird. Gibt es jedoch auch positive Variablenausprägungen, kann dennoch eine erfolgreiche Innovationsvermarktung möglich werden. Liegen beispielsweise Kapazitätsengpässe in der Produktion vor (Schwäche) und uneinheitliche gesetzliche Restriktionen auf den verschiedenen Ländermärkten (Risiko), so können einerseits Reorganisation und Outsourcing, andererseits die (vorläufige) Begrenzung auf einige Länder in Betracht kommen. Dieser Fall kann etwa beim Eintritt von KMU (Klein- und Mittelunternehmen) in den globalen Markt gegeben sein. Die Innovationssituation ist geprägt durch externe und interne Bedingungen. Externe Bedingungen ergeben sich einerseits aus der allgemeinen, kaum beeinflussbare Makro-Situation politischer, gesetzlicher, wirtschaftlicher, kultureller und sonstiger Art. Andererseits sind die Marktverhältnisse, die aus dem Verhalten aller Marktteilnehmer resultieren und unternehmerischer Veränderung bedingt zugänglich sind, zu beachten. Für Innovationen spielt zudem das Technologieumfeld eine besondere Rolle. Auch intern können Unternehmen unterschiedlich gut für Innovationen aufgestellt sein. Innovatoren müssen durch Marktforschung alle sie betreffenden innovationsrelevanten Vor- und Nachteile als Basis von Marketingentscheidungen analysieren. Dabei ist insbesondere die SWOT-Klassifikation hilfreich. <?page no="293"?> 294 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Fragen 1. Welche Elemente des Makroumfeldes können das Innovationsgeschäft beeinflussen? 2. Welche (potenziellen) Marktpartner sind zu berücksichtigen? 3. Für welche Innovationssituationen spielt das Technologieumfeld eine besondere Rolle? 4. Wie beeinflussen interne Bedingungen das Innovationsmarketing? 5. Wie geht die SWOT-Analyse vor? 9.3 Marktziele für Innovationen 9.3.1 Ökonomische Ziele 9.3.2 Vor-ökonomische Ziele Marktziele für Innovationen sind wie alle Marktziele entweder direkt auf ökonomische Größen bezogen - Gewinn, Kosten, Umsatz, Marktanteil usw. - oder auf Variablen, die diese beeinflussen und damit Marktrelevanz besitzen, beispielsweise Kundenvertrauen, Kundenzufriedenheit, Kundenloyalität, Markenbekanntheit, Image. Letztere lassen sich auch als vor-ökonomisch bezeichnen. Im Folgenden werden beide Marktziel-Kategorien mit Blick auf Innovationen beschrieben. 9.3.1 Ökonomische Ziele Unternehmerische Innovationen dienen letztlich dazu, Unternehmenserfolg zu erreichen, sicherzustellen, auszubauen; diese Ziele sind als Markt-Output-Ziele anzusehen (vgl. zu Innovationszielen u.a. Wentz, 2008, S. 5ff., 53ff.). Innovationen können einerseits als eine wesentliche Möglichkeit angesehen werden, in den Markt einzutreten und dort Umsätze und Gewinne zu generieren. Andererseits bedeutet es für bereits am Markt agierende Unternehmen die Chance, eine wahrgenommene Umsatz- oder Wachstumslücke, die bereits besteht oder für die Zukunft prognostiziert wird, zu schließen. Derartige Lücken ergeben sich insbesondere dadurch, dass Produkt- und Technologielebenszyklen regelmäßig endlich sind und zudem Konkurrenzangebote das Absatzpotenzial verringern oder ihrerseits durch Innovationen den Markt verändern. Die Alternative einer Intensivierung des Absatzes bestehender Angebote, um Umsatzbzw. Gewinnniveau aufrechtzuerhalten oder sogar zu steigern, z.B. durch Eintritt in weitere Märkte oder Einsatz von Marketinginstrumenten, ist häufig nicht realisierbar oder bringt zu hohe Kosten mit sich. Daher gibt es zum einen den Zwang zur Innovation, zum anderen aber steht jede Innovation unter dem Primat der Erreichung ökonomischer Marktziele. Im Einzelnen lassen sich durch das neuartige Angebot Neukunden gewinnen, die bislang vergleichbare Angebote, falls vorhanden, überhaupt nicht genutzt haben; es kann die Nutzungsintensität bestehender Kunden gesteigert werden, indem diese (vorzeitig) zum neuen Angebot wechseln bzw. dieses zusätzlich kaufen, oder es lassen sich Nutzer <?page no="294"?> 9.3 Marktziele für Innovationen 295 www.uvk-lucius.de/ innovation vergleichbarer Angebote wegen des höheren Innovationsnutzens von Konkurrenten abwerben. Innovationen sind allerdings in verschiedener Weise mit dem Unternehmenserfolg auf Märkten verbunden. Ein Sonderfall sind auf das eigene Unternehmen gerichtete Innovationen, durch die sich interne Abläufe im Unternehmen, beispielsweise in Produktion oder Verwaltung, effizienter gestalten lassen, so dass Kosteneinsparungen größere Preisspielräume und damit ökonomisch erfolgreicheres Agieren am Markt ermöglichen. Selbst bei gleichbleibendem Absatz führt die Zielsetzung der Kosteneinsparung zur Gewinnsteigerung, also zur Realisierung verbesserten Unternehmenserfolges. Besonderer Erwähnung darf die häufige Verwendung des Marktanteils als Zielsetzung. Der Marktanteil wird durch die Abgrenzung des relevanten Marktes determiniert. Wenn nur die Innovation eines Unternehmens in einem Markt zur Marktdefinition herangezogen wird, ist die Verwendung dieses Zielkriteriums ohne Bedeutung, da der Marktanteil 100% beträgt. Daher spielt der Marktanteil im Innovationskontext nur dann eine Rolle als ökonomische Zielsetzung, wenn der Markt weiter festgelegt wird, so dass er auch andere Produkte - von Wettbewerbern - einschließt. 9.3.2 Vor-ökonomische Ziele Die vorgenannten ökonomischen Marktziele bilden also den generellen marktorientierten Zielrahmen für jegliche Innovationsaktivitäten. Diese sind allerdings durch die Erfüllung vorgelagerter, überwiegend nicht-ökonomischer Ziele zu bewirken; denn eine direkte Erfüllung ökonomischer Ziele, etwa im Rahmen von Zielvorgaben für bestimmte Abteilungen im Unternehmen, ist häufig nicht operational. So muss jede Innovation einen USP (unique selling proposition) generieren, der von den potenziellen Kunden als solcher auch wahrzunehmen ist. Er stellt sicher, dass das Angebot insgesamt aus Kundensicht etwas Besonderes ist, einen Konkurrenzvorteil aufweist. Trommsdorff/ Steinhoff (2007, S. 73ff.) bezeichnen ihn daher auch als CIA (competitive innovation advantage) und sehen ihn auf Basis zahlreicher Untersuchungen als zentralen Innovationserfolgsfaktor an. Nur bei Vorliegen eines USP ist eine nachhaltige Kundenpräferenz mit daraus folgender potenzieller Kundenzufriedenheit und Kundenbindung zu erreichen, er ist als vorgeordnetes vor-ökonomisches Marktziel anzusehen. Da es entscheidend ist, dass der USP durch Kunden subjektiv wahrgenommen wird, ist zunächst einmal ein gewisser Bekanntheitsgrad der Innovation erforderlich. Um das zu erreichen, ist wiederum die Aktivierung von Personen, das heißt eine entsprechende innovationsbezogene Aufmerksamkeit bei möglichst vielen Gelegenheiten anzustreben. Dieses Ziel bezieht sich auf die Überwindung einer schwerwiegenden Restriktion. Insbesondere im Konsumgütersektor ist eine extreme Informationsüberflutung zu konstatieren, welche den Beachtungserfolg von Marktneuheiten zu einer besonderen Herausforderung macht (vgl. hierzu und zu den verhaltenswissenschaftlichen Zielsetzungen u.a. Kroeber-Riel/ Weinberg/ Gröppel-Klein, 2009, S. 55ff.) Zudem müssen die Beachtung der Innovation und das Wissen über die Innovation emotional und kognitiv positiv geprägt werden. Hilfreich hierbei sind ein positives Image des innovierenden Unternehmens sowie die Beeinflussung wesentlicher Informationsquellen, welche die potenziellen Käufer nutzen, beispielsweise entsprechende Referenzgruppen und Mei- <?page no="295"?> 296 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation nungsführer. Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich die wesentlichen vor-ökonomischen und primär zu erreichenden Zielsetzungen, die in vereinfachter Form und in ihrer Rolle im Verbund mit ökonomischen Zielsetzungen in Abbildung 46 dargestellt sind. Dabei sind Innovationsakzeptanz und (grundsätzliche) Kaufbereitschaft auf Basis eines wahrgenommenen USP die zentralen Aspekte positiver Einstellung. Im Allgemeinen stellen sie die Voraussetzung für einen Kauf dar und sind somit die entscheidenden vor-ökonomischen Marktziele (vgl. zur Akzeptanzforschung bei technologischen Innovationen, z.B. Königstorfer, 2008, S. 19ff.). Abbildung 46: Zielsetzungen im Innovationsmarketing Die angeführten vor-ökonomischen Zielsetzungen können auch als kommunikative Ziele bezeichnet werden, denn sie betreffen im Wesentlichen Ergebnisse der Interaktion mit potenziellen Nachfragern. Da hierfür in erster Linie explizite Kommunikationsaktivitäten einzusetzen sind, wird im Rahmen des Marketinginstruments Kommunikation auf diese Ziele im Einzelnen eingegangen (vgl. 9.5.3.1). Alle genannten ökonomischen und vor-ökonomischen Ziele beziehen sich auf Wirkungen am Markt, und ihre Erfüllung determiniert den Markterfolg. Es gibt aber auch eher vordergründige, direkt mit der Innovationsaktivität verbundene Ziele, etwa die Markteinführung einer bestimmten Anzahl neuer Produkte, ein Ziel, das sich z.B. manchmal pharmazeutische Unternehmen vorgeben. Derartige Zielsetzungen sind auf das gesamte Innovationsportfolio bezogen, für die einzelnen Produkte sind aber auch hier ökonomische und vor-ökonomische Ziele zu verfolgen. Aufmerksamkeit für Innovation schaffen und USP vermitteln positive emotionale und kognitive Prozesse im Zusammenhang mit der Innovation bewirken positive Einstellung zur Innovation aufbauen Akzeptanz und Kaufbereitschaft Aufbau bzw. Nutzung eines positiven Unternehmensimage Beeinflussung von Referenzgruppen und Meinungsführern ökonomische Ziele erreichen: Marktanteile, Umsätze, Gewinne etc. erzielen <?page no="296"?> 9.4 Marktstrategien für Innovationen 297 www.uvk-lucius.de/ innovation 1. Der Innovationsprozess ist an Markt-Output-Zielen auszurichten. Das sind letztlich immer ökonomische Ziele wie Umsätze und Gewinne. Dazu gehören auch interne Effizienzziele mit indirekter Marktwirkung. Ökonomischen Zielen vorgelagert sind vor-ökonomische Ziele, die als Unterziele der Sicherstellung verhaltenswissenschaftlicher Wirkungen dienen (u.a. Erreichung von Aufmerksamkeit, Bekanntheit, positiver Einstellung, Akzeptanz und Kaufbereitschaft). Zentral ist dabei ein von Kunden wahrzunehmender Konkurrenzvorteil (USP). Fragen 1. Welche Bedeutung haben ökonomische Zielsetzungen im Innovationskontext? 2. Welche Rolle spielen wahrgenommene Alleinstellungsmerkmale? 3. Warum ist die Aufmerksamkeitswirkung eine entscheidende Zielsetzung? 4. Welche weiteren vor-ökonomischen Ziele müssen verfolgt werden? 5. Wie stehen ökonomische und vor-ökonomische Zielsetzungen im Verhältnis zueinander? 9.4 Marktstrategien für Innovationen 9.4.1 Marktfestlegung 9.4.2 Marktzutritt 9.4.3 Marktverhalten Zahlreiche Unternehmensstrategien - als langfristige und das Gesamtunternehmen betreffende Festlegungen - beziehen sich auf die externe Umwelt, das heißt den Markt und sein Umfeld, speziell die Marktteilnehmer. Zu den grundsätzlichen Marktstrategien gehören die Entscheidung über die Definition des Zielmarktes, die Entscheidung, wie der Zugang in diesen festgelegten Markt erfolgen soll bzw. wie ein bereits bearbeiteter Markt zu verteidigen ist, sowie die Entscheidung, wie das Wettbewerbsverhalten auf diesem Markt grundsätzlich gestaltet werden soll. Der daraus resultierende Mix von Marktstrategievarianten ist eine Basisfestlegung auf dem Wege zur Erreichung der Marktziele. Auch das Innovationsmarketing erfordert Entscheidungen über derartige Marktstrategien; diese sind durch die Besonderheiten der jeweiligen Innovationsvorhaben sowie der Innovationssituation geprägt. 9.4.1 Marktfestlegung Die Marktfestlegung bezieht sich auf die drei Dimensionen der geographischen Abgrenzung, der Zielpersonenabgrenzung und der Abgrenzung der Angebotsausrichtung. Über diese drei Festlegungen ist möglichst simultan zu entscheiden (vgl. Hünerberg, 1994, S. 97ff.). Es ergeben sich daraus mehr oder minder zahlreiche und mehr oder <?page no="297"?> 298 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation minder umfangreiche Marktsegmente, wie Abbildung 47 symbolisiert. Aus diesen sind die für Innovationszwecke geeigneten Märkte auszuwählen. 9.4.1.1 Geographische Abgrenzung Die geographische Abgrenzung reicht von der Identifizierung lokaler Märkte bis zu globaler Abdeckung. Es hängt von der Art der Innovation und des dahinterstehenden Unternehmens ab, wie die entsprechende Definition und nachfolgende Selektion von Märkten vorgenommen wird. Grundlegend hierfür sind neben den internen Unternehmensstärken und -schwächen insbesondere die Einschätzung von Chancen und Risiken der Innovationsvermarktung in sich ergebenden bzw. ausgewählten Marktgebieten (vgl. 9.2.3). Abbildung 47: Dimensionen und Beispiele für Ergebnisse der Marktfestlegung Grundsätzlich sind ein einziges geographisches Gebiet bzw. einige wenige und/ oder kleine geographische Segmente mit Blick auf Innovationen leichter handhabbar als zahlreiche und/ oder große Märkte, beispielsweise mit Blick auf den Einsatz von Marketinginstrumenten. Hinzu tritt eine tendenziell geringere Zahl von potenziellen Konkurrenten und einfacherer (patentrechtlicher) Schutz. Andererseits ist das Erfolgspotenzial in großen Märkten höher, bei zahlreichen voneinander abgegrenzten geographischen Gebieten (Staaten) bestehen die Chancen eines Risikoausgleichs und von Ausweichmöglichkeiten auf jeweils andere Gebiete bei auftretenden Schwierigkeiten. Aus patentrechtlicher Sicht ist die geographische Abgrenzung des Zielgebiets auf Basis von Staatsgrenzen notwendig; Subgebiete innerhalb eines Staates oder die Addition mehrerer solcher Gebiete zu transnationalen Segmenten (z.B. Großstädte mehrerer Länder) sind zwar für die faktische Vermarktung vorstellbar, bedeuten aber eine komplexe Herausforderung für die patentrechtliche Absicherung (vgl. 9.5.1.3). <?page no="298"?> 9.4 Marktstrategien für Innovationen 299 www.uvk-lucius.de/ innovation Die geographische Marktsegmentierungsdimension kann zum einen als eigenständige Determinante der Marktfestlegung verstanden werden. So können bestimmte Eigenschaften eines Gebietes ursächlich dafür sein, dass die Innovationsvermarktung gerade dort stattfinden soll. Das ist der Fall, wenn sich Innovationsinhalte auf derartige Gebietseigenschaften beziehen, beispielsweise auf die Überwindung von Herausforderungen durch Verhältnisse klimatischer, geologischer, demografischer, technologischer, wirtschaftlicher Art usw. So gibt es zahlreiche innovative Lösungen für unterentwickelte Länder bezüglich Wasser-, Energie-, Informationsversorgung u.ä. Nokia etwa entwickelt neuartige Mobiltelefone für die wirtschaftliche Situation und extreme Gebrauchsumstände in „Dritte-Welt-Ländern“ (vgl. z.B. Rohwetter 2012). Zum anderen ist die geographische Marktabgrenzung Folge der Entscheidung für zu erreichende Zielgruppen, sofern sich diese in bestimmten Gebieten befinden. In diesem Fall sind die Zielpersonen die determinierende Dimension der Marktfestlegung, wenngleich sich aus der daraus resultierenden Länderwahl besondere Anforderungen und Risiken, eventuell sogar Ausschlussnotwendigkeiten, etwa wegen der politischen Instabilität von Staaten, für die Innovationsvermarktung ergeben können. Falls die Zielpersonen in vielen oder allen geographischen Marktsegmenten auftreten, sind die geographische und die Zielpersonendimension relativ unabhängig voneinander festlegbar. 9.4.1.2 Zielpersonen Die Bestimmung von Zielpersonen bzw. -unternehmen ist die zentrale Entscheidung im Rahmen der Marktfestlegung; denn diese sind als potenzielle Kunden für einen angestrebten zukünftigen Erfolg der Innovation primär verantwortlich. Die Definition der Zielpersonen erfolgt über Kriterien demographischer, soziographischer, psychographischer, wirtschaftlicher und sonstiger Art. Auf dieser Basis wird der Gesamtmarkt, der bereits durch geographische Festlegungen eingegrenzt sein kann, in mehrere zielgruppenspezifische Teilmärkte zerlegt. Eines oder mehrere dieser Segmente sind dann als Zielmärkte auszuwählen. Für die Vermarktung von Innovationen spielt deren Anwendbarkeit/ Einsetzbarkeit durch bestimmte Zielgruppen als übergeordnetes Kriterium eine entscheidende Rolle. Für Innovationen, die Sehhilfen betreffen, kommen z.B. nur Personen mit Augenproblemen in Betracht. Diese lassen sich u. U. durch weitere Kriterien, etwa demographischer Art wie Alter, beschreiben. Infrage kommende Zielgruppen können dann Berufsgruppen, Personen mit bestimmten Hobbys, Menschen in spezifischen Lebenssituationen, Einkommensschichten, Unternehmen bestimmter Branchen oder mit speziellen Fertigungsverfahren/ Produktangeboten usw. sein. Diese Zielgruppen sind mehr oder weniger umfangreich, im Extremfall handelt es sich um die Allgemeinheit einerseits und um einzelne Nachfrager wie ein spezifisches Unternehmen andererseits. Schon bei diesem Segmentierungsschritt ist eine Abschätzung des sich potenziell ergebenden Umsatzes sowie potenzieller Abhängigkeiten von einzelnen Abnehmern wichtig, um wirtschaftliche unergiebige bzw. risikoreiche Segmente rechtzeitig auszuschließen oder die Notwendigkeit der Segmenterweiterung oder -ergänzung durch andere Teilmärkte vorzusehen. Der Anwendbarkeit/ Einsetzbarkeit nachgeordnet sind weitere Zielgruppenmerkmale, insbesondere wenn es um Entscheidungen über den späteren Einsatz von Marketinginstrumenten geht. Zu nennen ist speziell die zu erwartende Akzeptanz von Inno- <?page no="299"?> 300 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation vationen; denn aus grundsätzlich gegebener Relevanz einer Innovation für bestimmte Personen folgt noch nicht die Bereitschaft, diese auch tatsächlich zu übernehmen. Zumindest zu Beginn der Vermarktung sollten die bereits im Rahmen der Situationsanalyse erwähnten innovationsaffinen Gruppen (Trendsetter, Lead User) identifiziert und bevorzugt angesprochen werden (vgl. 9.2.1.2). Meinungsbildende „Innovationsführer“ sind von Bedeutung, weil sie ihrerseits auch Einfluss auf weniger innovationsorientierte Gruppen haben. Je nach Art der Innovation kann es sich hierbei um bestimmte Altersgruppen, Bildungsschichten, Berufsgruppen, Branchen usw. handeln. Auf jeden Fall sind bereits in der frühen Planungsphase der generellen Marktsegmentierung Märkte auch nach der Existenz von solchen potenziell innovationsbereiten Zielgruppen auszuwählen. In einem späteren Stadium der Vermarktung bzw. des Lebenszyklus können dann andere Zielgruppen in den Fokus der Aktivitäten rücken. 9.4.1.3 Angebotsausrichtung Das tatsächliche Angebot setzt sich aus der eigentlichen lnnovation (Hauptleistung) und zusätzlichen Angeboten (Neben- oder Zusatzleistungen), etwa Services, zusammen (vgl. 9.5.1.2). Die Entscheidung, was den Zielgruppen in geographischen Teilmärkten angeboten wird, ist zumindest im Sinne einer grundsätzlichen Ausrichtung simultan mit diesen beiden, zuvor erläuterten Segmentierungsentscheidungen zu treffen, so dass sich Produkt-Markt-Kombinationen ergeben. So ist über die grundsätzliche Notwendigkeit von (klassischen oder ebenfalls innovativen) Zusatzleistungen, beispielsweise Mitarbeitertraining in Unternehmen, zu entscheiden. Auch die Zahl von Innovationen spielt eine Rolle; es können Einzelinnovationen oder gleichzeitig mehrere Innovationen in den Markt gebracht und so Zielgruppen durch ein breiteres oder mehrere Zielgruppen durch jeweils unterschiedliche Angebote angesprochen werden. Auch die Vorhaltung von Innovationen in verschiedenen Entwicklungsbzw. Marktphasen zur Sicherstellung eines kontinuierlichen Innovationsflusses ist ein wichtiger Aspekt. Ein Beispiel ist ein adäquates Innovationsportfolio im langwierigen Innovationsprozess der forschenden Pharmaindustrie (vgl. u.a. Wentz, 2008, S. 163ff.) Wesentlich ist insbesondere die Entscheidung über die Spezifität der Innovation. Je nach Spezialisierungsgrad des Angebots ergibt sich ein größeres oder eher kleines Segment; es werden damit gleichzeitig Einsatzbereiche und auch Zielgruppen des Produkts bestimmt. Der Ausgangspunkt für die viel diskutierten Nischenangebote beruht in der Regel auf hochspezialisierten Innovationsangeboten, für die sich dann (nur) eine kleine Zielgruppe ergibt. Wegen der dadurch eingeschränkten Absatzmöglichkeit ist neben einem eventuellen Wachstumspotential der Nische eine Ausweitung auf größere geographische Gebiete bis hin zu einem weltweiten Angebot fast zwangsläufig, so dass globale Nischen entstehen. Globale Nischenanbieter sind weit verbreitet; und diese „Hidden Champions“ sind als (etablierte) Innovatoren par excellence anzusehen (vgl. insbesondere Simon, 2012, S. 83ff.). Ein von Simon genanntes Beispiel ist die Firma Igus, die als Marktführer weltweit Innovationen im Bereich schmierstofffreier Gleitlagertechnik und Energieketten vermarktet (vgl. Igus 2012). Wenn die Vermarktung eines spezialisierten innovativen Produkts im Rahmen einer Unternehmensneugründung erfolgt, handelt es sich in der Regel um den schwierigsten Fall, der besonderer Sorgfalt bei der Marktdefinition bedarf (vgl. u.a. Baumgarth, <?page no="300"?> 9.4 Marktstrategien für Innovationen 301 www.uvk-lucius.de/ innovation 2008b, S. 99ff.). Sofern es nicht um eine Ausgründung aus einem größeren Unternehmen mit der Möglichkeit des Zugriffs auf dessen Ressourcen geht, ist ein neu gegründetes Unternehmen mit der Vermarktung seiner Innovation aus Mangel an Erfahrung und wegen beschränkter Ressourcen oft überfordert. Nicht nur allein wegen der hohen Spezifizität des Angebots, sondern wegen der anfangs oft gegebenen Überschaubarkeit des Marktes sind gerade derartige Unternehmen zumindest zu Beginn Nischenanbieter. Ein notwendig werdendes Wachstum durch weitere Innovationen, Internationalisierung oder sonstige Marktausweitung stellt sie dann allerdings vor große Herausforderungen. Die besonderen Probleme bei der Vermarktung von Innovationen durch neu gegründete Unternehmen treten im Übrigen nicht nur im Zusammenhang mit der Marktsegmentierung, sondern auch bei allen anderen strategischen und operativen Marketingentscheidungen auf. Aus den spezifischen Herausforderungen an neu gegründete Unternehmen hat sich ein eigenständiger Bereich der Betriebswirtschaftslehre entwickelt, der wegen der regelmäßigen Verbindung mit innovativen Angeboten daher für spezifische Innovationssituationen von hoher Relevanz ist (vgl. u.a. den Überblick bei Freiling/ Kollmann, 2008, S. 6ff.). 9.4.2 Marktzutritt Wenn ein Markt im zuvor erläuterten Sinne definiert ist, stellt sich die Frage, wie man mit der Innovation Zugang zu diesem Markt erlangt. Grundsätzlich bieten sich zwei Vorgehensweisen an, die Nutzung eigener Ressourcen oder das Eingehen einer Kooperation (vgl. zum Konzept der Marktimplantation generell u.a. Hünerberg, 1994, S. 113ff.). Abbildung 48 gibt einen Überblick zu den Entscheidungsmöglichkeiten. Abbildung 48: Markteintrittsvarianten <?page no="301"?> 302 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation 9.4.2.1 Eigene Ressourcen Der Marktzutritt mittels eigener Ressourcen ist am einfachsten, wenn das Unternehmen in dem für die Innovation ausgewählten Markt bereits mit anderen Angeboten präsent ist. Dann können existierende Informationen, Erfahrungen, Vertriebswege usw. herangezogen werden, und es lassen sich beispielsweise vorhandene eigene Niederlassungen oder etablierte Exportbeziehungen für das neue Angebot nutzen bzw. ausbauen. Dennoch kann auch hier ein einseitiges Beharren auf ausschließlich eigenen Ressourcen zu einer schwierigen Situation führen, wie das Beispiel von Sony in der Vergangenheit gezeigt hat (vgl. Wentz, 2008, S. 45ff.). Handelt es ich um einen bisher nicht bearbeiteten Markt, ist der Markteintritt schwieriger, da gerade Erfahrungen, insbesondere zu Zielgruppen und geographischem Gebiet mit seinen Rahmenbedingungen, fehlen. Bei hinreichenden Ressourcen und/ oder geringen Zutrittshindernissen kann dennoch ein Marktzugang aus eigener Kraft in Betracht kommen, wie eigener Vertrieb bzw. Export oder sogar die Errichtung von Repräsentanzen und anderen Niederlassungen (Fall 1 in Abbildung 48). Der Marktzutritt für neu gegründete Unternehmen ist - analog zu den Hinweisen im Zusammenhang mit der Marktsegmentierung - mit eigenen Ressourcen besonders schwer; denn es sind nicht nur finanzielle Mittel, die häufig fehlen, sondern auch (marktgerichtete) Mitarbeiterkompetenz und generell Erfahrungen mit und auf den definierten Märkten, zumal wenn nicht allein der Heimatmarkt bearbeitet werden soll. Ein Engpass sind häufig fehlende Kontakte zu staatlichen Stellen, Distributionsmittlern, Zulieferern, so dass der Marktzugang schon im Vorfeld scheitern kann. Daher bieten sich statt eines eigenständigen Vorgehens gerade in diesem Fall Kooperationslösungen verschiedener Art an. Für größere Unternehmen kommen Mergers & Acquisitions, also die Übernahme eines anderen Unternehmens oder die Fusion mit einem solchen, in Betracht (Fall 2 in Abbildung 48). Gründe für diese beliebte, wenn auch häufig nicht erfolgreiche Marktstrategie sind vielfältig; Schnelligkeit des Marktzutritts, sofortige Marktanteilsausweitung, erhoffte und vielleicht realisierbare Synergien, Einschränkung des Wettbewerbs sind einige von ihnen. Im Kontext der Innovationsvermarktung kann es um Innovationssynergien, d.h. die Zusammenführung vergleichbarer Innovationen, gehen oder generell um die Beschaffung von Know-how. Nach Wentz manifestiert sich hier das neue Paradigma der offenen Innovation, bei der Akquisitionen und alle sonstigen externen Möglichkeiten (Lizenznahme etc.) auf dem Weg zum Innovationsführer genutzt werden; als Beispiel nennt er Procter & Gamble (Wentz, 2008, S. 73ff.). Weitere Motive können die Vermeidung potentieller Auseinandersetzungen um Innovationen und ihre Patentierung, die Schaffung von Vertriebskompetenz für die Innovation in ausgewählten Märkten, Rohstoffsicherung, Zugang zu Informationen und Kontakten, Umgehung von politischen und anderen Markteintrittsbarrieren sein. 9.4.2.2 Kooperation Immer wenn das innovierende Unternehmen keine ausreichenden eigenen Ressourcen besitzt, Kompetenz- oder Zugangsdefizite aufweist, Mergers & Acquisitions nicht möglich sind, kommen kooperative Formen des Markteintritts in Betracht. Als Kooperationstypen bieten sich eine Reihe von Möglichkeiten an (vgl. allgemein zur Kooperation im Innovationskontext Hauschildt/ Salomo, 2011, S. 151ff.). <?page no="302"?> 9.4 Marktstrategien für Innovationen 303 www.uvk-lucius.de/ innovation Eine für die Innovationsvermarktung grundlegende Möglichkeit besteht in der Lizenzvergabe an Lizenznehmer gegen Lizenzgebühren oder Übertragung sonstiger Werte. Lizensierung bedeutet den teilweisen oder vollständigen Verzicht auf eigene Vermarktung durch - im weitesten Sinne - Technologietransfer. Lizenzgegenstand kann die Innovation in verschiedenen Stadien der Erfindung sein, etwa als spezifisches rechtlich (noch) nicht geschütztes Know-how zu Beginn des Innovationsprozesses, als angemeldetes oder als erteiltes Patent, Gebrauchsmuster oder Geschmacksmuster. Die Übertragung der Lizenz auf den Lizenznehmer kann sich auf alle oder einzelne mit der Innovationsnutzung verbundene Aktivitäten beziehen. Insbesondere kommen die Herstellung von Produkten, die sonstige interne Nutzung der Innovation, der Vertrieb in Betracht. Beschränkungen, beispielsweise räumlicher, zeitlicher und mengenmäßiger Natur, sind möglich. Die Lizenzvergabe kann damit ein weitreichender Verzicht auf eigene Nutzung sein, insbesondere wenn ein Exklusivvertrag mit einem einzigen Lizenznehmer abgeschlossen wird, der die Nutzung durch den Lizenzgeber selbst ausschließt, so dass kurz- oder längerfristig ein Verzicht auf eigene Marktbearbeitung vorliegt (Fall 3/ 3a in Abbildung 48). So hat die Kalp GmbH 2012 einen exklusiven Lizenzvertrag mit der finnischen Cargotec Group abgeschlossen, der die Produktion und Vermarktung von Laschplattformen zur vollautomatischen Durchführung von Ladeprozessen in Containerterminals an den Lizenznehmer überträgt (vgl. Kalp 2012). Weniger weitreichend ist der Verzicht, wenn zwar nur ein einziger Partner lizensiert wird, aber der Lizenzgeber Verwertungsrechte behält oder wenn mehrere Lizenznehmer vorgesehen werden (Fall 4 in Abbildung 48). Eine weitreichende Form der Lizensierung ist das verbreitete Franchising, das die Weitergabe von Ausstattungen, Marken und ganzen Marketingkonzeptionen umfasst. Betrachtet man die Lizenzvergabe als Markteintrittsstrategie eines Innovators, so sind insbesondere Kapazitäts- und Kompetenzrestriktionen und als unzureichend wahrgenommene Ertrags- und Gewinnaussichten sowie Risikoüberlegungen als Entscheidungshintergründe denkbar (vgl. die SWOT-Analyse lt. Abbildung 48). Anders als bei einer Veräußerung der Innovation oder gar des Unternehmens bedeutet die Lizenzvergabe je nach Art der Lizenzvereinbarung allerdings eine mehr oder minder weitreichende Partizipation des Lizenzgebers an der Innovation. So erhält er Lizenzgebühren, unter Umständen stehen ihm auch anderweitige Verwertungsmöglichkeiten offen (vgl. auch 9.5.2.1). Bei Eigenverwertung wären die Erträge jedoch potenziell höher. Zudem ist die Abhängigkeit von Motivation und kaufmännischem Erfolg des Lizenznehmers beträchtlich, und es können sich sogar Konkurrenzbeziehungen entwickeln. Ein negativ wahrgenommener Marktauftritt des Lizenznehmers ist für den Lizenzgeber und seine zukünftigen Innovationsaktivitäten unter Umständen imageschädigend. Neben der Lizensierung gibt es zahlreiche andere Formen eines kooperativen Markteintritts, die für Innovatoren in Betracht kommen (Fall 5 in Abbildung 48). Eine bekannte Kooperationsform ist das Joint Venture. Im engeren Sinne eines Equity Joint Venture geht es hierbei um die Partnerschaft zwischen zwei oder mehr Unternehmen, die ein (zusätzliches) Unternehmen gründen, das der Innovationsnutzung dient. Der zugrunde liegende Vertrag wird unterschiedliche Regelungen hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Vertragspartner treffen, die weit über die häufig diskutierte Frage der jeweiligen Kapitalbeteiligungen hinausreichen. So kann der Joint-Venture- Partner des Innovators für die Vermarktung - generell oder in bestimmten Gebieten - <?page no="303"?> 304 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation zuständig sein, für Weiterentwicklungen der Innovation, für die Patentierung, für Produktionsprozesse, Beschaffung, Logistikdienste usw. Vorteile liegen in der gezielten Nutzung von Kompetenzen des Partners, insbesondere mit Blick auf die Überwindung von Marktrestriktionen. Gerade im internationalen Geschäft spielen derartige Überlegungen eine besondere Rolle; in manchen Ländern sind andere Formen des Markteintritts, etwa eigene Niederlassungen, aus rechtlichen Gründen unter Umstanden gar nicht möglich. Aber auch Arbeitsteilungseffekte und Synergien mit Blick auf die internen Ressourcen sind von Bedeutung. Auf der anderen Seite sind beim Joint Venture die Risiken der Partnerwahl besonders hoch. Sie reichen von Motivationsdefiziten und Inkompetenzen über nachlässige Vertragserfüllung, wirtschaftliche Probleme und schädliches Konkurrenzverhalten bis zu direkter Schädigung, beispielsweise durch Missbrauch von Know-how-Transfer und Aneignung von materiellen und immateriellen Werten. Derartige Risiken sind durch sorgfältige Partnerwahl und Vertragsgestaltung zwar teilweise, aber nicht vollständig auszuschließen. Neben Equity Joint Ventures gibt es zahlreiche weitere Formen der Zusammenarbeit mit Partnern, die häufig ebenfalls als Joint Ventures oder Contractual Joint Ventures bezeichnet werden. Bei einer weitreichenden Form von Zusammenarbeit lässt sich auch von strategischen Allianzen sprechen. Es geht ähnlich wie bei Equity Joint Ventures immer um eine Form der Arbeitsteilung bei der Marktbearbeitung bzw. dem Markteintritt, ohne dass allerdings eigenständige Unternehmen gegründet werden. So können Partner Beschaffungs-, Produktions-, Entwicklungs-, Vertriebsaufgaben oder andere Funktionen im Rahmen der Innovationsvermarktung ganz oder teilweise übernehmen. Auch bestimmte Marktgebiete können Partnern überlassen werden, um so eine weite Abdeckung zu realisieren. Beispiele sind die strategischen Allianzen der Luftfahrtgesellschaften, die entsprechende globale Netzwerke aufbauen. Allerdings ist es ein dominierendes Kennzeichen der erfolgreichen „Hidden Champions“, auf derartige Kooperationen zu verzichten (vgl. Simon, 2012, S. 181ff.). Grundsätzlich lassen sich so jedoch eigene Schwächen ausgleichen und es kann dennoch eine erfolgreiche Marktpräsenz realisiert werden. Die Gefahren aus der Partnerwahl, wie sie für das Equity Joint Venture erwähnt wurden, sind hier analog, wenngleich in schwächerer Form, vorhanden. Letztlich ist es immer eine Frage der Marktmacht, die über die Abhängigkeit einer Seite entscheidet, und hier spielt dann die Bedeutung der Innovation für die Gegenseite eine ausschlaggebende Rolle. 9.4.3 Marktverhalten Wenn der Eintritt auf ausgewählte Märkte erfolgt ist, stellt sich die strategische Frage, wie sich das Unternehmen dort grundsätzlich verhalten soll, insbesondere im Hinblick auf die verschiedenen Marktteilnehmer. Dabei spielen die inhaltlichen Schwerpunkte der Innovations-Marktbearbeitung, zeitliche Vorgehensweisen und der Umgang mit Wettbewerbern eine besondere Rolle (vgl. u.a. Hünerberg, 1994, S. 132ff.) 9.4.3.1 Inhaltliche Schwerpunkte In Anlehnung an Porter soll ein Unternehmen zwischen einer Kostenführerschaftsstrategie, die Preisspielräume eröffnet und Massenmärkte erschließen kann, und einer Qualitätsführerschaftstrategie, die bei Abnehmern Präferenzen für Angebote mit bestimmten Qualitätsdimensionen zu generieren vermag, entscheiden; die gleichzeitige <?page no="304"?> 9.4 Marktstrategien für Innovationen 305 www.uvk-lucius.de/ innovation Verfolgung beider Alternativen, ein Outpacing, scheint nicht möglich und soll dazu führen, dass sich ein Unternehmen „zwischen allen Stühlen“ wiederfindet (vgl. u.a. Porter, 2008, S. 71ff.). Im Innovationskontext wird man diese Möglichkeiten wie folgt beurteilen: Die Tatsache, dass etwas Neuartiges eingeführt wird, hat eine qualitative Veränderung der bestehenden Situation zur Folge, die nur dann Akzeptanz erlangt, wenn sie als Verbesserung wahrgenommen wird. Insofern kann als primäre Innovationsstrategie eine Qualitätsorientierung postuliert werden. Anders als beim Marktverhalten mit etablierten Produkten und Dienstleistungen stehen bei Innovationen manchmal auch Sekundärfunktionen mit Blick auf eingeführte Angebote im Vordergrund, wenn es sich beim Unternehmen, das die Innovation nutzt, um ein bereits am Markt aktives Unternehmen handelt. So können Innovationen der Verbesserung der Angebotsqualität dienen, indem sie bereits vorhandene Angebote aufwerten oder die Angebotspalette durch neuartige Bestandteile ergänzen. Bezieht man interne Innovationen, speziell solche mit Prozesscharakter, in die Betrachtung mit ein, können diese die eigene Kostensituation positiv beeinflussen und so auch zur Erreichung einer Kostenführerschaftsstrategie beitragen. Im Übrigen ist festzuhalten, dass die Kostenführerschaftsdimension eine eher eindimensionale Handlungsmöglichkeit eröffnet, die auf die Nutzung der sich dadurch ergebenden Preisspielräume beschränkt ist, während Qualitätsorientierung eine große Zahl von Gestaltungsvariablen beinhaltet. Selbst eine Kombination von Elementen der Kosten- und der Qualitätsführerschaft ist denkbar, etwa die Nutzung einer Prozessinnovation zur Kostensenkung, um eine qualitativ hochwertige Innovation preisgünstiger anbieten zu können. Neben der Festlegung von Produkt-Markt-Kombinationen (vgl. 9.4.1.3) ist die grundsätzliche Entscheidung zur inhaltlichen Ausrichtung des Marktverhaltens ein wesentlicher Positionierungsaspekt, der darüber entscheidet, wie das Innovationsangebot in der Grundwahrnehmung potenzieller Kunden gegenüber anderen Angeboten auf dem Markt verankert wird (vgl. im Einzelnen u.a. Trommsdorff/ Steinhoff, 2007, S. 117ff.). Gleichzeitig beeinflusst der inhaltliche Schwerpunkt des Marktverhaltens das Image des dahinterstehenden Unternehmens, was wiederum auf die Wahrnehmung der Innovation zurückwirkt (vgl. Abbildung 49). 9.4.3.2 Zeitliche Gestaltung Die zeitliche Dimension des Innovationsmarketingprozesses betrifft die Frage, wann, in welcher Reihenfolge und wie schnell Innovationen auf welche Märkte gebracht werden und wie die einzelnen Teilschritte dabei zeitlich abgestimmt werden. Eine Innovation bedeutet zwar definitionsgemäß, dass sie als erstes Angebot seiner Art auf einen Markt gebracht wird, allerdings ist eine frühe, das heißt gleich nach der Erfindung stattfindende Vermarktung oder eine aufgeschobene Markteinführung, z.B. nach Patenterteilung, denkbar. Erstere Strategie führt potenziell zu frühen Einnahmen mit den Risiken einer unausgereiften oder unzureichenden Produktgestaltung bzw. Markteinführung sowie einer frühen Konkurrenzreaktion. Ein später Vermarktungsbeginn gibt dagegen Zeit für Vervollkommnung und Vorbereitung, verschiebt jedoch potenzielle Einkünfte und beinhaltet die Gefahr einer Vorwegnahme von Innovationsinhalten durch andere Marktteilnehmer. <?page no="305"?> 306 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 49: Positionierung im Innovationsmarketing Die Frage der Reihenfolge des Eintritts auf verschiedene, z.B. geographische Märkte ist das klassische Problem der Entscheidung zwischen simultaner und sukzessiver Marktbearbeitung ( Sprinkler- oder Wasserfallstrategie) bzw. einer Kombination aus beiden. Im Zusammenhang mit Innovationen sind hierbei besonders der internationale/ globale Charakter der Innovation, deren Lebenszyklus, die Schutzfähigkeit in unterschiedlichen Märkten sowie die Finanzierungsaspekte dieser Markteintrittsformen zu beachten. Ein gleichzeitiger Eintritt in alle relevanten Märkte (Sprinklerstrategie) liegt nahe bzw. wird erforderlich, wenn wegen der globalen Natur der Innovation eine Anwendbarkeit auf vielen Märkten in Betracht kommt, der Lebenszyklus eher kurz ist, sich die Schutzfähigkeit nicht auf einzelne Märkte beschränkt und die Finanzierung keine unüberwindliche Hürde darstellt. Beispielsweise vermarkten internationale Großunternehmen auf diese Weise Standardsoftware- oder Kommunikationshardware. Ein anderes Beispiel sind Modeprodukte mit ihrem kurzen Lebenszyklus. Für Innovatoren mit beschränkten Ressourcen ist ein schrittweises Vorgehen (Wasserfallstrategie, eventuell kombiniert mit partieller Sprinklerstrategie für einige wenige Märkte) dagegen eher angezeigt, da so Erfahrungen in einem Markt gesammelt und dort Einnahmen generiert werden können, ehe ein weiterer Markt in Angriff genommen wird. Auch der Innovationsvermarktungsprozess selbst kann zeitlich unterschiedlich ablaufen. Er findet entweder kompakt mit einer Konzentration aller Maßnahmen, speziell der Kommunikation, innerhalb einer kurzen Zeitspanne statt, oder er ist ausgedehnt über längere Zeit, etwa mit Vorankündigungen, Testverkäufen und Sammlung von <?page no="306"?> 9.4 Marktstrategien für Innovationen 307 www.uvk-lucius.de/ innovation Kundenerfahrungen. Bestimmend hierfür sind Machbarkeitsinklusive Finanzierungsüberlegungen, aber auch Marktreaktionsgeschwindigkeiten von Kunden und von Konkurrenten. So wird der Zeitraum, in der ein Innovationsvorteil existiert, durch den Wettlauf von Wettbewerbern um Markteinführungszeitpunkte, wie z.B. häufig in der Waschmittelindustrie, reduziert und eine Verkürzung auch des Vermarktungsprozesses erzwungen (vgl. Wentz, 2008, S. 5ff. und 68ff.). 9.4.3.3 Art des Marktauftritts Die Art des Marktauftritts bezieht sich auf formale Aspekte der Beeinflussung von Marktteilnehmern. So bedingt in der Regel jeder Marktauftritt eine Konfrontation mit Wettbewerbern, das Drängen potenzieller Kunden zu einem Kaufabschluss und häufig auch eine Beeinflussung potentieller Partner, z.B. der Distributionsmittler. Das innovierende Unternehmen muss also zum einen grundsätzlich entscheiden, wie es mit potenziellen Nachahmern und Unternehmen, die ähnliche bzw. substitutive Produkte anbieten, umgehen will. Es kommen mehr oder minder aggressive bzw. defensive Verhaltensweisen in Betracht, die von der Art der Innovation und der Stellung des Innovators am Markt abhängen. So kann ein zurückhaltender Marktauftritt, etwa mit rational ausgerichteter Kommunikation und weniger starkem Druck oder geringer Dominanz des Preises, erfolgen; auch mag die Marktabdeckung beschränkt sein. Demgegenüber stehen (wettbewerbs)aggressive Kommunikation, z.B. mit vergleichender Werbung oder besonderer Herausstellung von Preisvorteilen, intensive Reaktion auf Konkurrenzmaßnahmen bis hin zu rechtlichen Auseinandersetzungen, Abdeckung zahlreicher Märkte oder sogar globale Innovationspräsenz. Tendenziell kommt der zuvor genannten Sprinklerstrategie aus dieser Sicht ein höherer Aggressivitätsgrad zu als einer Wasserfallstrategie mit Markteinführungen über einen längeren Zeitraum. Zum anderen ist über den grundsätzlichen Umgang mit Abnehmern zu entscheiden. Es geht hier um den Aufbau von mehr oder minder starkem Verkaufsdruck. So kann auch das Verhalten gegenüber potenziellen Kunden eher bedächtig als drängend sein, etwa durch vorsichtige Überzeugungsarbeit. Man würde dann zum Beispiel auf hohen Werbedruck wie häufig bei der Einführung von Konsumgüterneuheiten durch große Unternehmen verzichten. Die Gestaltung der Marketinginstrumente, neben der Kommunikationsinsbesondere die Preispolitik, ist also auch hier wieder entscheidend. Gleiches gilt für zu gewinnende Partner und die dabei einzusetzenden Maßnahmen wie die Attraktivität bzw. Vorteilhaftigkeit von Verträgen. Es gibt einige grundlegende Marktstrategien die als Ausgangspunkt für den Einsatz von Marketinginstrumenten einen groben Handlungsrahmen auch für das Innovationsmarketing aufspannen. Hierzu gehören die Marktfestlegung, die Art des Marktzutritts, Prinzipien des Marktverhaltens. Die Marktfestlegung beruht auf der Segmentierung von Märkten entlang der Dimensionen Gebiete, Zielgruppen, Angebote. Durch Heranziehung verschiedener Kriterien ergibt sich eine große Zahl von Auswahlmöglichkeiten, die entsprechend der Situation des Innovators als Märkte für innovative Angebote definiert werden können. Der Marktzutritt kann aus eigener Kraft einschließlich der Möglichkeit von Akquisitionen und Fusionen erfolgen oder durch verschiedene Formen der Lizenzvergabe und <?page no="307"?> 308 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation anderer Kooperationsformen wie der Gründung von Joint Ventures. Das Verhalten am Markt ist durch die Wahl der Angebotsausrichtung auf Kosten/ Preise oder Qualität und die daraus folgende Positionierung der Innovation und des Innovators geprägt. Außerdem spielen Fragen des zeitlichen Markteintritts und der Aggressivität des Marktauftritts eine Rolle. Fragen 1. Welche Vor- und Nachteile haben wenige/ kleine geographische Segmente für Innovatoren? 2. Welche Kriterien spielen für die weitere Segmentierung von Zielgruppen im Innovationskontext eine Rolle? 3. Warum sollte das Angebot bei der Marktfestlegung simultan berücksichtigt werden? 4. Was sind Hidden Champions und globale Nischen? 5. Welche Innovationssituationen sprechen für eigenständigen bzw. kooperativen Markteintritt? 6. Welche Rolle spielen Formen der Lizenzvergabe für das Innovationsmarketing? 7. Was sind Joint Ventures und welche Überlegungen sind anzustellen, wenn sie von Innovatoren für den Markteintritt erwogen werden? 8. Welche grundlegenden Entscheidungen bestimmen die Produkt- und Unternehmenspositionierung? 9. Welches sind innovationsrelevante Vor- und Nachteile von Wasserfall- und Sprinklerstrategie? 10. Woran kann man defensives Marktverhalten von Innovatoren erkennen? 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 9.5.1 Leistungspolitische Innovationsinstrumente 9.5.2 Entgeltpolitische Innovationsinstrumente 9.5.3 Kommunikationspolitische Innovationsinstrumente 9.5.4 Distributionspolitische Innovationsinstrumente Die klassischen Marketinginstrumente gehen auf McCarthy’s viel diskutierte Einteilung von Marketingaktivitäten in die „vier P’s“, Product (Leistungspolitik), Price (Entgelt- und Vertragspolitik), Promotion (Kommunikationspolitik) und Place (Distributionspolitik), zurück (vgl. u.a. Waterschoot/ Van den Bulte, 1992, S. 83ff.). Zwar können andere Instrumente formuliert und die Abgrenzungen verschoben werden, dennoch lässt sich diese Klassifikation als Grundlage für die Darstellung der Instrumente des Innovationsmarketing heranziehen. <?page no="308"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 309 www.uvk-lucius.de/ innovation 9.5.1 Leistungspolitische Innovationsinstrumente Die Leistungspolitik umfasst eine größere Zahl von Entscheidungen zur Marktbearbeitung und kann als zentrales Instrument, das besonders eng mit strategischen Marktentscheidungen verbunden ist, angesehen werden. Einige Fragen mit spezieller Innovationsrelevanz werden im Folgenden ausgewählt: Ausdifferenzierung der Kerninnovation und Kundenausrichtung, Qualität von Kerninnovationen und Zusatzleistungen, Innovationsmarkierung und -schutz. 9.5.1.1 Ausdifferenzierung der Kerninnovation und Kundenausrichtung Jede Innovation besteht in einer innovativen Idee oder auch aus mehreren Inventionen. Diese können bereits mehr oder minder konkret und anwendungsnah sein. Allerdings erfordert die Innovationsvermarktung in der Regel ein ausdifferenziertes Angebot, das die Kernneuerung(en) in ein marktfähiges Produkt-Dienstleistungs-Programm einbindet. Die hierzu notwendigen weiteren Angebotsbestandteile können ebenfalls innovativ oder aber bereits bekannt bzw. erprobt sein. So lässt sich eine innovative Antriebstechnik, etwa neuartiger Elektroantrieb beim Auto, mit eingeführten klassischen Fahrzeugbestandteilen, im Falle des Autos beispielsweise sonstige Technikausstattung, Aufbau, Innenausstattung, zu einem insgesamt neuartigen Fahrzeugangebot kombinieren. Die Ausdifferenzierung kann sogar weitergehen, wenn im Beispiel zahlreiche Modelle mit der neuen Antriebstechnik ausgerüstet werden, so dass sich eine ganze Modellpalette, ein Sortiment mit jeweils dem gleichen innovativen Element in jedem Sortimentsbestandteil ergibt. Des Weiteren sind (leichte) Abwandlungen der Innovation möglich, die ebenfalls zu einem Sortiment führen, im Beispiel also etwa Autos mit unterschiedlicher Motorleistung des neuen Antriebs. Die Ausdifferenzierung der Kerninnovation besteht daher entweder in der Anreicherung durch zusätzliche Elemente und/ oder in der Variation zur Erzielung einer Variantenvielfalt. Sie ist notwendig, um überhaupt ein vermarktbares, ein besser vermarktbares oder ein für unterschiedliche Zielgruppen vermarktbares Angebot zu konzipieren. Die Bedeutung dieser Aufgabe ist umso größer, je weiter die Innovation von einem vollständigen Marktangebot entfernt ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es bei der Innovation nur um einen Bestandteil eines Produktes geht. Das hängt allerdings von den definierten Kunden bzw. der Distributionsstruktur ab. So ist bei gewerblichen Kunden, im zuvor angeführten Beispiel beim Absatz der Antriebsaggregate an die Industrie, anders als beim Endabsatz an Konsumenten manchmal nur eine geringe Anreicherung der Kerninnovation notwendig. Dennoch spielen auch hier zunehmend (innovative) industrielle Dienstleistungen als Zusatzleistungen oder gleichberechtigte Hauptleistungen eine wichtige Rolle (vgl. u.a. Müller/ Posselt, 2007, S. 127ff.). Im Hintergrund der Ausdifferenzierung mit dem Ergebnis eines vermarktbaren Angebots müssen Nutzung und Nutzenkriterien bei potenziellen Kunden stehen. Das gilt selbst dann, wenn andere Marktgesichtspunkte wie Änderungen des Makro-Umfeldes oder Konkurrenzaktivitäten die Innovation veranlasst haben. Die innovativen Angebotsbestandteile können sich auf erkennbare Marktbedürfnisse beziehen. Unternehmen versuchen in diesem Fall, Kundenwünsche durch Innovationen zu erfüllen; das Nutzenpotential ist also vorgegeben. Allerdings können die vorhandenen Bedürfnisse mehr oder weniger konkret ausgeprägt sein; eventuell sind sie nur unbewusst, also <?page no="309"?> 310 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation latent vorhanden. Daher können die innovativen Bestandteile und ihre Einbettung in ein Gesamtangebot durchaus den wirklichen Bedarf verfehlen. Zudem besteht das Risiko, dass die Bedarfsfeststellung nicht repräsentativ erfolgt ist und die tatsächliche Nachfrage gering bleibt. Insbesondere aber können sich Markt und Kundenbedürfnisse während der Entwicklung des Innovationsvorhabens bis zur Marktreife verändert haben, etwa durch Konkurrenzaktivitäten oder sonstige Variable, welche die Nachfrage beeinflussen. Den beschriebenen marktinduzierten Innovationen ( market pull) stehen die technologiegetriebenen Innovationen ( technology push) gegenüber, deren Entstehungsgrund weniger die Marktsituation, sondern der technische Fortschritt sowie unternehmerische Forschung und Entwicklung sind (vgl. u.a. Trommsdorff/ Steinhoff, 2007, S. 30ff.). Das gilt besonders für bahnbrechende Neuerungen. In diesem Fall sind expost Kundenprobleme, die durch die Innovation gelöst werden sollen, und entsprechend Nutzendimensionen zu definieren. Je einfacher zugänglich, offensichtlicher und leichter kommunizierbar der neue Nutzen ist, desto eher ist ein Vermarktungserfolg zu erwarten. Als Beispiel sei die Einführung von Digitalkameras genannt, deren Vorteile für „Normal“-Konsumenten evident waren. Wenn neue Kundenwünsche erst nach der Erfindung eines Produkts generiert werden, widerspricht dieses Vorgehen im Grunde dem Marketingprinzip der marktorientierten Ausrichtung aller Unternehmensaktivitäten; dennoch ist der Technologiepush üblich, schon weil durchaus auch zufällig oder begleitend Erfindungen zustande kommen. Es ist aber umso sorgfältiger und rechtzeitig zu prüfen, ob tatsächlich eine Vermarktungsmöglichkeit besteht, die Innovation also wirklich auf von Kunden wahrgenommene Nutzendimensionen trifft oder solche durch Einsatz von Marketinginstrumenten hervorgerufen werden können. Im Zweifel kann die Vermarktung noch abgebrochen werden, ehe hohe Weiterentwicklungs- und Vermarktungsinvestitionen getätigt werden. Eine Integration von Kunden bereits in frühe Phasen des Innovationsprozesses ist das Mittel der Wahl, um Möglichkeiten der Anpassung an Bedürfnisse bzw. der Schaffung bewusster Bedürfnissen zu erkennen und die Kerninnovation und ihre zusätzlichen Elemente daran auszurichten (vgl. z.B. Reichwald u.a., 2007). Zur realistischen Heranführung potenzieller Kunden an die Innnovation, um also eine Vorstellung von dieser zu vermitteln und erste Kundenbeurteilungen ableiten zu können, spielen Modelle und Prototypen eine große Rolle (vgl. z.B. Stamm 2008, S. 183ff.), etwa Konzeptfahrzeuge oder virtuelle Modelle in der Automobilindustrie. Kunden können zu möglichen Neuerungen befragt werden, um Einschätzungen über die grundsätzliche Markteignung zu gewinnen und in einem späteren Stadium des Innovationsprozesses die besten Realisierungsvarianten für ein ausdifferenziertes Angebot festzustellen. Im Übrigen ist selbst für die Ideengenerierung, also den ersten Innovationsschritt, die Kundenintegration hilfreich, etwa zur Beurteilung bestehender Angebote und ihrer von Nutzern wahrgenommenen Mängel. So setzt Henkel bei Konsumgütern auf Hausbesuche in aller Welt, um Innovationspotenziale zu entdecken (vgl. Müller-Kirschbaum/ Wuhrmann/ Burkhart, 2009, S. 24ff.). In der letzten Phase vor der generellen Markteinführung sind weitergehende Untersuchungen wie Pilotverkäufe und Testmärkte angezeigt. Neben den Kunden sind natürlich auch andere Informationsquellen für die Innovationsvermarktung von Bedeutung, speziell Experten, Konkurrenz, Marktpartner und zahlreiche Sekundärstatistiken. <?page no="310"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 311 www.uvk-lucius.de/ innovation 9.5.1.2 Qualität von Kerninnovation und Zusatzleistungen Qualität kann als die Gesamtheit aller Eigenschaften (Ausprägungen auf relevanten Kriterien) von physischen Produkten und Dienstleistungen und damit als Kern jeden Angebots verstanden werden. Eine besondere Rolle spielt sie in der Qualitätsführerschaftsstrategie (vgl. 9.4.3.1). Sie kann aus mehreren Blickrichtungen erfasst bzw. beurteilt werden, im Marketing ist die Wahrnehmung durch (potenzielle) Kunden ausschlaggebend. Diese wird regelmäßig von den Einschätzungen der Anbieter oder der Experten wie Ingenieuren abweichen. Innovationen können von Kunden, sofern sie keine Experten sind, noch weniger eindeutig hinsichtlich ihrer Qualitätsdimensionen beurteilt werden als andere Angebote. Das ergibt sich aus dem Confirmation-Disconfirmation (C-D) Paradigma der Kundenzufriedenheit, nach dem Erwartungen an eine Leistung mit Erfahrungen mit einer Leistung verglichen werden, und erstere erfüllt (Zufriedenheit), untererfüllt (Unzufriedenheit) oder übererfüllt werden (Begeisterung). Dieser Vergleich kann sich auf die Qualität der Gesamtleistung, etwa ein Produkt, oder Qualitäts-Teilaspekte, etwa Haltbarkeit, beziehen und ist in zweifacher Weise eindeutig subjektiver Natur. Sowohl die Erwartungen als auch die Erfahrungen beruhen auf individueller Interpretation von Informationen und Wahrnehmungen (vgl. hierzu und zum Folgenden Abbildung 50). Abbildung 50: Qualitätswahrnehmung und -zufriedenheit von (potenziellen) Innovationskunden Die Informationen, die zur Erwartungsbildung beitragen, ergeben sich aus der Informationssuche ( Screening), die gezielt oder mehr zufälliger Art ist. Dazu gehören neutrale Quellen, Konkurrenzangebote, aber auch Hinweise des Anbieters, insbesondere solche, die bestimmte quasi-objektive Qualitätsaspekte herausstellen ( Signalling). Auch die wahrgenommenen - eigenen und/ oder fremden - Qualitätserfahrungen wer- <?page no="311"?> 312 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation den durch derartige Signale beeinflusst, speziell wenn sie das Anspruchsniveau und den individuellen Beurteilungsprozesses verändern. Wenn es um Qualitätseigenschaften geht, die sich schwer oder gar nicht in ihrer Wirkung einschätzen lassen, muss Erfahrung durch Vertrauen ersetzt werden (Vertrauenseigenschaften, etwa ökologische Qualität eines Konsumguts). Bei Innovationen fallen gegenüber eingeführten Angeboten für den Kunden zahlreiche Informationsmöglichkeiten weg; er kann beispielsweise nicht oder nur in geringerem Umfang auf Informationen aus seinem sozialen Umfeld zurückgreifen, hat keine eigenen Erfahrungen mit der Innovation selbst, verfügt u.U. nicht über relevante Beurteilungskriterien, hat vielleicht sogar Anwendungs- oder Handhabungsprobleme. Das gilt insbesondere dann, wenn er in einem frühen Stadium der Marktverfügbarkeit der Innovation kauft. Andererseits sind noch keine eingefahrenen Denk- und Beurteilungsmuster ausgeprägt, und im besten Fall ist eine generelle Offenheit für die Neuerung vorhanden. Aus allen diesen Punkten folgt die Bedeutung des Einsatzes von Qualitätssignalen durch den Anbieter. So vermag er sowohl Erwartungen als auch die spätere tatsächliche Qualitätserfahrung zu steuern. Das gilt in abgeschwächter Form und analog selbst gegenüber gewerblichen Abnehmern. Als innovationsspezifische Qualitätssignale kommen je nach Angebotsinhalt zahlreiche Möglichkeiten in Betracht. So sind Verweise auf Einsatzstoffe, Technologien, Verfahrensschritte und andere technisch orientierte Besonderheiten möglich. Insbesondere ist aber die Herausstellung von neuartigen Nutzendimensionen wie Problemlösungen, Einsatzfelder, Haltbarkeit, Handhabbarkeit, Verträglichkeit usw. wichtig. Während alle derartige Aussagen jedoch als werbliche Übertreibungen und unbewiesene Werbeaussagen verstanden werden können, gibt es auch noch stärker objektivierte Qualitätssignale. Hierzu gehören im Innovationskontext insbesondere Referenzen. Das setzt jedoch voraus, dass es erste Anwender gibt, die zur Abgabe solcher Referenzen bereit sind und die auf Vertrauen bei potenziellen Kunden stoßen. Daher sehen sich hier gerade Unternehmensgründer vor einer hohen Barriere; denn der Erfolg des Markteintritts hängt gerade für unbekannte Innovatoren von solchen Qualitätssignalen ab. Ein weiteres Qualitätssignal, das für viele Angebote sogar eine Voraussetzung für den Marktzugang ist, sind Prüfsiegel, Atteste, Akkreditierungen, Zertifizierungen usw. Patente bzw. Patentanmeldungen sind ebenfalls zu nennen, da durch sie speziell der Innovationscharakter bestätigt wird. Etablierte Unternehmen haben es mit der Innovationsvermarktung einfacher, da sie ihren renommierte Namen bzw. eingeführte Marken als Qualitätssignale verwenden können. Auch Auszeichnungen, die Unternehmen erhalten haben, zum Beispiel bei Innovations- und Gründungswettbewerben, können hilfreich sein. Im Marketing wird in diesem Kontext auch die Relevanz von Herkunftsbezeichnungen, speziell „made in …“ diskutiert (vgl. z.B. Verlegh/ Steenkamp, 1999). Trotz globalisierter Produktion und länderübergreifender Technologieverfügbarkeit erfüllen sie bei manchen Produkten, in bestimmten Kaufsituationen und für gewisse Zielgruppen/ Länder die Funktion eines Qualitätsmerkmals. Obwohl in einer frühen Vermarktungsphase von Innovationen die Neuerung als solche im Vordergrund steht und oft auch noch nicht an eine internationale Vermarktung gedacht wird, kann der Verweis auf die (deutsche) Herkunft (z.B. „das Ergebnis deutscher Ingenieurskunst“) image- und vertrauensfördernd sein. Das spielt selbst im Inland eine Rolle, da es durchaus ein <?page no="312"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 313 www.uvk-lucius.de/ innovation „Not-invented-here-Syndrom“ und damit eine Geringschätzung von Innovationen aus anderen Ländern durch manche Kunden geben kann. Hier ergibt sich eine Analogie zur Ablehnung externen Wissens aus anderen Ländern/ Unternehmen/ Abteilungen durch Innovatoren selbst (vgl. Cohen, W. M./ Levinthal, D.A., 1990). Zusatzleistungen, die in der Regel als Kundendienstleistungen vor und nach dem Kauf in Betracht kommen, können für Innovationen ebenfalls als Qualitätsdimensionen eine Rolle spielen, unabhängig davon, ob es sich um innovative Formen oder klassische Angebote im Rahmen der Ausdifferenzierung der Kernleistung handelt. Bestimmte Zusatzleistungen sind obligatorisch, da aus technischen oder gesetzlichen Gründen unabdingbar, etwa Gewährleistungspflichten. Andere Leistungen sind branchenüblich und daher zwar nicht obligatorisch, aber kaum zu umgehen, möglicherweise bestimmte Lieferungs- und Zahlungsbedingungen. Am interessantesten dürften für Innovatoren daher innovative oder zumindest normalerweise nicht gebotene Zusatzleistungen sein, die unter Umständen sogar ein Hauptmotiv für Kunden sein können, die Kerninnovation zu nutzen. Das sind etwa besondere Finanzierungs- oder andere Kontraktangebote für den Kunden (vgl. hierzu 9.5.2.3). Auch spezielle Rücknahme- oder Garantieangebote, Wartungsverpflichtungen, umfassende testweise Nutzung usw. können das Kaufrisiko vermindern und zum Vertrauensaufbau beitragen. Denn innovative Angebote, insbesondere von neuen Anbietern, sind zwangsläufig mit höherem wahrgenommenem Risiko seitens potenzieller Kunden verbunden, so dass sowohl Qualitätssignale im Sinne der Bereitschaft zur Gewährung ungewöhnlicher Zusatzleistungen als auch Zusatzleistungen, die direkt zur Verminderung des Kaufrisikos beitragen, zentrale Bestandteile der Innovationsvermarktung sein sollten. 9.5.1.3 Innovationsmarkierung und -schutz Die Markierung von Angeboten dient der Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen, um sie von anderen, insbesondere konkurrierenden Angeboten abzuheben. Auf diese Weise prägen sie sich Nachfragern auch besser ein, und Unternehmen können mit ihnen als Kommunikationsobjekte arbeiten. Die Markierung besteht primär in der Namensgebung für das Angebot und/ oder Teilangebote. Infrage kommen Wortmarke, Abkürzung, Logo u.a., aber auch Farbgebung, Design, Verpackung etc. können Produkte von anderen abgrenzen (vgl. allgemein zu Marke und Markenführung u.a. Baumgarth, 2008a, S. 129ff.). Bei Innovationen treten Markenüberlegungen in frühen Phasen häufig in den Hintergrund, weil es zunächst um die Durchsetzung der technologischen oder sonstigen Besonderheiten geht. Zudem birgt eine Verwendung von eingeführten Namen (Unternehmensname oder Dach-/ Familienmarke) das Risiko negativen Imagetransfers in sich, falls die Markteinführung nicht erfolgreich ist. Andererseits bedeutet ein frühzeitiger Hinweis auf eingeführte Namen auch ein Qualitätssignal durch ein bereits aufgebautes positives Image und damit eine eventuelle Erleichterung der Markteinführung. Ein Beispiel ist die Kampagne „Volkswagen - Das Auto“ für die Einführung neuer Modelle. Auf jeden Fall sollte von Anfang an daran gedacht werden, wie eine Innovation im Marktauftritt unverwechselbar und wiedererkennbar wird, und dazu gehören nicht allein die Innovationsinhalte, sondern wesentlich formale Aspekte rund um die Mar- <?page no="313"?> 314 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation kierung. Besondere Bedeutung erlangt diese Perspektive bei großen Märkten, anonymen Zielgruppen und hoher Konkurrenzintensität. Die formale Innovations- Individualisierung ist bei Nutzung von Formbzw. Designelementen bereits bei der Entwicklung zu berücksichtigen, wobei der Übergang zu Kern-Innovationsinhalten durchaus fließend sein kann. Ein Beispiel hierfür sind die abgerundeten Ecken und andere Designelemente bei elektronischen Konsumgütern, die im Mittelpunkt von rechtlichen Auseinandersetzungen standen (Apple versus Samsung). Eine besondere Problematik ergibt sich, wenn die Innovation als Bestandteil in ein anderes Produkt eingeht und nicht als selbständiges Angebot vom Endnutzer wahrgenommen wird. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob ein Ingredient Branding erreicht werden kann, bei dem am Endprodukt auf die innovative Komponente verwiesen wird, damit die Innovation eine allgemeine Sichtbarkeit behält. Das Standardbeispiel hierfür ist „Intel Inside“ (vgl. u.a. Pförtsch/ Müller, 2006, S. 15ff.). Markierung steht schon im Zusammenhang mit gewerblichen Schutzrechten. Die Marke ist schutzfähig, und dieses Recht hat den Vorteil der Verlängerbarkeit und damit im Prinzip zeitlich unbefristeten Geltung. Die Etablierung eines Markenrechtsschutzes, zumal im internationalen Kontext, kann durchaus komplex sein und führt manchmal zu Rechtsstreitigkeiten. Auch verhindert sie nicht Markenpiraterie, fordert sie im Zweifel bei besonders erfolgreichen Marken erst heraus. Dennoch ist dieses Schutzrecht wie das Copyright geeignet, Innovationen bei ihrem Marktauftritt bis zu einem gewissen Grade vor Ausbeutung durch andere zu schützen. Das im Zusammenhang mit Innovationen am häufigsten diskutierte gewerbliche Schutzrecht ist das Patentrecht (vgl. u.a. Trommsdorff/ Steinhoff, 2007, S. 199ff.). Hierdurch werden speziell technologische Wettbewerbsvorteile, also Kernaspekte von Innovationen, geschützt. Die Zahl der Patentanmeldungen wird sogar häufig als Indikator für die Innovationskraft eines Landes herangezogen. Allerdings ist gerade das Patentrecht ein komplexes Rechtsgebiet, speziell wenn es im internationalen Rahmen betrachtet wird. Das reicht von der Frage der Patentierfähigkeit über Langwierigkeit und Kosten des Patenterteilungsverfahrens bis hin zur Verfolgung von Patentrechtsverletzungen und die zeitliche Limitierung des Patentschutzes. Das Patent verschafft dem Innovator eine begrenzte Monopolsituation, die ihn vor direkter Konkurrenz in Form von Nachahmung schützt und ihm den Aufbau eines eigenen Kundenstammes ermöglicht. Im besten Falle lässt sich sogar eine Technologieführerschaft durch Setzung von Industrie-/ Branchenstandards etablieren. Darüber hinaus bedeutet es eine Vertrauen schaffende offizielle Anerkennung des echten Innovationscharakters eines Marktangebots. Der letztgenannte Aspekt hat daher eine vergleichbare Reputationswirkung wie die Nutzung einer eingeführten Marke. Zudem eröffnen sich die zuvor genannten Möglichkeiten des Patentverkaufs und der patentbasierten Lizenzierung (vgl. 9.4.2.2). In manchen Branchen wie der Telekommunikation mit einer großen Zahl von Patenten auf Komponenten eines Produkts hat sich der Konkurrenzkampf zu großen Teilen auf die Ebene des Aufbaus von Patentportfolios verlagert. Das innovierende Unternehmen muss daher im Hinblick auf gewerbliche Schutzrechte, speziell Patentanmeldungen, Vor- und Nachteile der Schutzrechtsanmeldung abwägen und außerdem den Zeitpunkt der Anmeldung sowie die geographische Erstre- <?page no="314"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 315 www.uvk-lucius.de/ innovation ckung festlegen. Zunächst ist zu entscheiden, ob das Schutzrecht überhaupt erlangt werden kann. So fordert das deutsche Patent- und Gebrauchsmusterrecht als materielle Voraussetzungen Neuheitseigenschaft, ausreichende Erfindungshöhe und gewerbliche Anwendbarkeit. Ist kein Schutz möglich, ist zu klären, durch welche sonstige Maßnahmen (Geheimhaltungsvereinbarungen, Erhöhung der Innovationskomplexität, Nutzung von eigenen wettbewerblichen Einflussmöglichkeiten usw.) unternehmensindividuelle Schutzvorkehrungen aufgebaut werden können. Ist Schutzfähigkeit gegeben, kann eine Inanspruchnahme der gesetzlichen Möglichkeiten erfolgen oder nicht, wobei diese Entscheidung für verschiedene geographische Gebiete unterschiedlich getroffen werden kann. Grundlage muss eine Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile im Lichte der Marktstrategien (beispielsweise Stützung auf eigene Ressourcen oder Aufbau von Kooperationen; vgl. 9.4.2) und der angestrebten Ziele sein. Im Einzelnen ist insbesondere die zeitliche Vorgehensweise zu determinieren. Da die Patentanmeldung mit der Offenlegung entsprechenden Wissens verbunden ist, kann eine Anmeldung in frühem Stadium, das heißt vor Beginn erster Maßnahmen zum Markteintritt, unter Umständen Konkurrenten zu Gegenaktivitäten motivieren. Dadurch wird die spätere Ausdifferenzierung der Angebotsleistung eingeschränkt und vielleicht sogar eine Marktbearbeitung ohne ausreichende Vorlaufzeit erzwungen. Andererseits kann eine schnelle Anmeldung eine Gegenmaßnahme zur Blockierung von Konkurrenten sein und Patentwettläufe vermeiden helfen. Letztlich werden die bestehende oder erreichbare Marktmacht des innovierenden Unternehmens und seine Ressourcen ausschlaggebende Bestimmungsgründe für eher aggressive oder defensive Patentpolitik sein. 9.5.2 Entgelt- und vertragspolitische Innovationsinstrumente Preispolitik ist innerhalb der vier Marketinginstrumentalbereiche insofern abweichender Natur, weil Preisentscheidungen auf jeden Fall unmittelbare Auswirkungen auf den Unternehmensgewinn haben, da die Preiskomponente Teil der Gewinndefinition ist (Gewinn = Preis mal Absatzmenge minus Kosten), während die anderen Marketinginstrumente nur indirekt über die Absatzmenge (und die Einsatzkosten) den Gewinn beeinflussen (vgl. zu den Grundlagen der Preispolitik u.a. Homburg 2012, S. 649ff.). Preispolitik wird häufig zusammen mit vertragspolitischen Überlegungen abgehandelt, weil letztere unmittelbare preispolitische Auswirkungen haben. Da ihnen auch im Innovationskontext große Bedeutung zukommt, wird auf sie hier ebenfalls eingegangen. Zuvor wird aber erläutert, in welchem Kontext Preispolitik für das Innovationsmarketing überhaupt eine Rolle spielt und welche grundsätzlichen Preisniveauentscheidungen dabei zu treffen sind. Auf die Dynamik der Preispolitik wird ebenfalls in einem gesonderten Unterpunkt eingegangen. 9.5.2.1 Preiskontext und Preisniveau Preispolitik spielt im Innovationsmarketing in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Eine zentrale Frage, die im Folgenden im Mittelpunkt steht, betrifft die Preisfestsetzung für innovative Angebote in mehr oder weniger fortgeschrittenem Vermarktungsstadium. Eine andere preispolitische Problemstellung sind Preisfindung und Preisentscheidungen bei Verkäufen von Innovationen an andere Unternehmen sowie Preisvereinbarungen bei der Lizenzvergabe. <?page no="315"?> 316 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Im Einzelnen gibt es im Rahmen dieser preispolitischen Entscheidungsanlässe unterschiedliche Preissachverhalte. Dazu gehören Ober- und Untergrenzen von Preisen, Fixierung exakter Preise, Gewährung von Preisnachlässen, sonstige preisrelevante Vertragsbedingungen, Preisdifferenzierung und Preisbündelung, Preisverhandlungskonzepte, Preisbeurteilungen durch die Marktpartner sowie deren Preisreaktionskurven usw. Ein wesentlicher Tatbestand ist die Festlegung des Preisniveaus. Dabei geht es um die Entscheidung, welche Preiskategorie angezielt wird, beispielsweise niedrig-, mittel- oder hochpreisig. Sie wird u.a. durch die strategischen Überlegungen zu Inhalt und Art des Marktauftritts determiniert (vgl. 9.4.3.1 und 9.4.3.2). Für eine Zuordnung zu Preisniveaus bedarf es bestimmter Referenzangebote, und diese sind mit steigender Innovationshöhe immer weniger verfügbar. Daher müssen unter Umständen auch weniger oder nicht verwandte Leistungen, die vergleichbare allgemeine Nutzenversprechen erfüllen, zur Preisjustierung herangezogen werden. So kann für ein neuartiges Computerspiel die Preisspanne aller Computerspiele betrachtet werden oder für Bekleidung aus neuen Textilfasern, etwa Outdoor-Winteroberbekleidung, die Preisspanne existierender Bekleidungsangebote derselben Kategorie. Auf einer solchen Basis ist dann ein „Normalpreis“ als Referenzpunkt festzulegen. Da auch Kunden innovative Angebote nicht oder nicht ohne Weiteres mit anderen Marktangeboten vergleichen können und neue Nutzenwahrnehmungen hervorgerufen werden, sind innovationsbedingt sowohl Preisaufschläge als auch Preisabschläge im Vergleich zu einem fiktiven (mittleren) Normalpreis, der von den Abnehmern als Referenzmaßstab herangezogenen wird, denkbar (vgl. auch Abbildung 51). Preisaufschläge lassen sich dann durchsetzen, wenn die zusätzlichen Nutzenwahrnehmungen sachlicher und/ oder emotionaler Art zu entsprechender Preisakzeptanz und Kaufbereitschaft führen. Der hohe Preis an sich kann dabei als Qualitätsindikator (siehe 9.5.1.2) oder als gesellschaftliches Statussymbol dienen. Beides dürfte z.B. bei der Hochpreispolitik von Apple-Produkten eine Rolle spielen. Preisabschläge sind notwendig, wenn die Nutzenwahrnehmung (noch) nicht ausreichend ausgeprägt ist bzw. die mit der Innovation verbundenen finanziellen, sozialen, Anwendungs- und sonstigen Risiken als hoch eingeschätzt werden. Häufig werden positive und negative Einflüsse gleichzeitig auftreten, so dass im Rahmen einer Preissetzungsspanne zwischen fiktivem Höchst- und Niedrigpreis ein realistischer Kompromiss-Einführungspreis zu finden ist, der einen adäquaten Absatz verspricht. Es kommt also darauf an, eine Preis-Reaktionskurve für die in Frage stehende Innovation zu schätzen. Diese ist allerdings noch schwerer als bei eingeführten Produkten zu ermitteln, da der Innovator auf keine oder keine direkt vergleichbaren Erfahrungswerte zurückgreifen kann und es noch stärker auf die eingesetzten bzw. einzusetzenden Marketingmaßnahmen zur Nutzenpropagierung und Kundenüberzeugung ankommt. Darum spielen bei innovativen Produkten, speziell im Konsumgüterbereich, neben Expertenurteilen Testverkäufe eine besondere Rolle für die Preissetzung (vgl. u.a. Simon/ Fassnacht, 2009, S. 109ff.). Die zentrale Herausforderung bei der Erhebung solcher Preisreaktionsinformationen ist eine adäquate Vermittlung der Innovation in Verbindung mit einer realistischen Kaufsituation. Bloße Fragen nach der Kaufbereitschaft bei bestimmten Preisen werden Käufer regelmäßig überfordern, da sie nicht nur von der realen Kaufsituation losgelöst sind, sondern bei Innovationen eine <?page no="316"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 317 www.uvk-lucius.de/ innovation Darstellung des Angebots ohne tatsächliche Nutzung kaum zu verlässlichen Aussagen führt. Im Industriegüterbereich ist die Situation insofern einfacher als bestimmte technische Kennzahlen dem Fachmann die neuartige Leistung eindeutiger vermitteln können. Häufig ermöglichen allerdings auch hier erst tatsächlicher Einsatz, Belastungsvergleiche, Dauernutzung usw. eine vollständige Einschätzung der Innovation. Eine spezifische Komplexität der Preisniveauentscheidung ergibt sich bei der Einführung der Innovation in mehrere Märkte, insbesondere mehrere geographische Regionen. Da die ökonomisch-kulturellen Voraussetzungen unter Umständen stark differieren, kann es nötig werden, unterschiedliche Preisniveaus für einige oder alle Märkte festzulegen. So können sich z.B. Kaufkraft, Wettbewerbsverhältnisse, soziale Strukturen unterscheiden. Insbesondere ist auf innovationsbezogene Unterschiede zu achten, etwa Einsetzbarkeit der Innovation, Innovationsakzeptanz, Innovationsniveau des Landes, Innovationsförderung. Durch eine Differenzierung der Preise für dieselbe Innovation in verschiedenen Ländern lässt sich eine bessere Ausschöpfung des vorhandenen Kaufpotentials für die Innovation erreichen, denn das Preisniveau, das in dem einen Markt zu zahlreichen Verkäufen führt, kann in einem anderen Markt für einen Großteil potenzieller Kunden inakzeptabel hoch sein. Die Preisdifferenzierung gelingt auf längere Sicht allerdings nur, wenn zwischen den preisniveaumäßig unterschiedlich behandelten Märkten Barrieren existieren, die den Austausch zwischen diesen in Form von „Arbitrage-Geschäften“ weitgehend verhindern. Anderenfalls würde es für Dritte lohnen, die Innovationen aus Niedrigpreismärkten in Hochpreismärkte, etwa in Form von Re-Exporten, zu transferieren. Dieses Problem tritt z.B. im Automobilmarkt wegen differierender Fabrikabgabepreise an die nationalen Händler auf. Um das zu verhindern, müssen die notwendigen Transaktionskosten für derartige Aktivitäten (Steuern, Zölle, Transport, Versicherung, staatliche Produktvorschriften usw.) bekannt sein, denn diese stellen natürliche Hemmnisse für solche Arbitrage-Geschäfte dar. Weitere darüber hinausgehende Barrieren können Vorkehrungen des innovierenden Unternehmens sein, z.B. eine entsprechende geschützte Distribution oder eine zur Preisdifferenzierung parallele (geringfügige) Produktdifferenzierung wie Designvarianten, die nur für einen Markt besondere Bedeutung haben. So sind viele Automodelle nicht global verfügbar. Eine ähnliche Problematik ergibt sich im Falle der Lizenzerteilung für mehrere Lizenznehmer, die unterschiedliche Märkte, z.B. auch wieder verschiedene geographische Regionen, abdecken. Wenn unterschiedliche preispolitische Vereinbarungen für die Lizenznehmer getroffen werden, müssen diese aus der Marktsituation begründet sein. So können bei der Bestimmung von Lizenzgebühren und sonstigen Preisfestlegungen die absolute Marktgröße, die Entwicklung des Marktes, das Marktpotential, die notwendigen Marktbearbeitungskosten usw. berücksichtigt werden. Dabei ist aus der Sicht der Lizenznehmer wie bei der Preisdifferenzierung im Falle der Eigenvermarktung die Trennung bzw. Abgrenzbarkeit der einzelnen Märkte von Bedeutung, da anderenfalls arbitrageähnliche Geschäftspraktiken zu ihren Lasten stattfinden können. Der Lizenzgeber sollte sich allerdings der Tatsache bewusst sein, dass er auf die Preis- (niveau)gestaltung seiner Lizenznehmer nur bedingt Einfluss hat. Im Allgemeinen gilt das Verbot der Preisbindung der zweiten Hand, wonach ein Unternehmer nur mit seinen direkten Kunden Preisvereinbarungen treffen kann, diese aber nicht in ihrer <?page no="317"?> 318 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Preispolitik gegenüber ihren Kunden, häufig also den Endverbrauchern, binden darf. Damit gibt der Innovator die Preispolitik und deren Wirkpotential, beispielsweise auf das Image der Innovation, auf die Attraktivität des neuartigen Angebots, auf das eigene Gewinnpotential zugunsten risikoreduzierter Lizenzeinkünfte aus der Hand. Eine ganz andere Fragestellung ist die Preisforderung bei Veräußerung der Innovation bzw. des gesamten Unternehmens. Letztlich ist der subjektive Wert der Innovation für den Erwerber ausschlaggebend, den sich dieser beim Kauf der Innovation erhofft. Dabei spielen u.a. Synergie-, Wachstums-, Wissenszuwachs- und Konkurrenzverringerungseffekte eine Rolle. 9.5.2.2 Dynamische Preispolitik Preisfestlegungen sind wie alle anderen operativen Marketingentscheidungen nicht statisch, sondern erfordern laufende Anpassungen. Selbst für Preisniveaus können über die Zeit Veränderungen notwendig werden; bei einzelnen konkreten Preissetzungen ist das fast zwangsläufig der Fall. Grundsätzlich kann eine möglichst lange bzw. eine unbegrenzte Preiskonstanz angestrebt werden. Das gilt speziell für Hochpreise (Premiumstrategie) und für Niedrigpreise (Discountstrategie). Demgegenüber steht ein Vorgehen mit geplanter Preissenkung von einem hohen Einführungspreis aus (Skimmingstrategie) oder mit geplanter Preiserhöhung von einem niedrigen Einführungspreis aus (Penetrationsstrategie). Schließlich sind Sonderangebote mit temporären Preissenkungen denkbar (Promotionssstrategie). Mischformen zwischen den fünf genannten dynamischen Preiskonzepten sind möglich (vgl. zur dynamischen Preispolitik im Einzelnen u.a. Simon/ Fassnacht, 2009, S. 326ff.) Abbildung 51: Innovations-Preispolitik Zeit Preis (P) Pauf (Penetration) Pab (Skimming) „Normalpreis“ / „Normalpreis“spanne Wahrnehmung als Innovation Wahrnehmung als „Normal“angebot Preisfestlegungsspanne Einführungspreis hoch Einführungspreis niedrig <?page no="318"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 319 www.uvk-lucius.de/ innovation Im Innovationskontext spielen insbesondere Skimmingstrategie und Penetrationsstrategie eine Rolle. Diese können sogar als spezifische Innovationspreisstrategien verstanden werden. Ausgehend von dem im vorangehenden Punkt diskutierten Einführungspreis, der eher einem hohen oder einem niedrigen Preisniveau entspricht, ist dieser zu variieren, und zwar im erstgenannten Fall im Zeitablauf tendenziell nach unten, im zweiten Fall tendenziell nach oben. Bei beiden Ausgangslagen ist anzunehmen, dass bei erfolgreicher Markteinführung eine Annäherung an den „Normalpreis“ oder zumindest ein Einpendeln in die am Markt gegebene Preisspanne für vergleichbare Angebote erfolgt (vgl. Abbildung 51). Offensichtlich verfolgt Microsoft bei der Einführung des neuen Betriebssystems Windows 8 mit niedrigen Einführungspreisen eine Penetrationsstrategie. Die Abschmelzung des innovationsbedingten Preisaufschlages bzw. Preisabschlages über die Zeit hängt insbesondere davon ab, ob das Angebot von den Nachfragern noch als innovativ angesehen wird oder ob es bereits zu einem „normalen“ Angebot geworden ist, das keine preislichen Besonderheiten rechtfertigt bzw. erfordert. Der Zeitraum, in dem das Angebot als Innovation wahrgenommen wird, hängt also primär von den Nachfragern ab, wird aber insgesamt von allen Marktbeteiligten determiniert, so von Wettbewerbern und ihren Nachahmerprodukten. Auch das innovierende Unternehmen selbst kann versuchen, den von Nachfragern wahrgenommenen Innovationszeitraum zu verlängern, z.B. durch Modifikationen der Kerninnovation, Zusatzleistungen, Aufbau eines Innovationsimages. Die Anpassung an mittlere Marktpreise wird bei Preissenkungen leichter sein als bei Preiserhöhungen, da die kommunikativen Begründungen im letzteren Fall schwieriger sein dürften und mit Kundenenttäuschung und -reaktanz gerechnet werden muss. Da gleichzeitig auch der Innovationsvorteil schwindet, ist zu prüfen, ob dieser Negativeffekt beim Kunden durch abnehmende Kaufrisiken, weitergehende zusätzliche Innovationselemente/ produktpolitische Maßnahmen und Kontraktgestaltung zu kompensieren ist. Der Innovator sieht sich bei den Preisentscheidungen im Zeitablauf einer Situation gegenüber, die in besonderer Weise durch schwer zu prognostizierende Subjektivität auf der Marktgegenseite geprägt ist. Nicht nur die Festsetzung der Preisfestlegungsspanne und konkreter Einführungspreise sowie die Verfolgung einer Skimming- oder Penetrationsstrategie stehen einer schwer zu ermittelnden Preisbereitschaft der Abnehmer gegenüber. Auch Innovationswahrnehmungszeitraum, sich anschließender „Normal“lebenszyklus, herangezogene Preis-Referenzobjekte sowie Änderungen von Preiserwartung und Preisakzeptanz im Zeitverlauf sind je nach (potenziellem) Kunden individuell unterschiedlich. Die in Abblildung 51 verwendeten Kurven sind daher auch nur idealisierte Beispiele; die progressive Preisreduktion vom Hochpreisniveau und die degressive Erhöhung vom Niedrigpreisniveau aus sind genauso fiktiv wie der konstante Normalpreis/ die konstante Normalpreisspanne. Realiter werden die Zusammenhänge komplexer sein, insbesondere stufenförmig bzw. irregulär verlaufen. Aus wirtschaftlicher Perspektive muss der Innovator auf Basis der Schätzung der Kundenreaktionen für ins Auge gefasste Preise die erzielbaren Deckungsbeiträge von Innovationen errechnen. Hierfür muss insbesondere eine genaue Kostenkalkulation herangezogen werden und eine Vorstellung zu Fixkostendeckung und Gewinnbeitrag im Zeitablauf vorhanden sein. <?page no="319"?> 320 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation 9.5.2.3 Kontraktgestaltung In 9.5.1.2 ist bereits auf die Bedeutung von Zusatzleistungen in Form spezieller Kontraktgestaltung verwiesen worden. Diese kann ihrerseits innovativen Charakter aufweisen. Eine besondere Rolle spielt die Kontraktgestaltung zum einen für den Kauf von Innovationen mit Blick auf die Reduzierung von Unsicherheit. Diese Risiken sind finanzieller Natur, aber auch soziale Risiken wie unerwarteter Eintritt geänderter Lebensbedingungen oder Anerkennung durch soziale Klasse und Referenzgruppen, welche für den Käufer wichtig sind, können zum anderen bei der Kontraktgestaltung berücksichtigt werden. Zentrale Bedeutung haben in dieser Hinsicht alle Vertragsbedingungen, die ein Ausprobieren, eine Rückgabe, eine Rückvergütung, lange Garantiefristen beinhalten. Auf diese Weise ist der Kunde zumindest partiell gegen nicht antizipierte Probleme gesichert und kann auch noch nachträglich Meinungsänderungen vollziehen. Gerade bei unbekannten, ausländischen, kleinen Innovationsanbietern und Angeboten mit hohem Neuheitsgrad werden diese vertraglich vorgesehenen Möglichkeiten eine besondere Rolle spielen. Allerdings wird eine derartige vertragliche Rückversicherung schwieriger, wenn es um langfristige Nutzung geht und möglicherweise Probleme mit der Innovation erst spät sichtbar werden. Eine weitere wesentliche Gruppe von Vertragsvereinbarungen sind Finanzierungshilfen in Form von Zahlungs- und Finanzierungsbedingungen, welche für die Liquiditätssituation des Käufers entlastend sind; denn gerade bei neuen und dem oberen Preissegment zugeordneten Innovationen, die vielleicht auch noch zusätzlich zu einem Bestand gekauft werden sollen oder eine vorzeitige Ersetzung anderer Produkte bedeuten, sind häufig Finanzierungsprobleme auf der Kundenseite zu erwarten. Hier sind auch Besonderheiten bestimmter Märkte zu berücksichtigen, etwa im Industriegütergeschäft auf ausländischen Märkten, in denen günstige Konditionen oft Kaufentscheidungen wesentlich beeinflussen. Es wird dann schnell notwendig werden, mit spezialisierten Finanzdienstleistern zusammenzuarbeiten. Es kommt also ganz wesentlich darauf an, durch kreative Kontraktgestaltung, welche die beiden vorgenannten Aspekte berücksichtigt, Innovationen erfolgreich auf Märkte zu bringen und insbesondere Pilotanwender zu gewinnen. Dabei muss allerdings jeweils ein Ausgleich von Risiko und Finanzierungskosten zwischen den Marktpartnern erfolgen. Gerade kleinere und neue Unternehmen müssen bei der Vermarktung einer Innovation für sich selbst eine genaue Risikoabwägung vornehmen; denn eine Risikovermeidung für den Kunden bedeutet in der Regel eine Risikoverschiebung auf den Anbieter. Entsprechendes gilt für Finanzierungsangebote. Ein Beispiel einer für beide Seiten vorteilhaften Lösung können verschiedene Formen von „Betreiberkonzepten“ sein, bei denen der Kunde statt eines Kaufpreises unterschiedlich definierte leistungsabhängige Nutzungsentgelte zahlt, wie es auch beim Leasing der Fall ist. Beispielsweise bietet das Liechtensteiner Unternehmen Hilti (u.a. Werkzeugmaschinen, Befestigungstechnik) im Rahmen des Hilti Fleetmanagement statt Kauf die Nutzung gegen Gebühren an (vgl. hierzu und zu Betreibermodellen generell Wünsche, 2007, S. 308ff.). <?page no="320"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 321 www.uvk-lucius.de/ innovation Eine spezifische Problemlösung ist die leistungsorientierte Preissetzung bei Anlagegütern (vgl. u.a. Hünerberg/ Hüttmann (2003), S. 717ff.). Bei einer solchen Kontraktgestaltung wird die Bezahlung der Leistung erst im Laufe der Zeit wirksam und durch Teilung von Zusatz-Erlösen, Zusatz-Gewinnen, Kosteneinsparungen, Effizienzsteigerungen, die sich beim Kunden durch den Einsatz des innovativen Gutes ergeben, erbracht. Im Einzelnen kann die Gestaltung eines solchen Konzepts vielgestaltig sein, nämlich mit Blick auf die verwendete Bezugsbasis und ihre Berechnung, auf den Anteil/ den Prozentsatz von dieser Bezugsbasis, der als Entgelt dient, die zu vereinbarende Dauer der Vertragslaufzeit, die Pflichten der beiden Vertragsseiten, etwa bezüglich Wartung und Reparaturen, etc. Betreiberkonzepte und speziell leistungsorientierte Bezahlung weisen für die Innovationsvermarktung große Attraktivität auf. Der Verkäufer signalisiert hohe Qualität und reduziert das Kaufrisiko in erheblichem Maße, da er für längere Zeit die Gefahr von Ausfall und Inadäquanz der Anlage übernimmt. Gleichzeitig tritt für den Kunden kein liquiditätsbelastender Finanzierungsbedarf auf, da die Bezahlung in die Zukunft verschoben ist und aus sonst nicht verfügbaren Erträgen dank der innovativen Verbesserung erfolgt. Es ist sogar eine Übertragung dieses Prinzips auf bestimmte höherwertige Konsum-Gebrauchsgüter wie Heizungsanlagen, Automobile oder Wärmedämmung von Häusern vorstellbar. Allerdings ist leistungsorientierte Bezahlung für Innovationen sowohl für die Anbieterals auch für die Nachfragerseite durchaus kein einfaches Kontraktmodell; es erfordert eine Reihe von Vorkehrungen, damit es funktioniert. Der Innovator muss davon ausgehen können, dass sein Produkt dauerhaft funktioniert und existierenden Lösungen überlegen ist. Außerdem muss es für den infrage stehenden Anwendungsfall ausgelegt und adäquat sein. Die Verbesserungen sollten sich konkret und eindeutig ermitteln lassen und nur von der Produktanwendung abhängen. Die Einwirkungsmöglichkeit des Nutzers auf das erzielte Ergebnis darf nicht zu hoch sein; er muss willens und in der Lage sein, die Innovation sachgerecht einzusetzen und bis zum Ende der Vertragslaufzeit seine Verpflichtungen erfüllen können. Der Anwender bindet sich auf längere Zeit und verzichtet bis zu einem gewissen Grade auf zukünftige überlegene Innovationen. Zudem muss er auf die Leistungsfähigkeit des Anbieters vertrauen, was Wartung, Weiterentwicklungen, notwendige Anpassungen angeht. Gerade im Falle von noch wenig erprobten Neuerungen und kleinen Unternehmen als Innovationsanbietern ergeben sich aus diesen Blickwinkeln Probleme für beide Seiten. 9.5.3 Kommunikationspolitische Innovationsinstrumente Im Innovationsmarketing kommt Kommunikationspolitik als Marketinginstrument der Bekanntmachung und Überzeugung eine zentrale Rolle zu. Ihr richtiger Einsatz ist eine Voraussetzung für den Vermarktungserfolg. Kommunikationspolitik beinhaltet zahlreiche Entscheidungsprobleme von der Festlegung eines Kommunikationsbudgets über die Definition von Kommunikationszielgruppen bis zur Gestaltung von Kommunikationsmitteln (vgl. allgemein u.a. Meffert/ Burmann/ Kirchgeorg, 2012, S. 606ff., sowie die spezifischen Hinweise für Innovationen bei Hofbauer u.a., 2009, S. 141ff.) Im Innovationskontext soll im Folgenden insbesondere auf die Fragen der Verfolgung von Kommunikationszielen, der heranziehbaren Kommunikationsformen und -inhalte sowie des Einsatzes von Medien eingegangen werden. <?page no="321"?> 322 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation 9.5.3.1 Kommunikationsziele Im Zweifel trägt zwar der gemeinsame Einsatz aller Marketinginstrumente zur Erreichung der in 9.3 genannten Marktziele für Innovationen bei, die Kommunikationspolitik dominiert jedoch die Realisierung der vor-ökonomischen Zielsetzungen. Im Einzelnen sollen Kommunikationsmaßnahmen - in Abstimmung mit den anderen Marketinginstrumenten - spezifische Kommunikationszielsetzungen erfüllen, die als Unterziele der genannten generellen Marktzielsetzungen zu verstehen sind. Diese sind insbesondere auf die zu erreichenden Zielgruppen auszurichten (vgl. u.a. Plankert, 2010, S. 112ff.). Es geht nicht nur um die Erreichung von potenziellen Kunden, sondern auch um die Beeinflussung von Individuen, Personengruppen und Institutionen, die für die Entwicklung und Durchsetzung der Innovation von Bedeutung sind, zum Beispiel Lieferanten, Partner, Kapitalgeber, Meinungsführer im öffentlichen Raum. Mit diesen kann als Beteiligten bei der Innovationserstellung kommuniziert werden, aber auch im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Innovationsvermarktung, etwa als Referenzgeber oder Partner bei kooperativen Kommunikationsformen. Da es im Innovationsmarketing um die externe Vermarktung geht, wird nicht auf die durchaus schwierigen unternehmensinternen Kommunikationsnotwendigkeiten zwischen den Beteiligten (Einzelpersonen, Abteilungen) bei Initiierung und Entwicklung der Innovation eingegangen. Bei der Betrachtung von Kommunikationszielsetzungen sind - ähnlich wie bei der Preispolitik - verschiedene Phasen des Innovationsprozesses zu unterscheiden (vgl. Abbildung 52). Abbildung 52: Kommunikationsphasen der Innovationsvermarktung <?page no="322"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 323 www.uvk-lucius.de/ innovation In der Zeit vor der tatsächlichen Markteinführung, das heißt vor der Verfügbarkeit der Innovation am Markt (Vor-Innovationsphase), können vorbereitende Kommunikationsmaßnahmen zur Aufmerksamkeitsschaffung sinnvoll sein bzw. eine gezielte Information von wichtigen Einzelpersonen und Gruppen wie Meinungsführern, um eine positive Erwartungshaltung zu wecken und frühzeitige Beschäftigung mit der Innovation anzuregen (vgl. zum Konzept und den theoretischen Grundlagen z.B. Bornemann, 2010, S. 6ff.). Das ist von besonderer Bedeutung bei bahnbrechenden und anderen radikalen Innovationen. Auf diese Weise kann auch der Zeitraum zwischen Markteinführung und Kaufentscheidung verkürzt werden, ein Effekt, der insbesondere dann von Bedeutung ist, wenn sich Kaufentscheidungsprozesse über längere Zeit hinziehen, wie es bei hochwertigen Gütern oft der Fall ist. Es kann sogar gelingen, einen Spannungsbogen durch zahlreiche kommunikative Maßnahmen aufzubauen, der so lange andauert und zu einem Höhepunkt führt, bis das Produkt dann verfügbar ist und von frühen Adoptern in größerer Zahl gekauft wird. Beispiele hierfür sind entsprechende Ankündigungen zu neuen Automobilmodellen oder Kommunikationsgeräten, etwa der „Hype“ um neue Smartphone-Modelle und Tablet Computer (vgl. u.a. Trommsdorff/ Steinhoff, 2007, S. 141ff.). Wenn man allerdings diese Kommunikationszielsetzung in der Phase vor der Markteinführung verfolgt, wird - wie bei früher Patentanmeldung - auch die Aufmerksamkeit potenzieller Konkurrenten auf die bevorstehende Innovation gelenkt, möglicherweise mit entsprechenden konkurrierenden Gegenaktivitäten, so dass eine besonders sorgfältige Abwägung der Informationsfrei- und -weitergabe in dieser Phase erfolgen muss. Zudem kann die Erwartung der Nachfrager zu hoch und unerfüllbar werden, so dass letztlich Unzufriedenheit generiert wird. Falls bereits andere Produkte des Innovationsanbieters am Markt sind, besteht auch die Gefahr, dass das existierende Angebot auf wenig Nachfrage trifft, weil diese auf das erwartete neue Produkt verschoben wird. Als zweite Kommunikationsphase für Innovationen lässt sich die unmittelbare Einführung, der Verkaufsstart, ansehen. Die Dauer ist typischerweise relativ eng begrenzt, durch die Wahrnehmung der Nachfrager determiniert und durch den Innovator selbst beeinflussbar. So kann die Produkteinführungsphase zum Beispiel durch unterschiedliche Einführungszeitpunkte in verschiedenen Märkten, Distributionskanälen, Zielgruppen ausgeweitet werden. Wie schon bei der Preispolitik gezeigt (9.5.2.2), kommt es letztlich immer auf die Kunden an, wie lange sie von einem aktuellen Produktneustart ausgehen, und es kann ein Ziel der Kommunikation sein, diese Phase in der subjektiven Wahrnehmung möglichst lange auszudehnen. Primäre Kommunikationszielsetzung muss in dieser Phase die Aufmerksamkeitsschaffung sein. Die in 9.3.2 angesprochene generelle Informationsüberflutung des Menschen erfordert eine starke Aktivierung, damit eine Wahrnehmung von Angeboten oder gar eine nähere Beschäftigung mit diesen überhaupt stattfindet. Die Vielzahl neuer oder pseudo-neuer Produkte erschwert die Wahrnehmbarkeit von Innovationen, und ohne Aufbau eines Informationsdrucks wird sie häufig in der Fülle von Neuigkeiten untergehen. Zwar ist die Wahrnehmung von Innovationen von deren Inhalt abhängig; wenn Innovationen tatsächlich einen konkreten Bedarf besser decken als andere Produkte bzw. neuartige Nutzendimensionen erschließen und zudem noch auf spezifische interessierte Zielgruppen stoßen, mögen sie aber manchmal zu Selbstläufern werden bzw. weniger Kommunikationsanstrengungen bedürfen. Das gilt auch für An- <?page no="323"?> 324 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation gebote, die vom Markt erwartet werden, weil es gelungen ist, bereits in der Vorankündigungsphase oder durch eine überragende Unternehmensattraktivität Bedarf zu schaffen. Als Beispiel kann wieder Apple genannt werden. In der Regel dürfte jedoch davon auszugehen sein, dass die Aufmerksamkeitsschaffung eine notwendige, schwer zu erreichende Voraussetzung ist, die erhebliche Kommunikationsanstrengungen erfordert. Mit der Aufmerksamkeitswirkung eng verbunden ist die weitergehende Kommunikationszielsetzung der Schaffung eines überzeugenden Eindrucks von der Innovation im Sinne des zuvor thematisierten von den potenziellen Kunden wahrzunehmenden USP (vgl. 9.3.2). Gerade bei Innovationen gehört hierzu das Verständnis des neuartigen Nutzens, also eine rationale Überzeugung des Individuums. Da gerade bei komplexen technischen Innovationen dieser Nutzen schwer erklärbar sein kann, stellt sich der Kommunikation die Aufgabe diesen selbst bei kürzestem Kommunikationskontakt prägnant zu erläutern. Doch selbst bei Innovationen besteht die Zielsetzung, einen überzeugenden Eindruck zu vermitteln, insbesondere auch in der Vermittlung eines emotionalen Gefühls, in dem sich ein positives Bild, eine sympathische Anmutung, schließlich eine Wünschbarkeit niederschlagen. Die Kommunikation muss daher eine optimale Verbindung von rationalen und emotionalen Aspekten realisieren helfen, um die in 9.3.2 als zentrale Marktziele bezeichnete Akzeptanz und Kaufbereitschaft zu erreichen. Die auf die Einführungsphase folgende Zeit des verbleibenden, subjektiv von Kunden (späten Adoptern) wahrgenommenen Innovationszeitraums sollte sich auf zwei Zielsetzungen konzentrieren, die Verfestigung eines positiven Eindrucks bei der Zielgruppe in Richtung auf entsprechende Einstellungen sowie weiterhin Aufmerksamkeitswirkung und kognitiv-emotionale Beeindruckung für die jetzt noch neu hinzukommenden potenziellen Kunden. So kann versucht werden, eine klare Positionierung des innovierenden Unternehmens und des innovativen Produkts im Wettbewerbsumfeld zu erreichen. Diese Zielsetzung ist für neu an den Markt gehende Unternehmen und für Unternehmen ohne eindeutiges entsprechendes Image besonders herausfordernd. Eingeführte Unternehmen, die über ein in dieser Hinsicht adäquates Image verfügen, brauchen diese Positionierungsaufgabe weniger zu bedenken, können aber eine Verstärkung oder eine Modifikation anstreben. Weiterhin ist eine kommunikative Begleitung der anderen zum Einsatz gelangenden Marketinginstrumente wichtig, insbesondere für die in 9.5.2.2 angesprochene dynamische Preispolitik. Dem Innovationszeitraum folgt die Vermarktung der Innovation als „Normalprodukt“. Sie besteht mit Blick auf kommunikative Zielsetzungen in der Aufrechterhaltung des Bekanntheitsgrades, der Unterstützung der Leistungs- und Preispolitik, der Konsolidierung des Images, der Vorbereitung und Begleitung von Relaunches, die bereits als partielle Folge-Innovationen konzipiert werden können, und des Übergangs zu neuen Produkten, welche die ehemalige Innovation ablösen. Neben diesen eher allgemeinen phasenspezifischen Kommunikationsaufgaben kann für Innovationen aber auch die Begleitung tatsächlicher Kunden in der Nutzungsphase eine wichtige Kommunikationszielsetzung sein. Je radikaler und hochwertiger die Innovation und je komplexer der Anwendungskontext sind, desto mehr muss der Innovator darauf achten, dass ein angemessener Innovationseinsatz erfolgt. Anderenfalls können Kundenprobleme auftreten. Die präventive Kommunikation zur Vermeidung <?page no="324"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 325 www.uvk-lucius.de/ innovation von Unzufriedenheit, Verärgerung, Kundenabwanderung und Imagebeeinträchtigungen muss im Zusammenhang mit Innovationen wegen der speziellen Risikosituation des Kunden also besonders gepflegt und mit weiteren Marketingmaßnahmen wie unerwarteten Zusatzleistungen abgestimmt werden. Auch die generelle Kontaktpflege über die spezielle Risikoabwehr hinaus ist gerade mit Blick auf spätere Innovationen ein wichtiges Kommunikationsziel. Darüber hinaus ist ein gewisses Bekanntheitsniveau des Innovators und der (ehemaligen) Innovation aufrecht zu erhalten, ebenfalls mit Blick auf zukünftige Marktaktivitäten. Zu diesem Zweck ist festzustellen, wann ein bestimmtes Bekanntheitsniveau in relevanten Zielgruppen unterschritten ist; denn es ist davon auszugehen, dass entsprechende Innovationskenntnisse im Zeitablauf abnehmen. 9.5.3.2 Kommunikationsformen und -inhalte Die Kommunikationsziele sollen mit entsprechender Kommunikationsgestaltung erreicht werden. Hierzu tragen zahlreiche Entscheidungen bei. Im Mittelpunkt stehen Formen der Kommunikation und die Umsetzung durch Inhalte und Gestaltung von jeweils infrage kommenden Kommunikationsmitteln. Aus der Vielzahl von Kommunikationsformen bietet sich für technologische Innovationen mit Unternehmen als Kundenzielgruppe besonders die Teilnahme an Veranstaltungen, speziell Messen und Ausstellungen an (vgl. u.a. Heger, 2007, S. 77ff.). Die Präsentation von Neuheiten lässt sich so relativ zielgruppenspezifisch bewerkstelligen und mit persönlicher Kommunikation verbinden. Diese Form eignet sich für die Vorankündigungs- und Einführungsphase und dient sowohl der Aufmerksamkeitsweckung als auch der Vermittlung von Informationen zur Innovation bis hin zu individueller Kontaktaufnahme und letztlich auch Geschäftsabschluss. Selbst in einem späteren Stadium des Innovationsprozesses kann die Präsenz bei derartigen Veranstaltungen Imageaufbau und Kontaktpflege ermöglichen. In geringerem Maße erfüllen auch entsprechende Veranstaltungen für Endverbraucher ähnliche Zielsetzungen. Neben Messen und Ausstellungen ist besonders auf Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) zu verweisen. Insbesondere redaktionelle Beiträge und Mitteilungen durch Dritte, speziell von solchen mit wahrgenommener Fachkompetenz, eignen sich für die Bekanntmachung von Neuheiten. Das gilt für die Zeit vor und nach der Markteinführung der Innovation. Da ihnen regelmäßig eine höhere Glaubwürdigkeit als unternehmerischer Kommunikation zugebilligt wird, lassen sich positive Wahrnehmungen und letztlich Akzeptanz und Kaufbereitschaft erreichen. Über die Innovation sollte also so viel wie möglich berichtet werden, ein Vorgang, der vom innovierenden Unternehmen beeinflusst werden kann. Hierzu dienen u.a. Pressemitteilungen, Verfassen von Fachartikeln, Teilnahme an Kongressen, insbesondere aber Schaffung von „Events“ (Tag der offenen Tür, Firmenpräsentationen, Ausrichtung von Veranstaltungen, Unterstützung von Aktivitäten im öffentlichen Raum usw.). Diese sollten dann Gegenstand von Veröffentlichungen in öffentlichen und privaten Medien sein. Die Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen wie Fachleute lässt sich dabei gut steuern. Als besondere Formen der Öffentlichkeitsarbeit lassen sich Sponsoring und Product Placement ansehen. Sponsoring beruht auf der Unterstützung bestimmter, meist publikumswirksamer Aktivitäten gegen angemessene Herausstellung des Sponsors; Product <?page no="325"?> 326 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Placement ist der bezahlte Einsatz von Produkten in Filmen, Fernsehsendungen etc. Für Innovationen bieten sich derartige Vorgehensweisen dann an, wenn bereits ein gewisser Bekanntheitsgrad, zumindest des Unternehmens, besteht und dieser weiter gefestigt werden soll, wobei die Verbindung zu einer Produktneuheit in entsprechend knapper Form möglich ist. Die dritte Form der Kommunikation, die sich für Innovationen besonders anbietet und teilweise bereits Bestandteil der vorgenannten Messen und Ausstellungen sowie der Öffentlichkeitsarbeit ist, stellt die persönliche Kommunikation dar, mit Blick auf die Endzielsetzung Verkauf auch als persönlicher Verkauf bezeichnet. Der Einsatz von Personen mit Kommunikations- und Verkaufsfunktion in weitestem Sinne, seien es Unternehmensinhaber, Entwickler, Vertriebsmitarbeiter, selbständige Distributionsorgane (vgl. hierzu später 9.5.4.2), bietet sich in allen Phasen und für verschiedene Kommunikationsziele an. So sind in der Vorbereitungsphase Kontakte mit möglichen Pilotanwendern, Experten, Referenzkunden, Früh-Adoptern sinnvoll, um diese über die bevorstehende Innovationseinführung zu informieren und einen Word-of-mouth- Prozess in den relevanten Zielgruppen in Gang zu bringen. Auf diese Weise werden Aufmerksamkeit und Bekanntheit initiiert sowie grundlegende Kenntnisse und auch Emotionen verbreitet. Die Phase der Markteinführung und die Zeiten danach werden ebenfalls durch persönliche Kommunikation gefördert, insbesondere wenn sie aktiv und systematisch durchgeführt wird. Im Industriegütergeschäft ist die Rolle des Vertriebs von besonderer Bedeutung und die wohl wichtigste Form der Innovationskommunikation. Aufmerksamkeit wird hier durch persönlichen Kontakt erzwungen, und die Informationsaufnahme kann gesteuert werden. Das Problem der Erklärungsbedürftigkeit vieler Innovationen lässt sich auf diese Weise, unterstützt durch entsprechendes Informationsmaterial, wohl am besten lösen. Zudem ist eine Überführung vor-ökonomischer Erfolge in ökonomische besser beeinflussbar. Allerdings ist der Einsatz im Konsumgüterbereich eingeschränkter; hier könnten spezielle Innovations- Promotion als Sonderform der Sales Promotion oder die Vorstellung auf Märkten, Veranstaltungen, in Haushalten in Betracht kommen. Insgesamt ist die Wirksamkeit persönlichen Verkaufs durch geschulte Experten, also Face-to-Face-Kommunikation, höher einzuschätzen als viele andere, weniger gezielt und intensiv einsetzbare Kommunikationsmaßnahmen. Neben den hier als primäre Kommunikationsformen für Innovationszwecke angesehenen drei vorgenannten Kategorien ist aber auch auf klassische Werbung zu verweisen. So werden viele Neuprodukteinführungen wie neue Automobilmodelle durch massive Werbekampagnen begleitet. Diese können mehr oder minder zielgruppenspezifisch erfolgen und auch individualisiert werden, beispielsweise im Falle von adressierter Werbung. Gerade letztere ist daher auch für Innovationen gut geeignet. Zwar ist die Ausschöpfungsquote der Zielgruppe genau wie der kommunikative Erfolg eingeschränkt, aber grundsätzlich ist ein Aufmerksamkeits- und Interesseweckungspotenzial gegeben. Wichtige Informationen zur Innovation lassen sich übermitteln, wenngleich deren Aufnahme und das Verständnis weniger als bei Face-to-Face-Kommunikation gesteuert werden können. Massenwerbung durch diverse Medien ist ungezielter gestreut, kann aber bei entsprechendem Werbedruck zu Bekanntheit führen und zum Aufbau eines Images, d.h. zur Positionierung des Produktes über alle Phasen des Innovationsprozesses beitragen. <?page no="326"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 327 www.uvk-lucius.de/ innovation Gerade bei genereller Werbung, aber auch bei Einsatz von schriftlichen Unterlagen, selbst beim Verlauf von Gesprächen kommt es auf die Beachtung einer Reihe von grundlegenden Prinzipien an. Je nach eingesetztem Medium ist es bei einem ersten Kontakt entscheidend, in kurzer Zeit den Kern der Innovation zu vermitteln. Daraus resultiert zum einen die Notwendigkeit radikaler Informationsverkürzung, die viel Kreativität verlangt, um nicht in Belanglosigkeit oder Informationsverzerrung zu verfallen. Zum anderen muss die Darstellung so prägnant sein, dass sie im Gedächtnis bleibt, zugleich interessant und angenehm ist. Das erfordert kurze eindringliche Botschaften, Bilder bzw. bildreiche Sprache, wenig Text, unübersehbare Positionierung wichtiger Elemente wie Marke bzw. Name. Allerdings spielen dabei die Zielgruppe und die Innovationsphase eine große Rolle; Fachleute und Experten gerade im Industriegütergeschäft werden bereits bei ersten Kontakten mehr Informationen erwarten. In späteren Phasen des Innovationsprozesses und des individuellen Adaptionsprozesses von potenziellen Kunden sind sowieso weitergehende Erläuterungen wichtig. Daraus folgt die Aufgabe für das Unternehmen, nicht nur zwischen verschiedenen Kundentypen zu unterscheiden, sondern auch deren innovationsrelevanten Informationsstatus zu erfassen und dann jeweils kommunikativ in adäquater Weise vorzugehen. Es ist einleuchtend, dass individualisierte Kommunikationsformen für derartige Zielsetzungen besser geeignet sind als Massenkommunikation. 9.5.3.3 Medienselektion Die Übermittlung von Kommunikationsinhalten an die Zielgruppen erfolgt mittels Medien. Bei manchen der vorstehend erwähnten Kommunikationsformen ist das Medium zwangsläufig und vom Prinzip her festgelegt. So ist die persönliche Kommunikation auf Personen und damit Face-to-Face-Übermittlung angewiesen und die adressierte Werbung auf Postdienste. Im Einzelnen ist aber auch hier zu entscheiden, welche spezifischen Medien zum Einsatz kommen, welche Personen also mit dem persönlichen Verkauf oder welche Postdienste/ Logistikunternehmen mit der Zustellung adressierter Werbung betraut sind. Bei vielen Kommunikationsformen, etwa Öffentlichkeitsarbeit und genereller Werbung, kann dagegen zwischen mehreren Medienkategorien wie Print- oder elektronischen Medien mit jeweils zahlreichen Möglichkeiten im Einzelnen (Zeitschriftentitel, TV-Sender usw.) gewählt werden. Die Fülle der Einsatzmöglichkeiten und ihrer Kombinationen in Verbindung mit Entscheidungen über die zeitliche und intensitätsmäßige Verwendung macht die Mediaselektion zu einem besonders komplexen Marketingsachverhalt. Entscheidungen sind sowohl auf Basis von Media-Inputfaktoren wie Kosten und Verfügbarkeit als auch von Media- Outputfaktoren in Form von Wirkungsgrößen wie Zielgruppenabdeckung zu treffen (vgl. z.B. Unger u.a., 2007, S. 81ff.). Für die Kommunikation von Innovationen bieten sich grundsätzlich alle Medien an. Entscheidend sind die Kommunikationszielgruppe, die erreicht werden soll, und die zu transportierende Botschaft sowie das Kommunikationsziel. Im Zusammenhang mit den Kommunikationsformen ist bereits darauf verwiesen worden, dass es bei der Kommunikation von Innovationen in vielen Fällen auf zielgruppengerichtete oder sogar individualisierte Kommunikation ankommt. Das gilt in besonderem Maße für technologische, hochpreisige, radikale, anwendungsspezifische Neuheiten, bei kleinen und neu gegründeten Unternehmen auf der Anbieterseite sowie für Aufmerksam- <?page no="327"?> 328 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation keitsweckung, Kenntnisvermittlung und Gewinnung von Pilotanwendern in kleinen Zielgruppen. Individualisierte Kommunikation lässt sich zwar am besten persönlich vermitteln, aber auch andere Medien bieten sich an. Hierzu gehören neben Postzustellung alle anderen an konkrete Adressaten gerichtete Medien wie Telefon, Telefax, E- Mail. Das Problem liegt bei diesen Medien besonders in der Beschaffung aktueller Adressdaten auf Basis der festzulegenden Zielgruppen. Die angesprochenen Personen können ähnlich wie bei einer Face-to-Face-Beziehung bis zu einem gewissen Grade reagieren und ihrerseits zu Sendern werden, so dass gerade für Innovationen wichtige interaktive Kommunikationsbeziehungen zwischen Anbieter und Nachfrager aufgebaut werden können. Wenn größere Zielgruppen oder sogar die Allgemeinheit erreicht werden sollen, bieten sich für Innovationen auch Massenmedien des Printsektors, elektronische Medien und Außenmedien an. Diese sind aber im Wesentlichen ein-direktional gerichtete Medien, die sich eignen, einen Kommunikationsdruck aufzubauen, ohne dass die Informationsempfänger Möglichkeiten zur Rückkoppelung haben. Daher können Innovatoren weniger in einen Informationsaustausch mit ihren potenziellen Kunden eintreten, selbst wenn einige interaktiv ausgerichtete Maßnahmen denkbar sind (Antwortkarten, Angabe von Adressen, Ausdruck von Bereitschaft zu Auskünften usw.). Massenmedien eignen sich aus diesem Grunde, auch wegen der in der Regel hohen Schaltkosten, eher für große Unternehmen mit etabliertem Image, die ihre Marktmacht nutzen, um Innovationen durch dominierende Medienpräsenz möglichst weit gestreut bekannt zu machen. Es gibt jedoch Printmedien und potenziell auch Fernseh-Spartenkanäle, die weniger auf die Allgemeinheit als vielmehr auf kleinere und spezialisierte Zielgruppen ausgerichtet sind. So sind Fachzeitschriften besonders geeignet, auf bestimmte Anwendungsfelder gerichtete Innovationen an die relevanten, durch die Leserschaft abgebildeten Zielgruppen zu tragen. Derartige Medien eignen sich für Öffentlichkeitsarbeit und für Werbung und können in den Phasen des Innovationsprozesses, die hierfür eine Rolle spielen, sinnvoll eingesetzt werden. Die bisher erwähnten Medien lassen sich als klassisch bezeichnen. Neben diese treten zunehmend sogenannte Neue Medien, die insbesondere Internetanwendungen darstellen (vgl. hierzu u.a. Kreutzer, 2012, S. 101ff.). Ein ansprechender und informativer Internetauftritt, der mit den anderen Kommunikationsformen abgestimmt ist, hat sich zu einer Voraussetzung für jegliche Geschäftstätigkeit entwickelt. Das Potenzial für die Innovationskommunikation ist hoch. Die Internetpräsenz bietet die Möglichkeit, Innovationen näher zu erläutern und durch entsprechende hinterlegte WWW-Seiten, durch Newsletter, E-Mail-Benachrichtigungen und Verknüpfungen mit anderen Websites auf divergierende Informationsinteressen potenzieller Kunden einzugehen. Zugleich kann durch umfangreiche Verzweigungen bei den hinterlegten Seiten und Verlinkungen zumindest eine Pseudo-Individualisierung erreicht werden. Klassische Werbung zur Schaffung von Aufmerksamkeit mit ihrem notwendigerweise reduzierten Informationsgehalt lässt sich so zumindest teilweise kompensieren. Gleichzeitig kann die Webpräsenz als geeignetes Medium der Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden. Allerdings ergibt sich als Voraussetzung für die Nutzung des WWW die Notwendigkeit, potenzielle Kunden auf die Website zu leiten. Vor Aufmerksamkeitsschaffung für <?page no="328"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 329 www.uvk-lucius.de/ innovation die Innovation und weitergehenden Kommunikationseffekten ist also zunächst Aufmerksamkeit für das unternehmensspezifische Kommunikationsmedium zu wecken, das im Informationschaos des WWW verborgen ist. Auffällige Angabe der WWW- Adresse auf allen eingesetzten Kommunikationsmitteln ist dabei ein wesentliches Erfordernis. Hilfreich ist auch die Verlinkung mit anderen Seiten, damit die Aufrufchancen eigener Seiten gesteigert werden und eine Verbindung zu anderen Institutionen mit möglichst guter Reputation hergestellt wird. Damit die Aufmerksamkeit anhält und weitere Kommunikationsziele erreicht werden, ist eine inhaltlich und formal einfach zu handhabende und emotional-kognitiv ansprechende sowie aktuelle Gestaltung des Webauftritts zu realisieren. Dabei sollte auch wieder auf die Integration anderer Medien geachtet werden, z.B. durch Hinweise auf Möglichkeiten persönlicher Kommunikation, auf Kataloge, Ausstellungen usw. Häufig wird von WWW-Nutzern nach Problemfeldern und nicht nach konkreten Anbietern gesucht, und dieser Suchanlass lässt sich als eine besondere Chance für innovative Angebote ansehen. In diesen Fällen sind Suchmaschinen zum dominierenden Eintrittsinstrument in das WWW geworden, so dass dieses „Sekundärmedium“ besondere Beachtung verdient. Die Aufmerksamkeit für die angezeigten Fundstellen hängen extrem von vorderen Positionen auf der angezeigten Liste ab, daher ist eine entsprechende Optimierung anzustreben (vgl. z.B. Greifeneder, 2010, S. 45ff., 107ff.). Das kann durch einen Webauftritt gelingen, der den Suchalgorithmen der Suchmaschine Rechnung trägt. Neben den „natürlichen“ Suchergebnissen, die vom Innovator letztlich nicht eindeutig zu steuern sind, lassen sich Anzeigen schalten, bei Google entweder an der Spitze der Suchergebnisse oder in der rechten Ergebnisspalte. Die Weiterentwicklungen des Web 2.0 haben zur Etablierung einer Reihe von neuen Medienmöglichkeiten für das Innovationsmarketing geführt, insbesondere virtuellen Netzwerken, die sogenannten Social Media (vgl. im Überblick u.a. Walsh/ Kilian/ Hass, 2011, S. 4ff.). Die Existenz sozialer Beziehungen, die im Marketing durch den Effekt der Mundpropaganda schon lange als ein wichtiges Medium thematisiert worden war und für die Diffusion von Innovationen als besonders wichtig angesehen wird (vgl. u.a. Mazzarol, 2011, S. 117ff.), bekam durch die technologischen Möglichkeiten des interaktiven Internet eine neue Dimension, und zwar mit Blick auf Reichweite, Geschwindigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Besonderheit im Vergleich zu klassischen Medien und auch zu traditioneller Online-Nutzung besteht in der Eigendynamik eines nutzerbasierten Mediums ohne oder mit eingeschränkten Steuerungsmöglichkeiten durch Güteranbieter. Es stellt sich daher die Frage, wie insbesondere Networking-Plattformen für das Innovationsmarketing als Medien für Öffentlichkeitsarbeit und Werbung genutzt werden können. Bei Innovationen für gewerbliche Abnehmer kommen Business Networking Plattformen in Betracht, zu denen der Innovator Zugang erlangt und so eine Basis für Aufmerksamkeits- und Bekanntheitsgenerierung schaffen kann (vgl. z.B. Cyganski/ Hass, 2011, S. 104ff.) Die Mitgliedschaft in relevanten Communities ist gerade für Innovatoren mit neuartigen Lösungen, die andere Mitglieder gewinnbringend einsetzen können, ein vielversprechender Kommunikationsweg. Bei innovativen Angeboten für Konsumenten ist die potenzielle Zahl der Kommunikationssubjekte um ein Vielfaches größer. Die Initiierung eines Ausgangspunkts für die <?page no="329"?> 330 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation virale Verbreitung, etwa eine originelle Geschichte um die Innovation, z.B. verbunden mit einem Video auf der Website, oder die Zurverfügungstellung einer Community- Plattform, ist eine erste Hürde für den Erfolg. Zudem bleibt die Kontrollierbarkeit gering und die erhoffte positive Vermittlung kann durch entsprechende Kommentare in das Gegenteil umschlagen. Eine in Gang gekommene negative Kommunikation lässt sich nicht anhalten, bestenfalls durch intelligente eigene Kommunikationskommentare einschränken. Trotz anzunehmender Verfälschung von Meinungen über die verdeckte Mitwirkung parteiischer Kommunikatoren wie Wettbewerbern ist die Kritik in Chatrooms, Weblogs, Foren auch eine kostenlose Quelle der Marktforschung, die Verbesserungen der Innovation und weitere Innovationen anregen kann. Die sonst eher latente nicht erkennbare Kundenunzufriedenheit, die sich nur ab und an in Reklamationen äußert, wird durch das Web 2.0 viel eher transparent. Insgesamt stellt das Web 2.0 eine bedeutende Chance für Innovatoren dar, mit relativ wenig Geld ins Gespräch wichtiger Zielgruppen zu kommen, Empfehlungen zu generieren, emotional und kognitiv geprägte Images aufzubauen und unter Umständen die Innovation zu einem Geschäftserfolg zu führen. Da es sich bei Innovationen häufig um die Phantasie anregende Erfindungen bzw. Neuigkeiten handelt, besteht eine grundsätzliche Nähe zu diesem Medium, das in besonderem Maße nach aktuellen und pseudo-aktuellen, neuen, diskussionsfähigen, überaschenden und kontroversen Sachverhalten sucht. Wie viele andere Unternehmen nutzt auch Volkswagen diese Möglichkeiten intensiv, beispielsweise 2010 bei der Einführung des Polo GTI in Europa über facebook („fast lane - driven by fun“) oder durch die Videos zur „Fun Theory“, die bei YouTube fast schon Kultstatus erreicht haben (siehe zu den VW Videos die Zusammenstellungen unter http: / / www.youtube.com/ user/ myvolkswagen/ videos? view=0; zur Nutzung des Web 2.0 und weiteren Beispielen vgl. auch Saldsieder/ Saldsieder, 2010, S. 147ff.). 9.5.4 Distributionspolitische Innovationsinstrumente In der Distributionspolitik, heute auch manchmal unter der Bezeichnung Vertriebspolitik abgehandelt, werden in der Regel die beiden großen Bereiche des Absatzkanal- und des Logistik-Managements unterschieden (vgl. u.a. Meffert/ Burmann/ Kirchgeorg, 2012, S. 542ff.). Im Folgenden wird auf Logistikfragen nur kurz im letzten Unterpunkt eingegangen. Im Vordergrund stehen die Fragen, welche Absatzwege genutzt und welche Vertriebsorgane sowie sonstigen Intermediäre auf welcher Grundlage eingesetzt werden sollen. 9.5.4.1 Absatzwegekonfiguration Bei der Absatzwegekonfiguration geht es um die Länge der Absatzwege im Sinne der Zahl eingeschalteter selbständiger Distributionsmittler sowie die Frage der Zahl der gleichzeitig genutzten Distributionswege (vgl. Abbildung 53). Ein langer Distributionsweg liegt vor, wenn die Distribution über viele Stufen, insbesondere Groß- und Einzelhandel, verläuft, die kürzeste Möglichkeit ist der Direktvertrieb ohne Einschaltung von anderen Unternehmen. Werden mehrere Distributionswege gleichzeitig verfolgt, handelt es sich um ein Mehrkanal-System (Multi-Channel-Absatz). Von Multichanneling wird bereits auch dann gesprochen, wenn aus Perspektive der Hersteller, <?page no="330"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 331 www.uvk-lucius.de/ innovation Innovierendes Unternehmen Vertriebsorgane: Geschäftsführung, Außendienst, Callcenter, Verkaufsabteilung, sonstige Mitarbeiter Absatzhelfer Handelsvertreter, Makler, Kommissionäre, sonstige Intermediäre Absatzhelfer Absatzhelfer Großhandelsstufen Einzelhandel verschiedene Betriebsformen / Formate Direktvertrieb über verschiedene Formate Direktvertrieb über verschiedene Formate Endabnehmer der Innovation Unternehmen oder Konsumenten bei gleichzeitiger Nutzung: Beispiel für (Hersteller) Multichanneling aber auch bei Betrachtung einzelner Handelsebenen verschiedene Betriebsformen/ Formate (z.B. Katalogverkauf und stationärer Verkauf) gleichzeitig zum Einsatz gelangen. Eine verwandte Frage betrifft die Breite von Absatzkanälen, die durch die Anzahl (gleichartiger) Distributionsmittler auf einer Absatzstufe, z.B. belieferte und miteinander konkurrierende Einzelhändler, festgelegt ist. Abbildung 53: Absatzwege und -formen im Innovationsmarketing Es hängt von Art des Angebots und Märkten/ Zielgruppen ab, welche Absatzwegekonfiguration im Falle von Innovationen am meisten Sinn macht. Speziell bei kleinen und spezialisierten Zielgruppen, wie es gerade im Industriegütergeschäft die Regel ist, sowie bei Innovationen mit hohem Neuheitsgrad sind kurze Vertriebswege, tendenziell Formen des direkten Vertriebs, sinnvoll. Dadurch ist der Innovator selbst nahe am Kunden und kann ganz gezielt auf entscheidende Kundensegmente wie frühe Adopter, potenzielle Empfehler, Referenzgeber einwirken und direkt Anregungen für Weiterentwicklungen und Zusatzleistungen aufnehmen. Auf diese Weise lässt sich der generelle Adoptionsprozess am besten in Gang bringen. Die besonders in frühen Phasen des Innovationsprozesses wichtige persönliche Interaktion mit Endkunden, welche die Innovation einsetzen bzw. verwenden können, lässt sich bei Einschaltung von Distributionsmittlern nicht oder bestenfalls indirekt und eingeschränkt realisieren. Bei vielen großen Kunden ist die Beschaffung allerdings standardisiert, z.B. über eigene oder in Kooperation aufgebaute Online-Lieferantenplattformen, so dass für Innovationen spezielle Anstrengungen zur Kontaktanbahnung zu unternehmen sind (vgl. z.B. für Bosch http: / / purchasing.bosch.com/ de/ start/ Allgemeines/ Download/ index.htm, und <?page no="331"?> 332 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation die Hinweise für Innovatoren unter http: / / purchasing.bosch.com/ de/ start/ Einkauf/ innovation/ index.htm). Im Fall von Konsumgüterinnovationen und bei etablierten Beziehungen mit Distributionsmittlern, speziell auf der Einzelhandelsstufe, ist eine direkte persönliche Kontaktaufnahme mit Endkunden schwierig, da für diese der Handel der natürliche Ansprechpartner ist. Daher ist der Kontakt zu den Handelsunternehmen für den Innovationsvertrieb ausschlaggebend, und es kommt darauf an, ihn von der Innovation und dem potenziellen Geschäftserfolg zu überzeugen. Da in vielen Branchen wie dem Lebensmittelsektor jedoch ein Überangebot von Neuprodukten bei gleichzeitiger Regalknappheit besteht, ist der Handel dort - auch wegen des Konzentrationsgrades - in einer überlegenen Marktposition. Das Innovationsangebot kann dann auf eingefahrene Vermarktungsmechanismen mit üblichen, insbesondere finanziellen Restriktionen für Lieferanten (Zuschüsse, Regalpflege, „Eintrittsgelder“) treffen. Daher sind neben dem Versuch individueller Überzeugung beim Handel auch Kommunikationsanstrengungen bei den Endkunden, etwa in Form genereller Werbung wichtig, die zu einem zusätzlichen Druck seitens der Konsumenten auf den Handel führt. Die letztgenannte „ Pullstrategie“ ergänzt dann die auf den Handel angewandte „ Pushstrategie“. Die Frage, ob eine Innovation über mehrere Kanäle gleichzeitig an die Kunden vertrieben werden soll, ist differenziert zu beantworten (vgl. u.a. Weisenfeld, 2007, S. 353ff.). Natürlich wird ein Multi-Channel-Vertrieb die Zahl der Kunden erweitern helfen und ihren speziellen Bedürfnissen besser entgegen kommen, es bedarf jedoch genauerer Analyse, in welchem Umfang das tatsächlich der Fall sein wird; denn Kunden können auch einfach nur auf neue Kanäle ausweichen statt bestehende zu nutzen (Kannibalisierung). Handelt es sich um den gleichzeitigen Einsatz verschiedener Distributionssysteme, also beispielsweise Direktvertrieb und Vertrieb über Einzelhändler, dürfte ein solches Vorgehen für Innovationen wohl am ehesten infrage kommen, wenn es in der Vergangenheit bereits eine solche Mehrgleisigkeit gegeben und diese funktioniert hat. Bei der Einschaltung unterschiedlich langer Absatzwege wie Direktvertrieb und Einschaltung des Einzelhandels treten regelmäßig Konflikte zwischen den verschiedenen Systemen auf, zudem ist der Vertrieb von Innovationen, insbesondere solcher mit großer Innovationshöhe, mit Risiken für den Distributionsmittler verbunden und erfordert ausgeprägtes gegenseitiges Vertrauen. Eine gleichzeitige Bewältigung beider Problembereiche wird die Akteure häufig überfordern. Die Sachlage ist oft anders, wenn der Multichannel-Ansatz lediglich in der Nutzung von unterschiedlichen Formaten innerhalb eines Distributionssystems besteht. Das gilt insbesondere für verschiedene Formen des Direktvertriebs, etwa Angebot der Innovation sowohl über das Internet (e-commerce), über gedruckte Kataloge, über (Verkaufs-) Messen, über eigene Verkaufsstellen usw. Da bei dieser internen Distributionskonkurrenz immer nur der Anbieter involviert ist, kann er eine Abstimmung über die verschiedenen Kanäle sicherstellen und insgesamt ein - auf alle Marketinginstrumente bezogenes - abgestimmtes Vermarktungskonzept realisieren. Die Vermarktung von Innovationen ist wegen der Notwendigkeit, schnell und auf möglichst vielfältige Weise eine Diffusion in den relevanten Zielgruppen zu initiieren, um kritische Absatzmengen zu erreichen, häufig darauf angewiesen, mehrere Vertriebswege anzubieten. Bestimmte (zusätzliche) Bezugsmöglichkeiten, etwa über das Internet, werden gerade bei innovativen Produkten von Kunden sogar erwartet. <?page no="332"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 333 www.uvk-lucius.de/ innovation Bei der gleichzeitigen Einschaltung mehrerer konkurrierender Einzelhändler ergibt sich dagegen aus Herstellersicht eine andere Situation als bei Nutzung verschiedener Formen des Direktvertriebs. Hier ist wieder genau zu analysieren, welchen Grad an externer Distributionskonkurrenz der Innovationsvertrieb verträgt. Grundsätzlich wird aus den schon zuvor genannten Gründen eine Beschränkung auf wenige oder einen einzigen Distributionsmittler angezeigt sein. Eine derartige selektive oder sogar exklusive Distribution ist eine gute Voraussetzung für den Aufbau einer längerfristigen Beziehung, auch mit Blick auf zukünftige Innovationen. Gleichzeitig wird eine Partizipation am Image des Distributionspartners möglich. So vertreibt die Division Vichy des Kosmetikherstellers L’Oréal ihre Innovationen und die gesamte Produktpalette fast ausschließlich über Apotheken. Es ist jedoch andererseits zu prüfen, ob das Absatzpotential der eingeschalteten Distributionsmittler mit Blick auf die anvisierten Endkunden-Zielgruppen hoch genug ist und inwieweit sie den besonderen Anforderungen durch spezifische Innovationen (Beratung, Kundendienst usw.) gerecht werden. Die Fragen der Absatzwegekonfiguration zeigen genau wie viele Problemstellungen in der Kommunikation, etwa beim persönlichen Verkauf als Kommunikationsform, dass von einem immer stärkeren Zusammenwachsen zwischen den Marketinginstrumenten Kommunikation und Distribution auszugehen ist. Das gilt umso mehr für die Innovationsvermarktung, da gerade hier Kaufvorbereitung, Kaufrealisierung und Nachkaufkontakte eng miteinander verwoben sind, teilweise in den gleichen Kanälen stattfinden und daher häufig nicht eindeutig voneinander zu trennen sind (vgl. Hünerberg, 2009, S. 165ff.). Diese Tendenz zu einem einheitlichen Marketinginstrument „Kommunikation und Vertrieb“ wird durch das Internet verstärkt, das sich in besonderer Weise zu einem simultanen Kommunikations- und Vertriebskanal entwickelt hat. 9.5.4.2 Auswahl und Management der Vertriebsorgane Die Überlegungen in 9.5.4.1 zeigten bereits, dass die Absatzwegekonfiguration für Innovationen eng verbunden ist mit der Entscheidung für konkrete Individuen bzw. Organisationen, die im Rahmen des gewählten Distributionssystems beim Vertrieb mitwirken. Diese Frage wird im Folgenden etwas weitergehender und differenzierter betrachtet, da sie für das Innovationsmarketing große Bedeutung hat (vgl. nochmals Abbildung 53 und u.a. das Fallbeispiel eines neuen Softwareproduktes bei Meier, 2007, S. 104ff.). Zunächst ist zwischen eigenen und fremden Vertriebsorganen zu unterscheiden (vgl. hierzu z.B. Homburg, 2012, S. 850ff.). Außendienst, Reisende, Verkäufer, sonstige Mitarbeiter mit Verkaufsfunktion und unterschiedliche Organisationsformen (Innen- und Außendienst, Callcenter, Verkaufsabteilungen, eigene Läden usw.) kommen als betriebseigene Möglichkeiten in Betracht. Wegen der Abweichung vom alltäglichen Geschäft und der damit verbundenen speziellen Herausforderungen des Innovationsvertriebs spielen zumindest in frühen Phasen der Innovation, bei höherwertigen Innovationen und wichtigen Kunden hochrangige Unternehmensvertreter/ Geschäftsführer für den Vertrieb eine große Rolle. Auch hier ist wieder die enge Verknüpfung zwischen Kommunikations- und Vertriebsaufgaben zu konstatieren. Fremde Vertriebsorgane sind zum einen die bei der Absatzwegekonfiguration erwähnten selbständigen Distributionsmittler (Großhandel, Einzelhandel), die Eigentum an den abzusetzenden Produkten erlangen. Zum anderen gibt es aber auch verschiedene <?page no="333"?> 334 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Distributionshelfer, die zwar ebenfalls rechtlich selbständig sind, aber kein Eigentum im Vertriebsprozess erwerben; das sind u.a. Handelsvertreter, Makler, Kommissionäre. Die Einschaltung derartiger Absatzhelfer kann ein Mittel der Wahl für den Innovationsvertrieb sein, wenn sie ausreichend dazu motiviert werden können, das Innovationsprodukt im Markt aktiv voranzubringen. Da Absatzhelfer gut steuerbar und oft spezialisiert und erfahren sind, individuell agieren können und in der Regel keine dominierende Marktmacht ausüben, kann gerade ein Innovator ohne große Ressourcen von deren Einschaltung häufig profitieren. Es kann so gelingen, ohne große Investitionen eine Durchdringung relevanter Kundengruppen zu erreichen. Eine Reihe weiterer Absatzhelfer ist weniger direkt in den Vertriebsprozess eingeschaltet, sie nehmen aber als unterstützende Organe in der Abwicklung von Verkaufsprozessen wesentliche Funktionen wahr. Hierzu zählen Logistikdienstleister, IT-Dienstleister, externe Callcenter, Kundendienstleister etc. Wenn der Innovationsanbieter nur über geringe eigene Ressourcen bzw. Erfahrungen verfügt, wird eine derartige externe Unterstützung im Sinne eines Outsourcing in vielen Bereichen unabdingbar sein. Auch wenn selbständige Absatzmittler eingesetzt werden, können diese durch spezielle vertragliche Ausgestaltung in ein Kooperations- oder sogar Abhängigkeitsverhältnis eingebunden werden. Das gilt u.a. für Franchise- und Vertragshändlersysteme. Diese Möglichkeit eröffnet sich Innovatoren allerdings nur, wenn sie bereits eine wesentliche Marktstellung erreicht haben. Ist das der Fall, können sie die Präsenz des Innovationsproduktes am Markt leicht durchsetzen. Es gibt zudem die Möglichkeit, längerfristige Verträge mit Distributionsmittlern oder -helfern abzuschließen, die besondere Verpflichtungen der einen und/ oder anderen Vertragspartei beinhalten (vgl. zum Kontraktkonzept generell u.a. den Überblick bei Meffert/ Burmann/ Kirchgeorg 2012, S. 564ff.). Auf diese Weise werden wie bei Franchise- oder Vertragshändlersystemen zumindest ansatzweise vertikale Kooperationen begründet. Solche Verpflichtungen sind zum einen Mitwirkungsvereinbarungen von Vertragspartnern, aus der Sicht des Innovators also einerseits seine Eigenbindung (z.B. Dokumentationsüberlassung und Anwendungstraining beim Partner), anderseits die Fremdbindung des Absatzmittlers/ -helfers (z.B. dessen Mitwirkung bei der Werbung und anderen Kommunikationsmaßnahmen). Es gibt zum anderen aber auch Unterlassensvereinbarungen (z.B. Gebietsschutz des Absatzmittlers durch den Innovator als Eigenbindung, kein Weiterverkauf an Wiederverkäufer durch den Absatzmittler/ -helfer als Fremdbindung). Derartige Vereinbarungen lassen sich im Innovationskontext für die hier besonders wichtige gegenseitige Risikoreduktion und Vertrauensbildung einsetzen. Für den Innovator können entsprechende Vertriebsbindungen insbesondere einen Schutz gegen Missbrauch und unkontrollierte Weiterverbreitung darstellen und gewährleisten, dass ein indirekter Vertrieb kompetent abgewickelt wird. Vertriebspartnerschaften können zu weiterreichenden und dauerhaften Kooperationsbeziehungen führen. Beispiele sind ECR (Efficient Consumer Response)-Partnerschaften zwischen Industrie und Handel, die auch für die effiziente Neuentwicklung und Vermarktung von Innovationen - allerdings eher in geringerem Umfang - Anwendung finden (vgl. u.a. Mattmüller/ Tunder, 2004, S. 160ff.) <?page no="334"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 335 www.uvk-lucius.de/ innovation 9.5.4.3 Gestaltung der Vertriebslogistik In der Vertriebslogistik geht es um die Lösung aller Aufgaben, die sich aus der räumlichen und zeitlichen Entfernung zwischen Anbieter und Nachfrager ergeben. Ziel ist die Bereitstellung der richtigen Menge zur richtigen Zeit am richtigen Ort unter Beachtung von Effizienz und Effektivität. Zu entscheiden ist aus dieser Blickrichtung u.a. über Standorte, Lagerhaltung, Lieferzeiten und sonstigen Lieferservice, Transport und den damit verbundenen Einsatz von physischen Kapazitäten und Humanressourcen. In erweiterter Perspektive geht es um unternehmerisches Operations Management mit dem Ziel einer finalen Realisierung der Marketingaufgabe (vgl. Wright/ Hünerberg, 2011, S. 1ff., 145ff., 191ff.). Für Innovatoren ergibt sich die Frage, welche Rolle Logistikentscheidungen für die Innovationsvermarktung spielen bzw. welche Besonderheiten zu beachten sind. Im Bto-B-Geschäft und bei Innovationen mit hohem Wert und Neuheitsgrad werden Logistikfragen eher in den Hintergrund treten. Das gilt gerade auch dann, wenn die Akzeptanz der Kunden hoch ist und es wenig Alternativen zu dem neuen und spezialisierten Angebot gibt. Allerdings können Lieferkonditionen mit einer gewissen Logistikrelevanz wie Installation und Inbetriebnahme dennoch wichtig sein und gerade in ausländischen Märkten den Geschäftsabschluss determinieren. Bei Konsumgütern, speziell häufiger beschafften, spielen Logistikfragen eine größere Rolle. Hier kann insbesondere für Distributionsmittler die verlässliche und zeitgenaue Belieferung eine Voraussetzung für die Annahme des Innovationsangebots sein. Auch bei direktem Vertrieb an den Endkunden spielen Logistikvorkehrungen (u.a. für Zustellung und Retouren) eine unter Umständen kaufentscheidende Rolle und können bei ansonsten einfach zu handhabenden Vertriebskanälen wie dem Internet den entscheidenden Engpass darstellen. Die Anreicherung der Innovation mit Zusatzleistungen (vgl. 9.5.1.2) kann in einigen Fällen sogar auf eine überlegene Vertriebslogistik zurückzuführen oder mit dieser verbunden sein, beispielsweise permanente Beratung und Erreichbarkeit, persönliche Unterstützung bei der Nutzung; im Extremfall ist der Innovationscharakter des gesamten Angebots wesentlich darin begründet. In diesen Fällen muss die Erfüllung der Logistikversprechen natürlich in den Vordergrund treten. Für die Durchführung der meisten logistischen Aufgaben kommt die Übertragung auf spezialisierte Distributionshelfer in Betracht. Die reibungslose Abwicklung der anfallenden Aufgaben hängt von deren Kompetenz ab. Da der Markterfolg von Innovationen zumindest immer in einem gewissen Umfang auch von dem Niveau des Lieferservice mit bestimmt wird, ist eine sorgfältige Auswahl einzusetzender Logistikdienstleister vonnöten. Diese Outsourcing-Entscheidung wird komplizierter, wenn es um relativ unbekannte Auslandsmärkte geht. Letztlich sind eigene Abwicklung, Outsourcing auf alternative Dienstleister, kooperative Lösungen mit anderen Anbietern gegeneinander abzuwägen, um Kosten und innovationsrelevante Serviceniveaus für Lagerhaltung, Verpackung, Transport usw. zu optimieren. <?page no="335"?> 336 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation Die Realisierung der Vermarktung von Innovationen erfolgt durch den Einsatz von Marketinginstrumenten (Leistungspolitik, Entgelt- und Vertragspolitik, Kommunikationspolitik, Distributionspolitik). Die Marktsituation und generelle Marktziele und -strategien bilden hierfür Basis und Rahmen. Die Leistungspolitik ist der Ausgangspunkt aller Maßnahmen. Die Innovationsvermarktung erfordert in der Regel die Entwicklung eines marktfähigen Produkt- Dienstleistungsprogramms im Hinblick auf wesentliche Abnehmer-Nutzendimensionen. Die dahinterstehenden Bedürfnisse sind entweder manifest bzw. latent oder überhaupt nicht vorhanden; Erstere führen zu marktgetriebenen, Letztere zu technologiegetriebenen Innovationen. Für beide ist eine frühzeitige Kundenintegration angezeigt. Die Qualitätsdimensionen der Innovation sind hinsichtlich Inhalt, Erwartungen, Erfahrungen subjektiv geprägt und durch Signalling des Innovators beeinflussbar. Im Innovationskontext ist der Abnehmer mangels Erfahrungen besonders darauf angewiesen. Neben objektivierten Hinweisen wie Zertifizierungen spielt hier auch das Angebot ungewöhnlicher Zusatzleistungen wie Einräumung längerfristiger Garantien eine Rolle. Ein wesentlicher Aspekt der Leistungspolitik ist bei Innovationen deren Schutz, beispielsweise im internationalen Umfeld. Eine Möglichkeit besteht in der Patentierung. Hier sind zahleiche Gesichtspunkte, insbesondere zur zeitlichen Vorgehensweise zu beachten. Die Preispolitik hat die Frage der Preishöhe, speziell des Preisniveaus in den verschiedenen Phasen der Innovationsvermarktung und für die jeweilige Marktstrategie, zu lösen. Es ist auch zu klären, ob unterschiedliche Märkte differierende Preise für die Innovation erfordern. Im Zeitablauf ist zu entscheiden, ob Preissenkungen oder Preiserhöhungen vorzusehen sind und in welchen Zeitfenstern diese stattfinden sollen. Eng verbunden mit Preisentscheidungen ist die Politik der Kontraktgestaltung. Bei Innovationen spielen hier neben Finanzierungsunterstützung Vertrauensaufbau und Risikoreduktion eine zentrale Rolle; diese können durch kreative Vertragsbedingungen, z.B. leistungsorientierte Bezahlung, berücksichtigt werden. Kommunikationspolitik steht im Fokus der Innovationsvermarktung. Die Ziele der Kommunikation lassen sich unmittelbar aus den allgemeinen Marktzielen ableiten und determinieren die verschiedenen Kommunikationsphasen vor, bei und nach der Markteinführung der Kommunikation. Im Wesentlichen geht es um Aufmerksamkeits- und Bekanntheitsschaffung, kognitive und emotionale Überzeugung, Aufbau von Akzeptanz und Kaufbereitschaft sowie positiver Images. Als einzusetzende Kommunikationsformen sind für Innovationen primär Messen und Ausstellungen, Öffentlichkeitsarbeit und sonstige persönliche Kommunikation, unter Umständen aber auch allgemeine Werbekampagnen geeignet. Für die Gestaltung gelten insbesondere die Prinzipien der Kürze, Einprägsamkeit und bildhaften Darstellung. <?page no="336"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 337 www.uvk-lucius.de/ innovation Es lassen sich grundsätzliche alle Medien für den „Transport“ von Kommunikationsbotschaften heranziehen. Individualisierte Medien, speziell solche der Direktkommunikation wie Face-to-Face-Vermittlung, sind für Innovationen das Mittel der Wahl. Das Internet und Web 2.0 lassen sich in mannigfacher Form nutzen, führen aber zu spezifischen Herausforderungen. Bei der Distributionspolitik geht es um die Fragen der Länge und Breite von Distributionskanälen, des gleichzeitigen Einsatzes verschiedener Absatzwege, die Auswahl spezifischer Distributionsorgane und die vertraglichen Regelungen mit ihnen. Ein zweiter großer Bereich sind Entscheidungen zur Vertriebslogistik. Je nach Art der Innovation und den jeweiligen Marktumständen sind im Innovationskontext alle gängigen Formen der Distributionsgestaltung vorstellbar. Besondere Bedeutung erlangen wegen der Nähe zu Kunden und der Motivation von Absatzmittlern tendenziell eher kurze Distributionswege, speziell der Direktvertrieb, und eine genaue Selektion der eingeschalteten Distributionsstufen. Die Unterstützung kompetenter und spezialisierter Intermediäre, etwa in der Vertriebslogistik, ist in der Regel hilfreich. So ist gerade der Vertrieb von Innovationen auf eine funktionierende Logistik angewiesen. Fragen 1. Warum ist eine Kern-Innovation häufig durch zusätzliche Angebotselemente anzureichern? 2. Warum ist die Qualitätseinschätzung einer Innovation durch Kunden subjektiv geprägt? 3. Welche Rolle spielen Screening und bestimmte Formen des Signalling bei Innovationen? 4. Wie lassen sich Innovationen schützen? 5. Warum ist die Preissetzung bei Innovationen ein besonders schwieriges Problem? 6. Inwiefern können bei der Innovationsvermarktung preispolitisch bedingte Arbitrageprobleme auftreten? 7. Welche Innovationsdeterminanten erfordern eher eine Skimming-, welche eher eine Penetrationsstrategie? 8. Was ist leistungsabhängige Bezahlung und warum spielt diese Form der Kontraktgestaltung eine besondere Rolle für das Innovationsmarketing? 9. Wie hängen Phasen des Innovationsprozesses und Kommunikationsziele zusammen? 10. Warum sind bereits vor der Markteinführung von Innovationen Kommunikationsaktivitäten bedeutsam? 11. In welcher Form ist eine individualisierte Kommunikation für Innovationen möglich? <?page no="337"?> 338 9 Innovationsmarketing www.uvk-lucius.de/ innovation 12. Wie lassen sich das Internet und soziale Netzwerke für die Kommunikation von Innovationen einsetzen? 13. Wie können Innovationen an große und marktmächtige Abnehmer vertrieben werden? 14. Was bedeuten eine Push- und eine Pullstrategie im Vertrieb von Innovation? 15. Wann können Multi-Channel-Strategien beim Absatz von Innovationen Sinn machen? 16. Welche Absatzhelfer lassen sich beim Vertrieb von Innovationen sinnvoll einsetzen? Das Beispiel IKEA (Quellen: zahlreiche Internetquellen, insbesondere IKEA 2012a, 2012b, 2012c, 2012d) IKEA wurde 1943 von Ingvar Kamprad in Schweden gegründet, ab 1947 wurden Möbel per Versand verkauft, 1951 wurde der erste Katalog veröffentlicht, 1953 der erste Laden eröffnet. Heute steht hinter IKEA eine niederländische Stiftung (ING- KA) mit einer Holding Gesellschaft (INGKA Holding BV) für die Gesellschaften der IKEA Group. Der Umsatz belief sich 2012 (1.9.2011 - 31.8.2012) auf 27,5 Mrd. Euro; im August 2012 gab es 338 Geschäfte in 40 Ländern, davon 298 Läden in 26 Ländern in Eigenregie und der Rest als externe Franchise-Betriebe. Eine bahnbrechende Innovation steht am Beginn der Entwicklung von IKEA, das Angebot von vorverpackten Möbeln zur Selbstabholung und zum Selbstaufbau sowie die Verkürzung des Lebenszyklus von Möbeln. Hinzu traten laufend weitere länderabhängige Neuheiten, z. B. skandinavisches Design, kreative Einrichtungslösungen aller Art, Verkaufsabwicklung und Serviceelemente. Das Sortiment wurde ständig erneuert und erweitert, besonders bei Wohnzubehör, teilweise auch in durchaus radikaler Weise (neue Produktkategorien wie Restauration, Küchen, Büromöbel, Eigenheime, geplant u.a. Hotels). Aufgabe: Stellen Sie die Entwicklung von IKEA bis zur heutigen Bedeutung mit Blick auf Innovationsprozesse im Einzelnen dar! IKEA hat auf sich wandelnde Situationen in unterschiedlichen Märkten reagiert. Möbel waren langfristig genutzte Gebrauchsgegenstände, die Märkte teilweise gesättigt. In vielen Ländern gab es aber den Trend rasch wachsender, insbesondere städtischer Bevölkerung mit eher geringer Kaufkraft. Gleichzeitig war vielfach eine Sehnsucht nach (westlicher) „Modernität“ im täglichen Leben vorhanden. Konkurrenten waren zunächst dem wenig innovativen Möbelgeschäft mit entsprechenden Verkaufsmethoden verhaftet. Aufgabe: Entwickeln Sie eine SWOT-Analyse für die Ausgangs- und die heutige Situation! Leiten Sie daraus mögliche Marktziele ab! Die geographische Marktauswahl ist heute global geprägt mit Schwerpunkten in Europa und Nordamerika. Zielgruppen sind schwerpunktmäßig offensichtlich junge <?page no="338"?> 9.5 Marketinginstrumente für Innovationen 339 www.uvk-lucius.de/ innovation gebildete städtische Bevölkerungsgruppen, vor allem junge Familien. Das Angebot betrifft das Segment Wohngestaltung mit großer Sortimentstiefe. Der Marktzutritt erfolgt kombiniert, und zwar überwiegend in eigener Regie, in einigen Märkten aber als Kooperationsmodell über Franchiseverträge. Das Marktverhalten ist kosten-/ preisorientiert, jedoch im Laufe der Zeit verstärkt angereichert mit qualitätsorientierten Elementen. Das zeitliche Verhalten läuft häufig auf ein „first-to-market“ hinaus; Märkte wurden nacheinander bearbeitet, Innovationen nicht überall eingeführt (z. B. Fertighäuser). Aufgabe: Beurteilen Sie die strategischen Ausrichtungen aus der Perspektive des Innovationsmarketing! 2012 gibt es ca. 9500 Produkte. Charakteristisch ist vielfach finnisch-schwedisches Design. Marke und Herkunft werden besonders herausgestellt. Das schlägt sich auch in der nordischen Namensgebung für die Produkte nieder. Einige notwendige lokale Anpassungen (z. B. größere Betten in den USA) wurden an einem weitgehend standardisierten Sortiment vorgenommen. Einige Serviceleistungen (z.B. Kinderbetreuung, Club) sind gut ausgebaut, andere eher eingeschränkt, wenngleich in jüngerer Zeit zunehmend angeboten (z. B. Transport und Aufstellung vor Ort gegen Aufpreis). Das Preisniveau wird überwiegend als eher niedrig wahrgenommen. Preiserhöhungen fallen wegen der Sortimentsvielfalt weniger auf; bei ausgewählten Produkten werden Preissenkungen herausgestellt. Von einem kalkulatorischen Ausgleich über das Sortiment ist auszugehen, Preisdifferenzierung über Länder wird praktiziert. Die Vertragsbedingungen sind eher großzügig, insbesondere die Rückgaberegelungen. Die Kommunikation erfolgt überwiegend über den Katalog (Gratisverteilung an ca. 200 Millionen Haushalte) und Broschüren. Hinzu treten humorvolle und innovative Werbung in Massenmedien sowie Events/ Promotion-Aktionen. Internetwerbung inklusive Social Media werden zunehmend intensiv genutzt (z.B. Newsletter, Facebook). Der Vertrieb erfolgt primär über eigene Filialen. Bestellung per Telefon und Ecommerce sind partiell möglich. Im Vordergrund steht Selbstabholung. Die Belieferung der Filialen erfolgt über Vertriebs- und Kundenzentren. Aufgabe: Tragen Sie weitere Einzelheiten zum Einsatz der Marketinginstrumente bei IKEA zusammen und beurteilen Sie den Einsatz von Marketinginstrumenten aus Innovationssicht: für die Leistungspolitik (Ausdifferenzierung von Kerninnovationen und Kundenausrichtung, Qualität von Kerninnovationen und Zusatzleistungen, Innovationsmarkierung und -schutz), für die Entgelt- und Vertragspolitik (Preisniveau, dynamische Preispolitik, Kontraktgestaltung), für die Kommunikationspolitik (Kommunikationsziele, Kommunikationsformen und -inhalte, Medienselektion), für die Distributionspolitik (Absatzwegekonfiguration, Vertriebsorgane, Vertriebslogistik)! <?page no="339"?> www.uvk-lucius.de/ innovation Literatur Grundlagenliteratur Homburg, C., Marketingmanagement, 4. Aufl., Wiesbaden 2012 Loock, H./ Steppeler, H. (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, Wiesbaden 2010 Meffert, H./ Burmann, C./ Kirchgeorg, M., Marketing, 11. 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Bewertung von Innovationen <?page no="344"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte von Prof. Dr. Ulrich Moser Inhalt 10.1 Anwendungsfälle der Bewertung immaterieller Vermögenswerte 10.2 Immaterielle Vermögenswerte als Bewertungsobjekte 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 10.4 Anwendung des Income Approach bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse bei Einbindung der Bewertungsobjekte in ein Unternehmen 10.1 Anwendungsfälle der Bewertung immaterieller Vermögenswerte Wissensziele Sie sollen die verschiedenen Anwendungsgebiete der Bewertung immaterieller Vermögenswerte kennen und erläutern können. Sie sollen die Bewertung immaterieller Vermögenswerte für Zwecke des Innovationsmanagements in diesen Zusammenhang einordnen können. Immaterielle Vermögenswerte werden regelmäßig aus unterschiedlichen Gründen bewertet, wobei insbesondere zwischen transaktionsbezogenen und nicht transaktionsbezogenen Anwendungsfällen unterschieden werden kann (zum Folgenden siehe Moser, 2011, S. 1ff.). Der ersten Gruppe, den transaktionsbezogenen Bewertungsanlässen, ist die Ermittlung von Preisoberbzw. Preisuntergrenze von Käufer bzw. Verkäufer (Grenzpreise) zur Vorbereitung von Kaufpreisverhandlungen zuzuordnen. Grenzpreise sind jedoch nicht nur bei Kauf bzw. Verkauf des Bewertungsobjekts, sondern beispielsweise auch beim Eingehen von strategischen Partnerschaften oder der Einbzw. Auslizenzierung von Intellectual Property zu bestimmen. In diese Gruppe von Bewertungsanlässen fallen auch Bewertungen immaterieller Vermögenswerte für Rechnungslegungszwecke, wobei der Abbildung von Unternehmenszusammenschlüssen nach IFRS 3, ASC 805 und § 301 HGB sowie DRS 12 - neben der Erfassung von Wertminderungen, z.B. nach IAS 36 - wohl die größte Bedeutung zukommt. <?page no="345"?> 346 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Info Die Bedeutung der Bewertung immaterieller Vermögenswerte für Rechnungslegungszwecke spiegelt sich auch in den Prüfungsschwerpunkten der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung DPR e.V., Berlin, wider, die seit 2007 jedes Jahr die Abbildung von Unternehmenszusammenschlüssen und/ oder Überprüfung der Werthaltigkeit von Vermögenswerten beinhalten (vgl. http: / / www.frep.info/ pruefverfahren/ pruefungsschwerpunkte.php). Den transaktionsbezogen Anwendungsfällen sind außerdem Bewertungen immaterieller Vermögenswerte im Rahmen gesellschaftsrechtlicher Gestaltungen sowie steuerrechtlicher Umstrukturierungen zuzurechnen. Bei diesen Anlässen kann u.a. eine Bewertung zur Beurteilung der Werthaltigkeit einer Sacheinlage durch gesellschaftrechtliche Vorschriften (z.B. §§ 33, 183 AktG) vorgeschrieben oder der Nachweis von At-arm‘s-length-Bedingungen geboten sein. Ein weiterer transaktionsbezogener Bewertungsanlass betrifft schließlich Finanzierungstransaktien, bei denen etwa ein Beleihungswert zu bestimmen sein kann. Bei den nicht transaktionsbezogenen Anwendungsfällen kommt Bewertungen immaterieller Vermögenswerte - etwa von Technologien oder Marken - vor allem im Rahmen des Portfolio-Managements eines Unternehmens eine besondere Bedeutung zu: Die strategische Planung (siehe zum Folgenden Bea/ Haas, 2005, S. 166ff.) eines Unternehmens bestimmt die Zusammensetzung von dessen Geschäftsfeld-Portfolio, die Entwicklung der einzelnen strategischen Geschäftsfelder sowie die Entwicklung und Nutzung der Potenziale zur Umsetzung der Strategien. Auf diese Weise leitet sich beispielsweise die Technologie-Strategie eines Unternehmens aus der Unternehmensstrategie ab. Strategische Planung in diesem Sinne stellt sich somit als komplexes Portfolio-Management dar, das das Geschäftsfeld-Portfolio, aber auch die Portfolios der Vermögenswerte des Unternehmens, also z.B. das Patent- oder Marken-Portfolio, umfasst. Folgt das Unternehmen dem Leitbild der Unternehmenswertsteigerung, sollte auch das Portfolio Management auf Wertüberlegungen und damit auf der Bewertung immaterieller Vermögenswerte aufbauen. In diesen Zusammenhang ist die Bewertung immaterieller Vermögenswerte im Rahmen des Innovationsmanagements einzuordnen. Den nicht transaktionsbezogenen Bewertungsanlässen sind schließlich auch die Fälle zuzuordnen, in denen Bewertungen immaterieller Vermögenswerte zu Kommunikationszwecken durchgeführt werden. Zum einen geht es um die Darstellung der Wertgenerierung innerhalb des Unternehmens, etwa des Forschungs- und Entwicklungsbereichs an die Geschäftsleitung oder der Geschäftsleitung an ein Aufsichtsorgan. Zum anderen ist die Kommunikation der Wertschaffung an Adressaten außerhalb des Unternehmens, vor allem an den Kapitalmarkt angesprochen (zum Value Reporting siehe z.B. bei Wolf, 2004, S. 420ff). <?page no="346"?> 10.2 Immaterielle Vermögenswerte als Bewertungsobjekte 347 www.uvk-lucius.de/ innovation Fragen [1] Wie können die Anwendungsfälle der Bewertung immaterieller Vermögenswerte eingeteilt werden? [2] Welcher Gruppe von Anwendungsfällen ordnen Sie die Bewertung immaterieller Vermögenswerte für Rechnungslegungszwecke zu? [3] Welche Bedeutung kommt der Bewertung immaterieller Vermögenswerte im Rahmen der strategische Planung eines Unternehmens zu? Literatur Bea, Franz Xaver, Haas, Jürgen (2005), Strategisches Management, 4. Aufl., Stuttgart 2005. Moser, Ulrich (2011), Bewertung immaterieller Vermögenswerte. Grundlagen, Anwendung, Bilanzierung und Goodwill, Stuttgart 2011. Wolf, Klaus (2004), Value Reporting - Grundlagen und praktische Umsetzung, UM 2004, S. 420-425. 10.2 Immaterielle Vermögenswerte als Bewertungsobjekte Wissensziele Sie sollen den Zusammenhang zwischen der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens und dessen Portfolio von Vermögenswerten anhand von Beispielen erläutern können. Sie sollen die Bedeutung immaterieller Vermögenswerte für die Erzielung von Wettbewerbsvorteilen erkennen. Sie sollen typische immaterielle Vermögenswerte kennen und gängige Einteilungen immaterieller Vermögenswerte darstellen können. 10.2.1 Geschäftstätigkeit und Geschäftsmodell als Bestimmungsfaktor des Portfolios immaterieller Vermögenswerte Ein Unternehmen verfügt typischerweise über ein individuelles „Portfolio“ (auf diesen Ausdruck wird unter Pkt. 10.3.5 eingegangen) von materiellen und immateriellen Vermögenswerten. Dieses ist vor allem durch die Geschäftstätigkeit, insbesondere die Branche, in der das Unternehmen tätig ist, und durch dessen Geschäftsmodell geprägt. Beispiel Bei Unternehmen, die im Bereich Food & Beverage tätig sind, kommt Marken oftmals eine große Bedeutung zu. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn das Unternehmen ausschließlich für Handelsmarken (Private Label) produziert; in diesem Fall sind regelmäßig die Kundenbeziehungen bedeutsam. Das Portfolio immaterieller Vermögenswerte von Unternehmen, die etwa in einer Technologiebranche tätig sind, sieht demgegenüber völlig anders aus. <?page no="347"?> 348 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Im Vorfeld einer Bewertung immaterieller Vermögenswerte kommt der Identifikation dieser Vermögenswerte regelmäßig eine besondere Bedeutung zu (ausführlich hierzu Moser, 2011, S. 6ff., 130ff.). Ausgehend von dem dargelegten Verständnis eines Unternehmens als individuelles Portfolio der diesem zugeordneten Vermögenswerte erfordert diese ein umfassendes Verständnis der Geschäftstätigkeit und des Geschäftsmodells des betrachteten Unternehmens. Im Schrifttum wird dementsprechend darauf hingewiesen, dass zur Identifikation immaterieller Vermögenswerte ein Verständnis des Geschäftsmodells (so z.B. IDW RS HFA 16 Tz. 44) zu erlangen ist und Werttreiberanalysen, denen mehr oder weniger umfangreiche Unternehmens- und Umweltanalysen zugrunde zu legen sind, durchzuführen sind (so etwa Beyer, 2008, S. 159; Zelger, 2008, S. 124). Merksatz Den entscheidenden Ansatzpunkt für die Identifikation immaterieller Vermögenswerte stellen die Wettbewerbsvorteile des betrachteten Unternehmens dar: Immaterielle Vermögenswerte sind dadurch gekennzeichnet, dass deren Nutzung einem Unternehmen grundsätzlich Wettbewerbsvorteile verschaffen soll. 10.2.2 Wettbewerbsvorteile durch Nutzung immaterieller Vermögenswerte Wettbewerbsvorteile lassen sich nach Porter (1992, insbesondere S. 31f.) in zwei Grundtypen einteilen: niedrige Kosten und Differenzierung, wobei beide Vorteile relativ, also im Vergleich zu den Wettbewerbern eines betrachteten Unternehmens zu sehen sind. Beispiel Niedrige Kosten können etwa aus der Anwendung eines speziellen, nicht patentgeschützten Produktionsverfahrens oder einer effizienten Steuerung der Produktion resultieren, aber auch in einer niedrigen Ausschussquote zum Ausdruck kommen. Klassische Differenzierungsvorteile weisen etwa Konsumgüterprodukte auf, die unter einer bekannten Marke verkauft werden, oder Produkte, deren besondere Eigenschaften durch Patente geschützt sind. Differenzierungsvorteile können jedoch auch durch den charakteristischen Geschmack von Lebensmitteln, eine hochwertige Produktqualität oder kurze Lieferzeiten aufgrund niedriger Auftragsdurchlaufzeiten erzielt werden. Die Beispiele zeigen, dass Wettbewerbsvorteilen zwar nicht zwingend, jedoch oftmals immaterielle Vermögenswerte zugrunde liegen. Bei Marken, Patenten, nicht patentgeschützten Technologien (Betriebsgeheimnissen), wie z.B. Produktionsverfahren, sowie Rezepturen, die den Geschmack von Lebensmitteln bestimmen, ist dies offensichtlich. In den anderen genannten Fällen - niedrige Ausschussquoten, hochwertige Produktqualität und kurze Lieferzeiten - können die Wettbewerbsvorteile auf Prozessen basieren, die möglicherweise Know-how verkörpern. Im Falle der effizienten Steuerung der Produktion kann der zugrunde liegende Prozess zudem mittels einer Software umgesetzt sein. <?page no="348"?> 10.2 Immaterielle Vermögenswerte als Bewertungsobjekte 349 www.uvk-lucius.de/ innovation 10.2.3 Ausgewählte Einteilungen immaterieller Vermögenswerte Im Schrifttum werden verschiedene Kategorisierungen immaterieller Vermögenswerte vorgeschlagen. Besonders hervorzuheben ist eine Einteilung, von der der Arbeitskreis „Immaterielle Werte im Rechnungswesen“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. (2001, S. 990f.) ausgeht (Abbildung 54). Diese zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie verdeutlicht, dass sich immaterielle Vermögenswerte ganz überwiegend auf alle Bereiche eines Unternehmens erstrecken. Abbildung 54: Einteilung immaterieller Werte nach Arbeitskreis „Immaterielle Werte im Rechnungswesen“ der Schmalenbach-Gesellschaft Eine andere Einteilung immaterieller Vermögenswerte (Abbildung 55), deren Heranziehung sich für Zwecke der bilanziellen Abbildung von Unternehmenszusammenschlüssen anbietet und die den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt wird, ergibt sich aus den Illustative Examples zu IFRS 3 (IE 18 - IE 44). Eine ähnliche, jedoch weiterführende Kategorisierung, die u.a. goodwill-bezogene immaterielle Vermögenswerte einbezieht, nennen Reilly/ Schweihs (1999, S. 19f.). Darüber hinaus werden in einigen Beiträgen im Schrifttum (z.B. Anson/ Suchy (2005), S. 11ff.) mehr oder weniger ausführliche Kataloge immaterieller Vermögenswerte aufgeführt. Info Ein Überblick über in der Praxis zu beobachtende immaterielle Vermögenswerte ergibt sich aus verschiedenen Studien. Beispielsweise ist auf die Untersuchungen von Royalty Source® (www.royaltysource.com), Houlihan Lokey (www.hl.com/ pressdetail.aspx? id = 3389) sowie BVR (2012) zu verweisen. <?page no="349"?> 350 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 55: Einteilung immaterieller Vermögenswerte nach IFRS 3 Fragen [1] Welche Bestimmungsfaktoren prägen das Portfolio immaterieller Vermögenswerte? [2] Wie ist bei der Identifikation immaterieller Vermögenswerte vorzugehen? [3] Welcher Zusammenhang besteht zwischen Wettbewerbsvorteilen und immateriellen Vermögenswerten? Geben Sie Beispiele für diesen Zusammenhang! [4] Welche Einteilungen immaterieller Vermögenswerte kennen Sie? Erläutern Sie diese! Basis Handelsmarken, Dienstleistungsmarken, Zertifizierungen vertraglich Trade dress vertraglich Zeitungstitel vertraglich Internet Domains vertraglich Wettbewerbsverbote vertraglich B. Kundenbezogene Immaterielle Vermögenswerte (IFRS 3 IE 23) Kundenlisten nicht vertraglich Auftragsbestand vertraglich Kundenverträge und damit verbundene Kundenbeziehungen vertraglich Nicht vertragliche Kundenbeziehungen nicht vertraglich C. Kunstbezogene Immaterielle Vermögenswerte (IFRS 3 IE 32) Bühnenstücke, Opern und Ballettaufführungen vertraglich Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und andere literarische Werke vertraglich Musikalische Werke wie Kompositionen, Liedtexte und Werbemelodien vertraglich Bilder und Fotografien vertraglich Videos und audiovisuelles Material, einschließlich Filme, Musikvideos und Fernsehprogramme vertraglich D. Vertragliche Immaterielle Vermögenswerte (IFRS 3 IE 34) Lizenzverträge, Stillhalteabkommen vertraglich Werbe , Bau , Management , Service oder Lieferverträge vertraglich Miet , Pachtverträge vertraglich Baugenehmigungen vertraglich Franchise Verträge vertraglich Betreiber und Senderechte vertraglich Service Verträge vertraglich Arbeitsverträge vertraglich Nutzungsrechte wie Bohrrechte, Wasser , Luft und Straßennutzungsrechte vertraglich E. Technologiebezogene Immaterielle Vermögensverluste (IFRS 3 IE 39) Patentierte Technologien vertraglich Computer Software vertraglich Nicht patentierte Technologien nicht vertraglich Datenbanken nicht vertraglich Betriebs und Geschäftsgeheimnisse wie geheime Formeln, Prozesse oder Rezepte vertraglich A. Marketingbezogene Immaterielle Vermögenswerte (IFRS 3 IE18) <?page no="350"?> 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 351 www.uvk-lucius.de/ innovation Literatur Anson, Weston, Suchy, Donna (2005), Intellectual Property Valuation. A Primer For Identifying and Determing Value, Chicago 2005. Beyer, Sven (2008), Fair Value-Bewertung von Vermögenswerten und Schulden, in: Ballwieser, Wolfgang, Beyer, Sven, Zelger, Hansjörg, Unternehmenskauf nach IFRS und US-GAAP. Purchase Price Allocation, Goodwill und Impairment-Test, 2., überarbeitete Auflage, Stuttgart 2008, S. 151-202. BVR (2012), Benchmarking Identifiable Intangibles and Their Useful Lives in Business Combinations, Portland, 2012. IDW RS HFA 16, IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung: Bewertung bei der Abbildung von Unternehmenserwerben und bei Werthaltigkeitsprüfungen nach IFRS, FN 2005, S. 721- 738. Moser, Ulrich (2011), Bewertung immaterieller Vermögenswerte. Grundlagen, Anwendung, Bilanzierung und Goodwill, Stuttgart 2011. Porter, Micheal E. (1992), Wettbewerbsvorteile. Spitzenleistungen erreichen und behaupten, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1992. Reilly, Robert F., Schweihs, Robert P. (1999), Valuing Intangible Assets, New York u.a. 1999. Schmalenbach-Gesellschaft (2001), Arbeitskreis „Immaterielle Werte im Rechnungswesen“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Kategorisierung und bilanzielle Erfassung immaterieller Werte, in: DB 2001, S. 989-995. Zelger, Hansjörg (2008), Purchase Price Allocation nach IFRS und US-GAAP, in: Ballwieser, Wolfgang, Beyer, Sven, Zelger, Hansjörg (Hrsg.), Unternehmenskauf nach IFRS und US- GAAP. Purchase Price Allocation, Goodwill und Impairment-Test, 2., überarbeitete Auflage, Stuttgart 2008, S. 101-150. 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze Wissensziele Sie sollen die grundlegenden Bewertungsansätze und die diesen zugrunde liegenden Konzepte kennen und erläutern können. Sie sollen Einkommenszahlungen anhand einfacher Beispiele in die Komponenten Verzinsung des investierten Kapitals und Rückfluss des investierten Kapitals zerlegen können. Sie sollen das Grundproblem bei der Anwendung der grundlegenden Bewertungsansätze zur Bewertung immaterieller Vermögenswerte verstehen. Sie sollen erkennen, dass die Bewertungen immaterieller Vermögenswerte von Unternehmen als Partialkalküle durchzuführen sind, die Bewertungsergebnisse jedoch im Rahmen einer Totalbetrachtung abzustimmen sind. 10.3.1 Ausgangsüberlegungen Der Wert eines Objektes (zu Einzelheiten siehe insbesondere Moser, 2011, S. 15ff., 137ff.), z.B. einer patentgeschützten Technologie oder aber auch eines ganzen Unternehmens, leitet sich aus dem Nutzen ab, den dieses für dessen Eigentümer stiftet (statt <?page no="351"?> 352 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation vieler Born, 2003, S. 21; Smith/ Parr, 2005, S. 141ff.). Zur Messung dieses Nutzens kann grundsätzlich auf drei Kategorien zurückgegriffen werden: Einkommenszahlungen, die das zu bewertende Objekt in Zukunft voraussichtlich generieren wird, verfügbare Marktpreise für das betreffende oder vergleichbare Objekte, Kosten zur Erlangung eines Objekts mit identischen oder vergleichbaren Verwendungs- oder Nutzungsmöglichkeiten. Dementsprechend wird zwischen drei grundlegenden Bewertungsansätzen (siehe hierzu Moser, 2011, S. 16ff., m.w.N.) unterschieden (Abbildung 56): Income Approach (auch „kapitalwertorientierte oder erfolgsorientierte Verfahren“ genannt) Market Approach (auch als „marktpreisorientierte oder marktorientierte Verfahren“ bezeichnet) Cost Approach (auch „kostenorientierte Verfahren“ genannt) Abbildung 56: Grundlegende Bewertungskonzepte Info Ein weiterer Bewertungsansatz ist der Real Option Approach, dessen Anwendung in der Praxis regelmäßig mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden ist. Da diesem Ansatz bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte derzeit keine Bedeutung zukommt, wird dieser in die folgenden Betrachtungen nicht einbezogen (zum Real Options Approach siehe vor allem Copeland/ Antikarov, 2001; Mun, 2002). 10.3.2 Income Approach 10.3.2.1 Konzeption des Income Approach Der Income Approach setzt, wie bereits ausgeführt, an den Einkommenszahlungen an, die in Zukunft voraussichtlich aus dem Bewertungsobjekt zu erwarten sind. Im Fol- <?page no="352"?> 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 353 www.uvk-lucius.de/ innovation genden wird z.T. auch kurz von „Einkommen“ gesprochen. Dieser Ausdruck ist jedoch im Sinne von „Einkommenszahlungen“ zu verstehen. Merksatz Ansatzpunkt des Income Approach ist die Fähigkeit des Bewertungsobjektes, künftig Einkommenszahlungen zu erwirtschaften (vgl. Smith/ Parr, 2005, S. 150ff.; IDW RS HFA 16, Tz. 24-34). Beispiel Einkommenszahlungen resultieren bei einem auslizenzierten Patent oder einer auslizenzierten Marke aus den zukünftigen Lizenzzahlungen an dessen Eigentümer, bei einem Unternehmen aus den zukünftigen Ausschüttungen an die Anteilseigner bzw. den Zahlungen an alle Kapitalgeber. Zur Ableitung des Wertes wird beim Income Approach das aus dem Bewertungsobjekt zu erwartende zukünftige Einkommen mit dem Einkommen verglichen, das aus einer alternativen Anlagemöglichkeit zukünftig voraussichtlich erzielbar ist. Der Wert des Bewertungsobjekts entspricht dann dem Betrag, der zur Erlangung der Alternativanlage zu investieren ist. Im Einzelnen gilt: Ein Objekt i (mit i = 1 bis n) weist eine Nutzungsdauer von einem Jahr auf und erzielt in t = 1 ein Einkommen von . Eine zu dieser Investition alternative Anlage verzinst sich in der Periode t = 1 mit einem Zinssatz von . Der Wert dieses Objekts im Zeitpunkt t = 0 ( ) ergibt sich somit aus der Beziehung Weist das Objekt i im Zeitpunkt t = 0 eine Nutzungsdauer von zwei Jahren auf und erzielt in t = 2 ein Einkommen von , ergibt sich auf dieser Grundlage in t = 1 ein Wert von und in t = 0 von Durch Weiterführung dieser Überlegung kann aufgezeigt werden, dass der Wert eines Bewertungsobjekts i (mit i = 1 bis n) im Zeitpunkt t (mit t = 0 bis ) durch die Beziehung bestimmt ist. Diese Vorgehensweise wird auch als Roll-Back-Verfahren (hierzu insbesondere Enzinger/ Kofler, 2011, S. 2ff.) bezeichnet. Bei einer Nutzungsdauer des Bewertungsobjekts i von T Perioden (mit 0 < T ) und einer im Zeitablauf konstanten Verzinsung der Alternativanlage ( für alle t <?page no="353"?> 354 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation = 0 bis ) kann diese Beziehung durch rekursives Vorgehen und Einsetzen der Beziehung für in die Beziehung für für alle t = 0 bis T-1 in die Barwertformel bezogen auf den Bewertungsstichtag t = 0 überführt werden. Es gilt Der auf dieser Grundlage ermittelte Wert stellt entweder die Preisobergrenze des Käufers oder die Preisuntergrenze des Verkäufers dar und wird deswegen auch als Grenzpreis bezeichnet. Definition Aus Sicht des Erwerbers ist der Grenzpreis der Betrag, den dieser für den Erwerb eines Objektes höchstens bezahlen darf, ohne eine Verschlechterung seiner Vermögensposition im Vergleich zur Unterlassung des Erwerbs zu erfahren. Für den Veräußerer gilt in entsprechender Weise, dass er beim Verkauf eines Objekts mindestens den Grenzpreis erzielen muss, wenn er eine Verschlechterung seiner Vermögensposition im Vergleich zur Unterlassung des Verkaufs vermeiden möchte. Merksatz Dem Income Approach sind als Bewertungsmethoden die Discounted Cashflow- Verfahren sowie die Ertragswertmethode zuzuordnen (zu diesen Ansätzen statt vieler Drukarczyk/ Schüler, 2009, S. 137ff.; Kniest, 2010, S. 65ff.). 10.3.2.2 Komponenten der Einkommenszahlungen Dem Income Approach liegt ein Verständnis der in das Barwertkalkül eingehenden Einkommenszahlungen zugrunde, dem für die weiteren Untersuchungen eine grundlegende Bedeutung zukommt. Die Auflösung der Beziehung nach führt zu Danach setzt sich das Einkommen des Bewertungsobjekts i (mit i = 1 bis n) einer beliebigen Periode t+1 (mit t = 0 bis ) aus folgenden Komponenten zusammen: dem Rückfluss des in das Bewertungsobjekt investierten Kapitals ( ), der - zur Vereinfachung der Betrachtungen - im Zeitpunkt t+1 zufließt, sowie der Verzinsung des in das Bewertungsobjekt am Ende der Periode t investierten Kapitals ( ). <?page no="354"?> 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 355 www.uvk-lucius.de/ innovation Merksatz Die Einkommenszahlung eines Bewertungsobjekts, die in einem bestimmten Zeitpunkt zufließt, setzt sich aus den Komponenten „Verzinsung des investierten Kapitals“ („return on invested capital“) und „Rückfluss des investierten Kapitals“ („return of invested capital“) zusammen. 10.3.3 Market Approach Der Market Approach (statt vieler Moser/ Auge-Dickhut, 2003a, S. 10ff.; dieselben, 2003 b, S. 213ff.) geht davon aus, dass zur Bewertung eines Objekts auf die Nutzeneinschätzung der Marktteilnehmer abzustellen ist. Wird das Bewertungsobjekt selbst auf einem aktiven Markt gehandelt, ist auf dessen Marktpreis abzustellen. Ist dies nicht der Fall, sind vergleichbare Objekte heranzuziehen, deren Marktpreise auf das Bewertungsobjekt zu übertragen sind (Analogiemethode). Definition Nach IFRS 13 ist ein aktiver Markt definiert als „a market in which transactions for the asset or liability take place with sufficient frequency and volume to provide pricing information on an ongoing basis.“ Merksatz Dem Market Approach liegt der Gedanke zugrunde, dass sich auf kompetitiven Märkten - bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen - grundsätzlich für die dort gehandelten Objekte Marktpreise einstellen (hierzu insbesondere Smith/ Parr, 2005, S. 148-150; Reilly/ Schweihs, 1999, S. 101f.). Bei Anwendung der Analogiemethode ist zunächst ein Multiplikator als Relation zwischen dem Marktpreis des Vergleichsobjektes und einer Bezugsgröße abzuleiten. Zur Ermittlung des Wertes des Bewertungsobjektes ist dieser Multiplikator sodann auf die betreffende Bezugsgröße beim Bewertungsobjekt anzuwenden. Beispiel Im Falle der Bewertung eines Patentes kann der bekannte Marktpreis eines vergleichbaren Patentes auf den aktuellen Jahresumsatz (Bezugsgröße) des durch das Vergleichspatent geschützten Produktes bezogen werden. Die Anwendung des so ermittelten Multiplikators auf den aktuellen Jahresumsatz des durch das zu bewertende Patent geschützten Produktes führt zum gesuchten Patentwert. Die Anwendung des Market Approach in dem Falle, dass das Bewertungsobjekt nicht auf einem aktiven Markt gehandelt wird, setzt voraus, dass ein mit dem Bewertungsobjekt vergleichbares Objekt, dessen Marktpreis bekannt ist, verfügbar ist. Wird ein Vergleichsobjekt nicht auf einem aktiven Markt gehandelt, sind zur Ableitung von Markt- <?page no="355"?> 356 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation preisen Vergleichstransaktionen heranzuziehen. Lassen sich entsprechende Transaktionen identifizieren, bedarf es einer genauen Analyse insbesondere von deren detaillierten Konditionen sowie den Bedingungen von deren Zustandekommen (z.B. zwischenzeitliche Veränderungen der Marktgegebenheiten, Einflüsse käuferspezifischer Motive; siehe im Einzelnen Smith/ Parr, 2005, S. 148-150; Reilly/ Schweihs, 1999, S. 101f.). Angesichts dieser Anwendungsvoraussetzungen ist unmittelbar erkennbar, dass der Anwendungsbereich des Market Approach zur Bewertung von immateriellen Vermögenswerten, beispielsweise von Patenten oder Marken, sehr begrenzt ist. Merksatz Die Einkommenszahlungen, die mit einem nach dem Market Approach bewerteten Bewertungsobjekt verbunden sind, setzen sich wiederum aus den Komponenten Return on Invested Capital und Return of Invested Capital zusammen (vgl. Pkt. 10.3.2.2). 10.3.4 Cost Approach Der Wert des Bewertungsobjekts bestimmt sich beim Cost Approach durch den Betrag, der erforderlich ist, um ein Objekt zu erlangen, das dem Eigentümer die Verwendungs- oder Nutzungsmöglichkeiten eröffnet, die ihm das zu bewertende Objekt vermittelt. Es handelt sich somit um den Betrag, den der Eigentümer aufwenden muss, um das zu bewertende Objekt durch ein entsprechendes zu substituieren (ausführlich Smith/ Parr, 2005, S. 148f., 156ff.; Reilly/ Schweihs, 1999, S. 96f., 118ff.; Chen/ Barreca, 2010, S. 19ff.). Merksatz Das dem Ansatz zugrunde liegende Prinzip ist dasjenige der Substitution. Merksatz Aus dem Prinzip der Substitution folgt, dass der Cost Approach eine Wertobergrenze determiniert: Ein rational handelnder Investor bezahlt für ein Objekt - auch wenn dessen z.B. mittels Income Approach ermittelter Wert höher ist - maximal den Betrag, den er zur Erlangung eines anderen Objektes, das ihm entsprechende Verwendungs- oder Nutzungsmöglichkeiten vermittelt, aufwenden muss. Der Cost Approach kommt in verschiedenen Ausgestaltungen zur Anwendung: Die eine grundlegende Form geht von der identischen Reproduktion des zu bewertenden Objekts - einem „exakten Duplikat“ (IDW RS HFA 16, Tz 39) - aus; dies ist der Reproduktionskostenwert (Reproduction Cost). Die andere zentrale Variante stellt auf die Beschaffung bzw. Herstellung eines Objekts mit äquivalenten Nutzungsmöglichkeiten ab; dies ist der Wiederbeschaffungskostenwert (Replacement Cost). <?page no="356"?> 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 357 www.uvk-lucius.de/ innovation Merksatz Den historischen Kosten, die bei Anschaffung bzw. Herstellung des zu bewertenden Objektes angefallen sind, kommt beim Cost Approach keine eigenständige Bedeutung zu. Beim Wiederbeschaffungskostenwert finden im Gegensatz zum Reproduktionskostenwert Bestandteile, die das zu bewertende Objekt zwar aufweist, zum Bewertungszeitpunkt jedoch keinen Nutzen stiften, keine Berücksichtigung. Entsprechendes gilt für technologische Weiterentwicklungen, die nur im Wiederbeschaffungskostenwert einen Niederschlag finden. Dementsprechend kann sich das der Ableitung des Wiederbeschaffungskostenwertes zugrunde liegende Objekt auch deutlich vom zu bewertenden Objekt unterscheiden. Bei der Ableitung des Wertes nach dem Cost Approach sind erforderlichenfalls zudem physische Abnutzung sowie technische und wirtschaftliche Veralterung zu berücksichtigen. Der Anwendungsbereich des Cost Approach ist allerdings eingeschränkt, da die Anwendung dieses Ansatzes die Substituierbarkeit des Bewertungsobjekts voraussetzt sowie aus dem Anfall von Kosten für die Herstellung eines Objekts nicht zwingend darauf geschlossen werden kann, dass eine Substitution des Vermögenswerts in Betracht kommt. Beispiel Technologien, mit denen geringe Entwicklungskosten verbunden sind, können deren Anwendern immense Wettbewerbsvorteile verschaffen; derartige Technologien sind oftmals nicht substituierbar. Mit Technologien, in deren Entwicklung immense Beträge geflossen sind, ist nicht zwingend eine Anwendung verbunden; diese Technologien werden zumeist nicht substituiert werden. Merksatz Zur Anwendung kommt der Cost Approach vor allem dann, wenn er die Wertobergrenze bildet. Merksatz In Deutschland sind dem Cost Approach die Substanzwertverfahren zugeordnet (zu diesen siehe z.B. Born (2003), S. 139ff.). Die Einkommenszahlungen, die mit einem nach dem Cost Approach bewerteten Bewertungsobjekt verbunden sind, setzen sich wiederum aus den Komponenten Return on Invested Capital und Return of Invested Capital zusammen (vgl. Pkt. 10.3.2.2). <?page no="357"?> 358 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation 10.3.5 Anwendung der grundlegenden Bewertungskonzepte bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte 10.3.5.1 Einbindung immaterieller Vermögenswerte in Unternehmen Vermögenswerte sind oftmals dadurch gekennzeichnet, dass sie einer übergeordneten Einheit, insbesondere einem Unternehmen, zugeordnet sind. Diese Vermögenswerte generieren durch deren Zusammenwirken den dieser Einheit zuzurechnenden Einkommensstrom und den - beispielsweise auf der Grundlage des Income Approach zu messenden - Wert der Einheit. In diesem Sinne bietet es sich an, ein Unternehmen als ein Portfolio der diesem zugehörigen Vermögenswerte (Abbildung 57) zu verstehen (grundlegend zu diesem Verständnis Smith/ Parr, 2005, S. 194-204, 359-364; bei IVSC ED GN 16, 4.13, sowie IVSC ED 2007, 4.37ff., findet der Ausdruck „Portfolio“ demgegenüber unter Beschränkung auf die Betrachtung ähnlicher bzw. identischer Vermögenswerten Verwendung). Abbildung 57: Unternehmen als Portfolio von Vermögenswerten Eine unmittelbare Zurechnung von Einkommen zu den einzelnen Vermögenswerten dieses Portfolios ist ganz überwiegend nicht - möglicherweise überhaupt nicht - gegeben. Dies ist darin begründet, dass der Einkommensstrom des Unternehmens das Ergebnis des Zusammenspiels dieser Vermögenswerte darstellt und sich grundsätzlich nicht als Summe von exogen vorgegebenen Einkommenszahlungen der einbezogenen Vermögenswerte ergibt. In diesem Zusammenhang ist auch bedeutsam, dass Vermögenswerte sich oftmals dadurch auszeichnen, dass sie ohne ein Zusammenwirken mit anderen Vermögenswerten nicht in der Lage sind, Einkommen zu erzielen. Beispiel Bei einer patentgeschützten Technologie, die wesentlichen Komponenten eines Produktes zugrunde liegt, erfordert die Einkommenserzielung neben der Anwen- <?page no="358"?> 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 359 www.uvk-lucius.de/ innovation dung der Technologie in den Produkten des Unternehmens insbesondere Herstellung und Vertrieb der Produkte, also Produktionseinrichtungen, Produktions- Know-how, mehr oder weniger erfahrene Produktionsmitarbeiter, Working Capital, eine entsprechende Vertriebsmannschaft usw. Diese Betrachtungen zeigen, dass bei Vermögenswerten, die in ein Unternehmen eingebunden sind, regelmäßig für eine Anwendung der dargestellten Grundform des Income Approach grundlegende Daten nicht bestimmbar sind. Bei immateriellen Vermögenswerten - dies wurde bereits unter Pkt. 10.3.3 und 10.3.4 angesprochen - sind zudem auch einer Anwendung von Market und Cost Approach sehr enge Grenzen gesetzt. Dies bedeutet, dass zumindest für immaterielle Vermögenswerte die Voraussetzungen einer unmittelbaren Wertbemessung mittels der grundlegenden Bewertungskonzepte zumeist nicht gegeben sind. 10.3.5.2 Bewertung von Vermögenswerten als Abgrenzung des Wertbeitrags zum Entity Value Ausgehend von der unter Pkt. 10.3.5.1 dargelegten Einbindung eines Bewertungsobjekts in eine übergeordnete Einheit, der ein Einkommensstrom und ein Wert zugeordnet werden können, bietet es sich an, die Bewertung eines einzelnen Vermögenswerts als Abgrenzung des Beitrags zu verstehen, den das Bewertungsobjekt - unter Einbeziehung der Beiträge der anderen Vermögenswerte - zum Wert der Einheit leistet. Da der Abgrenzung dieser Wertbeiträge die unter Pkt. 10.3.5.1 dargelegten Grenzen - insbesondere aufgrund des Zusammenwirkens der Vermögenswerte im Unternehmen - entgegen stehen, erfordert dieses Vorgehen die Einführung von Annahmen, die eine Anwendung der grundlegenden Bewertungskonzepte erlauben; mittels Annahmen ist beispielsweise der Beitrag des Bewertungsobjekts zum Einkommen des Unternehmens zu isolieren, d.h. aus dem Gesamteinkommen „herauszuschneiden“ (hierzu z.B. Smith/ Parr, 2005, S. 66ff., 494ff.). Derartige Annahmen liegen insbesondere den im Folgenden zu erörternden Ausprägungen des Income Approach zugrunde. Diese Betrachtung eröffnet die Möglichkeit, die Bewertungen einzelner, einem Unternehmen zugeordneten Vermögenswerte als Partialkalküle zu behandeln. Aufgrund des Zusammenwirkens dieser Vermögenswerte im Unternehmen zur Generierung des Einkommens und des Werts dieser Einheit bedarf es allerdings zudem der Abstimmung der Ergebnisse der Partialkalküle untereinander sowie mit dem Wert des Unternehmens. Dementsprechend ist neben der Partialbetrachtung zusätzlich eine Totalbetrachtung vorzunehmen. An die Analyse der Werte der Vermögenswerte eines als Portfolio verstandenen Unternehmens werden deswegen folgende Anforderungen gestellt: Der Wert eines betrachteten Unternehmens im Zeitpunkt t (mit t = 0 bis ) entspricht der Summe der Wertbeiträge der diesem zugeordneten Vermögenswerte V i,t (mit i = 1 bis n) im Betrachtungszeitpunkt. Es gilt <?page no="359"?> 360 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation wobei mögliche Wertkomponenten erfasst, die den Vermögenswerten nicht zugeordnet werden können. Beispielsweise ist an mit dem Zusammenwirken der Vermögenswerte verbundene Synergien (Portfolio-Effekte) zu denken, die sich nicht in den Werten der Vermögenswerte i (für alle i = 1 bis n) niedergeschlagen haben. Der Einkommensstrom dieses Unternehmens , der zur Vereinfachung der Betrachtungen im Zeitpunkt t+1 (mit t = 0 bis ) zufließt, setzt sich aus den Einkommensbeiträgen der diesem zugehörigen Vermögenswerte CF i,t (mit i = 1 bis n) zusammen. Für eine beliebige Periode t+1 gilt wobei mögliche Einkommenskomponenten abbildet, die den Vermögenswerten nicht zugeordnet werden können. Beispielsweise ist an aus dem Zusammenwirken der Vermögenswerte resultierende Synergien (Portfolio-Effekt) zu denken, die in die Einkommensbeiträge der Vermögenswerte i (für alle i = 1 bis n) nicht eingegangen sind. Der Zinssatz , mit dem sich das in dieses Unternehmen investierte Kapital verzinst, ist gleich der Summe der mit dem anteiligen investierten Kapital gewichteten Zinssätze der Vermögenswerte i (mit i = 1 bis n), mit denen sich das in diese Vermögenswerte investierte Kapitals verzinst. Für eine beliebige Periode t+1 (mit t = 0 bis ) gilt wobei mögliche Verzinsungskomponenten erfasst, die den Vermögenswerten nicht zugeordnet werden können. Beispielsweise ist an aus dem Zusammenwirken der Vermögenswerte resultierende Synergien (Portfolio-Effekt) zu denken, die in den Verzinsungen des in die Vermögenswerte i (für alle i = 1 bis n) investierten Kapitals nicht erfasst sind. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden die grundlegenden Bewertungsansätze Income Approach, Market Approach und Cost Approach vorgestellt und die Voraussetzungen für deren Anwendung bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte eingeführt. Es wurde aufgezeigt, dass beim Income Approach der aus dem Bewertungsobjekt zu erwartende zukünftige Einkommensstrom mit dem aus einer alternativen Anlagemöglichkeit resultierenden Einkommen verglichen wird, dass der Market Approach zur Bewertung eines Vermögenswerts verfügbare Marktpreise für den zu bewertenden oder vergleichbare Vermögenswerte heranzieht und dass <?page no="360"?> 10.3 Grundlegende Bewertungsansätze 361 www.uvk-lucius.de/ innovation der Cost Approach vom Investitionsbetrag in Objekte mit vergleichbaren Verwendungs- oder Nutzungsmöglichkeiten ausgeht. Weiter wurden die Grenzen dargelegt, die einer unmittelbaren Anwendung dieser Bewertungsansätze bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte gesetzt sind. Hierauf aufbauend wurde schließlich erläutert, dass die Bewertungen immaterieller Vermögenswerte als Abgrenzung von deren Wertbeiträgen zum Wert des Unternehmens, dem diese zugeordnet sind, zu betrachten sind. Dieser Abgrenzung sind Annahmen zugrunde zu legen, die erlauben, die Bewertungen immaterieller Vermögenswerte als Partialkalküle, die allerdings in einer Totalbetrachtung abzustimmen sind, zu behandeln. Fragen 1. Woraus leitet sich der Wert eines Objekts ab? 2. Welcher Gedanke liegt dem Income Approach zugrunde? 3. Was verstehen Sie unter einem Grenzpreis? 4. In welche Komponenten lassen sich Einkommenszahlungen zerlegen? 5. Wie wird der Wert eines Bewertungsobjekts nach dem Market Approach bestimmt? 6. Was verstehen Sie unter einem aktiven Markt? 7. Welches Prinzip liegt dem Cost Approach zugrunde? 8. Welche Ausgestaltungen des Cost Approach kennen Sie? Wie unterscheiden sich diese? 9. Welche Schwierigkeit tritt bei der Bewertung von immateriellen Vermögenswerten auf, die einem Unternehmen zugeordnet sind? 10. Welche Anforderungen sind an die Analyse der Werte der einem Unternehmen zugeordneten Vermögenswerte zu stellen? Literatur Born, Karl (2003), Unternehmensanalyse und Unternehmensbewertung, 2. Aufl., Stuttgart 2003. Chen, Yea-Mow, Barreca, Stephen L. (2010), The Cost Approach, in: Catty, James P. (Hrsg.), Guide to Fair Value under IFRS, Hoboken 2010, S. 19-35. Copeland, Tom, Antikarov, Vladimir (2001), Real Options. A Practitioner`s Guide, New York 2001. Drukarczyk, Jochen, Schüler, Andreas (2009), Unternehmensbewertung, 6., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2009. <?page no="361"?> 362 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Enzinger, Alexander, Kofler, Peter, Das Roll Back-Verfahren zur Unternehmensbewertung. Zirkularitätsfreie Unternehmensbewertung bei autonomer Finanzierungspolitik anhand der Equity-Methode, in: BewP 4/ 2011, S. 2-10. IDW RS HFA 16, IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung: Bewertung bei der Abbildung von Unternehmenserwerben und bei Werthaltigkeitsprüfungen nach IFRS, FN 2005, S. 721- 738. 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Moser, Ulrich, Auge-Dickhut, Stefanie (2003a), Unternehmensbewertung: Der Informationsgehalt von Marktpreisabschätzungen auf Basis von Vergleichsverfahren, in: FB 2003, S. 10-22. Moser, Ulrich, Auge-Dickhut, Stefanie (2003b), Unternehmensbewertung: Zusammenhang zwischen Vergleichs- und DCF-Verfahren,in: FB 2003, S. 213-223. Reilly, Robert F., Schweihs, Robert P. (1999), Valuing Intangible Assets, New York u.a. 1999. Mun, Johnathan (2002), Real Options Analysis, Hoboken/ New Jersey 2002. Smith, Gordon V., Parr, Russell L. (2005), Intellectual Property: Valuation, Exploitation, and Infringement Damages, Hoboken 2005. 10.4 Anwendung des Income Approach bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte Wissensziele Sie sollen den Einfluss einer patentgeschützten Technologie auf das Einkommen eines Unternehmens anhand konkreter Beispiele diskutieren können. Sie sollen die verschiedenen Ausprägungen des Income Approach, deren Grundgedanken und Anwendungsvoraussetzungen kennen und auf die Bewertung von Technologien und Kundenbeziehungen in einfachen Fällen anwenden können. Sie sollen die Komponenten des vermögenswertspezifischen Zinssatzes, der als Diskontierungszinssatz in die Bewertung eines immateriellen Vermögenswerts mittels des Income Approach eingeht, aufzählen können und die Konzepte zur Bestimmung dieser Komponenten kennen. <?page no="362"?> 10.4 Income Approach 363 www.uvk-lucius.de/ innovation Sie sollen die steuerrelevanten Fragestellungen bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte erläutern können. Sie sollen die Ableitung des abschreibungsbedingten Steuervorteils darlegen können. 10.4.1 Analyse des Einkommensbeitrags immaterieller Vermögenswerte am Beispiel einer patentgeschützten Technologie Zur Identifikation des Beitrags eines immateriellen Vermögenswerts, hier also einer patentgeschützten Technologie, zum Einkommen des Unternehmens, dem dieser zuzurechnen ist, bietet es sich an, das Einkommen des Unternehmens bei Nutzung des immateriellen Vermögenswerts mit dem hypothetischen Einkommen zu vergleichen, das gegeben wäre, wenn das Unternehmen den betreffenden Vermögenswert nicht nutzen würde (so auch Smith/ Parr, 2005, S. 185ff.). Alternativ kann so vorgegangen werden, dass zunächst nach dem Nutzen gefragt wird, der sich aus der Verwendung des betreffenden Vermögenswerts ziehen lässt, und sodann der Niederschlag dieses Nutzens im Einkommen des Unternehmens untersucht wird. Das Einkommen des Unternehmens wird dabei durch den Free Cashflow gemessen. Definition Der Free Cashflow kann nach dem folgendem Schema bestimmt werden (zu Einzelheiten siehe statt vieler Rappaport, 1995, S. 53ff.; Copeland/ Koller/ Murrin, 2002, S. 210ff.): Earnings Before Interest and Taxes (EBIT) - Adjusted Taxes Net Operating Profit less Adjusted Taxes (NOPLAT) -/ + Incremental Working Capital - Capital Expenditure less Depreciation Free Cashflow Im Folgenden wird dem zweiten Ansatz gefolgt, wobei die angeführten Überlegungen allerdings keine abschließende Analyse darstellen; sie betrachten lediglich exemplarisch typischerweise zu beobachtende Zusammenhänge. Patentgeschützte Technologien (zur Analyse patentgeschützter Technologien als Bewertungsobjekte siehe Moser/ Goddar (2007), S. 599ff.) zeichnen sich - dies wurde bereits bei der Betrachtung immaterieller Vermögenswerte unter Pkt. 10.2.2 dargelegt - insbesondere dadurch aus, dass sie deren Nutzer in die Lage versetzen können, Wettbewerbsvorteile in Form von Differenzierungsvorteilen oder Kostenvorteilen zu erzielen. Dementsprechend ist zur Bestimmung des Einkommensbeitrags einer patentgeschützten Technologie zu untersuchen, welchen Einfluss die mit dieser verbundenen <?page no="363"?> 364 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Differenzierungsbzw. Kostenvorteile auf die Komponenten des Free Cashflow ausüben können. Eine patentgeschützte Technologie kann eine Erhöhung der Umsatzerlöse des betrachteten Unternehmensbereichs bewirken, wenn sie c. p. die Durchsetzung höherer Absatzpreise erlaubt und/ oder höhere Absatzmengen nach sich zieht: Höhere Absatzpreise können die Folge von Differenzierungsvorteilen sein. Beispielsweise lassen sich Preisprämien im Pharmabereich bei einem Vergleich der Preise von patentgeschützten Medikamenten mit jenen von Generika identifizieren. Gleiches gilt oftmals auch bei Produkten, die - von den Verwendern geschätzte - Funktionen aufweisen, die die Produkte der Wettbewerber nicht haben; dies ist z.B. bei Kameras zu beobachten. Eine Steigerung der Absatzmenge kann etwa dadurch zu realisieren sein, dass ein Produkt, das Differenzierungsvorteile aufweist, zum Preis der Wettbewerberprodukte angeboten wird. Auch technologieinduzierte Vorteile bei den Cost of Sales können Mengensteigerungen zur Folge haben, beispielsweise wenn diese durch Preissenkungen an die Abnehmer weitergegeben werden. Bei unveränderter Stückmarge führt dies zu einer proportionalen Erhöhung des Gross Profit. Derartige Kostenvorteile sind oftmals mit Verfahrenstechnologien, die zu Materialund/ oder Personaleinsparungen führen, verbunden. Erhöhungen des Free Cashflow aufgrund patentgeschützter Technologien können außerdem aus Verminderungen der Selling General & Administrative Expenses (SG&A), des erforderlichen Working Capital sowie der zu tätigenden Investitionen (CapEx) resultieren. Reduktionen der Selling General & Administrative Expenses sowie des Working Capital werden häufig durch verbesserte Geschäftsprozesse realisiert, die über Business Process-Patente geschützt sein können. Wertsteigernde Effekte bei den Investitionen beschränken sich nicht auf eine Reduktion von deren Umfang, sie können auch aus deren Verlagerung in spätere Geschäftsjahre resultieren. Diese Einflüsse patentgeschützter Technologien auf den Free Cashflow des betrachteten Unternehmensbereichs können jedoch mit weiteren Wirkungen auf die Komponenten des Free Cashflow verbunden sein: Beispiele Zusätzliche Funktionen eines Produkts führen regelmäßig zu einer Erhöhung der Cost of Sales, die sich zudem über die Erhöhung der Herstellungskosten auch im Working Capital niederschlagen können; eine Erhöhung des Working Capital kann außerdem Folge höherer Debitorenbestände sein, die mit differenzierungsbedingt höheren Preisen verbunden sein können. Möglicherweise erfordert die Herstellung des Produkts mit dieser zusätzlichen Funktion weitere Investitionen. Weiterhin können differenzierungsbedingte Preisprämien etwa auch die Marketing-Ausgaben und damit die Selling Gerneral & Administrative Expenses berühren, wobei sowohl deren Erhöhung als auch deren Verminderung vorstellbar ist. Erhöhungen der Absatzmenge sind selbstverständlich mit den durch die Herstellung der zusätzlichen Menge verursachten Cost of Sales verbunden. Regelmäßig werden Mehrmengen auch zu zusätzlichen Lager- und Debitorenbeständen mit der <?page no="364"?> 10.4 Income Approach 365 www.uvk-lucius.de/ innovation Folge einer Erhöhung des Working Capital führen. In Bezug auf die vorhandenen Kapazitäten ist sowohl an die Realisierung von Economies of Scale, als auch an die Notwendigkeit der Tätigung weiterer Investitionen zu denken. Entsprechende Betrachtungen können selbstverständlich auch für andere immaterielle Vermögenswerte, z.B. Marken, angestellt werden. 10.4.2 Bewertungsansätze für immaterielle Vermögenswerte auf der Grundlage des Income Approach 10.4.2.1 Incremental Income Analysis Die Incremental Income Analysis (so z.B. Reilly/ Schweihs, 1999, S. 159ff.), die z.T. auch als Incremental Cashflow Method, Mehrgewinnmethode oder Incremental Revenue Analysis (z.B. IDW RS HFA 16, Tz. 59-62; IDW S 5, 2010, Tz. 33-36) bezeichnet wird, setzt an der unter Pkt. 10.4.1 dargestellten Analyse des Einflusses des Bewertungsobjekts, hier also eines immateriellen Vermögenswerts, auf den zukünftigen Free Cashflow des betreffenden Unternehmens an. Da der Ansatzpunkt dieser Vorgehensweise die unter Zugrundelegung der dargestellten Analyse dem Bewertungsobjekt zurechenbaren Free-Cashflow-Veränderungen sind, wird der Ansatz auch als “direct technique” bezeichnet (so insbesondere Smith/ Parr, 2005, S. 185ff.) Merksatz Nach der Incremental Income Analysis ergibt sich der Wert des Bewertungsobjekts - unter Berücksichtigung von Steuern - als Barwert der auf diese Weise isolierten Erhöhungen (Veränderungen) der zukünftigen Free Cashflow. Ein typischer Anwendungsfall dieses Bewertungsansatzes sind Technologien, die identifizierbare Kosteneinsparungen nach sich ziehen (zum Cost Savings Approach siehe insbesondere Smith/ Parr, 2005, S. 187). Dabei ist - wie soeben ausgeführt (Pkt. 10.4.1) - insbesondere an Verfahrenstechnologien zu denken, die zur Reduktion der Materialund/ oder Personalkosten führen. Ein anderer bedeutsamer Anwendungsfall dieses Ansatzes sind vorteilhafte Verträge. Fallstudie Die Beispiel GmbH verfügt über eine Verfahrenstechnologie, die zu Kosteneinsparungen bei der Herstellung ihrer Produkte führt. Die Gesellschaft geht davon aus, dass sie diese Kostenvorteile voraussichtlich über die nächsten acht Jahre realisieren wird. Die Bewertung dieser Technologie auf den Bewertungsstichtag 1. Januar 2008 ergibt sich aus Tabelle 12. <?page no="365"?> 366 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 12: Bewertung der Verfahrenstechnologie In der Tabelle sind die von der Gesellschaft für jedes Jahr der verbleibenden Nutzungsdauer der Verfahrenstechnologie ermittelten Kosteneinsparungen, die Umsatzerlöse der Gesellschaft, die Umsatzerlöse, bei deren Erzielung diese Kostenvorteile realisiert werden, sowie die Kosteneinsparungen in Prozent dieser Umsatzerlöse zusammengestellt. Auf dieser Grundlage bestimmt sich der Wert der Verfahrenstechnologie zu Beginn eines betrachteten Jahres - bei Anwendung des Roll-Back- Verfahrens - als Barwert der Summe aus dem Wert der Verfahrenstechnologie am Ende diesen Jahres und den dieser Periode zuzurechnenden Kosteneinsparung nach Steuern; zur Vereinfachung der Analyse wird davon ausgegangen, dass diese Kosteneinsparungen am Ende der betrachteten Periode erzielt werden. Der Barwertermittlung liegt ein vorläufig festgelegter vermögenswertspezifischer Zinssatz in Höhe von 8,34% zugrunde, der erforderlichenfalls bei der Beurteilung der Plausibilität der Bewertungsergebnisse unter Pkt. 10.5.2 bzw. Pkt. 10.5.3 anzupassen ist. Der Abzug der Ertragsteuern von den Kosteneinsparungen und die Ableitung des bei der Wertermittlung berücksichtigten abschreibungsbedingten Steuervorteils (Tax Amortization Benefit oder kurz TAB) werden unter Pkt. 10.4.4 erläutert. Im mittleren Teil der Tabelle werden Verzinsung (Return on Invested Capital) und Rückfluss (Return of Invested Capital) des in die Verfahrenstechnologie investierten Kapitals abgeleitet. Die Verzinsung ergibt sich durch Anwendung des vermögenswertspezifischen Zinssatzes auf das investierte Kapital der jeweiligen Vorperiode, der Rückfluss als Veränderung des investierten Kapitals des jeweiligen Jahrs gegenüber der Vorperiode. Die Summe aus beiden Komponenten ist in jedem Jahr des Betrachtungszeitraums gleich den Kosteneinsparungen nach Steuern. <?page no="366"?> 10.4 Income Approach 367 www.uvk-lucius.de/ innovation Aufgrund des Erfordernisses der Isolierung des dem Bewertungsobjekt zurechenbaren Incremental Income ist der Anwendungsbereich dieses Ansatzes grundsätzlich begrenzt. In einigen Fällen, etwa bei Produkten, die aufgrund einer besonderen, patentgeschützten Funktion zu einem höheren Preis als die Produkte der Wettbewerber verkauft werden können, ist die Preisprämie möglicherweise auch durch andere Vermögenswerte des betreffenden Unternehmensbereichs beeinflusst, z.B. durch eine Marke. Darüber hinausgehend ist es in vielen Fällen überhaupt nicht möglich, mit einer auch nur annehmbaren Genauigkeit Aussagen über die Beeinflussung von Absatzpreisen und/ oder -mengen durch den zu bewertenden immateriellen Vermögenswert zu machen (zur Anwendung der Conjoint siehe z.B. Ensthaler/ Strübbe (2006), S. 185ff.; Neuburger (2005), insbes. S. 101ff.). Der Grund für den eingeschränkten Anwendungsbereich liegt in der zentralen Anwendungsvoraussetzung des Ansatzes: Das „incremental income“ lässt sich nur dadurch isolieren, dass die Free-Cashflow-Komponenten und deren Bestimmungsgrößen, so wie sie sich unter Berücksichtigung des zu bewertenden immateriellen Vermögenswerts ergeben, mit denjenigen verglichen werden, die sich ohne Nutzung des betreffenden Vermögenswerts ergeben würden. D.h. es bedarf eines Vergleichsobjekts, das die Situation widerspiegelt, die gegeben wäre, wenn das betrachtete Unternehmen c. p. nicht über den zu bewertenden Vermögenswert verfügen würde (im Schrifttum wird regelmäßig auf Vergleichsunternehmen verwiesen, die über den betreffenden Vermögenswert nicht verfügen; so z.B. IDW S. 5 (2010), Tz. 34; Beyer/ Mackenstedt (2008), S. 344.). Es ist offensichtlich, dass dieses Vergleichsobjekt nur in Ausnahmefällen, z.B. oftmals bei den bereits genannten vorteilhaften Verträgen, verfügbar ist. Als Folge des begrenzten Anwendungsbereichs des Incremental Income Approach ist zur Bewertung immaterieller Vermögenswerte zumeist auf Bewertungsansätze zurückzugreifen, die den so genannten „indirect techniques“ zuzurechnen sind (hierzu Smith/ Parr (2005), S. 192ff.). Ein Überblick über derartige Ansätze wird in den folgenden beiden Abschnitten gegeben. 10.4.2.2 Royalty Analysis Dem Relief-from-royalty-Ansatz (vgl. hierzu Smith/ Parr, 2005, S. 185) liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Unternehmen, das Eigentümer des zu bewertenden Vermögenswerts, z.B. einer patentgeschützten Technologie oder Marke, ist, diesen nicht von einem Dritten einlizenzieren muss. Im Falle der Einlizenzierung hätte es Lizenzzahlungen an den Dritten zu leisten, die jedoch - aufgrund der Eigentümerposition - nicht anfallen (von denen das Unternehmen somit „befreit” ist). Die in diesem Sinne ersparten Zahlungen werden dem Bewertungsobjekt als Einkommen zugerechnet. Merksatz Nach der Relief-from-Royalty-Methode wird der Wert des Bewertungsobjekts als Barwert der aufgrund der Eigentümerposition ersparten zukünftigen Lizenzzahlungen - unter Berücksichtigung von Steuern - abgeleitet. <?page no="367"?> 368 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Die Ermittlung der im dargestellten Sinne ersparten Lizenzzahlungen setzt die Bestimmung von Lizenzsätzen voraus (siehe hierzu z.B. Nestler, 2008, S. 2002ff.). Hierfür wird auf Lizenzverträge für mit dem Bewertungsobjekt vergleichbare Vermögenswerte zurückgegriffen. Die Ableitung der Bemessungsgrundlagen erfolgt zumeist auf der Grundlage der Planungsrechnung des betreffenden Unternehmens, wobei die Konditionen der Vergleichstransaktionen zu berücksichtigen sind. Fallstudie Grundlage der Produkte der Beispiel GmbH ist eine patentgeschützte Technologie, die nach Einschätzung der Gesellschaft voraussichtlich noch rund acht Jahre genutzt werden kann. Mit dieser - als Basistechnologie bezeichneten - Technologie vergleichbare Technologien sind regelmäßig Gegenstand von - zumeist auf bestimmte geografische Regionen begrenzten - exklusiven Lizenzverträgen. Eine Analyse entsprechender Verträge hat gezeigt, dass für die Basistechnologie ein Lizenzsatz von 8% der Umsatzerlöse angemessen ist. Die Bewertung dieser Technologie auf den Bewertungsstichtag 1. Januar 2008 ist in Tabelle 13 zusammengefasst. Tabelle 13: Bewertung der Basistechnologie Die Ermittlung des Werts der Basistechnologie mittels der Relief-from-royalty- Methode geht von den bis zum Ende der Nutzungsdauer der Technologie geplanten Umsatzerlösen aus, die die Gesellschaft mit den Produkten erzielen möchte, deren Grundlage die Basistechnologie ist. Auf diese wird - zur Bestimmung der ersparten Lizenzzahlungen - der Lizenzsatz von 8% angewendet. Auf dieser Grundlage ergibt sich der Wert der zu bewertenden Technologie zu Beginn eines betrachteten Jahres - bei Anwendung des Roll-Back-Verfahrens - als Barwert der Summe aus dem Wert der Technologie am Ende dieser Periode und den dieser Periode zuzurechnenden ersparten Lizenzzahlungen nach Steuern; zur Vereinfachung der Analyse wird davon ausgegangen, dass die ersparten Lizenzzahlungen am Ende der betrachteten Periode erzielt werden. Der Barwertermittlung liegt ein vorläufig festgelegter vermögenswertspezifischer Zinssatz in Höhe von 8,34% zugrunde, der erforderlichenfalls bei der Beurteilung <?page no="368"?> 10.4 Income Approach 369 www.uvk-lucius.de/ innovation der Plausibilität der Bewertungsergebnisse unter Pkt. 10.5.2 bzw. Pkt. 10.5.3 anzupassen ist. Der Abzug der Ertragsteuern von den ersparten Lizenzzahlungen und die Ableitung des bei der Wertermittlung berücksichtigten abschreibungsbedingten Steuervorteils werden unter Pkt. 10.4.4 erläutert. Im mittleren Teil der Tabelle werden Verzinsung (Return on Invested Capital) und Rückfluss (Return of Invested Capital) des in die Verfahrenstechnologie investierten Kapitals abgeleitet. Da die Vorgehensweise bei der Bestimmung dieser Komponenten mit dem bei der Verfahrenstechnologie dargestellten Vorgehen identisch ist, wird insoweit auf die Ausführungen unter Pkt. 10.4.2.1 verwiesen. Der Ansatz geht von der Grundannahme und dem damit verbundenen Vergleichsobjekt aus, dass das Unternehmen c.p. die zu bewertende Technologie nutzt, jedoch nicht deren Eigentümer ist. Aus diesem Grunde muss die Technologie anderweitig - im Wege einer Einlizenzierung - beschafft werden. Damit sind auch die zentralen Anwendungsvoraussetzungen dieses Ansatzes ersichtlich: Grundvoraussetzung einer Ableitung von Lizenzsätzen aus Markttransaktionen ist das Erfordernis, dass mit dem Bewertungsobjekt vergleichbare Vermögenswerte überhaupt Gegenstand von Lizenzverträgen sind. Zur Beurteilung der Vergleichbarkeit möglicher Markttransaktionen, zur Bestimmung der Lizenzsätze sowie zur Festlegung der Bemessungsgrundlagen bedarf es zusätzlich der Kenntnis der detaillierten Vertragsinhalte, insbesondere der Konditionen, der Transaktionen. Ist die als erste genannte Voraussetzung gegeben, ist der Anwendungsbereich der Relief-from-Royalty-Methode zumeist relativ breit. Info Für die Identifikation von Vergleichstransaktionen sowie zur Bestimmung der Vertragsinhalte kommt - neben Rechtsprechung und Literatur (siehe statt vieler Hellebrand/ Himmelmann, 2011) - Datenbankanbietern, insbesondere Royalty- Source® (www.royaltysource.com) eine immer größere Bedeutung zu. Beim Relief-from-Royalty-Ansatz handelt es sich konzeptionell um einen Income Approach. Aufgrund des Bezugs zu Markttransaktionen ist er jedoch auch vom Market Approach geprägt. Dementsprechend wird der Relief-from-Royalty-Ansatz auch als hybrider Ansatz bezeichnet (so z.B. Anson/ Suchy, 2005, S. 35), z. T. sogar dem Market Approach zugerechnet (vgl. z.B. Reilly/ Schweihs, 1999, S. 441f.). 10.4.2.3 Excess Earnings Approach (Multi-Period Excess Earnings Method) Konzeption von Excess Earnings- und Residual-Value-Ansatz Der Excess Earnings-Ansatz , der auch als Multi-Period Excess Earnings Method sowie abgekürzt als MPEEM (so TAF, 2010, 1.2) bzw. MEEM (so beispielsweise Beyer/ Mackenstedt, 2008, S. 345) bezeichnet wird, knüpft an der unter Pkt. 10.3.5 dar- <?page no="369"?> 370 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation gelegten Betrachtung der Analyse der Werte immaterieller Vermögenswerte an. Die mit dieser Betrachtung verbundene Bestimmungsgleichung für das Einkommen eines Unternehmens kann so umgeformt werden, dass das Einkommen eines diesem zugehörigen Vermögenswerts indirekt bestimmt wird. Für den Vermögenswert i = n ergibt sich - unter Außerachtlassung der Einkommenskomponente - ein Einkommen in der Periode t in Höhe von mit t = 1 bis T, wobei T die Nutzungsdauer des Bewertungsobjekts zum Ausdruck bringt. Damit ist der Grundgedanke des Excess Earnings-Ansatzes ersichtlich: Das dem zu bewertenden Vermögenswert zuzurechnende Einkommen wird als Residualeinkommen verstanden, das dadurch bestimmt wird, dass vom Einkommensstrom des betrachteten Unternehmens die Einkommensbeiträge aller Vermögenswerte mit Ausnahme des Bewertungsobjekts abgezogen werden. Diese Vorgehensweise setzt voraus, dass das Einkommen des Unternehmens und die Einkommensbeiträge aller Vermögenswerte mit Ausnahme des Bewertungsobjekts bekannt bzw. bestimmbar sind. Definition Die Vermögenswerte des Unternehmens mit Ausnahme des Bewertungsobjekts werden als unterstützende Vermögenswerte ( Supporting Assets oder Contributory Assets ), deren Einkommensbeiträge als Contributory Asset Charges (kurz CAC) bezeichnet. Merksatz Nach der MPEEM ergibt sich der Wert des Bewertungsobjekts - unter Berücksichtigung von Steuern - als Barwert der so bestimmten „Excess Earnings“. Der Wert eines Vermögenswerts, der einem als Portfolio verstandenen Unternehmen zugehörig ist, kann allerdings auch unmittelbar aus der Bestimmungsgleichung für den Wert des Unternehmens abgeleitet werden. Danach beträgt der Wert des Vermögenswerts i = n im Zeitpunkt t (mit t = 1 bis T) bei Nichtberücksichtigung der Wertkomponente Diese Vorgehensweise wird als Residual Value Approach bezeichnet. Die Anwendung dieses Ansatzes erfordert demnach sowohl die Ermittlung des Gesamtwerts des Unternehmens als auch die Bewertung der übrigen, ihm zugehörigen Vermögenswerte. <?page no="370"?> 10.4 Income Approach 371 www.uvk-lucius.de/ innovation Merksatz Die Residual-Value-Methode ermittelt den Wert des zu bewertenden Vermögenswertes dadurch, dass vom Gesamtwert des betreffenden Unternehmens die Werte aller übrigen, ihm zuzurechnenden Vermögenswerte abgezogen werden. Abbildung 58 stellt der Vorgehensweise des Excess Earnings-Ansatzes das Vorgehen nach der Residual-Value-Methode gegenüber. Diese Betrachtung macht deutlich, dass sich beide Ansätze nicht konzeptionell, sondern lediglich in der technischen Umsetzung der Wertbestimmung unterscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Einkommensbeiträge der Vermögenswerte, die mittels des Market Approach bzw. des Cost Approach bewertet werden, als Verzinsung und Rückfluss des in diese investierten Kapitals - entsprechend den Ausführungen unter Pkt. 10.3.2.2 - aus deren Werten abzuleiten sind. Abbildung 58: Ansätze zur Bestimmung des Residualwertes Info Der Zusammenhang zwischen beiden Bewertungsansätzen zeigt sich auch darin, dass - unter Zugrundelegung der unter Pkt. 10.3.5.2 eingeführten Bedingung unter Außerachtlassung der Verzinsungskomponente - die Residual-Value-Methode dem Bewertungsobjekt die Excess Earnings als Einkommen zuordnet: Das dem Bewertungsobjekt i = n zugeordnete Einkommen setzt sich aus Verzinsung und Rückfluss des in dieses investierten Kapitals zusammen und ergibt sich aus der Beziehung Die Verzinsung des in das Bewertungsobjekt investierten Kapitals kann durch Umformung der Beziehung residual abgeleitet werden als <?page no="371"?> 372 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Unter Einbeziehung dieser Beziehung und den mittels der Residual-Value- Methode bestimmten Werten für und kann die Bestimmungsgleichung für das Einkommen des Bewertungsobjekts überführt werden in die Beziehung Nach Umstellung ergibt sich sowie mit und die Bestimmungsgleichung der Excess Earnings Beispiel Den Zusammenhang zwischen Excess-Earnings-Methode und Residual-Value- Ansatz verdeutlicht auch das sehr vereinfachte, in Abbildung 59 zusammengefasste Zahlenbeispiel: Ein Unternehmen verfügt über folgende Vermögenswerte, deren Nutzungsdauern unbestimmt sind: eine Technologie, Sachanlagen, Working Capital sowie Kundenbeziehungen. Der jährliche Free Cashflow des Unternehmens beträgt EUR 100, der jährliche Einkommensbeitrag der Technologie EUR 30. Die Werte der Sachanlagen und des Working Capital wurden mittels des Cost Approach in Höhe von EUR 200 bzw. 400 bestimmt. Weiterhin soll gelten, dass die Investitionen gleich den Abschreibungen sind und die Umsatzerlöse in allen Jahren auf gleichem Niveau sind. Der Diskontierungszinssatz beträgt einheitlich für Unternehmen und zu bewertende Vermögenswerte 10%; Steuern fallen nicht an. <?page no="372"?> 10.4 Income Approach 373 www.uvk-lucius.de/ innovation Auf dieser Grundlage ergibt sich für das Unternehmen - nach dem Income Approach als Barwert einer ewigen Rente - ein Entity Value in Höhe von EUR 1.000; der Wert der Technologie beträgt - wiederum nach dem Income Approach als Barwert einer ewigen Rente - EUR 300. Unter Berücksichtigung der Werte von Sachanlagen und Working Capital kann der Wert der Kundenbeziehungen mittels des Residual-Value-Ansatzes in Höhe von EUR 100 abgeleitet werden. Zur Bestimmung der den Kundenbeziehungen zuzurechnenden Excess Earnings sind vom Free Cashflow des Unternehmens (EUR 100) die Einkommensbeiträge der Technologie (EUR 30) sowie der Sachanlagen und des Working Capital abzuziehen. Die Einkommensbeiträge der beiden zuletzt genannten Vermögenswerte können angesichts der unbestimmten Nutzungsdauern und den weiteren zugrunde gelegten Annahmen als Verzinsung des in diese investierten Kapitals ermittelt werden. Damit ergeben sich jährlich gleichbleibende Excess Earnings in Höhe von EUR 10. Der Wert der Kundenbeziehungen, der dem Barwert der Excess Earnings entspricht, beträgt wiederum EUR 100. Damit ist dargelegt, dass beide Bewertungsansätze unter Zugrundelegung identischer Annahmen zum gleichen Ergebnis führen. Abbildung 59: Residual Value und Excess Earnings Approach - Beispiel Die Bezeichnung „Residual Value Approach“ wird teilweise als Oberbegriff für Residual-Value- und Excess-Earnings-Ansatz verwendet. Im Folgenden werden die Ausdrücke „Residual-Value-Methode“ bzw. „Residual-Value-Ansatz“ oder „Residual Value Approach“ grundsätzlich für die Grundform dieses Bewertungsansatzes verwendet. Der Excess-Earnings-Ansatz wird insbesondere als Multi-Period-Excess-Earnings- Methode oder kurz als MPEEM bezeichnet. Fallstudie Die Kunden der Beispiel GmbH weisen - unter der Voraussetzung, dass sie mit Qualität und Preis der Produkte zufrieden sind - eine sehr hohe Loyalität zum Unternehmen auf. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Kundenbindung in engem Zusammenhang mit dem Produktlebenszyklus, der wiederum dem der Basistechnologie zugrunde liegenden Lebenszyklus folgt, steht. Aufgrund der gegebenen Marktstruktur geht die Gesellschaft insbesondere auch davon aus, dass während der verbleibenden Nutzungsdauer der Basistechnologie weder mit Residual Value Rate of NPV Income Return Enterprise 1.000 100 10% Technology -300 30 10% Tangible Fixed Assets -200 20 10% Working Capital -400 40 10% Excess Earnings 10 10% NPV Excess Earnings 100 Residual Value 100 Excess Earnings <?page no="373"?> 374 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation einem wesentlichen Verlust bestehender Kunden zu rechnen, noch eine bedeutsame Gewinnung neuer Kunden zu erwarten ist. Die Bewertung der Kundenbeziehungen der Beispiel GmbH ist in Tabelle 14 zusammengefasst. Tabelle 14: Bewertung der Kundenbeziehungen Die einem Vermögenswert zuzuordnenden Excess Earnings ergeben sich, wie dargelegt, durch Abzug der Einkommensbeiträge der unterstützenden Vermögenswerte vom als Free Cashflow verstandenen Einkommen des Unternehmens. Da Komponenten der Einkommensbeiträge verschiedener unterstützender Vermögenswerte in die Free-Cashflow-Ermittlung eingehen, können durch die Wahl der Ausgangsgröße der Excess Earnings-Ermittlung Vereinfachungen erzielt werden (zu Einzelheiten der Ableitung der Excess Earnings siehe Moser (2011), S. 53ff., 216ff.). Aus diesem Grund geht die Bestimmung der den Kundenbeziehungen der Beispiel GmbH zuzuordnenden Excess Earnings vom EBITA nach Steuern aus. Zur Ableitung der Excess Earnings sind die von der Gesellschaft geplanten, in Tabelle 14 zusammengestellten EBITA zunächst um die in Höhe von 5% des Umsatzes angesetzten Kundenakquisitionskosten zu bereinigen. Diese Anpassung ist darin begründet, dass die zu bewertenden Kundenbeziehungen am Bewertungsstichtag bereits vorhanden sind und dementsprechend keiner Akquisition bedürfen. Außerdem sind die in Höhe von 4,2% des Umsatzes vorgesehenen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen, die der Entwicklung der nächsten Generation der Basistechnologie dienen - die Entwicklung einer zukünftigen Generation der Verfahrenstechnologie ist nicht beabsichtigt -, zu eliminieren; diese Bereinigung resultiert daraus, dass die mit den zu bewertenden Kundenbeziehungen geplanten Umsatzerlöse mit Produkten erzielt werden, denen die gegenwärtig genutzte Basistechnologie zugrunde <?page no="374"?> 10.4 Income Approach 375 www.uvk-lucius.de/ innovation liegt. Von dem so bereinigten EBITA sind - nach Berücksichtigung der Ertragsteuern - die Einkommensbeiträge der unterstützenden Vermögenswerte Sachanlagen, Working Capital, Basis- und Verfahrenstechnologie abzuziehen. Zur Vereinfachung der Darstellungen wird davon ausgegangen, dass zur Ausübung der Geschäftstätigkeit der Beispiel GmbH keine weiteren Vermögenswerte - beispielsweise ein Mitarbeiterstamm - erforderlich sind. Die Einkommensbeiträge der - Sachanlagen und des Working Capital sind als Verzinsung des in diese Vermögenswerte investierten Kapitals zu bestimmen; aufgrund der Wahl des EBITA nach Steuern als Ausgangsgröße der Bestimmung der Excess Earnings erübrigt sich die Berücksichtigung der Rückflusskomponente. Das in diese Vermögenswerte investierte Kapital wurde von der Beispiel GmbH für jeden Zeitpunkt des Betrachtungszeitraums - unter Einbeziehung des Rückflusses des in die Sachanlagen investierten Kapitals sowie von Investitionen in dieses bzw. unter Berücksichtigung der Veränderung des Working Capital - weiterentwickelt und in Tabelle 15 bzw. Tabelle 16 zusammengestellt; aus diesen Tabellen ergeben sich auch die vorläufig festgelegten vermögenswertspezifischen Zinssätze dieser Vermögenswerte. Die Einkommensbeiträge der Tabelle 15: Planung der Sachanlagen Tabelle 16: Planung des Working Capital - Basistechnologie und der Verfahrenstechnologie sind in Höhe der ersparten Lizenzzahlungen bzw. Kosteneinsparungen nach Steuern anzusetzen, da sich diese Einkommensbeiträge - dies ergibt sich aus Tabelle 12 bzw. Tabelle 13 - aus Verzinsung und Rückfluss des in diese Vermögenswerte investierten Kapitals zusammen setzen. Auf dieser Grundlage bestimmt sich der Wert der Kundenbeziehungen zu Beginn einer betrachteten Periode - bei Anwendung des Roll-Back-Verfahrens - als Barwert der Summe aus dem Wert der Kundenbeziehungen am Ende dieser Periode und den dieser Periode zugerechneten Excess Earnings; zur Vereinfachung der Analyse <?page no="375"?> 376 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation wird davon ausgegangen, dass die Excess Earnings am Ende der betrachteten Periode erzielt werden. Der Barwertermittlung liegt ein vorläufig festgelegter vermögenswertspezifischer Zinssatz in Höhe von 9,34% zugrunde, der erforderlichenfalls bei der Beurteilung der Plausibilität der Bewertungsergebnisse unter Pkt. 10.5.2 bzw. Pkt. 10.5.3 anzupassen ist. Der Abzug der Ertragsteuern bei der Ermittlung der Excess Earnings sowie die Ableitung des bei der Wertermittlung berücksichtigten abschreibungsbedingten Steuervorteils werden unter Pkt. 10.4.4 erläutert. Anwendungsvoraussetzungen von Excess-Earnings- und Residual-Value-Ansatz Für die Anwendung der beiden hier betrachteten Ansätze ist von zentraler Bedeutung, dass begründbar ist, dass dem Bewertungsobjekt die „Excess Earnings“ bzw. der „Residual Value“ zuzurechnen sind, sowie dass alle anderen Vermögenswerte des Unternehmens identifizierbar und bewertbar sind; dementsprechend muss insbesondere deren Beitrag zum Gesamteinkommen des Unternehmens bestimmbar sein. In der Praxis der Kaufpreisallokation in Deutschland wird die Residual-Value-Methode - ganz überwiegend in Gestalt der MPEEM - regelmäßig der Bewertung des bedeutsamsten immateriellen Vermögenswerts des Unternehmensbereichs zugrunde gelegt. Dieser Vermögenswert sollte dadurch gekennzeichnet sein, dass er „einen erheblichen Einfluss auf die Cashflows“ (IDW S. 5 (2010), Tz. 40) ausübt, d.h. der zentrale Werttreiber (so Mackenstedt/ Fladung/ Himmel (2006), S. 1042) des Unternehmensbereichs ist. Deswegen wird dieser Vermögenswert oftmals als „leading asset“ bezeichnet. Zu denken ist etwa an die dominierende Marke bzw. die grundlegende Technologie oder die Kundenbeziehungen des Unternehmens. Die zweite Anwendungsvoraussetzung macht deutlich, dass mit der MPEEM bzw. dem Residual-Value-Ansatz die Gefahr der Überbewertung des Bewertungsobjekts verbunden sein kann: Zum einen zeigt sich dies in der Vernachlässigung möglicher, mit dem Zusammenwirken der Vermögenswerte verbundenen Synergien, die sich nicht in den Werten bzw. Einkommensbeiträgen dieser Vermögenswerte niederschlagen (Einkommenskomponente bzw. Wertkomponente ); die hier betrachteten Bewertungsansätze ordnen derartige Effekte dem danach bewerteten Vermögenswert zu. Dem Wert des Bewertungsobjekts wird folglich eine den unterstützenden Vermögenswerten bzw. gesondert zu erfassende Komponente zugewiesen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die gesonderte Erfassung dieser Synergien deren Abgrenzbarkeit voraussetzt. Zum anderen ist denkbar, dass es Fälle gibt, in denen nicht alle Vermögenswerte des Unternehmensbereichs identifiziert und bewertet werden. Deren Wert schlägt sich dann ebenfalls - ganz oder teilweise - in dem des Bewertungsobjekts nieder (Einzelheiten hierzu werden dargelegt bei Moser, 2011, S. 261ff.). <?page no="376"?> 10.4 Income Approach 377 www.uvk-lucius.de/ innovation 10.4.3 Diskontierungszinssatz 10.4.3.1 Vorgehen bei der Festlegung des Diskontierungszinssatzes Zur Ermittlung des Werts des Bewertungsobjekts ist der diesem zugeordnete zukünftige Einkommensstrom mit einer alternativen Anlagemöglichkeit zu vergleichen. Technisch erfolgt dieser Vergleich im Wege der Diskontierung. Dementsprechend ist eine mit dem Bewertungsobjekt vergleichbare Alternativanlage festzulegen. Dabei ist insbesondere darauf abzustellen, dass sich Laufzeit und Risiko von Bewertungsobjekt und Alternativanlage entsprechen, d.h. die Alternativanlage laufzeit- und risikoäquivalent zum Bewertungsobjekt ist. Der Diskontierungszinssatz, der diese Voraussetzung erfüllt, wird im Folgenden als vermögenswertspezifischer Zinssatz bezeichnet. Teilweise wird auch von vermögenswertspezifischen Kapitalkosten gesprochen (so z.B. Schmalenbach-Gesellschaft, 2009, S. 42f.; IDW HFA RS 16, Tz. 35; Tettenborn/ Straub/ Rogler, 2012, S. 483ff.). Als Ausgangspunkt der Ableitung des vermögenswertspezifischen Zinssatzes bieten sich die Kapitalkosten des Unternehmensbereichs an. Zur Abbildung der Laufzeitäquivalenz ist die Laufzeit der Kapitalkosten unter Zugrundelegung der Nutzungsdauer des Bewertungsobjekts festzulegen; zur Berücksichtigung der Risikoäquivalenz sind die laufzeitäquivalenten Kapitalkosten an das spezifische Risikoprofil des Bewertungsobjekts anzupassen. 10.4.3.2 Ermittlung der laufzeitäquivalenten Kapitalkosten Definition Die gewichteten Kapitalkosten eines Unternehmens (Weighted Average Cost of Capital oder kurz WACC; zu Einzelheiten der Ermittlung der gewichteten Kapitalkosten siehe statt vieler Aschauer/ Purtscher, 2011, S. 161ff.; Dörschell/ Franken/ Schulte, 2009; dieselb., 2010; sowie die weiterführenden Literaturhinweise bei Moser, 2011, S. 31ff.) setzen sich aus den Kosten der Eigenkapitalgeber (r E ) und denen der Fremdkapitalgeber (r D ) zusammen, die entsprechend ihrem Anteil am Gesamtunternehmenswert gewichtet werden (Abb. 60). Der Gesamtunternehmenswert ergibt sich dabei als Summe aus dem Marktwert des Eigenkapitals (E) und dem Marktwert des Fremdkapitals (Db). Bei den Fremdkapitalkosten ist zudem deren steuerliche Abzugsfähigkeit als Betriebsausgabe mittels des Tax Shields (1 s) zu berücksichtigen. Zur Bestimmung der Eigenkapitalkosten wird zumeist auf das Capital Asset Pricing Model (CAPM) zurückgegriffen. Danach setzten sich die Eigenkapitalkosten aus dem risikofreien Zinssatz (r f ) und einer Risikoprämie zusammen. Dabei ist der risikofreie Zinssatz laufzeitäquivalent, d.h. entsprechend der Nutzungsdauer des Bewertungsobjekts, aus der aktuellen Zinsstrukturkurve abzuleiten. Die Risikoprämie ergibt sich aus der Multiplikation der Marktrisikoprämie (r M r f ) mit dem ß-Faktor (Abbildung 60). Bei der Ermittlung der Fremdkapitalkosten ist in entsprechender Weise die Laufzeit- und Risikoäquivalenz zu berücksichtigen. <?page no="377"?> 378 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Abbildung 60: Bestimmung der Kapitalkosten eines Unternehmens Definition Der ß-Faktor eines Wertpapiers i ist definiert als die Kovarianz zwischen der Renditeerwartung dieses Wertpapiers und der des Marktportfolios dividiert durch die Varianz der Rendite des Marktportfolios. Die dargestellten Parameter der Kapitalkosten können aus Sicht des Unternehmens, bei dem das Bewertungsobjekt zusammen mit anderen Vermögenswerten zur Erzielung von dessen Gesamteinkommen beiträgt, ermittelt werden. Sie können jedoch auch von diesem losgelöst unter Heranziehung von Vergleichsunternehmen (Peergroup) bestimmt werden. Letzteres bedeutet beispielsweise, dass für die Gewichtung der Eigenkapital- und Fremdkapitalkosten nicht der Anteil des Marktwerts des Eigenkapitals bzw. des Fremdkapitals am Gesamtunternehmenswert des betreffenden Unternehmens herangezogen, sondern auf die Kapitalstruktur der Peergroup abgestellt wird. Beispiel Die gewichteten Kapitalkosten der Beispiel GmbH betragen 7,87%. Diese setzen sich aus Eigenkapitalkosten in Höhe von 9,45% und Fremdkapitalkosten von 6,00% bei einer Eigenkapitalquote (Fremdkapitalquote) von 70% (30%) und einem Steuersatz von 30% zusammen. Den Eigenkapitalkosten liegen ein risikoloser Zinssatz von 4,0%, eine Marktrisikoprämie von 4,5% sowie ein Beta von 1,21 zugrunde. 10.4.3.3 Berücksichtigung des vermögenswertspezifischen Risikos Ein Bewertungsobjekt weist zumeist ein spezifisches Risiko auf, das - unabhängig davon, ob es sich um ein Unternehmen oder um einen einzelnen Vermögenswert handelt - in der Volatilität des diesem zuzurechnenden Einkommensstroms zum Ausdruck kommt (hierzu bereits Moser/ Schieszl, 2001, S. 530-541 m.w.N.). Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Betrachtung eines Unternehmens, das - dies wurde unter Pkt. 10.3.5 dargelegt - als Portfolio von Vermögenswerten verstanden werden kann (Abbildung 61): Typischerweise ist mit immateriellen Vermögenswerten ein höheres Risiko verbunden als mit materiellen Vermögenswerten (so auch die Untersuchung von Stegink/ Schauten/ de Graaff, 2007), wobei regelmäßig der Goodwill das höchste Risi- <?page no="378"?> 10.4 Income Approach 379 www.uvk-lucius.de/ innovation ko aufweist, dann kommen die anderen immateriellen Vermögenswerte, die Sachanlagen und schließlich das Working Capital, mit dem das niedrigste Risiko verbunden ist (so z.B. auch TAF, 2010, 4.2.07). Abbildung 61: Vermögenswertspezifisches Risiko Beispiel Die Entwicklung einer neuen Technologie kann eine bestehende Technologie gänzlich obsolet machen, wohingegen der bisherige Maschinenpark weiter genutzt werden kann, etwa für die Fertigung der auf der neuen Technologie beruhenden Produkte. In diesem Fall weist der der Technologie zugeordnete Beitrag zum Gesamteinkommensstrom c. p. eine höhere Volatilität und damit ein höheres vermögenswertspezifisches Risiko als der Maschinenpark auf. In Einzelfällen, etwa bei Spezialanlagen oder bei einzelnen Komponenten des Goodwill (vgl. auch TAF, 2010, 4.2.09f.), kann etwas anderes gelten. Zur Anpassung der laufzeitäquivalent abgeleiteten gewichteten Kapitalkosten an das so charakterisierte vermögenswertspezifische Risiko des zu bewertenden Vermögenswerts werden mehrere Vorgehensweisen vorgeschlagen: Die kapitalmarktbasierte Ableitung des vermögenswertspezifischen Zinssatzes legt der Ermittlung der Eigenkapitalkosten vermögenswertspezifische ß-Faktoren zugrunde. Dieser Ansatz erlaubt zudem, bei der Bemessung der gewichteten Kapitalkosten explizit vermögenswertspezifische Finanzierungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (hierfür spricht sich insbesondere TAF, 2010, 4.2 aus; ähnliche Überlegungen finden sich auch bei IVSC 2007, 6.77f.), die sich beispielsweise in dem Umstand äußern können, dass immaterielle Vermögenswerte tendenziell eher mit Eigenkapital als mit Fremdkapital finanziert werden. Der Anwendungsbereich dieser Vorgehensweise ist allerdings sehr begrenzt, da vermögenswertspezifische ß- Faktoren allenfalls in Ausnahmefällen verfügbar sind. Eine andere Möglichkeit stellt eine modellendogene Ableitung eines einheitlichen vermögenswertspezifischen Zinssatzes für alle immateriellen Vermögenswerte dar. Dieser Ansatz wurde bei TAF 2008 (4.3.09) angesprochen, ist jedoch in der finalen Fassung von 2010 nicht mehr enthalten. Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Umsetzung der beiden genannten Ansätze verbunden sind, erfolgt die Adjustierung der laufzeitäquivalent abgeleiteten <?page no="379"?> 380 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation gewichteten Kapitalkosten an das vermögenswertspezifische Risiko des zu bewertenden Vermögenswerts in der praktischen Anwendung ganz überwiegend in Form pauschaler Zu- oder Abschläge (ebenso Beyer/ Mackenstedt, 2008, S. 346). Dieser Vorgehensweise wird vor allem entgegengehalten, dass eine intersubjektive Nachprüfbarkeit der so ermittelten vermögenswertspezifischen Zinssätze aufgrund der Subjektivität der Zu- und Abschläge nicht gegeben ist (so etwa Schmalenbach- Gesellschaft, 2009, S. 42f.). Die genannten Ansätze können auch in Kombination zur Anwendung kommen. Hieran ist etwa in den Ausnahmefällen zu denken, in denen für einzelne immaterielle Vermögenswerte vermögenswertspezifische ß-Faktoren verfügbar sind; für die anderen Vermögenswerte wird auf pauschale Zubzw. Abschläge zurückgegriffen und/ oder ein modellendogener einheitlicher Zinssatz abgeleitet. Fallstudie Tabelle 17 fasst die Ableitungen der vermögenswertspezifischen Zinssätze, die den Bewertungen der Vermögenswerte der Beispiel GmbH in Tabelle 12 bis Tabelle 16 vorläufig zugrunde gelegt wurden, zusammen. Die Risikozubzw. Risikoabschläge wurden dabei unter Berücksichtigung der Einschätzung der Risiken dieser Vermögenswerte pauschal bemessen. Tabelle 17: Vermögenswertspezifische Zinssätze der Vermögenswerte der Beispiel GmbH 10.4.4 Berücksichtigung der Besteuerung bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte 10.4.4.1 Steuerrelevante Fragestellungen Bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte nach dem Income Approach können folgende steuerliche Fragestellungen von Bedeutung sein: Einbeziehung der Besteuerung in das Bewertungskalkül Berücksichtigung des abschreibungsbedingten Steuervorteils (Tax Amortization Benefit) 10.4.4.2 Einbeziehung der Besteuerung in das Bewertungskalkül Bei Anwendung des Income Approach zur Bewertung von Vermögenswerten sind - in gleicher Weise wie bei der Unternehmensbewertung (vgl. z.B. Moser, 1999, S. 117ff.) - Ertragsteuern zu berücksichtigen. Dementsprechend sind die dem Bewertungsobjekt zugeordneten Einkommensströme um Ertragsteuern zu kürzen. Beim Incremental <?page no="380"?> 10.4 Income Approach 381 www.uvk-lucius.de/ innovation Income- und beim Excess Earnings-Ansatz ist dies unmittelbar ersichtlich. Beim Relief-from-Royalty-Ansatz resultiert die Steuerberücksichtigung daraus, dass die Lizenzzahlungen steuerlich abzugsfähige Betriebsausgaben, die die Ertragsteuerzahlungen des Lizenznehmers reduzieren, darstellen. Deswegen entlastet der Wegfall von Lizenzzahlungen nur in Höhe ihres Betrags nach Abzug der Ertragsteuern. Das Erfordernis der Berücksichtigung von Ertragsteuern beim Diskontierungszinssatz hängt davon ab, ob es sich bei diesem um eine Vor- oder Nachsteuergröße handelt. In die Ermittlung der Ertragsteuern brauchen lediglich die Unternehmenssteuern einbezogen zu werden (so auch IDW RS HFA 16, Tz. 29, Tz. 36; IDW S. 5, 2010, Tz. 45f). Eine Berücksichtigung der persönlichen Ertragsteuern der Anteilseigner (so IDW S. 1 bei der Unternehmensbewertung) erübrigt sich dann, wenn dem oben bereits dargelegten Gedanken (Pkt. 10.3.5.2), die Bewertungen einzelner Vermögenswerte als Partialkalküle zu betrachten, gefolgt wird. In diesem Fall können die persönlichen Ertragsteuern der Anteilseigner erforderlichenfalls auf Unternehmensebene bei Ableitung des Unternehmenswerts ihren Niederschlag finden. Auf Unternehmensebene können auch steuerliche Besonderheiten wie etwa eine Zinsschranke (§§ 4h EStG, 8a KStG) abgebildet werden. 10.4.4.3 Abschreibungsbedingter Steuervorteil (Tax Amortization Benefit) Beim gesonderten Erwerb eines immateriellen Vermögenswertes, etwa eines Patentes oder einer Marke, ist der Erwerber nach den Steuergesetzen der meisten Länder berechtigt, die Anschaffungskosten im Wege der Abschreibung mit steuerlicher Wirkung auf dessen Nutzungsdauer zu verteilen (z.B. §§ 5 Abs. 2, 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Hieraus resultiert eine Verminderung der jährlichen Steuerbelastung, die sich durch Anwendung des Steuersatzes des Erwerbers auf den jährlichen Abschreibungsbetrag ergibt. Der abschreibungsbedingte Steuervorteil (Tax Amortization Benefit oder kurz TAB) ergibt sich - durch Bezug auf den Bewertungsstichtag - als Summe der Barwerte dieser jährlichen Steuervorteile. Der Income Approach führt - wie unter 10.3.2.1 ausgeführt - zur Ableitung des Grenzpreises, der aus Sicht des Erwerbers den Betrag darstellt, den dieser beim Erwerb eines Vermögenswertes höchstens bezahlen darf, ohne eine Verschlechterung seiner Vermögensposition im Vergleich zur Unterlassung des Erwerbs zu erfahren (Preisobergrenze). Der abschreibungsbedingte Steuervorteil erhöht den Grenzpreis des Erwerbers und ist dementsprechend in dessen Ermittlung einzubeziehen. Somit ist in den Fällen, in denen die Voraussetzungen für die Realisierung des abschreibungsbedingten Steuervorteils erfüllt sind, der abschreibungsbedingte Steuervorteil bei Anwendung des Income Approach bzw. generell bei Ermittlung von Grenzpreisen zu berücksichtigen. Bei der Berechnung des abschreibungsbedingten Steuervorteils tritt ein Zirkularitätsproblem auf: Einerseits schließt der Grenzpreis (V G ) den abschreibungsbedingten Steuervorteil (TAB) ein, andererseits bildet der Grenzpreis die Bemessungsgrundlage für die Berechnung des abschreibungsbedingten Steuervorteils. Dies zeigen folgende Überlegungen: Im Falle der Anwendung des Income Approach ergibt sich der Grenzpreis als <?page no="381"?> 382 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation mit NPV(CF) als Barwert der dem Bewertungsobjekt zugeordneten Einkommenszahlungen. Der abschreibungsbedingte Steuervorteil bestimmt sich, wie bereits ausgeführt, als Barwert (NPV) der jährlichen Steuerersparnisse aufgrund der steuerlichen Abschreibung (A) des Bewertungsobjekts. Bei einem Steuersatz s ergibt sich der abschreibungsbedingte Steuervorteil als bzw. bei Zugrundelegung einer linearen Abschreibung mit T als Nutzungsdauer des Bewertungsobjekts als Damit wird die Zirkelbeziehung ersichtlich Dieses Zirkularitätsproblem kann durch Ermittlung eines Zuschlagsfaktors für den abschreibungsbedingten Steuervorteil aufgelöst werden. Unter Berücksichtigung von mit q = 1+ r gilt Diese Beziehung kann umgeformt werden zu Damit ergibt sich ein Zuschlagsfaktor (tab) bezogen auf den Wert des Bewertungsobjekts vor Berücksichtigung des abschreibungsbedingten Steuervorteils von bzw. mit <?page no="382"?> 10.4 Income Approach 383 www.uvk-lucius.de/ innovation Fallstudie Die Ableitung des abschreibungsbedingten Steuervorteils für die Verfahrens- und die Basistechnologie sowie für die Kundenbeziehungen ergeben sich aus Tabelle 12 bis Tabelle 14. Fragen 1. Wie kann sich eine patentgeschützte Technologie auf das Einkommen eines Unternehmens auswirken? 2. Wie wird das in die Incremental Income Analysis eingehende Einkommen bestimmt? 3. Warum ist der Anwendungsbereich der Incremental Income Analysis eingeschränkt? 4. Wie wird das in die Relief-from-Royalty-Methode eingehende Einkommen bestimmt? 5. Was setzt eine Anwendung der Relief-from-Royalty-Methode voraus? 6. Wie wird das in die Multi-Period Excess Earnings Method eingehende Einkommen bezeichnet? Wie ist dieses zu bestimmen? 7. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Multi-Period Excess Earnings Method und dem Residual Value Approach? 8. Welche Voraussetzungen sind für die Anwendung der Multi-Period Excess Earnings Method bzw. des Residual Value Approach von zentraler Bedeutung? 9. Wie sind die gewichteten Kapitalkosten zu ermitteln? 10. Was verstehen Sie unter dem vermögenswertspezifischen Risiko? Welche Ansätze zu dessen Bemessung kennen Sie? 11. Welche Steuern sind in das Bewertungskalkül einzubeziehen? 12. Was verstehen Sie unter dem abschreibungsbedingten Steuervorteil? Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde auf die Anwendung des Income Approach bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte eingegangen. Zunächst wurden - ausgehend von einer patentgeschützten Technologie - exemplarisch mögliche Wirkungen, die von immateriellen Vermögenswerten auf das Einkommen eines Unternehmens ausgehen können, untersucht. Hierauf aufbauend wurden die Ausgestaltungen des Income Approach, die bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte Anwendung finden, im Einzelnen betrachtet: die Incremental Income Analysis, die Relief-from-Royalty-Methode sowie die <?page no="383"?> 384 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Multi-Period Excess Earnings Method bzw. der Residual Value Approach. Sodann wurde die Bestimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze, die der Diskontierung der den Bewertungsobjekten zugeordneten Einkommensbeiträge zugrunde zu legen sind, erläutert. Abschließend wurde dargelegt, dass bei der Bewertung immaterieller Vermögenswerte Unternehmensteuern einzubeziehen sind und erforderlichenfalls ein abschreibungsbedingter Steuervorteil anzusetzen ist. 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The Appraisal Foundation, TAF (2008), Best Practices for Valuations in Financial Reporting: Intangible Asset Working Group, “The Identification of Contributory Assets and the Calculation of Economic Rents”, Exposure Draft, Washington 2008. <?page no="385"?> www.uvk-lucius.de/ innovation 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse bei Einbindung der Bewertungsobjekte in ein Unternehmen Wissensziele Sie sollen begründen können, warum sich die Werte zukünftig zu entwickelnder immaterieller Vermögenswerte im Entity Value eines Unternehmens niederschlagen können. Sie sollen die Bewertung zukünftig geplanter immaterieller Vermögenswerte sowie den Wertbeitrag, den diese zum Entity Value leisten, aufzeigen können. Sie sollen das Vorgehen bei der Beurteilung der Plausibilität der Bewertung von immateriellen Vermögenswerten darlegen können. Sie sollen - auf der Grundlage der Residual-Value-Methode - den Entity Value durch die Werte der gegenwärtig verfügbaren und der zukünftig geplanten Vermögenswerte eines Unternehmens erklären können. Sie sollen das Auftreten einer Bewertungsdifferenz bei der Erklärung des Entity Value unter Zugrundelegung der MPEEM erläutern können. Sie sollen erkennen, dass das Einkommen eines Unternehmens bei Anwendung der Residual-Value-Methode und bei Anwendung der MPEEM vollständig durch die Einkommensbeiträge der Vermögenswerte zu erklären ist. Sie sollen die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze bei Anwendung der Residual-Value-Methode und bei Anwendung der MPEEM darlegen können. Sie sollen die Komponenten des originären Goodwill eines Unternehmens ableiten können. 10.5.1 Grundlagen der Untersuchung 10.5.1.1 Ableitung des Entity Value Der als Entity Value verstandene Wert eines Unternehmens im Zeitpunkt t (für t = 0 bis ) ergibt sich - auf der Grundlage des Income Approach - aus der Beziehung wobei die gewichteten Kapitalkosten des Unternehmens in der Periode t+1 zum Ausdruck bringt; bezeichnet das als Free Cashflow verstandene Einkommen des betrachteten Unternehmens im Jahr t+1. Fallstudie Die Ableitung des Entity Value der Beispiel GmbH ergibt sich - für jedes Jahr des Betrachtungszeitraums - aus Tabelle 18. Grundlage der Bestimmung dieser Werte sind die Free Cashflows der Gesellschaft, die mit deren gewichteten Kapitalkosten - diese wurden unter Pkt. 10.4.3.2 in Höhe von 7,87% abgeleitet - zu diskontieren 1 <?page no="386"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 387 www.uvk-lucius.de/ innovation sind. Die Diskontierung folgt dem - bereits bei der Bewertung der Basis- und Verfahrenstechnologie sowie der Kundenbeziehungen angewendeten - Roll Back- Verfahren. Zur Vereinfachung der Betrachtungen wird von Wachstum des Unternehmens nach dem Planungshorizont abgesehen. Tabelle 18: Ermittlung des Entity Value Ausgangspunkt der Ableitung der Free Cashflows sind die von der Gesellschaft bis ins Jahr 2015 geplanten EBITA. Nach dem Planungszeitraum ist ein nachhaltig zu erzielendes EBITA anzusetzen, da das Management davon ausgeht, dass das Unternehmen die Geschäftstätigkeit auch nach 2015 fortführen wird. Als nachhaltiges EBITA wird das für 2015 geplante EBITA angesetzt; dieses EBITA ist - nach begründeter Darlegung des Managements - für die Jahre nach dem Planungszeitraum als repräsentativ zu betrachten. Die vom Management vorgelegte EBITA-Planung berücksichtigt nicht, dass die mit der Verfahrenstechnologie verbundenen Kosteneinsparungen nur bis ins Jahr 2015 erzielt werden können. Insoweit diese Kostenvorteile ab 2015 nicht mehr realisiert werden können, sind das EBITA des Jahres 2015 sowie das als nachhaltig anzusetzende EBITA zu bereinigen. Von dieser Größe sind die Abschreibungen der immateriellen Vermögenswerte Kundenbeziehungen, Basis- und Verfahrenstechnologie abzusetzen, da diese Vermögenswerte mit steuerlicher Wirkung abgeschrieben werden können. Nach Berücksichtigung der Ertragsteuern auf das so bestimmte, bereinigte EBIT sind zur Bestimmung der Free Cashflows die Veränderungen des Working Capital sowie die Investitionen abzüglich Abschreibungen, die sich aus Tabelle 15 und Tabelle 16 ergeben, abzuziehen. Bei der Ermittlung des Entity Value wird zumeist - wie bei der Beispiel GmbH - von der Fortführung des Unternehmens ausgegangen. Dementsprechend wird bei der Planung der zukünftigen Free Cashflow und bei der Ableitung des nach dem Planungszeitraum nachhaltig zu erzielenden Einkommens - explizit oder implizit - angenommen, dass Vermögenswerte, die im Zeitpunkt t verfügbar sind - beispielsweise Technologien oder Kundenbeziehungen -, am Ende von deren Nutzungsdauer regelmäßig durch Nachfolger zu ersetzen sind. Darüber hinaus kann auch angenommen werden, dass Vermögenswerte in Zukunft zu entwickeln oder aufzubauen sind, die keine im Zeitpunkt t verfügbare Vermögenswerte ersetzen werden. <?page no="387"?> 388 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Diese Betrachtungen legen dar, dass sich im Entity Value - neben den im genannten Zeitpunkt verfügbaren Vermögenswerten - auch zukünftig zu entwickelnde Vermögenswerte niederschlagen können. Sie zeigen weiter, dass die Abgrenzung dieser Vermögenswerte vor allem durch die der Free Cashflow-Planung des Unternehmens sowie die der Ableitung des nachhaltigen Free Cashflow (siehe hierzu Moser, 2002, S. 17ff.) zugrunde gelegten Annahmen bestimmt ist. Unter Berücksichtigung der zukünftig zu entwickelnden Vermögenswerte kann die unter Pkt. 10.3.5.2 eingeführte Bedingung, dass der Entity Value eines Unternehmens im Zeitpunkt t (für t = 0 bis ) gleich der Summe der Werte der diesem zugeordneten Vermögenswerte ist, umgeformt werden zu Diese Beziehung geht davon aus, dass das betrachtete Unternehmen im Zeitpunkt t (mit t = 0 bis ) verfügt über k materielle und immaterielle Vermögenswerte, die bilanzierungsfähig sind (zum Ansatz immaterieller Vermögenswerte nach IFRS siehe Moser, 2011, S. 12ff., 130ff.), über l Vermögenswerte, die nicht bilanzierungsfähig sind; m Vermögenswerte werden die verfügbaren Vermögenswerte in der betrachteten oder einer späteren Periode ersetzen. Dem Unternehmen sind somit n = k + l + m gegenwärtig genutzte und zukünftig geplante Vermögenswerte im Zeitpunkt t zuzurechnen. Die Bewertung der am Bewertungsstichtag verfügbaren Vermögenswerte wurde unter Pkt. 10.4 bereits betrachtet. Deswegen verbleibt, die Bewertung der zukünftig geplanten Vermögenswerte sowie deren Wertbeitrag zum Entity Value zu untersuchen. 10.5.1.2 Ableitung der Werte zukünftig geplanter Vermögenswerte Die Bewertung der Vermögenswerte, die die am Bewertungsstichtag verfügbaren Vermögenswerte in Zukunft ersetzen werden, folgt grundsätzlich dem Vorgehen, das der Ableitung der Werte der zu ersetzenden Vermögenswerte zugrunde gelegt wurde. Dabei sind die zum Aufbau bzw. zur Entwicklung dieser Vermögenswerte erforderlichen Investitionen - insbesondere Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen zur Entwicklung von neuen Technologien, Marketing-Aufwendungen zum Aufbau neuer Marken sowie Kundenakquisition-Aufwendungen zum Aufbau neuer Kundenbeziehungen - zu berücksichtigen. Wird beispielsweise ein am Bewertungsstichtag vorhandener Vermögenswert mittels der Relief-from-Royalty-Methode bewertet, werden - von im Einzelfall möglichen Ausnahmen abgesehen - die Werte der diesen Vermögenswert und dessen Nachfolger in Zukunft ersetzenden Vermögenswerte ebenfalls mittels der Relief-from-Royalty-Methode - unter Einbeziehung der zum Aufbau bzw. für die Entwicklung dieser Vermögenswerte anfallenden Aufwendungen - abgeleitet. Zur Vereinfachung der Betrachtungen kann bei der Bewertung von zukünftig geplanten Vermögenswerten, die am Ende von deren Nutzungsdauer durch Nachfolgeobjek- <?page no="388"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 389 www.uvk-lucius.de/ innovation te zu ersetzen sind, davon ausgegangen werden, dass diese eine unbestimmte Nutzungsdauer aufweisen. Es kann aufgezeigt werden, dass mit dieser Annahme unter den der Analyse zugrunde liegenden Annahmen bei konsistenter Abbildung keine Wertauswirkungen verbunden sind (zur Bestimmung der Nutzungsdauer immaterieller Vermögenswerte Moser, 2011, insbes. S. 153ff.; Kasperzak/ Kalantary, 2011, S. 1114ff., 1171ff.). Fallstudie Die Bewertung der Nachfolgegenerationen der Basistechnologie ergibt sich - für jedes Jahr des Betrachtungszeitraums - aus Tabelle 19. Diese Bewertung geht von einer unbestimmten Nutzungsdauer aus und bezieht die zur Entwicklung der zukünftigen Basistechnologien erforderlichen Entwicklungsaufwendungen ein. Diese Aufwendungen sind - dies wurde unter Pkt. 10.4.2.3 dargelegt - in der Planungsrechnung der Gesellschaft in Höhe von 4,2% der Umsatzerlöse berücksichtigt. Aufgrund des im Vergleich zur verfügbaren Basistechnologie höher einzuschätzenden Risikos der Nachfolgegenerationen dieser Technologie wurde der vorläufig festgelegte vermögenswertspezifische Zinssatz adjustiert und in Höhe von 9,04% angesetzt. Tabelle 19: Bewertung der Nachfolgegenerationen der Basistechnologie Auf die Bewertung zukünftiger Generationen der Verfahrenstechnologie kann verzichtet werden, da nach derzeitigem technischen Stand davon auszugehen ist, dass eine Entwicklung dieser Nachfolgetechnologien nicht möglich sein wird. Der Wert der zukünftig geplanten Kundenbeziehungen der Beispiel GmbH wird sowohl mittels der Residual-Value-Methode als auch mittels der MPEEM bestimmt. Bei Anwendung der Residual-Value-Methode ergibt sich der Wert dieser Kundenbeziehungen für jedes Jahr des Betrachtungszeitraums durch Abzug des Werts der Nachfolgegenerationen der Basistechnologie, des Werts der bestehenden Kundenbeziehungen, der Werte der verfügbaren Basistechnologie und Verfahrenstechnologie sowie der Werte der Sachanlagen und des Working Capital vom Entity Value. Tabelle 20 stellt die Ableitungen der auf dieser Grundlage ermittelten Werte der zukünftigen Kundenbeziehungen für den Betrachtungszeitraum zusammen. <?page no="389"?> 390 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 20: Ableitung des Werts der zukünftigen Kundenbeziehungen mittels der Residual Value-Methode Die Anwendung der MPEEM zur Bewertung der zukünftigen Kundenbeziehungen erfordert die Bestimmung der diesen Kundenbeziehungen zuzurechnenden Excess Earnings. In Tabelle 21 werden zunächst die allen - also den bestehenden und den zukünftig geplanten - Kundenbeziehungen zuzurechnenden Excess Earnings unter Zugrundelegung einer unbestimmten Nutzungsdauer ermittelt, von denen sodann die in Tabelle 14 abgeleiteten, den bestehenden Kundenbeziehungen zuzurechnenden Excess Earnings abgezogen werden. Die Ermittlung der allen Kundenbeziehungen zuzurechnenden Excess Earnings folgt im Grundsatz der Ableitung der Excess Earnings der bestehenden Kundenbeziehungen. Allerdings unterbleibt dabei die Bereinigung der Kundenakquisitionskosten, da diese Kundenbeziehungen auch die zukünftig zu akquirierenden Kundenbeziehungen einschließen. Aufgrund des im Vergleich zu den bestehenden Kundenbeziehungen höher einzuschätzenden Risikos der zukünftig aufzubauenden Kundenbeziehungen wurde der vorläufig festgelegte vermögenswertspezifische Zinssatz adjustiert und in Höhe von 10,34% angesetzt. Tabelle 21: Ableitung des Werts der zukünftigen Kundenbeziehungen mittels MPEEM <?page no="390"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 391 www.uvk-lucius.de/ innovation 10.5.1.3 Bestimmung des Wertbeitrags zukünftiger Vermögenswerte zum Entity Value Der Wert des Vermögenswerts i (mit i = 1 bis n) zum Zeitpunkt t (für t = 0 bis ) kann - in Erweiterung der Ausführungen unter Pkt. 10.3.2 - unter Berücksichtigung der zur Entwicklung bzw. zum Aufbau des betrachteten Vermögenswerts erforderlichen Investitionen dargestellt werden. Zur Vereinfachung der Ausführungen wird im Folgenden lediglich von Entwicklungsinvestitionen gesprochen. Mit und sowie bei Anwendung periodenunabhängiger vermögenswertspezifischer Zinssätze für alle i = 1 bis n gilt mit bzw. als Wert bzw. Einkommenszahlung des Vermögenswerts i im Zeitpunkt t + 1 vor Berücksichtigung der Entwicklungsinvestitionen, der im Zeitpunkt t + 1 für den Vermögenswert i zu tätigenden Entwicklungsinvestition und als auf den Zeitpunkt t + 1 bezogener Barwert der zukünftigen Entwicklungsinvestitionen in diesen Vermögenswert. Im Falle eines gegenwärtig verfügbaren, d.h. eines bereits entwickelten Vermögenswerts i (mit i = 1 bis l) gilt sowie . Die weitere Umformung der Beziehung zu zeigt, dass der Wert des zukünftig geplanten Vermögenswerts i (für i = bis n) dann positiv (negativ) ist, wenn sich die Entwicklungsinvestitionen in diesen Vermögenswert ( ) mit einem Zinssatz verzinsen, der dessen vermögenswertspezifischen Zinssatz ( ) übersteigt (unterschreitet). Für ( ) übersteigt (unterschreitet) der aus der Beziehung für abzuleitende interne Zinsfuß ( ) den vermögenswertspezifischen Zinssatz. Es gilt ( ). Bei Gleichheit dieser Zinssätze kommt dem zukünftigen Vermögenswert kein Wert zu; für gilt . Dies bedeutet, dass in dem Fall, in dem ein zukünftig geplanter Vermögenswert einen positiven (negativen) Beitrag zum Entity Value leistet, die in der Planungsrechnung des Unternehmens bzw. bei der Ableitung des nachhaltigen Free Cashflow berücksichtigten Entwicklungsinvestitionen in diesen Vermögenswert sich mit einem Zinssatz (interner Zinsfuß) verzinsen, der dessen vermögenswertspezifischen Zinssatz übersteigt (unterschreitet). <?page no="391"?> 392 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Fallstudie Die Nachfolgegenerationen der Basistechnologie weisen einen (leicht) positiven Wert auf, da sich die Investitionen in deren Entwicklung mit 9,09% bei einem vermögenswertspezifischen Zinssatz von 9,04% verzinsen. Gleiches gilt für die Investitionen in den Aufbau der zukünftig geplanten Kundenbeziehungen, die sich mit 37,94% bei einem - der Anwendung der MPEEM zugrunde gelegten - vermögenswertspezifischen Zinssatz von 10,34% verzinsen Auf die Darstellung der Ableitung der internen Zinssätze wird im hier gegebenen Rahmen verzichtet. 10.5.2 Abstimmung der Bewertungsergebnisse bei Anwendung der Residual-Value-Methode 10.5.2.1 Abstimmung der Werte der Vermögenswerte mit dem Entity Value Die Anwendung der Residual-Value-Methode zur Bewertung des Vermögenswerts i = n führt zu einem Wert des Bewertungsobjekts ( ) im Zeitpunkt t (für alle t = 0 bis ) von Durch Auflösung der Beziehung für nach wird ersichtlich, dass der Entity Value bei Anwendung der Residual-Value-Methode vollständig durch die bilanzierungsfähigen Vermögenswerte ( ), die nicht bilanzierungsfähigen Vermögenswerte ( ) sowie durch die zukünftig geplanten Vermögenswerte ( ) erklärt werden kann. Es gilt mit . Merksatz Die Erklärung des Entity Value durch die bilanzierungsfähigen Vermögenswerte, die nicht bilanzierungsfähigen Vermögenswerte sowie durch die zukünftig geplanten Vermögenswerte ist bei Anwendung der Residual-Value-Methode modellimmanent. Der Vergleich dieser Beziehung mit den unter Pkt. 10.3.5.2 bzw. Pkt. 10.5.1.1 eingeführten Ausdrücken für den Entity Value zeigt, dass die Residual-Value-Methode die Komponente die mögliche Wertbeiträge erfasst, die den Vermögenswerten nicht zugeordnet werden können, dem Wert des mittels dieser Methode bewerteten Vermögenswerts zuweist. <?page no="392"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 393 www.uvk-lucius.de/ innovation 10.5.2.2 Abstimmung der Einkommensbeiträge der Vermögenswerte Unter Pkt. 10.4.2.3 wurde dargelegt, dass die Residual-Value-Methode - unter den der Analyse zugrunde gelegten Annahmen - dem danach bewerteten Vermögenswert die Excess Earnings als Einkommen zuweist. Dies bedeutet, dass bei Anwendung dieses Bewertungsansatzes das Einkommen des Unternehmens durch die Einkommensbeiträge der Vermögenswerte des Unternehmens vollständig erklärt wird. Die unter Pkt. 10.3.5.2 eingeführte Komponente , die mögliche Einkommensbeiträge erfasst, die den Vermögenswerten nicht zugeordnet werden können, wird dem Einkommen des mittels der Residual-Value-Methode bewerteten Vermögenswerts zugewiesen. Merksatz Die Erklärung des Einkommens des Unternehmens durch die Einkommensbeiträge der gegenwärtig verfügbaren bilanzierungsfähigen und nicht bilanzierungsfähigen sowie der zukünftigen Vermögenswerte ist bei Anwendung der Residual- Value-Methode modellimmanent. Fallstudie Tabelle 22 zeigt, dass - unter den der Untersuchung zugrunde liegenden Annahmen - das als Free Cashflow verstandene Einkommen der Beispiel GmbH exakt auf die Einkommensbeiträge der gegenwärtig verfügbaren und der zukünftig geplanten Vermögenswerte aufgeteilt werden kann. Tabelle 22: Abstimmung der Einkommensbeiträge der Vermögenswerte der Beispiel GmbH 10.5.2.3 Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze Die Ableitung des Werts eines Vermögenswerts mittels der Residual-Value-Methode erfolgt durch Abzug der Werte aller anderen Vermögenswerte vom Entity Value. Deswegen setzt dieser Ansatz nicht voraus, dass dem Bewertungsobjekt ein vermögenswertspezifischer Zinssatz zugewiesen wird. Unter Zugrundelegung der unter Pkt. 10.4.2.3 spezifizierten Annahme, dass die Verzinsung des in das Bewertungsobjekt investierten Kapitals residual zu bestimmen ist, kann der Zinssatz, mit dem sich das in diesen Vermögenswert investierte Kapital verzinst, modellendogen abgeleitet werden. <?page no="393"?> 394 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Die residuale Ermittlung der Verzinsung des in das Bewertungsobjekt investierten Kapitals ergibt sich aus der Beziehung Durch Umformung kann diese in die Bestimmungsgleichung für den modellendogenen Zinssatz des Bewertungsobjekts bei Anwendung der Residual-Value-Methode überführt werden: Die weitere Umformung der Beziehung mit zu bzw. zu zeigt, dass bei Anwendung der Residual-Value-Methode unter Zugrundelegung der genannten Annahme die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze mit den gewichteten Kapitalkosten des Unternehmens modellimmanent gegeben ist. Dies bedeutet, dass - unter den der Analyse zugrunde liegenden Voraussetzungen - die vermögenswertspezifischen Zinssätze lediglich untereinander abzustimmen sind; dabei ist zu beurteilen ist, ob die den Vermögenswerten zugeordneten vermögenswertspezifischen Zinssätze in Relation zueinander die vermögenswertspezifischen Risiken der Vermögenswerte des Unternehmens widerspiegeln. Merksatz Die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze der Vermögenswerte des Unternehmens mit dessen gewichteten Kapitalkosten ist bei Anwendung der Residual-Value-Methode modellimmanent gegeben. Fallstudie Der modellendogen abgeleitete vermögenswertspezifische Zinssatz der zukünftig zu akquirierenden Kundenbeziehungen der Beispiel GmbH wird in Tabelle 23 für jedes Jahr des Untersuchungszeitraums 2008 bis 2016 abgeleitet. Die Abstimmung dieser Zinssätze mit den vermögenswertspezifischen Zinssätzen aller anderen Vermögenswerten des Unternehmens indiziert - unter Einbeziehung der Risikoeinschätzung der zukünftig zu akquirierenden Kundenbeziehungen - für jedes Jahr dieses Zeitraums, dass die abgeleiteten Bewertungsergebnisse als plausibel zu betrachten <?page no="394"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 395 www.uvk-lucius.de/ innovation sind und dementsprechend eine Anpassung der vorläufig festgelegten vermögenswertspezifischen Zinssätze nicht erforderlich ist. Die Betrachtung kann sich auf den Zeitraum 2008 bis 2016 beschränken, da ab 2015 das in die Vermögenswerte investierte Kapital unveränderlich ist und somit in allen folgenden Jahren der modellendogen abgeleitete vermögenswertspezifische Zinssatz der zukünftig zu akquirierenden Kundenbeziehungen 10,33% beträgt. Tab. 23: Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze bei Anwendung der MPEEM Definition Die Summe der mit den anteiligen Werten gewichteten vermögenswertspezifischen Zinssätze über alle Vermögenswerte ( ) wird auch mit WARA (Weighted Average Rate of Return on Assets) abgekürzt (siehe statt vieler IVSC GN 4, 5.38). Merksatz Die Bedingung für die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze mit den gewichteten Kapitalkosten (WACC) des Unternehmensbereichs lautet WACC t+1 = WARA t+1 für t = 0 bis . Definition Die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze wird in der Praxis der Kaufpreisallokation als WACC-2-WARA- oder einfach WARA-Analyse (so z.B. TAF, 2010, 4.3.06) sowie als WACC-Reconciliation (vgl. Beyer/ Mackenstedt, 2008, S. 348f.; Schmalenbach-Gesellschaft, 2009 S. 43) bezeichnet. <?page no="395"?> 396 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation 10.5.3 Abstimmung der Bewertungsergebnisse bei Anwendung der MPEEM 10.5.3.1 Abstimmung der Werte der Vermögenswerte mit dem Entity Value Der Anwendung der MPEEM kann der unter Pkt. 10.5.2.3 modellendogen abgeleitete vermögenswertspezifische Zinssatz oder ein modellexogen vorgegebener, zumeist periodenunabhängiger Zinssatz zugrunde gelegt werden. Im ersten Fall ergibt sich für den Vermögenswert i = n ein Wert in Höhe des mittels der Residual-Value-Methode abgeleiteten Werts, der durch die Beziehung dargestellt werden kann; dieses Ergebnis ist in der Annahme, dass die Verzinsung des in das Bewertungsobjekt investierten Kapitals residual zu bestimmen ist, begründet. Diese Annahme ist Grundlage sowohl der unter Pkt. 10.4.2.3 dargelegten Zuordnung der Excess Earnings als Einkommensbeitrag zum mittels der Residual-Value-Methode bewerteten Vermögenswert als auch der Ableitung des modellendogenen Zinssatzes unter Pkt. 10.5.2.3. Auf die Darstellung der Überleitung des mittels der MPEEM unter Zugrundelegung des modellendogenen Zinssatzes ermittelten Werts in den mittels der Residual-Value-Methode abgeleiteten Werts wird im Rahmen dieses Beitrags verzichtet. Bei Anwendung eines modellexogen vorgegebenen, periodenunabhängigen vermögenswertspezifischen Zinssatzes (mit für t = 0 bis ) beträgt der Wert dieses Vermögenswerts In Höhe des Differenzbetrags zwischen diesem Wert und dem mittels der Residual- Value-Methode bestimmten Wert kann der Entity Value bei Anwendung des modellexogen vorgegebenen Zinssatzes nicht erklärt werden. Mit ergibt sich die Differenz aus Entity Value und der Summe der Werte der Vermögenswerte des Unternehmens bei Bewertung der zukünftigen Kundenbeziehungen mittels der MPEEM bei modellexogen vorgegebenem Zinssatz ( ) als Dieser Differenzbetrag bringt eine Bewertungsdifferenz zum Ausdruck: Die Beziehung <?page no="396"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 397 www.uvk-lucius.de/ innovation zeigt, dass der Differenzbetrag (für t = 0 bis ) daraus resultiert, dass die den zukünftigen Kundenbeziehungen zugeordneten Excess Earnings mit unterschiedlichen Zinssätzen - dem modellendogenen Zinssatz einerseits und dem modellexogen vorgegebenen Zinssatzes andererseits - diskontiert werden. Dies bedeutet, dass mit dem Differenzbetrag kein Einkommensbeitrag verbunden ist. Merksatz Bei Anwendung der MPEEM unter Zugrundelegung eines modellexogen vorgegebenen vermögenswertspezifischen Zinssatz, der vom modellendogen bestimmten Zinssatz abweicht, kann der Entity Value durch die dem Unternehmen zugeordneten Vermögenswerte nicht vollständig erklärt werden. Fallstudie Tabelle 24 zeigt, dass bei Bewertung der zukünftigen Kundenbeziehungen mittels der MPEEM unter Zugrundelegung eines modellexogen vorgegebenen vermögenswertspezifischen Zinssatzes von 10,34% der Entity Value durch die Werte der Vermögenswerte grundsätzlich nicht mehr erklärt werden kann. Tabelle 24: Abstimmung der Werte der Vermögenswerte mit dem Entity Value bei Anwendung der MPEEM Tabelle 25 legt dar, dass die aufgetretenen Differenzbeträge daraus resultieren, dass die Excess Earnings bei Anwendung der MPEEM unter Zugrundelegung des modellexogen vorgegebenen vermögenswertspezifischen Zinssatzes mit einem Zinssatz diskontiert werden, der von den modellendogen in Tabelle 23 abgeleiteten Zinssätzen abweicht. Die Anwendung der MPEEM unter Zugrundelegung der zuletzt genannten Zinssätze führt zu den mittels der Residual-Value-Methode bestimmten Werten der zukünftigen Kundenbeziehungen. Damit ist ersichtlich, dass die Differenzbeträge Bewertungsdifferenzen darstellen. <?page no="397"?> 398 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation Tabelle 25: Analyse des Differenzbetrags zwischen dem Wert der zukünftigen Kundenbeziehungen bei Anwendung der Residual Value-Methode und bei Anwendung der MPEEM 10.5.3.2 Abstimmung der Einkommensbeiträge der Vermögenswerte Die MPEEM ist - unabhängig davon, ob modellendogen abgeleitete oder modellexogen vorgegebene vermögenswertspezifische Zinssätze zur Anwendung kommen - dadurch gekennzeichnet, dass die Einkommensbeiträge des Bewertungsobjekts als Excess Earnings zu bestimmen sind. Dementsprechend kann bei Anwendung dieses Bewertungsansatzes und konsistenter Modellierung das Einkommen des Unternehmens stets durch die Einkommensbeiträge der Vermögenswerte des Unternehmens vollständig erklärt werden. Die unter Pkt. 10.3.5.2 eingeführte Komponente , die mögliche Einkommensbeiträge erfasst, die den Vermögenswerten nicht zugeordnet werden können, wird dem Einkommen des mittels der MPEEM bewerteten Vermögenswerts zugewiesen. Merksatz Bei Anwendung der MPEEM kann das Einkommen des Unternehmens stets durch die Einkommensbeiträge der Vermögenswerte des Unternehmens vollständig erklärt werden. Fallstudie Die Abstimmung der Einkommensbeiträge der Vermögenswerte mit dem Einkommen des Unternehmens bei Anwendung der MPEEM führt zu dem Ergebnis, das sich für diese Abstimmung bereits bei Anwendung der Residual-Value-Methode ergab; dementsprechend kann auf Tab. 22 verwiesen werden. 10.5.3.3 Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze Unter Pkt. 10.5.2.3 wurde ausgehend von der Beziehung aufgezeigt, dass der modellendogen abgeleitete vermögenswertspezifische Zinssatz des Bewertungsobjekts dadurch gekennzeichnet ist, dass die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze der Vermögenswerte des Unternehmens mit dessen gewichteten Kapitalkosten modellimmanent gegeben ist. Bei Anwendung der MPEEM <?page no="398"?> 10.5 Analyse der Bewertungsergebnisse 399 www.uvk-lucius.de/ innovation unter Zugrundelegung eines modellexogen vorgegebenen vermögenswertspezifischen Zinssatzes kann die Komponente mit umgeformt werden zu bzw. zu mit bzw. mit Diese Beziehungen zeigen, dass dann, wenn der MPEEM ein modellexogen vorgegebener vermögenswertspezifischer Zinssatz, der vom modellendogen abgeleiteten Zinssatz abweicht, zugrunde gelegt wird, die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze mit den gewichteten Kapitalkosten voraussetzt, dass der unter Pkt. 10.5.3.1 aufgetretene Differenzbetrag , in dessen Höhe der Entity Value nicht erklärt werden kann, als Residualgröße in die Untersuchung einbezogen wird und der modellendogen zu bestimmende Zinssatz diesem Betrag zugeordnet wird. Dieser Überlegung steht jedoch entgegen, dass der Differenzbetrag - dies wurde unter Pkt. 10.5.3.1 aufgezeigt - eine Bewertungsdifferenz darstellt, mit der kein Einkommensbeitrag verbunden ist. Hieraus resultiert, dass der für diesen Differenzbetrag modellendogen abgeleitete Zinssatz einer Interpretation grundsätzlich nicht zugänglich ist. Merksatz Bei Anwendung der MPEEM unter Zugrundelegung eines modellexogen vorgegebenen vermögenswertspezifischen Zinssatzes , der vom modellendogen, bei Anwendung der Residual-Value-Methode abgeleiteten Zinssatz abweicht, ist die Abstimmung der vermögenswertspezifischen Zinssätze der Vermögenswerte des Unternehmens mit dessen gewichteten Kapitalkosten grundsätzlich nicht interpretierbar. Im praktischen Anwendungsfall führt diese Einschränkung allerdings dann zu keinen Ergebnissen, die von denen abweichen, die unter Zugrundelegung der Residual-Value- Methode abzuleiten sind, wenn der aufgetretene Differenzbetrag so gering ist, dass er zu vernachlässigen ist. Unter dieser Voraussetzung ist - wie bei Anwendung der Resi- <?page no="399"?> 400 10 Bewertung immaterieller Vermögenswerte www.uvk-lucius.de/ innovation dual-Value-Methode - lediglich zu beurteilen, ob die den Vermögenswerten zugeordneten vermögenswertspezifischen Zinssätze in Relation zueinander die vermögenswertspezifischen Risiken der Vermögenswerte widerspiegeln. Fallstudie In Tabelle 26 wird zunächst die Residualverzinsung ermittelt, die - bei Anwendung der MPEEM unter Zugrundelegung eines vermögenswertspezifischen Zinssatzes von 10,34% - dem nicht durch Werte von Vermögenswerten erklärten Betrag des Entity Value zuzuordnen ist. Sodann wird der dieser Verzinsung entsprechende modellendogene Zinssatz abgeleitet. Die Tabelle macht deutlich, dass diese Zinssätze in keinem Jahr des Betrachtungszeitraums einer Interpretation zugänglich sind. Tabelle 26: Ableitung der Residualverzinsung bei Anwendu