Wirtschaftspolitik
Klassiker der Hochschullehre
0911
2017
978-3-7398-0377-7
978-3-8676-4829-5
UVK Verlag
Jörn Altmann
In diesem Klassiker der Hochschullehre aus dem Jahr 2007 wird die Wirtschaftspolitik verständlich erklärt. Die Gesamtauflage dieses Buches liegt bei mehr als 100.000 Exemplaren.
Es führt praxisnah in wirtschaftspolitische Themen und Probleme ein. Im Mittelpunkt stehen die Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, die Konjunktur, das Wachstum (inklusive Prognosen), die Globalisierung und der Außenhandel, die Europäische Integration sowie die Währungsunion, die Finanzpolitik und Verschuldung sowie die Entwicklungspolitik.
Sinn und Zweck der wirtschaftspolitischen Ziele sowie Instrumente und Maßnahmen zur Umsetzung werden erklärt und alternative Konzepte der Wirtschaftspolitik diskutiert.
<?page no="1"?> Jörn Altmann ! Wirtschaftspolitik Klassiker der Hochschullehre <?page no="3"?> Jörn Altmann Wirtschaftspolitik Klassiker der Hochschullehre UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz und München <?page no="4"?> Autor ! ! Professor Dr. Jörn Altmann betreute den Lehrstuhl International Finance an der ESB Business School, Reutlingen University. Buch und Reihe ! ! Dieses Buch ist im Jahr 2007 im Verlag Lucius und Lucius in der utb-Reihe erschienen. Es handelt sich bei diesem Buch um den unveränderten Nachdruck der achten Auflage eines herausragenden Werks der deutschen Lehrbuchliteratur, das nun in der Reihe Klassiker der Hochschullehre in der UVK Verlagsgesellschaft mbH erscheint. Weitere Klassiker finden Sie unter ! www.uvk.de/ klassiker. ISBN (Print) 978-3-86764-829-5 ISBN (EPUB) 978-3-7398-0376-0 ISBN (EPDF) 978-3-7398-0377-7 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Lektorat: Wirtschaftswissenschaftliches Lektorat, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="5"?> Für Patrick, Linda und Fabian <?page no="7"?> Vorwort zur 8. Auflage Ein Lehrbuch über Wirtschaftspolitik zu schreiben, ist eine schwierige Aufgabe. Viele Probleme, die üblicherweise in spezialisierten Arbeiten behandelt werden, sind gleichzeitig für wirtschaftspolitische Überlegungen von Bedeutung. Die Schwierigkeit lässt sich folgendermaßen umreißen: «Die Wissenschaft, sie ist und bleibt, was einer ab vom andern schreibt. Doch trotzdem ist, ganz unbestritten, sie immer weiter fortgeschritten. Der Leser, traurig aber wahr, ist häufig unberechenbar: Hat er nicht Lust, hat er nicht Zeit, dann gähnt er: ‹Alles viel zu breit! › Doch wenn er selber etwas sucht, was ich, aus Raumnot, nicht verbucht, wirft er voll Stolz sich in die Brust: Aha, das hat er nicht gewusst! Man weiß, die Hoffnung wär’ zum Lachen, es allen Leuten recht zu machen.» (Eugen Roth) * Dieses Buch versucht, zweierlei zu leisten: Im Vordergrund steht die Ausrichtung auf Probleme, mit denen sich tagtäglich Berührungspunkte ergeben können. Dem interessierten Leser soll damit eine Hilfestellung angeboten werden, die zum Teil sehr verflochtenen und oft schwer zugänglichen Zusammenhänge zu verstehen. Dies schließt auch die Klärung von Begriffen ein, die sich für den Nichtfachmann leicht zu einer unüberwindlichen oder abschreckenden Sprachbarriere auftürmen können. Die pragmatische Orientierung wird ergänzt durch zwar theoretisch orientierte, aber allgemeinverständliche Erläuterungen, um Sinn und Zweck wirtschaftspolitischer Maßnahmen erfassen und beurteilen zu können. Dabei werden auch gegensätzliche Auffassungen nebeneinander gestellt, um unterschiedliche wirtschaftspolitische Strategien einordnen zu können. * Eugen Roths Tierleben, München 1989, Seite 5/ 6 <?page no="8"?> VIII Vorwort Mein Dank gilt wiederum kritischen Lesern, die mir Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten gegeben haben. Als Autor erliegt man leicht dem Wunschdenken, nun wirklich alles perfekt gemacht zu haben, um dann einzusehen, dass es doch immer wieder noch bessere Möglichkeiten gibt. Ich danke auch und insbesondere den vielen Lesern und Rezensenten, die mich darin bestärkt haben, dass die Konzentration und Orientierung dieses Buches richtig ist (der Ökonom erkennt dies natürlich auch am Markterfolg: Dieses Lehrbuch hat mittlerweile eine Gesamtauflage von über 100.000 Exemplaren. Bedanken möchte ich mich auch bei den vielen Mitarbeitern im Hause meines Verlegers Professor Dr. von Lucius, die das Buch bei der Entstehung und Verbreitung betreut haben und betreuen. Besonders danken möchte ich meinen eigenen Mitarbeitern, die mich beim Erstellen der 8., vollständig überarbeiteten Auflage dieses Lehrbuchs unterstützt haben. Hervorzuhebende Zuarbeiten haben geleistet: Dipl.-Min. Lutz Kindermann, MBA, European School of Business (ESB) Reutlingen, Dipl.-Volkswirtin Bettina Hagewald, Uni Köln, Dipl.-Volkswirt Selim Balassa, Uni Tübingen, Dipl.-Volkswirt Dr. Matthias Sossenke, Hamburg. Reutlingen, Februar 2007 Jörn Altmann <?page no="9"?> Gliederungsübersicht Zum Aufbau des Buches ................................................................... XXVII I. Teil: Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung 1. Sind Sie von Konjunktur und Wachstum betroffen? ................ 1 II. Teil: Wirtschaftspolitische Zielsetzungen 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur ................................... 43 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik .............................. 81 4. Geldwert, Preisstabilität und Inflation .................................... 121 5. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht ...................................... 181 6. Einflussnahme auf die Verteilung ............................................ 198 7. Umweltschutz ......................................................................... 214 8. Weitere Zielsetzung der Wirtschaftspolitik .............................. 222 III. Teil: Wirtschaftspolitische Konzeptionen 9. Alternative Grundpositionen .................................................. 227 IV. Teil: Wirtschaftspolitisches Instrumentarium und ausgewählte Politikfelder 10. Finanzpolitik .......................................................................... 259 11. Geldpolitik ............................................................................. 363 12. Wechselkurs- und Währungspolitik ........................................ 403 13. Außenhandelspolitik ............................................................... 464 14. Entwicklungspolitik ................................................................ 558 V. Teil: Besondere Probleme der Wirtschaftspolitik 15. Realisierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Zielkonflikte .......................................................................... 585 Schlusswort ........................................................................................... 606 Register ............................................................................................... 606 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................... VII Gliederungsübersicht ....................................................................... IX Abbildungsverzeichnis ..................................................................... XIX Zum Aufbau des Buches ................................................................... XXVII I. Teil: Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung 1. Sind Sie von Konjunktur und Wachstum betroffen? ................ 1 1.1. Was ist «Wirtschaftspolitik»? ................................................. 2 1.2. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung ............................ 5 1.2.1. Ziele und Maßnahmen ........................................................... 6 1.2.2. Bestandteile des wirtschaftspolitischen Zielsystems ................. 7 1.2.3. Wirtschaftspolitische Handlungsfelder und Instrumente ......... 11 1.2.4. Wer ‹macht› Wirtschaftspolitik? ............................................. 13 1.3. Marktwirtschaft und Wirtschaftsordnung ............................... 16 1.3.1. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftssystem ............................ 16 1.3.2. Aktuelle Entwicklungen .......................................................... 18 1.3.2.1. Konvergenz der Wirtschaftsordnungen? ................................. 19 1.3.2.2. Die ordnungspolitische Revolution der 90er Jahre .................. 20 1.3.3. Marktwirtschaft als Zielvorgabe ............................................ 21 1.4. Nationales, internationales und supranationales Recht ........... 24 1.4.1. Zusammenhang zwischen den Rechtsebenen .......................... 24 1.4.2. Supranationales Recht ............................................................ 24 1.4.2.1. Allgemeines Völkerrecht ......................................................... 24 1.4.2.2. Gemeinschaftsrecht ................................................................ 26 1.4.3. Nationales Recht .................................................................... 37 1.4.3.1. Geltungsbereich ...................................................................... 37 1.4.3.2. Systematik .............................................................................. 38 1.4.4. Völkervertragsrecht (Internationales Recht) ............................ 39 II. Teil: WirtschaftspolitischeZielsetzungen 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur .................................... 43 2.1. Maßgröße: Bruttoinlandsprodukt ........................................... 43 2.2. Argumente für und gegen Wachstum ...................................... 48 2.2.1. Argumente für Wachstum. ...................................................... 48 2.2.2. Argumente gegen Wachstum ................................................... 50 2.2.3. Qualitatives Wachstum ........................................................... 52 2.3. Sektorales und regionales Wachstum ...................................... 53 2.4. Wachstum und Kapitalbildung ............................................... 54 <?page no="12"?> 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik .............................. 55 2.5.1. Konjunkturschwankungen ...................................................... 55 2.5.2. Kurzfristige und langfristige Zyklen ....................................... 59 2.5.3. Konjunkturtheorien ................................................................ 61 2.5.3.1. Einteilung ............................................................................... 62 2.5.3.2. Multiplikator und Akzelerator ............................................... 64 2.5.3.3. Einige Konjunkturerklärungen ............................................... 67 2.5.4. Konjunkturindikatoren ........................................................... 71 2.5.5. Aspekte der Neuen Wachstumstheorie .................................... 74 2.5.5.1. Produktionsfaktoren ................................................................. 74 2.5.5.2. Produktionsfunktionen ............................................................. 75 2.5.5.3. Wachstumstheoretische Denkschulen ........................................ 77 2.5.5.4. Wachstumspolitische Perspektiven ............................................ 80 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik ............................ 81 3.1. Produktionspotential .............................................................. 82 3.1.1. Auslastung des Produktionspotentials ..................................... 84 3.1.2. Begrenzende Faktoren ............................................................ 85 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit ................................................ 86 3.2.1. Strukturelle Arbeitslosigkeit ................................................... 88 3.2.2. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit .............................................. 90 3.2.3. Saisonale Arbeitslosigkeit ....................................................... 93 3.2.3. Friktionelle Arbeitslosigkeit .................................................... 93 3.2.5. Institutionell-politisch bedingte Arbeitslosigkeit ..................... 94 3.2.6. «Wohlstandsarbeitslosigkeit» ................................................. 94 3.2.7. Fazit ....................................................................................... 94 3.3. Arbeitslosenquote als Meßgröße ............................................. 96 3.4. Besondere Charakteristika des Arbeitsmarktes ....................... 98 3.4.1. Existentielle Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt ......................... 98 3.4.2. Externe Lohnfestsetzung ......................................................... 99 3.4.3. Preisbildung und Mindestlöhne .............................................. 99 3.5. Gesamtwirtschaftliche Kosten der Arbeitslosigkeit ................. 102 3.6. Perspektiven der Arbeitslosigkeit ............................................ 102 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ............. 105 3.7.1. Hartz-Reformen ..................................................................... 105 3.7.2. Arbeitsvermittlung .................................................................. 106 3.7.3. Lohnpolitik ............................................................................ 107 3.7.3.1. Lohnkosten ............................................................................ 107 3.7.3.2. Lohneinkommen und Binnennachfrage ................................... 110 3.7.3.3. Tariflöhne ............................................................................... 111 3.7.3.4. Arbeitszeitpolitik .................................................................... 112 3.8. Zweiter Arbeitsmarkt und Beschäftigungsprogramme ............ 115 3.9. Auswanderung ....................................................................... 118 3.10. Fazit ....................................................................................... 120 h l h XII Inhaltsverzeichnis <?page no="13"?> 4. Geldwert, Preisstabilität und Inflation .................................... 121 4.1 Definition von Inflation .......................................................... 121 4.2 Erscheinungsformen der Inflation ........................................... 126 4.2.1 Schleichende, trabende und galoppierende Inflation ............... 126 4.2.2 Offene und verdeckte Inflation ............................................... 128 4.3 Messung der Inflation ............................................................. 132 4.3.1 Warenkorb und Preisindex ..................................................... 132 4.3.2 Indexarten .............................................................................. 135 4.3.3 Kerninflationsrate ................................................................... 138 4.3.4 Datenerhebung ....................................................................... 139 4.4 Ursachen der Inflation ............................................................ 144 4.4.1 Nachfragesog-lnflation ........................................................... 144 4.4.2 Geldmengen-lnflation ............................................................. 148 4.4.3 Kostendruckinflation .............................................................. 152 4.4.4 Angebotslücken-lnflation ........................................................ 162 4.4.5 Zusammenfassung .................................................................. 163 4.5 Folgen der Inflation ................................................................ 165 4.6 Wachstum durch Inflation? ..................................................... 176 4.7 Zusammenhang zwischen Inflation und Beschäftigung: die Phillips-Kurve ................................................................... 177 5. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht ..................................... 181 5.1. Teilbilanzen der Zahlungsbilanz ............................................. 181 5.2. Datenerfassung und Bewertung .............................................. 185 5.3. Saldenbildung ......................................................................... 188 5.4. Konsequenzen von Leistungsbilanzstörungen ......................... 193 5.4.1. Leistungsbilanzdefizit ............................................................. 193 5.4.2. Leistungsbilanzüberschuss ...................................................... 194 5.5. Ursachen für Zahlungsbilanzstörungen .................................. 195 6. Einflussnahme auf die Verteilung ........................................... 198 6.1. Einkommensverteilung ........................................................... 198 6.1.1. Funktionelle Verteilung .......................................................... 199 6.1.1.1. Lohn- und Gewinnquote ........................................................... 201 6.1.1.2. Bereinigte und unbereinigte Lohnquote .................................. 201 6.1.1.3. Brutto- und Nettolohnquote ................................................... 203 6.1.1.4. Primär- und Sekundärverteilung ............................................. 204 6.1.1.5. Aussagekraft von Lohn- und Gewinnquote ............................. 205 6.1.2. Personelle Verteilung .............................................................. 207 6.1.3. Armut .................................................................................... 210 6.2. Vermögensverteilung .............................................................. 212 7. Umweltschutz ........................................................................ 214 7.1. Dimension der Umweltbelastung ............................................ 214 7.2. Ökonomische Analyse ............................................................ 214 Inhaltsverzeichnis XIII Inhaltsverzeichnis XIII <?page no="14"?> 7.3. Einige Prinzipien und Instrumente .......................................... 216 7.4. Beurteilungskriterien .............................................................. 218 7.5. Perspektiven ........................................................................... 220 8. Weitere Zielsetzung der Wirtschaftspolitik ............................. 222 8.1. Bildung und Forschung .......................................................... 222 8.2. Andere sozio-ökonomische Ziele ............................................ 224 8.3. Sektorale und regionale Ziele ................................................. 224 III. Teil: WirtschaftspolitischeKonzeptionen 9. Alternative Grundpositionen .................................................. 227 9.1. Historische Vorläufer .............................................................. 227 9.2. Klassik und Keynes ................................................................. 229 9.3. Deutschland: von der (Neo-)Klassik zur Sozialen Marktwirtschaft ..................................................................... 232 9.4. Nachfrage- oder Angebotspolitik ............................................ 239 9.5. Monetarismus und Fiskalismus ............................................... 245 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion .................. 249 9.6.1. Theorie-Schwachstellen .......................................................... 249 9.6.2. Konjunktur- und Beschäftigungsprogramme ........................... 251 9.6.3. lndustriepolitik ....................................................................... 253 9.7. Dedication, Commitment, Accountability, Good Governance . 255 9.8. Standort Deutschland und Flexibilisierung ............................. 256 IV. Teil: Wirtschaftspolitisches Instrumentarium und ausgewählte Politikfelder 10. Finanzpolitik .......................................................................... 259 10.1. Das finanzpolitische Dilemma ................................................ 259 10.1.1. Wandel der Aufgabenstellung ................................................. 261 10.1.2. Hauptsächliche Funktionen des Staatshaushalts ..................... 262 10.2. Öffentliche Güter und Staatsquote .......................................... 265 10.2.1. Öffentliche und private Güter ................................................. 265 10.2.2. Staatsquoten ........................................................................... 266 10.2.2.1. Ausgabenquote ....................................................................... 266 10.2.2.2. Abgabenquote ........................................................................ 268 10.2.2.3. Spezielle Staatsquoten ............................................................. 271 10.2.3. Entwicklung der Staatsquote .................................................. 271 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung .................................... 273 10.3.1. Haushaltsplanung ................................................................... 273 10.3.1.1. Haushaltsstruktur ................................................................... 273 10.3.1.2. Zustandekommen des Haushalts ............................................ 276 h l h XIV Inhaltsverzeichnis <?page no="15"?> 10.3.1.3. Haushaltsgrundsätze .............................................................. 280 10.3.1.4. Neben- und Schattenhaushalte ............................................... 281 10.3.1.5. Mittelfristige Finanzplanung ................................................... 283 10.3.1.6. Planungs-, Koordinierungs- und Beratungsgremien ................. 285 10.3.2. Steuerstruktur und Finanzausgleich ........................................ 288 10.3.3. Zur Finanzlage der Gemeinden ............................................... 294 10.3.4. Deutschland und EU-Haushalt ............................................... 298 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Ansatzpunkte .............................. 303 10.4.1. Budgetkonzepte ...................................................................... 303 10.4.2. Steuern und Steuerwirkungen ................................................. 305 10.4.2.1. Einige Begriffe ........................................................................ 306 10.4.2.2. Reaktionen auf Steuererhebung .............................................. 312 10.4.2.3. Direkte und indirekte Steuern ................................................. 312 10.4.2.4. Steuersatz und Steueraufkommen ........................................... 313 10.4.2.5. Ausschöpfung des Steuerpotentials ......................................... 315 10.4.2.6. Öffentliche Verschwendung .................................................... 318 10.4.2.7. Steuerstrategische Überlegungen ............................................. 320 10.4.2.8. Staatliche Finanzierung der Sozialsysteme ............................... 321 10.5. Staatsverschuldung ................................................................. 323 10.5.1. Ursachen der Staatsverschuldung ............................................ 326 10.5.1.1. «Deficit Spending» ................................................................. 326 10.5.1.2. Strukturelle Verschuldung ...................................................... 327 10.5.1.3. Ursachen des strukturellen Defizits ......................................... 329 10.5.2. Struktur der öffentlichen Verschuldung .................................. 339 10.5.3. Formen öffentlicher Verschuldung .......................................... 343 10.5.4. Grenzen und Konsequenzen staatlicher Verschuldung ............. 347 10.5.4.1. Formale Begrenzungen ........................................................... 347 10.5.4.2. Ökonomische Folgen der Staatsverschuldung ......................... 350 10.5.4.3. Einige Unterschiede zwischen staatlicher und unternehmerischer Verschuldung ............................................ 355 10.5.4.4. Europäischer Stabilitätspakt und Verschuldung ...................... 356 10.5.4.5. Wie man einen Staatshaushalt saniert ..................................... 360 11. Geldpolitik ............................................................................. 363 11.1. Aufgaben und Struktur des ESZB ........................................... 363 11.1.1. EZB und Bundesbank ............................................................. 363 11.1.2. Geschäftsbankensystem .......................................................... 369 11.2. Geldmenge und Geldschöpfung .............................................. 369 11.2.1. Geldentstehung ....................................................................... 370 11.2.1.1. Zentralbankgeld ..................................................................... 370 11.2.1.2. Geschäftsbankengeld .............................................................. 371 11.2.2. Geldschöpfungsmultiplikator ................................................. 372 11.2.3. Geldmengenkonzepte ............................................................. 374 11.3. Geldpolitische Strategien ........................................................ 375 11.3.1. Direktes Inflationsziel oder Geldmengensteuerung .................. 376 11.3.2. Geldmengenpolitik ................................................................. 379 11.3.3. Zinspolitik ............................................................................. 380 11.3.4. Liquiditätspolitik .................................................................... 386 Inhaltsverzeichnis XV Inhaltsverzeichnis XV <?page no="16"?> 11.4. Geldpolitisches Instrumentarium ............................................ 386 11.4.1. Offenmarktgeschäfte .............................................................. 387 11.4.1.1. Kriterien ................................................................................. 387 11.4.1.2. Hauptrefinanzierungsgeschäfte ............................................... 389 11.4.1.3. Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte ................................. 390 11.4.1.4. Feinsteuerungsoperationen ..................................................... 390 11.4.1.5. Strukturelle Operationen ........................................................ 391 11.4.1.6. Tenderverfahren und bilaterale Geschäfte ............................... 391 11.4.2. Ständige Fazilitäten ................................................................ 393 11.4.3. Mindestreserven ..................................................................... 394 11.4.4. Geldmarkt und Leitzinsen ...................................................... 395 11.4.4.1. Begriff des Geldmarkts ........................................................... 395 11.4.4.2. Leitzinsen und Zinsstruktur .................................................... 395 11.5. Exkurs: Offshore-Märkte ....................................................... 398 11.6. Gewinne der Europäischen Zentralbank und Staatshaushalt ... 401 11.7. Perspektiven der Geldpolitik ................................................... 402 12. Wechselkurs- und Währungspolitik ........................................ 403 12.1. Europäische Währungsintegration .......................................... 403 12.1.1. Integrations-Strategien ............................................................ 405 12.1.2. Integrations-Formen ............................................................... 406 12.1.3. Optimale Währungsräume ..................................................... 408 12.2. Beitritt zur EWU: Die Konvergenzkriterien ............................ 409 12.3. Vertrauensverlust in den Euro? ............................................... 415 12.4. Exkurs: Franc-(CFA)-Zone ..................................................... 417 12.5. Devisenmarkt ......................................................................... 418 12.5.1. Devisenhandel ........................................................................ 418 12.5.2. Einflussfaktoren auf die Wechselkursbildung .......................... 423 12.5.3. Wechselkurs-Theorien ............................................................ 427 12.5.4. Konvertibilität der Währung .................................................. 429 12.6. Wechselkursbegriffe ................................................................ 430 12.6.1. Preis- und Mengennotierung ................................................... 432 12.6.2. Wechselkurs-Begriffspaare ...................................................... 435 12.6.3. Mittelkurse, Referenzkurse ..................................................... 443 12.6.4. Exkurs: Münznamen .............................................................. 446 12.6.5. Exkurs: Zur Geschichte des Dollars ........................................ 448 12.7. Wirkungen von Wechselkursänderungen ................................ 448 12.7.1. Wirkungen auf die Leistungsbilanz ......................................... 449 12.7.2. Wirkungen auf die Terms-of-Trade ......................................... 451 12.7.3. Wirkungen auf die Beschäftigung ........................................... 451 12.7.4. Elastizitäten und J-Kurve ........................................................ 452 12.8. Bedeutung von Wechselkursen für Unternehmen .................... 456 12.8.1. Ebenen des Währungsexposure ............................................... 456 12.8.2. Währungsrisikomanagement .................................................. 458 h l h XVI Inhaltsverzeichnis <?page no="17"?> 13. Außenhandelspolitik .............................................................. 464 13.1. Globalisierung und Welthandel ............................................... 464 13.2. Gründe für Außenhandel ........................................................ 467 13.2.1. Nichtverfügbarkeit von Gütern .............................................. 469 13.2.2. Kosten- und Preisunterschiede ................................................ 472 13.3. lmportabhängigkeit und lmportkonkurrenz ............................ 477 13.4. Exportmotive ......................................................................... 478 13.5. Einige Anmerkungen zur Außenhandelstheorie ....................... 480 13.6. Internationales Handelsrecht: WTO ....................................... 482 13.6.1. Grundsätze der WTO ............................................................. 485 13.6.2. Ausnahmen ............................................................................ 486 13.6.3. Bisherige Verhandlungsrunden ................................................ 487 13.6.4. Das General Agreement on Trade in Services (GATS) ............. 487 13.6.5. Trade Related Intellectual Property Rights (TRIPs) ................. 493 13.6.6. Trade-Related Investment Measures (TRIMs) Agreement ....... 495 13.6.7. Agrarabkommen .................................................................... 497 13.6.8. Fazit und Perspektiven ............................................................ 498 13.7. Außenhandelsrecht der EU ..................................................... 500 13.8. Nationales Außenwirtschaftsrecht .......................................... 501 13.9. Protektion .............................................................................. 502 13.9.1. Gründe für Protektion ............................................................ 502 13.9.2. Tarifäre Protektion ................................................................. 503 13.9.3. Nicht-tarifäre Protektion ........................................................ 506 13.9.4. Folgen der Protektion ............................................................. 511 13.9.5. Reaktionsmöglichkeiten ......................................................... 513 13.10. Kooperation und Integration .................................................. 515 13.10.1 Struktur der regionalen Integration ........................................ 515 13.10.2. Ökonomische Wirkungen regionaler Integration .................... 517 13.10.3. Regionale Integration und Freihandelspostulat ....................... 531 13.10.4. Integrationsformen ................................................................. 532 13.10.5. Motive und Erfolgsbedingungen der regionalen Integration .... 545 14. Entwicklungspolitik ................................................................ 558 14.1. Ausgangssituation .................................................................. 558 14.1.1. Die Akteure ............................................................................ 558 14.1.2. Entwicklungs-Philosophien ..................................................... 559 14.1.3. Entwicklungs-Strategien ......................................................... 561 14.2. Problemursachen .................................................................... 562 14.2.1. Externe Ursachen ................................................................... 563 14.2.2. Interne Ursachen .................................................................... 566 14.3. Politik der Entwicklungszusammenarbeit ............................... 574 14.3.1. Internationale Entwicklungspolitik ......................................... 576 14.3.2. Nationale Entwicklungspolitik ............................................... 581 14.4. Perspektiven der Entwicklungspolitik ..................................... 583 Inhaltsverzeichnis XVII Inhaltsverzeichnis XVII <?page no="18"?> V. Teil: Besondere Probleme der Wirtschaftspolitik 15. Realisierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Zielkonflikte ........................................................................... 585 15.1. Diagnose und Dosierung ........................................................ 585 15.2. Verzögerungen ........................................................................ 586 15.2.1. «Lags» ................................................................................... 586 15.2.2. Prognosen und Indikatoren .................................................... 586 15.2.3. Regelmechanismen ................................................................. 591 15.2.4. Geld- und Finanzpolitik .......................................................... 593 15.3. Handlungsspielraum ............................................................... 594 15.4. Zielkonflikte .......................................................................... 596 15.4.1. Phillipskurve und Stagflation .................................................. 596 15.4.2. Weitere Zielkonflikte .............................................................. 604 Schlusswort ........................................................................................... 606 Register ............................................................................................... 608 h l h XVIII Inhaltsverzeichnis <?page no="19"?> Abbildungsverzeichnis * 1. Sind Sie von Konjunktur und Wachstum betroffen? Abb. 1/ 1 Aufschwung? ................................................................... 1 Abb. 1/ 2 Abschwung? .................................................................... 1 Abb. 1/ 3 Jobverlust ........................................................................ 2 Abb. 1/ 4 Wirtschaftspolitisches Zielsystem ..................................... 10 Abb. 1/ 5 Prognosen der Institute für 2006 und 2007 ...................... 12 Abb. 1/ 6 Lobbyismus I ................................................................... 14 Abb. 1/ 7 Lobbyismus II .................................................................. 15 Abb. 1/ 8 Wirtschaftssysteme und Wirtschaftsordnungen I: nach Eucken .................................................................... 17 Abb. 1/ 9 Wirtschaftssysteme und Wirtschaftsordnungen II: nach Sombart................................................................... 18 Abb. 1/ 10 Rechtsebenen ................................................................... 25 Abb. 1/ 11 Säulen der EU .................................................................. 29 Abb. 1/ 12 Schengener Abkommen.................................................... 31 Abb. 1/ 13 Gemeinschaftsrecht und nationales Recht ........................ 32 Abb. 1/ 14 Entwicklung wichtiger Wirtschaftspolitischer Ziele .......... 40 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Abb. 2/ 1 Griechische Statistik......................................................... 44 Abb. 2/ 1a Reales und nominales Inlandsprodukt.............................. 46 Abb. 2/ 2 Einkommensunterschiede................................................. 47 Abb. 2/ 3 Wachstum und Umverteilung ........................................... 49 Abb. 2/ 4 Maximales und angemessenes Wachstum ......................... 50 Abb. 2/ 4a Jobless Growth ................................................................ 51 Abb. 2/ 5 Regionale Unterschiede .................................................... 53 Abb. 2/ 6 Argumente für und gegen Wachstum................................ 54 Abb. 2/ 7 Konjunkturschwankungen ............................................... 56 Abb. 2/ 8 Konjunkturzyklus ............................................................ 57 Abb. 2/ 9 Kondratieff-Zyklen .......................................................... 61 Abb. 2/ 10 Weltkonjunktur ............................................................... 62 Abb. 2/ 11 Konjunkturwellen ............................................................ 63 Abb. 2/ 12 BIP und Außenhandel ...................................................... 66 Abb. 2/ 13 BIP-Verwendungsrechnung .............................................. 68 Abb. 2/ 14 Investitionen und BIP ....................................................... 70 Abb. 2/ 15 Konjunkturindikatoren .................................................... 72 Abb. 2/ 16 Frühindikator .................................................................. 73 Abb. 2/ 17 Wachstumsperspektiven ................................................... 79 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Abb. 3/ 1 Kapazitätsauslastung ....................................................... 82 * Eine Reihe von Abbildungen enthält Überschriften von Zeitungsmeldungen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird dabei auf Quellenangaben verzichtet (u. a. FAZ, HB, SZ, ZEIT, Welt). <?page no="20"?> Abb. 3/ 2 Bildung und Wachstum .................................................... 83 Abb. 3/ 2a Geringqualifizierte ........................................................... 84 Abb. 3/ 3 Entwicklung der Arbeitslosigkeit...................................... 87 Abb. 3/ 3a Arbeitslosigkeit international ........................................... 88 Abb. 3/ 4 Strukturelle Arbeitslosigkeit ............................................. 89 Abb. 3/ 4a Erwerbstätige................................................................... 90 Abb. 3/ 5 Konjunkturelle Arbeitslosigkeit........................................ 91 Abb. 3/ 6 Offene Stellen und Arbeitslosigkeit .................................. 92 Abb. 3/ 7 Saisonale Arbeitslosigkeit................................................. 93 Abb. 3/ 7a Langzeitarbeitslosigkeit und Regulierungen ..................... 96 Abb. 3/ 7b Erfolgsmeldung ................................................................ 96 Abb. 3/ 8 Job-Qualifikation............................................................. 98 Abb. 3/ 9 Lohnsenkungen................................................................ 99 Abb. 3/ 10 Nominal- und Reallohn ................................................... 100 Abb. 3/ 11 Keynesianischer Arbeitsmarkt .......................................... 101 Abb. 3/ 12 Kosten der Arbeitslosigkeit .............................................. 103 Abb. 3/ 13 Industrieflucht ................................................................. 104 Abb. 3/ 14 Job-Wunder? .................................................................... 106 Abb. 3/ 15 Lohnkosten international ................................................. 108 Abb. 3/ 15a Lohnstückkosten.............................................................. 109 Abb. 3/ 16 Schwarzarbeit .................................................................. 110 Abb. 3/ 17 Arbeitszeiten .................................................................... 113 Abb. 3/ 18 Teilzeit-Lohnzusatzkosten ................................................ 115 Abb. 3/ 19 Stimmen gegen den Zweiten Arbeitsmarkt ....................... 116 Abb. 3/ 20 Auswanderung ................................................................. 118 Abb. 3/ 21 Bevölkerungspyramide ..................................................... 119 Abb. 3/ 22 Internationale Wirkungen ................................................ 120 4. Geldwert, Preisstabilität und Inflation Abb. 4/ 1 Preisstabilität ................................................................... 121 Abb. 4/ 2 Bruttoinlandsprodukt und Inflationsrate .......................... 125 Abb. 4/ 3 Inflationsraten ................................................................. 127 Abb. 4/ 4 Entwicklung der Inflationsrate in Deutschland................. 128 Abb. 4/ 5 Regionale Preisgewichtung in Mali .................................. 129 Abb. 4/ 6 Zeitlich begrenzte Lohn- und Preisstopps ......................... 130 Abb. 4/ 7 Verdeckte Inflation (Brasilien 1986/ 87) ............................ 130 Abb. 4/ 8 Höchstpreis...................................................................... 131 Abb. 4/ 9 Wägungsschema des Verbraucherpreisindex..................... 133 Abb. 4/ 10 Inflationsschub durch neues Wägungsschema des Verbraucherpreisindex ..................................................... 134 Abb. 4/ 11 Gütergruppen im Verbraucherpreisindex.......................... 136 Abb. 4/ 12 Inflation und Kerninflation .............................................. 138 Abb. 4/ 13 Indikatoren für die Preisentwicklung................................ 139 Abb. 4/ 14 Erfassungsbogen .............................................................. 141 Abb. 4/ 15 Gefühlte Inflation ............................................................ 143 Abb. 4/ 16 Nachfragesog-Inflation .................................................... 145 Abb. 4/ 17 Nachfragesog-Inflation ? .................................................. 147 Abb. 4/ 18 Umlaufgeschwindigkeit von M3....................................... 149 Abb. 4/ 19 Geldmengenwachstum und Inflation ................................ 151 bb ld h XX Abbildungsverzeichnis <?page no="21"?> Abb. 4/ 21 Kostendruck .................................................................... 153 Abb. 4/ 22 Administrierte Preise ........................................................ 154 Abb. 4/ 23 Lohn-Preis-Spirale............................................................ 155 Abb. 4/ 24 Gefühlte Inflation ............................................................ 156 Abb. 4/ 25 TEURO in Slowenien? ..................................................... 157 Abb. 4/ 26 Kreative Preisgestaltung ................................................... 158 Abb. 4/ 27 Inflationsgeschützte Anleihe............................................. 160 Abb. 4/ 28 Angebotslücken-Inflation ................................................. 162 Abb. 4/ 29 Inflationsursachen............................................................ 164 Abb. 4/ 30 Preisniveau von Großstädten............................................ 166 Abb. 4/ 31a Galoppierende Inflation I: Fettheringe.............................. 172 Abb. 4/ 31b Galoppierende Inflation II: Briefmarke............................. 172 Abb. 4/ 32 Notgeld............................................................................ 174 Abb. 4/ 33 Störende Nullen ............................................................... 175 Abb. 4/ 34 Mögliche Folgen der Inflation .......................................... 177 Abb. 4/ 35 Phillipskurve .................................................................... 179 Abb. 4/ 36 Arbeitslosigkeit und Inflation in Deutschland .................. 179 5. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht Abb. 5/ 1 Teilbilanzen der Zahlungsbilanz....................................... 182 Abb. 5/ 2 Kapitalverkehr ................................................................. 184 Abb. 5/ 3 «Ausgeglichene» Zahlungsbilanz ..................................... 189 Abb. 5/ 4 Wichtige Posten der Zahlungsbilanz ................................ 190 Abb. 5/ 5 Außenhandel nach Regionen............................................ 191 Abb. 5/ 6 Warenstruktur des Außenhandels..................................... 192 Abb. 5/ 7 Leistungspositionen ......................................................... 193 Abb. 5/ 8 Importdruck .................................................................... 194 Abb. 5/ 9 Exportkonjunktur............................................................ 195 6. Einflussnahme auf die Verteilung Abb. 6/ 1 Begriffe der Einkommensverteilung Buch ......................... 200 Abb. 6/ 2 Bereinigte und unbereinigte Lohnquote ............................ 203 Abb. 6/ 3 Von der Primärverteilung zur Sekundärverteilung ............ 204 Abb. 6/ 4 Umverteilung ................................................................... 205 Abb. 6/ 5 Arbeitseinkommensquote................................................. 207 Abb. 6/ 6 Lorenzkurve..................................................................... 208 Abb. 6/ 7 Einkommensverteilung..................................................... 209 Abb. 6/ 8 Sozio-ökonomische Verteilung ......................................... 210 Abb. 6/ 9 Armut ist immer relativ.................................................... 211 Abb. 6/ 10 Kinderarmut .................................................................... 211 Abb. 6/ 11 Armutsquoten in Deutschland.......................................... 211 Abb. 6/ 12 Ungleiche Verteilung des gesamten Nettovermögens in Deutschland................................................................. 213 7. Umweltschutz Abb. 7/ 1 Umweltsteuern................................................................. 216 Abb. 7/ 2 Umwelt-Emissionen ......................................................... 218 Abbildungsverzeichnis XXI Abbildungsverzeichnis XXI <?page no="22"?> 9. Alternative Grundpositionen Abb. 9/ 1 Keynesianismus aus Sicht der Angebotstheorie................. 231 Abb. 9/ 2 Nachfragetheorie / Fiskalismus ........................................ 233 Abb. 9/ 3 Angebotstheorie / Monetarismus...................................... 234 Abb. 9/ 4 Neue Ökonomie .............................................................. 244 Abb. 9/ 5 Deregulierung? ................................................................. 243 Abb. 9/ 6 Beschäftigungsforschung .................................................. 250 Abb. 9/ 7 Konjunkturprogramme .................................................... 251 10. Finanzpolitik Abb. 10.1/ 1 Stabilitäts- und Wachstumspakt ...................................... 260 Abb. 10.1/ 2 Wandel der Probleme ....................................................... 262 Abb. 10.2/ 1 Kostendeckungsgrade kommunaler öffentlicher Güter ..... 266 Abb. 10.2/ 2 Staatsquote Deutschland (Ausgabenquote)....................... 267 Abb. 10.2/ 3 Staatsquoten international (Ausgabenquote) .................... 269 Abb. 10.2/ 4 Abgabenquote.................................................................. 270 Abb. 10.2/ 5 Wo soll gekürzt werden? .................................................. 272 Abb. 10.3/ 1 Bundeshaushalt 2007 ....................................................... 274 Abb. 10.3/ 2 Bundesbeteiligung? .......................................................... 275 Abb. 10.3/ 3 Entstehung des Haushalts ................................................ 277 Abb. 10.3/ 4 Erster Durchgang im Bundesrat ....................................... 278 Abb. 10.3/ 5 Finanzierungssalden ......................................................... 283 Abb. 10.3/ 6 Rollende Finanzplanung .................................................. 284 Abb. 10.3/ 7 Steuerschätzung ............................................................... 286 Abb. 10.3/ 8 Anleihefinanzierung ......................................................... 287 Abb. 10.3/ 9 Ertragskompetenz nach Art. 106 GG ............................... 289 Abb. 10.3/ 10 Steueraufkommen ............................................................ 291 Abb. 10.3/ 11 Finanzausgleich................................................................ 292 Abb. 10.3/ 12 Länder-Finanzausgleich 2006........................................... 293 Abb. 10.3/ 13 Finanznotstand? ............................................................... 295 Abb. 10.3/ 14 Kommunale Defizite ........................................................ 298 Abb. 10.3/ 15 EU-Einnahmen und -Ausgaben ........................................ 299 Abb. 10.3/ 16 Nettozahler EU ................................................................ 300 Abb. 10.3/ 17 EU-Ausgaben ................................................................... 301 Abb. 10.4/ 1 Haushaltssalden USA ....................................................... 306 Abb. 10.4/ 2 Direkte / indirekte Steuern ............................................... 307 Abb. 10.4/ 3 Steuerarten (nach Steuergegenstand) ................................ 308 Abb. 10.4/ 4 Steuererhöhungen ............................................................ 310 Abb. 10.4/ 5 Mehrwertsteuersätze in der EU ........................................ 311 Abb. 10.4/ 6 Steuerfindung................................................................... 314 Abb. 10.4/ 7 Lafferkurve ...................................................................... 315 Abb. 10.4/ 8 Vorschläge für eine Haushaltskonsolidierung ................... 317 Abb. 10.4/ 9 Öffentliche Verschwendung ............................................. 318 Abb. 10.4/ 10 Teure Chefetagen, unsinnige Brücken............................... 319 Abb. 10.4/ 11 Verschwendung in den Nachbarstaaten............................ 319 Abb. 10.4/ 12 Bürokratieabbau? ............................................................ 321 Abb. 10.5/ 1 Staatliche Schulden .......................................................... 324 Abb. 10.5/ 2 Entwicklung der Verschuldung des Bundes....................... 325 Abb. 10.5/ 3 Steuerschätzung. .............................................................. 326 bb ld h XXII Abbildungsverzeichnis <?page no="23"?> Abb. 10.5/ 4 strukturelles Defizit.......................................................... 328 Abb. 10.5/ 5 Ein Rattenschwanz von Folgekosten ................................ 329 Abb. 10.5/ 6 Kein schlanker Staat Kein schlanker Staat Kein schlanker Staat ........................................................ 330 Abb. 10.5/ 7 New Public Management New Public Management New Public Management ................................................. 331 Abb. 10.5/ 8 Subventionen ................................................................... 332 Abb. 10.5/ 9 Steuerreform .................................................................... 333 Abb. 10.5/ 10 Subventionsbereiche nach Rangfolge der Förderungen ..... 334 Abb. 10.5/ 11 Subventionsverwendung................................................... 336 Abb. 10.5/ 12 Agrarexporte ................................................................... 337 Abb. 10.5/ 13 Neuverschuldung ............................................................. 340 Abb. 10.5/ 14 Gesamtschulden ............................................................... 342 Abb. 10.5/ 15 Verschuldung der Länder ................................................. 343 Abb. 10.5/ 16 Länderverschuldung......................................................... 345 Abb. 10.5/ 17 Zinsanpassung ................................................................. 345 Abb. 10.5/ 18 Art. 115 und Bundeshaushalt........................................... 348 Abb. 10.5/ 19 Art. 115 und Länderhaushalte ......................................... 349 Abb. 10.5/ 20 Schuldengrenze? ............................................................... 351 Abb. 10.5/ 21 Schuldenfalle.................................................................... 351 Abb. 10.5/ 22 Folgen der Staatsverschuldung ......................................... 355 Abb. 10.5/ 23 Verschuldung im Euro-Raum ........................................... 357 Abb. 10.5/ 24 Mehrwertsteuer und Stabilität.......................................... 358 Abb. 10.5/ 25 «Instabilitätspakt» ........................................................... 359 Abb. 10.5/ 26 Konsolidierungsmaßnahmen ............................................ 361 11. Geldpolitik Abb. 11/ 1 EZB und europäische Institutionen .................................. 364 Abb. 11/ 2 Teure Notenbanken ......................................................... 365 Abb. 11/ 3 Zinsentscheidungen ......................................................... 366 Abb. 11/ 4 Zielorientierung der EZB ................................................. 367 Abb. 11/ 5 Geldmengenkonzepte der EZB ......................................... 376 Abb. 11/ 6 Wachstum der Geldmenge M3 in der EWU ...................... 377 Abb. 11/ 7 Geldstrategie der EZB ...................................................... 378 Abb. 11/ 8 Korrekturbedarf............................................................... 381 Abb. 11/ 9a Zinspolitik ....................................................................... 382 Abb. 11/ 9b Zinspolitik ....................................................................... 382 Abb. 11/ 9b Zinspolitik ....................................................................... 383 Abb. 11/ 10 Zinsstruktur..................................................................... 384 Abb. 11/ 11 Zinsunterschiede .............................................................. 385 Abb. 11/ 12 Instrumentarium der EZB ................................................ 388 Abb. 11/ 13 Zusammenhang der Leitzinsen......................................... 394 Abb. 11/ 14 Geldmarktsätze unter Banken .......................................... 396 12. Wechselkurs- und Währungspolitik Abb. 12/ 1 Die Einfluss-Sphäre des Euro ........................................... 404 Abb. 12/ 2 Währungsverbund ........................................................... 407 Abb. 12/ 3 Währungsunion ............................................................... 408 Abb. 12/ 4 Kreative Buchführung ...................................................... 412 Abb. 12/ 5 Stabilitätspakt.................................................................. 415 Abb. 12/ 6 Einflussfaktoren auf den Wechselkurs .............................. 424 Abbildungsverzeichnis XXIII Abbildungsverzeichnis XXIII <?page no="24"?> Abb. 12/ 7 Zinseinflüsse .................................................................... 426 Abb. 12/ 8 Notenbank-Intervention................................................... 426 Abb. 12/ 9 Big-Mac-Index ................................................................. 428 Abb. 12/ 10 Exotische Währungen ...................................................... 431 Abb. 12/ 11 Kursnotierung.................................................................. 433 Abb. 12/ 12 Wechselkursbegriffe ......................................................... 435 Abb. 12/ 13 Bedeutung der Wechselkursnotierungen ........................... 438 Abb. 12/ 14 Anwendungs-Beispiele aus Unternehmenssicht ................. 440 Abb. 12/ 15 Cross-Rates...................................................................... 441 Abb. 12/ 16 Währungsreform.............................................................. 442 Abb. 12/ 17 Devisen im Freiverkehr .................................................... 445 Abb. 12/ 18 Euro-Aufwertung ............................................................. 450 Abb. 12/ 19 Wirkungen von Wechselkursänderungen .......................... 452 Abb. 12/ 20 J-Kurve ............................................................................ 454 Abb. 12/ 21 Kursanstieg ...................................................................... 459 Abb. 12/ 22 Euro-Kurs ........................................................................ 460 Abb. 12/ 23 Wechselkurssicherung ...................................................... 461 13. Außenhandelspolitik Abb. 13/ 1 Welthandelsstruktur......................................................... 464 Abb. 13/ 2 Neue Akteure................................................................... 465 Abb. 13/ 3 Going Global ................................................................... 466 Abb. 13/ 4 Export vs. Außenhandel................................................... 468 Abb. 13/ 5 Importabhängigkeit Deutschlands .................................... 469 Abb. 13/ 6 Exportabhängigkeit ......................................................... 471 Abb. 13/ 7 Arbeitskosten................................................................... 474 Abb. 13/ 8 Importkonkurrenz ........................................................... 477 Abb. 13/ 9 Positive Importimpulse .................................................... 478 Abb. 13/ 10 Economies of Scale .......................................................... 479 Abb. 13/ 11 WTO-Mitglieder .............................................................. 485 Abb. 13/ 12 WTO-Panel...................................................................... 485 Abb. 13/ 13 Zollzwecke und Zollarten ................................................ 503 Abb. 13/ 14 Nicht-Tarifäre Handelshemmnisse ................................... 507 Abb. 13/ 15 Agrarprotektion............................................................... 509 Abb. 13/ 16 Anti-Dumping-Zölle ........................................................ 510 Abb. 13/ 17 US-Vergeltungszölle ......................................................... 514 Abb. 13/ 18 Integrationsabkommen .................................................... 518 Abb. 13/ 19 Handelsumlenkung .......................................................... 519 Abb. 13/ 20 Bremsende Stimmen ......................................................... 524 Abb. 13/ 21 Magnetwirkung der EU.................................................... 529 Abb. 13/ 22 Kooperationsabkommen .................................................. 534 Abb. 13/ 23 Präferenzabkommen ........................................................ 536 Abb. 13/ 24 Freihandelszonen ............................................................. 539 Abb. 13/ 25 Zollunionen ..................................................................... 539 Abb. 13/ 26 Wirtschaftsgemeinschaften............................................... 542 Abb. 13/ 27 Integrationsformen .......................................................... 544 Abb. 13/ 28 Motive der Integration ..................................................... 546 Abb. 13/ 29 Mercosur ......................................................................... 556 bb ld h XXIV Abbildungsverzeichnis <?page no="25"?> 14. Entwicklungspolitik Abb. 14/ 1 Unterschiede in Prozent ................................................... 559 Abb. 14/ 2 Verschuldung ................................................................... 564 Abb. 14/ 3 Schuldenerlass.................................................................. 564 Abb. 14/ 4 Umschuldungen ............................................................... 565 Abb. 14/ 5 Exporthemmnisse ............................................................ 566 Abb. 14/ 6 Bevölkerungsentwicklung................................................. 567 Abb. 14/ 7 Versorgungsprobleme....................................................... 568 Abb. 14/ 8 Arbeitskräftemangel......................................................... 569 Abb. 14/ 9 Korruption....................................................................... 570 Abb. 14/ 10 Bad Governance............................................................... 571 Abb. 14/ 11 Interne Konflikte.............................................................. 572 Abb. 14/ 12 Unverantwortliche Staatsführung ..................................... 573 Abb. 14/ 13 Entwicklungshilfe-Ziel ..................................................... 575 Abb. 14/ 14 Armut .............................................................................. 576 Abb. 14/ 15 Negative soziale Folgen.................................................... 578 Abb. 14/ 16 «Anpassung» ................................................................... 579 Abb. 14/ 17 Good + Bad Governance .................................................. 580 Abb. 14/ 18 Entwicklungshilfe-Erfolge ................................................ 581 Abb. 14/ 19 Entwicklungshilfe ............................................................ 582 15. Realisierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Zielkonflikte Abb. 15/ 1 Frühindikatoren............................................................... 587 Abb. 15/ 2 Prognose-Abweichungen .................................................. 588 Abb. 15/ 3 Kursprognose................................................................... 589 Abb. 15/ 4a Prognosetechniken I......................................................... 590 Abb. 15/ 4b Prognosetechniken II........................................................ 591 Abb. 15/ 5 Zielkonflikte .................................................................... 597 Abb. 15/ 6 Phillipskurve .................................................................... 599 Abb. 15/ 7 Phillipskurve für Deutschland .......................................... 599 Abb. 15/ 8 Prognose-Effizienz ........................................................... 606 Abbildungsverzeichnis XXV Abbildungsverzeichnis XXV <?page no="27"?> Zum Aufbau des Buches Es ist ein weites Feld, das sich dem wirtschaftspolitisch Interessierten darbietet. Wenn man nicht allzu oberflächlich bleiben will, ist es im Hinblick auf den begrenzten Umfang eines Taschenlehrbuches unumgänglich, sich auf eine Auswahl wichtiger Themenkreise zu beschränken und eine Reihe anderer Gesichtspunkte einfach ‹abzuschneiden›. Eine wesentliche Beschränkung besteht schon darin, dass hier nur die staatliche Wirtschaftspolitik behandelt wird. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist hinzuzufügen, dass dieses Buch nicht zum Ziel hat, die deutsche Wirtschaftspolitik zu analysieren. Vielmehr sollen ungeachtet seiner Praxisorientierung allgemeingültige und nicht unbedingt zeitraumbezogene Erkenntnisse vermittelt werden. Als Erfahrungsobjekt für praktische Beispiele dient dabei vorrangig die Bundesrepublik Deutschland, auch mit ihren institutionellen Gegebenheiten. Die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge, in die dieses Lehrbuch einführen soll, gelten jedoch nicht nur für Deutschland, sondern sind auf andere Volkswirtschaften übertragbar. Um inhaltliche Überschneidungen und Wiederholungen auf ein Minimum zu reduzieren, wird in den einzelnen Abschnitten auf Zusammenhänge mit anderen Themenkreisen durch Verweise aufmerksam gemacht. Zusammen mit dem Register soll es dadurch ermöglicht werden, bestimmten Fragen auch ohne Durcharbeiten des ganzen Buches nachzugehen. Der folgende I. Teil legt einige wesentliche Grundlagen. Zunächst wird versucht, zwischen wirtschaftspolitischen Zielen und Maßnahmen abzugrenzen und darzulegen, wer Wirtschaftspolitik ‹macht›. Danach werden Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftssystem behandelt. Ein wichtiger Abschnitt ist 1.4 - prinzipiell auch für nichtökonomische Tatbestände -, in dem die Beziehungen zwischen nationalem, supranationalem und internationalem Recht dargestellt werden. In Deutschland enthalten die gesetzlichen Fundstellen des wirtschaftspolitischen Zielsystems keine Konkretisierung und Operationalisierung der wirtschaftspolitischen Ziele. Daher werden im II. Teil die wichtigsten, teilweise recht vage formulierten wirtschaftspolitischen Zielsetzungen inhaltlich präzisiert, Messgrößen zur Bestimmung der Zielerreichung dargestellt sowie Ursachen und Folgen von Zielabweichungen untersucht. Die Behandlung von Zielkonflikten erfolgt erst im V. Teil des Buches, weil sie sich teilweise auf Aspekte beziehen, die zunächst im III. und IV. Teil dargestellt werden. <?page no="28"?> Im III. Teil werden alternative wirtschaftspolitische Konzeptionen behandelt, die der Wirtschaftspolitik in der Praxis zugrunde liegen können. Die verschiedenen Konzepte, die auf politischer Ebene zwischen Anhängern und Kritikern zum Teil leidenschaftlich diskutiert werden, unterscheiden sich u. a. hinsichtlich der Rolle, die dem Staat im Wirtschaftsprozess beigemessen wird, und konsequenterweise hinsichtlich der Auswahl und Handhabung der verschiedenen wirtschaftspolitischen Instrumente zur Beeinflussung der jeweils als vorrangig erachteten ökonomischen Variablen. Die Darstellung dieser grundlegenden Konzepte kann jedoch nicht am Anfang dieses Lehrbuches stehen, da zunächst einige Grundtatbestände und Zusammenhänge betrachtet werden sollten. Der IV. Teil behandelt die Wirkungsweisen ausgewählter wirtschaftspolitischer Instrumente und Maßnahmen im Kontext wichtiger Politikfelder. Dabei stellt sich das systematische Problem, ob bestimmte Politikbereiche als Ziel oder als Instrument des wirtschaftspolitischen Handelns anzusehen sind. Ohne dieses Problem - nach eigener Einschätzung - befriedigend zu lösen (vgl. dazu auch Abschnitt 1.1.3), werden insbesondere unter instrumentalen und konzeptionellen Gesichtspunkten behandelt die Geldpolitik, die Finanz- und Fiskalpolitik, die Wechselkurs- und Währungspolitik sowie die Außenhandels- und Entwicklungspolitik. Teil V geht auf besondere Probleme der Wirtschaftspolitik ein, u. a. auf die bereits angesprochenen Zielkonflikte und auf das Dosierungsproblem bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Um den Rahmen eines Taschenlehrbuchs nicht zu sprengen, kann die Darstellung nicht bei allen Aspekten ausführlich in die Tiefe gehen, andere Aspekte müssen sogar weitgehend ausgeklammert werden - siehe Vorwort. Einige Ergänzungen finden sich in anderen Büchern des Autors: Der Band Jörn Altmann, Volkswirtschaftslehre: Einführende Theorie mit praktischen Bezügen, UTB 1504, Stuttgart, geht u. a. ausführlich ein auf die Wettbewerbspolitik (Marktformen und Verhaltensweisen, Unternehmenskonzentration und Kartellrecht) sowie auf die Agrarpolitik (Marktordnungen im EG-Binnenmarkt, Agrarpreissysteme, Überschußprobleme). Daneben werden - neben vielen theoretischen Grundlagen - behandelt Berechnung, Interpretation und Kritik des Inlandsprodukts (u. a. im Zusammenhang mit Schattenwirtschaft, Wachstum, Konjunktur und Inflation), der Geldkreislauf (Geldarten, Geldschöpfung, Geldumlauf), die Theorie der Marktpreisbildung und die staatliche Beeinflussung des Preisbildungsprozesses (Preisstopps und Lohnstops, u. a. im Hinblick auf Inflationswirkungen) und vieles mehr. Für viele internationale und fb d h XXVIII Zum Aufbau des Buches <?page no="29"?> weltwirtschaftliche Aspekte sei ergänzend verwiesen auf den Band Jörn Altmann, Außenwirtschaft für Unternehmen: Europäischer Binnenmarkt und Weltwirtschaft, UTB 1750, Stuttgart, der u. a. ausführlich auf die internationalen Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik eingeht (Europäische Integration, EWWU, EU-Institutionen, OECD, GATT/ WTO, IWF, Weltbank und andere internationale Institutionen, Organisationen und Abkommen) und die rechtlichen (Außenwirtschaftsrecht, Zollrecht) und unternehmenspolitischen Aspekte des Außenhandels eingeht (u. a. Management der Finanzierungs-, Zahlungs- und Wechselkursrisiken). Das Manuskript des vorliegenden Bandes Wirtschaftspolitik wurde inhaltlich im Januar 2007 abgeschlossen. Über Hinweise und Kommentare zu diesem Buch freue ich mich immer sehr, und ich verspreche Ihnen in jedem Fall eine Antwort: joern. altmann@t-online de, European School of Business (ESB), Reutlingen University, Alteburgstraße 150, 72762 Reutlingen, oder über den Verlag Lucius & Lucius GmbH, Gerokstraße 51, 70184 Stuttgart. Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch gefallen wird. Zum Aufbau des Buches XXIX Zum Aufbau des Buches XXIX <?page no="31"?> I. Teil: f Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung 1. Sind Sie von Konjunktur und Wachstum betroffen? «Die Stimmung der Unternehmen ist ungetrübt, und auch die Geschäftsaussichten betrachten sie positiv.» So verlautete es im November 2006 im Handelsblatt (Abb. 1/ 1). Die Wirtschaft befand sich im Aufschwung. Zufriedenheit, Zuversicht - eitel Sonnenschein? Gar nicht lange vorher war der Tenor der Zeitungsmeldungen anders: «Deutschland verharrt in der Stagnation»; «Deutschland steckt in der Rezession»; «Deutschlands Wachstum schläft ein» - und besorgte Kommentatoren und zahllose Chefvolkswirte und Politiker diskutierten dieses Thema immer wieder in Talkshows und Interviews und verwiesen besorgt darauf, dass Deutschland im Wachstumszug die «rote Laterne» trugt, weil das Wirtschaftswachstum in anderen Ländern höher war (Abb. 1/ 2). 7)&+0*)/ * 62+)*345-)*'534*)(. */ 2) */ 34* ! 54+/ , 1/ ()/ ) *234 5, 5(.$3&-( 6*+'%, %+/ 7")*(& &(32-+ / -+ ! %4'10#%+2 Abb. 1/ 1: Aufschwung? "2*+,603714 ,+265+ .1 42- 82)2"./ 1 '7##: .: " &.# (.#2%! *.: " ,$42=$"0 ! 1--0--42*.+4,0 3/ 013( %' )2*&42* Abb. 1/ 2: Abschwung? <?page no="32"?> Aber wen interessiert es denn, ob die reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts - abgekürzt als BIP - 1,8% oder 1,4% beträgt? Und ob man dies als Rezession bezeichnen sollte oder nicht? Betreffen diese volkswirtschaftlichen Dimensionen die individuelle Lebenssphäre? Wir wollen dies im Folgenden beleuchten. 1.1. Was ist «Wirtschaftspolitik»? Die Volkswirtschaft eines Landes ist die Summe aller Einzelwirtschaften, d.h. alle privaten Haushalte, Unternehmen und staatlichen Aktivitäten zusammengenommen. Geht es diesen Einzelwirtschaften gut, geht es auch der Volkswirtschaft gut. Aber gilt dies auch umgekehrt? Dabei muss man schon genauer hinsehen. Wenn das Wachstum einer Volkswirtschaft nachlässt, bedeutet dies verkürzt - wir werden dies noch genauer betrachten -, dass insgesamt gesehen der Produktionsanstieg an Gütern (Waren, Dienstleistungen und Rechte) geringer wird. Das heißt, bei einem nachlassenden, aber immer noch positiven Wachstum nimmt die Güterproduktion nach wie vor zu, aber nicht mehr so stark wie in der Vorperiode. Bei einem «negativen Wachstum» geht die Produktion zurück. Produktion und Verkauf bedeuten Einkommen für Produzenten und Verkäufer; Produzenten brauchen Produktionsfaktoren, wobei an Arbeitskräfte zu denken ist sowie an andere materielle und immaterielle Inputs - Vorleistungen genannt - wie zum Beispiel fertige Güter, Rohstoffe, Maschinen und Anlagen, Dienstleistungen oder Rechte (z. B. Patente). Sinken Produktion und Verkauf, benötigen die Unternehmen tendenziell weniger Inputs, der Gewinn kann sinken; durch die sinkende Nachfrage sinken die Einkommen anderer Unternehmen und der Haushalte - in der Folge gehen meist Arbeitsplätze verloren (Abb. 1/ 3). Daraus ergibt sich im Einzelfall schon ein sehr direkter individueller Bezug. 2 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 0$'&&'%/ --/ # )##+, 1#$)#($*$%""'#&/ .'##%. %/ +, ! ,*%/ 1)$''+,! 2(%** -/ %& 3(-+0&'*."&#+ / - Abb. 1/ 3: Jobverlust <?page no="33"?> Hinzu kommt, dass durch die sinkende Wirtschaftsleistung auch weniger Steuern gezahlt werden: Mehrwertsteuer, spezielle Verbrauchsteuern, Einkommensteuer, Unternehmenssteuern. Der Staat - Bund, Länder, Städte und Gemeinden - verfügt über weniger Einnahmen, kann weniger unmittelbar ausgeben (Löhne, Gehälter, Sachausgaben, Investitionen) und wird seinerseits zu Kürzungen gezwungen, sofern er sich nicht über Schulden finanziert. Schulden aber verringern in der Folge über die erforderlichen Zins- und Tilgungszahlungen die später verfügbaren Mittel. Diese (indirekten) Folgen können sich wiederum sehr konkret auf der Ebene der einzelnen Haushalte und Unternehmen auswirken. Per Saldo ist es für den einzelnen Arbeitnehmer oder Unternehmer wahrscheinlich tatsächlich völlig egal, ob die Wachstumsrate einen halben Prozentpunkt sinkt oder steigt. Nicht egal aber wird es dem Einzelnen sein, wenn er oder sie davon direkt und unmittelbar selbst betroffen wird. Wir werden nun die Zusammenhänge und anschließend die wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele detailliert betrachten. Konjunktur-, Wachstums- und Arbeitsmarktpolitik sind nur ausgewählte Beispiele für die zahlreichen ökonomischen, sozialen Ziele und politischen Facetten der Wirtschaftspolitik; die Liste lässt sich beliebig ausweiten mit Begriffen wie Bildungs-, Außenwirtschafts-, Umwelt-, Struktur- oder Landwirtschaftspolitik - es gibt sehr viele Politik-«Objekte». Zudem gibt es instrumentelle Politiken wie Geld-, Währungs-, Finanz-, Steuer-, Renten- oder - last not least - Gesundheitspolitik. Dass überhaupt eine Notwendigkeit für staatliches wirtschaftspolitisches Handeln besteht, ergibt sich daraus, dass der autonome private Wirtschaftsprozess insgesamt nicht die gewünschten Resultate bringt. Dies ist natürlich ein Werturteil. Abweichungen ergeben sich aus gesamtwirtschaftlichen Instabilitäten wie Rezessionen, Arbeitslosigkeit oder Inflation mit entsprechend negativen Effekten; aus sozialpolitischen Überlegungen sollen bestimmte Effekte des Marktprozesses korrigiert werden, z. B. durch progressive Einkommensbesteuerung; bestimmte Güter würden privat nicht hinreichend angeboten (Umweltschutz) oder bestimmte Bevölkerungsgruppen würden durch kostendeckende Preise von der Nutzung ausgeschlossen (Bildung). Das wirtschaftspolitische Zielsystem kann nicht objektiv ermittelt werden, sondern dies erfolgt im Zuge der politischen Willensbildung. Folglich lässt sich ausführlich darüber streiten, was richtig und was falsch ist. Dies gilt ebenso für die Auswahl der einzusetzenden Instrumente und die zu ergreifenden Maßnahmen. Es gibt keine allgemeingültigen, objektiven Ziele, an denen sich das (wirtschafts)politische 1.1. Was ist h f l k «Wirtschaftspolitik»? 3 <?page no="34"?> Handeln prinzipiell - in jedem Land, in jeder Situation - zu orientieren hätte. Ob eine Regierung beispielsweise der Beschäftigungsanregung, eine andere der Inflationsbekämpfung höchste Priorität einräumt, ist ein Werturteil, d.h. eine politische und damit normative Entscheidung, die von bestimmten gegebenen Rahmenbedingungen und Wertungen abhängt. Einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit können allenfalls theoretische Aussagen erheben, sofern sie frei sind von Werturteilen (im Sinne von «gut» bzw. «schlecht» oder «wünschenswert» bzw. «abzulehnen»). Das Ziel selbst entzieht sich hinsichtlich seiner Berechtigung einer externen Überprüfung. Andernfalls wäre jegliche parteipolitische Auseinandersetzung um die ‹richtige› Wirtschaftspolitik gegenstandslos, und man könnte die wirtschaftspolitischen Entscheidungen entpolitisieren: Wenn es objektivierbare Zielsysteme und daraus abgeleitet: objektivierbare Ziel-Maßnahmen-Zusammenhänge gäbe, könnte man die Wirtschaftspolitik einem Computer überlassen. Offensichtlich aber gibt es sowohl auf der Zielebene als auch hinsichtlich der Entscheidung über die Wahl der sich daraus ableitenden ‹richtigen› Maßnahmen einen subjektiven Meinungs- und Entscheidungsspielraum. Theoretische Aussagen müssen verallgemeinerungsfähig sein und dürfen sich nicht auf ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Zeit beschränken. Sie müssen überprüfbar und gegebenenfalls auch widerlegbar sein. Theoretische Aussagen können Fragen beantworten wie «was ist, und warum? », aber nicht - wie politische/ normative Aussagen - «was sollte sein? ». Nachdem ein Ziel subjektiv gesetzt ist, kann jedoch das (wirtschaftspolitische Handeln daraufhin überprüft werden, ob es theoretisch widerspruchsfrei in dem Sinne ist, dass das Handeln im Hinblick auf die (subjektive) Zielsetzung logisch, d.h. objektiv ‹richtig› ist: Wenn sich eine Regierung für die Inflationsbekämpfung entscheidet, dann kann mit Hilfe theoretischer Erkenntnisse untersucht werden, ob die getroffenen Maßnahmen - nach gegebenem Erkenntnisstand - geeignet sind, dieses Ziel zu verfolgen: Zum Beispiel wäre eine kräftige Kfz-Steuererhöhung wohl kaum geeignet, einen Autoboom auszulösen. Also sind auch Mittelauswahl und Mitteleinsatz z. B. hinsichtlich Zeitpunkt und Dosierung politische Entscheidungen, und die Praxis zeigt, dass man auch darüber sehr ausführlich streiten kann. Begrifflich besteht das Problem, Zielen und Instrumente gegeneinander abzugrenzen. Ist beispielsweise Wachstumspolitik - also das Bestreben, die Güterproduktion anzuregen - ein Ziel oder ein Instrument? Wie oben schon gesagt, ist das Wachstum des Brutto- 4 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="35"?> inlandsprodukts als statistische Größe dem einzelnen wohl ziemlich egal, nicht aber die Folgen der «Wachstumspolitik», wenn die Güterversorgung schlechter wird oder Arbeitslosigkeit oder Inflation entstehen. Folglich ist diese auch eher ein Mittel zum Zweck, wobei der Zweck beispielsweise Beschäftigungs- oder Einkommenssicherung oder -steigerung sein kann. An der Spitze seiner Zielpyramide wird jeder einzelne individuell bestimmte, absolut subjektive Ziele definieren: Glück, Sicherheit, Gesundheit, 10 Millionen EUR Jahreseinkommen - was auch immer. Und diese Oberziele versucht man, durch entsprechenden Mitteleinsatz zu verwirklichen. Das gilt analog für den Staat und die staatliche Wirtschaftspolitik: Grundsätzlich ist diese Mittel zum Zweck, es den Bürgern zu ermöglichen, ihre subjektiven Oberziele zu verfolgen. Dessenungeachtet spricht man im politischen und wissenschaftlichen Zusammenhang von diversen Zielen der Wirtschaftspolitik, die also kaum ein Selbstzweck sind, sondern allenfalls Unterziele oder Teilziele. Aber es geht noch weiter: Wenn man «Wachstumspolitik» nun als (Unter-)Ziel akzeptiert, dann wird sie beispielsweise durch den Einsatz finanzpolitischer oder geldpolitischer oder wettbewerbespolitischer oder anderer Instrumente verfolgt. Andererseits wird aber auch die Geldpolitik beispielsweise im Hinblick auf Inflationsbekämpfung als Ziel genannt, das durch zinspolitische Instrumente verfolgt wird. Und so weiter... Schaffen wir eine Sprachregelung: Wenn man ein Element in der Ziel-Mittel-Pyramide von unten nach oben betrachtet, nennen wir es (Unter- oder Teil-) Ziel, von oben nach unten ist dasselbe Element ein instrumentales Mittel. 1.2. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung In einem Fachbuch ist es üblich, eingangs klarzustellen, wovon die Rede sein soll und wovon nicht: Kein Lehrbuch ohne Abgrenzung. An einer Definition des Begriffs Wirtschaftspolitik hat sich schon mancher versucht. Eine gehaltvolle Begriffsbestimmung müsste der Vielzahl von Aspekten Rechnung tragen, die für die Wirtschaftspolitik relevant sind. Hier soll kein weiterer Definitionsversuch am Anfang dieses Buches stehen, aber einige Anmerkungen sind erforderlich. 1.2. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 5 <?page no="36"?> 1.2.1. Ziele und Maßnahmen Wirtschaftspolitik erstreckt sich auf die Durchführung von Maßnah men , mit d en en b est imm te ö kon omi sc he u nd so zia le Zi el e ver wirklicht werden sollen. Dass überhaupt staatlicherseits eine Notwendigkeit für wirtschaftspolitisches Handeln besteht, ergibt sich aus der Feststellung, dass der autonome, private Wirtschaftsprozess insgesamt nicht die gewünschten Resultate bringt. Dies ist natürlich ein Werturteil; wir werden dies gleich vertiefen. Die Abweichungen ergeben sich in verschiedener Hinsicht: • Es ergeben sich gesamtwirtschaftliche Instabilitäten wie Rezessionen, Arbeitslosigkeit oder Inflation mit entsprechend negativen Effekten. • Aus sozialpolitischen Überlegungen sollen bestimmte Effekte des Marktprozesses korrigiert werden, indem z. B. durch progressive Einkommensbesteuerung eine Umverteilung ermöglicht werden soll (u. a. Kindergeld, Wohngeld, Sozialhilfe). • Bei vielen Gütern werden diejenigen, die ein bestimmtes Gut nicht bezahlen wollen (oder nicht bezahlen können), von der Nutzung ausgeschlossen (Ausschlussprinzip (( ). Würde beispielsweise die Schul- und Hochschulausbildung zu kostendeckenden Preisen angeboten, könnten sich weite Kreise der Bevölkerung keine Ausbildung leisten, wie es gegenwärtig möglich ist. Private Anbieter würden solche Güter zu nicht kostendeckenden Preisen oder gar kostenlos - wie es für eine breite Versorgung der Bevölkerung erforderlich ist - aber nicht anbieten. Folglich muss das Angebot durch staatliche Maßnahmen sichergestellt werden, z. B. durch Subventionen oder durch eigenes Angebot des Staates. Solche Güter werden dann nach dem Umlageprinzip z. B. durch Steuern oder Gebühren finanziert. • Vielfach ergeben sich negative externe Effekte (externe Kosten): Diese werden durch privates Handeln verursacht, das anderen Bürgern oder der Allgemeinheit Kosten verursacht, ohne dass der Verursacher dafür selbst (kostenmäßig) zur Verantwortung gezogen wird, z. B. Umweltverschmutzung. Die Festlegung der konkreten wirtschaftspolitischen Ziele erfolgt im Zuge der politischen Willensbildung: Das zu realisierende wirtschaftspolitische Zielsystem kann nicht objektiv ermittelt werden, sondern hängt von subjektiven, normativen Wertvorstellungen ab. Folglich lässt sich ausführlich darüber streiten, was richtig und was falsch ist. Dies gilt ebenso für den - logisch gesehen - nächsten 6 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="37"?> Schritt: für die Auswahl der einzusetzenden Instrumente und der zu ergreifenden Maßnahmen. Zwar gibt die ökonomische Theorie eine Reihe von Hinweisen, was unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung richtig oder falsch ist: Zum Beispiel ist eine kräftige Lohnsteuererhöhung wohl kaum geeignet, einen Konsumschub auszulösen. Aber auch die Mittelauswahl und der Mitteleinsatz z. B. hinsichtlich Zeitpunkt und Dosierung ist eine subjektive Entscheidung, und die politische Praxis belehrt uns, dass man auch darüber sehr ausführlich streiten kann. Das wirtschaftliche Handeln ist daher ein permanenter Entscheidungsprozess, in dem - wie bei jedem Entscheidungsproblem - die Phasen der Planung (alternative Ziele bzw. Instrumente), der Entscheidung (z. B. Zielprioritäten, Auswahl der Instrumente), der Durchführung (Einsatz der Instrumente) und der Kontrolle (Vergleich des erreichten mit dem angestrebten Zustand) durchlaufen werden. 1.2.2. Bestandteile des wirtschaftspolitischen Zielsystems JJeder Ziel-Mittel-Zusammenhang ist in zweierlei Weise normativ (subjektiv) geprägt: Zum einen werden die (Unter-)Ziele inhaltlich und hinsichtlich ihrer Wichtigkeit im politischen Raum definiert; sie sind also keineswegs für alle Volkswirtschaften einheitlich. Ob eine Regierung Maßnahmen zur Beschäftigungsanregung höhere Priorität einräumt als dem Abbau der Staatsverschuldung, ist eine politische Entscheidung, also ein Werturteil. Zum anderen ist auch die Auswahl und die Art des Einsatzes der Instrumente zur Erreichung des wirtschaftspolitischen Zielsystems subjektiv, denn hierbei gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Objektivierbar ist allenfalls, ob der Einsatz bestimmter Instrumente aus theoretischer Sicht widerspruchsfrei erfolgt. Es gibt in Deutschland folglich kein zwingend definiertes Zielsystem. Zwar enthalten sowohl das Grundgesetz als auch verschiedene Gesetze wirtschaftspolitische Zielformulierungen, u. a. das Stabilitätsgesetz (Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967) oder das Gesetz über den Sachverständigenrat. Sie sind jedoch - bis auf wenige Ausnahmen - für die praktische Wirtschaftspolitik nicht verbindlich in dem Sinne, dass eine Regierung sie nicht interpretieren und politisch gewichten könnte. Trotz Gesetzesstatuts ist beispielsweise das Stabilitätsgesetz im Berliner Politikbetrieb weitgehend in Vergessenheit geraten. «In der heutigen Wirtschaftspolitik spielt es keine Rolle mehr», sagte Bert Rürup, Mitglied des Sachverständigenrats Mitte 2006. Allerdings ergeben sich aus den ökonomischen Zusammenhängen bestimmte (Unter-)Ziele, die im Hinblick auf die übergeordneten 1.2. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 7 <?page no="38"?> Staats- oder Individualziele als instrumental anzusehen sind. Hierzu zählen insbesondere Konjunktur-, Wachstums-, Beschäftigungs-, Preisniveau-, Außenhandels- und Verteilungsziele, die in einem Land so, im nächsten anders formuliert und unterschiedlich gewichtet sind. Da die gleichzeitige Verfolgung bestimmter Ziele zu Zielkonflikten führen kann, existieren verschiedene «magische» Zielsysteme in Form von magischen Vier-, Fünf- oder Sechsecken, weil es magischer Kräfte bedürfte, alle Ziele gleichzeitig zu verwirklichen. Beispielsweise ist die Bekämpfung einer Inflation nicht förderlich für die Anregung von Wachstum und Beschäftigung. Für alle wirtschaftspolitischen Ziele gilt aber, dass sie operational definiert werden müssen, weil man sonst nicht beurteilen kann, ob Wirtschaftspolitik rational verfolgt wird, d.h. zielorientiert und zieladäquat. Folglich ist es erforderlich, für die verschiedenen wirtschaftspolitischen Ziele Indikatoren zu definieren, mit denen die Zielerreichung gemessen werden kann. Die in Deutschland verfolgten wirtschaftspolitischen Ziele sind also keineswegs eine deutsche Erfindung, sondern in ihrem Kern ökonomische Standardziele, die sich aus ökonomischen Grundüberlegungen ableiten und in den allermeisten Staaten der Welt verfolgt werden; natürlich gibt es dabei Nuancen. Es gibt in Deutschland keine Rechtsnorm, in der das gesamte wirtschaftspolitische Zielsystem zusammenfassend dargestellt ist. Man muss dafür schon verschiedene Gesetze heranziehen, in erster Linie das Grundgesetz. Darin finden sich u. a. konkrete Bestimmungen bezüglich der Finanzpolitik sowie die Grundlagen für konkretisierende Normen auf der darunterliegenden Ebene der ‹normalen› Gesetze. Von zentraler - definitorischer - Bedeutung für das wirtschaftspolitische Zielsystem der Bundesrepublik Deutschland ist dabei das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, das sog. Stabilitätsgesetz von 1967, welches eine attraktiv strukturierte Zielstruktur enthält. Wir werden verschiedentlich darauf zurückkommen. Das StabG enthält in seinem § 1 einen Zielkatalog, der als Magisches Viereck bekannt ist: «Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie • im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung • gleichzeitig • zur Stabilität des Preisniveaus, • zu einem hohen Beschäftigungsstand und 8 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="39"?> • außenwirtschaftlichem Gleichgewicht • bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.» Die Reihenfolge der Komponenten des «magischen Vierecks» in der Formulierung des § 1 stellt keine Wertung hinsichtlich ihrer Priorität dar; dies macht das Wort «gleichzeitig» deutlich. Die Zielformulierungen des «magischen Vierecks» sind in mehrerer Hinsicht unscharf. Nur ein Ziel ist in jeder Hinsicht prinzipiell eindeutig definiert (Stabilität des Preisniveaus); bei den übrigen drei Zielen (außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Beschäftigungsstand, Wachstum) ist nicht definiert, woran und wie die Zielerfüllung gemessen werden soll (z. B. was soll wachsen bzw. beschäftigt sein? ), bei zwei Zielen sind die adjektivischen Zusätze interpretationsbedürftig («hoher» Beschäftigungsstand, «angemessenes» Wachstum). Der Zusatz ‹magisch› bezieht sich darauf, dass es kaum möglich ist, alle vier Ziele gleichzeitig zu verfolgen, sondern dass i.d.R. mindestens ein Ziel vernachlässigt werden muss. In Kapitel 16 (Zielkonflikte) wird dies vertieft werden. Die vier Ziele werden üblicherweise als Stabilitätsziele klassifiziert. Bei dem Bestreben, diese Ziele gleichzeitig zu verwirklichen, können sich natürlich Zielkonflikte ergeben; hierauf wird in Kap. 16 eingegangen. Das magische Viereck wird durch weitere Zielsetzungen ergänzt, die sich aus anderen Gesetzen ergeben (vgl. Abb. 1/ 4). So postuliert das Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrats von 1963 die ‹Verbesserung der Verteilung von Einkommen und Vermögen›. Ein weiteres Ziel ist der Umweltschutz. Seit 1. 7. 1994 ist er in Art. 20 a im Grundgesetz verankert, ebenso wie in den Verfassungen einiger Bundesländer. Insgesamt gibt es rd. 2000 umweltrelevante Rechtsnormen in Deutschland. Hinzu kommen Ziele im Bereich Bildung und Forschung, oder sektorale und regionale Ziele (strukturelle Ziele). Der damalige EWG-Vertrag (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) enthielt in Art. 2 (Aufgabe der Gemeinschaft) einen nicht nur ökonomischen Zielkatalog: «Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten • eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, • eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, • eine große Stabilität, • eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und 1.2. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 9 <?page no="40"?> • engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.» Durch die 1993 in Kraft getretenen Maastrichter Verträge wurde der Vertrag über die Europäische Union begründet (Abschnitt 1.4.2.2). Art. 2 sieht in der Neufassung des Vertrages nun die allgemeinen Ziele der Europäischen Union darin, • «eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, • ein beständiges • nichtinfiationäres und • umweltverträgliches Wachstum, • einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, • ein hohes Beschäftigungsniveau, • ein hohes Maß an sozialem Schutz, • die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, • den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und • die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.» 10 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung *CNRARP! #N%#B, : RFAALF>FbLBdf&)A)( : %.bNbdf&)A)( : %@9F",N"HF&B* @"H ! "A>)J(&@".Bdf&)A)( : e)"N"=* @"H e)B(N&df&)A)( : cF&H* @"H R<,b@".Bdf&)A)( FAJ' RNJ,BA@$ V$>F&ABJ,@A= #FBJ,<DA).@". TFbAF)&@". abF)B")? FN@ PN,&@".BL)&N"= 'R#N# Abb. 1/ 4: Wirtschaftspolitisches Zielsystem <?page no="41"?> Innerhalb der Maastrichter Verträge ist insbesondere der sog. Stabilitätspakt von Bedeutung. Er definiert vier Konvergenz-Kriterien, die Staaten erfüllen müssen, die dem gemeinsamen Euro-Währungsraum angehören bzw. beitreten wollen: • Preisstabilität (es heißt dort so, gemeint ist Stabilität des Preisnif veaus; wir gehen im Kapitel 4 darauf ein): Die Inflationsrate darf höchsten 1,5 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen, • Schuldenstand: Die öffentliche Verschuldung darf insgesamt maximal 60% des Bruttoinlandprodukts ausmachen. • Neuverschuldung f : Das aktuelle Defizit des Staatshaushalts darf maximal 3% des Bruttoinlandprodukts betragen. • Zinsen: Der langfristige Kapitalmarktzins darf maximal 2 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen. Um es hier schon einmal anzusprechen (wir vertiefen dies im Kapitel 12: Wechselkurs- und Währungspolitik): Die Einhaltung der Konvergenzkriterien wird von der Europäischen Union überwacht. Während beispielsweise Litauen 2006 der Beitritt zum Euroraum wegen einer minimalen Abweichung vom Kriterium der Inflationsrate verschoben wurde, durfte Deutschland ungestraft mehrere Jahre lang das Kriterium der Neuverschuldung verletzen. Zudem stellte sich (auch 2006) heraus, dass alle Mitgliedsstaaten der Währungsunion außer Deutschland und Luxemburg viele Jahre lang - besonders krass Griechenland - ihre Daten vor dem Beitritt zur Währungsunion durch «kreative Buchführung» geschönt hatten… Die so skizzierten wirtschaftspolitischen Zielsetzungen ergeben also - je nach Abgrenzung und Berücksichtigung - ‹magische› Vier-, Fünf-, Sechs- oder Nochmehr-Ecken. Abb. 1/ 5 zeigt eine Prognose bezüglich der als wichtigsten angesehen Ziele. 1.2.3. Wirtschaftspolitische Handlungsfelder und Instrumente Es ist in sehr vielen Fällen nur schwer möglich, wirtschaftspolitische Ziele und Mittel (Instrumente, Maßnahmen) sauber voneinander zu trennen. Die Komponenten der Magischen Vielecke sind ja kein Selbstzweck, sondern letztlich wiederum Mittel zum Zweck. Den wirtschaftspolitischen Zielen ist eine andere Zielebene übergeordnet, die gesellschaftspolitische Ziele enthält, deren Orientierung man wohl mit ‹freiheitlich›, ‹sozial› und ‹demokratisch› beschreiben kann (dies ist nicht parteipolitisch gemeint! ). Sie sollen - etwas pathetisch formuliert - dem Glück und Wohl der Bürger dienen. So gesehen sind 1.2. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 11 <?page no="42"?> 12 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 1,2 2001 0,1 2002 -0,2 2003 1,6 2004 0,9 2005 1,8 2006 1,2 2007 Bruttoinlandsprodukt real. Veränderung zum Vorjahr in Prozent 2,0 2001 1,4 2002 1,0 2003 1,7 2004 2.0 2005 1,6 2006 2,5 2007 Inflation Rate in Prozent 4,75 2,5 3,0 2001 1,5 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 Leitzinsen Euroraum in Prozent 2,9 2001 3,7 2002 4,0 2003 3,7 2004 3,3 2005 2,9 2006 2,0 2007 Staatsdefizit in Prozent des BIP 0 2001 3,2 2002 4,2 2003 8,0 2004 6,5 2005 8,5 2006 7,0 2007 Welthandel real. Veränderung zum Vorjahr in Prozent 9,4 10,2 11,7 2001 9,0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 9,5 10,0 10,5 11,0 11,5 Arbeitslosigkeit Quote in Prozent Die Prognosen der Institute für 2006 und 2007 Abb. 1/ 5: Prognosen der Institute für 2006 und 2007 <?page no="43"?> alle gerade definierten Ziele also eigentlich Instrumente. Dies gilt analog für bestimmte Bereiche der Wirtschaftspolitik, die sicherlich auch keine Endziele darstellen. Dabei ist z. B. zu denken an die Wettbewerbspolitik oder die Strukturpolitik. Ganz sicher ist die Förderung und Aufrechterhaltung des marktwirtschaftlichen freien Wettbewerbs für sich genommen ein wirtschaftspolitisches Ziel, aber ebenso sicher hat die Wettbewerbspolitik instrumentalen Charakter z. B. hinsichtlich der ‹Stabilitätsziele›. Ist sie also selbst Ziel oder hat sie instrumentalen Charakter, z. B. für die Strukturpolitik? Oder umgekehrt? Es ist daher ausgesprochen schwer, systematisch sauber zwischen wirtschaftspolitischen Zielen und Instrumenten zu trennen. Eine konsistente Zielpyramide lässt sich objektiv nicht ableiten; dies wird grundsätzlich von Werturteilen geprägt sein. Wir werden daher auch gar nicht den Versuch unternehmen, ein umfassendes Zielsystem abzuleiten. Eindeutig instrumentalen Charakter allerdings haben Handlungsfelder, die man z. B. als Zinspolitik oder Steuerpolitik bezeichnet. Abschnitt 1.4 wird verdeutlichen, wie mit dem Ziel-Mittel- Problem in diesem Buch umgegangen wird. 1.2.4. Wer ‹macht› Wirtschaftspolitik? Der Willensbildungsprozess hängt zusammen mit der Frage «Wer macht Wirtschaftspolitik? » Die Standardantwort ist meist: «Der f Staat! » Dies ist zwar richtig, aber nicht vollständig. Der Staat auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene ist ein wesentlicher Träger der Wirtschaftspolitik. Wirtschaftspolitische Impulse gehen aber auch von den Parafisci aus. Parafiskalische Institutionen verfolgen öffentliche Zwecke, verwalten sich selbst, verschaffen sich ihre Einnahmen durch Zwangsbeiträge, Gebühren oder Steuern, verfolgen aber keine Gewinnziele. Zu den Parafisci zählen u. a. die Sozialversicherungsträger, die Kirchen, die Bundesbank, berufsständische Kammern, aber auch die Technischen Überwachungsvereine (TÜV) u. v. a. Diese Träger der Wirtschaftspolitik werden ergänzt durch den Internationalen Währungsfonds oder die Europäische Union, welche die nationale Wirtschaftspolitik mit beeinflussen können. Wirtschaftspolitik ‹machen› auch die Sozialpartner, d.h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, sowie Interessenverbände. Damit wird deutlich, dass ‹Wirtschaftspolitik› nicht nur staatliche Wirtschaftspolitik bedeutet, sondern die Gesamtheit von Entscheidungen und Maßnahmen, die das wirtschaftliche Geschehen beeinflussen. Nicht zu vergessen ist schließlich auch der Einfluss von Beratungsgremien und Experten, welche die Entscheidung der eigentlichen Entscheidungsträger wesentlich mit- oder auch vorbestimmen können. 1.2. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 13 <?page no="44"?> Der Einfluss inoffizieller Gestalter der Wirtschaftspolitik ist nicht zu unterschätzen, aber schwer abzuschätzen. Von besonderer Bedeutung sind sog. Lobbyisten (Abb. 1/ 6). Der Begriff hat oft einen leicht negativen Beigeschmack, doch ist der Lobbyismus im positiven Sinn ein integraler Bestandteil einer parlamentarischen Demokratie. Wer als Lobbyist fungiert, ist kaum abzugrenzen. Es gibt allerdings eine offizielle «Akkreditierungsliste», also eine Registrierung von Lobbyisten bei der Bundesregierung und beim Bundestag. Rund 3000 Vertreter von Unternehmen, Verbänden und Organisationen sind in Berlin registriert; dazu kommen eine große Zahl «freiberuflicher» Lobbyisten, die ihren Service als Dienstleistung vermarkten. Grob geschätzt gibt es rund 20mal mehr registrierte Lobbyisten, als Abgeordnete im Bundestag sitzen. Sie haben vielleicht mehr Einfluss als die jeweilige Opposition, wobei die Grenze zwischen sachlicher Beratung und interessenbedingter Beeinflussung fließend ist. Die Querverbindungen zwischen Regierung, Parlament, Verwaltungen und privater Wirtschaft sind immens: Sachverständige Fachvertreter werden bei Gesetzesvorlagen als Experten in Hearings und Konferenzen gehört, Politiker wechseln in Führungspositionen oder als Lobbyisten in die Industrie oder umgekehrt (Abb.1/ 7), Verbandsvertreter sitzen im Bundestag, Parlamentarier üben Aufsichtsratsmandate aus, Verbände steuern auf Parteitagen Stimmenblöcke. Über die Kandidatenaufstellungen in den Wahlkreisen schließt sich der Kreis oft wieder; Spenden fließen direkt oder indirekt, zweckgebunden oder frei an die Parteien. Diese finanzieren ihre Etats zwischen 10 und 30 Prozent aus Parteispenden. Um Missverständnissen vorzubeugen: All dies ist absolut legal, Ausnahmen bestätigen die Regel. Von zunehmender Bedeutung ist 14 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung Für Generäle und Ministeriale gibt es kaum noch Platz in der Lobby Unternehmensvertreter mit ” Stallgeruch” werden bevorzugt “In Brüssel geht nichts ohne Interessenvertreter“ Unternehmen und Verbände brauchen Lobbyisten Die Europäische Union bezahlt viele Nichtregierungsorganisationen für Lobbyarbeit in Brüssel <?page no="45"?> auch die Präsenz von Interessenvertretern in Brüssel, da supranationales Gemeinschaftsrecht in vielen Bereichen nationales Recht verdrängt (vgl. Abschnitt 1.4.2). Lobbyisten pflegen ihr berufliches Image dadurch, dass sie sich nicht als Interessenvertreter, als Bittsteller verstehen, sondern als Politikberater und Kommunikationsberater. Das ist fachlich wohl auch in vielen Fallen erforderlich, denn die Sachkunde für politische Entscheidungen, die bestimmte Wirtschaftsbereiche betreffen, kann nicht immer hinreichend bei den Entscheidungsträgern in Regierung, Verwaltung und Parlament konzentriert sein. Umgekehrt sind viele Parlamentarier und ehemalige Beamte auch als Firmenberater tätig. Es dürfte deutlich werden, dass dieses Geflecht von Mandaten, Funktionen und Interessen nur sehr schwer zu durchschauen ist; auch Insider überblicken nur selten mehr als ihren speziellen Fachbereich. Es hat vielfältige Ansätze gegeben, hierfür eine rechtliche Struktur zu entwickeln, doch es ist meist bei Vorschlägen geblieben. Wir wollen dies hier nicht vertiefen. Wirtschaftspolitik umfasst also sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Maßnahmen und Entscheidungen. Ganz allgemein werden die Verfassungsorgane und damit in Einklang staatliche Instanzen die Rahmenbedingungen setzen, innerhalb derer sich das konkrete Wirtschaften vollzieht. In den staatlichen Kompetenzbereich fallen 1.2. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 15 Abb.1/ 7: Lobbyismus II ll Quelle: k Tresckows hb Nachbörse, FAZ <?page no="46"?> insbesondere rechtliche Gegebenheiten wie die Eigentumsverfassung, das Steuerrecht oder das Arbeitsrecht (vgl. dazu anschließend Abschnitt 1.3.1), aber auch inhaltliche Variable wie das Zinsniveau oder der Wechselkurs des Euro gegenüber ausländischen Währungen. Es dürfte aber auch klar sein, dass Wirtschaftspolitik nicht Selbstzweck ist: Zwar setzt Wirtschaftspolitik bei der Beeinflussung gesamtwirtschaft ff licher (makroökonomischer) Größen an, doch vollzieht sich die eigentliche wirtschaftliche Aktivität auf der einzelwirtschaftlichen (mikroökonomischen) Ebene der Unternehmen und der privaten Haushalte, ergänzt durch staatliche Institutionen und ggf. Unternehmen. Für den Erfolg der konkreten wirtschaftlichen Aktivitäten sind die Rahmenbedingungen, die von der Wirtschaftspolitik gesetzt werden, jedoch nur notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen, denn wie es so schön heißt: Man kann das Pferd zwar zur Tränke führen, aber saufen muss es schon allein. In diesem Sinne werden wir uns in diesem Buch vorrangig, wenngleich nicht ausschließlich, mit den gesamtwirtschaftlichen Aspekten befassen. Auf mikroökonomische Aspekte kann i.d.R. nicht eingegangen werden; für einige Punkte können dabei die schon erwähnten, ergänzenden UTB-Lehrbücher des Autors Volkswirtschaftslehre und Außenwirtschaft für Unternehmen herangezogen werden. 1.3. Marktwirtschaft und Wirtschaftsordnung 1.3.1. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftssystem Als Wirtschaftsordnung bezeichnet man die Gesamtheit aller Regelungen, die das wirtschaftliche Geschehen in einer Volkswirtschaft gestalten und beeinflussen; wir werden dies gleich inhaltlich etwas präzisieren. Sprachlich besteht meist eine erhebliche Verwirrung - auch in der Literatur - hinsichtlich der Begriffe Wirtschaftsordnung und Wirtschaftssystem. Zwei hauptsächliche Versionen sind zu unterscheiden: (1) Die wohl am meisten verwendete Unterscheidung zwischen Wirtschaftssystem und Wirtschaftsordnung geht auf Walter Eucken (1891-1950) zurück. Dabei wird zwischen zwei gegensätzlichen Wirtschaftssystemen unterschieden: der privatwirtschaftlich organisierten (freien) Marktwirtschaft und der Zentralverwaltungswirtschaft. Diese beiden - auch als Idealtypen bezeichneten - Modelle sind in reiner Form nie und nirgendwo realisiert worden. In der Rea- 16 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="47"?> lität ergaben sich jeweils Wirtschaftsordnungen, die den Idealbildern mehr oder weniger nahe kommen (Abb. 1/ 8). Dabei gibt es verschiedene Abstufungen, auf die im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird. Hier sollen zunächst die Grundbegriffe definiert werden. (2) Während bei Eucken die Art der Planung als wesentliches Unterscheidungskriterium gilt, versucht Werner Sombart (1863-1941) zur Charakterisierung eines Wirtschaftssystems alle Einflüsse zu erfassen, die den Wirtschaftsablauf und die Wirtschaftsgesinnung bestimmen und kennzeichnen (vgl. Abb. 1/ 9). Hierzu zählen neben der Art der Wirtschaftsplanung und der Koordination der staatlichen und privaten Aktivitäten (z. B. durch den Marktmechanismus, Anweisungen, Wahlen oder Vereinbarungen) auch unterschiedliche Eigentumsformen (Privateigentum, Kollektiveigentum), Unternehmensformen, Motivationssysteme (z. B. Leistungsanreize, Zwang), Geldformen, die angewandte Technologie und die politische, soziale und kulturelle Rahmenordnung (man denke z. B. an das islamische Verzinsungsverbot). Ein so im Sombart‘schen Sinne beschriebenes Wirtschaftssystem ist also - wenn man ein bestimmtes Land betrachtet - mit demselben Erfahrungsobjekt identisch, das Eucken für eben dieses Land als Wirtschaftsordnung bezeichnen würde. Offensichtlich ist der Ansatz von Sombart sehr viel umfassender als der von Eucken. Wir werden 1.3 k h f Marktwirtschaft d und h f d Wirtschaftsordnung 17 %2<9; "4#89; ; 1; 9: ,: 0)*0<: 9: %2<9; "4#89; )<! *7*6: * 0)*0<: 9: %2<9; "4#89; )<! *7*6: * $&% ( $: *9<#.5: <3#.97*6; 32<9; "4#89 '#<0932<9; "4#89 $&% Abb. 1/ 8: f f Wirtschaftssysteme und Wirtschaftsordnungen I: nach Eucken <?page no="48"?> in diesem Buch grundsätzlich für konkrete Tatbestände den Begriff Wirtschaftsordnung verwenden. Im Hinblick auf die rechtliche Verankerung von Wirtschaftsordnung/ -system wird jedoch recht einheitlich von Wirtschaftsverfassung gesprochen. Sie entspricht auch in rechtlicher Hinsicht dem Verfassungsbegriff: In Deutschland. werden im Grundgesetz wesentliche Rahmenbedingungen und Grundtatbestände des Wirtschaftens normiert, u. a. die Staatsordnung, die Freiheitsrechte und die Finanzbeziehungen zwischen den Gebietskörperschaften (Finanzverfassung). Auf der Ebene einfacher Gesetze wird die Geldverfassung geregelt (u. a. durch das Gesetz über die Deutsche Bundesbank, das Gesetz über das Kreditwesen und andere Gesetze über das Währungs-, Geld und Münzwesen), ferner die Wettbewerbsverfassung (u. a. durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) und die Arbeits- und Sozialverfassung (u. a. durch das Tarif-, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht). 1.3.2. Aktuelle Entwicklungen Der Wettbewerb der Wirtschaftssysteme hat sowohl wissenschaftlich als auch politisch eine lange Tradition. Nirgendwo auf der Welt gab und gibt es ein einziges Land, welches einem der beiden extremen Leitbilder Marktwirtschaft (in der klassischen Reinform) und Zentralverwaltungswirtschaft entsprach bzw. entspricht. Vielmehr gibt es eine große Vielfalt unterschiedlicher Wirtschaftsordnungen (Eucken) bzw. -systeme (Sombart), die sich mehr oder weniger deutlich dem 18 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <*5028,: 1022? 203= %90*+: 0*9; 22? 203= &->0-5 $9>*0*28,32 #? 203= ! ; 035; 3,=3; 2195=3; '3>6195=3; "38,; 9>9.*3 (*.3; 0-=2195=3; %: 5)0195= <*528,: 1027>: ; -; . Abb. 1/ 9: Wirtschaftssysteme und Wirtschaftsordnungen II: nach Sombart <?page no="49"?> einen oder anderen Extrembild annähern bzw. zuordnen lassen. Bereits vor der ordnungspolitischen Revolution der 90er Jahre (vgl. unten) gab es daher eine Diskussion darüber, ob nicht eine Tendenz zur Annäherung der Wirtschaftssysteme bestünde. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es dabei eine sehr umfassende Literatur, welche sowohl die verschiedenen Ordnungen beschreibt als auch jeweils nachzuweisen versucht, dass - je nach Standort - das eine Wirtschaftssystem dem anderen «nachweislich» überlegen ist. Die Macht des Faktischen mit dem «Sieg» der marktwirtschaftlichen Konzeption (vgl. die folgenden Ausführungen) ändert jedoch wenig an der Tatsache, dass eine marktwirtschaftliche Orientierung ein Werturteil ist. 1.3.2.1. Konvergenz der Wirtschaftsordnungen? Aufgrund der Erfahrungen und Ausprägungen konkreter Wirtschaftsordnungen stellte die sog. Konvergenztheorie die These auf, dass sich die an Marktwirtschaft bzw. Zentralverwaltungswirtschaft orientierten Wirtschaftsordnungen mehr und mehr annähern und möglicherweise sogar ineinander übergehen (konvergieren). Im Rahmen markt-wirtschaftlicher Ordnungen finden sich u. a. folgende zentralverwaltungswirtschaftliche Elemente: zunehmender staatlicher Einfluss, u. a. gemessen am Staatsanteil am Inlandsprodukt (Staatsquote); staatliche Interventionen und Regulierungen in vielen Bereichen; direkte Eingriffe in die Preis- und Lohnbildung; zunehmend umfassendere, nicht mehr indikative staatliche Planung. Umgekehrt fanden sich in zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnungen marktwirtschaftliche Elemente wie leistungsorientierte Lohnsysteme, zunehmende Bedeutung des Konsumbereichs in der staatlichen Planung, Anerkennung des Zinses als Kostenfaktor, Planung in Geldstatt Mengengrößen. Ob es jemals tatsächlich zu einer Angleichung der Wirtschaftsordnungen gekommen wäre, ist höchst fraglich, weil neben wirtschaftlich-pragmatischen Uberlegungen politische und ideologische Aspekte von ausschlaggebender Bedeutung sind. Immerhin waren historisch Annäherungstendenzen im ökonomischen Bereich erkennbar, wobei zu unterstellen ist, dass jeweils versucht wurde, bei Problemen, die mit ‹eigenen› Mitteln nicht lösbar sind, Anleihen beim ‹anderen› Wirtschaftssystem zu machen, um so die positiven Aspekte beider Wirtschaftssysteme (in unterschiedlicher Weise) miteinander zu kombinieren. Solche Wirtschaftsordnungen, die nicht mehr eindeutig dem einen oder anderen ‹reinen› Idealtyp zuzuordnen sind, bezeichnet man als gemischte Wirtschaftsordnungen d (‹mixed economies). Beispiele finden bzw. fanden (hierzu gleich) sich in vielen Entwicklungsländern, aber auch in einigen Industrieländern. 1.3 k h f Marktwirtschaft d und h f d Wirtschaftsordnung 19 <?page no="50"?> Häufig findet man die Gleichsetzung von Marktwirtschaft und Demokratie auf der einen Seite und von Zentralverwaltungswirtschaft und Diktatur auf der anderen. Zwar kann man sagen, dass es günstig ist, wenn sich die Grundprinzipien von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entsprechen, doch ist dies nicht in jedem Fall zwingend. So gibt es Beispiele diktatorisch geführter Staaten, die marktwirtschaftlich orientiert sind bzw. waren (so Chile unter Pinochet, zeitweise auch Argentinien), und andererseits kann die Entscheidung über einen zentralen Plan demokratisch legitimiert werden. Dieses Problem liegt aber außerhalb des Rahmens unserer einführenden Betrachtungen. 1.3.2.2. Die ordnungspolitische Revolution der 9 r 0er Jahre Der Zusammenbruch des sog. «Ostblocks», d.h. der zentralverwaltungswirtschaftlich-sozialistjschen Wirtschaftsordnungen löste eine Art Domjnoeffekt aus: Die ursprünglichen Ostblock-Länder waren im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) organisiert (englisch COMECON: Council for Mutual Economic Cooperation). Der RGW war 1949 gegründet worden, um ein Gegengewicht zum Marshall-Plan, dem European Recovery Programme (ERP) zu schaffen. Gründungsmitglieder waren die UdSSR, Bulgarien, Polen, Rumänien und Ungarn, später kamen Albanien, die DDR, die CSSR, die Mongolei, Kuba und Vietnam als Vollmitglieder hinzu; Afghanistan, Athiopien, Angola, Laos, Mozambique und die Volksrepublik Jemen, bis 1966 auch China, hatten Beobachterstatus; mit Jugoslawien bestand ein Assoziierungsabkommen, mit Finnland, Guayana, Irak, Jamaika und Mexiko Kooperationsabkommen. Der RGW hat sich 1991 nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Zerfall des Ostblocks als Institution aufgelöst. In den über 40 Jahren seines Bestehens hat der RGW viel Anschauungsmaterial dafür geliefert, welche Probleme sich bei dem Versuch ergeben, sehr heterogene Volkswirtschaften mit einem komplexen Planungssystem zu verzahnen. Nach dem Zusammenbruch des RGW haben die ehemaligen Ostblockländer begonnen, ihre Wirtschaftsordnungen umzustrukturieren und sich am marktwirtschaftlichen Leitbild zu orientieren (sog. Reformstaaten oder Transformationsländer). Die bisher von staatlichen Stellen ausgeübten Funktionen mussten bzw. müssen von privaten (oder neu zu strukturierenden staatlichen) Aktivitäten ersetzt werden, institutionell muss u. a. ein Bankensystem mit Geld- und Kreditmärkten und ein staatliches Finanzsystem mit einem Steuersystem und einem Finanzausgleich aufgebaut werden. Ein derartiger Strukturwandel ist nicht in wenigen Jahren zu vollziehen und betrifft 20 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="51"?> vor allem nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen, sozialen, juristischen - praktisch alle Lebensbereiche. Dies belegen im eigenen Land auch die anhaltenden, massiven Probleme in den neuen deutschen Bundesländern, die ja auch nachhaltig auf die alten Bundesländer ausstrahlen. Parallel zu den Kernländern des ehemaligen Ostblocks haben auch viele Entwicklungsländer erkennbar ihre Strategie verändert: Mit dem Wegfall planwirtschaftlich-sozialistischer Kapitalgeber und Handelspartner orientieren sich viele Entwicklungsländer neuerdings am marktwirtschaftlichen Konzept. Dabei geraten sie allerdings in eine harte Konkurrenz vor allem mit den osteuropäischen Ländern, denn aus westlicher Sicht sind die Beziehungen nach Osten heute oft sehr viel erfolgsversprechender als zum sog. Süden. Direktinvestitionen, Kapitalhilfe und technische Hilfe, die früher von Nord nach Süd flossen, gehen heute tendenziell eher nach Osten. Die Entwicklungsanstrengungen vieler Entwicklungsländer werden dadurch spürbar erschwert werden. Dies gilt ungeachtet der Auffassung des Autors, dass so manches Entwicklungsländerproblem auch nachhaltig intern (selbst) verschuldet worden ist. Externe Ursachen verschärfen die Situation zusätzlich. Diese These von der Eigenverantwortlichkeit der Entwicklungsländer, die keinesfalls externe Faktoren verharmlosen will, kann hier aber nicht vertieft werden. 1.3.3. Marktwirtschaft als Zielvorgabe Das deutsche Stabilitätsgesetz gibt durch die Formulierung »im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung» in seinem o. a. Paragraphen 1 eine Rahmenbedingung für die staatliche Wirtschaftspolitik vor. Dies ist insofern bemerkenswert, als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in ordnungstheoretischer Hinsicht neutral ist: Es findet sich keinerlei Festlegung auf eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung. Aus vielen anderen Regelungen ergibt sich jedoch eine klare marktwirtschaftliche Orientierung, die u. a. ein zentralistisches, zentralplanerisches Konzept ausschließt: Zu denken ist dabei an die Garantie privaten Eigentums, Gewerbefreiheit, Handlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit, die Festlegung auf einen ‹republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat›, etc. Ende 1993 hat die Gemeinsame Verfassungskommission nochmals bekräftigt, dass die Soziale Marktwirtschaft nicht explizit im Grundgesetz verankert werden soll. Dies hat u. a. den Grund, dass der Begriff Soziale Marktwirtschaft rechtlich nicht eindeutig zu präzisieren ist und eine Reihe von Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Verfassungsrechtlich wäre dies also bedenklich. 1.3 k h f Marktwirtschaft d und h f d Wirtschaftsordnung 21 <?page no="52"?> Ohne der ausführlichen Betrachtung im Kap. 9 (Wirtschaftspolitische Konzeptionen) vorgreifen zu wollen, werden im folgenden einige Charakteristika der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland skizziert. (1) Das Konzept einer reinen Marktwirtschaft bezieht sich prinzipiell auf eine Staats- und Gesellschaftsordnung, in der dem Staat nur Aufsichts- und Ordnungsfunktionen zukommen, während er sich jeglicher Beeinflussung des Wirtschaftsgeschehens enthält (sog. «Nachtwächterstaat» (polemisch) oder (gutmütig) «Iaissez-faire»-Wirtschaft. Der größtmöglichen Freiheit im Hinblick auf wirtschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten steht dabei jedoch die Erfahrung gegenüber, dass in einem ‹ökonomischen Dschungelkampf› nicht jeder überleben kann. (2) Der Staat übernahm daher neben der Ordnungsfunktion im Sinne einer Gestaltung der Rahmenbedingungen die Funktion der sozialen Absicherung und Umverteilung, um sozial untragbare ökonomische Ungleichheiten abzumildern. Vom Grundprinzip her enthält sich der Staat auch in einer sozialen Marktwirtschaft in diesem engeren Sinn (‹reine› soziale Marktwirtschaft) jeder weitergehenden Beeinflussung des Wirtschaftsgeschehens. Zwar gehen selbstverständlich von den Rahmenbedingungen her auch Einflüsse auf die konkreten wirtschaftlichen Handlungen aus, doch wird der Staat darüber hinaus nicht selbst ökonomisch aktiv. (3) Aber auch eine soziale Marktwirtschaft im engeren Sinne wird mit dem Problem konfrontiert, dass im Gegensatz zur ökonomischen Theorie sich in der Praxis Krisen (« Marktstörungen») nicht von selbst behoben, sondern im Gegenteil eine Tendenz zu ständigen Ungleichgewichten bestand. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis ist John Maynard Keynes‘ - für seine Zeit revolutionäre - Theorie der Staatseingriffe zu sehen, deren Grundprinzipien sich in modifizierter Form in der Weiterentwicklung der Marktwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft mit Globalsteuerung in der Bundesrepublik wiederfinden. In der Bundesrepublik erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Eindruck des Zentralismus des Dritten Reiches, eine konsequente Rückbesinnung auf die Prinzipien freier Marktwirtschaft, jedoch mit der Ergänzung, dass der Staat aus sozialer Verantwortung bestimmte Funktionen zu übernehmen hat, die privatwirtschaftlich nicht zu erfüllen sind. Daneben versucht der Staat, mit global wirkenden, also die gesamte Wirtschaft betreffenden Maßnahmen, Schwankungen des Wirtschaftsablaufs zu dämpfen, was unter der Bezeichnung antizyklische Wirtschaftspolitik geläufig ist. In diese Entwicklungsphase der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesre- 22 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="53"?> publik, die anfangs mit dem Namen Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard, und hinsichtlich der Komponente der Globalsteuerung mit Karl Schiller und Otto Schlecht verbunden ist, fällt auch die Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes und die Bildung der damaligen konzertierten Aktion 1 . (4) Die heutige Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland enthält zusätzlich zu den bisherigen Komponenten interventionistische Elemente. Der Staat beschränkt sich nicht auf globale Maßnahmen, sondern greift punktuell und gezielt in einzelnen Sektoren der Wirtschaft regelnd bzw. steuernd ein («gelenkte Marktwirtschaft»). Dies gilt in augenfälliger Weise für die Marktordnung im Agrarbereich der Europäischen Gemeinschaft, aber auch für Interventionen im Bergbau, im Schiffbau oder in der Stahlindustrie. Wenn man die heutige Wirtschaftsordnung als ‹Soziale Marktwirtschaft› etikettiert, spiegelt sich darin auch ein Verständnis des Begriffs der sozialen Verantwortung des Staates wider, wonach der Staat nicht wirtschaftspolitisch abstinent sein und lediglich (passiv) sozial absichern soll, sondern auch den Wirtschaftsablauf (aktiv) mitgestaltet. Die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland wird - wie in anderen Ländern auch - durch rechtliche Regelungen definiert und abgesichert. Die konkrete Wirtschaftspolitik des Staates und die Aktivitäten aller privaten und staatlichen Akteure vollziehen sich innerhalb dieses rechtlichen Rahmens. Aufgrund der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben sich daraus eine Reihe von rechtlichen Besonderheiten, da das wirtschaftliche Geschehen - wie alle anderen Politikbereiche auch - nicht nur durch den deutschen Gesetzgeber geregelt werden kann, sondern auch durch Rechtsakte der Europäischen Union. Der folgende Abschnitt geht darauf ein und versucht, die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Rechtsebenen zu verdeutlichen. 1.3 k h f Marktwirtschaft d und h f d Wirtschaftsordnung 23 1 Begriff für eine zwischen den Sozialpartnern und dem Staat abgestimmte W tsc a tspo t . s st tut o st d e . . po t sc gesc e te t. Wirtschaftspolitik. Als Institution ist die K. A. politisch gescheitert. <?page no="54"?> 1.4. Nationales, internationales und supranationales Recht 1.4.1. Zusammenhang zwischen den Rechtsebenen Als nationales Recht sind die Normen zu verstehen, die aus der nationalen Rechtsetzung hervorgegangen sind. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland sind dies die im jeweiligen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren verabschiedeten Bundes- und Landesgesetze und die sich daraus jeweils ableitenden Rechtsverordnungen. Supranationales Recht ist solches Recht, das dem nationalen Recht übergeordnet ist, indem es nationales Recht ‹bricht›: Nationale Rechtsnormen, die dem supranationalen Recht entgegenstehen, sind dadurch automatisch nichtig (vgl. weiter unten). Zum supranationalen Recht zählt in unserem Zusammenhang vor allem das Recht der Europäischen Gemeinschaften (Gemeinschaftsrecht). Internationales Recht (Spezielles Völkerrecht; Völkervertragsrecht) besteht aus Abkommen und Verträgen, denen die Bundesrepublik - bzw. die EU - beigetreten ist bzw. die sie unterzeichnet haben und die in jedem Falle, um auf nationaler oder supranationaler Ebene Rechtskraft zu erhalten, transformiert und ratifiziert werden müssen; beispielsweise ein internationales Umweltabkommen (vgl. Abschnitt 1.4.4). Damit ergibt sich der in der Abb. 1/ 10 dargestellte Aufbau der verschiedenen Rechtsebenen, die nicht nur für die Wirtschaft relevant sind. 1.4.2. Supranationales Recht 1.4.2.1. Allgemeines Völkerrecht Die oberste Ebene bildet als supranationales Recht das zwingende, allgemeine Völkerrecht. Dieses umfasst die rechtlichen Regeln für die Beziehungen zwischen den Staaten und internationalen Institutionen der Internationalen Staatengemeinschaft. Das Völkerrecht ist im wesentlichen ungeschriebenes Gewohnheitsrecht sowie formalisiertes Völker-Vertragsrecht. Nur in einigen Bereichen ist das Völkergewohnheitsrecht formalisiert worden, so z. B. im Statut des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag, in der UN-Seerechtskonvention oder der Wiener Vertragskonvention. Wichtige Regelungsbereiche des Allgemeinen Völkerrechts sind u. a. die Stellung der Staaten als Rechtssubjekte (beispielsweise die Möglichkeit, als Staat zu klagen oder verklagt zu werden), die Regelung 24 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="55"?> 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 25 ? ]/ `3; 3^A2; 3; +_ B+0C^ 1+8+A; _0C3F^_' `+0C^ D`A8\`+_ 1B 7`^& $! 11 7`^& #%% 419 B, 7`^& $": 419 7`^& ! : 11 7`^& @%'=$ 11 7`^& $#( $" 11 7`^& $" 11 ? +>]; -\`+_ 1B B,( 9)( 4 7`^& $": 419 7; ; E+8+A; +_ 9Z; >+``+0C^ / *: )>? *@-; ! ,-=<*? *: )>? *@-; -? & 0? : -<? *: )>? *@-; .-(+: <*'B+0C^ .; ^+`; 3^A2; 3; +_ B+0C^ *3^A2; 3; +_ B+0C^ *3^A2; 3; + 6A`^_0C3F^ '9* &%(#0? 3C.0*09* ,A; $9! 9* 90*693"A? 3C >9)<9* Abb. 1/ 10: Rechtsebenen <?page no="56"?> Irak 2003). Derartige Beschlüsse sind für alle Mitgliedstaaten nach Art. 25 der UN-Charta verbindlich, müssen aber dessenungeachtet in nationale Maßnahmen bzw. Rechtsnormen umgesetzt werden, insbesondere, um sie mit nationalen Sanktionsmöglichkeiten bei Zuwiderhandlungen zu verknüpfen. Das Grundgesetz ist insgesamt völkerrechtsfreundlich orientiert; u. a. unterwirft sich die Bundesrepublik gemäß Art. 24 Abs. 3 GG zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Diese ist im internationalen Bereich institutionalisiert durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Der IGH ist formal ein Organ der UNO, urteilt jedoch nicht im Namen der Vereinten Nationen. Er hat 15 Mitglieder verschiedener Staatsangehörigkeit, die von der UN-Vollversammlung und dem UN-Sicherheitsrat in getrennten Wahlgängen für jeweils neun Jahre bestimmt werden. Alle drei Jahre wird ein Drittel der Richter neu gewählt. Faktisch allerdings besteht ein regionaler Proporz, indem vier Richter aus Westeuropa kommen, zwei aus Osteuropa, einer aus den USA, zwei aus Südamerika und je drei aus Afrika und Asien. Der Gerichtsbarkeit des IGH unterstehen nur Staaten, die sich dazu freiwillig bereiterklärt haben, so wie die Bundesrepublik in Art. 24 GG. Der IGH wurde z. B. 1992 von Lybien mit dem seitens des UN- Sicherheitsrates verhängten Embargo gegen das Land befasst, oder 1986 wegen der Verminung von Häfen in Nicaragua durch die USA. Eine etwaige Verurteilung eines Staates durch den IGH hat jedoch praktisch keine Konsequenzen, abgesehen von moralischem und politischem Druck und dem Echo in der Presse. Insbesondere ziehen sich beklagte Staaten oft hinter die Behauptung zurück, dass der IGH keine Kompetenz zur Entscheidung bei politischen Differenzen habe. 1.4.2.2. Gemeinschaftsrecht (1) Exkurs: Europäische Integration Begrifflich und sachlich ergeben sich oft Unklarheiten hinsichtlich der Europäischen Integration. Die Grundlagen der Europäischen Integration wurden durch die Gründungsverträge der drei Gemeinschaften (Plural) gelegt; erstens die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS; 1952; auch Montanunion genannt; «Pariser Vertrag»), zweitens die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG; 1957) und drittens die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM; 19S7; beide zusammen als «Römische Verträge» bezeichnet). Die ursprünglich vollständig getrennten drei Gemeinschaften fusionierten 1965 ihre Organe, so dass es seitdem nur noch einen Ministerrat, eine Kommission und ein Europäisches Parlament gibt (»Fusionsvertrag»). Durch 26 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="57"?> der Hoheitsbereiche, die Rechte und Pflichten der Staaten untereinander (beispielsweise die Verpflichtung, geschlossene Verträge einzuhalten («pacta sunt servanda»: Wiener Vertragskonvention), das Prinzip der Ratifizierung internationaler Abkommen, das Recht auf Hochseefischerei, das Recht der freien Durchfahrt von Handelsschiffen (Beschlagnahmung bedeutet Bruch des Völkerrechts), das Recht der Küstenstaaten am Festlandsockel, die Immunität von diplomatischen Vertretungen, Ersatzpflichten für völkerrechtliche Delikte, die allgemeinen Regeln der internationalen Gerichts- und Schiedsgerichtsbarkeit, etc. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind gemäß Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts, «(...) gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.» Dies bezieht sich allerdings nicht bereits allgemein auf internationale Verträge - wie z. B. Handelsabkommen oder den WTO-Vertrag: Solche Regelungen des Völkervertragsrechts müssen auf die nationale Rechtsebene transformiert werden; vgl. dazu Abschnitt 1.4.4 -‚ sondern vorrangig auf Aspekte der Menschenrechte sowie auf die Notwendigkeit, ggf. nationale Regelungen dem Völkerrecht anzupassen. Nach Art. 100 Abs. 2 GG muss im Zweifelsfall das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob eine Regel des allgemeinen Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie folglich unmittelbare Rechte und Pflichten für den einzelnen erzeugt. Nach Art. 23 und 24 GG können Hoheitsrechte auf supranationale Organe übertragen werden. In der Praxis sind diese Normen in zweierlei Hinsicht relevant: Zum einen sind Hoheitsrechte auf die Organe der Europäischen Gemeinschaft übertragen worden. Im Dezember 1992 wurde der Art. 23 inhaltlich neu in das Grundgesetz aufgenommen (er tritt an die Stelle einer überholten Vorschrift über den Geltungsbereich des GG). Neu und besonders an dieser Norm ist die Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der (politischen) Europäischen Union mitwirkt. Die dazu ggf. erforderliche Übertragung von Hoheitsrechten durch den Bund kann - das ist neu - nur durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen. Bundestag und Bundesrat wirken in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Zum anderen hat der UN-Sicherheitsrat, der nur aus einigen UN- Mitgliedern besteht, nach Art. 24 GG hoheitsrechtliche Kompetenzen, indem er - gestützt auf Artikel 39-51 der UN-Charta - z. B. wirtschaftliche und militärische Sanktionen gegen Staaten verhängen kann, die eine Bedrohung für den Weltfrieden darstellen (konkrete Beispiele: Irak 1990, Lybien 1992, Serbien/ Montenegro 1992, 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 27 <?page no="58"?> Aufnahme neuer Mitglieder ist die Gemeinschaft in bisher vier (fünf) Schritten erweitert worden: • durch die Norderweiterung (Beitritt von Großbritannien, Irland und Dänemark; 1972), • durch die Süd-Erweiterung (Beitritt von Griechenland (1981) und Spanien und Portugal; 1986) und • durch die EFTA-Erweiterung (Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden; 1995) (vgl. auch Abschnitt 13. 7. 2 zur Integration), • durch die Ostererweiterung in zwei Stufen (2004 Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern; 2007 Bulgarien und Rumänien). Zwei wichtige Änderungen bzw. Ergänzungen des primären Gemeinschaftsrechts - abgesehen von den Erweiterungen - sind seit der Gründung erfolgt: • Durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA; 1986, in Kraft seit 1987) wurde die Realisierung des Gemeinsamen Binnenmarktes zum 1.1.1993 beschlossen. Dadurch wurden verschiedene Bestimmungen des EWGV angepasst und andere ergänzt (derartige Hinzufügungen ließen sich an den «Buchstaben-Artikel» erkennen, wie z. B. bei den Art. 130 a-y). Durch den Vertrag von Amsterdam, der den Maastricht-Vertrag 1997 durch einen Stabilitätspakt ergänzte, wurde der Gesamtvertrag redaktionell überarbeitet und alle Artikel fortlaufend neu durchnumeriert. • Durch den Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht; EUV; 1992; in Kraft seit 1. 11. 1993) wurde eine über die ökonomische und monetäre Integration hinausgehende politische Integration beschlossen. Der ursprüngliche Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV (( ) V von 1957 wurde durch die Maastrichter Beschlüsse zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV (( ). V Die Bestimmungen des bisherigen EWGV wurden in weiten Bereichen übernommen, jedoch in einigen Aspekten - den Maastrichter Beschlüssen entsprechend - modifiziert und ergänzt. • Die 3. Stufe der Währungsunion auf der Basis des Vertrags von Maastricht begann am 1. 1. 1999 und war Mitte 2002 abgeschlossen. Die Zollunion mit der Türkei ist seit 1995 in Kraft. Mit verschiedenen Staaten und Staatengruppen führt die EU bilaterale Freihandelsgespräche (MERCOSUR, Kanada); mit den USA wird eine Transatlantische Partnerschaft erörtert. 28 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="59"?> Die Europäische Union steht durch den Maastricht-Vertrag nunmehr auf zwei zentralen Säulen (Abb. 1/ 11). Die erste Säule besteht aus den nach wie vor weiterbestehenden drei Gemeinschaften, wobei die bisherige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nunmehr Europäische Gemeinschaft heißt (EG) (und der EWGV in EGV umbenannt wurde). Diese wurde - dem Vertrag von Maastricht entsprechend - zum 1. 1. 1999 durch die Währungsunion ergänzt. Die zweite Säule umfasst das Bekenntnis zu gemeinsamer Außen-und Sicherheitspolitik und zur Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik. (Hierbei hatte Dänemark erhebliche, mittlerweile überwundene Bedenken gehabt). 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 29 (9 ((* (4' (97 (' ('$= (9! *; "# 4A+6.<-38: ? )1)@ *.>/ <8: ? )1)@ =)2+/ 6+/ )138: ? )1)@ %.31),8: ? )1)@ &<</ <8: ? )1)@ Abb. 1/ 11: Säulen der EU Zentrale Vertragliche Grundlagen der Europäischen Integration: 1952 EGKSV Montanunionsvertrag, Pariser Vertrag 1957 EWGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft plus EURATOM-V sog. Römische Verträge 1986 EEA Einheitliche Europäische Akte zur Verwirklichung des Binnenmarkts 1992 EUV I Europäischer Unionsvertrag von Maastricht 1997 EUV II Europäischer Unionsvertrag von Amsterdam <?page no="60"?> Die Organe der EU sind dieselben wie bisher: Rat, Kommission, Gerichtshof (nunmehr mit zwei Instanzen) und Parlament. Die Kompetenzen des Parlaments sind durch den Maastricht-Vertrag gestärkt worden, u. a. hinsichtlich der Bestellung der Kommissions-Mitglieder. Der Begriff Europäische Union ist also umfassender als der der Europäischen Gemeinschaft und schließt außer der wirtschaftlichen Integration auch die politischen Integrationsansätze ein. Daher werden in diesem Buch sowohl Bezüge zur EU als auch zur EG hergestellt; die EG ist also keineswegs überholt! Insbesondere im Zusammenhang mit der ökonomischen Integration und den wirtschaftlichen Außenbeziehungen gegenüber Drittländern wird in aller Regel der EGV (durch den Maastrichter Vertrag geänderter ehemaliger EWGV) und weniger der EUV selbst (Maastrichter Vertrag) die rechtliche Basis sein. Daher wird auch weiterhin (nicht nur sprachlich) von EG-Richtlinien, EG- Verordnungen und andere EG-bezogenen Begriffen ausgegangen. Zwei ergänzende Aspekte: • Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR), der zum 1. 1. 1994 in Kraft getreten war, war nur eine Durchgangsstation für die drei neuen EU-Mitglieder Finnland, Osterreich und Schweden. Der EWR ist (noch) eine Freihandelszone zwischen der EU und der (Rest-) EFTA 2 , wobei darüberhinaus auch die vier Grundfreiheiten des EU-Vertrages für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital geschaffen wurden. Für einen ‹richtigen› gemeinsamen Markt fehlt(e) dem EWR also nur die gemeinsame Außenhandelspolitik, insbesondere ein gemeinsamer Außenzoll (vgl. Abschnitt 13.7.2.5). Mit dem sog. Schengener Durchgangs-Überwachungs-Abkommen (SDÜ) haben die meisten EU-Mitglieder die Abschaffung von Personenkontrollen an ihren gemeinsamen Grenzen beschlossen (vgl. Abb. 1/ 12). Das Abkommen soll also eine der «vier Freiheiten» des Binnenmarktes (Personenverkehr) unterstützen. Es ist in den Staaten der EU-15 (mit Ausnahme von Großbritannien und Irland), in Island, Norwegen und voraussichtlich ab 2008 auch in der Schweiz und in den neuen EU-Ländern (mit Ausnahme Bulgariens und Rumäniens) gültig. Während in diesen Ländern die Grenzkontrollen weggefallen sind, wird an den Außengrenzen zu Drittstaaten genau kontrolliert. Durch unkontrollierten Grenzverkehr könnten - so fürchten einige Länder nicht zu unrecht - illegale Einwanderer und Drogen «einsickern» und der Asylbewerberstrom 30 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 2 bestehend aus Liechtenstein, Norwegen und Island; die Schweiz als viertes EFTA-Land hat den EWR-Vertrag in einer Volksabstimmung abgelehnt, so dass ein kompliziertes Geflecht aus bilateralen Verträgen als Notlösung fungieren muss. fungieren muss. <?page no="61"?> zunehmen. In der Praxis finden daher zwar nicht an den Grenzen, aber im Grenzgebiet durchaus Personenkontrollen der Polizei (und des Zolls) statt. Und bei «staatsgefährdenden Ereignissen» können -- nach vorheriger Konsultation der Partnerländer - vorübergehend auch Grenzkontrollen eingeführt werden (Frankreich hat dies beispielsweise bei Unruhen durch Migranten aus dem Maghreb getan). (2) Gemeinschaftsrecht und nationales Recht Das Recht der Europäischen Gemeinschaft (Gemeinschaftsrecht) ist eine besondere Ebene, die weder dem nationalen Recht, noch dem Völkerrecht zuzuordnen ist. Die Europäische Gemeinschaft hat als zwischenstaatliche Einrichtung nach dem Völkerrecht dieselben 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 31 Abb. 1/ 12: Schengener Abkommen Dunkel: Mitglieder hell: unterzeichnet, aber keine Anwendung Punkte: interessiert <?page no="62"?> Rechte und Pflichten wie einzelne Staaten, so dass sie auch verbindliches Recht setzen kann. Dieses Recht gilt sowohl für die europäischen Organe als auch für die Mitgliedstaaten, die nationalen Behörden, die nationalen Gerichte und die einzelnen Bürger. Dies beruht aus deutscher Sicht, wie erwähnt, auf Art. 23 und 24 GG. Damit ist das Gemeinschaftsrecht insgesamt dem nationalen Recht übergeordnet (supranationales Recht): Gemeinschaftsrecht ‹bricht› nationales Recht; sofern sich nationales und supranationales Recht im konkreten Fall widersprechen, ist das supranationale Recht anzuwenden. Grundsätzlich sind drei Fälle zu unterscheiden (vgl. Abb. 1/ 13): Fall (a) kennzeichnet den gerade angesprochenen Tatbestand, dass nationales Recht durch Schaffung supranationalen Gemeinschaftsrechts (meist sekundären Gemeinschaftsrechts) ‹überflüssig› (obsolet) geworden ist. Anstelle des nationalen Rechts regelt nun Gemeinschaftsrecht den betreffenden Tatbestand (z. B. im Bereich des Zollrechts). Fall (b) zeigt den Fall, dass es auf der Ebene des Gemeinschafts- 32 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung ,">3*,"1: #3)>@<6"7> ,">3*,"1: @ $: <6> %: .: 3,@<6"7>@& ): <6> ("' (! ' (<' ! )"$$*( >+(( 0*+ ,*& 42)#*&/ )+((*)& )"&1#+/ 1") '*-) 3+.-*)-*+# $%)/ *& Abb. 1/ 13: Gemeinschaftsrecht und nationales Recht <?page no="63"?> rechts (noch) keine Regelung für bestimmte Tatbestände gibt (z. B. im Bereich der Verbrauchsteuern). Dann gilt nach wie vor nationales Recht. Fall (c) tritt dann ein, wenn es zwar supranationale Regelungen gibt, aber aus rechtstechnischen Gründen parallel dazu nationales Recht ‹benötigt› wird, um beispielsweise Tatbestände aus dem Außenwirtschaftsrecht mit Strafsanktionen bedrohen zu können. Ein Verstoß gegen ein Exportembargo beispielsweise kann nach UN- Recht gar nicht sanktioniert werden, nach EU-Recht lediglich mit einer Geldbuße belegt werden und bedarf für eine strafrechtliche Würf digung (Freiheitsstrafe, Geldstrafe) einer nationalen Rechtsnorm: Auf supranationaler Ebene gibt es keine strafrechtlichen Sanktionen. Rechtliche Kontrollinstanz für das Gemeinschaftsrecht ist der Europäische Gerichtshof ( f EuGH in Luxemburg), der mit seiner Rechtsprechung gleichfalls supranationales Recht setzt. Seit 1989 gibt es zur Entlastung des Gerichts eine 1. Instanz beim EuGH, die u. a. für Wettbewerbsfragen und für Individualklagen gegen ein EU-Organ zuständig sind. (3) Formen des Gemeinschaftsrechts (a) Primäres Gemeinschaftsrecht Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ist zu unterscheiden zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht. Das primäre Gemeinschaftsrecht umfasst die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften, also den Vertrag über die g Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ( l EGKS) vom 18. 4. 1951 (sog. Montanunions-Vertrag oder Pariser Vertrag), den t Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. 3. 1957 und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG oder t EURATOM), ebenfalls vom 25. 3. 57. Der EWG- und der EURATOM-Vertrag werden nach ihrem Unterzeichnungsort auch als Römische Verträge bezeichnet. Zum primären Gemeinschaftsrecht zählen auch die Gründungs- und Zusatzprotokolle und -abkommen, die späteren Ergänzungsverträge wie z. B. die Einheitliche Europäische Akte von 1987, der Vertrag von Maastricht von 1992/ 93 sowie die Beitrittsverträge mit neuen Mitgliedern. Das primäre Gemeinschaftsrecht gilt entweder - ohne weitere nationale Umsetzung - unmittelbar für den einzelnen Bürger (z. B. die Regelung des EG-Wettbewerbsrechtes) oder verpflichtet die Organe der Gemeinschaft zum Handeln bzw. die nationalen Gesetzgeber zur Umsetzung in nationales Recht. 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 33 <?page no="64"?> (b) Sekundäres Gemeinschaftsrecht Als sekundäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet man die sich aus dem primären Gemeinschaftsrecht ableitenden Rechtsnormen, z. B. in fachlicher Hinsicht auch das Marktordnungsrecht für den Bereich der Landwirtschaft und das Zolltarifrecht. Gemäß Art. 249 des EG- Vertrages 3 werden dabei folgende Formen unterschieden: (b-1) EG-Verordnungen Eine Verordnung ist allgemeingültig, d.h. sie gilt in allen ihren Teilen unmittelbar in allen Mitgliedstaaten für alle staatlichen Instanzen, Bürger und Institutionen. EG-Verordnungen werden dennoch meist in nationales Recht übernommen, da nur auf der Ebene des nationalen Rechts andere Sanktionen als Bußgelder möglich sind. In ihrer Rechtskraft ähnelt die EG-Verordnung am ehesten dem, was man auf nationaler Ebene als Gesetz bezeichnet, wobei allerdings die erheblichen Unterschiede im Gesetzgebungsverfahren zu berücksichtigen sind: Das Europäische Parlament ist beim Erlass von Verordnungen durch den EU-Rat oder die -Kommission kaum beteiligt. Die wichtigsten, als Grundverordnungen bezeichneten Verordnungen werden vom EU-Ministerrat erlassen, Ausführungsbzw. Durchführungsverordnungen dazu in der Regel von der EU-Kommission. Letztere kommen - obgleich der Vergleich bedenklich ist - noch am ehesten einer nationalen Rechtsverordnung nahe (beispielsweise der Außenwirtschaftsverordnung, AWV). Die EG-Verordnungen sind nach dem EGV- VV Vertrag zu begründen und werden im Amtsblatt der Gemeinschaft veröffentlicht. Die folgenden Beispiele machen auch den Unterschied zwischen Grundverordnungen und Durchführungsverordnungen deutlicher. • Verordnung (EWG) Nr. 4064/ 89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. • Verordnung (EWG) Nr.295/ 91 des Rates vom 8. April 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienverkehr (Anmerkung des Autors: dies betrifft Überbuchungen). • Verordnung (EWG) Nr. 1394/ 91 der Kommission von 27. Mai 1991 zur Anderung der Liste im Anhang der Verordnung (EWG) Nr. 3664/ 90 zur Festlegung der Liste der Schiffe mit einer Länge über alles von mehr als 8 m, die in bestimmten Gebieten der Ge- 34 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung 3 de assu g des Ve t ags vo ste da vo 997. In der Fassung des Vertrags von Amsterdam von 1997. <?page no="65"?> meinschaft mit Baumkurren, deren Gesamtbaumlänge mehr als 9 m beträgt, auf Seezunge fischen dürfen. • Verordnung (EG) Nr. 362/ 1999 der Kommission vom 18. Februar 1999 zur Einführung eines vorläufigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Kabeln und Seilen aus Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China. • Verordnung (EG) Nr. 1834/ 1999 der Kommission vom 24. August 1999 zur Einstellung der Fischerei auf Wittling durch Schiffe unter der Flagge Schwedens. • Verordnung (EG) Nr. 1867/ 2004 der Kommission vom 28. Oktober 2004 zur Festsetzung der repräsentativen Preise und der zusätzlichen Einfuhrzölle für Melasse im Zuckersektor ab dem 29. Oktober 2004. (b-2) EG-Richtlinien Im Unterschied zur Verordnung, die in jedem Mitgliedstaat gilt, ist eine EG-Richtlinie für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich. Wie dieses Ziel aber erreicht werden soll, bleibt den einzelnen Staaten überlassen. Eine Richtlinie ist also nicht unmittelbar anwendbar wie eine Verordnung, sondern muss - in einem zweistufigen Verfahren - in nationales Recht umgesetzt und damit konkretisiert und anwendbar gemacht werden. Auch dabei gibt es sowohl ‹seriöse› als auch durchaus kuriose Beispiele: • Richtlinie des Rates vom 13. Februar 1989 über die Pflichten der in einem Mitgliedstaat eingerichteten Zweigniederlassungen von Kreditinstituten und Finanzinstituten mit Sitz außerhalb dieses Mitgliedstaats zur Offenlegung von Jahresabschlussunterlagen. • Richtlinie der Kommission Nr. 79/ 408/ EWG bezüglich des Wilderns der Turteltaube (Streptopelia turtur) in Frankreich. • Richtlinie 1999/ 45/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. Mai 1999 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen. • Richtlinie 2006/ 78/ EG der Kommission vom 29. September 2006 zur Anpassung des Anhangs II der Richtlinie 76/ 768/ EWG über kosmetische Mittel an den technischen Fortschritt. Wichtige Richtlinien im Außenwirtschaftsbereich betreffen u. a. die Harmonisierung der nationalen Zollgesetze. Eine EG-Richtlinie ist in etwa mit der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes für Länder und Gemeinden gemäß Art. 75 GG zu vergleichen (dort z. B. für allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens oder des Melde- und 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 35 <?page no="66"?> Ausweiswesens). Der EuGH hat Anfang 1992 eine bahnbrechende Entscheidung getroffen: In der Praxis gab es häufig Fälle, in denen Mitgliedstaaten die Umsetzung einer EG-Richtlinie in nationales Recht hinauszögerten. Nach dem EuGH-Urteil nun kann ein Bürger seinen Staat auf Schadenersatz verklagen, wenn dieser ihm Rechte vorenthält, die auf Gemeinschaftsebene gewährt wurden. Dies bedeutet erstmalig auch eine indirekte Form von Sanktionen gegen einen Staat, der gegen EU-Vorschriften verstößt, indem er die zunehmende Umsetzung von Gemeinschaftsrecht in nationales Recht verzögert und damit die Rechtsharmonisierung in der EU beeinträchtigt. (b-3) EG-Entscheidungen Im Gegensatz zur allgemeingültigen Verordnung ist eine Entscheidung nur für den Einzelfall und nur für die in der Entscheidung bezeichneten natürlichen oder juristischen Personen verbindlich. Entscheidungen sind auch nicht veröffentlichungsbedürftig und sind in ihrer Wirkung mit dem Verwaltungsakt des deutschen Rechts zu vergleichen. Beispiele: Entscheidung über eine beantragte Fusion oder Verhängung einer Geldbuße bei Zuwiderhandlungen. Betroffenen steht ggf. der direkte Klageweg zum Europäischen Gerichtshof offen. • 16/ 12/ 2006: Entscheidung der Kommission vom 14. Dezember 2006 über die gemäß der Entscheidung 2002/ 358/ EG des Rates erfolgende Festlegung der Emissionsmengen, die der Gemeinschaft und jedem ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen des Kyoto-Protokolls zugeteilt werden (Bekannt gegeben unter Aktenzeichen K(2006) 6468) • Entscheidung des Rates vom 13. Februar 1989 zur Festlegung eines europäischen Plans für die Stimulierung der Wirtschaftswissenschaften (1989-1992) (SPES). • Entscheidung 1999/ 142/ EG der Kommission vom 25. Februar 1998 über eine von Deutschland als Entwicklungshilfe gewährte Beihilfe zum Bau eines nach Indonesien verkauften Schwimmbaggers. (b-4) Andere Akte Neben diesen drei rechtsverbindlichen Formen der Setzung sekundären Gemeinschaftsrechts können Rat und Kommission, aber auch das Europäische Parlament aufgrund eigener Initiative Empfehlungen und - bei Anfragen - Stellungnahmen abgeben. Aus der Arbeit des Rates in seiner wechselnden fachlichen Zusammensetzung können sich ferner Erklärungen, politische Beschlüsse oder Vereinbarungen ergeben. 36 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="67"?> • 28/ 11/ 2006: Empfehlung der Kommission vom 24. Oktober 2006 für die Verwaltung der Finanzmittel für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle • 15/ 11/ 2006 : Beschluss Nr. 1673/ 2006/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 2006 über die Finanzierung der Europäischen Normung. Die Wirkung des EU-Rechts im Binnenmarkt wird beeinträchtigt durch den unzureichenden Kenntnisstand der Bürger bezüglich ihrer Rechte, durch einen Mangel an Transparenz bei der Anwendung der Vorschriften sowie durch die weiterhin geltenden einzelstaatlichen Vorschriften. Dem nationalen Recht kommt nach wie vor sehr große Bedeutung zu. 1.4.3. Nationales Recht 1.4.3.1. Geltungsbereich Trotz der bereits weitgehenden Integration der Europäischen Union ist eine Vielzahl von Wirtschaftsbereichen (noch) nicht durch Gemeinschaftsrecht geregelt. In diesen Fällen greift das jeweilige nationale Recht: Nationale Regelungen gelten immer nur dann, wenn es keine entsprechenden Regelungen im Gemeinschaftsrecht gibt. Nationales Recht wird bzw. ist durch entsprechende Regelungen im Gemeinschaftsrecht außer Kraft gesetzt; dem Gemeinschaftsrecht widersprechende nationale Regelungen sind automatisch nichtig. Wie erwähnt, werden EG-Verordnungen dennoch meist in nationales Recht übernommen, da nur auf der Ebene des nationalen Rechts andere Sanktionen als Bußgelder möglich sind. Hinzu kommt die Notwendigkeit, z. B. organisatorische Regelungen (Zuständigkeiten, Formvorschriften) - in jedem Mitgliedstaat individuell - rechtlich zu nominieren. Insofern also ergänzen sich die beiden Rechtsebenen, da das Gemeinschaftsrecht in vielen Bereichen unvollständig ist. Der EuGH hält die Parallelität von Rechtsnormen auf gemeinschaftlicher und auf nationaler Ebene für rechtswidrig, doch sprechen die erwähnten praktischen Gründe für ihre vorläufige Beibehaltung. Vor diesem Hintergrund sind auch die enormen Bemühungen zu sehen, zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes die unterschiedlichen nationalen Gesetze zu harmonisieren. Dies wird in vielen Fällen noch beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen, so dass bis dahin unterschiedliche nationale Rechte nebeneinander in der Gemeinschaft gelten werden. Dabei kommt dem Steuerrecht aus ökonomischer 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 37 <?page no="68"?> Sicht große Bedeutung zu. Angesichts der historisch gewachsenen und kulturell unterschiedlich geprägten verschiedenen Rechtskreise (u. a. deutscher, romanischer, anglophoner Rechtskreis) ist nicht davon auszugehen, dass im Zivil-, Straf- oder Verwaltungsrecht eine signifikante Harmonisierung statfinden wird. 1.4.3.2. Systematik Das deutsche Recht stützt sich auf verschiedene Ebenen von Rechtsquellen. Die wichtigsten ursprünglichen Rechtsquellen sind Gesetze, die von den verfassungsgemäßen Gesetzgebungsorganen nach den in der Verfassung (Grundgesetz) niedergelegten Regeln erlassen worden sind. In der obersten Ebene steht hier das Grundgesetz und darunter die Bundes- und Landesgesetze. Unterhalb der Rechtsebene der ursprünglichen Rechtsquellen gibt es die abgeleiteten Rechtsquellen: die Rechtsverordnungen (RV). RV‘en werden nicht - wie Gesetze - von der Legislative erlassen, sondern von der Exekutive. Da sie Rechtsetzungskraft haben und in diesem Sinne zwar nicht formelle, aber «materielle Gesetze» sind, durchbrechen sie das Prinzip der Gewaltenteilung, weil dies eigentlich die Kompetenz der Legislative ist. Rechtsverordnungen dienen jedoch der Vereinfachung und machen Detailregelungen in Gesetzen überflüssig. Eine RV setzt eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung voraus, die zugleich auch Zweck, Inhalt und Ausmaß der Rechtsverordnung festlegt. Sehr häufig werden daher Durchführungsverordnungen erlassen. Die Kompetenz zum Erlass von RV‘en haben die Bundesregierung, die Bundesminister, die Länder, die Länderregierungen und -minister sowie Obere Bundes- und Obere Landesbehörden. RV‘en werden im Bundesgesetzblatt bzw. in den Verordnungsblättern der Länder veröffentlicht. Auf der Grundlage von ursprünglichen und abgeleiteten Rechtsquellen wird die Verwaltung u. a. gegenüber dem Bürger in Form von Verwaltungsakten tätig (z. B. in einer Entscheidung über ein beantragtes Zollager). Obgleich sie selbst keine Rechtsnormen sind und prinzipiell nur innerhalb der Verwaltung gelten, haben sog. Verwaltungsvorschriften (häufig als »Erlass» bezeichnet) nicht selten eine Auswirkung für den Bürger, z. B. wenn sie Ermessensspielräume, Anwendungsbereiche oder Auslegungsmöglichkeiten von Rechtsnormen konkretisieren. Sie bedürfen keiner gesetzlichen Ermächtigung und werden i.d.R. auch nicht veröffentlicht. 38 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung <?page no="69"?> 1.4.4. Völkervertragsrecht (Internationales Recht) Internationale Abkommen oder Verträge müssen - um bindend anwendbar zu werden - durch Ratifizierung oder Transformierung durch die jeweils zuständigen Organe in supranationales oder nationales Recht übernommen werden. Ein internationaler bzw. völkerrechtlicher Vertrag (Staatsvertrag) kommt i.d.R. zustande durch a) Vertragsverhandlungen, b) Paraphierung des vorläufigen Vertragstextes, d.h. «Unterzeichnung» des nicht mehr veränderbaren Vertragstexts mit den Anfangsbuchstaben der Namen der Verhandlungsführer (Paraphen; durch die Paraphierung sind die Verhandlungspartner weder gebunden noch zur endgültigen Zustimmung verpflichtet), c) Durchlaufen des nationalstaatlichen Zustimmungsprozesses: dies bedeutet Transformation des völkerrechtlichen Vertrags z. B. durch ein entsprechendes (gleichlautendes) nationales Vertragsgesetz oder durch ein Zustimmungsgesetz in nationales Recht, d) Ratifikation, d.h. formelle Bestätigungserklärung durch das Staatsoberhaupt nach erfolgter parlamentarischer Transformation in nationales Recht (häufig wird im Sprachgebrauch auch bereits das parlamentarische Zustimmungsverfahren als Ratifikation bezeichnet), e) gegenseitiger Austausch bzw. - bei multilateralen Verträgen - Hinterlegung der Ratifikationsurkunden. Durch die Transformation kommt auf nationaler Ebene rechtlich nicht externes Recht zur Anwendung, sondern nationales Recht, das materiell dem externen Recht entspricht. Völkerrechtliche Verträge, welche die Europäische Union geschlossen hat bzw. denen sie beigetreten ist, werden nach Art. 300 EGV Bestandteil des Gemeinschaftsrechts und sind damit für die Mitgliedstaaten verbindlich, wie z. B. der WTO-Vertrag, die Abkommen zwischen der EU und den EFTA-Staaten, die Lomé-Verträge oder andere Präferenzabkommen. Rein formell handelt es sich dabei um sekundäres Gemeinschaftsrecht, weil es sich aus Handlungen der EU-Organe ableitet, doch ist derartigen internationalen Verträgen eine herausgehobene Bedeutung - etwa im Vergleich mit innergemeinschaftlichen Verordnungen - beizumessen. Völkerrechtliche Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln und die nicht Gemeinschaftsrecht sind, bedürfen nach Art. 59 GG der Ratifizierung der für die Bundesgesetzgebung jeweils zuständigen Körperschaften, d.h. Bundestag und Bundesrat. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden: Zum einen ist eine ‹bloße› Zustimmung zum Vertrag z. B. durch ein Zustimmungsgesetz möglich (das dann auch inhaltlich nur aus einigen wenigen ‹zustimmenden› Paragraphen bzw. Artikeln besteht). Zum anderen wird das internationale Vertragswerk oft in ein nationales Gesetz ›umgegossen› 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 39 <?page no="70"?> 40 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung $5 25 '3 2'*2 +6- 2'3! % 030 +3- +3 ++ , 43' " -34 ,0#6 2'*( 3 $ *73 3 ,.#0./ 2'*) 2'*! -.)- -.)* -.)0 -.)+ -.)' -. 2 2'*( "/ -4& 15/ 6-& & 15 & 15 #/ 1! %(& -0-34.4 ,+30" F HII + G0IG D*K G00& 9H: : + : 58F 58F G86 J85 F8J $ F8# JJ8 J I 68# 686 68G J8A 58 GHG4- 6! 1? G4- G4- 5$@/ <D/ ! G0I9 9H&3I 6! 1? DI J1DD J1D# J1D1 G0I& J1#J J1#6 J1#5 J1#G J1#A J1#I J1#D J1 07: : H& + 9: G0I& 3 + 3GH3 ? ? ? ? .=E---=3>: B G0I& / *J/ >A! *K / F= = / / ; 4=)))((E ( 4=))/ E-=3>: B 5##8I#F 6518A1D ! ! Abb. 1/ 14: Entwicklung wichtiger Wirtschaftspolitischer Ziele <?page no="71"?> 1.4. l Nationales, l internationales d und l supranationales h Recht 41 G00G D*K 9&&& GH7 + D 581 A8D A8J AA 686 $ F8# 68D J81 J8F J8# 68F 6668F 586 J86 F8J $ F86 J8I J8F 6 ! ) 9&&: HI + GH ; "! *> G009 : H3 + LE(BE! G009 3H9GI 6! 1? LE(BE! G00- -H&90 6! 1? LE(BE! 9&&4 4H&I: 6! 1? ? ## J1#1 G00& J11J J116 J115 J11G J11A J11I J11D J11# J111 9&&& 6FFJ 6FF6 6FF5 6FFG 6FFA 6FFI 0C( J11J )( )++> ,>=2> < = ! >9)*2@>.29%7+)(@ '/ .*)*J82B$J/ 3( &=CH>(2 @>9 3( (C*3 )+>( "4&8 J116 '39 6FFA G00& -9H9 + G004 44H: + G00I : &H3 + G00& / ! #$>.A! */ , %! KJ %! KJ/ 9&&3 F=/ *J/ ! #$>.A! */ " A5#8IGJ 9&&4 7 + : 7H7 J A6F8D5I J 65J8FGI J F6D8I1D 68A 58F 685 5586 585 68I 686 J8A J8J 68# 58D G8F 58D 585 9&&G D*K 9&&4 &H: + && + = = <?page no="72"?> 42 1. h f l k Wirtschaftspolitik d und h f d Wirtschaftsordnung (transformiert), wodurch die konkreten Vertragsbestandteile dann auf nationaler Ebene Wirkung entfalten (im Gegensatz zu der Version des Zustimmungsgesetzes). Dies ist z. B. erforderlich, um die vereinbarten Vertrags- (nun Gesetzes-) Bestimmungen ggf. den nationalen Sanktionsmöglichkeiten im Hinblick auf das Ordnungswidrigkeitenbzw. Strafrecht zu unterwerfen. Formal ist es umstritten, ob es korrekt ist, derartige internationale Abkommen nicht als Gesetz zu ratifizieren, sondern durch einfache Rechtsverordnung der Exekutive in nationales Recht zu transformieren. Die obige Abb. 1/ 13 fasst die Einwirkungsmöglichkeiten der verschiedenen Rechtsebenen zusammen. Eine Uberprüfung des EU-Rechts im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz findet - nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1987 - nicht statt, solange die EU und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt gewährleisten. In den folgenden Kapiteln werden zunächst die Ziele des Stabilitätsgesetzes betrachtet, wobei aus methodischen Gründen von der Reihenfolge des § 1 StabG abgewichen wird. Darüberhinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer wirtschaftspolitischer Zielsetzungen, von denen einige in den anschließenden Kapiteln dargestellt werden. Abb. 1/ 15 verdeutlicht sehr einprägsam und in der historischen Gesamtschau die Entwicklung der wichtigsten Ziele seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden verschiedentlich auf diese Abbildung zurückkommen. <?page no="73"?> II. Teil: Wirtschaftspolitische Zielsetzungen 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Das Ziel des Wirtschaftswachstums war in der jüngeren Vergangenheit besonders heftig umstritten. Kritiker sprechen von Wachstumsfetischismus und betonen die Vordringlichkeit anderer Ziele; Verteidiger des Wachstums finden Argumente für die Notwendigkeit des Wachstums. Zunächst ist zu klären, wer oder was wachsen soll. Im Stabilitätsgesetz ist von angemessenem und stetigem Wirtschaftswachstum die Rede, so dass auch die adjektivischen Zusätze zu betrachten sind. 2.1. Maßgröße: Bruttoinlandsprodukt Das wirtschaftspolitische (Teil-)Ziel des Wirtschaftswachstums wird üblicherweise beschrieben mit der Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) (gross domestic product, GDP) oder des Bruttonationaleinkommens (BNE) (gross national income oder meist: gross national product, GNP). Das BIP erfasst alle materiellen und immateriellen Güterwerte, die in einer Volkswirtschaft entstehen beziehungsweise gekauft und gehandelt werden. «Güter» ist ein Oberbegriff, der Sachgüter (Waren), Dienstleistungen (z. B. Transport, Beratung, Bankverkehr) und Rechte (z. B. Patente, Lizenzen) umfasst. Monetäre Werte wie Aktien sind keine Güter. In das BIP gehen die Leistungen ein von kleinen und großen Unternehmen, von Spediteuren, Friseuren, Einzelhändlern, Banken, Landwirten, Kirchen, Gewerkschaften usw. Erfasst werden die in einer Periode entstandenen Werte; der Wertebestand aus Vorperioden bleibt unberücksichtigt. Auf die Methodik und Abgrenzungen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, welche die verschiedenen Aggregate wie BIP oder Volkseinkommen ermittelt, können wir nicht eingehen. Aber offensichtlich gibt es dabei Spielraum für Kreativität: Abb. 2/ 1 zeigt die Auswirkungen, als Griechenland seine BIP-Daten Ende 2006 nach <?page no="74"?> h f h d k 44 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur einer «neuen Methodik» auswies, bei der bislang nicht verwendete Statistiken zu einem unverhofft neu entdeckten Reichtum führten. Da das BIP als Beziehungsgröße für andere Werte im Rahmen des Euro-Stabilitätspakts dient (vgl. Abschnitt 1.2.2 und Kapitel 12), bedeutete dies an verschiedenen anderen Stellen eine Revision der Datenlage. Unverhofft kommt oft… Das BNE wird nach dem sog. Inländerprinzip ermittelt, das BIP nach dem Inlandsprinzip: Beim Inländerkonzept werden nur Daten erfasst, die Inländern zuzurechnen sind und zwar auch, wenn die erfassten Leistungen im Ausland erbracht werden (beispielsweise die Beschäftigung eines Inländers im Nachbarland). Inländer sind natürliche oder juristische Personen mit ständigem (Wohn)Sitz im Inland, unabhängig von ihrer Nationalität. Das Inlandskonzept erfasst alle Produktionswerte, die im Inland entstehen, unabhängig davon, ob dies durch im Inland oder im Ausland Ansässige geschieht (beispielsweise die Beschäftigung von ausländischen Pendlern mit Wohnsitz im Ausland im Inland). Den Unterschied zwischen beiden Konzep- Abb. 2/ 1: Griechische Statistik 250 200 150 100 50 vor Revision nach Revision 2000 2001 2002 2003 2004 2005 0 Bruttoinlandsprodukt vor und nach der Revision (in Milliarden Euro) 1) 1) in jeweiligen Preisen "#* )*"#* ,=0 '*=#%! #+! &+$ %>4 &7/ 11=,@)>@54: 7=5/ *1 412,01 D; 27 #>8.1 / B (' "7=+2@1 $/ 7=: >4 ! 1>1,41,*27 ,@ ! 8.-,27,0*2,12@ <?page no="75"?> ß ß l d d k 2.1. Maßgröße: Bruttoinlandsprodukt 45 ten bezeichnet man als Netto-Faktoreinkommen gegenüber dem Ausland (NFE), d.h. die Differenz insbesondere zwischen Lohn- und Zinseinkommen,. die von Inländern im Ausland erworben werden, und den entsprechenden Einkommen von Ausländern im Inland. Im Sprachgebrauch wird oft noch der früher übliche Begriff «Sozialprodukt» als allgemeiner Begriff für BIP oder BSP verwendet, wenn man sich allgemein auf den Wert der produzierten Gesamtleistung einer Volkswirtschaft bezieht (vgl. ggf. ausführlich mein Lehrbuch Volkswirtschaftslehre). Ob BNE oder BIP ausgewiesen werden, hängt oft von der Praktikabilität der Datenermittlung ab. Das BNE stützt sich insbesondere auf Daten der Einkommensentstehung, während das BIP bei Produktionsdaten ansetzt. Letztere sind i.d.R. leichter verfügbar, so dass international eine Tendenz zur Ausweisung von BIP-Daten besteht. Der Unterschiedsbetrag zwischen beiden Konzepten ist aber nicht sehr hoch: Er liegt bei 0,5% oder 9-10 Mrd. EUR. Aus dem Stabilitätsgesetz ergibt sich kein Hinweis auf den zu verwendenden Wachstumsindikator. Das reale Bruttoinlandsprodukt beschreibt den von Inflationseinflüssen bereinigten - also realen - Gesamtwert der Güterproduktion einer Volkswirtschaft in einem Jahr. Real bedeutet, dass die im jeweiligen Betrachtungsjahr produzierten Gütermengen erfasst, aber mit den Güterpreisen eines für alle Betrachtungsjahre gemeinsam gültigen Basisjahres bewertet werden. Man unterstellt also, dass es keine inflationäre Entwicklung gegeben hat. Die Gütermengen der verschiedenen Jahre werden dabei mit den konstanten Preisen eines Basisjahres bewertet. Wenn dann das Inlandsprodukt des Jahres 20X1 höher ist als das von 20X2, dann kann es offensichtlich nicht daran liegen, dass die erfassten Güter teurer geworden sind, sondern dass mehr Güter als vorher produziert wurden. Sofern die Inflationseffekte nicht ausgeklammert werden, spricht man nicht von einer nominalen Betrachtung. Das nominale BIP ist für eine vergleichende Analyse in der Regel ziemlich nutzlos. Das Basisjahr der realen Betrachtung wird nach bestimmten statistischen Überlegungen von Zeit zu Zeit aktualisiert; gegenwärtig erfolgt die reale Betrachtung aus der Sicht des Jahres 2000, obgleich in statistischen Darstellungen gerne weiter zurückgegriffen wird, um die mittelfristigen Entwicklungen besser erkennen zu können. Je weiter das Bezugsjahr zurückliegt, desto größer werden die Unterschiede zur nominalen Betrachtung sein (Abb. 2/ a). Bezüglich des Wirtschaftswachstums werden in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion dabei zwei Fälle unterschieden. Die Zunahme der Güterproduktion (Wachstum des BIP) kann erfolgen <?page no="76"?> h f h d k 46 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur vor dem Hintergrund eines gegebenen Produktionspotentials oder bei Erhöhung des Produktionspotentials. Das Produktionspoten g tial wird definiert durch die verfügbaren Produktionsfaktoren einer Volkswirtschaft: Dies umfasst Arbeitskräfte, Sachkapital, Boden und Bodenschätze, Know-how. Wachstum bei konstantem Produktionspotential verbessert dessen Ausnutzung (Auslastungseffekt), während das Wachstum des Produktionspotentials selbst als Kapazitätseffekt bezeichnet wird. (Dies ist völlig analog auf der Unternehmensebene zu beobachten.) In diesem Zusammenhang ist auch die Entwicklung der demographischen Struktur der Bevölkerung von großer Bedeutung, weil sich der Produktionsfaktor Arbeit entsprechend verändert: zahlenmäßig, altersmäßig, qualitativ. Wir gehen auf das Produktionspotential im Zusammenhang mit der Beschäftigungspolitik im Kapitel 3 ein. Das BIP erfasst nur ökonomische und in Zahlen umsetzbare Vorgänge. Die Aussagekraft des BIP ist in vieler Hinsicht eingeschränkt. Insbesondere wird nicht stringent unterschieden, ob eine Produktionsleistung tatsächlich wertsteigernd ist oder vielleicht die Lebens- Abb. 2/ 1a: Reales und nominales Inlandsprodukt Quelle: Stat. Bundesamt Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleister Produzierendes Gewerbe Öffentl. u. private Dienstleister Handel, Gastgewerbe, Verkehr Baugewerbe 3,9 Landu. Forstwirtschaft 1,0 Privater Konsum (einschl. Organisationen) Staatsverbrauch Investitionen (einschl. Vorräte) 5,0 Löhne und Gehälter Gewinne und Vermögenserträge Aufteilung 2006 in % Dort erarbeitet Dafür verwendet So verteilt 29,0 26,0 21,9 18,3 58,5 18,5 18,0 66,2 33,8 Die Leistung unserer Wirtschaft Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland in Milliarden Euro © Globus 1142 1 876 1 916 1 965 2 012 2 063 2 113 2 162 2 207 2 241 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2 303 2006 -0,2 2004 2004 Außenbeitrag +1,5 +2,1 +2,6 +2,4 ++2,5 +2,5 +1,4 +0,9 +2,1 +1,5 0 +1,0 +1,8 0 +2,0 +2,0 +1,2 $0 2 +1,2 +0,9 +3,2 Veränderungen in % nominal real* *Preisanstieg abgerechnet 2005 2 143 +2,8 5 +2,5 rundungsbedingte Differenz <?page no="77"?> ß ß l d d k 2.1. Maßgröße: Bruttoinlandsprodukt 47 qualität mindert: Kraß gesagt: Je kranker eine Volkswirtschaft ist und entsprechend viele «Reparaturleistungen» produziert werden müssen, desto höher ist das BIP. Wir kommen darauf noch zurück. Umgekehrt werden viele Wertschöpfungen gar nicht erfasst, beispielsweise legale Tätigkeiten im Bereich der privaten Haushalte oder illegale in der «Schattenwirtschaft», wie die Schwarzarbeit gerne bezeichnet wird. 4 Dennoch ist das BIP trotz aller möglichen Einschränkungen ein brauchbarer Indikator, um den Lebensstandards einer Volkswirtschaft (mit) zu beschreiben, denn es gibt keinen besseren. Man darf sich nur nicht blenden lassen. Es existieren verschiedene Ansätze, das knöcherne, quantitative ökonomische BIP zum Beispiel durch umwelt- oder sozialpolitische Indikatoren qualitativer zu beschreiben, jedoch bislang ohne nachhaltige Verbreitung. In vielen Zusammenhängen ist es zudem sinnvoll, das BIP nicht absolut, sondern pro Kopf der Bevölkerung auszuweisen. Allerdings: Wenn jemand ein gebratenes Hähnchen verzehrt und ein Hungriger schaut 4 Für Deutschland wird der Anteil der Schwarzarbeit von der OECD auf 16% des BIP geschätzt, für Griechenland und Italien 28 bzw. 27%. Der IWF gibt für einige afrikanische Länder Quoten der Nichterfassung produktiver Tätigkeiten von bis zu 80% an, weil die statistische Erfassung der ökonomischen Aktivitäten so unzureichend ist. 8631 80 100 100 140 140 140 140 160 160 160 160 160 160 16 180 180 200 210 220 230 220 Dem. Rep. Kongo Äthiopien Burundi SSierra Leone S Liberia Malawi a-Bissau ssau a-Bissau uinea-Bissau Guinea-Bissau Eritrea rea Eritrea Eritrea Eritrea E Tadschikistan Niger Tschad Mosambik Ruanda Burkina Faso Mali nd die Arme nd die Armen Die Reichen und die Arme Die 15 reich Die 15 reichsten Länder Die 15 reich Stand 2001 ährliches Volkseinkommen je Einwohner in Dollar Jährliches Volkse © Globus ten Länder Die 15 ärmsten Länder Luxemburg Schweiz Norwegen Norwegen Japan USA Dänemark Island Schweden Hongkong Großbritannien Niederlande Österreich Belgien Finnland Deutschland 39 840 38 330 35 630 35 610 34 280 30 600 28 910 25 400 25 330 25 120 24 330 23 940 23 780 23 850 23 560 Quelle: Weltbankatlas 2003 Abb. 2/ 2: Einkommensunterschiede <?page no="78"?> h f h d k 48 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur zu, verzehren beide statistisch je ein halbes Hähnchen. Die Pro-Kopfff Zahlen sind also mit Vorsicht zu interpretieren (Abb. 2/ 2). Die Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern dieser Welt ist tief. Ein krasses Beispiel: Ein Luxemburger hat pro Tag ein höheres Einkommen als ein Kongolese im ganzen Jahr. Die Deutschen stehen mit ihren Pro-Kopf-Einkommen an 15. Stelle in der Weltrangliste. Das Wachstumsziel steht im Zentrum sehr gegensätzlich geführter Diskussionen. Wachstumsgegner kämpfen gegen eine (undifferenzierte) Verfolgung wachstumspolitischer Ziele, Befürwortet sehen das ganz anders. Wir betrachten daher zunächst einmal einige Argumente für oder gegen ökonomisches Wachstum als wirtschaftspolitisches Ziel. 2.2. Argumente für und gegen Wachstum 2.2.1. Argumente für Wachstum. ! Mit «Wirtschaftswachstum» wird etwas Positives verbunden. Wenn eine Regierung berichten kann, dass die Volkswirtschaft im letzten Jahr um 2% gewachsen sei und dass das Wachstum nach Meinung der Sachverständigen sogar zunehmen werde, dann klingt das gut, und es verbinden sich damit implizit Erwartungen bezüglich der Schaffung von Arbeitsplätzen, Einkommen und besserer Güterversorgung. ! Grundsätzlich erlaubt Wirtschaftswachstum per se eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen. (Ob dies erforderlich oder umweltpolitisch sinnvoll ist, steht hier nicht zur Debatte, ebensowenig unser Brathähnchenproblem, wie sich der Zuwachs verteilt.) ! Bei wachsender Bevölkerung würde sich der (statistische) Lebensstandard verringern, wenn bei dem Quotienten BIP/ Bevölkerung nicht auch der Zähler wächst. Dies trifft auf sehr viele Länder zu. Dabei ist nicht nur die biologische Vermehrung der Bevölkerung gemeint, sondern auch Wachstum durch Zuzug von Ausländern (Migration). ! Wenn der Lebensstandard nicht nur gehalten, sondern gehoben werden soll, ist Wachstum nicht nur bei wachsender, sondern auch bei stagnierender und sogar schrumpfender Bevölkerung erforderlich. Andernfalls könnte eine Besserstellung von Bevölkerungsgruppen nur durch Schlechterstellung anderer erfolgen: Wenn ein reales BIP von 10 Einheiten gegenwärtig zwischen zwei Bevölkerungsgruppen <?page no="79"?> im Verhältnis 7: 3 aufgeteilt wird, kann ohne Wachstum eine Veränderung nur in Richtung 6: 4 oder 8: 2 erfolgen, jeweils zum Nachteil einer Gruppe. Ob eine Benachteiligung einer Gruppe zugunsten einer anderen (aus 7: 3 wird 6: 4) volkswirtschaftlich ‹besser› wäre, kann aber ohne einen interpersonellen Vergleich zwischen Nutzengewinnern und Nutzenverlierern nicht rational beurteilt werden - ein Problem, das auch im Rahmen der kardinalen Nutzentheorie nicht (wertfrei) gelöst werden konnte. Bei Wachstum wäre hingegen 7: 4 möglich, wobei offen bleibt, ob die Gruppe mit 7 sich relativ benachteiligt fühlt. Bei einem Wachstum von 10 auf 11 Einheiten ist die Verteilung auf die beiden Gruppen natürlich nicht zwingend definiert - es kann sich auch 9: 2 ergeben (Abb. 2/ 3) ! Die Verwirklichung arbeitsparenden technischen Fortschritts bedeutet im Sinne des Minimalprinzips, dass dasselbe Produktionsergebnis mit geringerem Arbeitsaufwand erzielt werden kann. Das «Wegrationalisieren» von Personal in vielen Wirtschaftszweigen macht dies deutlich: «Freigesetzte» Arbeitskräfte bleiben arbeitslos, wenn sie nicht an anderer Stelle eine neue Beschäftigung finden, also zusätzliche Produktionsleistung erbringen (und das bedeutet Wachstum). Bekannte historische Beispiele in diesem Zusammenhang waren auch Heizer auf Dieselloks oder Bremser auf hydraulisch gebremsten Zügen, da die englischen Gewerkschaften sich jeder Verwirklichung technischen Fortschritts widersetzten, der Arbeitsplätze vernichtete, und Beschäftigungsgarantien verlangten. Heute sieht es eher so aus, dass Unternehmen - betriebswirtschaftlich völlig rational - Produktionen in ein lohnkostengünstigeres Land verlagern («verlängerte Werkbank») und für die inländische Wertschöpfung benötigte Vorleistungen entsprechend importieren. Guatemalas Wirtschaft wächst, aber die meisten Einwohner bleiben arm ” Ohne Wachstum gibt es nichts zu verteilen” Abb. 2/ 3: Wachstum und Umverteilung f d h 2.2. Argumente für und gegen Wachstum 49 <?page no="80"?> h f h d k 50 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Die Prognosen hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitslosigkeit geben hier wenig Anlaß zu Optimismus. Eine Absorption der strukturellen Arbeitslosigkeit (Abschnitt 3++) durch Wachstum erforderte Wachstumsraten, die aus heutiger Sicht absolut unrealistisch sind. In diesem Zusammenhang erhält das Bemühen um Arbeitszeitverkürzung bestimmter Gewerkschaften eine andere Qualität als aus der betriebswirtschaftlichen Sicht der Kostenbelastung der Unternehmen. Auch hierauf kommen wir zurück. ! Ein Pro-Wachstums-Argument ist auch, dass es bei wachsender Wirtschaft leichter ist, über verbesserte Arbeitsbedingungen zu verhandeln als bei stagnierender Entwicklung. Aber wenn schon Wachstum, warum dann nicht maximales Wachstum? Das deutsche Stabilitätsgesetz (StabG von 1967) formuliert aber als Zielvorgabe, es sei «stetiges und angemessenes Wachstum» anzustreben (zur Stetigkeit kommen wir gleich). Also betrachten wir Argumente gegen (maximales) Wachstum. 2.2.2. Argumente gegen Wachstum (1) Ein oft verwendetes Contra-Wachstum-Argument ist die Ressourcenverknappung. Bestimmte Bodenschätze, die heute maximal ausgebeutet würden, stünden morgen nicht mehr zur Verfügung. Angemessenes Wachstum wäre unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen als Verzicht auf kurzfristige (und kurzsichtige) Wachstumsmaximierung zugunsten einer langfristigen Wachstumsmaximierung. Abb. 2/ 4 verdeutlicht schematisch, dass nach anfänglichen hohen Abb. 2/ 4: Maximales und angemessenes Wachstum Wachstumsrate Zeit 4 3 0 - 3 Qualitatives Wachstum <?page no="81"?> Wachstumsraten bei maximaler Wachstumsstrategie nach Erschöpfung von Ressourcen eine Abschwächung eintreten kann, die insgesamt zu geringerem aggregierten Wachstum führen mag als eine kontinuierliche, wenngleich anfangs geringere Wachstumsrate. Der Vergleich mit einem Langstreckenläufer bietet sich an, der anfangs hinter einem Kurzstreckenläufer herlaufen wird, jedoch bald den erschöpften Schnelläufer einholen und überholen wird. Angemessenes Wachstum ist daher als nachhaltiges Wachstum zu verstehen, ein Begriff, der aus der Umweltdiskussion hervorgegangen ist. 5 (2) Verschiedene Argumente gegen - maximales - Wachstum richten sich darauf, dass forciertes Wachstum weitere Effekte auslösen kann, die zu einer Verschlechterung der Lebensqualität führen. In Fortführung des Umweltaspektes ist daran zu denken, dass Wachstum mit Emissionen von Schadstoffen und entsprechenden Immissionen in die Umweltmedien (Luft, Wasser, Boden) einhergehen kann. (3) Ferner kann Wachstum mit weiteren Zielen kollidieren und zu Zielkonflikten führen. Dabei ist vor allem an die erforderliche Finanzierung des Wachstums durch Staatsverschuldung zu denken sowie an die Überforderung der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft, die sich als Inflation auswirken kann. Da Wachstum - wie erwähnt - sich auch durch arbeitsparende Investitionen realisieren kann, besteht auch die Gefahr von Beschäftigungseinbußen. Zudem können Unternehmen beim Hochfahren der Produktion in Liquiditätsengpässe geraten, wenn ihnen Banken erforderliche Kredite verweigern. Zudem ist zu beobachten, dass zu Beginn eines Konjunkturaufschwungs die Unternehmen sich mit Neueinstellungen (noch) zurückhalten, so dass ein Wachstum ohne Beschäftigungseffekte auftreten kann («jobless growth ») (Abb. 2/ 4a). 5 Im Englischen wird hierfür der Begriff sustainability verwendet, der ursprünglich in der Waldbewirtschaftung geprägt wurde: Es soll nicht mehr Holz abgeerntet werden, als gleichzeitig nachwachsen kann. 3'(%" ! '(.$-%/ ()&%,/ *,'$)* *,1% .,' 4%,++,)2002$ #,/ %,' Abb. 2/ 4a: Jobless Growth f d h 2.2. Argumente für und gegen Wachstum 51 <?page no="82"?> h f h d k 52 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur (4) Folglich kann Wachstum einhergehen mit zunehmender Verrr schlechterung der Einkommens- und Vermögensverteilung, und zwar in nationaler (Kap. 6) wie internationaler Hinsicht (Kap. 14). Schließlich kann forciertes Wachstum zu Lasten der Umwelt gehen, entweder im Sinne der unter (1) angesprochenen Ressourcenvernichtung oder im Sinne von Emissions- und Immissionsschäden (vgl. Kap. 7). (5) Schließlich ergibt sich ein rechnerisches Problem, wenn anhaltendes Wachstum angestrebt werden soll: Eine Wachstumsrate von 2% bedeutet auf 100 bezogen einen Zuwachs von 2, im Jahr darauf 2% von 102, dann 2% von 104 usw., d.h. für eine konstante Wachstumsrate muß der absolute Zuwachs steigen. Bei einer Rate von 2% müßte sich das BIP innerhalb von 35 Jahren - also innerhalb einer Generation - (real! ) verdoppeln, d.h. es würden doppelt soviele Güter zur Verfügung stehen wie heute. Dabei werden Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Wachstums geäußert. 2.2.3. Qualitatives Wachstum Die vorstehenden Argumente fließen oft in der Überlegung zusammen, dass eine Abkehr vom quantitativen Wachstum und eine Hinwendung zu qualitativem Wachstum erforderlich sei. Dabei steht die Zusammensetzung des BIP im Vordergrund: Nicht mehr die Vergrößerung der Gütermengen wird proklamiert, sondern beispielsweise gezielte Energieeinsparungen (was per se das BIP senkt), die Erhöhung des Dienstleistungsanteils (Service), verstärktes Recycling, Verbesserung der Arbeitsrahmenbedingungen, Erhöhung der Freizeitqualität, Verringerung der internationalen Entwicklungsdefizite usw. Das ökonomische Wachstumskriterium wird damit durch ökologische, soziale, kulturelle, politische und andere Aspekte relativiert. Offenbar ist das gegenwärtig national und international verwendete Konzept der BIP-Berechnung nicht geeignet, diese vielfältigen, mit dem Begriff Lebensqualität verbundenen Aspekte entsprechend widerzuspiegeln. Viele produktive (positive) Aspekte werden im Inlandsprodukt nicht erfasst (Hausarbeit und Kindererziehung, Gartenpflege), andere (negative) werden entsprechend ihrem Aufwand als wertsteigernd gewertet (Krankheitskosten, Unfallreparatur, Behebung von Ölkatastrophen an den Küsten), obgleich sie bestenfalls werterhalten sind. Die vorangehenden Wertminderungen bleiben unberücksichtigt: Erfasst wird nicht der Wertebestand, sondern die Werteproduktion innerhalb einer Periode. Das betriebswirtschaftliche Konzept von Abschreibungen kommt hier nicht zum Tragen. <?page no="83"?> 2.3. Sektorales und regionales Wachstum Die undifferenzierte Betrachtung des pauschalen Wachstums des BIP verstellt den Blick darauf, dass sich regional und sektoral gravierende Unterschiede ergeben. Die regionalen Unterschiede zwischen den Bundesländern ist u.a. Grundlage der Strukturpolitik (Abb. 2/ 5), sektorale Unterschiede ergeben sich aus den unterschiedlichen Chancen und Risiken der verschiedenen Branchen, wobei sich teilweise beträchtliche Überschneidungen zwischen Regionen und Sektoren ergeben; auch die Arbeitslosenstatistik untermalt dieses Bild oft sehr deutlich. Die Wachstumsbetrachtung hat neben der nationalen natürlich auch eine internationale Dimension, wobei sich die genannten Pro- und Contra-Argumente analog wiederholen. Abb. 2/ 7 faßt diese Argumente nochmals zusammen). Wir gehen im Kapitel 14 auf Probleme der Entwicklungsländer und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ein, die sowohl Subjekt als auch Objekt der Wachstumspolitik sind. Insbesondere ist aus verteilungspolitischer Sicht daran zu denken, dass eine Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit, für die u.a. aus politischer, humanitärer, umwelt- und k l d l h 2.3. Sektorales und regionales Wachstum 53 0501 © Globus Die W irtsc haft skra ft de r Län der Veränderung des realen BIP* gegenüber dem Vorjahr in % Quelle: Arbeitskreis „VGR der Länder“ e Einwohne e E e Ein BIP je E wohner wohner o ro o in Euro oo *um Preissteigerungen bereinigtes Bruttoinlandsprodukt Berlin Saarland Rheinland-Pfalz Nordrhein-Westfalen Niedersachsen Bayern Baden-Württemberg Thüringen Sachsen Hamburg Brandenburg Bremen Mecklenburg-Vorp. Schleswig-Holstein wig-Hol + 2,7 % 1,5 1,5 1,3 1,2 1,1 0,9 0,9 0,9 0,8 0,7 0,5 0,2 0,2 -0,1 -0,1 -1,1 26 100 30 800 24 500 45 900 32 400 19 500 23 600 24 100 27 200 32 400 36 600 27 000 18 400 19 100 23 400 20 000 18 900 Hessen Deutschland Sachsen-Anhalt Stand 2005 <?page no="84"?> h f h d k 54 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur sicherheitspolitischer Sicht manches spricht, im Sinne des oben ausgeführten 7: 3-Beispiels gegenwärtig kaum Realisierungschancen bestehen. 2.4. Wachstum und Kapitalbildung Offensichtlich hängt wirtschaftliches Wachstum von Menge und Qualität der verfügbaren Produktionsfaktoren (menschliche) Arbeit (sog. Humankapital), Boden (Natur) und (Sach-) Kapital sowie von den (wirtschafts-)politischen und sozialen Rahmenbedingungen ab. Arbeit und Natur sind «originäre» Produktionsfaktoren, während Kapital aus ihnen abgeleitet (= hergestellt) werden muß («derivativer» Produktionsfaktor). Die menschliche Arbeit bricht beispielsweise von einem Baum (Natur) einen Ast ab, um diesen als Werkzeug (Kapital) zu verwenden. Kapitalbildung (Investition) setzt dabei Sparen, oder anders ausgedrückt: Konsumverzicht, voraus. Die zur Kapitalbildung eingesetzten (investierten) Produktionsfaktoren bzw. Güter können nicht für Konsumzwecke verwendet werden, wobei u.a. auch der Konsum von «Freizeit» eingeschlossen ist. Gesamtwirtschaftlich kann Sparen und Kapitalbildung (Investition) durchaus von verschiedenen Personen geleistet werden, woraus sich dann entsprechende Kreditbeziehungen ableiten. Eine Volkswirtschaft, in der nicht (oder nur ungenügend) gespart werden kann, kann auch kein (oder nur ungenügend) Sachkapital bilden. Hierauf stützt sich auch die Entwicklungspolitik. Ein oft zitiertes chinesisches Sprichwort sagt sinngemäß: «Gibst Du einem Menschen einen Fisch, Abb. 2/ 6: Argumente für und gegen Wachstum Dafür Dagegen Lebensstandard erhalten (bei wachsender Bevölkerung) erreichter Lebensstandard ist ausreichend Lebensstandard erhöhen ohne Umverteilung (bei konstanter Bevölkerung) Ressourcenverknappung zunehmende Umweltbelastung Beschäftigungssicherung bei arbeitssparendem technischem Fortschritt Verschärfung des Nord-Süd-Gegensatzes Erleichterung von Strukturwandel nicht quantitatives, sondern qualitatives Wachstum Erleichterung von Umweltschutzmaßnahmen <?page no="85"?> ernährst Du ihn für einen Tag. Lehrst Du ihn, ein Netz zu knüpfen (Kapitalbildung), ernährt er sich ein Leben lang.» Dieses anschauliche Beispiel macht noch einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt deutlich: Ein Netz zur Verfügung zu stellen oder das Netzeknüpfen allein reicht nicht aus: Auch das Wissen um den richtigen Einsatz der Produktionsfaktoren ist erforderlich. Es gibt dementsprechend Überlegungen, den technischen Fortschritt als einen vierten Produktionsfaktor anzusehen. Es ist hier müßig, darüber zu streiten, ob dieser ein eigenständiger Produktionsfaktor oder immanenter Bestandteil der anderen ist. Die Bedeutung des technischen Fortschritts bzw. Wissens (know how) für die effiziente Kombination von Produktionsfaktoren dürfte auch so einleuchten. Wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik muß also darauf abstellen, Menge und Qualität der Produktionsfaktoren bzw. die Kombination der Faktoren im Produktionsprozeß zu verbessern. Wachstumspolitik umfaßt daher ein weites Spektrum, das u.a. von Investitions-, Arbeitsmarkt- oder Wettbewerbspolitik bis zu Struktur-, Bildungs- und Forschungspolitik reicht. 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik Als Konjunktur bezeichnet man die ökonomische Gesamtsituation, die sich aus der gleichzeitigen Betrachtung (lat.: conjungere = zusammenfügen) verschiedener volkswirtschaftlicher Größen ableitet. Die Konjunktur stellt sich typischerweise als wellenförmige Schwankungen der Wachstumsrate des realen BIP dar (Abb. 2/ 7). Abgesehen von den Jahren 1967, 1975, 1981/ 82, 1993 und 2003 ist das BIP in der Bundesrepublik Deutschland in jedem Jahr gewachsen, wobei aber die «Geschwindigkeit» des Wachstums (also die Wachstumsrate) unterschiedlich war. Lediglich in den genannten Jahren ist das BIP real tatsächlich kleiner geworden. Um bei der Geschwindigkeitsanalogie zu bleiben: Aus der Vorwärtsbewegung war - nach Bremsen und Stillstand - eine Rückwärtsbewegung geworden. Daraus leiten sich. auch die im Sprachgebrauch üblichen Begriffe des «Nullwachstums» bzw. des «negativen Wachstums» ab, womit eine absolute und nicht nur relative Verkleinerung des BIP bezeichnet wird. 2.5.1. Konjunkturschwankungen Wenn man die Wachstumsraten des realen BIP im Zeitablauf graphisch darstellt, so ergibt sich ein typischer S-förmiger Verlauf (eine 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 55 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 55 <?page no="86"?> h f h d k 56 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Sinuskurve), den man in verschiedene Phasen unterteilt (Abb. 2/ 8). An einen Tiefststand (A: Talsohle) schließt sich der Aufschwung an (Expansion oder Erholung) (bis etwa B). In B beginnt die Hochkonjunktur (bzw. Boom oder Anspannung), die nicht exakt als Punkt, sondern allenfalls als Bereich bestimmt werden kann. Die Hochkonjunktur geht über die Krise 6 (C), und der Aufschwung kippt um in einen Abschwung (Rezession, Entspannung, Abschwächung, Kontraktion). Dieser setzt sich fort bis zu einem neuen Tiefststand (A), wonach sich der Phasenablauf wiederholt. Das Durchlaufen aller Phasen bezeichnet man als Konjunkturzyklus. Wie sagte der Chef des ifo-Instituts für Wirtschftsforschung in München, Hans-Werner Sinn, in einem Interview so treffend: «Die nächste Flaute ist so sicher wie das Amen in der Kirche.» Der Begriff «Rezession» wird in Politik und Literatur allerdings unterschiedlich verwendet. Nach meinem Verständnis bezieht sich Rezession (von lat.: recedere = zurückgehen oder zurückführen) auf eine Verringerung der Wachstumsrate des realen BIP als Wachstumsindikator. Sinkt diese unter die Vorjahreswerte ab, so wächst das 6 Im Sprachgebrauch hingegen wird als «Krise» auch die Talsohle im Sinne von «Wirtschaftskrise» bezeichnet. Abb. 2/ 7: Konjunkturschwankungen <?page no="87"?> Inlandsprodukt zwar noch absolut, aber langsamer bzw. weniger als vorher. In Analogie von «Wachstum» zu «Geschwindigkeit» eines Autos bedeutet Rezession «Bremsen», also eine Verringerung der Geschwindigkeit, wobei das Auto aber noch vorwärts fährt. Eine Rezession ist also eine Verringerung der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts, was ein absolutes (aber geringeres) Wachstum des BIP nicht ausschließt (oben Abb. 1/ 1). Wenn man das BIP als Kurve wie in Abb. 2/ 8 darstellt, bedeutet Rezession formal, dass die Wachstumsrate (als Steigung der Tangente an die Kurve oder 1. Ableitung der Kurve des BIP) abnimmt. Andere Ökonomen vertreten die Auffassung, dass der Begriff Rezession im Gegensatz zu einem bloßen Abschwung mit sinkenden, aber positiven Wachstumsraten einen absoluten Rückgang des BIP, also negative Wachstumsraten voraussetzt (das Auto fährt rückwärts). Diese Interpretation ist zwar nachvollziehbar, vor allem aus Politikermund, weil dann bis heute ein fast durchgängiger, anhaltender Aufschwung vorgelegen hätte (abgesehen von den erwähnten Mini-Ausrutschern…), ist aber sachlich falsch: Ich bin vielmehr der 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 57 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 57 Abb. 2/ 8: Konjunkturzyklus '6! (00)*$,%2#8! .,0; 6)6! ,) ? 02 "! , &6): ! =! 44! <?page no="88"?> h f h d k 58 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Meinung, dass jeder Rückgang der Wachstumsraten des BIP (jede Verringerung der Vorwärtsbewegung), egal ob mit positiven oder negativen Werten, eine Rezession - nur mit unterschiedlicher Schärfe - darstellt. Dabei wird teils das ganze Jahr betrachtet, während man auch schon von Rezession spricht, wenn die Wachstumsrate des BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen sinkt. «Aufschwung» impliziert somit Wachstum, doch kann umgekehrt Wirtschaftswachstum auch in Abschwungphasen vorliegen und ist nicht synonym mit Aufschwung. Andernfalls hätte es ja bis 1975 praktisch keine Rezession (Abschwünge) gegeben; die Rezession nach 1960-64 war jedoch Anlaß für die Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes. Abb. 2/ 7 macht deutlich, dass es seit dem 2. Weltkrieg zweifelsfrei diverse Konjunkturabschwünge (= Rezessionen) gegeben hat. Eine positive Wachstumsrate ist folglich nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Aufschwung; hierfür sind zunehmende Wachstumsraten erforderlich. Eine Abgrenzung zwischen Rezession und dem gleichfalls oft synonym verwendeten Begriff Depression ist schwierig. Unter Rezession sollte eine relativ kurzfristige, vorübergehende Abschwächung der Wirtschaftstätigkeit verstanden werden, die sich in einer Verringerung grundsätzlich positiver Wachstumsraten ausdrückt und nur in Einzelfällen negative Wachstumsraten aufweist. Rezession ist folglich nur ein Fremdwort für Abschwung; die Begriffe sind synonym. Depression kommt vom lateinischen deprimere = zusammendrücken. Vordergründig und sprachlich vertretbar könnte damit also eine Verringerung des absoluten BIP, also eine negative Wachstumsrate des BIP gemeint sein. Dann bestünde de facto kein Unterschied zwischen Depression und der obigen (falschen) Interpretation von Rezession im Sinne negativer Wachstumsraten. Noch rigoroser wäre die Interpretation, dass bereits jedes Sinken der Wachstumsrate eine Depression sei. Rezession und Depression sollten jedoch, obgleich semantisch vielleicht vertretbar, inhaltlich unterschieden werden: Der Begriff Depression ist - historisch - mit Situationen wie der Weltwirtschaftskrise ab 1929 belegt. Bei den bisherigen Rezessionen = Abschwüngen in Deutschland kann man aber wohl kaum von Depressionen in diesem Sinne sprechen. Mit dem Begriff sollte also aus historischen Gründen vorsichtig umgegangen werden, indem Depression auf Rezessionen mit massivem absoluten Rückgang des Inlandsprodukts, Massenarbeitslosigkeit, Unternehmenszusammenbrüchen in großem Ausmaß, sinkenden Realeinkommen, also auf volkswirtschaftliche Katastrophen bezogen wird. <?page no="89"?> 2.5.2. Kurzfristige und langfristige Zyklen Die konkreten Zahlen für Deutschland legen nahe, dass die Wachstumswellen auszulaufen scheinen. Wenn man den Trend, d.h. in etwa: den graphischen Durchschnitt der Konjunkturwellen wie in Abb. 2/ 7 darstellt, so ist dieser leicht abwärts geneigt. Hierfür gibt es eine Reihe von Erklärungen. Die Konjunkturwellen schwingen sinusförmig um den Trend. Andererseits sind auch die Konjunkturwellen bereits Durchschnittswerte, denn die konjunkturellen Schwankungen des BIP werden ihrerseits überlagert von saisonalen - beispielsweise winterbedingten - sowie zufälligen Schwankungen, unabhängig von der Konjunkturentwicklung. Mit Hilfe statistischer Verfahren können die zahllosen Einzeldaten zusammengefaßt und «geglättet» werden, bis sich Saisonschwankungen auf die Konjunkturschwankungen und diese wiederum auf den zugrundeliegenden Trend zurückführen lassen. Das Phänomen der Konjunkturschwankungen ist uralt; bereits die Bibel spricht von 7 mageren und 7 fetten Jahren. Allerdings hat sich die Dauer der Konjunkturzyklen entscheidend verkürzt. In der Nachkriegszeit liegt diese in der Bundesrepublik bei etwa 4-5 Jahren, während man früher eher von einem 7bzw. 11-Jahres-Rhythmus ausging (nach ihren Entdeckern Kitchinbzw. Juglarrr Zyklen genannt). Nun lässt sich argumentieren, dass auch der Trend Teil einer sehr langfristigen Wachstumswelle ist. Wenn man den Betrachtungszeitraum stark ausdehnt, lässt sich zeigen (Abb. 2/ 9), dass sich Konjunkturschwankungen mit einer Frequenz von rund 50 Jahren ergeben: sog. Kondratieffff Zyklen. Eine von mehreren dieser «Theorien der langen Wellen» erklärt dies mit dem Zustandekommen bahnbrechender Erfindungen: Der Aufschwung der Weltkonjunktur um 1800 wäre im Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft danach auf die Einführung von Dampfmaschinen, auf die Technisierung des Bergbaus und der Textilindustrie (Spinnmaschinen, Webstühle) zurückzuführen. Der folgende Aufschwung um 1850 war die große Zeit des Stahls und geht einher mit technologischen Entwicklungen bei Eisenbahn, Telegraphie und Fotographie, der Aufschwung um 1900 mit der Elektrifizierung und dem Ottomotor und der Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg mit der Entwicklung des Massen-Kraftfahrzeugverkehrs, dem Vordringen von Elektronik und Computern, mit der Raumfahrt, der Entwicklung von Kunststoffen und der Kernkraft. Der fünfte und derzeit noch (aus)laufende Kondratieff-Zyklus begann um 1970 und wird in besonderem Maße durch die Informationstechnologien getragen. 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 59 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 59 <?page no="90"?> h f h d k 60 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur J. A. Schumpeter, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Nationalökonomen, hat dies als einen Prozeß permanenter «schöpferischer Zerstörung» bezeichnet, da der technische Fortschritt die alten Produktionsverfahren verdrängt und zerstört. In Schüben entstehen daraus neue Wirtschaftszweige, andere verschwinden. Der gegenwärtig nach unten geneigte Trend der Konjunkturwellen in Deutschland, wie er sich in Abb. 2/ 71 ablesen lässt, wäre danach als Teil des Abschwungs der langfristigen WeItkonjunktur zu interpretieren. Nach dieser technologisch orientierten Konjunkturtheorie wäre ein neuer Aufschwung der langfristigen Weltkonjunktur von der Verwirklichung grundlegender Innovationen, etwa im Energiebereich (Atomenergie, Sonnenenergie) oder in der Biotechnik abhängig. Andere Theorien erklären umfassende weltwirtschaftliche Konjunkturschwankungen historisch mit größeren kriegerischen Auseinandersetzungen, was sich sowohl auf die Rüstungsproduktion als auch auf die Beseitigung von Kriegsfolgen bezieht und im Hinblick auf die Aufschwünge Anfang des 20.Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unrealistisch ist. Die sich aus dieser (Kriegs-) Theorie ergebenden Implikationen hinsichtlich der Voraussetzungen für einen neuen Weltaufschwung sind allerdings offensichtlich wenig attraktiv. Die u.a. von Walt Rostow und Joseph Schumpeter angenommene Innovationskraft, die von bahnbrechenden Erfindungen ausgeht, wird allerdings von dem amerikanischen Wirtschafts-Nobelpreisträger 1993 Robert Fogel angezweifelt: Seiner Meinung nach hängt der technische Fortschritt und damit die technologische Schubkraft von einer Vielzahl von Einzelerfindungen ab, Er belegt dies mit einer Untersuchung des Eisenbahnbaus in den Vereinigten Staaten, der für sich kein Wachstumsmotor gewesen sei. Auch sein Mit-Nobelpreisträger Douglass North steht im Widerspruch zu den gängigen Wachstumstheorien, indem seiner Meinung nach weniger technische Neuerungen als organisatorische Veränderungen sowie die Rahmenbedingungen der Eigentumsrechte Wirtschaftsschübe auslösen. Der (historische) industrielle Aufschwung Westeuropas sei insbesondere auf die damals bereits garantierten privaten Eigentumsrechte zurückzuführen: Unsichere institutionelle und organisatorische (politische) Rahmenbedingungen (z.B. in Entwicklungsländern) seien wachstumshemmend. Im Hinblick auf den abwärts geneigten Trend der Wachstumsraten des Inlandsprodukts ist auch der oben bereits erwähnte, eher mathematische Aspekt zu berücksichtigen. Je größer das BIP wird, desto schwieriger wird es, dieselben Wachstumsraten beizubehalten wie <?page no="91"?> bei kleineren Basiswerten, d.h. für dasselbe relative Wachstum sind immer höhere absolute Zuwächse erforderlich. Dieser Zusammenhang erklärt andererseits auch die hohen Wachstumsraten mancher Länder u.a. in Asien (Abb. 2/ 10), bei denen eine - im Vergleich z.B. zu Deutschland - absolut gleiche Zunahme des Inlandsprodukts wegen der kleineren Bezugsgröße natürlich zu ungleich höheren Wachstumsraten führt. 2.5.3. Konjunkturtheorien Ein einzelnes Land kann sich kaum aus der internationalen Konjunkturlage abkoppeln: Ökonomisch durch Handel, Direktinvestitionen und Finanzmärkte miteinander verflochtene Länder weisen eine weitgehend parallele Entwicklung auf. Dies bedeutet, dass sich positive wie negative Impulse ausländischer Volkswirtschaften auf die in- Die langen Wellen der Weltkonjunktur 3874 © Globus Am Beginn eines jeden Aufschwungs standen bahnbrechende Neuerungen Dampfmaschine, mechanischer Webstuhl, Kohle- und Eisentechnologie Eisenbahn, Telegrafie, Fotografie, Zement Chemie, Auto, Elektrifizierung, Aluminium Kunststoffe, Fernsehen, Kernkraft, Elektronik, Raumfahrt Telekommunikation, Mikroelektronik, Gentechnologie, Multimedia 2 0 0 0 1 9 5 0 1 9 0 0 1 8 5 0 1 8 0 0 Abb. 2/ 9: Kondratieff-Zyklen 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 61 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 61 +&" %.! %/ &)$! '"(/ #&%% #RD>F! BTRD ? >RF> B! VF %F! ? R TR@ 'AB? ADETER@,BG +A@ BR,RC *AAC <?page no="92"?> h f h d k 62 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur ländische konjunkturelle Entwicklung auswirken können. Je stärker ein Land über den Außenhandel mit der Weltwirtschaft verflochten ist, desto spürbarer werden solche Effekte sein. 2.5.3.1. Einteilung Das Auf und Ab der Konjunktur mag gelegentlich willkürlich erscheinen (Abb. 2/ 11), doch unterliegt es offenbar nachvollziehbaren Einflüssen. Wirtschaftspolitisch wäre es natürlich wünschenswert, wenn sich die Konjunkturentwicklung präziser vorhersagen bzw. das Wirtschaftswachstum verstetigen ließe, um die mit den Konjunkturschwankungen verbundenen, oben skizzierten möglichen negativen Effekte wie insbesondere Beschäftigungseinbußen im Abschwung und Preisauftrieb in der Hochkonjunktur auffangen oder vermeiden können. Dies würde voraussetzen, dass die Wirkungszusammenhänge, die den Konjunkturwellen zugrunde liegen, hinreichend bekannt wären. Der Euro-Raum ist nicht der Wachtumsmotor der Welt Kieler Ökonomen: Deutschland verursacht 2007 eine Abschwächung der europäischen Konjunktur 2005 2006 2007 Welt 4,4 4,5 4,1 Industrieländer 2,6 3,0 2,6 Vereinigte Staaten 3,6 3,4 3,0 Euro-Raum (inkl. Deutschland) 1,4 2,4 1,9 Euro-Raum (ohne Deutschland) 1,6 2,5 2,2 Deutschland 0,9 2,1 1,2 Vereinigtes Königreich 1,8 2,2 2,5 Neue EU-Staaten 4,4 4,8 4,4 Rußland 6,4 5,7 5,7 Südostasien (ohne China und Japan) 4,7 4,8 4,6 Japan 2,8 3,4 2,6 China 9,9 9,2 9,0 Lateinamerika 4,1 4,1 3,8 Veränderung des realen BIP in Prozent Abb. 2/ 10: Weltkonjunktur <?page no="93"?> Es gibt eine Vielzahl von Konjunkturtheorien, die das Auf und Ab der Wachstumsraten des Inlandsprodukts zu erklären versuchen. Um es vorweg zu nehmen: Keine kann für sich in Anspruch nehmen, allgemeingültige und bestätigte Aussagen zutreffen, sondern alle haben mehr oder weniger ausgeprägte Schwachstellen. Einige der wichtigsten Theorien seien kurz skizziert. Zunächst ist zwischen endogenen und exogenen Konjunkturtheorien zu unterscheiden. Endogene Theorien erklären Konjunkturschwankungen durch ökonomische, exogene Theorien durch nicht-ökonomische Faktoren. Beispielsweise ist die sog. Sonnenfleckentheorie eine exogene Theorie. Sie stützt sich darauf, dass sich die Sonnenflecken, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, zyklisch in einem den Konjunkturschwankungen vergleichbaren Rhythmus verändern. Die Sonnenfleckentheorie ist historisch gesehen eine alte Theorie, so dass ein Zusammenhang zwischen Sonnenflecken und wirtschaftlicher Entwicklung in stark agrarisch geprägten Volkswirtschaften nicht völlig von der Hand zu weisen war. Andere exogene Theorien stützen sich auf Ereignisse wie Kriege, Naturkatastrophen, Klimaveränderungen, Bevölkerungswachstum etc. Die endogenen Konjunkturtheorien wiederum unterteilen sich in güterwirtschaftliche und monetäre Theorien. Güterwirtschaftliche Theorien stellen ab auf reale Veränderungen von Angebot und Nachfrage, die monetären Theorien auf Veränderungen der Geldmenge, Quelle: FAZ 6. 10. 98 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 63 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 63 Abb. 2/ 11: Konjunkturwellen <?page no="94"?> h f h d k 64 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur der Zinsen, der Aktienkurse oder allgemein: der monetären Nachfrage. Viele güterwirtschaftliche Ansätze zur Konjunkturerklärung stützen sich dabei auf sog. Verstärker- und Beschleunigerwirkungen (Multiplikator- und Akzeleratorwirkungen), deren Grundprinzip kurz erläutert wird. 2.5.3.2. Multiplikator und Akzelerator Eine grundsätzliche Gleichgewichtsbedingung für eine «problemlose» Wirtschaftsentwicklung ist, dass das Güterangebot der Güternachfrage entspricht. Die Produktion des Inlandsprodukts verschafft den Besitzern der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Arbeit, (Sach-)Kapital und Boden (Natur), die bei der Produktion des Inlandsprodukts eingesetzt werden, Einkommen (daher sind Nettoinlandsprodukte zu Faktorkosten aus Produktionssicht und das Volkseinkommen aus Einkommenssicht wertmäßig identisch, weil zwei Seiten derselben Medaille). Das (Volks-)Einkommen kann entweder konsumiert oder gespart werden. Gesparte, also nicht konsumierte Einkommensteile können aber nur nachfragewirksam werden, wenn sie investiert werden. Eine weitere Gleichgewichtsbedingung für eine «problemlose» Wirtschaft ist daher, dass Investitionen und Sparen wertmäßig gleich sind. Man kann dies auch so ausdrücken, dass die gesparten Einkommensbzw. Inlandsproduktsanteile angeboten und zu Investitionszwecken nachgefragt werden. Das Inlandsprodukt als Güterangebot (Y von engl. yield = Ertrag, Ergebnis) muß daher der d Summe aus Konsumgüternachfrage (C von engl. consumption) und Investitionsgüternachfrage (I) entsprechen: (1) Y = C+ I. Wenn man den Konsum als vom Einkommen abhängig betrachtet und eine Konsumquote (Anteil des Konsums am Einkommen) von weniger als 100 % unterstellt, kann man vereinfacht schreiben (2) C = c · Y wobei c die Konsumquote darstellt und kleiner als Eins ist. Beziehung (2) in (l) eingesetzt ergibt dann (3) Y= c · Y + l und aufgelöst nach Y (4) Y (1 - c) =1 oder <?page no="95"?> (5) Y = 1 I 1 - c Wenn die Nachfrage nach Investitionsgütern um einen Wert & Y 7 , verändert sich das Inlandsprodukt (Volkseinkommen) 8 um & Y, und Gleichung (5) wird zu 6) y + & y = 1 (I + &I) (1 - c). Der Veränderungseffekt lässt sich isoliert darstellen, indem Gleichung 5) von (6) subtrahiert wird, so dass übrig bleibt 7) 5 & Y = 1 · & I 1 - c Wenn die Konsumquote c beispielsweise 0,8 ist, d. 1 c h. dass 80 % des Einkommens konsumiert und 20 % gespart werden, würde eine (dauerhafte) Erhöhung der Investitionsgüternachfrage zu einer Erhöhung des Inlandsprodukts (Volkseinkommen) führen, die ein Mehrfaches der Nachfrageerhöhung bedeutet: Der Multiplikator 1 1 - c erhält in diesem Beispiel den Wert 1 = 1 = 5, 1 - 0,8 0,2 d.h. eine anhaltende Veränderung der Investitionen überträgt sich um das Fünffache auf das Inlandsprodukt: (7a) & y = 5 & I. Dieser Zusammenhang macht auch einen Unterschied zwischen Wachstumspolitik und Konjunkturpolitik deutlich: Eine einmalige Erhöhung z.B. der Investitionen im Rahmen eines Konjunktur- oder Beschäftigungsprogramms bewirkt kurzfristig aufgrund der Multiplikatorwirkungen eine bestimmte Erhöhung des Inlandsprodukts. 7 Der griechische Buchstabe & (Delta = D) wird als Symbol für eine Veränderung (Differenz) verwendet. 8 Diese Gleichsetzung beruht darauf, dass das Inlandsprodukt zu Faktorkosten z.B. eine Lohnzahlung als Kosten erfasst, während das Volkseinkommen sie als Einkommen interpretiert. 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 65 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 65 <?page no="96"?> h f h d k 66 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Sofern es sich aber nicht um eine dauerhafte Erhöhung des Investitionsniveaus handelt, sind diese Wirkungen einem Strohfeuereffekt vergleichbar: Nach Auslaufen der Multiplikatorwirkungen fällt das Inlandsprodukt auf das alte Niveau zurück. Dies ist einer der Haupteinwände von Kritikern gegen «Konjunkturspritzen». Die Multiplikatorwirkung erklärt sich daraus, dass allenfalls nur sehr kurzfristig gilt: & I = & Y. Eine Nachfrageerhöhung bedeutet für die betreffenden Wirtschaftszweige verstärkte Aufträge und möglicherweise höhere Beschäftigung. Das so zusätzlich entstehende Einkommen {Gewinne und Löhne) wird wiederum größtenteils nachfragewirksam ausgegeben, so dass in anderen Bereichen sich weitere Einkommens- und Beschäftigungseffekte ergeben etc. Das Inlandsprodukt (Y) kann also entweder im Inland konsumiert (C) oder investiert (bzw. gespart) werden (I bzw. S) oder ins Ausland exportiert werden (Ex.) Andererseits wird das inländische Güterangebot (Y) erhöht um importierte Teile ausländischer Inlandsprodukte (Im), so dass sich für Volkswirtschaften mit Außenhandelsbeziehungen ergibt (8) Y + Im = C + I + Ex, wobei die linke Seite der Gleichung das Güterangebot und die rechte Seite die Güternachfrage (Güterverwendung) darstellt. Umgeformt ergibt sich daraus (9) Y = C + I + (Ex - Im). Abb. 2/ 12 veranschaulicht den Einfluß des Außenhandels auf das BIP. Die abgeleitete Multiplikatorwirkung (7) ist formal für jede Nachfragekomponente gleich, sei es Konsum-, lnvestitions- oder Exportnachfrage, und berücksichtigt somit die sich daraus ergebenden kumulierenden Einkommens- und Beschäftigungseffekte im Zeitablauf. Je höher die Konsumquote ist oder, was dasselbe sagt: je geringer die Sparquote ist, (beide addieren sich zu Eins), desto höher ist der Nachfragemultiplikator. Bei differenzierter Betrachtung ist noch ! *@ 2"%&@> / ? > / ' ,/ *? *) 1! (@ +*/ '* 0&'-,'+>,@? >(>)* 5()/ #)-$#& 1* ! #%+4). 2,+,2$ .,) .,#$%03,) 6"'(&$ ! ,&(%#)&%+ -%A%.# &") -+* -+"#$%! +* 1&%.# Abb. 2/ 12: BIP und Außenhandel <?page no="97"?> der Einfluß von Importen zu berücksichtigen, die durch steigendes (Volks- ) Einkommen ausgelöst (induziert) werden. wodurch sich der Multiplikatoreffekt auf das Inlandsprodukt abschwächt. Die Multiplikatorwirkung wird verstärkt durch Akzeleratoreffekte («Beschleuniger»). Das Akzeleratorprinzip ist im Grunde ebenfalls ein Multiplikator. Es stellt darauf ab, dass Veränderungen der Konsumnachfrage nicht nur direkte, multiplikative Einkommenswirkungen erzeugen, sondern dass eine (dauerhafte) Nachfrageerhöhung nach Konsumgütern bei ausgelasteten Produktionskapazitäten eine erhöhte Nachfrage nach Investitionsgütern auslöst, um die erhöhte Konsumgüternachfrage befriedigen zu können. Die ausgelöste Investitionsgüternachfrage «beschleunigt» oder verstärkt den Konsummultiplikator. Eine ausführliche Darstellung ist hier entbehrlich. Da die konjunkturelle Entwicklung üblicherweise mit der Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts beschrieben wird, stützen sich konjunkturtheoretische Analysen auf die sog. Verwendungsrechnung des Bruttoinlandsprodukts. In einer im Vergleich zu Beziehung (9) zwar differenzierten, aber immer noch vereinfachten Form lässt sich die Verwendungsrechnung wie folgt darstellen: (10) Y = C pr + C st + I pr + I st + (Ex - Im), wobei C pr = privater Konsum, C st = staatlicher Konsum (z.B. Beamtengehälter), I p pr = private Investitionen, I pr = staatliche Investitionen. Beim Saldo zwischen Exporten und Importen, dem sog. p p Außenbeitrag zum Inlandsprodukt (Ex-Im), wird meist nicht zwischen privaten und staatlichen Aktivitäten unterschieden (Abb. 2/ 13). 2.5.3.3. Einige Konjunkturerklärungen In ökonometrischen Modellen, die auf bestimmten Annahmen über das Konsum- und Investitionsverhalten beruhen, lässt sich auf der Basis der skizzierten Multiplikatorwirkungen durch Eingabe unterschiedlicher Werte das «Schwingen» der Inlandsproduktsentwicklung mathematisch nachvollziehen. Die Wirkung von multiplikativen Effekten lässt sich so zwar verdeutlichen, aber durch derartige mechanistische Modelle können konkrete Konjunkturbewegungen nicht schlüssig erklärt werden. (1) Begrifflich kann zwischen zwei Entwicklungen unterschieden werden, wobei die Interpretationen in der Wirtschaft nicht einheitlich sind (und im Sprachgebrauch schon gar nicht): «Wachstum» bezieht sich entweder auf das Wachstum der tatsächlichen Güterproduktion i. S. v. (realem) Wachstum des Bruttoinlandsprodukts oder 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 67 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 67 <?page no="98"?> h f h d k 68 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur - umfassender - auf das Wachstum des Produktionspotentials (vgl. Abschnitt 2.5.1), also der möglichen Güterproduktion (Kapazitätseffekt). «Wachstumspolitik» umfaßt im letzteren Fall Maßnahmen zur Veränderung (Vergrößerung) des Produktionspotentials. «Konjunktur» hingegen bezieht sich auf die sich verändernden gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten, ausgedrückt als ‹schwankende› Auslastung eines gegebenen Produktionspotentials (Auslastungs- oder Beschäftigungseffekt). ‹Konjunkturpolitik› umfaßt danach Maßnahmen zu erhöhter Auslastung des gegebenen Produktionspotentials. (2) Die meisten Konjunkturtheorien bauen auf Multiplikatoreffekten auf, wobei der einen oder anderen Komponente der volkswirtschaftlichen Endnachfrage (Konsum, Investition, Export) größere Bedeutung beigemessen wird. Überinvestitionstheorien berücksichtigen gemäß dem Akzeleratorprinzip den Kapazitätseffekt von Investitionen, die durch eine Nachfrageerhöhung stimuliert werden. Der kapazitätserweiternde Effekt wird umso größer sein, je mehr Unternehmer sich dem Beispiel erfolgreicher ‹Vorreiter› anschließen. Außerdem ermuntert ein beginnender Aufschwung Unternehmer zu Investitionen, die sie bisher zurückgestellt haben. Daher wird der Investitionstätigkeit, auch seitens des Auslands, besondere Aufmerksamkeit geschenkt IW-Prognose 2007 74%&'/ 0+3*-" 54(#*-4(%*2 2424*! 14( 5)(,30( .* 6()$4*& 2005 2006 2007 Verwendung des realen Bruttoinlandsprodukts )8+JB26 *>A5/ DB/ 50B? 6A &(% &(7 &(# *>A5/ DB/ 50B? 6A 965 E2BB265 &(@ &(7 &(! 4AFB06+AJ652+2+>A6A &(: "(% #(@ C 4/ 58G52/ A06A @(% @(: @(& C E>A52+06 4AFB06A "(= "(& "(& C 1B/ 26A ''#(@ $(& %(! ,AFBA95AB<-38B06 &(! %(: %(& .I; >82 @(7 7(& @(: ,D; >82 @(! : (@ @(! 18/ 22>+AFBA95; 8>9/ H2 &(7 $(" %(! Abb. 2/ 13: BIP-Verwendungsrechnung © 41/ 2006 Deutscher Instituts-Verlag <?page no="99"?> (Abb. 2/ 14), und die Attraktivität des «Standorts Deutschland» hat einen entsprechenden Stellenwert. Sofern die sich erweiternden Kapazitäten jedoch nicht mehr ausgelastet werden können, wird ein dann einsetzender Rückgang der Investitionstätigkeit zu einer multiplikativen Abwärtsbewegung führen. Diese wird erst beendet, wenn wieder ein aus Unternehmersicht rentables Verhältnis zwischen Kapazität (Kapitalstock) und Güternachfrage erreicht ist. Durch technische Neuerungen kann es dann wiederum zu einem Investitionsschub kommen, der einen neuen Aufschwung in Gang setzt. (3) Den Überinvestitionstheorien ähnlich argumentieren Unterrr konsumptionstheorien bzw. Überspartheorien. In ihrem Mittelpunkt steht aber die ungleiche Einkommensverteilung, besonders im Aufschwung. Steigende Einkommen und dadurch steigende Nachfrage induzieren Investitionen. Da aber die Konsumquote bei höheren Einkommen, insbesondere bei Gewinneinkommen, kleiner ist als bei niedrigen Einkommen, ist die Zunahme der Konsumnachfrage zu gering, um die dadurch stimulierten erweiterten Kapazitäten in der Konsumgüterproduktion auszulasten. Im folgenden Abschwung (aufgrund des Rückgangs der Investitionen) steigt die Konsumquote wieder und induziert neue Investitionen. Unterkonsumptionstheorien berücksichtigen somit auch die konjunkturellen Effekte ungleicher Einkommensverteilung. (4) Wenn man von den mechanistischen Multiplikatorrr Akzeleratorrr Modellen absieht, sind die meisten güterwirtschaftlichen Konjunkturtheorien im wesentlichen Krisentheorien. Sie vermögen einigermaßen plausibel rezessionsbedingte Konstellationen zu erklären, jedoch weniger zwingend das Überwinden des unteren Konjunkturwendepunkts zum Aufschwung. Güterwirtschaftliche Theorien unterstellen dabei eine für Nachfrage und Produktion hinreichende Geldmenge. Monetäre Konjunkturtheorien hingegen weisen gerade der Geldmenge die ursächliche Funktion zu, so dass über eine Verstetigung der Geldmengenveränderungen eine Dämpfung der Konjunkturschwankungen zu erreichen sei. Keynesianische wie monetaristische Konjunkturerläuterungen gehen von Veränderungen der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage als Ursachen aus (‹Nachfragetheorien›), die Theorien der sog. ‹Real Business Cycles› gehen von Veränderungen des realen Güterangebots aus (‹Angebotstheorien›). 9 (5) Der Vollständigkeit halber seien noch ‹psychologische› Konjunkturtheorien erwähnt. Dabei ist an sich verbreitende optimistische oder pessimistische Grundstimmungen zu denken. Solche «Lem- 9 Den Grundstein dieser Theorie legte Edward C. Prescott (1986). Ein Überblick findet sich bei Buscher (2002). 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 69 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 69 <?page no="100"?> h f h d k 70 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Abb. 2/ 14: Investitionen und BIP Quelle: FAZ 4. 7. 2003 Indiens Wirtschaft startet durch Steigendes Wachstum und Reformen machen Land für ausländische Unternehmen attraktiver Schuhhersteller verlagern zunehmend Produktion ins Ausland China - Magnet für Investoren China investiert Milliarden ming-Effekte» sind sicherlich sowohl im Investitionsals auch im Konsumbereich zu beobachten, doch sind derartige Erscheinungen als allgemeine Erklärung von Konjunkturschwankungen insgesamt wenig überzeugend. <?page no="101"?> Die meisten Konjunkturtheorien sind, wie man sieht, monokausal orientiert, d.h. sie bezeichnen nur eine bestimmte Gruppe ökonomischer Größen als ursächlich für Konjunkturschwankungen. Je komplizierter indessen Konjunkturmodelle konstruiert werden, desto schwieriger wird es, sie empirisch zu testen. Hinzu kommt, dass die Konjunkturmodelle in der Regel absolute Änderungen des Wachstums aufzeigen, während es sich in der Praxis eher um relative Änderungen, also um Schwankungen von Wachstumsraten handelt. Auch gehen die Theorien meist von längeren Zyklen aus als in der Praxis beobachtbar. Der Wert von Konjunkturtheorien ist daher weniger in ihrer Aussagekraft als umfassendes Modell zu sehen, sondern in der Verdeutlichung einzelner Mechanismen, deren Zusammenwirken die Konjunkturschwankungen verursacht. Allgemeingültig lässt sich dies offensichtlich nicht darstellen. Konjunktur, Wirtschaftswachstum, Auslastung des Produktionspotentials und Beschäftigung der Arbeitskräfte hängen eng zusammen; wir werden darauf insbesondere auch im nächsten Kapitel 4 eingehen. Weil die verschiedenen Konjunktur- und Wachstumstheorien die tatsächlichen Entwicklungen nur unvollkommen erklären können, ist es auch so schwierig, plausible Prognosen für die mittelfristige Entwicklung zu erstellen. Folgerichtig ist es auch schwierig, griffige Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik zu formulieren, weil es letztlich ein Werturteil darstellt, welche ökonomischen Theorien und damit welches wirtschaftspolitische Instrumentarium man für ‹richtig› hält. 2.5.4. Konjunkturindikatoren Bisher ist es also keiner Konjunkturtheorie umfassend gelungen, privaten Konsum, private Investitionen, Staatsausgaben, inländische Import- und ausländische Exportnachfrage als die Größen, die den Konjunkturverlauf bestimmen (vgl. oben Beziehung (10)), in einem grundsätzlich geltenden Schema von Zusammenhängen zu erfassen. Dabei ist vor allem hervorzuheben, dass aufgrund der internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften durch Handels- und Finanzbeziehungen jedes Land, allerdings in unterschiedlich starkem Maße, von der Entwicklung der Weltkonjunktur abhängt. Als «Lokomotiven» der Weltwirtschaft sind dabei insbesondere die USA, die EG und Japan anzusehen. Konjunkturelle Veränderungen zunächst im Bereich einer weltwirtschaftlich wichtigen Volkswirtschaft strahlen - positiv wie negativ - auf die übrigen aus, u.a. deutlich erkennbar an den Veränderungen von Wechselkursen, Zinsen, Import- und Exportströmen. Ein einzelnes, kleineres Land wie Deutschland kann 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 71 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 71 <?page no="102"?> h f h d k 72 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur daher weder die Weltkonjunktur allein beeinflussen, noch kann es sich von ihren Einflüssen abschotten. Der Wirksamkeit nationaler Konjunkturpolitik sind daher internationale Grenzen gesetzt. Unabhängig davon sind bestimmte Abhängigkeiten bei der Entwicklung einzelner volkswirtschaftlicher Größen zu beobachten, auch wenn sich diese im Zeitablauf verändern und verschieben können. Aus der Veränderung wichtiger Anzeichen (Indikatoren) lässt sich daher die Entwicklung der Konjunktur für einzelne (Teil-)Phasen ablesen und vorhersagen (Abb. 2/ 15). Zu den verwendeten Indikatoren zählen die folgenden: • Auftragseingänge und Produktionserwartungen beziehen sich auf die Aussichten im verarbeitenden Gewerbe. • Im Baugewerbe dienen die Baugenehmigungen als Frühindikator. • Das «Verbrauchenvertrauen» gibt Hinweise auf die Entwicklung der Konsumnachfrage. • Die Finanzmärkte werden durch einen Aktienindex, das reale Geldmengenwachstum und die Zinsstruktur abgebildet. • Die Anspannung des Arbeitsmarkts wird durch die Entwicklung der offenen Stellen gemessen. Grundsätzlich unterscheidet man drei Indikator-Gruppen: Frühindikatoren, Präsenzindikatoren und Spätindikatoren (vorauslaufende, gleichlautende und nachlaufende Indikatoren). (1) Frühindikatoren zeigen bereits im voraus Veränderungen an, die sich mit einer gewissen Verzögerung beim Inlandsprodukt oder bei der Kapazitätsauslastung ergeben werden. Typische Frühindikatoren sind die Auftragseingänge und -bestände und die Lagerveränderungen der Industrie. Eine allgemeine Verringerung der Auftragseingänge lässt auf einen Nachfragerückgang schließen, der zu einer Abschwächung der Konjunktur führen kann. Ein Abbau von Volkswirtschaftl. Gesamtrechnung Reales Bruttoinlandsprodukt Private Konsumausgaben Konsumausgaben des Staates Ausrüstungsinvestitionen Bauinvestitionen Sonstige Anlagen Ausfuhren Einfuhren Arbeitsmarkt und Produktion Industrieproduktion (1995=100) Auftragseingänge (2000=100) Einzelhandelsumsatz (20000100) Exporte Ifo-Geschäftsklimaindex (1991=100) Arbeitslosenquote Erwerbstätige Verbraucherpreise Importpreisindex Finanzmärkte Geldmenge M3 Euroland Rendite 10-jähriger Anleihen 3-Monats-Geldmarktzins Realer effektiver Wechselkurs des Euro Dax Abb. 2/ 15: Konjunkturindikatoren <?page no="103"?> Lagerbeständen kann ebenfalls auf einen Abschwung hinweisen, weil abschmelzende Vorräte mangels Nachfrage nicht wieder aufgefüllt werden. Andererseits kann im Aufschwung die Nachfrage möglicherweise nicht aus der laufenden Produktion bedient werden, so dass ein Rückgriff auf Lagerbestände erforderlich wird. Dies verdeutlicht, dass ein einzelner Indikator für sich genommen nicht immer eindeutig zu interpretieren ist, sondern nur im Zusammenhang mit anderen. Für die Zwecke der Konjunkturprognose wird dabei auch auf die - höchst subjektiven - Einschätzungen und Erwartungen der Wirtschaft und der Verbraucher zurückgegriffen (Abb. 2/ 16). (2) Als Präsenzindikatoren bezeichnet man solche, die sich ohne Zeitverschiebung parallel zur Konjunktur entwickeln, wie zum Beispiel die Produktionsleistung (output), die Arbeitslosenzahlen und - gegenläufig - die Zahl der offenen Stellen. (3) Spätindikatoren hingegen reagieren erst mit einer gewissen Verzögerung auf Konjunkturveränderungen. Zu dieser Gruppe zählen u.a. Preisveränderungen und Tariflohnvereinbarungen, wobei letztere gelegentlich auch - im Sinne von Kostendruck-Überlegungen - zu den Frühindikatoren gerechnet werden, und insgesamt die Beschäftigungssituation. Je nach der Wahl einzelner Konjunkturindikatoren ergeben sich zeitlich unterschiedliche Konjunkturwellen. Beispielsweise folgt die Veränderung der Auslastung der Kapazitäten oder des Produktionspotentials auf die Veränderung des Bruttoinlandsprodukts. Nach der ! '% "'? "'% #'? #'% $'? $'% %'? % : .-)C3D,3.BB&=@E+6+-9@-6B@E&7-)<6.B+E( 4<EBD*>.ABD>.*>DB@0 =@E+&1+-C(( (5<.C? .1ADC+@-+A *)A ; C3=: -*: 4.? +CA B3C *.A 7)9): 1A B+1@)-*) 5<.C? .1# ((C).1)A "C<? ? +: -1.-*ADC+*<4? B3C *: ) ><C+'0+-) : - @1): ? )-*)C 8.=C)AC.? )# 2? .-* ! )6)/ ,)C %&&$ 2 22 222 20 $&&% 2 22 222 20 $&&$ 2 22 222 20 $&&# 2 22 222 20 $&&" 2 22 222 20 $&&! 2 22 222 20 $&&: 2 $&&8 '*%, ""! )#'& (,%$ )! 4.5*)7/ ,7.-- '6+13935; +59-+1'25*<9.-31 <5 ( Abb. 2/ 16: Frühindikator 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 73 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 73 <?page no="104"?> h f h d k 74 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur oben im Zusammenhang mit Multiplikatoreffekten angesprochenen Verwendungsrechnung des Inlandsprodukts kann das (Brutto-)Inlandsprodukt (Y) plus den Güterimporten (Im) verwendet werden für den Konsum (C), Investitionen (I) oder Exporte (Ex) (oben Beziehung (8)): Y + Im = C + I + Ex als konjunkturbeeinflussende Faktoren. Wie die Ausführungen verdeutlichen, wirken neben binnenwirtschaftlichen auch und insbesondere außenwirtschaftliche Faktoren auf die Konjunkturentwicklung ein. Gerade eine Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik, die in hohem Maße in die internationale Wirtschaft integriert ist, hängt stark von der Entwicklung der Weltkonjunktur ab. 2.5.5. Aspekte der Neuen Wachstumstheorie Bevor Sie ob dieser Theorie-Ankündigung entrüstet weiterblättern, sei darauf hingewiesen, dass sich diese Theoriebausteine in vielfältiger Weise in der praktischen Politik wiederfinden, denn die Politikmacher sind von Beratern umgeben, die sich hauptberuflich mit solchem Gedankengut auseinandersetzen. 10 Wir wollen hier auch nicht den Konzepten inhaltlich nachgehen, sondern insbesondere auch bestimmte Begriffe und Schlagworte ansprechen. 2.5.5.1. Produktionsfaktoren Die Wachstumstheorie überschneidet sich in wesentlichen Punkten mit der Konjunkturtheorie: Die Wachstumstheorie erklärt die grundsätzlichen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Variablen, die ökonomisches Wachstum determinieren (üblicherweise i. S. v. Wachstum des - wie auch immer definierten - Inlandsprodukts, vgl. Abschnitt 2.1); die Konjunkturtheorie erklärt, weshalb dieses Wachstum Schwankungen unterliegt. In Lehre und Forschung werden beide Bereiche auch gerne als Konjunktur- und Wachstumstheorie zusammengefaßt. Beide Erkenntnisobjekte zusammen vereinigen sich in Schätzungen bzw. in der Prognose über die erwartete wirtschaftliche Entwicklung. Im Zentrum der Wachstumstheorie steht die Analyse der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren (menschliche) Arbeit, Boden (i.S.v. Natur) und Kapital (Sachkapital). Von elementarer Bedeutung sind die gegenseitigen Abhängigkeiten und damit die Wirkungen, die 10 Vgl. beispielhaft einen Kommentar von Franz (2000). <?page no="105"?> von diesen Produktionsfaktoren - und insbesondere von ihren Veränderungen - auf den ökonomischen Entwicklungsprozeß ausgehen. Diese Zusammenhänge werden als Produktionsfunktionen dargestellt. Eine ganz allgemeine Produktionsfunktion wäre (1) Y = f (A,B,K), oder bürgerlicher: Das Inlandsprodukt (Y) ist eine Funktion von («f (...)», d.h. «hängt ab von») den Produktionsfaktoren Arbeit (A), Boden (B) und Kapital (K). Wer hätte das gedacht. Damit ist offensichtlich auch nicht sehr viel anzufangen. Interessant werden daher die Annahmen, die gemacht werden, um diese Abhängigkeitsbeziehung «f (...)» zu präzisieren. Hier öffnen sich nun Welten für sehr unterschiedliche Philosophien, Überzeugungen, Fakten und Vermutungen. Eine nicht uninteressante und recht wichtige Veränderung von (1) wäre beispielsweise bereits (2) Y = f (A, B, K, tF), wobei tF als Symbol für technischen Fortschritt steht. Das würde bedeuten, dass man den menschlichen Erfindungsgeist, also den dynamischen Faktor in A, als eigenständigen Produktionstaktor ansieht. Es soll hier nicht weiter diskutiert werden, was die Unterschiede zwischen (1) und (2) so alles implizieren. Die Funktion (2) kann aber noch sehr viel feiner differenziert werden (worauf wir hier verzichten). 2.5.5.2. Produktionsfunktionen Wichtig sind vor allem Annahmen, die man über die Beziehungen zwischen den Produktionsfaktoren macht. Sind z.B. Arbeit und Kapital komplementär, d.h. braucht man sie gleichzeitig? (Zum Beispiel benötigt jeder LKW einen Fahrer). Oder kann man den einen Faktor durch den anderen ersetzen, sind sie also substitutiv? (So kann man Arbeitskraft durch eine Maschine ersetzen und umgekehrt). In welchem Ausmaß können sich die Produktionsfaktoren ersetzen, teilweise oder ganz? Ist das «Ersetzungsverhältnis» konstant oder ist es veränderlich? (Dabei gibt es schöne Ausdrücke: Je nachdem, ob sich das Faktoreinsatzverhältnis sowohl während der Planungsphase als auch nachträglich, nach vollzogenem Einsatz der Maschinen, verändern lässt, erhält man putty-putty - oder putty-clay- oder sogar putty-putty-clay-Fälle: putty ist Kitt, den man vor und nach der Verwendung formen kann, clay ist Ton, den man nach Verwendung und Erhärtung nicht mehr formen kann). 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 75 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 75 <?page no="106"?> h f h d k 76 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Eine weitere wichtige Frage ist: Wie reagiert das Ergebnis (der Output) auf die Veränderung des Einsatzes eines Faktors, nimmt es proportional, überproportional oder unterproportional zu bzw. ab? (Beispielhaft sei hier das «Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag» - das sog. Ertragsgesetz - genannt, nach dem der Mehreinsatz eines Faktors (Dünger) bei konstantem Einsatz der anderen Faktoren (Ackerfläche, Arbeit) im Endeffekt immer geringere Ertragszuwächse (Weizen) hervorbringt). Auch die Annahmen über die Wirkung des technischen Fortschritts auf andere Variable (z.B. Zins, Kapitalstock) führen dann bspw. zu Harrod-neutralem, Hicks-neutralem oder Solow-neutralem technischen Fortschritt, wobei die Forscher Roy Forbes Harrod, John Richard Hicks bzw. Robert Merton Solow jeweils von unterschiedlichen Prämissen ausgehen, und es muß zwischen endogenem und exogenem technischen Fortschritt unterschieden werden, je nachdem, ob man annimmt, dass er wie «Manna vom Himmel fällt» (exogen) oder sich aus der Anwendung im Sachkapital ableitet (endogen). Die Antworten auf all diese Einzelfragen werden natürlich nicht willkürlich gegeben, sondern beruhen so weit wie möglich auf empirisch beobachtbaren und getesteten Zusammenhängen. So ist beispielsweise der Wert eines Multiplikator-Koeffizienten, wie er oben in Abschnitt 2.5.2.2 dargestellt wurde, aus empirischen Daten zu schätzen. Insgesamt stecken hinter diesen Annahmen über die Eigenschaften der Produktionsfaktoren und ihren gegenseitigen Abhängigkeiten ausgedehnte Forschungsfelder, z.B. hinsichtlich der Verfügbarkeit des Faktors Arbeit im Hinblick auf die zahlenmäßige Entwicklung der Bevölkerung und ihre Alters- und Bildungsstruktur. «Berühmte» Produktionsfunktionen sind u.a. die CES-Funktion (eine Funktion mit konstanter Skalenelastizität - constant elasticity of scale, CES) und die - nach ihren «Erfindern» so genannte - Cobb-Douglas-Funktion, die eine Sonderform der CES-Funktion ist - auf Erläuterungen wollen wir hier gerne verzichten. Im Ergebnis erhält man - teilweise recht komplizierte - Produktionsfunktionen, denen ihre implizit oder explizit eingebauten Annahmen bestimmte Eigenschaften verleihen. Sie spiegeln damit natürlich eine bestimmte Auffassung vom wirtschaftlichen Geschehen wider. Beispielsweise hat eine Investition in Form einer Maschine - mindestens - zwei Effekte: Sie erhöht den Sachkapitalbestand, mit dem nun mehr produziert werden kann (Kapazitätseffekt). Gleichzeitig verschafft sie dem Maschinenbauer Einkommen, ebenso dem Maschinenanwender und den zusammen mit der Maschine eingesetzten (entlohnten) Arbeitskräften (Einkommenseffekt). Der Kapazitätseffekt <?page no="107"?> stellt auf das Güterangebot ab, der Einkommenseffekt auf die Güternachfrage. Je nachdem, ob man den einen oder anderen Effekt stärker herausstellt, wird der Akzent der Wachstumstheorie tendenziell nachfrage- oder angebotsorientiert sein. Ebenso lässt sich das Schwergewicht alternativ auf die Betrachtung der Investitionsgüter oder der Konsumgüter verlagern, und es gibt noch viele andere Differenzierungsmöglichkeiten. Aber es dürfte auch so reichen. 2.5.5.3. Wachstumstheoretische Denkschulen Ganz allgemein wird zwischen älteren und neueren Wachstumstheorien unterschieden. Zu den älteren Wachstumstheorien zählen (u.a.) die (neo-)klassischen (vertreten u.a. durch die Forscher Solow, Harrr rod, Domar, Phelps), die keynesianischen sowie die post- und neokeynesianischen Wachstumstheorien. Die (neo-)klassische Theorie ist Basis und Ausgangspunkt aller Theorien, die sich mit vollständigem Wettbewerb und vollkommener Konkurrenz verbinden - dem Fundament marktwirtschaftlicher Politik. Wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates haben - nach dieser Denkschule - keinen wachstumsfördernden Effekt: Wachstum beruht im wesentlichen auf exogenem, also von den Marktkräften und damit auch vom Staat unbeeinflußbarem technischen Fortschritt (dies wäre für die Bildungs- und Forschungspolitik mit gewaltigen Konsequenzen verbunden). Die «Entdeckung des technischen Fortschritts» ist die zentrale Leistung dieser Wachstumstheorien. Gleichzeitig besteht die neoklassische Hypothese, dass sich das Wachstumsniveau der Entwicklungsländer dem der Industrieländer angleichen wird, sofern freier Guter- und Kapitalverkehr herrscht (Catch-up-Theorie oder «naive» neoklassische Konvergenztheorie). Wegen der Betonung exogener Wachstumsimpulse blieb die neoklassische Wachstumstheorie allein, ohne parallele Formulierung einer (Theorie der) Wachstumspolitik. In diese Lücke stießen keynesianisch fundierte Ansätze. Die keynesianischen Wachstumstheorien betonen den o.a. Einkommenseffekt von Investitionen (allerdings unter Vernachlässigung des Kapazitätseffekts) und befürworten auch staatliche «Industriepolitik» wie man es heute nennen würde. Etwas pauschal betrachtet sind die kevnesianischen Ansätze aber mehr Konjunkturals Wachstumstheorien. Das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967, das ja nachhaltig von keynesianischen Gedankengängen geprägt ist, macht dies deutlich, denn es ist vorrangig stabilitäts- und damit konjunkturorientiert. 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 77 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 77 <?page no="108"?> h f h d k 78 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Die wachstumstheoretische Forschung lag seit rd. 30 Jahren mehr oder weniger brach; der Wachstumstheorie wurde insgesamt mangelnder Praxisbezug bzw. keine Verwertbarkeit in der Praxis vorgeworfen. Die wachstumspolitische Diskussion dreht sich insbesondere um die Auseinandersetzung um quantitatives versus qualitatives Wachstum (« Null-Wachstum»), auch vor dem Hintergrund der umweltpolitischen Probleme. Seit Ende der 80er Jahre nun scheint wieder Bewegung in dieses Feld zu kommen; es entwickelt sich eine Neue Wachstumstheorie, die dem quantitativen Wachstum neue Bedeutung beimißt, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Nachholbedarfs in Osteuropa. Die Neue Wachstumstheorie geht grundsätzlich von der neoklassischen Wachstumstheorie aus, übernimmt eine ganze Reihe ihrer Annahmen, führt jedoch einige Modifikationen ein: Empirische Forschungen bemühen sich, technischen Fortschritt auch endogen zu erklären, so dass insbesondere mikroökonomische Aspekte von Bedeutung sind (Wachstum als Lernprozeß: «learning-by-doing», was auch sehr plausibel ist). Das sog. Humankapital erhält dadurch eine zentrale Bedeutung; Forschung und Entwicklung in der Industrie (F&E / R&D) erhalten einen hohen Stellenwert und verdienen staatliche Förderung: Die Neue Wachstumspolitik ist damit auch Industriepolitik, indem sie gezielte und differenzierte Branchenförderung propagiert («Zukunftsindustrien») (dies ist differenzierter und präziser als die populäre Interpretation, dass Industriepolitik «Politik zugunsten der Industrie» sei), einschließlich protektionistischer Elemente im Außenhandel, was vornehm als «strategische Handelspolitik» etikettiert wird. Im Gegensatz zum Freihandelspostulat der Klassischen Theorie geht die Neue Wachstumstheorie davon aus, dass - ganz im Gegenteil - protektionistische, sektoral gezielte staatliche Interventionen das Wachstum einer Volkswirtschaft fördern. Diese positive Wertung staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsprozeß, um Defizite in der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung auszugleichen, ist ein durchaus keynesianisches Element und natürlich für eine aktive Wirtschaftspolitik besser zu gebrauchen als die in dieser Hinsicht von Abstinenz ausgehende neoklassische Theorie. Auch in der praktischen Tagespolitik kann die - ja wissenschaftlich begründbare - Absicht, staatlicherseits für bestimmte Sektoren etwas tun zu wollen, sicher besser «verkauft» werden als die dagegen viel blassere klassische Theorie des staatsfreien Wettbewerbs. Eine weitere wichtige Neuerung durch die Neue Wachstumstheorie besteht darin, dass auch das Wachstum der Bevölkerung, das in der Neoklassik als exogen gegeben angesehen wird, «endogenisiert» wird. Hinzu kommen die explizite Berücksichtigung von - oligopolistischen <?page no="109"?> - Wettbewerbsbeschränkungen in den Ausgangsannahmen (im Gegensatz zur Annahme der vollständigen Konkurrenz in der Neoklassik) sowie die Einbeziehung der Verbindungen zwischen Außenhandel, technischem Fortschritt und Wachstum in die Wachstumstheorie. Danach ergeben sich über den Außenhandel zum einen «traditionelle» Wachstumsimpulse im Wege der Handelsschaffung, zum anderen «spill-over-Effekte» im Bereich des Technologietransfers, die wachstumsfördernd wirken (können). Umgekehrt liegt es aber nahe, technologisches Wissen für sich zu behalten und nicht an andere Länder weiterzugeben, also eine technologische Abschottung / u betreiben, die man als Know-how-Protektionismus bezeichnen könnte. (Diese Problematik im Bereich geistigen Eigentums ist - nebenbei gesagt - eines der zentralen Themen der gegenwärtigen und wohl auch künftigen WTO-Verhandlungen.) Die Neue Wachstumstheorie beinhaltet also einen latenten Widerspruch zwischen Argumenten für Liberalisierung und Protektion in Außenhandel und Technologietransfer, je nachdem, ob man die Situation aus der Sicht des Wissenden oder des (noch) Nicht-Wissenden beurteilt. Die Neue Wachstumstheorie geht jedoch nicht von der neoklassischen Konvergenzhypothese aus, sondern prognostiziert ein anhaltendes Nebeneinander bzw. sogar ein Auseinanderdriften von Industrie- und Entwicklungsländern; von Catching-up kann - außer in Ausnahmefällen - keine Rede sein (Abb.2/ 17). k kl d k l k 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 79 Abb 2/ 17: Wachstumsperspektiven Abb. 2/ 17: Wachstumsperspektiven <?page no="110"?> h f h d k 80 2. Wirtschaftswachstum und Konjunktur Die Aussagen der Neuen Wachstumstheorie stoßen allerdings auf teilweise harsche Kritik. Der Anspruch auf empirische Überlegenheit gegenüber der «naiven» Alten Wachstumstheorie kann - so die Kritiker - nicht belegt werden. Im Gegenteil: Gerade die empirischen Beispiele der Länder Süd(ost)asiens belegen, dass selektive Industriepolitik und Protektion selten vorzeigbare Erfolge gebracht haben. Methodisch ist die Neue Wachstumstheorie sehr aufwendig - z.B. sind oligopolistische Unvollkommenheiten des Wettbewerbs sehr viel schwieriger mathematisch darzustellen als die Hypothese vollkommener Konkurrenz -, was R. M. Solow zu der schönen Formulierung anregte, für das Fahren auf dunklen, engen und kurvenreichen Straßen (hiermit beschreibt er offensichtlich den Erkenntnisstand der bisherigen Wachstumstheorie) brauche man kein Auto mit 100 PS oder mehr. Insbesondere setzt Kritik daran an, dass die Neuen Wachstumsmodelle so aufwendig konstruiert sind, dass man praktisch jedes beliebige (erwünschte? ) Ergebnis produzieren könne, indem man die Annahmen entsprechend ändert. Die Aussagen sind dann schlüssig und stringent, aber praktisch wenig verwertbar. «Spezifische Schlüsse sind nämlich abhängig von den Grundannahmen in den Modellen, und meist sind es gerade die zentralen Voraussetzungen, die als unvereinbar mit der Wirklichkeit kritisiert werden.» 11 2.5.5.4. Wachstumspolitische Perspektiven Sicherlich sind die Impulse erst im Ansatz erkennbar, die sich aus der elektronischen Vernetzung der Weltwirtschaft ergeben. Die entsprechenden Produktivitätsschübe werden bereits als fünfter Kondratieff- Zyklus angesehen (vgl. oben Abschnitt ++2.5.1.3), sind jedoch erst im Ansatz erkennbar. Sie wirken sich auf Produktionstechniken, Managementmethoden und soziale Verhaltensweisen aus, schaffen neue Dienstleistungsbereiche und produzieren neue Güter. Diese Wachstumswirkungen werden zunächst - und wohl dramatisch - zunehmen, sich jedoch irgendwann in der näheren Zukunft auch wieder abschwächen, genauso, wie es durch die Einführung von Computern zu beobachten war. Skeptiker und Pessimisten stellen dabei dem deutschen Beitrag ein schlechtes Zeugnis aus; insbesondere sei die Forschungsförderung viel zu zögerlich und zu einfallslos, mit dem Resultat, dass die Masse bahnbrechender Erfindungen in anderen Ländern gemacht werden und High-Tech importiert wird. An dieser Gesamtsituation ändern auch vereinzelte Spitzenleistungen in Deutschland nichts. So heißt 11 H. G. Grubel in der NZZ, 29.11.92. <?page no="111"?> d k l es im Technologiebericht 1998 der Bundesregierung, deutsche Innovatoren «bewegen sich wie Tausendfüssler: Sie kommen sicher auf vielen Beinen voran.» Zum «großen Sprung» seien solche Geschöpfe jedoch nicht fähig. (Wer im Glashaus sitzt...) Der Deutsche Leo A. Nefiodow (1999) prognostiziert, dass das erforderliche Wachstumspotential für einen neuen, nach den Computer- und Internetbooms dann sechsten Kondratieffff Zyklus im Gesundheitsbereich liege: Das größte Wachstumskapital sei das Knowhow, aber dieses werde durch seelische, soziale und psychologische Störungen zunehmend an seiner Entfaltung gehindert. Statt das Gesundheitswesen als Kostenfaktor zu (dis)qualifizieren, sei es als Wachstumsmarkt zu begreifen. Diese Einsicht dürfte durch Umwelteffekte gesteigert werden, die durch sich erschöpfende Ressourcen und zunehmende Klimabelastung fast zwangsläufig auf die Entwicklung neuer Energiequellen hinwirken. Unabhängig davon wird der Ruf nach staatlicher Industriepolitik immer lauter, um die Wachstumsprozesse gezielt zu beeinflussen. Wachstum, Konjunktur und Beschäftigung hängen sehr zusammen. Hiermit beschäftigt sich das folgende Kapitel. 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Die Massenarbeitslosigkeit ist wohl das größte Gegenwartsproblem in Deutschland. Sie bedrückt diejenigen, die ihren Job verloren haben - etwa jede siebte Familie in Deutschland ist betroffen -, überfordert in zunehmendem Maße unsere sozialen Netze und belastet das politische Klima. Dabei gibt es einen gesetzlichen Auftrag für jede Regierung, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: Das Stabilitätsgesetz (StabG von 1967) enthält die Vorgabe, es sei ein «hoher Beschäftigungsstand» anzustreben. Aber es wird nirgendwo präzisiert, wer oder was beschäftigt sein soll und was unter «hoch» zu verstehen ist. Zwei Konzepte sind üblich, um dieses Ziel zu operationalisieren: Tagespolitisch steht meist der Beschäftigungsstand des Faktors Arbeit im Vordergrund, der mit der Arbeitslosenquote beschrieben wird. Theoretisch anspruchsvoller und umfassender bezieht sich die Auslastung des Produktionspotentials auf die Beschäftigungssituation aller Produktionsfaktoren einer Volkswirtschaft. Diesem Aspekt gehen wir zunächst kurz nach, bevor wir uns der Arbeitslosigkeit zuk k d k l d k l 2.5. Konjunkturzyklen und Konjunkturpolitik 81 <?page no="112"?> b l k d h f l k 82 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik wenden. Hervorzuheben ist, dass nicht von «Vollbeschäftigung» die Rede ist, weil dies unrealistisch wäre, denn von einer gewissen «Unterbeschäftigung» muss sowohl beim Produktionspotential als auch bei den Arbeitskräften ausgegangen werden. 3.1. Produktionspotential Konjunkturschwankungen können an der Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (siehe oben) oder an den unterschiedlichen Auslastungsgraden des Produktionspotentials abgelesen werden (Abb. 3/ 1). Unter Produktionspotential versteht man die Produktionsleistung, die eine Volkswirtschaft mit gegebenem Faktorbe- -)9)C&1B13)/ 3#)31/ ? ( *B##1 .6)31&30' 1/ 6<! -<? %/ ? $1/ 6$#&") -,630'#,0'1,61 2&, -)9)C&1B13)/ 3#)31/ ? ( 31,&(1 6)9&., 2,6 3/ *30'+/ ? ( &? .,6 / ? ./ 316&, &" 1/ 6<! +)/ " .)/ ,61 )? 2) Jüngster Wert: Juli 2006. Quelle Europäische Kommission 1999 2000 2002 2004 2006 Kapazitätsauslastung im Verarbeitenden Gewerbe Quartalsumfragen in Prozent 2) 85 84 83 82 81 80 79 78 langfristiges Mittel Abb. 3/ 1: Kapazitätsauslastung <?page no="113"?> d k l 3.1. Produktionspotential 83 stand, insbesondere an Sachkapital und Arbeitskräften, theoretisch erbringen könnte. Das Arbeitspotential wird dabei bestimmt von der Zahl der Erwerbspersonen und der durchschnittlich geleisteten Arbeitszeit, so dass sich Bevölkerungsänderungen - z.B. durch Zuwanderung aus dem Ausland - oder allgemeine Arbeitszeitveränderungen auf das Arbeitspotential auswirken. Beim Faktor Kapital wird das genutzte Sachanlagevermögen (Kapitalstock) zur Bestimmung des Produktionspotentials herangezogen. Dies entspricht vor allem im industriellen Bereich dem Begriff der Kapazitätsauslastung. Schließlich kommt eine Restgröße hinzu, die alle nicht quantifizierbaren Komponenten umfaßt, die auf das Produktionspotential einwirken. Dazu gehört u.a. der technische Fortschritt, die Bildungspolitik und Strukturveränderungen. Es wird zunehmend erkannt, dass die Bildungspolitik die Qualität des Humankapitals (altmodischer: Arbeitskräfte) bestimmt, und hier hat Deutschland offenbar beachtlichen Reformbedarf, wie die OECD im September 2005 herausstellte (Abb. 3/ 2 und 3/ 2a): Deutschland landete auf Platz 23 von 26 untersuchten Ländern. Ähnliches hatte 2002 auch schon die sog. Pisastudie hervorgehoben. Das Produktionspotential kann durch verschiedene Methoden bestimmt werden, z.B. durch Schätzung mithilfe einer (angenommenen) Produktionsfunktion, durch bestimmte statistische Analysen und Konjunkturdaten, durch Analysen der Entwicklung von Kapitalproduktivitäten und -Intensitäten oder durch Hochrechnungen aus vier- 1.FD*.F$* 0*E$*' ("& %.FD*.F$ ! #%G*/ ED,*$* < $; - 6-; 0.-4 "-)28; 4*- : <44-4 4; 1). -; 4658 2; 1).; * $-,.01) 01)2-; 3-4 ? *0$#- ("0%)2! "+%2% ,"&$#-+ (%&$,+)/ $-,.01)854/ 8; -*. ; 4 ! #%$(7.,/ ; - 4,2 5,+ 985.+ '& 1$ #*'-( ! -+,$'( &./ #"./ % 20./ &%$) Abb. 3/ 2: Bildung und Wachstum <?page no="114"?> b l k d h f l k 84 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik teljährlichen empirischen Befragungen von Unternehmen bezüglich ihrer Kapazitätsauslastung. Alle diese Verfahren haben bestimmte Vor- und Nachteile, auf die wir jedoch nicht eingehen. 3.1.1. Auslastung des Produktionspotentials Eine hundertprozentige Ausnutzung der theoretisch möglichen Produktionsleistung ist nicht realistisch. Abgesehen davon, dass technische Defekte beim Sachkapital ebenso einzukalkulieren sind wie z.B. Streiks beim Faktor Arbeit, würde eine Orientierung an der theoretischen Maximalauslastung zwei Schwachpunkte haben: Kapazitätsauslastungen in der Nähe des maximalen Produktionspotentials gehen immer einher mit Gefahren für die Preisniveaustabilität )%.$0! / +("$#$*$%.,% -$0& &%0 (%,.$%'%0 *+ ,%+%. 6! -516/ 2"357505! -4! .314) +")2%,0 )$' 4,)4 7.3)/ 4! #4)) -,4 5(*,%,+ -4) 6,4-',0*(.)&4+%(' 3$&13$% Abb. 3/ 2a: Geringqualifizierte <?page no="115"?> d k l 3.1. Produktionspotential 85 («Heißlaufen der Konjunktur»). Das technisch maximale Produktionspotential ist daher keine sinnvolle Bezugsgröße. Zum anderen wäre ein Zurückbleiben der Produktion hinter der maximalen Produktionskapazität ständig als «Ziel verfehlt» zu interpretieren. Daher ist es sinnvoll, den Auslastungsgrad der Wirtschaft nicht an Extremwerten, sondern an einem normalen Auslastungsgrad des Produktionspotentials zu messen. Dieser leitet sich aus den durchschnittlichen Auslastungsgraden der Vergangenheit ab. Der normale Auslastungsgrad wird bei knapp 97% des maximalen Produktionspotentials angesetzt. Seine Verwirklichung bedeutet «Vollbeschäftigung» des Produktionspotentials (so geschehen 1977, 1989). Bei Überschreiten der normalen Auslastung würde das Produktionspotential überbeansprucht (Überbeschäftigung: 1978-81, 1990-92), bei Unterschreiten unausgelastet (output gap: Unterbeschäftigung: 1974-76, 1981-88, 1993-2003) Ein Vergleich mit den Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Zeitablauf zeigt, dass sich die konjunkturellen Schwankungen in unterschiedlichen Auslastungsgraden des Produktionspotentials parallel, wenn auch zeitlich leicht versetzt, widerspiegeln. Die Auslastung des Produktionspotentials kann somit gleichfalls zur Beschreibung der konjunkturellen Situation verwendet werden. Zu beachten ist allerdings, dass sich sektor- und branchenspezifisch andere Ergebnisse ergeben können als für die Gesamtwirtschaft. 3.1.2. Begrenzende Faktoren Auch in den Zeiten der Vollbzw. Überbeschäftigung des Produktionspotentials gab es mehr Arbeitslose, als man als ständigen «Bodensatz» unterstellen kann. Das Produktionspotential wird berechnet auf der Grundlage eines gegebenen Bestandes an Produktionsfaktoren. Wenn nun der Sachkapitalbestand aufgrund mangelnder Investitionen nicht ausreicht, um alle Arbeitswilligen zu beschäftigen, wird das Produktionspotential durch den relativ knappen Faktor Kapital begrenzt. Dieses kann dann zwar ausgelastet sein, doch bleibt ein Teil des Arbeitspotentials ungenutzt. Diese Situation bestand in der Bundesrepublik bis etwa 1960. Umgekehrt ist das Wachstum des Produktionspotentials danach bis etwa 1972 durch das Arbeitspotential begrenzt worden, unter anderem, weil umfassende tarifliche Arbeitszeitverkürzungen erreicht wurden, so dass eine Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte («Gastarbeiter») in großem Umfang erfolgte. Seit 1972 und insbesondere nach der Wiedervereinigung, die mit einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den neuen Bunb <?page no="116"?> l k d h f l k 86 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik desländern einherging, wird das Wachstum des Produktionspotentials erneut von der Kapitalseite her begrenzt, d.h. das verfügbare Arbeitspotential wird nicht ausgenutzt. Selbstverständlich sind hierfür auch die «Preise» der Produktionsfaktoren ursächlich: Wenn sich z.B. der Faktor Arbeit im Verhältnis zum Faktor Kapital verteuert, dann besteht ein Anreiz, Arbeit durch Kapital (Maschinen) zu ersetzen. Können dann «freigesetzte» Arbeitskräfte nicht in anderen Sektoren der Wirtschaft eingesetzt werden, führt dies zu Arbeitslosigkeit und definitionsgemäß zur Unterauslastung des Arbeitspotentials. 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit In der Arbeitslosenstatistik werden sowohl absolute Zahlen als auch relative ‚Werte (Arbeitslosenquote) verwendet. Mit zunehmender Arbeitslosigkeit verdrängen die absoluten Millionenzahlen dabei meist die relativen Quoten-Prozente. Abb. 3/ 3 und 3/ 3a verdeutlichent die Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit auf hohem Niveau. 12 Im Januar 1998 wurde die Rekordmarke von 4,8 Mio. Arbeitslosen 13 erreicht, die der damalige Bundeskanzler Kohl als «schwärzeste Zahl» seiner Amtszeit bezeichnete. Im September 2003 waren 4,4 Mio. Menschen arbeitslos, Anfang 2005 wurde die 5-Millionen-Marke durchbrochen. Noch im Jahreswirtschaftsbericht 2002 hatte der damalige Wirtschaftsminister Müller blauäugig «2 Millionen neue Stellen» versprochen... Im internationalen Vergleich hat Deutschland an Boden verloren. Das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg (Eurostat) weist für August 2006 die saisonbereinigte Arbeitslosenquote der Eurozone mit 8,9% aus; die EU-15-Quote liegt bei 7,9%. Die höchste Quote der EU verzeichnete Spanien mit 11,4%. Danach folgten Deutschland und Frankreich mit jeweils 9,4%, Finnland (9,3%) und Belgien (8,0%). Die niedrigsten Quoten wurden in Irland mit 4,7%, in Österreich mit 4,4% und Luxemburg mit 3,7% ermittelt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Durchschnittswerte in den einzelnen Regionen der Länder teilweise gravierend streuen: in Deutschland zwischen 6,2% in Baden-Württemberg und 20,3% in Sachsen-Anhalt. 14 12 Neben den Publikationen des Bundesanstalt für Arbeit enthalten die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank ausführliche Beschäftigungs- und Arbeitslosenstatistiken. 13 Die Zahlenangaben in den Statistiken variieren allerdings. 14 Bundesanstalt für Arbeit, 3.9.2006. <?page no="117"?> %07 : / -44.6/ #0 ..1 20# : 770,14$.7&1 8"%% 07-.(1 %07 &044.C-1,0/ #04./ -7./ 41*1/ 1 2,0 3"#'/ &1/ 7 ! 5/ 1 0,#0 1,%%,"# 807204&1 : 770,14%"40 Abb. 3/ 3: Entwicklung der Arbeitslosigkeit + 7&$6 ) "SOOS78$8 &6)$S45O75$' F864MKO48OK8 $/ W I8OW8X2K8 "OY84KM1UM46284K "SO&$6 %$2$9)$6 +9 &6)$S459+6Q4 &6)$S45O75$ S8 %$345("O+8& )--- - - ( + ? ) 5 ( +) E +B ) +8 B )+ ; )--+ )--) )--( )--E )--B 2! )*/ -*! .0+ 9 B-6-! 9 +6+! )! 2)1 9 +65! 2! )/ - C ; 6? ! *! 0 C +6B! .! 2 C -65! 2! +1) C )+6? ! / 220 B6) 74114U/ 8/ "/ E&51 @4/ 74114U/ 8/ < D8081W8K8 U778/ 8 HK8118/ IOG8OYMK'K468 E< "OY84KM1UM8 BB >&5O8 $/ W '1K8O "OY84KM1UM8 3%/ 68O &1M )B >&5O8 "OY84KM1UM8/ 681W AA B< HK&K4MK42 ,$/ W8M&68/ K$O HK&K4MK42 A: 1 ? < C8O'/ W8O$/ 6 E$0 CUO3&5O8M0U/ &K (< "OY84KM1UM8/ Q$UK8/ @4/ .OUE8/ K< C8O'/ W8O$/ 6 E$0 CUO3&5O8M0U/ &K 7U/ &K > G 7 " 7 > > " H 1 4 * > )< )--E B6- E68 E6? E6E E6) E6- (68 (6? )--( )--) )--B+ $8&$ %$23 / 220( +! 22, "SOOS78$8 @[8MK2)6? ; - 74U3 1MK2 +6((8 74U )--? 4/ .OUE8/ K "OY84KM1UM8/ Q$UK8 +< C8OW8X2K8 "OY84KM1UM8 J864MKO48OK8 "OY84KM1UM8 4/ 74114U/ 8/ +< A/ .OUE8/ K W8O E4I418/ IOG8OYMS8OMU/ 8/ 3 +< HK&K4MK4MX58 #/ W8O$/ 6 )--E2 F841/ 8508O &/ FO&4/ 4/ 6M0&-/ &508/ 681K8/ / 4X5K 085O &1M &OY84KM1UM3 )< >&/ $&O W8M GU1683&5O8M3 (< CUO3&5O8MW&K8/ &568S&-K3 E< HK&/ W2 4UI3 )--? 3 B< CUO1'$7468 "/ 6&Y8/ 3 .8OMU/ 8/ 4/ ,8W&O7M68084/ MX5&7K8/ 3 ? < A/ K8O/ &K4U/ &1 I8O6184X5Y&O/ HK&/ W 4UI3 )--? / / 4X5K M&4MU/ Y8O84/ 46K3 K$81182 ,"0G3"3=3 K$8118/ 2 ,"6 H&X5I8OMK'/ W468/ O&K E$O ,86$K&X5K$/ 6 W8O 68M&0KG4OKMX5&7K14X58/ : &680G3"3=3 #$882+"O$8 &$5 &6)$S459+6Q4$5 .OUE8/ KS$/ 2K8 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 87 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 87 <?page no="118"?> b l k d h f l k 88 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik 3.2.1. Strukturelle Arbeitslosigkeit Die Ursachen von Arbeitslosigkeit sind vielschichtig, doch lassen sich einige Hauptkomponenten unterscheiden. Die langfristigste und am schwierigsten zu bekämpfende Arbeitslosigkeit ist die strukturelle Arbeitslosigkeit. Man versteht darunter, dass die Struktur der Nachfrage nach Arbeitskräften langfristig nicht mit der Struktur des Angebots übereinstimmt. Besonders deutlich erkennbar war dies z.B. nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern (Abb. 3/ 4). (1) In sektoraler Hinsicht wird die strukturelle Arbeitslosigkeit vielfach auch als technologische Arbeitslosigkeit bezeichnet, wodurch deutlich wird, dass sie durch technischen Fortschritt entstehen kann. Durch technischen Fortschritt - oder allgemeiner: bei höherer Arbeitsproduktivität - sinkt der erforderliche Arbeitseinsatz, und die Zahl der Erwerbstätigen geht zurück (Abb. 3/ 4a). In Kapitel 2 wurde als Argument für Wachstum betont, dass durch technischen Fortschritt freigesetzte Arbeitskräfte nur bei wachsendem Inlandsprodukt wieder in den Wirtschaftsprozeß eingegliedert werden kön- % 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 GR 1) FR DE BE ES FI PT IT 1) LU AT NL 3. VJ. 2005 3. VJ. 2006 EWU-Durchschnitt saisonbereinigt * Standardisierte Arbeitslosenquoten nach ILO-Konzept. - 1 Werte ligen nur für das 2. Vj. 2006 vor. Deutsche Bundesbank Arbeitslosigkeit * ) im Euro-Raum Abb. 3/ 3a: Arbeitslosigkeit international <?page no="119"?> nen; Umschulungsmaßnahmen reichen hierfür nicht aus. Das Institut der deutschen Wirtschaft schätzt (iwd 25/ 2003), dass erst bei einer Wachstumsrate des BIP von 2% die sog. Beschäftigungsschwelle überschritten wird und tatsächlich Neueinstellungen erfolgen: Vorher steigen vor allem die Überstunden, weil dies arbeitsrechtlich (Kündigungsschutz) und kostenmäßig günstiger ist. (2) In regionaler Hinsicht bedeutet strukturelle Arbeitslosigkeit, dass in «strukturschwachen Gebieten» ein Angebotsüberhang auf dem Arbeitsmarkt besteht. Regionaler Arbeitslosigkeit ist insbesondere durch Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer, aber auch durch Investitionsanreize in wirtschaftlich schwach entwickelten Gebieten zu begegnen. (3) In sozio-struktureller Hinsicht werden bestimmte Personengruppen aufgrund von Alter, Geschlecht, Nationalität usw. strukturell benachteiligt. (4) In globaler Hinsicht wird strukturelle Arbeitslosigkeit auch induziert durch die Auswirkungen der Globalisierung: Die Entwicklung und Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung verlagert in zunehmendem Maße Arbeitsplätze in kostengünstigere Transformations- und Entwickungsländer und produziert entsprechend Arbeitslosigkeit in Industrieländern wie Deutschland. Hierbei ergibt sich eine Verstärkung durch strukturelle Rahmenbedingungen des Arbeitsrechts in Deutschland, insbesondere durch das hohe Lohnniveau, Kündigungsschutzbestimmungen und das Mitbestimmungsrecht, Aspekte, die manchen potentiellen Investor abschrecken. "; , -+/ >9+>/ ,77, %/ 2,; +-71-; )9,; + ; 3 ",>+-0<743. ; -+ ),-+; ,),3 6! #"($,/ ; 0<+& ",/ ,)>7; ,/ >3),3 =1/ 43+/ ,; 2,3 ' ",>+-0<743. >3. : / 439/ ,; 0< ; 5 8; 3+,/ +/ ,**,3 Abb. 3/ 4: Strukturelle Arbeitslosigkeit 2)+ ! 1&0*#$+, "$ ! 1&0*#$+, )`/ F>^_7._F >1 DF&^_,A721* %? 2A`F_*&`,A_,A1>^^F$# >1 <>77>.1F1 ! '1.(%&-)&(,/ .(% >1 DF&^_,A721*# >1 <>77>.1F1 6 9 = @ ! 6#9 9#" 9#3 9#@ " 2/ ! --! BF_24^*F&^_,AF )`/ F>^_7._F1_^2^>_^>; #*? ? L*NL (*#A ! --3 ! --" @""0 2/ @""3 8`.C1._F# 5&F77F+ (&1*F_2CF1^&` E'` )`/ F>^ 5&F77F+ (&1*F_2CF1^&` E'` )`/ F>^ ! ((J ? 2A`F_*&`,A_,A1>^^ L*? A# >=<<) ! ((A ? 2A`F_*&`,A_,A1>^^ L*L? @ >=<<) 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 89 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 89 <?page no="120"?> b l k d h f l k 90 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik 3.2.2. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit Eine mittelfristige Ursache der Arbeitslosigkeit sind Konjunkturschwankungen. Ein anhaltender Rückgang der volkswirtschaftlichen Endnachfrage - sei es im Konsum-, Investitions- oder Exportbereich - geht in der Regel einher mir Beschäftigungseinbußen. Statistisch ist ein enger Zusammenhang zwischen Investitionstätigkeit (Sachkapital) und Beschäftigungszahl nachzuweisen. Die sogenannte angebotsorientierte Wirtschaftstheorie argumentiert daher, dass eine Zunahme der Beschäftigung nur durch eine Zunahme der Investitionen zu erreichen ist. Zu beachten ist dabei allerdings, dass eine Investition zur Faktorsubstitution, d.h. ein Ersetzen von Arbeitskräften durch Sachkapital, führen kann. Nicht jede Investition schafft Arbeitsplätze, d.h. die Konjunktur «zieht an», die Arbeitslosigkeit nimmt aber nicht analog ab (Abb. 3/ 5). Und hier ist nochmals an die oben bereits angesprochenen erforderlichen Investitionen in das Humankapital hinzuweisen. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim schätzt, dass die Arbeitslosigkeit nur zu 20% konjunkturell bedingt ist; der weitaus größte Teil hat strukturelle Ursachen. Das Entstehen von Arbeitslosigkeit ist grundsätzlich mikroökonomisch, d.h. aus der Sicht eines Unternehmens zu erklären. Der Einsatz von Produktionsfaktoren im Produktionsprozeß verursacht Kosten, die in den Preisen verdient werden müssen. Wenn die Erlöse, also das Produkt aus Absatzmenge und Stückpreisen, langfristig nicht 39,2 39,1 39,1 39,1 26,9 2,8 8,5 0,94 2000 39,3 38,9 38,8 38,7 39,0 38,8 38,6 2000 01 02 03 04 05 06 Erwerbstätigenzahl auf Niveau von 2002 Erwerbstätige in Deutschland in Millionen Erwerbstätige nach Sektoren in Millionen Quelle: Statistisches Bundesamt Dienstleistungen Land-/ Forstwirtschaft Baugewerbe Produzierendes Gewerbe (ohne Bau) 28,3 2,2 7,8 0,85 2006 Dienstleistungen Land-/ Forstwirtschaft Baugewerbe Produzierendes Gewerbe (ohne Bau) Abb. 3/ 4a: Erwerbstätige <?page no="121"?> mehr die Kosten plus Gewinnspanne decken, ist die Existenz eines Unternehmens gefährdet. Sofern diese Situation von Anfang an besteht, wird es gar nicht erst zu Unternehmungsgründungen kommen. Tritt die Situation durch Kostensteigerungen oder Erlöseinbußen bei bestehenden Unternehmen ein, werden diese zunächst durch Rationalisierungsmaßnahmen (auch Entlassungen) Kosten einzusparen versuchen bzw. - wenn dies nicht ausreicht - den Betrieb einstellen. In den vergangenen Jahren gingen jeweils 30-40.000 Unternehmen in Konkurs. 15 Dabei überlagern sich strukturelle und konjunkturelle Ursachen. An diesem Punkt setzt die angebotsorientierte Wirtschaftstheorie an: Durch staatliche Maßnahmen - steuerliche Entlastungen, geringere Sozialabgaben, Förderinstrumente - soll das Kosten-Erlös-Ver- 15 Formal korrekt heißt es Insolvenz, aber das klingt fast so wie «Uns geht es nicht so gut». Daher sind Begriffe wie Konkurs oder Bankrott doch plastischer. * sozialversicherungspflichtig; Quelle: AllianceBernstein 06 05 04 03 02 01 00 99 98 97 96 95 Zu schwaches Wachstum Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt (real) und Beschäftigung* in Deutschland (Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent) 3 5 2 4 1 3 0 2 -1 1 -2 0 -3 -1 Beschäftigung BIP Abb. 3/ 5: Konjunkturelle Arbeitslosigkeit ” Gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit machtlos “ Schwache Konjunktur drückt auf den Arbeitsmarkt 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 91 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 91 <?page no="122"?> b l k d h f l k 92 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik hältnis für Unternehmen günstiger gestaltet werden, um so einen Anreiz für arbeitsplatzerhaltende und vor allem arbeitsplatzschaffende Investitionen zu bieten. Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen ist gegenläufig zur Konjunkturbewegung, während die Zahl der offenen Stellen als zweiter wichtiger Indikator für den Arbeitsmarkt sich tendenziell parallel zur Konjunktur und gegenläufig zu den Arbeitslosenzahlen verändert (vgl. Abb. 3/ 6). Da trotz Massenarbeitslosigkeit viele qualifizierte Stellen nicht besetzt werden können (sog. Mismatch: Nicht-Zusammenpassen), wurde Anfang 2000 in Deutschland die «Green Card» eingeführt, um durch vereinfachte Zuwanderungsbedingungen (vor allem IT- TT ) Spezialisten aus Entwicklungsländern anzuwerben. Konjunktureller Arbeitslosigkeit wird durch Konjunkturpolitik im eigentlichen Sinne begegnet, d.h. durch Versuche zur Anregung und Stabilisierung der volkswirtschaftlichen Endnachfrage auf hohem Niveau. Beschäftigungspolitik ist somit auch Wachstums-, Struktur- und Bildungspolitik. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit kann durchaus in eine langfristige, strukturelle Arbeitslosigkeit umschlagen, da «abgebaute» Arbeitsplätze im anschließenden Wiederaufschwung meist nicht wieder geschaffen werden. 0 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 4000 4500 5000 5500 2/ 05 1/ 05 3/ 05 4/ 05 5/ 05 6/ 05 7/ 05 8/ 05 9/ 05 10/ 05 11/ 05 12/ 05 1/ 06 2/ 06 3/ 06 4/ 06 Monat Jahr offene Stellen Arbeitslose [x1000] ! 063/ ,.N2.3 +45 211343 8,3NN34 Offene Stellen und Arbeitslosigkeit <?page no="123"?> 3.2.3. Saisonale Arbeitslosigkeit Die kurzfristigste Form der Arbeitslosigkeit ist die saisonale Arbeitslosigkeit, die jahreszeitlich bedingt und in hohem Maße wetterabhängig ist. So erleiden - unabhängig von der konjunkturellen Lage - Landwirtschaft und Bauwirtschaft im Winter starke Beschäftigungseinbußen. Gleiches gilt für typische Saisonberufe wie Bademeister,Skilehrer oder Gartenlokalpersonal. Abb. 3/ 7 verdeutlicht, dass diese saisonalen Veränderungen jedes Jahr zu beobachten sind. Durch spezielle Saisonbereinigungsverfahren lassen sich die regelmäßigen Schwankungen statistisch herausfiltern und jahreszeitenunabhängige «bereinigte» Arbeitslosenzahlen berechnen. 3.2.3. Friktionelle Arbeitslosigkeit Unter friktioneller Arbeitslosigkeit versteht man, dass Verlust bzw. Aufgabe eines Arbeitsplatzes und Aufnahme einer neuen Beschäftigung nicht reibungslos aneinander anschließen, da z.B. der Arbeitslose über das Angebot an geeigneten offenen Stellen nicht hinreichend '.+ ! &1+.$%*'%.),+.$ %$+.)$ "+)+( -+% 2.($+&+.(1&#/ 0% ; 9*5: =9? 0 "860*35? : 5*.)0*3 ! 01354,? 9=2 '##$ / &((% "860*35? : 50 5,0 Mio. 4,5 Mio. 4,0 Mio. 1998 1999 2000 2001 2002 3,5 Mio. Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Abb. 3/ 7: Saisonale Arbeitslosigkeit 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 93 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 93 <?page no="124"?> b l k d h f l k 94 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik informiert ist. Man spricht daher auch von Such- oder Fluktuationsarbeitslosigkeit. Informationslücken treten insbesondere dann auf, wenn die Arbeitsämter seitens der Unternehmen nicht vollständig über das Angebot an offenen Stellen informiert werden. Friktionelle Arbeitslosigkeit wird auch bedingt durch Abweichungen zwischen Schul- oder Bundeswehrentlassungsterminen und Einstellungsterminen. 3.2.5. Institutionell-politisch bedingte Arbeitslosigkeit Als institutionell-politisch bedingte Arbeitslosigkeit wird gewertet, wenn Beschäftigungsverhältnisse abgebaut werden oder nicht entstehen, weil Arbeitgeber vor den arbeitsrechtlichen Konsequenzen (u.a. Kündigungsschutz) oder den hohen Kosten der sozialen Absicherung zurückschrecken. 3.2.6. «Wohlstandsarbeitslosigkeit» Von Wohlstandsarbeitslosigkeit wird gesprochen, wenn Arbeitskräfte bewußt und gezielt arbeitslos bleiben bzw. werden, da sie die soziale Absicherung dazu ermuntert. Obgleich häufig zitiert - jeder kennt ein besonders krasses Beispiel für «Sozialhilfe unter Palmen» -, sollte diese Ursache für Arbeitslosigkeit auf keinen Fall überbewertet werden. In der Relation zu anhaltender und zunehmend strukturell bedingter Massen- und Dauerarbeitslosigkeit ist der Anteil von «Drückebergern» sicher nicht allzu bedeutsam. 3.2.7. Fazit Es ist davon auszugehen, dass die Arbeitslosenquote auch in Zeiten der Hochkonjunktur nicht Null sein kann. Aus saisonalen, friktionellen, strukturellen und sonstigen Gründen wird es immer einen gewissen «Bodensatz» an Arbeitslosigkeit geben. Selbst die Schweiz, die als Land ohne Beschäftigungsprobleme galt (sie hat gegenwärtig allerdings auch um die 2,5% Arbeitslose), wies z.B. in einem guten Jahr wie 1983 eine Arbeitslosenquote von 0,3% aus, und auch in Deutschland ist die Arbeitslosenquote in den Zeiten höchster Anspannung des Arbeitsmarktes (dies umfaßt den Zeitraum 1960 bis 1973) nicht unter 0,7% gesunken. Eine pauschale Betrachtung der Arbeitslosigkeit anhand der globalen Arbeitslosenquote ist - abgesehen von Einwänden gegen die Berechnungsmethoden - wie jede Durchschnittszahl problematisch. Rückschlüsse lassen sich nur aus einer Aufspaltung in verschiedene <?page no="125"?> Gruppen von Betroffenen ableiten. Eine Differenzierung wäre demnach u.a. vorzunehmen in regionaler wie sektoraler (branchenmäßiger) Hinsicht, ferner alters- und geschlechtsspezifisch, nach dem Ausbildungstand und schließlich nach der Dauer der Arbeitslosigkeit. Insbesondere dieser Aspekt ist im Hinblick auf die Langzeitarbeitslosigkeit (Arbeitslosigkeit von mehr als zwölf Monaten) von spezieller Brisanz, da sie besonders schwer zu bekämpfen ist: Langzeitarbeitslose sind in der Regel ohne qualifizierte Ausbildung, gesundheitlich beeinträchtigt, haben die 50-Jahre-Marke überschritten oder sind unqualifizierte Schulabgänger unter 25 (Geringqualifizierte sind den Betrieben zu teuer); man nennt das verschämt «schwere Vermittlungshemmnisse»... Fast jeder zweite Arbeitslose in Deutschland ist länger als ein Jahr auf Stellensuche - sehr viele auf Dauer erfolglos. Deutschland hat einen Anteil von 50% Langzeitarbeitslosen an allen Erwerbslosen (BfA). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass zwischen dem Umfang der Langzeitarbeitslosigkeit und dem Ausmaß der Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt ein Zusammenhang besteht (Abb. 3/ 7a). Manchmal sind positiv klingende Meldungen jedoch zu hinterfragen: «Neben dem positiven konjunkturellen Umfeld beruht ein Teil der Abnahme de Arbeitslosigkeit au der intensiven Betreuung von Arbeitslosen sowie der systematischen Aktualisierung von Bewerberangeboten.» So weit, so gut. Wenn die Zahl der Leistungsempfänger sinkt (Abb. 3/ 7b), liegt dies nicht nur an Vermittlungserfolgen, sondern weil es zwei Gruppen von Arbeitslosen gibt, die in der Statistik nicht (mehr) auftauchen: • Der einen Gruppe wird bei Überprüfungen des Arbeitslosenstatus das Geld gestrichen, weil sie die Bedürftigkeitskriterien nicht oder noch nicht oder nicht mehr erfüllen, z.B. über 58jährige oder Personen, die keinen hinreichenden Nachweis über ihre Eigenbemühungen erbringen oder gegen andere Regeln (z.B. Zumutbarkeit eines Jobangebots) verstoßen haben (schätzungsweise 560.000 Menschen) (man kann aber nicht behaupten, dass die entsprechenden Sanktionen die Beschäftigungssituation signifikant verbessert haben), • Die andere Gruppe von Arbeitslosen ist noch größer: Sie melden sich gar nicht erst als arbeitslos, da sie sich keine Erfolgschancen einräumen (discouraged persons)., wie z.B. teilzeitarbeitsuchende Hausfrauen, aber auch ausländische Arbeitnehmer, die mangels Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland in ihre Heimat zurückkehren. Verharmlosend wird diese Gruppe als »Stille Reserve” bezeichnet. 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 95 3.2. Ursachen von Arbeitslosigkeit 95 <?page no="126"?> b l k d h f l k 96 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik 3.3. Arbeitslosenquote als Meßgröße Zur Berechnung der Arbeitslosenquote gibt es verschiedene Konzepte. Meist lautet die Formel: (1) Arbeitslosenquote = Arbeitslose • 100 ------------------------- Erwerbstätige + Arbeitslose wobei unter Erwerbstätigen (synonym: Beschäftigte) nur zivile Erwerbstätige zu verstehen sind. Einige außereuropäische Länder beziehen allerdings auch die im militärischen Bereich Beschäftigten in die Berechnung der Erwerbstätigen ein. Zivile Erwerbstätige plus- Arbeitslose werden zusammen auch als zivile Erwerbspersonen oder Arbeitskräfte bezeichnet. Die Erwerbstätigen umfassen - etwas genauer betrachtet - die sozialversicherungspflichtigen (abhängigen) Beschäftigten (inkl. der geringfügig Beschäftigten! ), Beamte und Selbständige (inkl. mitarbeitender Familienangehöriger). Eine andere Version der Arbeitslosenquote bezieht sich nur auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen und lautet (2) Arbeitslosenquote = Arbeitslose • 100 ---------------------------------- abhängige Erwerbstätige + Arbeitslose Beide Versionen sind international gebräuchlich und entsprechen den Vorschlägen des Internationalen Arbeitsamts der Vereinten Nationen in Genf (ILO: International Labour Organization). Version (1) wird Abb. 3/ 7a: Langzeitarbeitslosigkeit und Regulierungen Abb. 3/ 7b: Erfolgsmeldung 87.1 64+ "45*)(-0*4/ ,2'-04+ *5-3) *)4)50 <?page no="127"?> in Deutschland insbesondere auf Bundesebene, Version (2) oft auf l.änder- und Regionalebene verwendet. Innerhalb der Europäischen Union werden die offiziellen Daten leider wegen der unterschiedlichen Gesetzgebungen und Verwaltungspraktiken in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich berechnet, aber seitens Eurostat harmonisiert, d.h. umgerechnet, um einen internationalen Vergleich zu ermöglichen. Die EU-Quote wird im wesentlichen nach Formel (1) berechnet. Das Anschnellen der Arbeitslosigkeit in Deutschland nach der Wiedervereinigung ist nicht nur als Strukturwandel, sondern als massiver Strukturbruch zu werten; daher werden bislang viele Statistiken für West- und Ostdeutschland noch getrennt geführt. • Probleme der Berechnung Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass die obige Version (2) höhere Arbeitslosenquoten ergibt als Version (1), da in (2) die Bezugsgröße kleiner ist als in (1). Der Unterschied beträgt ca. 1-1,5 Prozentpunkte. In Deutschland werden die Erwerbstätigen an ihrem Beschäftigungsort, Arbeitslose an ihrem Wohnort erfaßt. Bei hohem Pendleranteil, wie z.B. zwischen Ost- und Westdeutschland, ergeben sich daraus beträchtliche Verzerrungen im Vergleich zu einer Berechnung, die beide Gruppen an ihrem Wohnort erfaßt. Methodische Unterschiede in der Erfassung zwischen den Mitgliedern der EU beziehen sich u.a. auf die Altersgrenzen, Teilzeitsuchende, Weiterbildungsmaßnahme oder Vorruhestand. Daher ist zwischen offener Arbeitslosigkeit und verdeckter oder versteckter Arbeitslosigkeit zu unterscheiden. Zur verdeckten Arrr beitslosigkeit zählen Personen, die sich in Umschulungs-, Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, im Vorruhestand oder in Kurzarbeit befinden sowie subventionierte Arbeitskräfte, die allesamt statistisch nicht als arbeitslos gerechnet werden. Hinzu kommt noch die bereits oben erwähnte «Stille Reserve», d.h. faktisch Arbeitslose, die zwar gerne arbeiten würden, sich aber erst gar nicht beim Arbeitsamt melden, da sie sich keine Erfolgschancen einräumen (discouraged persons). Verdeckte Arbeitslosigkeit kann auch aus einem ganz anderen Blickwinkel gesehen werden, nämlich dass Arbeitskräfte zwar in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, ihr Arbeitspotential jedoch nicht voll ausgenutzt wird. Prinzipiell können hierzu ganze Heerscharen von Arbeitskräften gerechnet werden, die Teile ihrer Arbeitszeit auf Aktivitäten wie Kaffeekochen oder Schwätzchenhalten verwenden. Einschlägig sind ferner Zuspätkommen, Krankfeiern, vorübergehende Abwesenheit und vorzeitiges Verlassen des Arbeitsplatzes. 3.3. Arbeitslosenquote als Meßgröße 97 3.3. Arbeitslosenquote als Meßgröße 97 <?page no="128"?> b l k d h f l k 98 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Verdeckt (teil-) arbeitslos sind auch solche Arbeitskräfte, die eine Arbeit annehmen (müssen), für diesie überqualifiziert sind (Abb. 3/ 8). 3.4. Besondere Charakteristika des Arbeitsmarktes Die Existenz von Massen- und Dauerarbeitslosigkeit belegt, dass für den Produktionsfaktor Arbeit keineswegs die Markt- und Preismechanismen gelten, von denen die klassische ökonomische Theorie in idealtypischen Modellen ausgeht. Ansonsten müßten bei einem Überangebot an Arbeitskräften die Löhne als Preise für Arbeit sinken. Den Arbeitsmarkt zeichnen eine Reihe von Besonderheiten aus, die ihn von den Gegebenheiten auf anderen Faktor- und Gütermärkten unterscheiden. 3.4.1. Existentielle Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt Zunächst einmal ist der Arbeitnehmer in der Regel darauf angewiesen, seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, d.h. er kann nicht - wie ein Grundstücksbesitzer - auf die Vermarktung verzichten. Anhaltende Arbeitslosigkeit ist daher in erster Linie ökonomisch existenzbedrohend; sie stellt aber vielfach auch eine seelische Belastung dar, die für den Betroffenen zum Verlust des Selbstwertgefühls und zu völligem sozialen Absturz führen kann. Daher sind Arbeitslose bei anhaltender Arbeitslosigkeit zunehmend bereit, auch schlechter bezahlte Tätigkeiten anzunehmen und solche, für die sie eigentlich überqualifiziert sind . Sprachlich sind die Begriffe «Arbeitgeber» und «Arbeitnehmer» irreführend. Der Arbeitnehmer ist der Anbieter von Arbeitskraft, also eigentlich ein «Arbeitgeber», der Arbeitgeber fragt Arbeitskraft nach, ist also ein «Arbeitnehmer». Man müß te von Arbeitsplatzgeber und -nehmer sprechen, dann wäre die sprachliche Unlogik bereinigt. 4&&-" &-)" 23%3*-" W-"/ -% 0#+-" / -" ,-"&1)'3%("%* ! 6-" 23"($ +U" 5U)""%*&("S+$- +$"/ -"$ %-"- ."*-%/ -% Abb. 3/ 8: Job-Qualifikation <?page no="129"?> 3.4.2. Externe Lohnfestsetzung Der einzelne Arbeitnehmer hat keinen direkten Einfluß auf den Marktpreis der Arbeit, die Lohnfestsetzung erfolgt in der Regel extern in Tarifverhandlungen. Ein Arbeitnehmer, dem dieser «Preis» zu niedrig ist, kann aber nicht darauf verzichten, seine Arbeitsleistung anzubieten, sondern muss in aller Regel den niedrigen Lohn akzeptieren. Andererseits ist heutzutage angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit zu beobachten, dass das Niveau der von den Tarifpartnern ausgehandelten Mindestlöhne tendenziell sinkt. 3.4.3. Preisbildung und Mindestlöhne Eine Übernachfrage nach Arbeitskräften in Aufschwungsphasen begünstigte in der historischen Rückschau grundsätzlich Lohnsteigerungen. In Abschwungsphasen hingegen war das marktwirtschaftliche Prinzip weitgehend außer Kraft gesetzt: Abnehmende Nachfrage nach Arbeitskräften führte zwar in einigen Konjunkturphasen zu abgeschwächten Lohnsteigerungen, bislang nur in Ausnahmefällen zu (Nominal-)Lohnsenkungen (u.a. bei einigen Luftlinien). Einmal vereinbarte tarifliche Mindestlöhne waren bislang zwar nach oben, nicht aber nach unten flexibel, wenn man von Schwarzarbeit zu untertariflichen Löhnen (Schattenwirtschaft) absieht. Ebenso war die tarifliche Arbeitszeit lange Zeit nur nach unten, nicht aber nach oben flexibel, doch auch dies beginnt aufzuweichen (Abb. 3/ 9). Dabei muss zwischen Nominal- und Reallohn unterschieden werden. Der Reallohn berücksichtigt im Gegensatz zum Nominallohn die Geldentwertung durch Inflation (Abb. 3/ 10). Nominale Tariflohnsteigerungen, die unterhalb der Inflationsrate liegen, bedeuten daher eine reale Lohnsenkung. Seit 1950 sind die Nominalverdienste nur einmal gesunken, aber real und vor allem netto wird es deutlich weniger: Der Zugriff des Staates versteckt sich auch in der Inflation. d h k k d b k 3.4. Besondere Charakteristika des Arbeitsmarktes 99 43)1,. 2)30*'.- ! .3/ / +*-%.)/ &(' ! &/ ) 0$*%' 3,.2'(1-%$+- 3&,(-- ".*&$ %(0* ,.,.) )'+()1-. ! '*)%.)/ #),.) ! )/ .*&'#.*&$.)(")#%-, / *& '%)#1)0.*& (+/ 0*-*.).- *: ++"'$; ': # -%! '; "9% (,$-+: -&% Abb. 3/ 9: Lohnsenkungen <?page no="130"?> b l k d h f l k 100 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Ein Angebotsüberhang auf dem Arbeitsmarkt führt daher nicht - wie auf dem Gemüsemarkt - zu sinkenden Preisen, d.h. Löhnen, so dass sich ein sogenanntes Unterbeschäftigungsgleichgewicht einstellte. Im Gegensatz zu den Theorien der vollständigen Konkurrenz ergab sich aus den Marktkräften kein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage. Hierauf fußt u.a. die These von John Maynard Keynes, die auch die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik lange Zeit nachhaltig beeinflußt hat: Da die private Wirtschaft angesichts einer Rezession keine Veranlassung zu erhöhter Nachfrage nach Arbeitskräften sieht, andererseits aber auch nicht sinkende Löhne zu einem Beschäftigungseffekt führen können, sei es Aufgabe des Staates, durch gezielte Maßnahmen im Rahmen von Beschäftigungsprogrammen die Nachfrage nach Arbeitskräften anzuregen. Abb. 3/ 10: Nominal- und Reallohn +** 1A.$*00 +)# 2C/ / C)# ")$#C)-(C #*-, / A-, *& +)$ 3&0'/ C*%& B: : A B: : @ B: : ? B: : > B: : = B: : < B: : ; B: : : AMMM AMMB AMMA AMM@ AMM? AMM> ! BA ! BM ! ; ! = ! ? ! A M , A , ? B: : A B: : @ B: : ? B: : > B: : = B: : < B: : ; B: : : AMMM AMMB AMMA AMM@ AMM? AMM> M , B ! A ! B , A , @ , ? , > , = , < , ; P5H-J65HEJ3 .EK P&H0N2H 1J %H&.5JF A# 951FHN3 .EH EJF5HG72156L1725J +JFC17/ LEJ3 D&J RNH14D5H615JGF EJ6 H5NL5K '5FF&L&2J 1J %H&.5JFIEJ/ F5J %*+#%<&+'#&7A@& >7' +&*! & '&@@-! 7$7& $>' <.) 4,? *5218= 7</ 0-+3; : =+)3=.? > BMQ= AQ: =Q> ? Q= AQ? BQ> AQ< BQ; AQB BQ: AQ= AQM BQ@ BQB 1%(% 1&(! &(! %(# &(6 %($ &(# #(" &($ 1&(! 1$(9 1%(& 1#($ $5NL5 '5FF&L)2J5 EJ6 O352-LF5H ? # RNH14D5H615JGF5 @# +445/ F1D5H P5H615JGFN8G72LN3 ># *J4LNF1&JGN8G72LN3 "&.1NLD5HG1725HEJ3G851FH-35 EJ6 (&2JGF5E5H <?page no="131"?> Abb. 3/ 11 soll dies verdeutlichen: Figur (a) zeigt eine Arbeitsmarktsituation bei Vollbeschäftigung: Diejenigen, die zum Tariflohn L T L bereit sind zu arbeiten, werden beschäftigt (A 1 ). Steigt das Arbeitsangebot - Bewegung von A zu A‘ in (b) - , knickt die Arbeitsangebotskurve A‘ auf dem Niveau L T L (Mindestlohn) ab, und es stellt sich ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht UG ein. Die Differenz zwischen dem Arbeitsangebot A 1 und A 2 bedeutet somit Arbeitslosigkeit. Wären die Löhne nach unten flexibel, würde sich bei einem niedrigeren Lohnsatz L* wieder ein (neues) Vollbeschäftigungsgleichgewicht VG‘ einstellen - was aber nicht geschieht. Die Arbeitslosigkeit baut sich also nicht, wie die Klassiker behaupten, entsprechend den Marktkräften von Angebot und Nachfrage von selbst ab. Folglich, so Keynes, könne die Vollbeschäftigung nur wiedererreicht werden, wenn die unzureichende private Nachfrage nach Arbeitskräften (N) durch gezielte, staatliche Nachfrage erhöht wird, so dass sich in (c) N nach N‘ verschiebt und in VG» ein neues Vollbeschäftigungsgleichgewicht erreicht wird. In der Zeit der großen Depression, als Keynes seine Theorien entwickelte, waren die Produktionskapazitäten stark unterausgelastet. Eine Erhöhung des Beschäftigungsniveaus durch staatliche «Konjunkturspritzen» oder Beschäftigungsprogramme ist folglich dann zu erwarten, wenn die Beschäftigungsprobleme vorrangig konjunktureller Natur sind. Offensichtlich sind sie gegenwärtig aber eher strukturell bedingt, so dass Beschäftigungsprogramme unter diesen Voraussetzungen möglicherweise nur kurzfristige Strohfeuereffekte hervorrufen würden. d h k k d b k 3.4. Besondere Charakteristika des Arbeitsmarktes 101 Abb. 3/ 11: Keynesianischer Arbeitsmarkt <?page no="132"?> b l k d h f l k 102 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik 3.5. Gesamtwirtschaftliche Kosten der Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit stellt gesamtwirtschaftlich wie auch hinsichtlich des Staatsbudgets eine hohe finanzielle Belastung dar. Im Sinne sogenannter Opportunitätskosten bedeutet ein nicht ausgeschöpftes Arbeitspotential einen Verlust in der Produktion von Waren und Dienstleistungen. Etwas griffiger sind die Budgetbelastungen zu ermitteln: Abb. 3/ 12 zeigt, dass sich die durchschnittlichen Kosten pro Arbeitslosem von 18500 EUR auf insgesamt 75 Mrd. EUR pro Jahr addieren. Als passive oder konsumptive Maßnahmen bezeichnet man dabei Lohnersatzmaßnahmen (Transferzahlungen für Arbeitslose, Kurzarbeiter, Vorruhestand, schlechte Witterung, Konkursausfall). Aktive oder investive Maßnahmen sind solche, die Arbeitsplätze schaffen und die Beschäftigungsmöglichkeiten durch z.B. Information, Beratung, Fortbildung, Umschulung, Mobilitätsbeihilfen oder Arbeitsplatzförderung auf Arbeitgeberseite verbessern sollen. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit lassen sich in Ausgaben (Arbeitslosengeld/ -hilfe, Sozialleistungen und Beiträge zur Sozialversicherung) und Mindereinnahmen (Steuer- und Beitragsausfälle) unterteilen. In Zeiten geringer Arbeitslosigkeit gab es kaum Finanzierungsprobleme: Die große Masse der Verdiener finanzierte problemlos einen kleinen Anteil von Arbeitslosen. Wenn jedoch die Zahl der Sozialversicherungs-Beitragszahler immer kleiner und die Zahl der Leistungsempfänger immer größer wird, gibt es nur zwei Alternativen: Entweder werden die Einzahlungen erhöht oder die Auszahlungen gekürzt, bzw. beide Maßnahmen werden kombiniert (wie heute beobachtbar). Vor diesem Hintergrund sind konsumptive Lohnersatzleistungen wie die Arbeitslosenunterstützung aus volkswirtschaftlicher Sicht investiven beschäftigungsfördernden Maßnahmen klar unterlegen. Es ist sinnvoller, Arbeitsplätze zu finanzieren, als Arbeitslosigkeit. 3.6. Perspektiven der Arbeitslosigkeit Die Aussichten für Deutschland sind nach wie vor schlecht. Zu den im August 2003 ausgewiesenen 4,4 Mio. Arbeitslosen sind - wie oben ausgeführt - noch ca. 1,7 Mio. (oder mehr) verdeckte Arbeitslosen hinzuzuzählen. Das hohe Niveau ist vor allem auf strukturelle Ursachen zurückzuführen. Für die Industrieländer insgesamt gilt, dass sie zunehmend Märkte und damit Arbeitsplätze in arbeitsintensiven Branchen an Schwellenländer verloren haben. Hinzu kommt, <?page no="133"?> dass auch Verarbeitungsaufträge (sog. passive Veredelung) und Direktinvestitionen in Billiglohnländer «abwandern» - und zwar in zunehmendem Maße in die sog. Transformationsländer Osteuropas -, da hohe heimische Produktionskosten dies nahelegen (Abb. 3/ 13). Die Erfahrung zeigt, dass einmal abgewanderte Arbeitsplätze nur selten rückverlegt werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese ausländischen Arbeitsplätze nicht nur Arbeitsplätze im Inland vernichten, sondern auch Absatzmärkte und damit Inlandsbeschäftigung sichern. Vielen Betrieben wird auf diese Weise eine Mischkalkulation ermöglicht, die gleichfalls den inländischen Standort sichern. 3.6. Perspektiven der Arbeitslosigkeit 103 3.6. Perspektiven der Arbeitslosigkeit 103 Abb. 3/ 12: Kosten der Arbeitslosigkeit Fiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit gemäß IAB 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0 Arbeitslosengeld Arbeitslosenhilfe sonstige Sozialleistungen Steuermindereinnahmen Mindereinnahmen bei Sozialbeiträgen 1995 96 97 98 99 00 01 02 2004 03 log. Maßstab Mrd ! Arbeitslosengeld '" Arbeitslosenhilfe &" Aktive Arbeitsmarktpolitik 1995 2005 Wichtige arbeitsmarktbedingte Ausgaben ' Heute übliche Bezeichnung: Arbeitslosengeld I. — & Ab 2005: Arbeitslosengeld II. Deutsche Bundesbank 33 30 27 24 21 18 15 12 10 96 97 98 99 00 01 02 03 04 in % des BIP <?page no="134"?> b l k d h f l k 104 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Dieses langfristige Strukturproblem wird gegenwärtig (noch) verstärkt durch negative Einflüsse der Weltkonjunktur. Aus heutiger Sicht gibt es daher nur geringe Chancen, dass sich die Situation der Arbeitslosigkeit in absehbarer Zeit verbessern wird. Einige Beobachter hoffen auf Technologieimpulse (vgl. oben zu den Kondratieff- Zyklen), andere auf die Expansion des Dienstleistungssektors (sog. tertiärer Sektor), der in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern relativ schwach ausgeprägt ist. Dies liegt nicht zuletzt an einem hohen Lohnniveau: Fahrkartenautomaten sind billiger als Fahrkartenverkäufer am Schalter, Tankstellen mit Service fast ausgestorben. Selbst wenn das Wachstum wieder Tritt faßt, muss dies nicht zwingend Beschäftigungseffekte nach sich ziehen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass bei anziehender Konjunktur die zunehmende Produktion zunächst problemlos mit den freien Kapazitäten erbracht werden kann. Erst von einer bestimmten «Beschäftigungsschwelle» an (siehe oben) reagiert die Wirtschaft mit Neueinstellungen. Ohne Wirtschaftswachstum sind jedoch überhaupt keine Beschäftigungseffekte zu erwarten. Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich die «Sockelarbeitslosigkeit» von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus erhöht. Die während rezessiver Phasen abgebauten Arbeitsplätze konntenwährend den nachfolgenden Aufschwungsphasen nie in vollem Umfang wiedergewonnen werden. Damit ist nicht nur ein zentrales ökonomisches, sondern auch ein gravierendes soziales und politisches Problem angesprochen. Wenn dauerhafte Arbeitslosigkeit - schon bei Jugendlichen - zur Routine, Arbeitslosigkeit zum Massenberuf wird, sind destabilisierende Wirkungen auf Staat und Gesellschaft nicht überraschend. Die Privilegien der gegenwärtig Beschäftigten können nicht in gewohntem Umfang erhalten bleiben. Abb. 3/ 13: Industrieflucht "! 6 " ! $&,1*/ &+-(%')$*) &%"(.-( 1$&01$-* 2(*/ $'%)*,&#-(.0+-($,+ ),& ! $&.0,/ 2-$$*+! #*, 1%$+#&('0 %-*, .+%(*,+&% G+)&0G$ 1$"0( #,#&,*% / ,#%'*$%* '%" 2$"&+%. $%. ,%%&"""% 3! ! -'%+#),'%,# <?page no="135"?> 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Mitten im Wahlkampf 2002 wurden die teilweise skandalösen inhaltlichen und statistischen Methoden der Bundesanstalt für Arbeit ins Rampenlicht gezogen. Dies war der Hintergrund für die Einsetzung einer Kommission, um ein Konzept zu entwickeln, wie sich die Arbeitslosigkeit bis 2005 halbieren ließe - «eine groteske Fehleinschätzung» (Wirtschaftswoche 39/ 2003). Die Kommission wurde fortan nach ihrem Leiter, dem hochrangigen VW- WW Manager Peter Hartz, als Hartz-Kommission bezeichnet. 3.7.1. Hartz-Reformen Im August 2002 wurde der «Große Wurf» (Bundeskanzler Gerhard Schröder) der Hartz-Kommission veröffentlicht, deren Konzepte 2-3 Millionen Arbeitslosen zu einer Beschäftigung verhelfen sollten. Die ersten Gesetze zur Umsetzung der durch viele blumige Wortschöpfungen und Anglizismen gekennzeichneten Konzepte 16 sind am 1.1.2003 in Kraft getreten. Die Bundesanstalt für Arbeit und ihre Arbeitsämtern sollen Agenturen, Jobcenter, Kompetenz- und Kundenzentren für Arbeitsplätze werden (die Arbeitslosen heißen Kunden). Die Arbeitsämter gründen Personal-Service-Agenturen (PSA), sehr oft in Kooperation mit einem privaten Zeitarbeitsunternehmen (und sind selbst nichts anderes, nur mit staatlicher Förderung), stellen Arbeitslose ein und leihen sie kostengünstig an Unternehmen aus (wobei die Höchstdauer auf 24 Monate ausgeweitet wurde), um sie möglichst wieder in den ersten (normalen) Arbeitsmarkt zu integrieren (dabei machen sie natürlich den privaten Leiharbeitsfirmen Konkurrenz). Mit «Jugendagenturen», einer Kooperation zwischen Arbeits- und Sozialamt, wird versucht, oft «schwierige» Jugendliche in den Arbeitsprozeß einzuschleusen. Mit der sog. Ich-AG, einer durch staatliche Zuschüsse geförderten Form der Scheinselbständigkeit, soll(te) eine Gründerwelle unter den Arbeitslosen ausgelöst werden. Im Gegensatz zur früheren Übergangsbeihilfe für Gründer braucht die zukünftige Ich-AG aber keinen Geschäftsplan vorzulegen; die bloße Absichtserklärung genügt für die Förderung. Das Risiko des Scheiterns ist für unerfahrende Neuselbständige natürlich extrem hoch. 17 Mit zunächst Job-Floatern genannten günstigen Krediten («Kapital für Arbeit») der Kreditan- 16 Job-Floater, Jobcenter, Mini-Jobs, Personal-Service-Agenturen, Ich-AG. 17 Dies ist natürlich nicht darauf zurückzuführen, daß die «Ich-AG» als «Unwort des Jahres 2002» in die Geschichte der Germanistik einging. 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 105 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 105 <?page no="136"?> b l k d h f l k 106 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik stalt für Wiederaufbau (KfW) sollen Arbeitgeber angeregt werden, einen Arbeitslosen einzustellen. Die Erfolge dieser Maßnahmen sind insgesamt bislang sehr bescheiden und ernüchternd (Abb. 3/ 14); die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt Ende 2006 war klar konjunkturell bedingt und nicht auf die gute Arbeit der Arbeitsagenturen zurückzuführen. Bessere Einschätzungen betreffen die Mini-Jobs. Die Einkommensgrenze, für die keine Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zu entrichten sind, 18 wurde auf 400 EUR angehoben, für Midi-Jobs (mit begrenzter Versicherungspflicht) auf 800 EUR ausgeweitet und gilt auch für Nebenerwerbstätige, für die es ein akttraktives Angebot ist. Im September 2003 waren 5,8 Mio. Mini-Jobber registriert, von denen rd. 900.000 als neue Beschäftigungsverhältnisse aufgrund der veränderten Bedingungen gewertet werden. Wer aber von einer geringfügigen Beschäftigung leben muss, steht sich meist mit der Sozialhilfe (finanziell) besser. 3.7.2. Arbeitsvermittlung Arbeitnehmer müssen sich heute bereits gleich nach Erhalt der Kündigung arbeitslos melden. Die Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung ist ebenso wie die Höhe der Zuwendungen deutlich gesenkt worden (sie wird mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II - auch Hartz IV genannt - verschmolzen). 18 Erst 1999 war die Sozialversicherungspflicht für Nebenerwerbstätigkeiten eingeführt worden, mit dem Erfolg, daß schätzungsweise 500-700.000 Arbeitsplätze verloren gingen. Abb. 3/ 14: Job-Wunder? (%$#" '& 2-* ! / 1B#* ,#.*# ! / +B 3)- 2/ (0%! 1-+7(0-: ,-(*.++-: "75806* 4/ : #6206: 5*2 ! 6-626*' %06 +60976* $*97: 5+6*76 90*8 10: .5*29-)9( 60*026 36: -,*26: * 806 &: ! 6079-)902.607 &%82"= %0! #%5 '; $(&0=#"8 &1= ,=? =, %=)D*,#.D=)<1! =#7=,B? )=, D*..=, ')"=1BD.*D=, 4=.: =,( D! 4,=..=) =1,= ,=? = $B=..= 9? : 1,@=, <?page no="137"?> Um die Bezieher dieser «Stütze» sollen sich «Fallmanager» (! ) der Bundesanstalt für Arbeit kümmern, eine Konstruktion, die besser in die Hände der Kommunen gelegt werden sollte, die über einschlägige Problemberatungserfahrung verfügen, sagen die Kritiker, die auch herausstreichen, dass für den Leistungsempfänger wenig finanzieller Anreiz besteht, sich stattdessen um eine reguläre Arbeit zu bemühen. Zudem sind die Zumutbarkeitsgrenzen für die Annahme schlechter bezahlter, niedriger qualifizierter oder geographisch entfernter Jobangebote deutlich gesenkt worden. Sehr viele Arbeitslose müssen davon ausgehen, dass sie nicht wieder gleichrangige Positionen erreichen werden. Akademiker als Sachbearbeiter - früher undenkbar - sind heute keine Seltenheit. In Dänemark gibt es sogar eine Arbeitspflicht für Arbeitslose. Damit geht oft ein Mentalitätswandel einher. Viele Arbeitnehmer werden im Arbeitsalltag deutlich konfliktscheuer sein, um nicht als Kandidat für die nächste Entlassungsrunde aufzufallen. Dies trifft sogar auf die Gewerkschaften zu, die früher tarifliche Verschlechterungen in dem Ausmaß, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten waren, mit massiver Gegenwehr beantwortet hätten. Betriebsintern wird zudem oft eine zunehmende Ellenbogenmentalität beobachtet. 3.7.3. Lohnpolitik 3.7.3.1. Lohnkosten Ein zentraler Aspekt des gegenwärtigen Beschäftigungsproblems ist das Niveau der Löhne und Gehälter in der deutschen Wirtschaft. Natürlich ist die Bedeutung der Lohnkosten in den verschiedenen Wirtschaftszweigen unterschiedlich. Im Dienstleistungsgewerbe liegt der Personalkostenanteil an den Gesamtkosten höher als in einem kapitalintensiven Industriebetrieb. Aus Arbeitgebersicht wird immer wieder auf die im internationalen Vergleich hohen Lohnstückkosten (je Stunde) verwiesen (Abb. 3/ 15). Dabei steht Deutschland international mit an der Spitze (nur Dänemark ist teurer), auch wenn die deutschen Lohnstückkosten zu fallen beginnen (Abb 3/ 15a). Allerdings sind auch in den osteuropäischen Transformationsländern mittlerweile reale Lohnkostensteigerungen beobachtbar, obgleich der absolute Abstand noch klar und deutlich ist. Polen, Ungarn sowie die Tschechische und die Slowakische Republik sind außerdem noch wegen der Qualifikation der Fachkräfte und der günstigen geographischen Lage zu Westeuropa für Investoren interessant. d b k d h f l k 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 107 <?page no="138"?> b l k d h f l k 108 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Grundsätzlich muss bei den Lohnkosten zwischen den Direktentgelten für Löhne und Gehälter und den Lohnzusatzkosten unterschieden werden. Abb. 3/ 15 zeigt auch, dass Deutschland beim Direktentgelt von einigen Ländern übertroffen wird, doch bei Berücksichtigung der Lohnzusatzkosten wieder mit an der Spitze liegt. Die Lohnzusatzkosten lassen sich unterscheiden in gesetzliche (z.B. Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber für Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pfelegversicherung), tarifvertraglich vereinbarte (z.B. Unfallversicherung, betriebliche Altersversorgung, Ausbildungskosten, Abfindungen und - früher… - Weihnachts- oder Urlaubsgeld) und freiwillige betriebliche Lohnzusatzkosten (z.B. Vermögensbildung, Aus- und Weiterbildung, Zuschuss zur Gemein- Abb. 3/ 15: Lohnkosten international in Euro Deutschland(W) Deutschland Norwegen Dänemark Dänemark Finnland Belgien Schweiz Niederlande Schweden Luxemburg Österreich Frankreich Frankreich Großbritannien Großbritannien Irland Arbeitskosten im internationalen Vergleich 0 5 10 15 20 25 30 Deutschland im Spitzenfeld Arbeitskosten der Industrie mit und ohne Vorleistungen aus der Dienstleistungsbranche Kosten je Arbeiterstunde im Verarbeitendem Gewerbe 2005 1) Stundenlohn Personalzusatzkosten 29,45 28,33 27,87 25,98 25,64 25,56 25,45 23,67 22,55 22,16 21,38 20,47 19,47 in Euro Japan Ver. Staaten Kanada Italien Deutschland (O) Spanien Spanien Griechenland Portugal Tschech. rep. Tschechien Ungarn Ungarn Slowakei Polen 0 5 10 15 20 25 30 19,25 18,60 17,90 28,56 28,14 25,18 26,32 20,71 20,74 19,96 19,89 16,30 16,59 4,62 4,49 4,57 4,53 17,71 17,37 17,25 11,11 7,37 5,04 4,88 4,06 3,80 1) Personalzusatzkosten; einschließlich leistungs- und erfolgsabhängiger Sonderzahlungen: Zahlen zum Teil vorläufig. Quelle: IWD/ F.A.Z. Angaben für das verarbeitende Gewerbe für 2004 in Euro je geleistete Stunde Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Köln <?page no="139"?> schaftsverpflegung). Zu 100 Euro Entgelt kommen so 71,40 Euro (Westdeutschland) bzw. 62,60 Euro (Ostdeutschland) hinzu. Zudem ist für manchen ausländischen Unternehmer und potentiellen Investor die Vielzahl der (natürlich bezahlten) deutschen Feiertage ein Albtraum. Offensichtlich sind gesetzlich bedingte Kostenbelastungen «starrer» als tariflich oder betrieblich vereinbarte. Die beiden letzteren stehen in den Tanfrunden der letzten Jahre unter besonderem Kürzungsdruck. Der Vorwurf an die lohnkostentreibenden Gewerkschaften ist somit zumindest partiell an die falsche Adresse gerichtet, solange fast die Hälfte der Lohnzusatzkosten auf gesetzlich vorgeschriebene, also parlamentarisch beschlossene Kostenteile entfallen. Der Anteil der sog. Schattenwirtschaft, wie die Schwarzarbeit gerne in wissenschaftlichen Untersuchungen bezeichnet wird, beträgt, wie oben schon erwähnt, in Deutschland rund 16% des BIP (Abb. 3/ 16). Wenn es gelänge, nur ein Drittel der Schwarzarbeit via Lohnkostensenkungen in legale Stellen umzuwandeln, könnte die Arbeitslosigkeit halbiert werden, schätzen Arbeitsmarktforscher, weil viele Arbeitslose nebenbei schwarz arbeiten. 19 Hauptbranchen der Schwararbeit sind die Bauwirtschaft, das Handwerk sowie Putz- und Haushaltsarbeiten. 19 Prof. Friedrich Schneider in der FAZ vom 23.12.2002. d b k d h f l k 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 109 =-/ 9/ 6-DJ-80-K )-F-/ 6- &8"+)") *IIK0F14"5K ! 0M .-4E&FK 84K0GF1K4GFK- ,&0MK1J 7&GF6KDK-$KJ (K-2K5- 9&! 6KDK-$K @@H @HH @>H @? H @; ; @ @; ; < ? HH@ ? HH< @=H .,0)+'&#)8- +/ 50GF#"22/ GFK0 3K )F! 0MKJ @; ; @ : @HH @L .%, +-&8+)! '$$-+),8 *)##,8 Abb. 3/ 15a: Lohnstückkosten <?page no="140"?> b l k d h f l k 110 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Im Rahmen des sog. Mainzer Modells wurden Kombilöhne populär. Dabei werden niedrig bezahlte Arbeitsplätze durch staatliche Zuschüsse aufgestockt. 3.7.3.2. Lohneinkommen und Binnennachfrage Im Zusammenhang mit den Lohnkosten kommt der Diskussion über den Kaufkraftaspekt besondere Bedeutung zu. Arbeitgeber und Gewerkschaften betrachten zwei Seiten derselben Medaille, wobei sich ihre Positionen diametral gegenüberstehen. Gewerkschaften argumentieren keynesianisch: Lohnerhöhungen bedeuten zusätzliches Einkommen, das über die Konsumausgaben zur Nachfrage wird, damit Aufträge für die Wirtschaft bedeuten, zu besserer Kapazitätsauslastung führen und somit Investitionen, Wachstum und Beschäftigung anregen. Dies bezeichnet man als Einkommenseffekt von Lohnerhöhungen. Arbeitgeber betrachten hingegen den Kosteneffekt: Löhne und Gehälter werden in erster Linie als Kostenfaktoren interpretiert, wobei der Nachfrageeffekt als sehr viel schwächer empfunden wird, als es bei den Gewerkschaften der Fall ist. 20 Vor allem wird darauf verwiesen, dass bei einer Lohnerhöhung von z.B: 100,- EUR für den Arbeitnehmer noch die gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen hinzuzurechnen sind, so dass sich die Bruttolohnerhöhung auf 120,- EUR addiert. Diese Summe wird allerdings nicht vollständig nachfragewirksam, denn erstens sind die anteiligen Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie der Solidaritätszuschlag abzuziehen. Zweitens muss der Arbeitnehmer Lohnsteuer abführen, so dass bereits bis hierher von den betrachteten 100,- EUR nur 56,- EUR als Nettolohnerhöhung verbleiben. Davon wiederum wird ein bestimmter Teil gespart, 20 Die zwei Seiten der Medaille Lohn spiegeln sich gesamtwirtschaftlich in der Berechnung des Inlandsprodukts wider. Dieses kann u.a. als Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten ausgewiesen werden, das wertmäßig identisch ist mit dem Volkseinkommen. Abb. 3/ 16: Schwarzarbeit *&! (''%,+#*'(&! ($' +)&! (' &,+%'*%"(' ! '+0#/ &"/ &-! .$ ,0%$! $ 32! ! ! ! 1$! 44! 2 " <?page no="141"?> ein anderer Teil richtet sich nicht auf die inländische Wirtschaft, sondern «versickert» - nachfragetechnisch gesehen - über die Importnachfrage im Ausland. Fazit: Von 100,- EUR Lohnerhöhung verbleiben nur 35,- EUR als direkter Nachfrageeffekt, während der Arbeitgeber über 120,- EUR Kosten tragen muss (iwd 3/ 2006). Diese Betrachtung muss jedoch ergänzt werden - und dies sehen auch Arbeitgeberanalysen so. Sowohl Steuern als auch Sozialabgaben fließen über die öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungen weitgehend wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück und werden damit letztlich doch nachfragewirksam. Allerdings kann die Brutto-Kostenbelastung zu Reaktionen der Unternehmen führen, die für die Bezieher der Lohnerhöhung nachteilig sind. Entweder wird die Lohnerhöhung in die Preise überwälzt ( Lohn-Preis-Spirale; Lohnforderungen der Gewerkschaften gehen umgekehrt eher von einer Preis-Lohn-Spirale aus), oder die Unternehmen vermindern die Kostenbelastung durch Personalabbau. Außerdem könnten Arbeitsplätze in das lohnkostengünstigere Ausland verlagert werden (in Analogie zu Kapitalflucht könnte man das als Industrieflucht bezeichnen). Alle drei Varianten würden den Einkommenseffekt von Lohnerhöhungen im Zeitablauf nachhaltig beeinträchtigen oder sogar ins Gegenteil verkehren. 3.7.3.3. Tariflöhne Tarifverhandlungen stehen traditionell im Zeichen von Lohnforderungen der Gewerkschaften, mit denen zum einen - als Mindestbedingung - der Kaufkraftverlust durch Inflation aufgefangen und zum anderen darüberhinaus - in Abhängigkeit vom Anstieg der Arbeitsproduktivität (wobei diese nicht pro Kopf, sondern besser pro Arbeitsstunde gerechnet werden sollte) - eine Reallohnerhöhung erreicht werden soll. Letzteres wird als Verteilungskomponente bezeichnet. Bereits die neunziger Jahre haben auch in dieser Hinsicht Neuerungen gebracht. In einigen Jahren lagen die Tarifabschlüsse unter dem Anstieg des Preisniveaus, so dass die Arbeitnehmer Reallohneinbußen hinnehmen mussten. Besonders stark gilt dies für sog. Nullrunden bzw. Lohnpausen, bei denen nicht einmal die Nominallöhne erhöht werden. Diese erhebliche Kostenentlastung für die Unternehmen bzw. den Staat war nur durchsetzbar aufgrund der Gefahr von Massenentlassungen. Empirische Unterstützung findet die Forderung nach Lohn-Zurückhaltung in einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft,wonach die Zahl der Erwerbstätigen immer dann signifikant gestiegen ist, wenn der Nettolohnanstieg geringer ausfiel als der Anstieg der Nettowertschöpfung. 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 111 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 111 <?page no="142"?> b l k d h f l k 112 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Vor diesem Hintergrund sind auch die in einigen Tarifverträgen bereits realisierten Einsteigertarife für Berufsanfänger zu sehen, d.h. Löhne, die unter den vereinbarten Tariflöhnen liegen. Ein anderer Ansatz besteht in der Öffnung der Flächentarifverträge. Dies bedeutet, dass bestimmte Variable (Lohnsätze, Arbeitszeiten) in den Unternehmen unterschiedlich zwischen den Tarifpartnern vereinbart werden können. Dies ließe sowohl eine regionale als auch eine betriebsindividuelle Differenzierung zu. Aus der Sicht des Arbeitnehmers kann eine (maßvolle) Abweichung «günstiger» sein (sog. Günstigkeitsprinzip) als eine Entlassung. Gleichzeitig ist dies ein Versuch zu verhindern, dass Unternehmen aus dem Tarifverbund aussteigen. 3.7.3.4. Arbeitszeitpolitik • Verlängerung der Arbeitszeiten In guten Zeiten resultierten Tarifverhandlungen routinemäßig in realen Lohnerhöhungen bei gleichzeitigen Arbeitszeitverkürzungen. Im historischen Rückblick haben sich die Arbeitszeiten der unselbständig Beschäftigten drastisch verringert: Die wöchentlichen Arbeitszeit wurde von früher 40 bis durchschnittlich 35,7 Stunden pro Woche verkürzt. Außen in Frankreich wird in allen Industrieländern länger gearbeitet. Spitzenreiter sind die Schweiz, USA, Griechenland, Italien, Finnland und Portugal mit 40 Stunden. Die Jahresarbeitszeit in der Industrie ist in vielen Industrieländern deutlich höher als in Deutschland: In den USA werden 21%, in Japan und der Schweiz 17% mehr Jahresarbeitsstunden pro Industriearbeiter geleistet. Auch in Frankreich, Schweden, Großbritannien, Niederlande, Österreich und Italien wird - bei zum Teil niedrigerem Lohnniveau - mehr gearbeitet als in Deutschland, dem «Land der Freizeitweltmeister» (ManagerMagazin 9/ 03, S. 92): Das Institut der deutschen Wirtschaft ermittelt aus tariflichen Urlaubstagen, Feiertagen, Krankentagen, Erziehungs- und Mutterschaftsurlaub, Kuren und sonstigen Freistellungen eine rechnerische 4-Tage-Woche (iwd 30/ 2003). Allerdings wäre auch noch die Arbeitsqualität, -produktivität und -intensität (Streiks, Bummelei) zu berücksichtigen. Auch die Lebensarbeitszeit war immer kürzer geworden, bedingt durch spätere Arbeitsaufnahme aufgrund längerer schulischer und nach-schulischer Ausbildung und früherem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß. Diese Zeiten sind vorbei. Angesichts steigender Probleme im internationalen Wettbewerb verweisen Arbeitgeber darauf, dass ausländische Konkurrenten (moderner: Mitbewerber) bessere Rahmenbedingungen <?page no="143"?> hätten: In deren Ländern werde pro Woche länger gearbeitet, weniger gefehlt, weniger gestreikt, es gebe weniger Feiertage - kurz: es werde länger und billiger gearbeitet. Heutzutage nehmen daher Tarifabschlüsse zu, in denen Lohnerhöhungen gegen Arbeitszeitverkürzungen aufgerechnet werden und umgekehrt bzw. - angesichts drohender Entlassungen - auf beides seitens der Arbeitnehmer verzichtet wird (Abb. 3/ 17). Der extreme vorläufige Schlußpunkt war das Fiasko des Streiks der IG Metall in Ostdeutschland im Sommer 2003, der wegen der fehlenden Unterstützung des Arbeitnehmer abgebrochen werden musste. Sogar im öffentlichen Dienst, dessen Privilegien unantastbar schienen, wurden in einigen Bundesländern längere Arbeitszeiten (pro Woche) eingeführt. Bei der Lebensarbeitszeit ergeben sich schwierigere Voraussetzungen für ein vorzeitiges Wechseln in den Ruhestand. Allgemein wird eine Erhöhung des Renteneintrittsalters diskutiert, so dass zum Jahresende 2006 ein regelrechter Ansturm auf den vorzeitigen Altersruhestand erfolgte. • Produktivitätsorientierte Lohnerhöhungen Ewiger Streitpunkt zwischen Gewerkschaften und Unternehmen ist, ob die Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu parallelen Lohnerhöhungen berechtigt. Sofern die Produktivitätsverbesserung allein auf eine höhere Arbeitsqualität zurückzuführen ist, wäre dies unstrittig. Abb. 3/ 17: Arbeitszeiten IBM verlängert die Arbeitszeit um zwei Stunden Gleiches Grundgehalt / Unternehmen und Gewerkschaft einigen sich auf neuen Haustarif 50,1'0,(4*20,( 30,/ 64(0/ (*0'0+( .0.0/ ! *20,()1-),.30,( ,210*21,".! 21, Siemens führt 30-Stunden-Woche ein Im Geschäftsbereich Com sollen so Entlassungen vermieden werden 0((+,) -(* )'+ / '%)' &*) ! 1 .',) "'*)'+ 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 113 3.7. Ansätze der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik 113 <?page no="144"?> b l k d h f l k 114 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik Wenn jedoch die Produktivitätsverbesserung entweder durch vermehrten (oder verbesserten) Kapitaleinsatz oder durch Abbau unproduktiver Arbeitsplätze bedingt ist, liegt ein anderer Sachverhalt vor. Unternehmer argumentieren, dass Kapitaleinsatz nur aus entsprechenden Gewinnen finanziert werden kann. Gewerkschaften erwarten, dass aus diesen Gewinnen - auch ohne eine schlüssige Antwort auf die Frage nach der Ursache der (Arbeits-) Produktivitätsverbesserungen - ein bestimmter Anteil als Lohnerhöhungen an die Arbeitnehmer fließt. Zwei Kernprobleme sind dabei hervorzuheben: Erstens ist sachlich oft kein meßbarer Zusammenhang nachweisbar zwischen längerer Präsenz am (vor allem öffentlichen) Arbeitsplatz und höherer Produktivität i.S.v. Arbeitsintensität - die Maßnahmen könnten produktivitätstechnisch durchaus verpuffen. Zweitens ergibt sich arbeitsrechtlich daraus eine unterschiedliche Behandlung von Beamten (für die eine Arbeitszeitverlängerung schlicht verfügt werden kann) und von Allgestellten, für die dies in Tarifverhandlungen gegen die Gewerkschaftsposition durchgesetzt werden müßte. Ein «Zwei-Klassen- Modell» dürfte auf Dauer nicht haltbar sein. • Flexibilisierung der Arbeitszeiten Um eine bessere Auslastung des vorhandenen Kapitalstocks zu erreichen, drängen Unternehmer mit zunehmendem Erfolg darauf, dass die tägliche Nutzung von technischen Anlagen durch z.B. vermehrten Schichtbetrieb erhöht wird - maximal bis auf 24 Stunden. Auch- Wochenenden und Feiertage sollen einbezogen werden. Eine andere Variante wurde bereits 1993 im Tarifbereich des VW- WW Werkes einvernehmlich von den Tarifpartnern vereinbart (aber bald wieder aufgegeben, weil die Produktion anzog: Die Arbeitnehmer arbeiteten 20% weniger (dies bedeutet eine 4-Tage-Woche) und erhalten 10% weniger Lohn - also eine abgeschwächte Form der Kurzarbeit. Im Unterschied zu Kurzarbeit im arbeitsrechtlichen Sinne wird jedoch die Lohnkürzung nicht durch Zuwendungen seitens der Bundesanstalt für Arbeit ausgeglichen. Auch hier haben die Gewerkschaften dieser Option, die mit empfindlichen Einkommenseinbußen verbunden ist, den Vorzug vor Entlassungen gegeben, nach dem Motto: Besser ein schlechter) bezahlter Job als gar keiner. In diesen Zusammenhang gehört die Forderung nach vermehrter Teilzeitarbeit bei gleichzeitigem Abbau von Überstunden. Im sonst eher unflexiblen öffentlichen Dienst übernimmt in Deutschland der Staat eine Vorreiterrolle und bietet vermehrt Teilzeitbeschäftigungen an. Insbesondere Frauen sind an Teilzeitverträgen interessiert, <?page no="145"?> um z.B. Kindererziehung undErwerbstätigkeit verbinden zu können. Während Gewerkschaften hierin eine Schaffung von (Teil-)Arbeitsplätzen sehen, fürchten Unternehmen die damit verbundenen organisatorischen Probleme und Kostenbelastungen. So steigen die Lohnnebenkosten bei höheren Entgelten nicht mehr proportional mit; z.B. gibt es bei den Sozialversicherungsbeiträgen Höchstbeiträge. Einkommensteile, die diese «Kappungsgrenze» übersteigen, sind damit zusatzkostenneutral. Ein fiktives Beispiel mag dies verdeutlichen (Abb. 3/ 18): Die Sozialabgaben betragen 25%, aber nur bis zu einer maximalen Bemessungsgrenze von 2.500,- EUR. Wenn also ein Vollzeitarbeitsplatz mit 4000,- EUR Direktentgelt geteilt wird in zwei Teilzeit-Arbeitsplätze zu je 2000,- EUR (job-sharing), entfällt der «Kappungseffekt» des Falls II. Die beiden Teilzeit-Arbeitsplätze (Fall III) sind folglich in diesem Beispiel um 375,- EUR teurer als ein Vollzeit-Arbeitsplatz. Niedrigere Lohn- und Gehaltsgruppen unterhalb der Beitragsbemessungshöchstgrenzen eignen sich deshalb besserfür Teilzeitarbeit als höher bezahlte Stellen. 3.8. Zweiter Arbeitsmarkt und Beschäftigungsprogramme Als Zweiter Arbeitsmarkt werden Maßnahmen bezeichnet, mit denen insbesondere Langzeitarbeitslose und andere Problemgruppen durch staatliche oder staatlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen aufgefangen werden, z.B. durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), die u.a. aus einem Jump genannten Bundesprogramm finanziert werden. Es ist aber offensichtlich, dass diese Instrumente, wenn sie in großem Aufmaß angewandt werden, zu erheblichen Finanzierungsproblemen führen. Hinzu kommt als konzeptionelles Problem, dass sich im Zweiten Markt Tarifstrukturen ergeben können, die auf Dauer unter den tariflichen Mindestlöhnen des regulären Marktes liegen. Dies könnte wiederum zu Verdrängungseffekten in parallelen Bereichen des regulären Marktes führen, z.B. bei Dienstleistungen, die sowohl kommerziell als auch durch Zeitarbeits- oder ABM-Stellen angeboten wer- Abb. 3/ 18: Teilzeit-Lohnzusatzkosten Direktentgelt 2000,- 4000,- 2x2000,- = 4000,- Sozialabgaben 500,- 625,- 2x 500,- = 1000,- = faktisch 25% 15,6% 25% Gesamtlohn 2.500,- 4625,- 2x2500,- = 5000,- Differenz -375,- +375,- b k d h f 3.8. Zweiter Arbeitsmarkt und Beschäftigungsprogramme 115 <?page no="146"?> b l k d h f l k 116 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik den. Zudem verringert ein stark ausgeweiteter Zweiter Arbeitsmarkt tendenziell die Leistungsbereitschaft und Motivation, sich auf den regulären Arbeitsmarkt einzustellen. Dies gilt umso eher, je weniger die Tarifstrukturen auseinanderliegen. Der Zweite Arbeitsmarkt sollte deshalb nicht als Ersatz für den ersten, sondern als Notebene mit klarem Lohnniveauunterschied angesehen werden (Abb. 3/ 19). Faktisch gibt es den Zweiten Markt bereits seit langem. Hinzu kommen Überlegungen, den Anspruch auf Sozialhilfe als unterstessoziales Netz mit Verpflichtungen zu bestimmten Tätigkeiten zu verknüpfen. Zwei Forderungen dominieren die Diskussion im steuerlichen Bereich der Beschäftigungspolitik: Zum einen werden Maßnahmen Abb. 3/ 19: Stimmen gegen den Zweiten Arbeitsmarkt 0/ "/ &'$ #&& '"' 5(*/ 3) "113)%*+.- &$0#3)%+()+3'%3' ! 3&.-61%+/ $)/ # 6%*0.*'-, ! *4.1()/ +).* &.*-123(.( 5(./ / .-" 4&3&& 5)2*'%1$-*&0)*-* #% #32,-*( ,044*" #". &*%%* #8" '0922"$"260,*"2 ; "..82! ".2 1-.* 0-) #$ ,-'( ! -&/ '"+%.)$*) <?page no="147"?> verlangt, die zu Kostenentlastungen auf der Arbeitgeberseite führen sollen, also z.B. Senkungen der Sozialversicherungsbeiträge der Unternehmen. In Belgien galten beispielsweise Regelungen, durch die der Staat die Arbeitgeherbeiträge zu den Sozialversicherungen teilweise oder ganz übernimmt, um somit die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erleichtern. Lohnkostenzuschüsse (u.a. als sog. Kombilöhne) und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen belasten natürlich den Staatshaushalt bzw. das Budget der Bundesanstalt für Arbeit. Deshalb wird zum anderen immer wieder über Abgabenerhöhungcn (Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, Einführung einer Ergänzungsabgabe bzw. einesSolidaritätszuschlags bei der Einkommenssteuer) diskutiert, mit denen arbeitsmarktbezogene Ausgaben finanziert werden sollen. Ergänzend wird von verschiedenen Seiten gefordert, durch Veränderungen der entsprechenden Rahmenbedingungen Anreize zu Unternehmensgründungen und damit zur Ausweitung der Beschäftigung zu geben. Dabei wird auf «schlankere» Genehmigungsverfahren für geplante Investitionsvorhaben, weitere Privatisierung von Unternehmen in öffentlicher Hand, Förderung der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Hochschulen (Technologietransfer) und vieles andere mehr verwiesen. Es gibt kaum einen Bereich, dessen Relevanz für die Beschäftigungssituation nicht analysiert worden wäre. Die Diskussion um die «richtige» Beschäftigungspolitik wird vorrangig auf politischer Ebene ausgetragen werden müssen, denn die von konkurrierenden, oft gegensätzlichen wissenschaftlichen Schulen vorgetragenen Konzepte haben bislang nicht dazu beitragen können, das weitweite Problem der Massenarbeitslosigkeit zu lösen. Von der europäischen Währungsunion ist jedenfalls nicht der erwartete deutliche Beschäftigungsschub ausgegangen, so dass manche nun wieder auf einen EU-Erweiterungseffekt hoffen. Viele - deutlich keynesianisch gefärbte - Erwartungen richten sich auf staatliche Maßnahmen zur Belebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, finanziert u.a. durch Steuern, Abgaben und Neuverschuldung, insbesondere in den Bereichen Infrastruktur und Kommunikation und vielfach im Rahmen von Großprojekten. Unternehmerverbände befürchten jedoch weitere Kostenbelastungen und vermissen angebotstheoretische Ansätze zur Verbesserung der Rahmenbedingungen. Trotz dieser Ungewißheiten dürfte aus den vorausgehenden Darlegungen deutlich geworden sein, dass zwischen wachstums- (bzw. konjunktur-) und beschäftigungspolitischen Zielen ein enger Zusammenhang besteht. Beide Ziele stehen nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem Harmonieverhältnis. Was dem Wachstumsziel nützt, dient auch dem Beschäftigungsziel - und umgekehrt. b k d h f 3.8. Zweiter Arbeitsmarkt und Beschäftigungsprogramme 117 <?page no="148"?> b l k d h f l k 118 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik 3.9. Auswanderung An der öffentlichen Aufmerksamkeit vorbei nimmt die Zahl derer zu, die ihr Glück statt in Deutschland nun im Ausland suchen (Abb. 3/ 20). Allein 2005 zählte die Statistik 160.000 Emigranten, wahrscheinlich sind es weit mehr (die 2005-Schätzung dazu liegt bei 250.000, weil viele sich nicht die Mühe machen, sich amtlich abzumelden. Die Tendenz ist steigend - und durchgängig handelt es sich um gut junge, dynamische, qualifizierte und international erfahrene Kräfte, darunter viele Nachwuchswissenschaftler. Der Mirgrationsforscher Klaus Bade befürchtet, dass Deutschland «ausblutet». Die Langzeitprognosen der Statistiker gehen allerdings von einer Netto-Zuwanderung nach Deutschland von 200.000 aus; nur dann wird (unter anderem) die Rentenversicherung nicht in eine noch größere Krise geraten als ohnehin schon heute. Tatsächlich kommen aber weniger Immigranten und gehen mehr Emigranten - der Migrationssaldo ist negativ und kann die sinkenden Geburtenraten umso weniger ausgleichen. Die Gründe sind natürlich vielschichtig, aber die Attraktivität der Arbeitsbedingungen (inklusive Steuersituation) scheint suboptimal zu sein, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Für potentielle Einwanderer sind in nicht wenigen Bundesländern die Zuzugs-Hürden in Bezug auf gefordertem Sprachniveau, Mindestlohn, Investitionssumme, Anzahl zu schaffender Arbeitsplätze u.a.m. Abb. 3/ 20: Auswanderung <?page no="149"?> Angesichts der zu erwartenden Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Deutschland (Abb. 3/ 21) wird Deutschland auf einer beträchtlichen Zustrom von Migranten angewiesen sein. Bis 2050 wird das Durchschnittsalter der Bevölkerung bei 50 Jahren liegen (heute 42), weil die Menschen alter werden und weniger Kinder geboren werden: 2050 werden doppelt so viele 60-Jährige leben wie Kinder geboren werden. Und 11 Millionen weniger Menschen werden im Erwerbs- Abb. 3/ 21: Bevölkerungspyramide Weltbevölkerung wächst - Europa schrumpft und altert 600 Männer Frauen Bevölkerung Deutschland 2050 in tausend Personen 400 200 0 0 200 400 600 Quelle: Statistisches Bundesamt F.A.Z. 100 90 80 70 60 50 40 30 20 2005 2005 10 Alter b k d h f 3.8. Zweiter Arbeitsmarkt und Beschäftigungsprogramme 119 <?page no="150"?> b l k d h f l k 120 3. Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik leben stehen und die Systeme der Sozialversicherungen finanzieren, während 2050 10 Millionen Menschen über 80 sein werden… Die Alterung der Bevölkerung hat dabei sehr viel gravierendere Folgen für unsere Finanz- und Sozialsysteme als die sinkenden Bevölkerungszahlen, denn zwischen 2015 und 2030 geht die gesamte sog. Babyboomer-Generation «schlagartig» in Rente. Japan hat übrigens ein sehr ähnliches Problem, aber das hilft uns nicht weiter. Und eine solche Bevölkerungsentwicklung betrifft über den Außenhandel auch andere Länder (Abb. 3/ 22). 3.10. Fazit Durch die Verbesserung von Vermittlungsstrukturen können nur sehr bedingt Beschäftigungseffekte ausgelöst werden, den tendenziell zielt dies nur auf die friktionelle Arbeitslosigkeit ab. Neue, zusätzliche Arbeitsplätze entstehen nur durch zunehmende Aufträge in der Wirtschaft, d.h. durch Wachstum. Kosmetische Operationen können dies jedoch nicht in die Wege leiten. Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass die teilweise kostenmäßig attraktiven Angebote wie Mini- Jobs (mit sehr billiger Sozialversicherung) und Ich-AGs reguläre Arbeitsplätze verdrängen, die in mehrere Mini- oder Midi-Jobs aufgeteilt werden und den Arbeitgeber kostenmäßig entlasten. Ob die Gewerkschaften in ihren üblichen tarifvertraglichen Forderungskatalog bezüglich Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen für die Beschäftigten nicht auch eine Variante einbauen könnten, auf diese Verbesserungen für die Beschäftigten zu verzichten und stattdessen Neueinstellungen zu verlangen, wollen wir hier nicht diskutieren. Abb. 3/ 22: Internationale Wirkungen 5"2),&3-./ % 8! '(&$3#&3 19&./ $3) 6()%#*"8-)0& #./ -* 42./ 0 2&+2)5 <?page no="151"?> 4.1 f Definition von fl Inflation 121 4. Geldwert, Preisstabilität und Inflation Die Furcht vor Inflation beruht in Westeuropa im Wesentlichen auf den Erzählungen der älteren Menschen, von denen viele durch massive Geldentwertungen ihren Besitz verloren haben, teilweise mehrfach. Die Einführung der D-Mark 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg hat hingegen die ökonomische Basis für eine insgesamt gesehen recht preisstabile Entwicklung gebracht. Dennoch ist die Vermeidung von Inflation - oder (formaler gesagt) das Ziel eines stabilen Preisniveaus («Preisstabilität») - ein zentrales Element im deutschen und europäischen wirtschaftspolitischen Zielsystem. ist (Abb. 4/ 1). Im Folgenden betrachten wir zunächst, wie Inflation gemessen wird und wie sie auftreten kann. Anschließend werden wir die Folgen von Inflation untersuchen. 4.1 Definition von Inflation Geld ist stofflich gesehen so gut wie wertlos. Der Geldwert oder - sachlich gleichbedeutend - die Kaufkraft einer Währung leitet sich daraus ab, ob das Geld die unten erwähnten Geldfunktionen erfüllen kann. Der Geldwert ergibt sich daraus, ob man mit dem Geld Güter kaufen kann und wie sich die Güterpreise im Zeitablauf entwickeln. Abb. 4/ 1: Preisstabilität ” Stabilität des Preisniveaus“ (§ 1 Stabilitätsgesetz, 1967) ” Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) ist, die Preisstabilität zu gewährleisten“ (Art. 105, Vertrag über die Europäische Union, 1992) EU-Außenminister für Preisstabilität Aufnahme in den Zielkatalog der geplanten EU-Verfassung befürwortet <?page no="152"?> 122 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation Exkurs: Funktionen des Geldes In der Urform des Wirtschaftens gab es kein Geld, wie man in der Robinson-Wirtschaft beobachten kann, wo Robinson und Freytag Kokosnüsse gegen Fische tauschen. Das primäre Problem eines solchen Realtausches (Gut gegen Gut) besteht darin, einen Tauschpartner zu finden, der genau das Gut anbietet, das man selbst sucht, und umgekehrt genau das Gut haben möchte, das man selbst «verkaufen» möchte. Im nächsten Schritt muss das Wertverhältnis zwischen Kokosnüssen und Fischen festgelegt werden. Und dann muss das gefundene Wertverhältnis technisch realisierbar sein. Wenn die Kokosnuss zwei Fischen entspricht, aber Freytag nur einen Fisch gefangen hat, könnte Robinson eventuell die Kokosnuss zerteilen und nur eine Hälfte eintauschen. Aber wie tauscht man einen Fußball gegen einen halben Tennisschläger? Folglich hat man das Geld erfunden. Damit es nützlich verwendet werden kann, muss es drei Geldfunktionen erfüllen: Erstens muss es als Tauschmittel akzeptiert werden, d.h. der Besitzer eines Gutes muss bereit sein, dieses gegen Geld einzutauschen. Diese Tauschmittelfunktion setzt voraus, dass der bisherige Besitzer des Gutes seinerseits mit dem erhaltenen Geld andere Güter kaufen kann. Durch die Tauschmittelfunktion müssen die Nachfrage- und Angebotswünsche von Robinson und Freitag nicht spiegelbildlich identisch sein, sondern Robinson kann seine Kokosnuss an Freytags Onkel verkaufen und mit dem erhaltenen Geld bei Freytag einen Fisch einkaufen. Zweitens muss es mit Hilfe des Geldes möglich sein, die unterschiedlichen Güter zu bewerten und damit vergleichbar sein: 1 Kokosnuss = 2 Euro (zu teuer? ) = 2 Fische à 1 Euro (Funktion der Recheneinheit). Drittens: Freytag verkauft seine Fische für 2 Euro an den Onkel und könnte nun die Kokosnuss von Robinson kaufen. Daran macht er sich aber erst nach einer Woche. Um den Tausch zeitlich versetzt durchführen zu können, muss das Geld also in der Zwischenzeit den Wert der zwei Fische «aufbewahren» (Wertaufbewahrungsfunktion). Wenn diese dritte Funktion nicht gegeben ist, weil die Kokosnuss nun 3 Euro kostet (Inflation), würde Robinson vielleicht auf einem Realtausch bestehen, sodass die Tauschmittelfunktion des Geldes beeinträchtigt wird. Auf den Verlust der Geldfunktionen bei Inflation kommen wir später wieder zurück. Als vierte Geldfunktion wird oft die des gesetzlichen Zahlungsmittels angeführt. Dabei handelt es sich aber um eine rein rechtliche Frage, die mit den ökonomischen Geldfunktionen nicht zwingend gekoppelt ist. So kursierte nach dem Zweiten Weltkrieg die sog. Zi- <?page no="153"?> 4.1 f Definition von fl Inflation 123 garettenwährung, und dieses «ungesetzliche» Geld erfüllte alle ökonomischen Geldfunktionen. In nicht wenigen Ländern wich die Bevölkerung bei horrenden Inflationsraten auf Parallelwährungen aus wie z.B. Dollar (Lateinamerika) oder DM (Ex-Jugoslawien). Im Art. 105 des EU-Vertrags heißt das geldpolitische Ziel tatsächlich Preisstabilität. Dies ist auch im Sprachgebrauch so, wenngleich es sich wissenschaftlich gesehen um die «Stabilität des Preisniveaus» handelt: Preisstabilität bedeutet mikroökonomisch, dass ein einzelner Preis konstant ist, und würde folglich makroökonomisch erfordern, dass sich alle betrachteten Preise nicht verändern. In einer marktwirtschaft f lichen Ordnung sollen jedoch die Gütepreise gerade nicht stabil sein, sondern sich bei Veränderungen von Angebot oder Nachfrage als Ausgleichsmechanismus der veränderten Marktsituation nach oben und unten flexibel anpassen. Zur Vermeidung von Inflation sollen sich daher Preissteigerungen bei einigen Gütern und Preissenkungen bei anderen im Durchschnitt aufheben, so dass der Durchschnitt der Preise - das Preisniveau - stabil ist. Die verbale Kurzform ‹Preisstabilität› tut mir zwar sprachlich weh, aber ich werde mich schon daran gewöhnen und versuchen, den Begriff durchgängig zu verwenden. Preisstabilität würde mathematisch gesehen eine Inflationsrate von Null bedeuten. Dies galt implizit auch zu Zeiten der Deutschen Bundesbank, auch wenn im politischen Raum 1-2 % Inflation oft noch als «Stabilität» toleriert wurden. Heute ist Preisstabilität offiziell etwas lockerer definiert als eine mittelfristige Inflationsrate von weniger als zwei Prozent - in der Diskussion steht gegenwärtig eine neue Formulierung wie «nahe zwei Prozent», was faktisch als 2-3 Prozent ausgelegt werden dürfte. Der Spielraum wird u.a. mit möglichen Messfehlern auf Grund von Qualitätsverbesserungen der im Index- Warenkorb - mit dem die Inflation gemessen wird - erfassten Güter sowie durch Hinzukommen oder Wegfall von Gütern begründet (siehe unten), so dass ein «Punktziel» problematisch wäre. Unter ‹mittelfristig› dürfte ein Zeitraum von 3-4 Jahren zu verstehen sein (auch dies ist nicht präzisiert worden), sodass vorübergehende Überschreitungen der 2-Prozent-Marke von der Zielvorgabe her durchaus akzeptabel wären. Im wissenschaftlichen Sinne ist jeder Anstieg des Preisniveaus Inflation, nicht erst ab einem bestimmten «fühlbaren» Prozentsatz (zur «gefühlten» Inflation kommen wir noch). Inflation leitet sich ab aus dem lateinischen flare = blasen, sodass mit Inflation implizit eine sich aufblähende Geldmenge verbunden wird (was nicht zwingend ist), während die Preisluft bei Deflation wieder abgelassen wird. Ich halte <?page no="154"?> 124 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation diese etwas großzügige Zielvorgabe für problematisch, denn dadurch kann der Eindruck aufkommen, die EZB würde eine so geringe Inflation tolerieren, weil ein bisschen Inflation doch gar nicht so schlimm wäre. Im Vergleich mit aktuell 1042 % in Zimbabwe sicherlich nicht, aber wehret den Anfängen! Natürlich spielt auch eine Rolle, dass ein Null-Prozent-Ziel wahrscheinlich ständig nicht erreicht würde, und das wäre taktisch suboptimal. Jürgen Stark von der EZB hat allerdings unlängst vorgerechnet, dass von einem Sparbetrag von 1000 Euro z.B. für die Altersvorsorge in 30 Jahren lediglich real 568 Euro übrigblieben. Da kann man die schleichende Inflation sehr schön erkennen. Absolute Preis(niveau)stabilität ist in der jüngeren Vergangenheit allein im Jahr 1986 erreicht worden, in allen anderen Jahren war ein Anstieg des Preisniveaus zu verzeichnen. Allerdings ist das Inflationsniveau in Deutschland derzeit relativ gering. Im Fall negativer Inflationsraten spricht man von Deflation. Davon zu unterscheiden ist Disflation, womit man einen Rückgang bisher positiver Steigerungsraten des Preisniveaus bezeichnet. Für das Nichtauftreten von Inflation oder Deflation hat J. Eick den Begriff Nonflation vorgeschlagen. Eine Deflation kann weit gefährlichere Wirkungen haben als eine Inflation - von Extreminflationen abgesehen. Wie Inflation kann eine Deflation durch monetäre (geldbedingte) oder realwirtschaftliche 21 (güterbedingte) Faktoren ausgelöst oder verstärkt werden: Eine zu restriktive Geldpolitik (hohe Zinsen) kann ebenso wie eine rigorose Sparpolitik zu einem Nachfrageausfall auf den Gütermärkten führen. Dadurch sinken die Güterpreise, und dies behindert Aufschwungstendenzen, da z.B. Investitionsentscheidungen in Erwartung weiter fallender Preise und Zinsen hinausgeschoben werden. Deflation lähmt die Wirtschaft; eine Abwärtsspirale ist möglich. Die Unternehmensgewinne sinken, und dies wirkt sich auch nachteilig auf die Beschäftigung aus, weil Entlassungen die Kosten senken sollen. Alternativ setzen die Unternehmen Lohnsenkungen durch. Dies reduziert erneut die Nachfrage. Gleichzeitig benachteiligt Deflation die Schuldner, die einen höheren Realwert zurückzahlen und höhere Realzinsen zahlen müssen. Dies kann nicht nur nachfragemindernd wirken, weil die Neigung sinkt, Kredite aufzunehmen, sondern die real steigende Schuldenlast gefährdet viele kleinere Unternehmen. Durch eine Verschuldungsdeflation und den sinkenden Wert von Beteiligungen oder Immobilien verschlechtern sich die Unternehmens- und Bankbilanzen; langfri- 21 Wenn Ökonomen von «real» sprechen, unterstellen sie, dass es keine Inflation gibt, d.h. sie betrachten dann die Güter nur mengenmäßig. <?page no="155"?> 4.1 f Definition von fl Inflation 125 stige Lieferverträge mit gesicherten Preisen sind für die Abnehmer gefährlich; während die Erlöse sinken, bleiben die Kosten konstant: Insolvenzen nehmen zu. Teilweise erfolgende Notverkäufe (um Verluste zu minimieren) verstärken den Preisverfall. Dies gilt auch für die Aktienbörsen, an denen die Kurse fallen. Folglich ist es für Unternehmen entsprechend schwer, sich durch Neuemissionen Kapital zu beschaffen. Im Zeitraum 1991-2002 war eine Deflationssituation (mit einer Unterbrechung 1995-97) fast lehrbuchhaft in Japan zu beobachten (Abb. 4/ 2). Einer Deflation kann mit einer Geldmengenausweitung (sprich: Kreditausweitung) begegnet werden, unterstützt durch eine Politik des «billigen Geldes», also durch niedrige Zinsen. Allerdings ist die Geldpolitik von einem bestimmten Punkt an machtlos, denn ein No- Abb.4/ 2 Deflation hält Japan im Würgegriff Sorgen vor Preisverfall in den USA Droht Deutschland eine Deflation? %: >K #''% ? @ ? > >% >! >K >@ >> '! 'K '@ I ; : =89,<: 7 M # ' *# 5/ " 4&+2 +2# */ $/ &,"-.2& 1,#("-./ 0("',"2#2 ! #&((%,&(/ &+"$#%+&)( &&+ 3&0(/ (,%&"#/ (2 1,#("-./ 0("$/ -."(&' 3&0(/ (,%&"#/ (2 <?page no="156"?> 126 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation minalzinssatz von Null ist der Extremwert, bedeutet aber bei fallenden Preisen immer noch einen positiven Realzins. Dieser verstärkt den Teufelskreis. Für einen möglichen Deflationsfall Deutschland kommt hinzu, dass die EZB keine Geldpolitik machen kann, die auf ein bestimmtes Land abgestellt ist. Und wegen der Problemlagen der öffentlichen Haushalte sind auch der Finanzpolitik die Hände gebunden: Es gibt so gut wie keinen Spielraum für eine antizyklische (konjunkturanregende) Finanzpolitik im Sinne eines «deficit spending», weil die Verschuldung bereits sehr hoch ist (vgl. dazu Kapitel 10: Finanzpolitik). 4.2 Erscheinungsformen der Inflation 4.2.1 Schleichende, trabende und galoppierende Inflation Preisstabilität oder niedrige Inflationsraten sind weltweit nicht die Regel. Viele Staaten verzeichneten teilweise für europäische Erfahrungen nur schwer vorstellbare Inflationsraten, aber auch innerhalb Europas ist das Bild sehr unterschiedlich (vgl. Abb. 4/ 3). Man unterscheidet daher nach der Geschwindigkeit des Preisauftriebs begrifflich zwischen schleichender, trabender und galoppierender Inflation. Für extrem hohe Inflationsraten haben sich zudem die Begriffe Hochinflation oder Hyperinflation eingebürgert. Eine genaue, quantitative Abgrenzung dieser Erscheinungsformen der Inflation ist nicht möglich; dies hängt auch von den Gegebenheiten der jeweils betrachteten Volkswirtschaft ab. Sofern das Preisniveau nicht steigt, sondern sinkt, spricht man - wie gesagt - von Deflation. Aus deutscher Sicht wäre eine Inflationsrate von 30 % sicherlich in den Bereich der galoppierenden Inflation einzuordnen (Abb. 4/ 4), aber wann geht eine schleichende Inflation von z.B. 2 % in den Trab über? Anders liegt es in Ländern, die sich an Inflationsraten von weit über 100 % pro Jahr gewöhnen mussten: 1976 verzeichnete Argentinien eine Inflationsrate von 444 % pro Jahr; 1977 waren es noch 176 %, 1980 nach einer Währungsreform «nur noch» 100,8 %, 1983 bereits wieder 355 %. 1986 erfolgte eine neuerliche Währungsreform mit der Einführung des Austral, der sich jedoch gleichfalls rasant entwertete (zwischen 1989 und 1990 lag die Inflation bei 20.000 % im Jahr; J ONAS 2002), sodass 1992 wiederum eine Währungsreform erfolgte und der Austral wieder durch einen Peso abgelöst wurde (der zudem 1: 1 an den US-Dollar gekoppelt wurde; was erst 2002 wieder aufgehoben wurde). Das war die fünfte argentinische Währung in 22 Jahren. <?page no="157"?> Dies verdeutlicht, dass eine Währungsreform absolut nichts nützt, wenn nicht gleichzeitig die Ursachen der Geldentwertung beseitigt werden: In Ländern mit derartigen Inflationsproblemen dürfte ein Absinken der Inflationsrate auf z.B. 30 % als mäßige Entwicklung, ja als Stabilitätserfolg zu werten sein. Vielfach werden die Inflationsraten dann auch nicht auf Jahresbasis, sondern pro Monat ausgewiesen; dann sind die absoluten Zahlen vielleicht auch nicht so erschreckend. Auch aus Ex-Jugoslawien wurden inoffiziell sogar Inflationsraten von 2.000 Prozent im Monat berichtet: Der Dinar war t wertlos; nur DM wurde akzeptiert. Allerdings wird die Bedeutung relativ kleiner Inflationsraten leicht unterschätzt: 3 Prozent Inflation pro Jahr bedeutet eine Verdoppelung des Preisniveaus in rund 23 Jahren: bei 4 Prozent sind es nur noch 18 Jahre, bei 7 Prozent 10 Jahre. Anders herum betrachtet sinkt der Wert eines Euro in 20 Jahren bei 2 % Inflation auf rd. 68 Cent, bei 4 % auf 47 Cent, bei 8 % auf rd. 22 Cent - wobei natürlich zu diskutieren wäre, ob man dabei noch von schleichender Inflation sprechen sollte. 2006 Irland 2,5 Griechenland 3,0 Spanien 4,2 Portugal 2,6 Großbritanien 1,9 Dänemark 2,0 Schweden 1,1 Niederlande 1,8 Italien 2,2 Frankreich 2,3 Luxemburg 4,1 Finnland 1,1 Belgien 2,8 Österreich 1,5 Deutschland 2,1 EWU 2,4 USA 4,2 Japan 0,3 Galoppierende Inflation Zimbabwe 1042 (2006); 700 (2003) Argentinien 20.000 (1990) Nicaragua 14.315 (1988) Brasilien 2740 (1990) Zaire 2155 (1991) Bulgarien 1082 (1997) Rumänien 155 (1997) Mexiko 135 (1987) Türkei 108 (1994) Russland 80 (1997) Weißrussland 64 (1997) Abb. 4/ 3: Inflationsraten 4.2. h f Erscheinungsformen dder fl Inflation 127 <?page no="158"?> 128 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation In der Literatur und vor allem in den Medien werden oft unterschiedliche Inflationsraten für ein Land und für dieselbe Periode angegeben. Da es eine Vielzahl von Preisindizes gibt, mit denen man die Inflation misst, müsste jeweils angegeben werden, welcher Index betrachtet wird. In der EU wird meist der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) verwendet, in Deutschland der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte» (bürgerlich wird von Lebenshaltungskostenindex gesprochen), aber es gibt natürlich noch andere Indizes (vgl. Abschnitt 4.3.4). Im außereuropäischen Ausland spiegelt der öffizielle Preisindex oft nur die Situation in und um die (mit europäischen Verhältnissen vergleichbare) Hauptstadt wieder, weil es für einen Landesdurchschnitt keine solide Zahlenbasis gibt. Abb. 4/ 5 zeigt am Beispiel Mali eine Gewichtsstruktur, um die Bedeutung der regionalen Preisunterschiede außerhalb der dortigen Hauptstadt Bamako zu berücksichtigen: Die regionalen Werte werden mit den entsprechenden Gewichten «multipliziert» und dann aggregiert, so dass die Preise in der Hauptstadt entsprechend stärker in den nationalen Gesamtindex eingehen. 4.2.2 Offene und verdeckte Inflation (1) Eine weitere Unterscheidung hinsichtlich der Erscheinungsformen von Inflation bezieht sich auf ihre «Sichtbarkeit». Wie man die Inflation messen kann, wird im Abschnitt 4.3 erläutert. Dabei wird zwischen offener und verdeckter Inflation unterschieden je nachdem, ob sich Preissteigerungen offen zeigen können oder nicht. Ver- 2? %#-2/ @&? , 0.) 5? @4'1>? ()4'. 1? ".&'(23@4? 0 ! 8? <<? M9K9=: 9=: @>? : #K>; I8@> '**% Abb. 4/ 4: Entwicklung der Inflationsrate in Deutschland <?page no="159"?> deckte, versteckte, zurückgestaute, gestoppte oder Quasi-Inflation liegt insbesondere vor, wenn sich die inflationäre Entwicklung nicht in steigenden Preisen äußert, sondern in Lohn- und Preisstopps, Rationierung von Gütern, leeren Regalen, langen Lieferfristen, Warteschlangen und insbesondere im Entstehen von Schwarzmärkten. Auf letzteren tritt der inflationäre Preisauftrieb dann zwar illegal, aber offen zutage. (2) Die Erfahrungen mit Höchstpreisen ( Preisstopps) sind insgesamt negativ. Eine Reihe europäischer und außereuropäischer Länder hat in der Vergangenheit zu zeitlich begrenzten Lohn- und Preisstopps gegriffen (vgl. Abb. 4/ 6). Diese sind - wenn überhaupt - nur mit hohem administrativem Aufwand durchzusetzen, werden in der Praxis jedoch regelmäßig durchlöchert und umgangen. Bei Lohnstopps kann dies z.B. durch Umgruppierungen in höhere Lohngruppen erfolgen, bei Preisen durch Qualitätsverschlechterungen oder angebliche Qualitätsverbesserungen, wobei dann höhere Preise beantragt werden. Meist lässt auch eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen Lücken genug. Daneben bilden sich auf den Schwarzmärkten die eigentlichen Knappheitspreise, sodass das Warenangebot auf den offiziellen Märkten noch zusätzlich verringert wird. Oft werden Mengenrationierungen unumgänglich, die wiederum einen hohen administrativen Aufwand erfordern (z.B. durch Bezugsscheine). Nach Aufhebung der Reglementierungen wirkt sich der bis dahin aufgestaute Nachholbedarf manchmal explosionsartig aus (Abb. 4/ 7). Zwar bewirken Preisstopps, dass der Einfluss steigender Preise auf offizielle Preisindizes vorübergehend teilweise oder ganz ausgeschaltet wird, was politisch 7/ ,-2 1)=/ 226 5640) ; / : / =6 1-+6. 9/ 6 3/ 0)68/ < &*" #*$ #*! #"*& ''*# %*( '(( / %#5/ 1632 7-25,02)54.; : 10 51 "635 AO"<! N: $<>Q: () B? Q: ()? ,< =< ,? @Q? Q: "Q: &O< <Q =< ,ML); ($+? Q: &O<* P? +? 9( %''# Abb. 4/ 5. Regionale Preisgewichtung in Mali 4.2. h f Erscheinungsformen dder fl Inflation 129 <?page no="160"?> 130 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation erwünscht sein mag. Insofern boten viele Länder des früheren Ostblocks statistisch ein Bild der Preisstabilität, doch machen Symptome wie die oben erwähnten deutlich, dass die Inflation lediglich versteckt wurde. Eine Inflation lässt sich nicht verbieten, und solange nicht die Inflationsursachen bekämpft werden, hat das Kurieren an den Symptomen - und nichts anderes sind Preisstopps - wenig Sinn. (3) Ein kleines formales Modell soll den Zusammenhang verdeutlichen. In Abb. 4/ 8 zeigt sich, dass sich bei einem staatlich vorgeschriebenen Höchstpreis P max eine Angebotslücke bzw. ein Nachfrageüberhang ergibt, der sich konkret z.B. in leeren Regalen und Abb. 4/ 6 1)7-(,) "(-- .(, 1)*-7)(') "+ ! ,/ +,) 0+,+*,) )#'('"! ,$('" &"#'"'$ *+%$' '#$ 5,14+! )23 60-2+*0.. 42 7,/ 12*42412 Abb. 4/ 7: Verdeckte Inflation (Brasilien 1986/ 87) 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Jan 16,2 Feb 14.4 März -0,1 Apr 0,8 Mai 1,4 Jun 1,3 Jul 1,2 Aug 1"7 Sept 1,7 JOkt 1,9 Nov 3,3 Dez 7,5 Jan 16,8 Feb 13,9 März 14,4 Apr 20,6 Einführung des Preisstopps Aufhebung des Preisstopps <?page no="161"?> Warteschlangen ausdrückt. Der Marktsituation angemessen wäre eigentlich der «richtige» Preis P * , der sich z.B. auf dem Schwarzmarkt herausbilden wird. Da der Schwarzmarktpreis für Anbieter attraktiver ist als der legale Höchstpreis, besteht zudem die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich das Angebot auf den offiziellen Märkten verringert (Verschiebung A zu A‘), sodass sich die Angebotslücke noch vergrößert, die Situation sich noch verschärft und der Schwarzmarktpreis noch mehr steigt (P ** ). In einigen Entwicklungsländern haben sozial gemeinte Höchstpreisvorschriften für Grundnahrungsmittel dazu geführt, dass sich für die Erzeuger die Produktion für den Markt nicht mehr lohnte, die Bauern ihre Produktion auf den Eigenbedarf beschränkten und die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet werden konnte. In anderen Fällen wurden mit Höchstpreisen belegte Güter illegal in das preisattraktivere Ausland geschmuggelt, sodass sich auch dabei die bestehenden Angebotslücken vergrößerten. Eine leidlich marktkonforme Durchsetzung von Höchstpreisen wäre nur möglich, wenn es gelänge, das zu knappe Angebot durch entsprechende Maßnahmen zu erhöhen, sodass sich die Angebotskurve in Abb. 4/ 8 preissenkend nach rechts zu A» verschiebt. Eine Verringerung des Nachfrageüberhanges wird in der Realität oft durch Rationierung und Bezugsscheine versucht, wobei allerdings sich dann meist ein entsprechender Schwarzmarkt für die Bezugsscheine ergibt, Abb. 4/ 8: Höchstpreis 4.2. h f Erscheinungsformen dder fl Inflation 131 <?page no="162"?> 132 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation so wie es auch bei Eintrittskarten für attraktive Fußballspiele oder Konzerte zu beobachten ist. (4) Insgesamt dürfte deutlich werden, dass auch bei statistisch verdeckter Inflation eben doch Inflation vorliegt, die sich nicht einfach auf dem Verordnungswege beseitigen lässt. Hinzu kommt, dass die verordneten Höchstpreise in aller Regel nach einiger Zeit so unrealistisch werden, dass sie angehoben werden müssen, dann allerdings spr ungartig, was nicht selten zu oft gewalttätigen Protestaktionen, in einigen Ländern zu bürgerkriegsähnlichen Reaktionen der betroffenen Bevölkerung geführt hat. Ein analoger Effekt ist in Ländern zu beobachten, in denen bestimmte Preise durch staatliche Subventionen «heruntergedrückt» wurden und nun die Subventionen gestrichen werden, weil es zum Beispiel der Internationale Währungsfonds (IWF) so vorschreibt und andernfalls keine Kredite gewährt. Auch Länder, die nach einer (meist befristeten) Zeit der Preisstopps wieder zur «normalen» Marktpreisbildung übergehen, müssen mit einem angestauten Nachholbedarf an Preiserhöhungen rechnen. f Bevor wir auf die Folgen inflationärer Entwicklungen eingehen (Abschnitt 4.5), wird zunächst dargestellt, wie Inflation gemessen wird (Abschnitt 4.3) und aus welchen Ursachen Inflation entsteht (Abschnitt 4.4). 4.3 Messung der Inflation Eine sorgfältige und realistische Analyse der Preisentwicklungen ist für eine Notenbank, deren Hauptaufgabe die Wahrung der Preisstabilität ist, von zentraler Bedeutung. Gelegentlich werden für ein bestimmtes Land gleichzeitig unterschiedliche Inflationsraten genannt. Das kann daran liegen, dass verrr schiedene Indikatoren für das Preisniveau (Preisindices) verwendet werden oder unterschiedliche Methoden zu Grunde liegen. Beispielsweise kann der Vergleich der Monatswerte für März 2007 mit März 2006 andere prozentuale Veränderungen ergeben als der Vergleich der jeweiligen Jahresdurchschnittswerte. 4.3.1 Warenkorb und Preisindex Inflation war eingangs definiert worden als (anhaltender) Anstieg des Preisniveaus. Um dies zu erfassen, müsste man eigentlich die Preise aller Güter beobachten, die in einer Volkswirtschaft angeboten werden. Dies ist allein aus erfassungstechnischen Gründen unrealistisch. Daher wird die Gütervielfalt in der Praxis auf solche Güter reduziert, <?page no="163"?> die für den betreffenden Zweck repräsentativ sind. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Entwicklung der Lebenshaltungskosten. Zu ihrer Untersuchung werden die Güter, die ein «typischer» Haushalt in einem Monat nachfragt, zu einem Warenkorb zusammengestellt, wobei sie eine Vielfalt ähnlicher (Substitutions-)Güter mitrepräsentieren müssen. Der Güterkorb umfasst in Deutschland die in Abb. 4/ 9 dargestellten Gütergruppen, wobei sich die Prozentangaben auf den Anteil beziehen, den die einzelnen Gütergruppen wertmäßig am gesamten Warenkorb ausmachen. Abb. 4/ 10 verdeutlicht, dass die Umstellung des Wägungsschemas tendenziell zu einer Erhöhung der ausgewiesenen Inflation geführt hat. Die Warenkorb-Betrachtung bedeutet formaler gesprochen, dass die im Warenkorb erfassten Güter (x i ) mit Preisen (p i ) gewichtet und die Güterwerte x 1 * p 1 + x 2 * p 2 + x 3 * p 3 + ...+ x n * p n summiert werden; dies lässt sich allgemein als X * P symbolisieren. Die mengenmäßige Zusammensetzung des Güterkorbes wird über einen bestimmten Zeitraum hinweg konstant gehalten, sodass eine Änderung des Gesamtwertes des Güterkorbes ausschließlich preisbedingt ist. Wenn für zwei Zeitpunkte 1 und 2 gilt (X * P) 1 « (X * P ) 2 , 4.3 Messung dder fl Inflation 133 Abb. 4/ 9: Wägungsschema des Verbraucherpreisindex 1995 2000 Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke 13,1 % 10,3 % Tabakwaren, alkoholische Getränke 4,2 % 3,7 % Bekleidung, Schuhe 6,9 % 5,5 % Wohnung, Wasser, Gas, Brennstoffe 27,5 % 30,2 % Einrichtungsgegenstände 7,1 % 6,9 % Gesundheit, Pflege 3,4 % 3,5 % Verkehr 13,9 % 13,9 % Nachrichtenübermittlung 2,3 % 2,5 % Freizeit, Kultur, Unterhaltung 10,4 % 11,0 % Bildungswesen 07 % 0,7 % Hotel, Restaurants 4,1 % 4,7 % Andere Waren und Dienstleistungen 6,1 % 7,0 % <?page no="164"?> 134 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation dann kann dies - da die Mengenkomponente konstant ist (X) - nur auf Preiserhöhungen zurückzuführen sein: (X 1 * P 1 ) « (X 1 * P 2 ) Formal ergibt sich die Inflationsrate somit aus einem sog. Laspeyres-Index: (X 1 * P 2 ) * 100 = Wachstumsrate des Gesamtwertes des Warenkorbes zwischen Jahr 2 und Jahr 1. (X 1 * P 1 ) Da absolute Euro-Angaben zu unhandlich und auf den ersten Blick auch wenig aussagekräftig sind, wird der jeweilige Wert des Güterkorbes in eine Indexzahl umgewandelt. Dabei wird der Güterwert des Basisjahres, mit dem die Güterkörbe späterer Jahre verglichen werden, gleich Hundert gesetzt, sodass die Veränderung des Preisindex für diesen Güterkorb die prozentualen Preisveränderungen im Vergleich jeweils zum Basisjahr (Bezugsjahr) anzeigt. Wenn der Güterkorb im Jahre 1 einen Gesamtwert von 1.591,79 Euro = 100 % hatte, dann resultiert aus dem Güterwert des Jahres 4 mit 1.764,04 Euro ein Preisindex von (1.764,04 : 1.591,79) * 100 = 110,8 , d.h. dass das durchschnittliche Preisniveau zwischen den Jahren 1 und 4 um 10,8 % gestiegen ist. Mit der Ermittlung des Preisindex zusammenhängend, aber nicht gleichbedeutend, ist die Inflationsrate. Sie beschreibt die prozentuale Preisänderung nicht im Vergleich zu einem - meist weiter zurückliegenden - Basisjahr, sondern zum Vorjahr (manchmal auch zum Vormonat, wobei sich außergewöhnliche und saisonale Veränderungen besonders stark bemerkbar machen wie z.B. die im Sommer generell sinkenden Heizölpreise. Daneben gibt es noch Viertel- und Halbjahres-Inflationsraten. Die Inflationsrate für z.B. das Jahr 4 berechnet Abb. 4/ 10: Inflationsschub durch neues Wägungsschema des Verbraucherrr preisindex Für das Jahr 2002 ergeben sich folgende Veränderungen in den Teuerungsraten (Veränderung in % gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres): Basis- Jahr 1995 (alt) 2000 (neu) Jahr 2002 1,3 1,4 Jan. 2,1 2,1 Feb. 1,7 1,8 März 1,8 2,0 Apr. 1,6 1,5 Mai 1,1 1,2 Juni 0,8 1,0 Juli. 1,0 1,2 Aug. 1,1 1,2 Sept . 1,0 1,1 Okt. 1,3 1,3 Nov. 1,1 1,2 Dez. 1,1 1,2 <?page no="165"?> sich somit entweder durch Vergleich der Güterkorbwerte 1.537,96 (Jahr 3) und 1.591,79 (Jahr 4) = 1,035, d.h. 3,5 %, oder durch Vergleich der entsprechenden Indexwerte 107,05 (Jahr 3) und 110,8 (Jahr 4) = 1,035, d.h. 3,5 %. Dabei wird auch wiederum der Unterschied zwischen Prozent und Prozentpunkten deutlich: Der Preisindex veränderte sich zwischen den Jahren 3 und 4 um 110,8-107,05 = 3,75 Prozentpunkte, was - wie gezeigt - einer Veränderung von 3,5 Prozent entspricht. Diese beiden Begriffe werden leider häufig verwechselt. 4.3.2 Indexarten Das statistische Bundesamt errechnet verschiedene Preisindizes. Der umfassendste Verbraucherpreisindex ist der Verbraucherpreisindex für Deutschland. Bis zum Jahr 2002 wurde er unter dem Namen «Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte in Deutschland» veröffentlicht. Inhaltliche Änderungen waren mit dieser Umbenennung nicht verbunden. Zusätzlich werden für Deutschland der • Index der Einzelhandelspreise und der • Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) berechnet, um einen EU-Vergleich zu ermöglichen. Seit der Einführung der Berechnungsbasis 2000 = 100 % im Jahr 2003 werden die folgenden Verbraucherpreisindizes für das frühere Bundesgebiet und die neuen Länder und Berlin-Ost nicht mehr ermittelt: Preisindex für die Lebenshaltung • aller privaten Haushalte • von 4-Personen-Haushalten von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen • von 4-Personen-Haushalten von Arbeitern und Angestellten mit mittlerem Einkommen • von 2-Personen-Rentnerhaushalten mit geringem Einkommen Diese Einschränkung des Programms der amtlichen Statistik war sinnvoll, weil die speziellen Haushaltstypen die aktuellen Bevölkerungsstrukturen nicht mehr zutreffend abbildeten und sich die Ergebnisse im längerfristigen Vergleich kaum unterschieden. Der dem Verbraucherpreisindex zugrunde liegende Warenkorb umfasst zur Zeit rund 750 Positionen, wobei viele aber bereits Zusammenfassungen verschiedener Einzelpositionen sind (sog. Preisrepräsentanten). Zum Beispiel gehen die Informationen über Urlaubsreisen in verschiedene Zielgebiete nur noch verdichtet als 4.3 Messung dder fl Inflation 135 <?page no="166"?> 136 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation Sommerbzw. Winterurlaub in die Berechnung ein. In Wirklichkeit werden rund 1000 Einzelpreisreihen mit rund 350.000 Einzelpreisen erfasst. Auch in den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank werden verschiedene Preisindizes regelmäßig veröffentlicht. Neben diesen verschiedenen verbraucherorientierten Preisindizes gibt es eine ganze Palette güterspezifischer Indizes (vgl. Abb. 4/ 11), für die im Internet unter dem Begriff «Preismonitor» die aktuellen Daten eingesehen werden können. Die Abbildung verdeutlicht zudem, dass auch die verschiedenen Gütergruppen innerhalb des Verbraucherpreis-Warenkorbes teilweise ganz erheblich von der durchschnittlichen Inflationsrate abweichen. Neben den diversen Güterindizes werden auch regionale Indizes berechnet. Die durchschnittliche Inflationsrate für den Euroraum weicht natürlich von den länderspezifischen Inflationsniveaus ab. Dies liegt u.a. daran, dass die administrierten (= staatlich festgesetzten) Preise unterschiedlich sind, dass bestimmte Güter weniger ausgeprägt grenzüberschreitend zur Verfügung stehen als andere (Mieten, viele Dienstleistungen). (Für wissenschaftlich interessierte: Bela Balassa und Paul. A. Samuelson haben diesen Effekt ausführlich untersucht, und seitdem heißt er Balassa-Samuelson-Effekt.) Abb. 4/ 11: Gütergruppen im Verbraucherpreisindex Deutschland 2005 März 2006 April 2006 Mai 2006 Juni 2006 Verbraucherpreise 4) % zum Vj.monat + 2,0 + 1,8 + 2,0 + 1,9 + 2,0 Nahrungsmittel % zum Vj.monat + 0,1 + 0,4 + 0,9 + 1,2 + 1,4 andere Verbrauchsgüter 5) % zum Vj.monat + 0,9 + 0,7 + 0,7 + 0,7 + 0,7 Energie % zum Vj.monat + 10,3 + 11,8 + 12,9 + 13,7 + 11,8 Dienstleistungen % zum Vj.monat + 2,0 + 0,9 + 1,4 + 0,4 + 1,0 Wohnungsmieten % zum Vj.monat + 1,0 + 1,0 + 1,0 + 1,0 + 1,0 Erzeugerpreise 6) % zum Vj.monat + 4,6 + 5,9 + 6,1 + 6,2 + 6,1 Außenhandelspreise Ausfuhr % zum Vj.monat + 1,3 + 1,9 + 2,4 + 2,7 Einfuhr % zum Vj.monat + 4,3 + 5,5 + 6,9 + 7,5 <?page no="167"?> Gesamtindex / Abteilungen 2000 = 100 Jahr / Monat Gesamtindex im Januar 104,0 2003 Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke 104,6 Alkoholische Getränke, Tabakwaren 110,5 Bekleidung und Schuhe 100,4 Wohnung, Wasser, Strom, Gas u.s.w 104,5 Einrichtungsgegenstände, Haushaltsgeräte u.ä. 102,1 Gesundheitspflege 102,2 Verkehr 106,5 Nachrichtenübermittlung 95,5 Freizeit, Unterhaltung u.ä. 99,9 Bildungswesen 104,9 Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen 105,3 Andere Waren und Dienstleistungen 106,4 Veränderung gegenüber Vorjahreszeitraum Veränderung gegenüber Vormonat in % 1,1 0,0 - 2,8 1,1 4,7 4,0 - 1,2 - 0,8 1,6 0,8 0,3 0,1 0,5 0,2 3,9 1,7 1,6 - 0,3 - 0,5 - 5,2 1,8 0,2 1,3 - 3,9 1,5 0,9 Preisänderungen der Gütergruppen im Verbraucherpreisindex für Deutschland (in Prozent ) (Beispiel) Quelle: Statistisches Bundesamt 4.3 Messung dder fl Inflation 137 <?page no="168"?> 138 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation 4.3.3 Kerninflationsrate Um zu vermeiden, dass die Analyse der Preisentwicklung durch temporäre Einflüsse - beispielsweise Saisoneffekte - unrealistisch verzerrt wird, berechnet man die Kerninflationsrate (Abb. 4/ 12). Allerdings gibt es hierfür keine einheitliche Definition. Zu den «transitorischen» (vorübergehenden) Effekten zählen u.a. das Wetter, aber auch reguläre Saisoneinflüsse wie Erntezeiten. Bei abrupten, aber einmaligen Preiserhöhungen (administrierte Preise wie Verkehrstarife, Briefporto, Ökosteuer) tritt ein einmaliger Preisschub auf, sodass sich das Preisniveau erhöht, aber die Preissteigerungsrate danach wieder stabil ist (sog. Basiseffekt). Allerdings können diese Einmaleffekte Zweitrundeneffekte auslösen, indem sie auf andere Preisen weitergewälzt werden, beispielsweise bei Ausgleichsversuchen in Lohnverhandlungen, die an anderer Stelle wieder zu Preiserhöhungen führen. Abb. 4/ 12: Inflation und Kerninflation ! "0+&+ 2-+#)%( $%),-)( 1)%(,('*/ $,&( ,( +,) ! ".) <?page no="169"?> Der Verbraucherpreisindex ist - wie oben betrachtet - ein Laspeyres-Index, bei dem die Mengengewichte konstant sind. Bei der Kerninflationsrate wird versucht, den Einfluss von Gütern zu reduzieren, die abrupte Preissteigerungen aufweisen. Dabei können bestimmte Güter ganz ausgeschaltet werden (z.B. frische Nahrungsmittel oder Pauschalreisen, eine gängige Methode). Eine Variante der Ausschlussmethode ist die Verwendung abgeschwächter Gewichte für sehr stark schwankende (volatile) Güterpreise, wobei die Gewichte auf die Stärke der Volatilität reagieren. Beispielsweise wird dabei das Gewicht für die volatile Gütergruppe «flüssige Brennstoffe» um 90 % gegenüber dem «normalen» Warenkorb reduziert. Bei sog. «getrimmten Mittelwerten» wird ein bestimmter Prozentsatz der Komponenten nicht berücksichtigt, die sich am stärksten bzw. am schwächsten verändert haben, d.h. auf jeder Seite der Verteilungskurve werden z.B. 5 % «abgeschnitten» (Abb. 4/ 13). 22 4.3.4 Datenerhebung Entsprechend ihrer relativen Bedeutung für den gesamten monatlichen Aufwand für die Lebenshaltung unserer Durchschnittsfamilie müssen die einzelnen Güter gewichtet in den Warenkorb eingehen. Diese Ausgabenstruktur wird in aufwendigen Erhebungen festgestellt. Hierzu zählten insbesondere die etwa alle fünf Jahre statt- 22 Methodisch Interessierte können dies vertiefen: http: / / www.destatis.de/ themen/ d/ thm_preise.htm (www.statistisches-bundesamt.de). 4.3 Messung dder fl Inflation 139 Abb. 4/ 13: Indikatoren für die Preisentwicklung Jahr 1. Vj 2. Vj 3. Vj 4. Vj Gemessene Inflationsrate (Verbraucherpreis) 0,6 0,3 0,5 0,7 1,0 Statistische Kernraten Verbraucherpreise ohne Saison- Nahrungsmittel und Energie 0,3 9,6 0,2 0,1 0,2 Verbraucherpreise mit modifizierten Gewichten 0,6 0,8 0,6 0,5 0,5 5%-getrimmter Mittelwert 0,6 0,5 0,6 0,6 0,6 Quelle: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 4/ 2000 <?page no="170"?> 140 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation findenden Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS), die 62.000 Haushalte verschiedener Größe und aller sozialen Schichten, Berufe und Regionen erfassen, sowie die laufenden sozioökonomischen Wirtschaftsrechnungen (Panels) mit rund 950 ausgewählten Haushalten, die jährlich durchgeführt werden. Die in diese Erhebungen einbezogenen Haushalte notieren ihre Einnahmen und Ausgaben in «Haushaltsbüchern», die für wirtschafts- und sozialpolitische Analysen verwendet werden. Der Verbraucherpreisindex stützt sich auf die EVS, während die typengebundenen Indizes von den Panels ausgehen. Abb. 4/ 9 (oben) lässt sich z.B. entnehmen, dass die Ausgaben für «Wohnung, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe» einem Anteil von 302,66 Promille (also 30,266 Prozent) an den Gesamtausgaben entsprechen. Um den Verbraucherpreisindex einmal im Monat festzustellen, erheben rund 560 Preisermittler im Auftrag der Statistischen Landesämter und 15 Mitarbeiter des Bundesamtes Preise für die 750 Waren und Dienstleistungen des Warenkorbes. 190 Berichtsgemeinden verschiedenster Größen und Regionen und knapp 40.0000 sogenannte Berichtsstellen - das sind zum Beispiel Einzelhandelsgeschäfte und Dienstleister - werden dabei abgefragt, wobei rund 350.000 Einzelpreise ermittelt werden. Diese werden von der lokalen über die Landesebene zu Bundesdurchschnitten aggregiert. Abb. 4/ 14 gibt Auszüge eines solchen Erfassungsbogens wieder. Ein Preisindex mit einem festen Warenkorb bzw. Wägungsschema überzeichnet den Preisauftrieb in gewissem Umfang, weil er Güter enthält, die sich qualitativ verbessern und daher teurer werden. Zudem werden Verbrauchsverlagerungen durch Modellwechsel und Produktneuheiten nicht immer zeitnah erfasst; neue Güter kommen auf den Markt, alte verschwinden. Insbesondere im Bereich der Kommunikationstechnologie können die jüngeren Entwicklungen nur unzureichend berücksichtigt werden. Bei der im 2003 erfolgten Umstellung auf die Preisbasis 2000 wurden zum beispielsweise Brötchen zum Selbstbacken, das Sonnenstudio, die Pizza als Hauslieferung, die Internetnutzung durch private Haushalte, Fitness-Studios und die Altenheimpflege aufgenommen. Nicht mehr im Warenkorb enthalten sind u.a. elektrische Schreibmaschinen und Diaprojektoren; Disketten wurden durch CD-Rohlinge ersetzt. Rund zwanzig Positionen entfielen, ebenfalls rund zwanzig neue Güter wurden aufgenommen. Beispiele: Der Anteil der Nahrungsmittel und alkoholfreien Getränke an den gesamten Verbrauchsausgaben liegt jetzt bei 10,3 % (vorher 13,2 %). Dagegen stieg die Gewichtung der Ausgaben für Nachrichtenübermittlung von 2,26 % auf 2,52 % (vgl. oben Abb. 4/ 9). <?page no="171"?> Abb. 4/ 14 Erfassungsbogen 4.3 Messung dder fl Inflation 141 <?page no="172"?> 142 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation Diese Änderungen können erst mit teilweise beträchtlicher Verzögerung berücksichtigt werden, wenn der Warenkorb etwa in fünfjährigem Rhythmus aktualisiert und dann für die nächste Zeit als Basis der Indexberechnungen verwendet wird.. Die Bundesbank schätzt die Überzeichnung des Preisauftriebs auf bis zu einem dreiviertel Prozentpunkt pro Jahr. Bis zur nächsten Umstellung auf das Basisjahr 2005 (geplant für 2008) wird beispielsweise wohl auch der Einkauf über das Internet zu berücksichtigen sein. In Deutschland arbeitet das Statistische Bundesamt an Verfahrensverbesserungen bei der Preisermittlung, die sich an amerikanischen und französischen Erfahrungen orientieren und vor allem Qualitätsverbesserungen zeitnah berücksichtigen (sog. hedonische Preismessung). Dabei wird das Gut nicht als Ganzes betrachtet, sondern in qualitative Eigenschaften zerlegt (beispielsweise nicht PC, sondern Festplatte und Arbeitsspeicher). In den USA hat die hedonische Preismessung zu einem niedrigeren Inflationsausweis geführt und dadurch zu einem höheren realen Wirtschaftswachstum, weil dieses durch die Wachstumsrate des realen (preisbereinigten) Bruttoinlandsprodukts beschrieben wird. Und schon haben wir andere Werte! Die Bundesregierung interessiert sich seitdem verstärkt für diese Messmethode. Neben den Lebenshaltungs-Indizes werden eine Reihe weiterer Indizes berechnet. Der Preisindex der Inlandsnachfrage erfasst neben dem privaten Verbrauch auch den Staatsverbrauch und die Investitionsgüternachfrage. Der Preisindex des Bruttoinlandsprodukts (BIP- Deflator) erfasst lediglich die inländische (Netto-)Wertschöpfung und wird somit - im Gegensatz zum Index der Inlandsnachfrage - weniger von Preisveränderungen ausländischer Güter beeinflusst. Sofern die Auslandspreise im Verhältnis zu den Inlandspreisen stärker steigen, wird der Index der Inlandsnachfrage eine höhere Teuerungsrate anzeigen als der BIP-Deflator. Ferner werden Indizes für eine Reihe von Gütergruppen gebildet, z.B. für die Einzelhandelspreise, für die Großhandelspreise, Erzeugerpreise gewerblicher Produkte, die Einfuhrpreise, Ausfuhrpreise, für Baupreise etc., und innerhalb der Gütergruppen wiederum für zahllose Einzelgüter (Telekommunikation, Fernseher, Autobatterien, Strom und Gas usw.). Wenn von der Inflationsrate die Rede ist, wird im Allgemeinen der Verbraucherpreisindex für Deutschland gemeint, da er sich von allen Preisindizes auf den größten Güterberg bezieht. Ungeachtet der statistischen Exaktheit der berechneten Preisindizes bleibt aber festzuhalten, dass Inflation im täglichen Leben oft viel stärker empfunden wird («gefühlte Inflation»). In den Warenkorb des üblichen Verbraucherpreisindex beispielsweise gehen viele dauerhafte <?page no="173"?> Gebrauchsgüter ein, die in der Regel nur in größeren Abständen angeschafft bzw. ersetzt werden (z.B. Fernseher oder Fensterrahmen); dies berücksichtigt die entsprechende Gewichtung. Die aktuellen Preissteigerungen anderer Verbrauchsgüter aber, die im Laufe eines kurzen Zeitraumes wiederholt gekauft werden (Lebensmittel, Tageszeitung, Kantinenessen etc.) und/ oder vergleichsweise hohe Ausgaben bedeuten (Bekleidung, Benzin, Miete, Strom etc.), können daher für sich genommen eine deutlicher höhere Preissteigerungsrate aufweisen, als sie der offizielle Preisindex ausweist; Abb. 4/ 15 belegt dies. Steigen etwa die Preise für Brotprodukte, so nimmt man dies stark wahr, obgleich sie nur einen marginalen Einfluss auf den Konsumgüterpreisindex haben. Sinken andererseits die Preise für Dachziegel oder Baumaschinenteile, merkt der normale Verbraucher dies so gut 4.3 Messung dder fl Inflation 143 Abb. 4/ 15: Gefühlte Inflation 470CI7 +($6%#! ( *8$#&! $68- 1"2 +((&8&)%%) ,$(%*! &#$. 6"0 71G5J73I7/ *! 45: N: 6ON! ; K5L: T D6: N %&S&5I&N: 2 A4GQ5MMO6: 4: B6MQ7: <SML 61"3 'Q7K7N: O&N&LKN B62&2H; 6: 2ML: DKMN: 6M: 2 U: 6LK28: 2T U: 6LMQ7N69L: 2 BN6M: KN; 6: 2ML: 'O! NLT >K4LKN; 6: 2ML4: 6MLK28: 2 DN! L B4: 6MQ7 $: NM6Q7: NK28M; 6: 2ML: (: 6268K28 D64; K28M; 6: 2ML: @! L: 4T A&MLML)LL: 2 %: OO6Q7: 1"7 66"1 3"0 2"2 3"2 4"7 3"2 -"4 3"- -"3 3"1 -"5 3"3 / "2 3"6 / "6 3"6 1"0 5"0 1"2 5"2 1"4 5"/ 1"6 1"6 1"6 DGQ7: NM: 2; K28: 2 =KM6562MLNK3: 2L: A4&MI&N: 2T %&9: 48: MQ76NN EKL! N: O&N&LKN >#NO: NO94: 8: &NL65: 4 (: O&N&LKN: 2 J! 2 @&KM7&4LM8: N)L: 2 '! 2ML68: +: NM! 2: 2S: 9#N; : NK28 *K: 44: P ? 2ML6LKL ; : N ; LR "6NLMQ7&9LT C&L: 2P 'L&L6ML6M7Q: M DK2; : M&3L <?page no="174"?> 144 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation wie gar nicht. Die EZB untersucht die «gefühlte Inflation» durch regelmäßige Befragungen. Für den Euro-Währungsraum verwendet die Europäische Zentralbank (EZB) den Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Dabei handelt es sich um ein relativ neues Konzept, und lange Reihen zurückliegender Daten gibt es daher nicht. Der HVPI versucht, die weiter oben angesprochenen Messfehler aus Veränderungen im Verbraucherverhalten und auf Grund von Qualitätsverbesserungen der erfassten Güter und Dienstleistungen zu bereinigen. Da dies nicht völlig gelingen kann, interpretiert die EZB - wie erwähnt - auch einen Preisanstieg bis zu 2 % als «Preisstabilität» (worüber man sicherlich streiten kann). 4.4 Ursachen der Inflation Die nachfolgende Betrachtung von Inflationsursachen folgt der traditionellen Klassifizierung, von der sich moderne Ansätze abzugrenzen suchen. Bei näherem Hinsehen jedoch lassen sich diese neueren Inflationstheorien durchaus in das traditionelle Schema einordnen. Zunächst werden mit der güterwirtschaftlichen Nachfragesog-Inflation und der monetären Geldmengen-Inflation Inflationsursachen betrachtet, die von der Nachfrageseite ausgehen. Anschließend werden die Kostendruck- und die Angebotslücken-Inflation als angebotsinduzierte Inflationsursachen behandelt. Bei allen Inflationen ist wiederum zu unterscheiden zwischen Inflationsimpulsen, die aus der eigenen Volkswirtschaft hervorgehen («hausgemachte Inflationen»), und solchen, die sich aus den ökonomischen Beziehungen mit dem Ausland ergeben («importierte Inflationen»). 4.4.1 Nachfragesog-lnflation Die Nachfragesog-Inflation geht auf eine Ausweitung der Güternachfrage bei gleichbleibendem Angebotsverhalten zurück. Ein Anstieg der Nachfrage bedeutet in der graphischen Darstellung (Abb. 4/ 16) eine Rechtsverschiebung der Nachfragekurve von N zu N›, d.h. dass auf der Basis des bisherigen Preises P o die nachgefragte Menge (X 3 ) größer ist als die angebotene (X 1 ), sodass ein Nachfrageüberhang (inflatorische Lücke) entsteht (Demand-shift-Inflation). In den meisten Lehrbüchern wird eine Nachfrageerhöhung durch eine Parallelverschiebung der Nachfragekurve nach rechts dargestellt. Dies ist jedoch keineswegs zwingend, da die Nachfrageveränderung sowohl Form (Gerade? ) als auch Lage bzw. Steigung der Funktion <?page no="175"?> Abb.4/ 16: Nachfragesog-Inflation 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 145 beeinflusst. Die Nicht-Parallelität von N und N› ist hier daher beabsichtigt. Könnte der steigenden Nachfrage durch eine Erhöhung des Güterangebots begegnet werden (die Angebotskurve würde sich nach rechts verschieben, in der Abb.4/ 16 a von A zu A*), dann würde der Nachfrageüberhang abgebaut bzw. die Angebotslücke geschlossen. Sofern sich das Angebotsverhalten nicht ändert (die Angebotsfunktion verändert weder Form noch Lage), führt der Nachfrageüberhang über einen «Versteigerungseffekt» zu einer Erhöhung des Preises von P o zu P 1 (Gleichgewichtspreis). Zu diesem Preis wird die Menge X2 nachgefragt und angeboten (Gleichgewichtsmenge). Die Gedankenfolge bis hierher setzt voraus, dass die Angebotsfunktion « normal» verläuft, d.h. von links unten nach rechts oben ansteigt. Dies bedeutet, dass die Angebotsmenge bei steigenden Preisen zunimmt. Wenn eine Zunahme der Nachfrage jedoch in einer Situation eintritt, in der die Angebotskapazitäten stark unausgelastet sind, werden Unternehmer bei einer Nachfrageerhöhung wohl kaum im ersten Schritt mit Preiserhöhungen reagieren. Wenn das Güterangebot bei zunehmender Nachfrage ohne Preiserhöhung ausgeweitet werden kann, spricht man von völlig elastischem Angebot. Graphisch bedeutet dies, dass die Angebotsfunktion wie in Abb. 4/ 16 b waagerecht verläuft. Bei Erreichen der Kapazitätsgrenze der Anbieter nimmt die Angebotsfunktion zunächst einen normalen Verlauf an, da die Produktion in gewissem Umfang durch Überstunden oder Sonderschichten erhöht werden kann; die Mehrkosten der Produktion führen zu entsprechend höheren Preiserwartungen der Anbieter. Sofern die Kapazitäten aber völlig ausgelastet sind, können auch höhere Preise nicht zu einer Erhöhung des Angebots führen: Das Angebot ist völlig unelastisch, und die Angebotsfunktion verläuft dann senkrecht (A' bzw. A''). In einer solchen Situation - vgl. Abb. 4/ 16 c - kann ein Nachfrageüberhang also auch nicht teilweise aufgefangen werden, sodass die daraus resultierende Preissteigerung von P o auf P 2 <?page no="176"?> 146 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation höher ausfällt als bei «normaler» Reaktion des Angebots wie in Abb. 4/ 16 a. Ein preistreibender Nachfragesog-Effekt ist also nur dann vermeidbar, wenn das Güterangebot elastisch ist (Abb. 4/ 16 b) oder wenn sich die Preiserwartungen der Anbieter so ändern, dass zum bisherigen Preis eine größere Gütermenge angeboten wird (Verschiebung der Angebotsfunktion von A bzw. A» zu A* in Abb. 4/ 16 a und c), oder wenn zum inländischen Güterangebot verstärkte Importe hinzukommen. Natürlich lässt sich das inländische Güterangebot durch Erweiterungsinvestitionen erhöhen, doch ist hierfür eine gewisse Zeitspanne erforderlich. Ein Nachfragesogeffekt tritt also ein, wenn das Güterangebot nicht oder nur mit Verzögerung ausgeweitet werden kann. «Hausgemachte» Nachfrageerhöhungen können verschiedene Ursachen haben. In erster Linie ist zu denken an (1) eine Erhöhung des nachfragewirksamen Einkommens. So führt eine Zunahme der Investitionen (1 a) zu einer Erhöhung des nachfragewirksamen (Volks-) Einkommens, einmal aus den mit der Investitionsgüternachfrage verbundenen unmittelbaren Einkommenseffekten bei den Herstellern von Investitionsgütern, zum anderen darüber hinaus auf Grund möglicher Beschäftigungseffekte zu steigender Konsumnachfrage, wenn die steigende Investitionsgüternachfrage Neueinstellungen von Arbeitskräften (1 b) erfordert. Der Nachfragesog kann auf bestimmte Güter beschränkt sein und wirkt sich trotzdem - mit seiner Bedeutung im Preisindex-Warenkorb gewichtet - inflationsanregend aus, sofern in anderen Bereichen die Preise nicht sinken. Der kapazitätserweiternde und angebotserhöhende Effekt der Investition tritt hingegen - bedingt z.B. durch Bauzeiten - nur mit einer gewissen Verzögerung ein. Der Einkommenseffekt läuft somit dem Kapazitätseffekt zeitlich voraus, wodurch es zu Nachfrageüberhängen kommen kann. So ist zu beobachten, dass hohe Wachstumsraten des Sozialprodukts in der Regel einhergehen mit inflationären Entwicklungen. Eine Erhöhung der Nachfrage kann ferner zurückzuführen sein auf (2) Lohnerhöhungen (soweit sich auch unter Berücksichtigung von dadurch möglicherweise ausgelösten Arbeitseinsparungen die Nettolohnsumme erhöht), (3) auf Steuer- oder Zinssenkungen, (4) Bevölkerungswachstum oder auch auf (5) Hamsterkäufe. Eine Ausweitung der Staatsausgaben (6) (Fiskal-Inflation) kann ebenfalls zu Nachfragesogeffekten führen. Auch aus diesem Grunde ist ein anhaltendes Defizit im Staatshaushalt als inflationsfördernd anzusehen. « Importierte» Nachfragesogeffekte haben ihre Ursachen in den Außenhandelsbeziehungen. Eine Zunahme der Exportnachfrage, <?page no="177"?> z.B. auf Grund von - aus der Sicht des Auslandes - attraktiven Inlandspreisen, führt einmal unmittelbar zu einer Nachfrageerhöhung (Exportpreiseffekt), aber auch mittelbar über multiplikative Einkommenseffekte im Exportland dort zu steigender inländischer Konsum- und Investitionsgüternachfrage. Dies macht auch die Konsequenzen unterschiedlicher Inflationsraten im In- und Ausland deutlich. Hinzu kommt, dass bei hoher Auslandsinflation auch die bisherige inländische Importnachfrage «zurückkehren» kann auf den eigenen Inlandsmarkt und somit den Nachfrageüberhang verstärkt. In Abb. 4/ 17 sind zwei wesentliche Bestandteile des BIP enthalten: Investitionen (I) und privater Konsum (C). Es ist erkennbar, dass 2005-2006 C+I zugenommen haben, so dass das BIP gewachsen ist; daraufhin steigt die Inflationsrate mit Verzögerung. 2006-2007 gehen C+I zurück: BIP sinkt, die Inflationsrate auch. 2007-2008 ziehen C+I wieder an, das BIP steigt, die Inflationsrate sinkt mit Verzögerung. Wenn man großzügig ist, erkennt man die Argumentation einer Nachfragesog-Inflation. Diese güterwirtschaftlichen, Nachfrage-basierten Erklärung implizieren, dass die steigende Nachfrage auch finanziert werden kann, d.h. dass das Geldangebot entsprechend elastisch ist. Monetaristische Theorien hingegen sehen die Geldmenge nicht als reagierende, sondern als ursächliche Variable an, sodass der Geldmengensteuerung die entscheidende wirtschaftspolitische Bedeutung zukommt. Hierzu der nächste Abschnitt. 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 147 Abb. 4/ 17: Nachfragesog-Inflation ? Auf Wachstumskurs DIW-Prognosen für Deutschland, Veränderungen zum Vorjahr in Prozent 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0 2005 2006 2007 2008 6 5 4 3 2 1 0 2005 2006 2007 2008 Inflation Bruttoinlandsprodukt Anlageinvestitionen privater Konsum Handelsblatt | Veränderungen bei Bruttoinlandsprodukt, Konsum und Investitionen preisbereinigt. Prognosen ab 2006 DIW; Quelle: DIW <?page no="178"?> 148 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation 4.4.2 Geldmengen-lnflation Die Erklärung, dass ein allgemeiner Preisauftrieb auf eine zu starke Ausweitung der Geldmenge zurückzuführen sei, ist grundsätzlich ebenfalls nachfrageorientiert. Die (klassische) Quantitätstheorie des Geldes geht von der wertmäßigen Gleichheit der Summe von realen und monetären Strömen in einem geschlossenen Kreislaufmodell aus. 23 Wenn der Wert eines Einkaufskorbes an der Supermarktkasse 100,- Euro beträgt (realer Strom vom Unternehmen zum Haushalt), dann steht dem ein wertmäßig gleicher Zahlungsstrom vom Haushalt zum Unternehmen gegenüber. Diese wertmäßige Identität gilt auch auf gesamtwirtschaftlichem Niveau: Der Wert des Güterangebots (Inlandsprodukt) entspricht der monetären Nachfrage: X * P = M * U . X * P symbolisiert dabei das Inlandsprodukt als mit Preisen (P) gewichtete Gütermenge (X), M die Geldmenge und U die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die Geldmenge umfasst Banknoten, Münzen und - als wichtigste Komponente - Giralgeld (wozu auch Kredite zählen). Die Umlaufgeschwindigkeit U ist eine weitgehend autonome Größe; sie ergibt sich aus den in einer Volkswirtschaft üblichen Zahlungsgewohnheiten. So werden beispielsweise Löhne und Gehälter monatlich gezahlt, ebenso Mieten; Zahlungsfristen im Handel betragen z.B. 14 Tage; Versicherungsprämien werden heute tendenziell ganzjährig gezahlt. Insgesamt wirken eine Vielzahl von Faktoren auf die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (auch die Größe der Geldmenge M), von denen jeder für sich genommen keinen alleinbestimmenden Einfluss hat. Die empirischen Zahlen über die Entwicklung der Umlaufgeschwindigkeit besagen, dass sie tendenziell langsam sinkt, jedoch mittelfristig keinen größeren Veränderungen unterliegt, und - wenn man großzügig ist - kann man sogar sagen, dass sie kurzfristig konstant ist, abgesehen von geringen saisonalen und konjunkturellen Schwankungen. Die «liquiden» Geldmengen M1 und auch M2 verändern sich dabei kurzfristig stärker als die Geldmenge M3, die längerfristige Komponenten umfasst (Abb. 4/ 18) (vgl. zu den verschiedenen Geldmengen Kapitel 11). Da X * P das Güterangebot in Form des verfügbaren Inlandsprodukts und M * U die monetäre Nachfrage symbolisiert, lässt sich die Geldmengeninflation folgendermaßen darstellen: %U - * U # X - * P% 23 Sie geht zurück auf den Amerikaner Irving Fisher, 1911. <?page no="179"?> 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 149 Abb. 4/ 18: Umlaufgeschwindigkeit von M3 Quelle: g Sachverständigenrat JG 2000 <?page no="180"?> 150 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation Unter der Annahme ausgelasteter Produktionskapazitäten kann das Güterangebot kurzfristig nicht wachsen, da Erweiterungsinvestitionen Zeit erfordern. Das Güterangebot ist daher bei Vollbeschäftigung kurzfristig als konstant anzusehen (X - ). Wenn auch die Umlaufsgeschwindigkeit weitgehend konstant ist (U - ), wird sich eine Erhöhung der Geldmenge (%M) in einem steigenden Preisniveau auswirken (%P). Diese «naive» quantitätstheoretische Betrachtung der Klassiker 24 ist verschiedentlich erweitert worden. Arthur Cecil Pigou und Alfred Marshall ersetzten die makroökonomische Umlaufgeschwindigkeit durch die mikroökonomische Transaktionskasse. Sie argumentierten, dass ein Wirtschaftssubjekt in Abhängigkeit vom Güterangebot und vom Preisniveau ständig über eine bestimmte Geldmenge zu Nachfragezwecken zu verfügen wünsche. Die Umlaufgeschwindigkeit wird dabei also ersetzt durch die individuell gewünschte Kassenhaltungsdauer als Kehrwert der Umlaufgeschwindigkeit: (K = 1 / U). So lässt sich auch die verdeckte Inflation bei Preisstopps erfassen, indem sich die inflationäre Entwicklung nicht in steigendem Preisniveau, sondern in sinkender Umlaufgeschwindigkeit bzw. steigender Kassenhaltungsdauer bei steigender Geldmenge äußert (Kassenhaltungsinflation). Die Neoquantitätstheoretiker neuer Provenienz, meist als Monetaristen bezeichnet, kommen hinsichtlich des Einflusses der Geldmenge auf das Preisniveau per Saldo zum selben Ergebnis wie die Klassiker. Danach muss die Wachstumsrate der Geldmenge im Einklang stehen mit der Wachstumsrate des realen Inlandsprodukts, um Preissteigerungen zu vermeiden. Die Europäische Zentralbank verfolgt keine «reine», sondern nur eine monetaristisch inspirierte Geldmengenpolitik, indem sie das Wachstum der Geldmenge von der Veränderung des Produktionspotenzials abhängig macht (Potential-orientierte Geldmengenpolitik). Im Kern kann man darin die oben skizzierte Quantitätstheorie wiederfinden. Ob der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Geldmenge (M3) und dem Preisniveau langfristig betrachtet eng genug ist, um von einer gesicherten Abhängigkeit auszugehen, wird von Gegnern dieses Konzepts immer wieder bestritten. Ob Abb. 4/ 19 einen eher losen oder straffen Zusammenhang belegt, ist diskutabel. Großzügig betrachtet, ist zumindest ein Zusammenhang erkennbar. Quantitätstheoretisch ist danach jedem gegebenen Produktionspotential ein Gleichgewichts-Preisniveau und eine Gleichgewichts- Geldmenge zuzuordnen. Abweichungen zwischen dem langfristig zu 24 Vgl. Kapitel 9. <?page no="181"?> erwartenden Preisniveau und dem tatsächlich sich ergebenden Preisniveau werden als Preislücke bezeichnet: Sofern das eigentlich «richtige» langfristige Gleichgewichtspreisniveau über dem tatsächlichen Preisniveau liegt, ist mit einem Anstieg des tatsächlichen Preisniveaus zu rechnen (inflatorische Preislücke), umgekehrt mit einem sinkenden Preisniveau (deflatorische Preislücke). Allerdings ist hervorzuheben, dass auf das Preisniveau neben der Geldmenge eine Reihe anderer Einflussgrößen einwirken: Zu den monetären Faktoren zählen die Zinsen und die Wechselkurse, zu den nicht-rnonetären Faktoren u.a. die Tarifpolitik, die Importpreise und die indirekten Steuern. Die nachfragerelevante Geldmenge setzt sich - wie schon gesagt - aus Münzen, Banknoten und Buchgeld zusammen. Das Münzregal, d.h. das Recht, Münzen zu prägen, steht - wie erwähnt - historischtraditionell stets dem Staat, heute dem Bund (nicht der Bundesbank) bzw. der EU zu. Da das Münzvolumen im Verhältnis zum Inlandsprodukt nur einen sehr geringen Prozentsatz ausmacht, kann der Münzumlauf, der im Einvernehmen mit der Europäischen Zentralbank (EZB) geregelt wird, als Quelle einer Geldmengeninflation als 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 151 Abb. 4/ 19: Geldmengenwachstum und Inflation ,1.102G.00 (.F/ E.DK.D-42G0/ .E .D/ $D-F4/ FAD FE +.1A! >: 1O <64JN7641NU U6U6NH964 <M4R: T4 -96438T133! (6P7O6NU6N/ : 8T321O V% $N5P: 2SMN '&<Y$% K% ( ": T463/ : 8T321O34: 26 0MN [I OSN13 RJT4PS8T63 YM26N.S: P/ : 8T321O 763 46: P6N ? 4122SNP: N73L4M71Q23Z ,: 3 YM26N.S: P/ : 8T321O 763 ? 4122MSNP: N73L4M71Q23 / 1476 OS2 &SP56 763 &M74S8Q! Y4638M22! )SP2643 96468TN62Z F ' W16PP6N@ VABV 9S3 VAAX =8TJ2.1NU +; ? # : 9 VAAV +14M32: 2Z ,61238T6 ? 1N7639: NQ * VX B D G K X VABV BK BI BG BE BD BC BB BA AX AV AK AI AG AE AD AC AB AA XX XV XK XI KXXG <?page no="182"?> 152 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation irrelevant betrachtet werden. Ähnliches gilt für Banknoten, die von der EZB ausgegeben werden, die gleichfalls gesetzlich der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Insbesondere ist es durch die institutionelle Unabhängigkeit der EZB von den Regierungen unmöglich, dass eine Regierung Staatsausgaben inflationär mit der Notenpresse finanziert (wie in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg), was auch heute noch in vielen Ländern, in denen die Notenbank gegenüber der Regierung weisungsgebunden ist, möglich ist. Im Euro-Raum dürfen die Notenbanken dem Staat (in Deutschland Bund, Länder und Kommunen) keine Kredite gewähren. Die Gefahr der hausgemachten Geldmengeninflation kann somit nur von der Giralgeldschöpfung durch das Geschäftsbankensystem ausgehen, sodass die EZB hinsichtlich eines hausgemachten Geldmengeneffektes insbesondere der Kreditgewährung in der privaten Wirtschaft besonderes Augenmerk schenken muss. Ein importierter Geldmengeneffekt entsteht, wenn ausländische Zahlungsmittel in Inlandswährung getauscht werden. Als Hauptursachen sind insbesondere anzusehen ein Exportüberschuss in der Leistungsbilanz («Liquiditätseffekt») sowie ein Importüberschuss in der Kapitalbilanz, weil die Devisenzuflüsse bei uns in Euro getauscht werden und somit die Geldmenge erhöhen. Kapitalzuflüsse können u.a. verursacht werden durch ein attraktives Zinsniveau, durch Portfolio- oder Direktinvestitionen ausländischer Kapitalanleger, durch anlagesuchende Fluchtgelder oder auf Grund spekulativer Erwartungen über die Wechselkursentwicklung. 4.4.3 Kostendruckinflation Mit zu den populärsten Inflationserklärungen gehört die Kostendruck-Inflation. Bei steigenden Produktionskosten würde sich - bei konstanten Verkaufspreisen - die vom Unternehmer kalkulierte Gewinnspanne verringern, die er jedoch u.a. zur Erzielung einer Mindestrendite auf sein eingesetztes Kapital (ROI: Return on Investment) gerne realisieren möchte. Daher wird eine Tendenz bestehen, Kostensteigerungen in den Preisen auf den Verbraucher abzuwälzen, sofern dies im Markt möglich ist. Je unelastischer die Nachfrage dabei auf Preiserhöhungen reagiert, desto eher gelingt dies, oder anders ausgedrückt: Desto weniger Notwendigkeit besteht, nach kostensenkenden Maßnahmen zu suchen. Graphisch bedeutet eine Erhöhung der Produktionskosten, die in den Preisen überwälzt werden, eine Verschiebung der Angebotsfunktion nach oben, d.h. es wird dieselbe Gütermenge angeboten wie <?page no="183"?> vorher, aber zu höheren Preisen. Je nachdem, wie die Nachfrage darauf reagiert - normal (N), völlig unelastisch (N‘) oder völlig elastisch (N‘‘) - wird sich der Kostendruck teilweise (a), vollständig (b) oder gar nicht (c) in Preiserhöhungen auswirken (Abb. 4/ 21). Hausgemachter Kostendruck ist zurückzuführen auf binnenwirtschaftliche Verteuerung von Produktionsfaktoren. Dabei ist zu denken an Lohn(zusatz)kosten, Zinssteigerungen oder - und nicht zuletzt - Steuer- und Gebührenerhöhungen durch den Staat («administrierte Preise») (Abb. 4/ 22). Viele der im Lebenshaltungsindex aller privaten Haushalte erfassten Preise werden von staatlichen Vorschriften (mit-)bestimmt, z.B. bei Gebühren für staatliche Leistungen (Parken an Parkscheinauto- 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 153 Abb. 4/ 21 Preisschub wegen LKW-Maut Inflation Die Löhne steigen um 2,6 Prozent P re is s ch u b d u rch M ie t e n u n d S t e u e rn Möbel sollen bis zu 8 Prozent teurer werden Produzenten leiden unter hohen Holzpreisen Hoher Ölpreis treibt Inflation Lebensmittel werden teurer <?page no="184"?> 154 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation maten, Kindergartenplätze, Briefporto etc.), staatlich genehmigten Gebühren (Versicherungstarife, Arztgebühren, Flugtarife, Telefontarife, Elektrizität, Gas, etc,), über die Verbrauchsteuern (Mehrwertsteuer, Branntwein-, Bier-, Schaumwein-, Mineralöl-, Strom-, Tabak-, Kaffeesteuer) und bei Nahrungsmitteln, deren Preise von der Europäischen Gemeinschaft reguliert werden (Zucker, Milch, Butter, Rindfleisch etc.). Somit sollte man nicht allzu leichtfertig allein der oft zitierten Lohn-Preis-Spirale die Schuld für (hausgemachte) inflationäre Entwicklungen zuweisen (Abb. 4/ 23). In einigen Ländern besteht jedoch ein gefährlicher Automatismus auf Grund von Indexklauseln: In Ita- Abb. 4/ 22: Administrierte Preise <?page no="185"?> lien sorgte bis 1992 die «scala mobile», die «Lohnrolltreppe», dafür, dass Preissteigerungen automatisch zu Lohnerhöhungen führten. Ähnliche Konstruktionen waren auch in skandinavischen Ländern gebräuchlich, nicht nur bei Löhnen, sondern z.B. auch im Versicherungswesen. Allerdings ist es empirisch meist nicht möglich zu bestimmen, ob Lohnerhöhungen ursächlich sind für Preiserhöhungen oder umgekehrt höhere Preise Lohnsteigerungen bewirken, das berühmte Eier-Huhn-Dilemma. EXKURS: Euro = Teuro ? Eine spezielle Inflationsursache stellt(e) die Umstellung auf den Euro dar. Obgleich der Handel immer beteuerte, die Währungsumstellung nicht für Preiserhöhungen auszunutzen, war dies tatsächlich doch in sehr vielen Fällen der Fall. Die oben erwähnte sogenannte «gefühlte Inflation» zeigte dies sogar sehr nachhaltig. Beispielsweise wurden Schwellenpreise von 1,99 DM nicht in 1,02 Euro, sondern in 1,12 Euro umgerechnet; auf unserem eigenen Hochschul-Campus bot ein Händler Juxpostkarten für 1,50 DM an, deren Preis er dann auf 1 Euro «absenkte»... Und die Studenten kaufen sie brav weiter. In der Praxis werden Sie an vielen Beispielen teilweise enorme Preissteigerungen selbst beobachtet haben. In Italien organisierten empörte Verbraucher sogar einen Konsumboykott: «Für das, was früher 1000 Lire (rund eine Mark) kostete, wird heute 1 Euro verlangt! ! » Das können wir schon lange (Abb. 4/ 24): Wie viel mehr kosten Brötchen? Ein simples Schnitzel im Restaurant? Eine Pizza Magherita (also eine ziemlich schlichte Variante) kostet heute nicht 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 155 Abb. 4/ 23: Lohn-Preis-Spirale 01 .-! (.. / 2,$+! *%#6-* 5%# *-8-# 0%3*(,#-0"(*$0#(.- &%'( 3 &*+ #7,: A7/ -+: / *: , @B"1 +-B"/ / ->1A+1 .+/ -*+.+: "? / ,*+ ! 17,+A*C*->-* ,*+ $: -+1: +,<+: A7: : -+: ,*+/ )+,7-, *: ,+: ! 1+*/ +: 9.+1A7<4+: / *+1+: )6 + *.%"! .,+&" (&,+#$$&" '#& )-&#,&* <?page no="186"?> 156 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation selten 7 Euro. Hätten Sie früher 14 DM dafür bezahlt? ? Meiner Frau habe ich früher zum Wochenende regelmäßig einen Blumenstrauß für 12-14 DM mitgebracht. Versuchen Sie doch einmal heute, für 7 Euro einen Blumenstrauß zu kaufen… (Der Blumenhändler kann meist nichts dafür, weil er die Blumen «vom Holländer» einkauft. Der aber.) In Deutschland hatten EZB, Deutsche Bundesbank, Statistisches Bundesamt, Sachverständigenrat, Wirtschafts- und Finanzministerium unisono verkündet, die Euro-Einführung habe keine nennenswerten inflationären Wirkungen. Das Statistische Bundesamt hat Abb.4/ 24: Gefühlte Inflation - '530/ ,65 &)+"6.; )< 25: 7.: ! 6 %; )84*5)65) 7.5 %"4+486 ( #: 5.85 30: $5! 5)8*.665, 7546,.9/ 1586.515) 3,5 Anteile im Warenkorb in % 10,3 3,7 5,5 6,9 7,0 4,7 30,3 2,5 0,7 13,9 11,1 *6&! 5&K42! ("O3K$ ! K '&K 120O% (&6&! (#&K '&5 +*6&K"76)5 in % seit 2001 3N*0 93)=3+6$; / $; 6 ,8-$-3 N#*! ! =): -: =+28-3 0315(B+8# ,'A'+1': 8B ! ** 0'/ : $B27D-448E $B; 'E+@/ @E5: 8-8 384: (B+8 ! N*. 387$B; / 8-47=5E828 #+*, )8: +8/ : 3! *0 0'>/ : ->/ 48B%A8: D-44E$B2 3#*2 6: 8-08-4 $B; *B48: / 'E4$B2 #N*N ? -E; $B271878B 0*N ? 8/ 8: A8: 2$B27" $B; 3'7474(448B; -8B74E8-74$B28B 0*2 ! B; 8: 8 C': 8B $B; <-8B74E8-74$B28B 2*. 9-B: ->/ 4$B272828B74(B; 8 ##*2 C@/ B$B27D-848B $B; 9B8: 2-8 )K%O'4! 7K Einen andauernden Anstieg des Preisniveaus nennt man Inflatin. Als Maßstab dient der mit Hilfe eines Warenkorbs ermittelte Verbraucherpreisindex, der die Geldwertstabilität anzeigt und dessen Veränderung häufig als ” Inflationsrate“ bezeichnet wird. ('#6$&K7MM&K& )K%O'4! 7K Preissteigerungen einzelner Produkte, die tägliche gekauft werden, wie beispielsweise Brot, werden von den Verbrauchern besonders stark wahrgenommen - Preissenkungen dagegen kaum. Eine Studie belegt, dass nach Einführung des Euro die “ wahrgenommene Inflation“ vier mal so hoch lag wie die amtliche Inflation. ? -8: =: 8-78 -B 3'7474(448B .4'$A7'$28: =: 8-78 + % - % 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Quelle: Staatistisches Bundesamt <?page no="187"?> sehr viel Geld und Mühe investiert, um das Phänomen der «gefühlten Inflation» zu ergründen und um vorzurechnen, dass es - statistisch - keinen nennenswerten Teuerungseffekt gegeben habe. Allerdings wurde auch betont, dass man keineswegs nun neben der offiziellen Inflationsrate auch die gefühlte Inflation ausweisen wolle (warum nicht…? ). Nur die EZB hatte (noch durch ihren damaligen Präsidenten Wim Duisenberg) zugegeben, dass sie den Teuro-Effekt zu unrecht heruntergespielt hat: «Wir hätten ehrlicher sein sollen» (FAZ 27.12.02). Nein, man hätte schlicht eine mindestens zweijährige doppelte Preisauszeichnungspflicht in DM und Euro einführen müssen, ganz einfach. Eine unbewiesene Anekdote besagt, dass das Bundeswirtschaftsminsterium (BMWi) das eigene Haus und die ihm nachgeordneten Institutionen in einem internen Erlass angewiesen habe, die gängige Abkürzung T’Euro für 1000 Euro nicht mehr zu verwenden, um die Assoziation zum teurem Euro abzuschwächen. Im BMWi wollte mir das Pressereferat dies weder bestätigen noch dementieren... Es wird interessant sein, zu beobachten, ob es Slowenien gelingt, aus den schlechten Erfahrungen der übrigen Euro-Länder zu lernen (Abb. 4/ 25). Bei der Umstellung auf die 19 %ige Mehrwertsteuer haben viele Unternehmen in die Trickkiste gegriffen. Teils wurden Preise bereits vor Wochen angehoben, teils nur bei seltener gekauften Konsumgütern (Zahnpasta, Bettwäsche), teils wurden die Mengen nach unten angepasst: In Abb. 4/ 26 werden zum selben Preis nun 1,8 statt 2 Kilo verkauft - man sieht es kaum. Preisgleit- oder Wertsicherungsklauseln, bei denen der Geldwert einer Größe (Löhne, Mieten, Zinsen etc.) automatisch von der Veränderung einer anderen Größe abhängig gemacht wird, die mit den betreffenden Gütern nicht vergleichbar sind (z.B. einem Preisindex), bedürfen in Deutschland - bis auf wenige Ausnahmen - der Zustimmung des BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, ge- 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 157 Abb. 4/ 25: TEURO in Slowenien? (06 $,=/ 6)6) / "6) .60)6) < #639=? &05 7: 2/ "9-6) '0756) 3)8 %96070)7; 6.5=96) 7"6) +! 69*C9046 %9607692A23)46) 16920)8695 / 6986) / .*)4,0 4, 3(21- ! 4, 4+1* 4 0, <?page no="188"?> 158 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation hört zum Bundeswirtschaftsministerium). Ausnahmen bestehen u.a. für Kreditverträge, für kaufmännische Verträge im Außenhandel, für Anpassungsverpflichtungen «von Hand» (z.B. bei Unterhaltszahlungen) sowie für sog. Spannungsklauseln, bei denen der Wert von der Entwicklung vergleichbarer Güter abhängig gemacht wird. In diesen Fällen besteht Genehmigungsfreiheit. Im Internet (www.destatis.de) bietet das Statistische Bundesamt Hilfe an für die Formulierung von Wertsicherungsklauseln für Verträge. Das Inflationsproblem betrifft auch Kapitalanlagen. Wer eine Anleihe zeichnet, die ihm 4 % Zins verspricht, der erhält bei einer Inflationsrate von 2 % nur 2 % reale Zinsen; steigt die Inflation auf 3 %, sind es nur noch 1 % reale Zinsen, bei 6 % Inflation sind es - 2 % realer Verlust. Inflationsgeschützte Anleihen, sogenannte Inflation linked Bonds (ILB) oder Treasury Inflation-Protected Securities (TIPS) garantieren dem Anleger einen festen, realen Zinssatz über die gesamte Laufzeit. Die Inflationsrate wird ausgeglichen, und zwar jährlich, indem der vereinbarte Zinssatz mit der Inflationsrate multipliziert wird. Der Preis für diese Sicherheit: Der garantierte Zinssatz liegt unter dem von normalen Anleihen. Am deutschen Kapitalmarkt werden solche Anleihen mit Inflationsschutz erst seit 2006 gehandelt. Abb. 4/ 26: Kreative Preisgestaltung Eines von vielen Beispielen für „geschrumpfte" Packungen: Hier bekommt der Kunde für den gleichen Preis nur noch 1,8 statt 2 kg Geschirrspüler Foto: vzh Quelle: Schwäbische Zeitung, Dezember 2006 <?page no="189"?> Bei inflationsgeschützten Anleihen werden wie bei normalen Anleihen regelmäßig Zinsen an den Anleger gezahlt und die Anleihe am Ende der Laufzeit zurückgezahlt. Die Zahlungen werden jedoch an die tatsächliche Inflationsrate angepasst (hierbei wird ein bestimmter Verbraucherpreisindex angewendet) 25 , so dass sich die Zinszahlung jährlich erhöht. Beispiel: Emission im Jahr 20X0, Nominalwert (Ausgabewert) der Anleihe 1000,- Euro, Laufzeit 10 Jahre, vereinbarter Zinssatz 3 %, tatsächliche Inflationsrate konstant 3 %. Dann werden im ersten Jahr (20X1) nicht 30,- Euro, sondern 30,- x 1,03 = 30,90 Euro an Zinsen ausgezahlt (Rendite 3,090), im zweiten Jahr (20X2) 31,83 Euro (Rendite 3,183), im dritten Jahr (20X3) 32,78 Euro (Rendite 3,278) usw. Auch der Rückzahlungsbetrag der Anleihe würde sich jährlich um 3 % erhöhen und am Ende der Laufzeit in 2X10 1.344,- Euro betragen. Bei einer klassischen, normalen Einleihe würden unter diesen Annahmen jährlich nur 30,90 Euro ausgezahlt und die Anleihe nur zu 1000,- Euro zurückgezahlt (Abb. 4/ 27). Im Anfangszeitpunkt, wenn die Anleihe gezeichnet (gekauft wird), ergibt sich aus der Differenz zwischen dem Zinssatz der Inflationsanleihe und der am normalen Kapitalmarkt gebotenen Verzinsung die so genannte Break-Even-Inflationsrate , d.h. die «eingepreiste» Inflation, die sich darin ausdrückt, dass der Zinssatz der Inflationsanleihe niedriger ist als der aktuelle Kapitalmarktzins. In unserem Beispiel ist die inflationsgeschützte Anleihe also nur dann sinnvoll, wenn der Investor tatsächlich eine jährliche Inflationsrate von mehr als 2 Prozent erwartet. Der Anleger ist dann gegen den sonst inflationsbedingten Wertverlust abgesichert. Der Kreditnehmer wiederum spart Zinsen, wenn die tatsächliche Inflation unter der «eingepreisten» Rate bleibt, weil er dann nur einen niedrigeren Zins zahlen muss als am regulären Kapitalmarkt. Allerdings haben solche Anleihen einen entscheidenden steuerlichen Nachteil: Sie zählen als Finanzinnovation. Privatanleger müssen folglich sowohl Zinserlöse wie auch Tilgungsgewinne als Einkommen versteuern, soweit sie den Sparerfreibetrag übersteigen. Käme es nun zu einem größeren Verlust an Kaufkraft oder gar zu einer Hyperinflation, würde der Finanzminister ein Gutteil vom Anpassungsbetrag der inflationsgeschützten Anleihen wieder einkassieren. 25 Präzise ist es der Harmonisierte Verbraucherpreisindex für den Euro- Raum ohne Tabakpreise (HVIPexT). 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 159 <?page no="190"?> 160 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation Die Lohn-Preis-Spirale wird in moderneren Inflationstheorien auch als Inflation auf Grund verschärfter Verteilungskämpfe angesehen (Verteilungsinflation), weil gewissermaßen abwechselnd Arbeitnehmer und Arbeitgeber versuchen, sich einen größeren Anteil am Volkseinkommen zu sichern. Damit steht auch die sog. Anspruchsinflation in Zusammenhang: Lohnerhöhungen, die in einem be- 4/ 27: Inflationsgeschützte Anleihe ! -2/ 7&(+-''0*%&# 2") 2)($7&4 / +7, 3: .>; (1- (1/ -( ; 7): .-; 57/ *(/ 1)<->-( $7; .<). "<7*.31.</ -. ! 7,; 6-<57/ .1>61-+7* ; <.*- 4.< %(& : 15=.7- ' 8.<-.1. "9</ / <57.7 *.3; 67- ! (,4 *,.. "$ *$,+$-$/ '/ #"&+! ./ ,&/ "$! #$/ Jahr Nennwert Zinsen Rendite Zinskupon 3 Prozent Jahresinflation 3 Prozent Emmission 2004 1.000 2005 1.030 30,90 3,090 2006 1.061 31,83 3,183 2007 1.093 32,78 3,278 2008 1.126 33,77 3,377 2009 1.159 34,78 3,748 2010 1.194 35,82 3,582 2011 1.230 36,90 3,690 2012 1.267 38,00 3,800 2013 1.305 39,14 3,914 2014 1.344 40,32 4,032 Summe der Zinsen 354,23 Kursgewinn 344,00 Summe der Erträge 698,23 69,823 <?page no="191"?> stimmten Sektor auf Grund der Produktivitätsentwicklung gerechtfertigt sein mögen, setzen sich auch in anderen Sektoren fort, wo Kostensteigerungen nicht über Produktivitätsfortschritte (sprich: Rationalisierungen), sondern nur über Preissteigerungen kompensiert werden können (Lohn-Lohn-Spirale). Dass Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen durchaus voneinander «abgucken», ist offensichtlich, hängt somit also von der Marktmacht der Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber ab. Letztere sind wiederum verantwortlich für die sog. Gewinndruck-lnflation als weitere Variante der Kostendruckinflation, wobei die Durchsetzbarkeit höherer Gewinnspannen entscheidend von der Preiselastizität der Nachfrage abhängt. Diese wird auch von der Struktur der Anbieterseite mitbestimmt: Je monopolistischer die Angebotsstruktur ist, desto weniger Möglichkeiten gibt es für die Nachfrager, Preiserhöhungen auszuweichen, und desto unelastischer wird tendenziell die Nachfrage auf Preissteigerungen reagieren (Strukturinflation). Eine importierte Kostendruckinflation wird durch Erhöhung der Importpreise für ausländische Vorleistungen, aber auch für importierte Fertigprodukte hervorgerufen, die in den Warenkorb zur Berechnung der Lebenshaltung eingehen (richtiger wäre also die Bezeichnung «importierter Kosten- und Preisdruck»). Standardbeispiel sind dabei Preissteigerungen bei Erdöl oder Erdgas, doch geht importierter Kostendruck von einer Vielzahl ausländischer Güter aus. Man spricht dabei auch von Importpreiseffekt oder vornehmer von internationalem Preiszusammenhang, da das ausländische Preisbzw. Kostenniveau sich auf das inländische Preis- und Kostenniveau auswirkt. In diesem Sinne gibt es auch eine importierte Gewinndruckinflation, indem inländische Anbieter auf Grund höherer Endpreise ausländischer Konkurrenten ihre Gewinnspannen erhöhen können, ohne preisbedingte Wettbewerbsnachteile befürchten zu müssen. Die sogenannten « windfall profits» in der Mineralölindustrie sind hierfür ein gutes Beispiel: Europäische Erdölproduzenten machen gerne OPEC-Preiserhöhungen mit, was nicht immer 1: 1 ihrer Kostenentwicklung entspricht. Da sich die Importpreise auch bei einer Abwertung der Inlandswährung erhöhen, während sich gleichzeitig die Exportpreise aus der Sicht ausländischer Nachfrager verringern und eine Erhöhung der Exportnachfrage bewirken können, kann eine Abwertung auch inflationäre Impulse auslösen. Umgekehrt wirken sich natürlich günstige Wechselkurse und sinkende Importpreise durchaus auch preisberuhigend für das Inland aus. 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 161 <?page no="192"?> 162 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation 4.4.4 Angebotslücken-lnflation Im Ergebnis identisch, jedoch auf eine andere Ursache zurückgehend als die Kostendruckinflation ist das Entstehen einer Angebotslücken- Inflation (Abb. 4/ 28). Auf der Basis des bisherigen Marktpreises P o geht die angebotene Menge zurück (A # A'), d.h. die Angebotskurve verschiebt sich nach links (bei der Kostendruck-Inflation verlagert sie sich nach oben; der Effekt ist derselbe, aber die auslösenden Ursachen unterscheiden sich). Die entstehende Angebotslücke wird durch Preissteigerungen geschlossen, sodass sich ein neuer Gleichgewichtspreis auf höherem Niveau einstellt (P 1 ). Je unelastischer die Nachfrage auf die induzierten Preissteigerungen reagiert (N') bzw. je weniger das Angebot auch bei steigenden Preisen ausgeweitet werden kann (A''), desto stärker ist der inflationäre Impuls (N', A' # P 2 und N, A'' # P 3 ). Hausgemachte Angebotslücken sind Produktionsausfälle durch Streiks oder politische Unruhen bis hin zu Kriegen (was meist eine immense Inflationsquelle darstellt), Missernten und Naturkatastrophen. Streiks können auch indirekt durch den Ausfall von Zulieferanten zu Produktionslücken führen. Wer - raten Sie - ist das Weltmeisterland im Streiken...? Richtig, Island. Im Durchschnitt der letzten 30 Jahre fielen dort jährlich 880 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte Streiks zum Opfer, gefolgt von Italien (765), Griechenland (600) und Spanien 590 Tage). Und wer streikt am hartnäckigsten? Auch richtig geraten: die USA. Dort blieb im letzten Jahrzehnt jeder US-Arbeiter pro Streik 17 Tage seinem Job fern, in Kanada waren es Abb. 4/ 28: Angebotslücken-Inflation <?page no="193"?> 15 Tage, in Deutschland 1,6, in Italien nur 1,2 Tage! Wer hätte das gedacht? 26 Importierte Angebotslücken entstehen durch ausbleibende Güterlieferungen aus dem Ausland, auf welche Gründe auch immer diese zurückzuführen sein mögen. Auch eine starke Ausweitung der Exporttätigkeit kann zu einer Angebotslücke führen, wenn die Inlandsproduktion zu großen Teilen nur für Exportzwecke, nicht aber mehr dem Inlandsmarkt zur Verfügung steht, ohne dass ein Marktausgleich durch Importe erfolgt. Da das «Abwandern» inländischer Produkte ins Ausland in hohem Maße durch attraktive Exportpreise bedingt ist, spricht man in diesem Zusammenhang auch vom «Exportpreiseffekt». Angebotsinduzierte Inflationserklärungen werden auch herangezogen, um die sog. Stagflation zu erklären, d.h. die Situation, in der Stagnation des Wirtschaftswachstums mit Inflation einhergeht: Nachfragesog- und Geldmengeneffekte können nur bei Vollauslastung des Produktionspotenzials wirksam werden, d.h. wenn steigender Nachfrage nicht mehr mit einer Ausweitung des Angebots begegnet werden kann. Bei Unterbeschäftigung kann also ein dennoch zu beobachtender Preisauftrieb nicht nachfrageinduziert sein, sondern muss sich aus Angebotseffekten ableiten. Insbesondere ist dabei an importierten Kostenbzw. Preisdruck zu denken. Aber auch die inländischen Güterpreise sind weitgehend kostenbestimmt, indem Angebotspreise gerne durch Aufschläge auf die Produktionskosten kalkuliert werden (Zuschlagskalkulation). Nur im Landwirtschaftsbereich und bei Rohstoffen (auch importierten) ist die Preisentwicklung deutlich nachfragebestimmt. 4.4.5 Zusammenfassung Nach dieser Systematik lassen sich also acht verschiedene Inflationsursachen unterscheiden (Abb. 4/ 29). Das wirtschaftspolitische Problem besteht nun darin, die jeweils sprudelnden Inflationsquellen zu identifizieren. Hiervon hängt die Auswahl der möglichen Gegenmaßnahmen ab. So wäre es beispielsweise weitgehend sinnlos, hausgemachten Inflationen vorrangig durch außenhandelsbezogen Maßnahmen begegnen zu wollen. Während hausgemachten Inflationsursachen auch mit entsprechenden internen Maßnahmen entgegengewirkt werden kann, fällt dies bei Effekten, die durch die Außenhandelsbeziehungen ins Inland «importiert» werden, weniger leicht, sofern das Prinzip des freien Außen- 26 Institut der deutschen Wirtschaft, iwd 34/ 2001. 4.4 h Ursachen dder fl Inflation 163 <?page no="194"?> 164 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation handels nicht beeinträchtigt werden soll. In diesem Zusammenhang kommt daher der Wechselkursentwicklung eine besondere Bedeutung zu: Bei fixen Wechselkursen können sich importierte Inflationseffekte ungehindert im Inland auswirken, während sie bei flexiblen Wechselkursen durch sich anpassende Kurse ganz oder teilweise abgefedert werden können. So ist davon auszugehen, dass sich der ausländischer Kostendruck auf Grund durch flexible Wechselkurse, konkret: durch Aufwertungen des Euro gegenüber dem Dollar nur abgeschwächt auf das inländische Preisniveau auswirkt. Natürlich hängt auch dies wieder von der Nachfrageelastizität ab. Sofern von nicht-monetären Inflationsursachen auszugehen ist, vermindern sich die Reaktionsmöglichkeiten der Geldmengen- oder Zinspolitik der Zentralbank. Dann neigt die Politik verstärkt zu fühlbaren Eingriffen in den Wirtschaftsprozess, etwa durch Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen. Theoretisch könnte dies zu politischem Widerstand führen, doch haben solche Maßnahmen gegenwärtig sicher nicht preisstabilisierende Zielsetzungen, sondern sind in erster Linie fiskalisch (haushaltsmäßig) bedingt. Abb. 4/ 29: Inflationsursachen Inflationsarten Beispiele für Ursachen Hausgemacht importiert Nachfrageinduziert Angebotsinduziert Nachfragesog-Inflation Bevölkerungswachstum Exportausweitung (Wiedervereinigung! (Abwertung der Migration) Inlandswährung) Senkung direkter Steuern staatsausgaben Geldmengen-Inflation Kreditausweitung durch Devisenzuflüsse durch Zinssenkung, Bargeld- Handelsüberschüsse oder produktion (”Notenpresse”) hohes Zinsniveau im Inland Kostendruck-Inflation Lohnerhöhungen, Erhöhung Verteuerung von Importindirekte Steuern, gütern (Rohöl! ), Abwertung Zinserh öhungen der Inlandswährung Angebotslücken-Inflation Streiks, Mißernten, Streiks, Mißernten, Bürgerkrieg im Inland Bürgerkrieg im Ausland politische Spannungen, Embargos <?page no="195"?> 4.5 Folgen der Inflation Mit dem Begriff Inflation verbinden sich üblicherweise - und zu Recht - negative Empfindungen. Ein Großteil der relativ hohen Inflationsraten in Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre war auf hausgemachte Nachfrageeffekte auf Grund des Nachholbedarfs in den neuen Bundesländern zurückzuführen, da sich bei zunächst gegebenen Angebotskapazitäten Nachfrageüberhänge bildeten. Es muss hervorgehoben werden, dass jeder allgemeine Preisauftrieb, auch nur mit geringen Preissteigerungsraten, sachlich Inflation bedeutet. Gelegentlich werden die negativen Wirkungen inflationärer Entwicklungen verkannt oder zu Unrecht heruntergespielt mit dem Hinweis, eine geringe Inflationsrate sei nicht schädlich, im Gegenteil sogar wachstumsfördernd - siehe die Interpretation von bis zu 2 % Inflation als Preisstabilität durch die EZB. Wir werden hierauf gleich zurückkommen. Tendenziell sind die nachfolgenden Inflationsfolgen natürlich bei hohen Inflationsraten deutlicher beobachtbar als bei niedrigeren. (1) Verlust der Kaufkraft Inflation und Verlust der Kaufkraft werden häufig gleichgesetzt. Dies ist korrekt, wenn man sich auf die Kaufkraft des Geldes bezieht. Davon abzugrenzen ist aber die Kaufkraft des verfügbaren Einkommens, die einmal von den Preisen, zum anderen aber auch von der Einkommensentwicklung selbst bestimmt wird. Nominale Löhne werden um den inflationsbedingten Kaufkraftverlust gemindert, sodass sich die Entwicklung des realen Lohns berechnet als Lohnerhöhung minus Anstieg der Lebenshaltungskosten (Inflationsrate) (jeweils in Prozent). Tendenziell laufen die Lohnsteigerungen der Inflation hinterher ( Lohn-lag-Hypothese; lag = Verzögerung; dies gilt analog für Transfereinkommen wie Renten oder Kindergeld). Es ist wenig sinnvoll, internationale Preisvergleiche im Hinblick auf die Entwicklung der Lebenshaltungskosten anzustellen, wenn nicht gleichzeitig auch die Einkommensentwicklung berücksichtigt wird. Einen guten Vergleichsmaßstab - im internationalen Querschnitt wie im nationalen Längsschnittvergleich - liefert hingegen die Umrechnung in die Arbeitszeit, die benötigt wird, um die entsprechende Geldsumme zu verdienen. Wenn man - bei absolut gleichen Ladenpreisen - in Aland für ein Fahrrad 3 Arbeitstage, in Benesien aber 1 Monat aufwenden muss, wird die unterschiedliche Einkommenskaufkraft deutlich. Die Umrechnung in die zum Kauf 4.5 l Folgen dder fl Inflation 165 <?page no="196"?> 166 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation erforderliche Arbeitszeit ist nicht nur im internationalen Quervergleich, sondern auch national im Zeitablauf sehr aufschlussreich. Trotz teilweise kräftig gestiegener Güterpreise hat - auf Grund des sehr viel stärker gestiegenen Einkommens - die Kaufkraft des verdienten Lohns pro Minute («Lohnminute») in Deutschland ganz erheblich zugenommen; beispielsweise musste man für 1 kg Kochschinken 1982 immerhin 84 Minuten, 2002 aber nur noch 51 Minuten arbeiten. Zu beachten ist zudem, dass i.d.R. auch die Qualität der Güter sehr viel besser ist als früher. Abb. 4/ 30: Preisniveau von Großstädten (*3- 4)(+,3+ 2*03-)3+ 1'* 3-+3+ )-/ 52. .=&'= / %2'/ ! 5'2 ! 282$#! 2 0! 15! 52$ 32%! 7 )2$'@)#! 2 518*&$1*! 52$ 46(@2 '@ 21'$=/ ' 7 ,0"0! 85'2 Preisviveau* internationaler Metropolen im Vergleich Ohne Miete Mit Miete Städte 1 Zürich = 100 Zürich = 100 Tokio 140,1 150,6 New York 103,8 118,6 Zürich 100,0 100,0 Singapur 98,1 122,2 London 94,8 110,2 Schanghai 86,3 89,8 Paris 81,6 85,4 Frankfurt 76,2 78,4 Berlin 70,4 71,6 Istanbul 63,9 68,4 Mexiko 62,2 62,8 Rio de Janeiro 62,0 72,4 Moskau 59,1 65,7 Johannesburg 50,9 53,7 Bombay 37,4 37,9 *) Kosten eines nach den Verbrauchsgewohnheiten gewichteten Warenkorbes mit 111 Gütern und Dienstleistungen, darunter 3 Mietpreise; 1 ) Reihenfolge entsprechend der Indexhöhe (Preisniveau ohne Miete) Quelle: UBS <?page no="197"?> Exkurs Die Schweizer Bank UBS vergleicht laufend die Kaufkraftentwicklung der Löhne in den wichtigsten Hauptstädten der Welt. Abb. 4/ 30 verdeutlicht die teilweise extremen Unterschiede. Die Untersuchung erstreckt sich auch auf das Niveau der Nettolöhne, wobei wiederum Tokio führt, gefolgt von Zürich und New York. Umgekehrt hat Bombay das niedrigste Großstadt-Lohnniveau der Welt: etwa 6 % von dem, was in Zürich gezahlt wird. (Nicht zuletzt deshalb haben viele Unternehmen ihre Softwareentwicklungen in indische Unternehmen ausgelagert.) In Beziehung zu den Lebenshaltungskosten sieht es anders aus: Die Luxemburger, Züricher und Houstoner können sich am meisten für ihr Einkommen kaufen, am Ende der Skala liegen Moskau, Jakarta und Nairobi. Die UBS-Studie rechnet auch vor, wie lange man für einen BigMac arbeiten muss: In Tokio und Hongkong etwa 9 Minuten, in Nairobi 3 Stunden. Der BigMac dient auch als Vergleichgröße bei Wechselkursen für die Untersuchung, ob eine Währung über- oder unterbewertet ist (vgl. Kapitel 13 Außenwirtschaft). (2) Nominale und reale Zinsen Der gerade betrachtete Zusammenhang zwischen nominalen und realen Werten gilt natürlich auch für andere ökonomische Größen wie z.B. für die Zinsen: Aus Schuldnersicht verringert Inflation die reale Zinsbelastung und regt somit kreditfinanzierte Konsumnachfrage an. Wer sich heute 100 Geldeinheiten leiht, zahlt bei hoher Inflation dann vielleicht nur noch den Gegenwert einer Pizza zurück. Bei den Unternehmen würden niedrige Realzinsen in analoger Weise theoretisch die Investitionstätigkeit anregen, doch ist die Zinsabhängigkeit von Investitionen empirisch nur für den privaten (Hypothekenkredit-finanzierten) Immobilienmarkt deutlich nachzuweisen. Hohe Realzinsen verleiten andererseits dazu, Kapital nicht im investiven Bereich, sondern in Wertpapieren anzulegen ( Portfolio-Investitionen), sodass damit die Investitionstätigkeit in Sachanlagen gebremst werden kann. Je stärker die inflationäre Geldentwertung ist, desto mehr werden tendenziell Gläubiger benachteiligt und Schuldner begünstigt, sofern es nicht bei Abschluss des Kreditgeschäfts gelungen ist, die zu erwartende Geldentwertung durch entsprechende Zinsvereinbarungen zu berücksichtigen, beispielsweise durch variable Zinsen. Nachträgliche Anpassungen sind in der Regel nicht möglich. Und je größer der Inflationsverlust der Gläubiger bzw. der «Gewinn» der Schuldner ist, desto schlechter wird auch die Zahlungsmoral werden, was sich wie- 4.5 l Folgen dder fl Inflation 167 <?page no="198"?> 168 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation derum negativ auf die Liquiditätssituation von Unternehmen auswirken kann. Erinnern Sie sich auch nochmals an die oben erwähnten Anleihen, bei denen Verzinsung und Rückzahlung der Titel an die Entwicklung der Inflation in der Eurozone gekoppelt sind. Dadurch wird den Anlegern die Kaufkraft ihres Kapitals erhalten. (3) Substanzverzehr bei Unternehmen Inflation bedeutet, dass sich die in der Unternehmensbilanz erfassten Werte nicht die Realität widerspiegeln. Als Gewinn gilt bilanztechnisch, wenn - vereinfacht gesagt - mehr verdient wird als anfänglich investiert wurde. Die Verkaufspreise der Produkte steigen im Zuge der Inflation, Investitionen und Materialeinsatz aber werden mit dem Wert bilanziert, den sie ursprünglich gekostet haben (Anschaffungswert) (abzüglich Wertminderungen durch Abschreibungen natürlich). Da die Erlöse sich also laufend inflationär anpassen, die Investition aber zum ursprünglichen «historischen Wert» bilanziert wird, entstehen Scheingewinne: Würde man die heutigen Erlöse dem heutigen Wert der Investition (Wiederbeschaffungswert) gegenüberstellen, wäre der Gewinn entsprechend niedriger, möglicherweise läge sogar ein Verlust vor. Werden daher solche Scheingewinne ausgeschüttet, wird die Unternehmenssubstanz ausgezehrt. Steuern auf den Gewinn besteuern daher so gesehen «unechte» Gewinne. Die gestiegenen Wiederbeschaffungskosten müssen also aus dem versteuerten (Schein-)Gewinn finanziert werden, während die übrigen Kosten - Löhne, Material, Abschreibungen - richtigerweise den Gewinn mindern. Im Extrem würden also auch Gewinne besteuert, die nicht einmal ausreichen, die Wiederbeschaffung des Materialeinsatzes zu finanzieren, um die Produktion fortsetzen zu können (daher «Scheingewinn»). Und schließlich mindern inflationsbedingt steigende Produktionskosten und Steuerbelastungen auch die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft auf dem Weltmarkt. (4) Flucht in Sachwerte Wenn also durch Inflation die Kaufkraft des Geldes sinkt, wäre dies durch entsprechend hohe Einkommenssteigerungen zu kompensieren. Dadurch wird aber nicht die Inflation beseitigt, sondern nur ein Teil der Inflationsfolgen abgemildert. Bei Inflation wird Sparkapital real nicht in Höhe des nominalen Zinses vermehrt oder sogar laufend entwertet, sodass eine Tendenz besteht, Geldkapital in Sachkapital zu verwandeln (Flucht in Sachwerte). Dabei wird man in erster Linie an Geldanlagen in Immobilien, Gold oder Kunst denken, doch <?page no="199"?> vollzieht sich bereits eine allgemeine Flucht in Sachwerte, wenn die Sparneigung zugunsten verstärkter Konsumtätigkeit sinkt: Käufe werden vorgezogen, um dem Preisauftrieb zu entgehen; Kredit- und Ratenkäufe werden abgeschlossen, weil die Rückzahlungsverpflichtung im Zeitablauf real sinkt. (5) Tendenz zur Selbstbeschleunigung Da Inflation somit die Kassenhaltung «besteuert», kann der Versuch, die Inflation durch Sachwertkäufe zu umgehen, auf Grund steigender Nachfrage wiederum eine inflationäre Entwicklung verstärken: Es besteht eine Tendenz zur Selbstbeschleunigung der Inflation, möglicherweise begünstigt durch Automatismen wie indexierte Löhne, die der Lohn-Preisbzw. Preis-Lohn-Spirale vermehrten Schwung geben. Dies kann verstärkt werden durch spekulatives Anbieterverhalten, indem Produktion in Erwartung steigender Preise zunächst auf Lager erfolgt, sodass sich in bestimmten Sektoren partielle Angebotslücken ergeben können. In krassen Fällen werden gehortete Güter nur auf dem Schwarzmarkt angeboten. (6) Verzerrung der Verteilung Die inflationäre Geldentwertung trifft jedoch nicht alle gleichmäßig, sodass eine Verzerrung der Einkommens- und Vermögensverteilung möglich ist. Wer seine Preise selbst kalkulieren und festlegen kann, kann sich auch kontinuierlich an Kosten- und Preisentwicklungen anpassen. Anders ist es bei festen Einkommen, die in der Regel nur einmal jährlich im Rahmen von Tarifverhandlungen angepasst werden können («wage lag» = verzögerte Lohnanpassung; Lohn-lag). Selbst wenn erwartete Preissteigerungen bereits bei Lohnabschlüssen antizipiert werden, kann die Inflationsentwicklung die Erwartungen durchaus übertreffen. Ein Auffangen von Preissteigerungen durch Einkommenssteigerungen kann andererseits aber auch bedeuten, dass der Netto-Einkommenseffekt trotz nominaler Erhöhung eine reale Verschlechterung bedeutet, weil der Einkommensbezieher steuerlich in eine höhere Progressionsstufe rutscht («kalte Progression»); man spricht daher auch von Zwangssparen. Je schwächer die Position des Einzelnen ist, sein Einkommen an die Preisentwicklung anzupassen, desto stärker wird er von realem Einkommensverlust betroffen. Dies gilt insbesondere für Rentner, da die Rentenanpassung mit noch größerer Verzögerung erfolgt als bei den Löhnen («Transfer-lag»). Allgemein kann man sagen, dass die Inflationsfolgen die wirtschaftlich 4.5 l Folgen dder fl Inflation 169 <?page no="200"?> 170 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation und sozial Schwachen am stärksten trifft, weil sie nichts zum Fliehen in die Sachwerte haben. (7) Verzerrung der Allokation Neben diesen Verteilungswirkungen sind auch negative Auswirkungen auf den sog. Allokationsprozess möglich. Mit diesem Begriff meint man den Einsatz bzw. die Aufteilung der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren auf die bzw. in den verschiedenen Produktionsbereichen. Die Preise für Güter und Produktionsfaktoren werden in unterschiedlichem Ausmaß durch Inflation verzerrt, sodass auch das Verhältnis der Preise zueinander (die relativen Preise oder Preisrelationen) verzerrt wird. Damit können die Preise nicht mehr den volkswirtschaftlich «richtigen» Wert der Güter oder Produktionsfaktoren widerspiegeln, sodass z.B. Produktionsfaktoren für die Produktion von vermeintlich wertvollen, weil teuren Güter eingesetzt werden, deren tatsächlicher volkswirtschaftlicher Wert im Verhältnis zu anderen Gütern jedoch gering ist. Insgesamt sinkt in Ländern mit hoher Inflationsrate in aller Regel die Investitionsneigung. (8) Staatsverschuldung und Staatshaushalt Vor dem oben bereits skizzierten Hintergrund ist auch die Behauptung zu sehen, dass einzelne Regierungen eine bewusste Inflationspolitik betreiben, um die nominale Last ihrer Staatsverschuldung real zu vermindern, da nur die aufgenommenen Summen zu den vereinbarten Zinsen zurückzuzahlen sind. Diese Betrachtung ist allerdings einseitig, denn der Staat wird durch Inflation auf beiden Haushaltsseiten negativ betroffen: Einmal ist das Bemühen, Preissteigerungen durch Einnahmesteigerungen zu begegnen, in dieser Hinsicht ein doppelschneidiges Schwert. Durch die progressive Besteuerung der Einkommenszuwächse kann das Entstehen einer Schattenwirtschaft gefördert werden, in der versucht wird, durch Schwarzarbeit und unter Umgehung von Steuern der Kaufkraftverlust aufzufangen. Außerdem sinkt bei Inflation die Steuermoral, indem Steuern - wenn überhaupt - nur mit Verzögerung bezahlt werden, sodass sie sich zwischenzeitlich real entwerten. Dies beeinträchtigt das Bild vom Staat als Hauptnutznießer der Inflation, der von steigenden Preisen und Einkommen steuerlich profitiert. Das Bild ist auch insofern schief, als der Staat nicht nur auf der Einnahmeseite möglicherweise inflationsbedingte Steuerzuwächse verzeichnet, sondern natürlich auch auf der Ausgabenseite vom allgemeinen <?page no="201"?> Kosten- und Preisauftrieb betroffen wird. Der Staat dürfte per Saldo eher als Inflationsverlierer anzusehen sein, aber die Konsequenzen defizitärer Staatshaushalte werden auf die Bürger und Steuerzahler zurückfallen (vgl. Kapitel 10 Finanzpolitik). (9) Kapitalflucht und Wechselkurs Bei hohen Inflationsraten wird die Neigung zu Kapitalflucht gefördert, d.h. dass Geld- und Kapitalbesitzer ihre Besitzmittel ins Ausland «retten». International unterschiedliche Inflationsraten haben dadurch Einfluss auf die Entwicklung von Wechselkursen. Bei flexiblen Wechselkursen müssten sich unterschiedliche Preisentwicklungen im In- und Ausland durch ständige Wechselkursveränderungen neutralisieren, da z.B. vergleichsweise billige Auslandsgüter über erhöhte Güternachfrage zu erhöhter Devisennachfrage der Inländer und somit zu einer Aufwertung der Auslandsbzw. ff Abwertung der Inlandswährung führen. Bei starren Wechselkursen jedoch kann sich dieses Kaufkraftgefälle nicht kontinuierlich ausgleichen, sodass unterschiedliche Inflationsraten fixe Wechselkurse im Zeitablauf unrealistisch und Paritätsanpassungen unumgänglich machen. (10) Staatseingriffe in den Markt Begleiterscheinungen der Inflation wie Schattenwirtschaft und Selbstbeschleunigung fördern eine Tendenz zu zunehmenden Staatseingriffen. Hierzu zählen Lohn- und Preisstopps im Inland ebenso wie Kapital- und Devisenkontrollen im Verkehr mit dem Ausland. Aber auch im Güterverkehr mit dem Ausland greifen bei zunehmendem Leistungsbilanzdefizit protektionistische Praktiken um sich (Kapitel 13 Außenwirtschaft). Inflation ist somit auch aus ordnun gspolitischer Sicht gefährlich. (11) Beschäftigungseinbußen Sinkende Einkommenskaufkraft bedeutet sinkende Güternachfrage, die sich wiederum negativ auf die Beschäftigungssituation auswirken kann. Hierin ist eine der gefährlichsten Inflationsfolgen zu sehen. Wenn man zudem unterstellt, dass die inländische Inflationsentwicklung das ausländische Preisniveau übertrifft, würde sich aus der Sicht der Inländer ein Anreiz ergeben, Güter zu importieren, während umgekehrt das Interesse der Ausländer an den inländischen Exportgütern nachlässt. Diese Tendenz zu einem Außenhandelsdefizit wäre gleichbedeutend mit einer Verlagerung der Nachfrage vom Inland ins 4.5 l Folgen dder fl Inflation 171 <?page no="202"?> 172 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation Ausland. Zunehmend unausgelastete Produktionskapazitäten aber bedeuten zunehmende Arbeitslosigkeit. (12) Verlust der Geldfunktionen Extreme Inflationen können zum Zusammenbruch der Wirtschaft führen. In Nicaragua war bei Inflationsraten von über zehntausend Prozent zu beobachten, dass das Geld, wenn es überhaupt noch als Zahlungsmittel akzeptiert wurde, schlicht gewogen wurde; auf ein paar Scheine mehr oder weniger kommt es dabei nicht an. Die Geldproduktion kam nicht nach, säckeweise wurden (die eigentlich wertlosen) Geldscheine von europäischen Druckereien eingeflogen, alle oben beschriebenen Inflationsfolgen waren wie im Lehrbuch zu beobachten. (Abb. 4/ 31a und 4/ 31b zeigen historische Beispiele galoppierender Inflation im Jahr 1923.) Hinzu kommen geldtheoretische Fehlentwicklungen: Bei zunehmender Inflationsgeschwindigkeit verliert das gesetzliche Zahlungsmittel seine Geldfunktionen. Durch den Verlust der Kaufkraft, also der Wertaufbewahrungsfunktion, wird auch die Tauschmittelfunktion beeinträchtigt, sodass man zum Realtausch Gut gegen Gut zurückkehrt. Im August 1923 kostete in Deutschland ein Brot 69.000 Mark, im September waren bereits 1.512.000 Mark zu zahlen. Aus Zeiten der Hyperinflation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wird berichtet, dass man für einen Kinobesuch als Ein- 4/ 31a: Galoppierende Inflation I Fettheringe <?page no="203"?> trittsgeld mit Briketts zum Heizen «bezahlen» musste. Unternehmer bezahlten die Löhne in immer kürzeren Abständen aus und gaben ihren Arbeitnehmern am Zahltag frei, damit diese ihr Geld sofort in Sachgüter tauschen konnten, um wenigstens einen Teil des Wertes zu retten. Dies wiederum erzeugt Nachfragesogeffekte, die wiederum die Inflationsgeschwindigkeit anheizen können: ein Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist. Andererseits werden in Inflationszeiten Waren oft gar nicht mehr offiziell angeboten - die Läden und Regale sind leer, weil Geschäfte vorrangig nur noch am Schwarzmarkt abgewickelt werden. Die Investitionstätigkeit kommt nahezu zum Stillstand, weil keine entsprechenden Renditen zu erwirtschaften sind; die Agrarproduktion sinkt. Preise müssen permanent neu ausgezeichnet werden - manchmal ist dies eine Dienstleistungsnische: der Job des Preisauszeichners, der dreimal am Tag die Preisschilder austauscht - oder die Preise werden durch Symbole ersetzt, wobei Preis A heute 10, morgen 500, übermorgen 2000 Geldeinheiten bedeuten kann. Die Zahlungsmoral bricht zusammen, Schulden werden - wenn überhaupt - mit Verspätung gezahlt, weil dies realen Gewinn bedeutet, die Steuereinnahmen des Staates verlieren entsprechend an realem Wert. Auch die Bindung bestimmter Variablen wie Einkommen, Zinsen oder Preise an die Geldentwertung (Indexierung) kann dem Preisauftrieb nicht entgegenwirken, sondern verschärft ihn vielmehr. Solche Entwicklungen fördern auch das Entstehen von Geldsurrogaten (Ersatzwährungen), entweder in Form von Naturalgeld wie der 4.5 l Folgen dder fl Inflation 173 4/ 31b: Galoppierende Inflation II Briefmarke <?page no="204"?> 174 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation «Zigarettenwährung» im und nach dem Zweiten Weltkrieg oder von Ersatzgeld, welches anstelle der offiziellen Währung nach dem Ersten Weltkrieg ausgegeben wurde (vgl. Abb. 4/ 32). Und auch die Funktion der Recheneinheit kann das Geld verlieren, wenn die Wirtschaft dazu übergeht, die Preise der inländischen Güter in ausländischer Währung auszudrücken (Parallelwährung, Schattenwährung oder Zweitwährung), z.B. in Dollar, auch um das ständige Auswechseln der Preisschilder zu vermeiden. Im ehemaligen Jugoslawien war die DM die eigentliche Währung. Kaufmännische Buchführung wird eigentlich sinnlos, weil die festgehaltenen Werte nur noch historische Aussagekraft haben. Preisvergleiche sind kaum noch möglich, die Unterschiede zwischen teuer und billig verschwimmen zusehends. Überstempelte Briefmarken mit unvorstellbaren Nominalwerten und Preise einfacher Güter in Milliarden- oder sogar Billionenhöhe zeugen vom Zusammenbruch der Währung («Nullen-Epidemie»). In vielen Ländern erfolgte dann eine «Währungsreform», indem die störenden Nullen einfach gestrichen wurden (Abb. 4/ 33). Ohne Beseitigung der Ursachen bringt das natürlich nur einen optischen Zeitaufschub. Die sozialen und politischen Folgen solcher Währungskatastrophen liegen auf der Hand. Häufig bleibt in derartigen Extremsituationen Abb. 4/ 32 Notgeld <?page no="205"?> nur der Weg in eine Währungsreform, d.h. die bisherige Währung wird durch eine neue ersetzt. Sie erinnern sich sicherlich an unser Beispiel weiter oben bezüglich der argentinischen Währungsreformen. Währungsreformen haben viele Konsequenzen: Bankguthaben wie überhaupt Forderungen und Verbindlichkeiten verlieren schlagartig ihren früheren Realwert. In technischer Hinsicht müssen ausreichend neue Geldscheine gedruckt werden; in vielen Fällen kann daher paradoxerweise zunächst eine Geldknappheit auftreten. Ferner müssen Münzautomaten von der Parkuhr bis zum Zigarettenautomaten umgestellt werden. Insbesondere aber setzt eine derartige Schockthera- 4.5 l Folgen dder fl Inflation 175 Abb. 4/ 33: Störende Nullen <?page no="206"?> 176 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation pie, wenn sie erfolgreich sein soll, politische Stabilität voraus. Ohne eine grundlegende Beseitigung der Ursachen einer Inflation jedoch ist jede Währungsreform sinnlos; Brasilien und Argentinien sind eindrucksvolle Beispiele für eine entsprechende Kette sich aneinanderreihender Währungsreformen. Ohne rigorose Sanierungsmaßnahmen sind alle Rettungsversuche zum Scheitern verurteilt, solange sie nur an den Symptomen kurieren. 4.6 Wachstum durch Inflation? Die Frage, ob Inflation eher wachstumsfördernd oder wachstumshemmend ist, wird unterschiedlich beantwortet. Wachstumsfördernde Aspekte ergeben sich daraus, dass eine Flucht in Sachwerte erhöhte Nachfrage bedeutet, sowohl im Großen (Immobilien statt Geldkapital) als auch im Kleinen (vorgezogene Käufe, Hamsterkäufe); abnehmende reale Belastung bei der Tilgung stimuliert kreditfinanzierte Käufe; verzögerte Lohnanpassung bedeutet Senkung der realen Lohnkosten für die Unternehmen; sinkende reale Zinsen verbilligen kreditfinanzierte Investitionen - so gesehen kann Inflation durchaus wachstumsanregende Impulse haben. Die wachstumsfördernden Effekte fallen aber um so weniger ins Gewicht, je stärker der allgemeine Preisauftrieb ist, und um so mehr dominieren negativen Effekte der Inflation: Rückläufige Güternachfrage auf Grund sinkender Realeinkommen kann wachstumshemmend wirken. Zudem kann - da realer Zinsverlust den Gläubiger benachteiligt - auch die Neigung zur Kreditvergabe sinken, sowohl langfristig als auch bei kurzfristigen Lieferantenkrediten. Analog sinkende Neigung, Guthaben auf Konten zu halten, mindert das Kreditschöpfungspotenzial des Banksektors und erhöht die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, was sich selbstbeschleunigend zins- und preissteigernd und - bei Abschwächung der Investitionstätigkeit - wachstumshemmend und beschäftigungsdämpfend auswirken kann. Abb. 4/ 34 fasst die tendenziellen Folgen der Inflation in einer Übersicht zusammen. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich dabei um mögliche Folgen handelt, die nicht zwingend eintreten müssen, insbesondere, da man ihnen durch entsprechende Maßnahmen entgegenwirken kann. <?page no="207"?> 4.7 Zusammenhang zwischen Inflation und Beschäftigung: die Phillips-Kurve Zwischen den wirtschaftspolitischen Zielen Preisstabilität und Beschäftigungssicherung besteht ein latenter Zielkonflikt. Verkürzt gesagt erfordert eine Anregung der Beschäftigung Gasgeben, während Inflationsbekämpfung tendenziell Bremsen nahelegt. Bereits vor fast 50 Jahren (1958) hat sich der englische Statistiker Alban W. Phillips mit diesen Zusammenhängen beschäftigt. Er kam auf Grund der Auswertung eines rund 100-jährigen Zeitraums zu der Erkenntnis, dass eine geringe Arbeitslosigkeit mit hohen Lohnsteigerungen und umgekehrt hohe Arbeitslosigkeit mit geringen Lohnsteigerungen einhergingen. Anders ausgedrückt: Bei hoher Beschäftigung können auch hohe Lohnsteigerungen durchgesetzt werden. Dies lässt sich graphisch als eine von links oben nach rechts unten fallende (originäre) Phillips-Kurve darstellen. Diese Beobachtung wurde später von Paul A. Samuelson und Robert M. Solow aufgegriffen, welche die nominalen Lohnsteigerungen im Sinne der Kostendrucktheorie als Inflationsursache für einen allgemeinen Preisauftrieb interpretierten und einen Zusammenhang zwischen Veränderung der Inflationsrate und Arbeitslosenquote herstellten (modifizierte Phillipskurve). Unvergessen dürfte folgender Satz des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt sein: «Lieber drei Prozent Inflation als drei Prozent Arbeitslosigkeit.» Ob es aber für die praktische Wirtschaftspolitik tatsächlich eine Entweder-oder-Entscheidung gibt zwischen mehr Beschäftigung, aber dafür mehr Inflation, oder stabilem Preisniveau, aber dafür mehr Ar- 4.7 fl Inflation d und h f Beschäftigung: ddie h ll Phillips-Kurve 177 Abb. 4/ 34: Mögliche Folgen der Inflation • Verlust der Kaufkraft • Benachteiligung von Gläubigern, Bevorteilung von Schuldnern • Substanzverzehr von Unternehmen • Flucht in Sachwerte ( • Tendenz zur Selbstbeschleunigung • Verzerrung der Verteilung • Verzerrung der Allokation • Förderung der Schattenwirtschaft • Kapitalflucht, Abwertung • Wachstums- und Beschäftigungsbeeinträchtigung • Tendenz zu Staatseingriffen <?page no="208"?> 178 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation beitslosigkeit - also einer Bewegung auf der Phillipskurve, der sog. Trade-Off -, ist umstritten. Zum einen legten verschiedene Untersuchungen nahe, dass von einer langfristigen senkrechten Phillipskurve auszugehen sei, weil sich eine sog. «natürliche Arbeitslosenquote» ergibt, die nicht von der Inflationsrate beeinflusst wird. (‚Natürlich› bedeutet also keineswegs ‹wünschenswert›. 27 ) Dies spiegelt die Auffassung von der «Neutralität des Geldes» wieder. Nur kurzfristig sei die Arbeitslosigkeit durch die Geldpolitik beeinflussbar, d.h. nur kurzfristig ist von einer fallenden Phillipskurve auszugehen, dann verpuffen die Beschäftigungseffekte, weil die Inflation in die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte einbezogen wird und keine Reaktionen hervorruft (Milton Friedman, Edmund Phelps). Langfristig - so dieser Ansatz - habe die Geldpolitik keine Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit, sondern insbesondere (nur) auf die Preisentwicklung. Diese Interpretation kollidiert jedoch mit der praktischen Erfahrung der Banken im Kreditgeschäft, denn dann könnte sich die Geldpolitik unbeschwert der Inflationsbekämpfung widmen und müsste keine sonstigen Rücksichten auf die wirtschaftliche Entwicklung nehmen. Nicht nur für Deutschland ergeben die empirischen Daten keineswegs einen eindeutigen und stabilen (kurzfristigen) Zusammenhang (Abb. 4/ 35). Für Deutschland sind vier Phasen zu unterscheiden: (1) Bis Anfang der 70er Jahre lässt sich zwar eine Phillipskurve mit einem Entweder-Oder erkennen. (2) Ab Mitte der 70er Jahre aber war das gleichzeitige Auftreten von hoher Arbeitslosigkeit und relativ hohen Inflationsraten zu beobachten, also nicht «entweder-oder», sondern «weder-noch», ein Zustand, der als Stagflation (Stagnation plus Inflation) bezeichnet wird. (3) Ab Anfang der 80er Jahre bis Anfang der 90er Jahre verringerte sich der kräftige Preisauftrieb, aber zu Lasten zunehmender Arbeitslosigkeit: Die Phillipskurve hatte sich praktisch nach rechts verschoben. (4) Und ab Anfang der 90er Jahre rutschte die Phillipskurve nochmals nach rechts, da sich der Preisauftrieb deutlich verringerte (er pendelt heute etwa um 2 %), aber bei zunehmender Arbeitslosigkeit, die auf sehr hohem Niveau verharrt. Langfristig gesehen ist daher durchaus ein gegenläufiger Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit zu beobachten (Abb. 4/ 36). Damit ergibt sich aber wieder das «alte» Phillips-Dilemma, nur auf anderem Niveau: Eine beschäftigungsanregende expansive Po- 27 In der angloamerikanischen Literatur wird die natürliche Arbeitslosigkeit als NAIRU bezeichnet: non-accelerating inflation rate of unemployment, also eine Arbeitslosigkeit, bei der die Inflation unverändert bleibt. <?page no="209"?> 4.7 fl Inflation d und h f Beschäftigung: ddie h ll Phillips-Kurve 179 Abb. 4/ 35: Phillipskurve Abb. 4/ 36: Arbeitslosigkeit und Inflation in Deutschland <?page no="210"?> 180 4. ld Geldwert, b l Preisstabilität d und fl Inflation litik würde möglicherweise über Nachfragesog- und Geldmengen- Effekte zu verstärktem Preisauftrieb führen, dem die EZB durch entsprechende kontraktive monetäre Instrumente entgegenwirken müsste. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass der Inflations- und Beschäftigungszusammenhang überlagert wird durch den Einfluss der Struktur der Wirtschaft und des Arbeitskräftepotenzials, durch die Produktionstechniken, Wechselkurseinflüsse sowie Wettbewerbs- und Machteinflüsse. Darum verändern sich Form und Lage der Phillipskurve. Zwischenfazit: Für die gegenwärtige Situation in Deutschland ist von einer strukturell bedingten Arbeitslosigkeit auszugehen, die nicht einfach durch eine expansive, nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik reduziert werden kann. Vielmehr müssten die bestehenden Rigiditäten des Arbeitsmarktes - u.a. Kostenstruktur, Qualifikationsstruktur - abgebaut werden. In diesem Kontext ist die Phillipskurve keine fallende Funktion, sondern zunächst eher eine Senkrechte im Bereich der bestehenden sehr resistenten hohen Sockelarbeitslosigkeit. Vielleicht vergleichen Sie hierzu nochmals die Kapitel zu Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung. <?page no="211"?> 5. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht Sie werden sich erinnern, dass das Magische Viereck der wirtschaftspolitischen Ziele auch das anzustrebende «außenwirtschaftliche Gleichgewicht» enthält. Dieses kann durchaus unterschiedlich interpretiert werden, wie wir gleich sehen werden. Die Zahlungsbilanz eines Landes ist ein Indikator seiner Außenwirtschaftspolitik. Sie erfasst statistisch die außenwirtschaftlichen Beziehungen eines Landes. In ihr schlagen sich alle wirtschaftlichen Transaktionen zwischen In- und Ausländern in einer Periode nieder, wobei man üblicherweise von Monaten, Quartalen und Jahren ausgeht. Die Deutsche Bundesbank veröffentlicht die Daten monatlich, wobei die ersten vorläufigen Ergebnisse etwa mit einem Zeitabstand von rund 30 Tagen veröffentlicht werden. Die «Konten» der Zahlungsbilanz werden als Teil-«Bilanz» angesprochen; auf den Grund für die Anführungszeichen ist noch zurückzukommen. Die wichtigsten Teilbilanzen sind die folgenden (vgl. Abb. 5/ 1). 5.1. Teilbilanzen der Zahlungsbilanz (1) Die Handelsbilanz, auch Warenbilanz oder Warenhandelsbilanz genannt, erfasst den Außenhandel, d.h. Export und Import von Sachgütern. (2) In die Dienstleistungsbilanz gehen Ein- und Ausfuhren von Dienstleistungen ein. Dies kann Verständnisschwierigkeiten hervorrufen, weil man immaterielle Güter nicht immer physisch ins Inland importieren kann, z.B. den Service eines Hotels. Import bedeutet allgemein, dass Inländer Güter in Anspruch nehmen, die Teil eines ausländischen Inlandsprodukts sind, oder anders ausgedrückt: die nicht im Inland produziert worden sind. Wenn also ein Deutscher Dienstleistungen ausländischer Anbieter in Anspruch nimmt, dann importiert er diese Dienstleistungen. Daher zählen Urlaubsreisen ins Ausland aus deutscher Sicht zum Dienstleistungsimport, die Reisetätigkeit von Ausländern in Deutschland umgekehrt zum Dienstleistungsexport. Weitere Beispiele sind Lizenzen, Patente, Werbe- und Messekosten, Montagen, Nachrichtenverkehr, Versicherungen, Transportleistungen und Beratung. Der zusammengefasste Saldo von Handels- und Dienstleistungsbilanz (1+2) wird als Außenbeitrag zum BIP bezeichnet. 5.1. lb l lb l Teilbilanzen ddder hl b l hl b l Zahlungsbilanz 181 <?page no="212"?> 182 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht (3) Die grenzüberschreitenden Faktoreinkommen (Kapitalerträge, Einkommen aus unselbständiger Arbeit) werden nicht in der Dienstleistungsbilanz, sondern gesondert als Erwerbs- und Vermögenseinkommen erfasst. Die Übertragungsbilanz (Transferbilanz), die alle unentgeltlichen Zahlungen enthält, ist zweigeteilt: • (4) Laufende Transfers, z.B. an den Haushalt der EU, an den IWF oder die UNO, Überweisungen ausländischer Gastarbeiter in ihre Heimat, Renten und Pensionen aus dem oder ins Ausland, öffentliche Entwicklungshilfe (sofern nicht als Kredit) werden als laufende Übertragungen erfasst, in Abgrenzung zu • (5) (einmaligen) Vermögensübertragungen (Erbschaften, Schuldenerlasse, Steuererstattungen etc.). Abb. 5/ 1: Teilbilanzen der Zahlungsbilanz #! 403.5,620! .1 *S' <&4TR6N$86&4I >J231M ; 5231M *Q' ? 8R4NM6R8NML4: N$86&4I >J231M ; 5231M *O' >1KR1$N# L! )R15Z: R4N1847355R4 >847355R4NM1&4NPR1N 84N ; 46&4T >847355R4NM1&4NPR1N 84N @LN6&4T *D' +&LPR4TR F$R1M1&: L4: R4 F$R1M1&: L4: R4 TRN @LN6&4TRN F$R1M1&: L4: R4 TRN ; 46&4TRN *C' )R15Z: R4N0$R1M1&: L4: N$86&4I )R15Z: R4NNM1&4NPR1 84N ; 46&4T )R15Z: R4NNM1&4NPR1 84N @LN6&4T *B' ,&28M&6$86&4I *394R (R4M1&6$&47' )R1/ 4TR1L4: R4 TR1 )R1$84T68"97R8MR4 )R1/ 4TR1L4: R4 TR1 =31TR1L4: R4 : R: 40$R1 TR5 @LN6&4T : R: 40$R1 TR5 @LN6&4T *%A ,&28M&685231M' *%A ,&28M&685231M' <?page no="213"?> 5.1. lb l Teilbilanzen dder hl b l Zahlungsbilanz 183 Nur die laufenden Übertragungen werden - zusammen mit dem Außenbeitrag - zur Leistungsbilanz (1+2+3+4) gezählt, da nur sie Einfluss auf Einkommen und Verbrauch haben. Andere, einmalige Transfers wie z.B. Finanzierungsleistungen wie 1999 für den Kosovokrieg und 2002/ 2003 für den Irakkrieg gehen in die Vermögensübertragungsbilanz ein. Es ist nicht unüblich, die Leistungsbilanz in die Positionen Außenhandel und Saldo der «unsichtbaren» Leistungen aufzuteilen. Diese umfassen die Dienstleistungen, die Erwerbs- und Vermögenseinkommen und die laufenden Übertragungen. Leistungsbilanz plus Saldo der Vermögensübertragungen ergeben (6) als Kapitalbilanz (oder Kapitalverkehrsbilanz) den Finanzierungssaldo der Zahlungsbilanz (1+2+3+4+5) (Abb. 5/ 2). Ist dieser positiv, liegt eine Zunahme der Forderungen gegenüber dem Ausland vor, andernfalls eine Zunahme der Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland. Die Kapitalbilanz erfasst alle Forderungen und Verbindlichkeiten der privaten Wirtschaft und des Staates (außer der Notenbank) gegenüber dem Ausland. Sie unterteilt sich in mehrere Unterbilanzen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Direktinvestitionen, also Beteiligungen deutscher Unternehmen an ausländischen Firmen und umgekehrt, Portfolioinvestitionen, also Erwerb von ausländischen Wertpapieren als Kapitalanlage, sowie Kredite und Darlehen. Bewertungsbedingte Veränderungen des Netto-Auslandsvermögens, die naturgemäß in Zeiten starker Börsenkursbewegungen (Aktien, Devisen, Festverzinsliche) nicht zu vernachlässigen sind, werden im Rahmen der Zahlungsbilanz nicht erfasst. Beim t Kreditverkehr unterscheidet man bei den Forderungen und Verbindlichkeiten der Unternehmen, der Banken und des Staates jeweils kurz- und langfristige Positionen. Auf der Forderungsseite werden unter anderem auch die Devisenbestände erfasst, die in der Wirtschaft verbleiben und nicht der Bundesbank zufließen. Wenn man bedenkt, dass man mit US- Dollars einen Teil des amerikanischen Inlandsprodukts kaufen kann, hat man also eine bürgerliche Erklärung im Sinne einer «Forderung». Allerdings werden Dollarbestände, die deutschen Unternehmen oder Banken gehören, in aller Regel auf Dollarkonten im Ausland gehalten, so dass dies die banktechnische Erklärung für die Einstufung als Forderung ist. Kapitalimporte bedeuten eine Zunahme von Verbindlichkeiten von Inländern, Kapitalexporte von Forderungen gegenüber Ausländern. Insgesamt könnte man die Kapitalbilanz auch als «Kreditbilanz» bezeichnen. Sofern es sich dabei um Transaktionen in fremden Währungen handelt, werden diese mit ihren Euro-Gegenwerten in der Zahlungsbilanz erfasst. <?page no="214"?> 184 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht (7) Die letzte Teilbilanz ist die Gold- und Devisenbilanz, in der Veränderung der Aktiva und Passiva der Notenbank erfasst werden: Veränderungen der Verbindlichkeiten der Bundesbank gegenüber Abb. 5/ 2: Kapitalverkehr Mrd ! ; Netto Kapitalexport: - Position 2003 2004 2005 1. Direktinvestitionen - 20,4 - 13,7 - 10,4 Deutsche Anlagen im Ausland - 5,5 - 1,5 - 36,7 Ausländische Anlagen im Inland - 5,5 - 1,5 - 36,7 2. Wertpapiere + 70,9 + 9,5 - 13,9 Deutsche Anlagen im Ausland - 41,7 - 110,6 - 210,9 Aktien + 4,5 - 1,5 - 36,7 Investmentzertifikate - 2,8 - 10,9 - 39,5 Anleihen 1) - 53,2 - 90,7 - 143,6 Geldmarktpapiere + 9,8 - 12,4 - 4,5 Ausländische Anlagen im Inland - 5,5 - 1,5 - 36,7 Aktien + 23,1 - 12,8 + 40,0 Investmentzertifikate - 1,8 - 4,7 + 0,9 Anleihen 1) + 69,6 + 142,7 + 158,7 Geldmarktpapiere + 21,7 - 14,5 - 2,7 3. Finanzderivate 2) - 1,9 - 106,5 - 73,2 4. Übriger Kapitalverkehr 3) - 1,9 - 106,5 - 73,2 Momentäre Finanzinstitute 4) - 111,6 - 89,5 - 63,3 langfristig - 38,6 - 4,2 - 79,8 kurzfristig - 73,1 - 85,3 + 16,5 Unternehmen und Privatpersonen - 32,9 - 11,2 - 7,4 langfristig - 5,2 + 0,3 - 1,1 kurzfristig - 27,7 - 11,6 + 8,5 Staat + 4,4 - 0,5 + 6,9 langfristig + 5,0 - 1,4 + 10,5 kurzfristig - 0,6 + 0,9 - 3,6 Bundesbank + 2,2 - 5,3 - 24,2 5. Veränderung der Währungsreserven zu Transaktionswerten (Zunahme: -) 5) + 0,4 + 1,5 + 2,2 Saldo der Kapitalbilanz 6) - 48,1 + 114,7 - 100,1 1 Ursprungslaufzeit über ein Jahr. - 2 Verbriefte und nicht verbriefte Optionen sowie Finanztermingeschäfte. - 3 Enthält Finanz- und Handelskredite, Bankguthaben und sonstige Anlagen. 4 Ohne Bundesbank. - 5 Ohne SZR-Zuteilung und bewertungsbedingte Veränderungen. 6 Saldo der Kapitalbilanz einschl. Veränderung der Währungsreserven. Deutsche Bundesbank <?page no="215"?> dem Ausland, z.B. gegenüber der Europäischen Zentralbank oder gegenüber dem Internationalen Währungsfonds, sowie Forderungen gegenüber dem Ausland, die neben Kreditforderungen an das Ausland vor allem aus Währungsreserven bestehen (z.B. Gold und Devisen). Der Devisenbestand der Bundesbank ändert sich daher nur dann, wenn die Bundesbank selbst am Devisenmarkt interveniert oder ausländische Zahlungsmittel an- oder verkauft. Alle übrigen nichtamtlichen Devisenbestandsveränderungen der privaten Wirtschaft werden in der Kapitalbilanz erfasst. Devisenmarktinterventionen werden heute vorrangig seitens bzw. im Auftrag der Europäischen Zentralbank vorgenommen. Die Devisenbestände der Deutschen Bundesbank bestehen zu 99 % aus US-Dollar; eventueller Bedarf an anderen Devisen wird täglich am Devisenmarkt gedeckt bzw. anfallende Devisenbestände umgehend verkauft. Die Devisenreserven werden dabei - entgegen landläufiger Vorstellung - nicht in dicken Dollarbündeln im Tresorraum gehortet, sondern zu größten Teilen in festverzinslichen kurz-, mittel- und langfristigen Dollar-Wertpapieren bester Bonität (treasury papers) angelegt, wodurch sich beträchtliche Zinseinnahmen ergeben. Diese Papiere werden bei Bedarf auch vorübergehend ausgeliehen (bond lending) - gegen Sicherheit und Provision: Dies summiert sich auf risikolose Einnahmen von dreistelligen Millionenbeträgen pro Jahr. Eigentlich wäre die Gold- und Devisenbilanz, die auch als Auslandsposition der Bundesbank bezeichnet wird, vom Charakter ihrer Bestandteile her ein Teil der Kapitalbilanz. Durch ihre Herauslösung ist es aber möglich, die amtlichen (internationalen) Liquiditätsreserrr ven einer Volkswirtschaft, die unter anderem für die internationale Zahlungsfähigkeit des Staates wichtig sind, besser zu erfassen. Die Leistungsbilanz wiederum spiegelt die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wider. 5.2. Datenerfassung und Bewertung Die Daten der Zahlungsbilanz entstammen einer Vielzahl von Quellen, unter anderem der Außenhandelsstatistik des Statistischen Bundesamtes, die sich wiederum auf die Angaben stützt, die bei Einfuhren und Ausfuhren in den Unterlagen zur zollrechtlichen Abfertigung gemacht werden, insbesondere auf Exemplare des sog. Einheitspapiers, das EU-einheitlich bei der Zollabfertigung verwendet wird, sowie auf ergänzende Unterlagen z.B. der Freihafenverwaltungen. In 5.2 f Datenerfassung d und Bewertung 185 <?page no="216"?> 186 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht der Statistik wird dabei zwischen Generalhandel und Spezialhandel unterschieden. Der Spezialhandel umfasst Ein- und Ausfuhr in den bzw. aus dem zollrechtlich freien Verkehr sowie Ein- und Ausfuhren im Rahmen aktiver und passiver Veredelungsverkehre. Bei passiver Veredelung wird z.B. Stoff aus Deutschland in ein Land außerhalb der EU exportiert, dort zu Oberhemden verarbeitet, und diese werden anschließend wieder reimportiert. Bei aktiver Veredelung erfolgt analog die Be- oder Verarbeitung von Gütern aus Drittländern (in diesem Fall) in Deutschland. Der Generalhandel erfasst zudem noch Im- und Exporte in bzw. aus Zolllagern. Da innerhalb der EU keine güterbezogenen Grenzabfertigungen mehr erfolgen, wird der innergemeinschaftliche Warenverkehr durch ein spezielles Meldeformularwesen (IntraStat) erfasst. Dies bedeutet für die Unternehmen entsprechenden Bearbeitungsaufwand. Eine weitere wichtige Statistik ist die des Auslandszahlungsverrr kehrs, die sich aus Daten der ausführenden Kreditinstitute ergibt. Diese Angaben werden durch Schätzungen ergänzt, z.B. Güterbewegungen im kleinen Grenzverkehr und im Reiseverkehr sowie kleine Ein- und -Ausfuhren unterhalb der Meldegrenzen oder Frachten und Versicherungen, die sich nicht aus den Zollunterlagen ergeben. Theoretisch müssten beim Vergleich internationaler Statistiken die Exporte Alands nach Benesien mit den entsprechenden Importen von Benesien aus Aland übereinstimmen. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall. Dies liegt u.a. an der unterschiedlichen Bewertung der Warenströme auf Fobbzw. Cif-Basis: F.o.b. ist die Abkürzung für «free on board». Sofern ein Liefervertrag eine fob-Klausel enthält, bedeutet dies, daß der Lieferant alle Kosten wie Transport, Versicherung und Verladung nur auf das Schiff im Hafen des Exportlandes, oder allgemeiner: auf ein Transportmittel, zu tragen hat. Exporte - zu fob bewertet - geben den Gesamtwert inklusive der angefallenen Nebenkosten bis zum Überschreiten der Grenze des Lieferlandes wieder, unabhängig davon, oh der konkrete Liefervertrag tatsächlich eine foh-lCIausel enthält. Diese Nebenkosten werden ggf. geschätzt. Dies gilt analog für die Importe auf cif-Basis: C.i.f. ist die Abkürzung für «cost, insurance, freight» (Kosten, Versicherung, Fracht) und bedeutet, daß alle entsprechenden Kosten bis zum Eintreffen im Bestimmungshafen eingeschlossen sind. In der Regel werden Importe zu cif bewertet, so daß der cif-Importwert dem Güterwert bei Erreichen der Grenze des Importlandes entspricht. Dadurch werden in der Handelsbilanz Positionen erfasst, die eigentlich in die Dienstleistungsbilanz gehören. Manche Statistiken, z.B. die des Statistischen Bundesamtes, weisen internationaler Praxis entsprechend <?page no="217"?> daher Importe und Exporte in fob-Werten aus. Dann entspricht der lmportwert des einführenden Landes dem Exportwert des entsprechenden ausführenden Landes. In der Handelsbilanz werden die Importe mit cif, die Exporte nur fob angesetzt, so daß in beiden Fällen der Warenwert an der Grenze der Bundesrepublik inklusive aller bis dahin entstandenen Nebenkosten angesetzt wird. Dies geschieht - wie erwähnt - unabhängig davon, welche Lieferklauseln die Vertragspartner tatsächlich untereinander vereinbart haben. Eine Veränderung der Bewertungsmethode kann mit erhebliche Veränderungen in den Positionen der Handels- und Dienstleistungsbilanz nach sich ziehen, ohne allerdings den Wert des Außenbeitrags zu verändern, da es sich hei Exporten um eine reine Aktivumschichtung und bei Importen um eine Passivumschichtung zwischen Handels- und Dienstleistungsbilanz handelt. Neben der cif-fob-Diskrepanz gibt es noch einige weitere Gründe, weshalb korrespondierende Importe und Exporte in den beteiligten Ländern mir unterschiedlichen Werten ausgewiesen werden. Ein zweiter Grund kann darin liegen, daß aufgrund der transportbedingten Zeitdifferenz die Exporte im Exportland bereits erfasst sind, die Importe im Importland aber nicht. Drittens kann hinzukommen, daß sich der Wechselkurs zwischen Erfassung des Exports und Erfassung des Imports verändert hat. Viertens können Exporte zwar offiziell registriert sein, jedoch durch Schmuggel und illegalen Handel nicht in den Importstatistiken auftauchen (Analoges gilt auch umgekehrt). Fünftens können z.B. Zinszahlungen in der Dienstleistungsbilanz als Zahlungsausgang erfasst werden, verschwinden jedoch aus Steuergründen in dunklen Kanälen. Sechstens können bestimmte Positionen nur näherungsweise geschätzt und regional zugeordnet werden, wie z.B. der nichtorganisierte private Reiseverkehr. Insgesamt können auf diese Weise riesige Summen im «Bermuda-Dreieck der Statistik» (iw) untergehen. Die zusammengefassten Salden aller Länder müßten eigentlich einen Saldo der Welt-Leistungsbilanz von Null ergeben, tatsächlich aber weist die Welt-Leistungsbilanz ein - erhebliches - Defizit auf. Das Ausmaß der Erfassungsfehler und Bewertungsunterschiede ist also beträchtlich, macht andererseits aber weniger als 1 % des Welthandelsvolumens aus. Die Zahlungsbilanz enthält zwei Besonderheiten. Die in der Zahlungsbilanz zu berücksichtigenden Transaktionen sind nicht lückenlos erfassbar. Während der Warenhandel und der Zahlungsverkehr statistisch relativ gut erfassbar sind, gilt dies nur eingeschränkt für den Tourismus (Dienstleistungsbilanz), wo oft nur Schätzungen möglich sind. Der «Saldo der statistisch nicht aufgliederbaren Transaktio- 5.2 f Datenerfassung d und Bewertung 187 <?page no="218"?> 188 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht nen» ergibt sich daher aus fiktiven Gegenbuchungen. Beispielsweise sind Handelskredite (Lieferantenkredite) kurzfristig nur schwer zu registrieren, so dass zwar Warenimporte erfasst werden mögen, nicht aber der dazugehörige Kreditvorgang. Die berühmte Suche nach einem Cent in der kaufmännischen Buchführung ist für die Zahlungsbilanzstatistik durch den «Restposten» daher kein Problem - der Traum jedes kaufmännischen Buchhalters. 28 Die zweite Besonderheit ist der Ausgleichsposten zur Auslandsposition der Bundesbank, die unter anderem die Währungsreserven und sonstige Forderungen der Bundesbank gegenüber dem Ausland umfasst, z.B. gegenüber der Weltbank. Diese Währungsbestände werden - da die Zahlungsbilanz in Euro geführt wird - durch die entsprechenden Wechselkurse umgerechnet. Bei der Bewertung der Währungs- (und Gold-) Bestände wendet die Bundesbank sinngemäß die Vorschriften des Aktiengesetzes an, nach denen Währungs- und Goldbestände nach dem Niederstwertprinzip bewertet werden: Beim Vergleich der Anschaffungskosten mit dem späteren Börsen- oder Marktpreis wird immer der niedrigere Wert angesetzt, wobei ein einmal herabgesetzter Wert für die Zukunft beibehalten werden kann. Dadurch enthalten beispielsweise die Goldbestände der Bundesbank erhebliche stille Reserven, was immer wieder die Begehrlichkeit des jeweiligen Bundesfinanzministers weckt, denn die Gewinne der Bundesbank fließen zu einem Großteil in den Bundeshaushalt (vgl. Kapitel Finanzpolitik). Veränderungen der Devisenbestände aber werden aber zu den jeweiligen Kursen gebucht, so dass eine Korrekturbuchung im Ausgleichsposten den Unterschied zwischen Tageskurs und Wertansatz ausgleicht. 5.3. Saldenbildung Die Zahlungsbilanz wird nach dem Prinzip der doppelten Buchführung erfasst. Während jede einzelne Teilbilanz im Normalfall nicht ausgeglichen ist und entweder einen Überschuss oder ein Defizit ausweisen wird, ist die Zahlungsbilanz als Zusammenfassung aller Teilbilanzen aufgrund der doppelten Erfassung jeder Transaktion immer ausgeglichen. Wenn dennoch von einer unausgeglichenen Zahlungs- 28 Meine Großmutter führte auf Wunsch meines Großvaters ein Haushaltsbuch. Ein Konto trug die Bezeichnung «G W W»; mein Großvater hat dies nie hinterfragt und war zufrieden, dass der Verbleib des Haushaltsbudgets rechnerisch immer lückenlos nachgewiesen war. - Was er nicht wusste: G W W bedeutete «Gott weiß wofür». <?page no="219"?> bilanz gesprochen wird («Plus» oder «Defizit»), so ist dies streng genommen falsch (vgl. Abb. 5/ 3); man meint damit jedoch nicht die Zahlungsbilanz insgesamt, sondern eine bestimmte Zusammenfassung einzelner Teilbilanzen nach ökonomischen Gesichtspunkten. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten. Teil-«Bilanzen» sind somit keine Bilanzen im buchhalterischen Sinne, sondern Konten. Wir werden aber die im Sprachgebrauch übliche Bezeichnung als Teilbilanz verwenden. Zur Bestimmung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts wird die Zahlungsbilanz in zwei Teile zerlegt, wobei «über dem Strich» die Positionen stehen, die als zusammengehörend angesehen werden, und «unter dem Strich» die Positionen, in denen sich die Auswirkungen der Bilanzen über dem Strich widerspiegeln. Es gibt verschiedene Konzepte, wo diese Trennlinie zu ziehen ist, und dementsprechend kann der Begriff des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts unterschiedlich ausgelegt werden. Einige Begriffe haben wir oben schon erwähnt. Den Saldo zwischen Exporten und Importen bezeichnet man als Außenbetrag zum Inlandsprodukt, da ein Überschuss der Exporte über die Importe das Inlandsprodukt erhöht, ein Importüberschuss dieses vermindert. Der Außenbeitrag setzt sich dabei aus der Zusammenfassung von Handelsbilanz und Dienstleistungsbilanz zusammen. In den Medien wird dabei nicht immer deutlich, ob es sich bei einem «Außenhandelsüberschuss» um die Handelsbilanz i. e. S. oder den Außenbeitrag einschließlich der Dienstleistungsbilanz handelt. Nimmt man noch die Bilanzen der Erwerbs- und Vermögenseinkommen und der laufenden Übertragungen hinzu, so bilden die vier Teilbilanzen zusammen die Leistungsbilanz oder Bilanz der laufenden Posten. Sie spiegelt die Wirtschaftskraft, die Leistung einer Volkswirtschaft im Sinne internationaler Wettbewerbsfähigkeit wider, die sich z.B. in der Fähigkeit ausdrückt, Importe durch den Erlös der Exporte zu finanzieren und ggf. Übertragungen an das Ausland zu leisten. 5.3. ld b ld Saldenbildung 189 Abb. 5/ 3: «Ausgeglichene» Zahlungsbilanz 432.$*+&10.3*# 0, 5.$& %')%# 2)2/ ' ! 3(0%3.31-."&&/ ),$2! $.%$- ('4/ +.! -&2/ '.*%$#2*2, <?page no="220"?> 190 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht Abb. 5/ 4: Wichtige Posten der Zahlungsbilanz Mrd ! 2005 2006 Position 3 Vj. 2 Vj. 3 Vj. I. Leistungsbilanz 1) 2) + 19,5 + 21,6 + 19,1 Außenhandel 1) 3) + 41,1 + 37,6 + 401 Dienstleistungen 1) - 12,0 - 4,1 - 11,4 Erwerbs- und Vermögenseinkommen 1) + 3,3 - 2,1 + 3,2 Laufende Übertragungen 1) - 7,6 - 4,8 - 7,5 II. Vermögensübertragungen 1) 4) + 0,1 + 0,0 - 0,2 III. Kapitalbilanz 1) (Netto-Kapitalexport: -) - 15,6 - 52,3 - 5,8 1. Direktinvestitionen - 6,5 - 4,5 - 6,3 Deutsche Anlagen im Ausland - 7,4 - 10,3 - 10,2 Ausländische Anlagen im Inland + 0,9 + 5,8 + 3,9 2. Wertpapiere + 6,4 - 9,5 + 8,0 Deutsche Anlagen im Ausland - 29,1 - 30,4 - 19,0 Aktien - 3,4 + 11,3 - 1,9 Investmentzertifikate - 12,0 + 2,7 - 1,1 Schuldverschreibungen - 13,7 - 44,4 - 16,0 Anleihen 5) - 9,5 - 36,4 - 15,4 darunter auf Euro laufende Anleihen - 4,0 - 30,9 - 13,5 Geldmarktpapiere - 4,2 - 8,0 - 0,5 Ausländische Anlagen im Inland + 36,6 + 20,8 + 27,0 Aktien + 8,4 + 8,6 + 6,4 Investmentzertifikate + 1,9 + 1,5 + 1,3 Schuldverschreibungen + 25,3 + 10,8 + 19,3 Anleihen 5) + 26,8 + 8,2 + 23,1 darunter öffentl. Anleihen + 17,0 + 1,1 + 10,4 Geldmarktpapiere - 1,6 + 2,6 - 3,9 3. Finanzderivate 6) + 4,4 + 2,0 - 0,2 4. Übriger Kapitalverkehr 7) - 19,0 - 40,6 - 8,2 Momentäre Finanzinstitute 8) - 16,0 - 56,0 + 13,0 darunter kurzfristig + 6,1 - 38,9 + 28,3 Unternehmen und Privatpersonen + 4,5 + 16,5 + 0,9 darunter kurzfristig + 1,7 + 10,0 + 4,1 Staat + 0,3 - 15,1 + 5,9 darunter kurzfristig - 5,0 - 15,1 - 1,0 Bundesbank - 7,9 + 14,0 - 28,0 5. Veränderung der Währungsreserven zu Transaktionswerten (Zunahme: -) 9) - 0,8 + 0,4 + 0,8 IV. Statistisch nicht aufgliederbare Transaktionen (Restposten) - 4,0 + 30,7 - 13,1 1 Saldo. - 2 Enthält auch die Ergänzungen zum Warenverkehr. - 3 Spezialhandel nach der amtlichen Außenhandelsstatistik (Quelle: Statistisches Bundesamt). - 4 Einschl. Kauf/ Verkauf von immateriellen nichtproduzierten Verögensgütern. - 5 Ursprungslaufzeit über ein Jahr. - 6 Verbriefte und nicht verbriefte Optionen sowie Finanztermingeschäfte. - 7 Enthält Finanz- und Handelskredite, Bankguthaben und sonstige Anlagen. - 8 Ohne Bundesbank. - 9 Ohne SZR-Zuteilung und bewertungsbedingte Veränderungen. Abweichungen bedingt durch Runden der Zahlen. Deutsche Bundesbank <?page no="221"?> Würde man das Ziel außenwirtschaftlichen Gleichgewichts so interpretieren, dass die Summe der Importe der Summe der Exporte entsprechen soll - d.h. der Außenbeitrag wäre Null-, dann würde in Deutschland das erhebliche chronische Defizit in der Bilanz der laufenden Übertragungen - hervorgerufen vor allem aufgrund der Übertragungen an die Europäische Union, deren größter Nettozahler 5.3. ld b ld Saldenbildung 191 Abb. 5/ 5: Außenhandel nach Regionen Veränderung in % gegenüber Ländergruppe / Land Anteile in % dem Vorjahr Ausfuhr Alle Länder 100,0 7,5 darunter EWU-Länder 43,2 6,9 Übrige EU-Länder 20,2 6,8 darunter: Neue Mitglieder 8,6 9,3 Vereinigte Staaten 8,8 6,9 Russische Föderation 2,2 15,3 Japan 1,7 4,8 Südostasiatische Schwellenländer 3,5 2,6 China 2,7 1,4 OPEC-Länder 2,5 16,1 Entwicklungsländer ohne OPEC 8,5 8,1 Einfuhr Alle Länder 100,0 8,7 darunter EWU-Länder 39,8 8,0 Übrige EU-Länder 19,1 6,9 darunter: Neue Mitglieder 9,5 3,1 Vereinigte Staaten 6,6 1,6 Russische Föderation 3,5 32,4 Japan 3,4 -0,7 Südostasiatische Schwellenländer 4,9 1,9 China 6,4 21,6 OPEC-Länder 1,8 35,2 Entwicklungsländer ohne OPEC 9,3 3,7 Deutsche Bundesbank <?page no="222"?> 192 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht Deutschland ist, und von Überweisungen (Transfers) ausländischer Arbeitnehmer in ihre Heimat - zu erheblichen Finanzierungsproblemen führen. Da auch die Dienstleistungsbilanz ein chronisches Defizit aufweist (insbesondere aufgrund der Reisetätigkeit der Deutschen im Ausland), muss im Warenhandel ein beträchtlicher Exportüberrr schuss erwirtschaftet werden, um die beiden Löcher in der Dienstleistungsbilanz und der Bilanz der laufenden Übertragungen zu stopfen. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht wäre nach diesem Konzept verwirklicht, wenn die Leistungsbilanz ausgeglichen ist. Abb. 5/ 4 zeigt ein konkretes Zahlenbeispiel. In Abb. 5/ 5 ist der Außenhandel (Warenhandel) nach Regionen strukturiert; Abb. 5/ 6 zeigt die Warenstruktur. Abb. 5/ 6: Warenstruktur des Außenhandels ,G-3G0JG63- GJ50 JGD13E/ 0-H3G +.H3E1EGHH3G / H (J0E ! SSB =GI6G4J '@? A#O "J8 ! % $PM8E3JHI94P6HI! 5-H7J 'S#@*% M394H 0GLJ87M: PJ7 RPJ7M '@#B*% )MF7IH3! H3LMI! 5-H7J 'O>#D*% M394H 0GLJ87M: PJ7 RPJ7M )MF7IH3! H3LMI! 5-H7J 'CC#@*% ,3M6G4J 'AOB#A "J8 ! % TLJ173IHGM5I5-H7J 'O@#B*% &LMIGN! 5-H7J 'Q>#? *% ,M7J537 'QQ#Q*% $PM8E3JH! I94P6HI5-H7J 'O#A*% TLJ173I! HGM5I5-H7J 'O>#B*% &LMIGN! 5-H7J 'QB#B*% ,M7J537 'O#Q*% ; 7GHI947 <GM87I: PM2 '>#@*% <?page no="223"?> 5.4. Konsequenzen von Leistungsbilanzstörungen Abb. 5/ 7 zeigt Länderbeispiele für Leistungsbilanzdefizite bzw. -überschüsse (Leistungspositionen). 5.4.1. Leistungsbilanzdefizit Ein negativer Außenbeitrag bedeutet, dass eine Volkswirtschaft mehr importiert, als sie sich aufgrund ihrer Exporterlöse leisten könnte. Dieses Defizit kann abgedeckt oder abgemildert werden, wenn entsprechende Transfers aus dem Ausland - beispielsweise Entwicklungshilfe - erhalten werden. Eine passive Leistungsbilanz bedeutet also z.B., dass mehr importiert wird, als durch Exporterlöse und 5.4 Konsequenzen von b l Leistungsbilanzstörungen 193 Abb. 5/ 7 Leistungspositionen "/ #"-,$%"(#! )$*")! '&$ +&! -+&#- Mrd. US-Dollar Durch- 2002 2003 2004 2005 31/ -( schnitt C+/ -A)+/ -6 1991-2001 %''" & USA ! VCB ! GCD ! EKX ! DDB ! BXE (! *# Euro-Raum 2 VI IA IK CG ! VD ('*% )5/ .F<HK&D0 ! KV GV GD VXK VVE #*& =B&DG5D ! VK ! KI ! IK ! EE ! BI (? *# Japan VXE VVK VIC VCV VDB $*? =CDF.G/ 5 .CA./ 5F<HAG..5D5 <CKFF.GA.F<H&..5D ! I IG EE GB GG '*< China VG IE GD DA VDV ? *% =CDF.G/ 5 .CA./ 5F<HAG..5D5 <CKFF.GA.F<H&..5D ,FG5DF VE AK VKX VVE BK %*! Lateinamerika ! GA ! VD C VB IX &*% Mittel- und Osteuropa ! VI ! KG ! IC ! EA ! DE ("*# Ölexportierende Länder E BC VGI KIA GVC 9*! NCA.5/ 5D A KG KA IE GA &! *? >/ FFK&D0 VK KA IE EA BG &&*' =&/ 0G! ,A&2G5D ! D VK KB EK AV %9*" Ölexportierende Länder ! VXV ! KIA ! KVX ! IXG ! EVE (&*$ &CA./ 5F<HAG..5D ! DC ! IKB ! IIB ! GIV ! DBI ! K#K ,/ .F.A525D0 ! IG BA VKB VKC VDB &*< V $D YAC-5D. 05F +$Y# K =/ EE5 05A =&K05D 05A 5GD-5KD5D ")D05A 05F (/ AC! >&/ EFZ W/ 5KK5D@$3&7 ,D/ &25D 05A 5GD-5KD5D ")D05A <?page no="224"?> 194 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht Transfers finanziert wurde. Folglich muss der verbleibende Importüberschuss kreditfinanziert worden sein. Man spricht hier von einem Netto-Kapitalimport - sprich: Krediten aus dem Ausland oder ausländische Direktinvestitionen. Ein Importüberschuss bedeutet zudem, dass mehr inländische Nachfrage auf das Ausland gerichtet ist als ausländische auf die einheimische Produktion. Dies kann sich ungünstig auf die Beschäftigungssituation des Inlands auswirken (Abb. 5/ 8). 5.4.2. Leistungsbilanzüberschuss Was nun einen Leistungsbilanzüberschuss anbelangt, so wird er nach dem gerade Gesagten positiv für die Beschäftigungssituation sein. Daher fördern die meisten Länder, wo immer sie können, ihre Exportindustrien. Tendenziell gefährlich können die inflationären Impulse eines Leistungsbilanzüberschusses sein («importierte Inflation»; vgl. Kapitel 11 Geldpolitik). Diese sind für Deutschland als Mitglied des Euro-Raums aber nicht mehr so von unmittelbarer Bedeutung wie früher im nationalen (DM-)Währungsraum. Hinzu kommt, dass den zuströmenden Zahlungen aus Exporten (und Kapitalimporten) durch eine entsprechende Zinspolitik entgegengerichtete Zahlungsabflüsse entgegenstehen (können), welche die Geldmenge tendenziell verringern. Sie sollten aber beachten, dass sich kurzfristig die Import- und Exportwerte schlicht durch Wechselkursänderungen verändern können, ohne dass dies auf mengenmäßige Veränderungen zurückgeht (Abb. 5/ 9): Im ersten Halbjahr 2003 hatte Deutschland die USA zum ersten Mal als «Export-Weltmeister» aufgrund des starken Euro rechnerisch überholt. Während Deutschland nach dem Saldo des Warenhandels Exportweltmeister ist, sollten aber die Dienstleistungen nicht vergessen werden. Wie oben Abb. 5/ 4 zeigt, verzeichnet Deutschland hier ein mas- Abb. 5/ 8: Importdruck 432.$*+&10.3*# 0, 5.$& %')%# 2)2/ ' ! 3(0%3.31-."&&/ ),$2! $.%$- ('4/ +.! -&2/ '.*%$#2*2, <?page no="225"?> sives Defizit, so dass der Saldo von Waren- und Dienstleistungsbilanz zwar auch positiv, aber deutlich kleiner ist. Technisch ist dies der Saldo des Außenhandels (also in Unterscheidung zum Warenhandel) - Deutschland ist Exportweltmeister, nicht aber Außenhandelsweltmeister. Im (auch journalistischen) Sprachgebrauch wird diese Unterscheidung nicht selten verwischt. 5.5. Ursachen für Zahlungsbilanzstörungen Die Betrachtung der Konsequenzen von Zahlungsbilanzungleichgewichten macht deutlich, dass das Ziel außenwirtschaftlichen Gleichgewichts kein Selbstzweck ist, sondern instrumentalen Charakter hat 5.5. h Ursachen ffür hl b l Zahlungsbilanzstörungen 195 Abb. 5/ 9: Exportkonjunktur 1+4)(+.*)+, -/ ', 2",&! 3")=+,)"'0 )! ' "&'+'! '% #! & #! $%&%"! * (*()'%& &%! -$% ',+,-$! ,. *+),0! 20.," ,./ ,&, "0 %.#-,0 <?page no="226"?> 196 5. ß h f l h Außenwirtschaftliches l h h Gleichgewicht im Hinblick auf die Verfolgung binnenwirtschaftlicher Ziele wie Preisniveaustabilität und hoher Beschäftigungsstand. Dies wird auch durch den Begriff der «außenwirtschaftlichen Flanke» unterstrichen. Die Ursachen für Störungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts können vielfältig sein. Ein Import-Überschuss im Warenhandel kann z.B. darauf zurückzuführen sein, dass bestimmte Güter im Inland nicht verfügbar sind (z.B. Rohstoffe) bzw. im Ausland billiger oder besser hergestellt werden. Importüberschüssen kann somit durch Maßnahmen zur Verbilligung, Verbesserung bzw. Erhöhung des inländischen Güterangebots entgegengewirkt werden (wobei der Bekämpfung einer inländischen Inflation große Bedeutung zukommt), ferner durch Importerschwernisse (Zölle, nichttarifäre Maßnahmen) oder durch Abwertung der Inlandswährung, die gleichzeitig auch die Exportmöglichkeiten verbessert. Da andererseits die tendenziell inflationäre Wirkung eines Leistungsbilanzüberschusses durch entsprechende Kapitalexporte kompensiert werden kann, kommt neben der Wechselkurspolitik als «klassischem» außenwirtschaftlichen Instrument der Zinspolitik eine wichtige Rolle zur Erreichung außenwirtschaftlichen Gleichgewichts zu. Oben Abb. 5/ 2 zeigt die Struktur der Kapitalimporte und -exporte aus deutscher Sicht. Im wesentlichen handelt es sich dabei um Beteiligungskapital, das zum Auf- und Ausbau von Tochtergesellschaften sowie für Fusionen und Übernahmen verwendet wurde. Die Daten spiegeln daher auch die mittel- und langfristige Verflechtung der deutschen Wirtschaft mit dem Ausland wieder. Nach Internationaler Konvention gilt eine Beteiligungsschwelle von 10 % als Direktinvestition. Der klar erkennbare Nettokapitalexport geht einher mit entsprechenden Beschäftigungswirkungen im Inland wie im Ausland, was die Zahlungsbilanz natürlich nicht ausweisen kann. Die Deutsche Bundesbank schätzt, dass etwa 4,5 Millionen Personen in deutschen Unternehmen im Ausland beschäftigt sind. Sie weist gleichzeitig darauf hin, dass die Auslandsinvestitionen die Investitionstätigkeit und die Beschäftigung im Inland anregen, so dass es sich keineswegs um eine Einbahnstraße handelt. Pauschal ist es nicht möglich, solche Wirkungen zu beschreiben; dies kann seriös nur am einzelnen Beispiel erfolgen. Die vorstehend abgeleiteten Konsequenzen von Störungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts treten - wie eingangs erwähnt - unter der Voraussetzung fixer Wechselkurse tendenziell ein, so wie es innerhalb der Europäischen Union im Rahmen der Währungsunion der Fall ist. Bei flexiblen Wechselkursen hingegen, so wie er <?page no="227"?> beispielsweise zwischen Euro und Dollar oder Euro und Pfund besteht, würden Störungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts den flexiblen Wechselkurs verändern, so dass sich die Störung sozusagen von selbst behebt: Beispielsweise würde ein anhaltender Nettodevisenzustrom zu einem erhöhten Devisenangebot bzw. erhöhter Nachfrage nach der Inlandswährung führen. Dadurch würde die Inlandswährung aufgewertet (bzw. die Auslandswährung abgewertet), wodurch u.a. Güterexporte des Inlands erschwert und Güterimporte erleichtert würden. Dies würde eine Passivierung («Verschlechterung») der Leistungsbilanz bedeuten und dem Devisenzustrom entgegenwirken. Bei fixen Wechselkursen müsste die Notenbank somit durch geeignete Interventionen versuchen, den Aufwertungsdruck zu kompensieren. Ursachen und Konsequenzen der hier nur sehr kurz umrissenen Wechselkursveränderungen werden im Kap. 12 ausführlich behandelt. Zusammenfassend können die hier betrachteten Interpretationen von außenwirtschaftlichem Gleichgewicht (es gibt noch andere) wie folgt umrissen werden: Bei der Betrachtung der Leistungsbilanz «über dem Strich» steht der Realtransfer in Form von Güterbewegungen im Vordergrund, und Kapital- und Devisenbilanz erklären, wie er finanziert worden ist. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht setzt danach voraus, dass sich die Volkswirtschaft Importe aufgrund von Exporten in gleicher Höhe leisten konnte. Beim Konzept der «Grundbilanz» herrscht auch dann Gleichgewicht, wenn ein Leistungsbilanzdefizit durch langfristige Kapitalimporte, z.B. Direktinvestitionen, finanziert wurde; eine kurzfristige Finanzierung wäre danach unsolide. Bei der monetären Interpretation des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts müsste die Devisenbilanz bzw. - was aufgrund der doppelten Buchführung sinngemäß dasselbe ist - Leistungs- und Kapitalbilanz zusammengenommen ausgeglichen sein. 5.5. h Ursachen ffür hl b l Zahlungsbilanzstörungen 197 <?page no="228"?> 198 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung 6. Einflussnahme auf die Verteilung Neben den «klassischen» wirtschaftspolitischen Zielen des Stabilitätsgesetzes steht ein fünftes Ziel im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik: die Einflussnahme auf die Verbesserung der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Dieses Ziel wurde erstmals 1963 im «Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung festgeschrieben». Damit stellt dieses Gesetz eine Ergänzung zum Grundgesetz dar, welches zwar eine Eigentumsgarantie beinhaltet, jedoch nichts über die Verteilung aussagt. Interessanterweise ist im Sachverständigenratsgesetz weder von «Gerechtigkeit» noch von «Verbesserung» der Verteilung die Rede, sicherlich aus gutem Grunde: Beide Begriffe verlangen nach einer inhaltlichen Konkretisierung, die wohl kaum einmütig zu leisten ist. Bei der Betrachtung des Verteilungsziels ist zwischen der Einkommensverteilung einerseits (Abschnitt 6.1.) und der Vermögensverrr teilung andererseits (Abschnitt 6.2.) zu unterscheiden. Ein großes Pr oblem stellen dabei die höchst unzulänglichen Statistiken dar, die hierüber verfügbar sind, wobei die Einkommenssteuerstatistik noch eine eher leicht zugängliche Informationsquelle ist. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Datenbasis durch strengere Berichtspflichten besser aktualisieren und verdichten ließe. Dies gilt vor allem für Daten zur personellen Einkommensverteilung, zur Vermögensverteilung sowie für internationale Daten zur Verteilung. Die OECD und deren Bestrebungen, dieses Defizit zu beseitigen, stellt eher die Ausnahme dar. 6.1. Einkommensverteilung Bei der Verteilungsbetrachtung ist zwischen der primären und der sekundären Verteilung zu unterscheiden. Als Primärverteilung bezeichnet man die Verteilung, die sich ohne Beeinflussung durch den Staat ergibt, sozusagen die Bruttoverteilung. Staatliche Maßnahmen wie z.B. direkte Einkommen- und Körperschaftsteuern sowie Sozialabgaben (u.a. Arbeitslosen-, Rentenversicherung) auf der einen und Zuschüsse an Haushalte (z.B. Wohngeld, Kindergeld) sowie Subventionen an Unternehmen auf der anderen Seite «korrigieren» diese Verteilungssituation zur Sekundärverteilung. Was man also als Verteilungspolitik bezeichnet, sind Maßnahmen, mit denen der Staat die Primärverteilung korrigieren will. <?page no="229"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 199 Im Zusammenhang mit der Sekundärverteilung steht auch der Begriff des verfügbaren Einkommens. Das verfügbare Einkommen, das letztlich für Ausgabenentscheidungen bestimmend ist, errechnet sich aus dem unkorrigierten (Brutto-) Einkommen abzüglich direkter Transfers an den Staat (Einkommensteuer, Sozialabgaben etc.) zuzüglich Transfers vom Staat (Wohngeld, Kindergeld etc.). Hier ist der Kern jeder Einkommenspolitik des Staates zu sehen, die sich in der Gestaltung des (bei uns progressiven) Steuersystems und der oft als «Dschungel» bezeichneten Subventionsvielfalt äußert; immerhin sind nach wie vor rund ein Drittel der Staatsausgaben Transferzahlungen. Abb. 6/ 1 verdeutlicht die Zusammenhänge. Wir wollen hier nicht der Frage nach dem Gerechtigkeitsverständnis der staatlichen Umverteilungspolitik nachgehen. Offensichtlich aber wäre eine völlig gleiche Verteilung wegen der undifferenzierten Behandlung unterschiedlicher Leistungen ebenso wenig «gerecht» wie eine krasse Ungleichverteilung bei vergleichbaren Leistungen. Die konkreten Vorstellungen über die Gestaltung der Verteilung leiten sich von unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Gruppeninteressen ab. Wenn die zur Verteilung verfügbare Größe - rechnerisch z.B. als Volkseinkommen definiert - nicht im gleichen Maße wächst wie die Ansprüche an das Volkseinkommen, kann eine Besserstellung einer Gruppe nur erreicht werden zuungunsten der Situation einer anderen. In der Verteilungspolitik steckt somit ein hohes Konfliktpotential. Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Verteilungsbetrachtung: die Verteilung auf die am Produktionsprozess beteiligten Produktionsfaktoren (funktionelle Verteilung), die Verteilung auf Einzelpersonen bzw. Haushalte (personelle Verteilung) oder die Verteilung auf größere soziale Gruppen oder Klassen (sozioökonomische Verteilung). 6.1.1. Funktionelle Verteilung Bei der funktionellen Einkommensverteilung wird untersucht, wie sich das Volkseinkommen auf die Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, «Boden») 29 verteilt, durch deren Einsatz das Volkseinkommen entstanden ist. In der Verteilungstheorie sind dabei eine Reihe sehr differenzierter Ansätze entwickelt worden, die zum Teil auch dazu 29 Der volkswirtschaftliche Produktionsfaktor «Boden» ist nicht nur als Fläche zu verstehen, sondern umfasst auch die im Boden enthaltenen Bodenschätze sowie alles, was sich natürlich auf dem Boden befindet (u.a. Wälder, Tiere…) bzw. auf den Boden fällt (Regen, Sonne, Wind), so dass es sinnvoller ist, statt von Boden von «Natur» zu sprechen. <?page no="230"?> 200 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung dienen, den subjektiven Anspruch der Besitzer der Produktionsfaktoren auf Teile des Volkseinkommen deutlich zu machen. Allen funktionellen Verteilungstheorien - so unterschiedlich sie sind - ist gemeinsam, dass sie für verteilungspolitische Entscheidungen in der Praxis nicht operational sind. Insbesondere ist es problematisch, eine Abgrenzung zwischen den Einkommensströmen aus Arbeit und aus Kapital- und Bodenbesitz vorzunehmen. Abb. 6/ 1: Begriffe der Einkommensverteilung Buch @C: 73B *PH3BP1: 7C3B0 1L87M: 7C3B0 >3M2LNN7M P'C@ &KF5/ 8M FE-K613 F5/ 8M FE-K613 4&K0E1JKN/ 5 "5GE51/ &K3? 9J2KA 352N/ E 0N/ 0&/ NEJG1M F725G 9J2K P1KF ; 5C1KK 9J2KH&JE5 #>G851EFM 0JFE5KH&JE5! >G851EFM 51K0JLL5KM H&JE5 85.J35K N&4 6NF "J/ 0F51K0JLL5K@ #3/ 5172.51E3! +"&! ,"-("/ (&#.$' #=G&EEJM! $KE5GK52L5GM 51K0JLL5K #=G&EEJM! >G851EK52L5GM 51K0JLL5K ; 5C1KKH&JE5 N8.)3/ 172 , 61G50E5 'E5&5GK , 'J.1N/ N83N85K #&B NB >G851EFM / JF5KMO (5KE5KD5GF1725G&K3! .&.)3/ 172 Q 'J.1N/ N83N85K #%GNKF45GF! #.B=B RJ2K35/ 6O : 1K65G35/ 6O (5K5KA*5KF1JK5KO '&8D5KM E1JK5K! *(%.$),"-("/ (&#.$' D5G4)38NG5F #+5EEJM! >G851EK52L5GM 51K0JLL5K D5G4)38NG5F #+5EEJM! $KE5GK52L5GM 51K0JLL5K <?page no="231"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 201 6.1.1.1. Lohn- und Gewinnquote Daher wird in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stark vereinfachend nur zwischen Einkommen aus unselbständiger Arbeit (Löhne und Gehälter) und Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen (Unternehmereinkommen, Mieterträge, Zinseinkommen) unterschieden. In Symbolen wird dies meist so ausgedrückt: (1) Y = L + G, wobei das Y das Volkseinkommen (vom englischen yield: Ertrag, Ergebnis) darstellt, L die Lohneinkommen und G die Gewinneinkommen. (Y ist dabei auch als Nettoinländerprodukt zu Faktorkosten (NIP f ) zu interpretieren.) L und G können in Prozent des Volkseinkommens ausgedrückt werden, wobei man den Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen als Lohnquote (L/ Y) (synonym: Arbeitskostenquote) und den Anteil der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen als Profit- oder Gewinnquote (G/ Y) bezeichnet. Da sich beide auf dieselbe Bezugsgröße beziehen, wird einleuchten, dass sie sich zu Eins addieren müssen: (2) 1 = L / Y + G / Y Die Zweiteilung in Löhne bzw. Gewinne ist insbesondere deshalb unbefriedigend, weil z.B. ein und derselbe Haushalt sowohl in der Lohnquote (durch sein Erwerbseinkommen) als auch in der Profitquote erfasst wird, wenn er z.B. Zins- oder Mieteinkommen hat. Andererseits werden Leistungen mithelfender Familienangehöriger bei Selbständigen nicht in der Lohnquote erfasst. Je stärker. diese Querrr verteilung ausgeprägt ist, desto weniger aussagekräftig sind die Quoten. 30 Nach Untersuchungen des Sachverständigenrats haben sich die Einkommensquellen strukturell verändert: Während die abhängige Erwerbstätigkeit tendenziell abnimmt, nehmen staatliche Transfers und Einkommen aus selbständiger Tätigkeit zu. 6.1.1.2. Bereinigte und unbereinigte Lohnquote Offensichtlich kann - wie Gleichung (2) belegt - die Lohnquote nur steigen, wenn gleichzeitig die Gewinnquote sinkt. Die Lohn- 30 Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Begriff »Lohnquote» wird außer in dem hier im Zusammenhang mit Verteilungsfragen auch verwendet, um den Anteil der Lohnkosten (der abhängig Beschäftigten) an der Wertschöpfung eines Unternehmens, einer Branche oder der Volkswirtschaft darzustellen. Beispielsweise ist dieser Anteil in der Landwirtschaft erheblich niedriger als in industriellen Bereichen. <?page no="232"?> 202 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung quote kann aus zwei Gründen steigen: einmal, wenn bei konstanter Erwerbstätigenstruktur die Löhne stärker steigen als die Gewinneinkommen, zum anderen, wenn die Zahl der Lohnempfänger zunimmt. Daher gibt es zwei Versionen der Lohnquote: Die unbereinigte Lohnquote erfasst pauschal den Anteil der Löhne am Volkseinkommen und steigt somit (zu Lasten der Gewinnquote) allein aufgrund des Strukturwandels, der sich ergibt, wenn Selbständige ihre Tätigkeit aufgeben und eine unselbständige Beschäftigung aufnehmen. Dieser Strukturwandel, d.h. der Rückgang der selbständigen Unternehmertätigkeit in Deutschland, der sich auch an zunehmender Unternehmenskonzentration und dem Rückgang des Einzelhandels bzw. mittelständischer Unternehmen ablesen lässt, würde die Aussagekraft~ von Lohn- und Gewinnquoten verfälschen. Infolgedessen wird eine «bereinigte» Lohnquote ermittelt, bei der rechnerisch die als konstant unterstellte Beschäftigungsstruktur eines Basisjahres zugrunde gelegt wird. Dieses Verfahren entspricht im Prinzip der Berechnung von preisbereinigten realen Größen, bei denen die Preisstruktur eines Basisjahres herangezogen wird. Dann kann die Lohnquote nur steigen, wenn die Lohneinkommen - bei unterstelltem konstanten Selbständigenanteil - stärker steigen als die Gewinneinkommen. Die Abweichungen zwischen bereinigter und unbereinigter Quote am Volkseinkommen sind dabei beträchtlich, und zwar umso mehr, je weiter das Basisjahr zurückliegt. Unbereinigt lautet die Formel der Lohnquote: = Arbeitnehmerentgelt x 100 Volkseinkommen Die um Veränderung der Struktur der Erwerbstätigen (Arbeitnehmer und Selbständige und mithelfende Familienangehörige) bereinigte Lohnquote erhält man, indem man folgende Größe = Arbeitnehmerentgelt im Berichtsjahr x Anzahl der Arbeitnehmer im Basisjahr Anzahl der Arbeitnehmer im Berichtsjahr im Zähler mit folgender Größe im Nenner dividiert: = Volkseinkommen im Berichtsjahr x Anzahl der Erwerbstätigen im Basisjahr Anzahl der Erwerbstätigen im Berichtsjahr Das Berichtsjahr ist das Jahr, für welches die Lohnquote berechnet werden soll, das Basisjahr ist ein bestimmtes ausgewähltes Jahr, etwa 2000 oder 2005, dessen Erwerbstätigkeitsstruktur konstant gehalten <?page no="233"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 203 werden soll. Im Basisjahr sind die bereinigte und unbereinigte Lohnquote gleich groß. Abb. 6/ 2 verdeutlicht die Abweichungen danach. 6.1.1.3. Brutto- und Nettolohnquote Die (unbereinigte) Bruttolohnquote drückt - wie ausgeführt - die Primärverteilung aus. Durch Abzug von Lohnsteuern und Sozialbeiträgen wird der Bruttolohn zum Nettolohn korrigiert. Den Anteil der Nettolöhne an den gesamten Nettoeinkommen bezeichnet man als Nettolohnquote. Bei völlig gleichmäßiger steuerlicher Belastung müssten Brutto- und Nettolohnquoten - bzw. analog Brutto- und Nettogewinnquoten - jeweils übereinstimmen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Einkommen aus unselbständiger Arbeit sind relativ stärker von Steuern und Sozialabgaben betroffen als die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Zur Verdeutlichung ein einfaches Rechenbeispiel: Würde sich das Volkseinkommen aus 60% Lohneinkommen und 40% Gewinneinkommen zusammensetzen, dann wären bei einer steuerlichen Gleichbelastung 60% des Steueraufkommens von den Lohnempfängern zu entrichten, 40% von den Gewinnempfängern. Die Nettolohnquote wäre also 60%, die Nettogewinnquote wäre 40% und damit identisch mit den Bruttoquoten. Wenn nun aber die Nettolohnquote nur 50% beträgt, also niedriger ist als die Bruttolohnquote, muss folglich die Nettogewinnquote ebenfalls 50% betragen. Das bedeutet, dass die Lohnempfänger relativ eine höhere Steuerlast tragen als die Unternehmen. Ihr Anteil am Volkseinkommen ist abzüglich der Steuern, also netto, geringer als zuvor. Abb. 6/ 2: Bereinigte und unbereinigte Lohnquote Lohnquote 0,75 0,725 0,7 0,675 0,65 1975 1980 1985 1990 1995 bereinigt Basis: 1960 <?page no="234"?> 204 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass freiwillige Sozialversicherungsleistungen von Selbständigen nicht erfasst werden (können), wohl aber die gesetzlichen Sozialabgaben der Arbeitnehmer, woraus sich ein Teil der Abweichungen erklärt. Über einen längeren Zeitraum hinweg verändert sich die Bruttolohnquote nur wenig. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei um Prozente am Volkseinkommen handelt, so dass bereits 0,1 Prozentpunkte beträchtliche Summen bedeuten. 6.1.1.4. Primär- und Sekundärverteilung Die Verteilung des Einkommens auf die Produktionsfaktoren bzw. personell auf Haushalte oder Unternehmen bezeichnet man als Primärverteilung. Durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen kann diese zur Sekundärverteilung verändert werden (Abb. 6/ 3). Auf der einen Seite vermindert sich das Bruttoeinkommen durch Abgaben wie direkte Steuern und Sozialabgaben, auf der anderen Seite fließen Haushalten wie Unternehmen Subventionen (allgemeiner: Transfereinkommen) zu (Kindergeld, Wohngeld, Pensionen, Investitionsprämien etc.). Das Einkommen, über das tatsächlich verfügt werden kann, berechnet sich demnach als (3) Y verf = Y br - T dir + Z, wobei Y verf das verfügbare Einkommen bedeutet, Y br das Bruttoeinkommen, T dir direkte Steuern (z.B. Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer) und Z Subventionen. Das Symbol «T» leitet sich aus dem englischen «tax» = Steuer ab, Z für Subventionen aus «Zuwendungen», Y aus dem englischen «yield» = Ertrag oder Ergebnis. Während sich z.B. das Bruttolohneinkommen aus autonomen Ver- Abb. 6/ 3: Von der Primärverteilung zur Sekundärverteilung Privates Haushaltseinkommen + empfangene laufende Übertragungen (z.B. soziale Leistungen) - geleistete laufende Übertragungen (darunter: direkte Steuern, Sozialbeiträge) = verfügbares Einkommen nach der Umverteilung - privater Verbrauch (inkl. indirekte Steuern) = Ersparnis <?page no="235"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 205 handlungen der Tarifpartner bestimmt, kann die Höhe des verfügbaren Einkommens somit durch staatliche Maßnahmen beeinflusst werden. So kann also u.a. mit der Steuerpolitik durch Veränderung des verfügbaren Einkommens Einfluss genommen werden auf die Nachfrage. Umgekehrt reagieren die Tarifpartner auf Steuerveränderungen (Abb. 6/ 4). Auf die auch verteilungspolitisch unterschiedlichen Wirkungen von direkten und indirekten Steuern (insbesondere Mehrwertsteuer) geht Abschnitt 10.4.3. ein. 6.1.1.5. Aussagekraft von Lohn- und Gewinnquote Lohnbzw. Gewinnquoten stehen im Zentrum der verteilungspolitischen Diskussion. Aus Arbeitnehmersicht wird verständlicherweise die relativ ungünstige Entwicklung von bereinigten Nettolohnquoten unterstrichen, während Arbeitgeber eher auf die Veränderungen anhand der unbereinigten Bruttolohnquote hinweisen dürften. Abgesehen von dem Problem der Veränderung der Beschäftigungsstruktur sind Lohn- und Gewinnquoten aus weiteren Gründen als Verteilungsmaße ungeeignet. Zum einen beziehen unselbständige Arbeitnehmer - wie erwähnt - meist nicht nur Lohneinkommen, sondern auch Zins- und Mieteinnahmen. Dies wird in der Lohnquote nicht berücksichtigt. Zum anderen werden in Lohn- und Gewinnquoten hohe und niedrige Einkommen aggregiert, so dass sich nichts über die gruppeninterne Verteilung herauslesen lässt. Beispielsweise werden auch die Einkommen der Spitzenmanager in Großunternehmen, die eindeutig Unternehmerfunktionen ausüben, aber auch die des Bundespräsidenten und der Minister der Lohnquote zugerechnet. Es wäre meines Erachtens sinnvoll, den Anteil höherer und niedrigerer Einkommen an der Lohnquote auszuweisen. Analog wird bei den Gewinneinkommen nicht zwischen dem Gewinn eines Industriekonzernbesitzers und dem eines Handwerksmeisters unterschieden. Bei stärkerer Differenzierung auch in dieser Abb. 6/ 4: Umverteilung Die Gewerkschaften lassen die Mehrwertsteuer-Erhöhung in ihre Lohnforderungen einfließen Neue Runde im Verteilungskampf <?page no="236"?> 206 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung Hinsicht wäre der Unterschied zur personellen Verteilung nicht mehr groß (vgl. Abschnitt 6.1.2.). Die Lohnquote verleitet zu drei Missverständnissen: • Die Lohnquote erfasst nicht die Arbeitseinkommen aus selbständiger Arbeit (also in Abgrenzung zu reinen Kapitaleinkommen). Wenn man diese mit einbezieht (z.B. einschließlich mithelfender Familienangehöriger von Selbständigen), ist die Arbeitseinkommensquote (logischerweise) deutlich höher als die Lohnquote aus abhängiger Arbeit. Unterstellt wird dabei «Arbeit ist Arbeit», egal welcher Art. • Die Lohnquote ist kein objektiver Indikator für die Lohnpolitik. Eine expansive Lohnpolitik hebt die Lohnquote kurzfristig an, führt dann aber in der Regel zu Entlassungen und technischen Rationalisierungen und damit zu einem Sinken der Lohnquote. Zudem sinkt die Lohnquote - aufgrund steigender Gewinneinkommen - vor Beginn eines neuen Aufschwungs. • Privathaushalte beziehen ihr Einommen nicht nur aus unselbständiger Arbeit, sondern in zunehmendem Umfang (derzeit rund 10%) auch aus Geldvermögen. Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten 1987/ 88 eine neue Berechnung vorgestellt, die als Arbeitseinkommensquote bezeichnet wird. Damit soll die funktionale Einkommensverteilung differenzierter dargestellt werden, als es mit der üblichen Aufspaltung in Lohnquote und Gewinnquote der Fall ist. Das Arbeitseinkommen insgesamt ist das funktionale Einkommen des Produktionsfaktors Arbeit, und zwar sowohl der unselbständigen Arbeit als auch einschließlich des kalkulatorischen Unternehmerlohns, d.h. eines fiktiven Arbeitsentgeltes für selbständige Arbeit in Höhe des Bruttolohns, der für dieselbe, aber abhängige Tätigkeit bezahlt werden müsste. Die verbleibende Differenz zum Gesamteinkommen setzt sich zusammen aus Gewinneinkommen (ohne kalkulatorischen Unternehmerlohn) und Vermögenseinkommen der privaten Haushalte und des Staates. Logischerweise muss die Arbeitseinkommensquote - wegen des Einbezugs des kalkulatorischen Unternehmerlohns - deutlich höher liegen als die Lohnquote (Abb. 6/ 5). In der Arbeitseinkommensquote wirkt sich der Strukturwandel von der selbständigen zur unselbständigen Tätigkeit nicht verzerrend aus wie in der Lohnquote. Insgesamt ist der Aussagewert dieser für die gesamte Volkswirtschaft zu berechnenden Quoten nicht sehr hoch, da beispielsweise die Lohnquote als Ausdruck der funktionellen Verteilung des Volkseinkommens auf die Produktionsfaktoren überhaupt nichts aussagt über <?page no="237"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 207 die tatsächliche personelle Verteilung des Volkseinkommens auf die einzelnen Haushalte. Betrachten wir diese daher etwas genauer. 6.1.2. Personelle Verteilung Wenn man die funktionelle Betrachtungsweise aufgibt und nur zwischen Einkommensbeziehern unterscheidet, gleichgültig aus welchen Produktionsfaktoren sie ihr Einkommen ableiten, dann ergibt sich die personelle Einkommensverteilung. Sie lässt sich anschaulich mit Hilfe einer graphischen Darstellung verdeutlichen, die als Lorenzkurve bekannt geworden ist (vgl. Abb. 6/ 6). Bei einer völlig gleichmäßigen Einkommensverteilung, bei der jeder Einzelne dasselbe Einkommen bezöge, verfügen 10% der Einkommensbezieher über 10% des Gesamteinkommens, 50% über 50% etc., so dass sich als Kurve gleicher Einkommensverteilung in der Lorenz-Darstellung eine Gerade ergäbe. Sofern die tatsächliche Einkommensverteilung von dieser Geraden abweicht, kann man vom Ausmaß des «Bauches» der Lorenzkurve auf den Grad der Ungleichheit schließen. Beispielsweise kann man oben der Abb. 6/ 6 entneh- Abb. 6/ 5 Arbeitseinkommensquote A' P' R' T' ! ' %FTT R' RT P' PT G' GT F' FT #''' 'T D8; )"6: )$Q)8): 6&)S6) 5: + D8; )"67)": U9QQ): ": @893): 6 +)7 ? 9SU7)": U9Q): 7 %* &"3 &/ #7-(/ )3 *"7)) ! +%3")*3"7)/ 6654-0*2,5 82340*2,5 =)76+)567,$S<: + B)567,$S<: + =)76+)567,$S<: + B)567,$S<: + %* ? 98 %FF% =)76+)567,$S<: + 5: + <S6) ? 9SU74"867,$<(6S",$) A)7<Q68),$: 5: &): <?page no="238"?> 208 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung men, dass 80% der Haushalte über mehr als 60% des Volkseinkommens verfügen, oder umgekehrt ausgedrückt, dass die oberen 20% der Einkommensbezieher insgesamt über knapp 40% des Gesamteinkommens verfügen (A). Die unteren 20% verfügen über deutlich weniger als 10% des Gesamteinkommens (B). Je weiter die Lorenzkurve von der Linie gleicher Verteilung abweicht, desto ungleicher ist die tatsächliche Verteilung (Abb. 6/ 7). Für die meisten Entwicklungsländer wäre eine Lorenzkurve typisch, die sich eng an die untere und rechte Begrenzung des Koordinatensystems schmiegt. Dies bedeutet, dass die Masse der Bevölkerung über nur einen kleinen Teil des Gesamteinkommens verfügt, während eine sehr kleine Spitzengruppe einen sehr großen Anteil erhält. Eine derartig krasse Ungleichheit besteht in den Industrieländern, bei denen der Mittelstand in hohem Maße ausgeprägt ist, offensichtlich nicht. Dies gilt auch für Deutschland. Was in solchen Verteilungen überhaupt nicht erfasst wird, ist die erforderliche Arbeitszeit (von der Arbeitsintensität ganz zu schweigen), um einen Euro Einkommen zu erzielen: Die Verteilung der Arbeitsbelastungen - auch unter dem Aspekt der Altersschichtung der Bevölkerung - ist ein in der erforderlichen Schärfe bislang unerforschtes Gebiet. Auch macht die Betrachtung von Haushalten nicht deutlich, ob es sich z.B. um einen gut verdienenden Haushaltsvorstand handelt oder um doppelt verdienende Ehepaare. Abb. 6/ 6: Lorenzkurve <?page no="239"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 209 Abb. 6/ 8 verdeutlicht, dass durch die staatliche Umverteilung die Verteilung der netto verfügbaren Einkommen (Sekundärverteilung) «gleicher» ist als die der Brutto-Primärverteilung. Anhand der Lorenzkurve lässt sich auch ein weiteres Verteilungsmaß darstellen: der nach seinem Erfinder benannte Gini-Koeffizient oder Gini-Index. Er wird aus einer Lorenzkurve berechnet und beschreibt das Verhältnis der Fläche zwischen Linie gleicher Verteilung (der Diagonalen) und Lorenzkurve zur gesamten Fläche rechts der Diagonalen. Er ist somit ein Ungleichheitsmaß. Bei völlig gleicher Verteilung nimmt er den Wert Null an; je größer er ist, desto ungleicher ist die Verteilung. Sofern das gesamte Einkommen theoretisch nur einer Person (bzw. einem Haushalt) zufällt, nimmt der Gini-Index den Wert Eins an. Da zur Berechnung des Gini-Koeffizienten nur die Gesamtfläche zwischen der Diagonalen und der Lorenzkurve Abb. 6/ 7: Einkommensverteilung Vom gesamten Einkommen erhält …das obere Fünftel …das untere Fünftel der Verdiener in % der Verdiener in % Sierra Leonne 63,4 1,1 Guatemala 63,0 2,1 Brasilien 64,2 2,5 Südafrika 63,3 3,3 Kenia 62,1 3,4 Mexiko 55,3 4,1 USA 45,2 4,8 China 47,5 5,5 Großbritannien 39,8 7,1 Frankreich 40,1 7,2 Schweiz 43,5 7,4 Niederlande 39,9 8,0 Ägypten 41,1 8,7 Deutschland 37,1 9,0 Indien 39,3 9,2 Schweden 34,5 9,6 Slowakische R. 31,4 11,9 <?page no="240"?> 210 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung benutzt wird, können unterschiedlich verlaufende Lorenzkurven ein- und denselben Gini-Wert ergeben. 31 Eine Analyse der Veränderung der Einkommensverteilung wird durch das sehr lückenhafte Datenmaterial erschwert. Häufig werden Einkommens-Stichproben herangezogen. Insbesondere die Erfassung von Selbständigeneinkommen und dabei wiederum von höheren Einkommen, die ja großenteils auf Selbstveranlagungen beruhen, bereiten methodische Probleme. Nach den vorliegenden Analysen lässt sich aber sagen, dass sich die Struktur Einkommensverteilung in den letzten dreißig Jahren nicht signifikant verändert hat, ungeachtet unterschiedlicher Berechnungsmethoden. Verteilungsanalysen stellen eine wichtige Grundlage für die Schätzung des zu erwartenden Steueraufkommens im Zusammenhang mit der öffentlichen Haushalts- und Verschuldungsplanung dar (vgl. Kap. 10). 6.1.3. Armut 8% der deutschen Bevölkerung zählen nach einer Befragung von TNS Infratest (11/ 06) zum ärmsten Teil der Bevölkerung (Abb. 6/ 9, 6/ 10, 6/ 11). Dies dürfte allerdings eher ein subjektiver und statistisch zu niedriger Wert sein, weil nach internationalen Regeln als arm gilt, 31 Es gibt noch andere Verteilung bzw. Ungleichheitsmaße, auf die wir hier aber nicht eingehen. Vgl. die Literaturangaben zu diesem Kapitel. Abb. 6/ 8: Sozio-ökonomische Verteilung <?page no="241"?> 6.1. k l Einkommensverteilung 211 wer weniger als 60% des Medianwertes der Einkommensskala verdient. Diese 60% entsprechen derzeit ca. 938 Euro, rund 13% der Bevölkerung hat weniger Einkommen. Es gibt andere Armutsdefinitionen, die sich z.B. am Mittelwert (arithmetisches Mittel) orientie- *#%"$ '! $ '%%(# #(&)$'+ 2131' 0+1,%1 -.% #1)+/ 1' .*& 5! 6 4$'( Abb. 6/ 9 Abb. 6/ 10: Kinderarmut ./ , % 1/ ( 4! / ' 2"-'/ ( #"+-& % ,( 3/ $ % & +-*"(1 1,/ 0,(1/ '"')$ % 0$#/ +- / -& .46"87 %+-,$ ! 51,%-(/ - 2&'3*-)- +( 5**-( 6(/ #%$&+-%$55$-( Abb. 6/ 11: Armutsquoten in Deutschland Anteil der Personen in privaten Haushalten mit weniger als 60% des Medians der gewichteten jährlichen Haushaltseinkommen. vH vH Armutsquoten 1) in Deutschland 20 20 25 25 15 15 10 10 0 0 Ostdeutschland Deutschland Westdeutschland 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1998 2000 2001 2002 2003 2004 1) Anteil der Personen in privaten Haushalten mit weniger als 60 vH des Mediansder äquivalenzgewichteten jährlichen Haushaltsnettoeinkommen. Quelle: SOEP nach Berechnungen des DIW © Sachverständigenrat <?page no="242"?> 212 6. fl h Einflussnahme f auf ddie l Verteilung ren, der allerdings stärker auf Extremwerte am oberen und unteren Rand reagiert. In vielen Entwicklungsländern, in denen die Bevölkerung noch Subsistenzwirtschaft betreibt, d.h. sich selbst versorgt, sagen die monetären Einkommensangaben ohnehin nichts über die faktische Armut aus, 6.2. Vermögensverteilung Im internationalen Vergleich ist die Einkommensverteilung in Deutschland - und dies gilt für eine große Zahl der wohlhabenden Industrieländer - eine «gleichere» Verteilung als in den meisten armen Ländern. Wenn man allerdings die Vermögensverteilung betrachtet, so ergibt sich in der Bundesrepublik eine deutlich ungleichere Verteilung als bei der Einkommensverteilung. Jede Untersuchung der Vermögensverteilung enthält wegen der statistischen Ermittlungsschwierigkeiten naturgemäß eine Fülle von Ansatzpunkten für Kritik. Mangels hinreichender Daten können Vermögensteile im Ausland ebenso wenig berücksichtigt werden wie besondere Vermögensteile wie Segelboote oder Reitpferde. Viele Wertansätze beruhen zudem sowohl in quantitativer als auch in wertmäßiger Hinsicht auf mit großen Unsicherheiten behafteten Schätzungen. Dabei ist es in der Regel nur schwer möglich, zwei Untersuchungen zum selben Thema zu vergleichen, da unterschiedliche Vermögensbegriffe und -bewertungen vorgenommen sowie als Bezugsgröße u.a. Haushalte und Personen verwendet werden. Da verschiedene Vermögenspositionen personenbezogen sind (z.B. Vorsorge- und Versicherungspositionen), ist grundsätzlich der personenbezogenen Verteilungsbetrachtung der Vorzug zu geben. Zum Vermögen zählt das Produktivvermögen (ohne Aktienbesitz), Haus- und Grundvermögen, Wertpapiere, Bargeld, Sicht-, Termin- und Spareinlagen sowie Lebensversicherungs- und Bausparguthaben. Dies ergibt das Bruttovermögen. Zieht man hiervon kreditfinanzierte Vermögensteile ab (z.B. Hypotheken-gesicherten Immobilienbesitz), ergibt sich das Nettovermögen. Problematisch und umstritten ist dabei der Einbezug von Versorgungsansprüchen gegenüber Sozialversicherungsträgern bzw. dem Staat. Insbesondere aufgrund von Ermittlungsproblemen werden sie üblicherweise nicht in die Vermögensberechnung einbezogen. Abb. 6/ 12 verdeutlicht die Vermögenskonzentration in Deutschland. Die reichsten 10% der Haushalte konzentrieren 46,4% des Vermögens auf sich. Darin enthalten sind über 40 Personen, die von der amerikanischen <?page no="243"?> Zeitschrift Forbes zu den reichsten der Welt gezählt werden. Die armen unteren 50% der Haushalte verfügen zusammen über knapp 3% des gesamten (in Deutschland registrierten! ) Vermögens. In der (wirtschafts-)politischen Diskussion wird immer wieder darauf hingewiesen, dass eine stark ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung zum einen sozialpolitische Risiken in sich berge, zum anderen wachstumshemmend wirke. Dies wird am Beispiel Lateinamerikas verdeutlicht, wo sich der Grundbesitz auf relativ wenige Haushalte konzentriert, jedoch riesige Latifundien brachliegen. Hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverteilung liegen auch Rückkopplungen vor: Aus hohem Vermögensbesitz resultieren auch hohe, vermögensabhängige Einkommensteile wie Zinsen und Mieten. Umgekehrt bedeuten ein hohes Einkommen eine bessere Möglichkeit zur Vermögensbildung als niedrige Einkommen. Vor diesem Hintergrund sind Ansätze der Verteilungspolitik zu sehen, die unter dem Stichwort Vermögensbildung laufen. Einkommens- und Vermögensbildung bedingen sich gegenseitig und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Somit wären auch fiskalpolitische Überlegungen etwa im Hinblick auf die Ausgestaltung progressiver Steuersätze in die Betrachtung einzubeziehen. Dem Charakter eines Lehrbuches entsprechend ist es aber nicht angebracht, konkrete verteilungspolitische Maßnahmen hier zu bewerten. Die Literaturhinweise zu diesem Kapitel können den interessierten Leser weiterführen. 6.2. l Vermögensverteilung 213 Abb. 6/ 12: Ungleiche Verteilung des gesamten Nettovermögens in Deutschland (Anteile von Zehnteln der Haushalte am Gesamt-Nettovermögen) Zehntel Mittelwerte in 1.000 Euro Anteile 1993 1998 2003 1993 1998 2003 9 253,7 272,5 301,6 20,2 % 21,1 % 20,3 % 10 514,0 541,9 665,9 41,0 % 41,9 % 44,8 % Quelle: 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005: 31 <?page no="244"?> 214 7. l h Umweltschutz 7. Umweltschutz 7.1. Dimension der Umweltbelastung Vielen ist die existentielle Bedeutung der natürlichen Umwelt und das Ausmaß der Umweltgefährdung noch immer nicht klar. Sowohl im nationalen als auch im internationalen Zusammenhang wird Umwelt oft noch als ein Gut missverstanden, das beliebig zur Verfügung steht und für das man selbst nicht verantwortlich ist, weil es einem nicht «gehört»: Darum werden Abwässer in Flüsse geleitet und Müll in den Wald geworfen; Ozonloch und Klimaerwärmung erscheinen als globale Probleme, an denen man als einzelner ja sowieso nichts ändern kann. Dies ist also vorrangig ein Bewusstseinsproblem. Zudem ist die Inanspruchnahme und Belastung von Umwelt meist kostenlos. Dies beeinträchtigt das Verständnis für den Wert der Umwelt und erleichtert das bewusste Ignorieren der Probleme. Umweltbelastungen und als Konsequenz: Umweltschutz können nur bedingt aus nationaler Sicht erfasst werden, z.B. Müllprobleme oder die Umweltzerstörung durch Kohleabbau. Einige Probleme sind regional begrenzt, z.B. die Verschmutzung eines Flusses, der durch mehrere Länder fließt, andere Probleme sind globaler Natur. Hierzu zählen u.a. das Ozonloch, der Treibhauseffekt, die Zerstörung der tropischen Regenwälder und der nordischen Wälder, die allgemeinen Müllprobleme und der Müllexport, die Umweitwirkungen des (nationalen und internationalen) Handels und des Tourismus und die armutsbedingten Umweltprobleme in Entwicklungsländern. 7.2. Ökonomische Analyse «Umwelt« kann aus ökonomischer Sicht als Produktionsfaktor oder als Konsumgut angesehen werden. Konsumgut ist sie besonders im Hinblick auf ihren Erholungswert und auf ihren ästhetischen Wert. Als Produktionsfaktoren gehen Umweltressourcen entweder direkt in den Produktionsprozess ein (Kühlwasser, Bodenschätze), oder die Umwelt wird dadurch beansprucht, indem Abfallstoffe in die Umwelt abgegeben oder in ihr gelagert werden. Bei den Umweltkosten handelt es sich zum einen um Wertminderungen (Waldschäden, Luftverschmutzung) (kalkulatorische Schadenskosten), zum anderen Kosten, die durch Vermeidung, Eindämmung oder Beseitigung von Umweltbelastungen entstehen, die also <?page no="245"?> 7.2. Ök h Ökonomische l Analyse 215 unmittelbar zu Ausgaben führen (defensive bzw. kompensatorische Kosten). Schadenskosten sind nur schwer quantifizierbar, viele sind nur qualitativ begreifbar. Wie hoch ist z.B. der Wertverlust durch Aussterben einer Tierart? Welche Kosten verursacht Lärm? Interessanterweise - oder perverserweise - werden die defensiven bzw. kompensatorischen Kosten als Wertsteigerungen im Bruttoinlandsprodukt erfasst, eigentlich müsste man sie - wie in der kaufmännischen Kostenrechnung - als «Wertberichtigungen» («Abschreibungen») negativ berücksichtigen. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist methodisch für Umweltprobleme völlig unsensibel. Umwelt ist - in ökonomischer Terminologie - ein knappes Gut. Im Gegensatz zu anderen knappen Gütern hat sie jedoch keinen marktgerechten Preis. Sie gilt vielmehr weitgehend als öffentliches Gut, das man kostenlos beanspruchen kann. Folglich geht man nicht so mit der Umwelt um, wie es ihrem «richtigen» Wert entspricht: Umwelt wird vergeudet und verschleudert, teilweise irreparabel. Ökonomisch ist dies eine Fehlallokation von Umweltressourcen. Dieses Marktversagen beruht also zentral an dem nur unvollständig anzuwendenden Ausschlussprinzip, das grundsätzlich für private Güter gilt: Wer ihren Preis nicht bezahlen kann oder will, wird von der Nutzung ausgeschlossen. Nicht so beim Umweltgut; dort ist kostenloses «Trittbrettfahren» möglich. Damit wird ein weiteres zentrales Problem deutlich: Weder erhalten umweltschützende Individuen, die beispielsweise auf ihren privaten PKW verzichten und die Nachteile des öffentlichen Nahverkehrs in Kauf nehmen, dafür eine «marktgerechte» Belohnung (im Gegenteil: Umweltfreundlichere Diesel-Kfz zahlen rd. dreimal soviel Kfz-Steuer wie Benziner! ), noch werden die Verursacher von Umweltschäden kostenadäquat - wie immer berechnet - zur Kasse gebeten. Diese Tatsache, dass die entsprechenden Kosten und Nutzen sich nicht in analogen Preisen widerspiegeln, bezeichnet man als (negative bzw. positive) externe Effekte. Folgerichtig besteht aus ökonomischer Sicht die - verursachte - Lösung darin, insbesondere die extremen Kosten zu internalisieren, d.h. sie den Verursachern aufzulasten. Dabei gibt es zwei hauptsächliche Denkansätze: Entweder soll der Staat durch Steuern oder durch andere Abgaben belasten bzw. durch Subventionen belohnen (sog. Pigou-Steuern) n (Abb. 7/ 1). Dies kann sowohl die umweltbelastenden Produktion als auch den Konsum umweltschädigender Güter betreffen: Man spricht auch von Öko-Steuern. Bei der zweiten Variante sollen die negativ Betroffenen mit den Verursachern Entschädigungen bzw. Vermeidungen privat aushandeln (sog. Coase-Theorem; beide <?page no="246"?> 216 7. l h Umweltschutz nach ihren «Erfindern» benannt). (Natürlich muss es dafür entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen geben.) Ansatzweise ist dies in der Praxis zu beobachten, wenn bestimmten Ländern Kompensationen angeboten werden, wenn sie Maßnahmen zum Schutz des Regenwaldes ergreifen und sie folglich auf Einnahmen aus dem Tropenholzexport verzichten. Methodisch bedeuten beide Ansätze eine Fülle von Problemen, welche ihre Anwendbarkeit beeinträchtigen, insbesondere hinsichtlich der Ermittlung der «richtigen» Preise für Kosten oder Nutzen. 7.3. Einige Prinzipien und Instrumente Umweltschutz sollte - wie aus dem eben Gesagten ersichtlich - grundsätzlich das Verursacherprinzip beachten («polluter-pays»-Prinzip: PPP). Eins von vielen Problemen besteht dabei aus der Kumulation von Umweltschäden durch mehrere Faktoren, bei denen sich die Verursachungsanteile nicht schlüssig aufteilen lassen. In solchen und anderen Fällen würde das Gemeinlastprinzip greifen, nach dem die Abb. 7/ 1: Umweltsteuern <?page no="247"?> öffentliche Hand anstelle des Verursachers einspringen muss. Nach dem Vorsorgeprinzip sollten Umweltbelastungen gar nicht erst entstehen (präventive statt kurierende Umweltpolitik). Hierfür gibt es viele praktische Beispiele, von Umweltverträglichkeitsprüfungen vor der Realisierung von Investitionen über TÜV-Prüfungen bis hin zum sog. Öko-Audit in Unternehmen. Nach dem Kooperationsprinzip sollte die Mitverantwortung und Mitwirkung aller Beteiligten sichergestellt werden. Damit soll tendenziell privater Initiative der Vorrang vor staatlicher Intervention gegeben werden. Zur Umsetzung stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung. In jedem Fall werden Umweltauflagen erforderlich sein, entweder als Gebot, bestimmte Handlungen zu unternehmen (Filtereinbau) oder als Verbot, um bestimmte Handlungen zu unterlassen (Müllablagerung im Wald). Ein Mindestmaß an staatlicher Intervention ist unabdingbar. Grundsätzlich gehört in diesen Ansatz auch ein Umwelthafff tungsrecht im Sinne einer Gefährdungshaftung, wie es spektakulär bei Tankerunfällen deutlich wird. Sog. «Öko-Labelling» - Kennzeichnungsmöglichkeiten von Produkten - kann sowohl staatlicherseits vorgeschrieben werden als auch freiwillig privat durchsetzen: Man denke z.B. an den Grünen Punkt oder den Blauen Engel. Umweltabgaben (Öko-Steuern) sind klare marktwirtschaftliche Instrumente mit dem Ziel, externe Kosten zu internalisieren. Sie bieten den Anreiz, durch Verzicht auf Umweltbelastungen entsprechende Abgaben zu sparen. Andererseits machen sie die Umweltbelastung auch käuflich, was bei irreparablen Schäden (Klimaerwärmung) bedenklich ist. Ökonomisch gesprochen hängt die Vermeidung also von der Preiselastizität des Individuums ab. Auch hier stellt sich die Frage nach der «richtigen» Steuerhöhe, die von der - nur zu erratenden - Höhe der Umweltkosten bestimmt werden müsste. Bei Überlegungen zu einer ökologischen Steuerreform stellen sich zudem eine Vielzahl anderer Probleme, da Umweltsteuern grundsätzlich aufkommensneutral sein sollten, also keine fiskalische Komponente enthalten dürften. Gesamtwirtschaftlich dürfen sie zu erheblichem Strukturwandel beitragen. Ein konzeptionell überzeugender sind Umweltzertifikate bzw. Emissionsrechte. Es handelt sich dabei um marktfähige Rechte - die man also kaufen bzw. verkaufen kann -, die Umwelt zu belasten. Wer viel davon benötigt, muss viele Zertifikate kaufen; steigende Nachfrage wird den Preis treiben. Die Gesamtmenge der Belastungen ist dabei begrenzt, in Abhängigkeit vom Stand des Wissens (Mengenlösung), im Gegensatz zum Steueransatz, wo keine absolute Belastungsgrenze definiert werden kann: Wer viel zahlt, kann viel Dreck machen (Preisansatz). Umweltzertifikate können frei verteilt oder 7.3. Einige Prinzipien d und Instrumente 217 <?page no="248"?> 218 7. l h Umweltschutz versteigert werden. Der Mengenansatz enthält sowohl methodische (Bewertungs-)Probleme als auch juristische Fallstricke (u.a. kartellrechtlicher Art) als auch - insbesondere - praktische Probleme, da man die Zertifikate an Umwelt-Börsen handeln muss. Tendenziell zeigen die Umweltzertifikate bereits Wirkung (Abb. 7/ 2). 7.4. Beurteilungskriterien Bei der Beurteilung von Umweltschutzmaßnahmen ist ein vielschichtiges Spektrum von Kriterien anwendbar. Im Vordergrund sollten ökologische Überlegungen stehen, so dass die Abwägung von alternativen Maßnahmen in erster Linie von den konkreten Wirkungen auf den Umweltschutz ausgehen sollte. Hierzu kommen ordnungspolitische Erwägungen, indem ordnungsrechtliche (staatliche) Maßnahmen den marktwirtschaftlichen (privaten) Maßnahmen gegenüberzu- Abb. 7/ 2: Umwelt-Emissionen a: Emissionen 1 "&." %$+ )/ =**=-.*+$%! ($ <?page no="249"?> stellen sind. Im günstigsten Fall sollten sich aus Umweltmaßnahmen auch dynamische Anreize zu weiteren Verbesserungen ergeben. In technischer Hinsicht stehen dabei sog. «End-of-Pipe»-Lösungen, die am Ende der Verursacherkette das Symptom bekämpfen und meist 7.4. l k Beurteilungskriterien 219 b: Emissionen 2 c: Emmissionen 3 <?page no="250"?> 220 7. l h Umweltschutz teuer sind (nachträglicher Katalysatoreinbau), neben integrierten Lösungen, die das Problem z.B. bereits im Konstruktionsprozess vermeiden. Ein wichtiger Aspekt sind die Auswirkungen von Umweltschutzmaßnahmen auf die Wettbewerbssituation der Wirtschaft. Befürchtungen bestehen insbesondere bezüglich negativer Wettbewerbseffekte im Vergleich mit Unternehmen aus Ländern mit laxeren Umweltpolitiken («Umwelt-Dumping»). Daraus leiten sich Befürchtungen hinsichtlich der inländischen Beschäftigung ab, bis hin zum - recht seltenen - Extrem der «Industrieflucht» in Länder mit weniger strikten Umweltbestimmungen. Für solche Standortverlagerungen sind i.d.R. andere Faktoren sehr viel wichtiger als die Kosten von Umweltauflagen (u.a. Lohnkosten, Marktnähe). Ein wichtiger Aspekt in internationaler Hinsicht ist auch der sog. «Öko-Protektionismus». Damit bezeichnet man handelsbehindernde Maßnahmen, die nur unter dem Vorwand des Umweltschutzes erfolgen. Trotz des Kostenaspekts sind Ökonomie und Ökologie jedoch keine Gegensätze, sondern gut miteinander verträglich, obgleich es natürlich einige Konfliktbereiche gibt. Umweltschutz kann in. vieler Hinsicht zu Kosten- und Wettbewerbsvorteilen führen, sei es durch kostensenkende Techniken, sei es durch bessere Vermarktungsfähigkeit umweltfreundlicher Produkte. Die (gesamtwirtschaftliche! ) Job- Killer-These des Umweltschutzes wird in der Diskussion meist dramatisch und zu unrecht überzeichnet. 7.5. Perspektiven In der Bevölkerung ist in vielen Ländern seit Jahren ein wachsendes ökologisches Bewusstsein festzustellen. Da Umweltprobleme jedoch - wie erwähnt - nur teilweise national begrenzt sind, muss sich Umweltschutz auch auf internationaler Ebene vollziehen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer entsprechenden rechtlichen Verankerung, wobei nationale, internationale und supranationale Umweltnormen kompatibel gestaltet werden müssen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und die Durchsetzung der Normen zu ermöglichen. Während produktbezogene Umweltstandards z.B. als Bedingung für die Zulässigkeit von Importen relativ problemlos angewendet werden können - sofern sie auch für inländische Güter gelten - gilt dies nicht für Normen, die den Produktionsprozess betreffen. Vielleicht ist dem Leser der damalige sog. Thunfischstreit zwischen den USA und Mexiko bekannt: Die USA haben dabei im GATT einen bereits klassischen <?page no="251"?> Rechtsstreit verloren, weil sie den Import von Thunfischen verbieten wollten, die nicht mit delphinsicheren Netzen gefischt waren: Die Vorschrift bezog sich also nicht auf die Thunfische, sondern auf die Netze, d. h. auf die Fangmethode. Dies ist unzulässig. Das internationale Umweltrecht ist gegenwärtig noch sehr zersplittert, aber es gibt eine Vielzahl internationaler Abkommen, die teils mehr, teils weniger gut in der Praxis «greifen». Zu diesen Verträgen zählen Abkommen über den Schutz der Erdatmosphäre (u.a. das Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung, das Wiener Übereinkommen und das Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht, die Konvention über Klimaänderungen der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro), das Kyoto-Protokoll zur Reduktion der CO2-Emissionen, verschiedene Abkommen zum Schutz der Meere und Ozeane (u.a. die UN-Seerechtskonvention), Abkommen zum Schutz der Lebensräume (z.B. verschiedene Artenschutzabkommen, der Antarktisvertrag, das Basler Müllabkommen, das Tropenholzabkommen, die UN-Konvention für die Rückdrängung von Wüsten) und andere mehr. Die kurzen Ausführungen zeigen, dass zwischen Theorie und Praxis des Umweltschutzes - national wie international - beträchtliche Lücken klaffen. Umso wichtiger ist es, sich mit dieser Problematik ausführlicher auseinanderzusetzen, als es im Rahmen dieses Überblicks möglich ist. 7.5. k Perspektiven 221 <?page no="252"?> 222 8. Weitere l Zielsetzung dder h f l k Wirtschaftspolitik 8. Weitere Zielsetzung der Wirtschaftspolitik Wirtschaftspolitik bedeutet die Verfolgung ökonomischer Ziele insbesondere durch staatliches Handeln. In den vorangehenden Kapiteln sind die wichtigsten Ziele behandelt worden, die man üblicherweise als «wirtschaftspolitisch» klassifiziert. Damit ist der mögliche Zielkatalog jedoch keineswegs erschöpfend dargestellt. Neben dem Magischen Viereck, das immer wieder im Zentrum der Analysen steht, sowie dem Verteilungs- und dem Umweltschutzziel - deren Einbeziehung zu einem Magischen Fünf- oder Sechseck führt (vgl. auch Kap. 16 zu Zielkonflikten) - sind weitere Zielsetzungen für die Wirtschaftspolitik von Bedeutung, die gleichfalls einen ökonomischen Kern und ökonomische Konsequenzen haben, jedoch auch im Kontext mit umfassenderen gesellschaftspolitischen Überlegungen zu sehen sind. Hierzu zählen u.a. auch die Bildungspolitik und die Forrr schungspolitik. 8.1. Bildung und Forschung Forschung und Bildung können nicht klar gegeneinander abgegrenzt werden; das ist in diesem Zusammenhang hier auch nicht erforderlich. Bildungspolitik kann dabei durchaus als Oberbegriff gelten und erstreckt sich auf primäre und weiterführende Aus- und Fortbildungssysteme aller Art, einschließlich Schulen, Hochschulen und privaten beruflichen Bildungsinstitutionen, und schließt auch die universitäre und industrielle Forschung ein. Bildungspolitik hat eine ökonomische Qualität: Bildungspolitik ist - allgemein gesprochen - die Entscheidung über die Investition von finanziellen, personellen und sachlichen Ressourcen in das sog. Humankapital. Diese vollzieht sich sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene. Das Wissen über die Zusammenhänge zwischen der Qualität des Produktionsfaktors Arbeit, wie man das Humankapital auch nennen kann, und der ökonomischen Entwicklung ist nicht sehr ausgeprägt. Ein allgemeiner Zusammenhang besteht darin, dass eine Erhöhung der Qualität des Humankapitals eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität bedeutet und sich über den technischen Fortschritt auch produktivitätssteigernd auf die andern Produktionsfaktoren (Sachkapital, Boden) überträgt. Neben der Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten kann Aus- und Fortbildung dabei auch «Sekundärtugenden» vermitteln wie Leistungsbereitschaft oder Durchsetzungsvermögen oder andere <?page no="253"?> 8.1. ld Bildung d und h Forschung 223 „soft skills“. Neben den direkten Bildungseffekten für das betreffende Individuum können sich auch „spill-over“-Effekte ergeben, wenn die Ausgebildeten quasi als Multiplikator wirken und Kenntnisse und Fertigkeit in ihrem sozialen Umfeld weitergeben können. Diese informellen Bildungsimpulse - als positive externe Effekte - haben eine zwar kaum abzuschätzende, sicherlich aber eine stark positive Wirkung vor allem in Entwicklungsländern. In Abschnitt 2.5.5.3 wurde bereits auf Ansätze der sog. Neuen Wachstumstheorie hingewiesen, die eben diesen Faktoren - Bevölkerungsentwicklung, technischer Fortschritt und Bildung bzw. Humankapital - eine zentrale Rolle beimessen und insbesondere das sich aus der Anwendung von Wissen wiederum ableitende Wissen - learning-by-doing oder endogener technischer Fortschritt - als bedeutende Einflussgröße darstellen. Für eine ökomomisch sinnvolle Ausnutzung des Humankapitals ist die Vollbeschäftigung des Produktionsfaktors Arbeit erforderlich, andernfalls werden Ressourcen nicht genutzt und Wachstumsmöglichkeiten vergeben, was sich nur sehr wenige Länder leisten können. Bildungsinvestitionen, die nicht lokal (d.h. im betreffenden Land) genutzt werden können, sind - so gesehen - unproduktiv. In vielen Entwicklungsländern ist zu beobachten, dass Universitätsabsolventen nach ihrem Studium keine (attraktiven) Beschäftigungsmöglichkeiten im eigenen Land finden und ins Ausland gehen (sog. brain drain). n Für die aufnehmenden Länder bedeutet dies also einen positiven externen Effekt, weil sie die Ausbildung nichts gekostet hat. In zunehmendem Maße ist auch in Deutschland und anderen Industrieländern zu beobachten, dass qualifizierte Fachleute ins Ausland abwandern. Dies ist ein bedenkliches Phänomen. Ebenso bedenklich ist aber auch die suboptimale Ausnutzung des „potentiellen Humankapitals“, weil die in unseren Kindern steckenden Ressourcen in unseren Schul- und Hochschulsystemen nicht in einer Weise entwickelt werden, dass wir damit im internationalen Vergleich mit an der Spitze stünden. Wir wollen hier nicht den Sinn und Zweck der Pisa-Studien diskutieren, aber ich bin Vater dreier Kinder und seit über 30 Jahren Hochschullehrer und glaube zu wissen, wovon ich spreche. Eine Verbesserung der Bildungssituation müsste - das ist eine plausible Hypothese - positiv mit wirtschaftlichem Wachstum korrelieren, und zwar in beiden Richtungen: Bildung stimuliert ökonomisches Wachstum, Wachstum ermöglicht höhere Bildungsinvestitionen. Der ursächliche Zusammenhang, dass bessere Bildung das Wachstum anregt, ist noch am ehesten für die Primärbildung nachzuweisen, wobei dieser Effekt in ärmeren Ländern (Entwicklung sländern) deutlicher ist als in reichen (Industrieländern). Aber auch Investitionen in die <?page no="254"?> 224 8. Weitere l Zielsetzung dder h f l k Wirtschaftspolitik höhere Bildung, die nicht im «brain drain» resultieren, haben in Entwicklungsländern messbarere Effekte als in Industrieländern. Dort ist hingegen der Einfluss der inländischen Forschung - insbesondere auch der industriellen Forschung - auf das Wachstum deutlicher zu beobachten. Hinsichtlich einer branchenmäßigen Differenzierung, die ja auch Implikationen für die Forschungs- und Bildungspolitik sowie ggf. für eine gezielte Industriepolitik hätte, gibt es jedoch praktisch (noch) keine quantifizierbaren Resultate. 8.2. Andere sozio-ökonomische Ziele Das Beispiel der Bildungspolitik, die wesentliche nicht direkt «ökonomisierbare» Komponenten hat, verdeutlicht, dass die Grenze zur «reinen» Wirtschaftspolitik fließend ist. Die Unmöglichkeit der strikten Abgrenzung zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Aspekten wird unterstrichen, wenn man weitere, als. wirtschaftspolitisch verstandene Ziele heranzieht: die Versorgung der Bevölkerung mit Kollektivgütern (durch den Staat); der rationalere Einsatz von Produktionsfaktoren durch Förderung des Wettbewerbs, koordinierende Planung und Erhöhung der Mobilität; die Verbesserung der Qualität des Lebens. Alle diese Ziele - so unbestimmt sie in dieser Form auch sind - haben durchaus eine wirtschaftliche Komponente, im Sinne von erforderlichen Inputs für ihre Entwicklung und Nutzung und im Sinne von Outputs im Sinne von nutzbaren Potentialen, doch sind sie nicht oder weniger durchsetzt mit ökonomischen Aspekten. Dies gilt auch für das aus heutiger Sicht zunehmend genannte Ziel der Verringerung der Abhängigkeit vom Ausland, das u.a. auch eine deutliche sicherheitspolitische Komponente beinhaltet. 8.3. Sektorale und regionale Ziele Dies beleuchtet gleichzeitig ein systematisches Problem, da es - auch im eindeutig ökonomischen Bereich - nicht immer möglich ist, klar zwischen Zielen und Mitteln zu trennen. Insgesamt gesehen dürfte die Wirtschaftspolitik instrumentalen Charakter haben im Hinblick auf übergeordnete Ziele wie Sicherung der Existenzgrundlage bzw. für andere, eher gesellschaftspolitische Ziele wie Gerechtigkeit und Gleichbehandlung und soziale und politische Stabilität. Innerhalb des wirtschaftspolitischen Bereichs wiederum hat - im Hinblick auf <?page no="255"?> die Verfolgung der wirtschaftspolitischen Ziele - z.B. die Geldpolitik eindeutig instrumentalen Charakter. Wie aber sieht es mit regionaler Strukturpolitik aus? Stellt sie einen eigenen Zielbereich dar, oder ist sie Mittel im Hinblick auf die Verfolgung von Wachstums- oder Verteilungszielen? Was ist mit Sozialpolitik, Familienpolitik, Steuerpolitik? Der Begriff «Politik» ist in diesem Zusammenhang auch nicht sonderlich hilfreich. Einmal wird er im Zusammenhang mit Zielen verwendet (Wachstumspolitik), zum anderen für bestimmte Instrumente (Geldpolitik), schließlich für Instrumentengruppen (Importpolitik), für Sektoren (Landwirtschaftspolitik) oder Zielgruppen (Verbraucherpolitik). Wir wollen dieses Problem hier nicht überstrapazieren, doch ist es nicht unwesentlich zu erkennen, dass Ursachen und Wirkungen bzw. Mittel und Ziele sich vielfach nicht scharf trennen lassen und zum Teil auch gegenseitig beeinflussen. Dies bedeutet aber auch, dass einzelne Problembereiche wie Strukturpolitik oder Wettbewerbspolitik hier nicht für sich betrachtet werden. Innerhalb eines Zielsystems wäre z.B. Wettbewerbspolitik inhaltlich u.a. verbunden mit der Ordnungspolitik (Sicherung und Ausbau der Marktwirtschaft), aber auch mit der Wachstums- und Stabilitätspolitik. Wettbewerbspolitische Ziele wiederum wären zu verfolgen mit ordnungspolitischen Maßnahmen (Gesetzgebung), mit ablaufpolitischen wie z.B. finanzpolitischen Instrumenten (Steuern, Subventionen), aber auch mit geldpolitischen Maßnahmen (Zinsen), wobei ein analoges Instrumentarium bei der Betrachtung der Strukturpolitik zu beleuchten wäre. Wir wollen es daher bei der bisherigen Beschreibung des Zielkatalogs belassen, wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, dass sich daraus keine Zielhierarchie ableiten lässt; dieses ist eine politische Aufgabe. Nach der Erläuterung des Zielsystems sowie der Ursachen und Konsequenzen von Zielabweichungen ist nun das Instrumentarium darzustellen, mit dessen Hilfe die wirtschaftspolitischen Ziele erreicht werden sollen. Die Formulierung von Zielen und der Einsatz von Instrumenten zu ihrer Erreichung hängen natürlich von (wirtschafts-)politischen Grundüberlegungen ab. Bevor daher die Wirkungsweise der wichtigsten finanz- und geldpolitischen Instrumente dargestellt wird, sollen zunächst alternative wirtschaftspolitische Auffassungen skizziert werden. Erst im V. Teil des Buches wird auf Zielkonflikte eingegangen. Dies ist deshalb sinnvoll, weil dabei teilweise auf wirtschaftspolitische Konzeptionen zurückgegriffen wird, die Gegenstand des folgen- 8.3. k l Sektorale d und l regionale l Ziele 225 <?page no="256"?> 226 8. Weitere l Zielsetzung dder h f l k Wirtschaftspolitik den III. Teils sind, teilweise werden instrumentale Fragen wie z.B. Wechselkurssysteme berührt, die erst im IV. Teil betrachtet werden. Zunächst erfolgt also eine Skizzierung alternativer wirtschaftspolitischer Konzeptionen. <?page no="257"?> III. Teil: Wirtschaftspolitische Konzeptionen 9. Alternative Grundpositionen Innerhalb marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnungen gibt es neben der Vielzahl möglicher Marktformen und entsprechender Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte auch alternative Konzepte, wie die Volkswirtschaft grundsätzlich ordnungspolitisch zu gestalten und durch ablaufpolitische Maßnahmen zu beeinflussen ist. Im folgenden werden zunächst einige Etappen in der Entwicklung der Wirtschaftsordnungen nachgezeichnet. Daran schließt sich eine Darstellung einiger wichtiger ordnungs- und wirtschaftspolitischer Konzeptionen an, die bis heute Gegenstand prinzipieller politischer Auseinandersetzungen sind. 9.1. Historische Vorläufer Die ersten zusammenhängenden konzeptionellen Überlegungen zur Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik gehen auf die Merkantilisten im 16. und 17. Jahrhundert zurück. Sie entwickelten Zielvorstellungen, wie die Wirtschaft zum Zweck der Mehrung des Reichtums der Fürsten zu gestalten und zu beeinflussen sei. Die Bezeichnung (mercantium (lat.) = Handel) verdeutlicht den Hauptansatzpunkt: Die Merkantilisten befürworten eine Stärkung des (Außen-)Handels mit dem Ziel eines Exportüberschusses (aktive Handelsbilanz), u.a. durch Schutzzölle und inländische Gewerbeförderung. In England beispielsweise durften nach der Navigationsakte von 1651 Importe nach England nur mit englischen Schiffen durchgeführt werden. Die deutsche Version des Merkantilismus bezeichnet man als Kameralismus (camera (lat.) = (Schatz-)Kammer eines Fürsten). Dieser entwickelte wesentliche Elemente des Steuerwesens sowie differenzierte Grundsätze für die öffentliche Verwaltung, die beispielsweise in Form der sog. kameralistischen Buchführung bis zum heutigen Tage die Bundes-, Landes- und Gemeindehaushalte prägen. Die vorrangig finanzorientierten Überlegungen der Merkantilisten bzw. Kameralisten wurden ergänzt durch die Lehren der Physiol <?page no="258"?> d 228 9. Alternative Grundpositionen kraten (etwa bis Mitte des 18. Jahrhunderts). So entwickelte François Quesnay ein als «tableau économique» bekannt gewordenes Kreislaufmodell mit den Komponenten Entstehung, Verwendung und Verteilung, das die historische Grundlage für die Konzepte des Sozialprodukts darstellt. Die Physiokraten betonten die Bedeutung der Natur (Physiokratie = «Herrschaft der Natur») und wandten sich gegen staatliche Reglementierungen der Wirtschaft, einschließlich des Außenhandels. Damit wurden sie zu Wegbereitern des klassischen Liberalismus, der allerdings das Schwergewicht von der Landwirtschaft auf die neu entstehende Industrie verlagerte (z.B. Adam Smith, David Ricardo) und u.a. Freihandel, ungehinderten Wettbewerb und Garantie des Privateigentums forderte. Diese ökonomischen Konzepte überschneiden sich offensichtlich mit staatstheoretischen Überlegungen hinsichtlich der Aufgaben und Grenzen staatlichen Handelns und - etwas philosophischer - auch mit Überlegungen hinsichtlich der Stellung des Individuums in der Gesellschaft: So ist der klassische (wirtschaftliche) Liberalismus ja nachdrücklich vom (grundsätzlichen! ) Freiheitsgedanken geprägt; frühe Wirtschaftstheoretiker wie Thomas Hobbes, John Locke, Jeremy Bentham oder auch Adam Smith waren in erster Linie berühmte Philosophen. Vor dem Hintergrund der Probleme des beginnenden industriellen Zeitalters entstanden dann zwei alternative Konzepte. Auf der einen Seite stand der (wissenschaftliche) Sozialismus, insbesondere vertreten durch Ferdinand Lasalle, Karl Marx und Friedrich Engels ll , die Privateigentum und individuellen Wettbewerb ablehnten. Hieraus entwickelte sich in Deutschland der sog. Kathederrr Sozialismus (u.a. Gustav Schmoller, Adolph rr Wagner, Werner rr Sombart) t mit der Betonung staatlicher Sozialverantwortung und der Entwicklung einer Sozialpolitik. Diese Denkschule wird auch als Historismus bezeichnet. Auf der anderen Seite entstand in Weiterentwicklung der klassischen liberalistischen Dogmen (Klassik) zunächst die (Grenz-)Nutzenschule, die eine stark mathematisierte Vertiefung der ökonomischen Mikrotheorie hervorbrachte (Heinrich Gossen, Carl Menger, Vilfredo rr Pareto, Alfred Mars rr hall) l und insgesamt eine marktwirtschaftliche Orientierung bedeutete. Die Wiederentdeckung klassischen Gedankengutes nach dem II. Weltkrieg wird als Neo-Klassik bezeichnet. In der Diskussion darüber, ob und wie die Wirtschaft durch staatliche Wirtschaftspolitik zu beeinflussen sei, stehen sich gegensätzliche Positionen gegenüber, die insbesondere mit drei Begriffspaaren zu kennzeichnen sind: <?page no="259"?> • Klassiker versus Keynesianer, • Nachfragetheoretiker versus Angebotstheoretiker und • Monetaristen versus Fiskalisten. Die damit verbundenen Auffassungen überschneiden sich teilweise beträchtlich. Dies wird in den folgenden Abschnitten ausführlicher dargestellt. 9.2. Klassik und Keynes (1) Grundpositionen der Klassik Die ersten Überlegungen zur Steuerung bzw. besser: Beeinflussung von Marktprozessen gehen wohl auf Adam Smith (1723-1790), David Ricardo (1772-1823) und John Stuart Mill (1806-1873) zurück. Sie sind aber vor dem Hintergrund der «industriellen Revolution» Englands in einem völlig anderen gesellschaftspolitischen Kontext zu sehen als heute. Grundprinzip dieser als Klassik bezeichneten Wirtschaftsphilosophie ist der freie marktwirtschaftliche Wettbewerb auf den Güter- und Faktormärkten mit dem Marktpreis als Regelmechanismus («unsichtbare Hand»). Nach klassischer Auffassung tendieren marktwirtschaftlich strukturierte Märkte bei Störung wieder zum Gleichgewicht (Stabilitätshypothese oder Harmonieprinzip). Nach dem klassischen Konzept kann es dauerhaft weder Unterbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt noch zuviel oder zuwenig Investitionen oder Konsum noch sonstige Wirtschaftskrisen geben. Tatsächlich auftretende Störungen seien auf Unvollkommenheiten des Marktes ff zurückzuführen. Wenn diese beseitigt werden, wird sich ein neuer (stabiler) Gleichgewichtszustand herausbilden. Die Aktivitäten des Staates können sich daher auf Schaffung und Erhaltung von Rahmenbedingungen beschränken, innerhalb derer die Wirtschaftssubjekte völlig autonom entscheiden und handeln können (« laissezfaire-Wirtschaft», von Ferdinand Lassalle als «Nachtwächterstaat» verspottet). Privates Eigentum, auch an Produktionsmitteln, wird garantiert. Dieses wirtschaftspolitische Konzept bezeichnet man als klassischen Liberalismus. (2) Bedingungen der «Vollständigen Konkurrenz» Im Zeitablauf erfuhr dieses Grundkonzept, das ja vor dem sozioökonomischen Hintergrund Englands im 18. und 19. Jahrhundert entstanden war, eine Fülle von Erweiterungen und Verfeinerungen bis hin zum 9.2. Klassik und Keynes 229 9.2. Klassik und Keynes 229 <?page no="260"?> l d 230 9. Alternative Grundpositionen neoklassischen Modell der vollkommenen Konkurrenz. Dieses Modell geht von einer Reihe - teilweise sehr realitätsferner - Annahmen aus: • Einmal muss es sich um einen Markt in der Marktform Polypol handeln, bei der sich jeweils eine große Anzahl machtmäßig sehr kleiner Anbieter und Nachfrager gegenüberstehen. • Dieser Markt muss für alle Marktteilnehmer transparent und offen sein, • und sie müssen sich mit (unendlich) großer Reaktionsgeschwindigkeit an Marktveränderungen anpassen. • Die betrachteten Güter bzw. Faktoren müssen homogen (gleichartig) sein, z.B. darf es keine Produktdifferenzierungen geben. • Die Marktteilnehmer dürfen keine persönlichen, räumlichen oder sonstigen Präferenzen haben, d.h. es muss ihnen egal sein, bei wem und wo sie kaufen bzw. verkaufen, lediglich der Preis ist entscheidungsbestimmend. • Hinzu kommen noch eine Reihe weiterer, teilweise recht formaler Nebenbedingungen, auf die hier nicht eingegangen werden soll. (3) Grundpositionen von Keynes 1936 erfolgte dann eine «Revolution» in der ökonomischen Theorie mit dem Hauptwerk von John Maynard Keynes (1883-1946), der «Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes». 32 Keynes ging unter dem Eindruck der mit der Weltwirtschaftskrise von 1929-1933 verbundenen, sehr konkreten. und dauerhaften Massenarbeitslosigkeit davon aus, dass destabilisierte Märkte entgegen der Ansicht der Klassiker und Neoklassiker eben nicht immer aus eigener Kraft die Störung beseitigen, sondern diese dauerhaft bestehen bleiben können. Nach der klassischen Theorie hätte der Arbeitsmarkt über den Preismechanismus, d.h. hier: über Lohnsenkungen zur Vollbeschäftigung zurückfinden müssen. Wegen der tariflich abgesicherten, nach unten starren Löhne geschieht dies jedoch nicht. Zur Wiedererlangung der Vollbeschäftigung sind daher Eingriffe des Staates erforderlich (vgl. auch Kap. 3). Hierfür bieten sich prinzipiell sowohl geldals auch finanzpolitische Instrumente an. Nach Auffassung von Keynes ist die Geldpolitik jedoch weniger geeignet, die angestrebten nachfrageanregenden Effekte auszulösen. Er setzt daher auf finanzpolitische Maßnahmen, vor allem auf direkte, durch zusätzliche Staatsausgaben, u.U. über zusätzliche Verschuldung («de- 32 Man sagt, Keynes habe sehr angestrengt nach einem Dissertationsthema gesucht - und dies sei das Ergebnis. <?page no="261"?> ficit spending») finanzierte nachfrage- und beschäftigungswirksame Maßnahmen. Keynes plädiert also im Gegensatz zu der oft stark verkürzten, als «Vulgärrr Keynesianismus» zu bezeichnenden Darstellung nicht für einen Verzicht auf Geldpolitik, sondern weist dieser nur eine untergeordnete, ergänzende Rolle zu (Abb. 9/ 1). Während für die Klassiker und Neoklassiker die langfristige Perspektive und der effiziente Einsatz der Produktionsfaktoren und Wachstum und Verteilung des Sozialprodukts im Vordergrund standen, war für Keynes insbesondere der Beschäftigungsaspekt in kurzer und mittlerer Sicht von Bedeutung. Die Theorie(n) von Keynes wurden im Zeitablauf zu einer Mehrzahl Post- und Neo-keynesianischer Theorien 33 weiter entwickelt. Das Gedankengut von Keynes kann hier nicht in Einzelheiten dargestellt werden, insbesondere nicht bezüglich seines berühmten IS/ LM-Kurven-Modells, mit dem er anhand von Investitionen (I), Sparen (S), Liquidität (L) und Geldmenge (M) u.a. seine Zins-, Geld-, Beschäftigungs- und Einkommenstheorien darstellt. Allein dies würde den Rahmen des Buches sprengen; hierzu existiert umfangreiche Literatur. Wir müssen uns hier auf einige Stichworte beschränken. Keynes‘ Überlegungen, auch in marktwirtschaftliche Prozesse staatlicherseits einzugreifen, basieren prinzipiell auf Überlegungen, die als Theorie des Marktversagens bekannt sind. Während die klassische Theorie i. e. S. aufgrund der erwähnten Stabilitäts- und Harmoniehypothese davon ausgeht, dass sich Störungen im Markt von selbst und mit positiven Wirkungen durch die Marktkräfte beheben werden, zeigt(e) sich in der Realität, dass eine Vielzahl von Entwicklungen sich tendenziell vom Markt-Ideal wegbewegten. Hierzu zählen u.a. folgende Aspekte: Erstens verteilt sich die Marktmacht - i. S. v. Möglichkeit, das Marktgeschehen im eigenen Sinne zu beeinflussen - nicht gleichmäßig auf alle Marktteilnehmer, sondern es sind Machtkonzentrationen möglich. Zweitens werden die Produktionsfaktoren nicht automa- 33 «Post-» = «Nach-»; «Neo-» = «Neu-». %"0% %(#* 2+($ ,*& 10.-(&0/ *%$&&)#'/ $ 4%20-+-%"% $(, 32./ &%$) / "(1*( *(1 )-% ,*( -(&%-%$%-'(*++*( ! 2/ )*(0*,-(1$(1*( #$&2))*( Abb. 9/ 1: Keynesianismus aus Sicht der Angebotstheorie 9.2. Klassik und Keynes 231 9.2. Klassik und Keynes 231 <?page no="262"?> l d 232 9. Alternative Grundpositionen tisch den Verwendungszwecken zugeleitet, wo sie am produktivsten eingesetzt werden können. Drittens ist es möglich, aus dem Marktgeschehen Nutzen zu ziehen, ohne dafür bezahlen zu müssen («Trittbrettfahrer»); das klassische Beispiel hierfür ist die Straßenbeleuchtung oder die nationale Sicherheit, für die kaum jemand freiwillig etwas bezahlen würde und die folglich als typische öffentliche Güter in einer Art «Umlageverfahren» über die Steuern finanziert werden. Umgekehrt ist es möglich, andere mit den negativen Auswirkungen des eigenen Handelns zu belasten, ohne hierfür die Kosten tragen zu müssen (z.B. durch ungeahndete Umweltverschmutzung). In diesen beiden Fällen spricht man von positiven (Straßenbeleuchtung) bzw. negativen (Umweltverschmutzung) externen Effekten. Viertens ist es möglich, dass Marktteilnehmer in diesem «ökonomischen Dschungelkampf» - ohne ein soziales Netz - «durch die Maschen fallen», unterliegen, zerstört werden. Es gibt noch weitere Gesichtspunkte, doch die angeführten Beispiele dürften die Problematik verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund ist das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu sehen. 9.3. Deutschland: von der (Neo-)Klassik zur Sozialen Marktwirtschaft Im folgenden werden einige wichtige Konzepte innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft erläutert. Abb. 9/ 2 und 9/ 3 enthalten eine Zusammenfassung der wesentlichen Komponenten. (1) Liberale Grundlagen Das klassische Modell eines fiktiven vollkommenen Marktwettbewerbs wurde unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933, aber auch des Dritten Reiches von der sog. Freiburger Schule (u.a. vertreten von Walter Eucken, Leonhard Miksch, Franz Böhm und Hans Großmann-Dörth) und anderen Neo-Liberalen bzw. Ordo-Liberalen wie z.B. Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke wiederaufgegriffen und weiterentwickelt. Der Kapitalismus in dem Stile, wie er nach dem Ersten Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise geführt hatte, war für die breite Öffentlichkeit keine erfolgversprechende Konzeption. Das berühmte Ahlener Programm der CDU, an das diese heute nicht mehr sonderlich gern erinnert wird, führte noch 1947 aus, dass der Kapitalismus «den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden» sei. Der Wiederaufbau in der Bundesrepublik <?page no="263"?> Deutschland erfolgte daher von dem Hintergrund zweier Elemente: dem MarshallpPlan und der Währungsreform. (2) Nachkriegsimpulse Die 1947 auf Vorschlag des US-Außenministers George Mars rr hall eingeleitete Wirtschaftshilfe für Westeuropa («European Recovery $88C*5*>2* ? *22=*>.A*2 > 0! / CJ/ H.-HI] 1[YTV/ [UW&/ SW1-SW/ - E 8-[[- .&33 UUVP 1[YTT[3-SUW (Z3[! V0&3S-S4 ZW-/ WSZW1 E `[! 0-,W/ -/ W-W/ + ? &T1 <[O1[/ X >WO1W. aJBBHGJ@FD_ W1-QSY4W3- ! 1-W/ XW2 $S1X/ ! Y4 XW/ \W3-QS/ -.YT[V-.4/ S.W S1 XW1 HLW/ ? [T/ W1* .0K-W/ 2&XSR VSMSW/ - (: <*/ & B2, 9/ ED&? *@2*E>32*+7' "+B2,3223A5*2% E ^1.-[ZS3S-K- XW/ \S/ -.YT[V-] 4WS1W S22[1W1-W 7W1XW1M M! 2 b3WSYTUWQSYT- E X[TW/ W/ V&/ XW/ 3SYT+ 32D>=@; 8>E.A*E "*C*2ED*B*+2 X! / YT XW1 8-[[- E U3&Z[3W 'WWS1V3! ..! 1U XW/ UW.[2-QS/ -.YT[V-3SYTW1 ; [YTV/ [UW 2)U3SYT (: "8/ 038ED*B*+B2C7' $2E3D=-B2; D* B2, ! 2ED+B5*2D* E 6W/ K1XW/ ! 1U ,&1 8-[[-.WS11[T2W1 ! 1X R[! .U[ZW1 a8-[[-.T[! .T[3-_] X[TW/ : #>E; 38>E5BE7 E "S1[1M0&3S-S4N"S.4[30&3S-S4 QS/ 4- #ZW/ <! 3-S03S4[-&/ QS/ 4! 1UW1 [! V XSW ; [YTV/ [UW E ^2 (! V.YTQ! 1U 2#..W1 M! .K-M3SYTW 8-[[-.[! .U[ZW1 a>&15! 14-! / R ZMQP 'W.YTKV-SU! 1U.R 0/ &U/ [22W_ X! / YT 6W/ .YT! 3X! 1U VS1[1MSW/ - QW/ XW1 (: ,*)>.>D E-*2,>2C7' E 0/ S,[-W/ >&1.! 2 TK1U- ,&2 3[! VW1XW1 $S14&22W1 [Z E bW3X0&3S-S4 QS/ 4- 1! / [! V 43WS1W1 aMS1.[ZTK1USUW1_ 7WS3 XW/ ; [YTV/ [UW* ST/ W \S/ 4! 1UW1 .S1X ! 1.SYTW/ ! 1X -/ W-W1 1! / 2S- 6W/ M)UW/ ! 1UW1 WS1* X[TW/ 1! / $/ UK1M! 1U M! / "S1[1MR 0&3S-S4 6*>D*+* $223A5*2 E ^1V3[-S&1 QS/ X 1SYT- 2&1W-K/ W/ 43K/ -] .&1XW/ 1 [3. ; [YTV/ [UW.&UR &XW/ >&.-W1X/ ! Y4S1V3[R -S&1 &XW/ #ZW/ XW1 S1-W/ 1[-S&1[3W1 : / WS.M! .[22W1T[1U E %[. : / &X! 4-S&1.0&-W1-S[3 S.- UWUWZW1 E 'WS 6&33ZW.YTKV-SU! 1U S.- ^1V3[-S&1 V[.- ! 1,W/ 2WSXZ[/ a: TS33S0.4! / ,W_ E (/ ZWS-.3&.SU4WS- Z[! - .SYT QWUW1 1[YT ! 1-W1 .-[/ / W/ =)T1W 1SYT- ,&1 .W3Z.- [Z E 'WS 1[YT ! 1-W1 .-[/ / W1 ; &2S1[33)T1W1 ZWXW! -W- 9W[33&T1.W14! 1U E 0/ S,[-W 80[/ 1WSU! 1U S.- / W3[-S, 4&1.-[1-* $S14&22W1.K1XW/ ! 1UW1 V#T/ W1 X[TW/ M! ; [YTV/ [UWK1XW/ ! 1UW1 E 8-[[-.,W/ .YT! 3X! 1U QS/ 4- 1SYT- ,W/ X/ K1UW1X a4WS1 IY/ &QXS1U &! -C_ 9+/ 08*5* E .YT3WYT- UWWSU1W- M! / 'W4K20V! 1U ,&1 (1UWZ&-.R8YT&Y4. E 2S- 8-[UV3[-S&1 .YTQW/ M! ,W/ WS1Z[/ W1 E S1-W/ 1[-S&1[3W 6W/ V3WYT-! 1U ZWU/ W1M- 1[-S&1[3W 4&15! 14-! / ZWWS1V3! ..W1XW <[A1[T2W1 Abb. 9/ 2: Nachfragetheorie / Fiskalismus 9.3. Deutschland: von der (Neo-)Klassik zur Sozialen Marktwirtschaft 233 9.3. Deutschland: von der (Neo-)Klassik zur Sozialen Marktwirtschaft 233 <?page no="264"?> l d 234 9. Alternative Grundpositionen / OO! #9#S8# .#880#S%"#8 E A! NUV3S21SUK / ! 7T21&O2Z3SWN1SW31 7M(4++O1#6S74#4: 7879S: 6L$ J %WSNW 21! ! 1PS7TW C8P! &V5ZPS1SQK N&3 [36N&NU25ZPS1SQ J 21)1,1 2S7T ! &V %ZN,W51W 6W3 %P! 22S27TWN <TWZ3SW %M+47QO&66SQL$ ,GBG C6! O =OS1TM J V3)TW3 : W313W1W3E &G! G +GCG 0ZN (! -WQ J "ZNW1! 3S21WNE "SP1ZN +3SW6O! N %M; "S: &1749 (: "0O4L$ 59087&88&"948" J ASW 53S0! 1W 9S3127T! V1 S21 21! 8SPK 1WN6SW31 ,&O *PWS7TUW/ S7T1K 3WU&PSW31 2S7T )8W3 Y3WS2I &N6 "WNUWNWVVWQ1W 2WP821 J CN1S,-QPS27TW 21! ! 1PS7TW @SNU3SVVW XL21Z5 ! N6 UZHM 2SN6 NS7T1 >W! Q1SZNK 2ZN6W3N ; 32! 7TW V)3 %ZNR&NQ1&327T/ ! NQ&NUWND 2SW 8W6W&1WN ; N2S7TW3TWS1 V)3 6WN 53S0! 1WN =WQ1Z3 &N6 V)T3WN ,& +WTPWN127TWS6&NUWN J ]Z1/ WN6SUW X=13&Q1&3IMCN5! 22&NUWN 6W3 9S3127T! V1 / W36WN &G! G 6&37T SO : W3UPWS7T ,&3 C38WS1253Z6&Q1S0S1#1 ,& TZTW $\TNW &N6 $ZTNNW8WNQZ21WN 2Z/ SW ,& TZTW =1W&W3N &N6 C8U! 8WN UW27TO#PW31 J %ZN2&O T#NU1 0ZO ! &V A! &W3 W3/ ! 31W1WN @SNQZOOWN ! 8 XL5W3O! NWN1ISN7ZOWHI(-5ZI 1TW2WM ! 86&30<08Q34 087 28639094834 J : W321W1SU&NU 6W3 *WP6XOWNUWNMI &N6 +S2Q! P5ZPS1SQK ! &7T 8WS %ZNR&NQ1&327T/ ! NQ&NUWN J =1W&W3&NU2U3\FW S21 6SW *WP6OWNUW X6! TW3E M-7843&9S6906LM J ! &FWN/ S3127T! V1PS7TW C82S7TW3&NU 6W2 OZNW1#3WN =WQ1Z32 6&37T VPW.S8PW 9W7T2WPQ&32W J +SN! N,5ZPS1SQ W3U#N,WN6 V)3 213&Q1&3WPPW &N6 ! PPZQ! 1S0WK NS7T1 V)3 ! N1S,-QPS27TW QZNR&NQI 1&3WPPW C&VU! 8WN J 83! 7TWNO#FSUW &N6 2WQ1Z3! PW ASVVW3WN,SW3&NU 6W3 $ZTN213&Q1&3 SN C8T#NUSUQWS1 0ZN 6W3 C38WS1253Z6&Q1S0S1#1K QWSN @SNTWS121! 3SVPZTN J +PW.S8SPS2SW3&NU 6W3 C38WS12,WS1 J >W6&,SW3&NU 6W3 =1! ! 124&Z1W J C88! & 6W3 =1! ! 120W327T&P6&NU J >WVZ3O X=WNQ&NUM &N1W3NWTOWN28WP! 21WN6W3 C8U! 8WN J C88! & 21! ! 1PS7TW3 : Z327T3SV1WN %M849410OS49081L$ J C88! & 0ZN =&80WN1SZNWN ? 4S3494 ! 88&"948 J 'NVP! 1SZN S21 WSN OZNW1#3W2 YT#NZOWNE / WNN 6! 2 *WP6OWNUWN/ ! 7T21&O 6! 2 9! 7T21&O 6W2 Y3Z6&Q1SZN25Z1WN1S! P2 )8W321WSU1 X8! 2SW31 ! &V 6W3 ? &! N1S1#121TWZ3SWK 6! TW3 ! &7T M+47#)0&83S3'363"479S4L$ J C38WS12PZ2SUQWS1 S21 0Z33! NUSU 213&Q1&3WPP 8W6SNU1K Q! NN 0ZN QZNR&NQ1&3WPPW3 C38WS12PZ2SUI QWS1 )8W3P! UW31 / W36WN *97=O494 J @3VZ36W3PS7TW P! NUV3S21SUW %ZN1SN&S1#1 6W3 9S3127T! V125ZPS1SQ Q! NN 6&37T 5ZPS1S27TW : W3#NI 6W3&NUWN UW21\31 / W36WN J BW21WTWN6W =13&Q1&3WN &N6 *W/ ZTNTWS1WN X&G! G =&80WN1SZNWNM 2SN6 N&3 27T/ W3 ! 8,&I 8! &WN Abb. 9/ 3: Angebotstheorie / Monetarismus <?page no="265"?> Programme»; ERP) trat im März 1948 in Kraft. Zu ihrer Abwicklung wurde die Organization for European Economic Cooperation (OEEC) gegründet. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, wurde sie 1960 von der OECD (Organization for European Cooperation and Development) abgelöst. Die Mittel des Marshall-Plans für die Bundesrepublik waren - im Gegensatz zu Italien, Frankreich und Großbritannien, die Zuschüsse erhielten - ursprünglich Kredite, die diese - durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) - wiederum intern z.B. an Unternehmen weiterleitete. Die daraus resultierenden Tilgungen in DM flossen jedoch nicht in die USA zurück, sondern wurden für Neuausleihungen verwendet. Später wurden diese Gelder gegenüber den USA aus Bundesmitteln abgelöst und stehen noch heute - aufgestockt - als ERP-Sondervermögen des Bundes insbesondere auch für die neuen Bundesländer zur Verfügung. (3) Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhard realisierte 1948 die Wirtschafts- und Währungsreform, ab 1952 unterstützt durch seinen Chef-Theoretiker Alfred Müller-Armack als Staatssekretär. Die konzeptionelle Basis dafür leitete sich aus dem Ideengut der Sozialen Marktwirtschaft (im engeren Sinne) ab, die auf die geistigen Wurzeln neo- und ordoliberaler Konzepte zurückgriff und dem Staat eine im klassischen Sinne ordnende, glättende, soziale Funktion zuwies: Die Bezeichnung Soziale Marktwirtschaft war jedoch viel eingängiger. Grundsätzlich galt das Subsidiaritätsprinzip: Der Staat sollte als höhere Instanz nur eingreifen, wenn auf der individuellen Ebene der Marktkräfte keine Lösung möglich war. Der Hauptunterschied dieser Ansätze zum ursprünglich klassisch-liberalen Konzept ist darin zu sehen, dass dem Staat neben der Gestaltung und Erhaltung des Ordnungsrahmens auch Eingriffsfunktionen zukommen, um strukturellen Problemen wie z.B. der Bildung von monopolähnlichen Machtkonzeptionen entgegenzuwirken und sozial motivierte Auffangfunktionen auszuüben. Neo- und Ordoliberale orientieren sich dabei konsequenter am Ideal der vollkommenen Konkurrenz als Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft, 34 die ihrerseits die soziale Verantwortung der Wirtschaftspolitik stärker betonen. Grundelemente der Wirtschaftsordnung sind dabei Vertragsfreiheit, Wettbewerbsfreiheit, das Recht auf Privateigentum (auch an Produktionsmitteln), Gewerbefreiheit, Tarifauto- 34 Auf eingehendere Abgrenzungen zwischen Neo- und Ordo-Liberalismus und Sozialer Marktwirtschaft muss hier verzichtet werden. Vgl. hierzu die Literaturhinweise zu diesem Kapitel. hl d d l k l k h f 9.3. Deutschland: von der (Neo-)Klassik zur Sozialen Marktwirtschaft 235 <?page no="266"?> l d 236 9. Alternative Grundpositionen nomie, der Preismechanismus als Regelungsprinzip, eine autonome Zentralbank, freie Konsumwahl und freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes. Die Soziale Marktwirtschaft, so wie sie als Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik zu verstehen ist, wird von zwei zentralen Prinzipien gekennzeichnet: dem freiheitlichen Prinzip (Liberalismus) und dem sozialen Prinzip, welches das Freiheitsprinzip in gewisser Weise einschränkt. Nach dem Liberalismusprinzip besteht grundsätzlich Freiheit des Individuums hinsichtlich seiner Entscheidungen und Handlungen, insbesondere im Hinblick auf Berufswahl und Gewerbefreiheit, Bildung von Privateigentum, Vertragsfreiheit, Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz. Diese individuellen Freiheitsrechte finden dort ihre Grenzen, wo analoge Rechte anderer beeinträchtigt würden. Die Überwachung der Einhaltung dieser Grenzen ist Aufgabe des Staates. Das soziale Prinzip leitet sich daraus ab, dass einzelne Individuen in der Marktwirtschaft auch scheitern können. Um sie «aufzufangen», sind Maßnahmen des Staates erforderlich, insbesondere im Bereich von Sozialversicherung, Arbeitsschutz, Einkommens- und Vermögensbildung und -umverteilung, Verbraucherschutz, Wettbewerbssicherung und -kontrolle, Tätigkeit öffentlicher Unternehmen etc. Bei der Sozialen Marktwirtschaft (im weiteren Sinn), so wie sie von vielen Ordnungstheoretikern in der Bundesrepublik verstanden wird, sind die Handlungen des Staates, die über eine Regelung der Wirtschaftsordnung hinaus den Wirtschaftsablauf beeinflussen, kein Verstoß gegen die Grundprinzipien einer freien Marktwirtschaft. Sie sind vielmehr ordnungskonforme Maßnahmen, da eine Beeinflussung und Stabilisierung des Wirtschaftsablaufs die Verfolgung liberaler und sozialer Prinzipien fördert und erleichtert. (4) Globalsteuerung und Stabilitätsgesetz Das so umschriebene Konzept der Sozialen Marktwirtschaft im engeren Sinne erfuhr dann eine Ausweitung, indem durch Anlehnung an keynesianische Ansätze das staatliche Aufgabenspektrum neben der Ordnungspolitik auch stärkere ablaufpolitische Elemente umfasste. Vor dem Hintergrund der schweren Rezession von 1965-67 intensivierte sich eine Diskussion um eine bewusste staatliche Konjunkturbeeinflussung, die bereits Mitte der 50er Jahre u.a. von den wissenschaftlichen Beiräten beim Bundesfinanz- und -wirtschaftsministerium geführt wurde. Sie stützte sich auf Theorien von John Maynard Keynes, der unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise <?page no="267"?> dem Staat die Aufgabe zuwies, Marktversagen in Form von auftretenden konjunkturellen Schwankungen und insbesondere der sich nicht selbst abbauenden Massenarbeitslosigkeit durch makroökonomische (gesamtwirtschaftlich wirkende) Maßnahmen entgegenzuwirken (Globalsteuerung; der Begriff ist insofern irreführend, als es sich nicht um Steuerung im kybernetischen Sinne handelt, sondern allenfalls um Beeinflussung des Wirtschaftsablaufs). Keynesianisches Gedankengut einer staatlichen Konjunkturbeeinflussung lag auch bereits dem 1963 in Kraft getretenen «Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung» sowie dem 1964 noch von Ludwig Erhard eingebrachten Entwurf des «Gesetzes zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität» zugrunde. Dieses wurde dann 1967 von der Großen Koalition als «Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft» (kurz Stabilitätsgesetz genannt) verabschiedet, und mit einem keynesianischen Investitionsprogramm ging Wirtschaftsminister Karl Schiller bereits vor Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes gegen die Rezession vor. Ob dies den folgenden Konjunkturaufschwung ursächlich beeinflusste, ist umstritten. Nach diesem «Kurzen Flirt mit Keynes» (so das Handelsblatt), der tiefe Löcher in das Staatsbudget grub, ohne die Wirtschaft nachhaltig anzukurbeln - stattdessen stieg die Inflation gewann als Gegenkonzept die Angebotstheorie an Überzeugungskraft: 1976 überschrieb der Sachverständigenrat sein Gutachten mit «Zeit zum Investieren». (5) Staatliche Interventionen Probleme ergaben sich für eine global ansetzende Wirtschaftspolitik insbesondere in einer Situation, die man als Stagflation bezeichnet (vgl. auch Abschnitt 16.1), in der gleichzeitig Inflation und Arbeitslosigkeit auftreten: Allgemein beschäftigungsanregende Maßnahmen (Steuer- oder Zinssenkungen) fördern tendenziell den Preisauftrieb, preisdämpfende Maßnahmen verschärfen Beschäftigungsprobleme. Dies galt in der Bundesrepublik insbesondere in der Folge der Ölkrisen nach 1973 und 1979. Hinzu kommt, dass global ansetzende Maßnahmen wenig zur Lösung spezifischer mikroökonomischer, regionaler oder sektoraler Probleme beitragen konnten. Daher umfasste das staatliche Handlungsspektrum zudem im Zeitablauf mehr und mehr direkte Interventionen, nicht in Form von globalen, sondern von punktuellen Eingriffen in den Wirtschaftsablauf. Die gegenwärtige Wirtschaftsordnung lässt sich daher als Soziale Marktwirtschaft mit Globalsteuerung und Interventionen kennzeichnen. hl d d l k l k h f 9.3. Deutschland: von der (Neo-)Klassik zur Sozialen Marktwirtschaft 237 <?page no="268"?> l d 238 9. Alternative Grundpositionen (6) Ordnungs- und Ablaufpolitik In diesem Zusammenhang ist begrifflich zwischen Ordnungspolitik auf der einen und Ablauf- oder Prozesspolitik auf der anderen Seite zu unterscheiden. Unter Ordnungspolitik werden die Maßnahmen des Staates verstanden, welche die Wirtschaftsordnung - im Falle der Bundesrepublik also eine marktwirtschaftliche Ordnung - gestalten, erhalten und ausbauen und somit die Rahmenbedingungen setzen, innerhalb derer sich der Wirtschaftsprozess vollzieht und durch Maßnahmen der Ablaufpolitik (synonym: Prozesspolitik) des Staates (mit)beeinflusst wird. Zur Ordnungspolitik sind in erster Linie wettbewerbssichernde und -fördernde Maßnahmen, insbesondere auf gesetzgeberische Ebene zu zählen (Kartellgesetze, Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, Gewerbeordnung etc.). Ablaufpolitische Maßnahmen müssen also dem Anspruch genügen, sich in die marktwirtschaftliche Ordnung einzupassen. Sie sind zumeist gesetzlich geregelt (z.B. im Stabilitätsgesetz, im Außenwirtschaftsgesetz oder durch Regelungen auf EU-Ebene), zum Teil auch im Grundgesetz, insbesondere in den Art. 104-115, das wesentliche Strukturen der Finanzpolitik regelt. Wie die verschiedenen konkreten Wirtschaftsordnungen in der Welt verdeutlichen, umfasst der Begriff «marktwirtschaftliche Ordnung» ein weites Spektrum von Ausgestaltungsmöglichkeiten, die dem Staat innerhalb einer marktwirtschaftlichen Ordnung unterschiedliche Rollen zuweisen. Aber auch innerhalb der in dieser Hinsicht bereits umrissenen Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik gibt es Ausgestaltungs- und Interpretationsmöglichkeiten sowohl im Hinblick auf die grundsätzliche wirtschaftspolitische Strategie als auch hinsichtlich des einzusetzenden wirtschaftspolitischen Instrumentariums. Im Zeichen anhaltender Probleme wie Arbeitslosigkeit bzw. ständiger Konjunkturschwankungen nahm die Skepsis über die Wirksamkeit keynesianisch orientierter Wirtschaftspolitik zu. Nach dem Regierungswechsel 1998 ist es erneut zu einer verstärkt polarisierten Debatte hierüber gekommen. In ihrem Zentru, stehen zwei sich weitgehend überlagernde Begriffspaare: Nachfrage versus Angebotstheone und Fiskalisten versus Monetaristen. Die folgenden Abschnitte gehen darauf ein. Um eine jeweils für sich verständliche Beschreibung zu ermöglichen, müssen einige inhaltliche Überschneidungen im Kauf genommen werden. Vgl. die Zusammenfassung in Abb. 9/ 2 und 9/ 3. <?page no="269"?> 9.4. Nachfrage- oder Angebotspolitik (1) Nachfrageorientierte Grundposition Bei der Frage, wie unstetigen Entwicklungen von Wachstum, Beschäftigung oder Preisniveau zu begegnen ist, stehen sich Angebots- und Nachfragetheoretiker gegenüber. Nachfragetheoretiker gehen von einem gegebenen Produktionspotential aus (vgl. Abschnitt 3.1), das durch geeignete Maßnahmen ausgelastet werden soll, während Angebotstheoretiker auch die Veränderung des Produktionspotentials als zu beeinflussende Größe ansehen. Die Nachfragetheorie orientiert sich an den Erkenntnissen des Engländers John Maynard Keynes (1883-1946), und ihre Anhänger werden daher als Neo-Keynesianer oder Postkeynesianer bezeichnet, je nachdem, welcher theoretischen Denkschule sie angehören, welche die Ideen von Keynes ausgebaut bzw. modifiziert hat. 35 Da die Keynesianer den Bestimmungsgrößen der Nachfrage die ursächliche Bedeutung für konjunkturelle Veränderungen beimessen, soll Konjunkturschwankungen folglich durch entgegengerichtete (antizyklische) Maßnahmen begegnet werden, um die konjunkturellen Bewegungen zu dämpfen und zu verstetigen. Ein zentraler, aber kritischer Punkt ist dabei die Finanzierung der staatlich angeregten Nachfrage durch Schulden, denn wenn diese nicht im nächsten Konjunkturteilzyklus getilgt werden, baut sich ein Schuldenberg auf - wir sitzen heute darauf. Aber Keynes war ein Genie - die Schwächen seiner Theorie sind erst nach und nach mit enormem Aufwand vieler Forscher identifiziert und analysiert worden; man darf sie ihm nicht nachträglich vorwerfen. Das Konzept globaler Nachfragebeeinflussung steht im Widerspruch zur Auffassung der klassischen Wirtschaftstheorie, nach der aufgrund der Selbstheilungskräfte der Märkte Marktstörungen «von selbst» behoben werden und keiner staatlichen Eingriffe bedürfen. Die keynesianische Globalsteuerung fand - im Gegensatz beispielsweise zu den USA - relativ spät Eingang in die deutsche Wirtschaftspolitik und konkretisierte sich im sog. Stabilitätsgesetz von 1967. Danach ist es Aufgabe des Staates, einer sich abschwächenden privaten Nachfrage durch Maßnahmen zu begegnen, die auf den Gütermärkten die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern bzw. die Exportgüternachfrage des Auslands anregen sollen. Indirekt durch die Güternachfrage, aber auch direkt durch staatliche Beschäftigungs- 35 Milton Friedman diffamierte Keynes’ Schüler und Nachfolger als dessen «Sklaven». 9.4. Nachfrage- oder Angebotspolitik 239 9.4. Nachfrage- oder Angebotspolitik 239 <?page no="270"?> l d 240 9. Alternative Grundpositionen programme sollen so Beschäftigungseffekte auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst werden: Steigende Nachfrage führt dazu, dass un(ter)ausgelastete Produktionskapazitäten stärker beansprucht werden, so dass bei anhaltender Nachfrageausweitung die Vollauslastung der Kapazitäten erreicht wird. Dies würde dann im Produktionsbereich Anreiz geben zu Neu- und Erweiterungsinvestitionen, Arbeitsplätze schaffen und über Multiplikator- und Akzeleratorprozesse die Nachfrage weiter anregen (vgl. Abschnitt 2.3.3 über Konjunkturtheorien). Grundtenor einer solchen nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik ist dabei, dass auf der Mikro-Ebene der privaten Haushalte und Unternehmen - den Prinzipien der freien Marktwirtschaft entsprechend - individuelle Entscheidungsfreiheit zur Selbststeuerung der Märkte führen soll, während auf der Makro-Ebene der Staat durch Globalsteuerung die Erfüllung der gesamtwirtschaftlichen Ziele unterstützen soll. Konjunktursteuerung könnte man danach mit dem Bemühen vergleichen, Fahrzeuge auf einer kurvenreichen Straße fahren zu lassen. Die Verkehrsregeln stellen dabei die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen dar, und als Globalsteuerung sind Maßnahmen zu verstehen, die den destabilisierenden Schwerkräften in Kurven entgegenwirken und alle Fahrzeuge gleichermaßen betreffen, wie z.B. die Fahrbahnerhöhung in Kurven oder optische Signale. Daneben wird gezielt interveniert, d.h. den Fahrern bestimmter Fahrzeuge ins Steuer gegriffen. (2) Stagflations-Problem Nachdem in den 50er und 60er Jahren die keynesianischen Ideen in der Wirtschaftspolitik der Industriestaaten umfassend Fuß fassten, nahm mit zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten aber auch die Kritik an diesem Konzept zu. In Keynes‘ System passt etwa eine Erscheinung wie die Stagflation, d.h. Stagnation des Wachstums bei zunehmender Arbeitslosigkeit und anhaltendem Preisauftrieb (vgl. Kap. 16) nicht hinein. Keynes ging vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise allerdings auch von anderen Voraussetzungen aus, als sie heute gegeben sind. Insbesondere hat die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung den Einfluss «hausgemachter» Politik vermindert, wenn deren Möglichkeiten nicht überhaupt systematisch überschätzt werden. (3) Staatsverschuldung und Angebotsschocks Bei den Ursachen für ein «Versagen« keynesianischer Nachfragepolitik, der es nicht gelungen war, die ständigen konjunkturellen <?page no="271"?> Schwankungen mit den damit zusammenhängenden Wachstums-, Beschäftigungs- und Inflationsproblemen in den Griff zu bekommen, lassen sich zwei wesentliche Aspekte hervorheben. Einmal wurde in aller Regel eine asymmetrische Nachfragepolitik in dem Sinne betrieben, dass zwar in Abschwungphasen durch kreditfinanzierte Staatsausgaben gegengesteuert wurde, jedoch in Aufschwungphasen eine analoge, aber restriktive Finanzpolitik unterblieb. Dieses Problem wird im anschließenden 10. Kapitel insbesondere unter dem Aspekt der Staatsverschuldung vertieft werden. Zum anderen wurden konjunkturelle Störungen auch durch sog. Angebotsschocks hervorgerufen, d.h. Einflüsse, die primär die Angebotsseite betrafen. Hierzu zählen die Kostenverzerrungen aufgrund der Ölpreisentwicklung ebenso wie die strukturell bedingte (technologische) Arbeitslosigkeit. Ein Angebotsschock auf anderer Ebene ergab sich auch durch das Vordringen der sog. Schwellenländer auf den Weltmärkten. Seitdem haben sich die Welthandelsstrukturen gravierend verändert: Die deutsche Exportwirtschaft muss gegen qualitativ gleichwertige, aber billigere Konkurrenz bestehen, und die Produktionsbedingungen sind in vielen Ländern so viel günstiger, dass ganze Industriezweige tendenziell ins Ausland abwandern, entweder durch eigene Direktinvestitionen oder Nutzung ausländischer Kapazitäten im Rahmen sog. passiver Veredelung sowie durch Auslagerung bzw. Ausnutzung bestimmter Funktionen (Forschung, Entwicklung) ins bzw. im Ausland. Solchen Veränderungen ist dann ursachenadäquat nicht mit nachfrage-, sondern mit angebotsorientierten Maßnahmen zu begegnen. (4) Angebotsorientierte Grundposition Als Reaktion auf die Probleme keynesianischer Wirtschaftspolitik erfolgte zunächst in den USA und später auch in der Bundesrepublik eine Rückbesinnung auf die klassischen Thesen von den Selbstheilungskräften des Marktes. Danach soll sich der Staat - im Gegensatz zur keynesianischen Nachfragebeeinflussung - auf die Verbesserung der Bedingungen für das Güterangebot konzentrieren (Abb. 9/ 4). Diese sog. «Angebotstheorie» fußt auf dem zentralen Argument, dass das ständige antizyklische Wechseln zwischen anregenden und dämpfenden Maßnahmen im Konjunkturverlauf («Stop-and-Go-Politik») nicht Folge, sondern Ursache konjunktureller Schwankungen sei. Der Staat trägt danach destabilisierende Impulse in die im Prinzip zum Gleichgewicht tendierenden privaten Sektoren hinein. Es müsse darauf verzichtet werden, durch wechselnde staatliche Einhf d b l k 9.4. Nachfrage- oder Angebotspolitik 241 <?page no="272"?> l d 242 9. Alternative Grundpositionen flüsse den Entscheidungshorizont der Anbieterseite, also der privaten Unternehmer, ständig zu verschieben. Der Staat soll auf destabilisierende wirtschaftspolitische Eingriffe verzichten und ordnungspolitische Rahmendaten setzen, die eine langfristige Orientierung erlauben und der Entfaltung marktwirtschaftlicher Kräfte mehr Raum geben. Hierzu zählt insbesondere eine kostenmäßige Entlastung der Unternehmertätigkeit, u.a. durch Senkung von Produktionssteuern und unternehmensbelastenden Abgaben sowie der Lohn- und Lohnnebenkosten (vgl. oben Kapitel 3) (was gegebenenfalls durch erhöhte Verbrauchsteuern kompensiert werden könnte) oder Abschreibungserleichterungen bzw. Investitionshilfen. Insgesamt soll die unternehmerische Initiative durch Abbau hemmender staatlicher Regelungen - «Deregulierung» - gefördert werden, wobei die Palette einschlägiger Maßnahmen eine Lockerung des Mietrechts ebenso umfasst wie eine Durchforstung administrativer Dickichte (Abb. 9/ 5). Weitere wichtige Aspekte sind die Eindämmung der «Schattenwirtschaft», sprich: Schwarzarbeit, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die Senkung der Staatsausgaben. Die angebotstheoretische Botschaft lässt sich auf die kurze Formel bringen: Weniger Staat, dafür mehr individueller marktwirtschaftlicher Freiraum; keine kurzfristigen ad-hoc-Maßnahmen, sondern eine langfristig orientierte Wirtschaftspolitik. Rigorose Vertreter dieser Konzeption plädieren sogar für einen völligen Verzicht auf aktive Beeinflussung des Wirtschaftsablaufs, analog zum Basismodell des Klassischen Liberalismus im Sinne einer «laissez-faire-Wirtschaft». Danach wäre die beste Wirtschaftspolitik dann gar keine Wirtschaftspolitik («Tunix-Theorie»). Bei Diskussionen zwischen Nachfrage- und Angebotstheoretikern kann man nicht selten feststellen, dass die Angebotsvertreter auf dem nachfragepolitischen Auge bind sind. Aber eine zündende Synthese scheinen wir im Kontext von Globalisierung und schwachem Bildungssystem immer noch nicht gefunden zu haben. Vielleicht beziehen wir die Rahmenbedingungen des extensiv ausgebauten Staatsapparates nicht genügend in die Überlegungen ein? Abb. 9/ 4: Neue Ökonomie "+'.' ,$/ .! ,' &-- (%' "'.' *#0"0$%') ! &/ +,)2,.-)1$)1,) *A' ,-),) / "/ ,',) 3&0/ &%$+&(*&. &0/ &**,) <?page no="273"?> (5) Länderbeispiele Aber auch bei weniger extremer Interpretation der Angebotspolitik ist für Nachfragepolitik kein Platz. Bei der versuchten Umsetzung der damaligen sog. Reaganomics in den USA erwies sich, dass Steuersenkungen dazu führten, dass drastische Kürzungen der Staatsausgaben mit entsprechendem Nachfrageausfall erforderlich waren, ohne dass damit gewaltige Defizite im Staatshaushalt vermieden werden konnten; dies wiederum machte Steuererhöhungen unumgänglich. Zwar gelang es in den USA in bemerkenswerter Weise, die Inflationsrate zu senken und die Zahl der Beschäftigten deutlich zu erhöhen, doch lief das Haushaltsdefizit immer mehr aus dem Ruder, begleitet von einem riesigen Defizit in der Leistungsbilanz. Dass sich die Entwicklung umkehrte und sich alles besserte, kam erst Reagans späterem Nachfolger Clinton zugute. Angebotstheoretiker argumentieren allerdings, dass eine Umstellung der Wirtschaftspolitik von Nachfrage- und Angebotsorientierung, wie sie auch in vielen Entwicklungsländern im Zuge von Weltbank- und IWF-begleiteten Strukturanpassungsprogrammen erfolgten, zwangsläufig zu vorübergehenden Problemen führen muss und bezeichnen die Verschärfung der Beschäftigungssituation als «Anpassungsarbeitslosigkeit». Sie sei zwar bedauerlich, doch führe eine schmerzhafte, aber konsequente Umorientierung der Wirtschaftspolitik schneller zum Gleichgewicht zurück als eine zögernde, schrittweise Umstellung. Die grundsätzliche Auseinandersetzung um Nachfrage- oder Angebotspolitik, oder anders ausgedrückt: um die Rolle des Staates im Wirtschaftsablauf, auch und insbesondere im Hinblick auf die Befürwortung und Ablehnung staatlicher Beschäftigungsprogramme, ist keineswegs beigelegt. Obgleich die Angebotstheorie seit Beginn der Abb. 9/ 5: Deregulierung? 5+&+%"),/ .+ 4+0+)$(0&-,/ .%+ 1+.,(-+'% #,'%&/ .32%),/ .+ ! (%#,/ *)$(0 "-%.'0&1*$+,./ 2.*(+0.'% ! +#.&%(%()+.+ ! +,**/ "/ ,+" $)+ 2&00& %+. 1,'#0-&%+( hf d b l k 9.4. Nachfrage- oder Angebotspolitik 243 <?page no="274"?> l d 244 9. Alternative Grundpositionen 80er Jahre regelrecht in Mode kam, sind die bisher überschaubaren Ergebnisse bei differenzierter Betrachtung nicht sonderlich überzeugend. Natürlich ist der Beobachtungszeitraum für eine neuorientierte Wirtschaftspolitik bisher zu kurz, um abschließende Würdigungen vornehmen zu können. Zudem haben in vielen westlichen Ländern Regierungswechsel Ende der 90er Jahre zu einer Umstellung der Wirtschaftspolitik geführt und dadurch eine Überprüfung der Erfolge oder Misserfolge ihrer Vorgänger erschwert. (6) Probleme der Angebotstheorie Das Hauptproblem scheint darin zu liegen, dass die Angebotstheorie ihrem Wesen nach langfristig angelegt ist. Die skizzierten Anpassungsprobleme jedoch können dazu führen, dass demokratisch legitimierten Regierungen zwischenzeitlich das Vertrauen entzogen wird. Die Hauptschwäche des Angebotskonzepts liegt im Hinblick auf die Umstellungsphase darin, dass nicht zwingend deutlich gemacht werden kann, weshalb im Unternehmensbereich angesichts unausgelasteter Kapazitäten, bedingt durch zu geringe Nachfrage, beschäftigungsschaffende Investitionen vorgenommen werden sollen. Kostensenkende Maßnahmen, wie sie die Angebotstheoretiker fordern, sind für arbeitsplatzschaffende Investitionen wahrscheinlich weniger bedeutsam als eine Erhöhung der Absatzmöglichkeiten. Kostenentlastende Maßnahmen können wohl die Gewinnspannen und damit die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen erhöhen. Diese Verbesserung der Gewinnquote zu Lasten der Lohnquote (Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen; vgl. Abschnitt 6) wird von Vertretern der Angebotstheorie auch erkannt und in Kauf genommen, um nicht zu sagen: angestrebt. Bedenklich ist es aber, eine einseitige (monokausale) Beziehung herstellen zu wollen zwischen Kosten-, d.h. insbesondere auch Steuerbelastung, und Investitionsneigung. Angebotsorientierte steuerliche Maßnahmen allein sind keine Garantie für beschäftigungswirksame Investitionszunahme, sofern die inländische oder ausländische Nachfrage nicht zunimmt. Letztlich mussten in den USA in der Reaganära realisierte Steuersenkungen in einigen Bereichen wieder rückgängig gemacht werden, da die andernfalls nötige Kürzung der Staatsausgaben simultan nicht im erforderlichen Ausmaß zu verwirklichen war. Das verbleibende große Defizit im US-Haushalt erforderte eine hohe staatliche Kreditaufnahme; dies wiederum förderte damals ein hohes Zinsniveau auf dem amerikanischen Geld- und Kapitalmarkt («Hochzinspolitik»), was wiederum einerseits zu einem steigenden <?page no="275"?> Dollarkurs führte und die exportorientierten Sektoren der amerikanischen Industrie in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigte. Die damaligen hohen US-Zinsen waren andererseits ein Grund für ein hohes Zinsniveau in den anderen Industriestaaten, auch in der Bundesrepublik, was einem konjunkturellen Aufschwung nicht nützlich war. Diese summarische Betrachtung, die in den folgenden Kapiteln vertieft wird, soll auch den Einfluss verdeutlichen, der von der Wirtschaftspolitik anderer Länder auf unsere eigene Situation ausgeht. (7) Policy Mix Für die konjunkturpolitische Praxis ergibt sich daraus die fast triviale Erkenntnis, dass ein extremes «Entweder/ Oder» nicht sinnvoll ist, sondern dass vielmehr die Zielrichtung wirtschaftspolitischen Handelns davon abhängt, ob konjunkturelle Störungen angebots- oder auch nachfrageorientierte Komponenten umfassen («policy mix»). Dies würde man auch als gemäßigte Variante der Angebotspolitik bezeichnen. Danach ist Kern der Wirtschaftspolitik eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für unternehmerische Risikobereitschaft und Leistung, das heißt mit anderen Worten die Stärkung individueller Marktkräfte bei gleichzeitiger Verminderung staatlicher Beeinflussung. Daneben ist diese langfristig angelegte Wachstumsstrategie abzusichern durch eine stabilisierende Geldpolitik, die monetäre Störungen auffangen soll (vgl. auch den nächsten Abschnitt), und eine Finanzpolitik, die insbesondere auf Abbau des strukturellen Defizits im Staatshaushalt abstellen soll (vgl. hierzu Kap. 10). 9.5. Monetarismus und Fiskalismus Neben der Strategiedebatte gibt es auch im Hinblick auf das Instrumentarium der Wirtschaftspolitik einen grundsätzlichen Meinungsstreit, der sich zum Teil mit der Angebots-Nachfrage-Debatte überschneidet (oben Abb. 9/ 2 und 9/ 3). (1) Grundposition der Fiskalisten Auf der einen Seite stehen wiederum «Keynesianer», die für eine anti-zyklische Geld- und Finanzpolitik plädieren. Weil dabei dem Staat als Fiskus eine wichtige Rolle zukommt, bezeichnet man sie in 9.5. Monetarismus und Fiskalismus 245 9.5. Monetarismus und Fiskalismus 245 <?page no="276"?> l d 246 9. Alternative Grundpositionen diesem Zusammenhang auch als «Fiskalisten». 36 Diese Bezeichnung ist insofern irreführend, weil auch von Vertretern des fiskalischen Lagers der Geldpolitik eine wichtige Rolle zuerkannt wird. Allerdings wird ihr eine beträchtliche Handlungs- und Wirkungsverzögerung unterstellt (vgl. Kap. 15), so dass die Geldpolitik durch Finanzpolitik zu unterstützen ist. Dies ist um so mehr erforderlich, als die Geldpolitik durch die Beeinflussung des Zinsniveaus nur auf einen Teil der Investitionen einwirken kann. Während die meisten Investitionen weniger von den Zinskosten abhängig sind als von der Rendite - und diese hängt u.a. ab von der Möglichkeit, Kosten in den Preis zu überwälzen -, kann eine deutliche Zinsabhängigkeit zwingend nur im privaten Wohnungsbau nachgewiesen werden. Folglich sind - so die Fiskalisten - finanzpolitische (fiskalische) Maßnahmen wirksamer als geld- und kreditpolitische. (2) Grundposition der Monetaristen Die Gegenposition zu den Fiskalisten vertreten die «Monetaristen», herausragend vertreten durch den in Chicago lehrenden Milton Friedman 37 («Chicagoer Schule»; monetaristisch orientierte Wirtschaftsberater werden gelegentlich auch als «Chicago Boys» bezeichnet, was nicht gerade freundlich gemeint ist). Ihrer Meinung nach ist eine anti-zyklische Wirtschaftspolitik ungeeignet, konjunkturellen Schwankungen zu begegnen, da diese die Schwankungen nicht dämpft, sondern gerade hervorruft. Im Grunde genommen tendiere der Wirtschaftsablauf zu gleichgewichtiger Entwicklung, und nur durch Eingriffe des Staates würden wegen der Wirkungsverzögerungen und Dosierungsprobleme wirtschaftspolitischer Maßnahmen Schwankungen produziert. Folglich solle sich der Staat konjunkturorientierter Beeinflussung weitmöglichst enthalten. Die Monetaristen sehen es insbesondere als erforderlich an; die Inflation zu bekämpfen, die ihrer Meinung nach durch eine expansive keynesianische Wirtschaftspolitik, die Wachstums- und Beschäftigungszielen Vorrang gibt vor Preisniveaustabilität, hervorgerufen worden sei. Zentrale Steuerungsgröße der Monetaristen - daher die Bezeichnung - ist die Geldmenge. Ihr kommt nach monetarischer Auffassung eine ursächliche Rolle im Wirtschaftsprozess zu, indem das Sozialprodukt auf Veränderungen der Geldmenge reagiert, während Keynesianer dies eher umgekehrt sehen. Insofern stützen sich die Monetaristen 36 Vgl. aber meine Unterscheidung von Finanz- und Fiskalpolitik im Kapitel 10. 37 Friedman starb Ende 2006 im Alter von 94 Jahren. <?page no="277"?> auf verfeinerte Versionen der Quantitätstheorie des Geldes, weshalb man sie auch als Neoquantitätstheoretiker oder Neoklassiker klassifiziert (vgl. auch Abschnitt 4.3.2 zur Geldmengeninflation). Durch eine Verstetigung der Geldmengenveränderung könnten nach monetaristischer Auffassung somit Konjunkturschwankungen langfristig geglättet und das Stop-and-Go antizyklischer Wirtschaftspolitik vermieden werden. Das oben angeführte Autofahrerbeispiel als Analogie zur Konjunkturbeeinflussung kann hier nochmals verwendet werden: Die antizyklische Nachfragebeeinflussung versucht, ein ins Schleudern kommendes Fahrzeug durch Gegensteuern zu stabilisieren, wobei die destabilisierenden Kräfte unvorhersehbar und unvermeidlich sind. Angebotsorientierung wie monetaristische Wirtschaftspolitik hingegen geht davon aus, dass gerade das ständige Gegensteuern das Schleudem verursacht. Vielmehr sei es erforderlich, die Fahrbahn so zu gestalten, dass die Fahrzeuglenker sich - frei von Stabilisierungsproblemen - auf die Vorwärtsbewegungen (Wachstum und Beschäftigung) konzentrieren. (3) Probleme des Monetarismus Ein Hauptproblem stellt im Monetarismus die Wahl eines operationalen Indikators für die Geldmengensteuerung dar, der den monetären Einfluss auf die reale Gütersphäre deutlich macht. Dabei kommen die Geldmengen 38 , die Bankenliquidität oder das Zinsniveau in Frage. Dieses Problem ist bis heute nicht zufriedenstellend gelöst, obgleich es einige praktische Beispiele für den Versuch einer monetaristischen Wirtschaftspolitik gibt (Chile unter Pinochet, zeitweise Israel, England unter Thatcher, weniger konsequent die USA unter Reagan). Die dabei erzielten Erfolge sind jedoch insgesamt - insbesondere im Hinblick auf die ungelösten Beschäftigungsprobleme - keineswegs überzeugend und geben bisher eher den Kritikern monetaristischer Positionen recht. Das Hauptproblem scheint dabei die Unmöglichkeit zu sein, externe monetäre Impulse, die u.a. aus internationalem Zinsgefälle und veränderten Wechselkursen sowie Veränderungen der Umlaufgeschwindigkeit resultieren, zu kompensieren. Die Bundesbank vertritt seit 1974 verstärkt einen monetaristischen Standpunkt hinsichtlich der Verstetigung der Geldmengenveränderung, ohne dabei insgesamt eine extreme Position im Sinne Friedmans einzunehmen (vgl. Abschnitt 11.2): Sie definiert einen «Zielkorridor», innerhalb dessen Grenzen die Geldmenge wachsen soll, 38 In Kapitel 11 werden verschiedene Abgrenzungen vorgestellt. d k l 9.5. Monetarismus und Fiskalismus 247 <?page no="278"?> l d 248 9. Alternative Grundpositionen ohne dass negative, vor allem inflationäre Effekte auftreten dürften. Diese grundsätzliche Politik dürfte auch von der Europäischen Zentralbank weiterverfolgt werden. Die monetaristische Unterstellung, dass konjunkturelle Schwankungen auf Eingriffe des Staates zurückzuführen seien, ist sehr restriktiv. Sie abstrahiert von sämtlichen übrigen Störfaktoren, die teils «hausgemacht» sein mögen (wie z.B. innenpolitische Spannungen oder Streiks), teils aus dem Ausland kommen können wie wirtschaftliche Probleme von Handelspartnern oder weltwirtschaftliche Turbulenzen überhaupt. Da der Monetarismus der Geldwertstabilität höchste Bedeutung zumisst, dabei auch entsprechend konsequente (und oft harte) Stabilisierungsmaßnahmen fordert, wird tendenziell eine restriktive Wirtschaftspolitik als «Monetarismus» apostrophiert, auch wenn dies im methodischen Sinne gar nicht zutrifft. Aus heutiger Sicht hat sich die monetaristische Doktrin in der Praxis nicht bestätigen lassen. Die ursprünglich recht monetaristisch orientierte US-Notenbank ist deutlich von diesem Konzept abgerückt: Der Notenbankpräsident Greenspann sagte 1993, dass die «historischen Beziehungen zwischen Geld und Einkommen größtenteils zusammengebrochen» seien - im Gegensatz zur Behauptung der monetaristischen Theorie. Insbesondere konnte die These nicht bestätigt werden, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes relativ konstant sei. Andererseits hat der Monetarismus entscheidend dazu beigetragen, dass die Notenbanken vieler Staaten diszipliniert die Geldmengenentwicklung beeinflusst und sich gegen inflationäre Regierungspolitiken gewehrt haben. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neu eingerichtete Europäische Zentralbank in dieser Frage verhalten wird. (4) Rolle des Staates Angebotstheorie und Monetarismus auf der einen Seite und Nachfragetheorie und Fiskalismus auf der anderen überschneiden sich hinsichtlich der Einschätzung der Rolle des Staates. Monetaristen wie Angebotstheoretiker betonen die Selbstheilungskräfte des Marktes und sehen im Staat eher einen Störfaktor als einen Stabilisator, während Keynesianer und Fiskalisten staatlichen Maßnahmen eine stabilisierende Funktion zusprechen. Die unterschiedlichen Positionen sind also weniger ein Streit um Zweck-Mittel-Relationen als eine ordnungspolitische Auseinandersetzung über die Funktion des Staates im Wirtschaftsablauf und somit um staatliche Wirtschaftspolitik. Auf einer mehr praktischen Ebene reduziert sich diese konzeptionelle Auseinandersetzung vereinfachend auf das Dilemma, im Zielkonflikt <?page no="279"?> zwischen Preisniveaustabilität und Vollbeschäftigung (vgl. Kap. 16) dem einen oder dem anderen Ziel höhere Priorität einzuräumen. Ländern mit eher monetaristischer Wirtschaftspolitik wie Großbritannien oder den USA ist es in bemerkenswerter Weise gelungen, die Inflationsraten zu senken, aber nicht die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in gleichem Maße abzubauen. Allerdings argumentieren Monetaristen, dass dies ein zwar sehr bedauerlicher, aber vorübergehender Effekt sei. Die positiven Effekte einer verstetigten monetaristischen Wirtschaftspolitik müßten sich im Zeitablauf auswirken können, bevor ein fundiertes Urteil zu fällen wäre Länder mit eher keynesianischer Wirtschaftspolitik hingegen räumen tendenziell dem Beschäftigungsziel Vorrang gegenüber der Preisniveaustabilisierung ein. 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion 9.6.1. Theorie-Schwachstellen Oft zitiert - man mag es kaum noch erwähnen - ist die angebliche Klage eines Fürsten (oder Politikers) über seinen ökonomischen Berater, der nie eine klare, eindeutige Empfehlung gibt, sondern immer zwischen «einerseits» und «andererseits» schwankte und die Entscheidung dem Fragesteller überließ. Offenbar ist es in der Praxis nicht immer so, denn beispielsweise John Maynard Keynes oder Milton Friedman haben ganz klare Handlungsanweisungen für die Politik formuliert. Das Problem liegt aber auf einer anderen Ebene: Keine ökonomische Theorie hat es bisher vermocht, umfassend und in jeder Lage eine zutreffende Antwort auf zu lösende Probleme zu geben; jede Theorie hat ihre Schwachstellen, und diese beeinträchtigen insbesondere ihre Tauglichkeit für zukunftsgerichtete Prognosen. Darüber täuschen auch theoretische Modelle nicht hinweg, die oft formal sehr ausgebaut sind und deren Botschaft sich nur dem mathematisch Interessierten und gleichzeitig Versierten erschließt, wobei sich dann fast ebenso oft die Frage ergibt, ob man diese Aussage nicht auch (gleich) etwas einfacher hätte formulieren können. Zweifellos wieder ein Werturteil. Aber wer es nicht glaubt, möge einmal einen Blick in eine volkswirtschaftliche wissenschaftliche Fachzeitschrift werfen: nicht selten einer mathematischen Formelsammlung ähnlich (natürlich englisch) (Ein Beispiel finden Sie in Abb. 9/ 6). Der Amerikaner Donald McCloskey wird mit der Meinung zitiert, die (Volks-? ) Wirtschaftswissenschaft sei oft einem intellektuellen Spiel ähnlich, das nicht mehr praktischen Nutzen habe als Schach oder Lotto. So ist 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion 249 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion 249 <?page no="280"?> l d 250 9. Alternative Grundpositionen es. Dort, wo die konkrete Wirtschaft Hochschulabsolventen einstellt, besteht folglich auch ein Trend zur Beschäftigung praxisorientierter Absolventen, die es in zunehmender Zahl gibt. Dabei gäbe es viele Fragen zu beantworten. Ökonomische Prognosen sind oft nicht viel genauer als der Wetterbericht. Die Voraussagen über die Effekte und Kosten der deutschen Wiedervereinigung waren eine Katastrophe. (Um Missverständnissen vorzubeugen: auch der Autor lag kräftig daneben; natürlich nicht soo sehr, aber wer hört schon auf mich? Bei der Teuro-Einführung lag ich schon besser…). Wechselkursentwicklungen können nur geraten werden. Recht hilflos stehen die ökonomischen Theorien auch den Problemen von Entwicklungsländern und der osteuropäischen Reformstaaten gegenüber. Vieles liegt dabei ganz klar an politischen Fehlentwicklungen (Werturteil des Autors), aber nicht alles. Was also tun? Welche Konzeption ist die richtige? Keiner weiß es (objektiv), also wird man auch in Zukunft ausprobieren müssen. Tragisch ist dies insbesondere im Hinblick auf die Einschätzung der Entwicklung von Konjunktur und Wachstum, weil hier mit Arbeitslosigkeit, Rentenfinanzierung, Besteuerung und Inflation eine Vielzahl von Problemen «dranhängen», die sich unmittelbar beim einzelnen auswirken (siehe meine Eingangsfrage im 1. Kapitel). Abb. 9/ 6: Beschäftigungsforschung <?page no="281"?> Ökonomische Theorien haben aber viel Nützliches gebracht. Dies gilt für die Klassik/ Keynes-Debatte ebenso wie für Monetarismus/ Fiskalismus oder Angebotsversus Nachfragetheorie. Durch die Theorie der Eigentumsrechte (Property Rights) ebenso wie die der externen Effekte wurden z.B. auch aktuelle Probleme des Umweltschutzes griffiger gemacht (Lösungshemmnisse sind dort eindeutig eine politische Frage! ). Die Bedeutung des technischen Fortschritts für die Entwicklung - und damit der Notwendigkeit von Forschung - ist volks- und betriebswirtschaftlich unumstritten. Aber insgesamt gesehen ist das Gefühl für die Grenzen der Weisheit ausgeprägter geworden, und die Einschätzungen von der Machbarkeit und Steuerungsfähigkeit der Volksbzw. Weltwirtschaft sind sehr sehr vorsichtig geworden. 9.6.2. Konjunktur- und Beschäftigungsprogramme Gravierende gesamtwirtschaftliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit fördern den Ruf nach Konjunktur- oder Beschäftigungsprogrammen (Abb. 9/ 7). Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, welche Konsum und Investition - und dadurch die Beschäftigung - anregen sollen. Die Grundüberlegung ist dabei - abgesehen von sozialpolitischen Motiven, dass die Finanzierung solcher staatlichen Maßnahmen zwar die öffentlichen Haushalte belastet, dies aber per Saldo kostengünstiger ist als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit (vgl. auch Abschnitt 3.4.4). Dabei gibt es wiederum nachfrage- oder angebotsorientierte Varianten: Die nachfrageorientierte Version setzt unmittelbar entweder bei der Beschäftigung, d.h. der Nachfrage nach Arbeitskräften an, indem z.B. staatliche Aufträge in großem Stil an die Industrie vergeben werden, insbesondere Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge. Dies wird aus zweierlei Gründen angegriffen: Erstens ist dieser Ansatz historisch negativ belastet, denn Hitlers Autobahnbauprogramm war Abb. 9/ 7: Konjunkturprogramme Japanisches Konjunkturprogramm beschlossen ! (&(/ '0=%! #=-- +=% *0$0+ 5)*1$*/ %$'(')"'&++ 20* 5)*&$+ &%"'/ 0* Nein zu Konjunkturprogramm 9337! 5$11$%420+"+$ #(4 5$2#2&/ 2)1%$#(. %-,'( *2$"$ "# ,'-, 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion 251 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion 251 <?page no="282"?> l d 252 9. Alternative Grundpositionen ein eindeutig keynesianisch fundiertes Beschäftigungsprogramm (allerdings hatte der konjunkturelle Aufschwung schon 1931/ 32, also vor der Machtergreifung begonnen, und der Autobahnbau begann 1933 recht zögerlich). Zweitens stehen solche Maßnahmen in dem Ruf, nur Strohfeuereffekte auszulösen, d.h. dass der beschäftigungsanregende Schub mit der Beendigung der Maßnahme wieder erlischt. Eine andere Variante von Konjunkturprogrammen will durch direkte Senkung der privaten Steuerbelastungen den Konsum anregen oder durch zinsgünstige Darlehen auch die private Bautätigkeit fördern. Der angebotsorientierte Ansatz will durch günstige Rahmenbedingungen die private Investitionstätigkeit anregen. Dies schafft zum einen direkte Nachfrage bei den Herstellern von Investitionsgütern, zum anderen - so die implizite Unterstellung - Nachfrage nach komplementären Arbeitskräften. Ob letzteres tatsächlich eintritt, ist allerdings offen, denn eine Investition kann durchaus auch Arbeitsplätze «wegrationalisieren». Investitionsförderung kann in zweierlei Form erfolgen: Investitionsprämien - so wie sie § 26 des Stabilitätsgesetzes vorsieht - können durch einfache Rechtsverordnung der Regierung beschlossen werden. Da die Prämien über die Abzugsfähigkeit von der Einkommen- oder Körperschaftsteuerschuld gewährt werden, setzen sie entsprechende Gewinne voraus, bieten also wenig Anreiz für Unternehmen, die bereits in der Verlustzone sind und ohnehin keine Steuern zahlen. Außerdem werden dadurch sog. Mitnahmeeffekte ausgelöst, d.h. dass Prämien für Investitionen in Anspruch genommen werden, die ohnehin getätigt würden (z.B. routinemäßige Ersatzinvestitionen). Eine Alternative stellen daher Investitionszulagen dar, die direkt einen Teil der Investitionskosten finanzieren, folglich Gewinn-unabhängig sind, und auf Erweiterungsinvestitionen beschränkt werden können. Investitionszulagen müssen allerdings - im Gegensatz zu Prämien - erst gesetzlich beschlossen werden: Das Verfahren ist also etwas umständlicher. Im Rahmen der Wiedervereinigung wurde es allerdings in Gang gesetzt, um Investitionszulagen für die neuen Bundesländer bereit zu stellen. Die besondere Problematik von Maßnahmen zur Konjunkturankurbelung liegt in der Finanzierung. Im konjunkturellen Tief sprudeln die Steuerquellen ohnehin nicht so reichlich, weil viele Steuern konjunkturabhängig sind (Lohn-, Einkommen-, Körperschaft-, Mehrwert-, Verbrauchsteuern etc.). Wenn dann - wie gegenwärtig in Deutschland - die Staatsverschuldung bereits ein kritisch hohes Niveau erreicht hat, kann eine schuldenfinanzierte Konjunkturpolitik (deficit (( spending) gg kaum realisiert werden, und eine Finanzierung über höhere Steuern verbietet sich einmal aus methodischen <?page no="283"?> Gründen, zum anderen wegen einer gleichfalls bereits kritisch hohen Steuerbelastung. Folglich wird dann vorrangig nach Möglichkeiten gesucht, durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen den wirtschaftlichen Wiederaufschwung zu erleichtern. 9.6.3. lndustriepolitik Die gerade besprochenen Maßnahmen sind grundsätzlich kurzfristig angelegt. Ein langfristiges Konzept der staatlichen Angebotsförderung wird auch als Industriepolitik bezeichnet. Ordnungspolitisch steht diese bei den strengen Verfechtern der Angebotstheorie nicht sehr hoch im Kurs, denn die Angebotstheorie plädiert ja gerade für weniger i Einfluss des Staates auf den Wirtschaftsablauf und für eine grundsätzlich möglichst staatsfreie private Wirtschaft. Industriepolitik passt somit tendenziell nur in eine wirtschaftspolitische Landschaft, die durch relativ enge Zusammenarbeit zwischen Staat (d.h. Regierung) und Wirtschaft gekennzeichnet ist. Trotz ordnungspolitischer Bedenken ist sie allerdings aus Unternehmenssicht verführerisch: Sie umfasst u.a. • staatliche (Mit-)Finanzierung von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Industrie (dies überschneidet sich u. U. mit der Gewährung der oben erwähnten Investitionszulagen) sowie im Hochschulbereich (ich höre schon den Leser murmeln: «Er nun wieder...») zur Förderung des Technologietransfers zwischen Wissenschaft und Praxis, • öffentliche Auftragsprogramme und Unterstützung grenzüberschreitender Auftragseinwerbung (wobei sich als Ziel anbietet, gleichzeitig ausländische Aufträge möglichst im Inland zu vergeben - eine Strategie, die latent sowohl mit europäischem Gemeinschaftsrecht als auch mit dem GATT/ WTO-Vertrag auf Kriegsfuß steht), • Förderung des Mittelstandes, • Exportförderung durch die Übernahme von Kreditrisiken (in Deutschland im Rahmen der sog. Hermes-Deckung), ggf. Unterstützung durch die Wechselkurspolitik (obgleich im Falle Deutschlands dies - wegen des Aufgehens der DM im Euro und dessen flexiblen Wechselkurses - kaum allein und gezielt zu realisieren ist) sowie Türöffnungsfunktion der Regierung auf ausländischen Märkten, z.B. im Rahmen von bilateralen Verträgen oder auf multilateraler Ebene wie in der WTO, u.a. durch Bestehen auf Gegenseitigkeit (Reziprozität) bei Zollpräferenzen und anderen Vergünstigungen d h k d k ll k 9.6. Fazit und Schwerpunkte der aktuellen Diskussion 253 <?page no="284"?> l d 254 9. Alternative Grundpositionen sowie durch Messeförderungen und gemischte Auslandsdelegationen von Regierung und Wirtschaft, • Unterstützung erforderlichen Strukturwandels auch durch öffentliche Infrastrukturinvestitionen. Diese nach innen gerichtete «Entwicklungshilfe» durch den Staat gewinnt offensichtlich immer mehr Akzeptanz, je stärker negative Konsequenzen der Globalisierung deutlich werden: Der Strukturwandel belastet viele Branchen und verhindert einen signifikanten Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Besondere Brisanz gewinnt das Problem der Industriepolitik auch durch den Vertrag von Maastricht . Die Forschungs- und Entwicklungsförderung hat auf EU-Ebene einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Allerdings gibt es dabei eine schier unüberschaubare Anzahl von Förder- und Unterstützungsprogramme, so dass sich als neuer, kräftig expandierender Dienstleistungszweig die Subventionsberatung gebildet hat. Abgesehen davon, dass insbesondere durch französischen und britischen Einfluss allgemein deutliche Elemente einer aktiven Industriepolitik im obigen Sinne auszumachen sind, die dem deutschen, eher ordo-liberalen Verständnis von Marktwirtschaft nicht immer entsprechen, gibt es auch konkretere Konfliktbereiche: So steht der Maastricht-Vertrag beispielsweise Kooperationen zwischen Unternehmen aufgeschlossener gegenüber, als sich dies nach deutschem Kartellrecht darstellt (vgl. Altmann, Volkswirtschaftslehre, Kap. 6). Auch hinsichtlich des Verständnisses der staatlichen Funktionen enthält der Maastrichter Vertrag eine Tendenz zu supranationalem Dirigismus (mehr als der EWG-Vertrag alter Fassung), indem der Europäischen Kommission und dem Rat beträchtliche - gemeinschaftsweite - Lenkungsfunktionen zugewiesen werden. Andererseits besteht durchaus die Gefahr eines gegenseitigen Hochschaukelns nationaler (eigennütziger) Industriepolitiken innerhalb der Gemeinschaft. Die Hauptproblemfelder staatlicher Industriepolitik sind daher offensichtlich (stichwortartig) die verstärkte Tolerierung von KarteIlen (im Sinne einer sehr weiten Auslegung deutscher Kartellnormen), eine Tendenz zu nationaler Protektion gegenüber dem Ausland bei gleichzeitiger Abwälzung bestimmter Unternehmensrisiken auf den Staat sowie ein Zielkonflikt zwischen Bürokratisierung und angestrebter Flexibilität: Will man z.B. ungerechtfertigte Mitnahmeeffekte bei Förderungen und Subventionen verhindern, muss bürokratisch kontrolliert werden. Andernfalls muss man Absickereffekte in Kauf nehmen. Dies steht auch mit dem übernächsten, aber auch dem nächsten Aspekt in Zusammenhang. <?page no="285"?> 9.7. Dedication, Commitment, Accountability, Good Governance Ich entschuldige mich für die englische Formulierung, aber diese drei Vokabeln, mit denen ich es seit über 30 Jahren Praxis im internationalen Consulting- und Evaluierungsgeschäft der Unternehmensberatung und der Entwicklungszusammenarbeit zu tun habe, beschreiben unvollkomme, aber näherungsweise, woran es oft fehlt: «Dedication» und «Commitment» können beschrieben werden mit Hingabe, Einsatz, Verpflichtung, Engagement; Accountability ist die (ehrliche und tatsächliche) Verantwortlichkeit und die Übernahme von Verantwortung, Haftung und Rechenschaftspflicht; Good Governance ist die Qualität der Regierungsführung, gemessen an den eigenen Ansprüchen, insbesondere aber an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Bevölkerung. Wir diskutieren derzeit gravierendste Probleme im Bereich der Beschäftigung (dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, Globalisierungsdruck, Bevölkerungsentwicklung), der Sozialsysteme (Renten, Staatsverschuldung), der Gesundheitspolitik («Zwei-Klassen-Gesellschaft»), des Bildungswesens (dto., Pisa-Defizite), der Energiepolitik (Abhängigkeiten, Versorgungslücken), last not least Umweltprobleme (eher Umweltkrisen: Klimawandel). In sehr vielen Fällen meine ich zu beobachten, dass die politischen und staatlichen Entscheidungsträger oft losgelöst von dieser Erde agieren, vielleicht weil sie von den Problemen, die sie lösen sollen (wollen? ), aber auch von ihren eigenen Aktionen persönlich nicht sonderlich betroffen werden. Mir fehlt zu oft der «Biss», das hartnäckige Engagement bis hinunter auf die operative Ebene, und oft auch die wirklich «gemeinte» und gelebte Vision und die Mission auf der strategischen Ebene. Wenn es dann nicht so läuft, tritt man eben mit erworbenem Vermögen, Abfindung und Versorgungsansprüchen zurück und ruht sich aus - der Nächste bitte. Ich habe viele Politiker im In- und Ausland getroffen, denen es primär überhaupt nicht um die Lösung der Probleme ihres Landes und konkret der Bevölkerung ging, sondern zu allererst um ihre eigenen Interessen, was oft nur Machterhalt und Wiederwahl bedeutet. Wenn beides zusammenpasst - fein. Wenn nicht - raten wir, was wichtiger ist. Vor diesem Hintergrund erhalten Diskussionen um wirtschaftspolitische Konzeptionen eine andere Qualität. 9.7. Dedication, Commitment, Accountability 255 9.7. Dedication, Commitment, Accountability 255 <?page no="286"?> l d 256 9. Alternative Grundpositionen 9.8. Standort Deutschland und Flexibilisierung Die Attraktivität des Standortes Deutschland beginnt offensichtlich zu bröckeln; andere Studien versuchen, das Gegenteil zu belegen. Die ausländische Investitionstätigkeit in Deutschland ist drastisch zurückgegangen; inländische Unternehmen wandern zunehmend ins Ausland aus, verlagern bestimmte arbeitsintensive (also kostenträchtige) Funktionen oder lassen im Rahmen passiver Veredelung im Ausland produzieren; ausländische Direktinvestitionen fließen nicht mehr so wie früher nach Deutschland, sondern wenden sich - innerhalb Europas - z.B. Irland oder Großbritannien zu. Dies bedroht die Sicherheit von Arbeitsplätzen, zumal die Konkurrenzsituation auf den Weltmärkten durch das Vordringen von Schwellenländern sehr hart geworden ist. Es ist schwer, dafür insgesamt eine präzise Begründung zu liefern, zumal offenbare strukturelle Probleme überlagert und verstärkt werden durch konjunkturelle Einbrüche, auch weltwirtschaftlicher Art. Ein zentraler Punkt ist sicherlich die Kostensituation in der verarbeitenden Industrie. Dabei wird immer wieder auf die - im internationalen Vergleich - (zu? ) hohen Lohnkosten hingewiesen. Das ist pauschal ebenso richtig wie falsch: Die Bruttolohnkosten sind vergleichsweise hoch (richtig), aber dies liegt in starkem Maße nicht am tariflichen Arbeitslohn i. e. S., sondern an den gesetzlichen Lohnnebenkosten (also falsch) (vgl. Abschnitt 3.7.1). Im Zusammenhang mit dem Stichwort «Sicherung des Standorrr tes Deutschland» werden auch verschiedene Aspekte diskutiert, die sich unter dem Begriff «Flexibilisierung» zusammenfassen lassen. Dies bezieht sich u.a. auf eine Auflockerung der gesetzlichen und tarifrechtlichen Regulierungen für die Arbeitszeit und -dauer, auf die Aufhebung von Vorschriften für den Ladenschluss und die Rabattgewährung, auf die Vereinfachung von administrativen Rahmenbedingungen bei Genehmigungen und Planungen (u.a. bei Investitions- und Bauvorhaben, Patentanmeldungen oder bei der Exportkontrolle), auf die Erhöhung der Effizienz im Bereich staatlicher unternehmerischer Tätigkeit, auf die Zulässigkeit privater Arbeitsvermittlung, u.a. m. Einige dieser «Flexibilisierungen» bedeuten beträchtliche Einschnitte in gewohnten Besitzstand, insbesondere im Tarifrecht. Nicht zu übersehen ist, dass eine Reihe von Veränderungen in der jüngeren Vergangenheit auch durch haushaltspolitische Zwänge bedingt sind, wobei staatlicherseits versucht wird, sich von kostenträchtigen Aufgaben zu lösen. <?page no="287"?> Die staatlichen Bemühungen führten auf der einkommenspolitischen Ebene zu einer ziemlich langen Kette von Belastungen (Steuern, Renten, Gesundheit…), die sicherlich auch mit dazu beitragen, dass der Standort Deutschland von jährlich etwa 150.000 bis 250.000 hochqualifizierten, meist jungen Fachkräften verlassen werden (vgl. Abschnitt 4.9) - sicherlich aus den verschiedensten Gründen, aber offenbar reichen die Standortkräfte nicht aus, um sie zu halten. Das wirtschaftspolitische Instrumentarium, das in den folgenden Kapiteln des IV. Teils dieses Buches behandelt wird, steht prinzipiell sowohl für eine nachfrageals auch für eine angebotsorientierte Politik zur Verfügung. Dies gilt für die finanz- und fiskalpolitischen ebenso wie für die geldpolitischen und außenhandelspolitischen Instrumente. Die Systematisierung geht von der Überlegung aus, dass zunächst die eher binnenwirtschaftlich orientierten Bereiche betrachtet werden. Das folgende Kapitel 10 behandelt das finanzpolitische Instrumentarium, d.h. die Gestaltung der öffentlichen Haushalte mit wirtschaftspolitischen, insbesondere konjunkturellen Zielsetzungen, im Sinne keynesianischer Globalsteuerung. Im Kap. 11 wird die Geld- und Kreditpolitik der deutschen Bundesbank betrachtet, die über viele Jahre hinweg einen grundsätzlich durchaus antizyklischen (keynesianischen) Kurs steuerte, jedoch in der jüngeren Vergangenheit - im Einklang mit der und der Europäischen Zentralbank (EZB) - eine mehr monetaristische Position vertritt. Die in den Kap. 12 (Währungspolitik) und 13 und 14 (Zoll-, Handels- und Entwicklungspolitik) betrachteten außenwirtschaft ff lichen Bereiche der Wirtschaftspolitik enthalten sowohl geldals auch finanzpolitische Instrumente. Eine Aufteilung entsprechend den Kap. 10 und 11 wäre möglicherweise systematisch einleuchtend, jedoch für das Verständnis und den Zusammenhang unbefriedigend, so dass sie in sich geschlossen behandelt werden. 9.8. Standort Deutschland und Flexibilisierung 257 9.8. Standort Deutschland und Flexibilisierung 257 <?page no="289"?> IV. Teil: Wirtschaftspolitisches Instrumentarium und ausgewählte Politikfelder In diesem Teil wird das wirtschaftspolitische Instrumentarium dargestellt, das zur Erreichung der im II. Teil beschriebenen Ziele grundsätzlich zur Verfügung steht. Auswahl und Einsatz dieser Instrumente hängen in der konkreten Wirtschaftspolitik dabei von der Art der verfolgten wirtschaftspolitischen Konzeption ab (Teil III). Die systematische Zuordnung der Instrumente ist dabei nicht unproblematisch. Sehr vereinfacht könnte man zwischen geld- und finanzpolitischen Instrumenten unterscheiden, wobei dann währungspolitische Maßnahmen der Geldpolitik zuzurechnen wären. Viele außenwirtschaftliche Instrumente wie z.B. Zölle könnten der Finanzpolitik zugerechnet werden. Andererseits aber sind währungspolitische Aspekte in hohem Maße für die Außenwirtschaft von Bedeutung, wobei vor allem an Wechselkursveränderungen zu denken ist, so daß sich hier - und bei anderen Aspekten - Überschneidungen ergäben. Für die Darstellung ist daher unter Zurückstellung systematischer Bedenken eine Einteilung gewählt worden, nach der zwischen finanz-, geld-, währungs- und außenwirtschaftlichen Instrumenten unterschieden wird. 10. Finanzpolitik 10.1. Das finanzpolitische Dilemma Der Staat soll - je nach Staatsphilosophie - bestimmte Aufgaben übernehmen, die von den individuellen Bürgern nicht erfüllt werden können oder sollen. Wir gehen im Abschnitt 2.1 ausführlicher darauf ein. Für diese Aufgaben stellen die Bürger dem Staat Haushaltsmittel zur Verfügung in Form von Steuern, Gebühren, aber auch Krediten. Diese Haushaltsmittel verwendet der Staat - so die Theorie - zum Wohle der Bürger. Staatliche Einnahmen und Ausgaben werden im <?page no="290"?> l k 260 10. Finanzpolitik öffentlichen Haushalt (Budget) erfasst, sowohl auf kommunaler Ebene als auch in den Ländern und auf Bundesebene. Daher wird die Entwicklung der staatlichen Haushalte von der Öffentlichkeit argwöhnisch beobachtet. Fragen der staatlichen Finanzpolitik gelten tendenziell als ‹spröde› und nur für zahlenorientierte Spezialisten interessant. Da ist im Detail schon etwas dran: Der Bundeshaushaltsplan hat einen Umfang von gut 2800 Seiten, und die 24 Bände bilden übereinandergelegt einen Stapel von 115 cm Höhe mit rund 7000 Titeln (‹Konten›). Aber die Finanzpolitik ist das Rückgrat jeglicher staatlichen Aktivität. Vor dem Hintergrund der massiven Beschäftigungsprobleme in Deutschland ist die staatliche Finanzpolitik gegenwärtig zum einen der Dreh- und Angelpunkt der innenpolitischen Diskussion; zum anderen besteht gleichzeitig auf der europäischen Ebene eine massive Krise, weil die Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht eingehalten werden (Abb. 10.1/ 1). Im deutschen Kontext geht es um eine Flut von Reformen - sowohl in der Arbeitsmarktpolitik als auch der Haushaltspolitik, tendenziell mit Einschnitten ins «soziale Netz» -, die von Befürwortern nachdrücklich begründet («Das solide Reformkonzept sichert die Zukunft») und von Kritikern vehement abgelehnt werden («Unseriöse Haushaltsführung», «Finanzpolitik auf Zuruf», «einseitige Lastenverteilung»). Während die einen über die Kürzung gewohnter Ausgaben klagen, machen sich die anderen über die rasant steigende Staatsverschuldung Sorgen. Grundsätzlich muß zwischen Fiskalpolitik und Finanzpolitik unterschieden werden, weil zwischen ihnen ein latenter Zielkonflikt besteht. Zur Fiskalpolitik sind alle staatlichen Maßnahme zu rechnen, deren Ziel es ist, den Staatshaushalt in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen. Fiskalpolitik ist in diesem Sinne also «kassenorien- Abb. 10.1/ 1 ! 4.%3 &.# 40&&02#,/ &/ *$/ "(220 0-%/ 0 0&%/ *(+-#(! ,& ! (+%&" (+- '&$ )+'&. 0"! / #-+.*.###$%-,# -( 0&)' 1 <?page no="291"?> 10.1. Das finanzpolitische Dilemma 261 10.1. Das finanzpolitische Dilemma 261 tiert». 39 Unter Finanzpolitik hingegen sind Maßnahmen zu verstehen, die anderen Zielen als dem Haushaltsausgleich dienen und möglicherweise sogar mit der fiskalischen Zielsetzung in Konflikt stehen. So sollen etwa Steuerreformen den Haushalten und Unternehmen Kaufkraft zuführen, die diese - so die Hoffnung - durch Erhöhung der Güternachfrage konjunkturbelebend einsetzen werden. Daraus ergeben sich aber fiskalische Probleme wegen zunächst ausbleibender Einnahmen, die tendenziell durch zusätzliche Schulden finanziert werden müssen. Die Finanzpolitik dient - im Gegensatz zur Fiskalpolitik - also der wirtschaftspolitischen (gesamtwirtschaftlichen) Steuerung und Gestaltung; sie stellt einen der wirtschaftspolitischen ‹Instrumentenkästen› dar. Die in der deutschen Literatur anzutreffende Gleichsetzung von Finanzpolitik und Fiskalpolitik ist offensichtlich auf eine undifferenzierte Übersetzung des englischen Begriffs «fiscal policy», zurückzuführen, der aber im Sinne von ‹Finanzpolitik› verwendet wird; Fiskalpolitik wird inhaltlich eher als «tax policy» übersetzt. Die gegenwärtig sehr deutlich sichtbare immense politische Bedeutung der Finanzpolitik zeigt auch, daß es sich dabei keineswegs um eine trockene Materie geht, in der sich Spezialisten um spröde Zahlen streiten. 10.1.1. Wandel der Aufgabenstellung Mit der Evolution der Wirtschaftsordnung ist im Zeitablauf ein Wandel der AufgabensteIlung des Staates einhergegangen; alle Element sind in der heutigen ‹sozialen Marktwirtschaft› Deutschlands integriert. In der reinen oder klassischen Marktwirtschaft liberalistischer Prägung (auch als «laissez-faire-Wirtschaft» oder abwertend als «Nachtwächterstaat» bezeichnet), übernahm der Staat nur allgemeine Regelungsfunktionen (Gesetzgebung, Rechtsprechung), ohne aber den Wirtschaftsprozeß darüber hinaus durch aktive Handlungen zu beeinflussen. Mit der Entwicklung zur sozialen Marktwirtschaft im engeren Sinne übernahm der Staat zusätzliche absichernde und umverteilende Aufgaben aus sozialer Verantwortung heraus (u.a. Sozialversicherungen, progressives Steuersystem, Subventionen). Mit der sog. Globalsteuerung kommt hinzu, daß der Staat durch allgemein wirkende (globale) Maßnahmen (z.B. mittels der Ausgaben- oder der Zinspolitik) die Wirtschaftsentwicklung und den Konjunkturverlauf beeinflussen will. Das Konzept der Globalsteuerung 39 Fiskus stammt von (lat.) bulgas, d.h. Ledersack ab und findet sich in (altfrz.) gougette wieder.) <?page no="292"?> l k 262 10. Finanzpolitik basiert auf der Vorstellung einer optimalen Mischung von staatlicher Planung der gesamtwirtschaftlichen Beziehungen und dem Festhalten am Wettbewerbsprinzip für die Regelung der einzelwirtschaftlichen Beziehungen. Schließlich greift der Staat in der interventionistischen Marktwirtschaft - in Abweichung von den Prinzipien der reinen Marktwirtschaft - punktuell und gezielt in das Marktgeschehen ein, z.B. durch Subventionierung bestimmter Branchen (Bergbau, Schiffbau) und durch sog. Marktordnungen im landwirtschaftlichen Bereich («gelenkte Marktwirtschaft»). Diese Ausweitung der Staatsaufgaben spiegelt sich auch in der Entwicklung der Staatsquote wider (Abschnitt 2.2) (Abb. 10.1/ 2). 10.1.2. Hauptsächliche Funktionen des Staatshaushalts Der Staatshaushalt hat drei Funktionen zu erfüllen. Die erste besteht darin, daß die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen durch Einnahmen finanziert werden muß. In dieser fiskalischen Abb. 10.1/ 2: Wandel der Probleme <?page no="293"?> 10.1. Das finanzpolitische Dilemma 263 10.1. Das finanzpolitische Dilemma 263 Funktion soll der Staat den gesetzlichen Bestimmungen nach einen ausgeglichenen Haushalt anstreben (Art. 110 GG). Vereinfachend gesagt bedeutet dies, daß der Staat nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt - dies ist das ‹klassische› Bestreben nach einem jährlich ausgeglichenen Haushalt. Als zweite Aufgabe kommt es dem Staat zu, Ungleichheiten abzumildern, was sich u.a. ausdrückt in der Höherbesteuerung der Gutverdienenden, in der Zahlung von Subventionen und im Finanzausgleich zwischen den Bundesländern. Dies bezeichnet man als Umverteilungsfunktion. Die dritte Funktion ist die Stabilisierungsfunktion, um unerwünschten gesamtwirtschaftlichen Effekten - Arbeitslosigkeit, Preissteigerungen - durch staatliche Maßnahmen entgegenzuwirken. Dies ist erklärungsbedürftig: Nach der klassischen Theorie der Marktwirtschaft müßte sich ein Phänomen wie Arbeitslosigkeit - als Abweichung vom ‹klassischen› Gleichgewicht - eigentlich über den Preismechanismus durch sinkende Löhne von selbst beheben. In den Kapiteln über Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung haben wir bereits die Besonderheiten eines keynesianischen Arbeitsmarkts mit Mindestlöhnen dargestellt. Dadurch kann die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht im erforderlichen Umfang durch sinkende Löhne angeregt werden, im Gegenteil: Eine strenge Befolgung des gerade erwähnten «klassischen Budgetprinzips» hätte wegen der unstetigen konjunkturellen Entwicklung unangenehme Konsequenzen. Etwa Dreiviertel der Staatseinnahmen sind Steuern (vgl. Abschnitt 10.3.1). Besteuert werden jedoch vorrangig Tatbestände, die sich parallel zum Konjunkturverlauf verändern: Im Konjunkturabschwung gehen z.B. die Umsätze und somit die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer zurück; steigende Arbeitslosigkeit vermindert Lohn- und Einkommensteuereinnahmen; Analoges gilt für rückläufige Unternehmergewinne und Kapitalerträge, kurz: Im Abschwung müßten dem klassischen Budgetprinzip nach - bei sinkenden Staatseinnahmen - die Staatsausgaben inklusive der staatlichen Nachfrage nach Arbeitskräften gekürzt werden, was die schwache Beschäftigung noch mehr dämpfen würde. Umgekehrt würden sich im Aufschwung die Staatseinnahmen erhöhen, was zu verstärkter Ausgabetätigkeit führen würde und zu unerwünschten Preissteigerungen führen könnte («überhitzte Konjunktur»). Eine solche «Parallelpolitik» würde also prozyklisch wirken und die Konjunkturwellen verstärken (sie wird übrigens in starkem Maße auf Gemeindeebene betrieben, da das kommunale Handeln stark vom verfügbaren Budget abhängig gemacht wird). Ein gutes schlechtes Beispiel stellt die Weltwirtschaftskrise von 1929-30 dar, <?page no="294"?> l k 264 10. Finanzpolitik während derer in vielen Staaten bei depressionsbedingt rückläufigen Staatseinnahmen auch die Staatsausgaben entsprechend gekürzt wurden, so daß sich die Krise verschärfte («Kaputtsparen»). Daß dies nicht der Sinn des Staatseinflusses sein kann, ist offensichtlich. Folglich ist der strenge Grundsatz «Summe der Ausgaben = Summe der laufenden Einnahmen» nicht in dieser elementaren Form beizubehalten. Zwar wirken zahlreiche Einzelpositionen dem Konjunkturzyklus automatisch entgegen (z.B. die Arbeitslosenversicherung wirkt dem Einkommensausfall entgegen, progressive Steuern schöpfen wachsende Kaufkraft ab). Diese eingebauten Stabilisatoren («built-in-flexibility») reichen jedoch nicht aus. 40 Vielmehr argumentieren Befürworter keynesianisch orientierter Wirtschaftspolitik, daß sich der Staat antizyklisch verhalten und den Konjunkturbewegungen entgegenwirken soll, indem er z.B. im Konjunkturabschwung die private Nachfrage durch kaufkraftverstärkende Maßnahmen unterstützt oder durch zusätzliche eigene, staatliche Nachfrage. Die EU-Kommission hat dies fast poetisch als «atmender Haushalt» bezeichnet. Da im Abschwung die Staatseinnahmen tendenziell sinken, kann eine Nachfrageverstärkung nur über staatliche Verschuldung finanziert werden (sog. «deficit spending»), sofern nicht auf Rücklagen zurückgegriffen werden kann. Der o.a. Vorschrift des Art. 110 GG, daß der Haushalt in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sein muß, kann daher nur dadurch Rechnung getragen werden, daß nach den haushaltsrechtlichen Vorschriften Schulden zu den laufenden Einnahmen gezählt werden. So einfach ist das. Im Konjunkturaufschwung soll der Staat dann aus dem zunehmendem Steueraufkommen für dosierten Schuldenabbau sorgen oder eventuelle Haushaltsüberschüsse stillegen: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz schreibt die Führung einer sog. Konjunkturausgleichsrücklage vor. Sie ist einem Sparkonto vergleichbar, das in guten Zeiten aufgefüllt und von dem in schlechten Zeiten abgehoben werden kann. Dies ist das Grundprinzip der antizyklischen Finanzpolitik. Es ist in der Vergangenheit aber nicht gelungen, die Dynamik der Staatsverschuldung mit solchen antizyklischen Überlegungen in Einklang zu bringen. Wir werden diesem Aspekt in Abschnitt 5 nachgehen. 40 Im Rahmen einer ‹formelgesteuerten Budgetpolitik› («formula-flexibility») wird gesetzlich vorgeschrieben, in welchen Fällen und in welchem Umfang bestimmte Maßnahmen zu ergreifen sind. Bei dieser Form der Budgetpolitik handelt es sich jedoch nur um eine wissenschaftlich entwickelte Variante, die in der Praxis (bisher) noch nicht angewendet wurde. <?page no="295"?> 10.2. Öffentliche Güter und Staatsquote Die Frage, welche Aufgaben der Staat übernehmen soll und welche privatwirtschaftlich durchgeführt werden sollen, läßt sich nicht allgemeingültig beantworten. Sie hängt zum einen vom Staatsverständnis ab, was letztlich eine ideologische Wertung der Rolle des Staat in der Gesellschaft bedeutet, zum anderen - aber mit dem Vorangehenden zusammenhängend - kommt es darauf an, in welchem Umfang der Sozialstaat verwirklicht und das Prinzip der Gleichbehandlung des einzelnen angewendet werden soll. 10.2.1. Öffentliche und private Güter Dies berührt die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Gütern. Als private Güter werden solche bezeichnet, für die Markt existiert und für die der Nachfrager einen Preis zahlen muß. Wer dies nicht will (oder kann), wird von der Nutzung dieser Güter ausgeschlossen (Ausschlußprinzip). Als öffentliche Güter werden Güter bezeichnet, von deren Nutzung der einzelne nicht ausgeschlossen werden kann. Somit wird er auch nicht bereit sein, freiwillig dafür den Preis zu zahlen («Trittbrettfahrer»). Wenn die Möglichkeit der Zahlungserzwingung fehlt, wird sich auch kein privater Anbieter für diese «spezifischen» öffentlichen Güter finden. Zudem müssen bestimmte hoheitliche Funktionen vom Staat wahrgenommen werden (Rechtsprechung, allgemeiner Sicherheitsbereich: u.a. Polizei, Armee). Solche Güter können daher nur mittelbar über Steuern finanziert werden. Bei einigen Gütern kann die Versorgung sowohl privat als auch staatlich erfolgen. So werden Autobahnen in einigen Ländern mittelbar über Steuern, in anderen unmittelbar über Gebühren (mit)finanziert. Im Gegensatz zu den «spezifischen» gibt es «meritorische» öffentliche Güter, für die es durchaus einen privaten Markt mit funktionierendem Ausschlußprinzip gäbe. Aus bestimmten, meist sozialpolitischen Gründen werden diese Güter aber zu nicht kostendeckenden Preisen (Kindergärten, Freibäder, Theater) oder sogar umsonst angeboten (Schulen, Hochschulen), so daß sich der Staat durch diese Nutzenstiftung ein Verdienst («merit») erwirkt. Abb. 10.2/ 1 verdeutlicht die z.T. sehr geringen Kostendeckungsgrade solcher Güter. Die Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Gütern ist somit unter fiskalischen Aspekten ein zentraler Punkt für die Erhebung von allgemeinen Steuern. Öff l h d 10.2. Öffentliche Güter und Staatsquote 265 <?page no="296"?> l k 266 10. Finanzpolitik 10.2.2. Staatsquoten In der politischen Berichterstattung - nicht nur in den Medien - wird gerne mit Quoten operiert, welche den Anteil bestimmter Ausgaben oder Einnahmen an bestimmten volkswirtschaftlichen Aggregaten darstellen. Diese Quoten sind rechnerisch (meist) richtig, aber verwirrend, weil sie mal so, mal so berechnet werden und je nach Intention tendenziell höhere oder niedrigere Werte ausweisen. 10.2.2.1. Ausgabenquote «Messbar» ist das Ausmaß der Staatstätigkeit an der Staatsquote. Hierunter versteht man den Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (Ausgabenquote). Die Staatsquote beschreibt also nicht den Teil der Wirtschaftsleistung, den der Staat für sich in Anspruch nimmt, sondern den Teil, der über staatliche Aktivitäten (mit-)finanziert wird. Hierin sind auch Transferleistungen enthalten wie z.B. Kindergeld, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe und Subventionen aller Art, also Positionen, die kein Staatskonsum sind, sondern sich in den Ausgaben von Haushalten und Unternehmen niederschlagen. Allerdings fällt auf, daß unterschiedliche Staatsquoten für dieselbe Periode ausgewiesen werden. Da das Inlandsprodukt eine weitgehend ‹objektive› Größe ist, kann dies nur an der Interpretation des Begriffs der Staatsquote liegen, und tatsächlich gibt es hierbei keine Abb. 10.2/ 1: Kostendeckungsgrade kommunaler öffentlicher Güter Stadtwald Volkshochschule Straßenreinigung Märkte Bäder Friedhöfe Stadthalle Kindergarten Theater Museen Büchereien 95 83 70 68 40 57 53 35 48 20 10 (durchschnittliche, nicht-repräsentative Angaben verschiedener Kommunen) <?page no="297"?> Öff l h d 10.2. Öffentliche Güter und Staatsquote 267 Abb. 10.2/ 2: Staatsquote Deutschland (Ausgabenquote) 1950 13,1 24,0 7,1 1960 32,9 23,7 9,2 1970 39,1 27,9 11,2 1980 48,9 32,0 16,9 1990 46,0 30,6 15,4 1995 57,7 38,6 19,1 Staatsquote Deutschland (Ausgabenquote) Quelle: Statistisches Bundesamt,SVR Jahr Staat insgesamt Gebietskörperschaften Sozialversicherungen (ohne Sozialvers.) <?page no="298"?> l k 268 10. Finanzpolitik Übereinstimmung. Eine enge Auslegung erfaßt nur die Ausgaben, die von den Gebietskörperschaften (Bund, Ländern, Gemeinden) geleistet werden. Hinzukommen können die Ausgaben der Sozialversicherungsträger, wodurch sich natürlich eine höhere Staatsquote ergibt (Abb. 10.2/ 2). 1995 war der Höhepunkt in der Entwicklung der Staatsquote mit 57,7% erreicht (38,6% nur für die Gebietskörperschaften), bedingt durch enorme Transferzahlungen in die neuen Bundesländer. Vor der Bundestagswahl 1998 visierte die alte Bundesregierung ein Absinken der Staatsquote auf rd. 40% an; der Abwärtstrend wurde aber von den konjunkturellen Abschwächungen gebremst. In allen Industrieländern ist eine Tendenz zu beobachten, daß sich der Staat ‹zurückzieht›; statt staatlicher Fürsorge wird die Selbstverantwortung betont. Natürlich ist dies eine Konsequenz leerer Kassen und steigender Kosten. Folglich sinken die Staatsquoten (Ausgabenquoten). Der internationale Vergleich der Staatsquoten ist jedoch ohne zusätzliche Informationen kaum möglich. So zählen in Schweden, Dänemark und Frankreich die Kinderbetreuung, die Gesundheitsversorgung, die Energiewirtschaft die Post und die Altersvorsorge zu den Staatsaufgaben - entsprechend hoch sind die Ausgaben. In anderen Ländern - so USA und Spanien - müssen die Bürger für vieles selbst sorgen. In Dänemark wird vieles über Steuern finanziert, in Schweden mehr über Abgaben; in den USA müssen Gesundheitsleistungen privat versichert werden; statt Kindergeld können Steuerbefreiungen in Anspruch genommen werden, etc. (Abb. 10.2/ 3). 10.2.2.2. Abgabenquote Mit der gerade betrachtetem Staatsquote i.S.v. Anteil der Staatsausgaben am Inlandsprodukt (Ausgabenquote) sollte nicht die Abgabenquote verwechselt werden: Diese drückt das Verhältnis von Abgaben zur Wirtschaftsleistung (Inlandsprodukt) aus (Abb. 10.2/ 4). Verwirrung kann entstehen, weil teils das Verhältnis der Steuerzahlungen plus Sozialabgaben (Abgabenquote), teils nur der Steuerzahlungen zum Inlandsprodukt (Steuerquote) ausgewiesen wird. Während die Abgabenquote in Deutschland bei 48,9 Prozent liegt, beträgt die Steuerquote 22-24 Prozent, je nach Berechnung: Das Bundesfinanzministerium klammert nämlich (im Gegensatz zur OECD-Praxis) das Kindergeld und die Eigenheimzulagen als Steuermindereinnahmen aus, was die Steuerquote rechnerisch verkleinert. Die Steuerquote ist aber eine Durchschnittszahl, die überhaupt nichts aussagt über die enorme individuelle Spreizung der Steuerbelastungen, die von Null <?page no="299"?> Abb. 10.2/ 3: Staatsquoten international (Ausgabenquote) 20 30 40 50 Australien Irland Schweiz Vereinigte Staaten Japan Spanien Kanada Luxemburg Norwegen Neuseeland Verein. Königreich Deutschland Griechenland Niederlande Portugal Euro-Raum Itali en Österreich Belgien Finnland Dänemark Frankreich Schweden 0 60 10 Ausgaben in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (vH) Quelle: OECD Öff l h d 10.2. Öffentliche Güter und Staatsquote 269 <?page no="300"?> l k 270 10. Finanzpolitik bis zum Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von über 50 Prozent reicht. Ferner werden die Abgaben - wie immer abgegrenzt - teils zum Inlandsprodukt, teils zum Volkseinkommen in Relation gestellt. Logischerweise ist die Relation zum kleineren Volkseinkommen höher. Bis 1989 lag diese Quote noch bei 38-40%, wurde dann aber - nach einer deutlichen Senkung aufgrund der Steuerreform 1990 - durch die Wiedervereinigungseffekte wieder kräftig angehoben. Natürlich stehen Ausgaben- und Abgabenquoten in direkter Beziehung, da die Staatsausgaben über die Abgaben finanziert werden. Abb. 10.2/ 4 verdeutlicht, daß Deutschland in der EU die zweithöchste Abgabenquote aufweist. Eine anders definierte Abgabenquote ergibt sich, wenn man den Prozentsatz angibt, mit dem die Bruttoeinkommen durch Steuern belastet werden, also den Anteil der Abgaben am Bruttoeinkommen berechnet. 1970 lag diese Belastung mit 22% deutlich niedriger als heute (im Durchschnitt ! ) mit über 33%. Dies liegt zum einen an den gestiegenen Beitragssätzen der Sozialversicherungen (Renten-, Kran- Abb. 10.2/ 4: Abgabenquote 2*/ 1/ ! #$3+/ 45,.5/ (&! '#/ $*()# .! - 1/ ( 0/ %# 9'( "678 D9N)9"422B5"4 J5 C"; N8"J&L '&@ %$@ *>&&>$@ .@> E2"88"B ; =? > <7 : 460"72 $"3 @<: %* %R #* #R ! * ! R 'CPR 'CNR 'CC* 'CCR %*** %**# %**! %**R 19%4 ! $%$ ! <%6 <#%2 <<%! .B@+/ B81>3 (A? 8BB81>3 08=? A>3-@+; ,>3: 817 *8B81+15? 8 ,? @@? 8+ <?page no="301"?> ken-, Arbeitslosenversicherung), zum anderen an der Steuerprogression, die bei wachsenden Einkommen zu höheren Steuersätzen führt. Aber wie schon betont: Hier sagt eine Durchschnittszahl recht wenig aus. In den Medien sind Statistiken beliebt, wie lange der Bürger arbeiten muß, um seine Abhaben an das Finanzamt und die Sozialversicherungen zu verdienen («Steuergedenktag»). In Deutschland waren es 1953 noch 52 Arbeitstage, 1983 bereits 109 Tage, 2003 sind es 129 Tage. Kalendarisch geht diese Zeitspanne bis in den August. Nur die Belgier und Schweden müssen länger arbeiten; die Schweizer, Japaner, Amerikaner, Neuseeländer und Türken sind schon im Mai fertig (Quellen: iwd, Statistisches Bundesamt, DIW, Globus 8801). 10.2.2.3. Spezielle Staatsquoten In vielen Zusammenhängen werden Quoten ausgewiesen für den Anteil bestimmter Ausgaben, u.a. am Inlandsprodukt oder am Staatshaushalt, beispielsweise Bildungsausgaben, Verteidigungsausgaben, Sozialausgaben, Forschungsausgaben, Entwicklungshilfe. Nicht selten ergeben sich dabei Abgrenzungsprobleme, weil ein und dieselbe Ausgabe - z.B. ein Forschungsprojekt an einer Hochschule - auch andere Aufgabenbereiche berührt, z.B. Sozialausgaben. 10.2.3. Entwicklung der Staatsquote Historisch betrachtet, ist eine Zunahme der Staatsquote im Zeitablauf zu beobachten. Bereits 1863 hat der Finanzwissenschaftler Adolf Wagner das «Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeit» abgeleitet. Nach dem sog. Brecht›schen Gesetz nehmen die öffentlichen Pro-Kopf-Ausgaben mit der Bevölkerungsdichte zu. Einen großen Anteil daran haben die Personalausgaben. Der relative Anteil der Personalausgaben an den Gesamtausgaben hat sich im Zeitablauf kaum verändert. Gefördert werden Ausgabensteigerungen auch durch die Anspruchshaltung der Bevölkerung gegenüber dem Staat, sowohl was die soziale Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Sozialversicherung) als auch die physische Infrastruktur anbelangt (Gebäude, Straßen). In diesem Zusammenhang ist auch auf die oben angesprochene Umverteilungsfunktion, insbesondere in Form zahlreicher staatlicher Subventionen zu verweisen. Vor allem in Problemsituationen ergeht gerne die Aufforderung an den Staat, er möge regelnd und insbesondere risikoübernehmend eingreifen. Offensichtlich ist es in der konkreten politischen Praxis sehr schwierig, die Staatsausgaben zu reduzieren (Abb. 10.2/ 5). Eine Öff l h d 10.2. Öffentliche Güter und Staatsquote 271 <?page no="302"?> l k 272 10. Finanzpolitik zunehmende Staatsquote ist aber nicht nur eine statistische Feststellung: Ein zunehmender Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt muß auch finanziert werden, und zwar entweder durch zunehmende Steuereinnahmen, was möglicherweise Steuererhöhungen nach sich zieht, oder durch öffentliche Verschuldung. Wir werden darauf noch zurückkommen. Das Ausmaß von Staatsaktivitäten wird durchaus gegensätzlich beurteilt. Von den Befürwortern wird insbesondere angeführt, daß der Staat besser als Private in der Lage sei, bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Von den Gegnern wird der Staat eher als Hemmnis betrachtet, der die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten einengt, wobei insbesondere auf die zunehmende Gesetzes- und Verordnungsflut und auf eine wuchernde, aber ineffiziente Bürokratie verwiesen wird. Hierin spiegeln sich auch die grundsätzlichen Ansichten der Anhänger einer angebots- oder nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik wider. Da sich der Staatshaushalt teils über Steuern, teils über Kreditaufnahme finanziert, bedeutet eine Ausweitung des Budgets entweder die Notwendigkeit zusätzlicher Steuereinnahmen und/ oder wachsende Verschuldung (vgl. zur Verschuldungsproblematik Abschnitt 5). Mit der Hinwendung von der nachfrageorientierten zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, nach der u.a. die staatliche Aktivität zurückgenommen werden sollen, ist die Staatsquote tendenziell rückläufig (vgl. oben) (unbeschadet des deutliche Anstiegs ab 1990 aufgrund der Haushaltswirkungen im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung). Eine Rückführung der Staatsquote erscheint des- Abb. 10.2/ 5: Wo soll gekürzt werden? Quelle: Politbarometer 10/ 2005 Von je 100 Bundesbürgern sagen: (Mehrfachnennungen) Öffentliche Verwaltung 85 Verteidigungsetat 75 Europäische Union 66 Entwicklungshilfe 40 Justiz 35 Subventionen Kohle/ Stahl 32 Subventionen Landwirtschaft 31 Forschung 26 Arbeitslosengeld 19 Sozialleistungen 19 Umweltschutz 10 Polizei 9 Schule 8 <?page no="303"?> halb sinnvoll, weil mit der staatlichen Aktivität auch das Ausmaß der staatlichen Planung zunimmt, welche wiederum eine starke informatorische und instrumentale Verzahnung mit dem privaten Wirtschaftsgeschehen bedingt. Je größer aber das Ausmaß der planerischen und sonstigen staatlichen Aktivität ist, desto inflexibler und eingeschränkter wird aber die staatliche und private Handlungsfähigkeit. Selbstverständlich ist dies ein Werturteil. 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 10.3.1. Haushaltsplanung Zur Durchführung seiner Aufgaben braucht der Staat - auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene - entsprechende Mittel. Die erwarteten Einnahmen werden den in der Zukunft geplanten Ausgaben in Haushaltsplänen gegenübergestellt. Als Beispiel dient hier der Bundeshaushalt, doch gelten die Ausführungen analog auch für die Länder und Gemeinden. 10.3.1.1. Haushaltsstruktur Der Haushalt besteht formal gesehen aus dem Haushaltsgesetz und dem Haushaltsplan. Das Haushaltsgesetz enthält die Summen der Einnahmen und Ausgaben, Bestimmungen über die Aufnahme von Krediten, die Übernahme von Bürgschaften (insbesondere für Exportkredite, sog. Hermes-Garantien) und verschiedene Maßgaben zur Bewirtschaftung von Planstellen. Der Haushaltsplan ist eine Anlage zum Haushaltsgesetz. Er besteht aus dem Gesamtplan mit diversen Übersichten und den Einzelplänen, die größtenteils nach dem Ressortprinzip gegliedert sind und mit zweistelligen Ziffern bezeichnet werden (Ausnahmen sind die Einzelpläne 32 Bundesschuld, 33 Versorgung und 60 Allgemeine Finanzverwaltung, die dem Realprinzip folgen) (vgl. Abb. 10.3/ 1). Die Einzelpläne sind in Kapitel unterteilt und werden mit vierstelligen Ziffern bezeichnet: 0904 steht beispielsweise für den Einzelplan 09 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Kapitel 04 Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. Die Einnahmen und Ausgaben werden in Titeln geführt, die in Titelgruppen eingeteilt sind (0-3 sind Einnahmen, 4-9 Ausgaben). Man kann daher an einer fünfstelligen Titelnummer erkennen, worum es sich dabei handelt. Die ersten drei Ziffern sind bundeseinheitlich, was den Quervergleich zwischen den Einzelplänen erleichtert. 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 273 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 273 <?page no="304"?> l k 274 10. Finanzpolitik Abb. 10.3/ 1: Bundeshaushalt 2007 ! Y B1L76354-3Q76L2 1L7 B1L76354-3Q7Q: N: M2 H'W! WH'Y! %! 'J ! W A61238R64 B1L7632: S HDG'YW GWW'F! *J'H ! U B1L7634: 2 W! 'JG WY'! D *U'Y ! J B1L763O: L.N64QL 1L7 B1L763O: L.N64: M2 Y GFE'UD Y FUH'WH *U'J ! H C13/ -42QS63 CM2 W UD! 'HW W HUU'WD *G'! ! G B1L763MQLQ3264Q1M 763 (LL64L J UHE'DF J JUD'WJ *Y'E ! F B1L763MQLQ3264Q1M 764 &12Q. JJY'YY JHU'WW *W'F ! E B1L763MQLQ3264Q1M 764 ,QL: L.6L J EFJ'EY J FYH'GH %U'U ! D B1L763MQLQ3264Q1M TI4 <Q4238R: T2 1L7 ? 68RLKNKSQ6 H FYF'DW G ! ! ! 'U! *J'D Y! B1L763MQLQ3264Q1M TI4 @4L-R41LS' $: L7/ Q4238R: T2 1L7 =6494: 18R6438R12. H ! D! 'WJ H YFW'JE *Y'G YY B1L763MQLQ3264Q1M TI4 C496Q2 1L7 VK.Q: N63 YYD HHY'JH YWW YGH'EU *W'W YW B1L763MQLQ3264Q1M TI4 =64O6R4' B: 1 1L7 V2: 726L2/ Q8ON1LS WU FUF'UJ WJ YJJ'WY *Y'U YJ B1L763MQLQ3264Q1M 764 =6426Q7QS1LS WF EFW'H! WE UDF'ED *Y'D YH B1L763MQLQ3264Q1M 764 +631L7R6Q2 J HDE'JW Y DWJ'DH %HE'Y YG B1L763MQLQ3264Q1M TI4 >M/ 6N2' Z: 2138R12. 1L7 X6: O2K43Q8R64R6Q2 FED'DW FD! 'UW %! 'Y YF B1L763MQLQ3264Q1M TI4 ,: MQNQ6' V6LQK46L' ,4: 16L 1L7 &1S6L7 J HYD'W! H WJH'! F *YG'Y YD B1L763064T: 331LS3S64Q8R2 W! 'GE W! 'UF %Y'H W! B1L763468RLLS3RKT Y! D'! E Y! D'WF *! 'W WU B1L763MQLQ3264Q1M TI4 / Q4238R: T2NQ8R6 ; 13: MM6L: 496Q2 1L7 @L2/ Q8ON1LS J YFH'EJ J H! ! '! ! *F'E U! B1L763MQLQ3264Q1M TI4 BQN71LS 1L7 ,K438R1LS E ! WH'FF E HWY'FD *G'W UW B1L76338R1N7 UD YYJ'UD J! JHE'UU *U'J G! CNNS6M6QL6 ,QL: L.064/ : N21LS U EDY'GE H F! U'HH *JG'G #-,"$,! .+ '&( &))*)) '&% &))*)) @QL.6N5N-L6 VKNN W! ! G @L2/ 14T W! ! F =64-L7# S6S6LI964 =K4P: R4 "QK# @14K 0# )# "*? 86.4! +.4! @, &((# @QL.6N5N: LI9643Q8R4 C13S: 96L ' & % $ <?page no="305"?> Titel sind in etwa den Konten der kaufmännischen Buchführung ähnlich, obgleich ein himmelweiter Unterschied zwischen einer kaufmännischen und einer kameralistischen Buchführung besteht. Ganz langsam dringen kaufmännische Aspekte in die staatliche Rechnungslegung vor, insbesondere auf kommunaler Ebene, wo unter dem Begriff New Public Management (deutsch: Neue Steuerungsmodelle, nomen est omen) sogar schon Ansätze von richtiger Kostenrechnung beobachtbar sind (natürlich nur parallel und zusätzlich zur vorgeschriebenen kameralistischen Rechnungslegung). Und auf kommunaler Ebene werden in vielen Gemeinden moderne Managementmethoden und -techniken angewendet, die größtenteils aus der privaten Wirtschaft übernommen wurden und daher teilweise etwas bemüht wirken, während andererseits beachtliche Fortschritte gemacht wurden, so z.B. im Hinblick auf Budgetierungen, wo nicht sklavisch pro Titel bestimmte Handlungen und Ausgaben vorprogrammiert sind, sondern die Verantwortlichen Entscheidungsspielräume nutzen können. Die Einnahmen des Bundes bestehen zum größten Teil aus Steuern (2004 rund 87% der im Haushalt veranschlagten Einnahmen) und zu rund 13% aus sonstigen Einnahmen: Unter anderem sind der Bund und seine Sondervermögen nach dem Bundesbeteiligungsbericht 2003 direkt noch an knapp 120 Unternehmen mit mehr als 25% des Kapitals beteiligt (1982 noch rd. 1000) (u.a. Bahn, Post, Telekom, vier Flughäfen, Duisburger Hafengesellschaft, diverse Forschungseinrichtungen und kulturelle Institutionen) (Abb. 10.3/ 2). Rund 500 mittelbare Beteiligungen ergeben sich durch Beteiligungen, die z.B. wiederum die Bahn AG erworben hat. Wie schon in anderen Jahren hat der Bund Anteile aus solchen Beteiligungen an die (bundeseigene) Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) verkauft (übertragen), was dem Bundeshaushalt Liquidität zuführt. Solche Transaktionen werden Platzhaltergeschäfte genannt, weil die Anteile zunächst nicht an der Börse verkauft werden. Für den Bund können sich daraus Risiken ergeben, wenn bei einem späteren Börsenverkauf der jetzige Transaktions-Kurswert nicht realisiert werden kann und die Papiere dann vom Bund zurückgenommen werden müssen. Abb. 10.3/ 2: Bundesbeteiligung? Politiker streiten über Staatsbeteiligung bei EADS h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 275 <?page no="306"?> l k 276 10. Finanzpolitik Hinzu kommen Gewinnablieferungen der Bundesbank und anteilig der Europäischen Zentralbank (hierzu später), Verkäufe von Besitz und Beteiligungen, Zins- und Verwaltungseinnahmen sowie Einnahmen aus Geldbußen aus dem Kartellrecht; eine verbleibende Finanzierungslücke (2004: 12,3% oder über 30 Mrd. Euro) muß durch staatliche Kreditaufnahme geschlossen werden. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es grundsätzlich keine Zweckbindung für bestimmte Einnahmen (Non-Affektations-Prinzip), sondern alle Einnahmen fließen <in einen Topf>, aus dem die Gesamtheit der Ausgaben abzudekken ist (Gesamtdeckungsprinzip ). Hinsichtlich der Struktur des (Bundes-)Haushalts wird kritisiert, daß wichtige Bereiche wie z.B. der Erblastentilgungsfonds oder das Bundeseisenbahnvermögen in Sonderhaushalten geführt werden, so daß der haushaltsmäßige Zusammenhang durch diese «Flucht aus dem Budget» in «Schattenhaushalte» nicht immer leicht herzustellen ist (vgl. anschließend). Immerhin erfolgt aber keine Trennung zwischen laufendem Verwaltungs- und Investitionshaushalt, so wie es auf Gemeindeebene, aber auch in anderen Staaten üblich ist, wo für diese beiden Budgets teilweise auch noch verschiedene Ressorts zuständig sind, beispielsweise das Finanzministerium für den laufenden Verwaltungshaushalt und ein Planungsministerium für den Investitionshaushalt. 10.3.1.2. Zustandekommen des Haushalts Das Zustandekommen des Bundeshaushalts ist ein komplexer Prozeß, der durch eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen - u.a. durch das Grundgesetz, die Bundeshaushaltsordnung (BHO), das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) und das Stabilitätsgesetz (StabG) - geregelt ist. Für die Landes- und Kommunalhaushalte gelten analoge Regelungen, auf die hier nicht eingegangen wird. Die Haushaltsplanung erstreckt sich - zeitlich parallel - auf die Einnahmen und Ausgaben. Dabei wird in Deutschland das traditionelle Verfahren der Bedarfsanmeldung ‹von unten nach oben› verfolgt (Abb. 10.3/ 3): Die nachgeordneten Dienststellen reichen ihren übergeordneten Behörden (Bundesministerien und oberste Bundesbehörden) ihre Bedarfsanmeldung für die einzelnen Verwendungszwecke («Titel») als ‹Wunschzettel› ein (Voranschläge). Diese werden an den Bundesfinanzminister weitergeleitet und dort geprüft und koordiniert. Der Finanzminister als Haushaltsminister paßt die Voranschläge in meist mühsamen Einzelverhandlungen mit seinen Ressortkollegen so an («Chefgespräche»), daß die geplanten Ausgaben mit <?page no="307"?> den aufgrund der vom «Arbeitskreis Steuerschätzungen» erwarteten Einnahmen, einschließlich der gesamtwirtschaftlich vertretbaren Kreditaufnahme, sowie mit den Empfehlungen des Finanzplanungsrats für Bund, Länder und Gemeinden so gut wie möglich übereinstimmen. Die Voranschläge werden zu Einzelplänen der verschiedenen Ressorts zusammengefaßt und insgesamt als Entwurf des Haushaltsplans dem Kabinett zur Entscheidung vorgelegt. Die schwache Stelle dieser Planungen ist - wie man so schön sagt -, daß sie auf die Zukunft gerichtet sind. Das bedeutet, daß ihre Solidität von der Stabilität der getroffenen Annahmen abhängt. Beispiels- Abb. 10.3/ 3: Entstehung des Haushalts Nachgeordnete Dienststellen: Beiträge zu den Voranschlägen Ressorts: Prüfung Voranschläge BMF: Entwurf des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplans Regierung: Beschluß Vorlage beim Bundesrat (Erster Durchgang) Finanzausschuß, Stellungnahme Bundestag: 1. Lesung Haushaltsausschuß 2. Lesung (Einzelberatung) 3. Lesung (Generaldebatte) Beschluß Vorlage beim Bundesrat (Zweiter Durchgang) Zustimmung Bundespräsident Bundesgesetzblatt Ausfertigung durch Verkündung im h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 277 <?page no="308"?> l k 278 10. Finanzpolitik weise geht der Bundeshaushaltsplan 2004 von einem erwarteten Wirtschaftswachstum von (real) zwei Prozent aus, woraus sich sowohl die Schätzungen der Steuereinnahmen als auch der Staatsausgaben, u.a. für eventuell sinkende Kosten der Arbeitslosigkeit ableiten. Diese Schätzung ist deutlich optimistischer als z.B. die der Wirtschaftsforschungsinstitute. Auch die Schätzung erhoffter Etatwirkungen - u.a. Rückflüsse aus Steueramnestiegesetzen oder Einsparungen aus der Streichung von Subventionen und Steuervergünstigungen - sind zumindest solange riskant, wie sie noch nicht in entsprechende Gesetze umgegossen wurden. Finanzminister Eichel qualifizierte die Planungen für 2004 selbst als «zweifelsfrei den Haushalt mit den größten Risiken seit seinem Amtantritt im Frühjahr 1999», Risiken im Hinblick auf das Eintreffen der Annahmen. Der vom Kabinett gebilligte Entwurf des Haushaltsplans geht in Form einer Gesetzesvorlage gleichzeitig (eine Abweichung zum normalen Gesetzgebungsverfahren) dem Bundestag und dem Bundesrat zur Stellungnahme zu (erster Durchgang im Bundesrat g ). t Hier erfährt er eine gründliche Prüfung durch den Finanzausschuß des Bundesrats (Abb. 10.3/ 4). Daneben befassen sich weitere Fachausschüsse des Bundesrates mit den sie interessierenden Haushaltspositionen. Die Ergebnisse der Prüfungen und der sich anschließenden Beratungen werden vom Bundesrat zu einer Stellungnahme zusammengefaßt und der Regierung zugeleitet. Diese nimmt entsprechend Stellung und ändert ggf. den Haushaltsentwurf entsprechend den Empfehlungen des Bundesrates ab. Parallel zu den Beratungen im Bundesrat wird der Entwurf dem Bundestag zu einer ersten Lesung vorgelegt, in der lediglich die Überweisung der Vorlage an den Haushaltsausschuß beschlossen wird. Dessen Beschlüsse werden durch Berichterstatter vorbereitet, die den Regierungsentwurf mit den einzelnen Fachministerien, dem Finanzministerium und dem Bundesrechnungshof beraten. Das Vortragen der Stellungnahme des Haushaltsausschusses vor dem Plenum leitet die 2. Lesung ein: Hier erfolgt eine sachliche Einzelberatung der Vorschläge durch das Plenum. Die 2. Lesung darf erst Abb. 10.3/ 4: )*"&%,-'+ $%! "+ ('+-! '$,-%",*+.# '& 42#9,3-3) #* 6$3#3&! 3&3,)12.-#)/ " 6#0! 3)$,()%2002#" 73)5+3&'2#%.-2+3 #)5 8*)3%$,3 <?page no="309"?> stattfinden, wenn die Stellungnahme des Bundesrats vorliegt. Liegen Abänderungsanträge vor oder findet die Vorlage im Bundestag keine Billigung, erfolgt nochmals eine Rückverweisung an den Haushaltsausschuß. Schließlich wird der Haushaltsentwurf dem Parlament zur dritten Lesung, der sog. politischen Lesung, vorgelegt. Hier erfolgt im Rahmen einer Generaldebatte über die Regierungspolitik i. d. R. ein Schlagabtausch der einzelnen politischen Parteien, der in der Abstimmung über die Vorlage endet. Der vom Bundestag damit verabschiedete Haushaltsplan wird dann dem Bundesrat zum «zweiten Durchgang» zugeleitet. Wenn der Bundesrat nicht einverstanden ist, kann er den Vermittlungsausschuß anrufen. Sofern dieser Änderungen vorschlägt, muß der Bundestag darüber erneut beschließen (so im Dezember 2003 für den Haushalt 2004). Danach steht dem Bundesrat noch ein Einspruchsrecht zu, den der Bundestag mit einfacher Mehrheit zurückweisen kann. Der Haushaltsplan wird Gesetz, wenn er vom Bundesminister der Finanzen und vom Bundeskanzler gegengezeichnet, vom Bundespräsidenten ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet ist. (Die gleiche Vorgehensweise ist auch für Nachtrags- und Ergänzungshaushalte erforderlich.) Ungeachtet seiner Gesetzeskraft hat der Haushaltsplan jedoch nach außen keine Vollzugsverbindlichkeit, d.h. niemand kann aus veranschlagten Ausgaben einen Anspruch auf tatsächliche Leistungen ableiten. Für die ausführenden Behörden legt der Haushaltsplan lediglich verbindliche (Ausgaben-)Obergrenzen fest, die nur in Ausnahmefällen überschritten werden können. Neben einem Gesamtplan, der Einnahmen und Ausgaben gegenüberstellt, gibt es für jedes Ressort Einzelpläne, in denen jede einzelne Ausgabe oder Einnahme nach einer einheitlichen Haushaltssystematik einzelnen Titeln zugewiesen werden (letztere sind kaufmännischen Konten vergleichbar). Das gesamte Zahlenwerk wird so zu einem dickleibigen, mehrere Kilo schweren Buch. Das Zustandekommen des Bundeshaushalts (d.h. des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplans mit seinen Anlagen) unterscheidet sich in einigen Punkten vom normalen Gesetzgebungsverfahren, u.a. darin, daß die Gesetzesinitiative allein bei der Bundesregierung liegt. Zudem ist insbesondere hervorzuheben, daß es sich um ein Zeitgesetz handelt, d.h. ein Gesetz mit zeitlich befristeter Wirkung. Eigentlich müßte der Bundeshaushalt vor Beginn des Haushaltsjahr (das mit dem Kalenderjahr übereinstimmt) verabschiedet und das Haushaltsgesetz verkündet sein. Erfahrungsgemäß erfolgt letzteres erst im Laufe des Haushaltsjahres. Für diese ‹gesetzlose› Zeit enthält das h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 279 <?page no="310"?> l k 280 10. Finanzpolitik Grundgesetz im Art. 111 eine Regelung für die vorläufige Haushaltsführung. In einigen Jahren hat es sich als notwendig erwiesen, den Haushalt während des Haushaltsjahres zu korrigieren. Dabei unterscheidet man den Ergänzungshaushalt, bei dem es sich um Änderungen vor Verabschiedung des Haushalts durch das Parlament handelt, und den Nachtragshaushalt, der bei Änderungen nach parlamentarischer Verabschiedung erforderlich werden. Nachtragshaushalte werden typischerweise erst im Oktober/ November eingebracht, wenn an den Ausgaben kaum noch etwas zu verändern ist, so daß sich die Modifikationen tendenziell auf eine Erhöhung der erforderlichen Verschuldung erstrecken. Derartige Korrekturen sind zwar nach Möglichkeit zu vermeiden, doch muß auch berücksichtigt werden, daß die Planung des Bundeshaushaltes, die mit der Erstellung der Beiträge der einzelnen Behörden zu den Voranschlägen beginnt, sich über einen Zeitraum von rund eineinhalb Jahres erstreckt: Ende jedes Jahres werden die örtlichen Behörden Finanzminister als Haushaltsminister aufgefordert, ihre Beiträge für den Haushaltsentwurf des übernächsten Jahres zu erstellen. 10.3.1.3. Haushaltsgrundsätze Bei Aufstellung und Ausführung des Haushalts sind eine Reihe von Grundsätzen zu beachten. Diese gelten nach dem Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG ) sowohl für den Bundesals auch für die Landesals auch für die Gemeindehaushalte. Wir beschränken uns hier auf die wichtigsten Aspekte. (1) Der Haushaltsgrundsatz der Öffentlichkeit besagt, daß die Diskussion und die Beschlußfassung über die Haushaltsplanung nicht im stillen Kämmerlein, sondern öffentlich erfolgen soll. Auf Bundesebene erfolgt dies im Rahmen des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens (analog auf Landes- und Gemeindeebene). Der rechtskräftig beschlossene Haushalt wird veröffentlicht. (2) Der Haushaltsgrundsatz der Jährlichkeit besagt, daß für jedes Haushaltsjahr - dieses ist das Kalenderjahr - ein getrennter Haushalt zu erstellen ist. Zulässig, wenngleich selten (Beispiele gibt es auch auf der Länder- und Gemeindeebene) sind auch Zweijahreshaushalte, doch müssen sie die geplanten Einnahmen und Ausgaben nach Jahren ausweisen. Die zeitliche Begrenzung wird gelockert durch Verpflichtungsermächtigungen für Ausgaben, die erst in zukünftigen Haushaltsjahren kassenwirksam werden. <?page no="311"?> (3) Nach dem Grundsatz der Einheit und Vollständigkeit sollen alle Einnahmen und Ausgaben in den HPI eingestellt und nicht in Neben- oder Schattenhaushalten ‹versteckt› werden (vgl. hierzu Abschnitt 3.1.4). (4) Der Grundsatz der Ausgeglichenheit schreibt vor, daß es keine Deckungslücken hinsichtlich der geplanten Finanzierung der Ausgaben geben darf. (5) Nach dem Grundsatz der Haushaltswahrheit sollen Haushaltsansätze möglichst exakt errechnet und z.B. nicht ‹über den Daumen gepeilt› geschätzt werden. Die Liste der konkreten Gegenbeispiele in der Praxis ist lang... (6) Das Gesamtdeckungsprinzip besagt, daß bestimmte Einnahmen nicht zweckgebunden für bestimmte Ausgaben vorgesehen werden sollen (vornehmer, aber inhaltlich gleichbedeutend nennt man das Non-Affektationsprinzip). (7) Der Grundsatz der sachlichen Bindung schreibt vor, daß Haushaltsmittel nicht beliebig, sondern nur für den im HPl vorgesehenen Zweck verwendet werden dürfen. Ausnahmen werden durch die sog. (einseitige oder gegenseitige) Deckungsfähigkeit (Verrechenbarkeit) ermöglicht, die aber im Haushaltsplan expliziz veranschlagt sein muß. (8) Der Grundsatz der zeitlichen Bindung besagt, daß alle Ansätze im betreffenden Haushaltsjahr kassenwirksam werden sollen. Es soll also weder von Einnahmen noch von Ausgaben ausgegangen werden, die erst in künftigen Perioden anfallen. Nicht in Anspruch genommene Ausgabeermächtigungen verfallen mit Ablauf des Haushaltsjahres. Ausnahmen sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich durch die Übertragbarkeit von Mitteln für denselben Zweck ins nächste Haushaltsjahr sowie durch Verrr pflichtungsermächtigungen (VE). Durch diese wird es möglich, z.B. im Haushaltsjahr 2004 vertragliche Bindungen einzugehen, die erst im nächsten oder übernächsten Jahr oder noch später kassenwirksam werden, d.h. noch gar nicht existierende Haushaltspläne betreffen. 10.3.1.4. Neben- und Schattenhaushalte Aufstellung, Ausführung und Kontrolle des Bundeshaushaltes sollen nach dem Haushaltsrecht den skizzierten Haushaltsgrundsätzen genügen. Hierzu gehört - neben der Ausgeglichenheit - eben auch der Grundsatz der Einheit und Vollständigkeit. Nach Art. 110 GG müssen alle Einnahmen und Ausgaben in den (also einen) Haushaltsh h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 281 <?page no="312"?> l k 282 10. Finanzpolitik plan eingestellt (d.h. aufgenommen) werden. Damit soll verhindert werden, daß haushaltswirksame Aktivitäten außerhalb des Haushalts, der ja der parlamentarischen Kontrolle unterliegt, abgewickelt werden können. In der Praxis zeigt es sich, daß eine Reihe von Aktivitäten in Form von Sondervermögen wickelt werden. Wichtige solche Nebenhaushalte sind das ERP-Sondervermögen (verwaltet durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW) und der Lastenausgleichsfonds (ab 1990 einschließlich des Fonds «Deutsche Einheit» und des Kreditabwicklungsfonds, ab 1994 einschließlich des Bundeseisenbahnvermögen und ab 1995 einschließlich des Ausgleichsfonds «Steinkohle», abgelöst 1995 vom Erblastentilgungsfonds), Für die Bildung von Sondervermögen spricht zwar eine größere Flexibilität bei der Haushaltsgestaltung und -abwicklung. Zwei Aspekte aber sind aber problematisch: Erstens wird durch diese «Flucht aus dem Budget» die Transparenz eingeschränkt, denn die parlamentarische Kontrolle erstreckt sich in Bezug auf diese Nebenhaushalte in erster Linie nur auf das Endergebnis, indem natürlich der Saldo der Sondervermögen ‹netto› in den Gesamthaushalt eingestellt wird: Das Zustandekommen des Saldos geht aus dem Bundeshaushalt nicht hervor. Wenn der Saldo z.B. -1 Mrd. beträgt, kann dies hervorgegangen sein aus 4-5 Mrd. oder 36-37 Mrd. Das Bruttovolumen solcher Sondervermögen bleibt im Haushaltsplan unklar. Zweitens werden Sondervermögen, die zum großen Teil auch kreditfinanziert werden, nicht bei der Bestimmung des Art. 115 GG mitgezählt, nach dem die Kreditaufnahme nicht höher sein darf als die Summe der öffentlichen Investitionen. Eine Einbeziehung der Kreditvolumina der Sondervermögen könnte im Hinblick auf Art. 115 GG für die Regierung leicht Probleme bedeuten. In Abschnitt 5, insbesondere 5.3, wird dies vertieft. Von besonderer Bedeutung wurde die Existenz von Schattenhaushalten vor allem auch durch die Stabilitätskriterien der Europäischen Währungsunion, nach denen die Neuverschuldung der öffentlichen Hand nicht mehr als drei Prozent des BIP und der staatlich Schuldenstand nicht mehr als 60% des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. In der politischen Diskussion ist das 3-Prozent-Kriterium sehr stark betont worden, nicht zuletzt, weil es auf deutsches Betreiben im Europäischen Stabilitätspakt verabredet wurde und es nun ausgerechnet von Deutschland seit drei Jahren verletzt wird. Abb. 10.3/ 5 zeigt, daß Bund und Länder daran gleichermaßen beteiligt sind. Dadurch ist es sicherlich von Interesse, bestimmte Positionen aus dem öffentlichen Sektor i.e.S. auszuklammern, in Nebenhaushalten zu führen <?page no="313"?> bzw. bestimmte Institution zu privatisieren. Wir werden darauf zurückkommen. 10.3.1.5. Mittelfristige Finanzplanung Der Haushaltsplan steht mit einer Reihe anderer Planungen, Prognosen und Empfehlungen in Zusammenhang. Als Orientierungshilfe dient die mittelfristige Finanzplanung («Mi-Fri-Fi»), eine fünfjährige Planung, die unter Berücksichtigung von Änderungen (Konjunkturentwicklung, Steuerschätzung, Inflationsrate, Tarifverträge, Wechselkurse, Weltmarktpreise etc.) jährlich überprüft und gegebenenfalls angepasst wird (man bezeichnet dies als rollende, gleitende oder überlappende Planung, im Gegensatz zur sukzessiven oder An- Abb. 10.3/ 5: Finanzierungssalden W! ! W W! ! U W! ! J W! ! H $HQQH %FD'G %EG'G %EY'W %FD'W 8QFLM< +4O84HI4/ JK4JI98Q=H4M % FW'F %FE'G %FD'D %FG'H 8QFLM< <GM8 %UG'Y %UD'G %H! 'D %HY'Y (.M84J %UW'W %U! 'F %WH'Y %WU'E +4148M84M %J'J %E'U %U'D %Y'G $LD8Q1F4JI8984JGM5 %G'D %E'! %Y'U %W'F $HQQH %U'J %J'! %U'F %U'H 8QFLM< +4O84HI4/ JK4JI98Q=H4M %U'J %U'G %U'G %U'J 8QFLM< <GM8 %Y'F %Y'E %W'U %W'U (.M84J %Y'H %Y'J %Y'Y %Y'Y +4148M84M %! 'W %! 'J %! 'W %! 'Y $LD8Q1F4JI8984JGM5 %! 'U %! 'J %! 'Y %! 'Y "))2)-).71)'552*0.) 1)0 "))2)-).71)'591: 3.) 0.5 43223.5 &' "))2)-).71)'552*0.) (981 #28; ' %' 72; 4/ ) 1/ 8 "+)3).+/ 82)-663*1/ ) (0! ' $' W* Y* )M 84J =O5J4MDGM5 84J "L14IE8JHI98Q=H18984M +4IQ1HJ498MGM54M# W* @854M4 $98.HDGM54M# - U* QOE4898GM54M 8M 84M $G114M 8GJ98 &GM84M 84J SQ814M# - J* ,8MQMD84JGM5IIQ18L 8M &41QH8LM DG1 ML18% MQ14M <JGHHL8M1QM8IKJL8G4H# h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 283 <?page no="314"?> l k 284 10. Finanzpolitik schlussplanung, die den meisten Mehrjahresplänen östlicher Zentralverwaltungswirtschaften zugrunde lag. Abb. 10.3/ 6 zeigt, wie sich der 5-Jahresplan dabei immer um ein Jahr verschiebt. In die «Mi-Fri-Fi» fließen Investitions- und Bedarfsplanungen ein, die nach Dringlichkeit und Fristigkeit gegliedert sind. Sie wird ergänzt durch Prognosen über Staatseinnahmen und Verschuldungspläne der Gebietskörperschaften, um auch der zu erwartenden Belastung der Kapitalmärkte im voraus Rechnung zu tragen. Die Mifrifi Abb. 10.3/ 6: Rollende Finanzplanung ! E$J+"UA&"$GBJD",AGBE %)"UAG@,Y)C V,J)Y)C FE& *YDCJHE) FE& %? E@Y"AWE TGB=">Y)C FE& %A))JB+E) %&+A"",Y)C FE& *Y$CJHE) FE& %? E@Y"AWE %G@FJ"E) %)"UY&D FE$ #A)J)>(,J)$ FY&GB FE) 'X# 'E$GB,Y; FY&GB FAE 'Y)FE$&ECAE&Y)C &(($ &((% &((# &((" &((! &('( &(($ &((% &((# &((" &((! &('( : >3/ 19, 0.6 <1>0.6*416*4@36 &((# 1>0 7)>4>-; @4> 2)6 &('( in Milliarden Euro 2005 1 2006 2 Entwurf 2007 2008 2009 2010 Ausgaben 259,8 261,6 267,6 274,3 274,9 276,8 Veränderungen zum Vorjahr in Prozent +3,3 +0,7 +2,3 +2,5 +0,2 +0,7 Einnahmen 259,8 261,6 267,6 274,3 274,9 276,8 Steuereinnahmen 190,1 194,0 214,5 218,2 226,0 231,1 Sonstige Einnahmen 38,5 29,4 31,1 34,6 27,9 25,2 Nettokreditaufnahme 31,2 38,2 22,0 21,5 21,0 20,5 Investitionen 22,9 23,2 23,5 23,4 23,6 23,3 3 Finanzplan 1 Soll; 2 Ist; 3 Der Anstieg im Jahr 2008 resultiert nach Angaben des Finanzministeriums vor allem aus dem erhöhten Finanzierungsbedarf der Postbeamtenversorgungskasse und der überlappenden Wirkung des auslaufenden Erziehungsgeldes mit dem neuen Elterngeld. Quelle: Regierungskreise <?page no="315"?> ist eine indikative, keine imperative Planung, d.h. sie besitzt keine Vollzugsverbindlichkeit. Ihr kommt aber eine hohe politische Orientierungsfunktion zu, weil sich in ihr die Vorstellungen der Bundesregierung niederschlagen. Darüber hinaus schreibt das StabG eine Vorratsplanung («Schubladenprojekte») vor, damit bei einer «gefährdeten Abschwächung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit» kurzfristig reagiert werden kann. Allerdings ist festzustellen, daß die Planansätze der mittelfristigen Finanzplanung oft sehr deutlich von den tatsächlichen Ansätzen im jährlichen Haushaltsplan abweichen. Obgleich der Haushaltsplan nur für ein Jahr gilt, wird somit durch die mittelfristige Finanzplanung ein zu enger Planungshorizont vermieden. Die zeitliche Verzahnung zwischen den jeweiligen Haushaltsplänen erfolgt u.a. durch das wichtige Instrument der Verpflichtungsermächtigungen (VE) mit denen bereits heute Ausgaben zu Lasten zukünftiger Haushaltsjahre begründet werden können. Dieser Vorteil der Zukunftsorientierung ist allerdings mit dem Nachteil verbunden, daß auf der Ausgabenseite eine erhebliche Vorab-Bindung entstehen kann. 10.3.1.6. Planungs-, Koordinierungs- und Beratungsgremien Da analoge Finanzprognosen auch für die anderen öffentlichen Haushalte erstellt werden, müssen sie aufeinander abgestimmt werden. Es wurden daher Planungs-, Koordinierungs- und Beratungsgremien geschaffen, in denen Bund, Länder und Gemeinden vertreten sind, um ihre Wirtschafts-, Finanz- und Konjunkturpolitiken aufeinander abzustimmen. Der Finanzplanungsrat wurde bei der Bundesregierung gebildet; ihm gehören der Bundesminister für Finanzen und der für Wirtschaft, die Länderfinanzminister, Vertreter der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie - beratend - die Deutsche Bundesbank an. Als seine wichtigste Aufgabe gibt der Finanzplanungsrat Empfehlungen für eine Koordinierung der gesetzlich vorgeschriebenen fünfjährigen Finanzplanungen, dabei sollen vor allem einheitliche volks- und finanzwirtschaftliche Annahmen über die Finanzplanungen und Schwerpunkte für eine den gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen entsprechende Erfüllung der öffentlichen Aufgaben ermittelt werden. Dabei erfüllt der Arbeitskreis Steuerschätzung beim Bundesfinanzminister eine wichtige Aufgabe, da die prognostizierten Daten im Hinblick auf wichtige Termine (u.a. Verabschiedung des Haushaltsentwurfs im Kabinett, Haushaltsberatungen im Parlament) ständig überprüft und ggf. angepasst werden müssen. Die Schätzungen für den Haushaltsentwurf erfolgen bis zu eineinhalb Jahren vor der tath h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 285 <?page no="316"?> l k 286 10. Finanzpolitik sächlichen Verabschiedung des Haushalts, wobei wiederum die Planungsgrundlagen nicht zeitnah, sondern nur mit Verzögerung vorliegen, so z.B. die Einkommensteuerstatistik mit einer Verzögerung von fast vier Jahren. Insgesamt sind die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen weniger gut zu schätzen als die Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit. Die den Haushaltsplanungen zugrundliegenden Plandaten müssen teilweise beträchtlich korrigiert werden, was z.B. auf rezessionsbedingte Mindereinnahmen zurückzuführen sein kann (Abb. 10.3/ 7). Der Finanzplanungsrat soll sich seinerseits auf die Vorschläge des Konjunkturrates stützen. Dieser Konjunkturrat für die öffentliche Hand wurde ebenfalls bei der Bundesregierung gebildet. Seine Mitglieder - der Bundesminister für Wirtschaft und der Bundesminister der Finanzen, Vertreter der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie (beratend) der Deutschen Bundesbank - beraten insbesondere alle zur Erreichung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erforderlichen konjunkturpolitischen Fragen. Ein ehemaliger Unterausschuß des Konjunkturrates ist seit 1974 als Ausschuß für Kreditfragen der öffentlichen Hand dem Bundesminister der Finanzen beigeordnet worden. Dieser Ausschuß stellt insbesondere einen Zeitplan für öffentliche Anleihen auf, um das Volumen der öffentlichen Kreditaufnahme auch hinsichtlich seiner Wirkungen auf den Kapitalmarkt dosieren zu können (Abb. 10.3/ 8). Abb. 10.3/ 7: Steuerschätzung <?page no="317"?> Ein weiteres (allerdings nicht-staatliches) wichtiges Gremium ist der Sachverständigenrat, der aus unabhängigen «Fünf Weisen» gebildet wird. Seine Aufgabe ist die periodische Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, um die Entscheidungsfindung bei allen wirtschaftlichen Instanzen zu erleichtern. Er erstellt im Spätherbst ein Jahresgutachten und bei Bedarf Sondergutachten zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die Bundesregierung nimmt dazu in ihrem Jahreswirtschaftsbericht Stellung und konkretisiert die für das laufende Jahr angestrebten wirtschaftspolitischen Ziele ( «Jahresprojektion» und «Eckdaten»). Abb. 10.3/ 8: Anleihefinanzierung ($2& 2$**% #%2$)%& )%0& %* 0%%.#%*(%$,# %") 85$%&0/ 5 7-)2)! 215)%$' '5.$! -5'% .2& 4(+$*5) .5' 39' .2& #-5'%5 6$2'%2+ 2)15,9).-1%5) ")+5-/ 5) =0,)( %$'&%' %'&' %'&' =0,) ": ? 2<40A A4*.0, #: )): #: )): ! 4,7' 6 86I/ 16 20.9. 115,98 116,14 3,9194 5,625 86I/ 16 20.9. 113,30 113,46 3,9266 6,25 94/ 24 4.1. 126,72 G 127,02 4,0249 6 97I/ 07 4.1. 100,04 - 2,2647 6 97II/ 07 4.7. 101,06 G 101,06 G 3,7482 6,5 97/ 27 4.7. 133,03 G 133,43 4,0619 5,25 98/ 08 4.1. 101,34 101,34 3,8635 5,625 98/ 28 4.1. 121,36 121,77 4,0641 4,75 98/ 08 4.7. 101,22 101,24 3,8549 4,75 98/ 28 4.7. 109,36 109,76 4,0578 4,125 98/ 08 4.7. 100,33 100,36 G 3,8475 3,75 99/ 09 4.1. 99,79 99,84 3,8369 4 99/ 09 4.7. 100,25 100,31 3,8518 4,5 99/ 09 4.7. 101,40 101,44 3,8682 5,375 99/ 10 4.1. 104,11 104,17 3,8787 6,25 00/ 30 4.1. 131,59 132,05 4,0764 5,25 00/ 10 4.7. 104,30 G 104,37 3,8779 5,25 00/ 10 II 4.1. 104,84 G 104,92 3,8985 5,5 00/ 31 4.1. 121,15 121,60 4,0728 5 01/ 11 4.7. 104,34 104,44 G 3,8952 5 02/ 12 4.1. 104,83 G 104,96 3,8897 5 02/ 12 4.7. 105,16 105,34 G 3,8952 4,5 03/ 13 4.1. 10,04 103,21 3,8909 4,75 03/ 34 4.7. 11097 11,41 4,0515 3,75 03/ 13 4.7. 98,99 99,17 3,8913 4,25 03/ 14 4.1. 101,89 102,04 G 3,9112 4,25 04/ 14 4.7. 101,97 G 102,13 3,9107 3,75 04/ 15 4.1. 98,71 98,86 3,9186 3,875 05/ 10 S - Tr.$ 1.6. 97,50 96,70 4,9339 3,875 05/ 10 A - Tr.$ 1.6. 97,00 G 96,70 G 4,9332 4 05/ 37 4.1. 99,04 99,45 4,0319 3,25 05/ 15 4.7. 95,17 95,33 3,9012 3,5 06/ 16 4.1. 96,74 96,89 3,9165 06/ 16 15.4. 97,11 G 97,20 4 06/ 16 4.7. 100,43 100,59 3,9195 3,75 06/ 17 4.1. 98,45 98,61 3,9206 +$#)(! *#%(&'(# h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 287 <?page no="318"?> l k 288 10. Finanzpolitik Die konjunkturbeobachtende Arbeit dieser Gremien wird ergänzt durch Analysen und Prognosen der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, durch jährliche Gutachten einer Arbeitsgemeinschaft der wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute sowie durch Gegengutachten z.B. einer Gruppe alternativer Professoren. Das macht deutlich, daß die Analysen und Prognosen werturteilsbehaftet sind, d.h. Meinungen ausdrücken, so daß sich je nach politischem Standort und Interesse aus den gleichen Daten unterschiedliche Schlüsse ableiten lassen. 10.3.2. Steuerstruktur und Finanzausgleich Grundsätzlich sollen die staatlichen Leistungen für jeden Bürger in gleicher Weise und in gleichem Ausmaß zur Verfügung stehen. Die Aufgabenverteilung zwischen den Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) ist im Grundgesetz prinzipiell geregelt (vgl. Art. 28, 30, 83, 91 a, b, 104a GG). Die Aufgabenverteilung orientiert sich am Subsidiaritätsprinzip (Art. 23 GG), d.h. Aufgaben sollen im föderalen System zwischen Bund, Ländern und Gemeinden so weit wie möglich ‹unten› angesiedelt werden: Eine nächsthöhere Instanz soll Aufgaben nur dann wahrnehmen, wenn die jeweils untere Instanz hierzu nicht in angemessener Weise in der Lage ist. Dieses Grundprinzip der Dezentralisierung findet dort sachliche Grenzen, wo eine sinnvolle und effiziente Aufgabenerfüllung auf unterer Ebene nicht möglich ist. Diese Überlegungen resultieren in einer grundsätzlichen Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Dies wäre fiskalpolitisch unproblematisch, wenn dort, wo durch Staatsaufgaben Ausgaben anfallen, sprechende Einnahmen entstünden. Dies ist jedoch nicht der Fall, da die einzelnen Bundesländer und Gemeinden aufgrund unterschiedlicher Wirtschaftskraft auch über unterschiedliche Steueraufkommen verfügen. Daher gibt es zwischen den Gebietskörperschaften ein System des aktiven Finanzausgleichs, um die unterschiedliche Finanzkraft der Länder «angemessen» auszugleichen. Generell wird zwischen vertikalem und horizontalem Finanzausgleich unterschieden. Im Rahmen des vertikalen Finanzausgleichs wird geregelt, welche Steuern oder Anteile an Gemeinschaftssteuern dem Gesamtstaat und welche den Ländern zufallen sollen («Wer bekommt was? »). Beim horizontalen Finanzausgleich geht es um die Verteilung der den Gliedstaaten zustehenden Einnahmen untereinander («Wer bekommt wieviel? ») und um den Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der einzeln Bundesländer. Das System ist mehrstufig: <?page no="319"?> &$ )J3-+DDK+JE+3# ; / OO6 V35: I6MS.365165P6R5436265 =65N/ S6M4: 9S: 96 =654Q8R652MS436265M <68R46O436265 VLOQ7: 5Q3-340248RO: S )9S: 96M QN X: RN6M765 ,25LK-Q48R6M >MQLM 16595: 265436265M NQ3 )24M: RN6 765 ? Q65436265 ! @5: LL306PLTV U8Q: 2M06PLTV ; 0P48Q6L65/ 62RLP4TV &: SS66TV ? : 9: OTV "PL65: N.N436265X 1$ "3K+>8 &3 -+3 &+5+>3D/ @&CKD" DK+J+E3# $KQL436265 2L7 165: LN: R36 ,PLT OKMM6L436265 ! / I; 3I EFVD 1I(IX ; PL4: 948QN: R436265 ! / I; 3I EE 1I(IX YP8Q3 165: LN: R36 U36265L 1KM ,535: R 2L7 &.5J6548Q: S3436265 ! / I; 3I DH 1I(IX >M4: 3/ 436265 PLONI ,PLS2Q52M4: 3/ T 436265 ! / I; 3I DGVE 1I(IX / $ "3K+>8 &3 -+E &+H+E1+DK+JE" J58&B+ %G! 6K! 7@ I! B! I25 : 1 I! B! $ )'* / $() )HKH'EG>28/ +K+5G 5'0C : =! =@4DD )'( +! ()'&( )'( -'*',()'( '$ D+8+A5G0C'FKGK+J+H5. $KQL436265 ,PLOKMM6L436265 &.5J6548Q: S3436265 >M4: 3/ 436265 ! 6PL48QNI ,PLS2Q52M4: 3/ 436265 3$ D+H+H3+GK+J+HJ8; 'E+ '$ D+8+A5-+GK+J+H5. )606596436265 ! BF#X )52L7436265 *53NP8Q6 =6595: 28QT 2L7 A2ST 0: L7436265 ! / I@I (2L76436265V =65RL-R2LR436265X 3$ ,5K+A; '5 -+8 ,JF>288+5 -+H ? 2C5GK+J+H J5- I+H" '5; 'EK+5 )A5>288+5GK+J+H %G! 6K! =7 I! B! $ G2HA+ -+H 98G'KGGK+J+H %G! 6K! : #= I! B! $ 0$ <K+J+HGJH+AGJ5E -JH0C ? '5-+GE+G+KGE+3J5E -$ 6A5G'3G0C; 'EGK+J+H %G! 6K! =: I! B! $ '$ ? (5-+HGK+J+H5. ,5948Q: S3436265 )52L7650659436265 &5: S3S: Q5/ 62R436265 @P65436265 W6LL0633T 2L7 $K3365P6436265 +626548Q23/ 436265 UJP6N9: LO436265 3$ ,5K+A; '5 -+5 D+8+A5G0C'FKG" GK+J+H5. $KQL436265 2L7 165: LN: R36 ,PLT OKMM6L436265 ! / I; 3I EFVD 1I(IX ; PL4: 948QN: R436265 ! / I; 3I EE 1I(IX YP8Q3 165: LN: R36 U36265L 1KM ,535: R 2L7 &.5J6548Q: S3436265 ! / I; 3I DH 1I(IX >M4: 3/ 436265 PLONI ,PLS2Q5T 2M4: 3/ 436265 ! / I; 3I ECVD 1I(IX 0$ ,5K+A; '5 -+H D+H+H3+GK+JH" J8; 'E+ %G! 6K! 7@ I! B! I25 : 1 I! B! $ )'* / $() $() )'( +! ()'&( .'*',(%0* Abb. 10.3/ 9: Ertragskompetenz nach Art. 106 GG h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 289 <?page no="320"?> l k 290 10. Finanzpolitik (1) Nach Art. 106 Grundgesetz werden die Erträge der verschiedenen Steuern (Ertragskompetenz) auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt (vertikale Steuerverteilung). Innerhalb des vertikalen Finanzausgleichs wird zwischen Trenn- und Verbundsystem unterschieden. Beim Trennsystem werden den einzelnen Gebietskörperschaften Steuern ungeteilt zugewiesen, während sie beim Verbundsystem nach bestimmten Schlüsseln aufgeteilt werden (auch: Zuweisungssystem) (vgl. Abb. 10.3/ 9). Bundessteuern, also Steuern, die nach dem Trennsystem dem Bund alleine zustehen, sind die Verbrauchsteuern (Mineralöl-, Tabaksteuer usw., mit Ausnahme der Biersteuer, die den Ländern zufließt), Kapitalverkehrssteuer, Versicherungssteuer, Zölle (die aber größtenteils an die EU-Kasse abgeführt werden) und das Branntweinmonopol. «Allgemeine» Ländersteuern sind u.a. die Kraftfahrzeug-, Vermögen- , Erbschaft-, Grunderwerb-, Wettsteuer und die erwähnte Biersteuer. Gemeindesteuern sind die Gewerbesteuer, Grundsteuer und örtliche Steuern wie die Hunde- und Getränkesteuer. Einige wichtige Steuern werden aufgeteilt (Gemeinschafts- oder Verbundsteuern), so die Lohn- und Einkommensteuer, die Bund, Ländern und Gemeinden zufließt (zur Zeit im Verhältnis 42,5 : 42,5 : 15); die Körperschaft- , Umsatz- (Mehrwert-) und Einfuhrumsatzsteuern werden nur zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Die Gewerbesteuer fließt den Gemeinden zu, doch werden Bund und Länder mit einer 15%igen Umlage beteiligt. Abb. 10.3/ 10 gibt einen Überblick über das Volumen der einzelnen Steuern. Die direkten Steuern, die vor allem Löhne, Gehälter und Unternehmensgewinne belasten, machen knapp 60% des gesamten Steueraufkommens aus, während sich für die indirekten Steuern (Verbrauchsteuern) ein Anteil von rund 40% ergibt. (Direkte Steuern wie die Lohn- oder Einkommenstuer werden direkt von denjenigen erhoben, welche sie wirtschaftlich tragen sollen; indirekte Steuern wie die Mineralöl- oder die Tabaksteuer werden von denen, bei denen sie erhoben werden (z.B. im Einzelhandel) auf den Endverbraucher in den Preisen überwälzt; die (wirtschaftliche) Beziehung Steuerzahler- Finanzamt ist dabei also nicht ‹direkt›. Die vertikale Steuerverteilung beinhaltet einen horizontalen Ausgleichseffekt, denn dem Bund fließen vorrangig die indirekten Steuern zu, die länderweise stark variieren, während den Ländern die Einnahmen aus den weniger stark streuenden direkten Steuern zukommen. Die Gemeinden erhalten gegenwärtig etwa 2,2 Prozent aller Steuereinnahmen, die Länder 45 Prozent, der Rest geht in die Bundeskasse <?page no="321"?> (2) Die Verteilung der Landessteuern und des Länderanteils an den Gemeinschaftssteuern auf die einzelnen Länder richtet sich nach Art. 107 Abs. 1 GG (horizontale Steuerverteilung). (3) Art. 106 Abs. 3 des Grundgesetzes schreibt vor, dass der Anspruch der Bürger, dass überall im Bundesgebiet - von der Nordsee bis zu den Alpen, von der Ostsee bis zum Bodensee - die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gewahrt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat dies am 11. November 1999 nochmals deutlich gemacht. Da sich die einzelnen Bundesländer in ihrer räumlichen Ausdehnung, ihrer Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, sind sie auch in ihrer Finanzkraft verschieden. Diese Unterschiede werden durch die Verteilung der Steuereinnahmen auf Bund und Länder und auf die Länder untereinander noch nicht in angemessener Weise ausgeglichen. Der horizontale Finanzausgleich gemäß Art. 107 stellt eine Ausgleichsregelung unter den Ländern dar, die eine Korrektur dieser (vorangehenden) Steuerverteilung vorsieht und in ihrem Kern darin besteht, daß die finanzstärkeren Länder mit ihren eigenen Haushaltsmitteln die finanzschwächeren Länder unterstützen. Es handelt sich dabei allerdings um einen Finanz-Ausgleich (Finanzkraft ist als Ein- Abb. 10.3/ 10: Steueraufkommen 8 750 Versicherungsteuer 10 247 Grundsteuer 9 766 Einkommensteuer Quelle: Stat. Bundesamt 0777 *vor der Steuerverteilung Lohnsteuer 153 629 Mio. Euro Umsatz-, Mehrwertsteuer 139 713 © Globus Steuerspirale 2005 Steuereinnahmen* in Deutschland in Millionen Euro 6 990 Zinsabschlag Mineralölsteuer 40 101 Gewerbesteuer 32 129 Solidaritätszuschlag 10 315 Körperschaftsteuer 16 338 Tabaksteuer 14 273 Kapitalertragsteuer 12 075 8 673 Kfz-Steuer Erbschaftsteuer 4 097 Grunderwerbsteuer 6 462 Stromsteuer 4 812 3 378 Branntweinsteuer 2 142 Zölle Lotteriesteuer Kaffeesteuer 1 792 Biersteuer 1 003 Schaumweinsteuer 777 Feuerschutzsteuer 424 Hundesteuer 331 Vermögensteuer 234 223 Vergnügungssteuer Zweitwohnungsteuer 97 Zwischenerzeugnissteuer 75 27 21 Jagdu. Fischereisteuer 10 Totalisatoru. Rennwettsteuer 3 Kinosteuer 1 Schankerlaubnissteuer Getränkesteuer 1 24 Alcopopsteuer h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 291 <?page no="322"?> l k 292 10. Finanzpolitik nahme-Aufkommen zu verstehen, nicht als Relation von Aufkommen und besonderen Ausgaben); er berücksichtigt also nicht den Finanzbedarf der einzelnen Länder. Zunächst erfolgt eine horizontale Steuerumverteilung. Dies ist erforderlich, weil z.B. die Körperschaftsteuer eines Unternehmens mit Betrieben in mehreren Ländern sonst allein dem Land zufiele, in dem das Unternehmen seine Unternehmensleitung angesiedelt hat; die Erhebung der Lohnsteuer richtet sich nach dem Sitzland des Arbeitgebers und nicht nach dem Wohnsitz des Arbeitnehmers; die Umsatzsteuer wird beim Unternehmer erhoben, aber auf regional verstreute Verbraucher überwälzt. Daher werden verschiedene Steuern ‹zerlegt› und horizontal verteilt, wobei als Verteilungskriterien der Betriebsstandort, der Arbeitnehmerwohnsitz oder die Einwohnerzahl dienen. Dieses Verteilungssystem wird ergänzt durch Ausgleichszahlungen zwischen den einzelnen Ländern gemäß Art. 107 GG (sekundärer horizontaler Finanzausgleich) (vgl. Abb. 10.3/ 11). Dabei muß natürlich der Bedarf des einzelnen Landes möglichst objektiv ermittelt werden. Dies geschieht im wesentlichen auf der Grundlage der Unterstellung, daß der Finanzbedarf pro Einwohner in allen Ländern etwa gleich hoch ist (was von den dichtbesiedelten Stadtstaaten anders gesehen wird als von den Flächenstaaten). Besondere Bedeutung kommt daher der statistisch gesicherten Einwohnerzahl zu, weshalb den Einwohnerstatistiken besondere Bedeutung zukommt. Sofern erforderlich, kann der Bund zusätzlich auch leistungsschwächeren Ländern Zuweisungen gewähren. Abb. 10.3/ 11: Finanzausgleich @5: @ 485/ : 25: 5<% 255(O427$(7 ? 53# N! @ *L' 4 J << ; 65O/ 673-M(5 : .7)(5&O7-7/ -24$M(O+" $(K# ? 53# N! @ *L'<< : -7) 820(O427$(7 $(K# ? 53# N! A *@'<< < ( K ( O 7 ) ( < ( K ( O 7 ) ( : -7) < ( K ( O 7 ) ( < ( K ( O 7 ) ( : -7) < ( K ( O 7 ) ( < ( K ( O 7 ) ( 93(2(5% 1(53(OM27$ $(K# ? 53# N! A *NHA' <?page no="323"?> Beim System des sekundären horizontalen Finanzausgleichs ist jedoch zu beachten, daß eine zu starke Nivellierung sich leistungshemmend für finanzstarke «Geber»-Länder auswirken kann und auch keinen Anreiz zur Sparsamkeit für leistungsschwache «Empfänger»- Länder bietet. Obwohl das Problem einer «Übernivellierung» theoretisch nicht auftreten kann, zeigt die Realität durchaus Fälle, daß die Reihenfolge der Länder bezüglich der Finanzkraft vor und nach den Ausgleichszahlungen durchaus differieren kann. Dies führte 1999 zu erfolgreichen Verfassungsklagen der leistungsstarken Länder Baden- Württemberg, Bayern und Hessen, so daß seit 2005 neue Regeln für den Finanzausgleich gelten. Sie sind keine «große Reform», sondern korrigieren am Detail. Unter anderem wurden den Bundesländern Leistungsanreize gegeben, das Ausgleichsvolumen reduziert, die Finanzierung des «Fonds Deutsche Einheit» vom Bund übernommen. Unter dem Strich aber sind Kommentare von Kritikern wie «föderales Gewurschtel» oder «kompliziertes Finanzgestrüpp» sicher nicht Abb. 10.3/ 12: Länder-Finanzausgleich 2006 @+GG+1 ))'.# D! C+O1 )+".+ D! L+1O6,OFF+43+OG ))+.# 8.JOJ5M4/ N$MIH7! 1M/ "".$ *5M4/ 1! / ON,7! 1D "(.+ (Q51MIF46N<.1IHM4/ "'.& (! ! J1! / O $"." 84MOMJI! Q5IM/ "'." <! 0")J6 )&%.$ @JM0M/ "$.+ @MJ14/ $$.% A1HM @)/ OMI1#/ OMJ 6MI! 0H )+'.& @J! / OM/ ")J6 $'.& '5+J4/ 6M/ $).$ (! Q5IM/ $(.' 9MQ21M/ ")J6N%.JKL $(.% (! Q5IM/ NA/ 5! 1H $(.$ 8M)M @)/ OMI1#/ OMJ 6MI! 0H $(.# G.J : #/ OMJN 74/ ! / D! )I61M4Q5 =4/ ! / D2J! 7H 3M >4/ F.5/ MJ 4/ ,J.DM/ H OMI 6MI! 0HOM)HIQ5M/ ? )JQ5IQ5/ 4HHIP )+(.# )+).% )+)." "$.! "%.+ "%.% "&.& "%.! )'#.! )().( ))$.$ )+).% "(." "(.) "(.( "'.+ "(.# "(.% / ! Q5 : #/ OMJN 74/ ! / D! )I61M4Q5 "%.% "&.% "&.$ ").$ "+.& "+.! "(.) "+.) )(! .( )('.% )&'.+ "#.% ))#.! ))$.' ))! .# ))"." ))".# ))$.( / ! Q5 (.14O! JK! 2H ; ; $MIHOM)HIQ5M =1#Q5M/ 1#/ OMJ 8M)M @)/ OMI1#/ OMJ (H! OHN IH! ! HM/ 6MF4/ / H ! / =4/ ! / D2J! 7H GMJ14MJH ! / =4/ ! / D2J! 7H 9<; 6"<+ ? ,) / <+/ 6<+<+ 5/ ,)</ B,/ / AA 8 "%&&$9 =,+/ 5? : 6"< (/ 9/ <," 29: / / : # 8: 9; <)5: ! 9-(: <*,-1 h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 293 <?page no="324"?> l k 294 10. Finanzpolitik aus der Luft gegriffen. Die gegenwärtige Grobstruktur zeigt Abb. 10.3/ 12. (4) Das System des Finanzausgleichs wird durch die in Art. 107 für den Bund enthaltene Möglichkeit ergänzt, aus seinen Mitteln leistungsschwachen Ländern Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs zu gewähren. Diese Bundesmittel werden als Ergänzungszuweisungen bezeichnet. Die Ergänzungszuweisungen erbringt der Bund aus seinem Anteil am Umsatzsteueraufkommen. Sie dienen der ‹Feinsteuerung›, um Ungleichgewichten entgegenwirken zu können, die sich im Wege des horizontalen Finanzausgleichs nicht beheben lassen («vertikaler Finanzausgleich mit horizontalem Effekt»). Auf die Verschuldungssituation der Bundesländer gehen wir im Kapitel 5 näher ein. 2006 hatte das Land Berlin durch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht versucht, seine extreme Verschuldung als «bundesstaatlichen Notstand» einzustufen und vom Bund entsprechende Finanzhilfen zu erlangen, ist aber damit vor dem Verfassungsgericht gescheitert (Abb. 10.3/ 13). (5) Zum vertikalen Finanzausgleich gehört auch der kommunale Finanzausgleich. Er vollzieht sich von den einzelnen Bundesländern zu ‹ihren› Gemeinden. Die Kommunen erzielen Einnahmen aus Steuern (z.B. Grund-, Gewerbe-, Vergnügung-, Hundesteuer; ein Teil der Gewerbesteuer wird an das jeweilige Bundesland abgeführt). Im kommunalen Finanzausgleich ergänzt das Land aus seinen Mitteln die Einnahmen der Gemeinden (fiskalische Funktion), allerdings in unterschiedlichem Ausmaß (Umverteilungsfunktion), indem die Gemeinden unterschiedlich am Gemeindeanteil der Gemeinschaftssteuern beteiligt werden (Einkommen-, Körperschaft-, Umsatzsteuer). Dies durch weitere allgemeine Zuweisungen nach Prüfung im Einzelfall ergänzt. (6) Das System des Finanzausgleichs ist zweifellos reformbedürftig, aber man tut sich auf der politischen Ebene schwer damit. Beispielsweise wird sehr konträr diskutiert, ob die Bundesländern eine eigene Steuerhoheit haben sollten, so dass sich dadurch auch ein Standortwettbewerb ergibt. Und auch die Struktur der Zuständigkeiten - und damit der Ausgabennotwendigkeiten - wäre zu überdenken. 10.3.3. Zur Finanzlage der Gemeinden Die Gemeinden sind das schwächste Glied im System des Finanzausgleich. Während die gesetzlich vorgeschriebenen Ausgaben, auf welche die Gemeinden also keinen Einfluß haben, ständig zunehmen <?page no="325"?> (u.a. im Sozialhilfebereich), stagniert der Gemeindeanteil am Steueraufkommen, und den Gemeinden stehen - im Gegensatz zu den Ländern - nur begrenzte Verschuldungsmöglichkeiten offen. Ihre direkten Einnahmen reichen auch nicht annähernd aus, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu finanzieren. Eine beträchtliche Verbesserung ihrer Finanzlage ergibt sich aus dem gerade beschriebenen Abb. 10.3/ 13: Finanznotstand? Berlins Weg nach Karlsruhe ! ""+1"-3 ! '+1/ )20,-/ + % -5)( 5'-4/ -*/ ))/ +& ! +2/ 2- 7*)(03./ + 5+ 1/ * 632',1/ +,5)( 2,6 Milliarden Euro Zinsen im Jahr '-ACAB .DGB Y: M9'6R &'68Q58QLP44 ? 4: U454: : 4TL EIFE ; 'M =T6RNTP8Q EGGF &'68Q58QLP44 W/ LUT6 FJCB 637O+8 #$! " +<7'/ 7? 4'>391+)78 A6PM/ 6: '5R: 9TLZ PL $'67 #HJJF! I! (6TMTL HHZE Y: M9'6R &'68Q58QLP44 ? 4: U454: : 4TL IEZJ ; 'M =T6RNTP8Q I-ZF &'68Q58QLP44 W/ LUT6 IIZC ? : 8Q5TL BZJ (: UTLX<*644TM9T6R (: 1T6L CZB EZF ? : 8Q5TLX)LQ: N4 IDZ- ? : : 6N: LU (6: LUTL9'6R IDZ- IEZH ; 7<O,8 %&(" A,89')6737<'*3767 PL A670TL4 #HJJF! H! (6TMTL F-DH Y: M9'6R &'68Q58QLP44 ? 4: U454: : 4TL FCEJ ; 'M =T6RNTP8Q F-HJ &'68Q58QLP44 W/ LUT6 G-GJ ; 7<O,8 #&&& +<7'/ 7? 4'5,88+.978 A6PM/ 6TPLL: QMTLZ PL $'67 #HJJF! I! I! >M [T9T6NTP54'LRTL PM W/ LUT6SPL: L0: '5RNTP8Q 9T6TPLPR4V H! ; PL5: '5R: 9TL PM =T6Q/ NLP5 0' UTL $PLL: QMTLV $PL58QNPT.NP8Q W/ LUT6SPL: L0: '5RNTP8Q 'LU "TQN9T46: R5X('LUT5T6R/ L0'LR50'2TP5'LRTLV @'TNNT+ ('LUT53T6S: 55'LR5RT6P8Q4K"); X [6: SPO <: N4T6 8,7 2,8+809,63+6,78 : 79 -+8: 79 ; 7<O,8 1! &*6(! & 46(/ (7,*/ 2! 2! %-8! 6$! &$ 3/ &*%! ! 3! 6(! ! "$&! )! 1'$*/ 2! h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 295 <?page no="326"?> l k 296 10. Finanzpolitik Finanzausgleich. Dies muß in der Praxis ergänzt werden durch Ko- Finanzierungen: In sehr vielen Fällen müssen lokale Vorhaben durch eine Mischfinanzierung zwischen Gemeinde, Land und Bund realisiert werden; man kennt die entsprechenden Hinweise auf den Baustellenschildern: «Hier baut die Gemeinde ... mit Unterstützung des Landes ... und des Bundes ...». Aber auch die Länder kommen oft ohne die Unterstützung des Bundes nicht aus, so daß Aufgaben, die eigentlich Ländersache sind, nur in Kooperation mit dem Bund geplant und finanziert werden können. Dabei benötigt das Land nicht nur die Zustimmung des Bundes, sondern auch der anderen Länder. Für den Bürger nicht ersichtlich, hat sich daher ein Geflecht von fast ein eintausend Gremien entwickelt, in dem sich Bund und Länder über die diversen Vorhaben abstimmen. Diese Prozesse, die den Entscheidungen vorgeschaltet sind, sind «verschlungen und verknotet» (Hans Eichel) und stellen eine Bremse dar. Für die Kommunen ist dies mehr als misslich, denn der im Grundgesetz festgeschriebene Grundsatz der Dezentralisierung, daß lokale Aufgaben auch auf lokaler Ebene realisiert werden sollen, wird damit faktisch ausgehöhlt. Die Gemeinden verlieren einen Teil ihrer kommunalen Unabhängigkeit, weil sie von Länder- oder Bundesunterstützung abhängig sind, auf die sie in vielen Fällen keinen rechtlichen Anspruch haben. Vielen Kommunen steht das Wasser bis zum Hals. Die zentrale Gemeinde-Einkommensquelle ist nicht etwa die Gewerbesteuer, deren Aufkommen aber aufgrund der konjunkturellen Schwäche flächendeckend zurückgegangen ist, teilweise in dramatischem Ausmaß. Daimler-Chrysler beispielsweise zahlt 2003 zum ersten mal seit zehn Jahren wieder Gewerbesteuer an die Stadt Sindelfingen, nachdem ein langjährig immer weiter überwälzter Verlustvortrag nun aufgebraucht ist. Viele Kommunen leiden auch unter konkursbedingten Steuerausfällen. In ihrer Not fordern die Kommunen u.a., Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht einzubeziehen (Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Unternehmensberater) und die Steuerpflicht auf ertragsunabhängige Komponenten auszuweiten (u.a. gezahlte Mieten, Zinsen, Leasingraten). Natürlich provozieren solche Ideen den vehementen Protest der Betroffenen, weil dies die Ertragslage der Unternehmen verschlechtert («Die Kuh, die man melken will, darf man nicht vorher schlachten»). Viel wichtiger als die Gewerbesteuer, die im Schnitt nur knapp 10% der Gemeindeeinnahmen ausmacht, sind die laufenden Zuweisungen von Bund und jeweiligem Land (rund 27% der Einnahmen), <?page no="327"?> gefolgt von den sonstigen Einnahmen u.a. aus Gebühren (22%). Die wichtigste Einnahmequelle aber ist der Anteil der Kommunen an der Einkommensteuer. Folglich zielen die zentralen Reformforderungen in die Richtung eine Besserstellung der Kommunen im System des vertikalen Finanzausgleichs. Sofern eine Kombination aus Kostensenkungen im laufenden Verwaltungshaushalt - Personalabbau, Senkung von Lohntarifen, Outsourcing von Dienstleistungen an Private (Bauhof, Wasserwerk), Schließung von Schwimmbädern und Bibliotheken, Verkauf von Vermögensteilen (Wohnungen) (einige Kommunen besitzen Kiesgruben, Steinbrüche, Weingüter, Vermessungsbüros, Partyservices, Gärtnereien, Reisebüros und Autowaschanlagen - solche Aktivitäten verdrängen private Konkurrenz) und Anhebung der kommunalen Steuersätze nicht ausreicht, resultiert die kommunale Finanznot auch in ausbleibenden Sachinvestitionen: Straßensanierungen, Kindergartenausbau, Erhaltung von Schulen; gelegentlich renovieren schon mal Eltern die Schulen ihrer Kinder in Eigeninitiative. Die Möglichkeiten der kommunalen Verschuldung sind begrenzt, denn im Wege der Kommunalaufsicht müssen die Gemeindehaushalte vom Land genehmigt werden. Hier beginnen sich parteiübergreifende Interessenkoalitionen zwischen den Kommunen zu bilden. Insgesamt aber sind die kommunalen Haushalte mittlerweile stark verschuldet (Abb. 10.3/ 14). Die zwischen Bund, Ländern und Kommunen angeschobenen Überlegungen zur Gemeindefinanzreform sind bisher nicht richtig vorangekommen. Einige Städte und Gemeinden haben daher das betriebswirtschaftliche Instrument des Sale-and-Lease-Back entdeckt: Sie verkaufen Infrastruktureinrichtungen - Ampelanlagen, Kanalnetze, Kongreßzentren, Müllverbrennungsanlagen, Klärwerke, Busse und Straßenbahnen - an ausländische Investoren (die daraus steuerliche Vorteile ziehen) und mieten sie im Rahmen eines Leasingvertrags zurück (Cross-Border-Leasing), ein Konzept, das auch schon als «innovatives Finanzierungssystem für Kommunen» angepriesen wird. Dieser bilanzielle Aktivtausch bringt kurzfristig dringend benötigte Liquidität, aber auch nur einmal, denn das Tafelsilber ist dann weg. Dem stehen aber von nun an die laufenden Belastungen aus den Leasingraten gegenüber. Möglicherweise ist dies sogar billiger als die eigene Unterhaltung solcher Anlagen (Betriebswirte stellen solche Vergleich an unter dem Begriff «Make or Buy»: Selbermachen oder von Dritten kaufen). Bedenklich ist aber, daß manche Leasingverträge langfristig laufen, teilweise 99 Jahre. Und ob der heutige kanadische Investor auch in h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 297 <?page no="328"?> l k 298 10. Finanzpolitik 20 Jahren noch für die vertragsgemäße Wartung der geleasten Anlage zur Verfügung steht, ist fraglich. Solche Strohfeuereffekte vermindern nur vorübergehend die Notwendigkeit, die Haushalte durch Ausgabenkürzungen zu sanieren. Nicht zu unterschätzen sind auch die juristischen Risiken aus oft 1000 Seiten starken Verträgen, die z.B. US-amerikanischem Recht unterliegen und bei deren rechtlicher Würdigung manche Stadtverwaltung überfordert sein dürfte. 10.3.4. Deutschland und EU-Haushalt Die EU finanziert sich unmittelbar aus eigenen Einnahmen (Abb. 10.3/ 15): • zu etwa 1% aus nichtverwendeten Mittel vergangener Haushaltsjahre, • zu rd. 13% aus den Zolleinnahmen und Agrarzöllen, welche die nationalen Zollverwaltungen der Mitgliedstaaten einnehmen und zu 90% an den EU-Haushalt abführen (10% dienen zur Deckung der nationalen Verwaltungskosten), • zu rd. 14% aus einer Beteiligung an den Mehrwertsteuereinnahmen der Mitgliedstaaten sowie • zu rd. 72% aus Zuweisungen aus den nationalen Budgets, die sich am jeweiligen BIP der Mitgliedsstaaten orientieren. Da es sich bei den beschriebenen Eigenmitteln um keine autonom von der EU kontrollierte Einnahmequelle handelt, werden grundsätz- Abb. 10.3/ 14: Kommunale Defizite & && $6(& &% $"(! &# $#(! &! $"(% &M $4(! &K, #%(& &I, ##(& K %& %K #& #K ! & ! K 0$* "$ '-$-' .-'@=-,* 5-#-'1-&%-$-'3$+.(**-) %$ '"&! ()"# && '+. &% )#+' &# )#+" &! )/ +! &M )%+. &K, (+$ &I, &+( *%& *G *I *M *# & # ! 0)3)"0-'$)2&&3,/ ( / -' 4(**$)-) %$ '"&! ()"# <?page no="329"?> liche Überlegungen bezüglich eines künftigen Finanzierungssystems angestellt. Mögliche Alternativen sind eine eigene EU-Steuer sowie die Zulassung einer EU-Verschuldung (die gegenwärtig ausgeschlossen ist). Für die gesamten Eigenmittel der Gemeinschaft ist eine Oberrr grenze festgesetzt. Sie beträgt 1,24 Prozent des in der Gemeinschaft erwirtschafteten Bruttonationaleinkommens (BNE). Eine Überschreitung dieser Obergrenze macht der EG-Vertrag sehr schwer. Dazu bedarf es nicht nur der Einstimmigkeit im Rat. Vielmehr muß die Änderung auch von den Parlamenten aller Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Deutschland zahlt bei den operationellen Maßnahmen deutlich mehr in die EU-Kasse gezahlt als aus ihr herausbekommen. Damit bleibt Deutschland der mit weitem Abstand führende Nettozahler der EU, vor Großbritannien, Italien, den Niederlanden und Frankreich. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt waren dies aber nur 0,27 Prozent (Abb. 10.3/ 16) (1999 war es noch fast doppelt soviel, aber dies liegt auch an Rückflüssen aus Fluthilfen und höheren Subventionen für Ackerbauern). Drei Mitgliedstaaten überwiesen netto einen größeren Anteil ihrer Wirtschaftsleistung nach Brüssel, und zwar die Niederlande 0,52 Prozent, Schweden 0,36 Prozent und Luxemburg 0,30 Prozent. Frankreich leistete mit 0,17 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts einen ähnlich hohen EU-Beitrag wie Deutschland. Im Jahr 1997 führte Deutschland netto noch 0,58 Prozent seiner Wirtschaftskraft an die Gemeinschaft ab. Spanien, Griechenland, Portugal und Irland bekommen derzeit wesentlich mehr Geld aus Brüssel, als Abb. 10.3/ 15: EU-Einnahmen und -Ausgaben 5,2 22,5 57,3 9,8 5,2 1989 4,4 20,4 55,8 13,3 6,1 1991 2,9 16,8 52,5 25,2 2,6 1993 2,6 16,7 52,2 18,8 9,7 1995 2,4 15,2 42,5 33,4 6,5 1997 2,5 13,5 35,9 43,2 5,0 1999 2,1 14,5 32,7 37,5 13,1 2001 1,5 10,2 23,5 55,5 9,2 2003 1,5 9,8 14,0 Agrarabschöpfung und Zuckerabgaben Beiträge der Mitgliedsländer Zölle Mehrwertsteuer Sonstiges 73,8 0,9 2005 #@ZKKZ* '@CFD,MB\XZB %! CK! IZHA .*%%"2,4+ 64) 47 5 *74..4+ 64) / "2)4 '#$# ! 19 &((% h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 299 <?page no="330"?> l k 300 10. Finanzpolitik sie dorthin abliefern. Die Differenz zwischen Ein- und Auszahlungen lässt allerdings nicht darauf schließen, welches Land letztlich von der Politik der Union am meisten profitiert. Die Vorteile des Binnenmark- Abb. 10.3/ 16: Nettozahler EU 2,/ ,&" #'- 5,+(,&)! '-,& *( 43"01#%+1)$ -,% .1+&,% 7886 ! PQ--) <Q--1GUN4Q/ ( 3UOQ/ ) <Q--1Q30PE2OQ/ ( WQ/ -Q 52 ? 4U33Q/ 2 U'. RQ3 YUN/ Q =AAFX >U2R "52JI 52 =51I $[; A? 10P 52 "69 8U4R1 52 =51I "69 52 # L13 $<" "69 0/ 1 "52JI -38: 8H00.: 8 >BZE EIM,II 00,($ -00"(&" : ! .4 7,4 0EC@/ +EH> IZDA BDMEII )* #A1" : ! 1, 7). -C; D@B@. +ZG EGM+II ),* #7=: ,: A" : ! 1: A. <@EFGC; 2'.B ,FZD FAMEII ,=: ,/ #*=7/ 7" : ! 4* */ ? @2>8@. GIZD F,MCII ,: * #.1," : ! 4: .) 9H'.5H@8C; BIZA FAMEII 4=))/ #1=: .7" : ! 7* / ) 3F'28@. C,Z, FDMFII 4=4: : #4=A/ *" : ! 7, 1* <(.@/ 'H5 CZD E,MDII 4,. #44." : ! 71 / A %GF@HH@8C; ,ZE F+M+II 4*) #1,." : ! 77 1/ 6HIB+H8F'..8@. BIZD F+MDII 7=.4A #4=),." : ! : ) / A 98..2'.B CZF F+MBII ). #*: " : ! : . 7, 8.SNQSN6Q2 GIZF +MBFI GA, ! FAF\ IZG+ GA 941JQ26Q2 FZI GEMAII GIF ! GGI\ IZEA CG 90U26Q2 DDZG FIM+II BMIG, ! ,MCIF\ IZB, GEB VH0Q/ 2 IZAF GAMAII +I ! BD\ IZB+ GFC 72OU/ 2 GIZG ,MAGI C+I ! G+E\ IZAF C, 941JU5Q6 CZD AMI,I FAG ! GB+\ IZAE CI <14Q2 E,ZB BME,I GM,CE ! GMDE,\ IZ,I D, [/ 4U2R DZF E,MAII GMGEA ! GMC+D\ IZ,E FAG ".-4U2R GZE AM,FI GCD ! GDC\ GZCD GG, <1/ -'OU4 GIZC GDMIII FMEA, ! EMGFD\ GZBD FFB >U4-U IZDI GGMGII +I ! DC\ FZIA FFC ? Q--4U2R FZE CMCBI FBD ! G+,\ FZI+ GGC ]/ 6QSNQ24U2R GGZG GBMEII EM+IG ! DMGBE\ FZG+ ECG ? 6-U'Q2 EZD BMIEI DAB ! EB+\ FZEC GDI ; 'Q44Q) "7X@1336..612 FIIBZ 9-U-6.-6.SNQ. YUNT'SN FIIB P*/ RU. &'.4U2R ! L12 RQ.-U-6.\ <?page no="331"?> tes schlagen sich auch in den nationalen Steuereinnahmen nieder. EU- Mehrausgaben infolge der EU-Erweiterung führen allerdings grundsätzlich zu einer Verschlechterung der deutschen Nettozahlerposition. Abb. 10.3/ 17 verdeutlicht die Grobstruktur der Ausgaben des EU- Haushalts, bezogen auf die Finanzplanung bis 2013. Die uneinheitliche Verteilung der Ausgaben ist das Ergebnis politischer Entscheidungen. Die Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik (der Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds Landwirtschaft - EAGFL) machen rd. 43 Prozent des gesamten EU-Haushaltes aus. Zweitgrößter Posten im Brüsseler Etat ist die Strukturpolitik, für die 36 Prozent angesetzt waren. Der EU-Haushalt 2007 für die dann 27 Mitgliedsstaaten wird rund 116,3 Milliarden Euro betragen. Der gesamte EU-Haushalt beträgt jedoch nur rund ein Drittel des deutschen Bundeshaushaltes. Gemessen an den öffentlichen Ausgaben der Mitgliedstaaten insgesamt beträgt der EU-Haushalt sogar nur 2,1 Prozent. An der gesamten Wirtschaftsleistung der EU (Bruttoinlandsprodukt) macht der EU-Haushalt 1,0 Prozent aus. Den deutschen Beiträgen zur «Gemeinsamen Agrarpolitik» (GAP) deutlich geringere Rückflüsse gegenüber. Hintergrund: Die Ausgaben Abb. 10.3/ 17: EU-Ausgaben Ausgaben von höchstens 862,4 Milliarden Euro (= 1,045 % der EU-Wirtschaftsleistung) Quelle: EU davon für: ,)# 3-! 1&$+$! #+'%)$ (9# 4660 *&" 4652 / #+(&' 50.5 rundungsbedingte Differenz Agrar-, Fischereiu. Umweltpolitik direkte Beihilfen und marktbezogene Maßnahmen Strukturu. Kohäsionspolitik zur Förderung der ärmeren Regionen Wachstum u. Beschäftigung (Forschung, Verkehr, Bildung u.a.) Außenpolitik Verwaltung Justiz und Innenpolitik 372 Mrd. Euro 293,1 308,1 72,0 50,0 50,3 10,3 darunter Dicke Scheiben für die Landwirte und wirtschaftsschwachen Regionen h h l d f 10.3. Staatshaushalt und Staatsfinanzierung 301 <?page no="332"?> l k 302 10. Finanzpolitik zur GAP (EAGFL - Abteilung Garantie) fließen vorrangig in die Länder mit hoher Agrarproduktion. Länder wie Frankreich, die einen relativ hohen Anteil an Ackerkulturen haben, können tendenziell mit höheren Rückflüssen rechnen als Mitgliedstaaten oder Regionen, in denen zum Beispiel die Milchviehhaltung überwiegt. Die Rolle der Agrarwirtschaft in Osteuropa wird zwar häufig überschätzt; mit einem Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt in den neuen Beitrittsländern von gut sieben Prozent ist die Bedeutung des Agrarsektors aber immer noch fast viermal höher als in der gegenwärtigen EU der 27. Daher war in der Agrarpolitik von vorneherein klar, dass eine volle Übertragung der kostspieligen Agrarmarktordnung auf die neuen EU-Staaten den Finanzrahmen sprengen würden. Doch statt dies zum Anlass zu nehmen, die übergewichtige Agrarpolitik auf Linie zu bringen, rang sich die EU 1999 nur zu kosmetischen Reformen durch und schloss die Neumitglieder von den Direktsubventionen aus. Auf die Direktzahlungen entfallen aber fast 70 Prozent der gesamten Agrargarantieausgaben. Da die Einkommen der Landwirte in Osteuropa weit unter dem ihrer westlichen Kollegen liegen, würde eine einseitige Alimentierung des Westens im Osten zu starken Spannungen führen. Das gilt analog für die EU-Strukturpolitik, auf die mehr als ein Drittel der EU-Haushaltsausgaben entfällt. Die Strukturpolitik sieht eine gezielte Umverteilung der Mittel vor. Nach der EU-Erweiterung werden von den EU-Strukturhilfen besonders die neuen Mitgliedsstaaten profitieren, so dass es zu heftigen Verteilungskämpfen kommen wird. Denn nach den Beitritten liegen bisher strukturschwache Gebiete plötzlich im Mittelfeld und fallen damit eigentlich zugunsten der Osteuropäer aus der Förderung heraus. Keines der neuen osteuropäischen Mitgliedsländer hat ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das über 75 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. Und damit qualifizierten sich alle neuen Mitgliedsländer zumindest auf Landesebene für die so genannte Ziel-1-Förderung, die für die strukturelle Anpassung von Regionen mit Entwicklungsrückstand sorgen soll. Kein Wunder also, dass Spanien als größter Empfänger von Fördergeldern nicht zu den großen Freunden der Erweiterung zählt und sich in Nizza ausbedungen hatte, dass auch bei den Verhandlungen der neuen Finanzplanung im Jahr 2006 über die Strukturfonds nur mit Einstimmigkeit entschieden werden konnte. Die neuen Mitgliedsstaaten haben noch in vielen Bereichen gewaltigen Nachholbedarf: Allein im Umweltbereich, so schätzen Experten, sind mehr als 100 Milliarden Euro nötig, um die Mitteleuropäer auf den Standard der Europäischen Union zu bringen. Aber auch im <?page no="333"?> Infrastrukturbereich, im Pensionssystem oder im Gesundheitswesen sind hohe Investitionen notwendig. Für die Finanzierung von Reformen in den Beitrittsländern hat die EU aber jährlich nur 3,1 Milliarden Euro bereitgestellt, was die tatsächlichen Belastungen der Länder nur zu einem kleinen Teil abdeckt. All dies wird in der EU zu einem erheblichen Verteilungskampf führen. Daraus gibt es nur einen Ausweg: Nach der Reform ihrer Institutionen muss sich die Europäische Union nun an den radikalen Umbau ihrer Agrar- und Strukturpolitik machen. Aber auch das Finanzsystem selbst gehört auf den Prüfstand. 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Ansatzpunkte Wie eingangs ausgeführt, ist unter Finanzpolitik - als Abgrenzung zur Fiskalpolitik - das Einsetzen des (Bundes-)Haushalts zur Verfolgung gesamtwirtschaftlicher, insbesondere konjunktureller Ziele zu verstehen. Aus der Struktur des Haushalts ergeben sich drei Gruppen finanzwirtschaftlicher Instrumente: erstens solche, welche die Einnahmeseite berühren (Einnahmepolitik), zweitens solche, welche die Ausgabenseite betreffen (Ausgabenpolitik), und drittens die Schuldenpolitik. Dieses finanzpolitische Instrumentarium steht grundsätzlich zur Verfolgung jeder Art von wirtschaftspolitischer Konzeption zur Verfügung. Dementsprechend gibt es auch eine Reihe alternativer Haushaltskonzepte. Einige Beispiele: 10.4.1. Budgetkonzepte Eine politisch orientierte Haushaltspolitik wird den Staatshaushalt als Instrument verstehen, durch dessen Einsatz bzw. Gestaltung bestimmte Wirkungen erreicht und Ziele verfolgt werden sollen. Aus einer Vielzahl von Budgetkonzepten greifen wir im folgenden einige wichtige heraus. (1) Eine keynesianisch orientierte Politik wird das Konzept der antizyklischen Haushaltsgestaltung verfolgen, indem die Struktur von Einnahmen, Ausgaben und Schulden auf die konjunkturelle Entwicklung reagiert. Einem Konjunkturabschwung sollte auf der Einnahmeseite durch Steuerentlastungen und auf der Ausgabenseite durch zusätzliche Staatsausgaben entgegengewirkt werden. Das daraus resultierende Haushaltsdefizit sollte durch Verschuldung finanziert werden (deficit spending); diese Schulden sollten dann bei sich erholender Konjunktur wieder abgebaut werden. Eine ‹heißlaufende› 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 303 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 303 <?page no="334"?> l k 304 10. Finanzpolitik Konjunktur (Boom) sollte umgekehrt durch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen gedämpft werden. (2) Als Gegensatz dazu ist das Konzept des konjunkturneutralen Haushalts hervorzuheben, das u.a. vom Sachverständigenrat propagiert wurde. Dabei handelt es sich um die Schätzung eines fiktiven Haushalts, von dem unter der Voraussetzung eines gegebenen Produktionspotentials weder kontraktive noch expansive Impulse ausgehen. Einnahmen, Ausgaben und Schulden müssen demnach mit derselben Wachstumsrate wachsen wie das Produktionspotential. Abweichungen des tatsächlichen vom konjunkturneutralen Haushalt sind danach als konjunkturelle Impulse zu werten. Dies ist u.a. im Hinblick auf die öffentliche Verschuldung bedeutsam (Abschnitt 5), indem zwischen einem konjunkturunabhängigen, strukturellen (nur langfristig abzubauenden) Haushaltsdefizit und konjunkturbedingten (kurzbis mittelfristigen) Defiziten unterschieden werden kann. Das Konzept des konjunkturneutralen Haushalts ist vor allem für mittelfristige Ausgabenschätzungen von Bedeutung. Es muß dabei aber berücksichtigt werden, daß es sich primär um ein Konzept zur Messung konjuntureller Wirkungen handelt; bestimmte wirtschafts- / konjunkturpolitische Handlungsweisen werden nicht vorgegeben bzw. empfohlen. (3) Vor allem im Zusammenhang angebotsorientierter Wirtschaftspolitik, die u.a. auch auf eine Rückführung der Staatstätigkeit abstellt, ist das in den USA entwickelte Zero-Base-Budgeting zu erwähnen. Vereinfachend ausgedrückt sollen in einem Haushaltsentwurf nicht die Werte aus der Vergangenheit fortgeschrieben bzw. modifiziert übernommen werden, sondern man beginnt praktisch bei «Null», d.h. jede Haushaltsposition wird als neu betrachtet und daraufhin untersucht, ob sie für den zu erstellenden Haushalt unbedingt erforderlich ist. Im Grunde genommen sollte dies nach den Grundsätzen von Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit selbstverständlich sein, doch zeigt die Praxis der Haushaltsplanung, daß dies nicht immer der Fall ist. Zero-Base-Budgeting wurde übrigens vom früheren US-Präsidenten Jimmy Carter während seiner Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates Georgia erstmals dort eingeführt und seither erfolgreich dort angewendet. Mittlerweile haben weitere US-Bundesstaaten und auch einige Entwicklungs- und Schwellenländer (z.B. Indien und Jordanien) das Konzept des Zero-Base-Budgeting übernommen. (4) Konzeptionell verwandt damit ist die sog. Sunset Legislation. Der Begriff «Sonnenuntergang» leitet sich daraus ab, daß - vor allem ausgabenwirksame - Gesetze zeitlich befristet werden, so daß bei Erreichen des «Verfalldatums» (sunset) das Gesetz automatisch seine <?page no="335"?> Gültigkeit verliert, sofern nicht vorab eine Verlängerung begründet und beschlossen wird. Dadurch soll die Transparenz von Maßnahmen erhöht werden, die in der Vergangenheit beschlossen wurden. Auf die damit implizierten ständigen Legitimations- und Kontrollprobleme kann hier nur pauschal verwiesen werden. (5) Der Vollständigkeit halber werden noch zwei weitere Konzepte skizziert, die jedoch in der Praxis kaum Bedeutung erlangt haben. In den USA wurde zwischen 1913 und 1934 mit dem Performance Budgeting experimentiert. Nach diesem Konzept werden wirtschaftspolitische Ziele in adäquate Handlungen (Aktionen) ‹übersetzt›, die sich wiederum als Bedarf an Haushaltsmitteln konkretisieren. Dabei handelt es sich mehr um Kostenarten (z.B. Ausbau der Fernstraße XY) als um Kostenstellen (Straßenbaubehörde). Im mikroökonomischen Bereich der Unternehmen finden sich deutliche Parallelen zum Performance Budgeting im sog. management by objectives. Grundlage für derartige Ansätze sollte eine Kosten-Nutzen-Analyse sein. Auf die beträchtlichen methodischen Probleme, die dabei insbesondere bei öffentlichen Investitionen bestehen, kann hier nicht eingegangen werden. Das Planning-Programming-Budgeting-System (PPBS) stellt sich als Regelkreis dar, bei dem - ausgehend von Planvorhaben - eine Programmierung der dafür erforderlichen Handlungen erfolgt, diesen entsprechende Haushaltsmittel zugewiesen werden und während und nach der Durchführung durch Soll-Ist-Vergleich eine Korrektur der vorangehenden Phasen (für die nächste Haushaltsperiode) erfolgt. Letztendlich ist dies nichts anderes als eine Anwendung der Phasen des rationalen Entscheidungsprozesses (Planung, Entscheidung, Durchführung, Kontrolle) auf den Staatshaushalt; im Prinzip wird jede rationale Entscheidung diesem Schema folgen. Dass ein ausgeglichener Haushalt jedoch nicht unmöglich ist, belegen die Beispiele der USA und Kanadas, wo durch rigorose Sparmaßnahmen und eine radikale Straffung des Steuerrechts (USA) Haushaltsgleichgewichte realisiert wurden (wenngleich nur vorübergehend (Abb. 10.4/ 1). In Europa weisen Finnland (+4,7% des BIP), Luxemburg (+2,6%), Dänemark (+1,9%) und Schweden (+1,2% des BIP) Haushaltsüberschüsse auf. 10.4.2. Steuern und Steuerwirkungen Um keine falschen Erwartungen zu wecken: Wir gehen in diesem Studienbrief nicht ein auf eine finanzwissenschaftliche Darstellung des deutschen Steuersystems, aber ein kurzer Überblick über einige wichtige Aspekte ist angebracht. d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 305 <?page no="336"?> l k 306 10. Finanzpolitik 10.4.2.1. Einige Begriffe Der Oberbegriff von Zahlungen, die an den Staat aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu leisten sind, heißt Abgabe. Das «Grundgesetz» des Steuerwesens in Deutschland heißt daher auch Abgabenordnung (AO). Abgaben sind insbesondere Steuern, Gebühren und Beiträge. Steuern sind Zahlungen ohne direkt zurechenbare Gegenleistungen. Natürlich erhält der Steuerzahler indirekt für seine Zahlungen öffentliche Güter (oben Abschnitt 2), aber diese sind den Zahlungen nicht direkt zuzurechnen wie Gebühren (vgl. anschließend). Weiter wird unterschieden zwischen direkten Steuern, die bei demjenigen erhoben werden, der sie wirtschaftlich tragen soll (Steuersubjekt und Steuerträger sind identisch), und indirekten Steuern (wie der Mehrwertsteuer oder den Verbrauchsteuern), die von demjenigen, der sie abzuführen hat (Steuersubjekt), auf den Endverbraucher (Steuerträge) z.B. in den Preisen überwälzt werden: Die Biersteuer wird bei der Brauerei erhoben; Steuersubjekt und Steuerträger sind also nicht identisch (Abb. 10.4/ 2). Steuern im Außenwirtschaftsverkehr heißen Zölle. Die Steuern können nach dem Steuergegenstand wie in Abb. 10.4/ 3 eingeteilt werden. Gebühren werden nur dann erhoben, wenn der Abgabenpflichtige bestimmte staatliche Leistungen in Anspruch nimmt (sich z.B. einen Abb. 10.4/ 1: Haushaltssalden USA '! '& '&$ %&""&! *(#$& -%$+2+8% 5"& 0*%>; (-5, +# .'0+,5; -,)81 +" )>&/ .'! #%% $%% #%% % '#%% '$%% '#%% '"%% '! %% '#A" #77! '#%: #77A '$$ #77K A7 #77: #$A #777 $#A $%%% #$K $%%# '#! : $%%$ '#K" $%%# $%%"( (YST/ NTD5D ? B5VV5E 8EF-D/ CCHEF2G 9A0-/ B L..H1/ (: N7,"49": 33')5: +&$ 'I%% <?page no="337"?> Reisepaß ausstellen oder sein Auto registrieren läßt). Zahlung und Gegenleistleistung sind direkt zurechenbar. Beiträge werden zur Dekkung bestimmter öffentlicher Leistungen erhoben, weIche im öffentlichen Interesse für einen bestimmten Personenkreis erbracht werden, z.B. Anliegerbeiträge für Straßenbau und Kanalisierung. Beiträge sind gleichfalls der Leistung wirtschaftlich direkt zuzurechnen, allerdings oft nur als potentielle Gegenleistungen: Ob jemand z.B. Sozialversicherungsbeiträge tatsächlich in Form von Arbeitslosenunterstützung jemals in Anspruch nimmt, ist offen. Für die Entrichtung von Abgaben sind gesetzliche Grundlagen erforderlich. In diesen wird der Tatbestand beschrieben, der zu Abgabenpflicht führt, wobei - hier am Beispiel der Steuer - der Steuerrr Abb. 10.4/ 2: Direkte / indirekte Steuern E =E75]70$6! -W0W]']7 E K514022P1-JP&P. E IP.! 13! LJP K514022P1-JP&P. E <061-JP&P. E =! / 5J! 3P.J.! L-JP&P. E *51-! %-$63! L-JP&P. D ? PHP.%PP.J.! LO -JP&P. D 72-! JG-JP&P. D ? .&1"P.HP.%-JP&P. D 901-J5LP E @P&P.-$6&JG-JP&P. E >&1"P-JP&P. E 1,4%B,! @)E#)&EDB)8)E 7 3)D)! ! D/ &,(BDB)8)E 7 6: ED)7DB)8)E E =.! NJN! 6.GP&L-JP&P. E : P11HPJJO &1" <0JJP.5P-JP&P. E 9/ 5P3%! 14! %L! %P E 9J.! CP1L)JP. IP.4P6.-JP&P. E +P.-5$6P.&1L-JP&P. E 0)/ &D)! DB)8)E D ! &N K1P.L5P E K."L! --JP&P. E ; 51P.! 3F3-JP&P. E 9J.02-JP&P. D ,8( / )+)7D9%BB)! 7 5,! =DB)8)E 7 .8/ #)EDB)8)E D ! &N ? P1&C25JJP3 E M5P.-JP&P. E M.! 11JHP51-JP&P. E =! NNPP-JP&P. E 9$6! &2HP51-JP&P . E 8! %! 4-JP&P. E 8PP-JP&P. 4 ,8( D.7DB%') 2)E+E,8/ &D'"B)E 7 / )8/ &B9%BB)! DB)8) E D 4022&1! 3P +P.%.! &$6-JP&P.1 E ? P2P51"PO LPJ.#14P-JP&P. E +P.L1)L&1L-JP&P. D 2)E9: ')7DB)8)E *)E $8E%DB%D/ &)7 -)ED.7 D 2)E9: ')7DB)8)E *)E 7,B"E! %/ &)7 -)ED.7 D ? .&1"-JP&P. (D K.%-$6! NJ-JP&P.' &-.).,6,*.? 01,./ *. 8*.).,? 1? 01,./ *. 8*.).,? ",*,65+*.).,? 8)4*6? (+*.).,? 7.,/ .3,+*.).,? 7.,4,6)23+*.).,? d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 307 <?page no="338"?> l k 308 10. Finanzpolitik gegenstand (z.B. das Einkommen), die Bemessungsgrundlage (z.B. die steuerpflichtige Einkommenssumme nach Berücksichtigung der Abzüge), der Steuersatz (Steuertarif) (i.d.R. in Prozent), der Steuerrr schuldner und der Steuergläubiger (Bund, Land, Gemeinde) zu präzisieren sind. Trotz grundsätzlicher Steuerpflicht kann sich dabei durchaus eine Steuerschuld von Null ergeben, z.B. Befreiungstatbeständen. Das deutsche Steuersystem ist ein kaum noch zu durchschauendes Geflecht von rund 100 Gesetzen und 70.000 anderen rechtlichen Normen. Besondere Probleme in diesem «Steuerdschungel» stellen die zahllosen Ausnahmeregelungen dar. Kaum ein Normalbürger ist heute in der Lage, seine Steuererklärung ohne fachliche Hilfe abzufassen, aber auch Steuerfachleute beherrschen oft nur Teilgebiete. Abb. 10.4/ 3: Steuerarten (nach Steuergegenstand) • Körperschaftsteuer • Einkommensteuer (inkl. LSt, KapESt, ZASt) • : -.6=)-4,*-&-. • Erbschaft- (und Schenkung) steuer • Feuerschutzsteuer • Grunderwerbsteuer • Hundesteuer • #30>*39@-.<-(.,*-&-. ; $-,-99,/ (3+*,*-&-. ; %=.,-4,*-&-. • Kraftfahrzeugsteuer • Rennwett- und Lotteriesteuer • Spielbankabgabe • Straßengüter verkehrsteuer • Versicherungsteuer • 7-/ (,-9,*-&-. • auf Energie - Erdgassteuer - Mineralölsteuer - Stromsteuer • 3&+ "-1-4,6>**-9 ; ! 39? ,*-&-. ; 5&/ <-.,*-&-. • auf Genußmittel - Biersteuer - Branntweinsteuer - Kaffeesteuer - Schaumweinsteuer - Tabaksteuer - Teesteuer 8 3&+ ,24,*>)- : -.1.3&/ (,)'*-. ; "-&/ (*6>**-9,*-&-. • kommunale Verbrauchsteuern - Gemeindegetränkesteuer - Vergnügungsteuer • Grundsteuer - GewESt • Grundsteuer "/ ,-,343/ ,5 (nach Steuergegenstand) %,1(/ +1/ ,-,35 8,3; ,)31/ ,-,35 8,3234-0)1/ ,-,3 -5. 6': : , $,31&5,51/ ,-,35 #,4: 1/ ,-,35 ! 714/ +1/ ,-,35 "&51/ (*, 8,3234-0)1/ ,-,35 6': : , (inklusive Einfuhrumsatzsteuer/ E rwerbsteuer <?page no="339"?> «Auch der Finanzbeamte kann heute die Steuergesetze nicht mehr verlässlich vollziehen,» sagt der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof. Ein Beispiel Die Schaumweinsteuer gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Sie wurde 1933 zunächst abgeschafft, aber zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Kriegsfinanzierung wieder eingeführt und seitdem beibehalten. Was Schaumwein ist, lässt sich leicht erklären: «Zusammengefasst sind dies Schaumweine in Flaschen mit Schaumweinstopfen, der durch eine besondere Haltevorrichtung befestigt ist, oder die bei +20 Grad Celsius einen auf gelöstes Kohlendioxid zurückzuführenden Überdruck von 3 Bar oder mehr aufweisen und je nach Alkoholgehalt und Zusammensetzung der Position 2204, 2205 oder 2206 des EU-Zolltarifs zuzuordnen sind. Der Alkoholgehalt muß mindestens 1,2 Volumenprozente betragen. Im Bereich von 13 bis 15 Volumenprozent muß der vorhandene Alkoholgehalt zudem ausschließlich durch Gärung entstanden sein. Die frühere Unterscheidung zwischen Schaumwein, als Schaumwein geltenden Getränken (sogenannte Unterdruckschaumweine) und schaumweinähnlichen Getränken (u.a., Fruchtschaumweine) ist weggefallen.» Daraus ergibt sich sehr leicht nachvollziehbar, daß Sekt der Schaumweinsteuer unterliegt, der italienische Prosecco aber nicht. Oder? Nach: Schwäbische Zeitung, 18.8.03 Kirchhof hat mit einem Team einen Gesetzentwurf für eine neue Einkommen- und Körperschaftsteuer erarbeitet («Karlsruher Entwurf»), der mit zahlreichen anderen Reformvorschlägen konkurriert, u.a. seitens der damaligen rot-grünen Regierungskoalition, von den Politikern Friedrich Merz (CDU), Edmund Stoiber (CSU), Koch und Steinbrück (CDU/ SPD), seitens der FDB und verschiedener Wirtschaftswissenschaftler. Allen ist gemeinsam, daß sie unter dem Eindruck fiskalischer Zwänge entwickelt wurden, d.h. der Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte wieder ins Gleichgewicht bringen zu müssen. Neben der dringenden Notwendigkeit der Vereinfachung der Steuergesetze sind auch Anpassungen erforderlich, die sich aus der europäischen Rechtslage innerhalb der EU ergeben. Umgekehrt existieren Schub- und Sogfaktoren, die dazu führen, daß Unternehmen und Privatpersonen ganz legal ihren Sitz ins Ausland verlagern, um den deutschen Steuerbelastungen zu entgehen, von illegaler Kapitalflucht in Steueroasen ganz zu schweigen, so daß dem deutschen Fiskus gewaltige Steuereinnahmen entgehen. d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 309 <?page no="340"?> l k 310 10. Finanzpolitik Die wichtigsten Steuerquellen in Deutschland sind die Einkommen- und Lohnsteuer, die Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) 41 , die Mineralölsteuer und die Gewerbesteuer (vgl. oben Abb. 10.3/ 10). Auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19% (Abb. 10.4/ 4) wollte die Regierungskoalition 2006 nicht verzichten, solange das strukturelle Defizit nicht verringert worden sei. (Warum eigentlich nicht gleich 20%? Das könnte man dann im Kopf rechnen… Frankreich hat 20,6%; die Schweiz 7,6%. Das kann man nicht im Kopf rechnen.) Nicht jede Steuererhöhung bringt Mehreinnahmen: Die Tabaksteuererhöhung im Jahr 2005 brachte eine Mindereinnahme von 650 Millionen Euro, offenbar, weil die Raucher weniger rauchten oder auf billige oder Schmuggelware umstiegen. 41 Wussten Sie, daß die MWSt in Deutschland 1968 mit 10% begann? Abb. 10.4/ 4: Steuererhöhungen 1&%&0& (/ &.&0$ / 0"/ - %,%&0&0 *#$$'%! &$ ? C ? B@ ? B@ ? C@ ? ; @ ? <@ ? EH GGWH GHWC GHWH ? WC ? WH @WC @WA @W@ GHWB GHWA GHW@ GHW? GDFWF GE? WA GBBWE 01! $# %#$< GAGWD GADWA GA@WE GD GC GD GE GF GF GH GH GG @ B ? #9 B C CWC BWC D F H +QQ79P95O9M >'KI &MP*457K9M >'KI 5O (9JKL; 6Q'O: #5O VMNI9OK! 1C; -BC-E+ECDC-+'E@ 6-B'-ECEC ,2+'E@+ECDC-U&5OO'6P9O #XM: S &JMN! 6-B'-ECEC *C-+8); C-D0>+ECDC-U&5OO'6P9O #XM: S &JMN! 3-(AE8>C+ .5D+ ! )(,+ &##% $"*' %''& G? AH G? @H G? ? H FFHH FFHA TJ9QQ9O, )JO: 9LP5O5LK9M5JP : 9M $5O'OI9O $S+S=SU"M'85R, )MN; R9M TJ9QQ9O,+M<95KLRM95L >K9J9ML; 6*KIJO7 $S+S=SU"M'85R, )MN; R9M FHHC FHHB FHHA FHH@ FHH? FHGH FHHC FHHB FHHA FHH@ FHH? FHGH <?page no="341"?> Die Harmonisierung der Steuerstrukturen innerhalb der europäischen Union ist eine Aufgabe, die zur Realisierung der europäischen Integration erforderlich ist. Bislang ist die Bezeichnung Wirtschaftsgemeinschaft - als spezifischer Form der ökonomischen Integration (vgl. ausführlich im Studienbrief Außenhandel) - keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Absichtserklärung. Allein die Mehrwertsteuer wird in jedem Mitgliedsstaat anders erhoben (Abb. 10.4/ 5), Staat Steuersatz in % normal ermäßigt Belgien 21 6/ 12 Bulgarien 19 7 Dänemark 25 - Deutschland 16 7 Estland 18 5 Finnland 22 8/ 17 Frankreich 19,6 2,1/ 5,5 Griechenland 18 4/ 8 Irland 21 4,4/ 13,5 Italien 20 4/ 10 Lettland 18 5 Litauen 18 5/ 9 Luxemburg 15 3/ 6/ 12 Malta 18 5 EFTA: Norwegen 24 19,35 Schweiz 7,6 Island 24,5 Andere: Argentinien 21 Russland 20 Ukraine 20 Türkei 17,6 Kanada 15 Südafrika 14 Australien 11-14,5 Thailand 7 Japan 5 Singapur 4 Staat Steuersatz in % normal ermäßigt Niederlande 19 6 Österreich 20 10/ 12 Polen 22 3/ 7 Portugal 19 5/ 12 Rumänien 19 7 Schweden 25 6/ 12 Slowakei 19 - Slowenien 20 8,5 Spanien 16 4/ 7 Tschechien 19 5 Ungarn 25 5/ 15 Verein. Königreich 17,5 5 Zypern *) 15 5 *) nur griechischsprachiger Teil Quelle: BMF Mehrwertsteuersätze in der EU d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 311 <?page no="342"?> l k 312 10. Finanzpolitik was einen enormen administrativen Aufwand bei der Berechnung und Abwicklung des Vorsteuerabzugs bedeutet (besonders gut im Kopf zu rechnen sind Sätze wie 19,6 in Frankreich oder 7,6 in der Schweiz). Die Freiheiten des Binnenmarkts werden durch solche Hemmnisse gravierend beeinträchtigt. 10.4.2.2. Reaktionen auf Steuererhebung Steuern werden von den Belasteten zumeist als unliebsam empfunden, so daß die Steuerpflicht bestimmte Wirkungen hervorrufen kann. Zunächst kann man versuchen, die geleistete Zahlung durch entsprechende Aktivitäten (z.B. Umsatzausweitung) wieder zu verdienen (Steuereinholung) oder durch Preiserhöhungen die Steuerlast weiterzugeben (Steuerüberwälzung). Man kann der Steuer auch ausweichen, indem man den Steuertatbestand nicht erfüllt ( Steuerverrr meidung): Wer keinen Schnaps trinkt, zahlt keine Branntweinsteuer. Diese Wirkung kann seitens des Staates durchaus erwünscht sein; man spricht dann von einer Prohibitivsteuer. Im politischen Raum werden bestimmte Steuern (u.a. Tabak-, Branntweinsteuer) gern in diesem Sinne interpretiert, doch ist ganz offensichtlich, daß diese Steuern, die zu den wichtigen staatlichen Einnahmequellen zählen, sicher nicht zufällig gerade auf preisunelastischen Steuertatbeständen lasten, d.h. daß der Steuerbürger trotz der steuerbedingten Verteuerung in der Regel die Steuer nicht vermeidet, sondern konsumiert und fiskalisch durchaus erwünscht Abgaben leistet. Eine krasse Form ist die (strafbare) Steuerhinterziehung , d.h. der Steuerpflichtige verschweigt z.B. Steuertatbestände. In vielen Entwicklungsländern gilt es für die Oberschicht als spießig, Steuern zu bezahlen. Abgeschwächt gilt dies für die Steuerverkürzung, bei welcher der Steuertatbestand ‹beschönigt› wird. Von Steuerumgehung spricht man, wenn die Möglichkeiten der Rechtsnormen mißbräuchlich ausgenutzt werden. 10.4.2.3. Direkte und indirekte Steuern Die (Verbrauch-)Steuern nennt man indirekte Steuern, weil - bürgerlich gesprochen - die Beziehung zwischen Steuerzahler (Konsument) und Finanzamt nur indirekt über den Verkäufer der Ware besteht; der Verkäufer ‹kassiert› die Steuer und führt sie an das Finanzamt ab. Indirekte Steuern gelten tendenziell als ‹unsozialer› als direkte Steuern, da die Bezieher niedriger Einkommen einen größeren Teil ihres Einkommens konsumieren als Besserverdienende und somit relativ stärker von indirekten Steuern belastet werden. <?page no="343"?> Direkte Steuern wie die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuern werden direkt vom Steuerpflichtigen an das Finanzamt abgeführt. (Daß bei der Lohnsteuer ein Quellenabzug durch den Arbeitgeber erfolgt, ändert nichts an der prinzipiell direkten Beziehung.) Systeme direkter Besteuerung erfordern im Vergleich zu indirekten Steuern einen viel größeren administrativen Aufwand, da i. d. R. eine Vielzahl von Ausnahmen und Steuerentlastungen sowie die Steuerprogression zu berücksichtigen sind; die deutsche Einkommensteuer ist ein prägnantes Beispiel. Auch auf der Seite des Steuerpflichtigen stellen direkte Steuern sehr viel größere Anforderungen als indirekte. Da der Steuerpflichtige seine Steuern oft selbst angeben muß ( Steuerrr erklärung), bieten sich vielfältige Möglichkeiten zu versuchen, die Steuerbelastung abzuschwächen, so daß indirekte Steuern tendenziell umfassender abgeschöpft werden als direkte. Hierbei spielt die Steuermoral der Steuerpflichtigen (vgl. oben die Reaktionsmöglichkeiten auf die Steuererhebung) und die staatlichen Sanktionsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Die Steuermoral hängt auch davon ab, ob die Steuerpflichtigen die Belastungen als gerecht empfinden und wie kompliziert die rechtlichen Regelungen sind. Die am einfachsten einzunehmenden Abgaben sind Zölle, da dabei nur die Überwachung der meist wenigen Grenzübergangsstellen zu erfolgen hat. In vielen Entwicklungsländern stellen Zölle daher den größten Teil der Staats einnahmen dar. Insgesamt ist das Aufkommen aus indirekten Steuern in ökonomisch schwächer entwickelten Ländern meist bedeutsamer als die direkte Besteuerung. Aus diesem Grunde sind internationale Quervergleiche über die Steuerbelastung oft wenig aussagekräftig, weil die Belastungen durch indirekte Steuern meist nicht erfaßt werden. 10.4.2.4. Steuersatz und Steueraufkommen Steuern waren und sind das traditionelle Mittel der Staatsfinanzierung. Der Erfindungsreichturn des Staates - gleichgültig, ob es sich um Alleinherrscher oder demokratisch gewählte Regierungen handelt - war dabei beachtlich: Die historische Skala der Steuergegenstände reicht von Alkohol über Bärte, Bedürfnisanstalten (pecunia non olet : Geld stinkt nicht) und Spielkarten bis zu (Straßen-)Zöllen (Abb. 10.4/ 6). Eines ist allen (indirekten) Steuern zur Finanzierung des Staatshaushaltes gemeinsam: Sie lasten auf Steuergegenständen, welche die besteuerten Bürger für so unentbehrlich halten, daß sie auch durch die steuerlich bedingte Verteuerung nicht sonderlich vom Kauf oder abgehalten werden, formaler gesprochen: Es handelt sich d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 313 <?page no="344"?> l k 314 10. Finanzpolitik in der Regel um ein preis- oder einkommensunelastisches Nachfrageverhalten. Den Zusammenhang zwischen Steuersatz und Steueraufkommen verdeutlicht eine inzwischen berühmt gewordene Darstellung des Amerikaners Arthur B. Laffer. Die Lafferkurve (Abb. 10.4/ 7 ) zeigt, daß mit zunehmendem Steuersatz die Steuereinnahmen (degressiv) steigen, jedoch von einem bestimmten Punkt an absolut sinken, da eine hohe Besteuerung schließlich Abschreckungseffekte freisetzt. Eine Erhöhung der Mineralölsteuer z.B. würde ein erhöhtes Steueraufkommen bedeuten, bis die steuerbedingte Verteuerung zu einer Reduzierung des Mineralölverbrauchs auf breiter Front führt. Analoge Überlegungen gelten auch für Einkommensteuern, wo hohe Steuersätze zur Flucht in Steueroasen verleiten. Überhaupt ist festzustellen, daß mit steigender Steuerlast der Steuerwiderstand damit ein Verfall der Steuermoral zunimmt, um der Belastung gehen. Sofern die U-förmige Lafferkurve präzise zu ermitteln wäre, ließe sich ein optimaler Steuersatz bestimmen. Laffer hat übrigens durch seine Theorie dazu beigetragen, daß US-Präsident Reagan im Wahlkampf 1981 versprach, die Steuern zu senken, um insbesondere Unternehmern Anreize zu beschäftigungsanregenden Investitionen zu geben. In der Praxis führten die Steuersenkungen jedoch zu so drastischen Rückgängen der Staatseinnahmen, daß zum einen kor- Abb. 10.4/ 6: Steuerfindung <?page no="345"?> rigierende Steuererhöhungen erforderlich wurden, zum anderen die Staatsverschuldung kräftig erhöht werden mußte. 10.4.2.5. Ausschöpfung des Steuerpotentials Angesichts der leeren Kassen der öffentlichen Hände ist es eigentlich erstaunlich - oder auch nicht -, daß staatlicherseits elementare betriebswirtschaftliche Erkenntnisse nicht angewendet werden. Die Möglichkeiten von Einsparungen auf der Ausgabenseite werden nur unzureichend nützt. Die Forderung nach erhöhten Steuereinnahmen resultiert zumeist in einer Anhebung von Steuersätzen. Dass dies - für Abb. 10.4/ 7: Lafferkurve d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 315 Quelle: FAZ <?page no="346"?> l k 316 10. Finanzpolitik das Einnahmeergebnis möglicherweise gefährliche - Reaktionen hervorruft, wurde gerade in Abschnitt 4.2.2 ausgeführt. Zwei Ansätze bieten sich an. Erstens: Eine Vereinfachung des «Steuerdschungels» mit Steuervergünstigungen, Subventionen und legalen Schlupflöchern, den auch erfahrene Steuerberater manchmal nur mit Mühe durchschauen, 42 könnte die Steuermoral und die Steuereffizienz verbessern. Zweitens läge es so nahe, die bestehenden Steuergesetze einfach konsequenter anzuwenden und somit das Steuerpotential besser auszuschöpfen. Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten 2003/ 2004 eine Streichliste vorgelegt, die einen Einspareffekt von (damals! ) rd. 24,5 Mrd. Euro hätte (Abb. 10.4/ 8). Wenn man zudem bedenkt, daß die «Staatsverschwendung» nach Schätzungen des Bundesrechnungshofes jährlich rund 30 Mrd. Euro kostet... (vgl. Abschnitt 4.3.6). Natürlich erfordert dies möglicherweise mehr Personal. Ohne die Frage nach der Arbeitsproduktivität der Steuerverwaltungen überhaupt berühren zu wollen, liegen andere Fragen auf der Hand: Mehreinsatz von Steuerbeamten - also eine Beschäftigungsmaßnahme - würde sich mit höchster Wahrscheinlichkeit sehr schnell amortisieren. Erstens würden damit Steuererklärungen sehr viel schneller bearbeitet werden können und zu Steuerbescheiden (d.h. Einnahmen) führen, als es gegenwärtig der Fall ist. Die damit verbundenen Liquiditäts- und Zinseffekte ließen sich einfach prognostizieren. Zudem könnte eine Vereinfachung der Steuergesetzgebung zum einen der Wirtschaft beträchtliche Kosten sparen, zum anderen auch eine Verringerung der zahllosen Einsprüche und Klagen gegen Steuerbescheide mit sich bringen (so mancher Steuerbescheid verjährt dabei). Zweitens würden mehr Prüfer im Bereich der Steuerprüfung und Steuerfahndung sich schnell selbst finanzieren. Weshalb man Steuerbeamte - vom Volumen her kleine - Lohn- und Einkommensteuererklärungen mühsam prüfen läßt, die möglicherweise zu ein paar hundert Euro Steuernachforderungen führen, ist nur verständlich, wenn man an das latente Risiko denkt, daß auch kleine Schummeleien auffliegen können. Aber es ist festzustellen, daß auch große Unternehmen mangels Personals nur in großen zeitlichen Abständen geprüft werden und steuerliche Großschuldner fast problemlos Steuerminderungen in Millionenhöhe in Verhandlungen gegenüber dem Fiskus durchsetzen können. Kaum ein Unternehmer würde wohl auf gewinnträchtige Mehreinnahmen verzichten, nur weil er dafür mehr 42 Paul Kirchhoff, ehemaliger Verfassungsrichter, in Wirtschaftswoche 40(9)2003. <?page no="347"?> Leute einstellen müßte. Hier wäre eine andere Einsatzplanung nicht schlecht, und dies würde ja nicht nur den Fiskus freuen, sondern auch Steuererhöhungen an anderer Stelle verringern. All dies geschieht jedoch nicht; vielmehr verlassen in zunehmendem Maße Fachleute die Verwaltungen und verdingen sich auf der anderen Seite, in der sog. «freien Wirtschaft», zu sehr viel höheren Bezügen und ohne den Frust des Behördenalltags mit geringen Beförderungsaussichten. Dies kann im Hinblick auf ‹den Staat› kaum als umsichtige Personalpolitik und Personalführung bezeichnet werden, und fiskalisch ist es ausgesprochen ineffizient. Das betriebswirtschaftliche Selbstverständnis der öffentlichen Verwaltungen ist schlicht katastrophal. Abb. 10.4/ 8: Vorschläge für eine Haushaltskonsolidierung ,7>; B"OH6< 9E> <S8< : )5; ")O8; Q78; 7OS? S<>586 (! 5; I56' =S8)8I"SO9<8 .8<S8Q7"O< Zuschüsse für den Absatz deutscher Steinkohle 2 102 )D; B")99<8 Anpassungsgeld 120 )D; B")99<8 *7"8586; D)5 Wohnungsbauprämie 500 )D; B")99<8 Sozialer Wohnungsbau 451 )D; B")99<8 Eigenheimzulage 11 442 )D; B")99<8 4)8? / S>; B")98 Finanzhilfen des Bundes an die Landwirtschaft 1 089 überprüfen Agrardieselverbilligung (§ 25b MinöStG) 420 )D; B")99<8 ! Q8S2< ! >D<S8; 9)>Q8A7OS8SQ 21 530 reduzieren .8<5<>2<>6E8; 8S6586<8 Steuerbefreiung der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit (§ 3b EStG) 1 985 )D; B")99<8 Sparerfreibetrag (§ 20 Absatz 4 EStG) 3 200 )D; B")99<8 Übungsleiterpauschale (§ 3 Nr. 26 EStG) 2 000 )D; B")99<8 Sonderausgabenabzug von Beiträgen zu Lebensversicherungen (§ 10 Absatz 1 Nr. 2 EStG) 2 200 )D; B")99<8 Steuerfreiheit der Zinsen aus Lebensversicherungen im Sinne des § 10 Absatz 1 Nr. 2 EStg (§ 20 Absatz 1 Nr.6 EStG) offen )D; B")99<8 Entfernungspauschale (§ 9 Absatz 1 EStG) 5 000 gegebenenfalls reduzieren 78; 6<; )98 $# %"# .599< ? <> )DI5; B")99<8? <8 ,<>6E8; 8S6586<8 &% $%& : )5; ")O8; D<O); 8586 1SOOS78<8 @5>7 ,7>; B"O)6 Quelle: Sachverständigenrat d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 317 <?page no="348"?> l k 318 10. Finanzpolitik 10.4.2.6. Öffentliche Verschwendung Ein jährliches «Schwarzbuch» des Bundes der Steuerzahler beleuchtet die andere Seite des Haushaltsproblems: die Verschwendung von öffentlichen Mitteln auf der Ausgabenseite. «Der Staat nimmt nicht zuwenig ein, er gibt zuviel aus», sagt der Bund der Steuerzahler (Abb. 10.4/ 9. Drastische Kostenüberschreitungen bei öffentlichen Investitionen sind die Regel, Fehlplanungen, unnötige Politikerreisen, wertlose Gutachten und andere Ausgaben an der Tagesordnung: Abb. 10.4/ 10 führt Beispiele auf. Dabei soll gar nicht einmal auf die Administration im engeren Sinne gezielt werden, sondern auf die politische Ebene der Verwaltungen - einschließlich des Bundestages -, wo in vielen Fällen das Steuergeld mit vollen Händen für Reisen, Aufwand, unnötige Beschaffungen («Dezemberfieber» tritt auch schon im Frühjahr auf) und Prestige zum Fenster ‹rausgeworfen wird. Der Bundesrechnungshof sieht ein Einsparpotential «in zweistelliger Milliardenhöhe pro Jahr», konservativ geschätzt. Der Bund der Steuerzahler ermittelt sehr viel höhere Beträge: 30 Mrd. Euro pro Jahr (Handelsblatt 27.9.03). Zwar weiter weg, aber aus deutschen Steuermitteln bezahlt, erstreckt sich die öffentliche Verschwendung auch auf die Brüsseler Bürokratie. Ob es uns tröstet, dass auch in unseren Nachbarstaaten das Phänomen zu beobachten ist (Abb. 10.4/ 11)? Bedauerlicherweise gibt es kaum Sanktionsmöglichkeiten. Dazu müßte den Verantwortlichen schon Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit bei der Verschwendung öffentlicher Mittel nachgewiesen werden, und dies gelingt meist nicht, obgleich die Möglichkeiten existiert. Dem einzelnen Beamten werden bei Dienstreiseabrechnungen kleinlich ein paar Euro gestrichen. Gravierende Pannen bei Beschaffungen, schlampiger Bauplanung oder ungerechtfertigten Niederschlagungen von Steuerforderungen gegenüber Großschuldnern sind aber nur in den seltensten Fällen sanktionierbar; einen Straftatbestand der ff Veruntreuung von Steuergeldern (Amtsuntreue) gibt es im Strafgesetzbuch nicht. Die Prüfinstanzen sind meist effizient. Ein zürnender Prüfbericht des Bundesrechnungshofes hat aber keine Konsequenzen, Abb. 10.4/ 9 8 74.. 6.*)34&..1'.! &$*. ".! %2%+',%. %' 45.&-," 21'&5-#1)3$)/ +(&%1% 4%00% 8" 7,**,0'31) 61$1& 45-#0'! .$5- 31& 4%1$1'! 0-*1'.$)31& <?page no="349"?> obgleich dieser routinemäßig vorschreibt, daß die Haftungsfrage zu prüfen sei und ggf. Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden müßten. Ein Regreßverfahren müsste aber in der Regel von einer vorgesetzten Ebene derselben Behörde eingeleitet werden, und dabei scheint es mancherlei Hemmungen zu geben. Abb. 10.4/ 10: Teure Chefetagen, unsinnige Brücken Bund der Steuerzahler prangert hohe Verschuldung an 30 Milliarden Euro Steuermittel im Jahr werden unnnötig verbraucht Fünf Prozent der Staatsausgaben betroffen • Die Bundeswehr mietet Formel-1- und Cart-Rennsimulatoren an, ” um ihre Aktion besser Fahren“ attraktiver zu gestalten (14 Millionen Euro). • In der Finanzverwaltung scheiterte das Softwareprojekt Fiscus (250-900 Millionen, schwer zu schätzen). • Ostdeutsche Bundesländer (außer Sachsen) haben Fördergelder zweckentfremdet konsumiert statt investiert (es gibt keine entsprechenden Sanktionen dafür). • Die Stadt Bonn renovierte das Rheinische Landesmuseum. Aus geplanten 38 Millionen wurden 77 Millionen Euro. • Die Bundeswehr hat 1,5 Millionen leere Munitionskisten aufarbeiten lassen (reine Personalkosten 0,5 Mio.) Ein Vergleich mit den Kosten eines Neukaufs fand nicht statt. • Die Bundeswehr beschaffte einen Sechsjahresbedarf an Patronen für nicht mehr verwendete Waffen aus DDR-Beständen. • Die badische Kleinstadt Kehl baut im Zuge der Landesgartenschau 2004 eine Rheinbrücke für Fußgänger und Radfahrer (deren Nutzen insgesamt umstritten ist). Die Baukosten von geplanten 11 Mio. Euro wurden um rund 10 Mio. Euro überzogen. • Beim Robert-Koch-Institut wurden - ohne Ausschreibung - Räume für einen Vizepräsidenten eingerichtet, dessen Posten gar nicht besetzt wurde. Der Auftrag hat dreimal mehr gekostet als geplant. • Der Finanzausschuss des Bayerischen Landtags hat sich einen elftägigen Ausflug nach Brasilien und Argentinien genehmigt, dessen Erkenntniswert wohl eher touristisch als fachlich war. • Die Stadt Dresden müsste 30 Mio. Euro an Bußgeldern abschreiben,weil die Bescheide nach Ablauf der Verjährung ergingen. • Fast ein Jahr nach der Stillegung einer Bahnstrecke zwischen Bitterfeld und Stumsdorf wird eine fast 1 Mio. Euro teure Brücke fertiggestellt. Abb. 10.4/ 11 Verschwendung in französischer Verwaltung 500 000 Beschäftigte offiziell nicht angeben / Missbrauch von baren ” Prämien“ als Anerkennung d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 319 <?page no="350"?> l k 320 10. Finanzpolitik Der Bund der Steuerzahler fragt - meines Erachtens zu Recht -, weshalb trotz der Vielzahl der sattsam bekannten Ansatzpunkte nichts geschieht. Strafanzeigen des Steuerzahlungsbundes blieben bisher erfolglos; die Strafverfolgungsbehörden haben sich nicht dazu durchringen können, auch nur bedingten Vorsatz oder gar bewußten Vorsatz festzustellen. Mir ist nur ein (und natürlich marginaler) Fall bekannt, wo Staatsangestellte zu Schadenersatzleistungen wegen Verschwendung herangezogen wurden. Die Folge zu niedriger Staatseinnahmen im Vergleich zu - relativ gesehen - zu hohen Staatsausgaben ist logischerweise Staatsverschuldung. Der folgende Abschnitt widmet sich diesem Problem. 10.4.2.7. Steuerstrategische Überlegungen Eine Steuer muß verschiedenen Kriterien genügen, wenn sie ihre Funktion erfüllen soll. Im Rahmen der Fiskalfunktion , d.h. zur Einnahmeerzielung, muß sie steuerlich gerecht sein. Sie soll allgemein und gleichmäßig gelten, gleichzeitig aber im Sinne der Sozialstaatlichkeit auch die Leistungsfähigkeit des Steuerschuldners berücksichtigen. Im Rahmen der Wirtschaftsordnungsfunktion soll sie neutral sein, d.h. beispielsweise keine Verzerrungen des Wettbewerbs verursachen. Gleichzeitig soll sie sich ggf. eignen, Umverteilungswirkungen zu erzielen, etwa durch gestaffelte Erhebungssätze wie bei der Einkommensteuer. Zudem muß sie verwaltungsmäßig effizient sein, also insbesondere nicht so viele Kosten verursachen, daß sich die Erhebung nicht lohnt. Aus diesem Grund sind in der Vergangenheit einige sog. Bagatellsteuern abgeschafft worden, u.a. auf Salz, Zukker, Tee, Kerzen, Speiseeis und Spielkarten. Und schließlich muß die Steuer Rechtssicherheit und Rechtsschutz ermöglichen. Anders sieht es aus, wenn die Steuer eine Lenkungssteuer sein soll, d.h. das Verhalten des einzelnen beeinflussen soll. Grundsätzlich ist die Mineralölsteuer als «Ökosteuer» eine Lenkungssteuer, denn durch die steigende Belastung soll der umweltbelastende Mineralölverbrauch gesenkt werden. Dies ist offensichtlich nur in geringem Umfang gelungen, so daß die Öko-Mineralölsteuer faktisch (und willkommenerweise? ) eine Fiskalsteuer ist, welche eine sehr wichtige Einnahmequelle für den Bundeshaushalt mit beträchtlichen Zuwachsraten darstellt (2000 rd. 9 Mrd., 2002 rd. 15 Mrd., 2003 rd. 19 Mrd. Euro) (siehe oben Abb. 10.4/ 5). Dies gilt analog für die Tabaksteuer. Grundsätzlich sind natürlich Überlegungen anzustellen, ob und wie sich die Vorschriftenflut reduzieren lässt. Seit Oktober 2002 <?page no="351"?> sind auf Bundesebene 16 neue Gesetze und 147 neue Verordnungen verabschiedet worden, dazu kommen 31 Änderungsgesetze und 269 Verordnungsänderungen. Dieser Vorschriftendschungel belastet die Wirtschaft mit Kosten und beansprucht Kapazitäten. Die vom Bundeswirtschaftsministerium initiierten Bemühungen um einen Bürokratieabbau sind bisher aber nicht so recht vorangekommen (Abb. 10.4/ 12). 10.4.2.8. Staatliche Finanzierung der Sozialsysteme Das deutsche Sozialsystem stehe auf der Kippe, sagte Alt-Bundespräsident Roman Herzog bei der Vorlage des Berichts der nach ihm benannten Reformkommission im Oktober 2003, und das Profil der Vorschläge hat eine recht kongruente Struktur mit denen der Rürup-Kommission, die von der Regierung eingesetzt worden war. Die Sachzwänge sind unabhängig von Parteipolitik: Der dramatische Zangeneffekt, der sich auf die Finanzierung der staatlich getragenen Sozialsysteme auswirkt, beruht auf der Ausgabenseite auf allgemeinen Kostensteigerungen und demographischen Veränderungen, die zu längerer Beanspruchung von Arbeitslosen-, Pflege- und Kranken- Abb. 10.4/ 12: Bürokratieabbau? ! .*&5,+*0(2/ 3)4,'/ .21 &%4,)( &2*(2+ .3"-F 410-+36%1$ 6C3"&31-'+1/ / 1+7 0+'- ,+3 51(% 8! ! 8 '0- ,'+ 31(% ,+3 2+-(-0H"30-(3'*-+$ ,++-%'-( )+0-'+)+$ d f k l l h k 10.4. Finanz- und fiskalpolitische Aspekte 321 <?page no="352"?> l k 322 10. Finanzpolitik versicherungen führen. Auf der Einnahmeseite verringern sich die Beiträge zum einen, weil die Zahl der Beitragszahler - auch aufgrund demographischer Effekte - relativ sinkt. Zum anderen reduzieren sich die Beitragszahlungen bedingt durch Arbeitslosigkeit bzw. wenn Beitragszahler ausfallen, weil sie aus dem beitragspflichtigen Berufsleben ganz ausscheiden. In der Konsequenz werden die vom Staat mitgetragenen Finanzierungsstrukturen tendenziell immer mehr privatisiert, um sowohl die Systeme zu stabilisieren als auch die Staatsbudgets entsprechend zu entlasten. Ohne dies hier diskutieren zu wollen sei angemerkt, daß eine Absenkung der Versorgungsniveaus unabwendbar ist, auch wenn eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine gewisse finanzielle Entlastung für die Sozialsysteme bringen soll. Daß dies natürlich keine zusätzlichen freien Arbeitsplätze schafft, steht auf der anderen Seite der Medaille. Im Studienbrief «Konjunktur und Beschäftigung» sind wir bereits darauf eingegangen, daß in nicht wenigen Fällen Arbeitslose netto mehr Arbeitslosenunterstützung erhalten, als ihnen bei voller Berufstätigkeit nach Abzug aller lohnbezogenen Abgaben verblieben. Die Ursache ist strukturell: Die wichtigsten Sozialsysteme - Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, gesetzliche Unfallsversicherung - werden durch Besteuerung der Arbeit finanziert. Dadurch ergeben sich um die 50% Abzüge vom Bruttolohn, wobei die parallele Abgabenbelastung beim Arbeitgeber nicht transparent wird. Im internationalen Vergleich sind die Arbeitskosten in Deutschland sehr hoch - ein negativer Anreiz, Arbeitsplätze abzubauen oder ins Ausland zu verlagern oder gar nicht erst Arbeitsplätze zu schaffen. «Die Lohnnebenkosten sind zur Achillesferse des deutschen Arbeitsmarkts» geworden (Regierungsberater Bert Rürup). Besonders betrifft dies zweitverdienende Ehepartner, denen wegen der ungünstigen Steuerklasse leicht 60-70 Prozent vom Gehalt abgezogen werden können. Der Spiegel befand, daß «dies einer Enteignung gleichkommt» (39/ 2003). Oft sind dann 400- Euro-Jobs lukrativer. Dies kann natürlich auch den Wiedereintritt ins Berufsleben hemmen, so daß dem Staat die entsprechenden berufsbezogenen Abgaben entgehen. Eine Reform der Strukturen der Arbeitslosenunterstützung sollte folglich ergänzt werden von einer Reform der Steuerstrukturen. Bedauerlich ist aber, daß die ökonomischen und finanziellen Veränderungen nicht einfach klar beim Namen genannt werden. Die FAZ beklagte eine «alltägliche Schönfärberei in der bunten Begriffswelt der Politik» (11.10.2003) und bezog sich dabei auf Begriffe wie «Bürgerversicherung» <?page no="353"?> (eigenfinanzierte Krankenversicherung), «Steuervergünstigungsabbaugesetz» (! ) (welches eine Fülle von neuen fiskalischen Zugriffsideen zur Folge hatte, u.a. Mindeststeuer für Unternehmen, Ausbildungsabgabe), «Gesundheitsreform» (Kürzung der Krankenversorgung), «Job-Center» (Arbeitsämter). Daß der proklamierte Sparkurs auf staatlicher Ebene mit drastischen Ausgabenerhöhungen im Etat 2004 einherging, verwundert dabei nicht mehr. Der Sachverständigenrat beklagte dies in seinem Jahresgutachten 2002/ 2003 (13.11.2003): «Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte mit dem Ziel einer Rückführung der staatlichen Verschuldung (...) wurde zunehmend unter Konjunkturvorbehalt gestellt.» Und im Jahresgutachten 2006/ 2007 heißt es wiederum: «Bei einer Suche nach weiteren Konsolidierungsmöglichkeiten bieten sich zunächst einmal diejenigen Maßnahmen an, die in den vergangenen Jahresgutachten vorgeschlagen, bislang aber noch nicht oder teilweise angegangen wurden.» Das ist fatal. Eine konsequente Streichung von Ausnahmetatbeständen und Subventionen würde soviel Finanzmasse freisetzen, daß viele Steuersätze drastisch gesenkt werden könnten. Gegenwärtig müssen die Steuersätze relativ hoch sein, weil die zahllosen Ausnahmen die Belastungen durchlöchern. Der Sachverständigenrat kritisierte die «zunehmend chaotische Steuerpolitik» auf Seiten von Regierung und Opposition. «Das ständige Hin und Her in der Steuerpolitik muß endlich ein Ende haben.» Damit dürfte er vielen aus der Seele gesprochen haben. 10.5. Staatsverschuldung Die Schulden der öffentlichen Haushalte haben sich seit 1992 auf 1,27 Billionen Euro nahezu verdoppelt; Abb. 10.5/ 1 zeigt die Struktur. Bund, Länder und Gemeinden müssen dafür jährlich 66 Mrd. Euro an Zinsen aufbringen - dies entspricht den Landeshaushalten von Bayern und Baden-Württemberg zusammengenommen. Die Staatsverschuldung steigt um 1300 Euro pro Sekunde (Abb. 5/ 1a). Abb. 10.5/ 2 zeigt die Entwicklung der Verschuldung des Bundes. 10.5. Staatsverschuldung 323 10.5. Staatsverschuldung 323 <?page no="354"?> l k 324 10. Finanzpolitik Abb. 10.5/ 1: Staatliche Schulden Staatliche Schulden Bund 56,73 % West-Länder 25,74 % West-Gemeinden 6,65 % Ost-Länder 4,93 % Fonds Deutsche Einheit 3,13 % ERP-Sondervermögen 1,49 % Ost-Gemeinden 1,33 % <?page no="355"?> Abb. 10.5/ 2: Entwicklung der Verschuldung des Bundes. ,>> B>> X>KC XGK> XGKC XFK> -FK> -GKC -FKG 4'9" 4'9& 4&9" 4'9" -FKC XFKC XEK> XEKC -EKE 4%9& -EKE D>> F>> > GB> GF> ,> D> > G+,C ,A B, $BBBB3,H, 4H, B, ? 23.H,0 BH1 $J? B, ? 23.H,0 BH1 $J? ? 23L31H, 0H/ 2! '2 F>>B -G: &-+&F &&&- ,+ +G +E +C +A ++ F>>G F>>C F>>B F>>A F>>, F>>+ F>G> >E >C >A FM =! HBBH,) J: 0( : K3A13, 0B,',IB'B 2'0'102H'AA0M&M2MX-2'MB; : 'B0H2 GM >HB,H ? IK*0.IKH, / 3, 0H/ 2! '2 F>>B M#2 B'1 ? 'K F>G>M .9**9CC)#=0' ! + .FG7&+9 '&C <7. 2HIK0H ? ; 'B' .9**9CC)#=0' ! + <! 00! G+&+ BB,; H ? ; 'B' .9**9CC)#=0' 8*C 8&%! 7! 9 C! +39 .FG$+GC&+ '&C : *=C#*09C'&%! 7! 9C ', 14! 5 )'-$ 20#$%+.0 3,(/ ("&'),$,* h ld 10.5. Staatsverschuldung 325 <?page no="356"?> l k 326 10. Finanzpolitik 10.5.1. Ursachen der Staatsverschuldung 10.5.1.1. «Deficit Spending» Zunächst einmal ist festzuhalten, daß es völlig normal und sinnvoll ist, wenn sich ein Staat verschuldet - sofern die ökonomische Tragfähigkeit realistisch eingeschätzt wird. Die Staatseinnahmen, also im wesentlichen Steuereinnahmen, werden von speziellen Fachgremien laufend beobachtet und für die Zukunft geschätzt. Da die zeitliche Verteilung der Staatseinnahmen sich nicht a priori mit der Verteilung der Ausgaben decken wird, sind Kassenverstärkungskredite zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit des Staates unumgänglich, zum großen Teil vorhersehbar und unproblematisch (im Gegenteil: So mancher mittelständige Betrieb ist in Konkurs gegangen, weil der kommunale Auftraggeber nicht pünktlich gezahlt hat). Außerdem sind Steuerschätzungen mit Fehlern behaftet und können sich immer wieder als falsch erweisen (Beispiel Abb. 10.5/ 3), so dass dann auch in diesem Falle eine ausgleichende (unvorhersehbare) Kreditaufnahme erforderlich wird. Hinzu kommen (planbare) Steuerausfälle durch Insolvenzen. 0)%1')1/ *1)&-)&(+#1)"1) -) 21$%&,/ +.)3 \* (89 A7[]=W7[Y87: ? [6">SWTW% )V[; ; [C A7[]=W7[Y87: # @%B%&%',7$Y=< +[U=9? [7 )##$ (% *** (! *** ') *** '& *** '" *** &* *** )##" )### )##! (**) (*** (**' (**& (**% (**( 65 4! ! 65 4! ! 6 \* \* XD ZG! XD MG! XD MG! XG IZ! XG IZ! XZ XD! ZG DX! ZG EZE ZI IZ! ZK KX! ZG MGM Abb. 10.5/ 3: Steuerschätzung &+' 0+','")&*- #&' 2! .+))+,%(/ ' &$%& 4.-: &! %*/ #,(5 *3%3 4&3%3(2%'1: ++3 18( 9""7 %*5 9""6 -3($)(0(,*/ 3* 7! 1,++,/ (42* 5&() 6&'0/ ++ 4&(-. 3*')+%2*$2* <?page no="357"?> Eine andere Ursache staatlicher Kredite ergibt sich möglicherweise - wie erwähnt - durch «deficit spending» im Rahmen der antizyklischen Finanzpolitik, d.h. durch bewußte Verschuldung, um zu schwache private Nachfrage durch staatliche Maßnahmen zu ergänzen. Diese konjunkturell bedingte Verschuldung wäre mittelfristig im nächsten konjunkturellen Aufschwung aus Steuermehreinnahmen wieder abzubauen und somit vom Prinzip her gleichfalls unproblematisch (sofern dieses Prinzip beachtet würde). 10.5.1.2. Strukturelle Verschuldung Eine kritische Ursache der (wachsenden) Verschuldung ist die strukturelle Verschuldung. Sie beruht auf einer anhaltenden Finanzierungslücke im Haushalt, die dadurch entsteht, daß die Struktur der Staatsausgaben zu Mittelabflüssen führt, die eben nicht durch entsprechende Steuereinnahmen gedeckt werden. Historisch gesehen waren häufig Kriegs(folge)ausgaben Ursachen für wachsende Haushaltsdefizite, die nur über des Staates mit entsprechenden inflationären Folgen finanzierbar waren. Das Schreckgespenst des Staatsbankrotts, den Deutschland nach dem nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg - umschrieben als Währungsreform - erleben mußte, spielt auch heute in der Diskussion eine wichtige Rolle. Die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung in der Bundesrepublik weist vier Phasen auf: In der ersten, der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, ist eine - aus heutiger Sicht - recht zurückhaltende Schuldenpolitik zu beobachten. Mit Inkrafttreten des Stabilitätsgesetzes im Jahre 1967 und der Anwendung keynesianischen «deficit spendings» nahm die Verschuldung deutlich zu. Die politische «Wende» 1982 bedeutete wirtschaftspolitisch den Übergang zu einer angebotsorientierten Politik und dem erkennbaren Bestreben, die Staatsaktivitäten zu reduzieren: Dies läßt sich an der Verringerung der Staatsquote nach 1982 nachvollziehen (vgl. oben Abb. 10.2/ 2) und zeigt sich auch in dem Versuch, die Staatsverschuldung (relativ) zu verringern. Dies wurde damals zunächst durch eine günstige konjunkturelle Entwicklung und hohe Gewinnabführungen der Deutschen Bundesbank erleichtert. Diese «Konsolidierungsphase» endet etwa 1984. Ab 1990 erfolgte dann ein abrupter Anstieg der Staatsverschuldung, bedingt durch die Notwendigkeit, die enormen Ausgaben, die sich aus dem Beitritt der neuen Bundesländer ergaben, zu großen Teilen durch Kreditaufnahmen zu finanzieren (vgl. Abb. 10.5/ 5). Derartige «Sondereffekte» sind natürlich in anderem Licht zu sehen als eine Entwicklung ohne solche externen Impulse, doch h ld 10.5. Staatsverschuldung 327 <?page no="358"?> l k 328 10. Finanzpolitik bleibt das grundsätzliche Problem eines strukturellen Defizits, welches zudem tendenziell wächst. Vom Schuldenhügel zum Schuldenberg - so könnte die Geschichte der staatlichen Verschuldung in Deutschland überschrieben werden. Im Jahr 1950 betrug die Staatsverschuldung 20,6 Milliarden Mark; das entsprach 21 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt). Heute haben die öffentlichen Haushalte einen Schuldenberg von fast 13 Billionen Euro aufgetürmt. Bedrückender als die absoluten Milliardenbeträge ist die Schuldenlast. Sie hat sich seit den 50er Jahren verdreifacht und beträgt heute fast 65 Prozent der Wirtschaftsleistung, also mehr, als nach den Kriterien des Europäischen Stabilitätspakts zulässig sind. In der näheren Zukunft ist auch nicht mit einer Verringerung des strukturellen Defizits zu rechnen. Es muß allerdings auch betont werden, daß die öffentliche Verschuldung Deutschlands im internationalen Vergleich keineswegs auffällig ist (vgl. unten). Allerdings sollte sich daraus kein Gewöhnungseffekt ergeben, um die Folgen der Staatsverschuldung nicht zu verharmlosen (vgl. Abschnitt 5.4). Gelegentlich wird die Meinung vertreten, strukturalistische Erklärungen für Haushalts- oder Zahlungsbilanzdefizite seien Schutzbehauptungen und daher falsch, denn keine dieser strukturellen Ursachen sei unvermeidlich. Offensichtlich aber handelt es sich bei solchen Auseinandersetzungen um unterschiedliche Interpretationen des Begriffs «strukturell». Er ist keineswegs als Entschuldigung für Politiker zu versehen, denen dann tatsächlich ein Alibi für angeblich unabwendbare Tatbestände an die Hand gegeben würde; dies Abb. 10.5/ 4: strukturelles Defizit * Geschätzt, ** Einschl. Einnahmen aus der Veräußerung der Festpensionsforderungen i. H. v. 5,45 Mrd. Euro Quelle: CDU Arbeitsgruppe Haushalt +@7.,>ED4@2 ; 8: : 7=4E74=8DD8@ -85,F,7: "$$$ "$$# "$$" "$$! "$$? "$$<% "$$9% "$$6% "$$3% "$$0 C7=4E74=8DD8: -85,F,7 -26,8 -31,0 -37,5 -43,7 -48,1 -60,6**-56,2 -55,1 -54,7 -50,7 *8.8,D: +4: 282D,>/ 8@ ; 4=>/ )877&E=8; ,7+45@+/ B8 23,8 22,8 31,9 38,8 39,5 38,0 52,9 56,0 54,6 50,6 (=,1+7,: ,8=4@2: 8=D': 8 4,5 8,2 5,7 5,1 8,6 22,6** 3,3 0,1 0,1 0,1 In Milliarden Euro 1&#%'&%#.&&." 3.,($(& (% ! %$0."*-%"*-&& *-& .($.$ 2($+#%)* +.( 0.$ 2($$-*%.$ -&" / #"-)*. <?page no="359"?> wäre sicherlich eine falsche Auslegung. «Strukturell» ist vielmehr so zu verstehen, daß ein langfristig bestehendes Missverhältnis existiert. Aus welchen Gründen dieses Missverhältnis entstanden ist, ist für den Begriff ‹strukturell› völlig unerheblich. Ein strukturelles Haushaltsdefizit kann auf selbstverschuldete Mißwirtschaft ebenso zurückzuführen sein wie auf exogene, unbeeinflußbare Faktoren. Niemand dürfte bestreiten, daß für geologisch benachteiligte Länder wie etwa in der Sahelzone ein strukturelIes Defizit hinsichtlich der Nahrungsmittelversorgung besteht. Entscheidend für die Kategorisierung ‹strukturell› ist allein die Verkrustung des betrachteten Zustandes und somit der Zeithorizont. 10.5.1.3. Ursachen des strukturellen Defizits Das Strukturproblem beginnt bereits im Kleinen, z.B. für die unvollkommene Erfassung von Ausgabekomponenten, insbesondere der Folgekosten öffentlicher Investitionen (vgl. Abb. 10.5/ 5), sowie für optimistische Kostenvoranschläge, die geeignet sind, den Entscheidungsträgern die Genehmigung öffentlicher Ausgaben zu erleichtern. Abb. 10.5/ 5: Ein Rattenschwanz von Folgekosten ! $- '&++2-,%! *&-( +,- ),.#2"+2h ld 10.5. Staatsverschuldung 329 <?page no="360"?> l k 330 10. Finanzpolitik (1) Staatskonsum Eine strukturelle Finanzierungslücke wird insbesondere begünstigt durch exzessiven Staatskonsum (Personalwie Sachausgaben), was zu einer ständigen Überbeanspruchung des Haushalts führen kann. In Sachsen-Anhalt sind pro 1000 Einwohner 46 Staatsdiener tätig, in Niedersachsen nur 29. In Mecklenburg-Vorpommern hat sich die Pro-Kopf-Verschuldung seit 1993 verzehnfacht. Abb. 10.5/ 6 verdeutlicht, daß der Weg zum schlanken Staat durchweg noch weit ist. Es gibt Ausnahmen, vgl. Abb. 10.5/ 7, wo ein New Public Management zu beobachten ist. In Offenbach sind die Kosten deutlich gesunken. Durch Vergleiche zwischen den Kommunen («Benchmarking») ließen sich zudem in vielfältiger Weise Effizienzspielräume ermitteln: «Welche Behörde in welcher Stadt leistet am meisten mit den wenigsten Mitarbeitern? » Zudem könnte auch die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden analysiert werden, die wir bereits im Zusammenhang mit dem Finanzausgleich angesprochen haben. Abb. 10.5/ 6 Kein schlanker Staat Kein schlanker Staat Kein schlanker Staat Kein schlanker Staat <?page no="361"?> Bei strukturellem Haushaltsdefizit muß die Finanzierungslücke durch Erhöhung der Einnahmen (Steuererhöhungen) und/ oder Kürzung der Ausgaben geschlossen werden, wenn nicht ein ständig wachsender Schuldenberg mit entsprechend wachsenden Zins- und Tilgungsverpflichtungen aufgetürmt werden soll. Steuererhöhungen führen in der Regel (jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen; vgl. Abschnitt 3.2) zu den angestrebten Mehreinnahmen, sind aber politisch unpopulär, so daß dieses Instrument meist nur sehr zögernd eingesetzt wird. (2) Subventionen Kürzungen der Staatsausgaben sind bislang nur dann erfolgt, wenn es überhaupt nicht mehr anders ging. Die gegenwärtigen überall zu Abb. 10.5/ 7 New Public Management New Public Management New Public Management 3,$ $00,#,$'*$ 1*$)* 3$# ! $,#-,$/ &00$'%$-, 7P : 59 "LN: I4J5H5J1J KJ1: J5K; 69L / 9JL59<9 2I 9L6069O! 6=J "889O<=; 6 <9K; 6QNKK9O! =QQ9 4NPPIO=Q9O ! I87=<9O =IK2I7Q59: 9LO( : 59 / <9L : 59 L95O9 0N695JK' IO: )95KJIO7KH9L3=QJIO7 65O=IK7969O& +IO1; 6KJ 95OP=Q 3IL: 9O 5579O<9JL59<9 797L/ O: 9J( 2IP 995KM59Q 95O9L 8/ L : 9O 99L95; 6 ; / QQ' K=PPQIO7( 2JL=-9OL95O57IO7( 2J=: J9OJ31KK9LIO7( 19<1I: 9P=O=79P9OJ IO: 19<1I: 9L95O57IO7& 3/ L : 59 99JL59<KQ95JIO7 3IL: 9 495O )=I8<=6O' 99=PJ9L 95O79KJ9QQJ( KNO: 9LO : 59 ; =O=79P9OJ')95KJIO7 3IL: 9 HNO 95O9P 6L5H=JIOJ9LO96P9O 95O794=I8J& .P ; / QQ<9L95; 6 6=J : =K : =2I 798/ 6LJ( : =KK : 59 19</ 6L9O 5P / 9L7Q95; 6 2I =O: 9L9O 2J1: J9O 5P 4695O' ; =5O'19<59J HNP N<9L9O 5OK IOJ9L9 7L5JJ9Q 79LIJK; 6J K5O: & ! I; 6 : 9L 3L59: 6N8 3IL: 9 5O235K; 69O =IK797Q59: 9LJ& ! QK 9L ON; 6 HNO : 9L 2J=: J <9JL59<9O 3IL: 9( <9JLI7 : 9L *NKJ9O: 9; 4IO7K7L=: "# 6LN29OJ& : =; 6 : 9L ! IK7Q59: 9LIO7 3IL: 9 K; 6NO 5P 9LKJ9O ,=6L 95O 1935OO HNO : =P=QK 95O9L 6=Q<9O ; 5QQ5NO 7; 9L35LJK; 6=8J9J( 5P 2395J9O ,=6L : =OO 95O9 7L95H59LJ9QP5QQ5NO . IO: : =K P5J : 9P 7Q95; 69O 69LKNO=Q& 79OO : =K 55O2I7K79<59J 3IL: 9 : 9IJQ5; 6 9L395J9LJ& .O235K; 69O 75<J 9K 99KJ=JJIO7K5OKJ5JIJ9 =IK ; / O; 69O( : 59 P5J 8889O<=; 6 2IK=PP9O=L<95J9O( 395Q : NLJ )95KJIO7 IO: *NKJ9O KJ5PP9O& 759 2J=: J 6=J : =L/ <9L 65O=IK =I; 6 M9LKNO=Q35LJK; 6=8JQ5; 69 .OKJLIP9OJ9 79OIJ2J( IP : 59 5885259O2 : 9L 0889OJQ5; 69O / 9L3=QJIO7 2I KJ9579LO( 9J3= )95KJIO7K2IQ=79O& -9OO 969P=QK : L95 )9IJ9 95O9O ,N< 79P=; 6J 6=<9O IO: 95O9L =IKK; 695: 9J( <Q95<J 9K : 9O =O: 9L9O <95: 9O / <9LQ=KK9O 2I 9OJK; 695: 9O( N< K59 : 59 ! L<95J : 9K ! IKK; 695: 9O: 9O / <9LO96P9O& 2NQQJ9 : 59K : 9L 3=QQ K95O( 9L6=QJ9O K59 <5K 2I $% 6LN29OJ : 9L 95O79KM=LJ9O 69LKNO=Q4NKJ9O =IK792=6QJ& h ld 10.5. Staatsverschuldung 331 <?page no="362"?> l k 332 10. Finanzpolitik beobachtenden Kappungen sind daher sowohl schmerzhaft als auch als ungewöhnlich anzusehen, vor allem im Sozial- und Subventionsbereich. Der Subventionsbegriff umfasst zweierlei: direkte Finanzhilfen und Steuervergünstigungen. Nach vorübergehender Zunahme um 2003 gehen die Subventionen nunmehr per Saldo zurück, wobei Abb. 10.5/ 8: Subventionen <?page no="363"?> abgeschafften Subventionen aber neu hinzugekommene gegenüberstehen, und zwar in erheblichem Umfang (Abb. 10.5/ 8). Aus systematischer Sicht ist anzumerken, dass es sich bei diesen neuen Subventionen um Steuervergünstigungen handelt, was gegen die eigenen Leitlinien der Regierung verstößt (Abb. 10.5/ 9), da Subventionen - wenn überhaupt - nur noch als Zuschüsse vergeben werden sollten. Subventionen sollten vom Prinzip her nur gewährt werden, um unannehmbare soziale und wirtschaftliche Nachteile zu mildern oder um temporären Störungen des internationalen Wettbewerbs entgegenzuwirken. In manchen Bereichen sind Subventionen - ebenso wie Schutzzölle - jedoch zu Dauereinrichtungen denaturiert, die den eigentlichen Zweck, nämlich einen Schutzeffekt als Hilfe zur Selbsthilfe, verdrängt haben. In solchen Fällen sind Subventionen gesamtwirtschaftlich eher bedenklich, da sie erforderliche Strukturanpassungen überflüssig erscheinen lassen. Wenn eines Tages die durch Subventionen kaschierten Wettbewerbsnachteile offen zutage treten, kann der gesamtwirtschaftliche Schaden größer sein, als wenn frühzeitig eine Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen erfolgen muß. Abb. 10.5/ 9: Steuerreform Zeichnung: Stuttmann, Lübecker Nachrichten (Bild 4. 8. 96) h ld 10.5. Staatsverschuldung 333 <?page no="364"?> l k 334 10. Finanzpolitik Abb. 10.5/ 10 gibt einen Einblick in die Vielzahl und das Volumen der Subventionszahlungen. Daraus geht auch hervor, daß nicht nur Zahlungen, also Ausgaben, sondern auch Steuervergünstigungen, also Einnahmeverzicht, haushalts- und damit schuldenwirksam sind. Hinsichtlich der Abgrenzung der Subventionen, z.B. im (jeweiligen zweijährigen) Subventionsbericht der Bundesregierung, ist anzumerken, daß nicht alle Zahlungen mit Subventionscharakter mitgezählt werden, u.a. nicht die Zahlungen an im Zusammenhang mit den EU- Marktordnungen. Während weitgehende Übereinstimmung darüber besteht, daß Subventionsgeber immer der Staat ist (insbesondere Bund, Länder, Gemeinden, EU, Bundesanstalt für Arbeit, wobei die Subventionsstatistiken die jeweiligen Geber nicht immer klar abgrenzen), werden Abb. 10.5/ 10: Subventionsbereiche nach Rangfolge der Förderungen <?page no="365"?> als Subventionsempfänger teils nur die Unternehmen («Subventionskern»), teils auch die privaten Haushalte erfaßt. Logischerweise ergeben sich daraus beträchtliche statistische Unterschiede, je nachdem, welche Abgrenzungen gewählt werden. Hinsichtlich des Zwecks der Subventionen wird zwischen Erhaltungshilfen (Landwirtschaft), Anpassungshilfen an den Strukturwandel (Stillegungen) und zukunftsgerichteten Produktivitätshilfen (Forschung und Entwicklung, Technologietransfer). Gut ein Drittel der Subventionen wird strukturerhaltend eingesetzt; rund 60% beziehen sich auf Anpassung; nur knapp 5% gehen in zukunftsorientierte Investitionen. In einem Cartoon im «Arbeitgeber» 5/ 2003 hieß es: «Nach Ablauf der staatlichen Aufbauförderung bemühen wir uns jetzt um eine Stillegungsprämie seitens der EU...» Grundsätzlich gesehen stören Subventionen den Wettbewerb und den Ausleseprozeß am Markt. Sie schwächen die Leistungsbereitschaft und den Willen zur Selbsthilfe, Insbesondere aber beeinträchtigen Erhaltungsinvestitionen den Strukturwandel und stellen eine Wachstumsbremse dar. Verkrustete Strukturen lassen sich später nur schwer wieder aufbrechen. «Nothilfen» sollten kein Dauerzustand werden; der kurzfristige Nutzen ist meist kleiner als der langfristige Schaden. Die goldene Regel sollte lauten: «Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt.» Das Subventionsniveau ist international sehr unterschiedlich: In der Schweiz und Norwegen verdanken die Bauern jeweils rund Dreiviertel ihres Einkommens staatlichen Subventionen, in Australien und Neuseeland sind es 4 bzw. 1 Prozent, in der EU durchschnittlich 36 Prozent. Besonders prekär sind Subventionszahlungen dann, wenn sie weitgehend wirkungslos versickern, so wie es die Wirtschaftsforschungsinstitute im November 2003 der Bundesregierung vorgerechnet hatten. Dabei handelt es sich um gewaltige Summen (Abb. 10.5/ 11). Die neuen Bundesländer hängen auch nach vielen Jahren nach der Wiedervereinigung am Tropf des Westens - die Nettotransferleistungen entsprechen einem Drittel der ostdeutschen Wirtschaftsleistung. Dabei haben diese Gelder so gut wie keine beschäftigungspolitischen Wirkungen gezeitigt (Handelsblatt 18.11.03). Und weil durch die EU-Erweiterung neue bedürftige Regionen von den EU-Fördertöpfen profitieren werden, wird die Lage für die ostdeutschen strukturschwachen Gebiete noch schwieriger, denn das Subventionsniveau wird sinken. h ld 10.5. Staatsverschuldung 335 <?page no="366"?> l k 336 10. Finanzpolitik (3) Gesetzliche Regelungen Ein Großteil der öffentlichen Ausgaben ist kurzfristig nicht zu reduzieren, da sie gesetzlich geregelt sind (Sozialbereich) oder sich nur zu Lasten anderer wirtschaftlicher Ziele reduzieren lassen (Personalabbau versus Arbeitslosigkeit). Der Ausgabenblock ist zudem mit vielen Tabuzonen versehen, was vor allem auf Subventionen zutrifft. Der Zwang zum Sparen ist angesichts der immensen Schuldenberge mittlerweile jedoch massiv. Ein immenser Ausgabeposten - die Landwirtschaft - steht aus innenpolitischen Gründen (noch nicht) nicht zur Disposition. Das Beharren auf Agrarsubventionen seitens der Europäischen Union war und ist eine wesentliche Ursache für das Scheitern der WTO-Verhandlungen im Rahmen der Uruguay- und Doha-Runden (Abb. 10.5/ 12). Unabhängig von den grundsätzlich zu kritisierenden Subventionstatbeständen ist auch die tatsächliche Abwicklung fragwürdig: Unklare Regelungen und Kontrollmängel begünstigen eine undurchsichtige und teilweise illegale Inanspruchnahme. Dass die Agrarexportsubventionen (neben der EU auch seitens der USA und Kanadas) in anderen Ländern dort die Erzeugerpreise unterlaufen und Agrarproduktionen unwirtschaftlich machen, vertiefen wir im Kapitel 13 Außenwirtschaftspolitik. Die Inflexibilität des Ausgabenblocks nach unten wird auch durch haushaltsrechtliche Vorschriften beeinflusst. Zwar ist von den Grundsätzen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit auszugehen, die Titelansätze im Haushaltsplan werden aber zum großen Teil aus Daten der Vergangenheit ermittelt. Daher ist eine Neigung zu beobachten, bewilligte Titelansätze spätestens zum Jahresende auch dann auszuschöpfen, wenn dies nicht unbedingt erforderlich wäre, um keine verfallenden Mittelreste entstehen zu lassen und so die Bemessungsgrundlage für die Titelansätze im nächsten Jahr zu kürzen (sog. «Dezemberfieber»). Allerdings tritt dieses Phänomen auch während und sogar gleich zu Beginn des Haushaltsjahres auf, nach dem Motto: «sicher ist sicher», denn in manchem Jahr kappte eine Abb. 10.5/ 11: Subventionsverwendung 3)*( ! #0-/ # 1%$ ")&%/ '+)' 3)$&$.) *' 2"*/ &+)',",) 2&%.-5 -* 8%3&(01 .5( 7%).5'(51-5(%)1 ,(-&-'-5(& 4'&"6! (.5(%)1 0+' $5-&15/ 5). -)533-#-5)& <?page no="367"?> Haushaltssperre eigentlich noch eingeplante Ausgaben, so daß man auch schon mal von einem «Januarfieber» spricht. (4) «Unrentable» Investitionen Die erwähnten kurzfristigen Kassenverstärkungskredite (als marktgängige Buchkredite bei den Geschäftsbanken) sind ebenso richtig und wichtig wie eine vorübergehend konzipierte konjunkturelle Verschuldung. Unbedenklich und sinnvoll ist auch eine Finanzierung öffentlicher Investitionen, die betriebswirtschaftlich rentabel sind, so daß der Schuldendienst (Verzinsung plus Tilgung) aus den investitionsbedingten Rückflüssen zu leisten ist (betriebswirtschaftlich return on investment, ROI). Öffentliche Investitionen fließen aber schwerpunktmäßig in die Infrastruktur und sind somit nicht unmittelbar rentabel. Betriebswirtschaftlich sind sie zwar vielfach Vorleistungen für private Investitionen und können multiplikative Folgewirkungen hervorrufen, so daß insgesamt gesehen auf den ersten Blick unren- Abb. 10.5/ 12: Agrarexporte $8'! .2)5A5*-)3, 4.65-+650.+ ; A4@.5+? 35.5 ,9/ %*/ 6/ .>13/ + #/ 6A<35.5( "35+/ 3: : 765*.: A50 %4-1/ 62).5 & $8'"377? --? 35 7A3 -? 2) -2)6/ ,./ "/ ? +? = -+.: : .5 Exportsubventionen in der EU Milch und Milchprodukte 1107 Mio Euro Getreide 260 Mio Euro Fleisch 478 Mio Euro Zucker 1008 Mio Euro Gesamt 1) : 3413 Millionen Euro Sonstige Produkte 560 Mio Euro in Prozent 1) Angaben für 2001. Quelle: Europäischer Rechnungshof 32 30 8 14 16 F.A.Z.-Grafik Sieber h ld 10.5. Staatsverschuldung 337 <?page no="368"?> l k 338 10. Finanzpolitik table Investition gesamtwirtschaftlich rentabel sein können. So kann die verkehrsmäßige Erschließung einer Region Industrieansiedlungen begünstigen, in deren Gefolge das Steueraufkommen aus Lohn-, Gewerbe-, Umsatzsteuer etc. steigt. In der Praxis stellen sich allerdings dabei eine Reihe von Bewertungsproblemen z.B. im Hinblick auf die Festlegung der zu erwartenden Nutzen oder des Zinsfußes, die häufig nur politisch zu lösen sind. Die Methodik von sozialen Kosten-Nutzen-Analysen läßt in dieser Hinsicht viel Spielraum. (5) Konsum oder Investition? Hierbei stellt sich auch die Frage, was Staatskonsum und -investitionen sind. Zum Konsum zählen nach den Abgrenzungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) Personal-, Sach- und Rüstungsausgaben (! ). So ist z.B. der Bau einer Kaserne Staatskonsum, während das Errichten eines Verwaltungsgebäudes eine Investition darstellt. Andererseits sind bestimmte Konsumausgaben - Beamte im Dienstleistungsbereich - Vorleistungen für privatwirtschaftliche Aktivitäten und somit indirekt produktiv. Die Abgrenzung zwischen (unproduktivem) Konsum und (produktiven) Investitionen ist nicht immer einleuchtend. (6) Marktkonformität Eine Finanzierung öffentlicher Ausgaben durch Verschuldung wird auch mit dem Argument befürwortet, daß Kredite freiwillig gewährt werden, während eine Steuerfinanzierung Zwang bedeutet. Hinzu kommt, daß sich die Finanzierungslast bei Krediten über einen längeren Zeitraum verteilen läßt, als dies bei Steuerfinanzierung der Fall wäre. Die Notwendigkeit zur Verschuldung mindert sich für den Staatshaushalt in dem Maße, wie die Bundesbank und die Europäische Zentralbank einen Teil ihres Bilanzgewinns an den Bund abführen. Die Bundesbank refinanziert die Geschäftsbanken und nimmt dafür Zinsen ein. Ein anderer Teil des Gewinnes entsteht durch die Auflösung der eigenen Vermögenswerte (Gold, Wertpapiere, Devisen). Da diese Bilanzposten in der Vergangenheit aus Gründen der Vorsicht äußert niedrig bewertet wurden, entstehen beim Verkauf zum höheren Handelswert dann Veräußerungsgewinne. In einigen Jahren handelte es sich dabei um erhebliche Summen (vgl. Abschnitt 11.7). 2001 betrug dieser Gewinn 11,2 Milliarden Euro, 2006 nur rd. 3,5 Mrd. Euro. Der Gewinn der Bundesbank ergibt sich aus Zinserträgen bei Refinanzierungsgeschäften, aus der Bewirtschaftung von <?page no="369"?> Währungsreserven und aus Erlösen aus der Beteiligung an der Europäischen Zentralbank. Die Ausschüttung der Zentralbankengewinne wird wegen ihrer nur bedingten Vorhersehbarkeit als zu unsichere Finanzierungsquelle für den Bundeshaushalt kritisiert. Zudem gilt sie Kritikern als inflationäre Quelle der Geldmengenvermehrung (vgl. Kapitel 11 Geldpolitik). Zusammenfassend lassen sich der Ursachen für die gestiegene Verschuldung in den letzten zwanzig Jahren hervorheben: Erstens wurde das theoretische Prinzip des antizyklischen Verschuldens und Entschuldens nicht beachtet. Abschwungphasen verursachten Defizite, die nicht in den Aufschwungphasen abgebaut wurden. Allerdings muß man zugestehen, daß es schon beträchtlicher Weitsicht und politischen Durchsetzungsvermögens bedarf, um in einer Aufschwungphase konjunkturelle Bremsen zu ziehen. Zweitens wurde durch ständig wachsende, vor allem sozialpolitisch motivierte Ansprüche an den Staat eine Ausgabendynamik in Gang gesetzt, die sich offensichtlich an zu optimistischen langfristigen Wachstumserwartungen orientierte und so ein strukturelles Defizit schuf, das in der kurzen Frist nicht zu beseitigen sein wird. Drittens ergaben sich durch die Wiedervereinigung nicht vorhersehbare Haushaltsbelastungen. 10.5.2. Struktur der öffentlichen Verschuldung Die Struktur der öffentlichen Verschuldung hat sich gewandelt. Zunächst ist hervorzuheben, daß sich die Staatsverschuldung auf alle drei Gebietskörperschaften bezieht, also auf Bund, Länder und Gemeinden, daneben aber auch auf Parafisci, d.h. die Sozialversicherungen, Sondervermögen und Bundesbahn usw., obgleich selten alle Positionen statistisch ausgewiesen werden. Die meisten Statistiken beschränken sich in der Darstellung auf die Verschuldung der Gebietskörperschaften. Dabei ist zwischen verschiedenen Schuldbegriffen zu unterscheiden. Die jährlich aufgenommenen Kredite bezeichnet man als Neuverschuldung, wobei die Gesamtsumme der in einem Haushaltsjahr neu eingegangenen Kreditverpflichtungen die Brutto-Neuverschuldung (Bruttokreditaufnahme) ergibt. Da aber im selben Haushaltsjahr auch Tilgungen zu leisten sind, ergibt sich die Netto -Neuverschuldung (Nettokreditaufnahme) als Bruttoneuverschuldung minus Tilgungen (vgl. Abb. 10.5/ 13). Die Nettoneuverschuldung dient als Ausgleich zwischen den Ausgaben und Einnahmen im jeweiligen Haushaltsplan. Solange sie einen positiven Wert hat, also größer ist als Null, wächst der bereits bestehende Schuldenberg um dieh ld 10.5. Staatsverschuldung 339 <?page no="370"?> l k 340 10. Finanzpolitik sen Betrag zusätzlich an. Die Nettoneuverschuldung kann negativ sein, wenn die Summe der in einem Jahr zu leistenden Tilgungen die Summe der Bruttokreditaufnahme übersteigt. Dann und nur dann würde der «Schuldenberg» verringert. Die Bundesbank hat in ihrem Monatsbericht 11/ 2003 errechnet, daß rund 100 Mrd. Euro pro Jahr Abb. 10.5/ 13: Neuverschuldung Verschuldung Bruttokreditaufnahme (Neuverschuldung) Haushalt insgesamt bestehende Schulden bereits bestehende Schulden Nettokreditaufnahme Nettokreditaufnahme Ausgaben Einnahmen Nettokreditaufnahme Tilgungen Nettokreditaufnahme des Bundes in Mrd. ! Prognose 38,6 2003 38,5 2004 31,2 2005 30,0 2006 19,6 2007 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1960 70 80 90 00 06 Gesamtstaatliche Verschuldung (in Milliarden Euro) Quelle: Statistisches Bundesamt <?page no="371"?> (5,75% des BIP) getilgt werden müssten, um zu einem langfristig tragfähigen Pfad zurückzukehren - dies ist aus heutiger Sicht ziemlich utopisch. Die öffentliche Verschuldung ist wegen möglicher negativer Effekte (vgl. weiter unten) - nicht immer zu Recht - der Kritik ausgesetzt. Daher ist es verständlich, dass gelegentlich zu beschönigenden Ausdrucksweisen gegriffen wird, um das Problem abzuschwächen. Die Aussage «Die Wachstumsrate der Nettoneuverschuldung hat abgenommen» klingt zwar sehr kompliziert und für die meisten unverständlich, aber nach Beruhigung und Weniger und Schuldenkonsolidierung. Tatsächlich sagt dies aber nur aus, dass die «Zunahme» abgeschwächt ist; dies bezieht sich jedoch nur auf die Wachstumsrate, also auf die «Geschwindigkeit». Tatsächlich steigen die Schulden jedoch weiter an. Der Bundesfinanzminister hingegen verkündete 2006 stolz, dass nach vier Jahren das sog. «3%-Kriterium» des Vertrags von Maastricht nicht mehr verletzt wurde, d.h. dass die Neuverschuldung nicht mehr als 3% des BIP ausmachte. Er unterschlug dabei aber das zweite, dazu gehörende Kriterium, nämlich dass die Staatsverschuldung nicht mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. Gegen diese Vorgabe wurde aber erneut verstoßen (Abb. 10.5/ 14). Die Länder- und Kommunalhaushalte weisen zum Teil erhebliche Defizite und entsprechende Verschuldung auf. Da die Kommunen nur begrenzten Zugang zum Kapitalmarkt haben, sind sie in hohem Maße von Ausgleichszahlungen seitens «ihrer» Bundesländer im Rahmen des vertikalen Finanzausgleichs abhängig (vgl. Abschnitt 3.2). Die Bundesländer sind durchgängig hoch verschuldet. Abb. 10.5/ 15 zeigt die Verschuldung auch pro Einwohner, d.h. vom Kleinkind bis zum Greis. In den Stadtstaaten sind die Schulden besonders hoch, weil hier die kommunalen und die Landesschulden zusammenfallen. In den neuen Bundesländern steigt die Verschuldung am schnellsten: in den letzten zehn Jahren in Mecklenburg-Vorpommern um 877 Prozent (das ist fast eine Verzehnfachung), in Thüringen um 520 Prozent und in Sachsen-Anhalt um 472 Prozent. International gesehen ist die Verschuldung der öffentlichen Hände in der Bundesrepublik ungeachtet der gewaltigen Schuldsummen aber nicht sonderlich auffällig. Nach Berechnungen des französischen Wirtschafts- und Finanzministeriums steigt die französische Staatsschuld um 1500 Euro pro Sekunde; die deutsche Verschuldung steigt um 1300 Euro pro Sekunde. Die Staatsverschuldung Japans beträgt 152 (! )% des BIP; der Zinsendienst verschlingt ein Fünftel des Budgets h ld 10.5. Staatsverschuldung 341 <?page no="372"?> l k 342 10. Finanzpolitik Abb. 10.5/ 14: Gesamtschulden <?page no="373"?> 10.5.3. Formen öffentlicher Verschuldung Die Formen der Verschuldung der öffentlichen Hände sind vielfältig. In diesem Abschnitt werden nur die wichtigsten Begriffe erläutert. Als Ordnungskriterium für öffentliche Schulden dient die Fälligkeit bzw. Laufzeit. Nach dem Vertrag von Maastricht ist jegliche Kreditfinanzierung des staatlichen Haushalts durch die Zentralbanken verboten. Die kurzfristigste und flexibelste Form der öffentlichen Kreditaufnahme stellen Direktausleihungen durch private Kreditinstitute dar. Schatzwechsel stellen Wechselverbindlichkeiten von Bund, Ländern und der Bahn dar. Es handelt sich um Geldmarktpapiere mit einer Laufzeit von 3 bis 6 Monaten, die zur Behebung vorübergehender Liquiditätsschwierigkeiten gegeben werden. Es erfolgt keine Verzinsung, sondern (wie bei unverzinslichen Schatzanweisungen) vorweg eine Diskontierung bei der Auszahlung: Der Zins wird direkt von der Darlehenssumme abgezogen (Disagio). Schatzwechsel sind im Wege des Diskontgeschäfts refinanzierbar, also geldnahe. Eng verwandt mit Schatzwechseln sind Schatzanweisungen. Es handelt sich bei diesen «Schätzen» um kurz- und mittelfristige Schuld- Abb. 10.5/ 15: Verschuldung der Länder h ld 10.5. Staatsverschuldung 343 <?page no="374"?> l k 344 10. Finanzpolitik verschreibungen, die von öffentlichen Stellen emittiert werden. Man unterscheidet zwischen verzinslichen und unverzinslichen Schatzanweisungen. Verzinsliche Schatzanweisungen sind wie festverzinsliche Anleihen mit Zinsscheinen ausgestattet und haben eine Laufzeit von drei Monaten bis zu mehreren Jahren. Unverzinsliche Schatzanweisungen (U-Schätze) werden hingegen ohne Zinskoupon und somit ohne laufende Verzinsung ausgestattet. Die Verzinsung des Kapitals erfolgt im Zuge der Tilgung am Ende der Laufzeit. Der Emissionskurs ergibt sich somit durch Diskontierung des Rückzahlungsbetrages. Die Laufzeit dieser unverzinslichen Schatzanweisungen beträgt sechs Monate bis zwei Jahre. Sie werden bevorzugt von Banken als Geldanlage übernommen, da sie erstklassige Geldmarktpapiere darstellen. Auch bei den längerfristigen Finanzierungskrediten sind verschiedene Formen zu unterscheiden. Finanzierungsschätze sind eine Sonderform der U-Schätze mit einer Mindestzeichnung von 500 Euro und ein- oder zweijähriger Laufzeit. Sie werden durch Diskontierung verzinst, (kostenlos über den Bankapparat) nur an Private abgegeben und können nicht vor Fälligkeit zurückgegeben werden. Verzinsliche Schatzanweisungen (Kassenobligationen) sind Anleihen mittlerer Laufzeit (meist zwischen drei und vier Jahren, z.T. auch darüber) und hoher Stückelung. Sie werden in erster Linie vom Bund und seinen Sondervermögen, den Ländern, Spezialkreditinstituten (KfW, IKB), seltener von sonstigen Kreditinstituten emittiert. Ausstattung: feste Verzinsung, Tilgung in einem Betrag. Bundesobligationen sind mit einem festen Zinssatz ausgestattet und jederzeit verkäuflich. Ihre Laufzeit beträgt fünf Jahre. Sie haben eine Mindeststückelung von 100 Euro und können nur von Privaten, nicht aber von Bankinstituten erworben werden. Schatzbriefe wenden sich mit einer Mindeststückelung von 50,- Euro vor allem an kleine private Anleger. Sie sind mit gestaffelt Zinssätzen ausgestattet, d.h. der Zinssatz steigt mit der 6bis 7jährigen Laufzeit, wobei die Zinsen je nach Typ (A oder B) ausgezahlt oder kumuliert werden. Nach einer Sperrfrist von einem Jahr können Schatzbriefe jederzeit zurückgegeben werden. Die langfristigste Kreditform sind festverrr zinsliche Anleihen («Rentenpapiere›») von Bund oder Bundesbahn, die an der Börse gehandelt werden und daher jederzeit liquidierbar sind (Abb. 10.5/ 16). Eine spezielle Schuldform sind Schuldscheindarlehen. Es handelt sich dabei um mittel- und langfristige Darlehen, die gegen Schuldschein oder Schuldurkunde (gem. § 607 BGB bzw. § 344 HGB) gewährt werden. Der Schuldschein ist dabei lediglich eine Beweisurkunde <?page no="375"?> in Wertpapierform. Kreditgeber sind Kapitalsammelstellen, insbesondere Sozialversicherungsträger, die Bundesanstalt für Arbeit, Versicherungsgesellschaften und Kreditinstitute. Kreditnehmer sind Unternehmen mit ausgezeichneter Bonität. Die Schuldscheine belaufen sich auf hohe Summen und sind nicht börsen- und rückgabefähig. Welche Verschuldungsform zu wählen ist, hängt von verschiedenen Überlegungen ab, die man in ihrer Gesamtheit als Kredit-Management («debt management ») bezeichnet. Dies erstreckt sich u.a. auf Kostenminimierung durch möglichst zinsgünstige Schuldformen wie auch auf eine zeitliche Koordinierung von Schuldaufnahme und Tilgungen, u.a. auch um Ballungen zu vermeiden, die den Geld- und Kapitalmarkt belasten können. Daher findet in Zusammenhang mit der Verschuldung öffentlicher Hände auch eine Absprache mit der Bundesbank statt. Zum Kreditmanagement gehört insbesondere auch eine Anpassung der staatlicherseits angebotenen Konditionen (Zin- Abb. 10.5/ 16: Länderverschuldung / / (+ 5,0),3).&,/ *3/ ' 2+**+0"3)! 6)*3+-3 0&1 ! -/ -2 %'-=0- 530/ ! 30 %. ! .! - 41! .0/ -0 6+3 5"*1&3 ,3( ! %),3'*"),3( -"*& ,+3 43%$3('.-%*,%)/ '/ (3)#3 ,3( 23(10''%)/ )+.-& 3+) Bayern (M) 4 v. 99/ 09 27.05. 100,13 G 100,20 G 3,925 5 v. 99/ 09 26.06. 104,81 G 104,73 G 4,012 3,75 v. 02/ 10 27.01. 99,50 G 99,46 G 3,937 3,875 v. 04/ 11 14.01. 99,66 G 99,64 G 3,972 3,375 v. 05/ 13 21.01. 96,86 G 96,82 G 3,975 3,125 v. 06/ 14 16.01. 94,59 G 94,52 G 4,034 Baden-Württ. (F) 4,78 v.02/ 08 (S) 16.07. 101,30 G 101,30 G 3,864 3,25 v.03/ 08 (S) 29.01. 99,30 G 99,25 G 3,920 3,375 v.04/ 09 (S) 23.01. 98,81 G 98,72 G 3,985 3,50 v.05/ 15 (S) 14.01. 96,21 G 96,06 G 4,061 3,85 v.05/ 20 (S) 04.02. 94,40 G 94,35 G 4,421 3,25 v.06/ 16 (S) 18.01. 93,88 G 93,73 G 4,071 Berlin (B) 5 v. 01/ 11 (F) 12.04. 103,55 G 103,49G 4,068 4,75 v. 02/ 07 07.05. 100,23 G 100,2 G 3,950 4,50 v. 02/ 07 28.9. 100,32 G 100,32 G 4,004 3,75 v. 03/ 13 11.06. 98,34 G 98,22 G 4,041 3,50 v. 03/ 08 13.02. 99,45 G 99,50 G 4,002 3,25 v. 04/ 09 24.06. 98,21 G 98,18 G 4,008 4,25 v. 04/ 14 15.09. 101,03 G 100,91 G 4,086 3,75 v. 05/ 15 23.03. 97,57 G 97,47 G 4,100 Brandenburg (F) 5,25 v. 02/ 09 24.04. 102,57 G 102,55 G 4,042 4,5 v. 02/ 09 02.06. 100,65 G 100,70 -T 4,191 4 v. 03/ 13 20.02. 99,44 G 99,33 G 4,101 3,25 v. 03/ 08 08.10. 98,68 G 98,67 G 4,024 FRN v. 04/ 07hj 26.F/ A - - 4 v. 04/ 11 22.06. 99,79 G 99,72 G 4,042 FRN v. 06/ 09hj 19.J/ J - - FRN v. 06/ 11hj 21.F/ A - - Hamburg (H) 4,275 v. 02/ 09 07.10. 100,25 TG 100,25 TG 3,925 Hessen (F) 5,75 v. 97/ 08 30.01. 101,81 G 101,81 G 3,983 5 v.98/ 10 27.04. 102,52 G 102,48 G 4,157 4 v. 99/ 09 06.07. 99,69 G 99,90 G 4,115 5,75 v. 00/ 11 S.3 04.01. 106,24 G 106,18 G 4,030 2,25 v. 05/ 11 04.07. 92,80 G 92,65 G 4,022 1,375 v. 05/ 07 20.08. 98,39 G 98,38 G 3,972 3,125 v. 05/ 15 14.09. 92,92 G 92,38 G 4,105 3,25 v. 05/ 14 15.01. 94,88 G 94,78 G 4,101 3 v. 05/ 09 15.01. 97,95 G 97,50 G 4,068 3,125 v. 06/ 10 31.05. 97,07 G 97,01 G 4,051 h ld 10.5. Staatsverschuldung 345 <?page no="376"?> l k 346 10. Finanzpolitik sen, Ausgabekurs, damit Renditen) an die Entwicklung des Geld- und Kapitalmarkts (vgl. Abb. 10. 5/ 17). Allerdings erfolgt die Anpassung der Konditionen in der Regel mit halbtägiger Verzögerung, was im Hinblick auf Zinssenkungen zu erheblichen Nachläufern mit für die öffentlichen Hände ungünstigen Konditionen führen kann. Abb. 10.5/ 17: Zinsanpassung *%- (! ., '/ )%"&/ '-$+ ,+%! #+ *? I% #G! >! @ '#I%R@# 1#,'&' .*)%') 0"' 3$*+)&! 1)'%(-(,)') Bundesrepublik Deutschland (F) J ; % EG<<#ZI X! %! I% ZZI'ZK > ZZJ'CE > V'CZC J'IXJ )% EI? #ZI X! %! C% ZZV'KI > ZZV'V! > V'CXI I'XJ )% CK#XK ! K%! Z% ZXG'! X > ZXI'GX A K'! XK I )% CG? ? #! G ! K%! G% Z! Z'! I A Z! Z'! I A V'GKE I'J )% CG#XG ! K%! G% ZVV'KV > ZVV'! V A K'! IZ J'XJ )% CE#! E ! K%! Z% Z! Z'VK > Z! Z'VK > V'EIV J'IXJ )% CE#XE ! K%! Z% ZXZ'GG > ZXZ'VI > K'! IK K'GJ )% CE#! E ! K%! G% Z! Z'XK > Z! Z'XX > V'EJK K'GJ )% CE#XE ! K%! G% Z! C'GI > Z! C'VI > K'! JG K'ZXJ )% CE#! E ! K%! G% Z! ! 'VI A Z! ! 'VV > V'EKG V'GJ )% CC#! C ! K%! Z% CC'EK > CC'GC > V'EVI K )% CC#! C ! K%! G% Z! ! 'VZ > Z! ! 'XJ > V'EJZ K'J )% CC#! C ! K%! G% Z! Z'KK > Z! Z'K! > V'EIE J'VGJ )% CC#Z! ! K%! Z% Z! K'ZG > Z! K'ZZ > V'EGE I'XJ )% ! ! #V! ! K%! Z% ZVX'! J > ZVZ'JC > K'! GI J'XJ )% ! ! #Z! ! K%! G% Z! K'VG > Z! K'V! A V'EGG J'XJ )% ! ! #ZZ ! K%! Z% Z! K'CX > Z! K'EK A V'ECE J'J )% ! ! #VZ ! K%! Z% ZXZ'I! > ZXZ'ZJ > K'! GX J'! ! )% ! Z#ZZ ! K%! G% Z! K'KK A Z! K'VK > V'ECJ J )% ! X#ZX ! K%! Z% Z! K'CI > Z! K'EV A V'EEC J )% ! X#ZX ! K%! G% Z! J'VK A Z! J'ZE > V'ECJ K'J )% ! V#ZV ! K%! Z% Z! V'XZ A Z! V'! K > V'EC! K'GJ )% ! V#VK ! K%! G% ZZZ'KZ > ZZ! 'CG > K'! JZ V'GJ )% ! V#ZV ! K%! G% CC'ZG > CE'CC > V'ECZ K'XJ )% ! V#ZK ! K%! Z% Z! X'! K A Z! Z'EC > V'CZZ K'XJ )% ! K#ZK ! K%! G% Z! X'ZV > Z! Z'CG A V'CZ! V'GJ )% ! K#ZJ ! K%! Z% CE'EI > CE'GZ > V'CZE K )% ! J#VG ! K%! Z% CC'KJ > CC'! K > K'! VZ V'XJ )% ! J#ZJ ! K%! G% CJ'VV > CJ'ZG > V'C! Z V'J! )% ! J#ZI ! K%! Z% CI'EC > CI'GK > V'CZI K )% ! I#ZI ! K%! G% Z! ! 'JC > Z! ! 'KV > V'CZC ? +D,% ! I#ZI * ZJ%! K% CG'XC > CG'ZZ A V'GJ )% ! I#ZG ! K%! Z% CE'IZ > CE'KJ > V'CX! "&&'")#$(%' ! "#'$%'" Zins Zinst. 2.1.07 29.12.06 Rend. <?page no="377"?> 10.5.4. Grenzen und Konsequenzen staatlicher Verschuldung Deutschland wird nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel im Jahr 2004 Italien als «Schuldenkönig» in der Position der absolut am höchsten verschuldeten Volkswirtschaft in der europäischen Währungsunion ablösen. Italiens Staatsschulden belaufen sich Ende 2004 auf rund 1420 Mrd. Euro, Deutschland wird 1424 Mrd. ausweisen. Im Verhältnis zum BIP oder pro Kopf gerechnet liegt Italien jedoch weiterhin an der Spitze. In diesem Wettbewerb gibt es allerdings keine attraktiven Preise, sondern wir werden uns die Folgen der Staatsverschuldung einmal näher ansehen. 10.5.4.1. Formale Begrenzungen (a) Bestimmungen des Grundgesetzes Der Kreditaufnahme des Staates sind rechtliche Grenzen gesetzt. Nach Art. 115 GG darf die Kreditaufnahme des Bundes die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen nicht überschreiten. (Dabei sei nochmals auf die nicht überzeugende Abgrenzung zwischen Staatskonsum und -investitionen verwiesen.) 1981 wurde von der damaligen Opposition eine Verfassungsklage eingereicht, da die im Haushaltsplan veranschlagte Nettoneuverschuldung die Höhe der geplanten Investitionen erheblich überschritt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil im Jahr 1989 nähere Ausführungen zur Auslegung des Art. 115 GG gemacht, insbesondere hinsichtlich des Investitionsbegriffs, denn hieran scheiden sich die Geister. Offensichtlich soll die Kreditbegrenzung des Art. 115 GG wohl nicht so formalistisch interpretiert werden, dann im Falle einer (ernsthaften und nachhaltigen! ) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts kann gemäß Art. 115 GG in Verbindung mit Art. 109 von dieser Vorschrift ohnehin abgewichen werden, und im Stabilitätsgesetz ist eine Ermächtigung zur zusätzlichen Kreditaufnahme enthalten, die als Grundlage der antizyklischen Finanzpolitik anzusehen ist. Abb. 10.5/ 18 zeigt die Größenordnungen. 1992 war der Haushalt des Saarlandes (auf Länderebene gelten analoge Vorschriften) zum vierten Mal nacheinander vom Landesrechnungshof für verfassungswidrig erklärt worden; u.a. lagen auch in Nordrhein-Westfalen und Hessen solche Tatbestände vor (Abb. 10.5/ 19). Zu beachten ist aber, daß durch die über Art. 115 hinausgehende Verschuldung Maßnahmen finanziert werden sollten, welche zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zurückführen. Dies ist bisher tendenziell nicht deutlich erkennbar gewesen. h ld 10.5. Staatsverschuldung 347 <?page no="378"?> l k 348 10. Finanzpolitik Ein wichtiger Aspekt wird in der allgemeinen Diskussion häufig übersehen. Die skizzierten Rechtsvorschriften beziehen sich auf die Kreditaufnahme des Staates, nicht aber auf seinen Schuldenstand. Der Verschuldung des Staates sind somit nur hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit, nicht jedoch hinsichtlich der absoluten Höhe rechtliche Grenzen gesetzt. Außerdem besteht nach dem Grundsatz der Gesamtdeckung aller Ausgaben durch alle Einnahmen keine Zweckbindung, z.B. in dem Sinne, daß die aufgenommenen Mittel investiv verwendet werden müssen. Aber es dürfte deutlich geworden sein, daß auch die Begrenzung der Kreditaufnahme aufgrund der interpretationsfähigen Ausnahmeklauseln «Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts» keine klar festzulegenden Verschuldungsgrenzen erkennt läßt. Abb. 10.5/ 18: Art. 115 und Bundeshaushalt 17,1 a) 20,6 e) 39,5 22,4 23,2 23,5 6,7 6,7 6,8 6,8 5,1 4,2 -4,4 6,3 31,2 38,2 22,0 8,3 a) 9,4 c) 17,8 b) 15,0 a) 33,2 b) 22,9 d) 35,6 b) 33,1 b) 11,3 f) 12,5 f) GE GX IE IX KE KX VE VX E X #E [3U +034 GE GX IE IX KE KX VE VX E X #E [3U +034 KXXG KXXE KXXD R' KXXC R' 7' -6T25Q3TP10LR UT3 <TRTNR3TL.T RTMH@ &702Q7N123T5Q1! B 6' -6T325Q3TP10LR UT3 <TRTNR3TL.T 6TP YP5Q16T3F5O2P5Q1PR0LR / 4L =3P/ 71P2PT30LR2T3ND2TL]+SOP8QWVVWR1# 1WO 0OX @726T3WS70OUWO *WSOSUW <6TK1-0OUWO SO @OQWTO0OU 8O XWO @02.WS2 SOOW3T8Q7 XW3 : 5QR2.S3126T8V1QS6TWO (W28P13W6TO0OUWO'! E 6' +SOO8TPWO 802 XW3 : W3# K0CW30OU / 5O,W1W1WSQSU0OUWO 0OX <86T/ W3PGUWO XW2 ,0OXW2! E X' ZTOW ,W13SW72PS11WQX83QWTWO 8O XSW (W2W1-QS6TW =WO1WO/ W32S6TW30OU *[%D ^3X +035'! E W' +SOO8T# PWO 802 XW3 : W3K0CW30OU / 5O ,W1WSQSU0OUWO 0OX <86T/ W3PGUWO XW2 ,0OXW2A -0-IUQS6T WO1V8QQWOW3 9026T022 8O XSW ? 5217W8P1WO/ W3253U0OU2R822W *30OX L%F ^3X +035'A -0-IUQS6T +SOO8TPWO 802 XW3 / 53-WS1SUWO ; SQU0OU / 5O <6T0QXWO X036T =022Q8OX 0OX ? 5QWO *30OX H%F ^3X +035'! E V' +SOO8TPWO 802 XW3 : W3K0CW30OU / 5O ,W# 1WSQSU0OUWO 0OX 802 XW3 : W3.W310OU / 5O 25O21SUWO "84S18Q/ W3PGUWO XW2 ,0OXW2A -0-IUQS6T WO1V8QQWOW3 9026TI22W 8O XSW ? 5217W8P1WO/ W3253U0OU2R822W / 5O 30OX L%F ^3X +035 VI3 X82 $8T3 N[[H 0OX 30OX M%M ^3X +035 VI3 X82 $8T3 N[[F! E U' (WPKC &802T8Q124Q8O N[[H 7W-SWT0OU2.WS2W &802T8Q124Q8O N[[F *=WUSW30OU2WO1# .03VA 80CW3 @726T3WS70OUWO! >0WQQWOB ,^)A WSUWOW ,W3W6TO0OUWO <?page no="379"?> (b) Bestimmungen des Europäischen Stabilitätspakts Neben den nationalen Normen des deutschen Grundgesetzes wird die Staatsverschuldung auch begrenzt durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt von Dublin (1996), welche die Mitglieder der Europäischen Währungsunion («Euroland») einhalten müssen. Dieser Staatsvertrag ist vorrangig auf deutsches Betreiben zusätzlich und in Ergänzung zum Maastricht-Vertrag von 1992 geschlossen worden, um die Bedenken gegen eine mögliche «Aufweichung» der Währungsstabilität zu zerstreuen. Im Vertrag von Maastricht haben die EU-Staaten sogenannte Konvergenzkriterien festgelegt. Sie schreiben vor, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Land die Gemeinschaftswährung Euro einführen darf. In Schlagworten umfassen die Konvergenzkriterien gesunde Staatsfinanzen, ein solides Preisniveau, stabile Wechselkurse und niedrige Zinsen in den einzelnen Euro-Staaten. Abb. 10.5/ 19: Art. 115 und Länderhaushalte <"H6." &EECC6/ L6E4 <"A6E. ; 6DD6. 826H6ED"J3D6. 8-EHE362." &6DC5"06. ,362.0".H"75"0F +""E0".H # +J306DH24"; -0DC62. <E".H6.LBE4 96J106.LBE4" (-EF-/ / 6E. +"J3D6. +"J3D6."=.3"0C )3EE2.46. <6E02. <E6/ 6. # ; "/ LBE4 : / .H6E FBD"/ / 6. <B.H $9% $9# $9$ $9K $9" $9- $9? $9< $99 $88 $8% $8# $8$ $8K $8" % " # $ " " $ " " # % % $ < 9 %8 - -< ? 8 8 K %8 K ? - $ $ 8 - % %$ " 8 - $ ? "O(479+8: JO8: =$+MM: # N @$K: O L: O2<)M+<,K+87$8 ; : O A"$; : O=: ; >O9M% L7$; : M: O84$57$8M57% 6: +M7$8 *>(M J+$$>,&: '# h ld 10.5. Staatsverschuldung 349 <?page no="380"?> l k 350 10. Finanzpolitik Die bekannteste Vorschrift des Maastricht-Vertrages ist die zur Neuverschuldung. Demnach darf die Nettokreditaufnahme nicht mehr als 3,0 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) betragen. Auch die zulässige Gesamtverschuldung ist in den Konvergenzkriterien festgelegt. So darf das Gesamtdefizit eines Staates 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen. Diese Kriterien sind inhaltlich ziemlich willkürlich festgelegt worden; es gibt keine logische Ableitung. Exkurs zu den übrigen Stabilitätskriterien Die ebenfalls in Maastricht festgeschriebene Preisstabilität ist wie folgt definiert: Die Inflationsrate eines Landes darf maximal 1,5 Prozentpunkte über der Teuerungsrate jener drei Euro-Staaten liegen, welche die niedrigsten Preissteigerungen aufweisen. Ähnliches gilt für die Zinsen. Hier darf der Nominalzins eines Staats höchstens 2,0 Prozentpunkte über den Inflationsraten jener drei Euro-Staaten liegen, welche die niedrigsten Preissteigerungen haben (vgl. Studienbrief Geldpolitik). Diese Kriterien zum Eintritt in die Eurozone boten nach Überzeugung des damaligen Bundesfinanzministers Theo Waigel aber zu wenig Sicherheiten, die Gemeinschaftswährung auch nach dem Beitritt zur Euro-Zone stabil zu halten. Deshalb drängte die Bundesregierung darauf, Teile der Konvergenzkriterien auch über den Euro-Eintritt hinaus als Verpflichtung festzuschreiben. 1996 wurde dieses Anliegen in Dublin im Stabilitäts- und Wachstumspakt vereinbart. Da die Verschuldungsobergrenze offenbar lässig ausgeschöpft wird, stellt sich natürlich die Frage, welche Gebietskörperschaften sich in welchem Umfang verschulden dürfen. Daher haben Bund, Länder und Kommunen im März 2002 einen «Nationalen Stabilitätspakt» geschlossen. Danach stehen dem Bund 45 Prozent und den Ländern und Kommunen 55 Prozent der nach den Maastricht-Kriterien erlaubten Neuverschuldung zu. Prompt wird dieser Verteilungschlüssel aufgrund der Finanznot des Bundes wieder in Frage gestellt und eine 50: 50-Verteilung proklamiert mit der Begründung, durch die Hartz- Gesetze zur Arbeits- und Sozialhilfe müsse der Bund einen höheren Anteil tragen. Da die formalen Normen offensichtlich wenig ‹Biss› haben, wie wir gerade gesehen haben, sind die ökonomischen Konsequenzen der öffentlichen Verschuldung um so bedeutsamer, wenn es darum geht, Grenzen der Verschuldung zu betrachten (Abb. 10. 5/ 20). 10.5.4.2. Ökonomische Folgen der Staatsverschuldung (1) Zunächst einmal bedeutet eine zunehmende Verschuldung, daß ein ständig wachsender Teil der Staatseinnahmen bereits blockiert wird für den Schuldendienst (d.h. für Verzinsung und Tilgung); dies engt den finanzpolitischen Spielraum der öffentlichen Hand ein. Der <?page no="381"?> Zinsendienst ist von 2,5% der Bundesausgaben im Jahr 1972 gestiegen auf fast 15% im Jahr 2002 (im 2004-Haushalt der Türkei sind 42 Prozent der Ausgaben für den Zinsendienst veranschlagt). Wenn der Schuldendienst nicht aus den laufenden Einnahmen geleistet werden kann, sind neue Kredite allein zur Verzinsung alter Schulden erforderlich - von Tilgung ist nicht die Rede - , woraus sich eine Schraube ohne Ende ergibt: die sog. Schuldenfalle (Abb. 10. 10.5/ 21).»Damit nährt sich die Verschuldung aus sich selbst heraus» (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 1997). In den Bundesländern betragen die Anteile der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben zwischen 2,8% und 3,7% (Bayern und Sachsen) und 11,3 und 11,9% (Schleswig-Holstein und Bremen). Abb. 10.5/ 20 : Schuldengrenze? 3-3 4./ $+,3) ,3& ! $),3& &%3-13) -) 0&%'()(*-&./ 3 5#/ 3) 2-)&+0&% &./ )"'% ,3) 50$&/ 0+% 3-) 4%* -20/ ! ,',&#,- 1,1,- .-, 3&22&'$,('0/ %+.%-1 3+.$1'*1+ -+& 0'0+( ! $22$%"+&%/ 0#,-#() Abb. 10.5/ 21: Schuldenfalle 1965 4,0 1,8 1980 27,7 15,1 1998 42,5 68,4 1999 29,7 69,8 2000 - 27,0 67,6 2001 58,6 66,6 2002 76,9 66,1 2003 86,5 65,6 2004 81,2 64,7 2005 74,3 64,0 Öffentlicher Gesamthaushalt 1965 bis 2005 - Daten zur Verschuldung (in Milliarden EUR) Quelle: Statistisches Bundesamt (StBA), EUROSTAT. Jahr Neuverschuldung Zinsausgaben h ld 10.5. Staatsverschuldung 351 <?page no="382"?> l k 352 10. Finanzpolitik (2) Staatsverschuldung in größerem Umfange kann den heimischen Geld- und Kapitalmarkt so beanspruchen, daß die Kreditzinsen steigen. Der Zusammenhang mit der kreditinduzierten Inflation ist das Hauptargument gegen exzessive Staatsverschuldung, wobei wiederum der ständig auftauchende Zielkonflikt zwischen Konjunkturanregung bzw. Beschäftigungsförderung und Preisstabilität deutlich wird. In der jüngeren Vergangenheit lag der Anteil der staatlichen Kreditaufnahme an der gesamten Kreditaufnahme bei durchschnittlich 25%. Dabei ist aber zu beachten, daß am Kreditmarkt nicht «der Staat» als riesiger Kreditnehmer auftritt, sondern eine Vielzahl von einzelnen Kreditnehmer in Gestalt von Bund, Ländern und Gemeinden. Eine nachhaltige Beeinflussung des Zinsniveaus ist dann zu erwarten, wenn eine plötzliche und massive Erhöhung der staatlichen Kreditnachfrage insgesamt eintritt, welche die Ausdehnungsmöglichkeiten des Kreditangebots überfordert. (3) In diesem Zusammenhang wird oft der sogenannte «Verdrängungseffekt» («crowding out ») angeführt, d.h. daß der Staat private (Kredit-)Nachfrage verdrängt, was - neben zinssteigernden Effekten - zu Wachstumsverlusten führen könne. Dabei ist zwischen güterwirtschaftlicher (realer) und finanzieller Verdrängung zu unterscheiden. Bei güterwirtschaftlichem «crowding out» würde der Staat reale Ressourcen an sich ziehen, die bei unelastischem Güterangebot («Vollbeschäftigung») privaten Nachfragern nicht mehr zur Verfügung stehen, wodurch auch inflationäre Nachfragesog-Effekte ausgelöst werden können. Analoge gilt dies hinsichtlich nachgefragter Fin anzmittel auf den Geld- und Kapitalmärken. Daß ein staatlicher Schuldner einem privaten hinsichtlich der Bonität überlegen sein kann, ist denkbar. Hinzu kommt, daß staatliche Kreditnehmer auf steigende Preise bzw. Zinsen tendenziell unelastischer reagieren als private, da zum einen aufgrund festliegender Ausgabenotwendigkeiten und Finanzierungslücken ein Deckungs-Zwang besteht. Zum anderen spricht man auch von einer gewissen Zinsrobustheit der staatlichen Kreditnachfrage (und dies gilt analog für Preise), da der Staatshaushalt ungeachtet haushaltsrechtlich vorgeschriebener Sparsamkeit oder Wirtschaftlichkeit nicht nach kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Kriterien, sondern auch nach gesamtwirtschaftlichen Kriterien geführt wird. Ein Anstieg der Zinsen aufgrund steigender staatlicher Kreditnachfrage ist nur vorstellbar bei unelastischem Kreditangebot. Dies wird als «Quellentheorie» bezeichnet, da die Menge des aus einer Quelle ausströmenden Wassers pro Zeiteinheit konstant ist, so daß sich ein zusätzlicher Abnehmer nur auf Kosten eines anderen bedienen <?page no="383"?> kann. Dem finanziellen ‹crowding-out›-Argument im Sinne der Quellentheorie wird entgegengehalten, daß der Staat zwar dem Geld- und Kapitalmarkt Mittel entzieht, diese aber meist auch umgehend wieder verausgabt, so daß sie letztlich den Finanzmärkten über das Bankensystem wieder zufließen. Das Grundprinzip dieser «Fontänentheorie» (die Fontäne nährt sich aus dem zurückfließenden Wasser und füllt dieses wieder auf) ist einleuchtend, jedoch empirisch nicht zwingend nachzuweisen, und daher umstritten. Im Zusammenhang mit Verdrängungs- oder Zinseffekten ist jedoch zwischen interner und externer Verschuldung zu unterscheiden, d.h. im Hinblick darauf, ob die Verschuldung innerhalb der eigenen Volkswirtschaft erfolgt oder durch Kreditaufnahme im Ausland. Der größte Teil der öffentlichen Schulden in Deutschland ist interne Verschuldung. In vielen Entwicklungsländern hingegen existiert kein hinreichend funktionsfähiger Geld- oder Kapitalmarkt, so daß nur die Möglichkeit der externen Verschuldung besteht. Daraus ergeben sich häufig entsprechende Devisen-Rückzahlungsprobleme, Wechselkurswirkungen und teilweise massive Verluste für die ausländischen Gläubiger, wie sich 2003 am Beispiel Argentiniens gezeigt hat. Das Land hatte 2002 seinen Schuldendienst (Verzinsung und Tilgung) eingestellt, so daß die ausgegebenen Schuldtitel dramatisch an Wert verloren hatten. Im Zuge von Umschuldungsabkommen wird den Gläubigern dann meist ein drastischer Kapitalschnitt zugemutet (im Argentinien-Fall 90%! ), und meist werden die Zinsen gesenkt (hier auf 1,5%) und die Rückzahlungsfristen verlängert (hier 20- 45 Jahre). (4) Ob durch ‹Verdrängung› nun ein Wachstumsverlust eintritt oder nicht, läßt sich nur spekulativ beantworten, würde aber voraussetzen, daß bei privater Nutzung der Mittel höhere Effizienz der Mittelverwendung oder ein größerer Multiplikatoreffekt zu erwarten wäre als bei staatlicher Verwendung. Wie bereits angesprochen, hängen entsprechende Berechnungen davon ab, wieweit man Folge- und Nebenwirkungen erfassen und messen kann. Staatliche Maßnahmen erstrecken sich in großem Maße auf Infrastrukturinvestitionen, die im en geren Sinne nicht rentabel sind, aber - aufgrund ihrer Ergänzungs- und Anregungsfunktion für private Investitionen - gesamtwirtschaftlich anders beurteilt werden müssen als betriebswirtschaftlich. Der Einfluß staatlicher Vorleistungen auf die private Wertschöpfung ist insgesamt jedoch nur ungenau abzuschätzen, so daß in dieser Hinsicht das Verdrängungsargument weder stringent untermauert noch widerlegt werden kann. Auch läßt sich argumentieren, daß die am privaten Kapitalmarkt verfügbaren Mittel zu großen Teilen für h ld 10.5. Staatsverschuldung 353 <?page no="384"?> l k 354 10. Finanzpolitik reine Finanzgeschäfte verwendet werden, ohne güterwirtschaftlich nachfragewirksam zu werden. In diesem Fall aber würde die Kreditaufnahme zur Finanzierung von Staatsausgaben reale Nachfrage bedeuten und Beschäftigungseffekte, aber im Sinne der Nachfragesogtheorie auch einen inflationären Impuls bewirken Das Verdrängungsargument träfe in jedem Fall dann nicht zu, wenn die Kreditaufnahme nicht auf dem inländischen Kapitalmarkt, sondern im Ausland erfolgte. Dann aber käme das Inflationsargument stärker zum Tragen, da zwar kein zinsbedingter Kosten-, wohl aber Nachfragesog- und Geldmengeneffekte auftreten können. (5) Schließlich hat die öffentliche Kreditaufnahme auch Umverteilungseffekte, da die Teilmenge der (meist) besser verdienenden privaten Kreditgläubiger von der Gesamtmenge der Steuerzahler refinanziert werden. Dem ist entgegenzuhalten, daß dieser Effekt durch ein progressives Besteuerungssystem - zumindest tendenziell - abgemildert wird, d.h. wer dem Staat Mittel zu Verfügung stellen kann, wird tendenziell stärker besteuert als andere. (6) Auch eine Verteilungswirkung im längerfristigen Zeitablauf ist zu berücksichtigen. Kreditfinanzierung heute zu tätigender Ausgaben kommt den heutigen Bürgern ohne Belastungen zugute. Verzinsung und Tilgung dieser Schulden müssen aber in der Zukunft geleistet werden, so daß möglicherweise die nächste Generation noch die Schulden abzutragen hat, die heute gemacht wurden, ohne in gleichem Maße Nutznießer dieser Ausgaben zu sein. (7) Möglich ist auch, daß ein staatliches Haushaltsdefizit die außenwirtschaftliche Leistungsbilanz belastet, u.a. weil sich ein Teil der kreditfinanzierten Nachfrage auf Importgüter erstreckt. Dieser Zusammenhang wird als Zwillingsdefizite («twin deficits») bezeichnet und ist z.B. in den USA gut zu beobachten. Im Gegensatz zur Situation vieler anderer Länder bezieht sich die Verschuldung Deutschlands nur zu einem relativ geringen Teil auf externe Kredite. Der Schuldenstand besteht nur zu rund 38% aus extern Verschuldung. Allerdings ist dieser Anteil in den letzten Jahren stark gestiegen, insbesondere, um den nationalen Kapitalmarkt nicht zu sehr zu belasten. Im internationalen Kontext ist eine externe Verschuldung in dieser Größenordnung angesichts der ökonomischen Kapazität Deutschlands jedoch (noch) unproblematisch. Abb. 10.5/ 22 faßt die möglichen, tendenziellen (! ) Folgen einer extensiven (! ) Staatsverschuldung zusammen. <?page no="385"?> 10.5.4.3. Einige Unterschiede zwischen staatlicher und unternehmerischer Verschuldung ! Ein wesentliches Kriterium und privater (gewerblicher) Kreditaufnahme ist die Projektbezogenheit (nicht immer, aber meist). Dabei soll der Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) aus den Rückflüssen aus der kreditfinanzierten Investition erfolgen (ROI: Return on Investment). Staatliche Schulden fließen jedoch zum einen ohne Zweckbindung als Einnahme in den Gesamthaushalt. ! Zum anderen dienen sie in hohem Maße der Finanzierung staatlichen Konsums oder von Infrastrukturmaßnahmen, die - wie bereits erwähnt - nicht direkt rentabel sind. Investitions-, Amortisations- oder Renditerechnungen sind auf der staatlichen Ebene unüblich. ! Gläubiger und Schuldner sind bei der staatlichen Verschuldung tendenziell identisch: die Einwohner. ! Wegen der Langfristigkeit der staatlichen Schulden profitieren die gegenwärtigen Generationen vom Nutzen der staatlichen Verschuldung, während die Tilgungslast (zumindest auch) von späteren Generationen zu tragen ist. Abb. 10.5/ 22 Folgen der Staatsverschuldung Staaatsverschuldung Möglich sind: • Blockierung des Haushalts (Zinsen) • Belastung des Kapitalmarktes Verdrängung («crowding out») Zinsanstieg • Inflation durch Nachfragesog Kostendruck (Zinsen) Geldmengen-Erhöhung • Wachstumsverluste • Umverteilung viele Steuerzahler ! weniger Gläubiger zwischen den Generationen • Verschlechterung der Leistungsbilanz, dadurch Tendenz zur Abwertung h ld 10.5. Staatsverschuldung 355 <?page no="386"?> l k 356 10. Finanzpolitik 10.5.4.4. Europäischer Stabilitätspakt und Verschuldung Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt ist als Garant für einen stabilen Euro vermittelt worden. Die Stabilitätskriterien legen - wie erwähnt - monetäre Bedingungen fest, aber eben auch finanzpolitische Kriterien, nämlich, daß die Neuverschuldung der öffentlichen Hand nicht mehr als drei Prozent des BIP und der staatliche Schuldenstand nicht mehr als 60% des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. Zusätzlich kamen die EU-Mitglieder in Dublin überein, ‹mittelfristig› ausgeglichene Haushalte anzustreben. Ursprünglich sollten bis zum Jahr 2004 «nahezu» ausgeglichene Haushalte vorgelegt werden. Das Wörtchen «nahezu» bedeutet, dass eine Neuverschuldung von bis zu 0,5 Prozent toleriert würde. Dieses Ziel wurde mittlerweile aufgeweicht; Deutschland hatte 2005 zum vierten Mal in Folge das Drei-Prozent-Kriterium nicht erfüllt (Abb. 10.5/ 23), und das, obgleich die staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) einige der öffentlichen Schulden in ihre Bücher übernommen hatte, ohne dass die Bank statistisch in die «öffentliche Verschuldung» konsolidiert würde - an anderer Stelle würde man das off-balance accounting und «kreative Buchführung» nennen. g Wie oben ausgeführt, sind für die enorme Verschuldung weniger konjunkturelle als strukturelle Verschuldungsgründe verantwortlich. Das 60-Prozent-Lriterium wird sogar von sechs Ländern verletzt und im Euro-Raum insgesamt gesehen nicht eingehalten. Die deutschen Werte werden erst ab 2006 auf 65% und 2007 auf 64.5% sinken. Spitzenreiter in Europa sind Belgien, Italien und Griechenland, deren Schuldenstand höher ist als ihr BIP; Japan hat Schulden in Höhe von 200% des BIP kumuliert. Betriebswirtschaftlich würden Schulden > BIP den Insolvenztatbestand der Überschuldung bedeuten. Das 3%-Kriterium als Stabilitätskriterium zu bezeichnen, ist gefährlich, denn von Stabilität oder Haushaltskonsolidierung kann angesichts eines anhaltenden Haushaltsdefizits nicht die Rede sein. Gleichwohl zeigt Abb. 10.5/ 24, dass die Mehrwertsteuererhöhung von 2007 nicht mit der Notwendigkeit der Einhaltung des Stabilitätspakts begründet werden durfte. Wesentlicher Bestandteil der Stabilitäts- und Wachstumspakts von Dublin ist das Frühwarnsystem, mit dem Brüssel über Fehlentwicklungen eines Euro-Landes informiert. Grundlage ist eine Verordnung des EU-Ministerrates aus dem Jahre 1997. Nähert sich beispielsweise das Defizit eines Landes bedrohlich der Drei-Prozent-Marke, kann dem betreffenden Land ein «blauer Brief» ausgestellt werden, in dem es aufgefordert wird, seinen Haushalt den Vorgaben anzupassen. Überschreitet ein Land tatsächlich die Drei-Prozent-Marke, wird das <?page no="387"?> so genannte Defizitverfahren eingeleitet. In dessen Verlauf wird darüber entschieden, ob ein Strafmechanismus ausgelöst wird. In einem solchen Verfahren legt als erstes die EU-Kommission einen Bericht vor, in dem auch die Umstände der Verfehlung sowie die Abb. 10.5/ 23: Verschuldung im Euro-Raum #" h ld 10.5. Staatsverschuldung 357 <?page no="388"?> l k 358 10. Finanzpolitik geplanten Gegenmaßnahmen der betroffenen Regierung berücksichtigt werden. Dabei besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass dem Mitgliedsstaat außergewöhnliche Umstände zugute gehalten werden, die für das Überschreiten der Drei-Prozent-Marke verantwortlich sind. Auf dieser Grundlage entscheiden die EU-Mitgliedsstaaten, ob und welche Empfehlungen dem Sünder erteilt werden. Erfolgt dann noch immer keine Besserung, können je nach Schwere des Verstoßes Geldstrafen von 0,2 Prozent bis zu 0,5 Prozent des BIP des betroffenen Landes verhängt werden. Gemäß Artikel 104 des EU-Vertrages kann der EU-Ministerrat von Haushaltssündern auch verlangen, dass sie eine unverzinsliche Einlage in «angemessener Höhe» in Brüssel hinterlegen, bis das übermäßige Defizit korrigiert ist. Auch kann ein Staat aufgefordert werden, vor der Ausgabe von Schuldverschreibungen und sonstiger Wertpapiere zusätzliche Angaben zu veröffentlichen. Zudem kann die Europäische Investitionsbank ersucht werden, ihre Darlehenspolitik gegenüber einem Land zu überprüfen. Abb. 10.5/ 24: Mehrwertsteuer und Stabilität <?page no="389"?> Eine strikte Auslegung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakte würde spätestens Ende 2004 die Verhängung von Sanktionen erfordern (Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2003), es sei denn, die Verschuldungskriterien würden nach dreimaligem Verfehlen eingehalten, wie es die EU-Kommission Deutschland für 2005 auferlegt hat. Der SVR empfiehlt, diese Sanktionen zu akzeptieren, um den «sinnvollen und notwendigen» Pakt nicht noch weiter zu beschädigen. Dies ist der eine Aspekt. Der andere ist, daß eine anhaltende Verletzung der Vertragsbedingungen es Deutschland unmöglich gemacht hätte, andere Länder zu kritisieren, wenn diese es mit der Vertragstreue auch nicht mehr so genau nehmen sollten. «Man muß sich an die Verfahrensregeln nicht mehr halten, wenn sie einem nicht passen,» sagten Kommentatoren, als der EU-Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (Ecofin-Rat) Ende November 2003 - unter Missachtung der Regeln des Stabilitätspakt - den Defizitprozeß gegen Deutschland und Frankreich ‹aussetzten›, d.h. trotz des Bruchs der finanzpolitischen Disziplin keine Auflagen machten oder gar Sanktionen androhten. Viele Beobachter hatten den Stabilitätspakt daher schon «für tot erklärt» (Hans We rn er Sin n, Pr äsi dent des Ifo-Instituts) (Abb. 10.5/ 25 ), andere sahen (und sehen) ihn zumindest «auf der Intensivstation» (FAZ 27.11.03). «Unbestritten aber wurden die Regeln des Pakts gröblich verletzt» (Otmar Issing, EZB-Direktorium), und es steht zu befürchten, daß die vereinbarten Regeln des Paktes, welche die Stabilität der Gemeinschaftswährung Euro sichern sollen, von politisch dominierten Überlegungen abgelöst werden. Aus Kreisen der neuen EU-Länder war auch früher schon zu hören, daß man erwäge, die Maastricht-Kriterien zu unterlaufen und den Euro einseitig einzuführen. Um den Pakt zu retten (wenn er denn zu retten ist bzw. gerettet werde n sollte), d.h. um eine «Revolution» durch Änderung der Regeln zu vermeiden, wird nach Möglichkeiten einer «Evolution» geh ld 10.5. Staatsverschuldung 359 Abb. 10.5/ 25: «Instabilitätspakt» - <3/ 7 ,37L7I1"57 6CI <FI.J"- *9.003HH"I 6CI L37 &3IGHN4"6GH% F/ L &B4IF/ 5HJ.13G32' >7I13/ F/ L +"I3H HGCID7/ )G"P313GBGHJ"2G 3/ L37 9I3H7 *: "/ L71HP1"GG MA# OO#! K' - 8"/ 56I3HG357I )N4"L7/ 6CI L7/ <FI.- *)CLL7FGHN47 $73GF/ 5 MA# OO#! K' - =7I )G"P313GBGHJ"2G 3HG G.G- *&3IGHN4"6GHE.N47 OO# OM# M! ! K' - (.G7/ 5IBP7I L7H +"2GH- % - =F. 3/ 67I/ "17- *; ? $ M@# OO#! K DF =7FGHN41"/ L F/ L ; I"/ 2I73N4' <?page no="390"?> l k 360 10. Finanzpolitik sucht, zumal eine Änderung der Maastricht-Kriterien nur im Rahmen einer Regierungskonferenz einstimmig erfolgen könnte. Dies dürfte sich tendenziell dahingehend auswirken, daß der Betrachtungshorizont für die Stabilitätskriterien mehr mittelfristig als jährlich interpretiert wird. Problematisch ist gegenwärtig, daß Sünder und potentielle Sünder über sich selbst urteilen. 10.5.4.5. Wie man einen Staatshaushalt saniert 43 (1) Traditionelles Konzept Wenn man Deutschland mit anderen Ländern vergleicht, sind die Rahmenbedingungen für eine Sanierung des Staatshaushaltes gar nicht so ungünstig: • es gibt ein (wenngleich moderates) Wirtschaftswachstum, • derzeit ist das Zinsniveau niedrig, • der politische Wille zur Konsolidierung ist in der schwarz-roten Großen Koalition (zumindest im Ansatz) vorhanden. Zwölf OECD-Länder 44 haben das Kunststück geschafft, die Staatsfinanzen mindestens zwei Jahre in Folge zu verbessern und das Ergebnis drei weitere Jahre zu halten. Verbessern heißt, dass der um Zinsausgaben bereinige Haushaltsdefizit gesunken bzw. ein Überschuss gestiegen ist, ferner dass der Schuldenstand in Prozent des BIP in Überschussländern gesunken und in Defizitländer stabil geblieben ist. Die erfolgreichen Sanierungsländer sind durchaus heterogen, teil konservativ, teils liberal, teils sozialdemokratisch orientiert. Die wesentliche Erkenntnis ist, dass es vorrangig nicht um eine Erhöhung der Staatseinnahmen geht, sondern um eine Senkung der Ausgaben; hier ist Nachhaltigkeit wahrscheinlicher. Die Ausgabendrosselung wurde erreicht z.B. durch Abschaffung der Indexierung von Ausgaben, also durch eine Abkopplung von der Inflation (z.B. bei Zahlungen). Zudem wurde der Bezug von Sozialleistungen erschwert bzw. begrenzt, und Personalkosten wurden Über Nullrunden und Abbau von Zuschlägen und Sonderzahlungen gesenkt. Hinzu kamen Verwaltungsreformen, Straffung des Haushaltszyklus, Stärkung der Position des Finanzministers, Erhöhung der Ver- 43 Der Abschnitt basiert auf einem Beitrag in der FAZ vom 16.10.06 über eine Studie von Uwe Wagschal, die von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht wurde. 44 Australien, Belgien, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Irland, Island, Italien (! ), Kanada, Neuseeland, Schweden, Spanien. In den USA und Österreich waren die Erfolge zu kurzlebig. <?page no="391"?> bindlichkeit der mittelfristigen Finanzplanung, allgemein vorsichtige Planungsannahmen bezüglich Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen (was ich kluges management of expectations nenne), Subventionsstreichungen und Kürzungen der Ausgaben für die Verteidigung und öffentliche Sicherheit. Schwierig war es in allen Ländern, die Kosten der Gesundheitsausgaben zu drosseln (Abb. 10.5/ 26). Steigende Einnahmen unterstützen den Ausgabenkürzungseffekt - logisch. Einnahmesteigerungen bedingen nicht zwingend Steuererhöhungen, sondern können auch aus Privatisierungserlösen stammen. Zusätzliche Einnahmen sollten zur Schuldentilgung verwendet werden. Günstig ist, eine Konsolidierung unmittelbar nach einem Regierungswechsel zu versuchen, weil dies in der Öffentlichkeit eher Unterstützung findet. Zudem kann die Regierung dann wahrscheinlich die Früchte ihrer Politik noch selber ernten und vom Wähler bestätigt werden (Belgien, Dänemark, Island, Niederlande, Norwegen, Schweden, Spanien). Die Regierung sollte öffentlich klare Ziele setzen und transparent argumentieren. Große Koalitionen können weniger blockiert werden als knappe Mehrheiten. Einige Erfolgsländern haben günstige Rahmenbedingungen genutzt: das Ende des Kalten Krieges («Friedensdividende»), die Europäische Währungsunion, sinkende Zinsen und Wirtschaftswachstum. Nach erfolgreicher Sanierung ist das Beschäftigungsniveau höher als im OECD-Durchschnitt, die Arbeitslosigkeit entwickelt sich günstiger, das Wirtschaftswachstum ist von Anfang an höher; durch bessere Ratings sinken die Zinskosten. Na dann… Abb. 10.5/ 26: Konsolidierungsmaßnahmen Konsolidierungsprofil -282$#5>/ 5; G>75; 2>2 / 6> (6>86)*7*5; 2>28. 2>7 '*! ,5.(6>86)*7*5; 2>28)G>75; > *> &; 6I5>5 34 C1EQQE 1O. 544D=R0N4Q4BEC >/ E 84B30@4Q 1O. 5EN4B 8EO.EQ214BE4& 94DNQB4E=0@E )1.BE2RNO3NQ=.=E41OBEO =P =O2E4O42=NO4QEO ; E4BQE=0@ ("DE#H! ##K'& 5-2E43QN@ ! ##I (0NP *12N4 E4BLO.2' 7$*$6$%544D=R 3E1P4OO "' )E.NBEO 41D "G +9? <%/ LO.E4 ./ =30@EO "DD# 1O. ! ##! , *13B42EO2E4E=0@E 3N42=E42 O40@ =@4EO *O2E=QEO 4P )4122N=OQ4O.354N.1R2$ ! ' ": RNO3NQ=.=E4EO.E / LO.E4C )EQB=EO& <LOEP44R& 7=OOQ4O.& 54NF24=24OO=EO& 14Q4O.& 13Q4O.& 124Q=EO& -E13EEQ4O.& -=E.E4Q4O.E& -N4/ EBEO& J32E44E=0@& A0@/ E.EO& ; E4E=O=B2E A2442EO$ + 13+ 1 0+ 1 / + E3+ E0+ Gesamtausgaben %6I*$)58 -))25A5*>5 "223>5(*! ,3 %3; J#(52>0 )382>5,3*58J383> +*(52>08J383> $*; 58! ,#25(*! ,3 ->03(303>,3*53> %3; 53*5*02>0. "223>5(*! ,3 '; 5>2>0 2>5 &*! ,3; ,3*5 &4>85*038 Nic Nic DD FFr FFrr LLLL PPoo PPPPoorr DD KKKKKKKKKonsolidie oonsolidie oo KKKKKKooooons nso solidie rreee rreerrrrr / / / 1 / 1 Nicht-Konsolidierer: Deutschland Frankreich Luxemburg Portugal Deutschland Konsolidierer / 1 h ld 10.5. Staatsverschuldung 361 <?page no="392"?> l k 362 10. Finanzpolitik (2) Zu bieder? OK, Beispiel Argentinien: 2002 versank Argentinien im Chaos - Plünderungen, Aufruhr, weil die Regierung die Bankkonten eingefroren hatte; der Staatspräsident musste mit dem Hubschrauber fliehen. Heute wächst das BIP wieder mit «chinesischen» Raten von real 9%, Staatshaushalt und Leistungsbilanz weisen satte Überschüsse auf. Wie geht so was? Sind die Schulden einmal hoch genug, ist es egal, dann sind sie nicht das Problem des Schuldners, sondern der Gläubiger. Durch eine enorme Abwertung waren die in Dollar notierten Staatsschulden 2002 über Nacht verdreifacht worden. Aber egal, bedient wurden sie sowieso nicht. Die Regierung erklärte offiziell den Staatsbankrott und bezahlte drei Jahre lang weder Zinsen noch Tilgungen (man nennt das vornehm ein «Moratorium»). Danach wurde den Gläubigern abgeboten, auf drei Viertel ihrer Forderungen zu verzichten - oder sie erhielten gar nichts. Da das Land über hohe Devisenbestände verfügte, konnten Konsum und Investitionen bequem finanziert werden, sehr häufig bar. Langsam trauten sich auch wieder ausländische Investoren nach Argentinien, um an dem sich eigenartigerweise ergebendem Aufschwung teilzuhaben. Glück im Unglück für Argentinien: Die internationalen Zinsen sanken, die Preise für argentinische Exportrohstoffe stiegen wegen des Booms in Asien. Exportsteuern bescherten der Regierung gewaltige Steuereinnahmen, aus denen Sozialprogramme finanziert wurden. Gleichzeitig wurden die Preise verschiedener Güter eingefroren (Strom, Gas, Wasser, Telefon) - dass die betreffenden Unternehmen in (ausländischem) Privatbesitz waren, störte die argentinische Regierung nicht. Entsprechend niedrig waren die argentinischen Inlandspreise, was den Export weiter ankurbelte. Aber das Rad dreht sich weiter: Schon muss die Regierung der Aufwertung des Peso durch Dollarkäufe entgegenwirken (vgl. Kapitel 12, wie man das macht); dies bläht die Geldmange auf und führt zu Inflation. Also greift die Regierung mit Preisstopps in die Preisbildung vieler Güter ein. Unternehmen, die nicht parieren, werden mit Sanktionen belegt (Exportverbot, Sondersteuern, Boykottaufrufe); dies bremst die Investitionslust. Die Kapazitätsreserven der Industrie sind ausgelastet, auch dies bedeutet Preisauftrieb, denn zuviel Geld fließt in Immobilien und nicht in Anlagen und Maschinen. Die Energieversorgung ist daher labil. Mal sehen, wie lange das gut geht… <?page no="393"?> 11.1. l Ziele dder ld l k Geldpolitik 363 11. Geldpolitik 11.1. Aufgaben und Struktur des ESZB Die Geldpolitik betrifft den einzelnen in vielfacher Weise. Die Preisstabilität - oder negativ: Inflation - wirkt sich auf die Kaufkraft des laufenden Einkommens aus und auf den Substanzwert von Geld- und Sachvermögen. Ein wichtiger Faktor sind die Zinsen, die sich sowohl auf der Seite der Kapitalanlagen als auch der Kreditaufnahmen auf das eigene Portemonnaie auswirken, und zwar sowohl direkt als auch indirekt über Zinswirkungen, die in die Preise der Güter ‹hineinkalkuliert› sind. Seit dem 1. Januar 1999 haben 14 Mitgliedstaaten der EU den Euro als gemeinsame Währung eingeführt (hinzu kommen sehr viele andere Länder, in denen gleichfalls der Euro offizielles Zahlungsmittel ist; vgl. Kapitel 12). Damit haben sie auf ihre nationale monetäre Souveränität verzichtet. Die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt ist zuständig für die Geldpolitik im Euro-Raum. Sie steht an der Spitze des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) 45 . Die Rolle der Deutschen Bundesbank hat sich entsprechend drastisch verändert. 11.1.1. EZB und Bundesbank Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) umfaßt neben der Europäischen Zentralbank selbst (EZB) die Zentralbanken aller 15 Mitgliedsstaaten der EU, d.h. auch die der drei Länder - Dänemark, Großbritannien und Schweden -, die (noch) nicht der eigentlichen Währungsunion angehören. An den Entscheidungs- und Durchführungsorganen der EZB sind allerdings nur die 14 Euro-Staaten beteiligt. Erster Präsident der EZB war der (mittlerweile verstorbene) Niederländer Wim Duisenberg, dessen imposantes Silberhaar bei jedem Pressetermin ins Auge stach. Das eigentliche Entscheidungsgremium der EZB ist der Europäische Zentralbankrat, der sich aus dem sechsköpfigen Direktorium und den Präsidenten der an der Währungsunion teilnehmenden nationalen Zentralbanken zusammensetzt (Abb. 11/ 1). Jede nationale Zentralbank hat im EZB-Rat eine Stimme. Dies mag sehr technisch klingen, verdeutlicht aber die breite institutionelle Basis, auf welcher geldpolitische Beschlüsse ge- 45 Gelegentlich findet man die (falsche) Abkürzung EZBS: Europäisches Zentralbanken-System. <?page no="394"?> 364 11. ld l k Geldpolitik faßt werden. Kritiker monieren, dass es bei der Besetzung der EZB- Stellen «nationale Erbhöfe» gäbe, wobei die Nationalität wichtiger sei als die fachliche Qualifikation Die Deutsche Bundesbank ist integraler Bestandteil des ESZB. Sie ist - wie alle anderen nationalen Zentralbanken in ihren Ländern - für die Umsetzung der geldpolitischen Beschlüsse der EZB in Deutschland verantwortlich. Die Bundesbank wird von einem achtköpfigen Direktorium geleitet und unterstützt die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung nur insoweit, wie dies unter Wahrung ihrer Aufgaben im ESZB möglich ist: Primäre Aufgabe ist die Wahrung der Preisstabilität. Die Mitglieder des Direktoriums der Bundesbank werden vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt. Die Präsidenten der neun Hauptverwaltungen (früher: Landeszentralbanken) werden ebenfalls vom Bundespräsidenten ernannt - allerdings auf Vorschlag des Bundesrates, so dass Bund und Länder beteiligt sind. Darüber hinaus existieren eine Viel- Abb. 11/ 1: EZB und europäische Institutionen #"! $ ,&65A"O/ 6< #46(4380 "*%)S6458"(2459&OS4SQ #458"O; 554 "3% 3&99S55S&8 "3%1(6O(9484 Direktorium 1 Präsident 1 Vizepräsident 4 weitere Mitglieder Präsidenten der nationalen Zentralbanken $3558"O355 646 .40S&848 "*%,4((448 "9924"O38048 3&853O4(4S&8 3&&66S8(4S&8 2'6646(OS54S58" 38(: "+80S0 Q4S84 ! S8(8-S46380 / &8 5(35"(O45642S-S448 Q4S84 )4S53805% 9'0OS8"Q4S448 "S82O3558("94 74O6% 9&OS4SQ Nationale Notenbanken EZB Ministerrat der EU Europäischer Zentralbankrat nach Stierand, Hordt W., Geldpolitik im Europäischen System der Zentralbanken, Darmstadt 2000 <?page no="395"?> 11.1. l Ziele dder ld l k Geldpolitik 365 zahl (61) sog. Filialen. Diese breite dezentrale Struktur gewährleistet, dass geldpolitische Maßnahmen der EZB ohne Verzögerung auf die gesamte Bundesrepublik ausstrahlen. Die EU-Länder geben etwas dreimal soviel für ihre Notenbanken aus wie die USA (Abb. 11/ 2). Diese Betriebskosten schmälern die Gewinne, die an die Regierungen ausgeschüttet werden. Der EZB wird durch den Vertrag von Maastricht von 1992 als Hauptziel die Gewährleistung von Preisstabilität vorgegeben; auf die genaue Definition sind wir bereits im Kapitel 4 eingegangen. Zu beachten ist, dass sich die EZB an einer durchschnittlichen Inflationsrate des gesamten EU-Raums orientiert. Davon zu unterscheiden ist die nationale Preisstabilität in den jeweiligen Mitgliedsstaaten. Beispielsweise lag die deutsche Inflationsrate im Dezember 2006 bei 1,5 %, während für den Euroraum 1,8 % ausgewiesen wurden. Die nationale Preisstabilität ist eines der Stabilitätskriterien nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von Dublin (1996), welche die Mitglieder der Europäischen Währungsunion («Euroland») einhalten müssen. Nur insoweit das Ziel der Preisstabilität nicht beeinträchtigt wird, unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU. Andere Ziele wie Beschäftigungsförderung oder Finanzstabilität haben damit den Rang von Nebenzielen: Bei Zielkonflikten hat die Preisstabilität Vorrang (die US-amerikanische Notenbank - Federal Reserve Bank; FED - ist hingegen auf die Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung verpflichtet). Im Ministerrat der EU diskutiert, das Ziel der Preisstabilität explizit in den Zielkatalog des Art. 3 der (zunächst gescheiterten) Verfassung der EU aufzunehmen und nicht nur im Zusammenhang mit dem ESZB zu erwähnen, aber hier gibt es starke Vorbehalte. Zudem tritt die EZB dafür ein, dass sie als Teil des insti- Abb. 11/ 2: Teure Notenbanken Personalstärke der Notenbanken USA 22 160 Frankreich 15 628 Deutschland 13 619 Italien 8 085 Japan 5 069 Großbritannien 1 908 EZB 1 300 Schweiz 608 <?page no="396"?> 366 11. ld l k Geldpolitik tutionellen Rahmens der EU definiert wird, obgleich sie kein Organ der EU ist. Tendenziell besteht jedoch die Gefahr, dass Preisstabilität zu einem lediglich technischen Ziel der EZB herabgestuft wird, dessen hochpolitische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft in den Hintergrund träte. Gegenwärtig liegt die Verfassungsdebatte zunächst auf Eis, nachdem ein EU-Gipfel Mitte Dezember 2003 konsenslos an der Frage der Stimmrechte in der EU scheiterte. Die EZB verfolgt eine «Zwei-Säulen-Strategie». Damit meint man, dass sie zum einen - Säule 1 - die Geldmengenentwicklung und die Kreditvergabe des Bankensystems analysiert und beeinflusst. In diesem Zusammenhang orientiert sie sich an einem Zielwert für das Wachstum der Geldmenge M3 (hierzu weiter unten). Zum anderen - Säule 2 - analysiert die EZB die nicht-monetären Inflationsindikatoren (u.a. Konjunktur, Nachfrage, Produktion etc.) bezüglich ihrer Wirkungen auf Inflation und Wachstum. Zentrales Instrument der Geldpolitik der EZB ist der sog. Leitzins (den wir noch präzisieren werden), der auf die Signale der beiden Säulen reagieren soll (Abb. 11/ 3). Abb. 11/ 3: Zinsentscheidungen ab)$<bFB P)F&' abF)BBANL)&)A<A OP#*@NA Ab)DDA .F&Hdf&)A)BJ,F O"ABJ,F)H@". N@D.b@"H F)"Fb cFBN$ALF>FbA@". HFb @)B)(F" D.b H)F abF)BBANL)&)A<A >)bABJ,NDA&)J,F %"N&1BF $f"FA<bF %"N&1BF %"N&1BF ? f" ? J,fJ(B @"H >)bABJ,NDA&)J,Fb ! 1"N$)( %"N&1BF $f"FA<bFb >bF"HB %L.&F)J, HFb Ob.FL")BBF ! NAF" )"B.FBN$A <?page no="397"?> 11.1. l Ziele dder ld l k Geldpolitik 367 Die EZB ist bei der Ausfüllung und Umsetzung ihres Mandats in ihrem geldpolitischen Handeln völlig autonom und unterliegt keinerlei Weisungen anderer Institutionen der EU oder nationaler Regierung (was gelegentlich bezweifelt wird, auch hierzu weiter unten). Die starke, unabhängige Stellung der EZB wurde vor allem aufgrund negativer Erfahrungen mit politisch stärker eingebundenen Zentralbanken geschaffen. Die historische Erfahrung zeigt, dass politisch abhängige Zentralbanken häufig von Regierungen dazu mißbraucht wurden, um durch eine «lockere» Geldpolitik die Finanzierung öffentlicher Haushalte zu erleichtern (extrem: «Gelddrucken»). Dies führte regelmäßig zu hohen Inflationsraten, in verschiedenen Fällen sogar zu Hyperinflationen, in denen das «offizielle» Geld, wie z.B. in Deutschland 1923 oder vor der Währungsreform 1948, seine Funktion als Zahlungsmittel verlor. Daher ist es als bedenklich anzusehen, dass der Entwurf der EU-Verfassung die bisher erforderliche Einstimmigkeit im Ministerrat der EU bezüglich Änderungen der EZB-Satzung in eine qualifizierte Mehrheit (von rund 70 %) verringern wollte, und ab 2009 wäre sogar eine einfache Mehrheit denkbar gewesen (Abb. 11/ 4). Wie gesagt, zur Zeit ist der Verfassungsprozess blockiert. Nur die EZB ist berechtigt, Banknoten als gesetzliches Zahlungsmittel in der Europäischen Währungsunion auszugeben bzw. deren Ausgabe durch die nationalen Zentralbanken zu genehmigen - ebenso wie die von Münzen. Als Bank der Banken stellt die EZB die Geld- und Kreditversorgung der Wirtschaft sicher und dient insbesondere den Geschäftsbanken als Refinanzierungsquelle. Als Währungsbank ist die EZB für die Verwaltung der Währungsreserven der Euro-Mitgliedsstaaten verantwortlich. Dabei wurde ein Teil der Währungsreserven von den Mitgliedsstaaten direkt der EZB übertragen, ein anderer Teil verblieb in der Obhut der nationalen Zentralbanken. Allerdings können weder die nationalen Zentralbanken noch die Abb. 11/ 4: Zielorientierung der EZB ( & * % 0 ' / ! & & $ + . # 0 ' 0 , + / ! $ - % ( , + . ' , / / 0 , + " , 0 ( # ) * ' ! % " $ + . ! 2./ $$*&%./ -*0#(1 $'( ,*& 3*($&2)02(+ "#& 4')-$-+ " ! ., 2),.))&70.1.&#& $.)/ / -*70)-('&+'" <?page no="398"?> 368 11. ld l k Geldpolitik nationalen Regierungen über «ihre» Währungsreserven in größerem Umfang ohne Einwilligung der EZB verfügen. Die nationalen Zentralbanken dienen darüber hinaus noch als Banken des Staates, d.h. sie führen Konten für Gebietskörperschaften und unterstützen diese bei der Abwicklung von Bankgeschäften. Es ist jedoch allen Zentralbanken untersagt, staatlichen Stellen irgendwelche Kredite (inkl. kurzfristiger Überziehungskredite) zu gewähren (im Unterschied zur Zeit vor der Euro-Währungsunion). Die EZB übernimmt eine Reihe wichtiger technischer und Beratungsaufgaben. So ist sie prinzipiell zu allen geld- und währungspolitischen Vorhaben der EU anzuhören und kann bzw. muss dazu Stellungnahmen und Empfehlungen abgeben. Ferner vertritt sie die Währungsunion nach außen in internationalen Wirtschafts- und Finanzgremien. Sie überwacht über die nationalen Zentralbanken den reibungslosen Zahlungsverkehr zwischen den Kreditinstituten und wirkt an der Bankenaufsicht im «Euro-Land» mit. Für Deutschland bedeutet dies, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) (sie heißt tatsächlich so…) in Berlin auf die «Amtshilfe» der Bundesbank zurückgreifen kann. Die Geldpolitik der EZB wird von einem EZB-Schattenrat beobachtet und diskutiert (nicht verwechseln mit dem EZB-Rat! ). Der Schattenrat setzt sich aus 18 hochkarätigen internationalen Fachleuten der Geldpolitik zusammen. Zwischen diesen ist die sog, Zwei- Säulen-Theorie durchaus umstritten. Während die Experten aus Deutschland und Österreich der Geldmengensteuerung großes Gewicht beimessen, vertritt eine große Mehrheit die Auffassung, dass eine Zentralbank sich nicht gleichzeitig an zwei - möglicherweise widersprüchlichen - Indikatoren orientieren könne. Vielmehr sei allein die Inflationsrate eine geeignetere Orientierungsgröße (direkte Inflationssteuerung; inflation targeting ), so u.a. die Bank von England. Dies wiederum wird von der Gegenseite als zu unsicher betrachtet, weil die Inflationsrate nur notorisch unzuverlässig vorherzusagen ist und somit ein schlechter Indikator sei. Tendenziell tritt die Geldmengensteuerung mehr in den Hintergrund, obgleich die Bank von England selbst einen Aufsatz veröffentlichte mit dem Titel: «No money, no inflation» (FAZ 3.10.2003). Faktisch steht die Geldmengensteuerung mehr für eine mittelfristige Perspektive, vor allem in Zeiten niedriger Inflation, während die Steuerung über die Leitzinsen dann als kurzfristige Feinsteuerung anzusehen ist. Zieht die Inflation an, wird plötzlich auch wieder die Geldmenge interessant. Wir kommen darauf ausführlich zurück. <?page no="399"?> Exkurs Geldpolitische Fachtagungen - wie vor kurzem die Züricher Jahrestagung des sehr renommierten Vereins für Socialpolitik, dem anzugehören ich die Ehre habe - zeigen jedoch, dass das Forschungsinteresse sich immer mehr theoretischen Fragen mit hoher mathematischer Formalisierung zuwendet (nebenbei: nicht nur in der Geldpolitik und Geldtheorie, sondern in fast allen volkswirtschaftlichen Disziplinen). Der Praxisbezug bleibt dabei in sehr vielen Fällen gering; mit der Politik wird so keine gemeinsame Sprache gefunden. Dieser Rückzug in die mathematisierte sog. reine Theorie hat fatale Folgen: «Die Politikberatung ist heute ein Tummelfeld von Schwätzern» (Kommentar von Axel Börsch-Supan, Universität Mannheim, zu eben dieser Fachtagung; FAZ 3.10.2003). 46 11.1.2. Geschäftsbankensystem Das Geschäftsbankensystem hat sich in den Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion historisch unterschiedlich entwickelt. Aufgrund der jetzt einheitlichen Geldverfassung sowie der zunehmenden, EU-weiten Bankfusionen ist aber zu erwarten, dass sich in den kommenden Jahren diese Unterschiede stark verringern werden. In Deutschland unterscheidet man bei den Geschäftsbanken zwischen Universalbanken und Spezialbanken. Während Universalbanken eine breite Palette an Bank«produkten» anbieten, führen Spezialbanken - wie z.B. Hypothekenbanken, Teilzahlungskreditinstitute und Bausparkassen - nur bestimmte Bankgeschäfte durch. Während der letzten Jahre haben sich jedoch die Unterschiede zunehmend verwischt. Insbesondere die Großbanken sind dazu übergegangen, Spezialgeschäfte entweder selber direkt anzubieten oder eigene Tochterinstitute damit zu beauftragen. Gemäß der Eigentümerstruktur lassen sich die Geschäftsbanken außerdem in private Kreditinstitute, in öffentlich-rechtlichem Eigentum befindliche Sparkassen und Landesbanken sowie in Genossenschaftsbanken (Volksbanken und Raiffeisenkassen) unterscheiden. 11.2. Geldmenge und Geldschöpfung Wir haben eingangs bereits davon gesprochen, dass die Zentralbank bei ihren geldpolitischen Entscheidungen zur Wahrung der Preisstabilität die Entwicklung der Geldmenge im Visier hat. Daher werden 46 Sollten Sie Zugriff haben auf mein Lehrbuch «Volkswirtschaftslehre» (UTB 1504, Stuttgart 2003), so finden Sie darin einen einschlägigen Beitrag auf den Seiten 398 ff. 11.2. ld Geldmenge d und ld h f Geldschöpfung 369 <?page no="400"?> 370 11. ld l k Geldpolitik wir uns dieser wichtigen volkswirtschaftlichen Größe einmal ausführlicher widmen. 11.2.1. Geldentstehung In modernen Volkswirtschaften kann Geld im Sinne von Zahlungsmitteln sowohl von der Zentralbank - im konkreten Fall der Europäischen Währungsunion von der EZB bzw. in ihrem Auftrag von den nationalen Zentralbanken - geschaffen werden. Zentralbankgeld entsteht immer dann, wenn die Zentralbank Finanzaktiva (z.B. Wertpapiere oder Devisen) aufkauft oder Kredite gewährt, also Geld in den Wirtschaftskreislauf außerhalb des Zentralbanksystems abgibt. Umgekehrt wird Zentralbankgeld immer dann «vernichtet», wenn die Zentralbank (Finanz-)Aktiva verkauft oder ihre Kreditvergabe einschränkt und dadurch Geld aus dem Wirtschaftskreislauf «absaugt». Geschäftspartner der Zentralbank können im Prinzip alle Wirtschaftssubjekte sein, d.h. staatliche Stellen, Geschäftsbanken, private Unternehmen sowie private Haushalte. In der geldpolitischen Praxis beschränken sich jedoch die entsprechenden Geschäfte der Zentralbank weitgehend auf Geschäfte mit Geschäftsbanken und anderen Zentralbanken. Staatliche Stellen führen zwar Konten im Zentralbankensystem, ihnen dürfen jedoch seitens der Zentralbank keinerlei Kredite gewährt werden; Sie erinnern sich. 11.2.1.1. Zentralbankgeld Zentralbankgeld kann die Form von Bargeld als auch von Sichtguthaben (Buchbzw. Giralgeld) bei der Zentralbank annehmen. Die genaue Abgrenzung der Zentralbankgeldmenge richtet sich nach konkreten geldpolitischen Erfordernissen und kann unterschiedlich vorgenommen werden; wir gehen weiter unten darauf ein. Ein Sonderaspekt ist mit der Münzherstellung verbunden. Solange das Volumen der Münzausgabe allein von der Zentralbank kontrolliert wird, ist es geldpolitisch - vor allem mit Blick auf mögliche inflationäre Tendenzen - völlig unerheblich, ob die Herstellung der Münzen direkt in den Händen der Zentralbank liegt oder durch andere staatliche Stellen erfolgt. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen halten jedoch die Regierungen vieler Staaten an ihrem historisch überkommenen Recht fest, selber Münzen zu prägen (Münzregal). Die Produktionskosten der Münzen liegen in der Regel weit unter den jeweils aufgeprägten Nennwerten («Scheidemünzen»). Bringt nun die Zentralbank diese <?page no="401"?> Münzen entsprechend ihren geldpolitischen Erfordernissen in Umlauf, schreibt sie der Regierung den Gegenwert auf deren Sichtkonto bei der Zentralbank gut, und die Regierung kann aus der Differenz zwischen Prägekosten und Nennwert einen beträchtlichen Münzgewinn («Seigniorage») erzielen. In Deutschland steht das Recht, Münzen zu prägen, dem Bund bzw. der Bundesregierung zu. Auf diese Weise fließen jährlich regelmäßig mehrere hundert Millionen Euro als zusätzliche Einnahmen in den Bundeshaushalt - in Zeiten leerer Staatskassen sicherlich nicht unwillkommen. Gemäß dem Maastrichter Vertrag haben die Euro-Mitgliedsstaaten auch weiterhin das Recht, Münzen zu prägen. Die Münzausgabe erfolgt nach Genehmigung und mit Hilfe der EZB. 11.2.1.2. Geschäftsbankengeld Unter Geschäftsbankengeld werden Sichteinlagen bei Geschäftsbanken verstanden, mit denen Nicht-Banken Zahlungen leisten können. Diese Sichteinlagen können auf zweierlei Art entstehen. Zahlt ein Kunde A z.B. 1000,- Euro bar bei seiner Geschäftsbank G ein, erhält er im Gegenzug als Gutschrift auf seinem Girokonto eine Forderung gegenüber der Bank, über die er jederzeit verfügen kann (passive Geldschöpfung). Zu beachten ist, dass sich in diesem Fall die Geldmenge, über die A verfügen kann, nicht verändert hat: Der Verringerung an Bargeld in Höhe von 1000,- Euro steht ein Anstieg der Sichtguthaben in derselben Höhe gegenüber. Es wurde lediglich Zentralbankgeld in Geschäftsbankengeld umgewandelt. Gleiches ist der Fall, wenn A diese 1000,- Euro von seinem Konto auf das Konto eines Kunden B - sei es bei der gleichen Bank G oder sei es bei einer anderen Bank H - überweist. Die gesamte Geldmenge des Nicht- Bankensektors (A und B) hat sich dadurch nicht verändert. Auch die Menge des Geschäftsbankengeldes blieb gleich. Es fand lediglich eine Umverteilung zugunsten von B statt. Anders verhält es sich bei der aktiven Geldschöpfung durch die Geschäftsbanken. Aktiv können sie Geld schaffen, indem sie entweder (Finanz-)Aktiva von Nicht-Banken ankaufen oder diesen Kredit gewähren. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Kunde A verkauft seiner Geschäftsbank G Wertpapiere (z.B. Aktien) in Höhe von 1000,- Euro. Diesen Betrag schreibt die Bank seinem Konto gut. Oder die Bank gewährt A einen Kredit über 1000,- Euro. Auch dieser Betrag würde dem Konto des A gut geschrieben. In beiden Fällen verfügt A über zusätzliche Zahlungsmittel in Höhe von 1000,- Euro, die er z.B. zur Begleichung einer Rechnung benutzen und sie auf das Konto des B bei der gleichen Bank G oder einer anderen Bank H überweisen 11.2. ld Geldmenge d und ld h f Geldschöpfung 371 <?page no="402"?> 372 11. ld l k Geldpolitik kann. Läßt B diesen Betrag zunächst ungenutzt auf seinem Konto liegen, so kann die Geschäftsbank G (oder H) den Betrag für ein neues Kreditgeschäft mit dem Kunden C verwenden, der es wiederum an einen Kunden D überweist. Es scheint zunächst so, als ob auf diese Weise das Geschäftsbankengeld ins Unendliche anwachsen kann. Dem Geldschöpfungsprozess durch die Geschäftsbanken sind jedoch Grenzen gesetzt. Erstens werden die Bankkunden in der Regel einen Teil des ihnen gewährten Kredits direkt abziehen. Zweitens muss jede Geschäftsbank damit rechnen, dass Kunden ihre Sichteinlagen ganz oder teilweise ausbezahlt haben möchten. Für diesen Fall muss sie daher eine Barreserve anlegen bzw. zurückhalten. In vielen Staaten, so wie früher in Deutschland oder jetzt in der Europäischen Währungsunion, werden die Geschäftsbanken - drittens - von der Zentralbank dazu verpflichtet, eine bestimmte (verzinsliche) Mindestreserve bei der Zentralbank zu hinterlegen. Der Bargeldbedarf der Nicht-Banken, die Barreserve bei den Geschäftsbanken und das Halten von Mindestreserven bei der Zentralbank schränken den Geldschöpfungsprozess der Geschäftsbanken ein. Er kommt zu seinem Ende, wenn das gesamte von der Zentralbank zur Verfügung gestellte Zentralbankgeld als Bargeld bei den Nicht-Banken, als Barreserven bei den Geschäftsbanken oder als Mindestreserven bei der Zentralbank «gebunden» ist. Ein erneuter Geldschöpfungsprozess der Geschäftsbanken ist dann nur möglich, wenn zuvor die Zentralbank neues Zentralbankgeld zur Verfügung gestellt hat. Wichtigster Unterschied zwischen der Geldschöpfung durch die Zentralbank und die Geschäftsbanken ist somit, dass die Zentralbank unbegrenzt, die Geschäftsbanken hingegen nur begrenzt Geld «schöpfen» können. Die Geldschöpfungskapazität der Geschäftsbanken ist dabei vom Volumen der Zentralbankgeldmenge abhängig. Hierbei spielt das Instrument der Mindestreserve eine wichtige Rolle. 11.2.2. Geldschöpfungsmultiplikator Betrachten wir ein Beispiel. Ein Lottogewinner zahlt 500.000 Euro bei seiner Bank A ein. Von dieser Einlage muss die Bank eine Mindestreserve von 2 % an die Europäische Zentralbank abführen. Den verbleibenden Betrag von 490.000 (Überschußreserve) zahlt die Bank als Investitionskredit an einen Unternehmer aus, der damit Maschinen kauft. Der Maschinenhersteller zahlt die verdienten 490.000 bei seiner Bank B ein, die davon wiederum 2 % an die EZB als Mindestreserve <?page no="403"?> abführen muss (9.800). Den Rest vergibt die Bank B als Kredit an einen Privatmann, der sich davon eine Jacht kauft. Der Bootsbauer zahlt die erhaltenen 480.200 bei seiner Bank C ein, usw. Wenn man diesen Prozess gedanklich immer wiederholt, betrachten wir formal eine unendliche geometrische Reihe, bei der die einzelnen Summanden immer 2 % kleiner sind als die vorangehenden. Die Summenformel für eine unendliche geometrische Reihe lautet: (1) S n = a (1-q n ) 1-q wobei Sn die Gesamtsumme ist, a das erste Reihenglied (hier: 490.000) und q der Multiplikator (0,98, wegen 100 % - 2 % = 98 %). Bei einer unendlichen Reihe geht q n gegen Null, so dass sich der Ausdruck reduziert auf (2) S n = 1 1-q 1-q ist der Mindestreservesatz (1 - 0,98 = 0,02 # 2 %). Die maximale Kreditschöpfung (Geldschöpfung) läßt sich folglich bestimmen als (3) Kredit (max.) = 1. Überschußreserve Mindestreserve, in unserem Beispiel also (4) 490.000 = 24.500.000. 0,02 Aus einer anfänglichen Einlage von 500.000 Euro kann da Bankensystem somit bei einem Mindestreservesatz von 2 % unter gewissen heroischen Annahmen insgesamt maximal weitere 24 Millionen Euro an Krediten produzieren, so dass insgesamt das 48-fach der ursprünglichen Einlage nachfragewirksam werden kann. Aus Gleichung (4) dürfte ersichtlich sein, dass diese sog. Buch- oder Giralgeldschöpfung durch Veränderung des Mindestreservesatzes erhöht (durch Senkung) oder vermindert werden kann (durch Erhöhung des Mindestreservesatzes). Die Stillegung von Mindestreserven bei der Zentralbank ist ein sehr griffiges, aber auch sehr «grobes» Instrument zur Geldmengensteuerung. Die Feinsteuerung erfolgt daher durch einige andere 11.2. ld Geldmenge d und ld h f Geldschöpfung 373 <?page no="404"?> 374 11. ld l k Geldpolitik Instrumente, die wir in Abschnitt 5 betrachten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass es neben dem von der EZB kontrollierten (und anderen nationalen) Geldmärkten einen als Euro-Markt bezeichneten Geld- und Kapitalmarkt gibt, der keiner Kontrolle durch eine Zentralbank unterliegt und der folglich auch nicht über Mindestreservesätze beeinflusst werden kann. Die Teilnahme am Euromarkt ist allerdings nur großen Banken, Unternehmen und Institutionen mit einem entsprechenden erstklassigen Standing (rating) möglich. International wird seit langem diskutiert, die nationalen Mindestreserven abzuschaffen, um diese Wettbewerbsvorteile der Euromärkte zu neutralisieren. 11.2.3. Geldmengenkonzepte Bei der Unterscheidung zwischen Zentralbank- und Geschäftsbankengeld stehen Art und Umfang der Geldschöpfung im Vordergrund. Für geldpolitische Zwecke wird jedoch noch auf andere Geldmengenkonzepte zurückgegriffen, die darüber Auskunft geben sollen, über wieviel Geld der gesamte Nicht-Bankensektor tatsächlich verfügt und nachfragewirksam einsetzen kann. Generell ist dabei zu, bedenken, dass die übrigen Wirtschaftssubjekte nicht nur über Bargeld und Sichtguthaben verfügen, sondern in der Regel noch andere Finanzaktiva besitzen, die einen hohen Geldbzw. Liquiditätsgrad aufweisen, d.h. relativ schnell - und oft nur mit geringen Zusatzkosten verbunden - in Bargeld und/ oder Sichtguthaben umgewandelt und somit potentiell nachfragewirksam werden können; hierzu zählen Wertpapiere, Wechsel oder Devisen. Die verschiedenen Geldmengenkonzepte unterscheiden sich nun darin, inwieweit sie diese geldnahen Vermögenswerte («Quasi-Geld») bei der Berechnung der jeweiligen Geldmenge - «Geldmengenaggregate» - mit einbeziehen oder nicht. Im folgenden gehen wir ausführlich auf die Geldmengenkonzeption der EZB ein, da ihr für die konkrete Gestaltung der Geldpolitik im Euro-Raum eine besondere Bedeutung zukommt. Verglichen mit dem früheren Konzept der Bundesbank sind nicht nur einige begriffliche, sondern auch substantielle Neuerungen zu verzeichnen, auf die wir aber nicht eingehen. Ein kleiner Exkurs für geldpolitisch Interessierte: Zunächst differenziert die EZB zwischen dem Geldschöpfungsbzw. MFI-Sektor einerseits und dem Geldhaltungsbzw. Nicht-MFI- Sektor andererseits. MFI steht hierbei für «monetäre Finanzinstitute» und umfaßt die EZB selbst, die angeschlossenen nationalen Zentralbanken, alle im Euro-Gebiet ansässigen Kreditinstitute sowie andere Finanzinstitute <?page no="405"?> (inkl. Geldmarktfonds), die Verbindlichkeiten mit hohem Geldgrad an Nicht-MFIs ausgeben. Zu den Nicht-MFls gehören alle übrigen, ebenfalls in der Währungsunion ansässigen Wirtschaftseinheiten, d.h. alle privaten Haushalte, Unternehmen, Finanzinstitute (soweit sie nicht unter die MFI-Definition der EZB fallen), Sozialversicherungen sowie Gebietskörperschaften mit Ausnahme der Zentralregierungen (in Deutschland: Bund), also in Deutschland die Bundesländer und die Kommunen. Letztere gelten als «geldneutraler Sektor», da einerseits ihre kurzfristige Ausgabenpolitik nicht maßgeblich von den verfügbaren Geldbeständen abhängt und andererseits ihre Kreditvergabe an andere Wirtschaftssubjekte nicht kommerzieller Natur ist. Der Bargeldbestand, die Sichtguthaben und die geldnahen Forderungen der Zentralregierungen werden dementsprechend bei der Berechnung der Geldmengenaggregate nicht berücksichtigt. Hinzu gezählt werden allerdings geldnahe Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, die sich in den Händen der Nicht-MFis befinden (Staatsanleihen). Wie geldtheoretisch und geldpolitisch seit langem üblich, unterscheidet die EZB drei Geldmengenaggregate: Eine enge Geldmenge M1, eine mittlere M2 und eine weitgefasste M3. Zu M1 zählt der Bargeldbestand der Nicht-MFIs und die «täglich fälligen Einlagen» - im wesentlichen die «alten» Sichteinlagen -, die diese im MFI-Sektor halten. M2 umfaßt außer den M1-Komponenten noch Einlagen mit einer Laufzeit von bis zu 2.Jahren sowie Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungsfrist von bis zu 3 Monaten. Die «klassischen» Sparguthaben zählen demnach nicht mehr - wie früher bei der Bundesbank - zu M3, sondern werden von der EZB bereits in M2 erfaßt. Bei M3 kommen noch Schuldverschreibungen mit ursprünglichen Laufzeiten bis zu 2 Jahren, Repo-Geschäfte (d.h. Wertpapierpensionsgeschäfte) sowie Geldmarktfondsanteile und Geldmarktpapiere hinzu. Abb. 11/ 5 verdeutlicht auch die unterschiedlichen Wachstumsraten der Komponenten; Abb. 11/ 6 zeigt die Entwicklung von M3 in der EWU. 11.3. Geldpolitische Strategien Strategien sind grundsätzliche, langfristig orientierte Verhaltensweisen. Die EZB versucht, bestimmte geldpolitische Zielsetzungen durch geeignete Maßnahmen zu realisieren. Wir werden anschließend zunächst einige Differenzierungen vornehmen und im folgenden Kapitel das geldpolitische Instrumentarium betrachten, das der EZB zur Verfolgung ihrer strategischen Zielsetzungen zur Verfügung steht. 11.3. ld l h Geldpolitische Strategien 375 <?page no="406"?> 376 11. ld l k Geldpolitik 11.3.1. Direktes Inflationsziel oder Geldmengensteuerung Unter Wirtschaftswissenschaftlern und Wirtschaftspolitikern wird kontrovers darüber diskutiert, welche Zielsetzungen die Geldpolitik verfolgen soll. Umstritten ist vor allem, ob die Zentralbank bei ihren geldpolitischen Entscheidungen nur das Ziel der Geldwertstabilität verfolgen soll oder ob sie darüber hinaus noch das Erreichen weiterer wirtschaftspolitischer Ziele - insbesondere das Erreichen der Vollbeschäftigung - aktiv unterstützen soll. Besonders heftig wird die Debatte immer dann geführt, wenn einerseits das Ziel der Preisstabilität erreicht zu sein scheint, während andererseits auf dem Arbeitsmarkt gleichzeitig eine drückende Unterbeschäftigungssituation zu verzeichnen ist. Wie schon eingangs gesagt, ist der EZB das zentrale geldpolitische Ziel durch Art. 105 des Maastrichter Vertrags eindeutig vorgegeben: «Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. So weit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das EZSB die allgemeine Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft , um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen. Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird (…)» (vgl. Kapitel 1). Abb. 11/ 5: Geldmengenkonzepte der EZB Geldmengenkonzepte der EZB Anteil an M3 *) Bargeld 7,4 + Sichteinlagen bei Geschäftsbanken 40,0 = M1 + Bestimmte Termineinlagen bis zu 2 Jahren 17,4 + Spareinlagen (bis zu 3 Monaten) 20,7 = M2 + Repo-Geschäfte 4,2 + Geldmarktfondsanteile und Geldmarktpapiere 10,2 + Schuldverschreibungen bis zu 2 Jahren = M3 *) vereinfacht, September 2006 Quelle: EZB, Monatsbericht November 2006 <?page no="407"?> Die EZB sieht das Ziel der Preisstabilität dann für erreicht an, wenn der für das gesamte Euro-Gebiet geltende «harmonisierte Verbraucherpreisindex» (HVPI) jährlich um weniger als 2 Prozent ansteigt. Diese Quantifizierung wird jedoch von der EZB ausdrücklich nicht als ein direktes Inflationsziel verstanden, das jederzeit und unter allen Umständen einzuhalten ist bzw. - insbesondere bei Abweichungen «nach oben» - automatisch zu geldpolitischen Gegenmaßnahmen der EZB führen muss. 47 Zum einen weist die EZB darauf hin, dass keine 47 Unter einem direkten Inflationsziel versteht man eine direkte ‹Steuerung› der Inflation über den Geldmarktzins, wobei das Geldangebot variabel ist; dies beruht auf keynesianischen Grundannahmen. Dem steht konzeptionell die Steuerung der Geldmenge («Geldbasis») gegenüber, wobei der Geldmarktzins variabel sit; dies beruht auf monetaristischen Theorien. Einzelheiten sind hier entbehrlich. Abb. 11/ 6: Wachstum der Geldmenge M3 in der EWU : 'K : '% K'K K'% A'K ! '! K A'% K'K M'K M'% #'K ! %%# ! %%! ! %%# ! %%M ! %%K ! %%A 97P934,(2(P4P$0' 8(2J4)(2/ 4$ $($(4H,(2 832N7"2 ; (/ 09+"( </ 4)(9,74L * 534706P+" $6(P0(4)(2 ; / 2+"9+"4P00 H,(2 )2(P : 3470( 9(&(2(4-/ (20= M'K * 11.3. ld l h Geldpolitische Strategien 377 <?page no="408"?> 378 11. ld l k Geldpolitik Zentralbank die Inflationsrate direkt beeinflussen kann. Möglich ist nur eine indirekte Steuerung über geldpolitische Wirkungsmechanismen, die ihrerseits nur mit einer gewissen Zeitverzögerung ‹greifen›. Ein «Überschießen» der Inflationsrate über den anvisierten Grenzwert von 2 Prozent ist daher durchaus möglich. Zum anderen will sich die EZB durch die Veröffentlichung eines direkten Inflationsziels nicht selber unter unnötigen Handlungsdruck setzen. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen die Preissteigerungsrate - z.B. aufgrund außenwirtschaftlicher Einflüsse - kurzfristig und eventuell nur vorübergehend über die 2-Prozent-Richtschnur hinaus ansteigt. Da die Inflationsrate nicht direkt gesteuert werden kann, benötigt jede Zentralbank eine geldpolitische Strategie , d.h. eine Zwischenzielgröße, an der sie ihr geldpolitisches Vorgehen ausrichten kann. Die Zwischenzielgröße soll sowohl in einem engen Zusammenhang mit der Inflationsrate stehen als auch relativ unmittelbar von der Zentralbank beeinflusst werden können. Die EZB hat sich für eine geldmengenorientierte Strategie entschieden. Während der letzten Jahrzehnte wurden aber von verschiedenen Zentralbanken - auch der Bundesbank - zeitweise auch zins- und liquiditätsorientierte Strategien praktiziert. Vereinfacht läßt sich dies wie in Abb. 11/ 7 darstellen: Durch Festlegung ihres Leitzinssatzes (Hauptfinanzierungszins) wirkt die EZB auf die kommerziellen Zinsen am Markt für Tagesgeld ein (an diesem wiederum orientieren sich die übrigen Zinssätze im Geld- und Kapitalmarkt). Die Zinsen wirken ihrerseits über die Kreditnachfrage (Geldschöpfung/ Geldvernichtung) auf die Geldmenge. Diese Abb. 11/ 7: Geldstrategie der EZB Instrument: Leitzins der EZB Zwischenziel: Zinssatz für Tagesgeld Operatives Zwischenziel: Geldmenge (M3) Oberziel: Preisstabilität (HVPI) <?page no="409"?> dient der EZB als operativer Indikator, d.h. die EZB beobachtet, ob die Geldmenge (M3) zu- oder abnimmt. Der Geldmenge schließlich wird der entsprechende Einfluß auf die Preisstabilität unterstellt. 11.3.2. Geldmengenpolitik Hinter der geldmengenorientierten Strategie steht die quantitätstheoretische Auffassung, dass es - vor allem mittelfristig - einen engen Zusammenhang zwischen Geldmengenentwicklung und Preisniveaustabilität gibt. (Wir haben dies im Kapitel 4 betrachtet.) Ein (zu) hohes Geldmengenwachstum führt dieser Ansicht zufolge letztlich zu steigenden Inflationsraten. In der geldpolitischen Praxis stellt sich aber zunächst die Frage, welche der verschiedenen Geldmengen von der Zentralbank sinnvollerweise als Zwischenziel bzw. Indikator ausgewählt werden soll: M1, M2 oder M3. Ihre Geldpolitik richtet die EZB in erster Linie an der Entwicklung der Geldmenge M3 aus. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass im Vergleich zu M1 und M2 die Geldmenge M3 im Zeitablauf am wenigsten schwankt. Außerdem weist M3 einen gewissen zeitlichen Vorlauf und eine große Parallelität zur Entwicklung der Inflationsrate auf. Der potentialorientierten Geldpolitik liegen folgende Überlegungen zugrunde: • Erstens soll das Geldmengenwachstum ein spannungsfreies, d.h. inflationswie deflationsfreies Wirtschaftswachstum ermöglichen. Hierfür orientiert sich die EZB am mittelfristigen, jährlichen Wachstum des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials im Euro-Land. • Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes im langfristigen Durchschnitt jährlich um 0,5-1 % abnimmt. Um dies zu kompensieren, muss die Geldmenge analog mitwachsen. • Und drittens sieht die EZB eine Preissteigerungsrate von bis zu 2 % sowohl aus statistischen wie aus prinzipiellen Gründen durchaus mit ihrer Definition von Geldwertstabilität für vereinbar an. Insgesamt ergibt sich daraus ein Referenzwert von 4,5 % für das jährliche M3-Wachstum. Ähnlich wie bei der Definition der Geldwertstabilität möchte die EZB den Referenzwert aber nicht als starres Geldmengen(wachstums)ziel verstanden wissen. Insbesondere sieht sie sich nicht automatisch zum geldpolitischen Eingreifen verpflichtet, falls die tatsächliche Geldmengenentwicklung nach oben oder unten von dem vorgegebenen 11.3. ld l h Geldpolitische Strategien 379 <?page no="410"?> 380 11. ld l k Geldpolitik Referenzwert abweichen sollte. Trotz dieser Erläuterungen wird der Referenzwert in der (fachlichen) Öffentlichkeit aber weithin als «offizielles» Geldmengenziel der EZB interpretiert. Da aber eine punktgenaue Einhaltung kaum möglich ist, könnte die EZB zukünftig - ähnlich wie vor ihr die Bundesbank - dazu übergehen, einen Korridor mit Ober- und Untergrenzen für das angestrebte jährliche Geldmengenwachstum zu benennen. Allerdings lag das Geldmengenwachstum meist über dem angekündigten Zielwert. Obgleich diese Orientierung an der Geldmenge in der Wissenschaft und auch im Kreise der übrigen Zentralbanken umstritten ist (viele Ökonomen und auch die US-amerikanische «Fed» fordern. «die monetäre Säule zu begraben»), hält die EZB daran fest, und dies hat der Glaubwürdigkeit der EZB und früher der Bundesbank - im Sinne einer strikt am Ziel der Preisstabilität orientierten Geldpolitik - jedoch bisher nicht geschadet. Offensichtlich war nicht die Einhaltung des Zwischenziels Geldmengenwachstum entscheidend, sondern der Umstand, dass die Bundesbank und später die EZB - selbst in Zeiten konjunktureller Schwäche - im Zweifelsfall für eine restriktive Geldpolitik optiert hat. Die EZB hatte in den vergangenen Jahren die wirtschaftliche Entwicklung allerdings nur unzutreffend vorhergesagt, aber dennoch eine eher erfolgreiche Geldpolitik betrieben. «Vorhersagen falsch, Politik richtig» kommentierte ein Beobachter (Abb. 11/ 8). 11.3.3. Zinspolitik Neben der Geldmengenpolitik steht die Zinspolitik im Zentrum der Geldpolitik der EZB. Für diese geldpolitische Strategie sprechen sich in der Regel diejenigen Wissenschaftler und Politiker aus, die dafür eintreten, dass die Geldpolitik außer dem Ziel der Preisniveaustabilität noch weitere, insbesondere beschäftigungspolitische Ziele verfolgen soll. Die geldpolitische ‹Regel› in diesem Fall lautet, dass die Zentralbank in Zeiten konjunktureller Abkühlung die Zinsen senken, in Phasen der Hochkonjunktur sie hingegen erhöhen soll (Abb. 11/ 9a, 11/ 9b und 11/ 9c). Es muss aber hervorgehoben werden, dass ein sinkender Geldzins nur einen indirekten Anreiz geben kann, mehr Kredite zu nehmen - eine unmittelbare Wirkung besteht nicht, im Gegensatz zu Steuersenkungen (Finanzpolitik), welche dem Konsumenten unmittelbar zu mehr verfügbarem Geld verhelfen. Man vergleicht daher die Geldpolitik sehr einprägsam mit einem Bindfaden, den man zwar ziehen, aber nicht schieben kann. Auch der Volksmund spricht allgemein vom Pferd, das man zwar zur Tränke führen kann, aber saufen muss es schon alleine. <?page no="411"?> Exkurs: Geldpolitische Ausnahmezustand in Japan In der Deflationskrise Japans ab 1991 war zu beobachten, wie der Leitzins kontinuierlich gesenkt wurde und viele Jahre Null % betrug (Abb. 11/ 9a). Um 1985 herum lockerte die japanische Notenbank die Geldpolitik (sprich: senkte die Leitzinsen), mit der Folge, dass die Geldmenge rasant anstieg, was zu einer Spekulationsblase an den Immobilien- und Aktienmärkten führte. Da dahinter aber keine realen Werte, sondern «heiße Luft» stand, platzte die Blase, als die Zentralbank von 1989 an die Zinsen erhöhte, um die Geldmengenexpansion zu stoppen, und zwar auch noch, als sich die ersten deflationären Tendenzen deutlich zeigten. Die japanische Regierung versuchte, mit einer expansiven Finanzpolitik gegenzusteuern (was zu einer immensen Staatsverschuldung führte; Sie haben dies im Kapitel 10 gesehen), aber 1998 rutschte die Wirtschaft in die Depression mit absolut sinkendem Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts. Ab 2001 ging die Zentralbank zur direkten Geldmengensteuerung über, kaufte in großem Umfang Staatsanleihen, versechsfachte den Kreditrahmen der Banken, kaufte Beteiligungsaktien angeschlagener Banken auf und pumpte so die Geldreserven der Geschäftsbanken auf. Parallel dazu zwang die Regierung die Banken zur Abschreibung von Problemkredi- Abb. 11/ 8: Korrekturbedarf HANDELSBLATT-GRAFIK Vergleich der EZB-Wachstums- und Inflationsprognose für den Euro-Raum mit der tatsächlichen Entwicklung BIP-Wachstum Inflation 2001 3,1 1,5 2001 2,3 2,5* von 2000 von 2000 Veränderung zum Vorjahr in % Rate in % EZB-Prognose Tatsächliches Wachstum EZB-Prognose Tatsächliche Inflation 2002 3,0 1,2 0,9 von 2000 von 2001 2003 2,5 1,6 0,5 von 2001 von 2002 2004 2,4 1,6 1,8 von 2002 von 2003 2005 2,4 1,9 1,3** von 2003 von 2004 2002 1,9 1,6 2,3 von 2000 von 2001 2003 1,5 1,8 2,1 von 2001 von 2002 2004 1,6 1,8 2,1 von 2002 von 2003 2005 1,6 2,0 2,2** von 2003 von 2004 Jeweils Dezemberprognosen * in den neueren EZB-Monatsberichten wird dieser Wert mit 2,3% ausgewiesen ** EZB-Schätzung von Sept. 2005 ; Quellen: EZB, HB-Recherche 11.3. ld l h Geldpolitische Strategien 381 <?page no="412"?> 382 11. ld l k Geldpolitik Abb. 11/ 9a: Zinspolitik *"& *($ 0+)#"$(%%( )/ ,- '.() <243'8PW0-W; 1 2; " ? : U<&6S9: 78&6W S; B589')&5; S: ,894W: 6 V##G V##R T*# V*G V*# ! *G V##F (&$A1$"5 )"%#'A$! "59'A& +5W<<WE C&6&768W&; A%D%(%'@8&US= C9$8&64 Abb. 11/ 9b: Zinspolitik <?page no="413"?> ten, reformierte die Sozialkassen und flexibilisierte die Kapital- und Arbeitsmärkte, wodurch die Deflation besiegt wurde und wieder ein reales Wachstum ermöglicht wurde. Ökonomen und Politiker, die eine allein am Ziel der Geldwertstabilität orientierte Geldpolitik favorisieren, lehnen diese Strategie ab. Sie sehen darin eine «Stop-and-Go»-Politik, die mittelfristig keine Preisstabilität gewährleiste. So bleibe unklar, an welchem Marktzinssatz sich die Zentralbank orientieren soll. Der kurzfristige Geldmarktzinssatz kann zwar von der Zentralbank relativ direkt beeinflusst werden, hat aber bezüglich der Inflationsentwicklung nur eine begrenzte Aussagekraft. Die langfristigen Kapitalmarktzinsen sind hingegen nur schwer von der Zentralbank zu beeinflussen (Abb. 11/ 10). Abb. 11/ 9c: Zinsentscheidungen 0$*- $, -+* ! .(/ $& &%+')+* -'+ 1+'%#'*&+* 2/ * ! 0'- "&' 1'(+0', .%*)$# 83,(2)5%5&,. (+/ / ",0/ 7'3+, 4#-*02, &,4 "--+63/ 32,-7)1' 62)&53.2, ! %(*)#1'.+/ 2/ ,&(5-05,/ / (+"+& 3/ 1&$1,' ! / -06 / 15+ 651.264, 3-1 7-0,10 60 87.4C.@67@ .A +7: 2B7.=0 8'@; 87.4C.@6 *$: ? J$'! H +LHQP0/ 7LP/ &HN008/ . GKJJ JKJE GM >M JD #QJE! 8DF.6D/ B'G/ 3G =P23Y<8/ . FKCE FKEJ GM >M JD #-JE! "50D343G =P23Y<8/ . JKJE IKCE JJM DM JD #QJE! 9*G3H'D. =POLH8H.LP1&HN008/ . GKJE JKFJ GM >M JD #QJE! "50D3/ - 9LPJ08/ . O)1 QPH &1PLI3H8/ 0Y\/ )6= IKEJ IKJJ IEM DM JD &FDD313G ; 8NP0NPJQ08/ . JKCE JKJE GIM EM JD #QJE! K3D3/ G/ 1B3 "B''B3G "PQ "&HQ0 =8/ P EKJE FKEJ J-M DM JD #QJE! +'G'4' 9LPJ18/ P O)1 QPH ; 8NP0NPJQ08/ . FKJE GKJE JFM EM JD #QJE! ,'E'G 9LPJ18/ P O)1 QPH ; 8NP0NPJQ08/ . JKJE JKJJ IFM CM JD #QJE! ; ! CBD'I/ 3G ; 8NP0NPJQ DKJJ EKEJ JM >M JD #QJE! MG1'DG IF ; 8NP $LHJ8NP08/ . DKCE DKJJ JFM CM JD #QJE! OC50350/ 3G =P23Y<8/ . #IJ <3.MPH! JKJE JKJJ JCM CM JD #QJE! "#4'2D/ .' =P23Y<8/ . >KJJ CKJJ GM >M JD #QEJ! "B'G4 'H "B'G4 AFD )3B-B3 7/ GC*G43D! G1 >@ <@ ? = = (FG'B3 N: 'C/ CE! G.B3L >&PJJP+ (3IIP1.78HK $.3H3IL. =P0P81.M 11.3. ld l h Geldpolitische Strategien 383 <?page no="414"?> 384 11. ld l k Geldpolitik Wesentlich grundsätzlicher ist das Problem, welches konkrete Zinsniveau von der Zentralbank anvisiert werden soll. Die Ableitung eines Zinsniveauziels analog zum Geldmengenziel scheint kaum möglich. Zu beachten ist jedoch, dass jede Zentralbank ihre Zinssätze als geldpolitische Instrumente einsetzt und so faktisch Zinspolitik im engeren Sinne betreibt. Dies gilt selbstverständlich auch für die EZB. Abb. 11/ 10: Zinsstruktur M#E[ * M#NE M#[[ N#FE N#E[ N#NE N#[[ V#FE V#E[ V#NE V#[[ N[[L N[[E N[[H $I8FC4IG4=8IQIC84GEI: GGQFC )9U>=RQ! W9=QPU; R! RYQN V% 6YS; 9UY7=S [PQ=97PU; RRYQN V% @9U7Y; =URYQN "Y; =R! ; =7>RRYQN '@&(+C% "Y; =RO=SQ= V [9URRYQN >=S ,YPTQS=<9UYUN9=SPU; R; =R? : M<Q=Z A=PQR? : = BPU>=RWYU8 <?page no="415"?> Natürlich bestehen dabei Interdependenzen mit anderen Geldmärkten, insbesondere denen in den USA. Logischerweise zieht es die Kapitalströme immer zu zinsattraktiven Anlagemöglichkeiten. Darauf reagiert wiederum der Wechselkurs: Wenn im Euroraum die Zinsen höher liegen als z.B. in den USA, erhöht sich das Angebot an USD bzw. die Nachfrage nach Euro, und der Euro-Dollar-Kurs steigt (pro Euro erhält man mehr Dollar: «starker» Euro) bzw. der Dollar-Euro-Kurs sinkt (pro Dollar erhält man weniger Euro: «schwacher» Dollar). Was ein amerikanischer Anleger mehr an Zinsen im Euroraum erwirtschaften kann, wird ihm beim Rücktausch in USD durch Wechselkurseffekte (sog. Terminkurs) wieder «abgenommen». Dadurch wird das Zinsgefälle zwischen den Finanzmärkten tendenziell ausgeglichen. 48 Abb. 11/ 11 zeigt beispielhafte Zinsunterschiede. 48 Vorausgesetzt, der Anleger hat bei Vereinbarung der Geldanlage im Ausland deren Rücktausch ins Inland durch ein Devisen-Termin-Geschäft abgesichert: Dabei wird bereits beim Hin-Transfer der Wechselkurs für den Rücktransfer festgelegt (Terminkurs, forward rate), und dieser unterscheidet sich exakt um die Zinsdifferenz zwischen In- und Ausland zum Zeitpunkt des Hin-Transfers (sog. Swapsatz). Natürlich kann man auch «Zokken» und zum jeweiligen Kassakurs tauschen (spot rate), dessen Höhe von der jeweiligen Marktsituation abhängt. Zinsschritte Leitzinsen der Bank of England, Fed und EZB in Prozent 2005 2004 4 5 3 2 1 2006 Großbritannien Vereinigte Staaten Euro-Raum Quelle: Thomson Financial Datastream Abb. 11/ 11: Zinsunterschiede 11.3. ld l h Geldpolitische Strategien 385 <?page no="416"?> 386 11. ld l k Geldpolitik Ein starker Euro ist aber Gift für die internationale Wettbewerbsfähigkeit z.B. der deutschen Exportindustrie - was sich bremsend auf die Beschäftigung und das Wachstum auswirkt -, so dass von daher ein Druck auf die EZB ausgeht, (im obigen Beispiel) das Zinsniveau weiter zu senken. Die EZB hingegen verweist darauf, dass das Zinsniveau gegenwärtig historisch niedrig sei und es ganz sicher nicht an der Geldpolitik liegt, wenn die Konjunktur (Nachfrage, Produktion, Wachstum, Beschäftigung) nicht anzieht. Mittlerweile sind die Zinsen bereits gestiegen. 11.3.4. Liquiditätspolitik Unter Liquiditätspolitik der Zentralbank versteht man die Beeinflussung der freien Liquiditätsreserven der Geschäftsbanken, welche diese als Kredite ausleihen können. Liquiditätspolitik steht gegenwärtig nicht im Zentrum der Politik der EZB. Gleichwohl werden wir sie kurz betrachten, um ihre grundsätzliche Bedeutung einschätzen zu können. Mit einer liquiditätsorientierien Geldpolitik sind mehrere konzeptionelle Probleme verbunden. So besteht - ähnlich wie bei der zinsorientierten Geldpolitik - nur ein schwacher Zusammenhang zwischen der Liquiditätsausstattung der Banken und der Preisniveauentwicklung. Daher lässt sich kein eindeutig quantifizierbares Liquiditätsziel ableiten, an dem sich die Zentralbank - analog zum Geldmengenziel - mittelfristig ausrichten könnte. Jede Zentralbank verfügt über geldpolitische Instrumente, mit der sie die Bankenliquidität direkt beeinflussen kann. Dazu gehören u.a. die Mindestreservesätze, Kontingentierungen sowie die Zulassung bzw. der Ausschluß von Wertpapieren oder sonstigen Aktiva für Geschäfte mit der Zentralbank. Mit dem Einsatz derartiger Instrumente betreibt die Zentralbank de facto direkte Liquiditätspolitik, auch wenn sich ihre mittelfristige Geldpolitik nicht an einer Liquiditätsgröße orientiert. 11.4. Geldpolitisches Instrumentarium Um die gerade skizzierten Politikfelder zu ‹bearbeiten›, verfügt die EZB über eine Vielzahl unterschiedlich ausgestalteter geldpolitischer Einzelinstrumente. Der EZB-Rat hat zudem das Recht, darüber zu entscheiden, bestehende Instrumente anders zu gestalten bzw. neue lnstrumente einzuführen. Jede Zentralbank muss im Laufe der Zeit auf Änderungen im Geschäftsbankensektor («Finanzinnovationen») und gegebenenfalls auch auf wechselkurspolitische Veränderungen reagieren. Das geldpolitische Instrumentarium ist dann den neuen <?page no="417"?> Gegebenheiten anzupassen und zu modernisieren. Die EZB faßt ihre verschiedenen Instrumente zu drei großen Gruppen zusammen: die Offenmarktgeschäfte, die ständigen Fazilitäten und die Mindestreserven. Zu beachten ist, dass der Einsatz dieser Instrumente weitgehend dezentral, d.h. über die beteiligten nationalen Zentralbanken, erfolgt. Die Darstellung wird ein wenig technisch sein, aber mir erscheint es wichtig, dass Sie, lieber Leser, eine Vorstellung bekommen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt, die meist ohne erklärenden Kommentar in den Medien auftauchen. 11.4.1. Offenmarktgeschäfte Unter Offenmarktgeschäften versteht man den - endgültigen oder befristeten - Kauf oder Verkauf von Finanzaktiva durch die Zentralbank. 11.4.1.1. Kriterien Die einzelnen Geschäfte lassen sich nach der rechtlichen Ausgestaltung, dem angewandten Verfahren, dem Rhythmus und der Laufzeit weiter differenzieren. Bei der rechtlichen Ausgestaltung kann es sich um definitive Käufe bzw. Verkäufe, um Käufe bzw. Verkäufe mit gleichzeitiger Rückkaufsvereinbarung (Pensionsgeschäfte) oder um Kreditgeschäfte gegen Sicherheitsstellung (Pfandkredite) handeln. Bei den Verfahren werden von der EZB sowohl Tenderverfahren als auch sog. bilaterale Geschäfte angewandt (hierzu weiter unten). Die einzelnen Geschäfte können in einem täglichen, wöchentlichen, monatlichen sowie regelmäßigen oder unregelmäßigen Rhythmus stattfinden. Nach der Laufzeit lassen sich 2-Wochen- und 3-Monats- Geschäfte sowie standardisierte und nichtstandardisierte Geschäfte unterscheiden. Die Vielfalt der Offenmarktgeschäfte hat die EZB nochmals gebündelt. Gemäß den geldpolitischen Intentionen, die mit den jeweiligen Instrumenten verwirklicht werden sollen, unterscheidet sie vier Kategorien: Hauptrefinanzierungsgeschäfte, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte, Feinsteuerungsoperationen und strukturelle Operationen (vgl. vorab eine Übersicht in Abb. 11/ 12). In allen Fällen geht die Initiative zum Geschäftsabschluß von der EZB aus. Dies unterscheidet die Offenmarktgeschäfte von den ständigen Fazilitäten, bei denen die Initiative bei den Geschäftsbanken liegt. Grundsätzlich können sich Geschäftsbanken bei der EZB nur refinanzieren, wenn sie die aufgenommenen Kredite durch entsprechende Sicherheiten abdecken können. Zu diesen Finanzaktiva zählen insbesondere Schuld- 11.4. ld l h Geldpolitisches Instrumentarium 387 <?page no="418"?> 388 11. ld l k Geldpolitik Abb. 11/ 12: Instrumentarium der EZB ((Quelle: g Zusammenstellung nach ) Bundesbank) <?page no="419"?> verschreibungen, öffentliche Anleihen der Euro-Staaten, Pfandbriefe und Kommunalobligationen. 11.4.1.2. Hauptrefinanzierungsgeschäfte Wie der Name bereits andeutet, sind die Hauptrefinanzierungsgeschäfte das quantitativ bedeutsamste geldpolitische Instrument, mit dem die EZB die Geldversorgung der Geschäftsbanken beeinflussen kann. Materiell bestehen die Hauptrefinanzierungsgeschäfte aus Wertpapierkäufen durch die EZB, wobei bereits beim Ankauf eine Rückkaufsvereinbarung mit den beteiligten Geschäftsbanken abgeschlossen wird. Ökonomisch gesehen handelt es sich also um die Verknüpfung eines Kassamit einem Termingeschäft. Diese Verbindung wird auch Pensionsgeschäft genannt, da die EZB die betreffenden Wertpapiere für eine befristete Zeitspanne quasi ‹in Pension› nimmt (auch: Repo-Geschäfte» - von re-purchase, zurückkaufen). Die Wertpapiere, die für diese Geschäfte in Frage kommen, müssen bestimmten Anforderungen hinsichtlich Bonität, Laufzeit usw. genügen. Sie werden von der EZB in speziellen Verzeichnissen ausgewiesen. Die Hauptrefinanzierungsgeschäfte finden zu öffentlich bekannt gemachten Terminen jeweils einmal pro Woche statt; ihre Laufzeit beträgt 2 Wochen. Beim Geschäftsabschluß stellt die EZB den Banken einen Zinssatz in Rechnung - den «Pensions-» oder «Repo-Satz» oder (Refinanzierungs-) «Refi-Satz» -, den sie aufgrund der großen Bedeutung der Hauptrefinanzierungsgeschäfte selber als Europäischen Leitzins bezeichnet. Praktisch erfolgt die Zinszahlung dadurch, dass die EZB die Wertpapiere zum aktuellen Marktkurs ankauft, während die Geschäftsbanken für den Rückkauf einen höheren Rückkaufpreis zu entrichten haben. Erhöht die EZB den Zinssatz, möchte sie damit signalisieren, dass sie eine ‹restriktivere› Geldpolitik verfolgen will. Für die Geschäftsbanken wird es dann teurer, sich mit Zentralbankgeld zu versorgen. In der Regel werden sie den höheren Zinssatz in Form steigender Kreditzinsen und/ oder reduzierter Kreditvergabe an ihre Kunden weitergeben. Beides wäre aus Sicht der EZB in einer derartigen Situation erwünscht. (In Zimbabwe beträgt der Leitzins 583 Prozent wegen einer Inflationsrate von 1042 Prozent. Nicht schlecht.) Eine Zinssenkung bedeutet hingegen, dass sich die Banken bei der EZB billiger Zentralbankgeld verschaffen (refinanzieren) können. Die Weitergabe dieses Zinsimpulses in Form sinkender Kreditzinsen und/ oder einer Ausweitung der Kreditvergabe erfolgt jedoch oft nicht so rasch, wie von der EZB erhofft. Wer hätte das gedacht... 11.4. ld l h Geldpolitisches Instrumentarium 389 <?page no="420"?> 390 11. ld l k Geldpolitik In Deutschland sind die Hauptrefinanzierungsgeschäfte an die Stelle der sog. Wertpapierpensionsgeschäfte getreten, denen sie sowohl in technischer Ausgestaltung wie in geldpolitischer Bedeutung weitgehend gleichen. Vor Beginn der Währungsunion wickelte die Bundesbank rd. 70 % des Refinanzierungsbedarfs der Geschäftsbanken über Wertpapierpensionsgeschäfte ab. Die früher üblichen Wechsel-Rediskontgeschäfte sind entfallen; hierzu gleich. 11.4.1.3. Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte Im Rechtscharakter und angewandten Verfahren sind die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte mit den Hauptrefinanzierungsgeschäften identisch. In Rhythmus und Laufzeit unterscheiden sie sich allerdings darin, dass sie nur einmal monatlich stattfinden und für eine Zeitdauer von 3 Monaten abgeschlossen werden. Ziel dieser Geschäfte ist es, die Geldversorgung des Bankensektors zu verstetigen. Quantitativ soll das Volumen deutlich unter dem der Hauptrefinanzierungsgeschäfte liegen. Von den zur Anwendung kommenden Zinssätzen sollen nach der Vorstellung der EZB keine geldpolitischen Signale ausgehen. Ob die Finanzwelt und die breitere Öffentlichkeit dies genauso sehen, hängt entscheidend davon ab, ob und inwieweit die Zinsentwicklung bei den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften merklich vom Europäischen Leitzins abweicht. In Deutschland haben die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte die früheren Rediskontgeschäfte ersetzt, bei denen die Bundesbank Handelswechsel gegen Berechnung des sog. (Re)-Diskontsatzes von den Geschäftsbanken aufkaufte. 11.4.1.4. Feinsteuerungsoperationen Die für den Geldschöpfungsprozess der Geschäftsbanken erforderliche Bankenliquidität kann kurzfristig und unvorhergesehen starken Schwankungen unterliegen. Um zu verhindern, dass dadurch sprunghafte Änderungen der Geldmenge und übergroße Zinsausschläge ausgelöst werden, kann die EZB Feinsteuerungsoperationen durchführen, mit denen sie die Liquiditätsausstattung der Banken noch präziser und flexibler steuern kann. Neben definitiven und befristeten Käufen und Verkäufen von Wertpapieren können dabei befristete Devisengeschäfte zum Einsatz kommen. Analog zu den Wertpapierpensionsgeschäften verknüpft die EZB bei sog. Devisenwaps den An- und Verkauf von Fremdwährungen (z.B. US-Dollar) gegen Euro mit einer Rückkaufsvereinbarung durch die Geschäftsbanken. Die Differenz zwischen Termin- und Kassakurs <?page no="421"?> wird als Swapsatz bezeichnet. Bezogen auf den Kassakurs gibt er an, zu welchem Zinssatz die EZB bereit ist, derartige Geschäfte mit den Geschäftsbanken abzuschließen. Im Rahmen der Feinsteuerungsoperationen besteht darüber hinaus für die Banken die Möglichkeit, bei der EZB verzinsliche Termineinlagen zu hinterlegen - eine Möglichkeit, die es früher bei der Bundesbank nicht gab. Der Einsatz dieses Instruments ist vor allem für Fälle vorgesehen, in denen die EZB rasch ‹überschüssige› Liquidität im Bankensektor abschöpfen möchte. Alle Feinsteuerungsoperationen finden in einem unregelmäßigen Rhythmus und mit nicht-standardisierten Laufzeiten statt, sind demnach Instrumente für kurzfristige geldpolitische Sonderfälle. 11.4.1.5. Strukturelle Operationen Um die Struktur der Liquidität des Bankensektors zu beeinflussen, stehen der EZB im Prinzip dieselben Mittel zur Verfügung, die gerade bei den Feinsteuerungsoperationen dargestellt wurden. Darüber hinaus kann sie aber im Rahmen struktureller Operationen noch zusätzlich eigene Schuldverschreibungen herausgeben («emittieren»). Es handelt sich um ein weiteres Instrument, mit dem Liquidität im Bankensektor absorbiert werden kann. Erwerben die Geschäftsbanken diese Schuldverschreibungen, «verlieren» sie im gleichen Umfang Zentralbankgeld, und ihre Fähigkeit, Kredite zu vergeben, wird eingeschränkt. Im Gegenzug ist die EZB dazu verpflichtet, die Schuldverschreibungen zu verzinsen und bei Fälligkeit wieder einzulösen, d.h. gegen Zentralbankgeld zurückzukaufen. 11.4.1.6. Tenderverfahren und bilaterale Geschäfte Bei der Abwicklung der verschiedenen Offenmarktgeschäfte, die in den Abschnitten 11.4 vorgestellt wurden, kommen zwei Verfahren zur Anwendung: zum einen das Ausschreibungsbzw. Tenderverfahren, zum anderen die sog. bilateralen Geschäfte. (1) Das Tenderverfahren wird dadurch charakterisiert, dass die Geschäftstermine und -bedingungen von der EZB mit Hilfe privater Wirtschaftsinformationsdienste, wie z.B. AP/ Dow Jones, Telerate oder Reuters, öffentlich bekannt gemacht werden. Prinzipiell können sich alle Geschäftsbanken an diesen Ausschreibungen beteiligen. Je nach Art der Zinsfestsetzung kann weiter zwischen Mengentender und Zinstender unterschieden werden. In beiden Fällen wird das Gesamtvolumen des abzuschließenden Geschäfts von der EZB im voraus festgelegt. Beim Mengentender schreibt die EZB aber auch den Zinssatz vor, zu dem sie das jeweilige Geschäft abschließen möchte 11.4. ld l h Geldpolitisches Instrumentarium 391 <?page no="422"?> 392 11. ld l k Geldpolitik («Zinsführerschaft»). Die Geschäftsbanken geben daraufhin Gebote ab, wie viele Wertpapiere sie der EZB zum angegebenen Zinssatz verkaufen wollen. Übersteigt die Summe der Angebote das von der EZB ausgeschriebene Gesamtvolumen, wird eine Zuteilungsquote nach einfachem Dreisatz ermittelt. Beispiel Die EZB bietet an, zu einem Zinssatz von 3,5 % Wertpapiere in einem Gesamtumfang von 10 Mrd. Euro aufzukaufen. Die Geschäftsbanken geben aber Angebote ab, die sich insgesamt auf 43 Mrd. Euro aufsummieren. Die Zuteilungsrate ergibt sich dann als Quotient aus Ausschreibungs- und Angebotsvolumen (10 : 43), d.h. sie beträgt im Beispiel 23 %. Man spricht auch von einer 23- %-Repartierung. Dies bedeutet, dass eine Geschäftsbank, die ein Angebot über 500 Mio. Euro abgegeben hat, schließlich nur in Höhe von 115 Mio. Euro zum Zuge kommt. Beim Zinstender legt hingegen die EZB außer dem Gesamtvolumen nur einen Mindestzinssatz fest. Die Geschäftsbanken geben dann an, zu welchem Zinssatz und in welchem Umfang sie bereit sind, das Offenmarktgeschäft mit der EZB abzuschließen. Die eingehenden. Gebote werden anschließend von der EZB in Höhe des jeweils angegebenen Zinssatzes geordnet. Die weitere Zuteilung kann nach dem holländischen oder dem amerikanischen Verfahren vorgenommen werden. Beim holländischen Verfahren werden - beginnend mit dem höchsten Zinssatz - alle Gebote berücksichtigt, bis ein Zinssatz erreicht ist, bei dem das gesamte Volumen ausgeschöpft wurde. Der Abschluß aller Geschäfte erfolgt nun zu diesem einheitlichen (Grenz-) Zinssatz. Verbleibt ein Rest, wird dieser - ebenfalls zum selben Zinssatz - repartiert. Beim amerikanischen Verfahren erfolgt die Zuteilung zu den tatsächlichen Gebotssätzen, d.h. die Zinssätze, zu denen die einzelnen Geschäfte abgeschlossen werden, können variieren. Die EZB unterscheidet in ihrer Terminologie noch zwischen Standard- und Schnelltender. Angesprochen wird damit, wie schnell die Ausschreibungsverfahren durchgeführt weiden. Bei Standardtendern können zwischen Ausschreibung, Gebotsabgabe und Zuteilung bis zu 24 Stunden liegen. Bei Schnelltendern erfolgt die Abwicklung hingegen innerhalb einer Stunde; sie kommen vor allem bei Feinsteuerungsoperationen zum Einsatz. (2) Bilaterale Geschäfte sind Offenmarktgeschäfte, die ohne öffentliches Ausschreibungsverfahren durchgeführt werden. Wiederum lassen sich zwei Unterverfahren unterscheiden. Bei bilateralen Geschäften im engeren Sinne sprechen die EZB bzw. die angeschlossenen nationalen Zentralbanken mögliche Geschäftspartner gezielt <?page no="423"?> direkt an. Der Kreis der beteiligten Geschäftsbanken ist dementsprechend begrenzt; im Extremfall kann es sich sogar um ein Einzelgeschäft zwischen der EZB und einer einzigen Bank handeln. Über die Konditionen und Ergebnisse dieser Geschäfte gibt die EZB in der Regel keine öffentlichen Stellungnahmen ab. Bilaterale Geschäfte im weiten Sinne umfassen auch Offenmarktgeschäfte, welche die EZB über Börsen oder Marktvermittler abwickelt. Der ‹Kundenkreis› ist entsprechend größer, außerdem ist eine größere Öffentlichkeit über die Geschäftsabwicklung informiert. 11.4.2. Ständige Fazilitäten Die zweite Instrumentengruppe, die der EZB für ihre Geldpolitik zur Verfügung steht, sind die ständigen Fazilitäten. Sie umfassen sowohl die Spitzenrefinanzierungswie die Einlagefazilitäten. Bei den Spitzenrefinanzierungsfazilitäten handelt es sich um die Möglichkeit der Geschäftsbanken, sich kurzfristig - «über Nacht» - durch das Überziehen von Sichtkonten bei der EZB zu verschulden; man spricht hier auch von einer «Ventilfunktion». Allerdings müssen die Geschäftsbanken bei Inanspruchnahme dieser Refinanzierungsmöglichkeiten Sicherheiten leisten, die als Pfand zu hinterlegen sind bzw. an denen Pfandrechte eingeräumt werden. Die Finanzaktiva, die als Sicherheiten in Frage kommen, weist die EZB in eigenen Verzeichnissen aus. Die Bundesbank als ausführendes Organ faßt alle Sicherheiten, die eine einzelne Geschäftsbank stellen kann, in sog. «Pfandpools» zusammen. Beim Abschluß eines entsprechenden Geschäfts wird diesem dann kein bestimmtes Pfand zugeordnet, sondern nur noch geprüft, ob der Pfandpool als Ganzes für den Geschäftsabschluß ausreicht. In der geldpolitischen Intention und technischen Ausgestaltung entsprechen die Spitzenrefinanzierungsfazilitäten den früheren Lombardkrediten der Bundesbank. Neu für Deutschland sind die Einlagenfazilitäten. Sie bieten den Geschäftsbanken die Möglichkeit, bei der EZB (wiederum «über Nacht») Einlagen zu halten, die von der Zentralbank verzinst werden. Im Gegensatz zu den Offenmarktgeschäften geht bei den ständigen Fazilitäten die Initiative aber von den Geschäftsbanken aus. Allerdings sind die zur Anwendung kommenden Zinssätze ein wichtiger Teil der EZB-Geldpolitik, da sie als sog. Zinskanal die Entwicklung der Geldmarktzinsen begrenzen (vgl. Abschnitt 6). Zusammen mit dem Zinssatz der Hauptrefinanzierungsgeschäfte übernehmen sie die Leitzinsfunktion (Abb. 11/ 13). Unten Abb. 11/ 14 verdeutlicht, dass die Geldmarktzinsen sich um dem Hauptfinanzierungszinssatz herum eingependelt haben. 11.4. ld l h Geldpolitisches Instrumentarium 393 <?page no="424"?> 394 11. ld l k Geldpolitik 11.4.3. Mindestreserven Die dritte Instrumentengruppe umfaßt die Mindestreserven. Die EZB hat alle im Euro-Gebiet ansässigen. monetären Finanzinstitutionen dazu verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz (gegenwärtig 2 %) ihrer Verbindlichkeiten bei ihr bzw. den nationalen Zentralbanken als verzinsliche Sichtguthaben zu halten. Welche Bankverbindlichkeiten mindestreservepflichtig sind und welche Mindestreservesätze angewendet werden, bestimmt die EZB in ihrer Mindestreservepolitik. Die Einführung von Mindestreserven für den gesamten Euro-Raum war lange Zeit heftig umstritten. Wie in Abschnitt 3 dargestellt wurde, wird der Geldschöpfungsprozess der Geschäftsbanken durch die Mindestreservepflicht eingeschränkt. Strukturell sind die europäischen Banken daher gegenüber anderen Banken benachteiligt, die in Ländern ansässig sind, die keine Mindestreservepflicht kennen. Trotzdem entschied sich die EZB dafür, dieses Instrument zu übernehmen. Insbesondere in Krisensituationen sind Mindestreserven ein außerordentlich schnell und massiv wirkendes Instrument, um den Bankensektor mit Liquidität zu versorgen bzw. überschüssige Liquidität abzuschöpfen. Um die Benachteiligung der Geschäftsbanken im Euro-Gebiet gegenüber ausländischen Banken zu verringern, wurden allerdings Ausnahmen zugelassen und ein insgesamt niedriger Mindestreservesatz bestimmt. Nicht zuletzt werden die Mindestreserven - ebenfalls entgegen früherer Bundesbankpraxis - mit dem Euro- Leitzins verzinst. Diesen werden wir nun genauer betrachten. Abb. 11/ 13: Zusammenhang der Leitzinsen Die Leitzinsen der EZB 4,5% Spitzenrefinanzierungs-Zinsaatz (früher: Lombardsatz) Obergrenze des Tagesgeldsatzes des Interbankengeldmarktes 3,5% Hauptrefinanzierungs-Zinsaatz (früher: Wertpapierpensionssatz) entcheidender Leitzins Zinskanal 2,5% Einlagefazilitäts-Zinsaatz (früher: Diskontsatz) Untergrenze des Tagesgeldsatzes des Interbankengeldmarktes gültige Zinssätze zwischen 2% und 4% Zinssatz <?page no="425"?> 11.4.4. Geldmarkt und Leitzinsen 11.4.4.1. Begriff des Geldmarkts Unter Geldmarkt versteht man im engeren Sinne den Handel von kurzfristig nicht benötigten Zentralbankguthaben (Überschußreserven) unter Geschäftsbanken. Hat z.B. eine Hausbank der Großindustrie durch Gehaltszahlungen am Monatsanfang einen kurzfristigen Liquiditätsbedarf, so kann sie am Geldmarkt von einer anderen Bank, die eher Privatkunden betreut, die dort gegebenenfalls aufgelaufenen Liquiditätsüberschüsse ausleihen. Dieser Interbankenhandel geschieht meist per Telefon. Je nach Fristigkeit der gehandelten Gelder wird zwischen dem (wichtigen) Markt für Tagesgeld und dem Monats-, Dreimonatsgeld usw. unterschieden. Inzwischen treten am Geldmarkt auch Großunternehmen und vor allem Geldmarktfonds als Akteure auf. Letztere sind Investmentfonds, die das von ihnen verwaltete Vermögen ganz oder teilweise am Geldmarkt anlegen. Durch den Erwerb entsprechender Fondsanteile können sich somit auch private Haushalte und Unternehmen indirekt am Geldmarkt beteiligen, deren liquide Mittel für ein direktes Engagement nicht ausreichen. Durch den Geldmarkthandel zwischen den Banken, (Groß-)Unternehmen und Geldmarktfonds verändert sich der Bestand an umlaufendem Zentralbankgeld nicht, da dieses ja nur durch die EZB geschaffen oder vernichtet werden kann. Dies ändert sich, wenn der Geldmarkt im weiten Sinne betrachtet wird. Hier tritt als weiterer Akteur die EZB auf, die - vor allem über ihre Haupt- und längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte - die Liquidität der Banken kurz- und mittelfristig zu beeinflussen versucht. 11.4.4.2. Leitzinsen und Zinsstruktur Die Geschäftsbanken, Unternehmen und Geldmarktfonds berechnen für die am Geldmarkt getätigten Kreditgeschäfte natürlich untereinander Zinsen. Die Höhe der Zinsen richtet sich in der Regel nach der Fristigkeit der gehandelten Gelder. Die niedrigsten Zinssätze werden bei Tagesgeldern, die höchsten bei Geldmarktpapieren mit Laufzeiten über einem Jahr verlangt. Da der Geldmarkthandel dezentral erfolgt, läßt die Europäische Bankenvereinigung täglich jeweils einen Referenzzinssatz, den sog. EURIBOR («European Interbank Offered Rate») für die Laufzeiten 1 Woche sowie 1 bis 12 Monaten erheben. Fast 60 Banken - zum größten Teil aus dem Euro-Gebiet, teilweise aber auch aus den übrigen EU- und sogar Nicht-EU-Ländern - mel- 11.4. ld l h Geldpolitisches Instrumentarium 395 <?page no="426"?> 396 11. ld l k Geldpolitik den ihre jeweiligen Angebotszinssätze, aus denen dann - unter Ausschluss von Extremwerten - der entsprechende Durchschnittswert ermittelt wird. Mit derselben Methode berechnet darüber hinaus die EZB den sog. EONIA («Euro Overnight Index Average»), der den Durchschnittssatz für Tagesgeld angibt (vgl. Abb. 11/ 14). Diese standardisierten Zinssätze sind von großer Bedeutung, da sie als entscheidende Bezugsgröße für viele weitere Kreditverträge, Anleihen und Derivategeschäfte dienen. Steigende Zinssätze deuten im allgemeinen auf eine Liquiditätsverknappung auf dem Geldmarkt hin, fallende Zinsen hingegen auf eine sich entspannende Situation. In diesem Zusammenhang kommt den Zinsen, welche die EZB bei ihren Hauptrefinanzierungsgeschäften und den ständigen Fazilitäten erhebt bzw. gewährt, eine besondere Funktion als Leitzinsen zu. Im Normalfall wird jede Geschäftsbank, die Zentralbankgeld benötigt, zunächst bestrebt sein, ihren Bedarf über die von der EZB ausgeschriebenen Hauptrefinanzierungsgeschäfte zu decken (von den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften wird im folgenden abstrahiert), da der dabei zu zählende Zins in der Regel unter den Geldmarktzinssätzen liegt. Durch sich zeitlich überlappende Geschäfte kann die einzelne Bank von Woche zu Woche jeweils entscheiden, ob sie das Gesamtvolumen ihrer Wertpapiergeschäfte mit der EZB erhöhen oder verringern will. So wirkt diese Art der Geldbeschaffung quasi als Substitut für die Tages- oder Wochengeldaufnahme auf dem Abb. 11/ 14: Geldmarktsätze unter Banken ": #"! #@""4 -E>A2A; C ! ? 58E/ @ ? 58E/ A = ? 58E/ A 7 ? 58E/ A ! @ ? 58E/ A Euro 3,5700 - 3,6500 3,5700 - 3,6500 3,6100 - 3,6900 3,6800 - 3,7600 3,8100 - 3,8900 3,9700 - 4,0500 US $ 5,2300 - 5,3500 5,2600 - 5,3400 5,2700 - 5,3500 5,2800 - 5,3600 5,2800 - 5,3300 5,2200 - 5,3000 Pfund 5,0600 - 5,1000 5,1000 - 5,1700 5,1900 - 5,2600 5,2400 - 5,3100 5,3600 - 5,4500 5,4800 - 5,5800 sfr 2,0600 - 2,1800 2,0400 - 2,1200 2,0400 - 2,1200 2,0800 - 2,1600 2,1800 - 2,2500 2,3700 - 2,4600 YEN 0,3100 - 0,4200 0,4600 - 0,5100 0,4200 - 0,5100 0,4700 - 0,5600 0,5700 - 0,6800 0,7300 - 0,7800 kan $ 4,1400 - 4,2200 4,2100 - 4,2800 4,2100 - 4,2800 4,2100 - 4,2800 4,2000 - 4,2700 4,1300 - 4,2200 A $ 5,9500 - 6,2000 6,1400 - 6,3400 6,2000 - 6,3200 6,2400 - 6,3600 6,3400 - 6,4500 6,4800 - 6,6000 NZ $ 7,1000 - 7,3500 7,4000 - 7,5000 7,4400 - 7,5900 7,5500 - 7,7000 7,6400 - 7,7900 7,7900 - 7,9400 HK $ 3,6800 - 3,8800 3,9500 - 4,0500 3,9600 - 4,0600 3,9600 - 4,0500 3,9700 - 4,0600 4,0800 - 4,1500 Zloty 3,9000 - 4,0800 3,9500 - 4,1000 3,9700 - 4,1200 3,9700 - 4,1500 4,0800 - 4,2800 4,2800 - 4,4800 SG $ 3,0000 - 3,1250 3,4300 - 3,5400 3,4100 - 3,5200 3,3900 - 3,4900 3,1875 - 3,4375 3,3800 - 3,4600 Rand 8,5000 - 9,5000 9,0500 - 9,2500 9,1500 - 9,3500 9,2500 - 9,4500 9,4000 - 9,6000 9,6000 - 9,8000 tsch. Krone 2,3700 - 2,4700 2,4300 - 2,4900 3,5000 - 2,5500 2,4300 - 2,5100 2,4800 - 2,5600 2,6200 - 2,7000 ,+39*,B.? '3D-0(-F, +<-,3 1'<D,< %)< 639F,<-$ $ = 24 Monate 5,0650 - 5,0950, 36 Monate 5,0000 - 5,0300, Euro = 24 Monate 4,0900 - 4,1200, 36 Monate 4,0830 - 4,1130 Eonia (Euro) = 3,6% (3.1.2007), Euribor (Euro) = 1 Mon. 3,625%, 2 Mon. 3,663%, 3 Mon. 3,734%, 6 Mon. 3,865%, 12 Mon. 4,03% Euro-Libor (Euro) = 1 Mon. 3,275%, 2 Mon. 3,66288%, 3 Mon. 3,733%, 6 Mon. 3,8675%, 12 Mon. 4,03053% Libor ($) = 1 Mon. 5,32%, 2 Mon. 5,345%, 3 Mon. 5,36%, 6 Mon. 5,36%, 12 Mon. 5,28938% <?page no="427"?> Geldmarkt, obwohl die Hauptrefinanzierungsgeschäfte eine Laufzeit von 2 Wochen haben. Nur wenn die Bank bei den EZB-Ausschreibungen nicht genügend zum Zuge kommt oder kurzfristig Liquidität benötigt, wird sie auf - teurere - Geldmarktkredite ausweichen. Allerdings ist dem Tagesgeldsatz auf dem Geldmarkt durch die Einrichtung der Spitzenrefinanzierungsfazilität bei der EZB eine Zinsobergrenze gesetzt. Da sich die Geschäftsbanken zu diesem von der EZB vorgegebenen Zinssatz kurzfristig Übernachtkredite in nahezu unbegrenzter Höhe besorgen können, werden sie nicht bereit sein, für Tagesgelder auf dem Geldmarkt einen höheren Zins zu zahlen. Nur wenn die EZB in geldpolitisch angespannten Zeiten den Spitzenrefinanzierungskredit mengenmäßig begrenzt («kontingentiert»), ist dem Anstieg der Tagesgeldzinsen nach oben keine Grenze gesetzt. Andererseits wird jede Bank, die Zentralbankgeld zur Verfügung stellen will, versuchen, mindestens den Zinssatz der EZB-Hauptrefinanzierungsgeschäfte zu verlangen. Aufgrund eines Liquiditätsüberhangs können die Geldmarktzinsen dennoch unter Druck geraten. Dem Absinken des Tagesgeldsatzes ist aber durch die EZB-Einlagenfazilität auch eine Zinsuntergrenze gesetzt. Da die Banken diese Fazilität dazu benutzen können, um Übernachteinlagen - ebenfalls in zunächst unbegrenzter Höhe - bei der EZB zu halten, die von der Zentralbank auch verzinst werden, wird keine Geschäftsbank bereit sein, Tagesgelder auf dem Geldmarkt zu einem niedrigeren Zinssatz auszuleihen. Mit anderen Worten: Die Zinssätze der Spitzenrefinanzierungs- und Einlagenfazilitäten bilden einen Zinskanal, in dem sich die Tagesgelder auf dem Geldmarkt bewegen. Der Zinssatz der Hauptrefinanzierungsgeschäfte gibt hingegen als Europäischer Leitzins die zentrale Zinstendenz vor, welche die EZB mit ihrer Geldpolitik anstrebt (Signalfunktion). Ein Anheben oder Senken der drei beschriebenen Zinssätze hat also unmittelbare Auswirkungen auf das Zinsniveau des europäischen Tagesgeldmarktes. Mittelbar strahlt es auch auf die längerfristigen Geldmarktsätze aus. Durch Festsetzung der Refinanzierungskonditionen, d.h. der Geldbeschaffungskosten, nimmt die EZB entscheidenden Einfluß auf die Zinsgestaltung der Geschäftsbanken gegenüber ihren Kunden. Dies gilt in erster Linie bezüglich der Sollzinsen, welche die Banken den Kreditnehmern in Rechnung stellen. Die Gestaltung der Habenzinsen ist hingegen weitgehend von den oben genannten Einflüssen abgekoppelt. Viele Bankkunden beklagen, wie zögerlich die Banken die Guthabenzinsen ihrer Einlagen der Zinsentwicklung anpassen - nein, 11.4. ld l h Geldpolitisches Instrumentarium 397 <?page no="428"?> 398 11. ld l k Geldpolitik nicht ganz: Zinssenkungen werden meist unmittelbar weitergegeben, bei Zinserhöhungen muss offenbar erst gegrübelt werden, was das bedeuten soll. Anfang der 1990er Jahre hat dies in Deutschland sogar zu einer Intervention des Bundeskartellamtes geführt. Eine sich vergrößernde Zinsmarge zwischen Soll- und Habenzinsen ist für die Banken natürlich ein willkommener Zusatzgewinn, der eben nicht spontan an die Kunden weitergegeben wird. Mittelfristig dürften die gegenwärtig (2007) noch sehr niedrigen Zinsen an den Finanzmärkten steigen. Die EZB prognostiziert einen beachtlichen Anstieg in den nächsten zwei Jahren. 11.5. Exkurs: Offshore-Märkte Offshore- oder Xeno-Märkte (xeno (griech.) = fremd) umfassen alle Geld- und Kreditgeschäfte in einer Währung außerhalb ihres Geltungsbereichs als gesetzliches Zahlungsmittel (Fremdwährungsgeschäfte). Vor dem Beginn der Europäischen Währungsunion und der Einführung des Euro als eigenständiger Währung wurden diese Märkte auch Euro-Märkte genannt. Diese Bezeichnung wird im allgemeinen Sprachgebrauch zunehmend weniger benutzt, da sie doppelt mißverständlich ist (aber wir verwenden sie hier trotzdem): Zum einen existieren Offshore-Märkte nicht nur an europäischen Finanzplätzen; zum anderen hatte und hat die Bezeichnung «Euro» in diesem Zusammenhang nichts mit der gemeinsamen europäischen Währung gleichen Namens zu tun. Geld- und Kreditgeschäfte können auf den Euromärkten in jeder beliebigen Währung durchgeführt werden, weshalb - früher - auch von Euro-Dollar- oder Euro-Pfund-Märkten gesprochen wurde. Eine Fremdwährungstransaktion kann beispielsweise zwischen einer deutschen und einer japanischen Bank auf Dollarbasis abgewickelt werden. Ferner läßt sich nach der Fristigkeit der gehandelten Gelder zwischen Offshore-Geld-, Offshore-Kredit- und Offshore-Kapitalmärkten (früher: Euro-Geld-, Euro-Kredit- und Euro-Kapitalmärkten) unterscheiden. Exkurs: Off-shore-Märkte Die Offshore-Märkte entstanden in den 1950er Jahren. 1958 führten die wichtigsten westeuropäischen Staaten die Konvertibilität ihrer Währungen ein. Gleichzeitig wiesen die USA ein großes, zunehmendes Leistungsbilanzdefizit aus, so dass die auf dem Weltmarkt ‹schwimmenden› US-Dollars Anlagemöglichkeiten außerhalb der USA suchen mussten. Die Situation wurde verschärft durch die Einführung von Höchstzinssätzen seitens der USA für <?page no="429"?> kurzfristige Einlagen bei amerikanischen Banken (sog. Regulation Q des Federal Reserve Act) sowie weitere restriktive Maßnahmen in den USA, denn nicht-amerikanische Nachfrager konnten nur in eingeschränktem Maße Dollarkredite bei amerikanischen Banken erhalten. Insbesondere Russland legte daher seine beträchtlichen Öleinnahmen außerhalb der USA an. Als Konsequenz bildete sich - zunächst in London - der Euro-Dollar-Markt. Im Zeitablauf entstanden weitere Fremdwährungsmärkte mit jeweils ausländischen Banken, u.a. in Paris, Zürich, Luxemburg, Jersey und Guernsey, den Bahamas, den Cayman-Inseln, Panama, Bahrein, Dubai, Hongkong, Singapur, Tokyo («Asien-Dollar-Markt») sowie seit Anfang der 1980er Jahre sogar in New York selbst. Vor allem auf den Inseln (daher die Bezeichnung «offshore» = vor der Küste) sind Banken oft nicht als Institute präsent, sondern unterhalten lediglich Briefkastenfirmen. Neben den bereits ‹vagabundierenden› Eurodollars wurde der Markt seit Anfang der 1970er Jahre auch durch die Überschüsse der OPEC-Staaten im Zuge der sog. Ölkrisen («Petro-Dollars») und später die massiven Handelsbilanzdefizite der USA im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg gespeist. Zu den Offshore-Geldmärkten zählen Sichtguthaben bei Geschäftsbanken sowie Termineinlagen mit festen Laufzeiten zwischen 1 Tag und 1, 3 oder 6 Monaten, die als Kredite oder Wertpapiere gehandelt werden. Die Zinssätze auf dem nach wie vor wichtigsten Fremdwährungsmarkt in London orientier(t)en sich am LIBOR, der «London Interbank Offered Rate», also am Londoner Geldmarktzins zwischen den Banken, der je nach Bonität um kleinere oder größere Zuschläge (Margen) erhöht wird. Mit Beginn der Europäischen Währungsunion wurde der LIBOR weitgehend durch den Euro-Libor ersetzt, doch ist der EURIBOR als umfassenderer Referenzzinssatz bedeutsamer. Die Offshore-Geldmärkte zeichnen sich durch einige Besonderheiten aus. • Erstens unterliegen sie - im Gegensatz zu nationalen Geld- und Kreditmärkten - keiner währungspolitischen Kontrolle einer Zentralbank. Insbesondere besteht keine Mindestreservepflicht. Die Steuerbelastung ist an vielen Offshore-Marktplätzen sehr niedrig. Und aufgrund der relativ wenigen, aber meist sehr großen Marktteilnehmer halten sich die Personal- und Verwaltungskosten der beteiligten Geschäftsbanken in Grenzen. • Zweitens vollziehen sich die Kredittransaktionen auf den Offshore- Märkten ohne Stellung von Sicherheiten. Das Teilnehmerspektrum ist deshalb auf «Adressen» allererster Bonität begrenzt. Die Fremdwährungsmärkte sind in erster Linie Interbankenmärkte zwischen Geschäftsbanken, Währungsbehörden und staatlichen Institutionen, von denen einige ständig, andere nur gelegentlich am Markt auftreten. Hinzu kommen Großunternehmen und Institutionen mit erstklassiger Bonität. 11.5. k Exkurs: ff h k Offshore-Märkte 399 <?page no="430"?> 400 11. ld l k Geldpolitik • Drittens erfolgen die Abschlüsse formlos per Telefon oder elektronische Kommunikationsmittel und werden erst anschließend schriftlich bestätigt. Die absolute Zuverlässigkeit und die unbedingte Einhaltung von Terminen gelten als ungeschriebenes Gesetz. Bei Verstößen dagegen wäre ein Marktteilnehmer umgehend «draußen». • Viertens werden auf den Offshore-Geldmärkten nur sehr große, «runde» Beträge gehandelt. Wegen dieser Wettbewerbsvorteile sind die Offshore-Marktzinsen niedriger als auf den nationalen Märkten. Zu den Offshore-Kreditmärkten zählen - meist verbriefte - Kredittransaktionen mit Laufzeiten von 3-10 Jahren und länger. Eine besondere Finanzierungsform ist der Roll-Over-Kredit mit einer Laufzeit von mehreren Jahren. Der Zins wird dabei - auf Basis eines Referenzzinssatzes (Euro-Libor oder Euribor) - der aktuellen Entwicklung kurzfristig angepaßt. Auf den Offshore-Kapitalmärkten werden langfristige Anleihen allererster staatlicher und privater «Adressen» und supranationaler Emittenten gehandelt, z.B. der Weltbank. Die Offshore-Kreditmärkte werden oft von Kapitalnehmern beansprucht, deren Bonität nicht ausreicht, um selber auf den Offshore-Kapitalmärkten Anleihen zu begeben. Der besonderen Leichtigkeit der Kreditaufnahme und -vergabe - gerade auch bei sehr hohen Beträgen - ist es u.a. zu verdanken, dass die im Gefolge der diversen Öl- und Verschuldungskrisen auftretenden Störungen immer finanziert werden konnten. Andererseits begünstigen dieselben Charakteristika auch spekulative Verstärkungen von Störungen. Die Problematik der Offshore-Märkte liegt daher insbesondere in den durch keinerlei währungsbehördlichen Restriktionen begrenzten Kreditschöpfungsmöglichkeiten und der sich daraus möglicherweise unkontrolliert ergebenden Erhöhung der inländischen Geldmenge. Für ‹normale› Unternehmen sind die Offshore-Märkte wegen der geforderten erstklassigen internationalen Bonität und der sehr hohen Beträge nicht von unmittelbarem Interesse. Es besteht jedoch die indirekte Möglichkeit, dass z.B. eine Bank mit erstklassiger Bonität als Marktteilnehmer auftritt und die günstigen Konditionen, die sie erreichen kann, teilweise an ihre Kunden weitergibt. <?page no="431"?> 11.6. Gewinne der Europäischen Zentralbank und Staatshaushalt Im Gegensatz zu Geschäftsbanken ist das Handeln einer Zentralbank nicht gewinnorientiert. Im Vordergrund steht vielmehr das Erreichen geldpolitischer Ziele - im Fall der EZB das Erreichen von Preisstabilität. Dennoch fließen der EZB aus ihren verschiedenen Aktivitäten Einnahmen und daraus resultierende Gewinne zu. Dazu gehören vor allem Zinseinnahmen aus den diversen Offenmarktgeschäften und der Inanspruchnahme der Spitzenrefinanzierungsfazilität, Kursgewinne bei Devisentransaktionen sowie Zinsgewinne aus der Anlage von (zumeist auf US-Dollar lautenden) Währungsreserven im Ausland. Ausgaben entstehen der EZB u.a. durch • Zinszahlungen an Geschäftsbanken im Zusammenhang mit einigen Offenmarktgeschäften, durch Inanspruchnahme der Einlagenfazilität und die mit rund 2 % zu verzinsenden Mindestreserven, • Zinszahlungen auf Auslandsverbindlichkeiten, • Personal- und allgemeine Sachkosten sowie • (vernachlässigbar gering) Herstellungskosten der Banknoten. Ein weiterer wichtiger Einflußfaktor auf die Gewinnentstehung können Änderungen der Bewertung der Währungsreserven sein. Da eine Zentralbank wichtige Einflußparameter, wie z.B. Zinssätze, selbst kontrolliert, übersteigen die Einnahmen in der Regel die Ausgaben um ein Vielfaches, und die Europäische Zentralbank kann ihre jährliche Gewinn- und Verlustrechnung üblicherweise mit einem soliden Gewinn abschließen. Die meisten geldpolitischen Geschäfte der EZB werden dezentral über die angeschlossenen nationalen Zentralbanken abgewickelt. Entsprechend entsteht auch der größte Teil des EZB-Gewinns zunächst dezentral. Erst bei der Jahresabschlussrechnung werden die (Teil-) Gewinne bei der EZB zentral aufsummiert. Bis zu 20 % des Gesamtgewinns - den genauen Prozentsatz bestimmt der EZB-Rat - fließen in den allgemeinen Reservefonds der EZB. Der Rest wird gemäß den Anteilen am EZB-Grundkapital auf die jeweiligen nationalen Zentralbanken verteilt; die Deutsche Bundesbank hält mit Abstand den größten Anteil, gefolgt von Frankreich Italien und Großbritannien; das Grundkapital der EZB beträgt derzeit (Ende 2006) 5,5 Mrd. Euro). Die Bundesbank ist nach dem Bundesbankgesetz verpflichtet, ihren Gewinn, soweit er nicht zur Aufstockung gesetzlich vorgeschriebener oder sonstiger Rücklagen dient, bis zu einem maximalen Betrag 11.6. Gewinne dder h Europäischen lb k Zentralbank d und h h l Staatshaushalt 401 <?page no="432"?> 402 11. ld l k Geldpolitik von 3,5 Milliarden Euro an den Bundeshaushalt abzuführen. Etwaige Überschüsse kommen dem Erblastentilgungsfonds zugute. Angesichts eines chronischen Budgetdefizits sind Bundesbankgewinne aus Sicht des Staates natürlich eine erfreuliche Erscheinung. 11.7. Perspektiven der Geldpolitik Die Begründung einer supranationalen Geldpolitik innerhalb der Europäischen Währungsunion stellt eine gravierende Veränderung der bisherigen Strukturen dar. Die Schaffung eines gemeinsamen Währungsraumes ist eine große Chance für die innereuropäische Entwicklung. Bedenklich ist aber, dass mit Deutschland und Frankreich die beiden größten Mitgliedsstaaten mehrere Jahre lang das verschuldungsorientierte Konvergenzkriterium der Währungsunion verletzt haben: Danach darf die öffentliche Verschuldung nicht mehr als 3 % des BIP erreichen, und beide Länder lagern mehrfach weit darüber. Dies ist ein sehr schlechter Hintergrund für die Erwartung, dass die seit Mitte 2004 hinzugekommenen 12 neuen EU-Mitglieder sich ihrerseits energisch um die Einhaltung der Konvergenzkriterien bemühen werden. In methodischer Hinsicht ergeben sich für die Geldpolitik u.a. zwei Probleme. Wie soll sich die zentralisierte Geldpolitik verhalten bei asymmetrischen Entwicklungen, wenn sich z.B. Deutschland in einer Aufschwungphase befindet und Frankreich im Abschwung? Hinzu kommt, dass zwar die Geldpolitik zentral gesteuert wird, während Finanzpolitik, Lohnpolitik und Sozialpolitik weiterhin auf nationaler Ebene entschieden werden. Wirtschaftspolitik kann nicht nur mit der Geldpolitik gemacht werden. Die Koordinations- und Kooperationserfordernisse auf anderen Gebieten werden die EU noch sehr beanspruchen. <?page no="433"?> 12.1. h Europäische h Währungsintegration 403 12. Wechselkurs- und Währungspolitik In diesem Kapitel wird der Begriff «Währung» nur im Hinblick auf ausländische Währungen verwendet, also auf Länder, die nicht an der Euro-Währungsunion teilnehmen. Diese Klarstellung ist insofern von Bedeutung, als die Europäische Zentralbank (EZB) zur «Sicherung der Währungsstabilität» verpflichtet ist, womit die Kaufkraft des Euro gemeint ist. Im Mittelpunkt der auslandsbezogenen Währungspolitik steht der Wechselkurs, der das Austauschverhältnis zwischen zwei Währungen bezeichnet. Dies bedeutet einerseits, dass es ebensoviele Wechselkurse gibt wie ausländische Währungen, und es gibt weltweit etwa 160 offizielle Währungen. In der Praxis konzentriert sich das Interesse jedoch nur auf einige Währungen, in denen internationale Transaktionen vorrangig abgewickelt werden. Im Mittelpunkt steht aus europäischer Sicht der Wechselkurs des Euro gegenüber dem Dollar (Euro-Dollar-Kurs bzw. Dollar-Euro-Kurs), dem japanischen Yen und dem Schweizer Franken. Der Begriff Euro- Dollar-Kurs sollte nicht mit dem Eurodollar verwechselt werden, mit dem man den Handel mit US-Dollar auf den sog. Euromärkten bezeichnet, also auf Geld- und Kapitalmärkten, die keiner nationalen Bankaufsicht unterliegen (sog. off-shore-Märkte). 12.1. Europäische Währungsintegration Seit dem 1.Juli 2002 ist der Euro alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel in den Ländern der Europäischen Währungsunion. Mehr und mehr Länder sind der Währungsunion beigetreten. Derzeit gehören ihr an Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Irland, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien und Spanien; vierzehn EU-Staaten sind nicht in der Eurozone: Bulgarien, Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Schweden, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes Königreich und Zypern. Hinzu kommen weitere Länder, die den Euro verwenden, ohne Mitglied der Währungsunion zu sein. Slowenien ist zum 1. 1. 2007 der Währungsunion beigetreten. Estland, das auch 2007 den Euro einführen wollte, hat bisher aufgrund seiner hohen Inflationsrate von über vier Prozent keinen Antrag auf Aufnahme in den Euroraum gestellt. 2008 wollen Malta und Zypern beitreten, ebenso Lettland, aber die hohe Inflation lässt dies wahrscheinlich nicht zu. Die Slowa- <?page no="434"?> 404 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik kei könnte bereits 2008 den Euro einführen. Gegenwärtig bietet sich folgendes Bild (Abb. 12/ 1): ! EWWU-Mitglieder Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien (2007), Spanien ! Französische Übersee-Departements Französisch Guyana, Guadeloupe, Martinique, Réunion, Mayotte, St.-Pierre-et-Miquelon ! (EU-Mitglieder mit Pflicht, der EWWU beizutreten: Bulgarien, Estland. Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakische Republik, Tschechiche Republik, Ungarn, Zypern) ! Euroeinführung durch Währungsabkommen: Monaco, San Marino, Vatikanstadt ! Einseitige Euro-Einführung: Andorra, Kosovo, Montenegro ! Fester Wechselkurs zum Euro: Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kap Verde, Komoren. Abb. 12/ 1 <?page no="435"?> 12.1. h Europäische h Währungsintegration 405 ! CFA-Zone: Äquatorialguinea, Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Gabun, Guinea-Bissau, Kamerun, Komoren, Republik Kongo, Mali, Niger, rr Senegal, Togo, Tschad, Zentralafrikanische Republik. ! CFP-Zone: Neukaledonien, Wallis und Futura, Französisch Polynesien. Im Zuge ihrer Unabhängigkeitsbemühungen hatten Montenegro und Kosovo einseitig die Deutsche Mark als Währung eingeführt. Nach ihrer Abschaffung führten beide den Euro als gesetzliches Zahlungsmittel ein (Montenegro ist seit 2006 ein unabhängiger Staat). Allerdings haben auch sie bisher kein Abkommen mit der EU abgeschlossen. Dies ist seitens der EU auch nicht angestrebt, so dass sie weder Einfluss auf die Geldpolitik der EZB nehmen können noch Euromünzen prägen dürfen. Anfang 2007 befürwortete Island eine mögliche Euroeinführung, ohne der Europäische Union beitreten zu wollen, weil die Isländische Krone gegenüber den Währungen wichtiger Handelspartner stark schwankt. Nach dem Maastricht-Vertrag sind alle EU-Staaten verpflichtet, den Euro als Währung einzuführen. Hierzu ist der zweijährige Verbleib im Wechselkursmechanismus II (WKM II) eines von vier Konvergenzkriterien zur Euro-Einführung. Lediglich Großbritannien und Dänemark behielten sich das Recht vor, selbst über den Beitritt zur Währungsunion zu entscheiden (sog. opting out). Sieben EU-Staaten - Dänemark. Estland, Lettland, Litauen, Malta, Slowakei, Zypern - haben ihre nationalen Währungen im WKM II an den Euro gekoppelt. Der WKM II enthält einen Schwankungsbereich zwischen Euro und jeweiliger nationaler Währung von ± 15 Prozent vor. Dänemark hat eine Vereinbarung mit der EU geschlossen, den Wechselkurs nur um ± 2,25 Prozent schwanken zu lassen, mehrere andere Teilnehmer haben die Schwankungsbreite einseitig beschränkt. Tschechien, Ungarn und Polen planen einen Euro-Beitritt zwischen 2010 und 2013. Neben den Mitgliedern des WKM II gibt es weitere Staaten, die sich für einen festen Wechselkurs zum Euro entschieden haben: Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, die Länder der CFA-Zone und der CFP-Zone (vgl. Abschnitt 12.4), Kap Verde und die Komoren. 12.1.1. Integrations-Strategien Die Schaffung einer Währungsunion bedeutet allgemein die Vereinheitlichung des Währungssystems zwischen zwei oder mehreren Partnerländern, wobei grundsätzlich nur noch eine Währung für alle Partnerländer gemeinsam existiert. Dabei gibt es sowohl verschie- <?page no="436"?> 406 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik dene Formen, auf die wir gleich eingehen, als auch zwei verschiedene Strategien. Die erste Strategie ist die Position der «Ökonomisten», wonach eine monetäre Integration nur stattfinden kann bzw. soll, wenn die ökonomische Integration (Freihandelszone/ Zollunion/ gemeinsamer Markt/ Wirtschaftsunion, vgl. Kapitel 13) als Voraussetzung vollendet oder doch zumindest sehr weit fortgeschritten ist. Also: erst ökonomische Integration, dann monetäre (sog. «Krönungstheorie»). Um es einmal kraß zu sagen: Da kann man meist lange warten. Die andere Position ist die der «Monetaristen» (wobei dieser Begriff nicht - so wie bei Milton Friedman - als Gegensatz zu Vertretern des Keynesianismus gemeint ist). Die Monetaristen im hier gemeinten Sinne vertreten die Auffassung, dass eine frühzeitige monetäre Integration die ökonomische Integration vorantreibe und fördere. Also: erst monetäre Integration, dann ökonomische. Diese Variante ist bei der Konstruktion der verschiedenen Stufen des Europäischen Währungsverbundes gewählt worden, da dieser - ab 1979 - existierte, ohne dass zumindest ein Binnenmarkt realisiert worden wäre. Auch die Maastrichter Beschlüsse der EG zur Schaffung einer Währungsunion ab 1999 waren in diesem Sinne geprägt. Die monetaristische Integrationsstrategie liegt auch der Franc-Zone zugrunde (vgl. den Exkurs im Abschnitt ++). Auf dem Weg zu einer «richtigen» Währungsunion gibt es mehrere Vorstufen, die wir zunächst betrachten. 12.1.2. Integrations-Formen (1) Die schwächste Form der Währungsintegration ist der Wechselkursverbund, wie z.B. das frühere Europäische Währungssystem (EWS I bzw. II). Dabei werden für die beteiligten nationalen Währungen untereinander feste Wechselkurse vereinbart (im EWS Leitkurs genannt), von denen die aktuellen Marktkurse aber - je nach gewähltem Währungssystem mehr oder weniger innerhalb bestimmter Bandbreiten - abweichen dürfen. Im EWS z.B. konnten die Marktkurse bis August 1993 um je 2,25%, später um je 15% über bzw. unter den vereinbarten Leitkursen liegen. Teilnehmerländer am EWS II mit Beitrittsabsichten zur EWU sollten hingegen durch eine Verengung der Bandbreiten vorbereitet werden. Die an einem Wechselkursverbund beteiligten Staaten sind verpflichtet, ggf. durch Interrr ventionen sicherzustellen, dass ihre Währung voneinander nicht um mehr als die verabredete Bandbreite abweichen. Währungsverbünde sind relativ lose monetäre Integrationen und - wie die Praxis des EWS zeigte - relativ starken wechselkursbeeinflussenden Faktoren <?page no="437"?> 12.1. h Europäische h Währungsintegration 407 ausgesetzt, so dass gelegentlich Auf- oder Abwertungen erforderlich werden oder Währungen aus dem Verbund ausscheiden. Vgl. auch Abb. 12/ 2. (2) Die nächst intensivere Form monetärer Integration ist die Wechselkursunion, bei der es keine Bandbreiten gibt, die Wechselkurse also völlig fix oder starr sind. Eine Wechselkursunion existierte beispielsweise formal zwischen Belgien und Luxemburg oder innerhalb der sog. Franc-Zone zwischen Frankreich und 14 afrikanischen sowie einigen anderen überseeischen Staaten (vgl. Abschnitt 12.4). Daneben gibt es nicht-formelle, faktische Wechselkursunionen, z.B. früher zwischen Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Osterreich und der Schweiz: In allen vier Fällen wurde der Wechselkurs zur DM viele Jahre lang absolut stabil gehalten, so dass sich faktisch ein Fünferverbund gebildet hatte, und Brasilien, Argentinien Ecuador und Bolivien hatten ihre Währungen in unterschiedlicher Form - aber nur vorübergehend, das hat nie lange gehalten - an den US-Dollar gebunden, ebenso China, das erst 2005 auf massiven Druck den Wechselkurs freigab, so dass der Yuan deutlich aufwertete (Abb. 12/ 2). (3) Solche Wechselkursunionen sind Vorstufen, sind Quasi-Währungsunionen. Eine «richtige» Währungsunion setzt eine gemeinsame Währung der beteiligten Länder voraus. Dabei gibt es wiederum drei Varianten: (a) Zum einen können sich die Partnerländer auf eine der bereits in Umlauf befindlichen nationalen Währungen einigen, so wie es 1990 bei der Währungsunion zwischen der Bundesrepublik und der Ex- DDR zunächst der Fall war; Liberia und Ecuador haben den US-Dollar zur offiziellen Landeswährung erklärt (vgl. auch Abb. 12/ 3). (b) Zum anderen können sich die Partnerländer - theoretisch - auf eine «dritte», externe nationale Währung einigen; für diese Variante gibt es jedoch kein praktisches Beispiel. Abb. 12/ 2: Währungsverbund -$#1' *'@&A +$)% 1-@)# ('- 246 @1( 59+A 1/ 55+-! 5$1(@1& ('+ .@+1 )#! #' *%",%, &%# (+'# '+$ / 5'<$*$5$+$'-@1& ('+ 0')%+'5#@-+'+ 7 59-+'1 -'+&$'-'1 3$A -@-+&'>$11'1 7 ,@+A$33@1& $3 6@+5+1( <?page no="438"?> 408 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik (c) Drittens können die Mitglieder der Währungsunion eine neue, supranationale Währung einführen, die in keinem Mitgliedstaat oder einem anderen Land in Umlauf ist, wie es 1999 in der Europäischen Gemeinschaft mit dem Euro geschehen ist. Bevor wir auf die Europäische Währungsunion eingehen, machen wir noch einen kleinen theoretischen Abstecher. 12.1.3. Optimale Währungsräume Hinsichtlich der regionalen Abgrenzung von Währungsunionen - sei es in Form der oben angesprochenen Wechselkursunion (2) oder der Währungsunion i. e. S. (3) - versucht die sog. Theorie optimaler Währungsräume (OWR), Kriterien für ihre Konstruktion zu entwikkeln. Als Währungsraum wird dabei ein Gebiet verstanden, innerhalb dessen eine Gruppe von Ländern mit gemeinsamer Währung oder mit nationalen Währungen - bei voller Konvertibilität - mit absolut festen Wechselkursen miteinander verbunden sind, wobei der Währungsraum nach außen «floated». Die Mitglieder des Währungsraums geben dabei ihre währungspolitische Autonomie an eine supranationale Zentralbank ab. «Optimal» ist der Währungsraum dann, wenn trotz der Aufgabe des wirtschaftspolitischen Instruments der Wechselkursänderung - im Falle flexibler Wechselkurse - die Vorteile überwiegen, die sich aus der Währungsunion ergeben. Es gibt eine Vielzahl von Abgrenzungskriterien, die jedoch jeweils den Nachteil besitzen, sich nur auf eine ökonomische Größe zu stützen. Beispielsweise ist es danach sinnvoll, wenn ein relativ kleines Land, das eine intensive Handelsverflechtung mit einem großen Nachbarland hat, einen festen Wechselkurs beibehält. Genau dies war z.B. der Fall bei Belgien, Österreich oder den Niederlanden gegenüber Deutschland und gilt analog hinsichtlich der Währungsunion zwischen Liechtenstein und der Schweiz. Insgesamt ist die Theorie optimaler Währungsriiume nicht operational genug, um daraus im konkreten Fall politische Handlungsratschläge abzuleiten. Dennoch ließen sich daraus Überlegungen heranziehen, dass die Europäische Währungsunion sich zunächst auf einen Kern weniger Länder beschränkte, welche im Sinne der Kriterien eines OWR (Konvergenzkriterien) Erfolgsaussichten hatten. Abb. 12/ 3: Währungsunion 6,..7$5# ( %": @0,@7$5#' %*<0,5! .,5: 25 <?page no="439"?> 12.2. Beitritt zur EWU: Die Konvergenzkriterien Voraussetzung für den Beitritt zur Währungsunion war und ist nach dem Vertrag von Maastricht (1992) die Erfüllung bestimmter Konvergenzkriterien durch die Mitgliedsländer. Sie beziehen sich - verkürzt gesagt - auf • geordnete Staatsfinanzen (Schuldenstand, Haushaltsdefizit), • stabile Preise, • stabiles Zinsniveau und • stabile Wechselkurse. Die betrachteten Variablen sollen sich in den Teilnehmerländern einander annähern, also ähnliche Werte annehmen (konvergieren). Die Konvergenzkriterien hängen miteinander zusammen. Im Zentrum der Beobachtung stehen dabei vor allem zwei Verschuldungskriterien. Die jetzigen 11 Mitgliederländer der EWU werden auch Ins genannt, ergänzt durch Länder, deren baldiger Beitritt wahrscheinlich ist (Pre-Ins) und solchen, die auf längere Sicht draußen bleiben (Outs). Auch die Theorie optimaler Währungsräume kommt - vgl. unten - zu dem Schluss, dass es zu einem Europa der zwei bzw. drei Geschwindigkeiten kommen wird - im Sinne der Ins-, Pre-ins und Outs. Kritiker sprechen von einer 3-Klassen-Gesellschaft. Insgesamt ergibt sich ein Zielkonflikt zwischen einer möglichst großen Teilnehmerzahl an der Währungsunion auf der einen Seite («Vernunft statt Kommastellen») und dem Beharren auf einer akuraten Erfüllung der Konvergenzkriterien (« nur keine Konzessionen»). Betrachten wir die Konvergenzkriterien etwas genauer. (1) Schuldenstand Die staatlichen Schulden dürfen insgesamt 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten. Eine hohe Staatsverschuldung belastet den Kapitalmarkt und bewirkt tendenziell eine Ausweitung der Geldmenge und hohe Zinsen, was sich wiederum inflationär und abwertend auswirken kann. Die Diskussion konzentrierte sich längere Zeit darauf, ob «3,0%» auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Dabei ist hervorzuheben, dass der Prozentsatz politisch «gesetzt» wurde und sich nicht aus ökonomischen Überlegungen «berechnen» lässt: Es ist im Ergebnis ziemlich unerheblich, ob ein Land 2,9 oder 3,0 oder 3,1 oder auch 3,2% ausweist. Die Bedeutung lag hier vorrangig im Prinzipiellen, d.h. bei der Frage, wie streng man auf der Erfüllung vertraglich vereinbarter Kriterien bestehen will. 12.2. Beitritt zur EWU: Die k Konvergenzkriterien 409 <?page no="440"?> 410 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Die Formulierungen im Vertrag von Maastricht lassen übrigens durchaus eine Überschreitung des 3,0-Wertes zu, allerdings nur, wenn entweder die Relation «ausnahmsweise und vorübergehend» überschritten ist oder «erheblich und laufend» zurückgegangen ist und nun in der Nähe des Referenzwertes liegt. Letzteres traf z.B. auf Italien zu, das nicht sehr nahe an den Referenzwert von 3% gekommen war. Der Europäische Rat hatte dabei einen gewissen Entscheidungsspielraum, weil die Vertragsformulierungen eine Abweichung von den numerischen Kriterien durchaus zulassen. Es handelte sich also um eine in hohem Maße politische Entscheidung, welche Länder teilnehmen sollten. Insgesamt war man relativ großzügig: Deutschland hat dieses Kriterium vier Jahre in Folge (2002-2005) verletzt, ohne dass die Partner die vertraglichen möglichen Sanktionszahlungen verhängten. (2) Neuverschuldung Die Neuverschuldung (Nettokreditaufnahme) darf nicht höher Sein als 60% des BIP. Je höher die Nettokreditaufnahme ist, desto mehr steigt die gesamte Staatsverschuldung. Eine hohe Staatsverschuldung blockiert - wegen der hohen Tilgungs- und Zinsverpflichtungen - die Beweglichkeit der Finanzpolitik (vgl. Kap. 10) und handicapt den Staat bei der Umsetzung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik. (3) Inflationsrate Die Inflationsrate (gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) - vgl. Kap. 4) soll im Jahr vor dem Beitritt zur EWU nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte höher sein als der Durchschnitt der t drei stabilsten Länder. Das Inflationskriterium spricht wahrscheinlich für sich (Vernichtung von Geldvermögen, im Gegensatz zu Realvermögen: z.B. Immobilien). (4) Zinsniveau Das langfristige Zinsniveau soll mindestens ein Jahr vor dem Beitritt nicht höher liegen als im Durchschnitt der drei stabilsten Länder. Ein höheres Zinsniveau beeinträchtigt tendenziell die ökonomische Entwicklung, bremst die Nachfrage, lenkt Kapital aus Realinvestitionen in Finanzinvestitionen, behindert damit Wachstum und Beschäftigung. Besonders deutlich kann man dies an den privaten Bauinvestitionen sehen, die sehr zinsempfindlich sind, aber auch allgemein ist die kreditfinanzierte private Nachfrage zinselastisch. Auch das <?page no="441"?> Zinskriterium ist nur relativ definiert, und der Abstand von 2 Prozentpunkten ist ökonomisch nicht stringent abzuleiten, sondern nur plausibel. (5) Währungsstabilität Die Währungen müssen mindestens zwei Jahre lang in den Bandbreiten des EWS verblieben sein. Dies trifft heute folglich nur noch auf die Teilnehmer am EWS II zu. Das Kriterium der stabilen Wechselkurse soll sicherstellen, dass nur solche Währungen an der Währungsunion teilnehmen, die sich bereits über einen längeren Zeitraum hinweg als stabil und «zuverlässig» erwiesen haben. Der Zeitraum von lediglich zwei Jahren leitet sich aus der relativ geringen Vorlaufphase seit Inkrafttreten des Maastrichtvertrags ab (Italien und Finnland waren beispielsweise wirklich gerade noch im allerletzten Augenblick im Dezember 1996 dem EWS beigetreten, im Hinblick auf 1. 1. 1999). Inflation und Zinsen wirken sich tendenziell destabilisierend auf den Wechselkurs aus, indem sie auf eine Abwertung hinwirken. (6) Praxis Die meisten der Teilnehmerländer der EWU haben bis 1998 erhebliche Anstrengungen unternommen, um die im Vertrag von Maastricht verankerten Konvergenzkriterien - mehr oder weniger überzeugend - zu erfüllen. Dabei wurde schon damals mit allerlei statistischen Tricks gearbeitet, um die Ergebnisse schönzurechnen. Dies ist bei drei eindeutig feststellbaren Kriterien, der Inflation, beim Zinsniveau und beim Wechselkurs kaum möglich, wohl aber bei den Verschuldungskriterien bezüglich der Solidität des Haushalts: Viele Staaten, die gerne von Anfang an dabei sein wollten, reduzieren bzw. reduzierten den Verschuldungsdruck durch listenreiche Tricks. Allgemein sind drei Varianten möglich, um die Staatsverschuldung zu «drücken»: • Verkauf von Aktiva, um Einnahmen zu erhöhen (solche Einmalaktionen [«Verkauf von Tafelsilber»] werden auch mit dem Argument der Privatisierung verteidigt), • Vorziehen von Einnahmen oder • zeitliche Verschiebung von Ausgaben oder Verlagerung von Ausgaben und Schulden in den Privatsektor. Dabei sei auch an die Ausführungen zu den Neben- und Schattenhaushalten erinnert (Abschn. 10.3.1.2). 12.2. Beitritt zur EWU: Die k Konvergenzkriterien 411 <?page no="442"?> 412 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Solche als Buchungstricks, kreative Buchführung oder kosmetische Verschönerungen kritisierten Einfälle und phantasievollen Erfindungen müssen vom Statistischen Amt der EU (EuroStat) anerkannt werden, weil dieses Amt die offiziellen Zahlen ermittelt. Diese Behörde ist fest in französischer Hand. Den Preis für die originellste Idee verleih ich - Zufall oder nicht - Frankreich. Frankreich kassierte einen Riesenzuschuss der privaten französischen Telekom für die Gegenleistung, später Pensionsleistungen zu übernehmen. Das dicke Ende kommt also irgendwann in vielen Jahren. Effekt bei der Staatsverschuldung : -0,45% (Abb. 12/ 4). Belgien hatte die Fluggesellschaft Sabena, zwei Banken und die Telekom privatisiert. Privatisierungen bringen Einnahmen und verlagern ehemalige Staatsschulden in den Privatsektor, wo sie für das Konvergenzkriterium nicht mehr mitgezählt werden (Bundesbahn, Bundespost) (dto. Spanien hatte 1997/ 98 den größten Privatisierungsschub in seiner Geschichte). Öffentliche Schulden werden von Privaten übernommen, während der Staat nur noch für die Schulden garantiert. Ein zentrales Problem liegt darin, dass - wenn an sich solide Staaten zu solchen Maßnahmen greifen - sie dies schlecht anderen Staaten verwehren können. Abb. 12/ 4: Kreative Buchführung 1#-3./ 3(*0(, -%& ,3& 2./ %))3*+"(-1 -) 6%&'! 40%) , + A + HI H))F H))C H)), H))) GIIH GIIF HI + A D G I G G D A C D .,*' 1/ $ 2"(/ % &)( ($/ ,()! / $ 6&3*-8*$&%+ HMH IMA IM) IMA IM, H))F H))C H)), H))) GIIH GIIF HMI HMC GMI IMC I HMH HMI HMH HMH HMD GMG 4&$3*#3*%)((')3*/ # 7&#&,5 R5 : 24NV50 WV1 ">: HO 2"(/ %"0/ $+'/ )3* 80\\0 ? 2RVXSV5P\5W HH GMD >0\PRV5 + IM) : 420! T\P , HMI "VPTRV5 A IM, >2P\5W A IMC ; RVWV2P\5WV C IM, *10V22VRXS C IMF 83\5RV5 D IMA @R55P\5W D IMA @2\5Q2VRXS D IMF <! -V6Y! 0T H HM+ ]V! 01XSP\5W H IMG $! 16\L ZR5 : 24NV50 WV1 ">: O GO =\S2V Q2V\0R/ V2 "! XSU#S2! 5T HO 75TV.RXS0V0V2 ]! 2XS1XS5R00 WV2 6\5R3! PRV2V5WV5 <^5WV2 GO ]! 2XS1XS5R00 R5 WV5 =\S2V5M R5 WV5V5 6\5R3! PRV20 .! 2WVK 9! VPPV5( '[_]& VRTV5V "V2VXS5! 5TV5 <?page no="443"?> Im November 2004 wurde bekannt, dass Griechenland die Konvergenzkriterien zu keinem Zeitpunkt erfüllt hatte. Stattdessen hatte es das tatsächliche Haushaltsdefizit verschleiert, indem gefälschte Daten an die EU-Kommission gemeldet worden waren. Die griechischen Tricks waren allerdings schon früh bekannt; bereits im Juni 2001 gab es Anfragen griechischer Abgeordneter aus dem Europäischen Parlament an die Europäische Kommission. Diese ignorierte jedoch die Warnungen. Die eigentlich irreguläre Teilnahme am Euro hatte und hat allerdings keine rechtlichen Konsequenzen, da ein derartiger Fall in den Verträgen nicht berücksichtigt ist. Aber auch in Deutschland wurde schöngerechnet. Vielleicht erinnert sich der Leser noch an den Vorschlag von weiland Finanzminister Waigel, die Goldreserven der Bundesbank höher zu bewerten. Dies wäre durchaus möglich gewesen und ökonomisch gar nicht einmal unsinnig, denn sie wurden nach dem Niederstwertprinzip zum Anschaffungswert bilanziert und haben tatsächlich einen viel höheren Marktwert. Der entstehende Buchgewinn der Bundesbank wäre dann an den Finanzminister ausgeschüttet worden. Ein Sturm der Entrüstung und Empörung, nicht nur seitens der Bundesbank, hat die Verwirklichung dieser Idee verhindert. Auch ein Verkauf der staatlichen Rohölreseryen wurde überlegt. Die restlichen Bundesanteile an der Postbank und der Telekom wurden ebenso wie Lufthansaaktien - vorübergehend - an die staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau verkauft: eine zusätzliche Einnahme. In Deutschland, Spanien und anderen Ländern wurden und werden staatliche Baumaßnahmen durch Private vorfinanziert: z.B. finanzieren private Investoren eine Straße, Sozialwohnungen, Stromleitungen, Mülldeponien oder Behördengebäude; der Staat mietet oder least die Investition, was natürlich den kurzfristigen Finanzaufwand verringert. Analog kann man öffentliche Gebäude verkaufen und zurückmieten. Belgien hat Goldreserven verkauft, um Schulden zurückzuzahlen. Italien verschafft sich über eine eilig eingerichtete Eurosteuer zusätzliche Einnahmen, die in einigen Jahren zurückgezahlt werden sollen - mit Zustimmung von EuroStat. Außerdem wurden Teile der sog. Schattenwirtschaft (Schwarzarbeit, Hausarbeit) dem BIP zugeschätzt. Unterschiede in den in der Öffentlichkeit gehandelten Zahlen erklären sich übrigens teilweise daraus, dass einige Zahlen auf der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) beruhen, andere auf der Finanzstatistik, die unterschiedliche Abgrenzungen der öffentlichen Hände beinhalten. Ende 1998 errechnete das Statistische Bundesamt in Wiesbaden - eine Fernsehmoderatorin hat es früher 12.2. Beitritt zur EWU: Die k Konvergenzkriterien 413 <?page no="444"?> 414 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik einmal durch einen wunderschönen Versprecher zum Bhuddistischen Standesamt umgewidmet - plötzlich einen Verschuldungsgrad statt von 3,2% nun von gerade 3% aus, eine sog. Punktlandung. Man sprach vom «Wunder von Wiesbaden». Erklärt wurde dies mit turnusgemäßen Revisionen der VGR. Beispielsweise wurden die Defizite der öffentlichen Krankenhäuser - angeblich auf Drängen des Statistischen Amtes der EU - EuroStat - ausgeklammert (Effekt: -0,2%), aber die Revision ergab allgemein geringere Ausgaben und höhere Einnahmen, als zuvor geschätzt wurden. Wichtig ist aber, dass solche Stabilitätskriterien nicht nur «kurzatmig, mit hechelnder Zunge» (Ex-Bundesbankpräsident Tietmeyer) und kurzfristig erreicht werden, sondern eine grundsätzlich solide Situation beschreiben. Das scheint zwar immer gut nachvollziehbar. Neben realwirtschaftlichen Anpassungserfolgen haben offenbar auch strohfeuerartige einmalige Aktionen und kosmetische statistische Operationen dazu beigetragen. Der Konvergenzerfolg ist daher in erster Linie als Stichtagserfolg anzusehen. Dies berührt natürlich die Frage, was geschehen soll, wenn ein Land nach dem Beitritt die Kriterien nicht mehr beachtet. Auf deutschen Druck (! ) (das war vor der «schwierigen» Zeit mit dem oben erwähnten 3%-Kriterium…) wurde daher im Dezember 1996 in Dublin im Nachgang zu den Maastricht-Verträgen der sog. Stabilitätspakt (und Wachstumspakt) geschlossen und im April 1997 in Nordwijk und im Juli 1997 in Amsterdam konkretisiert. Dieser auch Maastricht II genannte Ergänzungsvertrag fordert dauerhafte finanzpolitische Solidität und ermöglicht für den Fall einer Abweichung von den vereinbarten Stabilitätskriterien sogar theoretisch Sanktionen der Partnerländer in Form von, allerdings nicht automatisch. Das Verfahren ist kompliziert: Wenn ein Land z.B. das Verschuldungskriterium verletzt, erstellt die Europäische Kommission einen Bericht. Der Wirtschafts- und Finanzrat der EU (ECOFIN) beurteilt, ob besondere Umstände vorliegen, die vom Rat entschuldigt werden können (Art. 10 EGV). Geschieht dies nicht, kann das Mitglied mit qualifizierter Mehrheit der Stimmen der Mitglieder der Währungsunion zu Gegenmaßnahmen aufgefordert werden (für ein Veto reichen relativ wenige Stimmen). Wenn - wiederum durch Ratsbeschluss - festgestellt wird, dass den Empfehlungen «nicht wirksam» Folge geleistet wurde, muss das Land eine Sicherheitseinlage in Höhe von 10% des Wertes über «3%» leisten - sofern der Rat dies nicht entschuldigt. Wenn das Kriterium auch im folgenden Jahr verletzt wird, ist eine erneute Einlage fällig. Wenn das Kriterium auch im dritten Jahr nicht erfüllt wird, verfallen beide Einlagen <?page no="445"?> - werden also nicht zurückgezahlt-, wiederum durch Beschluss des Rates. Diese Bußgelder können pro Jahr maximal 0,5% des BIP ausmachen. Dieser Sanktionsmechanismus hat in der Praxis bislang nicht funktioniert, denn die Entscheidung über die Verhängung eines Bußgeldes erfordert bis zu 2 1/ 2 Jahren und hängt von einer Reihe von politischen Entscheidungen ab, wobei die Betroffenen über sich selbst mitentscheiden. Es gibt keine Automatik, die abschreckende Wirkung ist - wie wir beobachten konnten - folglich gering. Die geplanten Beitritte der kleinen Länder Slowakei, Maltas und Zyperns scheiterten bisher an den zu hohen Inflationsraten, in denen sich das kräftige Wirtschaftswachstum widerspiegelte; für Lettland sind 7% Inflation bislang ein K.o.-Kriterium. In den großen Volkswirtschaften Polen, Tschechien und Ungarn hat die stark wachsene Staatsverschuldung eine Euro-Einführung verhindert. 12.3. Vertrauensverlust in den Euro? Nicht einmal zehn Jahre nach Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion hat der Wille zur Regelwahrung in der Finanzpolitik nachgelassen, und damit haben die zugrundeliegenden Regelwerke an Glaubwürdigkeit verloren. Wichtige Kernstaaten wie Frankreich und Deutschland haben verschiedentlich und dauerhaft «ungestraft» gegen die Stabilitätskriterien verstoßen. Die Kommission hat daher vorgeschlagen, länderspezifische Besonderheiten - was immer das heißen mag - stärker zu berücksichtigen (Abb. 12/ 5). Zudem sollen bestimmte Aufweichungen zulässig sein, indem z.B. die Verschuldung als «rasch genug» oder «hinreichend rückläufig» beschrieben wird, der Haushalt auch nur «nahezu ausgeglichen» sein darf. Es wäre nicht unrealistisch anzunehmen, dass auch andere als die bisherigen Sünder-Länder an solchen Abschwächungen gefallen finden könnten. Die Popularität des Euro nimmt nach Umfrageergebnissen der EU kontinuierlich ab. Als Angelpunkt der Währungsunion steht der Euro in vielen Ländern bei der Bevölkerung im Verdacht, doch ein Abb. 12/ 5: Stabilitätspakt &8""499? --? 46 1/ =,+ 860./ B6*.6 69 ; +64? ; ? +3+-16>+ +.)/ &/ 9.--.6--1? .; / 6B9 ? 6 0./ #6B-)6; +-=4./ A62)B6* 7 $/ ? .2).6; 660 ? B/ 3? 666? >4/ / .>+B/ 6B,*.,4/ 0./ + 12.3. l Vertrauensverlust in dden Euro? 415 <?page no="446"?> 416 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik TEURO zu sein. Im Abschnitt 4.4.3 haben wir dies bereits beleuchtet; Sie werden sich an die Überlegungen zur «gefühlten Inflation» erinnern. So mancher positive Nebeneffekt der Währungsunion trat bislang nicht ein. Noch immer muss man meist recht hohe Gebühren zahlen, wenn man sich im Ausland am Automaten mit Bargeld versorgt. Unbeschadet der amtlichen Statistiken, die einen Teuerungseffekt nachdrücklich abstreiten, ist aber in vielen Bereichen ein Gewöhnungseffekt an höhere Preise zu beobachten; insbesondere die Jugend geht mit dem Euro fast genauso um wie die nun Älteren früher mit der DM. Die EZB hat ermittelt, dass rund ein Drittel der Deutschen immer noch Probleme hat, mit den Euro- und Cent-Münzen umzugehen. Viele Bürger rechnen nach wie vor in DM um, und nicht wenige horten zu Hause DM; die Bundesbank schätzt diese Summe auf 14 Milliarden DM. Sollten sie es sich anders überlegen: Der Umtausch ist unbegrenzt möglich. In den Medien tauchen immer wieder Meldungen auf bezüglich der Verbreitung von Falschgeld. Die Europäische Zentralbank spielt das Problem herunter und versichert, dass die Chance auf einen Lotto-Hauptgewinn größer sei als das Risiko, eine gefälschte Banknote angedreht zu bekommen. Andererseits nimmt insbesondere der Umlauf falscher 100- und insbesondere 50-Euro-Scheine mit so hervorragender Qualität zu, dass auch Spezialisten zweimal hinschauen müssen. Man liest von einem Falschgeldvolumen von über 35 Mio. Euro (davon rd. 5 Mio. in Deutschland). Nach der Rechtslage muss man eine entdeckte «Blüte» umgehend der Polizei übergeben - entschädigungslos. Da liegt die Versuchung nahe, sie ebenso umgehend wieder in Umlauf zu bringen, auch wenn das strafbar ist. Ab 2008 soll eine völlig überarbeitete zweite Euroserie ausgegeben werden. Unabhängig von solchen Mißtönen darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass der Euro ganz unstrittig die Wirtschaftsprozesse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft vereinfacht hat, und in mancherlei Hinsicht sind dadurch die Transaktionskosten gesunken. Inwieweit der Euro Bestandteil der Devisenreserven der Zentralbanken geworden ist, ist sogar der Europäischen Zentralbank nur in Umrissen bekannt. Der IWF kennt zwar den Gesamtwert der Reserven, weil dieser (freiwillig) meldepflichtig ist, aber die Reserven müssen nicht nach Währungen aufgeschlüsselt werden («Cofer» - Currency Composition of Official Foreign Exchange Reserves). <?page no="447"?> 12.4. Exkurs: Franc-(CFA)-Zone Zwischen der EU und 15 west- und zentralafrikanischen Staaten sowie den Komoren 45 besteht eine Wechselkursunion; das französische Finanzministerium garantiert die Wechselkursbindung. Frankreich hatte die Wechselkursunion 1939 formal für seine Kolonien geschaffen; faktisch bestand sie schon Ende des 19. Jahrhundert im Rahmen des Empire Français. Genau genommen gibt es drei Franc-Zonen: zwei afrikanische und eine pazifische 46 , dennoch spricht man meist von der Franc-Zone. Hinzu kommen die ehemaligen Kolonien Kap Verde und Komoren. Die Franc-Zone wird von der französischen Notenbank gesteuert. Im Zentrum steht der konvertierbare Franc-CFA (Communauté Financière Africaine) 47 , der «schwarze Franc», der in jedem der afrikanischen Mitgliedsstaaten in einer nationalen Version kursiert, und - theoretisch - können Geldscheine aus Burkina Faso auch im Senegal oder sonstwo in der Zone verwendet werden. Theoretisch; man wird Schwierigkeiten haben, ausländische Scheine auf einem afrikanischen Wochenmarkt problemlos zu verwenden. Der CFA-Franc stand früher zum «weißen Franc» Frankreichs in einem festen Kursverhältnis von 1: 50. Dieses wurde nur einmal - 1994 - geändert, und zwar durch eine massive Abwertung des CFA-Franc um 50% (dann 1: 100), weil die alte Parität absolut unrealistisch geworden war, aber bis dahin aus offensichtlichen politischen und entwicklungspolitischen Gründen beibehalten wurde. Das war natürlich ein Schock für die afrikanischen Wirtschaften und hat zu massiven Entwicklungshilfetransfers geführt, ohne alle Konsequenzen kompensieren zu können. Heute existiert ein genauso fixes Kursverhältnis zum Euro von 1: 656. Der Nachteil der Kursfixierung sind hohe, d.h. unattraktive Exportpreise aus Afrika, der Vorteil eine sehr niedrige Inflation, weil Frankreich die Geldmenge rigoros kontrolliert (das ist auch heute so). Daher stellt die CFA-Zone keine Gefahr für den Euro dar. Es ist aber anzunehmen, dass mittelfristig diese international einmalige Konstruktion zugunsten flexibler Wechselkurse aufgegeben werden wird, was den Exportbemühungen 45 Äquatorialguinea, Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Gabun, Guinea- Bissau, Kamerun, Komoren, Republik Kongo, Mali, Niger, Senegal, Togo, Tschad und die Zentralafrikanische Republik. 46 Zur CFP-Zone (Communauté Financière du Pacifique) zählen Neukaledonien, Wallis und Futura sowie Französisch Polynesien. 47 Alternativ wird die Abkürzung CFA auch erläutert mit Franc des Colonies Françaises d›Afrique (F CFA). 12.4. k Exkurs: Franc-(CFA)-Zone 417 <?page no="448"?> 418 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik der afrikanischen Staaten sicherlich Auftrieb verleihen, aber ebenso sicher zu massiver Afrika-interner Inflation führen würde. Neben der CFA-Zone gibt es noch die CFP-Zone 12.5. Devisenmarkt 12.5.1. Devisenhandel Devisen werden seit Ende des 19. Jahrhunderts international gehandelt. Ab 1880 wurden Transaktionen über ein Atlantikkabel zwischen Irland und New York getätigt (in der älteren Kaufmannsgeneration hört man auch heute manchmal noch: «Kabeln Sie mir das doch bitte schnell mal ’rüber»). In Deutschland gibt es seit 1999 nur noch eine einzige Devisenbörse (in Frankfurt); die größten internationalen Devisenbörsen sind London, New York, Tokio und Frankfurt. Die Devisenbörsen haben für den internationalen Devisenhandel allerdings sowieso nur nachgeordnete Bedeutung: Nur ein Bruchteil des Devisenhandels (1-2%) läuft über sie, während sich der allergrößte Teil vor- und nachbörslich im Telefonhandel und zunehmend im Internethandel zwischen den Banken und anderen professionellen Devisenhändlern und -maklern abspielt (OTC-Handel: nicht-zentralisierter Handel «over the counter»). Viele Händler bedauern das Abnehmen des Telefonhandels (obgleich dieser zeitintensiv und fehleranfällig ist), weil dadurch die persönliche Nähe verloren geht. Die Händler sind hinsichtlich ihrer Kursstellungen völlig frei: An- und Verkaufskurse richten sich nach Angebot und Nachfrage; die Kurse schwanken entsprechend im Tagesverlauf. Die Zahl der Marktteilnehmer nimmt durch Fusionen ständig ab. Der Devisenhandel wird auf ein Volumen von täglich 1,3 Billionen USD (rund 60 Prozent mehr als vor zehn Jahren) mit rd. 300.000 Transaktionen geschätzt, ein zig-faches des Güterhandels, davon 87% in USD. Der Gesamtumsatz konzentriert sich in abnehmender Bedeutung auf Europa, USA und Asien. Im Geschäft zwischen Devisenhändlern werden die frei veränderlichen Kurse des Telefonhandels (Freiverkehr) angewendet, im Geschäft mit Privatkunden legen die Banken den Euro-Fixingkurs bzw. eigene Referenzkurse zugrunde. Dabei ist zwischen Eigengeschäften zu unterscheiden, denen keine Kundenaufträge zugrundeliegen, und der Abwicklung von Kundengeschäften. Bei Kassageschäften für Kunden handelt die Bank als Kommissionär - mit Selbsteintrittsrecht -, d.h. im eigenen Namen auf fremde Rechnung, deren Risiko jeweils durch Glattstellungen, d.h. entsprechend gegenläufige Geschäfte, kompensiert <?page no="449"?> wird. Wird das Selbsteintrittrecht wahrgenommen, können die Banken z.B. aus eigenen Beständen verkaufen oder angebotene Positionen selbst übernehmen. Termingeschäfte sind Eigengeschäfte der Banken. Die zwischenstaatlichen Transaktionen, beispielsweise innerhalb des Europäischen Zentralbanken-Systems (EZS), werden zu den Referenzkursen der Notenbanken abgewickelt. Aus Unternehmenssicht können Devisenaufträge unter verschiedenen Bedingungen gegeben werden. Der einfachste Auftrag ist die Marktpreis-Order , d.h. der Auftrag wird zum nächsten handelbaren Marktpreis ausgeführt. Dies beinhaltet natürlich ein gewisses Risiko, weil der dann anzuwendende Kurs - je nach Abwicklungsdauer - vom derzeitigen aktuellen Marktkurs abweichen kann. Man kann auch eine Direkt-Order (direkt deal) abgeben, d.h. der Auftrag soll nur zum aktuellen Kurs ausgeführt werden. Wenn dies nicht möglich ist, wird der Devisenhändler (die Bank) ein Requote machen, d.h. den realisierbaren Kurs anbieten. Schließlich kann eine Limit-Order gegeben werden, d.h. der Kunde gibt einen (aus seiner Sicht günstigeren) Kurs vor, der erreicht sein muss, bevor der Auftrag ausgeführt wird. Im Falle einer Stopp-Order erhält die Bank den Auftrag, zu einem schlechteren Kurs als dem aktuellen zu handeln, um entstehende Verluste zu begrenzen (Stopp-loss-Order) oder um erst ab einem bestimmten Kurs eine Devisenposition aufzubauen. Es gibt noch weitere Order-Varianten. Neben den Banken und den darauf spezialisierten Devisenhändlern und -maklern treten auch größere Industrieunternehmen und Handelshäuser direkt am Devisenmarkt als Teilnehmer auf. Das äußere Bild bei Devisenhändlern hat sich verändert. Sie sitzen zwar (immer noch) in einem Dschungel von Telefonen und bedauern, nur zwei Ohren zu haben. Mit den wichtigsten Geschäftspartnern sind sie in der Regel durch Standleitungen verbunden. Insbesondere aber wird die Szene von Monitoren beherrscht, auf denen die sich an vielen Orten der Welt bildenden Kurse gleichzeitig verfolgt werden können. Viele Transaktionen - Käufe, Verkäufe - werden automatisch von entsprechenden Programmen ausgelöst. Dennoch herrscht oft Hektik, denn gerade wegen dieser Technisierung ist der Devisenmarkt für alle sehr transparent, und das Ausnützen von Vorteilen muss blitzschnell gehen. Daher hat sich eine eigene, für den Außenstehenden oft unverständliche Sprache entwickelt. Devisenkurse werden meist bis in die vierte, teilweise fünfte Stelle nach dem Komma berechnet. Solche Zahlenkolonnen wären in der Kommunikation aber viel zu zeitraubend und vor allem fehlerträchtig, so dass man die ersten beiden Nachkommastellen weglässt, die ohnehin 12.5. k Devisenmarkt 419 <?page no="450"?> 420 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik jeder im Kopf hat. Die ersten beiden Stellen nach dem Komma heißen daher auch big figure (in den USA auch handle: Griff, Hebel) die folgenden small figure. Wenn der Dollarkurs für einen Euro beispielsweise um 1,20 USD herum liegt, dann wird sich ein Devisenhändler überlegen, welchen Kurs er stellen wird, wenn er angesprochen wird, d.h. zu einem Angebot (Quotierung) aufgefordert wird. Das kann z.B. sein «fünfundzwanzig, fünfunddreißig». Das bedeutet, dass er 1 EUR für 1,2025 USD ankauft (sein EUR-Geldkurs: d.h. er verkauft USD zu 0,8316 EUR) und 1 EUR zu 1,2035 USD verkauft (sein EUR-Briefkurs: d.h. er kauft USD zu 0,8309 EUR). Die Differenz zwischen diesen beiden Kursen, über die jeder Händler für sich selbst entscheidet, beträgt üblicherweise zehn ‹Stellen› (wie bei 55/ 65). Je kleiner die Spanne ist, d.h. je «kulanter» die Kurse sind, desto kleiner sind natürlich die Verdienstmöglichkeiten des Händlers bzw. der Bank, aber desto eher kommt er (sie) auch ins Geschäft. Im Kundengeschäft sind die Spannen meist größer als zwischen Banken bzw. Händlern. Dabei gibt es unter Devisenhändler übliche Gebräuche (Usancen): Ein angesprochener Händler muss einen Geld- und einen Briefkurs nennen (‹stellen›), und wenn der Anrufer es so möchte, muss der angerufene Händler zu diesen Kursen kaufen bzw. verkaufen. Der anbietende Händler wird Market Maker genannt. Natürlich kann man auch einmal Abwehrkonditionen, d.h. unrealistische Kurse nennen («colouring the figures»). Dann wird man hören «Thanks, but we saw it slightly better», und der Anrufer wird an anderer Stelle seinen Kontrakt abschließen. Daraus kann man auch als Bankkunde lernen: Fragen Sie nicht lediglich nach einem (z.B. USD-) Angebots- oder Verkaufskurs, sondern nach dem aktuellen USD-Kurs schlechthin, denn dann wird man Ihnen beide Teilkurse - Geld und Brief - nennen. Aber vielleicht ist das doch eher für Devisenhandelsprofis von Bedeutung. Auch die gehandelten Beträge werden verkürzt wiedergegeben: «100 EUR» sind 100 Millionen EUR, und mit «an Sie! » (oder: «Ich gebe Ihnen ...») ist gerade ein Verkauf und mit «von Ihnen» («Ich nehme») ein Kauf getätigt worden. In Deutschland werden meist Kontrakte (Pakete) über 3 bis 5 Millionen EUR gehandelt. Kleinere Beträge können imageschädlich wirken, aber selten werden mehr als 20 Mio. auf einmal gehandelt. Ein Devisenmakler, der also nicht auf eigene Rechnung handelt, verdient pro 1-Million-Euro-Kontrakt 10-25 Euro von jeder ‹Seite›, d.h. sowohl Käufer als auch Verkäufer zahlen dem Vermittler diesen Betrag. Kursdifferenzen von tausendstel Cent summieren sich zu erheblichen <?page no="451"?> Beträgen. Wenn ein Händler «50 Euro» (also 50 Millionen EUR) gegen Dollar zu 1,2945 gekauft hat und zu 1,2948 verkauft, hat er ‹drei Stellen gutgemacht› und hat - möglicherweise in wenigen Sekunden - 15.000 EUR Gewinn gemacht. Nicht schlecht. Um Devisenmakler zu werden, benötigt man in Deutschland lediglich einen Gewerbeschein; eine Zulassung wie in anderen westlichen Industrieländern ist nicht erforderlich. Bank A ruft Bank B an: B: (der Devisenhändler meldet sich mit Namen; man kennt sich) A: Wie ist Dein Kassa-Dollar? (gemeint ist: «Wie handeln Sie Euro gegen USD zur Lieferung innerhalb von zwei Geschäftstagen? ») B: 55 zu 65. Das bedeutet «1 EUR = 1,2955 USD» (Geld) (= Euroankauf/ Dollarverkauf) bzw. 1,2965 (Brief) (= Euroverkauf/ Dollarankauf) A: OK, ich nehme 5. A akzeptiert das Angebot und «kauft» 5 Mio. EUR zu 1,2965 USD, d.h. er verkauft 6.482.500,00 USD zu 0,7713 EUR (= 1 ' 1,2965) (5.000.000 * 1,2965 = 6.482.500,00) B: Ich gebe Dir 5 zu 65. Euro zu Lasten meines Kontos. (Bestätigung) Die Dollar-kaufende Bank B unterhält ein Konto bei der Bank A, dem der Euro-Gegenwert belastet werden soll. A: Wo willst Du die Dollar? B: Zur Chase, bitte. Die Dollar-kaufende Bank B unterhält ein Konto bei der Chase Manhattan Bank of New York A: OK, und danke! Das Ganze dauert keine 30 Sekunden. Bei den gewaltigen Summen, die täglich umgesetzt werden, können sich somit Gewinne und Verluste zu gleichfalls stolzen Beträgen summieren, so dass man sich vorstellen kann, unter welchem nervlichen Druck diese Kontrakte abgeschlossen werden. Und alles am Telefon: Das gesprochene Wort eines Devisenhändlers gilt; wenn er sich nicht daran hält - was juristisch vielleicht möglich wäre - wäre er sehr schnell ‹draußen›, weil sich so etwas blitzschnell im Markt herumspricht und niemand mehr Kontrakte mit ihm machen würde. 12.5. k Devisenmarkt 421 <?page no="452"?> 422 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Von einem Devisenhändler 48 habe ich einmal folgende Anekdote gehört: Ein deutscher Devisenhändler rief abends kurz vor 19.00 h bei einer Londoner Bank an und erkundigte sich nach dem Pfund-Dollar- Kurs. Der Engländer war leicht entrüstet wegen der späten Tageszeit, zu der kein regulärer Handel in Europa mehr stattfindet: «Sir, it’s five to seven! » und meinte damit die Uhrzeit. Der Frankfurter sagte darauf: «OK, I give you 3 at five! ». Angeblich soll das Geschäft trotz des offenkundigen Missverständnisses zustande gekommen sein. Erst nach dem telefonischen Abschluss werden schriftliche Händlernoten erstellt, die dann als Grundlage für die buchmäßige Abwicklung dienen. Viele Devisenhändler zeichnen als Gedächtnisstütze das telefonische Geschehen auf Tonband auf; mancher Streitfall lässt sich so schnell klären, unabhängig davon, dass dies juristisch nicht als Beweismittel dient. Gegebenfalls teilt man sich auch schon mal den Schaden. Aber wie gesagt: Das gesprochene Wort gilt, und man kennt sich: Sehr viele Händler sprechen sich mit dem Vornamen an und halten schon mal ein Schwätzchen über die Familie oder den letzten Urlaub, wenn grade kein Stress ist. Nicht nur wegen des Stressfaktors sollte ein Devisenhändler eine gewisse ‹Zockermentalität› haben. In den Handelsräumen der Händler (bei großen Banken arbeiten dort durchaus 200 Kassahändler) dominieren (zahlenmäßig! ) Anfangsbis Mitt-Zwanziger. (Man soll wegen der nervlichen Belastung sogar schon mal hier und da von einer gewissen Drogen- und Alkoholneigung gehört haben, aber das wird sicherlich nicht stimmen.) Ab 30 Lebensaltersjahren sollte folglich eine Position als Chefhändler in Aussicht stehen, wo es (meist) etwas ruhiger zugeht und man hauptsächlich die Youngster im Auge behält. Bis dahin muss man als Devisenhändler für die Bank pro Jahr - sagen wir - etwa 500.000 EUR verdienen, nicht Umsatz, das wäre sehr leicht, sondern Gewinn. Erst danach winken - je nach Bank - Gewinnbeteiligungen, die das Leben erst schön machen, sagen wir: 20-30% (vom Gewinn natürlich, nicht vom Umsatz). Nach dem durch dubiose Devisengeschäfte ausgelösten Zusammenbruch der Herstatt-Bank im Jahre 1974 wurde seitens der Bundesbank durchgesetzt, dass eine organisatorische Dreiteilung stattfindet, indem der Devisenhandel (am Telefon), die Abwicklung der geschlossenen Geschäfte (z.B. Verkauf von Wertpapieren, in denen Devisen angelegt waren, sowie Überweisung - «Anschaffung» - der verkauften Beträge) und Buchung organisatorisch getrennt erfolgen, um Mauscheleien (fast) unmöglich zu machen (Sechs-Augen-Prinzip). 48 Peter Fischer-Erlach, Deutsche Bundesbank. <?page no="453"?> Der internationale Devisenhandel (FOREX-Handel) läuft wegen der Verschiebung der Zeitzonen rund um die Uhr und rund um die Welt. Wenn in Europa geschlossen wird, läuft in New York das Geschäft noch, und ein deutscher Devisenhändler kann natürlich aus seiner Sicht nachts auf der anderen Seite des Erdballs in Japan Transaktionen abwickeln. Und über Nacht kann sich viel verändern. Seit 2002 sorgt das Continuous(ly) Linked Settlement ( t CLS) dafür, dass trotz der Zeitverschiebung immer «Zahlung gegen Zahlung» erfolgt. Daraus könnte ein neuer Markt für «Stundengeld» entstehen. Im Hinblick auf die Gewinnüberlegungen ist zwischen Spekulation und Arbitrage zu unterscheiden. Bei Kurs-Arbitragen werden Kursunterschiede genutzt, die zum selben Zeitpunkt an verschiede t nen Börsenplätzen auftreten (Platzarbitrage ), z.B. wenn man Dollars in Frankfurt zu 0,7736 Euro kaufen und in Tokyo zu 0,7739 Euro verkaufen kann. Solche Geschäfte sind relativ selten, weil durch die Vernetzung der Informationssysteme derartige Vorteile sofort von vielen Devisenhändlern ausgenutzt würden, so dass sich die Kursunterschiede durch entsprechende Angebots- und Nachfrageverschiebungen sofort einebnen. Andererseits werden die top-aktuellen Kurse im Internet mit i. d. R. 20-30 Sekunden Zeitversetzung angegeben, und bei großen Beträgen bedeuten Unterschiede in der 3. und auch noch der 4. Nachkommastelle erheblichen Summen. Analog gibt es auch Zinsarbitragen, mit denen Zinsdifferenzen zwischen verschiedenen Geldmärkten ausgenutzt werden, da ist der Zeitdruck natürlich kaum ein Problem. Mit Kurs-Spekulation wird auf eine günstige Kursentwicklungen im Zeitablauf gesetzt (Zeitarbitrage ); z.B. würde es in Erwartung fallender EUR/ Dollarkurse (Mengennotierung! ) (also steigender Kurse in der Preisnotierung USD/ EUR) lohnend sein, heute Kassadollars zu kaufen, um sie später mit Gewinn zu verkaufen. Auch per Termin ließe sich u.a. so spekulieren, dass man per Termin Dollars verkauft in der Hoffnung, dass der Kassakurs später entsprechend höher liegt (Mengennotierung) und man die Verkaufverpflichtung günstig am Kassamarkt eindecken kann. 12.5.2. Einflussfaktoren auf die Wechselkursbildung Ein freier und flexibler Wechselkurs - als Wertverhältnis zwischen in- und ausländischer Währung - ergibt sich aus Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten. Angebot und Nachfrage resultieren vor allem aus den folgenden Transaktionen (Abb. 12/ 6): 12.5. k Devisenmarkt 423 <?page no="454"?> 424 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik (1) Die wichtigste Einflussgröße sind sicherlich kurzfristige Erwartungen bezüglich der künftigen Entwicklung eines Wechselkurses (Kursspekulation) . Wer z.B. auf steigende Dollarkurse setzt, wird heute Dollars kaufen, um sie später mit Gewinn wieder zu verkaufen; wer Dollarbestände besitzt, wird sie in Erwartung fallender Kurse heute verkaufen, um sie ggf. später günstiger zurückzukaufen. Natürlich setzt dies entsprechende Kursveränderungen voraus, um Geld-/ Briefkursdifferenzen und eventuelle Zinskosten zu kompensieren. Solche erwartungsbedingten Verhaltensweisen können dazu führen, dass die Erwartung auch in Erfüllung geht (self-fulfilling prophecy): Wenn in Erwartung steigender Dollarkurse massiv Dollars gekauft werden, steigt der Dollarkurs - sofern andere Einflussfaktoren dies nicht verhindern. Beispiel Im September 1992 nahm der berühmte ungarische Finanzjongleur George Soros große Kredite in britischen Pfund auf, die er in Dollar, Mark und Yen umtauschte. Dadurch kam das Pfund massiv unter Druck, musste sogar aus dem europäischen Währungsverbund ausscheiden, und die Bandbreiten im Europäischen Währungssystem (EWS) wurden auf plus/ minus 15% ausgedehnt - dies läutete das Ende des EWS ein, bevor man zum Floating überging. Abb. 12/ 6: Einflussfaktoren auf den Wechselkurs Außenhandel Inflation Wechselkurs Zinsen Interventionen Spekulationen und Kapitalverkehr politische Ereignisse/ psycholog. Fakt <?page no="455"?> Nach hinreichend gesunkenem Pfundkurs (damals in der Preisnotierung) tauschte Soros seine Währungsbestände wieder in Pfund zurück und machte einen Gewinn von rund einer Milliarde Dollar. (2) Ein zweiter wichtiger Faktor ist der Außenhandel - eine der sog. Fundamentaldaten einer Volkswirtschaft (neben dem Wechselkurs selbst zählen hierzu ferner u.a. Arbeitsmarkt, Staatshaushalt, Inflation etc.). Für Importe von Waren und Dienstleistungen, die in Auslandswährung fakturiert sind, muss der (deutsche) Importeur Devisen kaufen (Nachfrage), bei in Euro fakturierten Importen erhält der ausländische Exporteur Euro, die er in der Regel verkaufen wird (Angebot). Im Export gilt dies entsprechend umgekehrt. (3) Im langfristigen Kapitalverkehr ergeben sich durch Direktinvestitionen Angebot von und Nachfrage nach Devisen. Dabei sind neben Sachinvestitionen (die sich auch im Bruttoinlandsprodukt widerspiegeln) vor allem auch Finanzinvestitionen von Bedeutung, zu denen auch eine zunehmende Vielfalt von Finanzderivaten zählt. Beispielsweise boomt der japanische Aktienmarkt, die Investoren kaufen japanische Aktien - der Yen steigt. (4) Eine hohe Inflation entwertet die Kaufkraft der Inlandswährung. Folglich besteht ein Anreiz, in eine stabile Auslandswährung zu flüchten, z.B. in US-Dollar oder Euro. Diese Devisen müssen also gekauft werden, so dass die Nachfrage steigt, so dass der Kaufpreis für diese Währungen steigt (in den Mengennotierung fällt der Kurs der Inlandswährung…). (5) Auch aus Ländern mit niedrigen Zinsen fließt Kapital ab, weil Kapital in höherverzinsliche Anlagen im Ausland transferiert wird (Devisennachfrage) (Zinsparitäten-Theorie). Diese Zinsarbitrage setzt allerdings spürbare Zinsunterschiede voraus, um den Transferkosten und den Kosten der erforderlichen Wechselkurssicherung (z.B. durch Termingeschäfte, vgl. unten) Rechnung zu tragen. Daher sind Zinsentscheidungen der Europäischen Zentralbank oder ausländischer Notenbanken wie z.B. der amerikanischen ‹Fed› 49 wichtige Daten für den Devisenmarkt (Abb. 12/ 7). Hohe Zinsen sind allerdings auch ein Indikator für Inflation, die wiederum zu Kapitalflucht führen kann. (6) Bewußte An- und Verkäufe der Notenbanken, um den Wechselkurs zu beeinflussen, haben an Bedeutung verloren, stellen jedoch immer noch einen potentiellen - vorrangig psychologischen - Einflussfaktor dar (Abb. 12/ 8). Insbesondere asiatische Notenbanken greifen immer mal wieder zu diesem Instrument. Die japanische No- 49 Federal Reserve Bank, die US-amerikanische Notenbank. 12.5. k Devisenmarkt 425 <?page no="456"?> 426 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik tenbank verfügte einmal 2004 über «Interventionsmunition» im Gegenwert von 1300 Milliarden USD. Eine schwache Variante der Intervention sind verbale Hinweise, oft der Europäischen Zentralbank (EZB) bezüglich «eines zu hohen EUR/ USD-Verhältnisses», so dass der Markt gelegentlich mit entsprechenden Reaktionen rechnet und diese spekulativ vorwegnimmt. (7) Nicht unbedeutend sind auch technische Verstärker in den Händlersystemen. Fällt beispielsweise der Dollar gegenüber dem Euro (d.h. Dollarbesitzer erzielen immer weniger EUR-Gegenwert), dann lösen sog. Stop-Loss-Orders in den Handelscomputern automatisch Dollarverkäufe aus, um den Kursverlust zu minimieren (zu stoppen). Dadurch erhöht sich aber das Dollarangebot, der Kurs fällt noch mehr und löst weitere Stop-Loss-Orders aus. (8) Ein sehr wichtiger Einflussfaktor sind - last not least - politische Krisen und die Veröffentlichung wichtiger makroökonomischer Daten , wie z.B. über die amerikanische Handelsbilanz oder das Haushaltsdefizit. Da diese acht Faktoren je nach Situation in jeweils unterschiedliche Richtungen wirken können, ist es nicht verwunderlich, dass Wechselkursprognosen unsicherer als Wetterberichte sind. Die Entwicklung des Dollar-Euro-Kurses seit der Euroeinführung haben die Abb. 12/ 7: Zinseinflüsse %,)&#! &%#)" &%"%#% ".) )(**#' ',."',-. %,)&.) "'"$+.) ".) &.)*($'& ! -"*%$)&*- %-.*#*- +,* (*&,-(*- 0*-+,$*- ,- 1/ '/ - ! +.1)03, 5,+(*4-24+/ 3,2( 6,1('1+) 4+ Abb. 12/ 8: Notenbank-Intervention <?page no="457"?> allermeisten Fachleute ganz anders vorausgesagt. Die Vorhersage der künftigen Wechselkursentwicklung ist auch kurzfristig nicht präzise möglich, auch wenn verschiedene Prognosemodelle dies mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anbieten. Wegen der vielen Einflussfaktoren lässt sich die Kursbildung flexibler Währungen - insbesondere über den kurzen Zeithorizont hinaus - seriös nicht vorhersagen (dies gilt auch für die teilweise sehr favorisierte Chart -Analyse, d.h. die Auswertung graphisch dargestellter Entwicklungen und Trends). Gerade gegenüber der internationalen Hauptwährung US-Dollar unterliegt die Eurokursentwicklung teilweise abrupten Schwankungen. Die Schwankungen werden auch als Volatilität (Sprunghaftigkeit, Unbeständigkeit, Flüchtigkeit) bezeichnet. 12.5.3. Wechselkurs-Theorien Die vorstehend betrachteten unterschiedlichen Einflussfaktoren treten in der Wirklichkeit also mehr oder weniger stark, aber gleichzeitig auf. Daher ist es so ausgesprochen schwer, oder besser: unmöglich, die Wechselkursentwicklung seriös vorherzusagen. Außer in wirklich eindeutigen Situationen, in denen ganz kurzfristige Reaktionen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, sind Prognosen über eine mittelfristige Entwicklung eines (flexiblen) Wechselkurses reine Spekulation, unsicherer als der tägliche Wetterbericht (vgl. auch Abschn. 15.2.2). Dennoch gibt es Versuche, den «richtigen» Wechselkurs ökonomisch zu bestimmen. Wenn das zutreffend gelänge, könnte man aus einem Abweichen des tatsächlichen Wechselkurses die nun zu erwartende Reaktion ableiten: Aber das klappt meist nicht, weil sich derartige Ansätze zumeist auf nur einen Einflussfaktor konzentrieren, die vielen übrigen aber aus der Betrachtung ausklammern. Die Kaufkraftparitäten-Theorie geht davon aus, dass der Wechselkurs den Unterschied zwischen den Kaufkräften zweier Währungen widerspiegelt. Wenn beispielsweise ein Fahrrad in Aland 100 A-Mark kostet, in Benesien 200 B-Taler, dann würde - vereinfacht gesagt - der Wechselkurs zwischen A-Mark und B-Taler 1: 2 sein, d.h. 1 A- Mark = 2 B-Taler. Formaler gesprochen: Man vergleicht den Wert (Preis) eines bestimmten Warenkorbes in Aland (in A-Mark) mit dem Preis desselben Warenkorbes in Benesien (in B-Talern): Das Preisverhältnis beider Warenkörbe entspräche dann dem Wechselkurs im Sinne der Kaufkraftparität. Wäre der tatsächliche Wechselkurs 1: 3, dann wäre die A-Mark überbzw. der B-Taler unterbewertet, und es würde aus aländischer Sicht ein Anreiz bestehen, Fahrräder in Bene- 12.5. k Devisenmarkt 427 <?page no="458"?> 428 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik sien zu kaufen. Auf ähnlichen Überlegungen beruhen Berechnungen, die ausdrücken, ob man für 100 Euro im Ausland mehr oder weniger Waren kaufen kann als in Deutschland. Berühmt geworden ist der auf der Kaufkraftparitätentheorie basierende Big-Mac-Index. Das Produkt ist international fast homogen. Theoretisch sollten die lokalen Preise eines Hamburgers - über den Wechselkurs umgerechnet - ähnliche Dollarpreise ergeben. Natürlich ist dies meist nicht der Fall, so dass die Abweichungen eine entsprechende Überbzw. Unterbewertung der Währung ausweisen (Abb. 12/ 9. Abb. 12/ 9: Big-Mac-Index 63'/ 8*,431"2%-*$ *' (&)3(-% 5! +%#', *' .0" 7&((3%$ )3JHB22B. WBD5-B23H.- G 79$ + EEB.%! # K 70JB.%X# (BJB.JH0L LBLB0BEB. DB1 $/ 22F.W 40 & 86U0.UQ5-W6U. >YOT4.YTQ_; .U5- 715QUV 9QYQU- ) J]NP J]NP N]PP _ _ (.SU1Q515U1 ; U-0 D]PP L]LF J]NPJH _LD]NB LaBF (O-Q.Y35U1 () J]LF L]FJ N]LBPJ _ND" La,B '.Y-535U1 : UY3 E]HP J]PJ L]NPEE _L]LN JaP, `.0+X.5QY115U1 A N],H J]DB N],FL LN" HaBE %Y1YVY %) J]FL J]PN N]NEDJ _L]JH JaPD %651Y [OY1 NP]FP N]JF D]DE, _FE]JE J]J, "O.0_: YO2 ! L],H J]BH P]DEFN LH]HD LaPJ ^01S >01S ^>) NL]PP N]FJ D]BNJB _FP]HD LaL, 71SY.1 b0.51Q FEP L]B, N,J]J,E _E]HN JaPE @1V01U-5U1 : O/ 5Y6 NH]EPP N]EN ,PEE]NB _HB]PF LaJB ? Y/ Y1 + LFP L]PE NLN]P" _JJ]HH LaDH =Y3YI-5Y =) F]FP N]FD J]H" _H,]HL LaJF =UK5W0 ; U-0 L,]P L]EF NP],HLH _NH]FF JaPL ; 03U1 Z30QI E]FP L]ND L],BDF _L,]DN LaBL : O+3Y1V : OXU3 HB]PP N]BL LE]LBJN _HN]PJ LaFB 9CVYT.54Y : Y1V NJ],F N],L D]LJ _JD]DE LaEH 9CV40.UY \01 LaFPP L]EJ ,H,],JB _NF]NF JaPF 9W6MUVU1 94. JJ]P H]DL E],BFF FN]DH LaLE 9W6MU5G %^b E]JP F]PE N]LHHH EJ]NJ LaPJ 8Y5MY1 <8) DF]PP L]LE JJ]PBFJ _LE]BE LaBH 86Y53Y1V 'Y6Q EP]P N]DB JJ]EBBN _HL]HL LaFJ <?page no="459"?> Der Internationale Währungsfonds hat Statistiken umgerechnet, indem nicht die offiziellen Wechselkurse verwendet werden, sondern die abgeleiteten Kaufkraftparitäten. Im Ergebnis wurden dadurch «die Armen reicher und die Reichen ärmer» - ohne dass sich irgend etwas an der Situation verändert hätte, aber es sieht doch schon weniger dramatisch aus. Völlig unberücksichtigt bleibt dabei die Beziehung der jeweiligen Preise zum Einkommen, d.h. die Kaufkraft des Einkommens: Im obigen Beispiel könnte es so sein, dass die 100 A- Mark einem halben Monatslohn entspricht, während die 200 B-Taler in Benesiengerade ein Wochenlohn sind. Das Einkommensverhältnis wäre dann 1: 4. Die Zinsparitätentheorie erklärt den Wechselkurs in analoger Weise, indem das Verhältnis der Zinsniveaus dem Wechselkurs entsprechen müsste. Dass der Einfluss des Zinsgefälles, auf den sich die Zinsparitätentheorie stützt, ebenso wenig immer eindeutig nachzuweisen ist wie der des Inflationsgefälles, von dem die Kaufkraftparitätentheorie ausgeht, dürfte offensichtlich daran liegen, dass derartige Theorien jeweils einen Einflussfaktor isoliert herausstellen, sich in der Realität jedoch verschiedene Einflüsse überlagern. In aller Regel sind monokausale Theorien, die die anderen Variablen vernachlässigen bzw. als konstant unterstellen oder in die Nebenbedingungen verweisen, nur unzureichend empirisch nachzuweisen. 12.5.4. Konvertibilität der Währung Für den Außenhandel sind nur voll konvertible Währungen unproblematisch. Wenn eine Währung voll konvertibel ist, kann sie - aus der Sicht des betreffenden Landes - ohne Beschränkungen in unbegrenzter Höhe in jede beliebige andere Währung getauscht werden. Der Euro ist eine solche Währung, und auch der lange nicht frei konvertible russische Rubel ist seit 2006. Andererseits gibt es auch teilkonvertible Währungen: Im Falle der sog. inneren Konvertibilität können Devisen in beliebiger Art und Höhe in Inlandswährung getauscht werden, oder präziser: erworbene Devisen - z.B. aus dem Export - müssen in das Inland transferiert und bei entsprechenden Stellen, meist Staatsstellen, getauscht werden. Ausnahmen müssen beantragt und genehmigt werden. Für Importe können die entsprechenden Devisen auch nur bei eben diesen Stellen - auf Antrag - erworben werden. Kapitaltransaktionen sind dann meist genehmigungspflichtig. Je nach der Strenge des Antragsprinzips ist der Unterschied zur Devisenbewirtschaftung dann oft nicht mehr groß. 12.5. k Devisenmarkt 429 <?page no="460"?> 430 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Eine voll konvertible Währung bedeutet logischerweise eine sehr viel stärkere, aber auch (administrativ) leichtere Integration des betreffenden Landes in den Weltmarkt als bei eingeschränkter Konvertibilität. Hierfür muss das Land makroökonomisch wie mikroökonomisch gerüstet sein: Wenn das Vertrauen in die Inlandswährung schwach ist, z.B. aufgrund der Inflationsentwicklung, besteht eine Tendenz zur Kapitalflucht. Andererseits erhöht sich für die inländischen Unternehmen der importbedingte Wettbewerbsdruck, sofern nicht - statt der Devisenkontrolle - andere Formen der Protektion praktiziert werden (vgl. Kap. 13, insbes. Abschn. 13.7.1.3). Exkurs In immer mehr deutschen Gemeinden etablieren sich lokale Zahlungssysteme, an denen sogar Geschäftsbanken teilnehmen; der Dachverband Regiogeld e.V. hat 20 Mitgliederregionen, über 30 weitere planen Ähnliches. Beispielsweise gibt es in Bremen den Roland, in München den Regio; der Chiemgauer gilt als besonders erfolgreich. Mit Regiogeld kann man zwar bezahlen, aber keine Zinsen verdienen - anlegen kann man den Regio nicht. In der Schweiz gibt es seit 70 Jahren neben dem Franken den «Wir». Basis von Regiogeld ist jeweils ein Verein, dem Unternehmen und Kunden beitreten, die das Kunstgeld als Zahlungsmittel akzeptieren. Getauscht wird 1: 1 gegen den Euro. Die Regiowährung verliert allerdings an Wert, so dass sie schnell wieder ausgegeben werden muss (sog. Schwundgeld); dies soll den Geldumlauf beschleunigen - wobei das Geld natürlich in der Region bleibt: Das ist der Hauptzweck. (FAZ 5.1.2007) 12.6. Wechselkursbegriffe Im folgenden werden die diversen Wechselkursbegriffe dargestellt, die in der Praxis von Bedeutung sind. Für die ausländischen Währungen werden in der Praxis unterschiedliche Kürzel verwendet. In Finanzkreisen verwendet man meist die 3-Buchstaben-Kürzel der ISO- Codes 50 . Der amerikanische Dollar wird beispielsweise dargestellt als US-$ oder als USD (dies entspricht dem «BIC», dem International Bank Identifier Code; vgl. unten Abb. 12/ 10). Alternativ findet sich auch die Schreibweise als Am. Dollar oder als US-$). Gelegentlich wird der Leser auch auf seine Geographiekenntnisse geprüft, indem statt eines Währungskürzels nur New York oder USA angegeben wird (Stadt, Land, Fluss...) und der Leser eben wissen muss, dass es sich dabei nur um amerikanische Dollar handeln kann. Beim Dol- 50 International Standards Organization, eine Art internationales DIN (Deutsches Institut für Normung). <?page no="461"?> lar ist das wohl unproblematisch, aber was ist mit Brasilien, Ungarn oder Thailand? 51 51 Brasilien = Real, Ungarn = Forint, Thailand = Baht. Abb. 12/ 10: Exotische Währungen 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 431 <?page no="462"?> 432 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Im Währungshandel wird der Tag des Geschäftsabschlusses als Handelstag bezeichnet. Dieser ist immer ein Wochentag, niemals ein Samstag oder Sonntag. Die «Lieferung» der betreffenden Währung erfolgt in der Regel maximal zwei Werktage später und wird auch Valuta genannt. Wenn der Handelstag ein Donnerstag ist, fällt die Valuta auf den folgenden Montag. Bankfeiertage wie Weihnachten oder Sylvester sind ebenfalls keine Handelstage. Wenn z.B. EUR gegen GBP (britisches Pfund) gehandelt wird, kann der US-amerikanische Unabhängigkeitstag zu einer Verzögerung führen, weil im EUR/ GBP-Geschäft der USD als Zwischenwährung verrechnet wird: erst EUR/ USD, dann USD/ GBP; vgl. unten zu Cross Rates. 12.6.1. Preis- und Mengennotierung Der Wechselkurs zwischen zwei Währungen kann zweierlei aussagen. (1) Zum einen drückt er den Preis in Inlandswährung aus für eine Einheit ausländischer Währung; dies bezeichnet man als Preiswechselkurs, z.B.: 1 USD = 0,7738 EUR d.h. 1 amerikanischer Dollar (USD) kostet in Deutschland 0,7738 Euro, und dies leuchtet wohl auch unmittelbar ein. Am Bankschalter oder in den Devisennotierungen der Tageszeitungen ist eine verkürzte Schreibweise üblich: USD 0,7738. Der Wechselkurs bezieht sich hier auf 1 Einheit der Fremdwährung, ebenso die Wechselkurse zu GBP (britisches Pfund), brasilianischem Real, BRL und einigen andere Währungen, bei den meisten anderen Währungen (Schweizer Franken, Norwegische Krone usw.) auf jeweils 100 Einheiten, bei einigen Währungen auf 1000 Einheiten (die alte türkische Lira (TRL), der Burundi Franc (BIF), der chilenische Peso (CLP) oder die nigerianische Naira (NGN), und bei diversen ‹exotischen› Währungen - u.a. der ecuadorianische Sucre (ECS) und der ghanaische Cedi (GHC) - wurden und werden sogar 10.000 Einheiten berechnet. 2) Der Kehrwert des Preiswechselkurses ist der Mengenwechselkurs: 1 USD = 0,7738 EUR entspricht - wertmäßig identisch - 1 EUR = 1,2924 USD (gerundet) (vgl. Abb. 12/ 11). Der Mengenwechselkurs drückt aus, welche «Menge» ausländischer Zahlungsmittel man für generell eine Einheit Inlandswährung tauschen kann. An den Börsen, <?page no="463"?> Abb. 12/ 11: Kursnotierung 12.2.2007 Referenzkurse EuroFX 3Monate Bankschalter* ) Geld Brief Geld Brief Verkauf Ankauf USA US $ 1,2924 1,2972 1,2972 1,3033 1,2604 1,3304 Japan Yen 157,400 158,2200 156,4600 156,9500 153,3600 162,3600 Großbrit. £ 0,6634 0,6674 0,6661 0,6703 0,6433 0,6883 Schweiz sfr 1,6228 1,6266 1,6163 1,6205 1,5915 1,6565 Kanada kan $ 1,5133 1,5253 1,5150 1,5271 1,4428 1,5928 Schweden skr 9,0907 9,1387 9,0799 9,1285 8,6202 9,5702 Norwegen nkr 8,0718 8,1198 8,0763 8,1252 7,6588 8,5088 Dänemark dkr 7,4335 7,4735 7,4360 7,4766 7,0281 7,8781 Australien 1) A $ 1,6660 1,6320 1,5837 1,7637 Neuseeland 1) NZ $ 1,8836 1,8996 1,6672 2,1172 Tschechien 1) Krone 28,2120 28,4120 25,2830 31,2830 Polen 1) Zlity 3,8768 3,9768 3,6293 4,2193 Südafrika 1) Rand 9,3383 9,5383 7,7423 11,1423 Hongkong 1) HK $ 10,0660 10,1660 9,0913 11,1413 Singapure 1) S $ 1,9854 1,9974 1,8405 2,1455 (',%/ '! * -! ( / $".'! #-"/ ' &+" ) '-"$ 1) Mitgeteilt von der WestLB AG, Düsseldorf; *) Sortenkurse aus Sicht des Bankkunden. Devisenkurse für 1 Euro 12.02.07 Notenpreise für 1 Euro Interbankenkurse (20 Uhr) aus Sicht der Bank Geld Brief Währung Ankauf Verkauf 1,2961 1,2967 Am. Dollar 1,254 1,344 1,6763 1,6803 Austr. Dollar 1,584 1,784 2,7397 2,7477 Bras. Real 2,209 4,849 0,6655 0,666 Brit. Pfund 0,639 0,692 10,0337 10,0737 Chin. Yuan 6,817 14,817 7,4528 7,455 Dän. Krone 7,061 7,911 15,6378 15,6528 Estl. Krone 13,159 17,664 10,1234 10,1314 Hongk. Dollar 8,990 11,440 88,18 88,58 Isländ. Krone 77,298 101,298 157,79 157,92 Jap. Yen 154,370 165,370 1,5208 1,5238 Kan. Dollar 1,453 1,608 7,3539 7,3689 Kroat. Kuna 6,144 8,994 0,6955 0,6975 Lett. Lats 0,624 0,759 3,4497 3,4567 Lit. Litas 3,047 3,910 0,4274 0,4314 Malt. Lire 0,380 0,468 14,254 14,334 Mex. Peso 11,127 17,127 1,8916 1,8946 Neus. Dollar 1,652 2,162 8,0997 8,1077 Norw. Krone 7,756 8,706 3,919 3,929 Poln. Zloty 3,467 4,617 34,2008 34,2098 Russ. Rubel 9,108 9,12 Schw. Krone 8,711 9,761 1,6233 1,6243 Schw. Franken 1,591 1,663 1,9929 1,9969 Sing. Dollar 1,833 2,223 34,55 34,8 Slowak. Krone 29,867 44,267 9,434 9,469 Südaf. Rand 7,823 11,773 41,792 42,592 Taiwan Dollar 35,568 53,568 43,414 43,714 Thail. Baht 41,120 57,120 28,243 28,393 Tsch. Krone 24,870 30,620 1,8228 1,8428 Türk. Lira 1,697 1,962 253,87 254,87 Ungar. Forint 207,450 324,950 0,5764 0,2824 Zy pr. Pfund 0,511 0,661 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 433 <?page no="464"?> 434 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik den Bankschaltern und in der Presse werden seit der Einführung des Euros Mengenwechselkurse notiert. Ein ausländischer Preiswechselkurs ist folglich aus Inlandssicht identisch mit einem inländischen Mengenwechselkurs. Die Unterscheidung zwischen Preis- und Mengenwechselkursen wird im Zusammenhang mit der Betrachtung von Wechselkursänderungen in Abschn. 12.4 von Bedeutung sein. Für die Praxis sind zwei weitere Begriffspaare von Bedeutung. Vor der Einführung des Euro war die Preisnotierung üblich, und sie wird in der unternehmerischen Praxis auch heute noch gerne verwendet, wenn man z.B. in USD denkt und rechnet, aber kein Banker oder Devisenhändler ist. (2) Seit Einführung des Euro sind die Preisnotierungen aber ‹out’; stattdessen zeigt ein Wechselkurs den Gegenwert jeweils 1 Euro in der entsprechenden ausländischen Währung. Dies bezeichnet man als Mengenwechselkurs (Mengennotierung). Der Mengenwechselkurs drückt aus, welche ‹Menge› ausländischer Zahlungsmittel man für eine Einheit der Inlandswährung tauschen kann. Im EUR-Raum bedeutet daher die Schreibweise «USD 1,1930» (vgl. den EZB-Referenzkurs in Abb. 12/ 11) (auf die Unterschiede in den Kursnotierungen desselben Tages gehen wir weiter unten ein): ! 1 Euro = 1,2924 Dollar (Mengenwechselkurs), Man bezeichnet die Relation Euro zu USD als EUR/ USD-Kurs bzw. synonym als EUR/ USD-Quotierung oder EUR/ USD-Notierung. Heute steht also die Basiswährung vorne und dahinter der variable Gegenwert in Zielwährung. Der Kehrwert des Mengenwechselkurses ergibt den Preiswechselkurs: USD 1,2924 (1 EUR = 1,2924 USD) entspricht wertmäßig identisch (gerundet) 1 USD = 0,7738 EUR, d.h. ! 1 Dollar = (kostet) 1/ 1,2924 = 0,7738 Euro (Preiswechselkurs). Der Mengenwechselkurs aus der Sicht des Euro entspricht folglich einem Preiswechselkurs aus der Sicht des Dollars. Sind Sie schon einmal in einen Gemüseladen gegangen und haben gefragt, wie viele Tomaten Sie für einen Euro erhalten? Bei den Kursnotierungen muss man also sehr genau hinsehen, und man kann sich sehr schnell in der Logik vertun, mit entsprechenden Rechenfehlern, vor allem, wenn man - wie ich - aus langer vorangehender Praxis anders vorgeprägt ist und sich zur Vorsicht vielleicht erst einmal ‹eine Zeichnung machen› sollte. (Dies trifft auf manchen ‹alten Hasen’ zu; fragen Sie mal herum.) Ich habe unlängst einen im Dienst ergrauten Bundesbank-Banker getroffen und ihn nach dem <?page no="465"?> Grund für die Umstellung von der Preisauf die Mengennotierung gefragt: Er wusste keine rationale Erklärung, außer, dass die professionellen anglo-amerikanischen Devisenhändler schon immer die Mengennotierung verwendet hatten. Mag sein, aber dadurch wird sie nicht viel logischer. Versuchen Sie doch einmal, durch Befragung von Fachleuten eine einleuchtende Erklärung zu finden, weshalb bei der Einführung des Euro die Kursnotierungen umgestellt wurden von Preisauf Mengenwechselkurse. Und wenn Sie eine Erklärung gefunden haben, die nicht darin besteht, dass man sich internationaler Praxis (wessen? ) angeschlossen hat, wäre ich dankbar, wenn Sie herausfänden, weshalb die internationale Praxis nicht wie bei allen ökonomischen Gütern in Preisen denkt und sie mir diese Erklärung übermittelten (joern.altmann@t-online.de ). 12.6.2. Wechselkurs-Begriffspaare Für die Praxis sind verschiedene Begriffspaare von Bedeutung (vgl. Abb. 12/ 12). Erstens ist zu unterscheiden zwischen Devisenkursen und Sortenbzw. Notenkursen. Devisenkurse beziehen sich auf bar- Abb. 12/ 12: Wechselkursbegriffe -0,0030 Devisenkurs 1,1960 Geldkurs 1,2961 Sorten- Verkaufskurs Banksicht: 1,344 = Sortenankauf aus Kundensicht Sorten- Ankaufskurs Banksicht: 1,254 = Sortenankauf aus Kundensicht Briefkurs 1,2967 Briefkurs 1,2937 +0,0030 +0,0030 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 435 <?page no="466"?> 436 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik geldlose Zahlungsmittel (Buchgeld; enge Definition: nur Bankkonten; weite Definition: plus Schecks - near money) und werden als Mengenwechselkurse notiert (1 Euro entspricht ... USD), in der Regel mit vier Nachkommastellen. Sorten werden vor allem für den Reiseverkehr benötigt. Sorten- oder Notenkurse beziehen sich auf Bargeld 52 und werden in den Hotels oft als Preiswechselkurse notiert (1 USD kostet ... Euro), weil der Reisende einfach gewohnt ist, in Preisen zu denken. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird oft von Devisen als Oberbegriff für ausländisches Geld gesprochen, obgleich dies sachlich nicht korrekt ist, denn Sorten sind banktechnisch keine Devisen. Der Unterschied zwischen Devisen- und Sortenkursen erklärt sich daraus, dass den Banken durch Bargeldgeschäfte u.a. Transport-, Lager-, Personal- und Versicherungskosten entstehen, die bei bargeldlosem Verkehr nicht anfallen. Zweitens sind Kassageschäfte von Termingeschäften zu unterscheiden. Ein Kassageschäft wird - zu den heute vereinbarten Konditionen - innerhalb von zwei Bankarbeitstagen abgewickelt (Spot- Geschäft); in der Bankfachsprache heißt das zum Beispiel, dass die Anschaffung der Euro auf einem Konto und die Bereitstellung der Fremdwährung auf einem anderen Konto innerhalb von 2 Tagen erfolgt («2 Tage Valuta kompensiert»).Ist die vereinbarte Frist länger, handelt es sich um ein Termingeschäft (forward transaction 53 ), dessen Konditionen sich von den heutigen unterscheiden können (vgl. Abschnitt 4.10). Drittens werden Geld- und Briefkurse bzw. Ankauf- und ff Verkaufff kurse ausgewiesen. Geld- und Briefkurse sind Ankauf- und Verkaufkurse für Devisen: Der Geldkurs (1 EUR = …) USD 1,1930 ist der Ankaufskurs für EUR (ausgedrückt in USD (bid rate) aus der Sicht der Bank («Für den Ankauf von 1 EUR geben wir Ihnen 1,2924 USD»). Dies ist gleichbedeutend mit dem Verkaufskurs für EUR aus der Sicht des Kunden, der dafür USD erhält («für den Verkauf von 1 EUR erhalte ich 1,2924 USD» = «für den Kauf von 1 USD muss ich 1/ 1,2924 = 0,7738 EUR bezahlen»). Leuchtet es Ihnen ein, dass eine (deutsche) Inlandsbank Inlandswährung (EUR) ankauft und Sie in Auslandswährung (USD) bezahlt? Mir nicht, aber so ist es eben. Es ist ja auch einleuchtend, dass Sie am Bankschalter dem Kassierer Euro zum Ankauf anbieten. Machen Sie das mal…! 52 Ganz exakt gesehen beziehen sich Notenkurse auf Banknoten, während der Begriff ‹Sorten› Banknoten und Münzen abdeckt, aber Münzen sind für den Handel faktisch irrelevant. 53 Forward = in etwa: frühzeitig, vorausschauend. Bestimmte standardisierte «forwards» werden an der Börse gehandelt und als «futures» bezeichnet. <?page no="467"?> Der Briefkurs ist der Verkaufkurs (offer rate, ‹ask rate›) aus der Sicht der Bank («Wir verkaufen Ihnen 1 EUR für 1,2984 USD») oder gleichbedeutend der Ankaufskurs für EUR aus der Sicht des Kunden: «Für 1 EUR muss ich 1,2984 USD bezahlen). Die Differenz zwischen Geld- und Briefkurs wird auch als Spread bezeichnet. (Die Begriffe d ‹Geld› und ‹Brief› werden auch bei Wertpapiernotierungen zur Kennzeichnung von Angebot und Nachfrage verwendet.) Aktuelle Währungskurse kann man z.B. unter http: / / de.finance.yahoo.com/ m3 oder http: / / www.oanda.com/ convert/ classic abfragen. Ankauf- und Verkaufkurse («Kurse am Bankschalter») hingegen beziehen sich auf Bargeld. Praktischerweise sind sie mal aus der Sicht des Bankkunden, mal aus der Sicht der Bank zu verstehen: Oben in Abb. 12/ 11 notiert das Handelsblatt die Sortenkurse aus der Sicht des Bankkunden, die FAZ hingegen aus Banksicht. Das verbessert die Übersicht. Vergleichen Sie bitte in diesem Zusammenhang auch die Kursnotierungen in anderen Tageszeitungen. Betrachten wir zunächst die Handelsblattnotierung in Abb. 12/ 11, also aus der Sicht des Bankkunden: Wenn Sie wollen, verkaufen Sie der Bank einen baren Euro zu 1,2604, d.h. Sie erhalten 1,2604 USD für einen Euro. Wenn Sie hingegen einen baren Euro kaufen wollen, bezahlen Sie 1,3304 USD dafür. Aber eigentlich wollen Sie ja Bargeld für die Reise eintauschen und nach der Reise zurücktauschen: Wenn Sie also USD kaufen, verwenden wir den Kehrwert des EUR- Verkaufskurses, d.h. Sie bezahlen für einen grünen Dollar 1/ 1,2604 = 0,7934 Euro, und wenn Sie Dollars an die Bank zurückverkaufen, erhalten Sie über den Kehrwert des EUR-Ankaufskurses pro Dollar 1/ 1,3304 = 0,7517 Euro. Aus der FAZ-Notierung in Abb. 12/ 11 erfahren wir - jetzt aber aus der Sicht der Bank! -, dass die Bank bereit ist, Ihnen einen baren Euro abzukaufen und Ihnen dafür 1,254 USD anbietet. Bürgerlich betrachtet heißt das, dass Sie 1 Dollar kaufen können für 1/ 1,254 = 0,7974 EUR. Wenn Sie die Dollars zurückverkaufen wollen, verkauft Ihnen die Bank gerne Euro zu 1,344 USD, d.h. sie erhalten pro Dollar 1/ 1,344 = 0,744 Euro. Sind Sie nun verwirrt? Keine Panik, sie sind in bester Gesellschaft. Die «Preise» für Bargeld können sich tatsächlich von Bank zu Bank unterscheiden, weil sie bankintern festgesetzt werden, sich zwar am Markt orientieren, aber nicht am freien Markt entstehen. Zudem: Wer gewohnt war, in Preisnotierungen zu denken und zu rechnen, muss wegen der Mengennotierung komplett umdenken. Versuchen wir, eine Übersicht herzustellen. Für die heute gebräuchliche Mengennotierung (die sog. EUR/ USD-Quotierung Euro gegen USD) er- 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 437 <?page no="468"?> 438 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik gibt sich folgender Zusammenhang (Abb. 12/ 13; auf der Basis der Handelsblattkurse in Abb. 12/ 11): Wer USD verkaufen will (USD-Zahlungseingang aus dem Ausland, Tausch in Euro), schlägt der Bank folgendes Tauschgeschäft vor: «Ich kaufe Euro, biete Dollars», denn aus Banksicht handelt es sich nicht um einen Dollarankauf, sondern um einen Euroverkauf; sie wird daher den Euro-Briefkurs zugrunde legen (Verkaufskurs für Euro: 1,2984 USD). Wer USD kaufen will (USD-Zahlungsausgang ins Ausland, Tausch aus dem Euro), schlägt vor: «Ich verkaufe Euro, kaufe Dollars.» Aus Banksicht handelt es sich aber um einen Euroankauf, nicht um einen Dollarverkauf; sie wird daher den Euro-Geldkurs zugrunde legen (Ankaufskurs für Euro: 1,2924 USD). Wenn man in die früher verwendete Preisnotierung umrechnet, wird dies (vielleicht) deutlich: Geld (EUR-Ankauf) Brief (EUR-Verkauf) 1 Euro = 1,2924 USD entspricht: 1 USD = 0,7738 Euro (Dollar-Verkaufs-Preiswechselkurs) 1 Euro = 1,2984 USD entspricht: 1 USD = 0,7702 Euro (Dollar-Ankaufs-Preiswechselkurs) Abb. 12/ 13: Bedeutung der Wechselkursnotierungen / / 8 3,(- '+&#&% 7KHK) ' : )<> + 2! 1,10 (*/ 2S6B SBA 76: &CI\&5BI&: B 5*: R57 O'D $OFIDJ2KC) "J0 $OFI IO'/ C = R57 'F1 30-OKHC GJC =A<+<: 56" MN0FL0FF! CJ0E'FLB "J0D JDC #I! F! GJD2K LH0J2K3010'C0F1 GJC) "J0 $OFI .0EIO'/ C = 56" / *E = ? =A<+<: ( >A99; , R57 M8E0JDF! CJ0E'FLB 1@K@ 10E P'F10 IO'/ C = 56" 'F1 -OKHC >A99; , R57 (*/ )#%'& 2! 1,.0 1@K@) 2 -"#$ + 2! 1,.0 (*/ "J0D JDC 10E 40EIO'/ DI'ED / *E R57 O'D $OFIDJ2KC) "J0 $OFI .0EIO'/ C = R57 'F1 0EKQHC =A<+,: 56" MN0FL0FF! CJ0E'FLB "J0D JDC #I! F! GJD2K LH0J2K3010'C0F1 GJC) "J0 $OFI IO'/ C = 56" / *E = ? =A<+,: ( >A99>< R57 M8E0JDF! CJ0E'FLB 1@K@ 10E P'F10 .0EIO'/ C = 56" 'F1 -OKHC >A99>< R57 <?page no="469"?> Ich muss mir immer gut zureden, um einzusehen, dass ich meiner Bank Euro verkaufe, wenn ich Dollars kaufen will, so als ob der Eierhändler Euro ankauft und in Eiern «bezahlt». Verkehrte Welt. Der Sinn und der Nutzen dieser Umstellung von Preisauf Mengenwechselkurse hat sich mir bislang noch nicht erschlossen. Fazit: ! Der Euro-Geldkurs (Mengenwechselkurs) ist anzuwenden, wenn man USD kauft (z.B. für einen Zahlungsausgang in USD ins Ausland). Die Bank kauft dann also Ihre Euro an und bezahlt Sie in USD. ! Der Euro-Briefkurs (Mengenwechselkurs) ist anzuwenden, wenn man USD verkauft (Zahlungseingang in USD aus dem Ausland, z.B. bei einem Export) und dafür Euro erhält, die Bank also Euro verkauft. ! «Verkauf» heißt «Verkauf von USD-Scheinen durch den Bankkunden» (Handelsblatt-Version) bzw. «Verkauf von USD-Scheinen an den Bankkunden» (FAZ-Version). ! «Ankauf» heißt «Ankauf von USD-Scheinen durch den Bankkunden» (Kunde ist Käufer; Handelsblatt-Version) bzw. «Ankauf von USD-Scheinen vom Bankkunden» (Bank ist Käufer, FAZ-Version). Vergleichen Sie auch die Beispiele in Abb. 12/ 14, zusammen mit den Kursnotierungen in Abb. 12/ 11. In den Medien wird meist nur ein Wechselkurs genannt, also nicht zwischen Geld- und Briefkurs unterschieden. Es handelt sich dabei um den sogenannten Referenzkurs oder - rechnerisch: - den Mittelkurs; vgl. auch weiter unten. Geld- und Briefkurse werden durch Abbzw. Zuschläge aus den Referenzkursen (Mittelkursen) errechnet (auf die Referenzkurse gehen wir weiter unten näher ein). In unserem Beispiel wäre der Devisenmittelkurs (Handelsblatt) 1,2954 USD (1,2924 Geld plus 1,2984 Brief geteilt durch 2). Banken verrechnen Devisen untereinander zum Mittelkurs. Den Unterschied zwischen Geld- und Briefkurs nennt man Spanne oder spread. Beim Dollar beträgt sie üblicherweise und auch in unserem Beispiel ± 30 Stellen, also insgesamt 60 ‹Stellen› (Punkte, points, ‹pips›) (0,0060); 100 Pips (die zweite Nachkommastelle) bezeichnet man als big figure. Geldkurs: Mittelkurs 1,2954 - 0,0030 = 1,2924, Briefkurs: 1,2984 + 0,0030 = 1,3014. Je nach Marktlage ist die Spanne auch mal größer, mal kleiner. Je liquider die Währung ist (je mehr sie gehandelt wird), desto geringer ist der Spread. Im Devisenhandel werden meist nur die Pips genannt; die Big Figure weiß man sowieso. 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 439 <?page no="470"?> 440 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Die Sortenkurse werden von den Banken - meist morgens - aus den Devisenmittelkursen des Vortags errechnet und nach Bedarf im Laufe des Tages oft mehrmals angepasst. Der Sortenmittelkurs errechnet sich im Handelsblatt-Beispiel als (1,2604 + 1,3304): 2 = 1,2954. Gelegentlich ergibt sich eine Abweichung zum Devisenmittelkurs, wenn die Sortenkurse morgens, die Devisenkurse mittags festgelegt werden. Dass Ankaufskurse für Devisen niedriger sind als Verkaufskurse, ist im Handel allgemein einsichtig (das ist auch auf dem Gemüsemarkt so); dass die Spanne bei den Sorten deutlich größer ist als bei Devisen ist auch einsichtig und erklärt sich aus den Kosten für Personal, Transport, Lagerung, Versicherung etc., die im bargeldlosen Verkehr nicht anfallen. Zudem erwirtschaftet Bargeld keine Zinsen. Ob die Spanne beim baren Dollar mit 0,07 (700 Punkte) allerdings mehr als zehnmal so groß sein muss wie beim Devisendollar mit 0,0060, wäre zu diskutieren. Im Geschäft zwischen den Banken wird oft mit gespannten Geld- oder Briefkursen gearbeitet, die näher am Mittelkurs liegen, d.h. man gewährt sich unter Banken (Inter-Bankengeschäft) günstigere Konditionen als im Kundengeschäft. Teils werden gespannte Kurse als arithmetisches Mittel von Referenzkurs (Mittelkurs) und Geldbzw. Briefkurs berechnet (d.h. die Spanne beträgt die Hälfte der offiziellen Abb. 12/ 14: Anwendungs-Beispiele aus Unternehmenssicht (1) Überweisung in die USA 50.000 USD (die Bank kauft Euro, verkauft USD): Handelsblatt-Notierung: 50.000 USD Euro-Geldkurs (1,2924) = 38.687,72 Euro, (2) Gutschrift aus den USA 50.000 USD (die Bank verkauft Euro, kauft USD): Handelsblatt-Notierung: 50.000 USD Euro-Briefkurs (1,2984) = 38.508,93 Euro, (3) Dollar-Sortenverkauf für die Reise zum Zahnarzt in Miami: Handelsblatt-Version (Kundensicht): 10.000 USD Verkaufskurs 1,2604 = 7.933,99 EUR. FAZ-Version (Banksicht): 10.000 USD Ankaufskurs 1,2654 = 7.974,48 EUR. (4) Rücktausch der übrig gebliebenen Scheine: Handelsblatt-Version (Kundensicht): 100 USD Verkaufskurs 1,3304 = 75,17 EUR. FAZ-Version (Banksicht): 100 USD Ankaufskurs 1,344 = 74,41 EUR. <?page no="471"?> Geld-Brief-Spanne; Geldkurs: 1,2924 - 0,0015 = 1,2909, Briefkurs: 1,2984 + 0,0015 = 1,2999), teils ‹von Hand› gesetzt. Sodann gibt es noch doppelt gespannte Kurse, die jeweils das arithmetische Mittel zwischen dem Mittelkurs und dem gespannten Geld- oder Briefkurs sind und noch dichter am Mittelkurs liegen (hier: ± 0,00075), d.h. die Spanne beträgt nur ein Viertel der offiziellen Geld-Brief-Spanne. Solche Kurse plus/ minus einer Marge werden als Sonderkonditionen bei guten Kunden angewendet; man sollte daher - wenn man sich für einen solchen hält - danach fragen und ggf. die Konditionen mehrerer Banken vergleichen (sicherlich nicht unter 50.000 EUR). Viele Banken bieten Online-Kursinformationen und Um- und Berechnungsmodule an. Einige Tageszeitungen weisen neben den Devisen- und Sortenkursen auch sog. Cross Rates aus (Kreuzkurse). Aus diesen kann z.B. direkt das Wertverhältnis Dollar-Euro abgelesen werden, oder Dollar-Pfund (Abb. 12/ 15). Crossrates sind wichtig, weil der USD als offizielle Verrechnungswährung fungiert. Beispielsweise wird eine EUR/ JPY-Transaktion (Yen) nicht direkt verrechnet, sondern erst EUR/ USD und dann USD/ JPY. Durch die Zwischenschaltung des USD werden auch weniger gebräuchliche («illiquide») Währungspaare, z.B. australischer Dollar (AUD) gegen chinesischen Renminbi Yuan (CNY) handelbar. Die wichtigsten Währungen werden als Majors bezeichnet und ihre Crossrates veröffentlicht (USD, EUR, GBP, CHF, JPY). Massive EUR/ JPY-Transaktionen können sich über die Crossrates auch den EUR/ USD-Kurs beeinflussen. Ob man bei Auslandsreisen Bargeld lieber zu Hause oder ›vor Ort› tauschen soll, kann nicht allgemein beantwortet werden - mal ist es günstiger, mal nicht. Reiseschecks in fremder Währung werden meist zum Devisengeldkurs mit einer Provision von 1% des Gesamtbetrags abgegeben. Die Einlösung ist in einigen Ländern kostenlos, in anderen mit unterschiedlichen Gebühren verbunden. Innerhalb Europas empfehlen sich Euro-Reiseschecks, in Lateinamerika und Asien werden gerne Dollarreiseschecks, aber auch Euro akzeptiert, in Afrika Abb. 12/ 15: Cross-Rates ('*&$'%)'! #$$)! ("'$ OM#M#M! ! F *J5< @D ( F+J? 0 6-? 2+52 *J5< & #'"1>1 $'; ; >A #>7'4$#7 #'; "! ; @D ( $'77#> & $'>#! A #"#'7; $$ #'">"1 F+J? 0 #'>$"# #'1A7A & "! 7'$7A$ "'A! 1; 6-? ; '! ! ! A 4'"$; # A'"#>A & #$'"4$7 2+5 $'; #>7 $'7171 $'A$14 17'#7>$ & 6-? 9-5 #$$$' )E/ H-/ -EC/ I<? =: ,. D/ 3? 0 #>%$$ @G5 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 441 <?page no="472"?> 442 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik ist es unterschiedlich. Der Ankauf von Reiseschecks in fremder Währung erfolgt in Deutschland i. d. R. zum Devisensichtkurs (siehe Abschnitt 2.2.3), manchmal auch zum Devisenbriefkurs. Praxistipp: In den USA werden Dollar-Reiseschecks oft wie Bargeld behandelt; daher empfehlen sich auch kleine Stückelungen von 10, 20 oder 50 USD. In vielen Ländern existiert ein Schwarzmarkt für Devisen mit oft attraktiven Wechselkursen. Sofern der Schwarzmarkt nicht inoffiziell toleriert wird, sind Schwarzmarkt-Tauschgeschäfte riskant: Zum einen drohen oft empfindliche Strafen, und staatliche Spitzel provozieren zum illegalen Umtausch. Zum anderen werden insbesondere Touristen bei solchen Geschäften betrogen, indem ihnen z.B. falsche oder ungültige Banknoten angedreht werden oder sie beim Geldabzählen übervorteilt werden: Ein in einem Banknotenbündel gefaltet enthaltener Geldschein kann leicht als zwei Scheine gezählt werden. In manchen Ländern ist zu beobachten, dass - vor allem bei galoppierender Inflation - die nationale Währung (z.B. Peso) verdrängt wird von einer stabilen externen Währung (z.B. Dollar). Ecuador (2000) und El Salvador (2001) haben unlängst offiziell ihre bisherigen Währungen durch den US-Dollar ersetzt (Abb. 12/ 16); auch Panama und Liberia verwenden ihn schon seit längerem als gesetzliches Zahlungsmittel, in verschiedenen anderen Ländern ist der US-Dollar faktisches Zahlungsmittel, so dass sich eine inoffizielle Parallelwährung ergibt, in der die Preise ausgedrückt und die Transaktionen abgewickelt werden. Bei starker Inflation sollte man möglichst immer nur soviel Devisen in Inlandswährung tauschen, wie für die nächsten Transaktionen erforderlich ist, weil u. U. schon nach wenigen Tagen ein günstigerer Kurs gilt. Abb. 12/ 16: Währungsreform ) 0 $ 1 0 + ) , & * ) ( ! + / / 3 ) . 1 - / $ & * # * ) " % & # # & # ' , % 1 1 0 - ' % & * # ' # ( & * & * . * # ! + & " $ * % $ * '$. : +5=0) 3150)4*1 304*3 ! / ; ; 09 / 92 .+*51 2)0 < ! 0/ 0 ")56> 0)9 $6*5-0*910 *7*05 %9.; 61)79 3)92 805,69,09*0)1 ( &5.7; ,0 205 #7937; )2)05/ 9, <?page no="473"?> 12.6.3. Mittelkurse, Referenzkurse In den Medien wird, wie erwähnt, meist nur ein Kurs genannt, z.B. «Der Dollar notierte heute bei 1,2930». Zum einen ist dies ein Devisenkurs, und zwar in der Mengennotierung, zum anderen wird nicht zwischen Geld- und Briefkurs unterschieden. Seit der Einführung des Euro im Jahr 2000 hat sich der Devisenhandel in Europa stark verändert. Bis zu diesem Datum wurden die wichtigsten Währungen der Industrieländer an den zentralen Devisenbörsen an jedem Tag in jedem Land ‹amtlich› ermittelt, um für bestimmte Transaktionen - z.B. Geschäften zwischen den Notenbanken oder für Gerichts- oder Versicherungszwecke - offizielle Referenzwerte zu erhalten. Dabei wurden amtliche Mittelkurse festgestellt. Heute werden die Referenzkurse nicht mehr durch staatlich bestallte Devisenmakler ermittelt. An die Stelle des amtlichen Fixing sind eine Mehrzahl von (privaten) Referenzkursen getreten, welche die früheren amtlichen Mittelkurse ersetzen: ! Das EuroFX (Euro-Fixing) mit Referenzkursen für acht Fremdwährungen wird vom Euro-Pool ermittelt (das sind 11 öffentlichrechtliche und 3 genossenschaftliche Kreditinstitute) und montags bis freitags gegen 13 Uhr durch die Nachrichtenagentur Reuters veröffentlicht (oben Abb. 12/ 11 weist das EuroFX aus). Wegen der Vielzahl der existierenden Währungen konzentriert sich der Devisenhandel auf wenige zentrale Devisen. Die Ermittlung der Referenzkurse beansprucht nur wenige Minuten. Sobald 80% der Teilnehmerbanken (also 11) ihre Devisenmittelkurse in das Referenzkurssystem eingegeben haben, werden die beiden höchsten und die beiden niedrigsten eliminiert, und aus den verbleibenden Kursen wird als arithmetisches Mittel der Referenzkurs der jeweiligen Währung für den entsprechenden Börsentag festgestellt. 54 Der ‹normale› Privatkunde, der sich beispielsweise Devisen für eine Urlaubsreise besorgt, wird auch zu diesen Referenzkursen bedient, die sich natürlich von einem Tag zum nächsten ändern, aber dazwischen werden sie unverändert angewendet. Wenn der Kunde allerdings darauf besteht - weil er laufend NT- V verfolgt und über die Entwicklung der Devisenkurse informiert ist -, werden auch im kleinen Privatgeschäft die aktuellen Kurse angelegt. 54 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Diese zwischenbanklichen (kann man das so sagen? ) Absprachen sind kein Verstoß gegen das Kartellrecht (Verbot von Preisabsprachen). 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 443 <?page no="474"?> 444 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik ! Daneben gibt es die Referenzkurse des Europäischen System der Zentralbanken ab 14.15 MEZ für insgesamt 28 Währungen, darunter die 8 Währungen des EuroFX, sowie ! eine große Anzahl von hausinternen Fixings privater Banken, die von den Instituten meist im Internet veröffentlicht werden. Die Unterschiede zwischen den Banken sind allenfalls minimal. Die Referenzkurse des Europäischen System der Zentralbanken beziehen sich neben den EuroFX-Währungen auch auf Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland, Zypern, Australien und Neuseeland. Diese Referenzkurse erfüllen heute die Funktion der früheren «amtlichen Devisenkurse» für die Bilanzierung von Forderungen und Verbindlichkeiten in Fremdwährung, u.a. auch bei der Berechnung von Erbschaftsteuer bei Vermögen in Fremdwährung. Den Handel mit nicht laufend notierten Währungen (außerhalb des EuroFX) bezeichnet man als Freiverkehr (z.B. algerische Dinar, australische Dollar, mexikanische Pesos, saudi-arabische Rial, südafrikanische Rand, türkische Lire etc.; Abb. 12/ 17). Der Handel kann rund um die Uhr erfolgen, denn wenn der Handel in Deutschland beginnt, geht er in Singapur und Hongkong seinem Ende zu und ist in Tokio bereits beendet, während man in den USA noch mittendrin ist. Im Freiverkehr werden auch EuroFX-Währungen gehandelt (u.a. der komplette Devisenterminhandel). Im Freiverkehr muss sich der Kunde sofort entscheiden; es gibt also keine Bedenkzeit. Etwas später sieht der Kurs vielleicht schon ganz anders aus. Bei der Vielzahl von Kursen stellt sich natürlich die Frage, welche Referenzkurse repräsentativ sind. Für statistische Zwecke, bei Bilanzbewertungen oder bei juristischen Auseinandersetzungen (Schadensersatz etc.) werden meist die EZB-Kurse herangezogen, da sie bei ihrer Veröffentlichung nicht mehr tagesaktuell und für spontane Dispositionen nicht geeignet sind. Auch bei der Berechnung des Zollwertes bei Wareneinfuhren wird von den Referenzkursen der Zentralbank ausgegangen. Natürlich kann man auch die entsprechenden Tageswerte des EuroFixing dafür verwenden: Marktnahe Kurse bieten sowohl das EuroFX gegen 13.oo Uhr und die hausinternen Fixings der Banken ebenso wie die Interbankenkurse gegen 16.oo Uhr. Während sich die Devisenkurse an den Devisenbörsen und im Devisenmarkt aus Angebot und Nachfrage bilden, werden die Sortenkurse von den Banken individuell gesetzt («Schalterkurse»). Dabei richten sich die Institute in der Regel nach Empfehlungen ihrer Girozentralen. Oben Abb. 12/ 12 gibt einen Überblick über de Zusammenhang zwischen den verschiedenen Wechselkursbegriffen. Zwei sind noch zu ergänzen: <?page no="475"?> Auf ausländische Währungen lautende Schecks werden von den Banken zum Sichtkurs (Scheckkurs) angekauft (sinngemäß kauft der Kunde Euro und bezahlt mit einem USD-Scheck). Der Sichtkurs liegt in der Mengennotierung über dem Devisen-Briefkurs, ist also ungünstiger, da der Euro-Betrag dem Einreicher früher gutgeschrieben wird (als «E. v.», d.h. «Eingang vorbehalten»), als die ankaufende Bank den Scheckbetrag beim Bezogenen einziehen kann, zudem besteht ein Risiko, dass der Scheck von der bezogenen Bank nicht eingelöst wird. Für diese - durchaus einige Tage ausmachende - ‹Kreditzeit› wird daher der für den Kunden ungünstigere Sichtkurs angewendet. Abb. 12/ 17: Devisen im Freiverkehr 12.2.2007 / Basis Euro Geld Brief Algerien Dinar 89,2600 94,2600 Argentinien Peso 4,0220 4,0770 Brasilien Real 2,7372 2,7432 Bulgarien Lew 1,945 1,965 China RMB 9,8790 - Estland Krone 15,3200 15,9200 Indien Rupie 54,6900 - Israel Schekel 5,2200 5,6200 Korea, Süd Won 1198,0000 1222,0000 Kroatien Kuna 7,3495 7,3745 Kuwait Dinar 0,3611 ,3881 Lettland Lats 0,6961 0,7011 Litauen Litas 3,4030 35030 Marokko Dirham 10,7600 11,4600 Mexiko Peso 14,0600 14,5400 Philippinen Peso 61,9000 63,1000 Rumänien Leu 3,3929 3,3971 Russland Rubel 32,6200 34,9200 Saudi-Arbien Riyal 4,8085 4,9085 Slowakei Krone 34,0250 35,0250 Taiwan NT-$ 42,3500 43,2500 Thailand Baht 41,6550 45,6550 Tunesien Dinar 1,6591 1,7601 Türkei Neue Lira 1,8290 1,9790 Ungarn Forint 250,8550 258,8550 Ver. Ar. E. Dirham 4,7177 4,7977 Zypern Zypern-£ 0,5710 0,5920 Mitgeteilt von Deutsche Bank Frankfurt/ Main. Diese Kurse können nur als Anhaltspunkte dienen und haben keinen verbindlichen Charakter. DEVISEN IM FREIVERKEHR 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 445 <?page no="476"?> 446 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Der Kursunterschied beträgt in der Regel die halbe ‹Spanne› zwischen Devisenbrief- und -geldkurs, d.h. beim Dollar +0,0030. Beim Diskontieren von ausländischen Wechseln klärt die Wechselabteilung einer Bank den Ankaufskurs mit dem hausinternen Devisenhandel ab. Bei vielen Kreditinstituten erfolgt der Wechselankauf zum Kassabriefkurs, vor allem, wenn das ausländische Zinsniveau zugrunde gelegt wird. Wird das bei uns geltende Zinsniveau verwendet, wird der Terminbriefkurs zum Wechselankauf verwendet. Münzen werden gar nicht zurückgekauft, und wenn ausnahmsweise doch - z.B. in Grenzgebieten mit starkem Publikumsverkehr - zu einem recht ungünstigen Münzankaufskurs, der auf Eurobasis (Mengennotierung) meist 20-30% über dem Sortenankaufskurs liegt. 12.6.4. Exkurs: Münznamen Viele Geldbezeichnungen lassen die historischen Ursprünge noch erkennen. Der Übergang vom ursprünglichen Warengeld - Vieh, Salz, Stoff, Muscheln - zum Münzgeld spiegelt sich in einigen Münzbezeichnungen wider. Schilling kommt vom Germanischen skilling oder skilding, eine Art Schild (der portugiesische Escudo = Schild, lat.: scutum). Andere Münznamen sind Mengenbzw. Gewichtsbezeichnungen, wie das englische oder das türkische Pfund, die italienische Lira (von lat. libra: Gewicht, Pfund) oder der deutsche Batzen («ein Heller und ein Ba-ha-tzen...»); Peso heißt im Spanischen Gewicht, die spanische Peseta ist ein kleiner Peso (die Engländer nannten den Peso Dollar; siehe unten). Seit der Münzreform Karls des Großen war ein ‹Pfund› Rechenbasis für den Münzfuß , d.h. die Zahl von Münzen, die aus einer Gewichtseinheit geprägt werden durften. Auch der thailändische Baht bezeichnet eine Gewichtseinheit. Mark war ursprünglich ebenfalls eine Gewichtsbezeichnung, leitet sich aber auch von ‹Markierung› (Marke) ab, welche durch die Münzprägung angebracht wurde, z.B. ein Kreuz: Kreutzer. Andere Münznamen weisen auf eine geographische Herkunft hin: Der erwähnte Heller bezieht sich auf Schwäbisch Hall (damals Hall am Kochen), und Groschen ist eine Umformung der «großen Münze aus Tours» (gros tournois). Der koreanische Won und der japanische Yen bedeuten einfach «rundes Ding». Die chinesische Währung heißt Renminbi Yuan; Renminbi ist die Bezeichnung für die Währung selbst und bedeutet Volksgeld (renmin = Volk, bi = Währung), Yuan bedeutet Einheit, so dass die Geldscheine und Münzen Yuan ausweisen. Die Währung wird mal als Renminbi (RMB), mal als Yuan (CNY) bezeichnet, im Sprachgebrauch auch als Kuai. <?page no="477"?> Der Franc (Franken) entstand aus dem Lösegeld für den 1360 in England festgehaltenen König Johann den Guten (Francorum Rex: Lösegeld für den König). Die Drachme war schon in der Antike eine Bezeichnung für Silbermünzen: ‹eine Handvoll› kleiner Bratspieße (obolos; Sie erkennen den Obulus? ), die in Athen als Tauschmittel dienten (sog. Geräteder Warengeld). Der ghanaische Cedi leitet sich aus Kauri-Muscheln ab. Die Krone kursierte früher auch in Frankreich (couronne d’or, in England als crown, in Österreich-Ungarn als Goldkrone, in den Niederlanden als Zonnekroon (Sonnenkrone). Gulden leitet sich ab aus «guldin pfennic»: goldene Münzen, die im 13. Jahrhundert in Florenz und anderen italienischen Städten geprägt wurden und später (ab 1600) als Silbergulden in Holland («hfl» - holländischer Florin - kommt von florenus = aus Florenz). Gold heißt polnisch zloto (Zloty). Ecu hießen von 1266 bis zur französischen Revolution die großen goldenen Münzen aus Frankreich, d.h. die älteste französische Goldmünze Ecu d’or au soleil, später ecu à la couronne (in den Niederlanden als die erwähnte Zonnekroon nachgeprägt). Der Ecu aux lauriers (Lorbeer) wurde ab 1726 auch im deutschen Geldverkehr wichtig als Laubtaler oder Franzgeld. Die damalig europäische ECU des 20. Jahrhunderts hatte damit nichts zu tun mit der European Currency Unit, der Europäische Recheneinheit im Währungssystem bis zur Einführung des Euro. Ein Dinar bezeichnet den «10. Teil»: lat. Deni. Real (Rial, Riyal) leitet sich ab aus dem lateinischen «königlich». Der peruanische Sol bedeutet Sonne. Colón (Costa Rica, El Salvador) ist die spanischer Version von Kolumbus (Christobal Colón). Ein Quetzal (Guatemala) ist ein langschwänziger prachtvoller Tropenvogel. Rand (Südafrika) ist das Afrikaans-Wort für Bergkette; gemeint ist die Weißwasser-Bergkette in der Region von Johannesburg, wo Gold abgebaut wurde. Manche Münzen haben auf dem Rand eine Riffelung oder andere Markierungen. Münzen aus relativ weichen Edelmetallen wie Gold, Silber oder Kupfer waren eine Freude für sog. Geldschneider, die mit einem scharfen Messer einen so feinen Span vom Münzrand abschnitten, dass der normale Bürger nichts davon bemerkte. Damit waren die Münzen natürlich weniger Wert als aufgeprägt, und das gewonnene Metall konnte verkauft werden. Daher wurden derart gefährdete Münzen mit einer Markierung am Rande versehen. Wurde diese abgeschnitten, ließ sich das sofort feststellen. Die malayische Währung heißt Ringgit, und ringgit bedeutet «gezackt» und weist auf den gezackten Rand des spanischen Silberdollars hin, der früher in Südostasien als Zahlungsmittel verwendet wurde. Aus Tradition wird dies bei vielen heutigen Münzen so beibehalten. Ein Beu- 12.6. h lk b ff Wechselkursbegriffe 447 <?page no="478"?> 448 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik telschneider schlitzte unachtsamen Marktbesuchern den Geldbeutel auf. 12.6.5. Exkurs: Zur Geschichte des Dollars Vom Wort her leitet sich Dollar aus Münzen ab, die seit 1515 aus Silber geprägt wurden, das aus Minen in Joachimsthal im Erzgebirge gefördert wurde. Die «Joachimsthaler Silbermünze» hat sich im Zeitablauf über Taler abgeschliffen zu Dollar. Den amerikanischen Dollar gibt es seit 1792. Zunächst herrschte - bedingt durch den amerikanischen Bürgerkrieg - ein Währungswirrwarr. Zum Ende des Bürgerkriegs gab es 7000 verschiedene Banknoten von etwa 1500 Ausgabeinstituten; ein Drittel des Geldumlaufs galt als gefälscht. Erst die Geldscheine der Nordstaaten, die «Greenbacks», setzten sich durch. Bis zur Unabhängigkeit der ehemaligen englischen Kolonien in Nordamerika galt dort das englische Pfund als gesetzliches Zahlungsmittel, allerdings neben einer Vielzahl von verschiedenem Warengeld als Geldsurrogaten - Tabak, Felle, Schießpulver, Muschelschmuck - und dem spanisch-mexikanischen Real. Nach der Unabhängigkeit fehlte zunächst Bargeld, und so blieb der mexikanische Real in Umlauf, der im Sprachgebrauch ‹Peso› (Gewicht) und von den Engländern «Dollar» genannt wurde. Erst 1857 verlor er die Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel, als eine amerikanische Währung eingeführt wurde, die man allgemein «Dollar» nannte. Man sagt auch, dass das Dollarzeichen ‹$› die zusammengeschobene Abkürzung «P’s» für Pesos ist (FAZ 28.4.99). Interessant ist auch, dass die Ein-Dollar-Note metaphysische Elemente enthält: Über der Pyramide von Gizeh, um die sich eine Vielzahl von Interpretationen ranken (Sie ist auch ein Symbol der Freimaurer), ist das esotherische sog. «Dritte Auge» abgebildet, das in der Mitte des menschlichen Stirnknochens noch zu fühlen sein soll (dort, wo der griechische Minotaurus sein Einauge hatte). Nun zurück zur profanen Realität. 12.7. Wirkungen von Wechselkursänderungen Die Begriffe Aufwertung bzw. Abwertung hängen eng zusammen und können möglicherweise auf ein- und dieselbe Situation zutreffen. Dies hängt mit der oben betrachteten Unterscheidung zwischen Preis- und Mengenwechselkursen zusammen. So ist eine Aufwertung des Dollars gegenüber dem Euro sinngemäß identisch mit einer Abwertung des Euros gegenüber dem Dollar: <?page no="479"?> Als Abwertung des Euro bezeichnet man die Tatsache, dass sich der Wechselkurs von z.B. 1 EUR = 1,10 USD verändert zu 1 EUR = 1,05 USD, d.h. der Mengenwechselkurs sinkt. Das bedeutet gleichzeitig aber, dass der Dollar teuer wird. Berechnet man die entsprechenden Preiswechselkurse (= Mengenwechselkurs aus Sicht der USA), so steigt der Preiswechselkurs bei der betrachteten Abwertung des Euros von USD 0,91 auf USD 0,95. Um deutlich zu machen, weshalb eine Währungsabwertung am Devisenmarkt zu u. U. heftigen Reaktion führt, bzw. weshalb in Systemen fester Wechselkurse die Einigung über Leitkursveriinderung so schwierig ist, werden im folgenden die Wirkungen und Aufbzw. Abwertungen auf volkswirtschaftliche Größen betrachtet, wobei wir das bisherige Beispiel weiterverwenden. 12.7.1. Wirkungen auf die Leistungsbilanz Zunächst zum Export. Wenn ein deutscher Exporteur Ware zu einem Preis von 1000,- EUR anbietet, dann kostet sie aus der Sicht eines Käufers nach der Euro-Abwertung (bzw. USD-Aufwertung) nun 50,- USD weniger als vorher. Bei normaler Reaktion führt eine Preissenkung zu einer Erhöhung der Güternachfrage, so dass tendenziell die deutschen Exporte steigen. Eine analoge umgekehrte Wirkung hätte eine Aufwertung des Euros. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass es eine Reihe von Beispielen für anomale Reaktionen gibt, darunter auch die deutsche Exportentwicklung: Die DM war seit der Währungsreform gegenüber dem Dollar gewaltig aufgewertet worden (ursprünglich war die Parität 1 USD = 4,20 DM! ), doch sind die deutschen Exporte ständig gestiegen. Das liegt u.a. auch am Image «made in Germany», das vielen Produkten auf den Weltmärkten eine Quasimonopolstellung verschaffte, vor allem aber auch daran, dass stets zu wenig oder zu spät aufgewertet wurde, so dass per Saldo immer noch ein «Rest» von Unterbewertung der DM übrig blieb. Im Normalfall aber bedeutet eine Aufwertung der eigenen Währung eine Erschwernis für die eigenen Exporte (Abb. 12/ 18). Was die Importe anbelangt, so wird eine Ware, die bisher 1000,- USD kostete, nun aus deutscher Sicht auf der Basis unseres obigen Zahlenbeispiels um 40,- EUR teurer, d.h. es besteht damit - bei normaler Reaktion - eine Tendenz zu niedrigeren Importen. Die Leistungsbilanz des Abwertungslandes (Deutschland) verbessert sich somit. Die Erhöhung der Importpreise betrifft insbesondere den Dienstleistungsimport in Form von Urlaubsreisen ins Ausland, die entsprechend teurer werden. Für die ausländischen Anbieter bedeu- 12.7. k Wirkungen von h lk d Wechselkursänderungen 449 <?page no="480"?> 450 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik tet diese tendenzielle Leistungsbilanzverschlechterung ihres Landes einen Nachfrageausfall, wenn man unterstellt, dass die bisherigen Importe des abwertenden Landes Teile der bisherigen Inlandsnachfrage ersetzten und nun aufgrund der Importverteuerung Nachfrage nach Inlandsgütern zurückgeht). Bei entsprechend kräftigen Absatzeinbußen kann dies zum Entstehen oder Verschärfen einer Unterbeschäftigungssituation führen. Andererseits bedeutet die Leistungsbilanzverschlechterung bei einer Aufwertung Verminderung eines gegebenen Inflationsdrucks, da sich die Importe verbilligen (Abnahme der importierten Kostendruckinfiation) und die Exporte zurückgehen (Abnahme eines etwaigen Nachfragesogs bzw. Abnahme der Ausweitung der Geldmenge durch Zufließen und Umtauschen ausländischer Währung in inländische). Dass die Inflationsrate in Deutschland vor einigen Jahren so nachhaltig gesunken war und 1986 praktisch bei Null lag, ist insbesondere auch darauf zurückzuführen, dass sich der Effekt sinkender Ölpreise noch um den Effekt eines sinkenden Dollarkurses verstärkte. Ohne diese beiden externen Impulse hätte die deutsche Inflationsrate sicherlich spürbar höher gelegen. Hier zeigt sich erneut der klassische Konflikt zwischen den Zielen Preisniveaustabilität und hoher Beschäftigungsstand; wir werden darauf im Kap. 16 zurückkommen. Eine Aufwertung führt weiterhin dazu, dass eventuell bestehende Zinsvorteile im Ausland verstärkt genutzt werden können, da derselbe Zinsertrag in ausländischer Währung mit weniger Inlandswährung zu erzielen ist, wodurch gleichfalls bei Abfluss von inländischer Währung ins Ausland eine Verringerung der inländischen Geldmenge begünstigt wird (von sich daraus wieder ergebenden Folgewirkungen auf den Wechselkurs ist hier abgesehen). Abb. 12/ 18: Euro-Aufwertung "),-#+&(&/ )%/ ! $10)')$"$%).(*&$ Cassell-Bilanz durch Währungsschwankungen beeinträchtigt 2+/ / 1'($'& .'"0(% .*, ! ,-#*-)',*&, Euro-Aufwertung trübt die deutschen Exportchancen <?page no="481"?> Ein bewußtes Vermeiden bzw. Hinauszögern einer Aufwertung - oder anders ausgedrückt: eine bewußte Unterbewertung einer Währung - wirkt somit ähnlich wie ein Schutzzoll gekoppelt mit Exportsubventionen. Dies erklärt vielleicht, weshalb in der Regel gezögert wird, bei fixen Wechselkursen einem Aufwertungsdruck auf die eigene Währung zügig und in angemessener Höhe nachzugeben. Andererseits kann dies auch als Wettbewerbsverzerrung interpretiert werden, welche die Anpassungsnotwendigkeit an veränderte Weltmarktbedingungen verschleiert. Auf die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen von Aufwertungen oder Abwertungen gehen wir weiter unten im Abschnitt 12.8 ein. Abb. 12/ 19 vergleicht zusammenfassend die (tendenziellen) Wirkungen einer Ab- und Aufwertung. 12.7.2. Wirkungen auf die Terms-of-Trade Durch eine Abwertung der Inlandswährung werden die eigenen Exportgüter aus der Sicht des Auslandes billiger, die ausländischen Importgüter aus der Sicht des Inlands teurer, so dass sich eine Tendenz zur Verbesserung der Leistungsbilanz ergibt. Dies lässt sich auch anhand des Begriffs «Terms of Trade» erläutern (vgl. auch Abschn. 13.2.2). Unter diesem wörtlich mit «Handelsbedingungen» zu übersetzenden Begriff versteht man das Verhältnis der Exportpreise zu den Importpreisen, z.B. jeweils ausgedrückt in Export- und Importpreisindizes. Eine Abwertung der Inlandswährung, welche die Exportpreise senkt und die Importpreise erhöht, würde zu einer «Verschlechterung» der Terms of Trade führen, da mit dem Erlös einer konstanten Menge an Exportgütern nur noch eine kleinere Menge an Importgütern «bezahlt» werden kann. Analog ergibt sich, dass eine Aufwertung der Inlandswährung eine Verbesserung der Terms of Trade bedeutet. 12.7.3. Wirkungen auf die Beschäftigung Aus der Verschlechterung der Terms of Trade bei einer Abwertung mit Verbilligung der Export- und Verteuerung der Importgüter folgen wiederum positive Effekte für die Beschäftigung im Inland, und hier ist auch die Hauptantriebskraft für den Wunsch nach Abwertung der eigenen Währung im internationalen Kontext zu sehen. Da aber die positiven Effekte des abwertenden Landes mit entsprechenden negativen Effekten in den dadurch aufwertenden Ländern einhergehen, ist es verständlich, dass um jeden Prozentpunkt erbittert gerungen wird. Der Preis für die beschäftigungsfördernden Effekte der Abwertung ist 12.7. k Wirkungen von h lk d Wechselkursänderungen 451 <?page no="482"?> 452 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik in einem Verstärken inflationärer Kräfte zu sehen, zunächst durch Erhöhung des importierten Kostendrucks bei preisunelastischen Gütern und möglicherweise im Zeitablauf durch Nachfragesog- und Geldmengeneffekte aufgrund steigender Export-nachfrage. Viele Länder griffen daher bei Abwertungen vorübergehend zu Preisstops. Der positive Beschäftigungseffekt wird aber allgemein als wichtiger betrachtet, wie auch das historische Beispiel des sog. Abwertungswettlaufs im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 deutlich macht, als viele Länder fast gleichzeitig versuchten, sich durch Abwertung Beschäftigungsvorteile gegenüber anderen zu verschaffen. 12.7.4. Elastizitäten und J-Kurve Ob eine Abwertung allerdings tatsächlich die zu erwartende Leistungsbilanz-verbessernde Wirkung hat, ist nicht sicher: Die Abwertung verteuert ohne Verzögerung die Importe, so dass diese nominal steigen. Ob sie gütermäßig gedrosselt werden, so dass Abb. 12/ 19: Wirkungen von Wechselkursänderungen <?page no="483"?> der Importwert insgesamt sinkt, hängt von der Elastizität der Importnachfrage ab. Ob und wie intensiv diese auf die Verteuerung der Importgüter mit Nachfragerückgang reagiert, kann präzise nur für den Einzelfall bestimmt werden. Dies gilt analog für die Exporte, die nominal billiger werden, wobei aber unbestimmt ist, ob und wie elastisch die Exportnachfrage mengenmäßig darauf reagiert (Elastizitäts- Pessimismus). Hinzu kommt kurzfristig der sog. «J-Kurven-Effekt». Zur Veranschaulichung sei als Beispiel eine Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar gewählt: Alle Importrechnungen, die auf Dollar lauten (in Dollar «fakturiert» sind), werden damit teurer. Dies ist allgemein die Regel, denn in den meisten Ländern kann man als Grundsatz davon ausgehen, dass Importe in der Währung des Lieferlandes fakturiert sind; nur in Ländern mit «harter», begehrter Währung ist dies oft nicht der Fall. Importrechnungen in Euro hingegen werden von der Abwertung nicht betroffen, wohl aber der ausländische Exporteur, der jetzt zwar denselben Euro-Betrag erhält, wie bei Vertragsabschluss verabredet, jedoch beim Umtausch dieses Betrags weniger Dollar erhält, als er ursprünglich kalkuliert hatte. Bei zukünftigen Geschäften wird er dies wohl berücksichtigen und seine Euro-Lieferpreise nach Deutschland entsprechend nach oben anpassen. Dann wird sich auch für diese Fälle die Importverteuerung auswirken. Was die Exporte anbelangt, so werden diese nach den gerade angestellten Überlegungen vorrangig in Euro fakturiert sein. Eine Wechselkursveränderung hat demnach bei bestehenden Euro-Kontrakten keinen Effekt für den Exporteur, wohl aber für den Importeur in den USA, der den vereinbarten Euro-Betrag nun mit weniger Dollar kaufen kann als gedacht; aus seiner Sicht werden folglich die Exportwaren billiger. Wäre der Exportkontrakt in Dollar fakturiert, so würde der deutsche Exporteur dafür mehr Euro eintauschen können, als er kalkuliert hatte. Daher kann er in Zukunft seine Exportpreise in Dollar senken, ohne Einbußen bei seinen Euro-Erlösen zu erleiden. Zusammengefasst wird das «J» deutlich (vgl. Abb. 12/ 20): Wegen des Übergewichts der Fakturierung in der Währung des jeweiligen Lieferlandes verteuern sich - in Euro ausgedrückt - die Importe bei gleichbleibenden oder nur gering ansteigenden Euro-Exporterlösen, d.h. die Leistungsbilanz verschlechtert sich zunächst, oder anders ausgedrückt: Das Leistungsbilanzdefizit nimmt zunächst zu (abfallender Art der J-Kurve). Erst wenn die Preislisten angepasst und die Preisveränderungen über die jeweiligen Import- und Exportelastizitäten zu Nachfragereaktionen führen, können die Importe sinken bzw. die 12.7. k Wirkungen von h lk d Wechselkursänderungen 453 <?page no="484"?> 454 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Exporte steigen, so dass sich die Leistungsbilanz verbessert (aufsteigender Ast der Kurve). Wenn (auch wiederholte) Abwertungen der eigenen Wirtschaft nicht auf die Sprünge helfen oder Abwertungen aus anderen (z.B. politischen) Gründen nicht möglich sind, werden Länder mit Leistungsbilanzdefiziten zu anderen importdämpfenden und exportanregenden Maßnahmen greifen; auf diese beobachtbare, mit dem Begriff Protektionismus beschriebene Tendenz gehen wir im Kap. 13 ein. Bei flexiblen Wechselkursen würden sich Zahlungsbilanzstörungen, die auf internationale Preis-, Kosten- oder Zinsunterschiede zurückzuführen sind, durch die dadurch ausgelösten Devisenbewegungen zu großen Teilen von selbst beheben. Dies bedeutet, dass dann in nationaler Hinsicht Wirtschaftspolitik betrieben werden kann, die nicht durch entgegengerichtete Einflüsse von der «außenwirtschaftlichen Flanke « bedroht wird: Die Notenbank hat keine lnterventionspflicht am Devisenmarkt. Hier nur ein Beispiel: Eine erfolgreiche binnenwirtschaftliche (Preis-)Stabilitätspolitik würde - unter sonst gleichen Voraussetzungen - bei höherem ausländischen Preisniveau tendenziell zu Exportüberschüssen führen. Diese aber bringen - wie dargestellt - inflationäre Impulse mit sich und würden die Stabilitätspolitik durch importierte Inflationskräfte gefährden. Bei flexiblen Wechselkursen hingegen würden die Devisenzuflüsse zu einer Aufwertung der Inlandswährung führen, wodurch Preis- oder Zinsunterschiede eingeebnet würden. Man spricht daher auch von den «Selbstheilungskräften» flexibler Wechselkurse. Diese sollten aber nicht überschätzt werden, denn es wäre unrealistisch zu glauben, dass flexible Wechselkurse auf güter- Abb. 12/ 20: J-Kurve <?page no="485"?> wirtschaftliche Ungleichgewichte angemessen reagieren. Wegen des Übergewichts des reinen Devisenhandels über die Handelsströme und die langfristigen Kapitalbewegungen können sich sogar völlig entgegengesetzte Entwicklungen ergeben, z.B. dass bei einer Zunahme des amerikanischen Handelsbilanzdefizits der Dollar nicht - wie theoretisch zu erwarten wäre - schwächer wird (abwertet), sondern ganz im Gegenteil aufwertet. Der Hauptvorteil flexibler Wechselkurse liegt dessenungeachtet darin, dass sie automatisch auf Marktveränderungen reagieren, d.h. keine anhaltenden Falschbewertungen («misalignments») möglich sind. Wechselkursanpassungen bei fixen Wechselkursen - auch innerhalb des damaligen Europäischen Währungssystems (EWS) - erfolgten meist «zu spät» und «zu schwach». Eine Unterbewertung der Währung wirkt folglich auf der Importseite wie ein Schutzzoll, auf der Exportseite wie eine Exportsubvention. Der Hauptnachteil flexibler Wechselkurse liegt in der schwierigen Kalkulierbarkeit im Zeitablauf, die über längere Fristen nur unbefriedigend durch Termingeschäfte abzusichern ist. Fixe Wechselkurse sind jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für Integrationsbestrebungen; flexible Wechselkurse sind für national autonome Wirtschaftspolitik praktikabler. Die Tatsache, dass das bisherige Europäische Währungssystem vom Prinzip fester Wechselkurse ausging und als Beitrittsvoraussetzung zur europäischen Währungsunion (EWU) die Wechselkursstabilität eines der Konvergenzkriterien ist (vgl. Abschn. 12.6.5.3), untermauert diese Aussage. Die Eingriffe der nationalen Notenbanken am Devisenmarkt hängen bei flexiblen Wechselkursen - wie gegenüber dem US-Dollar - von der freien Entscheidung der Notenbanken hinsichtlich der Kursbeeinflussung ab. Ein wichtiger Punkt ist dabei hervorzuheben: Bei fixen Wechselkursen kann eine Leitkurs bzw. Paritätsänderung nur durch Regierungsbeschluss (in Abstimmung mit ausländischen Regierungen) herbeigeführt werden. Bei flexiblen Wechselkursen hingegen liegt es im Ermessen der Notenbanken (sofern sie autonom sind), Auf- oder Abwertungen hinzunehmen, ihnen entgegenzuwirken oder sie sogar herbeizuführen. Damit verfügt eine autonome Notenbank bei flexiblen Wechselkursen neben ihren sonstigen geld- und kreditpolitischen Instrumenten über ein weiteres Instrument, mit dem Einflüsse auf der Handels-, Kapital- und Devisenströme ausgeübt und binnenwirtschaftliche Maßnahmen unterstützt werden können. Allerdings muss man dabei im Auge behalten, dass selbst Beträge von vielen Millionen bei der Wechselkursfindung im internationalen Kontext nur Akzente setzen können. Eine nachhaltige Beeinflussung 12.7. k Wirkungen von h lk d Wechselkursänderungen 455 <?page no="486"?> 456 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik von Wechselkursen ist nur durch gemeinsames, abgestimmtes Verhalten wichtiger Notenbanken zu erwarten. 12.8. Bedeutung von Wechselkursen für Unternehmen Alle Unternehmen mit internationalen Beziehungen sind dem Risiko ausgesetzt, dass sich die dabei relevanten Wechselkurse zu ausländischen Währungen verändern; man spricht hier von Währungs-Exposure. Dabei werden drei Exposure-Ebenen unterschieden: Transaktions-, Buch- und strategisches Währungsexposure. 12.8.1. Ebenen des Währungsexposure (1) Transaction Exposure Das Transaction Exposure (Konvertierungsrisiko, Umwechslungsrisiko) bezieht sich auf die laufenden Operationen einer Unternehmung und bedeutet das Risiko, dass sich Forderungen und Verbindlichkeiten, die auf ausländische Währung lauten, durch Wechselkursänderungen ungünstig verändern: Zahlungen aus Lieferungen und Leistungen, Dividenden, Zinsen, Leasing- oder Mietzahlungen etc. Forderungen können durch Aufwertung der Inlandswährung weniger wert werden. Beispiel: Während der Exporteur auf der Basis 1 US-Dollar (USD) = 1 Euro kalkuliert hatte, sinkt der Exporterlös in Euro aufgrund einer Euro-Aufwertung = Dollar-Abwertung auf 1 USD = 0,90 Euro (d.h. in der Mengennotierung USD/ EUR steigt der Kurs auf 1 EUR = 1,11 USD). Analog werden Verbindlichkeiten durch Abwertung des Euro = Aufwertung des USD ‹teurer› (d.h. in der Mengennotierung EUR/ USD sinkt der Kurs von 1: 1 auf z.B. 1 EUR = 0,87 USD, d.h. 1 USD kostet statt 1 EUR nun 1,15 EUR). Das Transaction Exposure bezieht sich also auf die in der Vergangenheit entstandenen Posibezieht sich also auf die in der Vergangenheit entstandenen Posi bezieht sich also auf die in der Vergangenheit entstandenen Posi bezieht sich also auf die in der Vergangenheit entstandenen Posi--tionen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt fällig werden, und kann unmittelbar liquiditätswirksam werden, es ist folglich ein Cash-flow- Risiko. Wir gehen weiter unten darauf ein, dass dieses natürlich auch von der Entwicklung der Wettbewerbsstruktur beeinflusst wird. (2) Book Exposure Das ‹Book Exposure› (‹translation exposure›, Umrechnungrisiko, bilanzielles Risiko, Bewertungsrisiko) bezieht sich auf Positionen, die - durch Wechselkurse ‹übersetzt› und damit in Euro-Werte umgerechnet <?page no="487"?> - z.B. in die Bilanz des Unternehmens eingehen, so dass sich Wechselkursänderungen unmittelbar auf die zu bilanzierenden Bestandsgrößen auswirken. Analog können Aufwands- oder Ertragspositionen in der Gewinn- und Verlustrechnung (G+V) betroffen sein (zusammenfassend spricht man jedoch von bilanziellem Währungsrisiko). Das Umrechnungsrisiko ist nicht direkt liquiditätswirksam. Dabei ist jeweils nach den nationalen bilanzrechtlichen Normen zu entscheiden, ob Wechselkursänderungen aktiviert oder passiviert werden können oder ggf. müssen. Dies muss für jede Einzelposition von Bilanz und G.u.V geprüft werden. Pauschal kann man aber sagen, dass nach deutschem Bilanzrecht auf der Aktivseite Positionen des Anlagevermögens zu historischen Kursen bewertet werden, z.B. Beteiligungen. Höherbewertungen erfolgen in der Regel nicht, bei anhaltendem Wertverlust muss jedoch wertberichtigt werden. Beim Umlaufvermögen (z.B. Lagerbeständen und Forderungsbeständen) gilt das strenge Niederstwertprinzip, so dass bei abweichenden historischen und aktuellen Kursen immer der jeweils niedrigere anzusetzen ist. Kurssteigerungen führen also grundsätzlich nicht zu einer Höherbewertung der Aktiva, sofern sie nicht realisiert sind. Auf der Passivseite der Bilanz hingegen gilt das Vorsichtsprinzip, nach dem drohende Verluste (z.B. Kurssteigerungen von Verbindlichkeiten) ausgewiesen werden müssen, während Kursverluste sich nur dann als niedrigerer Passivposten niederschlagen, wenn sie tatsächlich realisiert worden sind. Potentielle Gewinne werden also grundsätzlich nicht bilanziert, potentielle Verluste schon. Beispiel: Wenn Dollarforderungen durch Termingeschäfte (also Verbindlichkeiten) abgesichert sind, müssen Verluste aus dem Sicherungsgeschäft ausgewiesen werden, während die Gewinne aus dem Grundgeschäft in der Bilanz nicht ersichtlich sind. Bezüglich des Book Exposure bietet es sich für Unternehmen an, Auslandsinvestitionen lokal zu finanzieren, so dass den zu aktivierenden Vermögenswerten entsprechende Verbindlichkeiten auf der Passivseite gegenüberstehen. Dies hängt aber auch von der Inflationsentwicklung, vom Zinsniveau und anderen Überlegungen ab. (3) Strategisches Exposure Beim strategischen Exposure (competitive exposure) kann sich durch eine Wechselkursänderung die Wettbewerbsfähigkeit oder auch der Wert eines Unternehmens (due dilligence) verbessern oder verschlechtern, sich also indirekte Veränderungen der ökonomischen Gesamt- 12.8. d Bedeutung von h lk Wechselkursen ffür h Unternehmen 457 <?page no="488"?> 458 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik situation ergeben. Der synonym verwendete Begriff ‹economic exposure› (ökonomisches Währungsrisiko) ist nicht sehr glücklich, da auch die anderen Risiken ökonomische Risiken sind. Das Wechselkursrisiko entwickelt sich in diesem Zusammenhang zu einem strategischen Währungsrisiko, da europäische Unternehmen anders von Wechselkursänderungen betroffen werden können als z.B. amerikanische oder asiatische Konkurrenten. Dies gilt durchaus auch für Zulieferer z.B. innerhalb des Euro-Raums, da sie von einer Verschlechterung der Wettbewerbssituation ihres Kunden unmittelbar betroffen werden, ohne dass der Zulieferer selbst ein direkten Wechselkurs-Exposure hätte. Ein strategisches Währungsrisiko ist kaum zu quantifizieren. Seine Bedeutung wird in der Praxis tendenziell unterschätzt, weil vordergründig - im Gegensatz zum Transaktionsrisiko - eine Absicherung oft als nicht möglich angesehen wird, denn ein direkter Ausgleich z.B. über Anpassungen der Verkaufspreise oder Modifikation der Produktpalette ist meist nicht unmittelbar realisierbar. 12.8.2. Währungsrisikomanagement Dass Wechselkursschwankungen die kaufmännische Kalkulation erschweren, braucht nicht ausgeführt zu werden. Instrumente zur Begrenzung von Wechselkursschwankungen werden daher zum einen eingesetzt, um eine sichere, konstante Kalkulationsbasis zu erhalten, auch unter Inkaufnahme des Verzichts auf mögliche Wechselkursgewinne. Zum anderen dienen sie der Absicherung gegen mögliche Wechselkursverluste. Wenn gegenwärtig ein (nur beispielhaft gemeintes) Kursverhältnis besteht von 1 USD = 1 Euro, könnte ein Amerikaner einen Lichtschalter (Preis 4,- Euro) für 4,- USD kaufen. Würde jetzt der Euro gegenüber dem Dollar aufwerten (Kursanstieg EUR/ USD auf 1 Euro = 1,11 USD, d.h. 1 US-Dollar = 0,91 Euro), müsste der Amerikaner für den Schalter 4,44 USD bezahlen und würde vielleicht nicht wieder kaufen, sofern der Exporteur den Preis nicht senken kann oder will. 55 Wären die Exportpreise aber in USD berechnet, würde der Exporteur die Lichtschalter - auf der Basis des ursprünglichen Kurses - zu 4,- USD anbieten. Steigt nun der EUR/ USD-Kurs auf 1 EUR = 1,11 USD (1 US-Dollar = 0,91 Euro), würde er nur 3,64 Euro erzielen. 55 Dies aber kann riskant sein, weil ein Exportpreis (ab Werk), der niedriger ist als der Inlandspreis, den Tatbestand des Dumping erfüllt und Produzenten im Importland veranlassen könnte, Anti-Dumping-Zölle zu fordern. <?page no="489"?> Der Exporteur fürchtet also eine Aufwertung seiner Inlandswährung (Euro) gegenüber der Währung seiner Handelspartner (Anstieg des Mengenwechselkurses EUR/ USD; Abb. 12/ 21). Hingegen freut er sich über eine Abwertung seiner Währung (Sinken des Mengenwechselkurses EUR/ USD), weil dies - bei konstantem Verkaufspreis des Lichtschalters in Euro - für den Kunden eine Verbilligung bedeutet und er hoffentlich mehr kauft. Umgekehrt wird einleuchten, dass für einen europäischen Importeur eine Euro- Abwertung (Dollar-Aufwertung) ungünstig ist, weil alles, g was er in Dollars bezahlen muss, in Euro umgerechnet teurer wird, und wenn er dies in seinen Preisen weitergibt, laufen ihm die Kunden davon. Also profitiert er von einer Euro-Aufwertung (Dollar-Abwer g tung). Dem eenen sin Uhl is dem annern sin Nachtigall. 56 Der nach seiner Einführung immer schwächer gewordene Euro war/ ist ein ausgezeichneter Exportmotor, via Importpreise aber auch ein Inflationstreiber, weil alle Dollarimporte zu steigenden Europreisen bezahlt werden mussten. Dies hat sich mittlerweile geändert (Abb. 12/ 22). Der Einsatz von Instrumenten, um ein bestehendes Risiko zu kompensieren, wird auch als Hedging (oder Hedge) bezeichnet; der Begriff leitet sich ab aus to hedge = schützen; das deutsche Verb «hegen» geht darauf zurück. In der Literatur wird Hedging häufig auch g nur als spezifisches Synonym für die unten beschriebenen Devisentermingeschäfte (DTG) verwendet. Die Terminologie ist auch hier uneinheitlich. Das Wechselkursrisiko hängt insbesondere auch vom Wechselkurssystem ab: Die Wahrscheinlichkeit einer Wechselkursveränderung ist bei flexiblen Wechselkursen offensichtlich größer als bei festen Wechselkursen. Unter Risikoabwälzung oder Risikoübertragung versteht man die entgeltliche oder unentgeltliche Übertragung des Risikos auf andere Wirtschaftssubjekte. 56 Plattdeutsch: Des einen Eule ist des anderen Nachtigall, frei übersetzt: Was den einen freut, ärgert den anderen. Abb. 12/ 21: Kursanstieg ."3$(-$ &8$% #1*8-1*" / )- &8(,)$"#1*3+" '%''3$(28$#5-$+3'' #-"/ " .3)83&# 4&/ 8#"$)- / 8 12.8. d Bedeutung von h lk Wechselkursen ffür h Unternehmen 459 <?page no="490"?> 460 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik (1) Fakturierung in Inlandswährung Offensichtlich besteht gar kein Währungsrisiko (Exposure), wenn Forderungen bzw. Verbindlichkeiten auf Inlandswährung lauten. Ob dies möglich ist, ist vorrangig eine Frage der Marktmacht, weil damit das Wechselkursrisiko - unentgeltlich - auf den ausländischen Geschäftspartner abgewälzt wird. Ein Beharren auf Euro-Fakturierung kann daher für einen Exporteur den Verlust von Aufträgen bedeuten, ebenso wie ein Importeur möglicherweise nicht beliefert würde. Andererseits ist festzuhalten, dass nach Angaben der Deutschen Bundesbank rund 77% der deutschen Exporte und bemerkenswerterweise auch über 70% der deutschen Importe in Euro fakturiert werden (vgl. Abb. 12/ 23). Manche Unternehmen verzichten auf Geschäfte, die sie nicht auf Euro-Basis abwickeln können. (2) Risikozuschläge Manche Unternehmen akzeptieren bei Fakturierung in Auslandswährung das Währungsrisiko ohne eine anderweitige Absicherung und kompensieren das Risiko durch einen entsprechenden Preisaufschlag, was dem Kunden teils explizit gemacht wird, teils ‹verdeckt› in die Abb. 12/ 22: Euro-Kurs Der Euro im Aufwind Dollar je Euro seit Euro-Einführung 1,30 1,20 1,10 1,00 0,90 0,80 4.1.1999 24.11.2006 Referenzkurse der EZB Quellen: Thomson Financial Datastream/ Bloomberg <?page no="491"?> Angebotskalkulation eingeht. Beispielsweise ist das Wechselkursrisiko zwischen Euro und Schweizer Franken relativ gering und legt nicht unbedingt eine instrumentale Absicherung nahe. (3) Fakturierung in anderen Währungen Bei Geschäftsbeziehungen, bei denen auf beiden Seiten schwache Währungen auftreten, kann es sich anbieten, in einer als stabil angesehenen ‹neutralen› dritten Währung zu fakturieren, z.B. dem Schweizer Franken. (4) Währungsklauseln Durch die Vereinbarung eines Währungsoptionsrechts wird - in der Regel dem Begünstigten, ggf. aber auch dem Zahlungspflichtigen - das Recht eingeräumt, bei Fälligkeit der Forderung die Währung der Zahlung zu bestimmen. Dabei kann er zwischen mehreren Währungen wählen, deren Relation zueinander als absolute Beträge auf der Basis der Devisenkurse bei Vertragsabschluss festgelegt werden. Eine andere Möglichkeit ist es, zwar in einer Auslandswährung zu fakturieren, jedoch dem ausländischen Partner durch eine Vertragsklausel das Kursrisiko aufzuerlegen. (5) Fremdwährungskonten Sofern ein Unternehmen laufend Zahlungsein- und -ausgänge in einer ausländischen Währung zu verzeichnen hat, bietet sich die Führung eines Fremdwährungskontos an. Dies klammert zum einen das Abb. 12/ 23: Wechselkurssicherung 6+DE+'$+ 2=745E+D5+ ++E7+! '#+ 7+/ ; ++68D,++: / ; +,D2) @+2: ) +: 2 $38ED,: +,D2) : 2 %D,0 416: / ; ( &+B: ++2E+,4: 2)++/ ; 1*E+2 @: ,- -+, 90,7D) B0, &+B: ++20.E: 02+2 )+)+1+2 ! 0: 0E3 -,12)E 1,: E: +/ ; + 5D6: +*+,+, 3D* $,38ED,: +,D2) : 2 %D,0 #3.32+, +,6+: -+2 9+,6D+E+ @+)+2 'D*@+,ED2) -++ "*D2-++ ( '1@167+2 -++ 7+/ ; ++68D,+,: +: 80+ 12.8. d Bedeutung von h lk Wechselkursen ffür h Unternehmen 461 <?page no="492"?> 462 12. h lk Wechselkursd und h l k Währungspolitik Wechselkursrisiko aus und vermeidet zum anderen Kosten, die beim Hin- und Hertausch durch die Spanne zwischen Devisengeld- und -briefkurs sowie die zweimalige Courtage (Maklergebühr) entstünden. (6) Sicherung durch die Zahlungsbedingung Wenn eine Vorauszahlung vereinbart wird, begrenzt sich das Währungsrisiko auf den (kurzen) Zeitraum zwischen Vereinbarung und tatsächlichem Eingang der Zahlung. Unter einem Akkreditiv erhält der Exporteur Zahlung zum Zeitpunkt des Warenversands. Somit ist das Wechselkursrisiko zeitlich eng begrenzt. Bei einem Bestellerkredit gewährt eine inländische Bank dem Importeur einen Kredit, der bei Leistungserfüllung des Exporteurs direkt in Euro an den Exporteur ausbezahlt wird. In diesen Fällen ist das Transaction Exposure normalerweise zeitlich kurz. (7) Forderungsverkauf Man kann Forderungen an spezialisierte Unternehmen einschließlich des Währungsrisikos verkaufen. Man spricht dabei je nach Art der vertraglichen Konstruktion von Factoring (laufender Verkauf einer Vielzahl von Forderungen) oder Forfaitierung (Verkauf von hohen Einzelforderungen). (8) Netting (Hedging, Matching, Covering) Einzelne Positionen («offene Positionen») können durch entsprechende spiegelbildliche Positionen geschlossen (kompensiert) werden, beispielsweise wenn einer Forderung über 100.000 USD eine Verbindlichkeit in gleicher Höhe gegenübersteht. Da dadurch das Nettoexposure gegen Null geht, spricht man auch von Netting, synonym, aber uneinheitlich auch von Covering, Matching oder Hedging. Eine spezielle Form sind dabei Devisentermingeschäfte (DTG) ( forrr wards bzw. futures). Forwards werden zwischen den beiden Vertragspartnern gehandelt (over the counter , OTC), z.B. zwischen Exporteur und Bank. Als futures bezeichnet man standardisierte forrr wards, d.h. dass z.B. Beträge oder Laufzeiten standardisiert sind. Sie werden über die Börse gehandelt. Unter einem DTG ist zu verstehen, dass z.B. ein Exporteur heute einen in z.B. drei Monaten erwarteten Dollarbetrag aus einem Exportgeschäft ‹per Termin› verkauft, d.h. hier in drei Monaten, und zwar zu einem Kurs, der heute festgesetzt <?page no="493"?> wird, aber erst per Termin angewendet wird (Terminkurs; forward rate, delivery price) - im Gegensatz zum Kassakurs (spot rate, oft auch nur spot), der heute angewendet wird. Ein Termingeschäft wird also heute vereinbart und am vereinbarten Termin ausgeführt. Verkauft werden die Devisen in der Regel an eine Bank (aber das ist nicht zwingend, denn es gibt nicht wenige vermögende Privatleute, die DTGs aus spekulativen Gründen machen, mit ein wenig Spielgeld von ein paar Millionen Euro...). Für den Exporteur bedeutet ein Devisentermingeschäft den völligen Ausschluss des Kursrisikos, allerdings auch den Verzicht auf einen möglichen Kursgewinn (windfall profit 57 ): «no risks, no chances». Alternativ kann man sich durch eine Devisenoption absichern. Der Käufer einer Devisenoption hat - im Gegensatz zum Termingeschäft - das Recht, nicht aber die Pflicht, dem Verkäufer der Option z.B. Dollars zu einem vereinbarten Kurs zu verkaufen. Liegt zum entsprechenden Termin der Kassakurs höher, wird der Optionsinhaber seine Option verfallen lassen und zum Kassakurs tauschen («no risks, all chances»). Diese Form der Kursabsicherung ist allerdings um einiges teurer als die Devisen- Terminabs icherung. Auf eine Reihe weiterer Instrumente (u.a. Derivate) gehen wir hier nicht ein. 57 Ein Gewinn, der einem «durch den Wind in den Schoß fällt». 12.8. d Bedeutung von h lk Wechselkursen ffür h Unternehmen 463 <?page no="494"?> ß h d l l k 464 13. Außenhandelspolitik 13. Außenhandelspolitik «Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.» 58 Schöner kann man es nicht ausdrücken. Indikatoren der Verflechtung sind unter anderem der Waren- und Dienstleistungshandel, die Direktinvestitionen, die Produktionsstrukturen und die Finanzströme. Tucholsky hatte natürlich vor fast 75 Jahren sicherlich auch nicht ansatzweise eine Vision von den heutigen weltwirtschaftlichen Strukturen. 13.1. Globalisierung und Welthandel Die Welthandelsstrukturen sehen heute bereits ganz anders aus als noch vor wenigen Jahren. Eine Reihe von neuen Akteuren haben sich herausgeschält, u.a. Brasilien, Russland, Indien und China, die man BRIC-Staaten nennt. Abb. 13/ 1 und 13/ 2 verdeutlichen, dass sic