»Ich bin dann mal auf dem Weg!«
Spirituelle, kirchliche und touristische Perspektiven des Pilgerns in Deutschland
0305
2018
978-3-7398-0415-6
978-3-8676-4849-3
UVK Verlag
Christian Antz
Sebastian Bartsch
Georg Hofmeister
"Pilgern: Die Suche nach Richtung und Halt im Leben!"
Die Welt ist im permanenten gesellschaftlichen und technischen Wandel begriffen. Zudem hat hierzulande jeder Mensch unzählige Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. Im Zuge dessen fällt es dem Einzelnen oft nicht leicht, die Orientierung zu behalten. Viele suchen daher nach Richtung und Halt im eigenen Leben. Immer mehr Menschen greifen dabei auf eine Glaubenspraxis zurück, die Jahrtausende alt ist: sie pilgern.
Zahlreiche Expertinnen und Experten aus Theorie und Praxis beleuchten interdisziplinär die spirituellen, kirchlichen und touristischen Perspektiven des Pilgerns in Deutschland. Sie schaffen damit eine eindrucksvolle wissenschaftliche Grundlage zum Thema und setzen dabei theologische, soziologische, psychologische und touristische Maßstäbe.
Das Buch richtet sich gleichermaßen an Wissenschaftler, Kirchen und Praktiker.
<?page no="1"?> Christian Antz | Sebastian Bartsch | Georg Hofmeister (Hg.) »Ich bin dann mal auf dem Weg! « Spirituelle, kirchliche und touristische Perspektiven des Pilgerns in Deutschland <?page no="3"?> UVK Verlagsgesellschaft mbH • Konstanz Christian Antz, Sebastian Bartsch, Georg Hofmeister (Hg.) »Ich bin dann mal auf dem Weg! « Spirituelle, kirchliche und touristische Perspektiven des Pilgerns in Deutschland mit Beiträgen von Christian Antz, Sebastian Bartsch, Amélie zu Dohna, Sven Enger, Gabriel Gach, Manfred Gerland, Ralf Hoburg, Georg Hofmeister, Christian Kurrat, Susanne Leder, Detlef Lienau, Bernd Lohse, Erik Neumeyer, Thomas Roßmerkel, Notger Slenczka, Ekkehard Steinhäuser, Jakobus Wilhelm im Auftrag der Fachhochschule Westküste, der St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt und der Akademie der Versicherer im Raum der Kirche <?page no="4"?> Prof. Dr. Christian Antz ist Referatsleiter im Wirtschaftsministerium Sachsen-Anhalt in Magdeburg sowie Honorarprofessor am Institut für Management und Tourismus an der Fachhochschule Westküste in Heide. Sebastian Bartsch ist evangelischer Theologe und Pfarrer in Hettstedt sowie Gründungspräsident der St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt. Dr. Georg Hofmeister ist evangelischer Theologe und leitet als Geschäftsführer die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen in Kassel. Die Tagung und die Publikation »Ich bin dann mal auf dem Weg« wurde vom Land Sachsen-Anhalt, Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Magdeburg über das Programm Förderung der Regionalentwicklung sowie über die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen Kassel finanziell unterstützt. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2018 Lektorat: Rainer Berger, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Rast für Leib und Seele beim Pilgern in der Kirche der Benediktinerabtei Huysburg im Vorharz, © Dr. Jakobus Wilhelm OSB, Benediktinerabtei Huysburg. Kapiteleinstiegsbild: © percds, iStock Redaktion und Textbearbeitung: Prof. Dr. Christian Antz, Anne Heuermann, Fachhochschule Westküste, Heide Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 Fax 07531-9053-98 www.uvk.de ISBN 978-3-7398-0415-6 <?page no="5"?> Unsere Welt ist im permanenten Wandel begriffen und auch wir Menschen sind aus unterschiedlichen privaten oder beruflichen Gründen immer und ständig unterwegs. Globalisierung, Medialisierung, Digitalisierung halten uns rund um die Uhr in Gang. Eine überbordende Freiheit an multioptionalen Möglichkeiten macht es uns auch nicht einfacher, unseren Lebensweg zu wählen. In der antiken Mythologie hatte es Herkules am Scheideweg da noch leichter. Wie soll sich in dieser Unübersichtlichkeit des Weltgeschehens ein Einzelmensch orientieren, wo soll er Halt für sich finden, wer gibt ihm die Richtschnur für sein Handeln - im Leben und auch über den Tod hinaus? Eine der möglichen Antworten findet sich in einer uralten Glaubenspraxis, die den Menschen heute gedanklich und real wieder bewegt: das Pilgern. Wallfahren und Pilgern kommt dem wachsenden Bedürfnis der Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts nach Sinnsuche, Orientierung und Spiritualität entgegen. „In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich überlebenswichtig sind. Der Camino [Pilgerweg nach Santiago de Compostela] bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.“ Hape Kerkeling hat damit die Grunddisposition auf den Punkt gebracht: die Suche der heutigen Menschen in einer Welt der Globalisierung und Entwurzelung. Sie machen sich auf den Weg, um Gott, den Mitmenschen und sich selbst auf andere Art und Weise zu erfahren. Sie suchen Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens. Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ aus dem Jahr 2006 über seine Pilgerfahrt nach Santiago 2001 hat gerade in Deutschland einen wahren Pilgerboom ausgelöst. Auf dem Pilgerweg lernen wir wieder Demut und Bescheidenheit, Körperlichkeit und Schmerz, Gemeinschaft und Nächstenliebe, Sinn und Orientierung. Pilgern wird für die meisten eine Reise zu sich selbst und auch zu Gott. Die Botschaft Jesu Christi kann sich ihnen durch den „Gottesdienst“ im Freien und im Gehen neu oder wieder erschließen. Heutzutage ist diese Verkündigungsmöglichkeit der christlichen Botschaft auch ein fester Bestandteil der kirchlichen Angebote geworden. In ihnen realisiert sich eine Form von kirchlicher Präsenz bei den Menschen, die durch Schlagworte wie „Kirche auf Zeit“, „Kirche unterwegs“ oder „Kirche bei Gelegenheit“ charakterisiert ist. Sie sind Teil eines vielfältigen spirituellen Angebotes in Freizeit und Tourismus, dass sich in Ergänzung der ortsgebundenen Gemeindekirchen entwickelt und etabliert hat. Auch in Sachsen-Anhalt wird auf dem Jakobs- oder dem Lutherweg gepilgert, obwohl mittlerweile 85 % der Einwohner keiner christlichen Kirche angehören. Trotzdem war Kerkelings Buch in den Jahren 2006/ 2007 das meistverkaufte Sachbuch auch in diesem Bundesland und hat auch in dieser Region eine <?page no="6"?> Pilgerbewegung ausgelöst. Die Menschen sind selbst in einem mehrheitlich kirchenfernen Gebiet unterwegs auf der Suche und sehnen sich nach authentischen Antworten. Aus diesem Grund wurde bereits im Jahr 2005 auf Initiative des Ministeriums für Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt die Teilstrecke des Jakobuspilgerweges durch Sachsen-Anhalt festgelegt und beschildert sowie die ökumenische St. Jakobus Gesellschaft gemeinsam von der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (heute Evangelische Kirche in Mitteldeutschland), dem Bistum Magdeburg, der Evangelischen Anhaltischen Landeskirche sowie dem Gebirgs- und Wanderverband Sachsen-Anhalt gegründet. Aus Anlass ihres zehnjährigen Bestehens hat die St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 eine Tagung unter dem Titel „Ich bin dann mal auf dem Weg“ im Kloster Huysburg im östlichen Harzvorland durchgeführt. In dem am Jakobusweg liegenden aktiven Benediktinerkloster kreisten die Vorträge um die Themen: Wohin zieht der Mensch beim Pilgern, was gibt ihm das Christentum mit auf den Weg und als wer kehrt er in die Alltagswirklichkeit zurück? Die Veranstaltung war geprägt durch einen engen Gedankenaustausch. Dabei wurden die Perspektiven des Pilgerns in Deutschland aber auch auf europäischer Ebene diskutiert: Was bewegt die Pilger äußerlich und innerlich, wo sind Handlungsfelder für die Kirchen, wie können Tourismus und Kirchen noch enger zusammenarbeiten, wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Pilgern, Wandern, Wallfahrt oder Radwandern, welche Bedeutung haben offene Kirchen am Weg für den Tourismus, aber auch für die Kirche selbst, wie wird das Christentum in anderen Zeiten aussehen? Der nun vorliegende Sammelband bildet eine wissenschaftliche Grundlage zum Thema Pilgern, insbesondere zu den Wegen in Deutschland sowie zu den Bedürfnissen deutschsprachiger Pilger. Interdisziplinär und lösungsorientiert wenden sich die Beiträge mit ihren verschiedenen theologischen, soziologischen, psychologischen und touristischen Schwerpunkten gleichermaßen an Wissenschaftler, Kirchen und Praktiker. Ergänzt um weitere Beiträge liegen in diesem Buch die Vorträge der Tagung in schriftlicher Fassung vor. Neben wissenschaftlichen Diskursen wird auch Praxisbeispielen aus Deutschland breiter Raum geschenkt. Die wissenschaftliche Zusammenfassung in dem nun erschienenen Band ist eine wesentliche Konsequenz aus den Ergebnissen der Tagung und spiegelt den aktuellen Stand der Diskussion wider. Und die Publikation gibt Tourismus, Kirchen und den Trägern von Pilgerwegen Anregungen für ihre Zukunftsfähigkeit. Wir danken allen Beteiligten für das Vorbereiten und Durchführen der Tagung. Die St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt mit Sitz in Hettstedt befördert und begleitet auch künftig die spannenden Entwicklungen im Umfeld von spirituellen Wegen und touristischen Zielen. Die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen in Kassel hat dieses Modellvorhaben freundlicherweise unterstützt und wird weiterhin die Anliegen der „Kirchen am Weg“ bzw. der „Gemeinden auf Zeit“ begleiten und fördern. Das Institut für Management <?page no="7"?> und Tourismus (IMT) der Fachhochschule Westküste in Heide widmet sich im Rahmen seiner Forschungen gleichbleibend dem Spirituellen Tourismus wie dem Slow Tourism. Dem Wissenschaftsverlag UVK in Konstanz und München sei für das immer offene Entgegenkommen beim Pilgerthema herzlich gedankt. Letztendlich steht der Mensch im Mittelpunkt des Sammelbandes, der von den Angeboten persönlicher Erfahrungen, spiritueller Wahrnehmungen und kulturgeschichtlicher Sehenswürdigkeiten profitieren kann. Die in diesem Werk geäußerten Gedanken möchten den Prozess des Verstehens begleiten. Wir wünschen dem Buch viele Leserinnen und Leser und den Wegen weiterhin viele Pilgerinnen und Pilger. Prof. Dr. Christian Antz Sebastian Bartsch Dr. Georg Hofmeister <?page no="9"?> .................................................................................. 1 ...................................................................................................... 13 1 Was ist und von was handelt Spiritueller Tourismus? ......................... 15 2 Wo findet sich überall Spiritualität im Tourismusmarkt? .................... 17 2.1 Vom Pilgern und Wandern auf spirituellen Wegen ............................. 18 2.2 Von Klöstern und Kultur an spirituellen Orten ................................... 19 3 Welche Menschen machen sich auf eine spirituelle Reise? ................. 21 3.1 Von Gläubigen und von Kunden auf dem Weg .................................. 22 3.2 Von hybriden Ruhe- und Erlebniswelten in Klöstern......................... 23 3.3 Kulturelles und Spirituelles Wachstum .................................................. 24 4 Welche Rolle spielt die Gastgeberschaft im Spirituellen Tourismus? ...................................................................... 26 4.1 Niederschwellige Religiosität in der Gesellschaft ................................. 27 4.2 Touristische und spirituelle Qualität für alle Gäste.............................. 27 : ................................................................................................. 33 1 Einleitung ................................................................................................... 34 1.1 Die traditionelle protestantische Gänsehaut beim Pilgern .................... 34 1.2 Das Pilgern als Adiaphoron........................................................................ 35 1.3 Der Pilgerboom und seine Motive ......................................................... 36 1.4 Anliegen ...................................................................................................... 37 1.5 Vorgehen .................................................................................................... 38 2 Das Itinerar der Egeria (um 380) ............................................................ 39 2.1 Der Text...................................................................................................... 39 2.2 Die Absicht der Egeria ............................................................................. 40 2.3 Die Nähe des Heiligen.............................................................................. 40 3 Augustinus (428)........................................................................................ 41 3.1 Zwei Sätze zur Bedeutung Augustins..................................................... 41 3.2 Die Confessiones....................................................................................... 42 3.3 Das Wegmotiv: die Aeneis eines Lebens ............................................... 43 <?page no="10"?> 3.4 Die Tränen und Gott: die Bekehrung .................................................... 44 4 Bonaventura (1275)................................................................................... 46 4.1 Pilgerfahrt des Geistes .............................................................................. 46 4.2 Der innere Weg.......................................................................................... 46 4.3 Die ersten Stufen des Pilgerweges .......................................................... 47 4.4 Der Übertritt .............................................................................................. 48 4.5 Vergleich mit Egeria ................................................................................. 49 4.6 Reformatorische Anklänge ...................................................................... 50 5 John Bunyan (1675) .................................................................................. 51 5.1 Bunyan und sein Pilgerbuch .................................................................... 51 5.2 Das Anliegen des Buches ......................................................................... 52 6 Hape Kerkeling (2006) ............................................................................. 52 6.1 Die Motivation: Die Frage ‚Wer bin ich? ‘ ............................................. 52 6.2 Die Achtsamkeit auf die Fügung .............................................................. 54 6.3 Tod und Leben .......................................................................................... 55 6.4 Gott ............................................................................................................. 56 6.5 Bekehrung? .................................................................................................... 56 6.6 Der Sinn des Pilgerns................................................................................ 57 6.7 Zusammenfassung .................................................................................... 58 7 Vergleich und Folgerungen...................................................................... 58 7.1 Vieldeutiges Pilgern................................................................................... 59 7.2 Pilgern heute .............................................................................................. 60 7.3 Folgerungen................................................................................................ 60 ..................................................................................................... 63 1 Kirchen entdecken den Tourismus und Touristiker entdecken Kirchen und Spiritualität - eine inspirierende Verbindung ................ 63 2 Pilgerreisen: Betrachtungen zur Angebotsseite .................................... 66 3 Gründe und Motive für den Pilgerboom aus Sicht der Tourismuswissenschaft............................................................ 68 4 Fallbeispiel „Spiritueller Sommer“ in Südwestfalen............................. 70 5 Fazit und Ausblick .................................................................................... 75 <?page no="11"?> ....................................................................................................... 77 1 Pilgern in der Forschung .......................................................................... 78 2 Pilgertypen und Motivationen - wer pilgert? ........................................ 79 3 Leiblichkeit und Wirkung - was geschieht beim Pilgern? ................... 80 4 Pilgern als Ritual - wie wird gepilgert? ................................................... 83 5 Religion oder Wandern - was ist Pilgern? ............................................. 86 6 Pilgern als Indikator des religionskulturellen Wandels ........................ 87 7 Pilgern in den Medien............................................................................... 88 8 Pilgern als (Spiritueller) Tourismus......................................................... 90 9 Pilgerforschung wohin? ............................................................................ 93 : .............................................................................................101 1 Erfahrungen und Beobachtungen ........................................................102 2 Offene und öffentliche Kirche..............................................................104 2.1 Offene Kirchen symbolisieren die Gegenwart und die Botschaft Gottes .......................................................................106 2.2 Offene Kirchen symbolisieren die Orientierungskraft des christlichen Glaubens ......................................................................106 2.3 Offene Kirchen symbolisieren, dass es in unserer Welt kirchliche „Rastplätze für Leib und Seele“ gibt ..................................106 2.4 Offene Kirchen symbolisieren die Niederschwelligkeit kirchlicher Orte........................................................................................107 2.5 Offene Kirchen symbolisieren die Gastfreundschaft christlicher Gemeinden ..........................................................................107 2.6 Offene Kirche symbolisieren die lebendigen Zeugnisse des Glaubens ............................................................................................108 3 Offene Kirchen als Potenzial für die Kirchen ....................................108 4 Offene Kirchen als Potenzial für den Tourismus ..............................110 5 Offene Kirchen als Impulsgeber für die Kirchentheorie ..................113 5.1 Parochie und passagere kirchliche Orte lassen sich nicht gegeneinander ausspielen..........................................113 5.2 Kirche nimmt kritisch-reflektierend die Bedürfnisse einer postmodernen Gesellschaft auf.............................................................114 <?page no="12"?> 5.3 Die Kirche ist nicht nur ein Haus der Gemeinde, sondern auch ein Haus für Einzelne ....................................................115 6 Offene Kirchen als touristische Schätze und kirchliche Leuchttürme am Weg - ein Fazit ...............................116 .......................................................................................................121 1 Einleitung .................................................................................................121 2 Pilgern .......................................................................................................122 3 Pilgern in der Großstadt.........................................................................122 4 Pilgerzentren ............................................................................................124 5 Nachsorge nach der Pilgerwanderung..................................................125 6 Die Chancen des Pilgerns in der Großstadt........................................126 7 Die Grenzen.............................................................................................126 8 Pilgern und Städtetourismus..................................................................127 : ...................................................................................................129 1 Pilgern = Wandern? ................................................................................130 2 Motivlage beim Wandern .......................................................................132 3 Pilgern im Angebotsportfolio des Wanderns......................................132 4 Warum tut sich Tourismus mit Pilgern in der Regel schwer? ..........135 5 Kooperationen zwischen Wandervereinen und Kirchen? ................137 6 Ausblick: Wandern und Pilgern ............................................................138 : .......................................................................................................141 1 Pilgern und Fahrradtourismus - ein Vergleich ...................................143 2 Die Faszination des Radwegetourismus - Von der Notlösung zum Hightech-Vergnügen...............................144 3 Die Radwegekirchen - Unterbrechung als spirituelle Pause ............149 4 Das Pilgern vom Fahrrad aus gesehen - Die Perspektive des Unterschiedes ...................................................154 <?page no="13"?> ..........................................................................................159 1 Berge erleben - Bergerlebnis .................................................................159 2 Beobachtungen ........................................................................................161 3 Chancen der Kirchen..............................................................................162 3.1 Ökumene ..................................................................................................163 3.2 Chance des Internets ..............................................................................164 3.3 Unterschiedlichste Kooperationspartner.............................................164 4 Berge als schweigende Lehrer ...............................................................166 5 Ausbildung der Bergbegleiter ................................................................166 6 Der Mehrwert .............................................................................................167 : .................................................................................................169 1 Einführung ...............................................................................................170 2 Biografische Aspekte der Pilgerschaft..................................................170 3 Die fünf biografisch determinierten Pilgertypen ................................172 3.1 Biografische Bilanzierung.......................................................................173 3.2 Biografische Krise ...................................................................................175 3.3 Biografische Auszeit ...............................................................................176 3.4 Biografischer Übergang ..........................................................................177 3.5 Biografischer Neustart............................................................................178 4 Biografische Veränderungsprozesse nach der Pilgerschaft...............179 5 Forschungsperspektiven.........................................................................182 : .....................................................................................................185 1 Reisen als Alteritätsraum ........................................................................186 1.1 Andernorts und doch bei sich ...............................................................186 1.2 Vom Spielraum des Seinkönnens zum Verlust des Ich.....................187 2 Pilgern als Suche nach dem ganz Anderen..........................................189 3 Autonomie und Symbiose in heutiger Pilgerpraxis ............................191 3.1 Autonomie durch Herausforderung .....................................................191 <?page no="14"?> 3.2 Symbiose als Aufgehen in Natur...........................................................193 4 Symbiotisches Pilgern als postmodernes Reisen ................................195 4.1 Pilgern und Postmoderne.......................................................................195 4.2 Pilgern und Tourismus ...........................................................................197 ..............................................................................................203 1 Einstimmung............................................................................................203 2 Der Pilgerweg Loccum-Volkenroda.....................................................204 3 Ehrenamtliches Engagement am Pilgerweg ........................................206 4 Aus- und Fortbildung ehrenamtlicher PilgerbegleiterInnen.............208 4.1 Organisation eines Pilgerangebots ........................................................209 4.2 Inhalte .......................................................................................................210 4.3 Zentrale Themen und Methoden in den Kursen ...............................210 5 Fazit ...........................................................................................................211 : ......................................................................................215 1 Bestimmung einer Ausgangslage...........................................................216 2 Was meint Reformation? ...........................................................................217 3 Die Dinge ändern sich: Luther(pilger)wege in Deutschland ............218 3.1 Wandern ist Erholung ............................................................................221 3.2 Wandern ist Erbauung............................................................................222 3.3 Wandern ist Bildung ...............................................................................222 4 Wie qualifizieren verlässlich geöffnete Kirchen den Lutherweg? ....223 5 Versuch einer Perspektive......................................................................226 : ......................................................................................................229 1 Der postmoderne alternative Pilgertourismus ....................................230 2 Der Pommersche Jakobsweg.................................................................231 3 Untersuchung der Zielgruppen .............................................................233 <?page no="15"?> 4 Praktischer Verwertungszusammenhang und Handlungsempfehlungen zur Erschließung von neuen touristischen Räumen durch den Pommerschen Jakobsweg............238 5 Fazit ...........................................................................................................241 ...............................................................................................245 1 Einleitung .................................................................................................245 2 Die Empfangenden: Die Mönchsregel Benedikts als Grundlage ....246 3 Die Pilgernden .........................................................................................247 3.1 Die Ankommenden ................................................................................247 3.2 Die Rastenden..........................................................................................248 3.3 Die Aufbrechenden.................................................................................250 4 Tankstelle auch für Nicht-Pilgernde.....................................................251 5 Schluss.......................................................................................................252 : ..............................................................................................255 1 Männer und Religion - eine Problemanzeige .....................................256 2 Die Angst der Männer vor der Religion ..............................................257 3 Die Feminisierung von Kirche und Glauben......................................258 4 Männer glauben anders ..........................................................................259 5 Die Faszination des Pilgerns..................................................................260 5.1 Ortswechsel ..............................................................................................260 5.2 Stoffwechsel .............................................................................................261 5.3 Wortwechsel.............................................................................................263 6 Männernachtpilgerweg von Gründonnerstag auf Karfreitag ...........263 7 Fazit und Ausblick ..................................................................................265 : .....................................................................................................269 1 Mediales Pilgern.......................................................................................270 1.1 Dem Sohn folgen: „Dein Weg“ ............................................................270 1.2 Katharsis: „Die Dienstagsfrauen“.........................................................271 <?page no="16"?> 1.3 Versöhnt Sterben: „Ich trag dich bis ans Ende der Welt“ .................................................271 1.4 Gruppendynamisch pilgern: „Saint Jacques … Pilgern auf Französisch“ ........................................272 2 Pilgern als Transformationsritus ...........................................................273 3 Übergang: Getragen werden ..................................................................274 4 Eingliedern: Neues Leben......................................................................275 5 Religion: Starke Formen für distanzierte Subjekte .............................275 6 Mediale Transformation .........................................................................277 ..................................................................281 1 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit..............................................281 2 Erprobung in der Praxis .........................................................................282 3 Wissenschaftliche Evaluierung ..............................................................283 4 Transfer in die Soziale Arbeit ................................................................284 5 Fazit ...........................................................................................................285 ....................................................................................................287 1 Begriffskarussell um das spirituelle Wandern .....................................288 2 Weltweite Geschichte und christliche Tradition von Wallfahrt und Pilgerreise ................................................................289 3 Aktuelle und künftige Spielarten des Spirituellen Wanderns............292 4 Zur Entwicklung der Nachfrageseite des Spirituellen Wanderns in Europa ...................................................294 5 Zur Differenzierung der Angebotsseite des deutschen Pilgertourismus ..............................................................296 6 Das europäische Pilgermodell der Jakobswege ..................................298 7 Perspektiven des Spirituellen Wanderns für Kirchen und Tourismus ...................................................................301 ....................................................................................................................307 <?page no="17"?> Spiritueller Tourismus bettet sich in die parallelen Entwicklungen auf dem Reisemarkt ein, die durch Individualisierung, Hybridität und Markenorientierung geprägt sind. Dabei spielt die Sinnorientierung vor dem Hintergrund der globalen Krisen in Natur, Wirtschaft oder Politik eine entscheidende Rolle. Nur so sind die divergierenden Entwicklungen des spirituellen Reisens zu verstehen. Einerseits hält die Welle der Kirchenaustritte bei den christlichen Kirchen seit Jahren weiter an, so dass allein 2013 die katholische Kirche 180 Tsd. und die evangelische Kirche 150 Tsd. Mitglieder verloren hat. <?page no="18"?> Die Kirchenabstinenz beruht u. a. auf dem Wunsch, sich nicht mehr längerfristig zu binden, der Mobilität der Bevölkerung und der Unzufriedenheit mit der Institution Kirche. Trotzdem sind 2011 noch 28 % der Deutschen in Berlin und sogar 76 % in Bayern Mitglieder der christlichen Kirchen. Andererseits bezeichnen sich nach dem Bertelsmann Religionsmonitor 2008 noch überwältigende 70 % der Deutschen als religiös. Und Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“, mit dem 2006 der Pilgerhype in Deutschland so richtig einsetzte, war im säkularen Ostwie im christlichen Süddeutschland gleichermaßen das meistverkaufte Sachbuch mit insgesamt 3 Mio. Exemplaren 2006/ 2007. Daraus entstand ein Paradigmenwechsel auch im Reisemarkt, auf den Kirchen und Tourismus noch unzureichend reagieren. Deshalb wurde auch die Begrifflichkeit in der Forschung 2006 von Religionsgeografie in den Containerbegriff des Spirituellen Tourismus verwandelt. Denn der Gast von heute ist immer noch unterwegs zu heiligen Orten (Suche nach Gott und Glauben), mehr jedoch zu sich Selbst (Sinnreise ins eigene Ich). Die unterschiedlichen Suchbewegungen der Menschen in Urlaub und Freizeit können somit nicht in der emotionalen Nachfrageransprache, aber bei der internen Anbieterkommunikation begrifflich unter dem Dach des Spirituellen Tourismus gebündelt werden. In Mitteleuropa steht das Christentum als gemeinsames kulturelles Orientierungssystem im Fokus des Spirituellen Reisens. Da deren 2.000 Jahre alten Werte, Bräuche und Riten - man denke nur an die Feier- und Namenstage - auch unterbewusst unser tägliches Leben prägen, sind sie mehr als eine Alternative zu außereuropäischen Religionen. Entscheidend für das christliche Angebot scheint jedoch gerade heute der Heilige Ort zu sein, der als authentischer Anziehungspunkt für Touristen des spirituellen wie kulturellen Reisens unabdingbar ist. Ziel aller Bemühungen ist es, sich über den engen Kreis der christlichen Nachfrager den gesamtgesellschaftlichen Kundengruppen europäischchristlicher Tradition zu öffnen. Denn in Österreich firmieren diese vernetzten Angebote unter dem Slogan „Energie für die Seele tanken“ und in Deutschland noch grundsätzlicher unter dem Titel „Atem holen“. Und diese Angebote gilt es weiterhin im gesamten Spektrum des Spirituellen Tourismus zu heben, am Gast orientiert aufzuarbeiten und zeitgemäß verpackt zu vermarkten. Darin besteht eine große Chance für den Zugang zu den Nachfragern bei Kirche wie im Tourismus. <?page no="19"?> Kommt beim säkularen und rationalen Menschen des 21. Jahrhunderts der Wunsch nach Geborgenheit und Aufgehobensein zurück? Nach allen Analysen wird die deutsche Jugend auf der einen Seite immer kommerzialisierter, egoistischer und werteferner und auf der anderen Seite keimt in ihr eine Sehnsucht nach Sinn und Sinnlichkeit. Auf der einen Seite verlieren die christlichen Kirchen kontinuierlich ihre Mitglieder und auf der anderen Seite steigt die Nachfrage nach Traditionen und Ritualen, Gottes- und Nächstenliebe. Liefern die zweitausend Jahre alten, traditionsgeladenen oder familienorientierten Regeln des Christentums Antworten auf die Fragen unserer Zeit? Lassen sich daraus in Freizeit und Tourismus entsprechende Angebote entwickeln, die von unterschiedlichen Zielgruppen nachgefragt werden? Die Fakten sprechen dafür. Die von dem evangelischen Hamburger Pastor Hinrich Westphal 1997 gegründete ökumenische Aktion „Andere Zeiten“ will beispielsweise „einer kommerzialisierten Gesellschaft etwas Spirituelles entgegensetzen“. Auf der einen Seite soll das Leben und sollen die Jahre durch das Christentum, durch Sonn- und Festtage, wieder Rhythmus, Ordnung, Ritualität bekommen; auf der anderen Seite bietet das Christentum konzentrierte Mystik, Sinnlichkeit, Emotionalität. Nur über das anonyme Internet und persönliche Kontakte wurden unter anderem von 2000 bis 2009 von Hamburg aus eine Million kleiner, gemeinsam mit dem Benediktinerkloster Maria Laach hergestellter Bronzeengel verkauft - es scheinen eben „Andere Zeiten“ zu sein und zu kommen. Fast sechs Jahre lang haben Kirchen und Tourismus in Sachsen-Anhalt um den Begriff einer sich neu entwickelnden Lebens- und Reiseform gerungen, bis als gemeinsamer Nenner 2006 das Begriffspaar des Spirituellen Tourismus herauskam. 1 Allein über die Definition von Spiritualität gibt es innerhalb und zwischen den christlichen Kirchen sowie zwischen anderen Wissenschaftsdisziplinen keine einheitliche Deutung. Im Kern des Wortes findet sich der Begriff Geist, wobei die biblische und frühchristliche Auslegung die Lebensausrichtung auf den Heiligen Geist meinte. Heute wird Spiritualität vor allem als gesellschaftliches Modewort gebraucht, das gerade in seiner verheißungsvollen Unbestimmtheit keiner Ausrichtung auf ein religiöses Bekenntnis bedarf. So werden in dem Wortpaar Spiritueller Tourismus zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Strömungen zusammengefasst: Geist und Materie, Religion und Wirtschaft, Kirche und Welt. Dieser scheinbare Dualismus bringt aber letztendlich den Inhalt dieser Reiseform auf den Punkt. Die scheinbare Interpretationsvielfalt macht den Spirituellen Tourismus zu einem Containerbegriff für verschiedene Tendenzen auf dem heutigen und künf- 1 Vgl. Berkemann 2006. <?page no="20"?> tigen Reisemarkt, die sonst schwer zu definieren wären. Bislang wurden Formen des spirituellen Reisens, vor allem die Pilgerreise als älteste Form des Tourismus, unter dem Begriff des Religionstourismus zusammengefasst. Dieser auf religiöse Reisemotive beschränkte Begriff vernachlässigt aber den aktuellen Trend zur allgemeinen Sinnsuche und entpuppt sich damit als eher begrenzender Schubladenbegriff. Während im Religionstourismus die (Volks-)Frömmigkeit, die Gemeinschaft, die Außengerichtetheit im Vordergrund steht, sind es beim Spirituellen Tourismus heute eher die Gegenwelt zum Alltag und die Innengerichtetheit. Die Offenheit und Anwendbarkeit des Dachbegriffes Spiritueller Tourismus dokumentiert sich auch in der Entwicklung des gesamten Reisemarktes. Während die Themen des spirituellen Reisens noch 2006 klar dem Kulturtourismus zuzuordnen waren, haben sich bis 2015 die Angebote als Mischformen von Kultur-, Natur-, Aktiv- oder Gesundheitstourismus neu entfaltet. Im endkundenorientierten Tourismusmarketing hat dieser unemotionale Terminus technicus jedoch nichts zu suchen; er fasst nur die Phänomene für die (Tourismus-)Wissenschaft und die (Tourismus-)Wirtschaft backstage zusammen. Vorsicht ist auch bei der Überforderung des Begriffs geboten. Mittlerweile ist der Spirituelle Tourismus zu einem Vehikel gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen geworden, bei denen es insgesamt um die Vermittlung von spirituellen und religiösen Inhalten mit anderen Methoden geht. Diese Gefahr birgt der Begriff selbst in sich, da seine Definition so weite Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Spirituelles Reisen nach der in Sachsen-Anhalt entstandenen Definition füllt die Bandbreite von einer gesamtgesellschaftlichen Reise ins Ich (Selbsttranszendenz) bis hin zu einer speziell touristischen Reise an die Grenzen seiner selbst (Heilige Orte) aus. 2 Damit sind auch die künftigen wissenschaftlichen Verfahren festgelegt. Nur in einem interdisziplinären Forschungsansatz zwischen Theologie und Tourismus, Soziologie und Ethnologie, Geographie und Philosophie sowie weiteren Wissenschaften lassen sich die Phänomene dieses zukunftsträchtigen Reisemarktes erschließen und analysieren. Allein mit der Festlegung auf die Religionsgeographie sind die Fragen der Kunden nicht zu beantworten. Dies hat auch die erste große wissenschaftliche Tagung zum Thema gezeigt, die die Deutsche Gesellschaft für Tourismuswissenschaft unter dem Titel „Spiritualität und Tourismus. Perspektiven zu Wandern, Wellness und Pilgern“ 2009 in Eichstätt ausgerichtet hat. 3 Die Tourismuswissenschaft und die -wirtschaft haben das wirtschaftliche Potenzial des Spirituellen Tourismus bislang als nicht marktrelevantes Nischenthema noch vielfach unterschätzt; Theologie und Kirche stehen diesem neuen Reisetrend wegen seiner ökonomischen Ausrichtung und seinem breiteren, nicht nur auf die Religion ausgerichteten Ansatz eher skeptisch gegenüber. Beide könnten mit ihrer de- 2 Vgl. Berkemann 2006. 3 Vgl. Hopfinger/ Pechlaner/ Schön/ Antz 2012; Vgl. Pechlaner/ Hopfinger/ Schön/ Antz 2012. <?page no="21"?> fensiven Haltung eine wichtige Handlungschance verpassen. Bayern wird dagegen seiner Vorreiterrolle im Deutschlandtourismus weiter gerecht, indem Bayern Tourismus Marketing und Kirchen noch enger zusammenarbeiten und beide gemeinsam das Thema Spirituelles Reisen 2015 sogar zum Thema des Bayerischen Tourismustages machen. Während das Thema Spiritualität in anderen gesellschaftlichen Disziplinen einen festen Platz eingenommen hat, werden spätestens mit dem Erfolg von Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ 2006 die Themen des Spirituellen Tourismus auch in der Reisebranche nicht mehr als abstruse Randthemen belächelt. Viele Wissenschafts- und Wirtschaftszweige, auch die Reisebranche, reden von neuen, sinnorientierten Wachstumsmärkten, doch die fakten- und analyseorientierte Aufarbeitung in der Tourismuswissenschaft hinkt noch hinterher. In den letzten zehn Jahren sind an mehreren Hochschulen bereits Forschungsarbeiten zum deutschsprachigen Raum entstanden, doch aufgrund der dünnen Datenlage steht eine tragfähige wirtschaftsorientierte Untersuchung des europäischen Reisemarktes zum Spirituellen Tourismus noch aus. Dazu fehlen umfängliche Befragungsergebnisse der Endkunden; die Anbieterseite steckt in einer breiten und diffusen Wachstumswelle, ist aber aus den Kinderschuhen noch nicht heraus. Gerade weil Nachfrager und Anbieter nicht so eindeutig zuzuordnen sind, ist ein interdisziplinäres wissenschaftliches Herangehen in diesem Tourismusfeld unabdingbar; in den Religionswissenschaften und der Volkskunde liegen bereits weiterführende Arbeiten vor. Ohne eine künftige kontinuierliche und tiefergehende Marktforschung lässt sich der Themenkreis des Spirituellen Tourismus nur unscharf bewerten. Ob das spirituelle Reisen nun ein Nischenmarkt oder ein Megatrend werden wird, kommt nicht nur auf Analyse und Prognose an, sondern auch auf die Frage, wie der Markt inhaltlich und räumlich weiter definiert wird. Gehört thematisch die Wallfahrt zum Grab der „säkularen Heiligen“ Lady Diana in Althorp genauso dazu wie das Grab des nun heiliggesprochenen Papstes Johannes Paul II. in Rom? Ist die künstliche Erlebniswelt Holyland Experience in Orlando ebenso Teil dieses Reisemarktes wie das authentische Stadtensemble um die Grabesbasilika des Heiligen Franziskus in Assisi? Wie setzen sich die 600 Mio. religionsbedingten Reisen mit 18 Mrd. Dollar geschätztem Umsatz jährlich, die die US-amerikanische World Religious Travel Association berechnet hat, zusammen? Haben alle 200 Mio. Pilger der unterschiedlichen Weltreligionen, die pro Jahr in Industrienationen wie Entwicklungsländern unterwegs sind, das gleiche Reisemotiv und lassen sich mit der gleichen Angebotsstrategie bedienen? Sind die bis 70 Mio. Hinduisten, die alle zwölf Jahre zur Kunbh Mela <?page no="22"?> nach Allahabad strömen, mit in die Marktbeobachtung einzubeziehen, oder die 20 Mio. christlichen Pilger in der für Europäer fast unbekannten Wallfahrt zur Nuestra Senora de Guadalupe Hidalgo in Mexiko? 4 „Überall ist Wallfahrt“, so formuliert es 2007 der Volkskundler Helmut Eberhart. Da grundsätzlich wenig über den Markt des Spirituellen Tourismus bekannt ist, da die unterschiedlichen Weltreligionen und -regionen sehr unterschiedliche Angebots- und Nachfrageparameter bezüglich dieses Reisesegments besitzen, da esoterische Strömungen ebenfalls von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung um die Sinnsuche profitieren und da der Markt des spirituellen Reisens sich in Kombination mit vielen anderen Spielarten des Tourismus am Rande und in den Zwischenräumen der Haupttrends entwickelt, ist eine Beschränkung sinnvoll. 5 Die hier getroffenen Aussagen zum Spirituellen Tourismus sind deshalb auf Mitteleuropa und die christlichen Kirchen fokussiert, lassen sich aber teilweise auch auf andere Regionen und Religionen anwenden. Wenn der Megatrend der gesamtgesellschaftlichen Sinnsuche auf den jetzigen und künftigen Markt des Spirituellen Tourismus angewandt wird, so müssen die genannten Forschungsdefizite mit berücksichtigt werden. Außerdem breitet sich der Spirituelle Tourismus ohne Rücksichtnahme auf die Tourismuswissenschaft auf weitere Tourismusbereiche aus. Der Hauptmarkt ist erstens immer noch verwoben mit dem Kulturtourismus, wo sich Kirchenbesichtigungen oder Klosterreisen finden, zweitens der mit Natur-, Aktiv- und Gesundheitstourismus gepaarte Bereich des Pilgerns und Wallfahrens, drittens die Pilger- und Studienreisen auf den Spuren des Apostels Paulus oder vor allem ins Heilige Land, viertens der Klosterurlaub, der einen Manager-, Fasten-, Exerzitien- oder Stille-Schwerpunkt haben kann, und fünftens der Besuch religiös-historischer Stätten und Feste. Zunächst würde man denken, dass diese verästelten Phänomene nicht einem einzigen Markt zuzuordnen wären, doch warum sollte sich der Spirituelle Tourismus anders entwickeln als die Konsumgüterindustrie? Gerade die großen Konzerne machen sich seit Jahren Gedanken darüber, wie sie ihre geschmacklich und räumlich immer differenzierter und kleiner werdenden Kundengruppen immer ausgefeilter und weltweit logistisch bedienen können. Selbst die beiden Schwerpunktgeschäftsfelder des christlich geprägten Spirituellen Tourismus, das Pilgern und der Klosterurlaub, bedienen unterschiedliche Zielgruppen und generieren deshalb auch unterschiedliche Angebote. Die Abgrenzung des Pilgerns vom Wandern bereitet aber heute schon einige Schwie- 4 Vgl. Stausberg 2010. 5 Vgl. Bachler/ Wentz 2007. <?page no="23"?> rigkeiten. Auch wenn die beiden zeitgenössischen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in den Alpen jährlich ihre Gebirgswanderurlaube durchführten, wird man bei dieser Freizeitbeschäftigung schwerlich von Pilgern sprechen, obwohl der Nachfolger Petri in den Wanderschuhen steckte. Pilgern ist also so etwas wie Wandern plus Sinnund/ oder Gottessuche - auf die vereinfachte Formel gebracht „Beten mit den Füßen“. Während das traditionelle Pilgern einerseits fast immer mit der körperlichen Betätigung des Wanderns und andererseits geistig mit der Religion verbunden war, bietet sich heute im christlichen Kulturraum ein differenzierteres Bild, so dass der Begriff Spirituelles Wandern eher den Kern (Auszeit für Körper und Seele) des zukünftigen Marktes trifft. Die Pilgerwanderung im klassischen Sinn ist einerseits nur noch ein Teil des Spirituellen Tourismus sowie andererseits des Wandertourismus. Meist entstehen Mischformen verschiedener inhaltlicher Ausrichtung, Gruppengröße, Reiselänge sowie Fortbewegungsmittel, die fast alle unter dem Dach des Angebotes Pilgern firmieren. Der größte Teil des Pilgertourismus macht heute der mit Flugzeug (z. B. Fatima), Bahn (z. B. Lourdes) oder Bus (z. B. Altötting) und nicht der mit den Füßen aus. Obwohl das Religiöse durch das Spirituelle heute oft ersetzt ist, gehören zum Pilgern immer noch die Orientierung auf einen Heiligen Ort und der Weg dorthin. Dem läuft nicht zuwider, dass der Lifestyle-Gedanke Teil des spirituellen Wanderns geworden ist. Man kann auch in einer Jack-Wolfskin-Jacke mit markant positioniertem Logo spirituelle Gedanken im Kopf haben. Dies hat uns schon Hape Kerkeling auf seinem Weg nach Santiago gezeigt. Das Spirituelle Wandern kann grundsätzlich unterteilt werden einerseits in Wallfahrt, die einen Kurzurlaub mit klarer Zielorientierung zu einem Nahziel darstellt. Dabei handelt es sich immer um eine Gruppenreise mit dem Schwerpunkt auf Religionstourismus, eventuell mit Kultur- und Naturerlebnis. Andererseits bezieht sich das Pilgern grundsätzlich auf einen längeren Urlaub zu einem nationalen oder internationalen Fernziel. Das Spirituelle Wandern findet in diesem Fall entweder als Individual- oder als Gruppenreise, entweder mit Ziel- oder Wegorientierung statt. Der inhaltliche Schwerpunkt der Reise kann entweder der klassische Religionstourismus, der oft eigenständige Kulturtourismus, die neuere Form des Naturerlebnisses oder die Reise zum Ich, also der Spirituelle Tourismus abzüglich des Religionstourismus, sein. Damit wird die Ausrichtung des Pilgerns im Gegensatz zum klassischen Tourismus heute auf den Kopf gestellt. Es geht nicht mehr so sehr um die Reise hin zu einem Ziel, sondern um die Reise hin zu sich selbst. Auch der Klosterurlaub als zweiter Hauptbereich des christlich geprägten Spirituellen Tourismus wird mehr und mehr von dieser Innenorientierung des Reisenden auf sich selbst geprägt. Neben dem traditionellen Besuch von Klöstern <?page no="24"?> im Kulturtourismus hat sich der Klosterurlaub erst Mitte der 1990er-Jahre als eigenständiges Marktsegment entwickelt. Zwar gab es seit Bestehen von Klöstern immer Räume und Gebäude für Fremde, Gäste oder Kranke (Hospize), die aber immer als Übernachtungsangebot auf einer (Pilger-)Reise genutzt wurden, nicht für einen eigenständigen Urlaub. Einerseits stehen in den Klöstern mittlerweile aus Nachwuchsmangel nicht nur die ehemaligen Hospitäler, sondern auch die eigentlichen Klausurbereiche neuen Nutzungen zur Verfügung, andererseits wächst das Interesse, sich auf Zeit in ein Kloster zurückzuziehen. Der Name Kloster leitet sich vom lateinischen Wort claustrum ab, das ‚abgeschlossener Raum‘ bedeutet - im Ursprung nun wieder genau das, was der multimediale Mensch von heute für seinen Urlaub mehr und mehr nachfragt - Abstand vom Alltag, innere Ruhe und äußere Stille. Neben der Rückzugsmöglichkeit, Umschlossenheit, Abgeschiedenheit stehen christlich belebte Klöster für Authentizität und Glaubwürdigkeit. Im Gegensatz zu rein kulturhistorischen Orten oder folkloristischen Veranstaltungen, bei denen entweder nur noch alte Steine oder maskierte Schauspieler zu sehen sind, ist beim Klosterbesuch alles echt. Während noch vor 30 Jahren Klöster und ihre Bewohner als verstaubt und unzeitgemäß, als konservativ und unattraktiv aus Sicht der Gesamtbevölkerung galten, so scheint ihre Lebensweise - wenn auch nur auf Zeit - absolut en vogue zu sein. Aber auch hier entwickelt sich der Markt zu einer starken Segmentierung hin, die nicht alle Arten von Klosterurlaub unter ein Angebots- und Nachfrageportfolio subsumiert. Je nach Ordenszugehörigkeit oder geographischer Lage im Angebotsbereich, je nach Geschlecht und Alter im Nachfragebereich ergeben sich unterschiedliche Klosterurlaubstypen. An traditioneller Stelle rangiert erstens das Thema der Klosterkultur. Entweder als Studienreise oder Tagesbesichtigung steht als kulturtouristische Attraktion das Klostergebäude und seine Ausstattung, auch Garten und Bibliothek und seine Nutzung als Museum oder Veranstaltungsort, im Vordergrund. Gerade die barocken und architektonisch großzügigen Klosteranlagen Süddeutschlands und Österreichs vermitteln damit eine neue, uns Mitteleuropäern vielfach verloren gegangene Sinnlichkeit. Noch mehr im profaneren Gelände entwickelt sich zweitens der Bereich der Klostertagungen, der Gebäude, Ausstattung, Ordensangehörige eher als wirkungsvolles und seriöses Ambiente nutzt. Beim „Tagen auf höchster Ebene“, wie ein Angebot des Klosters Andechs preist, wird aus einer Special Location, wie sie im gesamten Tagungs- und Kongresstourismus immer mehr nachgefragt wird, eine Spiritual Location, in der man als Ergebnis eine Art höherer Wahrheit erwarten darf. Ganz anders geartet sind drittens die Angebote von Klosterexerzitien einzuordnen, die das Kloster als geschlossenen Rahmen und vor allem die darauf abgestimmten Inhalte in den Vordergrund bringen. Hier finden sich Einzel- oder Gruppenexerzitien, Vortrags- oder Wanderexerzitien für unterschiedliche Nachfrager. <?page no="25"?> Zwischen Kongressen und Exerzitien sind viertens die Klosterurlaube von Managern angesiedelt, die einen speziellen, aber ausbaufähigen Markt zur Selbst- oder Gruppenfindung für Privatpersonen oder Firmen darstellen. Eine neuere Art des Klosterurlaubs bilden fünftens die Klostermeditationen, die die historischen europäischen Klostermauern meist mit neuen oder außereuropäischen Methoden und Techniken verknüpfen. Sechstens wird der Markt des Gesundheitsurlaubs im Kloster künftig große Wachstumschancen haben. Auf der einen Seite steht hier die körperliche Gesundheit, die über klassische, teilweise als überholt geltende, aber heute „runderneuerte“ Angebote des katholischen Pfarrers Sebastian Kneipp über Fasten und Wellness bis zu Heilkräuter- und Naturheilverfahren reichen. Ein ebenso traditionelles, aber in der Gesamtbevölkerung noch wenig beachtetes Segment stellt das Thema der geistigen Gesundheit dar, wo Klöster über Seelsorge und pastorale jahrhundertealte Erfahrungen mitbringen und Lösungen anbieten. An siebter Stelle wäre der Klosterurlaub zu nennen, den die Mehrheit der heutigen Gesellschaft unter Klosterreisen verstehen würde, und die meist individuell durchgeführt wird: die Auszeit vom Alltag als Rückzug zu sich selbst oder zu Gott. Diese Sinnsuche, nicht die Religion als Motiv, zeichnet meist die Nachfrager nach Angeboten des Spirituellen Tourismus am Beginn des 21. Jahrhunderts aus. Bereits der Wellnesstrend befriedigte in den letzten Jahren Bedürfnisse von Wohlfühlen und Harmonie, die weit über die äußerlichen Anwendungen hinausgingen. „Man muss sich körperlich und seelisch entschlacken. Das ist auch ein Stück Wellness. Leib und Seele gehören schließlich zusammen“, schlussfolgert der evangelische Pastor Norbert Wilke, der auf der Nordseeinsel Norderney immer voller werdende Gottesdienste in den Sommermonaten erlebt. Daran lässt sich wieder erkennen, dass der Spirituelle Tourismus nicht so einfach einzugrenzen und herunterzurechnen ist. Denn die Nachfrage nach Sinnorientierung durch Reisen ist sehr viel breiter aufgestellt und ist als Wachstumssegment noch lange nicht am Endpunkt angekommen. Zielgruppen können einerseits Intensivchristen, die ganzheitliche Angebote verlangen, oder Nichtkirchliche, die niederschwellige Bausteine nachfragen, sein; nicht nur für die wenigen Berufschristen, sondern für die vielen Suchenden unterschiedlicher Interessen lassen sich abgestimmte Reisen konzipieren. Zum Spirituellen Reisemarkt zählen einerseits die anscheinend religiös motivierten Reisenden, wie die Millionen von weltweiten Pilgern im Heiligen Jahr 2000 und zum Tod von Papst Johannes Paul II. 2005 in Rom oder zum so genannten Heiligen Jahr 2004 in Santiago de Compostela. Im Jahr 2000 haben sich andererseits einschließlich des katholischen Weltjugendtages 8,5 Mio. Pilger in Rom <?page no="26"?> registrieren lassen, die 14,5 Mio. Übernachtungen generierten. 6 Sind dies Kulturinteressierte und Bildungsreisende oder zeigt dies das unbeschreibliche Potenzial für Spirituellen Tourismus? Den 4 bis 5 Mio. Lourdes-Wallfahrern pro Jahr lässt sich ein spirituell-religiöses Motiv auf jeden Fall nicht absprechen. 7 Der spirituelle Reisemarkt ist in Europa im Wachstum begriffen, aber auch hier nur punktuell und nicht als eine breite Massenbewegung fassbar. Und auch dann sprechen die Zahlen eine verwirrende Sprache. Wir kennen beispielsweise die noch vergleichsweise geringe Zahl der 180.000 Pilger, die sich im Heiligen Jahr 2004 in Santiago de Compostela haben registrieren lassen, 8 aber dies sind nur die Reisenden, die die letzten 200 km zu Fuß gegangen sind, und deshalb unbedingt eine gestempelte Urkunde, die Compostela, haben wollen. Es geht aber vor allem um die viel größere Zielgruppe, die in Santiago angekommen sind, aber nicht den Rummel mögen, die nur mit sich und Gott ins Reine kommen wollen, und noch mehr um die, die irgendwo in Europa auf den Jakobswegen zwischen Russland und Spanien unterwegs sind. Interessanterweise hat gerade der evangelische Pfarrer Paul Geißendörfer, und das erst 1992, den ersten deutschen Jakobusweg zwischen Rothenburg und Nürnberg ins Leben gerufen. Im Jahr 2015 ist das Netz der deutschen Jakobswege schier unüberschaubar geworden. Und Menschen sind dort überall unterwegs, nur zählt sie keiner. Und dies scheint der spirituellen Zielgruppe gerade recht zu sein. Auch die Pilger auf den Pfaden zu weniger bekannten Zielen müssen bei der Betrachtung mit berücksichtigt werden. Der in Deutschland eher unbekannte österreichische Wallfahrtsort Mariazell registrierte 2004 bei der Wallfahrt der Völker und dem Mitteleuropäischen Katholikentag 80.000 oder das fränkische Walldürn jährlich 150.000 Pilger. Von den 1 Mio. Menschen, die jährlich nach Altötting oder Andechs kommen, sind wahrscheinlich viele Kulturbzw. Biertouristen; die 800.000 in Kevelar und 400.000 in Maria Vesperbild sind wahrscheinlich doch eher religiös motivierte Pilger. Und Regionalwallfahrten, bei denen sich wie bei der Bistumswallfahrt von Magdeburg nach Huysburg 5.000 oder bei der Matthiaswallfahrt nach Trier 6.000 Pilger einfinden, verdeutlichen die Unsicherheit bei der Datenlage und deren Interpretation. Um eine Vorstellung von den Kunden des Spirituellen Wanderns, deren Wirtschaftskraft und dem Defizit in der Tourismusstatistik zu bekommen: In Europa finden sich nach Untersuchungen der Religionsgeographie ungefähr 6.000 christliche Pilgerstätten, davon drei internationale (Rom, Lourdes, Fatima), 19 große und 830 6 Vgl. Tölkes 2006. 7 Vgl. Jehle 2002. 8 Vgl. Stausberg 2010. <?page no="27"?> größere, davon 1.000 in Deutschland, die insgesamt 60 bis 70 Mio. Pilger pro Jahr anziehen. 9 Zur eigentlichen Kernzielgruppe stoßen wir auch bei den Reisenden vor, die Angebote der christlichen Spezialreiseveranstalter in Anspruch nehmen. Diese lassen sich in Deutschland jährlich auf 150.000 bis 200.000 Reisen schätzen, 10 wobei darunter auch Mischformen mit Kultur- und Studienreisen fallen. Im Gegensatz zu den großen weltlichen Reiseveranstaltern, die heterogenen Gruppen eher kulturtouristische Reisen zu religiösen Stätten anbieten, haben wir es bei den christlichen Reiseveranstaltern mit eher homogenen Gruppen zu tun, deren Reisemotive sich ähneln. Die spirituellen Touristen, die individuell oder in individuell organisierten Gruppen unterwegs sind, kennt die Marktforschung fast gar nicht. Ebenfalls einer Analyse harren die nicht gezählten Angebote der (christlichen) Bildungsträger wie Volkshochschulen bzw. Katholische und Evangelische Erwachsenenbildungen sowie der besonders interessante graue spirituelle Reisemarkt wie „privat“ organisierte Reisen von Pfarrern, Kirchengemeinden bzw. Freundeskreisen. Hier sind die Parallelen zum Gesamttourismusmarkt in Deutschland mit einem wachsenden und dennoch undurchschaubaren „Grauen Beherbergungsmarkt“ evident. Neben dem Pilgern etabliert sich auch in Deutschland in den letzten Jahren immer mehr der Markt des Klosters auf Zeit. Die Orden mit Angeboten für Laien registrieren bereits über 100.000 Anfragen pro Jahr, die zu mindestens 40.000 religiös motivierten Klosterübernachtungen führen. 11 Aber auch hier sind die Nachfrager nicht so einfach einzugrenzen. Immer mehr Führungskräfte suchen den „Rückzug ins Gebet statt Actionurlaub“. So reist Frank Merkel, Vorstand einer Werbeagentur aus Viernheim, seit 1997 als einer von vielen immer wieder ins Benediktinerkloster Maria Laach statt wie früher in den Club Méditerranée. Die Abtei Andechs verzeichnet beispielsweise 3.000, die Abtei Neuburg 5.000, die Abtei Nuetschau 14.000 Übernachtungen mit Stille-, Meditations- und Exerzitienangeboten - meist ohne Marketingkonzept und Werbeplan. Zusammenfassend lässt sich für Mitteleuropa sagen, dass die Nachfrager nach spirituellen Reisen schwer zu fassen sind (Kultur, Neugier, Ruhe, Sinnsuche, Religiöses) und es keine gesicherten Gesamtanalysen gibt, dass sie einerseits eine Nischengruppe (religiöse Reisegruppen), andererseits aber eine Hauptzielgruppe (Kulturtouristen) darstellen, dass sie eher 50+ und Frauen (religiöse Studienreisen), eher Jugendliche und Männer (Jakobsweg), aber auch 9 Vgl. Stausberg 2010. 10 Vgl. Stausberg 2010. 11 Vgl. Brandt 2002. <?page no="28"?> eher 40-50 Jahre alt und Männer (Manager-Exerzitien) sind, und dass sich der Markt in jedem Fall auf Wachstumskurs befindet. Ein sehr anschauliches Beispiel einer breiten, differenzierten und zukunftsorientierten Gästeansprache findet sich wieder mal in Bayern. Das bereits über eine 1400-jährige Besuchertradition verfügende Donaukloster Weltenburg versucht einen Spagat zwischen allen Welten. An einer Sackgasse gelegen, gelingt es, mit barocker Asam-Kirche mit Konzerten und Klosterladen (Kultur) und Klosterbrauerei mit Biergarten und Klosterschenke (Gastronomie) jährlich 500.000 Menschen anzuziehen. Und wenn sie schon mal da sind, so sollten sie auch eine christliche pastorale Betreuung erhalten (Religion), die von christlichen Jahresbräuchen von Benediktusfest und Bayerischer Weihnacht bis zu Gottesdiensten und Tagesgebeten reicht. Des Weiteren finden sich die tiefergehenden Angebote von „Ab in den Urlaub“ mit „Mitleben im Konvent“ (Klosterurlaub) bis Biblische Wochenenden (Tagungen und Seminare) wieder. Eine Auszeit wird verstärkt von der ruhigen und einmaligen Natur- und Wanderlandschaft am Donaubogen (Natururlaub). Der nicht einfache Spagat zwischen Massen- und Ruhetourismus scheint zu gelingen. Gerade in Herbst und Winter kann man in Weltenburg das Nichts sehr gut finden. Um dem Zeitgeist immer auf der Spur zu bleiben, wurde 2014 durch Abt Thomas M. Freihart das der Donau zugewandte Gästehaus St. Georg nach umfassender Renovierung der historischen Räume eröffnet. Die wachsende Zielgruppe der Lohas wird sich hier wohlfühlen: Die Zimmer sind „perfekt einfach“ gestaltet. Die Nachfrager nach Spirituellem Tourismus werden also - wie in den anderen Reisemärkten auch - hybrider, sodass sie nur mit sehr differenzierten Angebotsstrategien angesprochen werden können. Die Thomas Morus Akademie in Bensberg hat sich in den letzten Jahren vielfach dieser Thematik gewidmet und - wahrscheinlich ohne es zu wollen - mit drei Tagungsthemen im Jahr 2004 genau die Differenziertheit des Nachfrage- und Angebotsspektrums des Spirituellen Tourismus abgebildet: „Touristisches Highlight oder Zeugnis des Glaubens. Kirchenführungen im Spannungsfeld der Interessen“, „Kirche in der Natur. Angebote und Konzepte im Natur- und Nationalpark“ sowie „Megatrend Wellness. Eine pastorale Herausforderung“. Der Wachstumstrend des spirituellen Reisens wird sich dementsprechend erstens im Kultursegment (das christliche Original) abspielen, zweitens im Natursegment (Gottes Schöpfung) und drittens im Gesundheitssegment (Gesunder Geist). Ähnlich diversifiziert wie die Nachfragegestaltet sich also auch die Angebotsseite des spirituellen Reisens im weiteren Sinne. Gerade der Markt des Kulturtourismus wächst in Deutschland auch in Zukunft erheblich, aber in neue Richtungen, was auch mit der Sinnsuche in Geschichte, Tradition oder Werten zu tun hat. Dies hat beispielsweise das in Österreich <?page no="29"?> 1998 entstandene, mittlerweile auf Ungarn und Tschechien ausgedehnte Netzwerk von 21 lebenden katholischen Klöstern aufgegriffen. Unter dem Namen Klösterreich wird einerseits Kultur und Geschichte vermarktet, also der große Markt des Kulturtourismus abgedeckt, und andererseits mit klosterspezifischen Angeboten die kleinere, religiös motivierte Nachfrage bedient. Die beiden Slogans „Sinn, Freude, Kultur“ und „Kraft tanken“ machen diese Bandbreite deutlich. Beides dreht sich um die Frage, wie die christlichen Orden, die die Grundlagen Europas geprägt haben, der heutigen Gesellschaft ihre Werte wieder bewusst machen - über Kultur-, Bildungs- oder Religionstourismus. 12 Wie bei der Nachfrage so gibt es auch spezifisch religiös motivierte Angebote, aus denen das wirkliche Marktpotenzial aber ebenfalls nur ungefähr erschlossen werden kann. Im engeren Sinn existieren in Deutschland ungefähr 50 selbständige Reiseveranstalter für religiöse Reisen, die den spezifischen Nischenmarkt abdecken und deshalb entsprechend klein sind. Zwei davon haben sich über Jahrzehnte als Marktführer herauskristallisiert, die zusammen pro Jahr circa 50.000 Gäste bedienen. Dies sind das 1962 gegründete ökumenische Biblische Reisen und das 1875/ 1928 entstandene katholische Bayerische Pilgerbüro. 13 Nicht registriert sind dabei jedoch die vielen frei organisierten Reisen einzelner Kirchengemeinden, Diözesen oder kirchlicher Bildungseinrichtungen sowie - und das ist der größte Marktanteil - die kulturtouristischen Angebote der großen Reiseveranstalter, die nach Rom, Santiago oder Lourdes gehen. Bei den wachstumsstärksten Reisezielen, die mit religiösen Inhalten verbunden sind, gibt es bereits einen ausgesprochenen Wettbewerb zu beobachten, der sich auf Touristen wie auf Pilger bezieht und ganz und gar nicht glaubensmotiviert ist. Die Heiligen Stätten werden an sich und mit ihrer Infrastruktur touristisch analysiert, international in kulturelle und religiöse Wertetabellen gebracht oder bereits in Preis-Leistungs-Konkurrenz gesetzt. „Pilgern um die Welt. Die 20 heiligsten Reiseziele der Menschheit“ geben 2003 bereits den Wegweiser zu Reiseziel, Pauschale, Anbieter und Preis von Altötting bis Mekka, von Assisi bis Kataragama auf Sri Lanka. Unter der Überschrift „So viel Kloster-Urlaub gibt’s für 500 Euro“ wird ebenfalls im Reisemagazin „abenteuer und reisen“ 2006 sogar nach dem bundesdeutschen Gesellschaftstrend „Geiz ist geil! “ dargelegt, dass sich der spirituell oder touristisch Reisende damit 10,1 Tage im deutschen Niederaltaich, 20,0 Tage im französischen Port du Salut, aber 161,3 Tage im thailändischen Suan Mokkh und sogar 227,3 Tage im nepalesischen Kopan aufhalten kann. Ganz kurios - oder vielleicht doch nicht - wird der Konkurrenzkampf der Anbieter, wenn neben die authentischen Stätten religiösen Reisens neue künstliche erlebnisorientierte Freizeitparks treten. So war 2006 geplant, am See Genezareth, unweit des Bergs der christlichen Seligpreisungen, von US-amerikanischen evangelikalen Organisationen auf 50 ha bisher 12 Vgl. Tröster 2004. 13 Vgl. Strohmeyer 2004. <?page no="30"?> naturbelassenem Hügelland für 60 Mio. Euro einen Jesus-Park entstehen zu lassen, der eine Mio. Touristen mehr nach Israel locken sollte. In Mitteleuropa steht das Christentum als gemeinsames kulturelles Orientierungssystem im Fokus des Spirituellen Reisens. Da deren 2.000 Jahre alten Werte, Bräuche und Riten - man denke nur an die Feier- und Namenstage - auch unterbewusst unser tägliches Leben prägen, sind sie mehr als eine Alternative zu außereuropäischen Religionen. Entscheidend für das christliche Angebot scheint jedoch gerade heute der Heilige Ort zu sein, der als authentischer Anziehungspunkt für Touristen des spirituellen wie kulturellen Reisens unabdingbar ist. „Kraftorte, Kulturplätze, Magische Stätten“ nennt Biblische Reisen diese neuralgischen Punkte, ohne die es keinen Spirituellen Tourismus geben kann. 14 Zur Verdeutlichung, wo diese zu finden sind, haben sich beispielsweise auf Bundesebene in Österreich und Deutschland große Kooperationen aller katholischen Klostergemeinschaften gebildet, die gebündelt ihre verschiedenen Angebote an den Kunden weiterreichen, ohne sie jedoch unter einer Marke zu firmieren. Die 260 deutschen Klöster bieten Exerzitien, Tage der Stille, Urlaub im Kloster, Manager-Seminare, Beten und Arbeiten, Therapien, Fasten und vieles mehr an. Ziel aller Bemühungen ist es, sich über den engen Kreis der christlichen Nachfrager den gesamtgesellschaftlichen Kundengruppen europäisch-christlicher Tradition zu öffnen. Denn in Österreich firmieren diese vernetzten Angebote unter dem Slogan „Energie für die Seele tanken“ und in Deutschland noch grundsätzlicher unter dem Titel „Atem holen“. 15 Die Regel des Hl. Benedikt von Nursia vom Anfang des 6. Jahrhunderts, die heute noch mindestens für alle benediktinisch geprägten Klöster weltweit Gültigkeit besitzt, schreibt für die „Aufnahme der Gäste“ das vor, was bereits das Evangelium verkündet hat und was die Zukunft der christlichen Kirchen ausmachen wird: „Alle Gäste, die zum Kloster kommen, werden wie Christus aufgenommen; denn er wird einst sprechen: ‚Ich war fremd und ihr habt mich beherbergt.‘ Allen erweise man die ihnen gebührende Ehre.“ Hier scheint der Turnaround für die Zukunft der christlichen Kirchen und des christlich ausgeprägten Spirituellen Tourismus zu liegen. Die Kirchen können einerseits weiter jammern, dass die Personal- und Finanznot immer größer wird, dass die Kirchengemeinden aussterben oder sie immer größere und anonymere Dienstleistungsstrukturen bekommen. Aber jede Krise bringt andererseits neue, unerwar- 14 Vgl. Strohmeyer 2004. 15 Vgl. Tröster 2004. <?page no="31"?> tete Chancen mit sich, wenn das Christentum seine 2.000-jährige Gastgeberschaft ernst nimmt. Die Kirche bleibt auch weiterhin im Dorf und selbst in Ostdeutschland kämpfen kulturell verwurzelte Bewohner um die Erhaltung ihrer Kirche, auch wenn teilweise ohne ein christliches Vereinsmitglied. Es wird also keinen absoluten Weltuntergang geben, sondern eine christliche Weltveränderung. Momentan entwickeln sich Spiritualität und Spiritueller Tourismus zu einem wachsenden Markt, wozu auch die aus der Kirche ausgetretenen oder der Religion distanziert gegenüberstehenden Bewohner der Gemeinden gehören. Der evangelische Pfarrer Wolfgang Vorländer hat aus seiner Erfahrung heraus 2007 vom „Geheimnis der Gastfreundschaft“ geschrieben, dass sich darin der Kern der christlichen Kirchen und ihrer Botschaften befindet. 16 Die religio potentialis, von der auch der katholische Theologe Michael Zulehner spricht, also einer möglichen Religiosität, die sich überall in der Gesellschaft findet, trifft auch auf den Tourismus zu. Es ergibt sich aus den gesellschaftlichen Veränderungen also ein klarer Auftrag an die Kirchen, dabei nicht etwas gut oder schlecht zu finden, sondern nur darum zu handeln oder abzuwarten. Ist die Selbstsäkularisierung, von der der ehemalige Ratsvorsitzende und Bischof Wolfgang Huber für seine Evangelische Kirche in Deutschland sprach, schon so weit fortgeschritten, dass die Kirchen die Wünsche der Menschen nicht mehr verstehen? Die postsäkulare Gesellschaft des Philosophen Jürgen Habermas benötigt eine spirituelle Bewirtung, wie es der Beauftragte der Lutherdekade und evangelische Pfarrer Stefan Dorgerloh 2009 formuliert. Und diese greifbare Antwort auf ihre Fragen erwarten die Mitteleuropäer von ihren christlichen Kirchen. Und nur wer den Kern des Produktes kennt, besitzt die Kompetenz, die Inhalte qualitativ hochwertig zu gestalten; und die liegt für Spirituellen Tourismus bei den christlichen Kirchen. Die marktgerechte Gestaltung und äußere Qualität kann erst dann in Kooperation mit der Tourismuswirtschaft erfolgen, obwohl dort auch vieles im Argen liegt, was Qualität, Marktforschung und Kundenorientierung betrifft. Wie bei einer Pilgerstudienreise wird das Erlebnis nur perfekt, wenn geistliche Betreuung und touristische Organisation aufeinander abgestimmt sind und einen gleich hohen Qualitätsanspruch haben. Die Herausforderungen des Spirituellen Tourismus für die christlichen Kirchen liegen 16 Vgl. Vorländer 2008. <?page no="32"?> darin, das Phänomen dieser Reiseform zu erkennen, zu verarbeiten und für das Christentum zu nutzen, der Beliebigkeit der spirituellen Strömungen definitive Wahrheiten und Werte des Christentums entgegenzusetzen, einen professionellen Auf- und Umbau christlicher Themen in touristische Reiseangebote offensiv zu gestalten, also spirituellen Zeitgeist bewusst und aktiv zu christlichem Zeitgeist zu machen. Von Vorteil für die christlichen Kirchen sind beim Spirituellen Tourismus neben der Gastgeberschaft, die sie nun fast 2.000 Jahre eingeübt haben sollten, und der jahrhundertelangen Ortsgebundenheit, von der aus sie mitten in Orten und Städten die Gäste empfangen können, die kulturellen und künstlerischen, rituellen und symbolischen Zeichen, die real und präsent aus dem Geist des Christentums entstanden sind. Aber die Kirchen müssen sich von Anfang an in die äußere und inhaltliche Gestaltung der spirituellen Angebote einbringen. Der Beliebigkeit der Spiritualität können die christlichen Kirchen also durchaus unveränderliche Botschaften mit kundenorientierten Mitteln entgegensetzen. Die breiten Zielgruppen des Spirituellen Tourismus werden es zu schätzen wissen. Wenn am Anfang des 21. Jahrhunderts Weltjugendtage aus Sicht der Besucher zu „geilen Events“ werden, so hat die Kirche den Nerv der Reisezeit getroffen. Die Kirchen sind das spirituelle Original, allein die authentische Gastfreundschaft muss sie noch einmal neu erlernen. <?page no="33"?> Adolphsen, H./ Nohr, A. (Hg.) (2003): Sehnsucht nach Heiligen Räumen - eine Messe in der Messe. Darmstadt. Antz, C. (2010): Spirituelles Wandern. In: Dreyer, A./ Menzel, A./ Endreß, M. (2010): Wandertourismus. Kundengruppen, Destinationsmarketing, Gesundheitsaspekte. München. 283-294. Antz, C. (2007a): Reisen zu heiligen Orten. Spiritueller Tourismus als eine gesellschaftlichkirchliche Initiative aus Sachsen-Anhalt. In: Schmude, J./ Schaarschmidt, K. (Hg.) 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Die Motivation für das Pilgern ist dabei nicht die Sorge um das eigene Heil, sodass die vom Widerspruch gegen eine Werkgerechtigkeit geleitete Kritik der Reformatoren am Pilgern dem modernen Trend nicht gerecht wird. <?page no="38"?> Es werden vier Deutungen des Pilgerns aus der Theologiegeschichte vorgestellt - das Itinerarium der Pilgerin Egeria; Augustins Confessiones, das Itinerarium mentis in Deum des Bonaventura und John Bunyans The Pilgrim’s Progress. Es zeigt sich in diesem Durchgang, dass alle Autoren eine Verbindung zwischen dem Pilgerweg und dem menschlichen Selbstverständnis sehen und den Pilgerweg als Metapher für den Lebensweg und umgekehrt: den Lebensweg als Pilgerschaft zu Gott verstehen. Es wird dann versucht, zu zeigen, dass der Bestseller von Hape Kerkeling, in dem er seinen Pilgerweg nach Santiago de Compostela beschreibt, von genau diesem biographischen Verständnis des Pilgerns Gebrauch macht. Von dort aus lassen sich Schlussfolgerungen ziehen für ein protestantisches Verständnis des Pilgertrends und für eine protestantische Deutung des Pilgerns. Gänsehaut „Dementsprechend hilft es der Seele nicht, wenn der Leib heilige Kleider anlegt, wie es die Priester und Geistlichen tun, auch nicht, wenn er sich in Kirchen und an heiligen Orten aufhält […] Und es hilft auch nicht, wenn er [der Leib] bloß mit Worten betet, fastet, pilgert und alle guten Werke tut, die durch den Leib und in ihm überhaupt nur geschehen könnten. […] Umgekehrt schadet es der Seele nicht, wenn der Leib unheilige Kleider trägt, an unheiligen Orten ist, nicht isst, trinkt, pilgert und betet und all die Werke nicht vollbringt, die die genannten Heuchler tun.“ 17 Das Wallfahren, das Pilgern gehört neben der Messe, dem Fasten und den Heiligen Gewändern von Anfang an zu den liebsten Kindern der reformatorischen Polemik; mit scharfer Zunge und mit ätzendem Spott verfolgen die Reformatoren die Idee, man könne Gnade erwerben, indem man zu bestimmten Reliquien oder zu bestimmten Zeiten nach Rom pilgert - der leibliche Umgang mit heiligen Dingen oder das körperliche Wallfahrten hilft der Seele nicht, so hält Luther in der Freiheitsschrift fest, und es schadet nicht, wenn man das Wallfahrten lässt, denn: äußerliche Dinge können die Seele nicht rein machen, und das Fehlen von äußerlichen Dingen schadet ihr nicht. Wallfahrten ist ein Adiaphoron, etwas, das keinen Unterschied macht, etwas für die Heilsteilhabe des Menschen Gleichgültiges. Man kann es tun, kann es aber ebenso gut auch lassen. Was freilich nicht gleichgültig ist, ist die innere Haltung, in der man wallfahrtet oder es bleiben lässt: Wallfahrten schadet, wenn jemand sein Herz daran 17 Luther 1520. <?page no="39"?> hängt und glaubt, er komme dadurch Gott näher, oder er verliere sein Heil, wenn er nicht wallfahrtet. Die Wallfahrt, das Pilgern tendiert dazu, ein solches Verständnis, die Meinung, das Wallfahrten sei irgendwie heilsrelevant, nach sich zu ziehen - und daher sollte man es lassen. Wallfahren bringt nicht nur nichts, es ist auch schädlich, weil es diese Meinung, es sei hilfreich zum Heil, nach sich zieht. Luther schlägt vor, einfach zu verkündigen, dass die Wallfahrten nicht geboten sind, nichts nützen und eher schädlich sind - dann wird man, meint er, schon sehen, „wo die Wallfahrten bleiben“. Das ist der Hintergrund, der dazu führte, dass in den reformatorischen Territorien das Wallfahrtwesen zusammenbricht. Die Jakobswege beispielsweise, die ganz Europa durchziehen, werden normale Verkehrsstraßen. Adiaphoron Pilgern steht in der lutherischen Tradition im Verdacht der Werkgerechtigkeit: es steht im Verdacht, seinen Ort zu haben im Rahmen eines Lebenskonzeptes, in dem ein Mensch durch eigene Leistung Gott näherzukommen versucht statt auf jedes Werk zu verzichten und sich der Gnade Gottes anzuvertrauen. Das Pilgern in der Meinung, man erwerbe sich damit Verdienste vor Gott oder könne damit Ablass erwerben für zeitliche Sündenstrafen, ist ein wichtiger Kritikpunkt aller Reformatoren; die Legenden, die bestimmte Orte, etwa Santiago de Compostela als Ziel der Europa durchziehenden Jakobswege, auszeichneten, wurden gnadenlos dekonstruiert - die Behauptung, dass sich dort das Grab des Herrenbruders Jakobus befinde, so Luther, habe so viel für sich wie die mögliche Behauptung, dass dort ein Hund begraben liege. Allerdings ist diese Schärfe, mit der sich alle Reformatoren und ihre rechtgläubigen Schüler aller Jahrhunderte gegen das Wallfahrten wenden, weniger eindeutig, als es scheint. Denn so sehr gilt, dass das Wallfahrten der Seele nichts nützt und dass der Verzicht auf das Wallfahrten nicht schadet, so sehr gilt auch, dass das Wallfahrten für sich genommen der Seele nicht schadet. Wenn, wie Luther einschärft, die Seele durch kein äußeres Werk heilig wird, dann nimmt sie durch das äußere Werk auch keinen Schaden. Und so stellen die Reformatoren durchgängig fest, dass nicht etwa das Wallfahrten oder das Fasten oder das Gelübde der Ehelosigkeit an sich falsch ist, sondern es ist falsch und verderblich, so alle Reformatoren, wenn es in der falschen Haltung getan wird: in der Meinung nämlich, dadurch besser zu werden. Diese These: Ich bin durch mein Tun akzeptiert vor Gott - diese These macht nicht nur das Wallfahrten bzw. Pilgern, sondern jedes Tun des Menschen verkehrt. Denn es setzt das eigene Werk an die Stelle des Werkes Christi, an die Stelle des Werkes Gottes, der eben nicht den Menschen liebt, weil dieser Mensch liebenswert ist, sondern weil er, Gott, den Menschen liebenswert macht - so Luther. Die Behauptung, dass der Mensch durch das Pilgern oder Fasten oder durch den Eintritt in das Kloster liebenswert werde vor Gott, ist ein Verstoß gegen das Majestätsrecht <?page no="40"?> Gottes, der kein Geschäftemacher ist - ‚ich akzeptiere und belohne, was du schaffst und gibst‘ -, sondern ein frei und bedingungslos Gebender. So will er wahrgenommen werden, das ist, sozusagen, sein Ruhmesblatt: dass er, Gott, umsonst schenkt. Also: das Fasten, Wallfahrten, die Ehelosigkeit des Mönchs oder der Nonne ist für die Reformatoren dann ein ernsthaftes Problem, wenn es Gott zum Kaufmann herabsetzt, wenn es als Bezahlung für Wohlgefallen gegeben wird. Wenn dies nicht das Motiv für das Pilgern oder Fasten etc. ist - dann ist das eine ganz andere Sache. In der Gegenwart ist die Idee des Pilgerns wieder im Aufschwung. Nicht erst seit Hape Kerkeling, der im Jahr 2001 ‚dann mal weg‘ war - ich komme auf ihn noch zu sprechen, sondern schon viel früher: Nach Auskunft des Domkapitels der Kathedrale von Santiago de Compostela absolvierten 1970 nur 68 Menschen den Camino, in den Compostelanischen Heiligen Jahren, in denen das Pilgeraufkommen immer etwas höher ist, waren es in den 1970er-Jahren ca. 400. 2012 war kein Compostelanisches Heiliges Jahr; dennoch wurden 192.000 Pilger registriert, und im Compostelanischen Jahr 2016 belief sich die Zahl der Pilger auf dem Jakobsweg auf 278.041. Das ist keine ungewöhnlich hohe Zahl dieses einen Jahres, sondern zwischen 1970 und 2016 stieg die Zahl der Pilger kontinuierlich an. Pilgern ist in. Die Motivlage für den Boom passt nicht zur reformatorischen Polemik. Denn einmal ernsthaft: Wer käme heute auch nur auf die Idee, den Jakobsweg entlangzupilgern in der Meinung, er erwerbe sich dadurch ein Verdienst, das ihm eine Zeit im Fegefeuer ersparte? Oder wer käme auch nur auf die Idee, dass ihn das Pilgern vor Gott akzeptabel machte? Ich habe natürlich keine Umfragen gemacht, aber ich wäre sehr überrascht, wenn eine Umfrage zu dem Ergebnis käme, dass die Pilger, die so motiviert sind, mehr als einen minimalen Prozentsatz derer ausmachen, die jährlich den Jakobsweg entlanglaufen. Wenige, sehr wenige vermutlich gehen den Weg, um dadurch, wie die Confessio Augustana (Art. IV) sagt, „Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen“; die wenigsten werden auch nur wissen, dass man einen Ablass für den Pilgerweg gar nicht bekommt. Die Urkunde, die den Pilgern nach Beendigung des Weges nach Santiago ausgehändigt wird, verbrieft auch keinen Ablass der zeitlichen Sündenstrafen. Einen solchen Ablass bekommt der Pilger, wenn er das will, gerade nicht für den zu Fuß zurückgelegten Weg. Den Ablass erhält auch derjenige, der mit dem Flugzeug anreist, und zwar für den Besuch der Kathedrale, für die Teilnahme am Gottesdienst, nach der Beichte und der Kommunion. Dann freilich bekommt man im Compostelanischen Jahr - das sind die Jahre, in denen der Jakobstag auf einen Sonntag fällt - sogar einen Plenarablass. <?page no="41"?> Über diese Frage werden wenige derer, die nach Santiago pilgern, nachdenken. Umgekehrt werden aber auch nur sehr wenige diesen Weg gehen in dem festen protestantischen Bewusstsein, dass ihnen die Gnade und Liebe Gottes ohnehin gilt. Die Motivation für das Pilgern wird vermutlich sehr unterschiedlich sein, nicht nur für diejenigen, die Wallfahrten nach Santiago unternehmen, sondern auch für die vielen Pilger, die auf den hier in Deutschland wiederentdeckten und ausgebauten Wallfahrtswegen gehen. Die Motive für den Pilgerboom zu ergründen wäre eigentlich Sache von Soziologen und Psychologen: Ein Überdruss an der Zivilisation, Stressabbau dürfte eine Rolle spielen - Stichwort Entschleunigung. Möglicherweise leiten spirituelle Motive - urtümliche, dunkle, irrationale Religion, dunkel-geheimnisvolles Mittelalter eben, und doch billiger als ein Trip nach Indien. Nicht zu vergessen sind Wellness-Motive: gut für Körper und Geist. Schließlich die kleinen Fluchten aus dem normalen Leben, sozusagen Aussteigen auf Zeit. Und natürlich nicht zuletzt die Interessen der Tourismusindustrie, die an diesem Punkt aber von Voraussetzungen lebt, die sie nicht selbst gewährleisten kann: Einen religiösen Hype kann man als Tourismusexperte oder Reiseanbieter nicht erzeugen - aber man kann ihn nutzen und pflegen. Diese Motive zu erforschen, ist nicht mein Interesse und auch nicht meine Aufgabe als Systematiker; mir geht es vielmehr um die Frage, wie angesichts dieses neuen, durchaus auch Protestanten ergreifenden Interesses am Pilgern dieses Pilgern selbst theologisch zu bewerten ist - ist es theologisch indifferent? Stellt das Pilgern einen Rückfall in vorreformatorische Verhaltensmuster dar? Handelt es sich um ein Indiz für die schleichende Katholisierung des Protestantismus? Oder vielleicht doch um eine Bewegung, hinter der nicht nur ein individuell authentisches, sondern auch ein theologisch ernstzunehmendes Anliegen steht. Ich meine, dass Letzteres der Fall ist - es gibt ein theologisch ernstzunehmendes Anliegen im Hintergrund. Dessen wird man aber nur ansichtig, wenn man sieht, dass Pilgern in der christlichen Tradition nicht nur den Fußmarsch vom Wohnort zu einem Heiligtum meint, sondern etwas viel Umfassenderes ist, eine Grundbewegung des christlichen Glaubens. Und wenn man sich das klargemacht hat, dann gewinnt man einen Sinn dafür, dass Pilgern auch aus protestantischer Perspektive religiös sinnvoll sein kann: Das Pilgern muss man auch als Protestant einerseits nicht einfach mit dem Etikett katholisch versehen und in die Schmuddelecke des ökumenischen Synkretismus verbannen, man muss es aber andererseits auch nicht mit irgendwelchen esoterischen Hoffnungen aufpumpen und als Salz in die Suppe einer Wellness-Religiosität einrühren. <?page no="42"?> Die oben nur angedeutete Motivlage für das Pilgern in der Gegenwart ist jedenfalls so geartet, dass auch einem Dogmatiker die üblichen protestantischen Polemiken im Hals stecken bleiben. Es passt nicht so recht, die reformatorische Polemik gegen das Wallfahrten vorzutragen, wenn sich die Wallfahrt vordergründig nicht mit einem Heilsinteresse - dem Erwerb von Verdiensten, die die eigene Seligkeit gewährleisten - verbindet. Die reformatorische Polemik passt zwar zu vielen, aber mitnichten zu allen traditionellen Deutungen des Pilgerns. Im Folgenden werden große Texte vorgestellt, in denen sich in sehr unterschiedlicher Weise ein christliches Verständnis des Pilgerns findet - und daraus ergibt sich ein Verständnis des Pilgerns, das mit protestantischen Kategorien durchaus kompatibel ist. Am Anfang steht der erste ausführliche Pilgerbericht der Christenheit, der uns aus der Feder einer Christin namens Egeria vorliegt: Pilgern ist hier ganz wörtlich der Besuch der Stätten des Heiligen Landes, die in der christlichen Heilsgeschichte eine Rolle spielen. Dann wird ein Text aus der christlichen Tradition, verfasst von dem nach meinem Dafürhalten größten Theologen der abendländischen Tradition, nämlich von Augustin, befragt, was es über das Pilgern zu lernen gibt: Pilgern hat mit Selbsterkenntnis zu tun; dies ist ein Grundmotiv, das das christliche Verständnis des Pilgerns in der Folgezeit prägt. Ich skizziere dann das Verständnis des Pilgerns nach einem der größten - von Augustin zutiefst beeinflussten - mittelalterlichen Theologen, nämlich Bonaventura; hier verbindet sich das Pilgern mit dem mystischen Motiv eines inneren Weges. Und schließlich stelle ich das Verständnis des Lebensweges als Pilgerweg vor, das sich in John Bunyans The Pilgrim’s Progress manifestiert. Vor diesem Hintergrund wende ich mich dann einem modernen Pilgerbericht zu: Hape Kerkelings ‚Ich bin dann mal weg‘, ein Bestseller, der in sehr subtiler Weise die religiösen und theologischen Motive, die ich im Durchgang durch die genannten Positionen markiere, aufnimmt und zu einem unaufdringlich anziehenden, modernefähigen Verständnis des Pilgerns verbindet. Ich stelle also Texte vor; analysiere sie nicht ausführlich, sondern ich greife immer wieder Punkte heraus, die nach meinem Eindruck wichtig sind für ein differenziertes Verständnis des Pilgerns. Und ich fasse am Schluss zusammen, was sich daraus für das Verständnis des gegenwärtigen Pilgerbooms ergibt - aber eher im Sinne einer Anregung zum eigenen Weiterdenken. <?page no="43"?> Einer der frühesten Pilgerberichte, der allerdings schon die Tradition der Pilgerfahrten in das Heilige Land voraussetzt, stammt von einer vermutlich ursprünglich in Südgallien lebenden Christin, Egeria, die ihren dort zurückgebliebenen Mitschwestern in Briefen von ihrer Pilgerreise berichtet. Der Text, dessen Anfang fehlt, beginnt mit einem Aufenthalt auf dem Sinai und führt den Leser dann nach Ägypten und auf dem Weg des Volkes Israel nach Jerusalem. 18 Von dort aus besucht Egeria nicht nur die auf der östlichen Jordanseite gelegenen Mose-Gedenkorte, sondern auch das Zweistromland und schließlich nach einem weiteren Aufenthalt in Jerusalem Kleinasien, Tarsus insbesondere und Ephesus, aber auch Konstantinopel. Im zweiten Teil des Berichtes beschreibt sie dann die Heiligen Stätten in Jerusalem sowie die Gottesdienste und die Kirchenjahresfeste, die dort abgehalten werden. Der Bericht wird häufig als Itinerar bezeichnet - das ist zunächst eine säkulare Textgattung: Wegbeschreibungen, eine Art frühes Navi, die einem Reisenden den Weg zu einem bestimmten Ziel mit der Angabe von Entfernungen, teilweise Übernachtungsmöglichkeiten, erschließt. Bekannt ist das Itinerarium Antonini, das viele viae publicae - Fernreisestraßen des Römischen Reiches beschreibt und lediglich die Meilen angibt, die die am Weg liegenden römischen Siedlungen voneinander trennt. Dieses Buch ist auch sonst sehr technisch gehalten: eine Liste, jeweils die knappe Nennung der Wegstationen und die Zahl der Meilen. Für religiöse Zwecke gibt es in dieser Zeit auch Beschreibungen des Weges ins Heilige Land (Itinerarium Burdigalense, 333 n. Chr., von Bordeaux nach Jerusalem 19 ). Egeria aber ist nicht an einer Wegbeschreibung als Hilfe für Wallfahrer interessiert, sondern an den Orten und an dem, was es da zu sehen gibt, insbesondere an der Erklärung der Orte durch die dort lebende Geistlichkeit (Mönche, Bischöfe). Vor allem aber erschließt sie ihren Leserinnen die biblische Geschichte insgesamt und die Bibeltexte, die im Hintergrund der Orte stehen; vielfach gibt sie an, dass sie an den jeweiligen Orten, teilweise in Gottesdiensten, die einschlägigen Bibeltexte gelesen habe. Und sie legt großen Wert darauf, dass in der Geographie des Heiligen Landes sich die Orte wirklich genau so identifizieren lassen, wie sie in der Schrift (oder auch in Heiligenviten, wenn es um Gedenkorte von Heiligen geht) dargestellt sind. 18 Röwekamp 1995, 9-115; Vgl. dort auch die Einleitung des Herausgebers. 19 CChL 175, 1-26; Neben den Wegangaben finden sich auch knappe Benennungen von Sehenswürdigkeiten der Heiligen Stätten. <?page no="44"?> Diese als Briefe an daheim gebliebene Schwestern gehaltenen Berichte haben offensichtlich eine Aufgabe: Sie sollen die Lektüre der Schrift und der Berichte von Heiligenleben begleiten. Offensichtlich sollen die Berichte die Empfänger der Briefe dessen vergewissern, dass die Heiligen Orte dort, im Heiligen Land, genauso zu finden sind, wie sie in der Schrift beschrieben werden: Das ist wirklich alles da. Wichtiger noch, so scheint mir, sind die Beschreibungen der Gottesdienste in Jerusalem, die Egeria im zweiten Teil der Schrift bietet. 20 Im Zentrum steht die Beschreibung der Osterwoche, die gestaltet ist als Nachvollzug der in den Evangelien beschriebenen Stationen der letzten Woche Jesu. Egeria beschreibt, dass und wie die abendlichen Gottesdienste jeweils an den im Passionsbericht genannten Orten stattfinden; sie legt immer wieder Wert auf die Feststellung, dass alle Lesungen, Antiphone und Gebete auf die jeweilige Zeit und auf den Ort zugeschnitten sind und dazu passen. Das ist das eine; auf der anderen Seite weist sie immer wieder darauf hin, dass in diesen Gottesdiensten das Übliche geschieht, das, was in allen Gottesdiensten überall in der Kirche stattfindet. Offensichtlich geht es ihr darum, dass hier in Jerusalem das Original des Gottesdienstes ist, das Urbild an den ursprünglichen Orten, auf das alle Gottesdienste im ganzen Reich verweisen und das sie vergegenwärtigen. Jeder Gottesdienst in ihrer gallischen Heimat vergegenwärtigt diesen Urgottesdienst in Jerusalem, und dieser Urgottesdienst seinerseits bezeichnet das Heilsgeschehen der Vergangenheit. Es ist durch den Ort, an dem es sich damals abgespielt hat, unmittelbarer gegenwärtig als etwa in Gallien. Mehrfach berichtet Egeria, dass die in der Kirche versammelten Menschen, die beispielsweise am Karmittwoch vom Verrat des Judas hören oder am Karfreitag der Kreuzigung gedenken, weinen und klagen: Durch den Ort ist das ganz gegenwärtig, was vor Zeiten dort geschah. Die Pilgerreise ist also der Weg vom Zeichen und von der Wirkung zum Bezeichneten und zum Ursprung: Der Weg vom Gottesdienst und den Lesungen der gallischen Heimatkirche zum Gottesdienst an den Heiligen Orten, an denen das ursprüngliche Geschehen in die Gegenwart hineinragt. Das ist die Grundidee, die das Pilgerwesen prägt: vom bloßen Abbild zum Original zu gelangen, in die Nähe des Heiligen zu kommen, dahin, wo die Überreste oder kirchliche Gedenkorte die Gegenwart der Vergangenheit markieren. Ziel des Pilgerns kann ganz Unterschiedliches sein: Der Ort, an dem sich die in 20 Vgl. Röwekamp 1995, 1ff. u. 224ff. <?page no="45"?> der Schrift berichteten Heilsereignisse abgespielt haben; die Reliquie eines besonders ausgezeichneten Heiligen; der Ort, an dem eine Heilige, vorzugsweise die Gottesmutter, erschienen ist und ein Wunder tat. Die heilsame Gottesgegenwart hängt am Raum und kann dort aufgesucht werden, wo sich das Heilige einstmals manifestierte. Hier hat Gott einst gehandelt und seine damalige Gegenwart ist an diesem Ort noch spürbar und teilt sich dem Menschen mit. Er ist der Glücksfall der abendländischen Geistesgeschichte. Seine Schriften haben die Geschichte des Abendlandes begleitet - die Mönche, die in den Wirren der Völkerwanderung in Westeuropa Oasen der Bildung waren, haben seine Schriften gelesen und weitertradiert; die scholastischen Theologen haben vornehmlich Augustin gelesen - das gilt für Anselm von Canterbury, für Thomas von Aquin und vor allem für die großen Franziskanertheologen, etwa Bonaventura; aber auch die Mystiker unterschiedlicher Provenienz waren von ihm beeinflusst - ich nenne nur Bernhard von Clairvaux. Alle Reformatoren haben ihn geschätzt, und ebenso ihre altgläubigen Gegner - ich nenne nur Ignatius von Loyola. Und die neuzeitliche Philosophie ist ohne ihn nicht denkbar - bei Descartes, Kant, Lessing, Rousseau, Schleiermacher, Hegel, bei Husserl und Heidegger finden sich seine Spuren. Kein Theologe des Abendlands ist größer als Augustin, auch Luther nicht. Ich kleide es immer in das Bild, dass Augustin wie ein großes Brennglas ist, durch das die Bildungstradition der Antike gebündelt und in das Abendland projiziert wurde. Augustin hat insbesondere ein Thema, das seine bahnbrechende Bedeutung ausmacht, in die abendländische Geistesgeschichte eingeprägt, nämlich das Interesse an der individuellen Subjektivität - das klingt gespreizt, meint aber: das Interesse daran, wer ich als Individuum bin. Und seine Grundthese ist die - und jetzt vollziehe ich eine seiner Grundeinsichten nach und übersetze sie gleichzeitig ein bisschen - dass wir uns normalerweise in die Welt verlieren, uns verstehen aus dem, was wir haben, und aus den Rollen, die uns zugeschrieben werden und die wir erfüllen müssen. Und dass wir selten an den Punkt kommen, dass wir beginnen, uns zu fragen, wer wir eigentlich sind. Und wenn wir es tun, dann merken wir, dass wir damit nicht auf einen neuen Gegenstand neben dem Besitz und den Rollen, die wir einnehmen, stoßen, sondern dass wir damit an ein Wissen rühren, das wir immer schon haben und immer schon verdrängt haben. Und seine weitergehende Grundthese ist die, dass Gott nicht irgendwo da draußen ist, sondern in uns, nicht mit unserem Inneren identisch, aber uns innerlicher als wir uns selbst sind, wie er häufig sagt. Das ist sein Programm: <?page no="46"?> „In te ipsum redi - in interiore homine habitat veritas - geh’ in dich selbst zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“ 21 Die beiden Bücher, in denen Augustin diese Einsicht umsetzt, ist sein großes, 14 Bücher umfassendes Werk ‚De trinitate - Über die Trinität‘ und seine ‚Confessiones - Bekenntnisse‘. Wer es, geleitet von den vorangehenden Sätzen, in die Hand nimmt in der Erwartung, nun tiefe Aufschlüsse über sich selbst zu gewinnen, wäre vermutlich enttäuscht. Denn diese Aufschlüsse findet man da, aber es sind Bücher, die sich nur dem achtsamen, langsamen und mitdenkendmeditierenden Leser erschließen. Man braucht Geduld und die Bereitschaft, sich einzulesen nicht nur in die Traditionen, die er voraussetzt, sondern auch in sich selbst: Der ungewohnte Text müsste als Anleitung, sich selbst zu lesen, verstanden werden. Dann wird man im Lesen in der Tat aufgeklärt über sich selbst. Und jetzt kehre ich zum Pilgern zurück. Oberflächlich betrachtet eine Autobiographie, aber eben eine Autobiographie, die ein langes Gebet darstellt, ein Gespräch mit Gott über das Leben des Augustin - immer redet er Gott an, indem er erzählt. Nun nicht aber nur ein langes Gebet, sondern Augustin fragt an mehreren Stellen, warum er eigentlich dieses Buch schreibt und sein Leben beschreibt, und er antwortet: „Wem erzähle ich das? Doch nicht dir, mein Gott, sondern vor dir erzähle ich es […] dem Menschengeschlecht, wie klein auch der Teil sein mag, der auf meine Schriften stößt. Und wozu? Dass ich und wer immer es liest, bedenkt, aus welcher Tiefe man nach Gott rufen kann. Und was ist näher deinem Ohr als ein bekennendes Herz und ein Leben aus dem Glauben.“ 22 Ein Gebet also, das aufmunternden Charakter hat, darauf abzielt, dass der Leser diesen Lebensweg begleitet, sich darin wiedererkennt - und in der Tat: Um einen Weg handelt es sich, und zwar - und damit bin ich wieder beim Thema: um einen Pilgerweg, eine peregrinatio - so nennt Augustin das an der zweiten Stelle, an der er über den Zweck seiner Schrift reflektiert: „Dies ist die Frucht meiner Bekenntnisse, nicht wer ich war, sondern wer ich bin, dass ich dies bekenne nicht nur vor dir […], sondern auch vor den Ohren der glaubenden Menschenkinder, der Genossen meiner Freude und der Schicksalsgenossen meiner Sterblichkeit […] und der mit mir pilgernden, der vorausgehenden und 21 Oeuvres de Saint Augustin 1951, 39 u. 72. Ich zitiere Augustin gemäß der üblichen Bucheinteilung und Abschnittzählung. Eigene Übersetzung. 22 Augustin, Confessiones II, III, 5. Eigene Übersetzung. Für die Confessiones habe ich die zweisprachige Ausgabe von Joseph Bernhard (1964) verwendet. Die Übersetzungen sind aber nur teilweise von dort übernommen, andernfalls von mir. <?page no="47"?> der folgenden und der unmittelbaren Weggenossen […] So möge ich gehört werden.“ 23 Augustin führt ein Selbstgespräch, aber ein Selbstgespräch, das darauf berechnet ist, gelesen und nachvollzogen zu werden. Die Leser, die genauso suchen, wie er, will er einbeziehen in diesen Weg zu sich selbst und zu Gott. Denn diese Bekenntnisse sind eine Autobiographie, die aber unter dem Leitwort eines Weges zu Gott steht. Sie kennen dieses Leitwort wahrscheinlich: „fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te - du hast uns auf dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz in uns, Herr, bis es zur Ruhe kommt in dir, Herr.“ 24 Augustin beschreibt sein Leben in den ersten neun Büchern der Confessiones in der Tat als windungsreichen Weg zu Gott, der mit der Bekehrung in Buch 8 - nicht etwa endet, sondern dann erst in Buch 10 richtig einsetzt mit einer Meditation über das Innere des Menschen und den darin angelegten Weg zu Gott, der die Gestalt einer langen Meditation über das Gedächtnis und das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit hat: „Was also liebe ich, wenn ich meinen Gott liebe? Wer ist er - über dem Haupt meiner Seele? Durch diese meine Seele will ich zu ihm aufsteigen. Ich will hindurch steigen über meine Seelenkraft, mit der ich am Körper hänge und […] ihn […] erfülle. […] Es ist noch eine andere Kraft […] als die ich […] durch die Sinne tätig bin. Und ich übersteige auch diese meine Kraft […], stufenweise aufsteigend zu dem, der mich geschaffen hat […].“ 25 Das ist der innere Aufstieg zu Gott, der beginnt, nachdem der Weg des Augustin zu sich selbst und zu Gott in der Bekehrung an sein Ziel gekommen ist - und Sie merken: Es sind immer Wege, die Augustin beschreibt, Wege, die er selbst als Pilgerwege auffasst - und wir merken: Für Augustin ist das ganz Leben ein Pilgerweg zu Gott. Dem hänge ich noch ein bisschen nach, ich werde nicht den Lebensweg beschreiben, sondern ich greife eine Passage aus dem Anfang des Weges und eine weitere Passage aus der Beschreibung der Bekehrung heraus. Am Anfang beschreibt Augustin seine Kindheit - auch, aber nicht nur mit dem Interesse, zu zeigen, was es bedeutet, dass der Mensch von Geburt an Sünder ist. Das lassen wir einmal auf sich beruhen und wenden uns der Schulzeit Augustins in Thagaste in der Nähe Karthagos zu. Augustin beschreibt da, wie er in der Schule Vergils Aeneis liest, die Beschreibung der Irrfahrten des Aeneas nach dem Untergang Trojas über Karthago, wo die Königin Dido sich in ihn verliebt und er 23 Augustin, Confessiones X, IV, 6. 24 Augustin, Confessiones I, I, 1. 25 Augustin, Confessiones X, VII, 11. u. VIII, 12. <?page no="48"?> lange Jahre seine Reise unterbricht und dort bleibt, bevor Jupiter ihn an seine Aufgabe erinnert und er aufbricht, seiner Bestimmung entgegen, während Dido sich selbst aus Liebeskummer tötet. Und der Leser merkt: Da schattet sich ganz am Anfang des Lebens des Augustin eine Tragödie seines eigenen Lebens ab: die Liebe zu seiner Konkubine, die Sexualität überhaupt ist ein Haupthindernis für seine Hinkehr zu Gott, wie Aeneas in dem Epos Vergils durch eine Liebesbeziehung an der Fortsetzung des ihm vorgezeichneten Weges nach Rom gehindert wird. Und wir merken, dass der Lebensbeschreibung des Augustin, dem Weg in der Zeit, eine Textgattung zugrunde liegt, die tatsächlich einen Weg im Raum, das Leben als auf ein Ziel ausgerichtet beschreibt, nämlich zunächst die Aeneis, und deren Vorbild: Die Ilias, die Erzählung von der Heimfahrt des Odysseus nach der Zerstörung Trojas. Es ist nicht selbstverständlich, die eigene Biographie als Weg zu betrachten und zu entziffern; die zweite Quelle neben den paganen Versepen ist für die christliche Theologie natürlich die Beschreibung der Wege der Patriarchen und des Weges Israels aus Ägypten in das Heilige Land im Alten Testament; im Neuen Testament wird der Weg zum vorherrschenden Muster geschichtlicher Kontinuität nach dem Ende des zweiten im Alten Testament in Anspruch genommenen Kontinuitätsgaranten: der Abstammung. Die abendländische Karriere des Wegmotivs in der christlichen Theologie beginnt bei Augustin, und es beginnt eben nach dem Vorbild eines geographischen Weges. Und diese Verbindung von geographischem Weg einerseits und Lebensweg andererseits, die Deutung des eigenen Lebens als Weg auf ein Ziel hin, durchzieht dann die abendländische Geistesgeschichte bis hin zu Hape Kerkeling - ob er nun Augustins Confessiones gelesen hat oder nicht. Und genau die Bereitschaft, das eigene Leben als Weg im Gehen eines religiös geprägten geographischen Weges zu reflektieren, liegt der Verbindung von Selbstfindungsprozess und Pilgerweg zugrunde, die wir in den folgenden Texten bis hin zu Hape Kerkeling und zur neueren Pilgerbewegung beobachten können. Zurück zu Augustin, ganz kurz noch zur Beschreibung der Bekehrung, das in der Beschreibung der berühmten Gartenszene ausmündet, in der sein Weg zu Gott zu einem vorläufigen Ziel kommt. Augustin hört eine Kinderstimme, die ‚Tolle, lege‘ ruft, ‚Nimm und lies‘, und nimmt das Buch mit Paulusbriefen, das auf einem Tisch herumliegt, und nimmt den ersten Vers, der ihm beim Aufschlagen entgegenspringt, als Weisung für sein Leben. Dieses ‚Tolle, lege - nimm und lies‘ ist die Erlösung aus einem vorausgehenden Zustand des Aufgewühltseins. Er beschreibt, dass ihm im Sinne einer kognitiven Einsicht bereits von seinem neuplatonischen Erbe her die Wahrheiten über Gott und auch über den Logos einsichtig sind. Er beschreibt den Zustand, dass ihm auch einsichtig <?page no="49"?> ist, was von ihm gefordert ist - nämlich die unzweideutige Hingabe des gesamten Lebens an ein Ziel, und das heißt für ihn: die Aufgabe seiner Konkubine, der Verzicht auf die Ausübung seiner Sexualität, das Gelübde der Keuschheit. Was ihm fehlt, so konstatiert er, ist nicht die Einsicht in das, was er soll, sondern er ist unfähig, zu wollen, was er soll. Die eigentliche Wandlung des Willens vollzieht sich in zwei Schritten. Am Anfang steht ein fremdes Bekehrungserlebnis - Augustin beschreibt, wie er zutiefst erschüttert wurde durch die Erzählung von zwei jungen Männern, die nach der zufälligen Lektüre der Vita Antonii, einer Beschreibung des Lebens eines Einsiedlermönchs, den Staatsdienst aufgaben und Mönche wurden. Und er beschreibt die Erschütterung mit folgenden Worten, auf die es ankommt: „Du aber, Herr, hast mich während seiner Worte gewaltsam gegen mich selbst zurückgewendet, mich hinter meinem Rücken hervorholend, wo ich mich niedergelassen hatte, weil ich nicht aufmerken wollte auf mich selbst, und du hast mich vor mein Angesicht gestellt, dass ich sähe, wie schändlich ich sei, wie verdreht und schmutzig […] Und ich sah und erschrak und es gab keinen Ort, an den ich vor mir selbst fliehen könnte.“ 26 Das ist eine ungeheuer kunstvolle Beschreibung, denn in gewisser Weise sind wir alle in unserem Rücken: Unser Gesicht sehen wir nicht, sondern wir sehen mittels unseres Gesichts, stehen also in der Tat gleichsam hinter dem Rücken unseres Gesichts. Augustin beschreibt nicht, dass er sich erstmals sieht, sondern, dass er sich erstmals ins Gesicht sieht. Die emotionale Selbstidentifikation mit den jungen Männern, von deren Entscheidung ihm erzählt wird, führt dazu, dass er sich sieht, den er, wie er schreibt, wohl kannte, aber über den er sich hinwegtäuschte und den er vergaß: „Dann aber, je brennender ich sie [die jungen Männer, die sich bekehrten] liebte, von denen ich hörte, dass sie sich mit gesunder Leidenschaft dir ganz zur Heilung übergeben hatten, desto unsäglicher hasste ich mich selbst im Vergleich mit ihnen.“ 27 Die Bekehrung zu Gott ist verbunden mit einer Selbsterkenntnis, einem negativ wertenden Blick auf sich selbst. Dieser negativ wertende Blick auf sich selbst ist die Kehrseite der Identifizierung mit dem Guten, das ihm in Gestalt der beiden jungen Männer entgegentritt. Derjenige, der emotional vom Guten ergriffen ist - es liebt -, trennt sich von sich selbst, tritt sich selbst gegenüber und sieht sich selbst ins Gesicht. Dieser Zustand der vollendeten, täuschungsfreien Selbsterkenntnis ist ein emotionaler Zustand, den Augustin als Selbsthass zusammenfasst und den wir heutzutage Scham nennen würden. Der Weg zu sich selbst oder der Weg zu Gott, den Augustin, und auf seine Weise auch Hape Kerkeling, beschreibt, ist ein Weg, der zur Trennung von sich selbst führt. 26 Augustin, Confessiones Buch 8, VII,16. Diese Passage habe ich bereits in ähnlicher Weise interpretiert: Vgl. Slenczka 2014; Vgl. Slenczka 2015a. 27 Augustin, Confessiones Buch 8, VII,17. <?page no="50"?> Und genau darum fängt hier auch Augustin an, hemmungslos zu „flennen“, wie Kerkeling schreibt, weil ihm eben die Fähigkeit zur Einheit mit sich selbst zerbricht und er im Angesicht der eigenen Unmöglichkeit nach Erlösung fragt. Und genau aus diesem Weinen erlöst ihn das Lesen des Buches, auf das die Kinderstimme ihn hinweist - tolle, lege - nimm und lies. Das Gelesene macht ihn ruhig. Das weist zurück auf das bereits zitierte Eingangsmotiv, das dem Leser den Schlüssel zu dieser Selbstdeutung an die Hand gibt: „[…] unruhig ist unsere Seele in uns, bis sie ruht in Dir.“ Doch das ist nicht das einzige Verständnis des Pilgerns und der Pilgerfahrt, die uns in der Kirchengeschichte begegnet. Ich hatte ja schon gesagt, dass die Reisebeschreibung der Egeria als „itinerarium - Wegbeschreibung“ firmiert. Von einem der größten franziskanischen Theologen der vorreformatorischen Zeit, dem im 13. Jahrhundert in Paris lehrenden Fakultätskollegen des Thomas von Aquin, Bonaventura, gibt es einen wunderbaren Text, das „itinerarium mentis in Deum - der Pilgerweges des Geistes zu Gott“. 28 Eine Pilgerfahrt des Geistes, in der Bonaventura die Stationen beschreibt, auf denen sich der Mensch auf Gott hinbewegt. Auch hier antikes Erbe: Pate steht der Aufstieg des Geistes zur Idee des Guten und Schönen, den Platon im Symposion und im Dialog Phaidros ebenso beschreibt wie im Höhlengleichnis in der Politeia. Augustin, vom Neuplatonismus zutiefst geprägt, ist auch hier das Brennglas, durch das dies antike Erbe christlich interpretiert und angereichert ins Mittelalter transportiert wurde. Ich beschränke mich auf die Grundzüge dieses Weges, der den Menschen eben gerade nicht auf einen körperlichen Weg, sondern auf den Weg der speculatio, der Betrachtung, geführt wird - aber, so schärft Bonaventura gleich zu Beginn ein: ein innerlicher, aber kein rein intellektueller Weg. Kein Weg des reinen Gedankens, sondern ein innerer Weg, der von religiösen Einstellungen und Gefühlen begleitet und getragen ist, vom Gebet, von Hingabe, von Bewunderung, von Jubel, von Frömmigkeit, von Liebe, von Demut: „Übe dich also, Mensch Gottes, am beißenden Stachel des Gewissens, bevor du die Augen 28 Hier zitiert nach: Bonaventura 1964; Ich zitiere nach der Bucheinteilung. Übersetzungen im Folgenden von mir. <?page no="51"?> hebst zu den Lichtstrahlen der Weisheit, die in seinen Spiegeln wiederscheinen (in speculis relucentes), damit du nicht aus der Betrachtung (ex speculatione) der Strahlen selbst in eine noch tiefere Grube der Finsternis fällst.“ 29 Es ist ein Weg, der in der Außenwelt beginnt und den Menschen dann in sein Inneres führt - denn im inneren Menschen wohnt die Wahrheit, wie Augustin sagt. Die Wahrheit ist aber nicht einfach das Innere des Menschen, sondern - auch das ist eine typisch augustinische Denkfigur: Der Mensch, der sich nach innen kehrt, wird im Inneren über das Innere hinaus geführt zu dem, was dem Menschen innerlicher ist als er selbst: dort wird Gott als das Sein und als das Gute erfasst. Vom Kosmos führt der Weg also in das Innere und von dort zu Gott. Das sind die ersten sechs von sieben Stufen, zwei auf jeder Ebene - und bei denen bleibe ich jetzt erst einmal. Zunächst beschreibt Bonaventura den gesamten Kosmos, die äußere Welt als vestigium, als Fußspur Gottes. In der Schöpfung ist der Schöpfer erkennbar; sie, die Schöpfung, weist über sich hinaus auf ihren Grund. Dann kommt eine zweite Stufe: „Die Spiegelung Gottes in seinen Spuren in dieser Sinnenwelt“ nennt Bonaventura das. Und das ist nun ein genialer Schritt, denn Bonaventura zeichnet nicht einfach nach, dass und wie in den sinnlichen Gegebenheiten sich Gott darstellt, sondern ihm geht es darum, zu beschreiben, wie der Makrokosmos, die äußere Sinnenwelt, durch die Sinne des Menschen eingeht in den Mikrokosmos, das Innere des Menschen. Bonaventura beschreibt, wie die im Inneren des Menschen aufgenommene und geistig bearbeitete Welt Spiegel der Gottheit ist. Jetzt geht es also nicht einfach um die Sinnenwelt, sondern um die vom Menschen erkannte und geordnete Welt der Sinne - sie weist über sich hinaus auf Gott. Das ist deshalb genial, weil damit eben schon der Schritt von der Außenwelt in das Innere des Menschen vollzogen ist. Und dem wendet sich Bonaventura jetzt zu: Nicht nur dem, was der Mensch von der Sinnenwelt wahrnimmt, sondern den Vermögen, mit denen der Mensch die Sinnenwelt wahrnimmt und erkennt. Der Geist des Menschen ist ein Bild des göttlichen Geistes, in dem - das hat er von Augustin - auch die drei Personen der Trinität und ihr Verhältnis zueinander sich darstellen; eine Beschreibung der geistigen Vermögen des Menschen als Bild der Dreieinigkeit. Damit hat sich der Weg des Geistes bereits von der Sinnenwelt verabschiedet, ist hineingegangen erst in das weltbezogene Innere des Menschen, dann in den menschlichen Geist als Teilhabe und Spur des göttlichen Geistes. Und nun wendet sich Bonaventura der Wiederherstellung dieses Geistes durch die Gnade zu - der Wiederherstellung des vollen 29 Bonaventura 1964, prologus 4. <?page no="52"?> Bildes Gottes: „Von der Spiegelung Gottes in seinem Ebenbild, das durch die Gnadengaben wiederhergestellt ist.“ Durch die Gnade wird der Mensch nämlich über sich selbst hinausgeführt, wird, jenem „höheren Jerusalem“ ähnlich, auf das er sich hinbewegt. Und zwar wird er ihm dadurch ähnlich und kann ihm nur so ähnlich werden, dass die göttliche Gnade in sein Herz hinabsteigt. 30 Den Pilgerweg des Geistes zu Gott, die Bewegung des Menschen gibt es nur, wenn und weil Gott sich im Menschen gegenwärtig macht: Durch die Gnadengabe der Liebe ist er dort gegenwärtig, und in der Gnadengabe der Liebe wird er erkannt. Die Bewegung ist damit mitnichten im Ziel; nun wird Bonaventura wirklich spekulativ: „Weil es sich nun ereignet, dass Gott nicht nur außerhalb von uns und in uns, sondern auch über uns betrachtet wird: außerhalb durch die Spuren [in der Schöpfung], innerhalb durch das Bild und über uns durch das Licht, das über unseren Geist gesiegelt ist: das Licht der ewigen Wahrheit, weil „unser Geist unmittelbar von der höchsten Wahrheit geformt wird“; die in der ersten Weise geübt sind, die treten schon ein in den Vorhof vor dem Allerheiligsten; die aber in der zweiten Weise, sind ins Heiligtum eingetreten; die aber in der dritten, treten mit dem höchsten Priester ins Allerheiligste ein […]“ 31 Wir erkennen da, wie Bonaventura sagt, Gott in doppelter Weise: in der Einheit seines Wesens als das Sein, und in der Dreiheit der Personen: als das Gute. Ich entfalte dies nun nicht - es geht hier aber genau darum, dass Gott nicht als separater Gegenstand erkannt wird, sondern zunächst als etwas, was im menschlichen Geist erschlossen ist, als Bedingung der Möglichkeit des menschlichen Geistes. Und dass er erkannt wird als die sich selbst mitteilende Gemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Geistes und so als das Gute, denn das Gute, so sagt Bonaventura mit Dionysius Areopagita, ist das sich-Verströmende, das sich- Mitteilende. Das alles habe ich nur in wenigen Strichen skizziert, um zur letzten Stufe zu kommen, die Bonaventura selbst von allen vorangehenden Stufen abhebt - hier handelt Bonaventura „von dem geistigen und mystischen Fortgang (excessus), indem dem Geist Ruhe gewährt wird, durch den Affekt, der durch den Fortgang von sich selbst ganz in Gott übergeht.“ 32 Dieser Exzessus - Fortgang, Überschritt - ist die Vollendung des ganzes Pilgerweges, und auf den ersten Blick, bei oberflächlicher Lektüre sieht es so aus, als ob Bonaventura als 30 Bonaventura, Itinerarium IV, 4. 31 Bonaventura, Itinerarium V, 1. 32 Bonaventura, Itinerarium V, 1. <?page no="53"?> Ziel des geistigen Pilgerweges eine mystische Erfahrung beschreibe; es geht um einen Verzicht auf alle geistige Tätigkeit, den Verzicht auf jede Aktivität, und um eine Verwandlung der Spitze des Gefühls, des affectus, in Gott selbst. 33 Wie geschieht das? - diese Frage legt Bonaventura dem Leser oder Hörer in den Mund und antwortet, dass es hier nicht mehr um Lehre gehe, sondern um die Gnade, nicht um den Menschen, der etwas tut, sondern um Gott. Und eigentümlicherweise hält er fest: es geht um Dunkelheit, nicht um Licht, dann aber wieder um ein Feuer, das entflammt und zu Gott hinüberführt. Rätselhaft, widersprüchlich - und dann beginnt er, das Rätsel aufzulösen: „Christus ist dorthin hinaufgestiegen in der Glut seines brennenden Leidens, den allein der in Wahrheit wahrnimmt, der sagt: ‚Das Hängen [am Kreuz] hat meine Seele gewählt, und den Tod meine Gebeine.‘ Wer diesen Tod liebt, kann Gott sehen, denn es ist unzweifelhaft wahr: ‚Kein Mensch sieht mich und wird leben.‘“ 34 Das versteht Bonaventura eben so: ‚Nur wer stirbt, wird Gott sehen. Der Tod ist der Weg zur Gottesschau.‘ Und darum fährt er fort: „Sterben wir also und gehen in die Finsternis, legen wir Ruhe der Sorge, den Begierden und den Trugbildern auf; gehen wir mit dem gekreuzigten Christus aus dieser Welt zum Vater [...]“ 35 Das Ziel des geistigen Pilgerweges ist der Tod, nicht irgendein Tod, sondern die Kreuzesnachfolge - und man merkt, dass der geistige Weg, den Bonaventura den Menschen vorher hat gehen lassen, nur eine Vorbereitung ist. Es ist der geistige Weg der Abkehr von der Welt, der Besinnung auf sich selbst, der Ausrichtung auf Gott. Der wahre Pilgerweg fängt dann erst an, es ist der Weg in das Dunkel des Todes, der dann aber nicht als ein schweres Geschick gegangen wird, sondern in der Nachfolge Jesu als ein Weg aus der Welt zu Gott verstanden und begangen wird. Der wahre Pilgerweg, so könnte man Bonaventura zusammenfassen, ist der jeweils eigene Lebensweg, sofern er verstanden wird als Weg der Nachfolge durch den Tod hindurch zu Gott. Das bedeutet - jetzt im Vergleich mit Egeria und ihrem Verständnis des Pilgerns: Die Verhältnisse kehren sich um. Dort, bei Egeria, lag das Heil in der Ferne und in der Vergangenheit; sie zieht in das Heilige Land, weil dort die Wirklichkeit ist, auf die die Schrift und auf die alle Gottesdienste hinweisen. Alles, was sie in Gallien erlebt - ihre Gottesdienste, die Schrift, die sie liest, die verweisen auf die Gegenden des Heiligen Landes und auf die dort gefeierten Gottesdienste - das Heil liegt weit weg, im Osten, und da will sie hin. 33 Bonaventura, Itinerarium VII, 4. 34 Bonaventura, Itinerarium VII, 6. 35 Bonaventura, Itinerarium VII, 6. <?page no="54"?> Hier, bei Bonaventura, vollzieht sich, zweifellos unter dem Einfluss des Augustin, der Pilgerweg als geistiger Vorgang der Besinnung auf sich selbst und auf das Ziel des eigenen Lebens. An diesem Ziel erhält der Christ nun aber nicht Anteil dadurch, dass er sich ins Heilige Land begibt und dort die Stationen des Lebensweges Jesu nachgeht, wie das so eindrucksvoll in der Karfreitagsfeier jedes Jahr in Rom zelebriert wird. Sondern das Kreuz soll auf dieser letzten Stufe des Pilgerweges des Geistes zu Gott im eigenen Leben gegenwärtig werden, es geht darum, dass das Kreuz Jesu zum Modell des eigenen Lebens wird. Nachfolge heißt nicht: im Heiligen Land Stationen des Lebens Jesu abzulaufen, sondern es heißt: im eigenen, unausweichlich in den Tod führenden Lebensweg den Weg Jesu ans Kreuz zu erfahren und den Weg in den Tod als Pilgerweg zum Leben zu verstehen und zu gehen. Das wiederum ist kein unreformatorischer Gedanke. Luther und die anderen reformatorischen Theologen wären von den ersten sechs Stufen des spekulativen Pilgerweges des Bonaventura wenig begeistert gewesen. Luther hätte das vermutlich als falsche Theologie, als theologia gloriae, als Theologie der Herrlichkeit Gottes, als den Versuch also, Gott aus seinen Werken und Wirkungen zu identifizieren, verstanden - als heillosen Weg, so hätte er vermutlich gesagt, weil diese Art der Theologie nie zur Gewissheit der Liebe Gottes führen und trösten kann. Aber dass das jeweils eigene Leben ein Kreuzweg ist, und dass das Leben des Christen selbst ein Pilgerweg durch den Tod zum Leben ist: Da hat nicht nur Luther immer wieder betont, das ist die Quintessenz der theologia crucis, der Kreuzestheologie, die Luther der theologia gloriae, der eben genannten Theologie der Herrlichkeit entgegensetzt. Die erste der berühmten 95 Thesen Luthers stellt fest, dass das ganze Leben des Christen eine Buße sein sollte, und diesen Satz fasst Luther in der Auslegung der Taufe im Kleinen Katechismus zusammen; er fragt: „Was bedeutet denn solches Wassertaufen? “ und antwortet: „Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche [! ] Reue und Buße ersäuft werden und sterben soll mit allen Sünden und bösen Lüsten, und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.“ 36 Die Taufe ist kein einmaliges Ereignis, sondern stellt das ganze Leben unter das Vorzeichen des Weges Jesu ans Kreuz: des Sterbens und der Auferstehung. In genau diesem Sinne ist das Leben des Christen eine tägliche Rückkehr zur Taufe, wie Luther sagt - und nicht nur er. 36 Zu dieser Deutung der Selbsterkenntnis als Zentrum der Reformation vgl. neben den in Anm. 26 genannten Texten noch: Slenczka 2015b, 55-68. <?page no="55"?> Die Reformation hatte Folgen für das Verständnis des Pilgerns. Nicht nur die Folge, dass die wörtlich genommenen Pilgerfahrten in den protestantischen Territorien Europas zum Erliegen kamen, sondern dieses Verständnis des eigenen Lebens als Pilgerweg wird im Protestantismus höchst prominent, und zwar insbesondere bei den spiritualistisch oder baptistisch gesonnenen Gruppen, die den staatlichen Kirchen kritisch gegenüberstanden, in Deutschland insbesondere im Pietismus. Ich greife ein Beispiel aus England heraus, ein Buch, das das Selbstverständnis des Pietismus und der Erweckungsbewegung in Europa, insbesondere in Deutschland, tief beeinflusst hat: John Bunyan(1628-1688), der sich um die Jahrhundertmitte von der anglikanischen Staatskirche trennte und den Baptisten anschloss. In den 1670er-Jahren wurde er auf Betreiben eines Bischofs der anglikanischen Staatskirche wegen seiner Missachtung des Predigtverbots inhaftiert. Während der Haft schrieb er ein Buch, das sich in den folgenden Jahren über ganz Europa verbreitete und das den Titel „The Pilgrim’s Progress from this World to that which is come“ (1675); die Beschreibung des Weges eines Mannes, der auf die Ankündigung hin, dass die Stadt, in der er lebt, von Gott zerstört werde, diese Stadt verlässt und sich aufmacht, um das verheißene Zion zu suchen - Noah steht hier Pate. Bunyan kleidet diesen ersten Teil ebenso wie den zweiten, in dem er den entsprechenden Weg der Frau des Pilgers beschreibt, in die Rahmengeschichte eines Traums, in dem der Ich-Erzähler diese Pilgerfahrt mitverfolgt. Er will damit darauf hinweisen, dass es sich nicht um eine wörtlich zu nehmende Lebensbeschreibung, sondern um eine allegorische Darstellung nicht des Lebens eines bestimmten, sondern jedes Christen handelt; entsprechend heißt der pilgernde Held des ersten Teils Christian. Der Pilger trifft auf seinem Weg Weggefährten und sehr unterschiedliche Antagonisten mit ebenfalls sinnbefrachteten Namen - Hopeful, the Sheperd, the giant despair - der Riese Verzweiflung, und so fort. Der ganze Weg ist eine beständige Auseinandersetzung mit meistens inneren Gegenmächten, die als Personen auftreten - der Verzweiflung, dem Gewissen, dem Gesetz - oder mit Repräsentanten von anderen christlichen Strömungen - dem Vertreter der Amtskirche, dem frommen Schwätzer, dem Atheisten etc., gegen die sich der Pilger mithilfe von Wegbegleitern, Schriftworten, erinnerten Mahnungen, die er im Laufe des Pilgerweges erhielt, bewähren muss. Der Pilgerweg endet schließlich am Ufer eines tiefen Stroms, einer Allegorie des Todes, ein Fluss, den der Pilger und sein Begleiter Hopeful durchqueren müssen. Sie gehen auf dem Wasser, was Hopeful gelingt, während der Pilger zu sinken und zu verzweifeln beginnt, eine bewegende Beschreibung der Todesangst, aus der nur der Zuspruch des Hopeful ihn rettet. <?page no="56"?> Der Pilgerweg kommt zu seinem Ziel: der Aufnahme des Pilgers in das Paradies, und Bunyan schließt mit den Worten: „So I awoke, and behold it was a dream - so erwachte ich und siehe, es war ein Traum.“ 37 Nur ein Traum - und Bunyan fordert in einem Schlussgedicht seine Leser auf, die Beschreibung auch als Traum zu behandeln, als Wahrheit in Bildern, die es nicht wörtlich zu nehmen, sondern auf ihre Substanz hin zu entschlüsseln gilt. 38 Die Beschreibungen sind typische Situationen des Christenlebens, sollen dazu helfen, dass sich ein Christ mithilfe der allegorischen Gestalten, Begegnungen und Gespräche das eigene Leben deuten und es als Weg zum himmlischen Jerusalem, als Weg zu Gott verstehen und auslegen kann. Hochgestochen ausgedrückt: Das Buch ist sozusagen eine Anleitung zur religiösen Hermeneutik des eigenen Lebensvollzuges, in dem die positiven Weggefährten und die Antagonisten, die dem Pilger Christian begegnen, identifizierbar sind. Das Besondere an diesem Pilgerweg liegt aber darin, dass Bunyan nicht den Versuch unternimmt, diesen Weg als Nachfolge Christi zu zeichnen, sondern er zeichnet ihn als individuellen Lebensweg, in dem zwar typische Situationen auftauchen, die nach Bunyan jeder Christ in jeweils seinem Leben identifizieren kann. Aber die Form, die Bunyan wählt, ist die der religiösen Deutung einer individuellen gegenwärtigen Biographie, die für den Leser zum Modell der Deutung des eigenen Lebens werden soll. Bunyan bietet ein Itinerar des individuellen Lebensvollzugs, das zum Identifizieren von Gefahren und Hilfen zum Bestehen des Lebens anleitet. Die Pilgerschaft ist kein Weg in die Ferne, auch nicht eine meditative Versenkung, sondern die Pilgerfahrt ist das jeweilige individuelle Leben selbst. Hape Kerkeling ist, das wissen Sie alle, 2001 nach Santiago de Compostela gepilgert. Diese „Reise auf dem Jakobsweg“ hat er in einer Art Tagebuch beschrieben, in der Wegbeschreibungen, Begegnungen mit hilfreichen oder hinderlichen Weggefährten und innere Reflexionen aufbewahrt sind. Gewiss handelt es sich nicht um eine 1: 1-Wiedergabe des Tagebuches, das Kerkeling auf diesem Weg schrieb. Aber das Buch folgt den Wegstationen und zeichnet eine Entwicklung nach, die sich auf diesem Weg an Hape Kerkeling vollzieht. 37 Bunyan 2008, 154. 38 Bunyan 2008, 155. <?page no="57"?> Ich, beginne mit dem Anfang und frage nach der Motivation, die den Katholiken Kerkeling auf den Gedanken bringt, diese Wallfahrt zu unternehmen: „In meinem […] Reiseführer […] steht, dass Menschen sich seit vielen Jahrhunderten auf die Reise zum Heiligen Jakob machten, wenn sie, wörtlich und im übertragenen Sinn, keinen anderen Weg mehr gehen können.“ 39 Genau so beschreibt sich Kerkeling: Physisch ausgelaugt, diagnostiziert er einen gerade überstandenen Hörsturz als Folge der Weigerung, auf seine innere Stimme zu hören, die ihn zum Pausieren mahnt. Durch Zufall fällt ihm in einer Buchhandlung ein Buch mit dem Titel „Jakobsweg der Freude“ in die Hände bzw. vor die Füße und motiviert ihn, die notwendige Auszeit auf dem Weg nach Santiago zu zelebrieren. Die im Buch empfohlenen magischen Auszeichnungen des Weges - Stichwort Energiebahnen - ironisiert er; ihn reizen auch nicht die Gnadengaben, die er in Santiago erwerben kann: „Wer nach Santiago pilgert, dem vergibt die katholische Kirche freundlicherweise alle Sünden.“ Wir haben schon gesehen, dass das nicht stimmt, aber darauf kommt es auch nicht an, denn Kerkeling fährt fort: „Das ist für mich nun weniger Ansporn als die Verheißung, durch die Pilgerschaft zu Gott und damit auch zu mir zu finden. Das ist doch einen Versuch wert! “ 40 Es ist also nicht irgendeine postmoderne Energiegläubigkeit oder die offizielle Lehre der katholischen Kirche, die den durchaus kirchenkritischen Katholiken Kerkeling motiviert, sondern es ist diese Frage nach sich selbst, die am Anfang des Weges steht, der er sich aufgedrängt sieht, wenn er beschreibt, wie er am Abend vor dem Loswandern zwei Plakaten einer Telekommunikationsfirma begegnet, deren erstes ihn fragt: „Wissen Sie, wer Sie wirklich sind? “ (und er antwortet: „Nein, pas du tout! “); und die zweite Anzeige grüßt ihn mit „Willkommen in der Wirklichkeit“. Der Weg nach Compostela ist die Wirklichkeit, und zugleich ein Weg zu sich selbst. Und in der Tat: in einer längeren Reflexion am Ende des ersten Kapitels lässt sich Kerkeling von der Frage ‚Ist ein Gott‘ zur Frage ‚Wer ist Gott, oder wo oder wie‘ weiterverweisen und schließlich dahin, dass die Frage nach Gott voraussetzt, dass er, Kerkeling, sich erst einmal über sich selbst klar wird: „Nur: Wer sucht denn hier eigentlich nach Gott? Ich! Hans Peter Wilhelm Kerkeling, 36 Jahre, Sternzeichen Schütze, Aszendent Stier, Deutscher, Europäer, Adoptiv-Rheinländer.“ Er zählt viele seiner Lebensrollen auf und fährt dann fort: „Anscheinend weiß ich ja nicht mal so genau, wer ich selbst bin. Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist? Meine Frage muss also erst einmal ganz bescheiden lauten: Wer bin ich? [...] Also gut - als erstes suche ich nach mir; dann sehe ich weiter. Vielleicht habe ich Glück und Gott wohnt gar nicht so weit weg von mir.“ 41 39 Kerkeling 2013, 13. 40 Kerkeling 2013, 15. 41 Kerkeling 2013, 22. <?page no="58"?> Was hier klingt wie eine Abkehr von der Frage nach Gott, ist in Wahrheit ein uraltes christliches Motiv, das auch Luther von Bernhard von Clairvaux gelernt hat und das zu den Grundeinsichten nicht nur der Reformation gehört: Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis gehören zusammen. Aber während beispielsweise Zwingli (De vera et falsa religione) und Calvin (Institutio 1559) die Gotteserkenntnis als den Weg zur Selbsterkenntnis betrachten, 42 gehen Bernhard von Clairvaux, dem Luther das Prädikat ‚divus - der Göttliche‘ zubilligt, und Luther selbst den umgekehrten Weg: Gotteserkenntnis gibt es nur durch Selbsterkenntnis, oder, wie beide unisono sagen: Selbsterkenntnis ist Gotteserkenntnis. Darauf ist hier auch Hape Kerkeling gekommen. Ein mystisches Motiv also; und es tut sich die Vermutung auf, dass Pilgern und Mystik etwas miteinander zu tun haben könnten. Fügung Zunächst einmal beschreibt Kerkeling immer wieder Situationen, die wie eine Fügung wirken - ich habe bereits den ihm vor die Füße fallenden Reiseführer, der den Auslöser für die Pilgerfahrt darstellte, genannt, auch die Werbeplakate, durch die er sich zur Selbsterkenntnis aufgefordert fühlt. Man könnte die wiederkehrenden Begegnungen mit den Mitwanderern nennen, die häufig genau zur rechten Zeit auftauchen; oder den Kellner, der vor ihm steht, als er wieder einmal aufgeben will, und ein T-Shirt trägt mit der Aufschrift ‚Keep on running‘ … „ich nehme das umgehend als Befehl […]“ 43 Meine Lieblingspassage ist eine Stelle, an der Kerkeling beschreibt, wie er sich vollständig verläuft und dabei einen Donna-Summer-Titel vor sich hin singt, der mit der Wendung „[…] don‘t be afraid“ endet; er beschreibt, wie er sich treiben lässt, ohne einen Weg zurück zu suchen. Und dann, gerade, als er wieder umkehren will, sieht er ein verbeultes Verkehrsschild, an das ein kleiner, halb verhungerter Hund gebunden ist - und das Schild ist ein Stopp-Zeichen, „das kaum noch als solches erkennbar ist.“ 44 Hier ist der Abweg zu Ende, das war sein Sinn: die Rettung des kleinen Hundes. Immer wieder beschreibt Kerkeling solche Situationen, in denen das Kontingente mit Sinn erfüllt ist, eine Mischung aus Zufall und Fügung, in der er so etwas wie eine lenkende Hand zu erkennen scheint. Gewiss: Er ist von vornherein religiös musikalisch und gesteht sich das auch zu 45 - aber es ist zugleich dieser Jakobsweg, der ihn für den Sinn im Zufälligen empfänglich zu machen scheint, dies ganz unaufdringlich und unwillkürlich: „Seitdem ich losgelaufen bin, habe ich den Eindruck, dass sich starre, alte Muster in mir allmählich lö- 42 Vgl. dazu die in Anm. 26 und 36 genannten Texte. 43 Kerkeling 2013,115. 44 Kerkeling 2013, 283. 45 Kerkeling 2013, 20f. <?page no="59"?> sen. Ich werde durchlässiger, wie mein Rucksack. Und erlaube es meinen Gedanken, für die ich sonst gar keine Zeit habe, einfach mal aufzusteigen.“ 46 Natürlich kennt man das - wenn man aus der Beanspruchung durch den Beruf heraustritt und plötzlich Zeit hat für die Gedanken, die sonst verdrängt werden. Aber der Pilgerweg gibt diesen Gedanken eine Richtung. So gewinnen für ihn die Störche, die auf Kirchenkreuzen nisten, eine metaphorische Bedeutung, sprechen ihn an: „Die Zeichen für Tod und Geburt friedlich nebeneinander vereint. Nur das Kreuz, das Zeichen des Todes, gibt dem Storch, Symbol für die Geburt, hier die Möglichkeit, sein Nest in schwindelerregender Höhe zu errichten. Vielleicht lässt sich daraus auf eine enge Verwandtschaft und gegenseitige Abhängigkeit der beiden grundlegenden Erfahrungen im Leben eines Menschen schließen.“ 47 Es ist also nicht gleichgültig, dass er genau diesen Weg und nicht etwa den Rennsteig entlangwandert, denn dieser Weg weckt durch die alten Symbole, die ihn säumen, besondere Gedanken - der Kreuzgang in Carrión del los Condes: „Beim Spazieren durch den großen menschenleeren Kreuzgang kommt mir wieder in den Sinn, dass auf dem Jakobsweg die Außenwelt oft mein Innenleben widerspiegelt […] Also frage ich mich: ‚Welche Bedeutung hat der Kreuzgang dieses Klosters für mich? Was erzählt er mir über mich? ‘“ Und er sieht auf der Säule vor sich einen Totenkopf: „[…] Ich kann hier also über das Sterben und den Tod nachdenken? Mein Blick geht hinauf zur großen Turmuhr, sie steht. Die Zeit steht hier also. Ich kann mir also Muße zum Meditieren nehmen.“ 48 Und es beginnt eine Meditation über den Tod, die ihn dann in die Kirche führt und in die Betrachtung eines Crucifixus mündet, durch die er sich wieder auf die Einheit von Tod und Leben gestoßen fühlt. Das sind zwei Themen, die die Wegbeschreibung durchziehen und die immer wieder miteinander verwoben sind. Gedanken und Gespräche über den Tod und Gespräche und Gedanken über Gott durchdringen sich: die beiden Tabuthemen, die auf diesem religiös konnotierten Weg mit eigentümlicher Selbstverständlichkeit emporsteigen und sich aufdrängen, und zwar nicht durch das Mittel irgendwelcher kunst- oder religionsgeschichtlichen Informationen, sondern dadurch, dass auf diesem Weg so etwas wie eine religiöse Atmosphäre herrscht, beständige Anstöße, die das in anderen Lebenszusammenhängen Außergewöhnliche - das Reden über Gott - als selbstverständlich erscheinen lässt. 46 Kerkeling 2013, 45. 47 Kerkeling 2013, 96. 48 Kerkeling 2013, 143. <?page no="60"?> Ich wende mich jetzt den Reflexionen über Gott zu - sie sind enger mit den Gedanken über den Tod verbunden, als ich hier darstellen kann. „Evi räuspert sich und stellt beherzt eine Frage in die Runde: ‚Hat Gott eigentlich auf dem Weg mit euch gesprochen? ‘ […] Sheelagh ist die Erste, die sich traut, und sagt knapp, aber überzeugend: ‚Sure he did! ‘ […]“ 49 Und Kerkeling beschreibt das Unbehagen bei dieser Frage einerseits und die zwanglose und unverklemmte Selbstverständlichkeit dieses Gesprächs, das vermutlich in nur wenigen sonstigen Lebenszusammenhängen denkbar wäre, andererseits: „[…] die Selbstverständlichkeit, mit der diese wundervollen und intelligenten Frauen hier über sich und Gott reden, ist nicht verrückt, sondern ansteckend und beeindruckend. Sheelagh scheint meine Skepsis und Unbehaglichkeit zu riechen: ‚Have trust. Vertraue dir und vertraue Gott, denn das ist das einzige, was er von dir will. Dein Vertrauen! ‘“ 50 Natürlich ist das nicht einfach der Niederschlag der Gedanken Kerkelings in der erzählten Situation, sondern die damalige Situation wird nachträglich und unter Einbeziehung der Leser seines Berichtes und unter Einbeziehung der Selbstverständlichkeiten ihrer Lebenswelt geschildert. In der thematisierten „Skepsis und Unbehaglichkeit“ wird dieser Außenperspektive und dem Unselbstverständlichen dieses Gesprächs Rechnung getragen. Zugleich aber wird in der Charakterisierung der Frauen („wundervoll und intelligent“) und in der Charakterisierung der Situation („ansteckend und beeindruckend“) eine Sehnsucht nach genau solchen wirklich ernsthaften Gesprächen markiert. Häufiger, viermal, kommt es auf dem Weg mit zunehmender Intensität zu Gesprächen über Gott, bezeichnenderweise immer mit Frauen aus unterschiedlichsten Kontexten und religiösen Affiliationen. Die religiöse Stimmung hat in der Bezugnahme auf das Kreuz und im Interesse an der Leidensbewältigung durchaus christliche Züge, ist aber insgesamt eher buddhistisch geprägt, insbesondere in den Passagen, in denen Kerkeling schließlich seine eigene Begegnung mit Gott mehr andeutet als beschreibt. Das will ich zuletzt noch in Erinnerung rufen. Bekehrung Lange zuvor hatte ihm eine Weggefährtin gesagt: „Irgendwann fängt jeder auf dem Weg an zu flennen. Der Weg hat einen irgendwann so weit. Man steht einfach da und heult. Du wirst sehen! “ 51 150 Seiten oder 12 Tage später ist es so weit. Kerkeling beschreibt, wie er schweigend hingeht und es ihm gelingt, 49 Kerkeling 2013, 218. 50 Kerkeling 2013, 218. 51 Kerkeling 2013, 95. <?page no="61"?> nach einigen Kilometern endlich auch den Strom der Gedanken, die ihm zusammenhanglos, aber störend durch den Kopf gehen, abzustellen: „[…] ich […] denke einfach nichts mehr.“ Er geht ohne Gedanken, sagt er, nimmt die Dinge ungefiltert und ohne Wertung wahr - ein Motiv fernöstlicher Religiosität. „Alles wird eins: mein Atem, meine Schritte, der Wind, der Vogelgesang, das Wogen der Kornfelder und das kühle Gefühl auf der Haut. Ich gehe in Stille.“ Nichts beeindruckt ihn: „Diese totale Abwesenheit von Druck ist ein barmherziger Zustand. Er bringt keinen Spaß, aber auch kein Leid mit sich.“ Die großen Mystiker, auch die christlichen, nennen diesen Zustand die Gelassenheit, das Loslassen der Welt und die Besinnung auf sich selbst als Grund der Welt. Und erst rückblickend am anderen Tag zitiert er noch einmal die Ankündigung seiner Weggefährtin („Man steht einfach da und heult“) und berichtet: „Bei mir war es gestern so weit. Ich stehe mitten in den Weinbergen und fange aus heiterem Himmel an zu weinen. Warum, kann ich nicht sagen […] Ja, und dann ist es passiert! Ich habe meine ganz persönliche Begegnung mit Gott erlebt. ‚Yo y Tú‘ war die Überschrift meiner Wanderung und das klingt für mich auch wie ein Siegel der Verschwiegenheit. In der Tat, was dort passiert ist, betrifft nur mich und ihn. Aber an der Wand der Grundschule standen drei Worte: ‚Ich und Du‘. Die Verbindung zwischen ihm und mir ist nämlich etwas Eigenständiges.“ 52 Das Motiv des Weinens ist uns bei Augustin im Rahmen seines Bekehrungsberichtes bereits begegnet. Berichte von Bekehrungserfahrungen insgesamt sind mit intensiven emotionalen Zuständen verbunden. Und diese Erfahrung des Loslassens und Weinens erschließt nach Hape Kerkeling den Sinn des Pilgerns. Kerkeling reflektiert nämlich im Folgenden die Situation, in die er sich mit dem Entschluss zum Pilgern begeben hat: Die Gottesbegegnung, so sagt er, setzt eine Einladung an Gott voraus, „denn ungebeten kommt er nicht“. Der Jakobsweg ist, scheint er sagen zu wollen, eine solche Einladung: „[…] das Hin und Her in meiner Gefühlswelt auf dem Camino ergibt plötzlich einen klaren Sinn. Durch alle Emotionsfrequenzen habe ich mich langsam auf die eine Frequenz eingetunt und hatte einen großartigen Empfang. Totale gelassene Leere ist der Zustand, der ein Vakuum entstehen lässt, das Gott dann entspannt komplett ausfüllen kann. Also Achtung! Wer sich leer fühlt, hat eine einmalige Chance im Leben. Gestern hat etwas in mir einen riesigen Gong geschlagen. Und der Klang wird nachhallen. Früher oder später erschüttert dieser Weg jeden in seinen Grundfesten.“ 53 52 Kerkeling 2013, 240f. 53 Kerkeling 2013, 241. <?page no="62"?> Ich habe diese im Vorangehenden besprochene Schlüsselpassage des Buches darum etwas ausführlicher bedacht, weil sie eben nicht nur ein Erlebnis Kerkelings beschreibt, so scheint mir, sondern insgesamt die Motivation zum Pilgern und die Wirkung dieses Weges erschließt: Der Pilgerweg wirkt nicht automatisch, durch den bloßen Vollzug und weil er irgendwie mit heiliger Energie gefüllt wäre. Wer sich darauf einlässt, ist aber auch nicht einfach ausgebrannt und erholungsbedürftig, sondern, wie Kerkeling, bereits religiös bewegt und auf der Suche. Das Gehen eines Pilgerweges hat von vornherein eine religiöse Dimension, die in der Mystik mit ‚Abkehr von der Welt‘ beschrieben wird, die in Kerkelings Sprachgebrauch als Frage nach sich selbst gefasst ist, eine Frage, die dem Verdacht entspringt, sich verloren zu haben oder sich fremd geworden zu sein, nicht mehr zu wissen, wer man in den vielen Rollen des Lebens eigentlich ist. Diese soziologisch vermutlich zutiefst bürgerliche Frage nach sich selbst ist begleitet von einer Offenheit, die Wirklichkeit als Zeichen, als Anrede, als beständigen Anlass zur Selbstreflexion wahrzunehmen. Pilgerwege und deren Gestalter sollten diese Haltung voraussetzen und in der Gestaltung solche Anregungen bieten, die allerdings - das scheint mir wichtig - nicht einfach absichtsvoll und pädagogisch gesetzt sein dürfen. Es sind die alten, überkommenen Kreuze, die zum Auslöser der Reflexion werden, die Kirchräume - aber eben auch ein Graffiti an einer Grundschule, Werbeplakate oder an einer Stelle auch ein eigentümlich bezugsloses Gedicht auf einem Plakat am Wegrand. Die religiöse Offenheit findet ihre Motive, das, was sie in Bewegung bringt - man muss sie nur ermöglichen, indem man solche Motive anbietet oder freilegt. Damit habe ich Texte vorgestellt, die unterschiedlicher nicht sein können, und die doch relevant sind für einen christlichen, einen protestantischen Umgang mit dem Pilgern. Zuletzt bei Hape Kerkeling wurde sichtbar, welche Motivation der neueren Pilgerbewegung zugrunde liegt - eine Motivation, die sich nicht einfach dem Zeitgeist verdankt, sondern die den Spuren der Deutung des Pilgerns in der theologischen Vergangenheit seit dem Pilgerbericht der Egeria nachgeht: ein Interesse an sich selbst und der, durch Burn-out-Phänomene verstärkte, Eindruck der Selbstentfremdung. Dieses sicher psychologisch und soziologisch noch weiter aufklärbare Unbehagen schafft eine gewisse Bereitschaft zur Besinnung auf religiöse Traditionen, die möglicherweise biographisch christlich vorgrundiert sind, die aber auch bei Hape Kerkeling Grundzüge <?page no="63"?> aufweisen, die man eher in fernöstlichen Religionsformen vermuten würde. Also: Es ist mitnichten so, dass das Pilgern ein katholisches Relikt ist, das im Protestantismus nichts verloren hat. Das liegt daran, dass Pilgern vieldeutig ist - es kann, wie bei Egeria, das Aufsuchen von Orten besonderer Heiligkeit und Gottesnähe sein in der Meinung, dass man dort Gott näher wäre als anderswo. Ich habe diesem Verständnis des Pilgerns Augustin konfrontiert. Der Lebensweg wird hier als Pilgerweg verstanden, als Weg zu Gott, dessen Beschreibung die Leser zur entsprechenden Deutung des eigenen Lebens anregt. Von ihm beeinflusst ist Bonaventuras „Itinerarium - Reisebuch“: Das Pilgern als ein geistiger Vollzug der Besinnung auf sich selbst und auf das Ziel des Lebens, der einmündet in die Deutung des eigenen Lebens unter dem Zeichen des Kreuzes. Pilgerschaft ist dann Kreuzesnachfolge, Deutung und Gestaltung des eigenen Lebens als Weg durch den Tod zum Leben. Und schließlich kann, wie bei Bunyan, die Pilgerschaft die Signatur des individuellen Lebens sein, das als Weg zu einem Ziel, als Bewegung vom Vergänglichen zum Unvergänglichen verstanden und erfahren wird. Kurz: Pilgern hat nach christlichem Verständnis mit Selbsterkenntnis zu tun. Sinnvollerweise nicht daheim auf dem Sofa, da liegt die Fernbedienung des Fernsehers zu nah - all die Medien, die Mittel, mit denen wir uns ablenken, zerstreuen, statt uns zu sammeln und in uns zu gehen. Darum ist man dann mal weg. Schließlich Hape Kerkeling. Bei ihm werden alle diese klassischen Motive aufgenommen und zu einer Einheit verschmolzen. Kerkeling beschreibt, wie der alte Weg nach Santiago mit seiner ehrwürdigen Geschichte und Tradition ihn in Beschlag nimmt und er sich auf den Weg der Begegnung mit sich selbst und auf den Weg der Begegnung mit Gott gestellt sieht. Es ist ein höchst zurückhaltendes und nicht vereinnahmendes, auch nicht mit Eindeutigkeit spezifisch christliches Buch. Aber Kerkeling beschreibt, wie auf diesem Weg die gewohnten Routinen durchbrochen werden und er sich in einen Dialog einbezogen sieht, plötzlich beginnt, ganz anders über sich selbst nachzudenken, die Stationen und Erlebnisse dieses Weges und seines Lebens insgesamt als Führung und als Gespräch zu lesen. Ich erinnere an die Stelle, an der Kerkeling, ohne das eigentlich zu wollen, vom Weg abgeht und zu einem Hund, der mitten in der Landschaft an einen Pfahl angebunden ist, gelangt, den er dann rettet. Und kommentarlos notiert Kerkeling, dass dieser Pfahl ein Stopp-Schild ist, „das kaum noch als solches zu erkennen ist“ 54 ; und ohne dass Kerkeling es ausdrücklich sagt - oder gerade weil er es nicht sagt - schwingt die Frage mit, wer denn hier mit einem uralten Schild in der Gegenwart und im Angesicht des Hundes stopp sagt. 54 Kerkeling 2013, 283. <?page no="64"?> Im Grunde genommen ist hier zunächst einmal das Motiv präsent, dass auf diesem Weg nach Santiago di Compostela eine religiöse Tradition entfremdend in die Gegenwart hineinragt und identifizierbar ist. Eine Legende, ein ausgetretener Weg, Kirchengebäude an Wegstationen, Steine und Flurkreuze ragen als Zeugen der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Wer den Pilgerweg geht, der gibt sich dieser Entfremdung hin, löst sich aus seinen gewohnten Zusammenhängen schon dadurch, dass er zu Fuß geht, und setzt sich dieser Tradition aus. Nun geht es aber nicht darum, dass dort, in der Ferne, Gott näher ist als daheim, sondern es geht darum, dass dieser Weg zum Anlass der Reflexion wird. Kerkeling beschreibt, wie das eigene Leben zum Gegenstand des Befremdens wird: Wenn es gut geht, muss sich das Selbstverständliche des eigenen Lebens dem neuen Selbstverständlichen dieses alten Weges aussetzen und daran messen lassen. Und wenn es noch besser geht, wird diese Reflexion des eignen Lebens aufgenommen in die Begegnung mit der alten Tradition, die, wenn es dann wirklich sehr gut geht, sich als Hilfe zum Umgang mit dem eigenen Leben erschließt. Nicht nur die alte Tradition schafft das übrigens, sondern, wie bei Bunyan, die Begegnung mit vielen Mitpilgerern, die als Mitspieler, Helfer, Antagonisten wirken und immer wieder den Pilger zur Besinnung auf sich selbst bringen, ihm beispielsweise, wie bei Bunyan, Worte mit auf den Weg geben, denen er im Laufen nachhängt und die ihn sich selbst erschließen. Und darin sehe ich durchaus eine Chance, die sich mit dem unbestreitbaren Boom des Pilgerns verbindet: Dass auf Pilgerwegen deutlich wird, dass der christliche Glaube an Gott auch nach protestantischem Verständnis etwas mit der Reflexion des eigenen Lebens zu tun hat, und dass die Aussagen des christlichen Glaubens nicht einfach ein statisches weltanschauliches Gehäuse umreißen. Sondern sie stellen wesentlich Selbstdeutungsangebote dar, die, würde ich sagen, eine andere Gestalt haben, als diejenige, die sie bei Hape Kerkeling gewinnen, die aber in den Selbstdeutungskrisen, die hinter dem Pilgerboom stehen, ein tragfähiges Angebot formulieren können, mit dem sich leben und sterben lässt. Und das wäre auch die Aufgabe bei der Gestaltung eines solchen Pilgerweges: Dass der Pilgerweg das unaufdringlich leistet, dass er die in die Gegenwart hineinragenden Zeugen der Vergangenheit - Weg, Kirchen, Pilgerstätten, Kloster, Wegmarken mit einer Geschichte - so erschließt, dass sie zum Anlass des Nachdenkens über das eigene Leben werden. Wenn sich auf diese Weise die Lebensdeutungskraft des christlichen Glaubens in der Gestaltung eines Weges erschließt, einführt - wie das bei Kerkeling geschieht - in die vergessenen und immer wieder übersprungenen und totgeschwiegenen großen Themen von Tod <?page no="65"?> und Trauer und Glück und Verlust und Schuld: Dann kann ein Pilgerweg genau das leisten, was die Verkündigung leisten sollte und doch nur selten erreicht. Vielleicht der klassische Fall von: Wenn die Jünger schweigen, werden die Steine reden (Lk 19,40). Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche (1930): Martin Luther, Kleiner Katechismus, Taufe. Göttingen. Bernhard, J. (1964): Augustin. Confessiones. München. Bunyan, J. (2008): The Pilgrim’s Progress. Oxford. Bonaventura (1964): Opera selecta V. Florenz. Gerland, M. (2009): Faszination Pilgern. Eine Spurensuche. Leipzig. Heiser, P. u. a. (Hg.) (2012): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg. Münster. Kerkeling, H. (2013): Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. München. Lehner, C. (2016): Wege und Ziele in vergleichender Perspektive - das mittelalterliche Europa und Asien. Stuttgart. Lehner, C. u. a. (Hg.) (2014): Unterwegs im Namen der Religion. Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen. Stuttgart. Luther, M. (1520): Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Dt-dt. Studienausgabe I (2012). Leipzig. 277-315. Oeuvres de Saint Augustin (1951): De vera religione. Paris. Ohler, N. (2000): Pilgerstab und Jakobsmuschel. Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit. Düsseldorf. Röwekamp, G. von (Hg) (1995): Egeria. Itinerarium. Fontes Christiani. Freiburg. Slenczka, N. (2015a): Reformation und Selbsterkenntnis. In: GuL 30 (2015). 17-42. Slenczka, N. (2015b): Theologiae proprium subiectum est homo … (Luther). Shifts in the Structure of Theological Systems in the Wake of Reformation. In: Eusterschulte, A. et al. (Hg.) (2015): Anthropological Reformations - Anthropology in the Era of Reformation. Göttingen. 55-68. Slenczka, N. (2014): Cognitio hominis et Dei. Die Neubestimmung des Gegenstandes und der Aufgabe der Theologie in der Reformation. In: Schilling, H. (Hg.) (2014): Der Reformator Martin Luther 2017 - eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme. München. 205-229. <?page no="67"?> Eine direkte Verknüpfung von Kirche und Tourismus liegt nicht unbedingt auf der Hand, wenngleich die Kirchen in puncto Reisen schon immer aktiv waren. Pilgerreisen und Reisen zu Sehenswürdigkeiten mit kirchlichem Hintergrund sind in Deutschland aus den Reihen der traditionellen Kirchengemeinden ebenso bekannt wie die Reisen mit den Gemeindejugendlichen zur Vorbereitung auf die Erstkommunion oder die Konfirmation. Neu hingegen scheinen die Bemühungen der Kirchen, sich auch außerhalb von klassischen Gemeindetätigkeiten oder Kirchenangelegenheiten dem Tourismus zu widmen. Als Beispiel <?page no="68"?> hierfür sei das Engagement der Kirchen in Urlaubsorten oder Freizeitparks zu nennen. 55 Ebenfalls noch recht neu erscheint das steigende Interesse am Thema Spiritualität bei gewerblichen Reiseveranstaltern und Tourismusdestinationen, die bisher nicht für kirchliche, religiöse oder spirituelle Angebote bekannt waren. Diese Veränderungen können als Indizien dafür gesehen werden, dass Spiritualität und Religion als Reisemotive eine immer breitere Bevölkerungsschicht ansprechen sollen und nicht mehr nur an Kirchen- und Gemeindemitglieder gerichtet sind. Innerhalb der hier vorliegenden Betrachtung zum spirituellen Reisen wird die Urlaubsaktivität Wandern in den Fokus gestellt - aber ohne dabei auf Hinweise zu anderen Urlaubsformen zu verzichten. Jedoch gerade beim Thema Wandern kommen elementare Umstände zusammen, die einen Erklärungsansatz für eine sich ausbreitende „neue Spiritualität“ liefern können: das Zusammenspiel der Aspekte Spiritualität, Natur und Wandern. Das Gehen in der Natur ruft bei vielen Menschen Gefühle hervor, die mit „Freiheit, Durchatmen, die Seele baumeln lassen oder zu sich selbst kommen“ zu beschreiben sind. Die direkte Konfrontation mit der Natur erlaubt es, dem zumeist starren Korsett des technisierten, kultivierten und betriebsamen (Arbeits-)Alltags zu entfliehen. Die Natur unterliegt einer Art „höherer Ordnung“, die nicht von Menschenhand geschaffen ist oder vom Menschen bedingungslos kontrolliert werden kann. Vielmehr wird in der Natur deutlich, dass es eine höhere Ebene der Schöpfung geben muss, wie auch immer man diese zu benennen vermag. Der Begriff Spiritualität ist eine Ableitung des Wortes spiritus (= der Geist). Aus diesem Ursprung lässt sich sowohl die Geistlichkeit (im Sinne einer religiösen 55 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bietet z. B. ein umfassendes kirchliches Angebot an Urlaubsorten an und der Europapark in Rust beschäftigt seit 2005 eigene Kirchenseelsorger, die Gottesdienste und Gespräche für Besucher anbieten. 56 Eigene Darstellung. <?page no="69"?> Frömmigkeit) als auch die Geistigkeit (u. a. im Sinne der philosophischen Betrachtungen des Seins) ableiten. Während Letzteres eng verknüpft ist mit dem derzeit vielfach verwendeten Begriff der Achtsamkeit, ist die Geistlichkeit eng verbunden mit den Betrachtungen zu Religionen und Kirchen. Spiritualität ist somit deutlich weiter gefasst als der Begriff der Religion und kann als solcher auch in seiner Wirkung deutlich breiter und vielfältiger verstanden werden. Die aktuelle Situation im Tourismus zeigt einerseits, dass die Kirchen den Tourismus zunehmend als sinnvolles Medium zur Kontaktierung der Menschen in einem kirchlichen/ religiösen Umfeld für sich entdecken. Andererseits wird auch ein deutliches Interesse der Tourismusakteure spürbar, mithilfe religiöser und spiritueller Themen neue Gäste für den Tourismus zu gewinnen - bzw. den vorhandenen Gästen einen Mehrwert zu bieten. Die Bemühungen auf beiden Seiten sind grundsätzlich positiv zu bewerten, denn etwaige Ängste vor einem „Ausverkauf religiöser Werte“ oder einer „rücksichtslosen Vermarktung von Glaubenskulturen“ scheinen unbegründet. An dieser Stelle sei der Vergleich zum ebenfalls lange und hart umstrittenen Schutz der Natur erlaubt. Auch hier sind z. B. die Naturparke, die es den Menschen ermöglichen, mit der Natur in Kontakt zu treten, eher hilfreich als schädlich für die Natur: Der Mensch wird nur das zu schützen bereit sein, was er kennt und beurteilen kann. Mit den Bereichen Kultur und Religion verhält es sich in Grundzügen ebenso. Bezogen auf die aktuelle Situation der christlichen Kirchengemeinden, die seit Jahren mit zunehmenden Austritten ihrer Gemeindemitglieder und einem vermeintlichen Bedeutungsverlust zu kämpfen haben, erscheint die Suche nach neuen Zugangswegen zu den Menschen als logische Konsequenz. Kirchen wollen mehr Alltagsnähe schaffen - eine Option, die insbesondere aufgrund der eher dogmatischen Sichtweisen der traditionellen Kirchen bisher vernachlässigt wurde. Kirchen könnten auch mehr Toleranz gegenüber weltlichen Themen zeigen - ebenfalls eine Option, von der es scheint, dass sie in vielen Bereichen lange Zeit vernachlässigt wurde. Die Gesellschaft von heute setzt (wieder) vermehrt auf Werte wie Gesundheit, Natur, Gemeinschaft, Familie oder Sicherheit - das zeigen aktuelle Umfragen. 57 Dennoch ist das Wertegerüst nach wie vor stark flankiert von dem Wunsch nach Freiheit und Individualität. Diesen Ansprüchen gerecht zu werden, stellt eine enorme Herausforderung für die traditionellen Kirchen dar, die diese vielleicht über den Tourismus meistern können. 57 Vgl. hierzu z. B. Wippermann Trendforschung UG o. J. <?page no="70"?> Pilgerreisen sind in erster Linie Reisen, bei denen das Unterwegssein dem Ziel unterstellt ist, einen religiös bedeutsamen Ort zu erreichen. Bei Pilgerreisen kann es sich genau genommen auch um Pilgerfahrten handeln, die mit dem Auto, dem Bus oder sonstigen Verkehrsmitteln angetreten werden. Diese sollen hier jedoch nicht weiter betrachtet werden, das Pilgern zu Fuß steht hier im Mittelpunkt der Betrachtungen. Bei Pilgerwanderungen werden die Aspekte Spiritualität und Wandern auf ideale Weise verquickt. Eine Pilgerreise bedeutet das Zurücklegen einer gewissen Wegstrecke aus religiösen bzw. spirituellen Motiven. Beim Pilgerwandern wird somit eine innere geistliche und geistige Haltung mit der körperlichen Fortbewegung in der Natur verschmolzen - und gerade in dieser Kombination liegt die Faszination. Anders als in einer zivilisierten und bebauten Umwelt kann der Mensch sich in der Natur selbst viel fokussierter wahrnehmen. Das Gehen ist eine Eigenschaft, die dem Menschen evolutionär anhaftet - anders als die motorisierte Fortbewegung. Daher erfolgt das Gehen grundsätzlich instinktiv und erlaubt es dem Gehirn und den menschlichen Sinnen, sich auf viele Impulse von außen und innen zu konzentrieren. Als Bild passt hierzu der Liedtext „Die Gedanken sind frei …“ - denn nur die Befreiung des Bewusstseins von alltäglichen Eindrücken, die unmittelbare Reaktionen erfordern, erlaubt es dem Unterbewusstsein, seinen Gedanken und inneren Bildern freien Lauf zu lassen. Diese Freiheit hat auch etwas mit Muße zu tun, die definitorisch mit dem Freisein von äußeren Zwängen und der damit möglichen Kreativität verbunden ist. Dass das Bedürfnis nach innerer Freiheit in unserer Gesellschaft stetig wächst - und warum das so ist - wird in Kap. 3 näher betrachtet. Bezogen auf die Anbieterseite im Segment Pilgerreisen stößt jeder, der hierzu im Internet recherchiert, zunächst auf die Seiten der inzwischen etablierten Reiseveranstalter „bayerisches pilgerbüro“ (bp), „Viator Reisen“ und „Biblische Reisen“, die sich dem Thema bereits seit vielen Jahren professionell widmen. In deren Angebotsportfolio sind auch Angebote für Pilgerwanderungen zu finden - was nicht weiter verwunderlich ist, weil es sich um eine klassische Art der Pilgerreise handelt. Neu hingegen ist es, dass nun auch Internetportale, die sich auf die Zielgruppe Wanderer spezialisiert haben, das Thema Pilgern in ihr Angebotsportfolio aufnehmen. So bieten z. B. sowohl das Wanderportal „outdooractive“ als auch das Infoportal des Magazins „outdoor“ Tourenvorschläge für Pilgerwege an. Auf diesem Weg werden auch Wanderinteressierte, die keinerlei Bezug zur Religion haben, auf das Thema Pilgern aufmerksam gemacht. Der Impuls zum Pilgern wird hier also beim Wanderinteresse angesetzt und nicht bei der Glaubenszugehörigkeit. Auch auf diese Weise wird das Pilgern losgelöst von einem kirchlichen Hintergrund kommuniziert - so wie es schon der bekannte Bestseller von Hape Kerkeling („Ich bin dann mal weg“) und <?page no="71"?> Filme wie „Saint Jacques … Pilgern auf Französisch“ auf sehr humorvolle und eingängliche Weise gemacht haben. Neben den (überregionalen) Portalen für Wanderer haben auch die deutschen Tourismusdestinationen das Thema Pilgern für sich entdeckt und entsprechende Angebote nachfrageorientiert aufbereitet. So finden sich z. B. auf den Homepages der Bundesländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland umfassende Informationen und Tourenangebote für Pilgerwanderungen, deren Wege durch eben diese Bundesländer führen. Die weniger bekannten europäischen Zuwege zu den großen und bekannten Pilgerwegen (wie dem Jakobsweg) werden neu- oder wiederentdeckt. Aufgrund des allgemeinen Interesses am Thema Pilgern können auch die Wege auf deutschem Terrain als Pilgerwege erfolgreich im Markt positioniert werden. Hierbei spielt auch das insgesamt sehr stark gestiegene Interesse am Wandern als Freizeitaktivität eine wichtige Rolle: Ohne den seit der Jahrtausendwende zu beobachtenden „Wanderhype“ hätte das Thema Pilgern voraussichtlich in Deutschland nicht auf so großes Interesse stoßen können. Die Entwicklung auf der Angebotsseite wirft auch die Frage auf, warum Menschen heute anscheinend wieder großes Interesse am Pilgern und an muße- und innengerichteten Angeboten haben. Besinnung und Ruhe werden bereits als neue Luxusgüter betitelt - ebenso wie eine neue Form der Einfachheit und Rustikalität, die sich beispielsweise in puristischen Formen oder naturbelassenen Materialien in hochpreisigen Alpendomizilen widerspiegelt. Da die Nachfrage im Tourismus immer Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Stimmungen 58 Vgl. Tourismus Zentrale Saarland GmbH o. J. <?page no="72"?> und Werte ist, wird im folgenden Kapitel der Zusammenhang zwischen aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen und den daraus folgenden Zukunftsthemen des Tourismus dargestellt. Urlaub stellt für die meisten Menschen eine Gegenwelt zum regulären Lebensalltag dar - insofern soll oder kann im Urlaub auch eine Kompensation der Alltagsdefizite erfolgen. Definitorisch umfasst der Tourismus „[…] alle Aktivitäten von Personen, die an Orte außerhalb der gewohnten Umgebung reisen und sich dort zu Freizeit- […] zwecken nicht länger als ein Jahr aufhalten.“ 59 Der Urlauber verlässt seine gewohnte Umgebung - ein Umstand, der jeden Urlaub auch zu einer Testphase für neue Verhaltensweisen werden lassen kann. Zu den psychologischen Aspekten des Tourismus gehören, dass sich der Urlauber außerhalb der Fremdbestimmung des Alltags, außerhalb der gewohnten Einflussfaktoren und außerhalb der Beobachtung durch das Umfeld bewegen kann. In dieser Situation scheint es deutlich einfacher als im regulären Alltag, z. B. eine neue Sportart auszuprobieren, sich Techniken wie Meditation oder Yoga anzueignen oder sich einmal ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Als prägende Merkmale unserer heutigen Gesellschaft lassen sich die folgenden Rahmenbedingungen besonders hervorheben: 60 wachsende Zeitnot zunehmende Komplexität Verlust vertrauter Strukturen. Die westlichen Gesellschaften haben gleichzeitig einen vergleichsweise hohen persönlichen Freiheits- und Individualitätsgrad erreicht: Nie zuvor gab es so viele Urlaubstage, so viele soziale Freiheiten (z. B. die zunehmende Anerkennung von Patchwork-Familien oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften) und so viele Single-Haushalte. Die Akzeptanz von jeweils individuellen Lebensformen hat zugenommen, gleichzeitig scheinen die starken staatlichen Reglementierungen sowie die teilweise recht dogmatische Wirkungskraft der Kirchen nachgelassen zu haben. Aus der Sicht der 1990er-Jahre wäre dieser Zustand wohl als Idealzustand zu werten, denn die in jener Zeit manifestierte Erlebnisge- 59 Auszug der Definition der UNWTO 1993. 60 Vgl. Leder 2007, 125. <?page no="73"?> sellschaft hat die größtmögliche persönliche Freiheit nahezu idealisiert. Seit der Jahrtausendwende zeigt sich aber - anders als vielleicht erwartet - eine Rückkehr hin zu traditionellen Werten ab. Die Menschen wünschen sich zwar nach wie vor ein hohes Maß persönlicher Freiheit, verbinden diesen Wunsch jedoch mit den Sehnsüchten nach dem Wir-Gefühl, der guten alten Zeit und der zeitweisen Abkehr vom Medienhype hin zum eigenen Ich (oder einer spirituellen Kraft). Klosterurlaub, Auszeiten in einer einsamen Almhütte und eben auch Pilgerwanderungen halten damit Einzug in die Freizeitlandschaft der Deutschen. Bei einer Betrachtung dieser gesellschaftlichen Veränderungen vor dem Hintergrund, dass Urlaub für die meisten Menschen als Auszeit aus dem Alltag zu verstehen ist, in der eine Befreiung aus den Gewohnheiten und Zwängen des Alltags möglich ist, kann Urlaub auch als Testfeld für neue Verhaltensweisen gesehen werden, die ihre Wirkung auch über die eigentliche Zeit des Urlaubs hinaus fortsetzen können. Wenn im Urlaub Defizite oder Sehnsüchte des Alltagslebens kompensiert werden können, ergeben sich aus den Alltagsdefiziten gleichsam neue Themen für den Tourismus. Das Return-Modell stellt einen Versuch dar, dieses Zusammenwirken deutlich zu machen. Dabei ist das Wort Return sowohl als Rückkehr zu (alten) Werten zu verstehen, aber auch als innere Kehrtwende gegenüber dem wachsenden Zeit- und Leistungsdruck unserer Gesellschaft. Neben Themen wie Reduktion/ Askese und Entschleunigung/ Neue Langsamkeit werden die Themen Transzendenz/ Spiritualität/ Religion sowie Natur/ Landschaft als Zukunftsthemen des Tourismus deklariert. Beide gemeinsam finden sich in dem Phänomen des Pilgerwanderns wieder. Die zunehmende Komplexität und Kommerzialisierung sowie die gestiegenen Erwartungen an die Menschen, mit Technik und Medien adäquat umgehen zu können, scheinen viele Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen und eine vermeintliche Überforderung spürbar zu machen. Daraus kann die Sehnsucht nach Einfachheit, Ruhe und Besinnung entstehen. Zudem schürt der Individualisie- 61 Vgl. Leder 2007, 125. <?page no="74"?> rungsdruck bei vielen Menschen die Angst vor Orientierungsverlust und wirft somit den Wunsch nach gewissen Leitlinien oder Orientierungshilfen auf. Kirche und Religion können diese Leitlinien bilden - und eine spirituelle Erfahrung im „Testfeld“ Urlaub kann auch ein Umdenken im alltäglichen Leben anstoßen. Wenn die Tourismusverantwortlichen die Zusammenhänge zwischen Alltagsdefiziten und daraus resultierenden Urlaubswünschen und -motiven in der beschriebenen Weise deuten, kann das zunehmende Angebot an sinn- und mußeorientierten Urlaubsprogrammen als sinnvolle Antwort darauf verstanden werden. Die Verbindung von Wandern und Spiritualität reagiert ebenso darauf. In der Region Südwestfalen, die neben dem Sauerland auch die Region Siegerland-Wittgenstein umfasst, wurde das Potenzial von spirituellen Angeboten im Tourismus erkannt und ein entsprechendes Programm aufgelegt: der Spirituelle Sommer. Die Veranstaltungsreihe Spiritueller Sommer ist aus dem REGIONALE-Projekt Wege zum Leben. In Südwestfalen (ein regionales Förderprogramm in Nordrhein- Westfalen) entstanden. Das Projekt wurde im Raum Südwestfalen von einem starken Netzwerk von Akteuren aus den Bereichen Tourismus, Kirche und anderen religiösen Gemeinschaften sowie der Heimatarbeit getragen. Ziel dabei war es, eine Verknüpfung von Spiritualität und Tourismus in der Region unter einem gemeinsamen Namen zu schaffen und eine nachhaltige Entwicklung dieser Themengebiete in Südwestfalen voranzutreiben. Beim Spirituellen Sommer handelt es sich um ein umfassendes Programm an Veranstaltungen, die jeweils von Juni bis September an unterschiedlichen Orten der Region durchgeführt werden. Das Programm umfasst neben spirituellen Wanderungen und Pilgerangeboten eine Vielzahl weiterer Angebote, die inhaltlichen Bezug zum Thema Spiritualität haben, und richtet sich sowohl an die Bewohner als auch die Gäste und Urlauber in der Region. Das Programm umfasst u. a. folgende Veranstaltungsarten: Achtsamkeit, besondere Gottesdienste, Gebet, Lesungen, Meditation, Musik, Pilgern, Spirituelle Wanderungen, Tanz und Vorträge. Organisiert und durchgeführt werden die Veranstaltungen von unterschiedlichen Akteuren: Kirchengemeinden und Religionsgemeinschaften, Ortsgruppen, Vereinen und Einzelpersonen. Als wichtiges Merkmal ist zu sehen, dass die Angebote nicht an bestimmte Konfessionen gebunden sind und somit ganz bewusst eine sehr weitreichende Definition von Spiritualität zugrunde gelegt wird. <?page no="75"?> Um die Wirkung der Veranstaltungsreihe erfassen und somit auch die Zukunftsfähigkeit des Themas für den Tourismus abschätzen zu können, wurde im Sommer 2014 eine umfassende Befragung von Veranstaltungsbesuchern durchgeführt. Die Befragung erfolgte durch Studierende der Fachhochschule Südwestfalen im Rahmen eines Marktforschungsprojektes. Die wesentlichen Ergebnisse der Befragung werden nachfolgend vorgestellt. 63 Bei der Erfassung der Struktur der Besucher der spirituellen Veranstaltungen zeigt sich, dass Teilnehmer aus allen Altersgruppen anzutreffen waren, jedoch die Altersgruppen zwischen 40 und 70 Jahren am stärksten vertreten waren (vgl. Abb. 5). Bezogen auf das Geschlecht hat sich eine Verteilung von 68 % weiblichen zu 32 % männlichen Besuchern ergeben. 62 Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. 63 Insgesamt konnten 1221 Besucher auf 93 Veranstaltungen in persönlichen Interviews befragt werden. Der Befragungszeitraum erstreckte sich vom 04. Juni bis 31. Juli 2014. <?page no="76"?> Da der Begriff Spiritualität keine allgemeingültige und definierte Bedeutung hat, sondern von den Menschen unterschiedlich aufgefasst und verstanden werden kann, wurde auch dieser Aspekt in der Befragung aufgegriffen. Es zeigt sich, dass der Glaube als direkter Begriff im Zusammenhang mit Spiritualität erst an dritter Stelle erscheint, während vor allem die Chance auf Ruhe und Stille sowie auf Selbstfindung Priorität haben (vgl. Abb. 6). Für die Gestaltung von touristischen Angeboten im Zusammenhang mit Spiritualität schien es ferner sinnvoll, die Gruppierungen der Besucher bei den Veranstaltungen zu erfassen. Es zeigt sich, dass jeweils etwa 30 % die Veranstal- 64 Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. 65 Es konnten bis zu drei Begriffe genannt werden. Insgesamt gab es 2355 Nennungen. Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. <?page no="77"?> tungen mit Freunden, allein oder mit Partner/ in besucht haben. Hier ist es besonders interessant, dass die Veranstaltungen sich gut für Einzelpersonen eignen - eine Tatsache, die aufgrund der aktuellen Gesellschaftsstruktur als Wachstumspotenzial zu werten ist. Gerade Aktivitäten, die auch allein wahrgenommen werden können, werden zukünftig noch an Bedeutung gewinnen. Im Rahmen der Besucherbefragung wurde auch nach Gefühlen und Stimmungen gefragt, die durch den Besuch der Veranstaltung hervorgerufen wurden (vgl. Abb. 8). Aus den Hauptnennungen ragen die Gefühle „Ruhe/ Stille“ mit weitem Abstand hervor, gefolgt von „Freude/ Fröhlichkeit/ gute Laune“, „Entspannung“ sowie „Gemeinschaftsgefühl und Glück“ (vgl. Abb. 8). 66 n= 1271; Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. <?page no="78"?> Die Angebote innerhalb der Veranstaltungsreihe Spiritueller Sommer sind breit gefächert, weshalb von den Besuchern erfragt wurde, welche Themenbereiche für sie besonders wichtig sind. Auch aus diesen Ergebnissen können wertvolle Hinweise für eine zukünftige Gestaltung spiritueller Angebote abgeleitet werden (vgl. Abb. 9). Spirituelle Wanderungen und Pilgern werden insgesamt als sehr wichtig eingestuft. Wie in Kapitel 2 beschrieben, treten neben den Reiseveranstaltern auch immer mehr Tourismusregionen als Anbieter von spirituellen Reiseangeboten auf. Um herauszufinden, was eine Region bieten müsste, um mit spirituellen Angeboten glaubhaft im Markt auftreten zu können, wurden die Erwartungen der Veranstaltungsbesucher an eine „spirituelle Region“ abgefragt. Hierbei hat sich gezeigt, dass vorhandene Kirchen oder die religiöse Prägung der Bewohner nicht das wichtigste Kriterium darstellen (vgl. Abb. 10) - ein Umstand, der nochmals zeigt, dass der Begriff Spiritualität viel weiter gefasst ist, als dass er sich nur auf Religion und Kirchen beziehen würde. Insbesondere die Landschaften spielen eine wichtige Rolle, denn diese scheinen mit der Wahrnehmung von Spiritualität sehr eng verbunden zu sein. Auch aus diesem Aspekt kann die Bedeutung des Pilgerns in Natur abgeleitet werden. 67 Es konnten bis zu drei Begriffe genannt werden. Insgesamt gab es 2631 Nennungen. Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. 68 n= 1211; Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. <?page no="79"?> Aus den Erfahrungen des Spirituellen Sommers in Südwestfalen kann Spiritualität als neues touristisches Themenfeld betrachtet werden, da sowohl Geistlichkeit als auch Geistigkeit in der heutigen, schnelllebigen Zeit mehr und mehr als ausgleichende Werte wahrgenommen werden. Immer mehr Menschen verlieren ihre Balance im Leben und suchen nach Leitlinien, an denen sie sich orientieren können, sowie Gruppierungen, zu denen sie sich zugehörig fühlen können. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften können von dieser Entwicklung profitieren, in dem sie ihre Angebote für Urlauber und Gäste öffnen und ggf. auch anpassen und erweitern. Insbesondere für das Destinationsmanagement von Tourismusregionen zeichnen sich hier neue Möglichkeiten ab, das endogene kulturelle und gesellschaftliche Potenzial in Wert zu setzen - sowohl für die Wohnbevölkerung als auch für Urlauber. Der Mehrwert, der sich aus einer Öffnung der Angebote ergibt, ist nicht nur finanzieller Art, sondern er ist auch darin zu sehen, dass durch ein steigendes Interesse an den Aktivitäten regionaler und lokaler Kirchen und Religionsgemeinschaften, diese selbst wieder zu neuem Leben erwachen können. Je größer das Interesse an spirituellen Veranstaltungen ist, umso eher werden sich die zumeist ehrenamtlichen Akteure auch weiterhin für den Fortbestand der gelebten religiösen Kulturen einsetzen. Im Weiteren ist auch auf die Stärkung der regionalen Identität hinzuweisen, die durch eine steigende Nachfrage spiritueller Angebote in den Regionen auftreten wird. Spiritualität und Religion sind wohltuende Gegenpole zu Gewalt und Unfrieden, die in unserer Gesellschaft zuzunehmen scheinen. Spiritualität ist als touristisches Thema insofern sowohl für Regionen und Kommunen als auch für kommerzielle Reiseveranstalter interessant. Denn zunehmender Unfrieden in der Alltagswelt provoziert das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. Kirchliche und spirituelle Angebote können hier als ideale Gegenwelten gesehen werden, deren positive Erfahrungen aus dem Urlaubs- und Freizeitkontext langfristig auch in den Alltagskontext übernommen werden können. 69 n= 1209; Vgl. Fachhochschule Südwestfalen 2014. <?page no="80"?> Fachhochschule Südwestfalen (2014): Ergebnisbericht der Marktforschungsstudie zum Projekt „Wege zum Leben. In Südwestfalen.“ 2013/ 2014 (= unveröffentlichte Studie der FH Südwestfalen unter der Betreuung von Susanne Leder) Leder, Susanne (2007): Neue Muße im Tourismus. Eine Untersuchung von Angeboten mit den Schwerpunkten Selbstfindung und Entschleunigung. Paderborn. Tourismus Zentrale Saarland GmbH (o. J.): Pilgerwege. [online] Verfügbar unter: https: / / www.urlaub.saarland/ Reisethemen/ wandern/ Themenwege-und- Pilgerwege/ pilgerwege-saarland UNWTO (1993): Empfehlungen zur Tourismusstatistik. Madrid. Wippermann Trendforschung UG (o. J.): Werte-Index 2016. [online] Verfügbar unter: www.werteindex.de <?page no="81"?> Dieser Beitrag stellt den deutschsprachigen Forschungsstand zum gegenwärtigen Pilgern insbesondere auf dem Jakobsweg dar. Er berücksichtigt religionssoziologische, theologische, tourismus- und medienwissenschaftliche Perspektiven. Die dargestellten Pilgerstudien thematisieren dabei folgende Aspekte: Das soziodemografische Profil, Motive und biografische Auslöser zum Pilgern sowie Leiblichkeit, religiöse Erfahrung und Wirkungen des Pilgerns. Turners Ritualkonzepte der Liminalität sowie der Communitas werden zudem im Kontext des Pilgerns einbezogen. Diskutiert wird auch, inwiefern heutiges Pilgern religiös geprägt ist und was sich daran über den religionskulturellen Wandel ablesen lässt, insbesondere hinsichtlich der Individualisierung. <?page no="82"?> Die verschiedenen Perspektiven werden in konzentrischen Kreisen von innen nach außen angeordnet. Begonnen wird mit Studien, die die Pilger selbst analysieren, ihre Motivation, Erfahrungen und Typisierungen. Das Pilgern als Vollzug nehmen Studien zur Ritualität und zum Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren des komplexen Phänomens in den Blick. Gefragt wird zudem, inwiefern Pilgern als religiöses Phänomen angesehen werden soll und inwiefern es als Indikator des religionskulturellen Wandels dienen kann. Darauf folgen zwei Themenfelder, die das Pilgern von außen betrachten: zum einen als kulturelles Phänomen in der medialen Darstellung des Pilgerns in Film und Reisebeschreibungen, zum anderen Studien zur Einordnung des Pilgerns in den Tourismus. Der aktuelle Forschungsüberblick zeigt eine Dominanz sozialwissenschaftlicher empirischer Forschung. Angemahnt wird, einen reflektierten Religionsbegriff anzuwenden und den vorbewussten insbesondere leiblichen Aspekten die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Obwohl Pilgern ein junges Phänomen ist, sei der nicht zuletzt durch Popularisierung bewirkte Wandel zu thematisieren. Die Wahrnehmung bisheriger Forschungsleistungen und die interdisziplinäre Verknüpfung sind zu stärken. Pilgern bietet sich für die Erforschung aus unterschiedlichsten Perspektiven an. 70 Darum ist eine Eingrenzung des in diesem Beitrag zu beschreibenden Forschungsfeldes nötig. Hier sollen deutschsprachige wissenschaftliche Arbeiten zum heutigen Pilgern, die sich v.a. dem Jakobsweg widmen, analysiert werden. Indem der Beitrag sich mit dem heutigen Jakobspilgern auf einen noch jungen und wenig gesättigten Forschungsbereich bezieht, kann er noch kein umfassendes Bild des Pilgerns vermitteln. Vielfach handelt es sich um einfache Qualifikationsarbeiten oder kleinere Studien und Zeitschriftenbeiträge, die teilweise mit methodischen und inhaltlichen Mängeln behaftet 71 oder nur digital publiziert sind, hier aber dennoch aufgeführt werden sollen, um der Dynamik dieses Forschungsfeldes gerecht zu werden. 70 Vgl. Lienau 2015a, 100ff. 71 Vgl. Gamper/ Reuter 2012a. <?page no="83"?> Pilgern - insbesondere auf Jakobswegen - hat in den vergangenen Jahren einen enormen Aufschwung erfahren. Und die Zahlen der Pilger wie der Pilgerwege steigen weiterhin. Zugleich ist die - nicht nur mediale - Resonanz auf das Pilgern größer als das Phänomen selbst: Auch 300.000 in Santiago registrierte Pilger sind eine bescheidene Größe im Vergleich mit 6 Millionen Wallfahrern in Assisi. Obwohl sich Kerkelings Pilgerbericht über 3 Millionen Mal verkaufte, finden sich jährlich nur 20.000 deutscher Pilger in Santiago. Das Interesse am Pilgern ist vielmehr durch seine qualitative Relevanz begründet. Es artikuliert ein existenzielles Bedürfnis, bringt etwas von der kulturellen Großwetterlage und vom Wandel religiöser Kultur zum Ausdruck. An diesem virulenten Phänomen lassen sich Trends ablesen. Dies macht das Pilgern für die Forschung relevant. Häufig werden zur statistischen Bestimmung der Pilger die Angaben aus dem Pilgerbüro in Santiago de Compostela übernommen. 72 Diese bieten Auskunft zu Anzahl, Alter, Geschlecht, Pilgerart, Motiven, Wegen, Startort und Nationalität. Der Aussagewert ist jedoch begrenzt, da nur eine Teilmenge der Pilger (also nicht Nutzer anderer Wege oder Teilstreckenpilger) und nur wenige Merkmale erfasst werden. Darum ist es hilfreich, dass weitere quantitative Erhebungen hinzukommen. Markus Gamper und Julia Reuter haben in einer multimethodischen Studie sowohl soziodemografische Daten als auch Pilgermotive erhoben. 73 Die Befragung mittels gut 1.000 Fragebögen bietet Ergebnisse, die dicht an den Daten des Pilgerbüros in Santiago liegen, sodass die Datensätze repräsentativ sind auch für die darüber hinausgehenden Items: Immerhin sind zwei Drittel der Pilger katholisch, was für eine bleibende konfessionelle Prägung des Pilgerns spricht, insbesondere wenn man das geringe Durchschnittsalter, die hohe Bildung und die Milieuzugehörigkeit der Pilger berücksichtigt, die einen höheren Anteil an Konfessionslosen als die erhobenen 21 % hätte erwarten lassen. Nur 8 % gehören einer evangelischen Kirche an. Nach wie vor sind Männer und junge Erwachsene stark vertreten (die 20bis 39-Jährigen stellen über 50 %). Nur 11 % lehnen die Bezeichnung Pilger für sich ab, was eine sehr hohe Identifikation beschreibt. Zwei Drittel nutzen unterwegs das Internet, 43 % für den Austausch mit Personen aus der Heimat, 18 % zur Information über das Weltgeschehen und nur 7 % zum Austausch mit anderen Pilgern. Weiterhin wurden verschiedene Motive zum Pilgern abgefragt. Mit über 50 % ist ‚Zu sich selbst finden‘ der häufigste Grund. Mit je etwa 40 % folgen ‚Ausklinken aus dem Alltag‘ und ‚Stille genießen‘. Es folgen mit etwa 34 % ‚Spiritu- 72 Vgl. Schrange/ Schäfer o. J. 73 Vgl. Gamper/ Reuter 2014; Vgl. Gamper/ Reuter 2012a und Gamper/ Reuter 2012b. <?page no="84"?> elle Atmosphäre fühlen‘, ‚Natur genießen‘ und ‚Anblick schöner Landschaft‘, gefolgt von explizit religiösen Gründen und dem Interesse an anderen Kulturen und Religionen. Spezifische Gründe wie ‚Buße vor Gott‘ mit 16 % und ‚Lebenskrise verarbeiten‘ mit 14 % sind seltener, aber durchaus vertreten. Durch eine Faktorenanalyse können fünf verschiedene Pilgertypen gebildet werden: der spirituelle, religiöse, Sport-, Abenteuer- und Spaßsowie Urlaubspilger, wobei die ersten beiden Typen häufiger vertreten sind. Unbefriedigend an der Studie bleiben der traditionelle Religionsbegriff und die methodenbedingte Reduktion nur auf die den Befragten bewussten Motive. Dennoch ergibt die Studie ein hilfreiches Raster und zeigt neben der Vielfalt eine deutliche Orientierung an Sinnfragen bei den meisten Pilgern. Eine aufschlussreiche empirische Studie von Christian Kurrat unterscheidet fünf unterschiedliche biographische Auslöser zum Pilgern. 74 Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich die Mehrzahl der bisherigen Studien auf die Zeit während des Pilgerns konzentriert, während für eine handlungstheoretische Perspektive die Entscheidung zum Pilgern und damit die Zeit davor zentral ist. Mithilfe qualitativer Interviews können - allerdings nur für Langstrecken- Einzelpilger - fünf typische biografische Situationen herausgearbeitet werden, die wiederum die Art und Weise des Pilgerns bestimmen: Wer etwa am Ende seines Berufslebens als Typ ‚biografische Bilanzierung‘ pilgert, sucht dafür Ruhe (Aspekt Kommunikation mit den Mitpilgern), nimmt als Buße Schmerzen auf sich (Aspekt Körperlichkeit) und will ein Vermächtnis für seine Nachkommen schaffen (Aspekt Bezug zum heimatlichen sozialen Umfeld). Weitere Typen sind ‚biografische Krise‘, ‚Auszeit‘, ‚Übergang‘ und ‚Neustart‘. Durchgängig wird neben Vergemeinschaftung und Natur der Leiblichkeit eine wesentliche Funktion für die Wirkung des Pilgerns zugesprochen. Gamper und Reuter 75 fokussieren im Rahmen ihres multimethodischen Forschungsprojekts insbesondere mittels problemzentrierter Interviews auf die leiblichen Aspekte des Pilgerns. Sie können zeigen, dass Pilgern - gerade indem es die oft unvorbereiteten Pilger an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bringt - zu einer höheren Achtsamkeit mit sich selbst führt. Der Körper wird bewusster gespürt, gerade in schmerzhaften Erfahrungsweisen, 76 die als wesentliche Aspekte echten Pilgerns angenommen werden. An die Stelle instrumenteller Körperlichkeit tritt die Erfahrung existenzieller Leiblichkeit. Der Körper wird aber nicht nur 74 Vgl. Kurrat 2012; Vgl. Kurrat 2015; Vgl. Heiser/ Kurrat 2015. 75 Vgl. Gamper/ Reuter 2012a. 76 Vgl. Grabe 2006. <?page no="85"?> zu einem Medium des Selbstbezugs, sondern auch des Gemeinschaftsbezugs. Pilger erfahren ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das durch körperliche Kopräsenz erzeugt wird. Diese wird durch die körperlich-ästhetischen Nutzung symptomatischer Zeichen wie Stock und Muschel und pilgertypischer Verhaltensweisen gegen alle Unterschiedlichkeit repräsentiert. Die körperliche Nähe etwa in den Schlafsälen erzeugt eine Intimität, die intensive situative Vergemeinschaftung ermöglicht. Zentral ist der Körper auch als Medium religiöser Sinnsuche, die sich nicht primär intellektuell, sondern leiblich vollzieht. Detlef Lienau 77 arbeitet mit der leibphilosophischen Unterscheidung von Körper (den man hat) und Leib (der man ist). In seiner qualitativen Interviewstudie, die insbesondere auch vorbewusste Aspekte erhebt, zeigt er die zentrale Stellung körperlicher Erfahrung, die er stärker als die soziale Interaktion bewertet. Der Körper werde zur Sinnbildung eingesetzt und bewirke intensive Erfahrungen des Sich-Gegebenseins und der Selbstgewissheit. Lienau kann zwei verschiedene Typen des Leibverhältnisses unterscheiden: Aktivische Erfahrungsmodi suchen Selbstverwirklichung und Autonomie. Sie sind nach außen orientiert und sehen den Körper als Mittel der Selbstermächtigung. Passivische Erfahrungsmodi suchen hingegen ein Sich-Empfangen, Integration und symbiotisches Einssein und erfahren eine pathische Weitung des Leibraums. Dabei erfahren sich Pilger als dieser Leib, statt ihn instrumentell einzusetzen. Sie überlassen sich ihrem Leib und gewinnen dabei Erkenntnis und Vergewisserung ihrer selbst. Lienau beschreibt das Pilgern im Anschluss an Foucault als Körpertechnik. Je nach Pilgertypus können Funktionen der Selbstermächtigung, der Selbsterkenntnis und der Selbstvergewisserung, um die es auch in Fitness, Body-Consciousness und Wellness geht, verfolgt werden. Lienaus Beschreibung des Leibes als Brücke und Scharnier zwischen innen und außen entspricht Pirners Beobachtung der Synchronizität. Manfred Pirner hat für die Entsprechung von äußerem und innerem Geschehen beim Pilgern den - C. G. Jung entlehnten - Begriff der Synchronizität eingeführt. 78 Damit werden Entsprechungserfahrungen von Pilger und Kontext, Innerem und Äußerem beschrieben. Indem sich Selbst- und Außenerfahrung - etwa Klima und mentale Gestimmtheit, innere geistige und äußere körperliche Bewegung - entsprechen, stärken und plausibilisieren sie sich gegenseitig. Dies lässt insbesondere sonst fragil wirkende religiöse Sinnbildungen stabil und verlässlich erscheinen. Das Gefühl der Stimmigkeit wird auch mit Bezug auf Csíkszentmihályis Flow- Theorie erklärt. 79 Weil die Aufmerksamkeit auf das Pilgern konzentriert ist und 77 Vgl. Lienau 2012; Vgl. Lienau 2013a; Vgl. Lienau 2015a, 71ff. u. 415ff. 78 Vgl. Pirner 2005. 79 Vgl. u. a. Grabe 2006; Vgl. Lienau 2009a. <?page no="86"?> eine unmittelbare Rückmeldung auf das Tun erfahren wird, können Pilger in ihrem Tun aufgehen. Der Ethnomediziner Walter Andritzky zeigt anhand einer klassischen Wallfahrt, wie dichte - die Selbststeuerung schwächende - kollektive Handlungsvorgaben und symbolische Angebote die Teilnehmenden in das Geschehen hineinnehmen. 80 Rosenberger 81 und Lienau 82 ziehen darüber hinaus für herausfordernde Formen des Pilgerns eine Beobachtung des Sportsoziologen Heinrich Bette zum Risikosport heran, das gerade im Wagnis Halt erfahren wird. Weil es im Wagnis ganz auf den Pilger ankommt, erfährt dieser darin Selbstermächtigung. Pilger behaupten häufig eine nachhaltige verändernde Wirkung des Pilgerns. Diese ist bisher erst anfänglich untersucht. Eine zwar methodisch wenig elaborierte aber frühe empirische Untersuchung der Sicht der Pilger bietet Nancy Louise Frey. 83 Ihr in freien Gesprächen mit Pilgern gesammeltes Material zeigt die verändernden Wirkungen des Pilgerns. Insbesondere widmet sie sich dem Ende des Pilgerwegs, dem Übergang zurück nach Hause und der Integration der Erfahrungen in den Alltag. Barbara Haab 84 erkennt in ihren bereits um 1990 geführten Interviews mit Fernpilgern eine transformierende Wirkung des Pilgerns. Diese beschreibt sie als größere - auch im Alltag weiterwirkende - Lösung von materiellen Dingen, Betonung der Einfachheit und der Wesentlichkeit, eine stärkere Zentrierung im Hier und Jetzt und Kraft für eigene Wege, verbunden mit dem Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. 85 Weiterhin spüren die Pilger größere Selbsterkenntnis, mehr Toleranz und Mitgefühl und Offenheit für Religion. Eine spirituelle Haltung stärkt die Nachhaltigkeit dieser Erfahrungen. Die neurophysiologischen Wirkungen religiöser und sportlicher Handlungen untersucht die empirische Studie von Stefan Schneider, 86 die auch die messbaren Wirkungen des Gehens und das Flow-Konzept mit einbeziehen. Interessant ist eine Studie von Anna-Patricia München und Sigrun-Heide Filipp, 87 die Erwartungen vor der Pilgerfahrt mit den Eindrücken zum Abschluss und den Einschätzungen nach einem Jahr ins Verhältnis setzt. Pilger sind in der Regel sehr zufrieden mit ihren Erfahrungen, die meist besser ausfallen als erwartet. Die Erwartung einer nachhaltigen Wirkung ist höher bzw. optimistischer bei älteren, religiöseren und gebildeteren Menschen und solchen mit subjektiv geringerem Gesundheitszustand und Lebenszufriedenheit (allerdings ist die Zufriedenheit im Rückblick gerade bei den letztgenannten Gruppen niedri- 80 Vgl. Andritzky 1998. 81 Vgl. Rosenberger 2005, 47ff. u. 81ff. 82 Vgl. Lienau u. a. 2009a, 75ff. 83 Vgl. Frey 2002. 84 Vgl. Haab 1998; Vgl. Haab 2000. 85 Vgl. Haab 1998, 211ff. 86 Vgl. Schneider 2013. 87 Vgl. München/ Filipp 2017. <?page no="87"?> ger). Wichtig ist die Religiosität: Je höher die allgemeine Religiosität, desto intensiver sind die religiösen Erfahrungen unterwegs und überhaupt die Zufriedenheit mit dem Pilgern und umso mehr entsprachen sich Erwartungen und Erfahrungen. Pilgern ist mithin auf der subjektiven Ebene auch heute religiös geprägt. In einem weiteren psychologischen Beitrag der beiden Autorinnen zusammen mit Karin Kerpen 88 bringen sie die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Religiosität ins Spiel. Pilger mit intrinsischer Religiosität bewerten ihr Veränderungserleben deutlich positiver als Pilger mit extrinsisch motivierter Religiosität. Interessant ist auch der Aspekt der habituellen Selbstzentrierung der Aufmerksamkeit, also die Wahrnehmung der eigenen Gefühle, Wünsche, Sorgen etc.: Diese ist bei Pilgern bereits vor der Reise deutlich stärker ausgeprägt als im Bevölkerungsdurchschnitt (und steht vermutlich in Zusammenhang mit ihrer stärkeren Religiosität). Hinsichtlich des Veränderungserlebens zeigen sie, dass besonders Aspekte der Innenwelt (Selbstvertrauen, Religiosität etc.) sich positiv verändern - also genau die Gegenstände der selbstzentrierten Aufmerksamkeit. Offen beschreiben die Autorinnen die Desiderate ihrer Studien, insbesondere, ob Pilgern die Selbstzentrierung schwächt, oder, ob diese für Pilger anderes zu fassen sei, etwa indem die Einbettung in einen umfassenden (Sinn-)Zusammenhang ein Transzendieren des Selbst befördern. Es ist sehr zu wünschen, dass diese aufschlussreichen Aspekte weiter erforscht werden. Sarah Pali bietet eine Fragebogen-Längsschnittstudie zu Lebenssinn und Lebensbedeutungen bei Pilgern. 89 Dabei zeigt sich: Potenzielle Pilger sehen sich überdurchschnittlich häufig mit der Sinnfrage konfrontiert, suchen Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung und sind unkonventioneller: Weil man in einer Art Sinnkrise ist, muss man Vertrautes verlassen und eigene neue Wege suchen. Pilgern bewirkt höhere Werte für Sinnerfüllung, Selbstverwirklichung, Wir- und Wohlgefühl, Gesundheit, Naturverbundenheit und Religiosität. Auch wenn die genannten Längsschnittstudien Verzerrungen durch ein positives Selbstbild der Befragten nicht ausschließen können, legen sie doch eine nachhaltige transformative Wirkung nahe. Sie bringen aufschlussreiche Frageperspektiven ein, die mit elaborierteren Studien weiter verfolgt werden sollten. Als anschlussfähige und aufschlussreiche ethnologische Kategorien erweisen sich vielfach Victor Turners - auch am Pilgern gewonnene - ritualtheoretische 88 Vgl. Filipp/ Kerpen/ München 2017. 89 Vgl. Pali 2010; Vgl. Schnell/ Pali 2013. <?page no="88"?> Konzepte der Liminalität und der Communitas. 90 Pilgern bietet nach Patrick Heiser und Christian Kurrat 91 für die Bearbeitung der biografischen Auslöser eine liminale Phase der Außeralltäglichkeit. Es ist ein gegenüber dem Alltag gegensätzlicher Raum, der geprägt ist durch Körperlichkeit, Naturkontakt, Sinnlichkeit, Transzendenzbezug, Uniformität der Kleidung, simple Tagesstruktur mit wenigen Entscheidungssituationen und materielle Reduktion. Heiser und Kurrat erkennen eine - durch ähnliche Erscheinungsbilder und Erfahrungssituationen erleichterte - intensive Kommunikation und schnelle Vertrautheit, die als Communitas beschrieben wird. Über die synchrone hinaus entstehe auch eine diachrone Gemeinschaft. Mit Bezug auf Max Weber wird das Pilgern als zeitlich begrenzte außeralltägliche und zugleich innerweltliche Askese bestimmt, die die Bearbeitung biografischer Auslöser durch Erlösung im Diesseits gewährleisten will. Zugleich wird das Pilgern aufgrund des erhöhten Transzendenzbezugs als religiöses Handlungsformat beschrieben. Barbara Haab 92 greift Turners Phasenmodell auf und fokussiert auf die mittlere, liminale Phase, in der soziale Alltagsnormen und -hierarchien zugunsten einer Communitas als unstrukturiert-egalisierter Gemeinschaft überschritten werden. So wird der Ritus Pilgern zu einem Raum möglicher Neustrukturierung, der innovativ und transformatorisch wirken kann. 93 Haab stellt fest, dass das subjektive Erleben von intersubjektiven Faktoren abhängt. Sie konstatiert - das Konzept des Passagerituals erweiternd - ein Modell von fünf typischerweise aufeinanderfolgenden Phasen innerer Transformation: Auf die Loslösung vom Alltag und eine erste spirituelle Öffnung folgen Reinigung und Leerung, die in der dritten Phase vertieft wird. Auf den Verlust der Klarheit folgt zuletzt ein Lösen aus der Pilgerrolle. Diese Phasen verknüpft Haab überzeugend mit den durchpilgerten Landschafts- und Kulturräumen. Anzumerken ist jedoch, dass die erhobene Konformität des Erlebens in Spannung zu der von den Pilgern behaupten Individualität steht. Dieser Spannung geht das Konzept der Vessel Rituality nach, das Paul Post 94 und Gabriele Ponisch 95 auf das Pilgern bzw. Wallfahren anwenden. Danach sind Rituale Gefäße, die einen Rahmen für vielfältige Aneignungen durch die Teilnehmer bieten. Die Rituale normieren zwar die Durchführung, lassen aber eine individuelle Bedeutungszuschreibung zu. Das mache Rituale heute attraktiv, weil sie Gemeinschaft ermöglichen, ohne zu einer gemeinsamen oder überhaupt eindeutigen Interpretation zu nötigen. Allerdings lässt sich für das Pilgern kritisch fragen, ob die Pluralität der Deutung tatsächlich so groß ist, wie 90 Vgl. Turner 1989; Vgl. Turner 2000; Vgl. Turner/ Turner 1978. 91 Vgl. Heiser/ Kurrat 2015. 92 Vgl. Haab 1998; Vgl. Haab 2000. 93 Vgl. Haab 1998, 16f. 94 Vgl. Post 2011. 95 Vgl. Ponisch 2008, 210-225. <?page no="89"?> von Post und Ponisch behauptet und von vielen Pilgern für sich in Anspruch genommen. Dagegen sprechen die von Haab erhobenen, mit dem Kontext des Weges gegebenen objektiven Wirkfaktoren des durchpilgerten Landschafts- und Kulturraums wie auch Lienaus Feststellung der Übernahme sozial kommunizierter Deutungen. Wie das je eigene Erleben mit äußeren Faktoren verknüpft ist, bleibt weiter zu erforschen. Dabei wäre auch auf die populären geomantischen Vorstellungen einzugehen, die vor-soziale objektiv-natürlich gegebene Einwirkungen postulieren. Die Ritualität des Pilgerns kann nicht nur über Phasenmodelle, sondern auch über explizit rituelle Akte erfasst werden. In einer kleinen Studie 96 untersucht Detlef Lienau traditionelle und neu entwickelte, offizielle und inoffizielle Ritualisierungen. Einerseits seien einige traditionelle Rituale wie das Ablegen eines Steines am Cruz de Ferro und die Umarmung der Jakobusstatue in der Kathedrale von Santiago nach wie vor selbstverständlich, insbesondere wenn sie konkreten Orten anhaften. Daneben entwickeln sich neue experimentelle liturgische Praktiken wie das Aufstellen abgelaufener Schuhe. Am Cap Finisterre werden als Zeichen des Abschlusses der Pilgerreise aufgetragene Socken aufgehängt oder verbrannt - womit mittelalterliche Riten, die zwischenzeitlich brach lagen, in modifizierter Form wieder aufgenommen werden. Das verändernde Recycling überkommener Rituale, wäre weiter zu erforschen, da es die einseitige These des Traditionsabbruchs ergänzt durch Phänomene religionskulturellen Wandels. Lienau unterscheidet diachrone und synchrone Funktionen dieser Rituale: Man möchte sich mit den vorangegangenen, gleichzeitigen und zukünftigen Pilgern als Gemeinschaft konstituieren. Durch den Austausch ähnlicher Erfahrungen vergewissert man sich gegenseitig. Indem man sich durch hinterlassene Objekte in den Weg einschreibt, macht man sich für Nachfolger bedeutsam, was wiederum die Bedeutsamkeit für einen selbst steigert. Auch vermeintlich individualisierte Religion bleibt auf einen sozialen Bezugsrahmen angewiesen. Markus Gampers Beitrag 97 fragt in Anlehnung an Durkheim, der auf die sozialintegrative Funktion von Riten abhebt, nach der Funktion des Pilgerns angesichts starker Individualisierung. Er unterscheidet im Vollzug des Pilgerns Phasen, die eher individuell absolviert werden, von solchen, die stark von der Kommunikation untereinander leben. Letztlich betont er ähnlich Durkheim die inkludierende Funktion des Pilgerns. Das Soziale ist auch heute auf dem Camino Francés wesentlich, bleibt aber vorübergehend. 96 Vgl. Lienau („Liturgie en pasant“; noch unveröffentlicht). 97 Vgl. Gamper 2017. <?page no="90"?> Ob Pilgern (noch) eine Form von Religion ist, wird gerade im Gegenüber zur verwandten Reiseform des Wanderns verhandelt. In seinen quantitativen Studien hat Rainer Brämer 98 vom Deutschen Wanderinstitut gefragt, was Pilgern attraktiv macht und wie es sich zum Wandern verhält. Brämer betont Ähnlichkeiten von Wanderern und Pilgern. Beide Gruppen suchen Landschaft und Natur, Förderung der Gesundheit und Stressreduktion. Natur stehe für eine einfache überschaubare und heile Welt. Kritisch attestiert Brämer Pilgern ein Regressionsmotiv: Sie suchen rückwärtsgewandt Nostalgie, ein einfaches, harmonisches und stressfreies Leben in heiler Welt. Der Rückzug in einfache, heile und natürliche Welten sei auch Kernmotiv des Wanderns. Ein weiteres Indiz für die Nähe des Pilgerns zum Wandern sei die Nachrangigkeit religiöser Motive. Demgegenüber betont Judith Specht in ihrer Doktorarbeit, die einen interviewbasierten Vergleich von Fernwanderern und Pilgern vornimmt, die Unterschiede zwischen Wanderern und Pilgern. Sie arbeitet die beiden Typen ‚Wandern als Urlaub‘ und ‚Wandern als Passageritual‘ heraus. Die Urlaubswanderer suchen idealisierte zivilisationsfreie Natur als Kulisse, die sie vom Alltag befreit, und haben kein Interesse an Glaubens- und Lebensfragen sowie nachhaltigen persönlichen Veränderungen. 99 Den Passagerituellen hingegen ist der symbolisch-spirituelle Mythos des Weges, der die Wahrnehmung der Natur verändert und symbolhafte Deutungen auf den Lebensweg nahelegt, wichtig, was Brämer als bloße Kulissenfunktion der Natur für innere Prozesse kritisiert. 100 Unabhängig davon, wie sehr man die Nähe von Pilgern und Wanderern veranschlagt, zeigt sich eine hohe Bedeutung der Natur auch für Pilger. Dass im Pilgern auch Momente der Regression und der Alltagsflucht eine Rolle spielen, spricht an sich noch nicht gegen seinen religiösen Charakter, der von fast allen Studien auch so gesehen wird. 101 Vielmehr wird hier eine Veränderung der religiösen Praxis sichtbar, in der auch die Natur zu einer Sinnressource wird, die einen Gegenpol bildet zu einem medialisierten, körperlosen, komplexen und als bloße Konstruktion empfundenen Alltag. Nicht das Ob des religiösen Charakters des Pilgerns, sondern dessen Wie einschließlich seiner inneren Differenziertheit wäre weiter zu erforschen. 98 Vgl. Brämer 2005; Vgl. Brämer 2010. 99 Vgl. Specht 2009. 100 Vgl. Brämer 2009. 101 Vgl. Heiser/ Kurrat 2015; Vgl. Lienau 2015a; Vgl. Gamper/ Reuter 2012b. <?page no="91"?> Pilgern wird vielfach als Indikator für den gegenwärtigen religionskulturellen Wandel verstanden. Einerseits werden aus der empirischen Analyse der Pilgerpraxis Schlussfolgerungen gezogen. Andererseits wird das Pilgern - eher losgelöst von einer differenzierten Wahrnehmung der Praxis - als Metapher für die gegenwärtige Situation von Religion gebraucht. Sebastian Murken und Franziska Dambacher 102 betrachten in einer kleinen Studie das Pilgern als Beispiel für die Entwicklung von Religion hin zu individualisierten und erfahrungsbezogenen Formen von Religiosität, die die geistige Optimierung des Einzelnen zum Ziel haben. Heiser und Kurrat 103 betrachten es als zeitgenössische Form von Religion, insofern es dem Einzelnen großen Gestaltungsfreiraum gibt, was diesen wiederum mit der Kontingenz seiner Wahl konfrontiert, was zu einer freiwilligen Re-Integration in eine Gemeinschaft führt, die jedoch immer unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit steht. Dies ermögliche auch denen, die keinen Bezug zu tradierten und institutionalisierten Formen von Religion haben, religiöse Praxis. In verschiedenen Beiträgen setzt sich Detlef Lienau damit auseinander, wie sich im Pilgern der religionskulturelle Wandel widerspiegelt. 104 Pilgern wird der meistgenannten - an funktionale Religionsverständnisse anknüpfenden - Intention, sich selbst zu finden, gerecht: Der Wegcharakter des Pilgerns, die probeweise Übernahme einer Rolle, das ausschreitende Erschließen von Welt, die durch Einleibung erleichterte Einbindung in die Welt, die in der Herausforderung mögliche Selbstermächtigung, die in der Offenheit der Situation erfahrenen Möglichkeitsräume wie auch die Notwendigkeit der Zielorientierung und die in der Begegnung mit dem Unvertrauten geübte Differenzkompetenz ohne Selbstverlust bieten verdichtete Erfahrungsfelder der Selbstfindung. Diese entsprechen den Herausforderungen heutiger Identitätssuche. Pilgern sei attraktiv, weil es weniger Antworten vorgebe, als Räume öffne, was die produktiven Sinnbildungsprozesse erkläre. Diese Räume sind durch die Pole Identität versus Fremdheit, Begrenztheit versus Weite, Bestärken versus Irritieren, Moment versus Ziel aufgespannt. Weiterhin analysiert Lienau das Pilgern hinsichtlich des für heutige Religiosität zentralen Aspekts der Individualität. 105 Pilger heben darauf ab, Erfahrung selbst zu machen. Dies stützt die Annahmen subjektivitätstheoretischer Religionstheorien. Aber diese Individuierung impliziere keine Individualisierung: Es ist wesentlich an den gemeinschaftlichen Vollzug gebunden - selbst wenn die Ge- 102 Vgl. Murken/ Dambacher 2010. 103 Vgl. Heiser/ Kurrat 2015. 104 Vgl. Lienau 2015a, 407ff.; Vgl. Lienau 2009a. 105 Vgl. Lienau 2014a; Vgl. Lienau 2009b. <?page no="92"?> meinschaft in unverbindlicher Verbundenheit für die je eigene Erfahrung strategisch genutzt werde. Die Selbstreflexivität, also das Wissen um die Revidierbarkeit und Funktionalisierung der Einbindung, schwächt die Wirkung der Gemeinschaftserfahrung. Zudem sei auch ihre Deutung in soziale Symbolkommunikation eingebettet. Sie arbeiten mit Symbolen, die von Reiseberichten, Filmen, sozialen Medien, Mitpilgern und der Tradition übernommen werden. Für die Frage der Individualisierung sei schließlich ein dritter Aspekt wichtig: Einige Pilger erfahren sich als unmittelbar in das Geschehen eingebunden und von den Dingen affiziert. Sie gehen in einer Atmosphäre auf und heben in symbiotischen Erfahrungen ihre Autonomie auf. Gerade solche als unmittelbar beschriebenen Erfahrungen schildern Pilger als authentisch und in besonderem Maß Gewissheit verbürgend. Subjektivität muss also nicht in Autonomie münden, vielmehr kann Individualität zugunsten symbiotischer Selbstaufhebung aufgegeben werden. Norbert Puschmann 106 analysiert den metaphorischen, vor allem soziologischen Gebrauch des Terminus Pilgern zum Beschreiben gegenwärtiger Religiosität. Er bezieht sich primär auf Hervieu-Léger 107 , bei dem Pilgern für Religion in Bewegung steht, die sich nicht festlegt. Zygmund Bauman 108 definiert hingegen den Pilger als Metapher für eine ganz andere Haltung. Bei ihm steht der Pilger für den Menschen der Moderne, während für die Haltung der Postmoderne der Flaneur steht. Pilgern meint bei Bauman, sich festzulegen auf und einzusetzen für ein großes Ziel, während der Postmoderne Flaneur das Spiel offenhält. Daran orientiert sich auch der metaphorische Gebrauch bei Winfried Gebhardt 109 , der einen Idealtypus spätmoderner Religiosität des spirituellen Wanderers zwischen dem modernen Pilger und dem postmodernen Flaneur festmacht. Christoph May 110 bietet eine fundierte Erarbeitung frühchristlicher Verwendung des Pilgerbegriffs als Aufstieg zu Gott etwa bei Philo von Alexandrien, Origenes und Gregor von Nyssa, dann auch in der Moderne als Verwirklichung des Menschseins bei Samuel Becket und Albert Camus, Charles de Foucault und Simone Weil, die er mit gegenwartskulturellen und gottesdienstlichen Aspekten ins Gespräch bringt. Das Pilgern ist medial außerordentlich präsent. Diese öffentliche Wahrnehmung geht weit über die quantitative Relevanz des tatsächlichen Pilgerns hin- 106 Vgl. Puschmann 2012. 107 Vgl. Hervieu-Léger 2004. 108 Vgl. Bauman 1994; Vgl. Bauman 1997. 109 Vgl. Gebhardt 2006. 110 Vgl. May 2004. <?page no="93"?> aus, denn Pilgern gilt als symptomatisch für den religionskulturellen Wandel. Dies macht die mediale Reproduktion des Pilgerns auch für die Forschung interessant, denn sie spiegelt den Wandel des Religiösen bzw. die Annahmen über ihn wider und produziert ihn zugleich, da sie die Einstellungen der Pilger prägt. Bis vor wenigen Jahren lief die mediale Kommunikation zum Pilgern vor allem über literarische Reiseberichte. Nicht erst Hape Kerkelings Bestseller, das auflagenstärkste deutschsprachige Sachbuch, eröffnet dieses Genre, sondern bereits vor ihm der weltweit meistgelesene Autor Paulo Coelho. Ruth Stoffel 111 bietet einen Vergleich der Reiseberichte des Komikers Kerkeling mit dem eines spanischen Mönches. Sie sieht die relativ stärkere Rezeption Kerkelings darin begründet, dass er das Pilgern von der Sache her und in der Form weniger anspruchsvoll schildert. Michaela Kura 112 kommt in ihrer Analyse zeitgenössischer Pilgerberichte zu dem Ergebnis, dass Pilgern als Abenteuer geschildert wird. Umfassender analysiert Detlef Lienau in kulturhermeneutischen Studien Reiseberichte und Filme, wobei er besonders auf den Aspekt der Religion abhebt. In seiner Analyse von fünf deutschsprachigen Reiseberichten von Kerkeling, Coelho, MacLaine, Rohrbach und Hoinacki findet er einerseits allen Büchern gemeinsame Topoi, die dicht am tatsächlichen Pilgern sind: Heterotopie, Leiblichkeit, Erleben und Identität. 113 Andererseits findet er eine große Bandbreite zwischen dem Jedermannspilgern bei Kerkeling und dem Helden Coelhos, der Esoterik MacLaines, der atheistischen Naturmystik Rohrbachs und der christlichen Religiosität Hoinackis. In zwei kulturhermeneutischen Studien zum Pilgern im Spielfilm zeigt Lienau 114 , dass das Pilgern als voranschreitendes Geschehen für den populären Film attraktiv ist, weil es innere Veränderungsprozesse an einem äußeren Geschehen sichtbar machen kann. Alle untersuchten Filme folgen dem Schema eines Transformationsritus. Auffällig sind medienspezifische Veränderungen: In den Büchern (mit Ausnahme Kerkelings) begegnen wir starken Protagonisten, die wenig aus sozialen Kontakten leben. Im Pilgerfilm hingegen spielt sich Religion im Wechselspiel zwischen distanzierten aber offenen Subjekten und starken Symbolen ab: Anachronistisch-mittelalterliche Formen des Religiösen von Gotik bis Gregorianik, die eindeutig als Religion zu identifizieren sind, treffen auf Pilger, die selbst Religion nicht zu verkörpern vermögen, sondern sie allein im Modus einer vagen Sinnfrage mitbringen, sich dann aber von den starken Formen des Religiösen ansprechen lassen. In dieser Stellung auf der Schwelle von 111 Vgl. Stoffel 2008. 112 Vgl. Kura o. J. 113 Vgl. Lienau 2009a, 87-105; Vgl. Lienau 2015a, 199-242. 114 Vgl. Lienau 2015b; Vgl. Lienau 2014b. <?page no="94"?> expliziter und impliziter Religion liegt das Potenzial des Pilgerns für den Film. Anders als in den Reiseberichten und in der empirischen Beschreibung des Pilgerns heben die Filme deutlich stärker auf explizite Religion ab. Vermutlich ist das den audiovisuellen Möglichkeiten des Films geschuldet, zeigt zugleich aber einen aufschlussreichen Aspekt gegenwärtiger Religiosität: Je weniger Prägung die Menschen durch schwindende religiöse Bildung mitbringen, desto notwendiger und attraktiver werden die Angebote expliziter Religion. Nicht zuletzt, weil in einer Befragung von Julia Reuter und Veronika Graf 115 knapp die Hälfte der Pilger angab, durch Film, Fernsehen und/ oder Internet auf das Pilgern aufmerksam geworden zu sein, legt sich weitere Forschung zur Kommunikation über das Pilgern etwa in den Sozialen Medien nahe. Einen speziellen Zugang bietet die religionsethnografische Dissertation von Tommi Mendel 116 , die wesentlich in einem Dokumentarfilm besteht. Dieser stellt in religionswissenschaftlicher und visuell-anthropologischer Perspektive das Jakobspilgern und Backpacking in Südostasien gegenüber und hebt auf deren Gemeinsamkeiten ab. Insbesondere methodisch - indem die filmische Aufzeichnung nicht bloßes Mittel der Erhebung ist, sondern das Ergebnis und wesentliche Form der Forschungsdokumentation - betritt dieses Projekt Neuland. Zahlreich sind Studien, die Pilgern als Form des Tourismus untersuchen. Leitende Aspekte sind, wie sich das Pilgern zu anderen Reiseformen verhält, sein touristisches Potenzial und das Label Spiritueller Tourismus. Eine breite Palette tourismuswissenschaftlicher Zugänge zum Pilgern verarbeitet Karlheinz Wöhler, 117 der so eine gute Basis zur Verknüpfung kulturwissenschaftlichtheologischer und touristischer Perspektiven bietet. Gegenüber den meisten anderen Reiseformen, die Ankommensfahrten sind, sieht er die Weghaftigkeit als Spezifikum des Pilgerns. Allen Typen des Tourismus ist gemein, dass das Reisen auf eine radikal säkulare Welt mit der Ermöglichung von Andersheit reagiert. In der Suspendierung der Alltagswelt sieht Wöhler Analogien zu Passageritualen. Diese Selbstunterbrechung werde im Pilgern in besonderer Weise als Freiraum der Selbsterkundung und -vergewisserung genutzt. Wöhler greift auf MacCannell zurück, der Reisen als Suche nach Authentizität versteht, und beschreibt die touristische Reise als Fortsetzung des Pilgerns, insofern beide Andersheit suchen. Er ordnet beide Reiseformen in einem fünffach gegliederten Kontinuum vom reinen Touristen bis zum reinen Pilger an. Aufschluss- 115 Vgl. Reuter/ Graf 2012, 140. 116 Vgl. Mendel 2015. 117 Vgl. Wöhler 2007. <?page no="95"?> reich wäre es, Wöhlers Andeutungen zur De-Kontextualisierung des Pilgerns mit seinen Raum-Konzepten wie auch empirischer Analyse zu verknüpfen. Michael Stausberg 118 stellt Tourismus und Religion sowie Touristen und Pilger gegenüber - und sieht diese Gegenüberstellung zugleich durch Hybridisierungen in Frage gestellt. Allerdings verbleibt er häufig in einer bloßen Aneinanderreihung von Material und trägt so nur bedingt zum Verstehen religiösen Reisens bei. Das populäre Label des Spirituellen Tourismus 119 hilft, eine schroffe Unterscheidung des Pilgerns von anderen Reiseformen zu verhindern, die leicht zu einer Überhöhung des Pilgerns führt, das zudem durch vielfältige Hybridisierungen teilweise Nähe zum Tourismus gefunden hat. Der von Christian Antz 120 geprägte Begriff umfasst Reiseformen, die auf den Eindruck höherer Bedeutsamkeit und Sinnorientierung zielen. Dabei kann offenbleiben, ob dies mit expliziter Religion verbunden ist. Letztlich ist nicht die Destination für die Bezeichnung als spiritueller Tourismus ausschlaggebend, sondern die auf subjektive Relevanz zielende Durchführung. Es geht um Nähe zum und Vertrautwerden mit dem Besonderen, das Spüren tiefer Wirkungen und das Empfangen von Lebensanstößen und Lebenssinn. Auch für den spirituellen Tourismus findet sich - wie oben für das Pilgern beschrieben 121 - je nach dem Grad der Ernsthaftigkeit eine abstufende Typologie: Neben den Ergriffenheitssuchern, denen, die dabei gewesen sein wollen, und den modernen Kulturwallfahrern gibt es auch die leidenschaftlichen Bildungsreisenden und die Sinnsucher, denen ein höheres Maß an existenziellem Interesse zugebilligt wird. Aufschlussreich ist der Vergleich des Pilgerns mit der verwandten Reiseform der Wallfahrt. Michael Rosenberger 122 arbeitet in seiner phänomenologisch angelegten Studie das Erfahrungspotenzial der Wallfahrt auf dem Hintergrund der nachkonziliaren Theologie heraus. Irmengard Jehle 123 hat eine umfangreiche Darstellung der Wallfahrt nach Lourdes vorgelegt. In der Gegenüberstellung wird deutlich, wie sehr das Pilgern als institutionell ungebundenere, weniger kollektiv und liturgisch durchstrukturierte und experimentelle Form des religiösen Unterwegsseins den aktuellen religionskulturellen Wandel widerspiegelt. Markus Gamper und Martin Lörsch 124 vergleichen Jakobspilger mit Heilig- Rock-Wallfahrern. Beide Gruppen zeigen deutliche soziodemografische Unterschiede: Pilger haben eine höhere Bildung, sind jünger, intendieren Selbstsuche und Ausklingen statt traditionell religiöser Motive (wenngleich beide Gruppen 118 Vgl. Stausberg 2010. 119 Vgl. Berkemann 2006; Vgl. Würbel 2006; Vgl. Sommer/ Saviano 2007; Vgl. Jafari 2008. 120 Vgl. Antz/ Isenberg 2006. 121 Vgl. Wöhler 2007; Vgl. Gamper/ Reuter 2014. 122 Vgl. Rosenberger 2005. 123 Vgl. Jehle 2002. 124 Vgl. Gamper/ Lörsch 2017. <?page no="96"?> sich gleich religiös einschätzen) und sind kirchenferner. Während die Gruppe der Wallfahrer weiblich dominiert ist, ist die der Pilger geschlechtlich gemischter. Eine an Kirchlichkeit und Erfahrungsinteresse orientierte Typologie zeigt die Parallelen beider Gruppen. Trotz teils ähnlicher Aspekte wie Sinnsuche und Gemeinschaft folgen beide Angebote unterschiedlichen Logiken, die verschiedene Zielgruppen ansprechen. Lörsch 125 kann mit einer empirischen Studie zu den Helfern bei der Heilig- Rock-Wallfahrt die starke religiös-kirchliche Motivation und die positive Wirkung des Einsatzes auch für die Bewertung von Kirche und Glaubenswachstum zeigen - horizontale und vertikale Dimension des Glaubens hängen mithin positiv zusammen. Nicht nur die Pilger und ihre Erfahrungen, sondern auch diejenigen, die den Rahmen dafür schaffen, als relevant anzuerkennen, ist auch für das Verständnis des Pilgerns weiter zu untersuchen. Vermutlich machen auch die Hospitaleros selbst wichtige Erfahrungen und sind relevante Akteure. Zahlreiche kleinere praxisorientierte Studien thematisieren das touristische Potenzial des Pilgerns. 126 Cornelia Engemann 127 befragt Anbieter von Pilgerreisen, beschreibt deren Ausrichtung und Marketing und entwickelt mittels einer SWOT-Analyse strategische Empfehlungen für Unternehmen. In diesem Marktsegment sei Glaubwürdigkeit entscheidend. Nicola Kopp 128 untersucht zwei deutsche Jakobswege mittels Fragebogenerhebung, Leitfadeninterview und teilnehmender Beobachtung. Sie erkennt im Pilgern eine verantwortbare Form des Tourismus, sieht die untersuchten Wege gut aufgestellt und empfiehlt, deren Potenzial durch Profilierung des religiös-spirituellen Spezifikums zu stärken. Auch Christian Antz 129 sieht ein großes Wachstumspotenzial für Angebote im Bereich Pilgern und Wallfahrt. Wie sich die Nutzung der oft nur schwach frequentierten neu errichteten Pilgerwege steigern lässt, reflektiert ein Beitrag von Detlef Lienau 130 . Er nimmt an, dass viele Touristiker Pilgerwege als konstruierbar betrachten und damit etwas für Pilger Wichtiges übersehen. Diese möchten Erfahrungen mit einer ‚Aura der Faktizität‘ (Clifford Geertz) machen, die Authentizität ausstrahlt und so Gewissheit verbürgt. Während Touristen um die Inszeniertheit der Urlaubswelt wissen und diese im Als-Ob erleben, suchen Pilger Authentizität und möchten sich in einem Wirklichkeit ausstrahlenden Raum bewegen und erfahren. Dadurch sind den Touristikern ‚Grenzen des Machbaren‘ gesetzt. Vielmehr sei das vermeintlich Gegebene von Natur, Leiblichkeit und Kirchengebäuden als Sinnressourcen stark zu machen. 125 Vgl. Lörsch 2017. 126 Vgl. Maak 2010; Steinbauer 2011. 127 Vgl. Engemann 2009. 128 Vgl. Kopp 2007. 129 Vgl. Antz 2010. 130 Vgl. Lienau 2013b; Vgl. Lienau 2007. <?page no="97"?> Wertvolle Forschungsprojekte sind durch die Fachstelle Pilgern der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn motiviert worden. Andreas Zeitlhofer 131 zeigt durch Interviews mit Akteuren am Schweizer Jakobsweg, dass dieser einen Beitrag zur Entwicklung ländlicher Räume erbringen kann, wenn er in das Tourismuskonzept integriert wird. Stefan Dähler 132 kann durch eine Fragebogenstudie zeigen, dass das Pilgern in der Schweiz einen anderen Charakter als auf dem spanischen Hauptweg hat: In der Schweiz pilgern mehr Frauen (60 %), deutlich weniger Einzelpilger (13 %, aber 40 % in geführten Gruppen), mehr 45bis 65-Jährige (etwa 50 %), weniger internationale Langstreckenpilger (12 % gegenüber 60 % Tagespilgern) und fast ausschließlich Deutsche und Schweizer. Thomas Schweizer 133 untersucht mittels teilnehmender Beobachtung in der Schweiz 80 Objekte in den Bereichen Kirchen, Gastgeber und Touristeninformationen: Pilgern ist sanfter Tourismus und anders als im Wandern geht es weniger um körperliche Herausforderung und landschaftliche Höhepunkte als um Sinnfragen. Gastangebote brauchen ein sinnliches Arrangement (weil Pilgern in der Natur die Sinne öffnet), Möglichkeiten körperlicher und mentaler Regeneration und müssen auf die Interessen der Pilger an Beziehung, Authentizität und Natürlichkeit eingehen. Schweizer fragt nach der Öffnung von Kirchen und wie sie zur persönlichen Andacht einladen. Markus Nicolay 134 untersucht in einer kleinen Studie die unterschiedlichen Anbieter wie Bruderschaften, Kirche und Gastgeber. Die Pilgerforschung bietet ein breites, bisher noch wenig systematisiertes Feld. Dennoch soll abschließend versucht werden, einige Trends und Forschungsaufgaben zu bestimmen. Die meisten Autorinnen und Autoren gerade der umfangreicheren Studien kommen aus eigener Pilgerpraxis zum Thema. Ihre Kenntnis des Feldes ist gut, was vielen Feldstudien zugutekommt. Zugleich wäre nach einer kritischen Perspektive zu fragen, die neben der Faszination für das Pilgern auch dessen Grenzen in den Blick nimmt. Die Pilgerforschung ist stark sozialwissenschaftlich und empirisch geprägt, wobei sowohl quantitative als auch qualitative Methoden eingesetzt werden. Hilfreich wäre es, wenn dem Verstehen des Materials mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden könnte, als dies in den oftmals kleinen Studien möglich ist. Insbesondere sollten die empirischen Ergebnisse stärker an grundsätzliche 131 Vgl. Zeitlhofer 2006. 132 Vgl. Dähler 2009. 133 Vgl. Schweizer 2011. 134 Vgl. Nicolay 2013. <?page no="98"?> religionssoziologische Diskurse angeknüpft werden, um die Theoriedebatten besser empirisch erden zu können. Viele Studien können zu den Tiefenschichten vorbewusster Aspekte nur bedingt vorstoßen. Damit ist das Risiko verbunden, dass nur einem Idealbild folgende Selbstbeschreibungen erhoben werden. Hier sollte gegen eine Idealisierung des Pilgerns kritischer nachgehakt werden. Insbesondere sollten Aspekte leiblicher Erfahrung mehr Berücksichtigung finden. Kritischer wäre zu fragen, welche Forschungsgegenstände überhaupt sinnvoll quantitativ zu bearbeiten sind. Viele Studien nehmen Pilgern als religiös-spirituelles Phänomen wahr. Allerdings bleibt der dabei zugrunde gelegte Religionsbegriff deutlich hinter dem aktuellen Diskussionsstand zurück. Eine religiöse Motivation zum Pilgern kann heute sicherlich nicht mehr an dem Item ‚Buße tun‘ festgemacht werden, sondern sollte subjekttheoretisch als Sinnsuche im Unbedingtheitshorizont entwickelt werden. Auch die Einbettung in den religionskulturellen Wandel bleibt stereotypenbehaftet und eine differenzierte Anknüpfung an die Diskussion über populäre Spiritualität notwendig. Pilgern ist ein motivierendes Thema, was sich in der großen Anzahl an kleineren Qualifikationsarbeiten und Studien niederschlägt. Dabei kommt die Verknüpfung der dominanten sozialwissenschaftlichen Zugänge mit den Perspektiven anderer Disziplinen oft zu kurz. Es wird wichtig sein, das Pilgern durch umfangreichere Forschungsarbeiten als relevanten Forschungsgegenstand zu etablieren und auf eine stärkere interdisziplinäre Wahrnehmung der bereits geleisteten Forschung zu achten. Pilgern ist einem rasanten Wandel unterworfen. Die älteren Arbeiten von Feinberg und Haab beziehen sich auf eine elitäre Praxis, die nicht mit der heutigen Realität identifiziert werden darf. So ließe sich fragen, wie es zur Popularisierung kommt, was stärkeres Vorwissen und neue Informationswege wie soziale Medien verändern, ob die quantitative Steigerung auch qualitative Folgen hat und wie alt eingesessene und neue Pilger miteinander auskommen. Neben der Spannbreite von Kurzbis Langstreckenpilgern, von Einzelbis Gruppenpilgern ist auch in zeitlicher Hinsicht die innere Vielgestaltigkeit des Phänomens Pilgern stärker in den Blick zu bekommen. Dies würde exemplarische Erkenntnisse über den religionskulturellen Wandel und ggf. auch Aussagen über typische Veränderungen religiöser Phänomene durch Popularisierung ermöglichen. <?page no="99"?> Andritzky, W. (1998): Zur heilerischen Funktion des Wallfahrtswesens. Mit Ergebnissen einer teilnehmenden Beobachtung der Prümer Echternachwallfahrt. In: Curare. Zeitschrift für Ethnomedizin 12/ 3-4. 201-223. Antz, C. (2010): Wandern - Pilgern. Die Zukunft des Wallfahrens. In: Egger, R./ Herdin, T. (Hg.) (2010): Tourismus im Spannungsfeld von Polaritäten. Wien/ Berlin. 321- 336. Antz, C./ Isenberg, W. (2006): Heilige Orte, sakrale Räume, Pilgerwege. Möglichkeiten und Grenzen des Spirituelles Tourismus. Magdeburg/ Lutherstadt Wittenberg/ Bensberg. (= Tourismus-Studien Sachsen-Anhalt 24. Bensberger Protokolle 102) Bauman, Z. (1997): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg. Bauman, Z. (1994): Vom Pilger zum Touristen. In: Das Argument 205. 389-408. 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Die zunehmende Beliebtheit dieses kirchlichen Angebots beinhaltet zugleich Potenziale für die Zusammenarbeit von Kirche und Tourismus, aber auch für die eigene kirchliche Standortbestimmung als „öffentliche Kirche“. <?page no="106"?> Viele Kirchengemeinden haben mittlerweile bewusst die Entscheidung getroffen, ihre Kirchen verlässlich zu öffnen und dies auch öffentlich publik zu machen. Sie laden damit Menschen zur Einkehr ein. Besonders die Kirchen, die an stark frequentierten und auch touristisch interessanten Wegen liegen, haben ein besonderes Profil entwickelt. So gibt es nicht nur die traditionellen Kirchen und Kapellen an den Pilgerwegen, sondern mittlerweile auch Radwegekirchen, Citykirchen und Autobahnkirchen. 135 Bei aller Unterschiedlichkeit ist ihnen gemeinsam, dass sie geistliche Orte sind, die bewusst zu Entspannung, Besinnung und inneren Einkehr einladen. Sie stehen den Besuchern in einer beschleunigten Mobilitätsgesellschaft als „Durchreise-Insel“ oder „Kurzweil-Insel“ 136 zur Verfügung und sind damit passagere kirchliche Orte. Besondere Bedeutung erhalten diese am Wege liegenden „Raststätten für Leib und Seele“ angesichts des Trends zum „Spirituellen Tourismus“ 137 . Während die älteste Form des spirituellen Reisens die Pilgerreise zu Fuß ist, gibt es heute sehr verschiedene Formen der Sinnbzw. Transzendenzsuche im Kontext des Reisens, die auch mit ganz unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln durchgeführt werden. Kirchen an Pilgerwegen, an Radwegen, an Autobahnen oder in Städten haben daher eine besondere Bedeutung für reisende Menschen und deren spirituellen Suche. 138 Offene Kirchen am Weg haben eine Ausstrahlungskraft auf die Passanten und Vorbeireisenden. Weit über eine Million Menschen besuchen jedes Jahr alleine die derzeit 44 deutschen Autobahnkirchen. 139 Unabhängig von ihrer sonstigen 135 Auf diese vier Hauptformen konzentriert sich die folgende Betrachtung. Das Spektrum der „Kirchen am Weg“ ist freilich noch breiter und reicht von Kapellen in Flughäfen und Fußballstadien über mobile Kirchen auf Messen, Landes- oder Bundesgartenschauen bis hin zu spezialisierten Angeboten, wie Flusspaddler-Kirchen. 136 Eberts 2012, 92. 137 Die „Trendstudie Tourismus 2020“ zählt den „Spirituellen Tourismus“ zu den wichtigsten Zukunftstrends der Branche; Vgl. Bosshart et al. (2006). Zum Ansatz und Begriff „Spiritueller Tourismus“ vgl. Antz 2012, 179ff.; Vgl. Antz 2016, 117f. 138 Zum wachsenden Bedürfnis nach Spiritualität vgl. Hendriks 2001, 28ff.; Isenberg 2016, 111. 139 Diese Zahl beruht auf Schätzungen und Umfragen der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen, die die Geschäftsführung der Autobahnkirchen in Deutschlandinnehat. Eine Untersuchung von Holze (2014) legt begründet nahe, dass die tatsächliche Zahl wohl noch weit höher liegt. <?page no="107"?> Kirchenbindung spüren die Besucher die Besonderheit dieser Kirchen und Kapellen, schätzen diese als „Unterbrechungsort“ auf ihrem Weg und suchen diese auch wiederholt auf. „Wer schon mehrfach eine Autobahnkirche besucht hat, kennt sie und hat dann den aktuellen Aufenthalt auch mehrheitlich im Reiseprogramm (73 %).“ 140 Exemplarisch nachlesen kann man die Ausstrahlungskraft dieser kirchlichen Orte in den vielen Anliegenbüchern, die in den offenen Kirchen ausliegen: „Diese kleine Kapelle ist mir in der Vergangenheit oft Ort der Ruhe geworden.“ „Was für ein Ort - man fühlt sich direkt sicher und geborgen - und das direkt an der Autobahn.“ 141 „Danke, dass ich hier in der Kapelle immer wieder Rast und eine Auftankzeit für mich erhalten darf.“ 142 Oftmals werden die offenen Kirchen am Weg aber nicht nur als Ort der Ruhe und Entspannung wahrgenommen, sondern auch bewusst als geistliche und spirituelle „Kraftorte“, an denen die Erfahrung der Verwandlung des eigenen Daseins gemacht wird: „Ich bin mit Sorgen gekommen und in Frieden gegangen.“ 143 „Mich beschäftigende Gedanken habe ich hiergelassen, neue Kraft und etwas Ruhe nehme ich mit mir für einen Neuanfang.“ 144 Die spirituellen Dimensionen des Kirchenbesuches drücken sich während des Aufenthaltes auch in den religiösen Handlungen wie Beten oder Entzünden von Kerzen aus. 145 Viele dieser Handlungen können als Zeichen bzw. Spuren von erfahrbaren Gottesbegegnungen gedeutet werden. 146 Mit Christian Grethlein kann konstatiert werden, dass „für viele Menschen Kirchen Orte sind, die zum Transzendieren einladen.“ 147 Dies gilt auch dann, wenn sich die Gemeinde nicht zum Gottesdienst versammelt und auch nicht die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament erfolgt. Offene Kirchen haben unabhängig davon einen geistlichen Mehrwert. Der Raum selbst ist es, der religiöse Potenziale in sich birgt. Grundsätzlich lassen sich drei Besuchergruppen von offenen Kirchen am Wege charakterisieren, die als Einzelne, als Familie oder als Reisegruppe kommen: [1] Menschen, die beruflich unterwegs sind und den Kirchenbesuch als bewusste „Kurzweil-Insel“ (M. Ebertz) ansteuern. 140 So die Studie „Spurwechsel“ in Ebertz 2012, 91. Schätzungen zufolge sind ein Drittel der Besucher „praktizierende Christen, ein zweites Drittel hat nur (noch) latent Bezug zur Kirche und ein weiteres Drittel hat keine kirchliche Anbindung“, Ebertz/ Lehner 2012, 85. 141 Ebertz/ Schadt 2012, 129. 142 Holze 2014, 7. 143 Umbach 2015, 329. 144 Evangelische Landeskirche in Baden 2010, 7. 145 Bei Befragungen nach Aktivitäten geben zwei Drittel „spezifisch religiöse Handlungen“ an. Vgl. Ebertz 2012, 94 u. 96. 146 Vgl. Umbach 2015, 285f. 147 Grethlein 2016, 108. <?page no="108"?> [2] Menschen, die aus der näheren Umgebung kommen und diese Kirchen bewusst wegen ihrer Anonymität und Niederschwelligkeit schätzen. [3] Menschen, die auf Reisen sind und spontan oder geplant in den Kirchen haltmachen. Gerade die dritte Gruppe zeigt, dass unter touristischen Aspekten solche Orte von besonderem Interesse sind. Freizeit und Urlaub sind immer besondere Unterbrechungen des Alltags. In diesen Zeiten sind wir offen und dankbar für neue Begegnungen und geistliche Impulse. Passagere kirchliche Orte sind dabei von besonderer Bedeutung, da sie die individuellen Bedürfnisse nach Unterbrechung als auch nach geistlicher Bereicherung abdecken. So zählt für jeden zweiten Bundesbürger der Besuch von Kirchen und Klöstern zu den beliebtesten Aktivitäten im Urlaub und jeder zwanzigste Besucher gibt an, im Urlaub dezidiert auf der Suche nach religiösen und spirituellen Erfahrungen zu sein. 148 Theologisch gesehen sind offene Kirchen am Weg eine Form der „Kirche bei Gelegenheit“ 149 . Sie knüpfen an die alte kirchliche Tradition der Begleitung von Reisenden, Pilgern und Wanderern an, denen Andachtsmöglichkeiten in Kapellen und an Kreuzen am Wegesrand angeboten wurden. Immer schon haben Menschen gewusst, dass sie, wenn sie unterwegs sind, in besonderer Weise auf den Schutz und die Zuwendung Gottes angewiesen sind. Alttestamentlich reichen diese Weg-Geschichten von Abraham, der den Auftrag bekommt, sein Land zu verlassen (Gen 12,1), über Jakob, der auf der Flucht vor seinem Bruder ist (Gen 28), bis hin zu den Propheten, die sich auf den Weg machen, um einen Auftrag zu erfüllen (z. B. Elia in 1Kön 19). Im Neuen Testament steht Josefs Weg nach Bethlehem (Lk 2) am Anfang, Jesus und seine Jünger sind dann als Wanderprediger unterwegs (z. B. Lk 10,1ff.) und der Apostel Paulus prägt später durch seine Missionsreisen das Christentum (Apg 13-18). Sie alle brauchen auf ihren Wegen Orte der Einkehr, der Rast und Ruhe; selbst von Jesus wird berichtet, dass er sich zurückzog, etwa in die Wüste (Lk 5,16). Verbunden sind diese Weg-Geschichten oft mit existenziellen Gottesbegegnungen und -erfahrungen, die das eigene Dasein verwandeln und neue Perspektiven eröffnen (z. B. Mose am Dornbusch in Ex 3, Jakobs Traum in Gen 28 oder Saulus auf dem Weg nach Damaskus in Apg 9). 150 148 Diese Ergebnisse erbrachte eine Studie, die im Auftrag der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen durchgeführt wurde. Vgl. Steinecke/ Isenberg 2011. 149 Der Begriff wurde von M. Nüchtern geprägt und von ihm auch auf die Gelegenheit des Urlaubs und des Reisens übertragen. Vgl. Nüchtern 2007, 130-139. 150 Vgl. zu den biblischen Bezügen auch Schmidt 2012, 246f. <?page no="109"?> Zwar sind die Gottesbegegnungen in der biblischen Überlieferung nicht fest an bestimmte Orte gebunden, aber dennoch spielen spezielle Orte und auch „Gotteshäuser“ eine besondere Rolle. Deshalb richtet beispielsweise schon Jakob in Gen 28 an einem besonderen Ort ein Steinmal auf und salbt es mit Öl. Trotz des Vorhandenseins von Orten der exemplarischen Gegenwart Gottes bleibt immer auch das Bewusstsein präsent, das König Salomo in seinem Tempelweihgebet benannt hat: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen - wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe? “ (1Kön 8,27). Auch wenn Gott selbst keine besonderen Räume benötigt, braucht der an Zeit und Raum gebundene Mensch bevorzugte Orte, die unter der Verheißung der Gottesgegenwart und -begegnung stehen. „Kirchen sind bevorzugte Orte solch religiöser Erfahrung. Dadurch werden sie für Menschen zu besonderen Orten.“ 151 Warum nun diese besonderen Orte nicht nur für bestimmte Zeiten der Versammlung der Gemeinde geöffnet werden, sondern für alle Passanten verlässlich offenstehen sollten, ist eine Frage des kirchlichen Selbstverständnisses. Ist die Kirche der Raum einer kleinen, aber feinen Kontrastgesellschaft, deren Mitglieder ihre Identität dadurch gewinnen, dass sie sich von der umgebenden Gesellschaft absondern? Oder ist sie ein öffentlicher Raum, der mit klaren geistlichem Profil im offenen Austausch mit der Zivilgesellschaft steht? Jörg Siep gibt anhand von Autobahnkirchen auf diese Grundsatzfrage die Antwort: „Schon allein dass an Autobahnen Kirchengebäude stehen, an einem benennbaren Ort und geöffnet zu verlässlicher Zeit, schon allein das ist eine Aussage über die Identität der Kirche. Diese Aussage lautet: gegen den Rückzug.“ 152 Vor allem Wolfgang Huber hat im Anschluss an Dietrich Bonhoeffers Diktum der „Kirche für andere“ diesen Öffentlichkeitscharakter betont. Programmatisch hat er den Begriff der „Öffentlichen Theologie“ in die deutsche Debatte eingeführt und das Modell einer offenen und öffentlichen Kirche überzeugend dargelegt. 153 Dieser Öffentlichkeitsauftrag der Kirche ist auch in den biblischen Überlieferungen gut bezeugt. Er reicht von dem öffentlichen Wirken der Propheten über das Auftreten der Apostel auf den Marktplätzen antiker Städte bis hin zum Missions- und Taufbefehl an die Jünger. Es gehört zum Selbstverständnis von Kirche, ihre Botschaft für alle Menschen verständlich nahezubringen. „Geht hin in alle Welt“ (Mt. 28,20) bedeutet, die Menschen in ihrem jeweiligen Lebenskontext (z. B. Freizeitgestaltung) wahrzunehmen und mitten in ihrem Leben öffentlich präsent zu sein. Offene Kirchen an den Wegen der Menschen sind daher ein deutliches Symbol für die Öffent- 151 Fendler 2013, 378 Auch Grethlein betont, dass „besondere Orte zumindest vielen Menschen helfen, in Kontakt zur Gottheit zu treten.“ Grethlein 2016, 107. 152 Siep 2012, 8. 153 Vgl. Huber 2015 und zum Überblick über die „Öffentliche Theologie“ Höhne/ van Oorschot 2015. <?page no="110"?> lichkeit von Kirche, während ein verschlossenes Gotteshaus für die Selbstbezüglichkeit von Kirche steht. Diese Ausstrahlungskraft einer offenen und öffentlichen Kirche zeigt sich anhand von mindestens sechs Bedeutungsdimensionen bzw. Orientierungsleistungen, die nachfolgend näher beschrieben werden. Eine Kirche, die an den Wegen der Menschen steht, offen ist und gastfreundlich zur Einkehr einlädt, spiegelt die Botschaft Gottes wider, dass er uns ohne Vorleistungen zu sich einlädt. Wie Jesus ohne Vorbedingungen offen war für die ganz unterschiedlichen Menschen, die zu ihm gekommen sind, so steht auch die Kirche offen für die Menschen, die sie aufsuchen. Das offene „Gotteshaus“ strahlt die Verheißung aus, dass die Gegenwart und Liebe Gottes an diesem Ort exemplarisch erfahrbar ist, so dass Besucher einstimmen können in den Liedvers: „Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht.“ 154 Während verschlossene Kirchentüren signalisieren, dass nur ein Kreis treuer Gemeindeglieder Zugang zu den Glaubensüberzeugungen und den christlichen Werten haben, symbolisieren die offenen, oftmals weithin sichtbaren Kirchen am Weg allen Menschen: „Es gibt Haltepunkte oder: Ich bin auf meiner Reise gehalten, Gott hält uns.“ 155 Diese Orientierung reicht über den eigenen menschlichen Horizont hinaus. Es ist ein Halt, den sich, wie Thomas Erne zu Recht betont, „eine Stadt oder ein Dorf nicht selber geben kann.“ 156 Menschen in einer postmodernen, ausdifferenzierten Gesellschaft haben ein wachsendes Bedürfnis nach Unterbrechung, Spiritualität und Sinnzu- 154 F. Fendler betont daher zu Recht, dass der „Kirchenraum auch eine seelsorgerliche Funktion“ hat, Fendler 2013, 379. 155 Siep 2012, 8. 156 Erne 2015, 673. <?page no="111"?> sammenhängen. Sie suchen nach Räumen, in denen sie einen Moment innehalten, den Alltag unterbrechen, eine Auszeit nehmen können und wo sie auch ihre Klage, ihren Dank und ihre Bitte loswerden können. Meist wollen sie dabei anonym bleiben und auch nicht angesprochen werden. In offenen Kirchen können sie einen solchen Raum erfahren, ohne dafür etwas leisten oder gar bezahlen zu müssen. Hier können sie zu sich selbst und zu Gott kommen und damit ihr eigenes Dasein erweitern. Offene Kirchen sind damit Brücken zu einer spirituell suchenden Gesellschaft. Sie bieten als „Gegenorte zum Alltag“ einen atmosphärischen Raum, der für die Begegnung mit Gott öffnet. 157 Immer mehr Menschen suchen außerhalb von den „normalen“ parochialkirchlichen Angeboten niederschwellige kirchliche Orte, an denen für sie Kirche sichtbar und erfahrbar wird. Gerade das Entkoppeln von Kirchenbesuch und Einfügen in einen zeitlich und inhaltlich festgelegten liturgischen Ablauf ist für viele Menschen attraktiv und entspricht ihrem spirituellen Bedürfnis. Deutlich wird dies beispielsweise durch den regen Gebrauch der Anliegenbücher oder im Entzünden von Kerzen. Offene Kirchen ermöglichen daher all jenen, denen der Glaube fremd geworden ist bzw. denen, die nie ein Verhältnis dazu aufbauen konnten, einen Zugang zur persönlichen Andacht und Besinnung im „Gotteshaus“. Letztlich kann sich hierbei auch das „Priestertum aller Getauften“ vollziehen, da der Zugang zu Gott nicht an die Anwesenheit der Amtsträger gekoppelt wird. 158 „Vergesst aber auch die Gastfreundschaft nicht“ (Hebr. 13,2) ist ein urchristlicher Auftrag an die Gemeinden, der in der Gastgeberschaft Jesu Christi verankert ist. Offene Kirchen, die gastfreundlich gestaltet sind und zur Einkehr einladen, sind Ausdruck dieses Auftrages. Gastfreundschaft bedeutet, eine Willkommenskultur in den Kirchen erfahrbar zu machen, in der Menschen zu nichts genötigt werden, in der keine Bedingungen für 157 B. Schmidt hebt in diesem Zusammenhang treffend hervor, dass sich hier der diakonische Dienst der Kirche an der Welt ausdrückt. Vgl. Schmidt 2012, 252-254. 158 Vgl. Umbach 2015, 311f. <?page no="112"?> einen Aufenthalt gestellt werden und in der sie erfahren, dass sie ihren Weg gestärkt weitergehen können. 159 Kirchenräume sind aufgrund ihrer Architektur und ihres wertvollen Inventars nicht nur Zeugnisse verschiedener geschichtlicher und kultureller Epochen, sondern sie sind auch wesentliche Zeugnisse des Glaubens der Menschen vor uns. Über Generationen hinweg haben Menschen ihr Leben in Freud und Leid mit Gott in diesen Räumen geteilt und in ihnen eine geistliche Heimat gefunden. Die Mauern und Balken sind sozusagen getränkt von Lebens- und Glaubensgeschichten der Menschen und ihre Ausgestaltung verweist auf eine Wirklichkeit, die alles übersteigt. 160 Jede offene Kirche eröffnet uns damit einen Dialograum für die Kommunikation mit Gott, aber auch für die Kommunikation mit den Lebens- und Gotteserfahrungen unserer Mütter und Väter im Glauben. Offene Kirchen wirken in ihrer eben beschriebenen verkündigenden, seelsorgerlichen, diakonischen und orientierenden Funktion nicht nur in die Öffentlichkeit der Gesellschaft hinein, sondern wirken auch positiv auf die Kirche selbst zurück. Es gibt sozusagen auch einen „inneren Mehrwert“ der offenen Kirchen. Angesichts der Überlegungen in vielen Gemeinden, ob sie ihre Kirche verlässlich öffnen sollen, spielen diese Aspekte eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Allein schon vor dem Hintergrund, dass manche Kirchen in den Dörfern oder Städten im Erhalt bedroht sind oder neue Nutzungskonzepte benötigen, kann eine erweiterte Nutzung oder Umnutzung als Rad-, Pilger-, Autobahn- oder Citykirche von zukunftsweisender Bedeutung sein. Denn durch diese Ausrichtung kann die jeweilige Kirche ein klares Profil erhalten und sich im Netzwerk mit den anderen Kirchen positionieren. 161 Für manche Kirchen erweisen sich diese Umnutzungskonzepte sogar als „Rettungsanker“ und geben eine neue 159 Zum Konzept der Gastfreundschaft siehe ausführlich Hendriks 2001. 160 In diesem Sinne hat jede offene Kirche auch eine „verkündigende Funktion“. Vgl. Fendler 2013, 379. 161 Dieser Netzwerkgedanke findet seinen Ausdruck in den Konferenzen der verschiedenen Kirchen am Weg. So trifft sich beispielsweise die „Konferenz der Autobahnkirchen“ einmal im Jahr zum Austausch. <?page no="113"?> „kirchliche Daseinsberechtigung“. 162 Es gibt nicht wenige Kirchengebäude und auch Kirchengemeinden, die erhalten wurden, weil sie sich beispielsweise als Autobahn- und Radwegekirche profiliert haben. 163 Auch eine Umnutzung als Herberge für Pilger oder Radreisende mit Gastraum und Schlafplatz ist dabei denkbar. Bernhard Schmidt resümiert daher treffend: „So zeigt sich ein Doppeltes: Reisende brauchen Kirchen und umgekehrt: Kirchen brauchen Reisende als religiös motivierte Besucher, die mit ihrem Besuch den Fortbestand und die Erhaltung einer Kirche als Kirche bestätigen und legitimieren.“ 164 Bei der Genese solcher neuen Nutzungskonzepte und bei deren Umsetzung entstehen in der Regel neue örtliche Initiativen und Fördervereine, die sich das Ziel gesetzt haben, „ihre“ Kirche zu erhalten, zu pflegen und gastfreundlich zu gestalten. Dadurch werden Kirchengemeinden zum Katalysator für bürgerschaftliches Engagement, welches gerade auch Personen anspricht, die sich sonst nicht ehrenamtlich in der Kirchengemeinde engagieren oder sich in den bisherigen kirchlichen Strukturen nicht „beheimatet“ gefühlt haben. Schließlich ist ein projektbezogenes gemeinsames Engagement auch eine große Chance zur Belebung der Gemeinden vor Ort und zum Gemeindeaufbau. Gemeinsame Projekte verbinden und schaffen eine gemeinsame Identität. Eine Identität, die sich nicht durch Abschottung auszeichnet, sondern durch das Öffnen der Kirchengemeinde für die „Fremden“. 165 Einheimische und auswärtige Besucher können zusammenfinden, denn gerade Reisende sind in besonderer Weise bereit, sich spirituell ansprechen zu lassen und neue Verhaltensformen auszuprobieren. Gastfreundlich gestaltete offene Kirchen sind daher besondere passagere Kontaktmöglichkeiten und eine Chance für die Bezeugung des Evangeliums: „Sie sind eine Einladung an Vorbeikommende und heißen diese willkommen. Die Gestaltung des Kirchenraumes, die Bilder und Glaubenssymbole, die brennenden Kerzen und betenden Mitmenschen ermöglichen auch dem Außenstehenden eine Berührung mit dem Glauben […] Die Kirchenräume sind Helfer bei der Aufgabe, Menschen mit der Botschaft des Evangeliums in Berührung zu bringen.“ 166 162 Vgl. Schmidt 2012, 250f. Diese Umnutzung spiegelt sich dann oft auch in der medialen Öffentlichkeit mit Schlagzeilen wider, wie „Rettung vor dem Zusammenbruch“, vgl. Blankennagel 2012. Über die Autobahnkirche an der A 11 heißt es: „Werbellin ist die Geschichte einer erfolgreichen Kirchenrettung […]. Die Umwidmung zur Autobahnkirche hat sich auch finanziell gelohnt; Renovierungsarbeiten in Werbellin sind kein unlösbares Problem mehr“, Lauer 2012. 163 Beispielsweise in Hohenwarsleben an der A 2 oder in Wittlich an der A 1. Zur Entstehungsgeschichte: Vgl. Versicherer im Raum der Kirchen o. J.a und Versicherer im Raum der Kirchen o. J.b. 164 Schmidt 2012, 250. 165 Grethlein 2016, 111. Siehe auch Hendriks 2001, 59f. 166 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2003, 7. Auch F. Fendler betont, offene Kirchen sind eine „Chance zur Imagepflege. Was sie zeigt, kann abschreckend oder einla- <?page no="114"?> Auch in der Öffentlichkeit erfährt eine „Kirche am Weg“ einen hohen Aufmerksamkeitsgrad, der viele Akteure vor Ort oftmals positiv überrascht. Medienvertreter, Politiker, Reisende und Touristiker finden es einfach spannend, was es bedeutet, sich als Radwege-, Pilger-, Autobahn- oder Citykirche ein besonderes theologisches und kirchliches Profil zu geben. Die Rückmeldungen in den bundesweiten Konferenzen der Radwege- und Autobahnkirchen zeigen, dass beispielsweise jede Neuausweisung ein hohes mediales Echo nach sich zieht. 167 Letztlich eröffnet eine profilierte offene Kirche auch den Weg zur Positionierung von Kirche als gesellschaftlicher Akteur. Die Kirche ist mit „ihren“ Schätzen und Kompetenzen gefragt. Die Erfahrungen zeigen, dass die betreffenden Kirchengemeinden neue Partnerschaften und Vernetzungen mit regionalen und überregionalen Akteuren aus Politik, Tourismus, Stadt- und Regionalentwicklung sowie mit Verbänden (wie ADFC) eingehen. 168 „Im Alltag steigen die Kirchenaustrittszahlen, im Urlaub boomt die Spiritualität“ 169 , so fasst eine epd-Meldung pointiert den Trend zum Spirituellen Tourismus zusammen. Der Tourismus selbst hat sich mittlerweile auf diese spirituelle Suche nach Alltagstranszendierung auf vielfältige Weise eingestellt. 170 Die entscheidende Frage ist dabei, wie diese spirituellen Angebote inhaltlich gefüllt werden. Auch wenn viele touristische Anbieter eigene Produkte generieren, zeigen die Erfahrungen bei Pilger-, Radwege-, Autobahn-, und Citykirchen, dass bei den touristischen Fachleuten ein großes Interesse an einer inhaltlichen Kooperation mit den Kirchen besteht. Diesen „Vertrauens- und Authentizitätsvorschuss“ 171 gilt es aktiv zu nutzen, wenn die Kirchen das Feld der Spiritualität nicht anderen Anbietern überlassen wollen. Denn nur wer in der christlichen Spiritualität selbst beheimatet ist und diese von Gott und seiner Gedend sein. Es kann neugierig machen auf Veranstaltungen der Gemeinde“, Fendler 2013, 380. 167 Auch der jährliche „Tag der Autobahnkirchen“ lösen bei der geschäftsführenden Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen jedes Mal neu intensive Medienanfragen aus. Allein 2016 gab es mindestens 81 größere Berichte über Autobahnkirchen in den öffentlichen Medien. 168 Durch diese Verbindungen erscheinen dann beispielsweise die Kirchen am Weg auf nichtkirchlichen, touristischen Homepages oder werden in GPS-Geräte eingepflegt. 169 Frerichmann 2015, 1. 170 Vgl. dazu Isenberg 2013 und Isenberg 2016. W. Isenberg nennt hier viele Beispiele, wie touristische Anbieter dem „religiös suchenden, tastenden und neugierigen Menschen begegnen“, Isenberg 2013, 113. 171 Isenberg 2013, 589. <?page no="115"?> schichte her inhaltlich füllen kann, wird auch angemessene spirituelle Inhalte anbieten können. 172 Während die spirituellen Inhalte bei den christlichen Kirchen liegen, hat der Tourismus die weitaus größere Erfahrung im Bereich der kundengerechten Gestaltung und der Qualität. Für ein qualitätsvolles Angebot in und an den offenen Kirchen reicht es nicht aus, einfach die Türen aufzuschließen, sondern die offenen Kirchen am Weg müssen für ihre jeweiligen Zielgruppen und deren Ansprüche ausgestaltet sein. Die Symbolkraft einer offenen Kirche muss sich auch in deren Gestaltung niederschlagen. Theologisches Leitmotiv sollte dabei die „Gastfreundschaft“ sein, die biblisch gut bezeugt ist und altkirchlich ihren Ausdruck in der Regel des Heiligen Benedikt von Nursia zur „Aufnahme der Gäste“ gefunden hat. 173 Gastfreundschaft bedeutet dabei nicht nur eine offene Kirchentür, sondern die Bandbreite einer gastfreundlichen Kirche beginnt bei der guten Ausschilderung am Weg, reicht über das Herrichten und Zentrieren der Kirche für individuelle Andachtsformen (z. B. durch Kerzen, Anliegenbücher, Gebets- und Mediationstexte) bis hin zu zielgruppenspezifischen Angeboten an und um die Kirche (z. B. Fahrradständer, Toiletten, Trinkwasser, ÖPNV-Fahrpläne). 174 Die Offenheit einer Kirche muss als gewollt erkennbar sein, damit die Besucher einstimmen können in das Psalmwort: „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses […]“ (Ps 26,8). Mit der gastfreundlichen Gestaltung gehen freilich die Ansprüche der Touristikanbieter und der Reisenden in Bezug auf die Qualität der Angebote einher. Erwartet wird hier zu Recht eine qualitätsvolle Orientierung am „Kunden“ und an dessen Bedürfnissen. Folkert Fendler hat gezeigt, wie gerade über den Qualitätsbegriff eine Brücke zwischen Kirche und Tourismus zu schlagen ist, ohne dass beide Akteure ihr „Eigenes“ aufgeben müssen. Dabei sollte die „theologische Qualität des Kirchenraums“ von der „wertenden Qualität der Qualitätsstandards“ 175 unterschieden werden. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung können die Kirchen mit Touristikverbänden die Qualitätsstandards der konkreten Ausgestaltung offener Kirchen für die jeweiligen Zielgruppen festlegen und 172 Auch C. Antz betont: „Und nur wer den Kern des Produkts kennt, besitzt die Kompetenz, die Inhalte qualitativ hochwertig zu gestalten; und dies liegt für Spirituellen Tourismus bei den christlichen Kirchen“, Antz 2016, 121. 173 Vgl. dazu Schmidt 2012, 247; Vgl. Antz 2012, 191; Hendriks 2001, 60. Paradigmatisch sind Abrahams Gastfreundschaft an den drei Männern in Gen 18, 1-5 und die neutestamentlichen Aufforderungen in Röm 12, 13; Hebr 13, 2; 1 Petr 4, 9. 174 Vgl. dazu die Leitlinien und Kriterien für Radwegekirche oder Autobahnkirchen: Versicherer im Raum der Kirchen (o. J.c) F. Fendler hat auf einem Vortrag bei der Radwegekirchenkonferenz 2015 auf Studien verwiesen, die die Bedeutung von basalen Qualitäten, wie Sauberkeit oder Vorhandensein einer Toilette, belegen. 175 Fendler 2013, 380. Die theologischen Qualitäten sind die im Kapitel 2 beschriebenen verkündigenden, seelsorgerlichen, diakonischen und orientierenden Funktionen des Kirchenraums. <?page no="116"?> diese entsprechend „vermarkten“, ohne das theologische Proprium aufzugeben. 176 Wenn die Unterscheidung dieser Ebenen gewahrt bleibt, bieten offene Kirchen eine hervorragende Plattform, um die „touristische und spirituelle Qualität für alle Gäste“ 177 aufeinander abzustimmen. Eine weitere große Chance für den Tourismus besteht darin, dass die kirchlichen Angebote quasi flächendeckend und regionenübergreifend vorhanden sind. Dies ermöglicht eine Vernetzung der verschiedenen Kirchen am Weg unter einem touristischen Angebot (z. B. Radreise an der Elbe) oder unter einem inhaltlichen Thema (z. B. Mönchsradweg oder „Nacht der Kirchen“). Bei den touristischen kirchlichen Angeboten können durchaus auch neue Techniken wie GPS bei den Routenplanungen oder Tablet-Informationssystemen in den Kirchen zum Einsatz kommen. Eine besondere Form findet sich beispielsweise bei der Kirche in Rattlar am Upländer Pilgerweg. Hier erwartet den Besucher eine Licht- und Klanginstallation, bei der der Pilger interaktiv auf einem Touchscreen den Innenraum entsprechend seiner Stimmung selbst gestalten kann und geistliche Anregungen bekommt. 178 Unabdingbar für die Entwicklung solcher touristischen Angebote ist eine geregelte institutionelle Verknüpfung zwischen Kirche und Tourismus auf der Basis der Anerkennung der jeweiligen Verschiedenheit. In verlässlichen Arbeits- und Austauschformen (z. B. in regionalen und überregionalen Arbeitskreisen) kann Verständnis füreinander entstehen und gemeinsame Handlungsräume eröffnet werden, die die spirituellen und touristischen Bedürfnisse der Menschen aufnehmen. Diese Austauschformen funktionieren allerdings nur, wenn von Seiten der Kirchen auch verlässliche personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden. Eine solche Partnerschaft in Verschiedenheit bedeutet auch, dass die Kirchen nicht einfach geschmeidig jede marktförmigen Interessen des Tourismus bedienen. Gerade im Verständnis von Kirche als „öffentliche Kirche“ ist es auch Aufgabe, „zur kritischen Herausforderung für die Welt zu werden“ 179 und bestimmte Entwicklungen zu hinterfragen. In diesem Verständnis „kommt dem Glauben in seiner inhaltlichen Bestimmtheit der Vorrang vor der religiösen Funktion zu, welche die Kirche erfüllen soll.“ 180 Dies kann dann beispielsweise auch bedeuten, dass die Kirchen bestimmte touristische Entwicklungen und Vorhaben nicht mittragen, sondern diesen öffentlich widersprechen. Von den Grundkonstanten des christlichen Auftrags her ist nur 176 Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Ebenen im Qualitätsbegriff ermöglicht dann auch eine klare Distinktion zwischen den „unverfügbaren“ und „verfügbaren“ Geschehen. Letzteres ist die Beschreibung und Festlegung der verbindlichen Standards einer offenen Kirche, siehe dazu Fendler 2013, 386. 177 Antz 2016, 121. 178 Vgl. Evangelische Kirchengemeinde Schwalefeld (o. J.). 179 Bedford-Strohm 2015, 216. 180 Huber 2015, 201. <?page no="117"?> ein sozial-, natur- und generationenverträglicher, kurz lebensdienlicher Tourismus zu fördern. So sind beispielsweise Radwegekirchen oder Pilgerkirchen ein besonders aktiver Beitrag zur Förderung eines sanften Tourismus und einer nachhaltigen Regionalentwicklung. 181 „So soll Kirche sein“ 182 lautet der Tenor in vielen Anliegenbüchern. Offene Kirchen werden dabei als das Modell von Kirche schlechthin beschrieben. Auch wenn diese Zuspitzung theologisch unterbestimmt und kirchenorganisatorisch eindimensional ist, gehen dennoch von offenen Kirchen Impulse für die gegenwärtige kirchentheoretische Debatte aus. Einige wenige Schlaglichter, die an anderer Stelle einer intensiveren Nacharbeit bedürfen, seien daher im Folgenden thesenartig genannt. In der Kirchentheorie gibt es eine Debatte, ob das parochiale Prinzip der Ortsgemeinde oder das fluide Prinzip von sich ereignenden kirchlichen Beziehungsnetzen die grundlegende Basis der verfassten Kirche sein soll. 183 Offene Kirchen am Weg zeigen, dass sich diese Formen nicht ausschließen, sondern ergänzen können. Denn wenn beispielsweise eine Ortsgemeinde ein besonderes Profil als Radwegekirche entwickelt, transzendiert sich die Gemeinde in ihrer inhaltlichen und lokalen Ausrichtung und übernimmt für einen größeren kirchlichen Zusammenhang eine Aufgabe. Sie bildet somit einen spezifischen Knotenpunkt im kirchlichen Netz aus und relativiert dadurch das territoriale Prinzip. 184 Die besuchende Gruppe von Radfahrern wiederum bildet vor Ort einen Erlebnisraum aus, der sowohl einen gemeinschaftlichen Charakter hat als auch kirchlich konnotiert ist. Die offene Kirche eröffnet somit Räume für Gemein- 181 Auch Autobahnkirchen stehen einer beschleunigten Mobilität als ruhende Orte gegenüber. Es sind kirchliche Orte, die zum Innehalten, Pause machen und zum Überdenken des eigenen Verhaltens anregen sollen. Wer in Autobahnkirchen Rast gemacht hat, der fährt danach hoffentlich gelassener, rücksichtsvoller und damit auch energiesparender weiter. Vielleicht hat er aber auch einen Ansporn bekommen, sein Mobilitätsverhalten grundsätzlich zu überdenken. 182 Ebertz/ Schadt 2012, 130. 183 Vgl. Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 256ff. 184 Das territoriale Prinzip „stellt ja gerade Bezirke von Gemeinden mit identischem Angebot nebeneinander“, Vgl. Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 299. <?page no="118"?> schaftsbildung und Alltagstranszendierung, so dass die Besucher danach ihren Weg gestärkt fortsetzen können. Jeder Besuch einer Radwegekirche bietet daher das Potenzial für ausschnitthafte gemeindliche Erfahrungen. 185 Es sind Erfahrungen mit Kirche, ohne dass kontinuierliche, persönliche Beziehungen zur Ortsgemeinde vorhanden oder auch gewollt sind. 186 Und dennoch sind und bleiben es prägende Ressonanzerfahrungen „mit Kirche“. Offene Kirchen zeigen, die Kirche der Zukunft muss sich in vielfältiger Gestalt ereignen. Eindimensionale Konzepte entsprechen nicht mehr der Lebenswirklichkeit vieler Menschen und gehören daher der Vergangenheit an. Territoriale Orte und Passage sind wechselseitig aufeinander bezogen, ohne dass die eine Form der anderen theologisch vorgeordnet werden kann. 187 Vielmehr gibt es gleichberechtigte Wege, den Auftrag der Kirche zu erfüllen. Ein wesentlicher Weg ist die „Kirche bei Gelegenheit“. Zentrales kirchentheoretisches Themenfeld ist die Positionierung von Kirche im Blick auf die postmodernen Phänomene, wie Pluralisierung, Individualisierung, Flexibilisierung, Ausdifferenzierung oder gewachsene Mobilität. 188 Kirchen am Weg reagieren im besonderen Maße auf diese gesellschaftlichen Veränderungen und Bedarfe. So sind sie gerade für Menschen attraktiv, die zur dominanten Sozialform der Ortsgemeinde mit ihren spezifischen Formen von Geselligkeit keinen Zugang haben oder die keine dauerhaften, sondern sporadische Kirchenbezüge als Einzelne oder in ihrer Gruppe suchen. Allerdings sind bei diesen Bedürfnissen zwei unterschiedliche Logiken zu unterscheiden: Während die Besucher einerseits, beispielsweise im Urlaub, dankbar nichtparochiale Formen schätzen und diese auch nur punktuell wahrneh- 185 Kirchen am Weg als eine Form der „Gemeinde auf Zeit“ zu bestimmen, halte ich nicht für angemessen. „Gemeinde“ ist zwar mehrschichtig zu denken, aber nicht jede kirchliche Organisationsform ist damit zugleich „Gemeinde“. Zu den Kriterien für den Gemeindebegriff siehe Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 275-284. 186 Eine Abwertung dieser Erfahrung als „nachgeordnet“ oder sogar im Bezug zur Ortsgemeinde als „parasitär“ (vgl. Karle 2010, 124) wird dem Erfahrungshorizont der Besucher offener Kirchen nicht gerecht. 187 Wegweisend hat dies Pohl-Patalong in dem Modell der „Kirchlichen Orte“ entwickelt. Sie geht dabei von zwei Bereichen kirchlicher Arbeit aus: a) ein vereinsähnliches kirchliches Leben und b) inhaltlich definierte Arbeitsbereiche (vgl. Pohl-Patalong/ Hauschildt 2016,142ff.). In funktionierenden offenen Kirchen am Weg spiegeln sich diese zwei Bereiche wider. In der Regel gibt es einen festen Kreis vor Ort, der für die offenen Kirchen zuständig ist und zugleich wird eine Aufgabe für eine ganze Region übernommen. 188 Zur Übersicht über die Phänomene siehe Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 55ff. <?page no="119"?> men, besteht dennoch anderseits auch bei ihnen die Erwartung, dass diese Form selbst auf Dauer gestellt ist und eben eine Kirche in verlässlicher Weise geöffnet ist. Voraussetzung dafür ist allerdings wiederum die parochiale Struktur selbst, aus der heraus ein verlässlicher Trägerkreis für die offenen Kirchen hervorgeht. Die Unterscheidung dieser Logiken gewährt, dass nicht einseitig bestimmte kirchliche Formen als theologisch vorrangig angesehen werden. Nur die oben genannte Wechselwirkung zwischen Parochie und nichtparochialen Formen kann damit eine angemessene Reaktion auf die postmodernen Phänomene darstellen. Auch wenn viele nichtparochiale Formen zu Recht auf die religiösen Bedürfnisse von unterschiedlichen Menschen und Milieus eingehen, sind Kirchen keine Agenturen für die funktionalen (auch nichttouristischen) Bedürfnisbefriedigungen der Postmoderne. In der Christus-Nachfolge mit klarem Auftrag und der Ausrichtung auf das Reich Gottes folgen sie nicht einfach einer marktkonformen, funktionalen Logik und bieten auch kein milieudesigntes Produkt an. 189 Vielmehr stellen sich die Kirchen zwar auf ein verändertes Teilnehmer- und Nutzerverhalten ein und bemühen sich um passgenaue, gastfreundliche Gestaltung, aber sie folgen dabei immer auch ihrer eigenen Logik. 190 Diese orientiert sich an den „Konstanten der Grundhaltung“ der Gläubigen, die mit einer Option für eine gerechte, lebensdienliche Struktur verknüpft ist. Regulativ ist dabei jeweils die Frage zu stellen, ob das Handeln für Mensch und Natur angemessen ist und mit dem vereinbar ist, was wir von der christlichen Botschaft her wissen. Offene Kirchen stehen für die protestantische Wiederentdeckung des Kirchenraums als einen Ort der individuellen Gottesbegegnung. Paradigmatisch zeigen Gen 28 oder Jes. 6, wie ein Einzelner an einem Ort von Gottes Gegenwart berührt und verwandelt wird, um dann anschließend seinen Weg gestärkt und verändert fortzusetzen. 191 Ein Kirchenraum als ein Ort der Verheißung der exemplarischen Gegenwart Gottes ist daher nicht nur ein Ort für die verbindliche Zusammenkunft der Gemeinde unter dem Wort Gottes und ein Kristallisationspunkt für den Gemeindeaufbau, sondern auch ein Raum für die eigene, individuelle Frömmigkeit. In diesen Raum kann ich als Einzelner - im Sinne der Rechtfertigungslehre - ohne Vorbedingungen, so wie ich bin, kommen und eine Unterbrechung des Alltags, einen Ausstieg auf Zeit erfahren. Die Bot- 189 Zur postmodernen Marktlogik siehe Funk 2005. 190 So werden beispielsweise Kapellen in Fußballstadien bewusst nicht vor dem Spiel als „Bethaus für den eigenen Verein“ geöffnet, sondern nach dem Spiel für alle. 191 Ausführlich zu Gen 28 und Jes 6 siehe Umbach 2005, 63ff. <?page no="120"?> schaft ist dabei „der Raum selber und die Unterbrechung, die er leistet, wenn auch nur für Minuten.“ 192 Gleichwohl ist dies aber eben kein beliebiger Raum, sondern ein „Gotteshaus“, das für eine klar definierte Tradition und für die dort gemachten Erfahrungen mit dem dreieinigen Gott steht. In diesem Sinne ist der Kirchenraum ein Medium, um die „Güte des Herrn im Lande der Lebendigen“ (Ps 27,13) zu sehen. Freie Zeiten, Urlaubszeiten und Auszeiten sind wichtige und unverzichtbare Bestandteile des menschlichen Lebens. Der Tourismus hat die Bedeutung dieser Lebensvollzüge seit Langem erkannt und entsprechend maßgeschneiderte Angebote offeriert. Eine öffentliche Kirche, die mitten im Leben der Menschen ist, wird diesen menschlichen Lebensbereich ernst nehmen und die Menschen darin begleiten. An den offenen Kirchen am Weg kristallisiert sich dieses Anliegen in besonderer Weise heraus. Hier kann sich exemplarisch zeigen, dass sich attraktive, touristische Angebote, menschliche Freizeitinteressen und kirchliche Orientierung nicht entgegenstehen, sondern wechselseitig ergänzen und bereichern können. In einer gastfreundlich gestalteten offenen Kirche, die gleichzeitig in ein touristisches Konzept eingebettet ist, können die gemeinsamen Anliegen im Sinne der Menschen zur Geltung kommen. Die Kirche selbst sollte dabei freilich nie ihren Grundauftrag aus dem Auge verlieren: die Bezeugung des Evangeliums und das Eintreten für die Lebensdienlichkeit gesellschaftlicher Vollzüge. Im Eingehen auf menschliche Bedürfnisse und im Austausch mit touristischen Belangen hat eine öffentliche Kirche nicht nur die Chance, sondern auch die Pflicht, „das Eigene“ einzubringen und lebensfeindliche Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und zu bearbeiten. Selbstkritisch wird sich die Kirche dabei aber auch fragen müssen, ob sie das kirchliche und zugleich touristische Potenzial der offenen Kirchen nicht stärker und professioneller nutzen kann als bisher. Mehr verlässlich geöffnete Kirchen, mehr Gastfreundlichkeit in den Kirchen und mehr Vernetzung mit nichtkirchlichen Akteuren sind dabei die zentralen Herausforderungen. Kirchen sind touristische Schätze am Weg, die oftmals noch nicht gehoben wurden. Und zugleich sind sie kirchliche Leuchttürme, die ihre innerkirchliche und außerkirchliche Orientierungskraft noch nicht hinreichend entfaltet haben. Daher gilt, was einer unserer schönsten Choräle ausdrückt: 192 Erne 2014, 23; Vgl. Erne 2015, 672. Nach Grethlein 2016, 108 ist die „Stille der Kirche“ als eine der wichtigsten Funktionen von Kirche in der Gegenwart anzusehen. <?page no="121"?> „Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein; ach wie wird an diesem Orte meine Seele fröhlich sein! Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht.“ (EG 166,1) Antz, C. (2016): Spiritueller Tourismus. Wachstumsmarkt für Kirchen und Tourismus. In: Wort und Antwort, 57. 117-123. Antz, C. (2012): Spiritueller Tourismus. Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft auf einem gemeinsamen Weg. In: Ebertz, M.N./ Lehner, G. (Hg.) (2012): Kirche am Weg - Kirche in Bewegung. Münster. 177-193. (= Kirchen Zukunft konkret; Bd. 8) Bedford-Strohm, H. (2015): Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft. In: Höhne, F./ van Oorschot, F. (Hg.) (2015): Grundtexte Öffentliche Theologie, Leipzig. 211- 221. Blankennagel, J. (2012): Autobahnkirche in Duben. Rettung vor dem Zusammenbruch. 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Muss sich nicht Städtetourismus fundamental ändern, um für spirituelle Erfahrungen offen zu werden? Das könnte eine gute und große Herausforderung für städtetouristische Konzepte sein. Deshalb widmen wir uns jetzt schwerpunktmäßig dem Pilgern. Vielleicht geht uns dann auf, welche Konsequenzen daraus für den Städtetourismus erwachsen. <?page no="126"?> Pilgern charakterisiert sich durch eine Reihe von Aspekten. Es gehört immer das Element des Fremden bzw. in die Fremde gehen dazu. Peregrinus ist das lateinische Wort für Fremder. Der Ortswechsel geht mit einem Perspektivwechsel einher. Man blickt auf das Gewohnte, das Bekannte mit anderen Augen und weitet den Horizont. So spielt in das Unterwegssein immer die geistliche Dimension des Lebens eine große Rolle. Pilgernde bedenken den Lebensweg oder Wegabschnitte, auf denen sie gerade unterwegs sind. Pilgernde sind in Bewegung und sie sind langsam genug. Sie gehen zu Fuß und beten mit den Füßen. Pilgernde begegnen immer einer äußeren und einer inneren Landschaft und bewegen sich in diesen beiden Dimensionen. Das Äußere kann zum Gleichnis für Inneres werden. Das braucht sensible Begleitung und Raum für Ermöglichung und Betrachtung solcher Erfahrung. Durch den anderen Ort und die andere Perspektive kommen Transformationsprozesse in Gang. Es geht um Wandlung, Verwandlung eines Menschen. Der Weg selbst ist wichtig und hier ereignet sich Entscheidendes: Man begegnet anderen Menschen, kommt in einfache Herbergen, lebt reduziert auf Wesentliches und man deutet anderes als überflüssig. So kann Konzentration auf fundamentale Lebensthemen entstehen. Zum Pilgerweg gehört das Ziel: das heilige Ziel, das dem Weg seine Richtung gibt und Orientierung ermöglicht. Das gemeinsame Ziel schafft Verbindung zu anderen und setzt der Reise ein Ende. Im Erreichen des Zieles beginnt die Rückkehr in die Alltagswelt und die Wirklichkeit, aus der man aufgebrochen ist. Pilgern geschieht bewusst im Kontakt mit der Wirklichkeit Gottes, der Erfahrung seiner Nähe und Ferne, der Frage nach ihm und dem Erleben, dem Staunen über etwas, das mit Gott in Verbindung steht: Fügungen, Zufälle, Schutz, Antworten, neue Fragen, Glück … Soweit führt meine Kurzbeschreibung des Pilgerns. Können wir diesen Grundelementen des Pilgerns eigentlich in der Großstadt Raum geben, können wir dem gerecht werden, was Pilgern ausmacht? Ich beschreibe einiges von dem, was ich derzeit als Pilgern in Großstädten erlebe. Es gibt ein stetig wachsendes Angebot an Pilgerformen und an Angeboten des Pilgerns in Großstädten. Pilgerzentren, die diese Angebote bündeln, finden wir mittlerweile in vielen europäischen Zentren: Hamburg, Lübeck, Aachen, Nürnberg, München, Frankfurt, Wien, Zürich, Lund, Göteborg, Stockholm, Oslo, Trondheim, Aarhus, Aalborg, Roskilde, die neben vielen regionalen Städten existieren. Es gibt einen Pilgerboom und die Großstädte liefern nicht nur die <?page no="127"?> vielen Sehnsüchtigen, die zu langen Wegen aufbrechen. Sie bieten auch ganz eigene Formen des Pilgerns an. Durch diese Formen kommen viele Menschen erstmalig in Kontakt mit der Pilgerpraxis und sie probieren aus, ob auch andere Wege etwas für sie sein könnten. Die Großstadt ist Testfeld, bietet Möglichkeiten, ist aber auch von vielen Grenzen geprägt. Wenn wir übers Pilgern in der Großstadt sprechen, wovon sprechen wir dann? Dazu können die vielfältigen Beispiele, gerade aus Hamburg, eine besondere praktische Zusammenschau bieten: Schweigewege wie „Schweigend um die Alster“, „Schweigend durch das Gölbachtal“, „Limfjord-taus“, „silent-walk for peace“, „Schweigend im Jenisch-Park“ u. v. a. m. Stadtpilgerwege wie z. B. in Hildesheim („Eine kleine Auszeit im Alltag - Inmitten der Stadt, zwischen Menschen und Möglichkeiten, lädt der Stadtpilgerweg ein, sich für einen Moment auszuklinken und auf neue Blickwinkel einzulassen“): knapp 4 km, 50 Minuten Gehzeit, 7 Stationen und 3 Zwischenstationen, Begleitheft. „Rauswege“ im Hamburger Stadtpark: Projekt zum 100. Geburtstag des Hamburger Stadtparks, Heft mit Karte und 22 Stationen. geistliche Nachtwachen mit dem Pilgerpastor: Nachschauen, wie es der Stadt geht und für die Menschen der Stadt beten. Feierabend-Pilgern: Menschen einladen, mitzugehen zu einem guten Ort, an dem man gemeinsam den Abend ausklingen lässt, z. B. Elbstrand oder Beachclub Strandpauli. Unterwegs gibt es kurze geistliche Impulse zu der Arbeit des Tages, Sehnsüchten, was war gut heute? An wen habe ich heute noch nicht gedacht? Was brauche ich jetzt? Und was hilft mir zur Pause? Dankritual für diesen Tag trotz seiner Mühen. Tageswege etwa auf dem Jacobusweg, Via Baltica oder in stadtnahen Landschaften: Heidschnuckenweg, Grüner Ring, Elbdeich bis Neuengamme, Weg am frischen Wasser mit Tauferinnerung. thematische Tageswege: Stolpersteine, Schätze des Gesangbuchs, mittelalterliches Hamburg, ein Bibeltext, Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Erfahrungswege: Sinne, Gepäck, Dunkel, Loslassen, Geführt werden. Exerzitien auf der Straße: Christian Herwartz, eine intensive Exerzitienzeit zur Begegnung mit den eigenen Lebensthemen; geistliche Begleitung und tägliche Begegnungszeiten, Übungen alleine. Übungswege/ Wege zur Vorbereitung einer Pilgerwanderung: Probepilgern, Schnupperpilgern, Berge gehen mit Rucksack, Pilgerstab-Workshop. jahreszeitliche Wege: Weihnachtsmärkte-Pilgern, Pilgern in den vier Jahreszeiten, Der Sommer spannt die Segel. diakonische Wege: Sensibilisierung für soziale Probleme, Nöte, zu Orten der Obdachlosigkeit, zu Wohnprojekten, in Kooperationen. <?page no="128"?> Leben im Alter: z. B. mit den Bewohnern eines Altenheims z. B. Wege von 12 km-Länge, diakonische Themen. andere Zielgruppen: mit Schülern, Landfrauen, Flüchtlingen, Konfirmanden, Schulanfänger oder Eltern. Wege von der Stadt in die umliegende Natur: „Waldweg“ im Sachsenwald, Stellwarder Tunneltal. organisierte mehrtägige Pilgerwanderungen in der Natur: durch die Lüneburger Heide, Lübeck-Hamburg. singendes Pilgern. an bestimmten Tagen des Jahres: Jakobus-Pilgern, Kreuzweg am Karfreitag, Johannestag, Pfingstweg. Pilgern mit politischem Inhalt: Klimapilgerweg, für die Rechte der Flüchtenden. Kontrastwege: langsam gehen, Sinnespilgern, durch die Nacht. Eine große Rolle spielen beim Pilgern in einer großen, eher unübersichtlichen Stadt die Angebote der Pilgerzentren, denn sie bieten einerseits Information und Kompetenz, andererseits sind gerade sie oft die atmosphärischen Pilgerstellen. Häufig sind es Jakobskirchen. An einigen von ihnen kann man den Pilgerpass, das Credential, bekommen. Die Pilgerzentren halten gute Informationen vor und es gibt haupt-/ ehrenamtliche Teams von Pilgern, die Auskunft geben können. Die Pilgerzentren bieten spezifische Angebote, die Pilgernde in ihrer Suche, bei Ausrüstungsfragen (was muss mit? ), im Losgehen, Unterwegssein, Ankommen und Heimkehren begleiten. Hier spielen gerade die Pilgerstammtische und spezielle Gottesdienste wie Pilgervespern eine große Rolle. Individuelle Pilger gerade in den Großstädten suchen nach Austausch und Gemeinschaft. Im Hamburger Pilgerzentrum findet zusätzlich seit 9 Jahren die „Pilger-Messe“ jeweils im Januar/ Februar mit vielen Infoständen aus ganz Deutschland und den angrenzenden Ländern und das Pilger-Symposium statt. Das Symposium richtet sich vor allem an die Multiplikatoren und das interessierte Fachpublikum, während die Pilger-Messe eine Publikumsveranstaltung ist. Gerade für die Messe ist die Großstadt mit ihrer hohen Attraktion und einem zu erwartenden großen Publikum besonders interessant. Abgerundet wird das Programm durch Vorträge und kommunikative Angebote wie Pilgercafé oder Pilgerbistro, bei dem immer auch gemeinsames Essen im Mittelpunkt steht. Wichtige regelmäßige Begegnungsorte sind in Hamburg in St. Jacobi „Pilgervespern“, meditative, niedrigschwellige Gottesdienste an jedem ersten Donnerstag eines Monats. In diesen Vespern können Menschen für ihre bevorstehende <?page no="129"?> Pilgerwanderung gesegnet werden oder sich nach der Rückkehr willkommen heißen lassen. Auch fürs Rückkehren gibt es einen Segen, denn das kann u. U. noch schwerer sein als der Aufbruch. Stark nachgefragt ist auch das Kerzenritual der Fürbitten. Nach dem Gottesdienst gibt es auch noch ein gemeinsames, Gemeinschaft steigerndes Abendbrot in der Kirche. Viele Pilgernde, die zurückkehren, erleben eine tiefe Krise. Sie fühlen sich fremd, ja deplatziert in der Stadt; sie sind von Hektik und Lärm überreizt und können kaum ihre Erfahrungen von unterwegs teilen: da ist niemand, der das wirklich hören will. „Ja, ja, du mit deinem Jakobsweg! “ sagen die Kollegen und selbst die Freunde verstehen nicht, was du da erlebt hast. Du suchst nach Gleichgesinnten, nach Menschen, die das auch erlebt haben. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für die Pilgergemeinschaften und Kirchen in den Städten: Austauschorte schaffen, Zuhören, Verstehen und Deuten helfen. Die Menschen, die von Pilgerwegen zurückkehren, haben oft gravierende Transformationen erlebt und brauchen Begleitung und Verständnis. Pilgerzentren in Zentren stehen deshalb für qualifizierte Dienstleistung und Pilgergemeinschaft/ Pilgergemeinde: Verstandenwerden und (Mit-)Teilen: Hier findest du Menschen, die verstehen, was du erlebt hast und die gerne übers Pilgern reden und zuhören. Segen: Segnungen von aufbrechenden und heimkehrenden Pilgern, wird verstärkt nachgefragt; Ausgabe von Muscheln und Segensbändern. Heimkehr. Pilger-Messen. wissenschaftliche Arbeit: Kleine Bibliotheken zur Nutzung bereithalten. Vorträge. Mitarbeit in Herbergen und Pilgergemeinschaften. Pilgerbegleitung. geistliche Suche: Begleitung durch Gespräche, Seelsorge, Beratung, Literaturempfehlungen, Dasein. Aus- und Fortbildung: Pilgerbegleiter, Teamer, z. B. geistliche Pilgerbegleitausbildung. Vernetzung der vielfältigen Pilgerarbeit mit regionalen Anbietern, Gastgebern, Verbänden: Deutsche St. Jakobusgesellschaft, Arbeitsgruppen, Projekten, z. B. Klimapilgerweg 2015, pilgrims crossing borders 2015. internationale Zusammenarbeit. Öffentlichkeitsarbeit. <?page no="130"?> zentrale Homepages wie www.pilgern-im-norden.de. Großstädte haben viele Menschen und eine gute Infrastruktur. Da es mehr als eine Kirche gibt, ist die Chance groß, dass eine sich zu einem Pilgerzentrum entwickeln kann. Zu Veranstaltungen kommen viele Interessierte leicht. In den Großstädten ist die Einsamkeit und Anonymität besonders hoch und damit steigt der Bedarf an Formen der Vergemeinschaftung und Zugehörigkeit. Großstädte bieten oft eine große geistliche Geschichte und Tradition. Es gibt in der Regel viel Offenheit für Innovatives und eine Bereitschaft, Neues positiv aufzunehmen. Immer wieder machen Menschen die Erfahrung, die scheinbar vertraute Stadt neu kennenzulernen, kommen an Ecken, an denen sie noch nie gewesen sind. Der Mangel an Natur erzeugt eine große Sehnsucht nach sinnlichen Erlebnissen und Erdung. Pilgern hat ein hohes Kontrastpotenzial: Schweigen im Lärm der Stadt; Blindführung im grellen Licht; historische Wurzeln inmitten der umgebauten Stadt; Ruheorte inmitten der Unruhe; Pausen inmitten der Rastlosigkeit; beten wo noch nie gebetet wurde; wahrnehmen, was man gewöhnlich übersieht; hinschauen, wo man sonst wegschaut; sich berühren lassen statt Panzerung … Zur Erfahrung von Pilgernden gehört gerade das starke Erleben der Landschaft, des Alleinseins und Reduktion auf wenig und Wesentliches. Die eine Bar auf dem langen Tagesweg ist unendlich kostbar, die Herberge inmitten einer berührenden Landschaft, das Wetter und die Jahreszeiten. Typisch für das Pilgern ist der tagelange Weg, die einfache Herberge und die Begegnung mit Gleichgesinnten, die alle dasselbe Ziel verbindet. Mehrtägige Pilgerwanderungen sind Raum für starke, teilweise umwälzende Prozesse. Das können Angebote in der Großstadt so nicht bieten. Großstadtpilgern ist immer ein Weg im Vorfeld der tiefen Pilgererfahrung; ist Schnuppern und neugierig werden. So ist das Pilgerangebot in der Stadt immerhin eine Vorbereitung auf weitere und tiefere Pilgererfahrung. Die Fremdheit ist fundamental fürs Pilgern. Ich treffe Fremde, denen ich vielleicht nie wieder begegnen werde. Ihnen kann ich alles erzählen. So öffnet die Anonymität einen Schutzraum für Wesentliches. Du sprichst, worüber du mit deinen besten Freunden nicht gesprochen hast. Andere hören zu und haben <?page no="131"?> nicht schon sofort ihr Bild von dir im Kopf. Beim Großstadtpilgern aber ist die Chance und Gefahr, dass du den anderen bald wieder begegnest. Überhaupt die Fremde: fortgehen aus dem Bekannten, Vertrauten … mal richtig weit weg zu sein. Der Ortswechsel ist eine der ganz großen Qualitäten des Pilgerns und das lässt sich am Heimatort schwer realisieren. Der Heimatort ist eben der bekannte Ort, es sei denn, man entdeckt ihn völlig neu. Niemand wird wegen des Pilgerns in die Großstädte reisen, es sei denn, sie sind das Pilgerziel: Das gilt insbesondere für Santiago, Rom, Trondheim, Jerusalem … Oder sie bieten eine außerordentlich wichtige, attraktive Veranstaltung zum Pilgern an, z. B. Pilger-Messe, Kirchentag. Für die bedeutenden Pilgerziele gelten ganz eigene Gesetze und das Erleben, das Zuschauen bei Pilgerritualen wie der Ankunft auf dem Obradeiro-Platz oder der Pilger-Messe in der Kathedrale Santiagos stehen im Mittelpunkt. Dieses sind Ereignisse von höchster touristischer Attraktion. Auch unsere Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg wird von sehr vielen Städtetouristen besucht, auch wegen ihrer Bedeutung fürs Pilgern. Besonders der Pilgerwegweiser draußen an der Kirche ist ein viel beachtetes Fotomotiv. Großstädte, die an markierten Pilgerwegen liegen (Jakobswegen, Via francigena, Olavsweg), werden eine messbare Zahl an Pilgern nachweisen können. Oft sind Großstädte Startorte für Pilgerwanderungen (z. B. wegen Flughafen oder Bahnhof) und man sollte bedenken, was solche Orte für Pilgernde bereithalten. Die Entwicklung von Pilgerherbergen mit einer besonderen Atmosphäre kann in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. In jedem Fall muss sich Tourismus in die Inhalte des Pilgerns vertiefen, will er adäquate Angebote entwickeln. Dem Pilgern selbst wird man in der rein oberflächlichen Draufschau eines Städtetouristen nicht gerecht. Man muss sich schon einlassen. Deshalb frage ich: Kann Städtetourismus durchlässig werden für das Heilige? Ich wage eine These: Wenn sich Städtetourismus so verändert, dass er durchlässig wird für echte Pilgererfahrung, dann könnte etwas Gemeinsames werden. <?page no="132"?> Briassoulis, H. (2002): Sustainable Tourism and the Question of the Commons. In: Annals of Tourism Research, 29, 4, 1065-1085. Büchter, K./ Gramlinger, F. (2004): Überlegungen zur Analyse der Wirksamkeit von Instrumenten und Maßnahmen zur Implementierung und Verstetigung von Netzwerken in der beruflichen Bildung. In: Gramlinger, F./ Büchter, K. (Hg.) (2004): Implementation und Verstetigung von Netzwerken in der beruflichen Bildung. Paderborn, 45-64. Crouch, G. I./ Ritchie, J. R. B. (1999): Tourism, Competitiveness and Societal Prosperity. In: Journal of Business Research, 44, 137-152. Deutsche Zentrale für Tourismus e. V. (DZT) (2014): Die DZT. [online] Verfügbar unter: http: / / www.germany.travel/ de/ parallel-navigation/ ueber-uns/ die-dzt/ die-dzt.html [Letzter Zugriff 22.02.2015]. Eisenstein, B. (2014): Grundlagen des Destinationsmanagements. 2. Auflage, München. Eisenstein, B./ Marks, N./ Maschewski, A./ Ruckpaul, N./ Ryll, C. (2006): Entwicklung eines Strategischen Erfolgskennziffernsystems im Tourismus (SET). Heide/ Holstein. (unveröffentlichter Projektbericht) Fischbach, J. (2009): Entwicklung einer operationalen Tourismusmarketingkonzeption für den Kreis Olpe. (= Dissertation Philipps-Universität Marburg) [online] Verfügbar unter: http: / / archiv.ub.uni-marburg.de/ diss/ z2009/ 0457/ pdf/ djf.pdf [Letzter Zugriff 13.10.2014]. <?page no="133"?> Ist Pilgern immer Wandern plus spiritueller Faktor? Das lässt sich wohl nicht für jeden einzelnen Fall allgemeingültig beantworten. Wandern ist zumindest dem Fernwandern sehr ähnlich und viele Wanderer verbinden den Begriff Pilgern stark mit dem des Wanderns. Dabei werden bei beiden Aktivitäten wandertouristische Infrastrukturen genutzt (markierte Wege, Schutzhütten, Einkehrmöglichkeiten). <?page no="134"?> Aber: Pilgern scheint sich nicht einfach in die touristisch geprägten und zugleich hohen Ansprüche moderner Wanderer einzufügen. Nur wenige Destinationen vermarkten auch Pilgerangebote. Es fehlt an thematischer Nähe zu spiritueller Reise, aktueller Genuss- und Qualitätsorientierung oder es mangelt an professionellen Strukturen, welche touristisch nutzbar gemacht werden können. Kooperationen von Wandervereinen und Pilgergesellschaften, z. B. in der Planung neuer Pilgerouten, sind im Sinne eines integrativen Wegemanagements wünschenswert, doch eher selten. Zwar wird im Rahmen der positiven Entwicklung des Wanderns auch das Pilgern profitieren, nennenswerte Marktchancen sind jedoch nur bei stärkerer Professionalisierung der Akteure (als Partner für den Tourismus) zu erwarten. Warum beschäftigt sich der Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine e. V. (kurz: Deutscher Wanderverband) als Fachorganisation für das Wandern mit dem Pilgern? Zum einen hat die Grundlagenuntersuchung ‚Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern 2010‘ in einer repräsentativen Erhebung der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren festgestellt, dass 41,5 % der Befragten (Wanderer und nicht Wanderer) das Pilgern begrifflich eng mit dem Wandern verbinden. Darüber hinaus lässt die Definition des Wanderns auch die Subsummierung des Pilgerns zu - ist also weit gefasst: „Wandern ist Gehen in der Landschaft. Dabei handelt es sich um eine Freizeitaktivität mit unterschiedlich starker körperlicher Anforderung, die sowohl das mentale wie physische Wohlbefinden fördert. Charakteristisch für eine Wanderung sind: eine Dauer von mehr als einer Stunde, eine entsprechende Planung, Nutzung spezifischer Infrastruktur sowie eine angepasste Ausrüstung.“ 193 193 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2013, 23. <?page no="135"?> Man kann also davon ausgehen, dass es eine große definitorische Schnittmenge zwischen den Wanderern und den Pilgern gibt. Dafür spricht, dass neben dem physischen Gehen auch die Naturerfahrung sowohl beim Wandern als auch beim Pilgern eine wesentliche Rolle spielt. 195 Ein interessantes Unterscheidungskriterium liefert Anselm Grün, denn ihm geht es beim Wandern „einfach darum, auf dem Weg zu sein und die Natur zu genießen. Pilgern heißt immer, dass ich auf ein Ziel von religiöser Bedeutung zugehe.“ 196 Demnach ließe sich das Verhältnis zwischen Wandern und Pilgern auf eine einfache Formel bringen: Außerdem ist Pilgern zu Fuß, zumindest in Deutschland, immer auch mit dem Vorhandensein wanderspezifischer Infrastruktur verbunden (Wanderwege, Rastplätze, Wegweisung, Schutzhütten, Einkehrmöglichkeiten etc.). Da durch die Wegezeichner und Wegewarte in den Deutschen Gebirgs- und Wandervereinen alleine im Bundesgebiet ca. 200.000 km markierte Wanderwege betreut werden, liegen Berührungspunkte zu Pilgerouten und den damit in Verbindung stehenden Infrastrukturen in der Natur der Sache. 194 n= 3.032; Vgl. Deutscher Wanderverband. 195 Vgl. Joos 2015, 28-33; Vgl. Project M GmbH 2014, 13. 196 Walter 2010, 16. <?page no="136"?> Religiöse Motive spielen beim Wandern kaum eine Rolle. In der Grundlagenuntersuchung ‚Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern‘ und der ‚Wanderstudie 2014‘ landen religiöse Beweggründe auf den letzten Plätzen im Motivranking. Gleichzeitig scheinen introspektive, nach innen gerichtete Motive (auf sich besinnen; zu sich selber finden) zwischen 2010 und 2014 stärker geworden zu sein. Eine Lebensstilanalyse der ‚Grundlagenuntersuchung Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern‘ von 2010 zeigt überdurchschnittliche Affinität bei postmaterialistischen und qualitätsorientierten Lebensstilen (weltoffene, kritisch-anspruchsvolle) sowie bei den Realisten dagegen eine unterdurchschnittliche Affinität bei den Lebensstilen am materialistischen und preisorientierten Pol (Träumer, Häusliche, Bodenständige). 197 Mit diesen Ergebnissen korrespondiert die positive Bewertung der Wirkungen von Wanderungen: 73,8 % fühlen sich nach einer Wanderung seelisch ausgeglichener und sogar 82,7 % glücklich und zufrieden. 198 Trotz der engen infrastrukturellen Verknüpfung von Pilger- und Wanderwegen sowie der aktivitätsbezogenen Verwandtschaft scheint das Pilgern als touristisches Angebot nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. In vielen Wanderbroschüren deutscher touristischer Destinationen wird Pilgern nicht oder nur zu einem geringen Teil vermarktet. Beispielsweise zeigt eine strichprobenartige (nicht repräsentative) Sichtung des Messeangebotes auf der Tour Natur 2016 in Düsseldorf, der führenden Wander- und Trekkingmesse in Deutschland, dass 197 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2013, 42. 198 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2013, 119. 199 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2013. Daten: Vor-Ort- Befragung, n=4.022. <?page no="137"?> bei nur wenigen Auslagen und Kontakten Pilgerangebote vorhanden sind. Werbematerialien für Pilgerwege haben nur wenige Destinationen im Angebot, so z. B. der Fläming (Brandenburg), der unter dem Titel „Tetzel Thesen Touren. Wandern, Radfahren und Skaten auf den Spuren der Reformation“ anbietet. Touristisch aufbereitete Pilgertouren wie diese oder „Kauf Dich vom Fegefeuer frei“ als Wanderung auf dem Luther-Tetzel-Weg von Jütterbog nach Wittenberg, welche auch Elemente des Storytelling aufnimmt, stellen eher die Ausnahme dar. 200 200 Vgl. Tetzel Thesen Touren 2016, 24-25. 201 Thüringer Tourismus 2016a. <?page no="138"?> Auf Ebene der Landesmarketingorganisationen fällt das Angebot der Lutherwege in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt auf, das anlässlich des Jubiläumsjahres „Luther 2017 - 500 Jahre Reformation“ entstanden ist und vermarktet wird. Insbesondere die Thüringer Tourismus GmbH vermarktet die Lutherwege offensiv. Sie werden sowohl unter dem Themenfeld ‚Kultur und Geschichte‘ unter der touristischen Klammer ‚Reformation‘ als auch im Themenfeld ‚Natur- und Aktiv‘ als Wanderangebote vermarktet, inklusive eigener Wanderapplikation ‚Luther to go‘. 202 Auch in Sachen Wanderevents werden in Thüringen das Wandern und die Reformation 2017 eng verknüpft. Der Deutsche Wandertag, der als größtes Wanderfest Europas gilt, findet 2017 in Eisenach und der Wartburgregion unter dem Motto ‚Wandern auf Luthers Spuren‘ statt. Dies spiegelt auch die Herangehensweise Thüringens wider, wo das Pilgern in der Vermarktung nicht im Vordergrund steht, das kulturhistorische Thema der Reformation jedoch als touristische Klammer genutzt wird. 203 202 Vgl. Thüringer Tourismus 2016b. 203 Vgl. Stadt Eisenach 2016. <?page no="139"?> Dass es einen Markt für Pilgerwege gibt, bestätigt z. B. der Conrad Stein Verlag 2015 mit einer Übersichtskarte zu seinen Buch-Publikationen über Pilgerwege. Dieser Verlag hat allein 50 Titel zu Pilgerwegen im Programm. Vom Basiswissen über das Pilgern auf den Jakobswegen bis zum Wanderführer ‚Via Scandinavica‘. Noch deutlicher wird die Marktfähigkeit des Pilgerns, wenn man sich das neue Format auf dem TV-Sender Tele 5 anschaut. Dort wird Pilgern als Entertainment medial in Szene gesetzt, wenn ältere prominente Fernsehmoderatoren als Show-Legenden die letzten 500 km Jakobsweg bis Santiago de Compostella begehen. Ein solches Event ist auch der Bild-Zeitung einen Artikel in der Society-Rubrik (‚Leute, Leute, Leute‘) und einen prominenten Teaser auf der Titelseite wert. 204 Inwieweit, angesichts einer solchen Inszenierung, dem spirituellen Aspekt des Pilgerns noch Raum gegeben wird, bleibt fraglich. Eine klare Einordnung der heutigen Pilgerwanderer zwischen dem klassischen, religiös motivierten Pilgern und dem touristisch vermarktbaren Wandern fällt nicht ganz leicht. „Neben den christlichen Pilgern sind heute viele Menschen auf Pilgerbzw. Jakobswegen unterwegs, die nicht in erster Linie religiös oder spirituell motiviert sind. Sie suchen nach Sinn, Entschleunigung und Orientierung.“ 205 Wenn also davon auszugehen ist, dass heute viele Menschen pilgern, die keine klassischen Pilger sind, also eine vom Wandern nur in geringem Maße abweichende Motivlage haben, dann sollte die Vermarktung des Pilgerns für den Tourismus ein lohnendes Marktsegment sein. Auf der anderen Seite sind mehrere einschränkende Faktoren zu beachten: Von den vielen Millionen Wanderern in Deutschland sind nur rund 20 % auf Fernwanderwegen (mehrtätige Wanderungen) unterwegs, wie es für klassisches Pilgern üblich ist. 206 Der potenzielle Markt liegt folglich bei etwa einem Fünftel des Gesamtwandermarktes. Hinzu kommen gravierende Unterschiede in den Komfortansprüchen an Wanderwege: Während seit etwa 15 Jahren eine Welle der Qualitätsverbesserung mit Zertifikaten, Prüfungen und Wanderbefragungen den europäischen und insbesondere den deutschen Wandertourismus prägen, entsprechen viele Pilgerwege nicht den modernen Qualitätsansprüchen des Tourismus. Bei Pilgerwegen sind Etappenlängen von 30 km und mehr keine Seltenheit. Diese kommen im modernen Wanderangebot kaum mehr vor, wenn man davon ausgeht, dass ein Mehrtageswanderer pro Etappe durch- 204 Vgl. Diekmann 2016, 1 u. 7. 205 Seifert-Rösing 2011, 150. 206 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2010. <?page no="140"?> schnittlich 18,7 km zurücklegt. 207 Pilgerwege sind in großen Abschnitten befestigt oder gar asphaltiert, sie sind zielgerichtet und einfache, günstige Gruppenunterkünfte sind die Regel. 208 Diese Aspekte sind nur schwer mit den Anforderungen heutiger Wanderwege vereinbar, die touristisch attraktiv und qualitätsgesichert sind. 209 Destinationsmanager scheinen sich mit dem Pilgern als touristischem Angebot schwer zu tun, widerspricht doch das Image von Askese, Buße und religiös geprägter Sinnsuche der touristischen Service- und Genussorientierung. Zugleich fehlt es den etablierten Akteuren an professionell organisierten Partnern, wie sie diese aus anderen Tourismusbereichen gewohnt sind. Dass eine professionelle Struktur die Zusammenarbeit erleichtert, zeigt das Beispiel des „Bayerischen Pilgerbüro e. V.“, der als Reiseveranstalter im Auftrag der bayerischen Diozösen tätig ist und in dieser Funktion Pilger-, Wander-, und Studienreisen weltweit anbietet - seit 2016 neben der evangelischen Landeskirche Bayerns bekannt als Gesellschafter der Bayern Tourismus Marketing GmbH (BAYTM). Die BAYTM sieht das Pilgerbüro als „starken Partner für Urlaubsangebote abseits des Alltags.“ 210 207 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2010, 55. 208 Vgl. Körner 2011. 209 Vgl. Deutscher Wanderverband Service GmbH 2015. 210 Bayern Tourismus Marketing 2016. 211 Bayerisches Pilgerbüro 2016. <?page no="141"?> Ein gutes Beispiel für eine landesweite Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Wandern ist Sachsen-Anhalt, wo sich zunächst in der Arbeitsgemeinschaft St. Jakobus Pilgerweg Sachsen-Anhalt die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (heute Evangelische Kirche in Mitteldeutschland), die Evangelische Landeskirche Anhalts, das Bistum Magdeburg, der Landesverband Sachsen-Anhalt der Gebirgs- und Wandervereine e. V. sowie die fränkische St. Jakobus Gesellschaft engagiert haben und bei der Einrichtung des St. Jakobus Pilgerwegs Sachsen-Anhalt mit Mitteln des Landes unterstützt wurden. Aus dieser Zusammenarbeit ist die heutige St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt e. V. hervorgegangen. 212 Die Kompetenzen auf Seiten der Wandervereine liegen bei der Trassenfindung, -markierung und der dauerhaften Wegepflege. Die aktuellen Gespräche in Wandervereinen bestimmt dabei die Vereinbarkeit zwischen historisch korrekten und, nach heutiger Sicht, sicheren und attraktiven Wegführungen. Sie bilden eine Herausforderung für die Zusammenarbeit. In wenigen Fällen werden Wandervereine mit der Einrichtung von Pilgerwegen aktiv. Ein Beispiel hierfür ist auch der Oberhessische Gebirgsverein (OHGV), der bereits 1994 einen neuen Wanderweg zwischen Marburg und dem Kloster Altenberg bei Wetzlar eigerichtet hat. Der Pfad wurde im Jahr 2000 durch die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau von Frankfurt her verlängert, womit sich eine koordinierende Vereinsstruktur gebildet hat. „Kirchengemeinden am Weg, die Franziskanerprovinz Hessen-Thüringen und interessierte Einzelpersonen gründeten 2002 zusammen mit der EKHN den Elisabethpfadverein e. V. mit Sitz in Marburg, der sich für die Pflege dieses 130 km langen Weges und die Einrichtung weiterer Pfade verantwortlich weiß.“ 213 Häufig arbeiten Wandervereine mit den Trägern von Pilgerwegen zusammen, wenn es um die Einrichtung oder dauerhafte Pflege der Wege geht. In einzelnen Fällen, wie dem Hugenotten- und Waldenserpfad (Start: Le Poet-Laval in Frankreich bis Bad Karlshafen in Nordhessen), sind für die jeweiligen Abschnitte z. B. der Knüllgebirgsverein und der Odenwaldklub im Auftrag der Trägerorganisation als Dienstleister für die Pflege der Markierung zuständig. 212 Vgl. St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt e. V. 2016. 213 Elisabethpfad e. V. o. J. <?page no="142"?> Für das Wandern wird bis 2040 eine stabile bis leicht steigende Nachfrage prognostiziert. 214 Da sich die Motivlage von Wanderern und Pilgern überschneiden, die Anforderungen an die Infrastruktur ähneln und der Trend zur Sinnsuche und Selbstfindung nach heutiger Sicht nicht abnehmen wird, ist für beide Wanderformen mit einer positiven Entwicklung auszugehen. Weitere Professionalisierungen im wandertouristischen Bereich sowie bei den Akteuren des Pilgerns könnten diese jedoch zusätzlich begünstigen. Ein entscheidender Faktor wird die Schaffung stabiler und nachhaltiger Strukturen sein, welche über kurzfristige Förderphasen und Themenjahre im Marketing hinausgehen, dabei die jeweiligen Akteurskompetenzen berücksichtigen und diese im Sinne eines integrativen, koordinativen Wegemanagements zusammenführen. Wie groß die Unterschiede zwischen Pilgern und Wandern, angesichts religiöser Zielbestimmung einerseits und infrastrukturellen wie physisch-praktischen Überschneidungen andererseits, sind, sollte im Einzelfall entschieden werden. Der erfahrene Pilger und Fernwanderer Michael Körner 215 aus Ostbayern konnte dies auf seinen unzähligen Touren entlang der Jakobswege für sich feststellen und erfahren. Er startete als Wanderer und kam doch auch als Pilger an den jeweiligen Zielen an. Grundsätzlich stellte sich auf all den Touren die Spiritualität der Jakobswege bei ihm ein. Später konnte er gut beobachten, dass sich dieser Spirit auf all seinen anderen Touren und Fernwanderungen entlang touristischer Wege (u. a. dem Goldsteig) ebenfalls übertragen und wiederfinden ließ. „Die spirituelle Erfahrung steckt in den großen und kleinen Wundern der Natur, den Begegnungen und der Selbsterfahrung, welche sich dann alle wieder auf allen anderen Wegen erneut entdecken lassen. Ein Transfer hat stattgefunden. Es gibt viele Entwicklungsstufen des Wanderns zu entdecken. Vom Wanderer zum Fernwanderer zum Wanderer im hier und heute.“ 216 214 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2010, 129. 215 Vgl. Körner o. J. 216 Michael Körner im Gespräch mit dem Autor am 4. September 2016. <?page no="143"?> Bayerisches Pilgerbüro e. V. (Hg.) (2016): Pilgerreisen und Studienreisen weltweit. [online] Verfügbar unter: http: / / www.pilgerreisen.de [Letzter Zugriff 18.09.2016]. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) (Hg.) (2010): Grundlagenuntersuchung Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern. Berlin. CL Verlag (Hg.) (2016): Bayern Tourismus Marketing: Pilgerbüro wird Gesellschafter. In: Tourismus Newsletter Deutschland. [online] Verfügbar unter: http: / / www.tndeutschland.com/ bayern-tourismus-marketing-pilgerbuero-wird-gesellschafter/ [Letzter Zugriff 18.09.2016]. Diekmann, K. (Hg.) (2016): Bei diesen TV-Legenden läuft’s wieder. In: Bild. 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Wustrack 2005, 29. <?page no="146"?> Erschwerend kommt für eine genaue Erfassung des Phänomens hinzu, dass der Begriff des Pilgerns inzwischen - so Simone Wustrack - „umgangssprachlich oft mit besonderen ‚events‘ (Sport oder Musik)“ verbunden wird. 218 Die Nähe zum Radfahren taucht hier perspektivisch indirekt in dem Hinweis auf Events bereits auf, ohne dass dabei explizit vom Radwegetourismus die Rede wäre. Umso wichtiger ist es, den Begriff des Pilgerns klar von anderen Reiseformen wie etwa der Reise mit dem Fahrrad abzugrenzen. Zu Recht lässt sich also in Bezug auf das Thema meines Beitrages die Frage stellen: Gehört der Fahrradtourismus nicht eher in den Bereich des Sports und in Verbindung zu Eventreisen, auch wenn Radfahren wie Wandern dem Segment des sog. Erlebnistourismus zuzuordnen sind? Gerade wenn es um die Radwegekirchen und ihre Beziehung zum Pilgern geht, bedarf es also einer Präzisierung. So kam der Gedanke auf, geradezu in Form einer contradictio in adiectum die Frage des Untertitels als Lackmustest zu verwenden: Geht Pilgern per Fahrrad? Oder anders herum formuliert: Lässt sich von einer negativen Abgrenzung aus bzw. der Unterscheidung der Phänomene Pilgern/ Wallfahren mit dem damit verbundenen Besuch von Kirchen und dem Besuch der Radwegekirchen während der Fahrradreise der Begriff des Pilgerns weiter präzisieren? Wo liegen Gemeinsamkeiten - worin bestehen die Unterschiede beider Formen? Wenn man so will, möchte ich den Versuch unternehmen, vom Fahrrad aus betrachtet eine kritische Perspektive auf das Pilgern einzunehmen. 219 Das Ziel besteht dann darin, das Pilgern phänomenologisch und hermeneutisch eindeutiger zu fassen, indem das Phänomen von anderen Formen abgegrenzt wird. Dabei wird dann aber gleichzeitig durchaus auch sowohl von der Faszination des Radwegetourismus die Rede sein, als auch über die Radwegekirchen auch eine Verbindung zu einer konkreten Variante des Themas Religion und Tourismus gezogen werden. 220 Also letztlich doch: Gibt es eine innere Verbindung zwischen den Radwegekirchen und dem Pilgergedanken und bildet der Fahrradtourismus zwischen den Radwegekirchen ein Pendent zum Pilgern? Wo eine Gemeinsamkeit beider Phänomene liegen könnte, lässt sich aus einer Bemerkung des Philosophen Zygmunt Bauman entnehmen, der sich in dem kleinen Essay „Das moderne Leben als Pilgerreise“ findet. Dort heißt es: 218 Wustrack 2005, 30. 219 In der Literatur findet sich diese Zugangsweise bislang nicht, wie überhaupt Pilgern und Radfahren nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Vgl. Schnell 2007. 220 Vgl. Grethlein 2013. <?page no="147"?> „Für den Pilger haben nur die Straßen einen Sinn, nicht die Häuser; Häuser führen den ermüdeten Wanderer in Versuchung zu ruhen und sich zu entspannen, das Ziel zu vergessen oder es für unbestimmte Zeit aufzuschieben. Selbst die Straßen können sich eher als Hindernis denn als Hilfe entpuppen, eher als Falle denn als Durchfahrt.“ 221 … Das Pendent zum Weg stellt die Bewegung dar, die eine Dynamik herstellt und den Raum als Durchfahrt erscheinen lässt. Dem wird weiter nachzugehen sein. Pilgern und Fahrradtourismus sind auf den ersten Blick eher weniger miteinander zu vergleichen. Langsamkeit auf der einen Seite trifft auf Dynamik und Tempo auf der anderen Seite. Der zweite und vertiefte Blick zeigt indes überraschende Übereinstimmungen, denn in beiden Fällen spielt das Reisen in Etappen eine Rolle und gleichzeitig kommt der Bewegung eine ästhetische Rolle und Funktion zu, die etwa auch spiritueller Natur sein kann. So ergibt sich vom Fahrradreisen ein veränderter Blick auf das Phänomen des Pilgerns. Die Wege- Stop-Mentalität des Reisens wird sehr deutlich und es kommt bei der Betrachtung der Phänomene die kinästhetische Dimension mehr zur Geltung. Betrachtet man vom Phänomen des Radwegetourismus aus das Faktum des Pilgerns, so treten die religiösen Motive eher in den Hintergrund, während das Moment der Bewegung deutlicher zum Unterscheidungskriterium wird. Der Weg an sich bzw. der Prozess des Unterwegssein macht in moderner Zeit somit das Pilgern in erster Linie aus. Der Umweg über das Fahrradfahren hat also einen Erkenntniszugewinn für die Beschreibung des Pilgerns erbracht und er entmythologisiert das Pilgern in säkularer Hinsicht. Eigentlich gehören der Radtourismus und der Pilgertourismus in zwei verschiedene Sparten der Tourismusbranche mit unterschiedlichen Zielgruppen, Wachstumssparten und Marktsegmenten. 222 Schon allein aus diesem Grund klingt die Frage im Untertitel des Beitrages, der mir durch die Veranstalter der Tagung gegeben wurde, durchaus provokativ: „Ist der höhere Gang mit dem Pilgergedanken im Einklang? “ Während für das Pilgern die Gangart „per pedes apostulorum“ konstitutiv ist, so werden beim Fahrradfahren die Beschleunigung und ein erhöhtes Reisetempo zu bestimmenden Elementen. 223 Der Antrieb des Fahrrades erfolgt zwar wie beim Laufen durch eigene Muskelkraft, 221 Bauman 2007, 136. 222 Vgl. Freyer 2010; Vgl. Dreyer 2010. 223 Vgl. Wustrack 2005. <?page no="148"?> aber gegenüber dem Laufen erhöht sich die Geschwindigkeit durch die Übersetzung der Kraft auf ein Antriebsrad. Wandern und Fahrradfahren sind somit per definitionem durch die Geschwindigkeit voneinander unterschieden, sodass schon von der Definition der Begriffe her die sachliche Verbindung von Fahrradfahren und Pilgern als ein Widerspruch in sich gelten kann. Gemeinsam ist beiden Bewegungsarten indes der neue gesellschaftliche und touristisch bereits erkannte Trend eines Erlebnistourismus, 224 in dessen Mitte Aspekte von Entschleunigung im Reisen bzw. ein spezifisches Naturerleben eine Rolle spielen. Radreisen und Pilgern können durchaus aus der Perspektive des spirituellen Tourismus wiederum in einer Kategorie gesehen werden und können somit doch in gewisser Weise als ähnlich eingestuft werden. 225 Im Jahr 1958 erschien mitten in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders der Film mit Heinz Erhardt: „Immer die Radfahrer“ 226 , in dem dann die drei Reisefreunde das Lied sangen: „Mit dem Rad, Kamerad.“ Die Radreise ging entlang der Mosel. Das Genre Reisefilm begleitete zu dieser Zeit neben dem Heimatfilm aber auch die Sehnsucht der Deutschen, die Fremde und Ferne neu zu entdecken. Neben dem berühmten Auto-Klassiker des „Setra-Reisebusses“ 227 firmierte das schicke „Cabriolet“ im Kinofilm der Zeit als das geeignete Reisegefährt, mit dem sich bequem die Entfernung über die Alpen hin zur Adriaküste bewerkstelligen ließ. Das Wandern und das Fahrrad als Mittel der Fortbewegung traten dagegen hinter dem Auto weit zurück. Vor allem das Fahrrad wurde zum Symbol einer Notlösung preisgünstigen Reisens im eigenen Land, das gerne von Jugendlichen genutzt wurde - oftmals verbunden mit Zelt und Camping. Weniger die Reiselust als vielmehr der im Bündischen Gedanken verwurzelte Aspekt der Naturfreunde verband in den 1950er- und 1960er-Jahren die Fahrradreisenden. Das Klischee sozialer Randständigkeit als Transportmittel begleitete das Fahrrad lange Zeit. Wer sich kein Auto leisten konnte, musste notgedrungen auf das Fahrrad zurückgreifen. 228 Auf dem Land dominierte das Fahrrad noch längere Zeit gegenüber dem Auto. Das Fahrrad galt als Fortbewegungsmittel sozial ärmerer Schichten. Noch in der Fernsehserie „Die Schwarzwaldklinik“ 229 zählte das Fahrrad zur Lebenswelt des Landstreichers. 224 Vgl. Hädrich/ Kaspar 1998; Vgl. Antz 2015. 225 Der Begriff findet heute vielfältige Verwendung. Vgl. Berkemann 2006. 226 Vgl. Deppe/ Neumeister 1958. 227 Motor Vision o. J. 228 Vgl. zur Soziologie der 50er-Jahre: Schildt/ Sywottek 1993. 229 Vgl. Folge 5: „Der Landstreicher“. <?page no="149"?> Mit dem Ende der soziologischen Debatte über den Klassen- und Schichtbegriff seit den 1960er-Jahren entkoppelt sich die soziologische Betrachtung des Fahrrades von seiner ökonomischen Deklassierung gegenüber dem Auto in den 1970er-Jahren. Die Milieuforschung bindet die Nutzung des Fahrrades inzwischen an Mobilitätsstile und Lebensorientierungen. 230 Hier setzt die Transformation ein, die das Fahrradreisen zu einem „Hightech-Tourismus“ weiterentwickelt. Mit dem Klapprad beginnt die Veränderung des Radreisens und die Benzin- und Umweltkrise 1974, die den autofreien Sonntag hervorbrachten, bescherten dem Fahrrad und dem Radreisen einen wirtschaftlichen Aufschwung. 231 Inzwischen hat das Fahrrad und mit ihm auch das Reisen mit dem Fahrrad eine erhebliche Transformation erlebt. Radreisen hat Konjunktur und von der sozialen Notlösung hat sich das Fahrrad zu einem Hightech-Reisemittel verändert. Seit 2009 liegt eine große Studie zur Marktforschung des Fahrradtourismus vor, die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegeben wurde. 232 Der Fahrradtourismus gilt jetzt als erhebliche Wachstumsbranche und wird inzwischen fest in die kommunalen und landesweiten Tourismuskonzepte integriert. Dabei unterliegt der Fahrradtourismus folgenden Trends: Kommerzialisierung Ästhetisierung Eventisierung Übergang Freizeit - Sport. Das Erlebnis steht eindeutig im Vordergrund und so gilt das Radreisen primär als eine erlebnisorientierte Freizeitaktivität. 233 In seiner spezifischen Erlebnisorientierung als ästhetischer Genuss der Verlangsamung bildet der Radtourismus geradezu eine Gegenwelt zum Städtetourismus, der auf Events und Highlights setzt. 234 Entsprechend der Nutzung des Fahrrades sowie einer Typologie der Radreisenden unterscheidet die Marktforschung inzwischen drei verschiedene Formen des Radtourismus: Etappenradreise Standortradreise Rundradreise. Von einer kriteriologischen Warte aus betrachtet, lässt sich der Radwegetourismus als Mittel- und Langstreckentourismus fassen, der sich über diverse Etappen hinzieht. Was macht diesen Radwegetourismus insbesondere aus? Auf 230 Vgl. Nehring/ Steierwald 1998, 89ff. 231 Vgl. Dreyer/ Mühlnickel/ Miglbauer 2012. 232 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009. 233 Vgl. Weiermayer/ Brunner/ Sperdin o. J. 234 Vgl. Lauterbach o. J. <?page no="150"?> den drei Feldern Reisemotive, Reisestruktur und Reiseverhalten soll deshalb zunächst kurz der Radtourismus generell beschrieben werden, um Parallelen und Unterschiede zum Pilgern/ Wallfahren zu markieren. Aufgrund der Marktstudie kann die Nutzungsstruktur der Fahrradreisenden auch mit konkreten Lebensstilmilieus zusammengebracht werden. Vor allem ist hier zu beachten, dass das Hightech-Fahrrad Stilmittel der sog. „Besserbürger“ der mittleren Generation darstellt, während das Pilgern/ Wandern zum Stil der Generation 50plus zählt. Bezogen auf das Fahrradreisen ist in diesem Zusammenhang der Typus des sog. Genussradlers relevant, der vor allem das Trekking-Fahrrad bevorzugt und als Übernachtungstourist unterwegs ist. Seine Reisemotivation liegt laut Erkenntnissen der bundesweiten Marktstudie beim aktiven „Erleben und Kennenlernen von Land und Leuten“. Der Typus des sog. Genussradlers zeigt Interesse an „Kultur, Kulinarik, Landschaft“. 235 Hiervon unterscheidet sich der 235 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009, 38. <?page no="151"?> sportliche Typus, der primär als Einzelradler bzw. Gruppe Gleichgesinnter unterwegs ist, ein Rennrad benutzt und sich auf Sport und Leistung konzentriert. Laut Studie zeigt sich aber auch, dass „tendenziell die mittleren Jahrgänge (46 bis 60 Jahre) und die jüngeren Senioren (61 bis 75 Jahre) in diesem Marktsegment weit überproportional vertreten sind. Sie stellen eine ganz wichtige Zielgruppe dar, deren Erwartungen und Bedürfnisse bei der Angebotsgestaltung Beachtung finden müssen.“ 236 Damit erweist sich in gewisser Weise eine Parallelität der Altersgruppen und Zielgruppen, die „offene Kirchen“ im Rahmen des Städtebesuches favorisieren, mit denen, die als Etappenradler (40- 60 km am Tag) unterwegs sind. Die Mentalität in Etappen zu reisen bildet dann in einer Tiefendimension in gewisser Weise auch eine Strukturparallele zum Pilgern. Tägliche Übernachtungen, der Tagesrhythmus und die Kontinuität in der Gleichförmigkeit der Bewegungsabläufe sind konstitutiv für diese Form des Reisens. Bisher ist aus meiner Sicht zu wenig religionswissenschaftlich darüber reflektiert worden, dass gerade die Gleichförmigkeit und der kontinuierliche Rhythmus von Bewegungen zu einer „Erlebnisoffenheit“ bzw. spirituellen Erfahrung führen. 237 Dass eine gleichförmige Bewegung meditativen Charakter aufweisen kann, zeigen die im Judentum und Islam gleichermaßen praktizierten rhythmischen Bewegungen des Gebetes (schockeln). 238 Im jüdischen Mystizismus bedeutet das Schaukeln des Körpers in seiner rhythmischen Gleichförmigkeit eine Offenheit der Seele zu Gott hin. Auch in der Philosophie und der Erkenntnistheorie spielen die Metaphern des Gehens und sich Bewegens - so etwa bei Martin Heidegger im Begriff der Kehre oder auf den Wanderungen des Soziologen Max Weber - eine wichtige Rolle im Erkenntnisgewinn. Desgleichen prägt das Fahrradreisen die Weg-Ziel-Dynamik, insbesondere bei, „Fluss-Radwandern“ (von der Quelle zur Mündung), eine als besonders zu beschreibende Erlebnisqualität. Das Naturerleben in einer sich über einen längeren Weg hinziehenden Landschaft macht den Reiz sowohl des Wanderns (Pilgerns) sowie des Fahrradfahrens aus. 239 Christian Grethlein weist darauf hin, dass das Fahrrad in Parallele zum Pilgern „ein Verkehrsmittel der Entschleunigung und unmittelbaren Wahrnehmung der Umgebung“ darstellt. 240 Daraus leitet Grethlein eine nicht unerhebliche Grunderkenntnis ab: „Sein passagerer Charakter, der sich im unkomplizierten Anhalten und ebenso einfachen Weiterfahren äußert, entspricht der Unverbindlichkeit, die unter den Bedingungen reflexiv moderner Optionalitäten wohl kaum vermeidbar ist.“ 241 236 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009, 39. 237 Zur theologischen Interpretation: Vgl. Fechner 2002. 238 Zur religiösen Praxis des „schockeln“ siehe haGalil o. J. 239 Vgl. Wöhler 2007. 240 Grethlein 2013, 3. 241 Grethlein 2013, 3. <?page no="152"?> Dem Pilgern und dem Radfahren ist somit eine gewisse Wege-Stopp-Mentalität des Menschen zu eigen, aus der dann ein Doppeltes zu folgen scheint: auf der einen Seite eine „Intensität“ des Erlebens von „Raum“ und „Landschaft“ sowie auf der anderen Seite eine erhöhte Bedeutung und Relevanz besonderer Orte. 242 Die Kontextualität der Reiseumgebung erhält bei den verlangsamten Formen der Bewegung eine deutlich höhere Bedeutung als bei Reisen mit dem Auto. Greife ich auf den Anfangspunkt meiner Überlegungen zurück, wo ich vom Fahrrad aus betrachtet das Pilgern konkretisieren wollte, so kommt dem Aspekt der „gleichförmigen Bewegung“ über eine längere Zeit und Etappen eine wichtige Funktion zu. Darauf deutete auch bereits der Hinweis von Zygmunt Bauman hin. Von der physischen Dimension der dauerhaften Bewegungsgleichförmigkeit erweist sich Spiritualität als eine „ästhetisch-sinnliche Kategorie der Erlebnisoffenheit“. 243 An dieser Stelle könnten dann Kirchen als Unterbrechungsorte ihre Relevanz haben, wodurch etwa eine Parallelität der Motive zum Kirchenbesuch etwa bei sog. „Offenen Kirchen“ oder auch Citykirchen vorliegen könnte und mit dem Unterbrechungstheorem eine generelle religionswissenschaftliche Kategorie des Feldes Religion und Tourismus gefunden wäre. (Anders-Ort) Damit wird - wie auch Grethlein beschreibt - dem Kirchengebäude eine neue Semantik zuteil. 244 Vergleicht man nun zunächst rein soziologisch die Strukturparallele zwischen dem Reisen zu Fuß (wandern, pilgern, wallfahren) mit dem Reisen auf dem Fahrrad, lässt sich eine Annäherung ableiten. Aus der Beschreibung, die bisher entsprechend der Kriterien des Fahrradfahrens gegeben wurde, lässt sich analog der eingangs beschriebenen Vermutung vice versa, d. h. vom Fahrrad auf das Pilgern geschlossen, folgende erste Definition geben: 242 Vgl. Hoburg 2000. 243 Vgl. Volp 1991. 244 Grethlein 2013, 5. <?page no="153"?> Pilgern ist eine über einen längeren Zeitraum erfolgende Gleichförmigkeit von physiologischen Bewegungsabläufen unter der Bedingung von Entschleunigung, bei der sich eine Erlebnisoffenheit durch mentale Entspannung erzeugen lässt. Diese Gleichförmigkeit evoziert die Möglichkeit einer ästhetisch-sinnlichen Tiefendimension, die über sich hinausweist und in die Kategorie „spirituell“ - „religiös“ fallen kann. Der Radwandertourismus stellt mittlerweile ein veritables Marktsegment innerhalb des Tourismus dar. Einen konkreten Ausdruck dieses Mittelstreckentourismus durch das Fahrrad bilden die diversen Fluss-Radwege in Deutschland, Österreich und Frankreich. 245 Der Elberadweg stellt hierbei mit einer Gesamtstrecke von insgesamt 1.260 km neben dem Donauradweg, dem Weserradweg, dem Saaleradweg und dem Ruhrtalradweg das bekannteste und beliebteste kontinuierliche Radwegesystem dar, das sich in verschiedene Großetappen einteilt und inzwischen eine hohe touristische Vermarktungsrelevanz besitzt. Im sog. Routen-Ranking der ADFC Radreiseanalyse von 2016, die auf der Tourismusmesse ITB präsentiert wurde, rangiert der Elberadweg seit mehreren Jahren auf Platz 1. Auf dem Elberadweg befinden sich inzwischen auch insgesamt 84 Radwegekirchen. Inzwischen finden sich entlang einiger Flussradwege viele Radwegekirchen, die auf einer Netzkarte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) konkret gemacht werden. Durch die Gesamtlänge des Radwegenetzes ergeben sich besondere Anforderungen an das Tourismuskonzept, da es übergreifend über mehrere Bundesländer agieren muss. Gleiches gilt für das Angebot der sog. Radwegekirchen, das z. B. beim Elberadweg mehrere Landeskirchen (Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover; Nordkirche; Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM); Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen) streift. Dies macht eine Gesamtkonzeption der Radwegekirchen notwendig, die inzwischen auch realisiert wurde. Der Elbe- und Weserradweg bilden eindeutig die Schwerpunkte bei den sog. Radwegekirchen. Aber was darf man sich unter einer sog. Radwegekirche vorstellen? Der im Kirchentourismus, vor allem im Bereich Citykirchen versierte Pfarrer Andreas Isenburg reduziert seine Definition für die Radwegekirche auf: 245 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009, 42. <?page no="154"?> [1] Sie liegt an einem bekannten Radweg. [2] Sie ist eine „offene Kirche“. 246 Vor allem mit dem zweiten Kriterium sind die Radwegekirchen in den gesamten Diskurs von „Religion und Tourismus“ und den aufweisbaren Motiven zum touristischen Kirchenbesuch eingebettet, wie er inzwischen durch mehrere empirische Untersuchungen zu den „offenen Kirchen“ beschrieben wurde. 247 Radwegekirchen sind demnach als offene Kirchen zu beschreiben und bilden somit keine Spezialtypologie aus. Meine Überlegungen konzentrieren sich analog dem ersten benannten Kriterium bei dem Elberadweg auf den Streckenabschnitt von Magdeburg bis Wittenberg, auf dem das Netz der Radwegekirchen besonders dicht ist. Die Radwegekirchen liegen hier auf dem Gebiet der Ev. Kirche von Mitteldeutschland und der Ev. Kirche Sachsens und befinden sich durchaus etwas abseits des direkten Verlaufs des Elberadweges. Das gemeinsame Strukturmerkmal dieser Kirchen ist ihre Einbindung in touristisch relevante und kulturhistorisch bedeutsame Dörfer, Klein- und Mittelstädte, die kulturhistorisch durchaus mit der touristischen Route der „Straße der Romanik“ bzw. anderen touristischen Routen wie etwa dem Gartenreich Dessau-Wörlitz in Verbindung gebracht werden können. Das Verzeichnis der Radwegekirchen nennt Orte wie: Magdeburg: Dom; St. Petri; Samariterkirche 246 Straßmann 2015. 247 Hoburg 2005. 248 Kirchenamt der EKD o. J. <?page no="155"?> Schönebeck: Stadtkirche; St. Thomas Dornburg: St. Christopherus Dessau-Roßlau: Großkühnauer Kirche; Ev. Kirche Mildensee; Klieken: Patronatskirche Coswig: St. Nikolai Wittenberg: Apollensdorf; Wittenberg: Schloss- und Stadtkirche Kemberg: St. Marien. Die Auflistung macht deutlich, dass hier eine Mischung von Dorfkirchen sowie kulturhistorisch wichtigen Stadtkirchen vorliegt. Zumindest die Städte Magdeburg, Coswig, Dessau und Wittenberg weisen einen durchaus namhaften Tourismus auf, der sich gerade auch in seiner Übernachtungsstruktur auf die Radreisenden eingestellt hat. Die Radwegekirchen sind dabei ein integrativer Bestandteil des touristischen Reiseverhaltens in dieser Region und das macht ihre Attraktivität aus. Obwohl hierzu m.W. keine genaueren empirischen Untersuchungen vorliegen, ist zu vermuten, dass die Frequenz der Kirchenbesuche durch Fahrradtouristen auf diesem Abschnitt des Elberadweges statistisch höher sein wird als etwa auf dem davor liegenden Abschnitt von Hamburg bis Magdeburg, wo vermutlich Tangermünde und die Stiftskirche Jerichow sowie Boizenburg zu den besonderen kulturhistorischen Highlights zählen. Das Besondere der Radwegekirchen liegt aus meiner Sicht in ihrer Ortsspezifik, somit in ihrer Lage am Radweg und der jeweiligen kulturhistorischen Bedeutung. Christian Grethlein merkte an, dass die Lage der Radwegekirche direkt am Radwanderweg einen deutlichen Einladungscharakter aufweist. Hier benannte er vor allem das äußere Merkmal etwa eines Friedhofes als Motiv, die Kirche zu besuchen. An diesem Punkt unterscheiden sich eindeutig die Radwegekirchen von den Autobahnkirchen, die in der Regel über keinerlei kulturhistorische Einbindung verfügen. 249 Demgegenüber möchte ich - bislang eher thetisch und ohne auf statistisches Datenmaterial zurückgreifen zu können - darauf hinweisen, dass der Besuch einer Radwegekirche in paralleler Weise zum Besuch von offenen Kirchen bzw. von Citykirchen durch die Einbindung der Radwegekirche in einen kulturhistorisch relevanten Orts- und Stadtkontext gesteuert wird und beim Kirchenbesuch der Radwegekirchen die Motivlagen des Besuches ähnlich von bestimmten Besuchermilieus wie von Stadtbzw. offenen Kirchen präferiert wird. Hier liegt durchaus eine innere Verwandtschaft zum Pilgern vor, denn auch die Pilgerkirchen - etwa auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela - liegen im überwiegenden Teil der Fälle im Kontext urbaner Räume. Das moderne Pilgerverhalten schließt neben dem Besuch der Pilgerkirche und dem Erwerb des Pilgerstempels auch das Stadterleben einschließlich eines Shoppingerlebens mit ein. So lässt sich in Bezug auf das Besucherverhalten der Radwegekirchen ent- 249 Vgl. Vogler 1988. <?page no="156"?> lang des Elberadweges Folgendes zunächst thetisch vermuten. Die Radwegekirchen werden vor allem aus zwei Motiven heraus besucht: Wege-Stopp-Mentalität (beim Radreisen evidenter als beim Pilgern) kulturhistorische Einbindung in Städte/ Orts-Kontexte (Magdeburg/ Torgau). Dabei erhalten die Radwegekirchen insbesondere für den Typus des „Etappen- Genuss-Radlers“ die Bedeutung einer „Unterbrechung“ als „Pause“, die durchaus auch spirituelle Dimensionen haben kann. Dies kann etwa an der Radwegekirche St. Stephan in Tangermünde sehr gut aufgezeigt werden. Die Kirche liegt inmitten der Innenstadt „auf dem Weg“ und in direkter Umgebung zum Marktplatz. Die Radtouristen kommen vom Elbufer in die Stadt, verweilen bei der Eisdiele am Markt und gehen noch „kurz“ in die am Weg liegende Kirche. Wer, d. h. welche Milieus von „Radwegetouristen“, dort in die Kirche geht, steht weiterhin zur Untersuchung noch aus. Entsprechend den derzeit existierenden Analysen (jetzt auch zu den Citykirchen) ist zu vermuten, dass die Zielgruppe von Besuchenden der Radwegekirchen analog zu den Besuchern von offenen Kirchen wie Citykirchen eher kirchenaffine Touristen sein werden. Bei den Motiven (offene Kirchen = Ruhe finden) wird sich indes eine Verschiebung bei Radwegekirchen finden lassen, die durch das Faktum der Etappenunterbrechung gekennzeichnet ist. Das Ruhe-Motiv wird in der Regel bei den Radwegekirchen deutlicher als bei den offenen Kirchen in der Stadt als Unterbrechung definiert sein. Das Unterbrechungsmotiv findet sich häufig in den sog. Gästebüchern der Kirchen. Am Beispiel des Gästebuches der Kirche in Artlenburg, die als Radwegekirche an der Elbe verzeichnet ist, lässt sich dieses Motiv an verschiedenen Texten aufzeigen. „Wir sind zum 3× in Artlenburg und finden hier immer wieder eine erholsame Ruhe vor.“ (22.08.2012) „Auf dem Jakobsweg nach Lüneburg habe ich hier Rast eingelegt. Ich habe die Ruhe genossen und im Gesangbuch gelesen. Nun werde ich bei strahlendem Sonnenschein weitergehen.“ (21.11.2012) Die „offene Kirche“ ist somit zugleich eine Pilgerkirche, die den Wanderern und den Radfahrern zu gleichen Teilen spirituelle Kraft gibt. „Liebe Grüße von Radlern aus GOLS im Burgenland (größte evangelische Pfarrgemeinde in Österreich). Sehr nette Idee mit Buch und Getränken.“ Immer wieder finden sich die Einträge zur Ruh- und Unterbrechungssemantik, die teilweise inhaltlich mit konkreten religiösen Anliegen oder auch mit gelebter religiöser Praxis verbunden werden. „Unterwegs auf dem Jakobsweg von Fehmarn bis Lüneburg. Gestern Morgen im Regen […] losgepilgert. Ich hatte eine schöne Herberge im Pastorat. <?page no="157"?> Der Regen bringt Segen. Auf dem alten ‚Holperweg‘ bekam ich Lust zu singen - schöner Weg am Elbufer …“ (18.8.2012). „Heute war ich mit meiner Frau Teresa hier in der Kirche um zu danken. Meine - vor drei Jahren festgestellte Krankheit ist geheilt. Ich hatte damals hier an dieser Stelle um Heilung gebeten.“ Hierbei kann auch das Übernachten eine Rolle spielen, wie folgender Eintrag zeigt: „Nach einer wunderschönen Radtour bei Sonnenschein unter Gottes Schutz, hier in dieser Kirche danken zu können, ist ein Geschenk.“ <?page no="158"?> Es ist aus dem Bisherigen deutlich geworden, dass es durchaus Parallelitäten und Analogien im Reiseverhalten gibt, die für das Pilgern und das Radreisen gleichermaßen gelten. Das Radreisen hat mit dem Pilgern eine Kontinuität mit festgelegtem Ziel gemeinsam, das durch das Reisen in Etappen erreicht werden soll. In beiden Fällen ist in postsäkularer Vieldeutigkeit das Erreichen des Ziels selbst das Ziel. So schreibt Zygmunt Bauman: „Man kann über die zurückliegende Straße nachdenken und von ihr als einem Fortschritt in Richtung auf sprechen, einem Vorrücken, einem Näherrücken. […] Das Ziel, der gesetzte Zweck der Pilgerreise des Lebens, gibt dem Formlosen Form, macht aus dem Fragmentarischen ein Ganzes, verleiht dem Episodischen Kontinuität.“ 250 Die ehemals transzendentale religiöse Dimension (Buße; Reich Gottes) als dezidiertes Reise-Motiv, die beim Wallfahren evident ist, ist in die immanente Dimension des Erreichens des selbst gesteckten Leistungsziels diffundiert. Gleichfalls eröffnen beide Formen des Reisens eine „Erlebnisoffenheit“ durch Verlangsamung, die sich spirituellen Erfahrungen öffnen kann, aber nicht muss. Das Natur- und Landschaftserleben bergen selbst eine affektive Wirkung in sich. Geht man von den Motiven eines Kirchenbesuches etwa in offenen Kirchen bzw. Citykirchen im Kontext des öffentlichen Stadtraumes aus, und vergleicht man dies mit den Motivlagen des Kirchenbesuches auf dem Pilgerweg, so fällt eine erhebliche Differenz auf, die in der religiösen Praxis unterwegs gesehen werden kann. An dem Punkt der „aktiven Religionspraxis“ ist das Unterscheidungsmerkmal zwischen „Wandern“, „Spirituellem Wandern“ und „Pilgern“ zu sehen, wie die Textauszüge des Gästebuches der Kirche in Artlenburg exemplarisch zeigen konnten. Das Definitionsmerkmal des Pilgerns - auch in seiner heutigen Form - hat sich m. E. in der Nähe zu dem zu bewegen, was Simone Wustrack aus der mittelalterlichen Tradition als „wallfahren“ beschreibt. Pilgern verfolgt eine definitiv religiöses Absicht - etwa ein Gebet in der Kirche von Santiago de Compostela zu sprechen - wobei in meiner Beschreibung nicht allein das „Reiseziel“ gemeint sein kann. Dies macht etwa auch m.E. als Einziger Karl-Heinz Wöhler in seiner Pilger-Typologie sehr stark deutlich. 251 Form und Inhalt sind deshalb zu unterscheiden. Der Form nach existieren Gemeinsamkeiten zwischen Radreisen und Pilgern in der Weg-Ziel-Ausrichtung sowie der Etappenreise und dem Unterbrechungsrhythmus. Der Wander-Pilger ist indes vermutlich eindeutiger und bewusster der auf dem Weg „aktiv religiös Tätige“, der seine Reise für Andacht und Gebet regelmäßig unterbricht und eine Kirche nicht nur, aber auch für seine religiöse Praxis auf- 250 Bauman 2007, 140. 251 Vgl. Wöhler 2007, 44ff. <?page no="159"?> sucht. Der Typus des Genuss-Radlers sieht indes im Kirchenbesuch eine Etappenunterbrechung, bei dem kulturhistorische und stadtkontextuelle Motive leitend sind. Die Bedeutung der Radwegekirchen und ihre Einordnung in die wissenschaftliche Diskussion um den Zusammenhang von „Religion und Tourismus“ sehe ich aus eben diesen Gründen weniger auf dem Feld des Pilgerns, sondern deutlich mehr auf dem Feld kulturhistorischer Besuchsmotive. Die Wege-Stopp- Motive liegen bei den Radwegekirchen vermutlich stark bei ihrer Relevanz für eine touristische Region. Gleichwohl eröffnen Radwegekirchen religiöse Deutungszusammenhänge im postsäkularen öffentlichen Raum. Deshalb regt Grethlein in seinen Ausführungen zu den Radwegekirchen theologisch konsequent an, auch diese Form kirchlicher Präsenz für die Kernaufgabe der Kirche, nämlich der Kommunikation des Evangeliums, zu profilieren. 252 Die Lösung sieht er - und ich schließe mich ihm hier explizit an - in der Form der Gastfreundschaft den Fremden gegenüber. In der Kirche zu Artlenburg steht als Zeichen dieser Gastfreundschaft jeweils eine Flasche Wasser als Getränk bereit. In den Gästebucheintragungen finden sich positive Reflexe auf diese gastgebende Praxis: „Das Wasser hat gutgetan. Vielen Dank! “ Die Unterbrechung der dynamischen Fahrt des Fahrradfahrers schließt indes die Möglichkeit einer religiösen Praxis unterwegs (Andacht; Kirchenbesuche, Gebete, Singen) durchaus ein, verschließt sich aber auch nicht der eher profanen Betrachtung des Kirchenraumes als kulturhistorischem Denkmal. Jedes Kirchengebäude - so auch die Radwegekirchen - verfügt über eine inhärente Kontextualität, die deutungsoffen ist. Dies birgt Möglichkeiten in städtischen und urbanen Räumen oder auch im ländlichen Raum. Gerade auf dem Land kann dann eine Radwegekirche Sinnbild für eine religiöse und kirchliche Präsenz sein, die über sich hinausweist. Somit lässt sich am Ende - d. h. vom Fahrrad aus betrachtet - der erste Definitionsversuch von vorhin erweitern. Pilgern ist unabhängig von den Motivlagen eine kontinuierliche Religionspraxis unterwegs, die über einen längeren Zeitraum andauert und verbunden ist mit einer erfolgenden Gleichförmigkeit von physiologischen Bewegungsabläufen unter der Bedingung von Entschleunigung. Sowohl die Gleichförmigkeit der Bewegung als auch die Kontinuität der praktischen Religionsausübung über einen längeren Zeitraum schaffen eine religiöse Erfahrungsoffenheit, die von den Motiven zunächst getrennt ist und wesenhaft zum Pilgern gehört. 252 Grethlein 2013, 6. <?page no="160"?> Die Dauerhaftigkeit der Abläufe und die Religionspraxis sind damit die entscheidenden Kriterien für die Beschreibung des Pilgerns und nicht mehr nur die „religiösen Motive“. Der Umweg über das Fahrradfahren - wie eingangs thetisch eingeführt - hat also einen Erkenntniszugewinn für die Beschreibung des Pilgerns erbracht. Traditionell wird das Pilgern exklusiv von den religiösen Motiven her definiert. Das Fahrrad verschiebt den Blick auf den Prozess, den Vorgang, die Bewegungsabläufe. Das Gemeinsame und Unterscheidende wird somit klarer! Wie alle Kirchen, so laden auch Radwegekirchen zu Unterbrechung und Gebet ein. Sie sind ein wichtiger Faktor postsäkularer öffentlicher Religionskultur. 253 Und die, die dorthin gehen, sind eher nicht die säkularen Milieus, sondern die, die der Kirche bereits nahestehen. Die touristischen Kirchenbesucher entstammen generell eher kirchennahen und religionsaffinen Milieus: Das gilt für die Radwegekirchen, die Autobahnkirchen, die verlässlich geöffneten Kirchen und auch die Citykirchen in großen Städten. Antz, C. (2015): Slow Tourism als Reisemarkt. Globale Mobilität zwischen Langsamkeit und Sinnlichkeit. In: Egger, R./ Luger, K. (Hg.) (2015): Tourismus und mobile Freizeit. Lebensformen, Trends, Herausforderungen. Norderstedt. 409-428. Bauman, Z. (2007): Das moderne Leben als Pilgerreise. In: Bauman, Z. (2007): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg. 136. Berkemann, K. (2006): Spiritueller Tourismus in Sachsen-Anhalt. Wittenberg. (= Tourismus-Studien Sachsen-Anhalt 19) Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hg.) 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Hannover. 21-102. <?page no="163"?> Träumen Fantasie entwickeln Ein Ziel in den Blick nehmen Sich entschließen Sich vorbereiten Sich auf den Weg machen Raus aus dem Alltagstrott Termine hinter sich lassen Ärger und Sorgen zurücklassen <?page no="164"?> Ohne Termindruck Nicht erreichbar sein Nicht reagieren müssen Selbstbestimmte Schritte Die Natur bestaunen Die Sonne genießen Das Rauschen eines Bergbaches hören Den Duft der Blumen einatmen Die Bergwelt aufsaugen Zeit zum Nachdenken haben Auf einem Stein ausruhen Kühles Wasser aus einer Quelle trinken Gesicht und Hände im Gebirgsbach erfrischen Den Blick in die Weite schweifen lassen Sich selbst als Geschöpf Gottes wahrnehmen Dem Sinn des Lebens nachspüren Neue Ideen steigen auf Hoffnungsperspektiven entwickeln sich eigene Begrenzungen akzeptieren Erschöpfung annehmen Allmachtsphantasien verschwinden Immer wieder Weggabelungen Sich verlassen auf Wegweiser Dem eigenen Orientierungssinn trauen <?page no="165"?> Diese Meditation, von mir 2013 für das Buch „Gipfelgebete“ geschrieben, 254 nimmt das Leitmotiv der ökumenischen und länderübergreifenden Initiative www.bergspiritualitaet.com auf und fasst die Erlebnisdimension einer Bergtour spirituell zusammen: aufbrechen - den Alltag verlassen - frei sein - Freude - Kraft tanken - inspiriert - Grenzen spüren - entscheiden. Wie kam es zu der Initiative zwischen Religion und Gebirge? Ausgangspunkt war nicht eine Idee am Schreibtisch, sondern eine Beobachtung in der Bergwelt: Immer mehr Menschen - und darunter auch viele Männer und jüngere Menschen - sind in den Bergen unterwegs und immer mehr Menschen sind bei ihrer Bergtour auf der Suche nach dem Mehr. Sie spüren: Der Weg auf einen Berg kann uns mehr bieten als eine herrliche Natur und ein körperliches Fitnessprogramm (was nicht gering zu schätzen ist). Der anstrengende und fordernde Weg in der Bergwelt kann mir einen ganz neuen Blick auf mein Leben ermöglichen; all die Probleme meines Alltags relativieren sich angesichts der jahrmillionenalten Berge, die alle geschichtlichen Veränderungen unbeschadet überstanden haben. Jeder Schritt verdeutlicht mir: Ich brauche Geduld und Ausdauer, um mein Ziel zu erreichen - auch in meinem täglichen Leben. Jede Kurve kann mir zum Symbol werden: Manchmal scheine ich mich von meinem Ziel zu entfernen - und doch ist es notwendig, diese Kurve zu gehen. Der moderne Mensch, für den Körper, Seele und Geist oft getrennte Bereiche sind, spürt auf einmal deren Zusammenhang; es geht nicht immer nur bergauf - manchmal führt mich der Weg erst einmal wieder bergab. Immer wieder muss ich mich an Weggabelungen entscheiden: Wo gehe ich weiter? Kann ich den Wegweisern vertrauen? Wie wichtig ist die Gemeinschaft - am Berg wie im Leben. Denn gerade in schwierigen Phasen brauche ich andere Menschen - und geteilte Freude ist doppelte Freude. Der Blick von oben ins Tal macht deutlich, wie klein ich mit meiner Welt letztendlich bin, er weitet meinen Horizont. Trotz aller guten Planung und Ausrüstung habe ich das Gelingen einer Bergtour nicht in der Hand: Ein plötzlicher Wetterumschwung oder eine Verletzung am Knöchel können das Weitergehen verunmöglichen. Seit die Alpen im 18. Jahrhundert als Freizeitraum entdeckt wurden, gibt es vielfältige Motivationen, warum Menschen in den Bergen unterwegs sind. Sportliche Leistung und die Erkundung der eigenen Grenzen gehören ebenso dazu wie auch das Gemeinschaftserlebnis in der Natur. Und immer mehr Wanderer suchen in den Bergen gezielt nach Orten, die zum Abschalten, Ausspannen und Auftanken einladen. Menschen spüren am Berg die Großartigkeit der Welt und werden offener für das, was Christen einfach Schöpfung nennen. 254 Vgl. Roßmerkel 2013. <?page no="166"?> Sie haben Zeit, aus ungewohnter Perspektive auf ihr Leben zu schauen, und können so neue Perspektiven entdecken. Sie erkennen ihre Begrenztheit und sehen sich als Teil eines großen Ganzen. Eine Bergtour kann zu einem Symbol für das eigene Leben werden. Manchmal geht es gemütlich dahin auf guten Wegen, wir genießen das Leben mit all seinen Schönheiten. Dann gibt es aber auch Rückschläge, Angst und Verluste - ein steiniger Weg, ein Weg durch ein unheimliches Tal, Nebel oder Unwetter erschweren uns das Vorankommen. Wir stoßen an Grenzen und lernen sie zu überwinden; das Gipfelerlebnis, das was wir erreicht haben, lässt alle Mühen und Gefahren in den Hintergrund treten. Nach der Bergtour, am Abend bleibt uns ein Gefühl, etwas Großes erreicht zu haben. Solch eine Bergtour ist letztendlich eine wunderbare Möglichkeit, Körper, Seele und Geist wieder in Beziehung zueinander und in ein Gleichgewicht zu bringen. Wenn Menschen so unterwegs sind, in den Bergen diese Erfahrungen machen, liegt es dann nicht nahe, als Kirchen diese Menschen dabei zu begleiten, mit Impulsen, die diese Erlebnisse und Erfahrungen aufnehmen und von unserem christlichen Glauben her deuten und erweitern - vor dem Hintergrund, dass es „in der Welt eine große segnende Kraft gibt, die da Gott heißt“ wie es Martin Luther King einmal formulierte? Noch dazu, wo Berge ja schon seit Jahrtausenden für alle Religionen besondere Orte der Gottesoffenbarung waren und sind? Am Berg herrschen scheinbar andere Kräfte als im Tal. Deshalb verleihen von alters her die unterschiedlichsten Kulturen und Religionen der Bergwelt eine spirituelle und symbolische Bedeutung. Die Mythen um einzelne Berggipfel überdauern bis heute in den Köpfen der Menschen - als Begegnungsstätte mit dem Übermenschlichen, als Sphäre des Heiligen, als Wohnort von Dämonen. Auch die Bibel ist voll von Erzählungen, in denen Menschen auf Bergen besondere Erfahrungen mit Gott machten: von Mose und dem Volk Israel bis hin zu Jesus und seinen Jüngern. Schon immer spürten Menschen auf den Bergen diese besondere Nähe zu Gott - und diese war geprägt von Sehnsucht und Demut, aber auch Angst. Nicht zuletzt legen die vielen Gipfelkreuze, Bergkapellen und Kreuze am Wegesrand ein beredtes Zeugnis davon ab. Deswegen trägt die Initiative www.bergspiritualiatet.com auch die Überschrift: „Berge erleben. Gott nahe sein“. Genau diese Möglichkeit eröffnen Bergtouren, freilich in einer Art, die mit Worten kaum zu fassen ist. Man kann diese Erfahrungen nur erspüren und verinnerlichen, sie gehen nicht so sehr in den Verstand, sondern eher in das Herz. Hinzu kommt natürlich die Chance, dass die Kirchen eines ihrer zentralen theologischen Anliegen in genialer Weise an Menschen unserer Zeit weitergeben kann: der Glaube an Gott den Schöpfer. Christlicher Glaube bezeugt, dass nicht der Mensch die Welt gemacht hat, sondern <?page no="167"?> Gott. Diese Schöpfungserfahrung kann der Mensch in besonderer Weise in den Bergen machen: Ich verdanke mich und meine Welt nicht mir selbst, sondern beides ist ein Geschenk. Der Mensch versteht sich als Geschöpf und sieht auf diese Welt mit Dankbarkeit. Gibt es einen besseren Lehrmeister für diesen sog. Ersten Schöpfungsartikel als die Bergwelt? Wohl kaum. In besonderer Weise erreicht Kirche hiermit Menschen, die überhaupt nicht zu ihren „Stammgästen“ zählen - ganz im Gegenteil. Gerade die moderne Freizeitwelt verunmöglicht oft eine Teilnahme an kirchlichen Angeboten. Das Wochenende wird als eine Chance gesehen, in die Bergwelt aufzubrechen - und nicht den Sonntagsgottesdienst zu besuchen. Wenn nun aber Kirche sich ihrerseits in diese Bergwelt aufmacht, erreicht sie dort Menschen, die ja durchaus offen sind für die Frage nach der eigenen Mitte und dem Sinn des Lebens. Und da die Wanderer sowohl in ihrer geliebten Freizeitwelt als auch mit einem sie ansprechenden Format - der Bergwanderung - angesprochen werden, erreichen sie auch die spirituellen Impulse der Kirchen. Gleiches gilt im Übrigen ja auch für die bereits unüberschaubare Zahl von Berggottesdiensten, die gefeiert werden und die natürlich auch zum großen Bereich der Bergspiritualität dazu gehören. Auch hier stoßen Menschen z. T. rein zufällig dazu und verweilen bei einem Lied oder bei den Gedanken des Pfarrers, der Pfarrerin. So zeigt dieser Angebotsbereich exemplarisch, welche Chancen Kirche auch heute noch hat. Sie muss dort präsent sein, wo Menschen einen Großteil ihrer Zeit verbringen und oft wesentlich besser ansprechbar sind als im hektischen Alltagsleben. Kirche muss um ihres Auftrags willen da sein, wo die Menschen gerne sind. Sie muss eine mobile Kirche sein und Menschen unterwegs begleiten. Kirche braucht eine Fülle von Kontaktflächen, die Menschen erlauben, sich wieder oder erstmals an den Glauben heranzutasten. Kirche befindet sich hier in einer besonderen Kreativsituation, die zu den wenigen Bereichen kirchlichen Handelns gehört, welche im Wachsen begriffen ist. Kirche hat hier ihren Daumen am Puls der Zeit. Zentrales Anliegen der Initiative zur Bergpredigt war von Anfang die ökumenische Ausrichtung. Auch wenn es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, will ich sie dennoch hier explizit erwähnen; denn vielleicht ist sie gar nicht so selbstverständlich. Wenn ich auf die Kooperation von „Kirche und Tourismus“ im Allgemeinen schaue, ist dort die Ökumene zwischen den Kirchen keineswegs so selbstverständlich wie sie sein sollte. Immer noch gibt es Gegenden, in denen evangelische und katholische Kirche ihr eigenes „touristisches“ Süppchen kochen - oft zum Unverständnis der Gäste. <?page no="168"?> Gerade bei spirituellen Bergerlebnissen spielt die Konfession wahrlich keine Rolle. Ob als evangelischer oder katholischer Christ (oder einer anderen Konfession angehörend) erlebe ich unmittelbar die Schöpfung des Einen Gottes und mich als sein Geschöpf. Diesen Erlebnisraum unabhängig von Konfessionsgrenzen zu eröffnen, darum ging es uns von Anfang an in geschwisterlicher Verbundenheit. Unsere Beobachtung vor der Gründung der Initiative war: Es gibt an verschiedenen Orten in Bayern und Österreich eine Vielzahl solcher spirituellen Bergtouren und Bergexerzitien. Die entscheidende Frage aber ist doch: Wie erfahren suchende Menschen von solchen Angeboten? Menschen, die zu Kirchengemeinden keinen Kontakt haben? Und wie kann man diese ganz unterschiedlichen Angebote besser vernetzen? Genau dafür bietet das Internet heute die Möglichkeit - und so entstand die Plattform www.bergspiritulitaet.com. Vier Kollegen - evangelisch und katholisch, aus Bayern und Österreich - begannen 2013, sich regelmäßig zu treffen: Auf einer Homepage sollten sich alle Angebote zur Bergspiritualität finden lassen - von spirituellen Halbtageswanderungen über Mehrtagestouren und Bergexerzitien bis hin zu Aus- und Fortbildungsangeboten. Und Menschen sollten von dieser Seite erfahren. Von Anfang an war dabei auch immer der Blick über unsere kirchlichen Grenzen hinaus wichtig. So war der Startschuss ein Projekt mit Studierenden der Filmhochschule München, die als Grundlage für unsere Aktion einen ca. dreiminütigen Film drehten, 255 bei dem uns wichtig war, dass Menschen Lust auf solche Touren bekommen. Die Studierenden schafften es, dieses Thema emotional anzupacken, und so Inhalt und Menschen zusammenzubringen. Darüber hinaus galt es, diese Bewegung auch über das Internet hinaus bekannt zu machen. Dazu dienen regelmäßig stattfindende Studientage, die das Thema Berge aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. So fand z. B. im „Haus der Berge“ in Berchtesgaden, das vom Deutschen Alpen Verein (DAV) errichtet wurde, ein solcher Tag unter dem Thema statt: „Berge - zwischen Sportgerät und spirituellem Ort“. Dabei schilderten am Vormittag ganz unterschiedliche Menschen ihren Zugang zu den Bergen: die Profikletterin Ines Papert, die Landschaftsökologin und Umweltpädagogin Dr. Lucia Jochner-Freitag, der 255 Vgl. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern o. J. <?page no="169"?> Geschäftsführer der Tirol Werbung Josef Margreiter und der Sozial- und Wirtschaftsethiker Dr. Markus Schlagnitweit; bevor es dann am Nachmittag in den Workshops um konkrete Erlebnisse in den Bergen ging. Ein weiterer Schritt der Kooperation mit nichtkirchlichen Partnern war 2016 die neue Marke der Bayern Tourismus Marketing GmbH „stade zeiten“ (für alle Nichtbayern: „stade“ bedeutet „ruhig“). Sie geht davon aus, dass Menschen heute in ihrer Urlaubszeit v.a. Ruhe und Stille suchen. Denn wir erleben die Welt um uns herum als immer komplexer; die Anforderungen an jeden einzelnen werden immer anspruchsvoller; die Kommunikationswege werden immer vielfältiger. Unser Lebenstempo wird immer schneller, Produktivität und Effizienz sind so wie wohl noch nie in der Menschheitsgeschichte gefragt. Dies alles ruft in uns eine tiefe Sehnsucht nach Entschleunigung hervor; viele Menschen wollen die eigene Mitte wieder spüren und zur Ruhe kommen. Auf diese Wünsche des modernen Menschen zielt die Marke „stade zeiten“ ab. So werden unter dieser Marke Angebote beworben, die es Menschen ermöglichen, in Ruhe und Stille zu sich selbst zu finden. Und gerade die ländlichen Räume in Bayern, die oft noch spirituell geprägt sind, ermöglichen es den Menschen, zur Ruhe zu kommen und die eigene Mitte wieder bewusster wahrzunehmen. Eine der vier Angebotssäulen heißt denn auch „Spirituelle Angebote“. Und gibt es ein treffenderes Format dafür als „spirituelle Bergtouren“? Herausgenommen aus dem Hamsterrad des täglichen Funktionierenmüssens und der rastlosen Hetze Schritt für Schritt zu sich selbst kommen und nichts mehr hören als den eigenen Schritt und den eigenen Atem: So erleben Menschen eine „stade zeit“. In Zeiten der Beschleunigung und Entfremdung suchen unsere gestressten Seelen mehr denn je Ruheorte, um endlich wieder einmal die eigene Mitte zu spüren und einfach mal abschalten zu können. Menschen wollen Stille, Entschleunigung und innere Einkehr erfahren. Und wie formulierte es Reinhold Stecher, der frühere Innsbrucker Bischof, so treffend: „Und darum ist die erste Botschaft der Berge ihre Stille.“ 256 Die Grenzen zwischen Kirche und Tourismus sind bei dieser neuen Marke bewusst aufgehoben - es geht darum, dass Menschen Angebote finden, die ihre Sehnsüchte aufnehmen. Durch die professionell beworbene Marke „stade zeiten“ stoßen Menschen z. B. auf spirituelle Bergwanderungen - und so profitieren von der Partnerschaft letztendlich auch beide: Die Touristiker haben ein inspirierendes Format in ihrer Angebotspalette, die Kirchen wissen sich professionell beworben. Und was lag dann langfristig näher, das mit dem Ziel einer intensiven Partnerschaft die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern 2016 Gesellschafter der Bayern Tourismus GmbH wurde - als erste christliche Kirche in Deutschland Teilhaber einer Tourismusorganisation. 256 Stecher 2009, 16. <?page no="170"?> Die Touristiker wissen: Menschen suchen heute nicht fertige Angebote, sondern sie sind (spirituell) Suchende. Die Themen Spiritualität und Sinnsuche gehören zu den großen Trends in der Tourismusbranche. Und die Berge eröffnen jedem, der in ihnen unterwegs ist, die Möglichkeit, das eigene Leben und den eigenen Glauben zu reflektieren und zu deuten. Berge eröffnen diesen Raum, ohne selbst belehren zu wollen. „Die Berge sind schweigende Lehrer“ schrieb Reinhold Stecher: „Sie diskutieren, argumentieren und überreden nicht. Sie drängen sich nicht mit penetranter Rhetorik in unser Bewusstsein. Sie wahren - auch heute noch - weite Räume der Stille.“ 257 Freilich: Jeder kann und muss diese Aufgabe der Lebens- und Glaubensdeutung selbst übernehmen, indem er den Weg selbst geht und mit dem ersten Schritt beginnt. Unser Anliegen als Kirchen ist dabei: durch qualifizierte Christinnen und Christen diese spirituell suchenden Menschen zu begleiten, sie zur Ruhe zu führen, ihnen Einkehr und Besinnung zu ermöglichen - in der Überzeugung, dass unsere Botschaft tragfähig sein kann auch für die existentiellen Fragen unserer postmodernen Gesellschaft. So sind Gruppen von ca. 10 bis 15 Personen gemeinsam durch das Gebirge unterwegs auf einem Weg der geistlichen Vertiefung. Sie setzen sich im Gehen und Steigen mit existentiellen und spirituellen Fragen auseinander - angeleitet, z. T. in der Stille, z. T. im Austausch mit anderen Suchenden. Das Leben wird mit dem Glauben und den Erfahrungen in den Bergen zusammengebracht und -gedacht. Das Gebirge ist ein wundersamer Ort, um zu sich selbst und zur eigenen Mitte zu kommen. Um solche Angebote machen zu können, benötigt man natürlich Menschen, die andere bei den Bergtouren und Bergexerzitien begleiten. Dies können und müssen nicht immer Hauptamtliche sein - Pastoralreferenten oder Pfarrerinnen haben genug andere Aufgaben und oft viel zu wenig Zeit, um diese Angebote durchzuführen. Dies ist auch nicht notwendig. Gerade solche Angebote können in bester Weise auch von Ehrenamtlichen durchgeführt werden. Denn sie verfügen oft über vielfältige Bergerfahrungen. Und doch benötigen sie in gewissen Bereichen natürlich Schulungen: Wie führe und begleite ich eine Gruppe? Wie leite ich einen Austausch in der Gruppe an? Wie sehen die rechtlichen Verantwortlichkeiten aus? Wie gestalte ich spirituelle Impulse ansprechend? Welche Übungen für Körper, Geist und Seele bieten sich dabei an? Deshalb gehört auch die Ausbildung von „Begleitern für spirituelle Bergtage“ 257 Stecher 2009, 16. <?page no="171"?> zu unserem Programm; d. h. Menschen, die selbst berührt sind von ihren Erlebnissen in den Bergen, werden z. B. auch in Seelsorge, Umgang mit Gruppen oder Körperübungen geschult. Dabei setzen sie sich mit ihrer eigenen Spiritualität auseinander und konzipieren und erproben spirituelle Bergtage. Dabei wird diese spezielle Ausbildung zum DAV-Wanderleiter vorausgesetzt bzw. gleich mit angeboten. Und auch hier ist die Beobachtung zu machen, dass es genügend Menschen gibt, die sich dafür schulen lassen. Erst diese Ehrenamtlichen ermöglichen es ja den Kirchen, solch vielfältige Angebote zu machen. Mehrwert All dies sind Anliegen und Erfahrungen, die sich z. T. natürlich genauso in der Pilgerbewegung finden. Berge sind besondere Kraftorte, deren Besteigung uns zu uns selbst kommen lassen und unser Leben neu deuten lehren. Christlicher Glaube kann dabei hilfreiche Interpretationen beisteuern. Die Initiative www.bergspiritualitaet.com bündelt diese sehr unterschiedlichen spirituellen Angebote in den Bergen, um sie so auch für kirchenferne Menschen auffindbar zu machen. Dabei ist die Kooperation mit nichtkirchlichen Partnern wichtig und hilfreich. Aber darüber hinausgehend, eröffnet die Bergspiritualität im Vergleich dazu eben noch eine andere weiterführende Perspektive. Berge sind auch Kraftorte, deren oft mühsame Besteigung uns mit ihren Gefahren und dem ständigen Auf und Ab herausfordern, uns letztendlich aber auf dem Gipfel mit seinem grandiosen Ausblick noch einmal ganz neue Perspektiven für unser Leben und unseren Glauben eröffnen, uns die Nähe Gottes in besonderer Weise spüren zu lassen - getreu unserem Motto: „Berge erleben. Gott nahe sein.“ Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (o. J.): Berge erleben. Gott nah sein. [online] Verfügbar unter: http: / / www.bergspiritualitaet.de/ Roßmerkel, T. (2013): Berge erleben - Bergerlebnis. In: Warkentin, H. (Hg.) (2013): Gipfelgebete - Gebete und Segenstexte zum Wandern in den Bergen. 26-28. Stecher, R. (2009): Botschaft der Berge. Innsbruck. Waldau, K./ Betz, H. (2005): Berge sind stille Meister: Spirituelle Begleitung beim Weg durchs Gebirge. München. <?page no="173"?> Dieser Beitrag berichtet aus einer Pilgerstudie, in der mit narrativen Interviews der Frage nachgegangen wurde, was Menschen zu einer Pilgerschaft veranlasst. Zentrale Erkenntnis ist, dass sich Menschen in fünf typischen Krisen- und Umbruchsituationen auf eine Pilgerschaft begeben. Menschen pilgern, um ihr Leben zu bilanzieren, eine Krise zu verarbeiten, sich eine Auszeit zu nehmen, einen Übergang zu gestalten oder einen Neustart zu initiieren. Erste Ergebnisse einer zur Zeit laufenden Folgestudie zeigen, dass eine Pilgerschaft anschließend zu markanten Veränderungen in der Lebensgeschichte und Berufsbiografie führen kann. <?page no="174"?> Es ist erstaunlich, dass der Trend des Pilgerns ungebrochen ist und nach Schätzungen der galicischen Regionalregierung auch bis zum Jahr 2021 - dem nächsten Heiligen Compostelanischen Jahr - weitergehen wird. Während der bisherige Rekord im Jahr 2016 mit knapp 280.000 Pilgern erreicht wurde, 258 werden es 2021 geschätzt 464.000 Pilger sein. 259 Was veranlasst immer mehr Menschen dazu, auf Pilgerschaft zu gehen? Mit dieser Kernfrage beschäftigte sich ein soziologisches Forschungsprojekt an der FernUniversität in Hagen, von dessen Ergebnissen in diesem Beitrag berichtet wird. Der Fokus wird dabei auf die Lebensgeschichten der Pilger gerichtet. Im Folgenden wird zunächst darauf eingegangen, welche Erkenntnisse die Pilgerforschung zu biografischen Aspekten einer Pilgerschaft hervorgebracht hat. Anschließend werden die zentralen Ergebnisse unserer Pilgerstudie vorgestellt und fünf biografisch determinierte Pilgertypen beschrieben. Abschließend geht dieser Beitrag auf biografische Veränderungsprozesse nach einer Pilgerschaft ein und zeigt Forschungsperspektiven auf. Die Frage, warum Menschen auf dem Jakobsweg pilgern, hängt stark von dem Blickwinkel der Untersuchung ab. So kann man Erlebnisfaktoren auf der Wegstrecke als „Motiv“ deuten, wie beispielsweise interessante Landschaften zu sehen, eine körperliche Herausforderung zu meistern, das Leben zu entschleunigen oder historische Orte aufzusuchen. Das Pilgerbüro in Santiago de Compostela hält „religiöse“, „kulturelle“ und „religiös-kulturelle“ Motive vor, die Pilger am Ende des Jakobswegs ankreuzen können, um die begehrte Pilgerurkunde „La Compostela“ zu erhalten. 260 Diese Motive verraten aber wenig darüber, was Menschen zum Pilgern veranlasst. Will man sich der eingangs gestellten Frage aus einer handlungstheoretischen Perspektive nähern, kommt der Beschäftigung mit den Biografien der Jakobspilger eine entscheidende Bedeutung zu. In welchen Lebenssituationen treffen Menschen die Entscheidung zu pilgern? Was passierte im Leben dieser Menschen, bevor sie sich auf Pilgerschaft begaben? Was steckt in den Lebensgeschichten der Pilger, wenn knapp 52 % von ihnen als Motiv „Zu sich selbst finden“ 261 angeben? Der unterbelichtete Forschungsstand zum Pilgern legt eine qualitative Untersuchungsperspektive nahe, damit die Breite des sozialen Phänomens erfasst werden kann und 258 Vgl. Oficina del Peregrino 2017. 259 Vgl. Xunta de Galicia 2015. 260 Vgl. Oficina del Peregrino 2017. 261 Vgl. Gamper/ Reuter 2012, 220. <?page no="175"?> typische Vorgänge darin entdeckt werden können. Die Pilgerforschung hat bislang nur wenige qualitative Untersuchungsdesigns vorzuweisen, allerdings gewinnt der wissenschaftliche Diskurs über das Pilgern in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung, wie der vorliegende Sammelband zum Ausdruck bringt. Die wenigen qualitativen Untersuchungen der Pilgerforschung haben biografische Aspekte der Pilgerschaft nicht explizit betrachtet, doch sie geben Anlass zu der Vermutung, dass bedeutsame lebensgeschichtliche Situationen und Ereignisse Anlässe für eine Pilgerschaft sind. Die Ethnologin Barbara Haab vertritt die Ansicht, dass Menschen zur Pilgerschaft „berufen“ werden. Die Berufung finde ihren Ausgang in der Bewusstwerdung einer existenziellen physischen oder psychischen Krise oder an Wendepunkten im Leben. Sie bezeichnet dies als Initiationskrise. Als Beispiel nennt sie Studenten, die kurz vor dem Abschluss stehen und sich fragen, wie es in ihrem Leben weitergehen solle, Menschen an einem beruflichen Wendepunkt, in einer Beziehungs- oder Sinnkrise, nach der Pensionierung, nach dem Tod des Ehepartners oder eines Kindes oder nach der Diagnose einer schweren Krankheit. 262 Diese Erfahrungen würden als Krisen empfunden und seien „auslösender Faktor für eine Öffnung des Bewusstseins zu anderen Werten im Leben oder zu anderen, transzendentalen Realitäten hin.“ 263 Die Krise würde dann ein bewusstes oder unbewusstes Wahrnehmen eines Rufes ermöglichen, der die Pilger auf den Jakobsweg führt. Mit der Trennung vom gewohnten Alltag verbunden sei ein „Infragestellen der eigenen Identität durch das Bewusstwerden der Tatsache, wie sehr diese im Alltag durch den sozialen Status mitbestimmt ist. Damit verbunden ist für viele auch die Frage nach ihrem eigentlichen, nicht mit Status und Beruf verbundenen Wesenskern. Dieses Infragestellen und teilweise Loslassen der alten Identität ist eine der Voraussetzungen zu einer Öffnung, welche die Erfahrung des Heiligen ermöglicht.“ 264 Die Anthropologin Nancy Frey konstatiert in Bezug auf die Motive eine Vielschichtigkeit und trägt folgende Beobachtungen vor. Sie identifiziert Lebensphasen, in denen Menschen sich auf den Pilgerweg begeben. Dies seien erstens junge Menschen, die den Sommer auf dem Jakobsweg verbringen, um Spaß zu haben, zweitens Menschen in der Mitte ihres Lebens, „die die Chance wahrnehmen zu sehen, was ihnen der Jakobsweg zu bieten vermag“ 265 und drittens Menschen im Ruhestand, „die den Weg gehen, um dieser Lebensphase eine besondere Note zu geben.“ 266 Die Motivation reiche von Sportbegeisterung, Entscheidungszwängen in Lebenskrisen, beruflichen Gründen bis hin zu Selbstdarstellungszwecken von Menschen, die ein Buch über ihre Pilgerreise 262 Vgl. Haab 1998, 140ff. 263 Haab 1998, 143. 264 Haab 1998, 146. 265 Frey 2002, 46. 266 Frey 2002, 46. <?page no="176"?> verfassen. Frey bekräftigt, dass Jakobspilger „vom Schmerz [...] einer leidenden Seele motiviert“ 267 seien. „Die innere Orientierung der Pilger bezieht sich häufig auf Themen wie Übergang, Verlust, Trennung oder Ausgrenzung. Viele durchleben einen Übergang in der Lebensphase - von der Jugend zum Erwachsenenalter, von der Besinnung in der Lebensmitte bis zur Krise im Blick auf den Ruhestand. Auch schlimme Wunden - oder ‚kritische Lebensabgründe‘, wie ein Pilger es ausdrückte - führen Pilger auf den Jakobsweg.“ 268 Frey attestiert den Pilgern eine grundlegende Wertehaltung. Zu diesen Werten zählt er die Liebe zur Natur, die Freude an körperlicher Anstrengung, die Ablehnung des Materialismus, das Interesse an der Vergangenheit, die Suche nach innerem Sinn sowie die Vorliebe für menschliche Beziehungen und Alleinsein: 269 „Manche Pilger haben den Wunsch, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten oder eine dringend benötigte Pause von der Hektik einzulegen; sie fühlen sich angezogen von den Möglichkeiten des Abenteuers oder davon, Kontakt mit der Vergangenheit und einen Modus zu finden, dies sinnvoll mit der eigenen Person, mit anderen, mit dem Land zu verbinden, eine Körpererfahrung zu machen und all ihre Sinne zu schärfen, jeden Grashalm wahrzunehmen, statt sinnlos durch die Gegend zu rasen, einfach zu leben und für eine Weile zur Ruhe zu kommen.“ 270 Nach Judith Specht betreiben Jakobspilger eine „aktive Biographiestrukturierung durch Wandern als Passageritual“ 271 : „Dies kann eine Auseinandersetzung mit konkreten Fragen sein, wie dem weiteren Berufs- oder Beziehungsleben, aber auch eine Rückschau auf das eigene (Berufs-)Leben oder ein bedachtes Innehalten, um Zukunftsideen entstehen zu lassen.“ 272 Dieser Forschungsstand legt die Vermutung nahe, dass die Entscheidung für eine Pilgerschaft mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen zusammenhängt. Im Folgenden werden nun zentrale Ergebnisse unser Pilgerstudie vorgestellt, in der wir die Lebensgeschichten der Pilger untersucht haben. Es gibt fünf Haupttypen von Pilgern - oder anders ausgedrückt: In fünf typischen Lebenssituationen entscheiden sich Menschen für eine Pilgerschaft. Die Pilger befinden sich a) am Ende ihres Lebens und wollen während der Pilger- 267 Frey 2002, 63. 268 Frey 2002, 63. 269 Vgl. Frey 2002, 40. 270 Frey 2002, 41. 271 Specht 2009, 140. 272 Specht 2009, 89. <?page no="177"?> schaft eine Lebensbilanz ziehen, oder b) in einer durch ein ungeplantes Ereignis ausgelösten Krise, die sie auf dem Jakobsweg verarbeiten wollen, oder c) in einer beruflich bedingten Stresssituation, von der sie sich eine Auszeit beim Pilgern nehmen, oder d) an einer in der Normalbiografie vorgesehenen Übergangssituation, die sie in Form eines Rituals auf dem Jakobsweg begehen wollen, oder e) nach einem selbstgewählten Bruch in ihrem Leben vor einem Neustart, den sie beim Pilgern vorbereiten wollen. Die Typologie wird nach einigen methodischen Hinweisen explizit vorgestellt. Neben den fünf Haupttypen bleiben zwei Sondertypen 273 in diesem Beitrag außen vor. Die Typologie entstand aus 30 narrativen Interviews, die im Rahmen eines Forschungsaufenthalts an verschiedenen Stationen auf dem Jakobsweg in Spanien im Sommer 2010 geführt wurden. Mit der Methode des narrativen Interviews wird der Gesprächspartner zu einer Stegreiferzählung seiner gesamten Lebensgeschichte animiert und bis zur eigenständigen Beendigung der Erzählung vom Forscher nicht unterbrochen. Diese Methode erwies sich als sehr gut geeignet, die biografischen Ausgangskonstellationen der Jakobspilger zu erfassen und zu untersuchen. Die Interviewpartner wurden mit dem Verfahren und Verständnis der Grounded-Theory-Methodologie und den eingrenzenden Kriterien ausgesucht, in der Regel alleine, zum ersten Mal und mindestens 300 km auf dem Camino Francés zu pilgern. Mit dem Ziel einer Typenbildung wurden die Interviews ausgewertet. Aus dem Material ergab sich neben der biografischen Determination der Pilgerschaft der zentrale typenprägende Zusammenhang, dass die biografische Ausgangskonstellation in typischer Weise bestimmt, wie mit anderen Pilgern auf dem Jakobsweg kommuniziert wird. Im Folgenden werden die fünf Typen zunächst allgemein charakterisiert und der Zusammenhang der biografischen Ausgangskonstellation zu den Kommunikationsformen auf dem Jakobsweg erläutert. Der jeweilige Typ wird anschließend exemplarisch mit prototypischen Interviewauszügen verdeutlicht. Der Typ „Biografische Bilanzierung“ umfasst Menschen, die sich in ihrer letzten Lebensphase befinden und die mehrwöchige Ausnahmesituation des Wanderns mit einer geistigen Rückschau auf ihre und die Bewertung ihrer Lebensgeschichte verbinden. Das wandernde Leben als Pilger bedeutet für sie eine Möglichkeit zur Kontemplation sowie zur intensiven Auseinandersetzung mit den positiven wie den negativen Erfahrungen ihres Lebens. Lebensereignisse werden gedanklich durchgearbeitet, entweder um deren positiven Einfluss und Bedeutung im Lebenslauf einzuordnen oder um negative Erlebnisse in ihrer 273 Vgl. Kurrat 2015. <?page no="178"?> Bedrohlichkeit zu reduzieren. Pilger dieses Typs suchen die Einsamkeit, wollen alleine sein und führen nur wenige Gespräche mit anderen Pilgern. Exemplarisch wird hier nun der Fall eines 80-jährigen Deutschen dargestellt, der sich der Endlichkeit seines Lebens bewusst ist. Er hat den „Jakobsweg ans Ende, an den Schluss gesetzt.“ Für ihn ist der Jakobsweg der bewusst gewählte Schlusspunkt seiner Reisen und „jetzt war eben der Zeitpunkt da gewesen.“ Er berichtet von Bergbesteigungen und Wanderungen in Nepal, Südamerika, Afrika und den Alpen und konstatiert in Bezug auf seine körperliche Leistungsfähigkeit: „Große Dinge werde ich nicht mehr machen.“ Das Pilgern auf dem Jakobsweg hat für diesen Mann jedoch eine andere Qualität als die Reisen, die er zuvor gemacht hat. Er verbindet es mit seiner Biografie: „80 Jahre sind ein langes Leben, man hat viel gesehen und vieles erreicht, aber es ist auch der Zeitpunkt, an dem man eine Gewissenserforschung machen muss.“ Dieser Mann bilanziert während seiner 36-tägigen Pilgerschaft sein Leben. Der folgende Interviewauszug verdeutlicht seine Pilgerintention: „Ich muss sagen, dass ich das Ganze als ein Dankeschön ansehe, Dankeschön nach oben (fängt an zu weinen). Ich hatte eine sehr harte Berufszeit. Ich bin 80 Jahre, habe früh schon [...] ein sehr hartes Berufsleben gehabt. Schönes Berufsleben, aber auch sehr mit großen Forderungen. Und großen Forderungen an mich und auch an die Familie. Und da gibt es, da gab es ja auch Menschen oder Leute, die einen gefördert haben und an die ich gerne denke, die vielleicht auch nicht mehr leben oder nicht mehr da sind. Aber man erinnert sich an diese Menschen, die es mit einem gut gemeint haben, die einen gefördert haben und dahin gehen die Gedanken und die Gespräche und ein Dankeschön an die, die einem im Leben begegnet sind und unterstützt haben, aufgemuntert haben und auch Freude bereitet haben. Das ist für mich ganz wichtig. Denn nicht alles, was man selbst erreicht hat, ist nur aus eigener Körperkraft und Intelligenz entstanden, sondern es haben auch andere mitgeholfen. Das darf man nicht vergessen und diese Dinge gehen natürlich auch zurück bis ins Elternhaus, wo man sich auch, sagen wir mal, seinen Eltern und Großeltern gegenüber gerne erinnert und an Geschwister, die nicht mehr leben und so weiter, die man immer wieder dann auch in den Gedanken mit einbezieht.“ Die gedanklich-zeitliche Orientierung dieses Mannes reicht sehr weit in seine Vergangenheit zurück. Die Endlichkeit seiner Existenz vor Augen, durchdenkt er sein Leben und spricht mit Gott, von dem er sich auf den Jakobsweg gerufen fühlt. Er empfindet Dankbarkeit für den Erfolg, der ihm im Leben zuteil wurde, und denkt an die Menschen, die ihn darin unterstützt haben. Dabei arbeitet er die Stationen seines Lebens auf, setzt sich mit den „Phasen und Epochen seines Lebens“ auseinander und bekennt, dass es „natürlich auch Dinge gibt, die man falsch gemacht hat, die man bereut und darüber denkt man nach.“ Für diesen Mann haben die Mitpilger eine geringe Bedeutung, denn er will seinen Gedanken in Ruhe nachgehen. Er sucht keinen Austausch mit anderen, es kommt lediglich zu Begegnungen, die er als „kurze Gespräche, so herzlich“ <?page no="179"?> beschreibt, doch er betont: „Zu 99,9 Prozent gehe ich alleine.“ Für ihn zählt die Kontemplation in der Natur und den Kirchen, denn „in der Stille finde ich auch das Gespräch mit mir.“ Die Stille bedeutet für ihn „innere Einkehr“ und „Aufarbeitung von verschiedenen Dingen“. Er möchte an sein Leben und an die Stationen seines Lebens zurückdenken: „Dafür brauche ich die Stille“. Auch eine „Biografische Krise“ führt viele Menschen auf den Jakobsweg. Ein ungeplantes Ereignis, das in der nahen Vergangenheit liegt, hat das Leben dieser Pilger massiv erschüttert. Der Auslöser wird als Schicksalsschlag empfunden und das Pilgern soll einen Weg der inneren Verarbeitung und Bewältigung ermöglichen. Die gedankliche Orientierung der Pilger dieses Typs ist in die Vergangenheit, auf das auslösende Ereignis, gerichtet. Die Mitpilger sind für Pilger dieses Typs zur Verarbeitung des Schmerzes essenziell. Sie erzählen den anderen von dem traumatischen Ereignis und finden bei ihnen Trost. Der Typ wird anhand eines Interviews mit einer 46-jährigen Deutschen exemplifiziert, die ihren Vater wenige Monate vor ihrer Pilgerschaft verloren hat. Ihre Schwester hatte sie angerufen, um ihr mitzuteilen, ihrem „Papa würde es so schlecht gehen“. Sie fuhr sofort mehrere hundert Kilometer an das Krankenbett ihres Vaters und wusste, „okay, die Tage sind gezählt“. Sie ist dankbar, dass sie ihrem Vater noch vieles erzählen konnte, was ihr wichtig war. Nach einigen Tagen drängte ihre Mutter sie, wieder zur Arbeit zu fahren. Als sie zu Hause ankam und „vielleicht eine Stunde grad da“ war, klingelte das Telefon und sie bekam mitgeteilt: „Papa ist gestorben.“ Dieser schockierende Moment hat ihr „so weh getan“ und sie machte sich Vorwürfe, warum sie nach Hause gefahren sei und nicht am Krankenbett ihres Vaters geblieben war. Sodann sah sie sich mit dem Thema „loslassen können“ konfrontiert, doch es fiel ihr schwer: „Du kannst halt keinen halten, du weißt, dass wir alle gehen müssen, das ist schon irgendwie klar, aber trotzdem tut es manchmal echt weh.“ Sie entscheidet sich für eine Pilgerschaft auf dem Jakobsweg, „um mit diesem Schmerz besser umgehen zu können.“ Für sie ist es wichtig, „rauszukommen aus dem Umfeld, andere Menschen zu treffen“ und „zu laufen als Befreiung“. „Vor allem Begegnungen mit einzelnen Menschen“ auf dem Jakobsweg erfüllen für sie eine besondere Funktion: Die Frau spricht nur mit wenigen Pilgern, zu denen sie ein „gewisses Grundvertrauen“ entwickelt, über ihre Leiderfahrung und sucht bei ihnen Trost. Sie beschreibt die Begegnungen auf dem Weg als sehr intensiv, denn sie hat ihr „Herz ausschütten können und darüber reden befreit schon mal.“ In den Gesprächen erfährt sie von anderen Schicksalen und ordnet ihre eigene Erfahrung darin ein. Sie erkennt: „Auch andere haben ihr Päckchen zu tragen.“ Dies tut ihr gut und „es tröstet“ sie. Sie bezeichnet ihre vertrauten Mitpilger als „Seelenfreunde“, <?page no="180"?> mit denen sie jeweils über viele Tage gemeinsam pilgert. Mit ihnen entwickelt sie in dieser Zeit „ein ganz tiefes Verständnis füreinander“. Sie und ihre Pilgerfreunde eint die jeweils individuelle Erfahrung einer biografischen Krise. Einen bewussten Einschnitt in ihre Biografie nehmen Pilger des Typs „Biografische Auszeit“ vor. Hier ist kein bestimmtes Ereignis veranlassend, sondern die alltägliche Erfahrung von Stress durch hohe berufliche Anforderungen und, damit verbunden, die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das Pilgern bedeutet für die Menschen dieses Typs Entschleunigung, Abstand, Ruhe und Sinnsuche. Mit den anderen, die ihnen auf dem Jakobsweg begegnen, führen diese Pilger Alltagsgespräche und sind beeindruckt von der Gemeinschaft, die, anders als an ihrem Berufsalltag, keine Anforderungen an sie stellt. Dies wird im Folgenden am Beispiel einer 46-jährigen Deutschen deutlich gemacht, die in der Medienbranche selbständig tätig ist und dort extreme berufliche Beanspruchung erfährt. Sie hat ein „sehr strenges, sehr volles Arbeitspensum im Alltag“ und arbeitet „im Prinzip sieben Tage die Woche“. Sie ist „ständig unterwegs“ und hat „ständig Termindruck“. Mit ihrem Sohn unterhält sie sich „teilweise in Kurzform, an der Tafel steht: Häng die Wäsche auf, ich bin nicht da und bin um zwanzig Uhr zurück. Und er schreibt dann, habe ich gemacht, bin beim Fußball, wir sehen uns morgen oder so ungefähr. Und das kann es auf Dauer und überhaupt eine lange Zeit halt nicht sein. Also wir begegnen uns im Alltag immer nur rein und raus, rein und raus und haben eigentlich nicht wirklich die Zeit füreinander.“ Natürlich sei ihr beruflicher Erfolg bei einem deutschen Fernsehsender „schön, aber es füllt mich irgendwann nicht mehr aus. Wenn das nicht mehr den Sinn ergibt, den man eigentlich sucht im Leben, wenn man sagt, man ist ja nur noch da um zu arbeiten, dann muss man irgendwann mal umdenken.“ Sie stellt sich die Frage nach dem Sinn ihres Lebens: „Wir sind ja viel zu materiell, zu organisiert und dieses ‚immer mehr‘, das ist in Deutschland so stark drin, jedenfalls da, wo ich mich bewege. Das macht mich krank. Und das erfüllt mich nicht mehr.“ Sie entscheidet sich für eine sechswöchige Pilgerschaft auf dem Jakobsweg, weil „ich für mich erst mal so einen Cut brauche, wo ich sage, ich muss mal wirklich längere Zeit raus, längere Zeit nicht darüber nachdenken, was ist morgen und übermorgen und dieses, was einen im Alltag so überrollt. Ich brauche mal eine wirkliche Auszeit.“ Charakteristisch für diesen Fall ist die komplette Ausblendung des heimischen sozialen Umfelds, welches als Ursache für die Sinnkrise wahrgenommen wird. Dies führt dazu, dass sie keinen Kontakt nach Hause haben will: „Das hat es so auch noch nicht gegeben, dass ich jetzt 36 Tage nicht erreichbar bin.“ Zwar hat sie ihr Handy dabei, doch es „ist aus und wird auch erst wieder in Deutschland eingeschaltet.“ Sie will ihrem beruflichen Umfeld mit ihrer Pilgerschaft eine <?page no="181"?> Veränderung beweisen: „Wenn ich wieder im Büro bin, am Wohnort, dass ich da mit vielen Dingen und Sachen anders umgehen werde.“ Sie ist überzeugt, dass der „Schlüssel, den ich hier bekomme beim Gehen, dass der mich zu Hause verändern wird in vielem.“ Dieser Schlüssel beinhaltet die Gemeinschaftserfahrung: Die Mitpilger und die einheimischen Spanier nehmen die von Stress gebeutelte Pilgerin in ihrer Gemeinschaft auf und stiften so neuen Sinn, „weil ich es von Deutschland so überhaupt nicht kenne. Finde ich sehr beeindruckend und es bringt sehr viel Ruhe in mich, also in meine Person, in mein Denken.“ Ein „Biografischer Übergang“ findet sich bei Menschen, die sich in ihrem Leben an einer in der Normalbiografie vorgesehenen Schwelle befinden - beispielsweise nach der Schule und vor der Ausbildung, nach der Ausbildung und vor dem Berufseintritt oder nach dem Berufsleben und vor dem Rentnerdasein. Menschen dieses Typs nutzen das Pilgern als Übergang von einer gerade abgeschlossenen Phase ihres Lebens zu einer neuen. Für diese Umbruchsituationen existieren in der modernen Welt keine Rituale. Deshalb ist das Pilgern für diese Menschen ein selbstgewähltes Ritual, das sie von einer bekannten abgeschlossenen in eine bevorstehende neue soziale Situation überführen soll. Während des Pilgerns sprechen diese Menschen mit den anderen über ihre Vergangenheit, definieren ihren aktuellen Stand im Lebenslauf und suchen Anregungen für die Zukunft. Dieser Typ wird nun am Beispiel eines 65-jährigen Deutschen exemplifiziert, der nach dem Eintritt in sein Rentnerdasein auf dem Jakobsweg pilgert. Für ihn ist seine Pilgerschaft „das Ende eines Lebensabschnitts und Neuanfang eines anderen Abschnitts des Lebens.“ Er wurde in einer Arbeiterfamilie groß, begann als Jugendlicher seine berufliche Tätigkeit in der Stahlindustrie. Hier arbeitete er 40 Jahre. Mit seiner Ehefrau, von der er seit zwölf Jahren getrennt lebt, zog er einen Sohn groß. Mit 58 Jahren wurde er arbeitslos, blieb dies eine Zeit lang, ging dann mehrere Jahre verschiedenen Nebentätigkeiten nach und mit 64 Jahren frühzeitig in Rente: „Habe dann gesagt, so, wenn du jetzt in Rente gehst, nimmst du den Weg als Übergang zu einem ganz anderen Lebensabschnitt.“ Er bezeichnet dies als „besonderen Abschnitt“ in seinem Leben und wollte das Pilgern „so als Lebensabschnitt auch erleben, vom Arbeitsleben ins Rentnerleben.“ Während er bisher „immer darauf fixiert gewesen“ sei, seine Tage und Wochen zu planen, will er durch die Erfahrung des Pilgerns eine neue Art der Lebenseinstellung gewinnen: „Jetzt ist das mal anders.“ Das Pilgern ist für ihn eine Statuspassage. Eine lange Phase seines Lebens, die Berufstätigkeit, ist beendet. Eine neue, das Rentnerdasein, steht bevor. In seiner Statuspassage hat er sich vorgenommen: „Du widmest jeden Tag einem Lebensabschnitt von dir.“ Er lässt beim Pilgern sein „ganzes Leben, was mir so in <?page no="182"?> Erinnerung gekommen ist, an mir vorbeiziehen.“ Er denkt an seine Kindheit und die Ausbildung, an seinen Beruf, mit dem er sich bis heute identifiziert, und die schwierigen letzten Jahre: „Das kommt einem alles in Erinnerung und das habe ich dann bewusst nochmal durchlebt.“ Diese Verhaltensform zeigt Ähnlichkeiten zum Typ „Biografische Bilanzierung“, denn das vergangene Leben wird reflektiert. Allerdings wird es nicht resümiert, es wird keine Bilanzierung im Angesicht des Lebensendes vorgenommen, sondern lediglich ein Zurückerinnern. Auch mit anderen Pilgern entlang des Jakobswegs spricht er über sein bisheriges Leben: „Man hat sich dann auf dem Weg oder auch abends ausgetauscht, was einen so bedrückt hat im Leben.“ Er lernt einige wenige Pilger gleichen Alters kennen, mit denen er manche Strecken gemeinsam läuft oder die er abends in den Herbergen wiedertrifft. Erstaunt über die Offenheit, die seine Mitpilger an den Tag legen, erzählt er ihnen von seinen Erfahrungen in Beruf und Familie und erkennt: „Es tut einfach gut, sich auszutauschen.“ Ein weiterer Typ verbindet mit dem Pilgern einen „biografischen Neustart“. Kennzeichnend für diesen Typ ist, dass ein Kapitel des eigenen Lebens nach einer langen Leidensphase bewusst abgeschlossen wurde. Dieser Typ zeigt Ähnlichkeiten zu dem Typ „Biografischer Übergang“, jedoch mit dem Unterschied, dass hier ein Bruch im Lebenslauf vorliegt, der in der Normalbiografie nicht vorgesehen ist. Dies kann beispielswiese die Kündigung des Jobs sein. Der Jakobsweg ist für diesen Pilgertyp ein Initiationsritual für ein neues Leben. Dazu ist der Austausch mit anderen essenziell. Die Pilger dieses Typs sprechen mit den Mitpilgern über die Gründe, die zum Bruch in ihrem Lebenslauf geführt haben, und versuchen im kommunikativen Austausch einerseits, die Irritation zu überwinden, und andererseits, eine neue Identität zu konstruieren, die sie nach der Rückkehr präsentieren wollen. Dies zeigt das Beispiel eines Deutschen, der zum Zeitpunkt seiner Pilgerschaft 30 Jahre alt ist. Er wuchs in einem „behüteten Elternhaus“ auf und begann nach Abschluss der Realschule eine dreieinhalbjährige Ausbildung. Im Anschluss absolvierte er seinen Wehrdienst und begann eine Anstellung in einem Betrieb, in dem er für acht Jahre arbeitete: „Habe aber die ganze Zeit schon gemerkt, dass der Beruf mir nichts gibt.“ Er war „absolut unglücklich in dem Beruf“ und ist „jeden Tag wider Willen auf die Arbeit gefahren.“ Die Arbeit in der Werkstatt beschreibt er als eintönig: „Wenn du den ganzen Tag vor der Maschine stehst und gibst da irgendwelche Zahlen ein.“ Von seinen Arbeitskollegen erfuhr er keine Unterstützung und hat „immer nur sechzig, siebzig Prozent Leistung gebracht.“ Auf seine Arbeitsleistung war er nie stolz. In dieser Zeit begann er, Alkohol zu trinken und Marihuana zu rauchen, um „die Probleme damit zu beseitigen.“ Doch er merkte bald, dass Drogen keine Lösung für <?page no="183"?> seine Situation waren: „Ich wusste nicht, was ich arbeiten kann, ich wusste nicht, nach was ich suchen soll.“ Es setzte ein Reflexionsprozess ein, in dem ihm bewusst wurde, dass er - wenn er sein Leben nicht änderte - noch 30 bis 35 Jahre in dem ungeliebten Job arbeiten muss, und dass in ihm „viel mehr steckt“. Doch die Entscheidung, seinen gelernten Beruf aufzugeben und etwas anderes zu lernen, fiel ihm schwer. Das sichere Einkommen und der gewohnte Tages- und Wochenablauf hinderten ihn lange, eine Entscheidung zu treffen. Er beschreibt, dass er Angst vor dem Schritt hatte. Der Alkohol- und Drogenkonsum führten dazu, dass es ihm „mental und körperlich so schlecht“ ging, dass er sich eingestand: „Wenn du so weitermachst, dann bist du mit 50 kaputt.“ Nach dieser Erkenntnis beschloss er, den Drogenkonsum einzustellen und seinen sicheren Job zu kündigen. Er begann ein Praktikum und lernte eine Frau kennen, die ihm von ihren Erfahrungen auf dem Jakobsweg berichtete. Nach Beendigung des Praktikums entschloss er sich, von seinem Heimatdorf aus 3.000 km bis nach Santiago de Compostela zu pilgern, „weil ich einfach eine Zeit gebraucht habe für mich, nachzudenken, was will ich, wer bin ich, wo soll es weitergehen.“ Die Pilgerschaft auf dem Jakobsweg markiert den Abschluss seines bisherigen Lebens und gleichzeitig den Start in eine neue, ungewisse Zukunft. So ist diese Pilgerschaft ein Übergang ins Offene hinein, in der sowohl das Leid der Vergangenheit als auch „das Thema Zukunft, wie finde ich meinen Weg, dass ich glücklich bin“ einen großen Stellenwert im Austausch mit anderen einnehmen. Deshalb führt der Pilger mit anderen, denen er auf dem Jakobsweg begegnet, intensive Gespräche und erzählt von seinen Problemen, Träumen und Wünschen. In den Gesprächen offenbart er seine Gefühlswelt und die Gründe, die zum Bruch in seinem Lebenslauf führten, und erzählt „denen ganz unbeschwert Sachen, die würdest du zu Hause vielleicht deinem besten Freund erzählen.“ Die Gespräche dienen der Einordnung des selbst gewählten Bruchs in seinem Lebenslauf im Sinne einer neuen Identitätsbildung. Er hat sich die Aufgabe gestellt, den Bruch in seine Identität zu integrieren. Pilgern findet seinen Ausgang also typischerweise in biografischen Krisen- und Umbruchsituationen. Der Jakobsweg ist ein sozialer Raum, in dem Menschen Krisen- und Umbruchsituationen im Austausch mit anderen Pilgern verarbeiten. Sie treffen auf Menschen in ähnlichen Lebenssituationen oder mit ähnlichen Erfahrungen und konstruieren im kommunikativen Austausch Deutungen oder formen Handlungsoptionen für die Zukunft. Dies geschieht freilich in einem religiösen Setting, denn der Jakobsweg steht in einer tausendjährigen christlichen Tradition, die für die Pilger in ihrer Erfahrungswelt konstitutiv <?page no="184"?> ist. 274 Dies gilt sowohl für die traditionell-religiös orientierten Pilger als auch für die große Gruppe derjenigen Pilger, die in ihrem Alltag bislang wenig bis gar keine Berührung mit der Institution Kirche hatten. Dies stellt eine große Chance für die Kirchen dar, denn der Jakobsweg macht Religion im besten Sinn des Wortes erfahrbar. Während das Untersuchungsinteresse bislang sozusagen in die Vergangenheit der Pilger gerichtet war, schließt sich die Frage an, wie es mit den Lebensgeschichten der Pilgertypen weitergeht. Was passiert nach einer Pilgerschaft? Dies ist bislang kein explizites Untersuchungsfeld der Pilgerforschung gewesen. Nancy Frey betont in ihrer Studie, dass der Jakobsweg für Pilger, die sich tiefer auf ihn einlassen, „offensichtlich unauslöschliche Spuren“ 275 hinterlässt: „Zuweilen mündet das Ergebnis der Wallfahrt in Veränderungen in der beruflichen Situation oder in der Ehe, in der Durchführung kreativer Projekte, in der Entdeckung des Gebets, in einem stärkeren Engagement, Freundschaften aufrechtzuerhalten, oder in einer Identität, die sich auf dem Jakobsweg entwickelt hat, oder in einer fortdauernden Erinnerung an schöne Wanderungen in Spanien.“ 276 Häufig würden Pilger äußern, dass „keiner wirklich versteht“ 277 , was sie auf einer tieferen Ebene auf dem Jakobsweg erlebt haben. Gleichzeitig könne die Begeisterung für die Einzigartigkeit des Pilgerweges und dessen „Wirkkraft, die er auf sein oder ihr Leben gehabt zu haben scheint“ 278 , Zuhörer zu Tränen rühren oder Neugier auf diese Erfahrung wecken. Viele Pilger würden berichten, „durch den Pilgerweg Gott (wieder)entdeckt zu haben“ 279 , doch sie fänden keinen angemessenen Weg, die Erfahrungen in einer religiösen Gemeinschaft oder im persönlichen Umfeld zu verarbeiten. „Zumeist werden die Erkenntnisse der Reise nicht in Frage gestellt, doch es fällt schwer, sie ins tägliche Leben umzusetzen.“ 280 Die ersten Woche und Monate nach der Rückkehr vom Jakobsweg seien daher „oft von einer starken Polarität einer positiven Umsetzung von Erfahrungen und einem negativen Gefühl des Verlustes und der Niedergeschlagenheit gekennzeichnet, vor allem wenn Pilger nicht in angemessener Weise zum Ausdruck bringen können, was passiert ist.“ 281 Nancy Frey stellt fest, dass es ein Muster von kurzfristigen und langfristigen Orientierungen nach der Rückkehr zu geben scheine: 274 Vgl. Heiser 2012. 275 Frey 2002, 238. 276 Frey 2002, 240. 277 Frey 2002, 251. 278 Frey 2002, 251. 279 Frey 2002, 252. 280 Frey 2002, 252. 281 Frey 2002, 253. <?page no="185"?> Die Schwierigkeit, die positiven Erfahrungen des Pilgerns in den Alltag zu integrieren, führe kurzfristig zu der häufig geäußerten Erkenntnis, dass das Leben auf dem Jakobsweg einfacher sei, und zu dem Gefühl, „dass das, was sie sich auf dem Jakobsweg angeeignet zu haben glaubten, nun verloren und vergeblich oder nur ein Traum gewesen sei.“ 282 Langfristig würden viele Pilger glauben, einen inneren Ruhepol gefunden zu haben, indem sie den Jakobsweg sinnbildlich für gegenwärtige Erfahrungen verwenden. Der Weg im täglichen Leben werde mit „brauchbaren Bildern“ vom Jakobsweg versehen und dessen „Lektionen“ auf die Probleme angewendet, mit denen man konfrontiert sei. Diese Bezugnahme auf die Wirkkraft des Jakobswegs könne im persönlichen Umfeld zu unmittelbaren Veränderungen führen, „um das ‚neue Ich‘ zu präsentieren.“ 283 Zudem würden die Pilger in den Monaten und Jahren nach ihrer Rückkehr auf verschiedene Weisen mit der Auseinandersetzung konfrontiert, wie sie die als lebenswert empfundenen Werte des Jakobsweges in ihr tägliches Handeln integrieren können. Oft entstehe in dieser Auseinandersetzung der Wunsch nach Veränderung, da es für ehemalige Pilger mitunter nicht mehr möglich sei, die Realität mit den gleichen Augen zu sehen. Es seien zwei gegensätzliche Wirklichkeiten, die in der Auseinandersetzung fortwirken: die als wahr empfundene Realität des Jakobswegs und die Realität des heimischen Lebens. Es sei ein scharfer Kontrast zwischen dem alltäglichen Leben und „dem leichten Dahinfließen, der Sinnhaftigkeit, dem gesunden Lebensstil und der Zielorientierung, die man auf dem Jakobsweg gefunden hat und in starkem Maße gelebt hat.“ 284 Pilger, die an einem Wendepunkt ihres Lebens oder vor einer Entscheidung standen, würden nach ihrer Rückkehr auf verstärkte Weise mit den zurückgelassenen Situationen konfrontiert. Manche berichten von neuem Mut in ihrem Leben, „von einer Fähigkeit, schwierige Situationen mit einer neuen Einstellung oder Entschlossenheit anzugehen.“ 285 Auf einer gewissen Ebene würde es den Glauben geben, dass Pilgern „eine Lösung bringen wird oder einem den magischen Schlüssel gibt, der für das Verständnis der Fragen des Lebens notwendig ist.“ 286 Unerwartete Ergebnisse des Pilgerns seien zuweilen Schwangerschaften oder die Begegnung mit dem künftigen Ehepartner. In seltenen Fällen konvertieren Menschen zum Katholizismus. Für einige wenige würde der Jakobsweg gar zur Berufung. Diese Menschen identifizieren sich als Pilger, Frey nennt dies „eine 282 Frey 2002, 254. 283 Frey 2002, 255. 284 Frey 2002, 257. 285 Frey 2002, 260. 286 Frey 2002, 261. <?page no="186"?> Konversion nicht zu einer Religion, sondern zum Pilgersein. Der Jakobsweg wird zum Erlöser und zur Erlösung.“ 287 In einer Folgestudie, die seit 2016 an der FernUniversität in Hagen durchgeführt wird, nehmen wir in den Blick, welche lebensgeschichtlichen und berufsbiografischen Veränderungsprozesse infolge einer Pilgerschaft entstehen können. Hierzu wurden erste vorbereitende Interviews geführt, u. a. auch mit dem jungen Mann, dessen „biografischer Neustart“ in diesem Beitrag vorgestellt wurde. Es interessierte uns, wie es mit seiner Geschichte weiterging, nachdem er den gelernten Beruf aufgegeben hatte. Sechs Jahre später berichtete er uns: „Als ich dann nach dreieinhalb Monaten in Santiago angekommen bin, lag ich vor der Kathedrale auf dem Platz und dann kam ein Bus und aus dem Bus stiegen Menschen aus, die geistig oder körperlich beeinträchtigt waren. Das war irgendwie so ein Zeichen für mich.“ Er entschied sich daraufhin, im Alter von 30 Jahren eine neue Ausbildung zu beginnen und Heilerziehungspfleger zu werden, weil er mit Menschen und nicht an Maschinen arbeiten wollte. Die Ausbildung hat er inzwischen erfolgreich beendet und beschreibt sie als „eine der schönsten Zeiten, die ich je erlebt habe.“ Er konnte oft „gar nicht glauben, dass ich auf die Arbeit fahren kann und sich das gut anfühlt.“ Er sagt, er habe durch die Pilgerschaft „den Weg zu mir selbst“ gefunden: „Der Weg, den ich eingeschlagen habe, nach der Kündigung von meinem ersten Beruf, ja, ich bereue keine Entscheidung, kein Schritt in diese Richtung, im Gegenteil. Ich habe diese negativen Stimmen, die auf mich eingeprasselt sind, denen habe ich keine Beachtung geschenkt und bin meinem inneren Gefühl gefolgt.“ In einem anderen Interview erzählte uns eine Kunsttherapeutin, wie sie nach einer „biografischen Krise“ auf dem Jakobsweg den Entschluss getroffen hat, nach Spanien auszuwandern. In einem weiteren Interview berichtete uns ein beruflich sehr erfolgreicher Personalabteilungsleiter von seiner Entscheidung, nach einer „biografischen Auszeit“ auf dem Jakobsweg den gelernten Beruf aufzugeben und ein Restaurant zu eröffnen. Es ist ein bemerkenswertes und untersuchungswürdiges Phänomen, dass eine Pilgerschaft auf dem Jakobsweg zu krassen Veränderungen in der Lebensgeschichte und Berufsbiografie führen kann. Die Zeit nach dem Pilgern, der „Post-Camino“ 288 , wird in unserer laufenden Folgestudie erforscht. Hierfür sind Feldaufenthalte in Santiago de Compostela geplant und wir suchen einerseits Kooperationspartner und Fördermöglichkeiten und andererseits ehemalige Pilger, die bereit sind, uns ihre Geschichte zu erzählen. Vielleicht fühlt sich ja der ein oder andere Leser dieses 287 Frey 2002, 265. 288 Lopez 2013. <?page no="187"?> Beitrags in der einen oder anderen Hinsicht angesprochen, Kontakt mit uns aufzunehmen. Frey, N. (2002): Santiagopilger unterwegs und danach. Volkach/ Main. Gamper, M./ Reuter, J. (2012): Pilgern als spirituelle Selbstfindung oder religiöse Pflicht? Empirische Befunde zur Pilgerpraxis auf dem Jakobsweg. In: Daniel, A. et al. (Hg.) (2012): Doing Modernity - Doing Religion. Wiesbaden. 205-232. Haab, B. (1998): Weg und Wandlung. Zur Spiritualität heutiger Jakobspilger und -pilgerinnen. Freiburg. Heiser, P. (2012): Lebenswelt Camino. Eine einführende Einordnung. In: Heiser, P./ Kurrat, C. (Hg.) (2012): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg. Münster. 113-138. Kurrat, C. (2015): Renaissance des Pilgertums. Zur biographischen Bedeutung des Pilgerns auf dem Jakobsweg. Münster. Lopez, L. (2013): How Long Does the Pilgrimage Tourism Experience to Santiago de Compostela Last? In: International Journal of Religious Tourism and Pilgrimage, Vol. 1, 1-14. Oficina del Peregrino (2017): Estadísticas, Santiago de Compstela. [online] Verfügbar unter: https: / / oficinadelperegrino.com/ estadisticas/ [Letzter Zugriff 04.02.2017]. Specht, J. (2009): Fernwandern und Pilgern in Europa. Über die Renaissance der Reise zu Fuß. München. Xunta de Galicia (2015): Plan Director y Plan Estratégico del Camino de Santiago en Galicia 2015-2021, Santiago de Compostela.[online] Verfügbar unter: http: / / www.turismo.gal/ canle-profesional/ plans-e-proxectos/ plan-director-caminode-santiago? langId=es_ES [Letzter Zugriff 04.02.2017]. <?page no="189"?> Reisen sucht Alterität als Andernorts auf. Wie Reisende mit diesem Anderen umgehen, wird tourismuswissenschaftlich diskutiert: Verweigern sich die Reisenden der Fremdheit des Reiseraums oder geht es ihnen um permanente Abwechslung? Oder dient der Reiseraum als Kontrastfolie des Anderen, die gerade im Eigenen bestätigt? <?page no="190"?> In der Reiseform des Pilgerns geschieht Alteritätserfahrung in spezifischer Weise. Seine geschichtlichen Wurzeln zeigen es als extreme Form des dauerhaften Strebens nach dem bestimmten ganz Anderen. Heutiges Pilgern kennt zwei Formen der Alteritätsbegegnung, Autonomie und Symbiose. Im symbiotischen Erfahrungsmodus überlässt der Pilger sich den Dingen und geht so in ihnen auf, dass er Gewissheit findet. Diese in der Symbiose gewonnene Gewissheit erklärt das besondere Potenzial des Pilgerns in einer vermöglichten Postmoderne. Der Modus des Sich- Anderem-Aussetzens bildet den spezifischen Beitrag der Reiseform Pilgern zur tourismuswissenschaftlichen Debatte über Alterität und Reisen. Der Beitrag beginnt mit einer Einführung in die tourismuswissenschaftliche Debatte um den Umgang mit Alterität im Reisen. Das Pilgern wird zum einen in seiner geschichtlichen Prägung als dauerhaftes Streben nach einer letzten Alterität dargestellt. Zum anderen wird im Hauptteil der Umgang mit Alterität im heutigen Fußpilgern analysiert. Dabei werden Körpergebrauch und Naturumgang als wesentliche Erfahrungsfelder und Autonomie und Symbiose als wesentliche Erfahrungsmodi herausgearbeitet. Abschließend wird das Interesse an Symbiose beim Pilgern aus den durch die Postmoderne geprägten Alltagserfahrungen hergeleitet und in die tourismuswissenschaftliche Alteritätsdebatte eingebracht. Touristen verlassen ihr Zuhause, um ein Andernorts aufzusuchen. Wie sich dieses Andernorts zum Alltag und zur eigenen Identität verhält und wie damit umgegangen wird, ist tourismuswissenschaftlich umstritten. Zwei Pole des Spektrums sollen hier dargestellt werden: sich nicht auf den Reiseraum einzulassen und bei sich zu bleiben - oder als entgegengesetzter Pol eine völlige Verflüssigung der Identität, die den Kern eines Eigenen auflöst und das immerfort Andere sucht. Touristen fahren an andere Orte, aber sie lassen sich nur sehr bedingt auf diese ein. So kritisiert bereits Hans Magnus Enzensberger Tourismus als folgenlose Flucht aus dem industriell-modernen Alltag in eine unwirkliche Urlaubswelt, <?page no="191"?> deren Leitbild die Romantik ist. 289 Zwar suchen die Reisenden anders gestaltete Orte auf, aber sie setzen sich nicht ernsthaft mit diesem Anderen auseinander und beziehen es nicht kritisch auf die gesellschaftliche Realität des Alltags. Hingegen sieht Dean MacCannell ursprünglich im Tourismus eine Suche nach dem Eigentlichen. „Nicht Flucht aus der Gesellschaft, wie Enzensberger [...] meinte, sondern deren Aneignung ist das Ziel der Reise.“ 290 In diesem Versuch, die Entfremdung von der Wirklichkeit aufzuheben, das Eigentliche zu suchen, sei der Tourismus eine moderne Umwandlung des Pilgerns. Aber dieses Streben nach Authentizität wird frustriert, weil der Tourist nur Inszenierungen vorfindet, die ihn nicht zum Verstehen der gesellschaftlichen Realität führen. Der Tourismus wird seinem Anspruch nicht gerecht und verhindert so die Begegnung mit einem Anderen, das unter die Oberfläche gesellschaftlicher Entfremdung dringt. Zwischen dem Anspruch der Suche nach dem Eigentlichen und dem Verhaften im gewohnten Entfremdeten spannt Eric Cohen seine Typisierung unterschiedlicher Reisemodi auf. Er unterscheidet - je nach dem Grad der Authentizitätsorientierung - fünf Typen von Touristen: vom Zerstreuungstyp, der Authentizität nicht im Sinn hat, bis zum Existenztyp, der vom Urlaub eine dauerhafte Neuorientierung erwartet. Die Typen unterscheiden sich darin, wie sie die andere, die alltägliche Welt prägen lassen. Cohen hat später desillusioniert den Erholungstyp als paradigmatisch für den Tourismus beschrieben, der die Möglichkeit eines Anderen nur simuliert. 291 Cohen kritisiert das ähnlich Enzensberger als folgenlose Flucht vor der Wirklichkeit. Diese Klassiker der Tourismuskritik stimmen darin überein, dass sie den Alltag als eigentliche Wirklichkeit ansehen. Gegenüber diesem Standbein beschreibt das Reisen ein Anderes, das funktional auf das Eigentliche des Alltags bezogen ist. Kritisiert wird die Wirkungslosigkeit der Begegnung mit dem Anderen, das als Ventil sogar der Perpetuierung der im Alltag herrschenden Entfremdung dienen kann. Der Tourist sucht andernorts Alterität auf, aber sie bleibt ihm etwas Fremdes, das er sich nicht aneignet - letztlich bleibt er auch andernorts bei sich. Das Verhältnis von Alltag und Reisen kann auch völlig anders bestimmt sein. Die nun diskutierten Entwürfe stammen nicht aus der Reiseforschung, sondern nutzen Metaphern der Reisewelt zur Beschreibung postmoderner Identitätskonstruktionen. So steht bei Zygmunt Bauman der Pilger für die Moderne: 292 Er lebt eine einheitliche Identität, die eine deutliche Ausrichtung auf Zukunft 289 Vgl. Enzensberger 1958, 709 u. 719. 290 Günther 1997, 450; Vgl. MacCannell 1976. 291 Vgl. Cohen 1984. 292 Vgl. Bauman 1994. <?page no="192"?> hin aufweist. Er sucht Alterität, weil er erst auf dem Weg zum Eigentlichen ist. Als Metapher für die Postmoderne wählt Bauman den Touristen. Dieser lässt sich nicht auf den Urlaubsort ein, lebt gleichsam mit der verspiegelten Sonnenbrille: Er betrachtet Monumente und Menschen aus sicherer Distanz, ohne sich selbst ansprechbar zu machen. So ist der Tourist zwar überall am Ort, aber nie Teil des Ortes; er bleibt in der unverbindlichen Distanz des Vorübergehenden. „Das Problem ist freilich, dass in demselben Maße, wie die touristischen Eskapaden einen immer größeren Anteil an Lebenszeit ausmachen, wie sich das Leben selbst zu einer ausgedehnten Eskapade und das touristische Verhalten zur Lebensform wandelt und die Touristenhaltung Charakterzüge annimmt - es auch immer unklarer wird, welcher Besuchsort nun das Zuhause und welcher nur einen Touristenaufenthalt bedeutet.“ 293 Bauman versteht den Touristen dabei als „Metapher für die postmoderne Strategie mit ihrer Furcht vor Gebundenheit und Festlegung.“ 294 Seine Kritik am Identitätstypus des Touristen schärft den Blick für die Popularität wie auch die Problematik des konkreten Reisens, das als Verdichtung postmoderner Kultur erscheint. Nicole Ahlers beschreibt Reisen als eine Verräumlichung des Rollenspiels des romantischen Ironikers, der virtuos übt, von sich abzusehen. 295 Die Begegnung mit Fremden wird dazu genutzt, sich einander in seiner Fremdheit zu bestätigen, und zwar im Modus der Distanz, die nicht überwunden, sondern geradezu lustvoll inszeniert wird. „Nicht übereinstimmen“ 296 - weder mit sich noch mit dem begegnenden Fremden - ist der Imperativ dieser Fremdbegegnung. Die Entfremdung von sich selbst geschieht in der Aufspaltung in verschiedene Rollen, hinter denen das Ich nicht mehr zu finden ist. Die Kehrseite des „Spielraums des Seinkönnens“ 297 ist die Entfremdung, die als fundamentale Orientierungskrise erlebt wird, in der man nicht weiß, wer man ist, sich als Fremden beobachtet und heimatlos in sich selbst wird, weil der Spielraum der Selbstdistanz tendenziell bodenlos geworden ist. Diese Festlegung meidende fluide Identität ist von Walter Kiefel in den griffigen Slogan „Wo du „nicht“ bist, dort ist das Glück“ gefasst worden. 298 Darin drückt sich die kontinuierliche Suche nach einem Andernorts aus, das jedoch im Moment des Erreichens bereits von einem weiteren Andernorts überholt ist. Dabei zählt nicht der Ort in seinem An-sich-Sein - er ist nur ein Moment des permanenten Ortswechsels. 299 Die dabei zu beobachtende Irrelevanz der konkreten Qualitäten der jeweils aufgesuchten Orte knüpft an die Diskussion 293 Bauman 1997, 158. 294 Bauman 1997, 149. 295 Vgl. Ahlers 2000, 456f. 296 Vgl. Kristeva 1990, 26. 297 Ahlers 2000, 461. 298 Vgl. Kiefel 1997. 299 Vgl. Wöhler 2011, 13ff. <?page no="193"?> um die Inszeniertheit von Urlaubswelten an. Das Wissen darum zeichnet den von Maxine Feifer als Post-Touristen bezeichneten heutigen Reisenden aus. 300 Was der Tourist MacCannells nur befürchtete, ist für den desillusionierten Blick des Post-Touristen zur Gewissheit geworden: Er weiß, dass man ihm etwas vormacht, Authentizität eine Illusion und Spiel das Wesen des Reisens ist - aber er lässt sich dadurch den Spaß am Spiel nicht verderben. Das Andere ist eine Inszenierung ohne ernsthaften Anspruch auf substanzielle Identität. Das Wesen des postmodernen Konstruktivismus kommt im inszenierten Tourismus in äußerster Klarheit zum Tragen. In der stetigen Gegenwärtigkeit immer neuer Möglichkeiten wird keine dauerhafte Identität ausgebildet, sondern deren Verflüssigung, die im Extrem zum Selbstverlust führen kann. Während das Andere für Baumans modernen Pilger Orientierungspunkt seiner Identität ist, ist es für den Typus des postmodernen Touristen ein Mittel zur Verhinderung eines Eigenen. Während die modernen Tourismuskritiken die fehlende Rückkopplung der Alterität des Reisens auf das Eigene bemängeln, wird in postmoderner Perspektive die Angleichung der Identität an das Reisen zum Problem. Der postmoderne Mensch wird zum Homo touristicus und Reisen zum Modus, in der Welt zu sein. Reisen ist dann kein Anderes zum Alltag mehr, aber es kann als Technik einer Lebenskunst genutzt werden, die in der Begegnung mit dem Fremden sich selbst entfremden will. Gesucht wird dabei letztlich nicht die räumliche Fremde, sondern das eigene Fremdsein. Pilgern zeichnet sich gegenüber anderen Reiseformen durch einen besonderen Umgang mit der Alterität des Reiseraums aus und vermag so, in spezifischer Weise Identität zu entwickeln. Im Folgenden wird ideengeschichtlich das Pilgern als christliches Identitätskonzept erörtert. Anschließend wird empirisch nach dem Alteritätsumgang des heutigen Pilgerns gefragt. Zygmunt Bauman hat - wie oben dargestellt - die moderne Form der Identitätskonstruktion mit der Metapher des Pilgers beschrieben: Der Mensch hat einen eschatologischen Orientierungspunkt, der ihm Identität gibt. 301 Dieses Menschenbild knüpft an Einsichten der philosophischen Anthropologie an, die die menschliche Selbstreflexivität, also die Fähigkeit, über die Situation hinausschauen und sich von ihr distanzieren zu können, unter den Begriffen Exzentrizität und Weltoffenheit beschreibt. Den Bezug auf etwas noch Ausstehendes 300 Vgl. Feifer 1985. 301 Vgl. Kristeva 1990, 79ff. <?page no="194"?> hat in der theologischen Anthropologie Wolfhart Pannenberg stark gemacht. 302 Weil die Welt dem Menschen kein selbstverständliches Zuhause ist, kann er nicht anders, als über das Vorfindliche hinaus zu fragen. Die unabschließbare Offenheit des Suchens wird im Begriff Gottes ausgedrückt, dem gegenüber jede konkrete Erfüllung nur vorläufig bleiben darf. Menschsein so als Streben nach einer noch ausstehenden Identität zu verstehen, geht auf biblische und altkirchliche Wurzeln zurück. Der antike Begriff des Peregrinus bezeichnet als ursprünglich juristischer Begriff den per-egre, also den außerhalb des ager Romanus Wohnenden, wörtlich den Aus-Länder. 303 Daraus entwickelte sich im altkirchlichen Mönchtum ein religiöses Verständnis, in dem man die Heimatlosigkeit zu einer asketischen Übung macht, in der man sich von der diesseitigen sinnlichen Welt löst, um zu Gott zu gelangen. Diese mönchische Pilgerexistenz ist kein Entschluss, sondern ein Anerkennen der Tatsache, dass das irdische Leben keine Heimat bietet. Im Überschreiten auf ein ganz Anderes hin, leben die Monachi peregrini ihre Identität. Zwar wird dieses Andere im Diesseits nie vollständig erreicht, aber der Peregrinus hat im Glauben schon jetzt Anteil daran und gewinnt in der tätigen Ausrichtung darauf seine Identität. Das unterscheidet ihn von der Identitätskonstruktion der Postmoderne, die sich in dem immerfort verschiebenden Anderen verlieren will. Dieses Verständnis des Menschseins als wesenhafte Peregrinatio setzt wesentliche Aspekte biblischer Anthropologie vom Exodus bis zur Heimatlosigkeit Jesu um. Besonders die späten Briefe des Neuen Testaments entfalten dieses Motiv: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel“ (Philipperbrief 3,20). Heimat ist nicht das Eigene des Alltags, sondern das Andere des Ersehnten, das einem voraus liegt. Der Mensch hat die Aufgabe, die Spannung zwischen dem Vorfindlichen und dem noch Ausstehenden in ein geistliches Unterwegssein zu Gott umzusetzen. Erst sukzessive entwickelte sich aus dieser Lebenshaltung Vita est Peregrinatio das konkrete Pilgern. Man übt, ohne Dach über dem Kopf, gleichsam nackt und unbehaust und darum notvoll, unterwegs zu sein. Die prekäre Lage erinnert den Pilger daran, dass sein Leben noch nicht ganz ist, sondern erst auf dem Weg zur Ganzheit. Peregrinatio beschreibt ein Identitätskonzept, das durch Alterität bestimmt ist. Das ganz Andere endgültiger Erfüllung verbürgt Identität, während das Eigene der Gegenwart durch Vorläufigkeit gekennzeichnet ist. Der Mensch soll weder im Gegebenen verharren, noch sich in Identitätsdiffusion auflösen, sondern sich das noch Ausstehende geistlich vergegenwärtigen. Dazu kann er das konkrete Pilgern nutzen, um in der Auseinandersetzung mit dem Anderen des Reiseraums das Unterwegssein zur Identität einzuüben. 302 Vgl. Pannenberg 1983, 40ff. 303 Vgl. Lienau 2009a, 48ff. <?page no="195"?> Das Einüben von Alterität prägt auch heutige Pilgerpraxis. Diese wird im Rückgriff auf aktuelle Studien 304 , teilnehmende Beobachtung und populäre Reiseberichte von Hape Kerkeling, Paulo Coelho, Shirley MacLaine 305 , Lee Hoinacki und Carmen Rohrbach erschlossen. Alteritätserfahrungen begegnen am prägnantesten vermittels Körper und Natur in zwei spezifischen Kombinationen: die an widerständiger Natur erfahrene körperliche Herausforderung und die ebenfalls in der Naturbegegnung erfahrene leibliche Weitung. 306 Pilgern ist in vielfacher Hinsicht anstrengend. Gerade Fernpilgern führt oft an Leistungsgrenzen. 307 Zwar ist der sportliche Aspekt nur eine untergeordnete Motivation zum Pilgern, aber die körperlichen Anstrengungen prägen den tatsächlichen Pilgervollzug stark. 308 Neben der Anstrengung des Gehens mit Gepäck strapazieren auch der dauerhafte Aufenthalt im Freien und das ungewohnte Klima. Auch die unruhigen Nächte im Massenlager mit ihrer reduzierten Intimsphäre strengen an. Immer wieder kommt es zu Krisen durch körperliche Herausforderung. 309 Erfahren Pilger die Außenwelt so als widerständig, müssen sie sie überwinden und treten so in Distanz zu ihr. Man begegnet ihr zielgerichtet, rational und kontrollierend. Daraus resultiert auch ein bestimmtes Körperverhältnis: Um die Herausforderungen der Natur zu bewältigen, wird der eigene Körper instrumentalisiert und ggf. bezwungen. Gamper und Reuter nennen „Schmerz und körperliche Beanspruchung als konstitutives Pilgererlebnis.“ 310 Dies folgt aber nicht den traditionellen Intentionen der Buße, der körperlichen Selbstvernei- 304 Gegenüber einer Vielzahl methodisch unbefriedigender Kleinstudien sind die umfangreichen empirischen Arbeiten von Haab hervorzuheben, die Pilgern ethnologisch als Initiationsritus beschreibt (1998), von Specht (2009), die Pilger mit Fernwanderern vergleicht sowie von Gamper & Reuter (2012a) und von Brämer (2009); weiterhin die Wallfahrtstheologie von Rosenberger (2009) für phänomenologische Aspekte auch zum Pilgern sowie der Beitrag von Kurrat zu den biografischen Auslösern der Pilger (in Heiser/ Kurrat 2012). 305 Vgl. MacLaine 2001. 306 Die Unterscheidung der beiden Erfahrungstypen folgt der empirischen Studie Lienau 2015a, bes. S. 300ff. 307 Vgl. Specht 80ff; Vgl. Lienau 2009b; Vgl. Lienau 2012. Dies thematisieren auch alle Spielfilme zum Pilgern, Lienau 2015b. 308 Vgl. Gamper/ Reuter 2012a, 39. 309 Vgl. Haab 1998, 152ff. 310 Gamper/ Reuter 2012a, 37. <?page no="196"?> nung oder des Nachvollzugs Christi, sondern ist eine „wichtige Ressource zur Selbstwahrnehmung und -beschreibung.“ 311 Eine extreme Form des Pilgerns als Herausforderung findet sich in Paulo Coelhos Pilgerbericht. 312 Coelho spricht von Überwinden, Kampf, Feind, Eroberung, Stärke und Macht. In seinen Exerzitien übt er, unmittelbare Empfindungen zu unterdrücken. So macht er seinen Körper zum Instrument des Kampfes und der Selbstüberwindung. Als zentrales Motiv Coelhos erweist sich die Selbststeigerung: Durch Kampf mit dem eigenen Körper, Willen, Vorstellungen und Empfindungen erschafft sich der Mensch. Coelho trainiert seine Autonomie und konstituiert sich als Einzelner, er erlebt sich in seinem Wollen und Können. Ähnlich wie in der Fitness wird der Körper zu einem „Beweis für die eigene Leistungsfähigkeit.“ 313 Die körperliche Selbstformung bewirkt Selbstoptimierung und -steigerung, man übt und erfährt Autonomie. Der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette bezeichnet die Erfahrung, sein Schicksal selbst und unvertretbar in die Hand nehmen zu können, im Anschluss an Nietzsche als Willen zur Macht. 314 Paradoxerweise finden Menschen so ‚im Wagnis Halt‘. Die körperlich vermittelte Erfahrung von Handlungsmächtigkeit lässt Selbstgewissheit erfahren. 315 In der Herausforderung zeigt sich ein spezifischer Zugriff auf Alterität, die in zweifacher Weise begegnet: als naturräumlicher Pilgerweg wie auch als eigener Körper. Der Weg, aber auch der Körper sind widerständig, darum muss man sich in seinem Willen ihnen gegenüberstellen. Der sich herausfordernde Pilger kann sich nicht einfach ergreifen lassen und einfügen. Er setzt sich Ziele und verfolgt sie, was ihn in Distanz zum Moment bringt, da er auf etwas jenseits der Situation ausgerichtet ist. Darin äußerst sich ein exzentrisches Selbstverständnis: Der Pilger gewinnt sich gerade, indem er sich herausfordernd selbst überschreitet. Die Dinge - und sogar seinen Körper - erfährt er als Gegenüber, zu dem er sich verhält und an dem er in der Auseinandersetzung seine Identität gewinnt. Er schärft die Grenze zwischen sich und dem Anderen seines Körpers und der Natur. Er macht sich zum Subjekt, das Anderes zu bewältigen, zu bestimmen oder zu beherrschen versucht und zum Objekt macht. In dieser Wirkmächtigkeit erfährt er sich als autonomes Subjekt. Dem entspricht auch der Transzendenzbezug. Dem eigenen Handeln als eigenständiges intentionales Wesen entsprechend berichten herausfordernde Pilger von einem personalen 311 Gamper/ Reuter 2012a, 39 mit Bezug auf Stausberg 2010, 59; Vgl. Grabe 2006, 165ff. 312 Vgl. Coelhos 1999; Vgl. Lienau 2009a, 88ff.; Vgl. Lienau 2015a, 200-207. 313 Grabe 2006, 168; Vgl. Lienau/ Scheliha 2008, 125ff.; Vgl. Lienau 2012, 209-212. 314 Bette 2004, 15ff.; Vgl. Rosenberger 2005, 47ff. u. 81ff.; Vgl. Lienau 2009b, 75ff. 315 Dies erklärt die mediale Resonanz des Pilgerns. Es wird zur Projektionsfläche kollektiver Sehnsüchte, die die Möglichkeit von Handlungsfähigkeit demonstriert, und bietet Bewältigungs- und Bewährungsgeschichten. <?page no="197"?> Gott, der einem gegenübersteht. So eröffnet Gott dem Pilger einen Freiraum der Selbstentfaltung, in dem er sich durch intentionale Aktivität verwirklicht. Neben diesem Verständnis von Natur als zu beherrschendem Objekt gibt es auch ein symbiotisches Eingehen in Natur. Dabei wird Natur angenehm empfunden, so dass man sich von ihr bereichert fühlt und sich ihr hingeben kann. Man sucht Einvernehmen und Harmonie mit der Natur, statt sie als Objekt zu bearbeiten oder zu benutzen. So kann die Vitalität und Leichtigkeit eines Schmetterlings auf den Betrachter überspringen oder der weite Blick auf eine weichgeschwungene Landschaft den Impuls wecken, sich in sie hineinzulegen. „Es kommt zu einem Gefühl von körperlicher Grenzenlosigkeit und eine Verschmelzung mit der Welt.“ 316 „Man spürt, ausgelöst durch den Weitblick, auch innere Ausweitung - gleichzeitig jedoch wird man zum kleinen Teilchen im Kosmos.“ 317 Die anhalts- und orientierungslose Weite wird zur Erfahrung eines letzten tragenden Grundes und einer umhüllenden Atmosphäre, die birgt, und der man sich vorbehaltlos hingeben kann. Indem man sich als Teil eines Lebenszusammenhangs erfährt, entsteht ein tiefes intensives Lebensgefühl. In der emotionalen Teilnahme am Dasein, Spüren des Vollzugs und Freude an der Existenz gewinnt der Pilger Authentizität und eine starke Gewissheit seiner selbst in der Welt. Solche symbiotischen Naturerfahrungen finden sich in je eigener Profilierung in der Pilgerliteratur besonders bei Carmen Rohrbach 318 , Shirley MacLaine und Lee Hoinacki 319 . MacLaine greift auf die geomantische Vorstellung zurück, dass sich im Jakobsweg kosmische Energieströme widerspiegeln, so dass sie durch unmittelbaren Kontakt zum Weg Kontakt zu allen Dimensionen des Seins gewinnt. Rohrbach sucht etwa durch Übernachtungen im Freien die Nähe zur Natur, die ihr Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Unter Aufgabe ihrer Individualität fügt sie sich in den bergenden Kreislauf des Seins ein. Für Hoinacki ist der Sinn des Pilgerns, die Welt als Schöpfung wahrzunehmen, indem er in sie an einem konkreten Ort eingeht. Er berührt und lässt sich berühren, schaut nicht auf die Dinge, sondern geht hinein in das, was er sieht, und partizipiert so empathisch an der Welt. Diese Teilnahme am Sein macht für Hoinacki Sinn, da er die Welt als Schöpfung betrachtet, also als einen sinnvoll auf ihn bezogenen Zusammenhang. Der Naturbezug aller drei Pilgerberichte zielt auf ein urteilsfreies Sich-der-Natur-Überlassen, von der Kraft, Impulse und Sinn empfangen werden. Statt die Natur zum Objekt zu machen und 316 Grabe 2006, 172. 317 Haab 1998, 158. 318 Vgl. Rohrbach 1999. 319 Vgl. Hoinacki 1997. <?page no="198"?> sich intentional gegenüber ihr zu verhalten, sucht man eine pathische Haltung, in der man sich ihr überlässt und die Subjekt-Objekt-Differenz aufheben will. Natur wird nicht als äußere Tatsache oder Material beschrieben, sondern identifizierend gleichsam von innen. Empathie ersetzt Aktivität, Nähe Distanz und Spüren Bearbeiten. Natur steht dabei für das Elementare und Wesentliche, in das man sich einbettet und so die bereits gegebene Vorfindlichkeit darin intensiviert. Die Einbindung in die umgebende Natur hängt eng mit der Körperwahrnehmung zusammen. Das Gehen verschiebt die Eigenwahrnehmung vom Bewusstsein in den Körper. Während die Gedanken abstrahieren und den Moment transzendieren, hilft der Leib, sich im Hier und Jetzt zu verorten. Die räumliche Verfasstheit des Körpers bindet in den Umgebungsraum ein. Der symbiotisch erfahrende Pilger folgt dem Körper und überlässt sich dessen Rhythmus, so dass er unmittelbare Präsenz in sich selbst findet, „ein Gefühl von ‚Geborgenheit inmitten des Unterwegsseins‘.“ 320 Insbesondere Rohrbach beschreibt, wie sich beim Verschmelzen mit der Landschaft die Konturen des Körpers verlieren und sie sich geweitet erfährt. Der Körper wird so zum Scharnier zwischen innen und außen: Er ist als Leib etwas Eigenes und lässt zugleich ein Gegenwärtigsein und tiefe Verbundenheit mit der Welt erfahren. Mit dem Schwinden der Grenze zwischen Leibraum und Umgebungsraum, Mensch und Welt schwindet entsprechend auch die zwischen Gott und Welt; beide werden als identisch erfahren und in ein Ganzes des Daseins integriert. Der Pilger ist Teil eines großen Kreislaufs des Seins, in dem er sich gut aufgehoben weiß. In diesem monistischen Weltverständnis gibt ein letzter apersonaler Grund Halt, Geborgenheit und Heimat. Symbiotisches Pilgern nutzt in spezifischer Weise die Alterität des Pilgerns. Ein pathischer Erfahrungsmodus, der im Alltag nicht so gelebt werden kann, wird im Pilgern angestrebt. Pilgern bietet dafür gute Voraussetzungen, da es eine starke Fokussierung auf den Körper wie die Natur mit sich bringt. Das Andere wird nicht als etwas Befremdendes erlebt, vor dem man sich schützen muss. Vielmehr begegnet man ihm in positiver Voreingenommenheit, so dass man sich ihm aussetzen kann. Man überlässt sich dem Körper wie der Natur, weil sie letztlich etwas Eigenes sind, der Lebenszusammenhang, zu dem man selbst gehört. Alteritätsraum ist das Pilgern mithin nur im Vergleich zum Alltag. Anders als dort kann man sich beim Pilgern dem Eigenen öffnen, findet in Körper und Natur einen Bezug dazu. Der Pilger überschreitet sich dabei nicht auf etwas Anderes, sondern überschreitet sich ins Hier und Jetzt, so dass er im Anderen aufgeht. Mit dem Pilgern als Alteritätsraum wird in den beiden dargestellten Erfahrungsmodi Autonomie und Symbiose gestaltend umgegangen. Die Pilger verstärken ihren jeweiligen Erfahrungsmodus: Die autonomieorientierten Pilger 320 Grabe 2006, 170. <?page no="199"?> forcieren ihren sportlichen Anspruch, die symbioseorientierten bemühen sich hingegen um eine pathische Haltung. Autonomie wie Symbiose ermöglichen auf je eigene Art zugleich Selbsterweiterung und Selbstvergewisserung. Selbsterweiterung geschieht als Selbstermächtigung. Der Raum des Anderen, mit dem man selbstbestimmt umgehen kann, wird durch die erfolgreiche Aktivierung des eigenen Potenzials erweitert. Oder man verbindet sich symbiotisch, so dass man sich selbst weitend im Zusammenhang des Seins aufgeht. Selbstvergewisserung erreichen Pilger entweder über gestärktes Selbstvertrauen in die eigenen Möglichkeiten oder in der Erfahrung eines tragfähigen Grundes. Symbiosewie autonomieorientiertes Pilgern verbinden somit so nach innen wie außen, sowie Alterität und Identität. In der Begegnung mit dem Anderen des Pilgerns erfahren die Pilger eine Entwicklung ihrer Identität. Der abgeschrittene Gedankengang hat in der Diskussion touristischer Reiseinterpretationen sowie ideengeschichtlicher und aktuell-empirischer Pilgerverständnisse unterschiedliche Umgangsweisen mit der Alterität des Reiseraums aufgezeigt. Dabei haben sich als zwei Pole das Bleiben im Eigenen (beim symbiotischen Typ) und die Orientierung auf ein Anderes (beim Autonomie-Typ) herausgestellt. Heutiges Pilgern realisiert das Kernmerkmal des Reisens, nämlich das Aufsuchen eines Alteritätsraums, also in zwei unterschiedlichen Erfahrungsweisen: Im auf Autonomie bedachten Zugriff auf Anderes, das darin als Objekt etwas Unterschiedenes bleibt. Und in der Symbiose mit dem Anderen, mit dem man darin eins wird und das so sein Anderssein verliert (zu irritierenden und vergewissernden Funktionen des Pilgerns für die Identität 321 ). Im letzten Schritt dieses Gedankengangs wird die Analyse des Pilgerns wieder in die beiden Perspektiven eingebracht, die sich bereits im ersten Kapitel als notwendig zum Verständnis des Tourismus erwiesen haben: Zum einen geht es soziologisch um den gesellschaftlich-kulturellen Kontext der Postmoderne, in dem Pilgern sich heute abspielt. Zum anderen geht es um den Ertrag für das tourismuswissenschaftliche Fragen nach Sinn und Zweck des Reisens als Aufsuchen von Alteritätsräumen. Wie der Tourismus ist auch das Pilgern eng auf den Alltag und mithin den gesellschaftlichen Kontext Postmoderne und den damit zusammenhängenden religionskulturellen Wandel bezogen. Zwei Aspekte der Postmoderne sind für 321 Vgl. Lienau 2009b, 81ff. <?page no="200"?> den Kontext des Reisens besonders relevant: zum einen die durch Enttraditionalisierung und Pluralisierung gesteigerte Optionenvielfalt; zum anderen das aus der Virtualisierung und Digitalisierung folgende Schwinden der Leiblichkeit. Beide laufen auf eine nachlassende Beheimatung in der Welt hinaus. Als Gegenbewegung soll der Urlaub beheimaten durch Romantisierung, Begegnung mit ursprünglicher Natur und elementarer Geselligkeit, Körperlichkeit, Selbstbezüglichkeit und Spiritualität. Der Urlaub wird vom Ausstieg zum Einstieg, dem Ankommen im Eigentlichen. 322 Pilgern wird diesem Bedarf nach Beheimatung gerecht. Es bildet zwar eine Gegenwelt zum Alltag, aber nicht als neugierige Suche nach Abwechslung, sondern als Ermöglichung einer Verortung des Pilgers in sich selbst und in der Welt. Die Verortung in sich selbst geschieht wesentlich über den Leib. Dies wird besonders deutlich im symbiotischen Pilgern: 323 Der Pilger folgt seinen Körperimpulsen und kommt so mit sich selbst in einen Gleichklang. Das Dasein im eigenen Leib vermittelt tiefe Selbstgewissheit. Im Spüren einer Einheit von „Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich“ 324 ist man sich unleugbar gegeben und seiner selbst gewiss. Diese Gewissheit geht über den eigenen Körper hinaus, so dass zur Selbstdie Weltgewissheit hinzukommt. Die leibliche Erfahrung ist wesentlich räumlich, was durch ein symbiotisch-pathisches Leibverhältnis noch einmal intensiviert wird. Der Leibraum wird als eingebunden in den Umgebungsraum gespürt, so dass die Grenzen zwischen beiden bis zum Einssein schwinden. Die Umgebung ist dann nichts Anderes mehr, sondern man geht in ihr auf. Dabei eignet sich nicht der Pilger die Umwelt an, benutzt oder bewältigt sie, sondern der Umgebungsraum nimmt den Pilger in sich auf. Atmosphären werden als transsubjektive Wirklichkeit erfahren, als etwas der subjektiven Aneignung Vorgängiges und Gegebenes. Es kommt zu Erfahrungen der Stimmigkeit, in denen innen und außen, Sinnliches wie Geistiges, Ich und Anderes synchron gehen. Diese Stimmigkeit greift als einbettende Erfahrung des Einsseins sinngenerierend über die Immanenz hinaus. Diese spirituellen Erfahrungen beim Pilgern nehmen teil an einem religionskulturellen Trend, in dem eher dualistisch geprägte christliche Weltbilder durch monistische ergänzt werden. Neben theistische Du-Erfahrungen treten pantheistische Einheits-Erfahrungen. 325 Pilgern vermittelt tiefe Erfahrungen der Selbst- und Weltgewissheit und des Sinns. Die postmoderne Suche nach Beheimatung kann hier an ihr Ziel kom- 322 Vgl. Lienau 2006, 23ff. 323 Auch der andere Typus des auf Autonomie bedachten Pilgerns kann Selbst- und Weltgewissheit bewirken. Aber das Proprium des Pilgerns tritt im symbiotischen Pilgern deutlicher zutage, sodass die folgenden Ausführungen sich darauf beschränken. 324 Schmitz 1989, 14; Vgl. Böhme 2003, 24. 325 Knoblauch 2009, 153ff. mit Verweis auf Bertelsmann-Stiftung (Hg.) (2007): Religionsmonitor 2008. Gütersloh. <?page no="201"?> men. Der (symbiotische) Pilger erfährt sich unmittelbar da und so wie er eigentlich ist. Darin wird zugleich der sich in der Suche äußernde Zwang zur Selbstverwirklichung aufgehoben. Der symbiotische Pilger muss sich nicht realisieren, sondern findet sich vor, indem er von sich und seinem Wollen absieht. Evident ist, dass sich in dieser religionskulturellen Verschiebung und in der dazu gehörenden Attraktivität des Pilgerns eine (meist als erfolgreich wahrgenommene) Bearbeitung der postmodernen Kontingenz- und Alteritäts- Überbeanspruchung zeigt. Auch Pilger reisen und sind somit Touristen. Zugleich sind sie ganz anders. Wöhler betont die Parallelen: Wer zu einer Reise aufbricht, erkennt einerseits das Gegebene nicht als einzige Möglichkeit an. Er übt seine Hoffnung auf Andersheit, sein Nicht-Abfinden und das Wissen, dass mehr möglich ist - darin wird touristisches Reisen zum Äquivalent des Pilgerns und umgekehrt. 326 Andererseits konstatiert er einen enormen Kontrast: „Hier das nahezu kontemplative, ruhige und erschwerliche Unterwegssein zu Fuß, mit einer Ankunft an einem heiligen und damit eindeutigen Ort, und dort der hedonistische, vergnügliche und die Gier nach Erleben befriedigende Tourismus, der sich in homogenen, ohne Mühe erreichbaren Orten abspielt.“ 327 Letztlich - so Wöhler - gebe es heute eine starke Vermischung von Pilgern und Tourismus. Bei der Betonung der Binnendifferenzierung der Pilger 328 bzw. der Touristen schleift Cohen 329 die Außengrenzen ab. 330 Als (impliziter) Bewertungsmaßstab erweist sich oft die schon bei Cohen angewendete Authentizitätsorientierung. Tatsächlich wird in unterschiedlichen Graden an Ernsthaftigkeit gepilgert, gerade im Zuge der durch die mediale Verbreitung insbesondere durch Kerkelings 331 Bestseller erreichten Popularisierung. Nichtsdestotrotz können alle Studien intensive Erfahrungen feststellen. Pilger beschäftigen sich mit sich selbst. Insbesondere dann, wenn sie eine spirituell-religiöse Grundhaltung aufweisen, kommt es zu alltagsrelevanten nachhaltigen Veränderungen. 332 Darum ist die Unterscheidung von Pilgern und Touristen nach wie vor tragfähig. Wesentlich für das Pilgern ist die ernsthaft-authentische Suche nach Lebensimpulsen. Das Proprium des Pilgerns gegenüber anderen Reiseformen liegt also in der - durch äußere Faktoren mitbestimmten - Haltung, mit der man reist. Diese 326 Vgl. Wöhler 2007, 38. 327 Wöhler 2007, 26; Vgl. Stausberg 2010, 13 u. 41. 328 Vgl. Wöhler 2007, 42ff.; Vgl. Gamper/ Reuter 2012b. 329 Vgl. Cohen 1984. 330 Vgl. zur Hybridisierung Stausberg 2010, 46. 331 Vgl. Kerkeling 2006. 332 Vgl. Haab 1998, 215. <?page no="202"?> Haltung lässt sich als Reaktion auf den Kontext der Postmoderne beschreiben. In dem Maß wie der Alltag selbst mobil wird, den Aufbau einer stabilen Identität erschwert und so Beheimatung in sich und in der Welt eher behindert, suchen Reisende unterwegs vermehrt nach Beheimatung. 333 Pilgern kann diese Beheimatung besonders tief und nachhaltig erfahren lassen, wie sich insbesondere am Erfahrungsmodus der Symbiose gezeigt hat. Entscheidend für das Gelingen dieses Erfahrungsmodus ist die Deutung des Erfahrenen als etwas faktisch Gegebenes, „Authentisches“ im Gegensatz zu bloßen Konstruktionen und Möglichkeiten. Viele Reiseräume sind im Gegensatz zu dieser Suche nach dem „Authentischen“ durch Virtualisierung, Ästhetisierung und Inszenierung geprägt. Unter dem Stichwort Ego statt Geo wird beschrieben, dass der subjektive Erlebniswert die objektiven Räume verdrängt. Der Post-Tourist 334 weiß um das Künstliche der Reisewelt. Tourismus stellt also eine extreme Form dessen dar, was Postmoderne als vermöglichende Konstruiertheit ausmacht. Somit kann er keine wesentlichen Gegenerfahrungen zum Alltag bieten. Dies aber kann dem Pilgern gelingen. Damit ist auch der Beitrag des Pilgerns zur tourismuswissenschaftlichen Alteritätsdebatte bezeichnet: Pilgern sucht - wie anderes Reisen auch - ein Andernorts auf. Das Proprium des Pilgerns liegt darin, dass dieses mit einem starken Geltungsanspruch auftritt bzw. so wahrgenommen wird. Dazu kommt es, wenn Pilger die Kontingenz des Ereignisses ausblenden und die Erfahrung als unmittelbar gegeben empfinden. Sie drücken damit aus, dass sie sich in einem ihnen vorgegebenen und von ihnen unabhängigen Zusammenhang vorfinden. Gerade dass sie sich rezeptiv erleben und nicht deutend einzugreifen scheinen, verbürgt Realitätsgehalt und Verlässlichkeit des Erfahrenen, es kommt zu unmittelbarkeitsgrundierter Gewissheit. Diese Welthaltigkeit bzw. ‚Aura der Faktizität‘ (Clifford Geertz) ist ein wesentliches Element religiöser Erfahrung. So kommt es zu tiefen und elementaren Gefühlen der Selbstvertrautheit. Die Pilger gewinnen sich selbst, indem sie sich durch etwas Vorgängiges empfangen, in dem sie gegründet sind. Dieses Gehalten- und Gegründetsein eröffnet ihnen ein Sinnvertrauen, dass sie Ich und meine Welt sagen lässt. Weil der Reiseraum des Pilgerns mit einem starken Sinn verbürgenden Geltungsanspruch auftritt, öffnen sich die Pilger und wechseln in einen Erfahrungsmodus der Unmittelbarkeit. Pilgern erweitert so die Frage nach Alterität und Identität um eine weitere Option. Es ist weder folgenlose Auszeit, noch fügt es einer fortdauernden Kette eines immer Anderen nur weitere Punkte hinzu. Das Pilgern als dritte Option lässt sich verstehen als ein Einfinden in die eigene, im Alltag unsicher gewordene Identität. Diese wird vergewissert und zugleich weiterentwickelt. Die immense Popularität des Pilgerns verweist nicht nur auf einen aktuellen Bedarf an solcher Identitätsvergewisserung und -entwicklung. Sie zeigt auch, 333 Vgl. Lienau 2006; Vgl. Lienau 2009b. 334 Vgl. Feifer 1985. <?page no="203"?> dass Pilgern dem Reisenden gerecht wird. Das ist für religiöse und auch touristische Anbieter interessant. 335 Sie können hier neue Märkte erschließen, die vermutlich im Zuge einer zunehmenden Wirksamkeit postmoderner Identitätsirritation wachsen werden. Allerdings darf ein Aspekt nicht übersehen werden, der für Erfahrungen beim Pilgern wesentlich ist: dass das, was hinter der Erfahrung steht, als an sich und faktisch gegeben erscheint. Entscheidend dafür ist der Geltungsanspruch des Weges, der wiederum Erwartungshaltung und Verhalten der Pilger prägt. Traditionelle religiös geprägte Pilgerwege treten mit einem Sinnversprechen auf, dass hier ein Lebensgrund in besonderer Weise präsent ist. Der Jakobsweg weist eine immens dichte symbolische Atmosphäre auf: Überall wird man als Pilger angesprochen, begegnen Sakralbauten und Wegkreuze, Legenden und aktuelle Symbole. Selbst wenn nicht mehr alles anknüpfungsfähig ist, so suggerieren geschichtliche Verwurzelung wie aktuelle Lebendigkeit dem Pilger, dass hier subjektiv Bedeutsames zu finden ist. Die Stärke dieses Symbolrepertoires ist es, dass es an präsente Erfahrungen beim Pilgern anknüpft und zugleich grundlegende Fragen menschlicher Existenz thematisiert: Begrenztheit und Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Sozialität, Geschöpflichkeit und Selbstreflexivität. Dass die Pilger ein Sensorium für den Wert des Anspruchs auf Geltung und Verlässlichkeit haben, ist auch daran abzulesen, dass die so geprägten und durch geschichtliche Erfahrungen beglaubigten Wege besonders frequentiert werden. Neu installierte Pilgerangebote - insbesondere wenn sie nicht von Sinnanbietern wie den Kirchen stammen - können nicht mit diesem Geltungsanspruch auftreten. Ihnen ist eingeschrieben, dass sie allein oder zumindest primär aus touristischen Gründen entstanden sind. Das lässt sie konstruiert und rein instrumentell erscheinen. Sicherlich vermögen sie bei guter Gestaltung intensive Erfahrungen zu evozieren. Sind sie aber nicht auf einen letzten Seinsgrund und einen darin wurzelnden Anspruch von Faktizität bezogen und bleiben so ästhetische Erfahrungen, die sich gewissermaßen in die postmoderne Kette aufeinanderfolgender Einzelereignisse einfügen. In religiöser Deutung aber, also mit dem Anspruch auf Faktizität, kann das gleiche Ereignis dem Leben einen Grund zuweisen. Dann nehmen Pilger ein Ereignis nicht nur als interessant und beeindruckend wahr, sondern als etwas, das Gültigkeit und Verlässlichkeit verbürgt. Die tourismuswissenschaftliche Frage nach der Relevanz des konkreten Reiseraums gewinnt darin einen neuen Aspekt. Gewöhnlich wird darauf abgehoben, dass das Ego das Geo verdrängt, dass also der gegebene Reiseraum an Gewicht verloren hat gegenüber dem Erlebnis, das dort möglich ist. 336 Richtig an dieser Einschätzung ist die Betonung der Subjektivierung: Es geht um den eigenen Zugang, die selbst gemachte Erfahrung. Allerdings begegnet im Pilgern eine 335 Vgl. Lienau 2012. 336 Vgl. Wöhler 2011. <?page no="204"?> Form von Subjektivierung, die wesentlich an den Gegenstand des Reiseraums gebunden ist. Das reisende Subjekt öffnet und überlässt sich den Kräften des Reiseraums Pilgerweg. Dieser ist zwar auch inszeniert, also Produkt kultureller Gestaltung. Aber er verspricht, dass es nicht um bloße ästhetische Ereignisproduktion geht, sondern um das Erfahrbarmachen eines allem menschlichen Handeln zuvorkommenden und unverfügbaren letzten Grundes. Der Reisende präpariert sich geistig und körperlich so, dass er sich empfangend in diese Atmosphären hineinstellt. Ob und wie sich an einem solchen Reisen ein Tourismussystem beteiligen kann, das wesentlich auf Vermarktbarkeit und Erlebnisproduktion ausgerichtet ist, ist jedoch mehr als fraglich. Ahlers, N. (2000): Perspektiven einer post-modernen Philosophie des Reisens. In: Bildung und Erziehung, 53, 455-467. Bauman, Z. (1997): Flaneure, Spieler und Touristen: Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg. Bauman, Z. (1994): Vom Pilger zum Touristen. In: Das Argument, 205. 389-408. Bette, K.-H. (2004): X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports. Bielefeld. Böhme, G. (2003): Leibsein als Aufgabe: Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht. Zug. Brämer, R. (2009): Spirituelles Wandern. Eine aufschlussreiche Pilgerstudie und was ihr entgangen ist. [online] Verfügbar unter: www.wanderforschung.de/ files/ wanpilspecht_1408031852.pdf [Letzter Zugriff 07.02.2017]. Coelhos, P. 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Wer darf Segen spenden? : Auch Kirchenprofis sind sich manchmal unsicher, Ehrenamtliche erst recht. <?page no="208"?> Der Segen ist ein wichtiger Bestandteil in der Ausbildung von Ehrenamtlichen am Pilgerweg, denn ein Pilgersegen wird häufig erbeten. Zu den Bildungsangeboten im Zusammenhang mit dem Pilgern komme ich später zu sprechen. Zunächst jedoch gebe ich eine kurze Darstellung des Pilgerweges Loccum- Volkenroda, seiner Entstehung und Entwicklung. Dieser Weg und die Angebote auf ihm dienen als Beispiel für Erfahrungen, die sicher auch auf anderen Wegen gewonnen werden können. Seit mehr als zehn Jahren ist der Pilgerweg Loccum-Volkenroda gut erschlossen und organisiert. Manches für einen Pilgerweg Typische lässt sich hier besonders gut beobachten, vieles ist bereits dokumentiert. Das vielfältige ehrenamtliche Engagement an diesem und auch an anderen Pilgerwegen wird ebenfalls in den Blick genommen. Die Aus- und Fortbildung sowie die Begleitung und Beratung der ehrenamtlichen Pilgerengagierten ist ein umfangreiches, aber sehr wesentliches Aufgabenfeld. Aber auch für hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter ist das Thema Pilgern fortbildungsrelevant und wird in Pastoralkollegs und Pilgertagungen gut nachgefragt. Im Bereich der Hannoverschen Landeskirche gibt es inzwischen viele Pilgerwege, regionale, kirchengemeindliche, Stadtpilgerwege und Jakobswege. So ist z. B. der Stadtpilgerweg in Osnabrück in einer guten Kooperation zwischen dem evangelisch-lutherischen Kirchenkreis und dem Stadtmarketing entstanden. Alle Konfessionen und die Touristeninformation vertreiben den inzwischen in drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Niederländisch) erschienenen Stadtpilgerwegsführer. Und es gibt ehrenamtliche Pilgerbegleiter durch die Stadt. Etwas genauer stelle ich den regionalen Pilgerweg von Loccum in Niedersachsen nach Volkenroda in Thüringen dar. Er befindet sich in der Trägerschaft der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Dreihundert Kilometer Weg verbinden die beiden ehemaligen Zisterzienserklöster, Volkenroda, das Mutterkloster, und Loccum, das Tochterkloster. Nach der Expo2000 war der Christuspavillion vom Expogelände in Hannover nach Volkenroda versetzt worden. Der damalige Hannoversche Landesbischof Horst Hirschler, Abt zu Loccum, hatte sich maßgeblich dafür eingesetzt und Sponsoren geworben. Dadurch war eine neue Verbindung zwischen Mutter- und Tochterkloster hergestellt worden. Jugendliche vom Jugendbildungszentrum Volkenroda waren mit ihrem pädagogischen Leiter Friedemann Felger auf die Idee gekommen, sich nach Loccum zu Fuß auf den Weg zu machen. So fanden sie einen Weg, der nicht historisch ist, aber den alten Spuren der Mönche folgt, die sich 1163 von Volkenroda aus Richtung Nordwesten auf den Weg gemacht hatten. Sie nannten ihn Jodokusweg, nach einem im Vergleich zu Jakobus etwas weniger <?page no="209"?> bekannten Pilgerheiligen. Er sollte besonders für Jugendliche ökologische und geistliche Erfahrungen ermöglichen. Der Journalist Jens Gundlach hat diesen Weg dann publizistisch bekannt gemacht. Der Weg führt über die ehemalige innerdeutsche Grenze, er durchquert sehr unterschiedliche Landschaften sowie konfessionell und kulturgeschichtlich unterschiedlich geprägte Gebiete. Das macht ihn interessant und abwechslungsreich. Die Doppelskulptur „Anfang und Ende“ von Karl Imfeld soll die Verbundenheit zwischen den Klöstern durch den Weg, zwischen Ost und West, unterstreichen. Die eine Hälfte des geteilten Kreises auf sieben Säulen steht in Loccum am Beginn des Weges, die andere Hälfte in Volkenroda; und sie sind aufeinander ausgerichtet. Auch wenn der Pilgerweg Loccum-Volkenroda durch vier Landeskirchen führt (Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers; Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe; Evangelische Kirche von Kurhessen- Waldeck; Evangelische Kirche in Mitteldeutschland) hat die Evangelischlutherische Landeskirche Hannovers ihn entwickelt und 2005 die gesamte Trägerschaft für diesen Pilgerweg übernommen. Seitdem liegt die laufende Organisation und weitere Entwicklung beim Arbeitsfeld „Kirche im Tourismus“ im Haus kirchlicher Dienste in Hannover. Zur Organisation des Weges gehören die Wegmarkierung, GPS-Erfassung, Homepage mit Pilgerwegs-Navigator, Wanderführer, Unterkunftsverzeichnis, verlässliche Angebote in Kirchengemeinden, Pilgerpässe, Pilgerstempel und vieles mehr. Auch für Fahrradpilger ist dieser Weg erschlossen, zum Teil mit Alternativstrecken. Als Wegmarke dient das stilisierte Radkreuz, das als Weihekreuz an der Torkapelle in Loccum angebracht ist. Das zisterziensische Motto: „porta patet, cor magis“ (Das Tor steht offen, das Herz noch mehr) ist auch für die Kirchen, Klöster und Stifte am Pilgerweg zwischen den beiden Zisterzienserklöstern eine wichtige Maxime. Manche empfinden die Organisation als zu umfassend für einen Pilgerweg. Doch für viele Menschen ist dieser verlässlich gut organisierte Weg quasi vor der Haustür zum Einstieg ins Pilgern sehr hilfreich. Die äußere Struktur ermöglicht, dass man sich ganz auf die eigenen Wahrnehmungen und die Meditation konzentrieren kann, weil man nicht ständig mit der äußeren Wegfindung, dem Karte lesen, den Sorgen um Essen und Schlafen verbringt. Allerdings können Probleme mit der Grundversorgung natürlich auch zu einem wesentlichen Erlebnis beim Pilgern werden. Auch inhaltlich wird das Pilgern weiterentwickelt und durchdacht. Dazu gehört die theologische Reflektion des Pilgerns, die Durchführung von Tagungen, Veröffentlichungen, Erstellen von Arbeitshilfen sowie Aus- und Fortbildungsveranstaltungen. Loccum-Volkenroda gehört zu den ersten und wenigen Pilgerwegen in landeskirchlicher Trägerschaft und ist mit seiner - zum Teil auch stellenmäßig abgesicherten - Organisationsstruktur beispielhaft für viele andere Wege geworden. Jährlich werden ca. 3.300 Pilgerpässe ausgegeben. Die Zahl steigt nach wie vor jedes Jahr weiter an. Dies ist zudem nur ein Näherungswert für die Zahl derer, die wirklich diesen Weg nutzen, darunter auch Jugendliche, <?page no="210"?> Familien, Senioren, kirchliche und nichtkirchliche Gruppen, Vereine. In den Pilgerpässen liegen weiterhin Rückmeldekarten, die von den Pilgern überwiegend genutzt werden, um für den Weg und die Angebote zu danken. Die Kooperation mit Tourismusverbänden auf verschiedenen Ebenen ist eingespielt. Denn Pilger sind ein Wirtschaftsfaktor gerade in den ländlichen Regionen, durch die der Weg verläuft. So wird der Pilgerweg auch als Kooperationspartner geschätzt bei regionalen Ereignissen, Festen und Planungen. Ehrenamtliche bringen sich mit vielfältigen Beiträgen für den Pilgerweg Loccum- Volkenroda ein. Hin und wieder entsteht eine Konkurrenzsituation, weil sowohl die Kirchengemeinden vor Ort als auch übergemeindliche, gesamtkirchliche Einrichtungen um die Ehrenamtlichen werben. Die Koordination für den gesamten Pilgerweg liegt beim Haus kirchlicher Dienste in Hannover. Viele Ehrenamtliche sind dadurch überregional eingebunden, aber meist lokal aktiv. Der Pilgerweg Loccum-Volkenroda verläuft durch ca. einhundert Kirchengemeinden und führt an mehreren Klöstern und Stiften vorbei. Als damit begonnen wurde, den Weg offiziell auszuweisen, standen manche Kirchenvorstände und Hauptamtliche dem Weg Loccum-Volkenroda zunächst ablehnend gegenüber. Sie bekamen, ohne dass sie vorher um Zustimmung gebeten worden waren, durch den neuen Weg - zusätzlich zu ihren ohnehin mehr werdenden gemeindlichen Aufgaben - auch noch die Verantwortung für einen Abschnitt des Pilgerweges und die Betreuung der entsprechenden Pilger. Inzwischen haben die Kirchengemeinden und ihre Mitarbeiter und Mitglieder gemerkt, dass das Pilgern neues Leben in den Ort, aber auch in ihre Kirchengemeinde bringt. Es aktiviert Ehrenamtliche, die sich bisher nicht eingebracht haben, aber sich nun wegen genau dieses Themas „Pilgern“ einbringen, dazu gehören - in kirchlichen Zusammenhängen auffällig - viele Männer und junge Leute. Es belebt die Kirchengemeinde, wenn Pilger vorbeikommen, die die Gastfreundschaft genießen, die Schönheit der Kirche loben, dankbar sind für kleine Zeichen der Aufmerksamkeit, wie ein Glas Wasser. Viele Kirchen wurden im Zusammenhang mit dem Pilgerweg verlässlich geöffnet. Mittlerweile gibt es ein Signet „verlässlich geöffnete Pilgerkirche“. Dafür müssen die Kirchen und ihre Ausstattung bestimmte Standards erfüllen. Es hat sich gezeigt, dass Pilgern ein positiv besetztes Thema ist, das Gemeinden und Regionen verbindet, auch konfessions-, ja religionsübergreifend. Der Pilgerweg Loccum-Volkenroda verbindet das katholische Eichsfeld mit überwiegend evangelischen Regionen in Südniedersachsen, aber auch entkirchlichte Gegenden sind dem Pilgerweg gegenüber aufgeschlossen. Ehrenamtliche engagieren sich bei vielfältigen Aufgaben am Pilgerweg Loccum-Volkenroda. Der Standard ist ungewöhnlich hoch. Der Weg ist in sechs Regionen unterteilt. <?page no="211"?> Manche Aufgaben werden gemeindlich wahrgenommen, manche regional, manche zentral von Hannover aus. Insgesamt sind etwa 160 Ehrenamtliche offiziell beauftragt, aber auch viele weitere aktiv am Pilgerweg Loccum- Volkenroda: 40 PilgerbegleiterInnen, 24 regionale Wegewarte und Regionalbeauftragte und deren Stellvertreter, 60 gemeindliche Pilgerbeauftragte und 30 gemeindliche Wegewarte. Folgende Aufgaben werden von Ehrenamtlichen entsprechend ihrer Verantwortung wahrgenommen: Wegewarte (gemeindliche, regionale) sorgen für die Ausschilderung des Weges. Im Frühjahr gehen sie die Strecke, für die sie Verantwortung übernommen haben, ab, überprüfen die Wegmarkierung und erneuern sie, wenn Schilder abhandengekommen oder nicht mehr erkennbar sind. Sie melden lokale Streckensperrungen weiter, damit die auf der Homepage bekannt gemacht werden können. Kirchenöffner sorgen dafür, dass die Kirche verlässlich geöffnet ist, oder haben den Schlüssel und geben ihn auf Wunsch an Pilger heraus. Ihre Adresse oder Handynummer ist im Schaukasten der Kirchengemeinde zu finden. Sie haben einen Blick darauf, dass der Pilgerstempel mit Stempelkissen bereitliegt, dass Wasserflaschen und Becher vorhanden sind, sowie Kerzen zum Anzünden und das Gästebuch. Weitere verlässliche Angebote der Kirchengemeinden sind im Schaukasten mit den entsprechenden Verantwortlichen vermerkt. Auch im Pilgerwegnavigator kann man sie bei der Vorbereitung finden. In manchen Kirchengemeinden, Kirchen und Klöstern sind Pilgerherbergen eingerichtet worden, in denen eine sehr günstige einfache Übernachtung möglich ist. Pilgerherbergsbetreuer sorgen dafür, dass die Herbergen in Ordnung gehalten werden. Sie nehmen Anmeldungen entgegen, verwalten die Schlüssel und die Abrechnung, sorgen - je nach Ausstattung - eventuell für Bettwäsche und Handtücher und andere Versorgung. Einen Pilgersegen erbitten Pilger oft morgens, bevor sie aufbrechen. Oft sind die Herbergsbetreuer dafür ansprechbar, sonst auch andere Ehrenamtliche, deren Kontaktdaten dem Pilgerwegnavigator oder dem Schaukasten vor Ort entnommen werden können. Pilgerbegleiter haben eine Ausbildung mit Zertifikat absolviert, die sie dazu befähigt und berechtigt, Gruppen und Einzelne auf Pilgerwegen zu begleiten. Sie verfügen über Wegkenntnisse und können inhaltlich einen oder mehrere Pilgertage gestalten. Öffentlichkeitsarbeit für das Pilgern und den Pilgerweg geschieht oft vor Ort in Kooperation mit der lokalen Presse. Bei touristischen Messen und Kirchentagen wird an einem Stand über den Pilgerweg und die Pilgerangebote informiert. Als Ansprechpartner gibt es in den sechs Regionen des Pilgerweges und in den Gemeinden am Weg Pilgerwegsbeauftragte. Es gibt außerdem sieben Ausgabestellen für den Pilgerpass. <?page no="212"?> Für die Ehrenamtlichen muss sich ihr Engagement lohnen. Das empfinden auch viele Ehrenamtliche am Pilgerweg Loccum-Volkenroda so. Sie erleben die Vernetzung und die Austauschmöglichkeit mit anderen Pilgerinteressierten als bereichernd, sie können Fortbildungsangebote nutzen sowie Beratung und technische Hilfe in Anspruch nehmen. Folgende Veranstaltungen werden zentral vom Haus kirchlicher Dienste für die am Weg Loccum-Volkenroda Engagierten angeboten. Ein Treffen im Jahr für die Regionalbeauftragten, eins für die regionalen Wegewarte sowie alle zwei Jahre ein Wochenende für alle. Für die Pilgerbegleiter gibt es ein Wochenende als Jahrestagung sowie das Angebot von zwei Fortbildungswochenenden pro Jahr und einen Begegnungstag, meistens als Saisonauftakt. Regelmäßig wird vom Arbeitsbereich im Haus kirchlicher Dienste die Pilgerarbeit am Pilgerweg Loccum-Volkenroda evaluiert, werden die Regionen besucht, werden die verlässlichen Angebote der Kirchengemeinden am Weg abgefragt, Homepage, Flyer, Übernachtungsverzeichnisse aktualisiert. Ehrenamtliche sind immer die erste Zielgruppe für kirchliche Angebote, bevor sie dann ihrerseits andere Menschen ansprechen. Im Bereich des Pilgerns engagieren sich oft Ehrenamtliche, die selbst mit dem Pilgern wesentliche Erfahrungen für sich gemacht haben. Die Aus- und Fortbildungsangebote nehmen sie zunächst für sich selbst wahr als Möglichkeit der Reflektion, Vertiefung und Systematisierung ihrer Erfahrungen sowie zum Austausch und zur Vernetzung mit anderen Gleichgesinnten. Anhand der Ausbildung von ehrenamtlichen Pilgerbegleitern lässt sich verdeutlichen, um welche wichtigen und vielfältigen Kompetenzen und Anforderungen (kirchlich, touristisch, psychologisch/ seelsorgerisch) es im Bereich Pilgern für Ehrenamtliche gehen kann. Diese Ausbildung wird in der Hannoverschen Landeskirche vom Haus kirchlicher Dienste alle zwei Jahre durchgeführt. In insgesamt 120 Ausbildungsstunden wird das Curriculum vermittelt: fünf Seminarwochenenden (je ca. 12 Std. = 60 Std.) eine ganztägige Veranstaltung (ca. 8 Std.) Praktikumsphase (ca. 15 Std.) Projektphase (ca. 15 Std.) Prüfungsphase (ca. 16 Std.) Auswertungswochenende mit Segen und Beauftragung (ca. 6 Std.). Für die Pilgerprüfung wird ein schriftlicher Entwurf eingereicht sowie ein Pilgertag durchgeführt. Die Kursteilnehmer erhalten nach bestandener Pilgerprüfung <?page no="213"?> ein Zertifikat. Sie sollen dann mindestens zwei Pilgerangebote im Jahr auf dem Pilgerweg Loccum-Volkenroda anbieten. Es gibt in der Ausbildung auch Kooperationen mit anderen Landeskirchen, für deren Mitglieder auch andere Regelungen vereinbart werden. Die Ausbildung hat zwei große Schwerpunkte: die äußere Organisation eines Pilgerangebotes und die inhaltliche Füllung. Sie lernen also, den von ihnen betreuten Pilgern sowohl einen äußeren als auch einen inneren Pilgerweg zu eröffnen. In der Ausbildung ehrenamtlicher Pilgerbegleiter werden grundlegende Kenntnisse vermittelt, um einen oder mehrere Pilgertage vorzubereiten und durchzuführen. Das Angebot muss geplant, beschrieben, beworben, veröffentlicht, Kosten kalkuliert und abgerechnet werden. Zu klären sind Fragen wie der Rücktransport der Pilger vom Ziel zurück zum Startpunkt, Rastmöglichkeiten unterwegs, Absprachen mit Kirchengemeinden etwa wegen der Kirchen- oder Toilettennutzung, bei mehrtägigen Touren Nachtquartiere. Die Wegführung wird festgelegt, Gehzeiten und Pausen, Stationen für Impulse. Einige (kirchen-)rechtliche Themen sind gut zu wissen, Versicherungs- und Haftungsfragen, Verhalten in Notfällen. Auch soll eine Bescheinigung über die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs vorliegen. PilgerbegleiterInnen lernen, aufmerksam auf die Gruppe zu sein, vor einer Gruppe zu stehen und zu sprechen, die Gruppendynamik im Blick zu behalten. Sie sind nicht für Seelsorgegespräche ausgebildet, bekommen aber etwas Handwerkszeug in Gesprächsführung mit, um mit seelsorgerlich kritischen Situationen umgehen zu können. Pilger, die in einer Gruppe gemeinsam unterwegs sind, unterstützen sich aber auch gegenseitig in vielen Belangen. Es ist also nicht nur die Leitung der Pilgertour gefragt. Die ganze Gruppe teilt Grenzerfahrungen, die Mitpilger helfen sich gegenseitig bei Notfällen, motivieren sich bei Erschöpfung, geben sich Rat. Sie können sich auch gegenseitig zu Seelsorgern werden oder zu geistlichen Begleitern. Das geschieht auch ganz ohne spezielle Ausbildung. In dieser Hinsicht wird Ehrenamtlichkeit ohne Ausbildung, Zertifikat oder kirchenamtliche Beauftragung praktiziert. Pilger sind oft kirchenfern, aber spirituell interessiert. So verhält es sich auch bei manchen ehrenamtlichen Pilgerbegleitern. Einige Begleiter sind eher Wanderer und haben ihre Stärke darin, Wege zu organisieren, zu finden und zu <?page no="214"?> führen. Andere sind erfahren oder interessiert an Inhalten und Methoden, an Theologie. Die meisten haben beide Begabungen. Wer stärker eine Seite ausfüllt, tut sich in der Leitung meist mit einem Partner zusammen, der den anderen Bereich abdeckt. Begleitete Pilgertouren werden im Namen der Hannoverschen Landeskirche angeboten. Das bedeutet, es sind bestimmte inhaltliche Ansprüche an das Programm eines Pilgertages geknüpft. Auch die TeilnehmerInnen haben bestimmte Erwartungen, wenn sie sich zu einem Pilgerangebot der Kirche anmelden, zumindest nehmen sie dann in Kauf, dass sie mit bestimmten Inhalten konfrontiert werden. So gibt es einen großen zweiten Bereich in der Ausbildung der ehrenamtlichen Pilgerbegleiter, der sich auf die Inhalte und inhaltlich begründete Methoden bezieht, Segnen zum Beispiel. Ein Pilgertag ist in der Regel durch kleine Andachten strukturiert. Zu Beginn am Treffpunkt, meist in einer Kirche, mittags vor der Rast eine Mittagsandacht und abends als Tagesabschluss. Besonders Lieder anzustimmen und zu beten, fällt vielen nicht leicht. Dies kann aber während des Kurses geübt werden. Die TeilnehmerInnen gewinnen dabei zunehmend an Sicherheit. Eine Gruppe zum Beten anzuleiten und Gebete zu sprechen, ist nicht einfach. Kurze und freie Gebete reichen aus und sind meist sehr viel wirkungsvoller als ein abgelesener längerer Text. Liturgisch geprägte Texte bieten sich für die Anfangs- und Schlussandacht und für das Mittagsgebet an. Im Pilgerpass des Pilgerweges Loccum-Volkenroda sind auch schon Texte und Lieder für die drei Tageszeiten abgedruckt. Begleiter üben sich darin, biblische Texte und Glaubensthemen so aufzubereiten, dass sie damit einen oder mehrere Pilgertage inhaltlich gestalten können. Oft sind es existenzielle Themen, biographische Fragen, z. B. „Mein Weg zum Glauben“. Die biographische Vertiefung ist in der Ausbildung ein zentrales Thema. Hier kommen die Ehrenamtlichen zunächst ihrer eigenen Motivation für das Ehrenamt und das Pilgern auf die Spur, entdecken Stärken und wo ihr <?page no="215"?> Herz schlägt. Dies fließt dann in die Impulse ein, die sie an die TeilnehmerInnen ihrer Pilgerangebote weitergeben. Die tiefsten Erfahrungen machen Pilger im Schweigen. In einer Gruppe ist das Schweigen besonders intensiv und getragen. Manche sagen, wenn ich allein bin, rede ich ja auch nicht. Aber Schweigen ist mehr als nicht reden. Deshalb haben manche Begleiter zunächst eine Scheu davor, die Gruppe ins Schweigen zu entlassen und auch, sie dann wieder herauszuholen - Letzteres gelingt gut mit einem Lied. Im Nachhinein zeigt sich oft, dass die Schweigephase die stärkste Erfahrung des ganzen Pilgertages war. Nun komme ich zu einem der schwierigen Aufgaben für Laien, dem Segnen. Viele meinen, dass nur Hauptamtliche oder Ordinierte segnen dürften. Segnen darf jeder Christ, jeder Getaufte. Auch wirkt Gottes Segen nicht nur durch korrekte Gesten und Worte. Aber beides zu üben hilft, damit die Segnenden sich sicher fühlen und die Gesegneten das annehmen können. Segenssprüche gibt es viele - Irische zumal. Handauflegung auf den Kopf und Kreuzzeichen auf die Stirn oder in die Hand sind passend, aber für manche Segnenden und Empfangenden zu stark. Sie können sich über eine beiden Beteiligten angenehme Form verständigen. Eine Hilfe ist das Segensbändchen, das die Pilgerbegleiter gern den Pilgern mit dem Pilgersegen umbinden. Oft fließen beim Segen Tränen. Das erleben manche Pilger als eine befreiende positive Erfahrung. Sie fühlen sich berührt, angenommen, verbunden und begleitet von Gott. Der Pilgersegen ist ein sehr wichtiges Element in der Pilgerbegleitung. Er hat eine lange Tradition und ist aktuell, auch wenn heute die Pilgerwege nicht mehr so gefährlich sind wie im Mittelalter. Der Pilgersegen sagt Gottes Begleitung und Behütung für den Pilgerweg zu. Der Pilgerweg ist immer auch ein Bild für den Lebensweg. So wird der Pilgersegen auch als Segen für das ganze Leben gehört und empfangen. Pilgern ist ein vielseitiges Feld für ehrenamtliches Engagement. Es ist ein Gebiet kirchlicher Aktivität, auf dem freiwillige Zielgruppen angesprochen werden, die sonst weniger in kirchlichen Zusammenhängen engagiert sind. Pilgern überschreitet Grenzen, wortwörtlich Landesgrenzen, aber auch im übertragenen Sinn. Pilgern überschreitet manchmal die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit sowie zwischenmenschliche Grenzen. Es verbindet Generationen, Regionen, Konfessionen, Geschlechter, Milieus. <?page no="216"?> Pilgern ist eine Methode, die mit vielen sehr unterschiedlichen Gästegruppen, in einer Gemeinde und außerhalb praktiziert werden kann. Verschiedene Anliegen können dabei bewegt werden. Es ist eine Methode, mit der sich geistliche und seelsorgerliche Aus- und Fortbildung von Ehrenamtlichen gut verbinden lässt. Pilgern lässt die körperliche Dimension von Glaubensvollzügen zu ihrem Recht kommen. Das spricht eine spezielle Sorte von Spiritualität an, die sonst bei kirchlichen Angeboten oft zu kurz kommt. Mit Pilgern lassen sich vielfältige Formen spiritueller Übungen verbinden, wie Singen, Schweigen, Zweiergespräch. Es kann eine gemeinde- oder kirchenentwickelnde Wirkung haben. Pilger, die gemeinsam auf dem Weg sind, können zu einer Gemeinde auf dem Weg werden und eine Gemeinde auf Zeit bilden. Sie sind für eine bestimmte Zeit eine enge Gemeinschaft, die besonders intensiv verbunden ist, auch geistlich. Sie brauchen wenig organisatorische Unterstützung, nehmen sie aber gerne in Anspruch, wenn sie angeboten wird, wie auf dem Pilgerweg Loccum- Volkenroda. In einer Organisationsstruktur wie diesem landeskirchlich getragenen Pilgerweg bedarf der hohe Grad ehrenamtlichen Engagements in unterschiedlichen Aufgabenbereichen dann auch der intensiven hauptamtlichen Begleitung. Kirchengebäude am Pilgerweg werden neu als Rastplätze für die Seele und für den Körper wahrgenommen. Auch die Gemeinden vor Ort entwickeln durch die Pilger ein neues Verhältnis zu ihrer Kirche. Sie erkennen den Wert von Gastfreundschaft für alle, die nicht zur Kerngemeinde gehören. Sie werden motiviert durch die Dankbarkeit der Gäste, durch deren Interesse am Gebäude und den Menschen, die sich darin versammeln. Durchziehende Pilger und sesshafte Ortsgemeinde können einander zum Segen werden. Gemeindekirche und Pilgerkirche befruchten und durchdringen sich, werden eine Kirche. Loccumer Pilgersegen: Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist segne und behüte dich. Er geleite dich auf deinen Wegen. Er befreie dich in deinen Nöten. Er erfülle dich mit seinem Geist. Sein heiliger Engel führe dich zum Ziel in Zeit und Ewigkeit. Amen. <?page no="217"?> Arndt-Sandrock, G. (Hg.) (2010): Aufbruch - Veränderung - Verortung. Fünf Jahre Pilgerweg Loccum-Volkenroda. Loccum. (= Loccumer Protokolle 55/ 09) Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover (o. J.): Offene Kirchen. [online] Verfügbar unter: www.kirchliche-dienste.de/ projektsites/ offene-kirchen-de/ service-unddownload Goldenstein, J. (Hg.) (2013): Den Fußspuren Gottes folgen, Beiträge einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum über Pilgern, Gesundheit und Heil. Frankfurt. (= epd-Dokumentation Nr. 46, 12. November 2013) Gundlach, J. (2007): Zwischen Loccum und Volkenroda. Hannover. Haus kirchlicher Dienste (Hg.) (o. J.): BeWEGt! Pilgern mit Jugendlichen. Hannover. Haus kirchlicher Dienste (o. J.): Pilgerweg Loccum-Volkenroda. [online] Verfügbar unter: www.loccum-volkenroda.de Hirschler, H./ Selmayr, M. (2007): Loccumer Wegbegleiter. München. Kässmann, M. (Hg.) (2007): Mit Leib und Seele auf dem Weg. Hannover. Landeskirchenamt der evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover (o. J.): Pilgerweg Loccum-Vokenroda. Ein neuer Weg auf alten Spuren. [online] Verfügbar unter: www.pilgerweg-navigator.de Laube, M. (Hg.) (2007): Pilgerweg Loccum Volkenroda zwischen Kirche, Kultur und Tourismus. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Leitbild. Loccum. (= Loccumer Protokolle 29/ 07) LGN und Haus kirchlicher Dienste (Hg.) (2010): Wanderführer Pilgerweg Loccum- Volkenroda. Ueberschär, E. (Hg.) (2005): Pilgerschritte. Neue Spiritualität auf uralten Wegen. Loccum. (= Loccumer Protokolle 02/ 05) <?page no="219"?> Pilgern auf dem Lutherweg - das klingt wie ein touristisches Programm. Doch es gibt darüber hinaus eine weitere Perspektive - die geistliche Besinnung und die Reflexion der eigenen Frömmigkeit. Neben diesem religionspädagogischen Ansatz tritt die Frage der Vereinbarkeit von protestantischer Theologie, lutherischer Provenienz und Wallfahren. In Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 wurde mit Unterstützung auch der Evangelischen Kirche ein Lutherweg ins Leben gerufen, der im Dezember 2008 in Sachsen-Anhalt eröffnet wurde. Inzwischen erstreckt sich das Wegenetz über sechs Bundesländer und eine Gesamtlänge von ungefähr 2.500 km. Der Aufsatz beschreibt das scheinbar homogene Phänomen des Pilgerns als eines, hinter dem sich doch verschiedene Bedeutungen, Funktionen und Strukturen verbergen, und er beleuchtet einige kirchlich-theologische Stellungnahmen dazu. <?page no="220"?> Lutherweg - das klingt wie ein touristisches Programm. Tatsächlich findet man, gibt man „Luther“ und „Reise“ und vielleicht auch noch „Urlaub“ in eine digitale Suchmaschine ein, recht bald allerlei, zum Teil auch etwas befremdliche Angebote: Auf Luthers Spuren ein schönes Wochenende mit Candle-Light Dinner, Strohsackschlafen und Mittelaltermenü. Das ist der eine, der touristische Aspekt, den man nicht unterschätzen sollte. Doch das Pilgern auf dem Lutherweg hat noch eine andere Ausrichtung und Motivation: die geistliche Besinnung und die Reflexion der eigenen Frömmigkeit. Wie steht es um mich und mein Verhältnis zu Gott? Als evangelischer Christ, dem Pilgern von Hause aus eher fremd ist, weil es mit der reformatorischen Theologie (angeblich) nicht vereinbar sei, ist hilfreich zu fragen: Wie stand Martin Luther zum Pilgern und was meint eigentlich Reformation? ; Warum gibt es Luther(pilger)wege in Deutschland und wie qualifizieren verlässlich geöffnete Kirchen den Lutherweg? ; Gibt es eine evangelische Pilgerperspektive? Diese Fragen gliedern den Aufsatz und tragen zu einer theologischen Betrachtung des Pilgerns aus evangelischer Sicht bei. Bekanntermaßen war Martin Luther ein Kritiker und strikter Gegner religiöser Laufereien. Wallfahrten, Pilgerreisen - all dem und anderem mehr konnte Luther als Angebot bzw. Weisung der katholischen Kirche nichts abgewinnen. Im Gegenteil. Den Gedanken, dass der Mensch sich durch allerlei anstrengende Unternehmungen die Gunst Gottes erwirken und womöglich dadurch weniger Zeit im Fegefeuer garantieren könne, fand er verwerflich. Für den Jakobsweg nach Santiago de Compostela hatte er nur bösen Spott übrig: „Wer weiß, wen sie dort begraben haben? Jakobus sicher nicht. Vielleicht liegt dort ein toter Hund oder ein totes Pferd im Grab. Bleibt zu Hause! “ 337 Luthers Auffassung zum Pilgern jedoch unkritisch zu wiederholen und nicht nach ihrer eigentlichen Zielrichtung zu fragen, hieße, aufgeklärte Christenmenschen zu verdummen, und wäre darum nicht in Luthers Sinn. Aus diesem Grund halte ich folgende Bemerkung für problematisch: Die Wochenzeitung DIE ZEIT hat 2015 ein Interview mit Teja Begrich geführt, dem Beauftragten für christlich-jüdischen Dialog in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Darin heißt es: „DIE ZEIT: Herr Begrich, wann haben Sie sich zuletzt so richtig über Martin Luther geärgert? Teja Begrich: Über seine Texte ärgere ich mich selten, schon eher über die neuesten Luther-Pilgerwege, weil Pilgern mit Luthers Theologie nun mal unvereinbar ist. Er lehnte die Idee ab, gute Werke anzuhäufen, 337 Höll 2016, 6. <?page no="221"?> um Vergebung zu erlangen. Ein Landrat im katholischen Eichsfeld wehrte sich deshalb zu Recht dagegen, dass der thüringische Lutherweg durch seinen Landkreis führt.“ 338 Pikant an der Aussage von Begrich ist die Dogmatisierung einer Auffassung, die kontextualisiert in die religiös-mittelalterliche Frömmigkeitspraxis der katholischen Kirche gehört. Begrich arbeitet mit einem aus protestantischer Sicht veralteten, christlich-katholisch mittelalterlichen Verständnis vom Pilgern. Moderne theologische Konzeptionen verstehen Pilgern gerade nicht als „beneficio operis“ (Genugtuung durch Werke, um Vergebung der Sünden zu erlangen), sondern als ein mögliches Format zur geistig-geistlichen Erbauung und Reflexion des eigenen Lebens. Dazu gehören unterschiedlichste Selbst- und Weltdeutungen im Horizont des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie. Pilgern kann von daher als religionspädagogische Übung religiösen Lernens im weitesten Sinnverstanden werden. Luthers biblisch begründete Kritik am Pilgern war, dass Menschen meinten, Pilgerwege seien Wege zum Heil. Luthers Botschaft dagegen war: Gottes Himmel steht uns offen. Sein Heil ist uns verheißen und allein Christus zu verdanken, nicht unseren Werken. Reformation Reformation wird oft gleichgesetzt mit Rationalismus. Doch das ist ein Irrtum. Rationalismus bezeichnet philosophische Strömungen, die rationales Denken beim Erwerb und bei der Begründung von Wissen für vorrangig oder allein hinreichend halten. Damit verbunden ist die Abwertung anderer Erkenntnisquellen, etwa die Sinneserfahrung oder die religiöse Offenbarung und Überlieferung. Positionen wie die religiöse, die einer auf sich gestellten menschlichen Vernunft nur für begrenzte Gegenstandsbereiche oder gar kein objektives Wissen zutrauen, gelten daher als „anti-rationalistisch“. Die Reformation sieht das differenzierter. Neben die rationale Vernunft stellt sie die göttliche Offenbarung in Jesus Christus als Quelle menschlicher Erkenntnis und bezeichnet im engeren Sinn eine kirchliche Erneuerungsbewegung, die zur Spaltung des westlichen Christentums in verschiedene Konfessionen geführt hat und darum nur religiös zu verstehen ist. Anfänglich war die Bewegung ein Versuch, die römisch-katholische Kirche zu reformieren. Viele Katholiken in West- und Mitteleuropa waren beunruhigt durch das, was sie als falsche Lehren und Missbrauch innerhalb der Kirche ansahen, besonders in 338 Begrich 2015. Das Interview widmet sich den „schlimmsten Sätzen Luthers über die Juden“, der EKD- Orientierungshilfe „Die Reformation und die Juden“ sowie einer von Begrich mitverfassten kritischen Schrift über Luther und die Juden, die er als „offizielles Wort des Bedauerns über Luthers Antijudaismus“ versteht. <?page no="222"?> Bezug auf die Ablassbriefe. Ein weiterer Kritikpunkt war die Käuflichkeit kirchlicher Ämter, die den gesamten Klerus in den Verdacht der Korruption brachte. Vier Gedanken bilden den Kern der reformatorischen Lehre. Sie werden die „vier Exklusivpartikel“ genannt oder auch die „vier soli“ (soli kommt vom lateinischen solus/ sola, d. h. allein): sola scriptura (allein die Schrift); solus Christus (allein Christus); sola fide (allein durch den Glauben); sola gratia (allein durch die Gnade). Sola scriptura meint: Die Heilige Schrift ist alleiniger Maßstab und Richtschnur unseres Glaubens. Gerade die kirchliche Lehre muss sich daran messen lassen, ob sie den Aussagen der Heiligen Schrift entspricht. Solus Christus meint: Allein Christus ist unser Erlöser. Durch seinen Tod am Kreuz ist uns vergeben. Heilige sind keine Mittler des Heils, sondern Vorbilder im Glauben an Christus. Sola fide meint: Allein durch den Glauben an Jesus Christus werden wir gewiss, dass wir gerettet sind, nicht durch unsere Werke. Sola gratia meint: Allein aus Gnade hat Gott uns sein Heil geschenkt. Das ewige Leben ist seine Gabe an uns. Pilgern heute versteht sich als ein möglicher Zugang zu dieser Erkenntnis. Allerdings auf einem deutlich elementareren und für alle Menschen zugänglicheren Niveau, als akademische Streitgespräche es tun. Gegen Ende der 1990er-Jahre setzte ein Umschwung im Denken ein. Es war die Zeit, in der auch die Wellnessbewegung in Fahrt kam. In Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 wurde der Lutherweg als ausgeschilderter Wanderweg mit eigenem Logo ins Leben gerufen. Er geht auf eine Idee von Wolf von Bila aus dem Jahr 2006 zurück, nachdem er in Wohlsdorf in Sachsen- Anhalt eine Pilgerunterkunft eingerichtet hatte. Auf Initiative des Wirtschaftsministeriums, der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, des regionalen Tourismusverbandes Wittenberg und der Stiftung Luthergedenkstätten wurde am 8. Dezember 2008 der Lutherweg in Sachsen-Anhalt eröffnet. Er sollte ursprünglich nur von Mansfeld über Eisleben und Halle nach Wittenberg führen und später nach Erfurt und Eisenach bzw. Torgau und Leipzig erweitert werden. Der überwiegend durch verschiedene Naturräume Sachsen-Anhalts verlaufende Lutherweg ist inzwischen 410 km lang. Eine Erweiterung durch die Anbindung der Landeshauptstadt Magdeburg an den Lutherweg ist derzeit in Arbeit. Die Stiftung Luthergedenkstätten hat im Rahmen der Lutherdekade Memorialorte in mehreren Städten als Orte moderner Präsentation und Vermittlung der Reformationsgeschichte entwickelt. Damit ist Sachsen-Anhalt als <?page no="223"?> Ursprungsland der Reformation erkennbar. Seine Museen sind Ausdruck des reichen kulturellen Erbes des Landes und leisten einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung, Erforschung und Vermittlung von Religion. Weitere fertiggestellte Lutherwege konnten später eröffnet werden: der Lutherweg in Thüringen am 4. Mai 2015 mit einer Länge von 1010 km; der Lutherweg in Sachsen am 27. Mai 2015 mit einer Länge von 550 km; der Lutherweg in Bayern bereits 2014 mit einer Länge von 96 km; er beschränkt sich momentan noch auf das Gebiet Oberfranken und wartet auf seine Erweiterung nach Nürnberg, Augsburg und München. In Hessen wurde rechtzeitig zum Gedenkjahr 2017 am 14. Mai 2017 ein Luther-Novum präsentiert: der Luther(pilger)weg vom rheinland-pfälzischen Worms über Frankfurt bis zur Wartburg auf den thüringischen Höhen mit einer Länge von ca. 400 km. In Brandenburg haben einige Städte mit historischen Stadtkernen, die bedeutende Orte der Reformation darstellen, die Formierung eines Lutherwegs in Brandenburg ins Auge gefasst, u. a. Herzberg, Bad Liebenwerda, Mühlberg und Falkenberg. Die Gesamtstrecke des Lutherwegenetzes beträgt heute rund 2.500 km und verbindet ungefähr 100 Stationen, Städte und Dörfer, Kirchen und Klöster, Museen und Naturräume. Wie Erfahrungen von Pilgern heute bestätigen, werden Menschen beim Pilgern und in der Stille ihrer ganzen Geschöpflichkeit gewahr. Das schließt ihre Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit ein. Der Mensch wird aber auch befreit zum Ja zu seinen geschöpflichen Möglichkeiten und Begabungen. Vor Gott erkennt er die Ausrichtung seines geschöpflichen Lebens auf Ewigkeit hin. Und Ewigkeit bedeutet nicht weniger als die Partizipation an der Fülle göttlichen Lebens. Damit ist die Aussicht auf Verwirklichung aller im irdischen Leben nicht zu realisierenden Möglichkeiten gegeben. Das gibt Hoffnung und stiftet Gelassenheit. Es kann auch zu einer großen Entlastung führen: Der Mensch muss nicht länger gegen alle Lebensbeschränkungen anlaufen. Hinter dem scheinbar einheitlichen Phänomen des Pilgerns verbergen sich aber verschiedene Bedeutungen, Funktionen und Strukturen. Allgemein betrachtet, ist die Betonung von Elementen spiritueller Suche und Selbstfindung auffällig: „Pilgern heißt: Auf Zeit loslassen, was umtreibt und hetzt; verzichten auf den gewohnten Luxus; üben, von falschen Wünschen und Bedürfnissen Abschied zu nehmen; erfahren, was der Mensch wirklich braucht und was überflüssig ist; durchhalten lernen, auch wenn der Weg mühsam ist. Wer durch Wald und Flur, über Berg und Tal hautnah mit Erde und Wind, Sonne und Regen in Kontakt ist, erlebt die Schönheit der Schöpfung ganz neu. Pilger lernen das Fasten und das Schweigen und kehren aus dem Schweigen verändert zurück.“ 339 Anders als die meisten Theologen, die hinter dem Pilgern das Motiv der spirituellen Sehnsucht vermuten, glaubt Michael Stausberg, dass Pilgern und Wallfahren möglicherweise gerade deshalb so populär geworden sind, 339 Evangelische Kirche Deutschland 2016. <?page no="224"?> „weil sie ein geeignetes Forum für die Inszenierung spät- oder postmoderner, posttraditioneller Formen von Religiosität - oft als Spiritualität bezeichnet - bieten.“ 340 Stausberg betont weniger das Moment der „Suche“ nach spiritueller Erfahrung, als vielmehr ihre „Darstellung“, und zielt damit auf die Performance bereits vorhandener Spiritualität und Religiosität. Konrad Merzyn, Leiter des Projektbüros Reformprozess bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Experte für Freizeit, Erholung und Tourismus, erinnert daran, dass der Wunsch nach spirituellen Wanderungen, der vom Erfolgsbuch des katholisch getauften Hape Kerkeling beflügelt wurde, aus den Gemeinden gekommen ist, also von der Basis. „Von oben kann man so etwas nicht oktroyieren“ 341 , sagt Merzyn, und weist darauf hin, dass die heutigen Pilgergepflogenheiten kaum etwas mit denen des Mittelalters zu tun haben. Allerdings knüpfe man an frühchristliche Traditionen an. Pilgern ist eine christliche Basisbewegung, auf die evangelische Kirche und protestantische Theologie zu reagieren haben. Nicht nur Gemeindeglieder, auch Kirchenleitungen sind von der Idee des Pilgerns begeistert. Die Evangelische Kirche von Kurhessen und Waldeck (EKKW) und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) bilden spezielle Pilgerleiter aus, die nicht nur, aber auch, Wanderer auf dem Lutherweg begleiten. Sie betreuen im Ehrenamt Tagespilgergruppen, die hinter einem geschmückten Kreuz durch Wald und Flur ziehen. Was von Einzelpilgern und Pilgergruppen gern angenommen wird, haben inzwischen auch andere Landeskirchen auf ihre Agenda geschrieben. Auf den Streckenabschnitten des Lutherwegs wird meditiert, gebetet und zwischendurch auch geschwiegen. Nach Konfessionen wird bei den Ausflügen der evangelischen Kirche nicht gefragt. Anders- und nichtgläubige Menschen sind herzlich willkommen auf der Reformatoren-Strecke. Erste ökumenische Begegnungen haben bereits stattgefunden und wurden intensiviert. Ein halbes Jahrtausend nach der Kirchenspaltung ist Pilgern ein „schöner Brückenschlag“ 342 für die Ökumene. Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, würdigt den Lutherweg mit den Worten: „Die Idee des Lutherwegs empfinde ich als einen der schönsten Beiträge und Erträge der Reformationsdekade. Erholung, Erbauung und Bildung: Das ist ein wirklich ganzheitliches Konzept. Hätte es Luther gefallen? Ihn hätte die Gefahr des Personenkultes sicher gestört, auch hätte er hier die alte Versuchung des guten Werkes vermutet. Aber ein anderer hätte es sicher gut gefunden und mit gelehrten Worten dazu eine Eloge geschrieben: sein Freund Philipp Melanchthon. Der nämlich wusste viel davon, wie Leib und Geist und Seele miteinander im Einklang sein müssen, wenn der Mensch 340 Stausberg 2010, 57. 341 Höll 2016, 6. 342 Höll 2016, 6. <?page no="225"?> in der Balance leben soll.“ 343 Unter Rückgriff auf einige Überlegungen von Martin Hein lässt sich dieser Gedanke weiter entfalten. Wandern ist die menschlichste aller Fortbewegungen und darum eine anthropologische Eigenschaft. Es ist unser zutiefst menschliches Tempo, das wir dabei erfahren. Wandern gehört zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen des Menschen und ist die schlechthin humane Urlaubsbeschäftigung überhaupt. Wandern ist einfach. Man muss keine komplizierten Sportgeräte kaufen oder spezielle Kleidung tragen. Man muss keine Kurse belegen und kann es in jedem Alter tun. Gerade daran erkennen wir, wie tief der Graben ist, der uns historisch von Luther trennt. Für ihn war Wandern bzw. der Fußmarsch bittere Notwendigkeit, eine höchst mühsame Angelegenheit. Man bedenke nur die Zeiträume: Acht Wochen lang war Luther für eine Richtung unterwegs nach Rom, im Winter, der übrigens 1510/ 11 vor allem auch in Italien besonders hart gewesen sein soll. Den Lutherweg auf die Weise zu gehen, wie Luther einst gegangen ist, hätte heute Züge von Extremsport: „In der Summe hören wir: Erfurt - Rom - Erfurt: 2.912 km Gesamtstrecke; 42.544 überwundene Höhenmeter in der Summe; 3,5 km/ h Durchschnittsgeschwindigkeit; 17-18 Wochen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist also recht hoch. Immerhin galt es, zweimal einen Alpenpass bis in fast 2300 m Höhe zu überwinden. Die errechnete Tagesleistung liegt gleichwohl bei rund 28 km. […] Die Energie, die Luther und seine Begleiter vorantrieb, muss stark gewesen sein. Auf keinen Fall war es ein Vergnügen, und noch weniger war bekanntlich ein Vergnügen, was Luther dann in Rom erlebte.“ 344 Worauf Hein hinaus will, ist Folgendes: Wer sich den Lutherweg erwandert, sollte sich immer einmal für einen Moment vorstellen, nicht im Urlaub, im Wochenende oder auf Erlebnistour zu sein. Dann kann der Weg als Weg schon eine historische Erfahrung werden, ganz unabhängig von dem, was es sonst noch zu sehen und zu erleben gibt. Eines der Wunder der Reformation war ihre schnelle Ausbreitung. Aber man bedenke, egal ob zu Fuß, zu Pferd, mit Ochsenkarren oder per Eilboten - immer im menschlichen Maß. Wandern auf Luthers Spuren kann uns das nahebringen. 345 343 Hein 2015. Das Zitat entstammt dem unveröffentlichten Festvortrag von Martin Hein auf dem Fünften Lutherwegtag am 18. April 2015 in Bad Hersfeld unter der Überschrift „Mit Luther unterwegs“. 344 Hein 2015. 345 Hein 2015. <?page no="226"?> Modernes Pilgern kommt einem manchmal vor wie eine Art religiöse Wellnesstour, denn Motiv und Ziel des Pilgerns liegen in der individuellen, inneren Erbauung. Erbauung ist ein recht altmodisches, aber zutiefst biblisches und für Luther sehr wichtiges Wort. Heute wird es weitgehend verdrängt durch den schillernden Begriff Spiritualität. Die Diffusität des Begriffs nimmt dem Pilgern aber nicht den Charakter des Auratischen. 346 Auratisch ist, was einen packt, wenn man plötzlich spürbar mit dem verbunden ist, was vor einem liegt. Ich glaube, dass ein bewusst gegangener Lutherweg, auf dem man sich mit Luther auseinandersetzt, zu einer schon fast auratischen Begegnung mit ihm führen kann. Vielleicht durch die Lektüre der einen oder anderen Schrift, die heute in schönen und guten Übersetzungen zu bekommen sind. „Durch das menschliche Maß des Wanderns erschließt sich dann auch die Menschlichkeit Luthers: ein wichtiger Zugang zu diesem Mann, der ja alles andere als ein kühler Intellektueller vom Schlage Calvins oder ein zaghafter Gelehrter wie Melanchthon war.“ 347 Worauf Hein abzielt, ist Folgendes: Es ist eine sehr wichtige Idee, den Weg als eine Form der Begegnung zu gestalten. So wird Pilgern ja auch angeboten und praktiziert. Das ist eine angemessene Alternative zum Multimediarummel moderner Weisen, heute Geschichte zu vermitteln. „Wandern ist auratisch, weil es unmittelbar ist und langsam. Ob das dann auch eine geistliche Erfahrung wird im Sinne einer Gottesbegegnung oder einer Vertiefung des persönlichen Glaubens, ist eine andere Frage. Aber dass solch eine Wanderung einen im besten Sinn erbaulichen Charakter haben kann, steht für mich völlig außer Zweifel. Wer Luther begegnet, begegnet der sehr persönlichen Frage nach dem Glauben, und eine Gruppe, die auf diesen Spuren unterwegs ist und sich dem auszusetzen bereit ist, wird - auch ohne geistliche Übungen und spirituelle Programme - anders ankommen, als sie losgegangen ist. Was nicht bedeutet, dass spirituelle Angebote am Wegesrand nicht auch wichtig wären. Aber hier ist der Weg selbst das geistliche Angebot.“ 348 Wer auf Luthers Spuren wandert, erwandert sich die Spuren deutscher und europäischer Geschichte. Die Lutherwege spinnen ein Netz, an dem entlang man tief in die Geschichte eindringen kann. Viele der Wege reichen weit in die 346 Der Begriff des Auratischen wurde von Walter Benjamin in die Kunsttheorie eingeführt, um das unmittelbare Erleben eines Kunstwerkes gegenüber einer bloßen Reproduktion zu beschreiben. 347 Hein 2015; Vgl. Anm. 8. 348 Hein 2015. <?page no="227"?> Zeit zurück. Aufgrund der Beschilderung mit Tafeln an Bäumen, Häusern und Plätzen und eine z. T. sehr moderne didaktische Vermittlung am Lutherweg - kann niemand behaupten, dass ihm der Zugang zu Luther und seiner Zeit schwer gemacht würde. Was Hein meint, ist Folgendes: Pilgern auf dem Lutherweg, „das ist eine andere Bildung, als sie uns all die bunten, lauten und schnellen Medien bieten können. Es ist Bildung mit Körper und Geist, mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, mit Hand und Fuß. Es gehört zu dieser Bildung zutiefst dazu, sich auf das Tempo Luthers einzulassen.“ 349 Darüber hinaus ist aber das Gehen selbst bereits eine Bildungserfahrung, nämlich jenseits von allem gelehrten Input. Die Verlangsamung als solche, die Körpererfahrung und die Erfahrung von Raum und Zeit im Maß des Menschlichen scheint eine ganz wesentliche Erfahrung zu sein. Theologisch gesprochen: Wandern setzt die Erfahrung von Passivität frei. Es ist eine Erfahrung von Geschehenlassen und Empfangen. Das entspricht genau dem, was Luther mit seiner Reformatorischen Grunderfahrung gemeint hat: Gottes Heil kommt allein aus Glauben. Und Glauben ist zuerst ein Geschehenlassen, ein Gehenlassen. In der hybriden Hektik einer Gesellschaft, die ausschließlich im Tun, Herstellen und Konsumieren ihre Erfüllung und Rechtfertigung findet, ist das eine fremde und ganz andere Art, dem Leben zu begegnen. Das Leben wird so als das erfahrbar, was es für Luther immer war: eine Wanderung, die von der Geburt bis zum Tod auf Jesus Christus als Ziel ausgerichtet ist - ein Ziel, das nicht vor uns liegt und das wir mühsam erreichen müssen, sondern das uns entgegenkommt und unter uns ist. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) will zum Reformationsjubiläum eine gute Gastgeberin sein. Dazu gehören verlässlich geöffnete Kirchen. In ihrem Bericht vor der 2. Tagung der II. Landessynode der EKM vom 19. bis 21. November 2015 in Erfurt hielt Landesbischöfin Ilse Junkermann mit dem Titel „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ eine programmatische Rede. 350 Über „verlässlich geöffnete Kirchen“ sagt sie: „Das erscheint zunächst als eine rein praktische Aufgabe und wird oft auch nur als solche verhandelt. Doch diese praktische Aufgabe umfasst viel mehr. Sie ist auch eine zutiefst geistliche Aufgabe. Wie öffnen wir die Räume, die uns von den Generationen vor uns anvertraut worden sind? […] Der Landeskirchenrat bittet die Gemeinden, ihre Antwort auf seine Bitte auch geistlich zu bedenken. Eine entsprechende Handreichung dafür wird für die Beratung in den Gemeinden erstellt 349 Hein 2015. 350 Vgl. Junkermann 2015, 251-257. <?page no="228"?> werden. Lassen Sie mich in aller Kürze theologische und geistliche Begründungen für diese Initiative erläutern. Den 31. Psalm betet ein Mensch, der in seiner Not im Tempelgebäude Zuflucht gefunden hat. Kirchen und Tempel waren und sind Räume, in denen Menschen seit jeher Schutz und Hilfe suchten und suchen. Ganz handgreiflich, wenn sie physisch verfolgt wurden; aber auch im geistlichen Sinn, wenn sie in innerer Not eine Kirche aufsuchen, um zur Stille zu kommen, beten möchten, eine Kerze anzünden oder einfach zur Ruhe und Besinnung kommen wollen im hektischen Alltag. Dort finden sie „weiten Raum“.“ 351 Die Alltagsrealität der 4.031 Kirchen und Kapellen in der EKM steht dieser Sehnsucht vieler Menschen recht spürbar entgegen. Gewiss: In manchen Gemeinden sorgt eine Gruppe oder mindestens ein Kirchenältester oder eine Nachbarin dafür, dass die Kirche täglich verlässlich geöffnet ist. Andernorts gibt es einen Hinweis an der Kirche, wo man sich bei Interesse den Schlüssel abholen kann. Nicht wenige Gemeinden haben schon gute Erfahrungen damit gemacht, wenigstens punktuell und bei besonderen Anlässen die Kirche geöffnet zu halten, z. B. in räumlicher Nähe einer Bundes- oder Landesgartenschau, bei Stadtfesten oder Dorfjubiläen. Dennoch sind mehr als 95 % der Kirchen und Kapellen auf dem Gebiet der EKM nicht täglich geöffnet. Die Entscheidung über eine regelmäßige und verlässliche Öffnung ihrer Kirche(n) liegt in der Verantwortung des jeweiligen Gemeindekirchenrates (GKR). Dort soll die Entscheidung auch bleiben. Doch die Kirchenleitung wirbt darum, dass beim Reformationsjubiläum im Jahr 2017 möglichst alle Gemeinden ihr(e) Kirchgebäude verlässlich öffnen. „Damit streben wir einen echten Paradigmenwechsel an“, sagt die Landesbischöfin. „Jedes Kirchengebäude in der EKM soll spätestens ab Frühjahr 2017 tagsüber geöffnet sein. Es wird immer Ausnahmen von einer Regel geben. Doch es soll einer echten Begründung bedürfen dafür, die Kirche verschlossen zu halten. Ich sehe diesen Paradigmenwechsel theologisch im Zusammenhang einer wichtigen Weichenstellung für unser kirchliches Selbstverständnis, das darin ganz anschaulich wird: Wie sehr sind wir Kirche mit Anderen und für Andere? Verstehen wir Kirche und Glaube als relevant für die Öffentlichkeit, für „alles Volk“? Oder haben wir das uns umgebende säkularistische Paradigma, das uns in unserer hoch säkularen Gesellschaft dominiert, in unser eigenes Selbstverständnis übernommen, dass nämlich „Religion Privatsache sei“? “ 352 Die Zielgruppe der Kirche ist „alles Volk“, die Öffentlichkeit, die weltweite Ökumene und nicht die eigene Gemeinde. Unsere Kirchengebäude predigen aller Welt - auch ohne Worte - vom Glauben an Gott. Sie laden jeden Menschen ein, zur Besinnung zu kommen, ein Gespräch mit Gott zu führen oder einfach nur den eigenen Gedanken nachzuhängen. 351 Junkermann 2015, 254. 352 Junkermann 2015, 254. <?page no="229"?> Natürlich ist mit der Öffnung von Kirchen ein Risiko verbunden. Es kann Beschädigungen geben oder Diebstähle. Doch auch eine geschlossene Kirche ist nicht vor Vandalismus geschützt. Sie aus Angst vor Missbrauch zu verschließen bedeutet, Menschen, die interessiert oder auf der Suche sind, den Zugang zu versperren. Wir können es ja gar nicht abschätzen, wie viele Menschen in geöffneten Kirchen von Gottes Geist und seinem Frieden angerührt werden. Kirchenleitung und Landesbischöfin der EKM unterstreichen darum zu Recht: „Als Katastrophe sollte nicht angesehen werden, dass die Kirche Opfer von Diebstahl oder Vandalismus werden könnte oder wird, sondern dass das Evangelium nicht mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, verkündet und vielleicht nicht gehört wird. Wir wollen Kirche mit Anderen und für Andere sein, eine öffentliche Kirche. Das geht nicht ohne Risiko und ich werbe dafür, dieses gut biblisch begründete Risiko auch einzugehen; und auch so Botin des Gottes zu sein, der in seinem Sohn Jesus Christus ein recht hohes Risiko eingegangen ist, um uns zu berühren mit seinem Geist und mit seinem Frieden. Dieses Risiko hat ihn bis ans Kreuz gebracht. Dort hat er sehr viel Vandalismus auf sich genommen, um uns mit seiner Versöhnung zu erreichen. Es ist meine geistliche Sehnsucht als Christin und Landesbischöfin und es ist mit breitem Konsens der starke Wunsch unserer gesamten Kirchenleitung, dass in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland spätestens ab Frühjahr 2017 ca. 3.950 der insgesamt 4.031 Kirchen geöffnet sein werden. Ich bitte Sie herzlich, in Ihrem Bereich und Ihrem Umfeld für diese Initiative zu werben! “ 353 Wenn katholische Christen Gottesdienst feiern oder auch nur eine Kirche betreten und beten, sprechen sie die Formel: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ Katholiken bekreuzigen sich dabei, Lutheraner tun das nicht. Manche, die aus der katholischen Kirche aus- und in die evangelische Kirche eingetreten sind, meinen sogar, sie dürften das Kreuzzeichen nun nicht mehr schlagen. Was für ein Irrtum! Martin Luther würde sich über uns Lutheraner sehr wundern, denn er empfahl ja selbst: „Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du [in der Weimarana steht sogar: „sollst du“], dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen. Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen: Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesum Christum, deinen lieben Sohn, dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen. Alsdann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt.“ 354 Soweit Luthers Empfehlung für den Tagesbeginn; auch 353 Junkermann 2015, 255. 354 Evangelisches Gesangbuch 2000: Luthers Morgensegen. <?page no="230"?> der Abend soll mit einem ähnlichen Gebet und dem Kreuzzeichen beschlossen werden. Manches, was evangelische Christen als typisch lutherisch empfinden, ist es in Wirklichkeit nicht. Es geht nicht auf Luther zurück und ist darum im ursprünglichen Sinn nicht lutherisch. Anderes wiederum wird irrtümlicherweise als nicht lutherisch angenommen, wie z. B. das Bekreuzigen, und darum abgelehnt. Da sollten wir sog. Lutheraner noch einmal genau hinschauen und ggf. auf unserem Weg umkehren. Nach Martin Luther ist klar: Wir sollen uns bekreuzigen. Nicht Luther hat uns das Kreuzzeichen genommen, sondern der Säkularisierungsschub des Rationalismus, mit dem eine Abwertung aller religiösen Sinneserfahrungen und Traditionen verbunden war. Doch die „reine Vernunft“ darf nicht die Herrin des Glaubens sein und ihm sein Staunen, sein Gefühl und seine Frömmigkeitsformen nehmen, die manchmal aus gutem Grund unbewusst und ganz wie von selbst vollzogen werden. Luther beabsichtigte die Einübung in grundlegende Frömmigkeitsformen, vor allem ins Beten, und das eben mit dem Kreuzeszeichen. Die evangelischen Kirchen waren schon immer weniger traditionsgebunden und stärker gegenwartsbezogen als die katholische Kirche. Dadurch wirkte sich der moderne Rationalismus im Protestantismus auch wesentlich stärker aus. Er führte zu einer Selbstsäkularisierung des Glaubens, die Auswirkungen bis in die Gegenwart hat. Weil aber Glaube und Frömmigkeit sinnliche Formen und Gesten des Ausdrucks brauchen, empfiehlt Dorothea Greiner, Regionalbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: „Wer Christ lutherischer Prägung sein will, den möchte ich ermutigen, sich wieder einzuüben ins Bekreuzigen. Es wäre sehr passend, wenn Sie, bevor Sie morgens Ihre Beine aus dem Bett schwingen, ein Kreuzzeichen machen, und wenn Sie Ihre Wanderungen auf dem Lutherweg beginnen mit einem Gebet, einem Kreuzzeichen und im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sie gehen auch diesen Weg unter dem Zeichen des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und im Namen des dreieinigen Gottes. Er begleitet und leitet Sie. Was gibt es Besseres im Leben? Ein ausdrucksstärkeres Zeichen unseres Vertrauens auf Gott in Christus, das wir täglich anwenden können, haben wir nicht als das Kreuzzeichen.“ 355 Wie sich zeigt, ist die Frage nach der Vereinbarkeit von evangelischer Theologie und Pilgern keine, die in erster Linie systematisch-theologisch und erst recht nicht dogmatisch, sondern vorrangig praktisch-theologisch zu diskutieren ist. 355 Greiner 2016. Regionalbischöfin Greiner hat 2014 das bayerische Teilstück des Lutherweges eingeweiht. <?page no="231"?> Denn Pilgern gehört als Teil der gelebten Frömmigkeit des Menschen in den Bereich der praxis pietatis, die sich oft dogmatischen Vorgaben entzieht. Wie Reinhard Kürzinger errechnet hat, haben bisher nur 8 % der Deutschen eine Pilgerreise unternommen. Die 45bis 60-Jährigen bilden die größte Gruppe unter ihnen, es sind 48,6 %. 356 Im Gegenzug stellt er fest, dass sich von Nicht- Pilgern immerhin 15 % vorstellen können, eine Pilgerreise zu unternehmen. Es sind insbesondere junge Menschen in der Alterskohorte der 14bis 29- Jährigen, die ein starkes Interesse am Pilgern bekunden. 357 Insofern kommt dem Pilgern künftig zunehmende Bedeutung zu. Die Deutsche Lutherweg-Gesellschaft e. V., die sich seit ihrer Gründung im Jahr 2008 dem Pilgern und ihren Akteuren verschrieben hat, erfährt damit ebenso verstärkte Aufmerksamkeit und wachsende Bedeutung. Zu Beginn ihrer Satzung schreibt die Gesellschaft: „Zweck des Vereins ist, als Dachgesellschaft für die Förderung und Pflege der Lutherwege in Deutschland Sorge zu tragen. Der Satzungszweck wird insbesondere verwirklicht durch: [1] Angebote zur Vernetzung von authentischen Lutherstätten bzw. Reformationsstätten am Lutherweg; [2] geistliche Angebote auf dem Lutherweg und in seinen einzelnen Stationen; [3] Ermöglichung des intensiven Erlebens der Natur auf dem Lutherweg; [4] Leistung von Beiträgen zur Pflege der Kultur des Landes und der Heimatgeschichte. Dies geschieht insbesondere in kulturellen Veranstaltungen in Orten am Lutherweg und in öffentlichen Präsentationen.“ 358 Ungeachtet dessen bleibt festzuhalten: Lutherwege setzen eine mehrperspektivische Erfahrung frei. Sie offenbart sich in anthropologischer, religiöser, philosophischer und spiritueller Hinsicht - eine Erfahrung, die der Integrität des Menschen im besten Sinn des Wortes heilbringend ist. Das gilt es für alle weiteren Überlegungen zu berücksichtigen. 356 Vgl. Kürzinger 2012, 219. 357 Vgl. Kürzinger 2012, 219. 358 Deutsche Lutherweg-Gesellschaft e. V. 2016. <?page no="232"?> Begrich, T. (2015): Der größte Sündenfall. Interviewer: Evelyn Finger. [online] DIE ZEIT, 05.11.2015. Verfügbar unter: http: / / www.zeit.de/ 2015/ 45/ martin-lutherantisemitismus-judenhass [Letzter Zugriff 08.09.2016]. Deutscher Lutherweg-Gesellschaft e. V. (2016): Satzung vom 24.06.2009, zuletzt geändert am 09.03.2016. Lutherstadt Wittenberg. Evangelisches Gesangbuch (2000): Luthers Morgensegen. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche Anhalts, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, die Evangelische Kirche der schlesischen Oberlausitz, die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Nr. 815. Evangelische Kirche Deutschland (2016): Pilgern. [online] Verfügbar unter: https: / / www.ekd.de/ glauben/ spiritualitaet/ pilgern.html [Letzter Zugriff 08.09.2016]. Greiner, D. (2016): Was bedeutet es, lutherisch zu sein? . Coburg. [unveröffentlichter Festvortrag von auf dem sechsten Lutherwegtag am 16. April 2016]. Junkermann, I. (2015): Du stellst meine Füße auf weiten Raum. In: Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), 7. Jahrgang, Nr. 12 vom 15.12.2015. 251-257. Kürzinger, R. (2012): Faszination Jakobusweg. Der Pilgertrend und die Wiederentdeckung alter Routen. In: Hopfinger, H./ Pechlaner, H./ Schön, S./ Antz, C. (Hg.) (2012): Kulturfaktor Spiritualität und Tourismus. Sinnorientierung als Strategie für Destinationen. Berlin. 197-223. (= Schriften zu Tourismus und Freizeit, Band 14) Hein, M. (2015): Mit Luther unterwegs. Bad Hersfeld. [unveröffentlichter Festvortrag von auf dem Fünften Lutherwegtag am 18. April 2015]. Höll, S. (2016): Hier gehe ich und kann nicht anders. In: Süddeutsche Zeitung, 13.08.2016. 6. Stausberg, M. (2010): Religion im modernen Tourismus. Berlin. <?page no="233"?> Durch die Entstehung neuer Pilgerwege erhoffen sich die Initiatoren oft eine touristische Erschließung peripherer Räume. So auch das Projekt des Pommerschen Jakobsweges, der das Küstenhinterland des südlichen Ostseeraumes im Zuge der Revitalisierung einer kulturhistorischen Pilgerroute touristisch aufwerten soll. Vor diesem Hintergrund wird in einer tourismusgeographischen Untersuchung das Potenzial des Pommerschen Jakobsweges im Hinblick auf die Nachfrageseite betrachtet und es werden Handlungsmöglichkeiten gezeigt. Der Fokus der Analyse wird dabei auf die reisespezifischen Aspekte des Pilgerns sowie die Funktion des Pilgerweges als touristisches Produkt gelegt. <?page no="234"?> Gegenwärtige Pilgerreisen nach dem Prinzip der Jakobswege sind individuelle, selbstständig angepasste und alternative, postmoderne Reisen, die als Reaktion auf politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen erneut im Trend liegen und durch Rückschlüsse auf authentische Hintergründe die Reflexion und das Erleben alter Traditionen ermöglichen. Touristen mit verschiedenen Motivationen, Bedürfnissen und Erwartungen nutzen diese Form des Reisens in gleichem Maße, um sich letztlich durch den gemeinsamen Nenner des Pilgerns zu identifizieren und zu definieren. Gemäß der Pilgertradition sind die Ansprüche an die touristische Infrastruktur verhältnismäßig bescheiden, da sich ein Pilger mit wenig zufriedengeben sollte. Betrachtet man einen Pilgerweg als touristisches Produkt und die Pilger als Touristen, ergeben sich dennoch Faktoren, die bedeutende Aufgaben für das vorangestellte Pilgererlebnis übernehmen. Diese scheinen unerlässlich zu sein, damit das Produkt in einem stetig wachsenden Wettbewerb angenommen und genutzt werden kann. Dessen ungeachtet kann davon ausgegangen werden, dass der zeitgenössische „Pilgerboom“ auf dem europäischen Reisemarkt mittelfristig bestehen bleiben und sogar noch verstärkt wird, insbesondere, weil ein Rückgang der allgegenwärtigen Veränderungen und Beschleunigungen im Alltag, welche scheinbar mit dem Drang, zu pilgern, stark korrelieren, nicht abzusehen ist. Vielmehr ist zu erwarten, dass diese noch an Intensität gewinnen. Zunehmend werden europäische Pilgerwege auch außereuropäische Touristen ansprechen und beispielsweise Pilger aus Nordamerika anlocken. 359 Die hybride Prägung des Pilgertourismus ist in jedem einzelnen Pilger in Form seiner diffusen Motivation zu finden. Diese Mischform der Reiseausübung kann aufgrund ihrer Vielfältigkeit breit gefächert genutzt werden, um neuen touristischen Raum zu erschließen und um neue Möglichkeiten für regionale Tourismusschwerpunkte zu setzen, vorzugsweise aufgrund der Tatsache, dass Pilger durch ihre Grundzüge aus etablierten Tourismusformen viele der bereits vorhandenen Tourismuskomponenten nutzen werden. Dabei wird der Pilgertourismus ausdrücklich in peripheren Pilgerräumen prinzipiell als ergänzendes Nischensegment fungieren. Welche dieser Komponenten in einer Region vorhanden und mit dem Pilgertourismus zu vereinen sind, sollte als Grundlage jedes neuen Pilgerweges erörtert werden. 359 Vgl. Gamper/ Reuter 2014, 253. <?page no="235"?> Verschiedene historische Überlieferungen sowie religiöse Relikte bezeugen, dass aus dem Nord- und Ostseeraum bereits in früherer Zeit nach Santiago de Compostela gepilgert wurde. Insbesondere waren im Mittelalter in dieser Region Massenwallfahrten auf dem Seeweg weit verbreitet. 360 Im heutigen polnischen Raum wurden besonders in Pommern und Schlesien viele Nachweise für einen gängigen Jakobuskult gefunden. Begaben sich mittelalterliche Pilger von hier aus zu Fuß nach Santiago, nutzten sie meist bekannte Handelsstraßen, anhand derer aktuell der Verlauf von Pilgerwegen rekonstruiert wird. 361 Die Idee zur Revitalisierung des Pommerschen Jakobsweges entstand aus einer Initiative der Stadt L bork heraus, die den Heiligen Jakobus als Stadtpatron würdigt. Bereits 2007 eröffnete dort die 90 km lange „L borska Droga w. Jakuba“. Dies war zu jener Zeit eine von mehreren erstmaligen Initiativen in Polen, Jakobswege zu revitalisieren. 362 Durch die folgende Inangriffnahme des Ausbaus des Pommerschen Jakobsweges sollte letzten Endes nicht nur das Jakobswegnetz mit seinem Nischensegment des Pilgertourismus in Mittel- und Osteuropa eingearbeitet, sondern gleichzeitig auch die Pommersche Kultur in das europäische Tourismussystem integriert werden. 363 Insgesamt waren an diesem Projekt zehn verschiedene Partner aus Litauen, Polen und Deutschland beteiligt. Mitunter sollte der Pommersche Jakobsweg nicht als rein (kultur-) touristischer Pfad wiederbelebt, sondern vorzugsweise auch als Weg der Spiritualität und des Glaubens verstanden werden. 364 Der aus dem Projekt resultierende Pilgerweg führt durch mehr als 340 Ortschaften und vier verschiedene Länder, ist über 1.100 km lang und in 46 Tagesetappen von jeweils 17 bis 39 km Länge aufgeteilt. Ergänzend werden alternative Zusatzetappen angeboten, beispielsweise über Szczecin, wo ein Anschluss an einen Jakobsweg Richtung Berlin besteht. Bei der Konzipierung des Weges wurde auf mögliche Barrierefreiheit geachtet, ebenso auf die Nutzung zu Pferd und mit dem Fahrrad. Teils schließt der Weg bereits traditionelle, regionale Pilgerwege und -ziele mit ein. Startpunkt des Pommerschen Jakobsweges ist die Stadt Kretinga in der Region Žemaitija in Litauen, Endpunkt ist die Hansestadt Rostock in Mecklenburg-Vorpommern. Von hier aus führt der Jakobsweg als Via Baltica weiter Richtung Westen und Santiago de Compostela (Entfernung von Rostock ca. 3.300 km). 360 Vgl. Bettin/ Volksdorf 2003, 231f. 361 Vgl. Knapinski 2003, 110; Vgl. Gómez-Montero 2011, 9 ff.; Vgl. Bünz 2011, 35ff.; Vgl. Szabó 2003, 27ff. 362 Vgl. Przybylska/ Soljan 2010, 215. 363 Vgl. Zaucha 2010, 86. 364 Vgl. Wenta 2010, 41ff. <?page no="236"?> Im Wesentlichen diente das Projekt dem Vorhaben, ein pilgertouristisches Produkt zu entwickeln. Darüber hinaus wurde darauf hingearbeitet, nicht nur Touristen auf den Weg und die Region der südlichen Ostsee aufmerksam zu machen, sondern auch die dort ansässige Bevölkerung auf die Existenz eines solchen touristischen Produkts und die damit verbundenen Chancen zur Regionalentwicklung zu verweisen. 365 Absicht war folglich eine touristische Aufwertung der Region, da im nahen Küstenhinterland der südlichen Ostsee vom privaten Sektor verhältnismäßig wenige Investitionen in den Tourismus getätigt werden. Entsprechende Regionen bieten im Vergleich zur direkten Küstenregion kaum Zielobjekte für Touristen. 366 Das Projekt verfolgt demnach auch die Förderung des ländlichen Tourismus und der dort ansässigen kleinsten Unternehmen. Es dient somit der Stabilisierung wirtschaftlich und sozial fragiler Regionen. Allgemein wird dem ländlichen Tourismus ein starkes Potenzial im Ostseeraum und generell entlang des ganzen Pommerschen Jakobsweges zugesprochen. Dieser gilt in der Region als unterentwickelt und es findet ein stetiger Ausbau statt. 367 Das Budget des Projektes betrug rund 1,25 Millionen Euro, wovon 85 % aus Mitteln des Regionalentwicklungsfonds der EU (im Rahmen des South Baltic Programme) stammen und 15 % aus Eigenfinanzen der Projektpartner. 365 Vgl. Zaucha 2010, 86. 366 Vgl. Zaucha 2010, 87. 367 Vgl. Kropinova 2012, 130ff. <?page no="237"?> In einer international ausgelegten Onlineumfrage zur potenziellen Zielgruppe des Pommerschen Jakobsweges wurden 878 Pilgerinteressenten (25,4 %) und aktive Pilger (74,6 %) zum allgemeinen und pilgerrelevanten Reiseverhalten befragt. Für 55,3 % der aktiven Pilger handelte es sich bei der letzten Pilgerreise um deren jährliche Haupturlaubsreise. Im Schnitt waren die Pilger 24,7 Tage unterwegs, dabei reicht die Streuung von einem Tag bis zu 240 Tagen. Pilgerreisen haben demzufolge eine längere Dauer als die Standardhaupturlaubsreise des deutschen Durchschnittsbürgers (12,5 Tage). 368 Die täglichen Ausgaben während der Pilgerreise betragen durchschnittlich 34,00 Euro pro Reisetag. Im Schnitt sind dies 839,80 Euro pro Pilgerreise und Person, was unter dem bundesdeutschen Durchschnitt für die jährliche Haupturlaubsreise liegt (958 Euro pro Reise und Person). 369 Von den Befragten kennen nur 9,2 % den Pommerschen Jakobsweg. 65,0 % können sich dennoch vorstellen, neue Pilgerwege wie den Pommerschen Jakobsweg zu nutzen. 31,0 % wählen die Kategorie „vielleicht“, für nur 4,0 % kommt dies nicht in Frage. Der häufigste Grund gegen eine Pilgerreise auf dem Pommerschen Jakobsweg ist die Ansicht, Pilgern mit Wegen in Spanien in Verbindung zu bringen. Oft werden hier auch andere Aspekte hinzugefügt, etwa die (schlechte) Infrastruktur oder die Entfernung zum Heimatort. Die mit Abstand beliebteste Reiseart unter den befragten Personen ist die Wanderreise. 55,4 % der Befragten geben an, dass sie sich besonders für diese Reiseform interessieren. Weitere beliebte Reisearten sind das Backpacking (27,3 %), religiöse oder spirituelle Reisen (25,1 %) und Naturreisen (24,9 %). Es folgen Städtereisen (19,0 %), Ausruh- und Entspannungsreisen (18,3 %) sowie Kulturreisen (14,7 %). Kaum Beachtung findet die Pauschal- (2,8 %) und Clubreise (0,7 %). Eher durchschnittliche Anerkennung finden zudem die mit dem Pilgertourismus oftmals in Verbindung gebrachten Erlebnis- und Abenteuerreisen (11,8 %) sowie Aktiv- und Sportreisen (10,7 %). Wenig beliebt sind darüber hinaus, trotz des relativ hohen Durchschnittsalters der Stichprobe (47,4 Jahre), Gesundheits- und Wellnessreisen (4,2 %). 368 Vgl. FUR 2015, 4. 369 Vgl. FUR 2015, 2. <?page no="238"?> Wie erwartet, ist die Motivation für eine Pilgerreise äußerst diffus. In dem vorgelegten Fragebogen wurden insgesamt 25 Motivationskategorien (zuzüglich „Sonstiges“) zur Option vorgelegt. Im Schnitt geben die Pilger ganze 7 Motive für ihre letzte Pilgerreise an. Dabei reicht die Spanne von einem Motiv (20 Nennungen) bis zu 22 Motiven (eine Nennung). Die hohe Zahl der Motive kann so interpretiert werden, dass eine Großzahl der Pilger in der Tat nicht wirklich weiß, warum sie pilgert. Außerdem ist dies ebenfalls ein Indiz für die Individualität der Pilger. Kaum Relevanz finden klassisch hedonistische Motive im Bereich „Spaß und Unterhaltung“ („Flirt und Erotik“ 1,1 %, „Sich unterhalten lassen“ 1,2 %, „Spaß haben“ 13,4 %). Ebenso weit abgeschlagen sind traditionell religiöse Motive („Gelübde“ 2,5 %, „Buße tun“ 3,2 %, „Heil suchen“ 9,6 %). Im Mittelfeld befinden sich Motive in Verbindung mit „Sport und Gesundheit“ („Ausdauer testen“ 20,7 %, „Etwas für die Gesundheit tun“ 23,3 %, „Sport treiben/ aktiv sein“ 27,5 %, „Grenzerfahrung suchen“ 24,2 %), ebenso wie Motive in Zusammenhang mit „Kultur und Sozialem“ („Neue Länder besuchen“ 15,6 %, „Neue soziale Kontakte“ 26,9 %, „Kultur und Bildung“ 29,6 %). Im oberen Drittel schließen Motive im Bereich „Entspannung“ an („Stressausgleich“ 37,7 %, „Energie tanken“ 40,0 %, „Entspannung/ Erholung“ 40,6 %), ebenso wie die Faktoren „Spiritualität und Religion“ 370 Zusätzlich zur Gesamtstichprobe werden die Werte für die bereits gepilgerten und nicht gepilgerten Befragten aufgezeigt. Maximal drei Nennungen; n= 872. <?page no="239"?> („Spiritualität“ 51,9 %, „Nähe zu/ Suche nach Gott“ 28,7 %), „Erlebnis“ („Neue Erlebnisse und Eindrücke“ 51,2 %) und „Natur“ („Kontakt zur Natur“ 52,6 %). Dominierend sind „Ich“-bezogene und Individualitätsmotive („Freiheit“ 41,0 %, „Abstand zum Alltag“ 59,0 %, „Zeit für mich/ Selbstfindung“ 61,0 %). Außerdem wurden zusätzlich die Motive derjenigen Befragten aufgezeigt, welche „Wandern“ als eine der interessantesten Reiseformen angeben. Hier 371 Mehrfachnennungen waren möglich; n= 648. <?page no="240"?> zeigen sich Unterschiede zum Rest der Stichprobe. Motive aus dem Bereich „Spiritualität“ sind weniger wichtig, Motive mit Bezug zu „Sport und Gesundheit“ gelten hingegen als bedeutender. Will man andere touristische Angebote in Verbindung mit dem Pilgertourismus bringen, ergeben sich äußerst ungleiche Ergebnisse, wobei nur 1,3 % der Befragten angeben, sich für kein weiteres touristisches Angebot zu interessieren. Sehr beliebt bei Pilgern sind kulinarische Angebote (z. B. regionale Küche, Pilgermenüs, Slow Food), die am einfachsten als ergänzende Dimension erlebnisorientierter Produktinszenierung im Pilgertourismus funktionieren, und spirituelle Angebote (z. B. Messen, Seelsorge, kirchliche Feste). Zu den beliebteren Angeboten gehören auch kulturelle Angebote (z. B. Museen, Konzerte, Lesungen). Für Wellness- und Gesundheitsangebote (z. B. Spa, Sauna, Massagen) interessiert sich noch fast die Hälfte der Stichprobe, während Sportangebote (z. B. Kanufahren, Klettern, Lesungen) weniger und Unterhaltungsangebote (z. B. Geocaching, Kino, Minigolf) kaum Beachtung finden. Haben die Befragen Interesse an einem Angebot, ist prinzipiell auch das Interesse an anderen Angeboten höher. Betrachtet man anschließend die Prioritäten während einer Pilgerreise, fällt auf, dass auch innerhalb solcher Angebote durchaus Unterschiede bestehen. Trotz des zuvor aufgezeigten hohen Interesses an spirituellen Angeboten muss im Detail differenziert werden. Sind offene Kirchen und Einkehrmöglichkeiten <?page no="241"?> sehr bedeutende Größen während einer Pilgerreise, spielt die Seelsorge eine eher unbedeutende Rolle. Sind kulinarische Angebote die am meisten genutzten Angebote während einer Pilgerreise, ist deren absolute Bedeutsamkeit während der Pilgerreise nebensächlich. Ein ähnliches Bild ergibt sich unter kulturellen Aspekten (Kunst und Kulturangebote; historische Bauten). Trotz des hohen Stellenwertes des Naturfaktors während einer Pilgerreise nehmen Zugänge zu Naturschutzgebieten einen untergeordneten Stellenwert ein. All diese Angebote müssen demnach nicht explizit während einer Pilgerreise vorhanden sein, sondern vielmehr in einer Symbiose ein stimmiges Pilgererlebnis ergeben und im Hintergrund zur Verfügung stehen. Auffallend ist, dass hier die wichtigsten Faktoren klassische touristische Qualitätsmerkmale sind, wie „Frische Luft“, „Durchgängige Markierung“, „Authentizität“, „Sicherheit“ oder „Hütten/ Rastmöglichkeiten“. Dies unterstreicht auch im Pilgertourismus den touristischen Schlüsselfaktor der Qualität. Weniger wichtig sind naturgegebene Aspekte, wie das Wetter, Höhenunterschiede oder die Herausforderung. Eher unwichtig sind zudem (technische) Zusatzangebote, wie Internetzugang, GPS- Nutzung oder Pilgern ohne Gepäck. Slow Food 372 Hierbei handelt es sich um Mittelwerte; 1= sehr wichtig; 5= unwichtig. <?page no="242"?> Eine der Grundlagen zur Einschätzung des Potenzials einer Region im Hinblick auf das touristische Leistungsvermögen sind die Bestandsaufnahme des Raumes und der darin enthaltenen Basisinfrastruktur sowie die anschließende Gegenüberstellung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Reiseverhalten der relevanten Zielgruppen. Der Pommersche Jakobsweg führt durch weite Teile von bedeutenden in- und ausländischen Urlaubsregionen, was sich ohnehin zum Vorteil für ein ergänzendes, neues Nischenprodukt gestaltet. Die Ergebnisse der durchgeführten Studie zeigen auf, dass ein breites Interesse am Weg innerhalb der pilgertouristischen Nachfrageseite besteht und dass die Belange der Pilger, was tourismusrelevante und freizeitliche Angebote betrifft, weit gestreut und durchaus mit dem vorhandenen Angebot entlang des Pommerschen Jakobsweges zu vereinen sind. Jakobswege und insbesondere die bekannteren spanischen Wege mit unmittelbarer Verbindung zu Santiago de Compostela sind die führenden Produkte innerhalb dieser speziellen Reiseform. Eine Frequentierung in der Dimension eines Camino Francés ist entlang peripherer Pilgerwege wie in Pommern nicht zu erwarten. Dass eine Region ihren touristischen Schwerpunkt aufgrund eines Pilgerweges auf den Pilgertourismus setzen kann, wie dies im Falle der spanischen Wege oft passiert, ist ebenso wenig zu erhoffen. Dennoch wird das Interesse an peripheren Pilgerwegen weiterhin ansteigen. Dies zeigen vor allem jüngste Entwicklungen, beispielsweise am norwegischen Olavsweg oder an der Via Francigena. Die ursprünglichen Hauptpfade der Jakobswege werden wiederum für Pilger zwangsläufig zu dem, was südostasiatische Destinationen für die Backpacker geworden sind - unumgängliche Ziele, welche als Sinnbild für die Reiseform stehen, durch ihre steigende Popularität jedoch zunehmend polarisieren. Zwei Drittel der in Santiago de Compostela ankommenden Pilger nutzen den Camino Francés. Übernutzung, Kommerzialisierung oder fehlende Authentizität können diesen Weg langfristig in seiner strukturellen Form auch aufgrund eines breiteren Kundenstammes erheblich verändern. Alternativen werden vorzugsweise von erfahrenen Pilgern gesucht. Diese alternativen Wege müssen nach dem Vorbild der spanischen Wege konzipiert werden, jedoch keine Kopien derer sein. Eine Eigenständigkeit und gewisse individuelle Besonderheit der Wege muss in Form eines apodiktischen Identifikationsmerkmales stets beibehalten werden. <?page no="243"?> Ferner haben die Ergebnisse der Studie gezeigt, dass der touristische Schlüsselfaktor Qualität auch im Bereich des Pilgertourismus nicht zu vernachlässigen ist. Allgemein gewinnen im Reiseverkehr Attraktivität und Qualität gegenüber preisgünstigen Angeboten an Bedeutung. Die Qualität richtet sich in diesem Beispiel nicht auf Freizeitangebote und den Komfort der Unterkünfte, sondern vielmehr auf Faktoren, welche dem direkten Pilgererlebnis dienen. Die Pilger erwarten demnach pilgergerechte Unterkünfte, frische Luft, Authentizität, offene Kirchen oder durchgängige Markierung und ein Umfeld, welches das Pilgererlebnis erst ermöglicht. Entsprechend müssen zielgruppenspezifische Angebote erstellt werden, eine pilgerspezielle Qualitätssicherung gegeben sein, eine stetige Pflege und offensive Vermarktung bzw. Kommunikation des Weges stattfinden. Die Bildung einer Trägerschaft und die Anerkennung des Weges als touristisches Produkt von öffentlicher Hand und der Tourismuspolitik sind von enormer Wichtigkeit. Für spezielle Pilgerangebote wie Unterkünfte sollte eine Zertifizierung in Erwägung gezogen werden, die sich an Mindestkriterien der Pilgerfreundlichkeit orientiert und somit Vorteile für die Angebots- und Nachfrageseite bringt. Außerdem kann durch die Verzahnung mit weiteren Angeboten, wie dem Gesundheitstourismus oder der Gastronomie (Pilgermenüs, Slow Food), und mittels einer Vervielfältigung des Pilgerbegriffes die Erschließung weiterer Zielgruppen erfolgen. Beispielsweise nehmen innerhalb des Wandertourismus Tagesausflüge zu. 373 Pilgern als Tagesausflugsoption wäre eine Möglichkeit, die Reiseform besonders in peripheren Regionen und für die lokale Bevölkerung zu profilieren. Viele dieser entsprechenden Angebote können natürlich erst entstehen, wenn eine Nachfrage nach dem Produkt spürbar wird. Dennoch ist hier auch das Ziel, durch ein Angebot Nachfrage zu generieren. Folglich muss auf der Nachfrageseite und der Angebotsseite ein Bewusstsein hergestellt sowie eine Sensibilität für das Produkt geschaffen werden. Dies betrifft insbesondere die Unterkunftsstruktur entlang von Pilgerwegen. In einer Urlaubsregion, die auf den Ostseetourismus spezialisiert ist, kann der Pilgertourismus nur als Nischensegment funktionieren und sollte demnach auch als ein solches ausgerichtet werden. Die Kombination des Pilgertourismus mit anderen freizeitlichen Angeboten funktioniert nur bedingt. Wie die Ergebnisse der Studie offenbart haben, werden einige angenommen, andere wiederum weniger. Die Verknüpfung mit zusätzlichen Angeboten kann in erster Linie helfen, neue Kundengruppen zu erreichen. Wichtig ist allerdings, dass das Pilgererlebnis, ein Alleinstellungsmerkmal dieser Reiseform, welches die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Umgebung darstellt, durch diese Kombination nicht gefährdet wird. Touristische Ergänzungen müssen demnach nachhaltig mit dem Pilgertourismus zusammengeführt werden. Oft haben Pilger etwas zu verarbeiten, sie bringen Motive mit sich, die äußerst introvertiert 373 Vgl. Project M 2014, 47. <?page no="244"?> ausgerichtet sind. Hierzu gehören die Sinnsuche und Selbstfindung/ -verwirklichung, die Konfrontation mit den eigenen Gedanken und persönlichen Grenzen, die Herausforderung und Bewältigung einer Distanz mit eigenen körperlichen Mitteln sowie das Erfolgserlebnis des Ankommens. Auch wenn viele andere Motive in den Pilgertourismus mit einfließen, sollten diese Grundbestandteile der Reiseform nicht durch touristische Zusatzangebote beeinträchtigt und von ihnen verdrängt werden. Bei steigender Popularität des Pilgertourismus und einer diversifizierten Kundenstruktur darf das Pilgererlebnis durch eine erzwungene Einbeziehung von Zusatzangeboten nicht in Konflikt mit diesen geraten und an Authentizität verlieren. Was den Pommerschen Jakobsweg betrifft, können in Verbindung mit den zahlreichen Kurorten entlang des Weges z. B. sehr gut Verknüpfungen zum Gesundheitstourismus geschaffen werden. Die historischen Bauten und das Pommersche Erbe der Region sind bedeutende Merkmale für den Kulturtourismus und gleichzeitig Alleinstellungsmerkmale im Jakobswegnetz. Die ländliche Struktur der Region und die Nähe zur Ostsee bringen Werte für den Naturtourismus mit sich. Insbesondere der Wegverlauf durch Schutzgebiete und bevölkerungsarme Landstriche leistet einen Beitrag zur hohen Naturerlebnisqualität. Beide Sparten (Kultur und Natur) übernehmen auch innerhalb des Pilgertourismus eine bedeutende Funktion. In den Großstädten entlang der Wege kann der Jakobsweg als Pfad für Stadtbesichtigungen funktionieren und gleichzeitig Stadtbesucher auf einen Jakobsweg in der Region aufmerksam machen. Pilgertouristen haben wiederum stets auch Interesse an Städtereisen. Darüber hinaus sollte die Reiseform speziell mit der regionalen agrotouristischen Struktur in Einklang gebracht werden. In Zukunft werden Reisende vermehrt nach multioptionalen Angeboten und individueller Abwechslung suchen. Bei steigender Reiseintensität werden sie durch die gesammelte Erfahrung zu immer kompetenteren Kunden heranwachsen. Dabei werden Urlaubsarten, die gut zu mischen und nicht eindimensional sind, immer populärer. Es wird nicht nach nur Ruhe, nur Action, nur Kultur gesucht, sondern vielmehr nach einem Mix aus all dem. 374 Auch diese Erkenntnisse machen Zuwächse für den (peripheren) Pilgermarkt wahrscheinlich. Der Pommersche Jakobsweg besitzt durchaus das Potenzial, um als wertvolles touristisches Nischensegment in der Region aufzutreten, gleichfalls für inwie auch ausländische Touristen. Dabei wird er weder die touristische Raumstruktur bedeutend mitgestalten, noch gewaltige Pilgerströme mobilisieren oder bedeutende Spill-Over-Effekte für angrenzende touristische Angebote mit sich bringen. Bei fortlaufender Pflege und mit einer verantwortungsübernehmenden Trägerschaft kann der Pommersche Jakobsweg dennoch durchaus den Status eines bedeutenden, alternativen Jakobsweges im europäischen Pilgerwegnetz übernehmen, da die Eignung als Pilgerpfad aufgrund seiner ländli- 374 Vgl. FUR 2015, 4ff. <?page no="245"?> chen und kulturreichen sowie naturverbundenen Raumstruktur auf einem überdurchschnittlichen Niveau liegt. Weiterhin gilt der Ostseeraum als touristischer Dauerbrenner und ein bedeutendes Interesse am Weg selbst wurde nachgewiesen. Nicht zu allerletzt sollte die Bedeutung des Internets erwähnt werden. Ein Großteil der Reiseplanung findet heutzutage über dieses Medium statt. Die Relevanz sozialer Medien wie Facebook, von Bewertungsplattformen wie Tripadvisor und Vermittlungsdiensten der sharing economy wie airbnb und couchsurfing sollten insbesondere bei alternativen Reiseformen nicht außer Acht gelassen werden. Der Megatrend der Digitalisierung wird langfristig auch den Pilgertourismus mit gestalten. Informationen im Internet sollten längst Hauptbestandteile der Marketingstrategien von Pilgerwegen sein, da auch Pilger dieses Medium primär zur individuellen Informationsbeschaffung nutzen. Der Pilgertourismus gestaltet sich als eine alternative Tourismusform, der seine Stärken aus der Vereinbarung verschiedener Tourismusarten zieht und durch Vorstöße in den Medien, etwa in Form von Kinofilmen oder Romanen, stetig präsent ist, mit Nachdruck auch im „Mainstream“ Aufmerksamkeit erlangt und in das Bewusstsein der Massen drängt. Die Besonderheit dieser Reiseform ist die spirituelle Szenerie, welche keine direkte Opposition zur Kirche und Religion bildet, jedoch zunehmend in einer „entkonfessionalisierten Erlebnisreligiosität“ mündet. 375 Diese Grundlage liefert den vorsätzlichen Hintergrund für das Setting des Pilgertourismus und die Kulisse für die erfahrenen, in ihrer Art anspruchsvollen und experimentierfreudigen Reisenden, aus welchen sich die Gruppe der Pilger zusammensetzt. Ebendiese alternativen Reisenden sind Individuen aus der breiten Masse, welche den Pilgertourismus als Entscheidung gegen Pauschalreisen, Massentourismus und Reiseveranstalter sowie allgemeingültige gesellschaftliche Entwicklungen für sich entdeckt haben. Auf dem globalen Reisemarkt verliert der europäische Kontinent hauptsächlich gegenüber Asien und Nordamerika an Boden. Vornehmlich etablierte Reiseformen stagnieren hier im direkten Vergleich zu anderen Region der Welt. Neue beziehungsweise wiederentdeckte, alternative Reiseformen, wie der klassische Pilgertourismus, verzeichnen unterdessen ein starkes Wachstum. Besonders im Hinblick auf Santiago de Compostela und die Jakobswege ist ein einzigartiger (Reise-)Kult entstanden, welcher international und über die Grenzen Europas hinaus Aufmerksamkeit erregt. Dies gilt in erster Linie für die bereits etablierten Pilgerwege, wie den Camino Francés. Pilgern ist demnach nicht nur in seiner ursprünglichen religiösen Form ein globales Phänomen mit nicht zu unterschätzender Bedeutung für den globalen Reiseverkehr. Der Pilgertouris- 375 Vgl. Gamper/ Reuter 2014, 258f. <?page no="246"?> mus, wie er entlang der Jakobswege praktiziert wird, ist eine gesellschaftliche Reaktion auf postmoderne Strukturen und unterscheidet sich teilweise stark von anderen artverwandten Reisen, hauptsächlich, was die Motivation, den Reiseverlauf und auch die Bedürfnisse sowie die Ansprüche der Touristen betrifft. Diese Form des Pilgertourismus ist von einer enormen Fülle und Heterogenität gekennzeichnet. Pilgerwege müssen dementsprechend vielfältig für Reisende ausgelegt werden. Eine Pilgerwanderung ist etwas Authentisches und Ursprüngliches, gleichzeitig jedoch auch eine relativ neue Erscheinung auf dem Reisemarkt. Neue Pilgerwege, wie der Pommersche Jakobsweg, müssen erst mit Bedeutung aufgeladen werden, um Räume für das Pilgererlebnis zu schaffen. Der postmoderne Pilgertourismus entlang solcher Wege sollte derweil als das betrachtet werden, was er uneingeschränkt ist: ein Konglomerat verschiedener Motivationen, welche sich in einem Gefüge ungleicher Reiseformen zusammenführen lassen. Im Fokus der Betrachtung der Touristen sollte das besondere Pilgererlebnis im Mittelpunkt stehen. Diese Besonderheit der Reiseform bringt Rückschlüsse auf das Wie, Wer und Warum mit sich. Fakt ist, dass das Erlebnis in seiner Auslegung von Reiseform zu Reiseform unterschiedliche Formen annimmt. Gleichzeitig steht außer Frage, dass es für diese alternative Art zu reisen von enormer Bedeutung ist. Erlebt werden der Pilgerraum, die Kultur, die Natur, der eigene Körper und Geist, aber auch die Pilgergemeinschaft oder das gastronomische Angebot einer Region. Insbesondere vor dem Hintergrund steigender Popularität des Pilgertourismus ergeben sich Entwicklungschancen für periphere Pilgerwege. Für unterentwickelte Regionen wird im Tourismus oft die einzige Chance gesehen, wirtschaftlichen Erfolg zu erbringen. Als Nischensegment und Angebot für alternative Touristen können Pilgerwege in solchen Regionen Impulse setzen und die raumbezogene Tourismusentwicklung vorantreiben. Dies ist auch im Fall des Pommerschen Jakobsweges angedacht. Dieser führt durch eine Urlaubsregion in einem sonst eher strukturschwachen Raum und zieht dabei von einem touristischen Zentrum ins andere. Dabei führt er, was den Reiseverkehr betrifft, durch zahlreiche benachteiligte Gebiete. Mithilfe des Pilgertourismus können Überbrückungen geschaffen werden, welche den touristischen Raum strecken. Die Synergieeffekte auf angrenzende Angebote sind indessen als unterschiedlich stark einzuschätzen und sollten bei peripheren Pilgerwegen nicht überbewertet werden. Allgemein ist in diesen Regionen der Tourismus ein Wachstumsmarkt. Durch die Ergänzung des Segments des Pilgertourismus gestaltet sich die Angebotsstruktur entsprechend wertvoller. Überdies kann sich ein Pilgerweg durch touristische Inwertsetzung mit angrenzenden Angeboten gegenüber seiner Konkurrenz hervorheben. Hier gilt es jedoch, Grenzen zu beachten, welche das Pilgererlebnis nicht einschränken dürfen. Darüber hinaus darf keine inflationäre Erscheinung von Pilgerwegen geschaffen werden, da diese sonst in ihrer Form als touristisches Produkt an Eigenheit verlieren. <?page no="247"?> Der alternative Pilgertourismus wird auch in Zukunft weiter erfolgreich sein. Durch die Beschaffenheit des Wanderns im Sinne von Spiritualität sowie einen Zusatz von Natur und Kultur ist eine besondere und äußerst disperse Reiseform entstanden, welche weitreichend frei von Dogmen und Konventionen ist, individuell gestaltet und ausgelegt werden kann und gegenwärtigen Reisetrends gleichkommt. Pilgern ist dabei kein schlichtes Verlassen des Alltags, es ist eine Reflexion dessen und eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit diesem, primär mittels einer differenzierten und alternativen Raum-, Zeit- und Selbstwahrnehmung. Das Reisen dringt augenscheinlich zunehmend in die Strukturen des alltäglichen postmodernen Lebens ein und findet in entsprechenden alternativen Reiseformen nachhaltige Erfolgsaussichten für eine einträgliche Ausrichtung des Tourismus. Bettin, H./ Volksdorf, D. (2003): Pilgerfahrten in den Stralsunder Bürgertestamenten als Spiegel bürgerlicher Religiosität. In: Herbers, K./ Bauer, D. (Hg.) (2003): Der Jakobuskult in Ostmitteleuropa. Jakobusstudien, Bd. 12. Tübingen. 231-258. Bünz, E. (2011): Nordelbien - St-Gilles - Santiago. Pilger im Süden und Patrozinien im Norden. In: Gómez-Montero, J. (Hg.) (2011): Der Jakobsweg und Santiago de Compostela in den Hansestädten und im Ostseeraum. Studien und Texte zu Kulturellen Räumen in Europa. Bd. 1. Kiel. 35-52. FUR (2015): Reise Analyse 2015. Erste ausgewählte Ergebnisse der 45. Reiseanalyse zur ITB 2015. [online] Verfügbar unter: http: / / www.fur.de/ ra/ news-daten/ [Letzter Zugriff 22.04.2015]. Gamper, M./ Reuter, J. (2014): Glaube in Bewegung. Pilgern im Spiegel soziologischer Forschung. In: Clemens, L./ Bauerfeld, D. (Hg.) (2014): Gesellschaftliche Umbrüche und religiöse Netzwerke. Bielefeld. 253-274. Gómez-Montero, J. (Hg.) (2011): Der Jakobsweg und Santiago de Compostela in den Hansestädten und im Ostseeraum. Studien und Texte zu Kulturellen Räumen in Europa. Bd. 1. Kiel. Knapinski, R. (2003): Vom Apostel zum Pilgerpatron. Die Ikonographie des Hl. Jakobus in der polnischen Kunst. In: Herbers, K./ Bauer, R. (Hg.) (2003): Der Jakobuskult in Ostmitteleuropa. Tübingen. 93-112. Kropinova, E. (2012): Agroand Rural Tourism in the Baltic Sea region. A Growing Sector. In: Karlson, I./ Rydén, L. (Hg.) (2012): Rural Development and Land Use. Ecosystem, Health and Sustainable Agriculture. Bd. 3. Uppsala. 130-140. Project M (Hg.) (2014): Wanderstudie - Der deutsche Wandermarkt 2014. Hamburg. <?page no="248"?> Przybylska, L./ Soljan, I. (2010): Polish pilgrimages to Santiago de Compostela. Ways of St. James in Poland. In: Geo Journal of Tourism and Geosites, Vol. 6, Nr. 2/ 2010. 211-218. Szabó, T. (2003): Das Straßennetz zwischen Mittel- und Osteuropa. Der Weg nach Santiago. In: Herbers, K./ Bauer, R. (Hg.) (2003): Der Jakobuskult in Ostmitteleuropa. Tübingen. 27-40. Wenta, R. (2010): Stan prac nad reaktywowaniem Pomorskiej Drogi w. Jakuba. In: Miejska Biblioteka Publiczna (Hg.) (2010): Drogi w. Jakuba na obszarze krajów po udniowego wybrze e Ba tyku. L bork. 41-54. Zaucha, J. (2010): REC Reate - fundusze UE na spo ecznej s u bie. In: Miejska Biblioteka Publiczna (Hg.) (2010): Drogi w. Jakuba na obszarze krajów po udniowego wybrze e Ba tyku. L bork. 83-92. <?page no="249"?> „Pilgern und Kloster als Kraftquelle für den Weg, das passt perfekt zusammen.“ Diese Worte eines Pilgers erreichten uns mit einem Gruß auf einer Postkarte. Johannes ist abschnittsweise auf dem Jakobsweg unterwegs und grüßt uns von seiner aktuellen Etappe, nachdem er im Mai 2015 bei uns als Pilger gerastet hat. In den Worten „Kloster als Kraftquelle für den Weg“ sind die Wünsche der Wallfahrer in sehr komprimierter Form auf den Punkt gebracht. Im Folgenden sollen diese Wünsche von verschiedenen Seiten beleuchtet und in der Form eines Erfahrungsberichtes dargestellt werden. Hier fließen sowohl eigene Erlebnisse als Gastgeber im Kloster Huysburg als auch die Erfahrungen derer zusammen, die als Pilgernde hier gerastet haben. Einige haben ihr Erleben mit uns geteilt und dazu auch etwas formuliert. Im vorliegenden Beitrag fließen Äußerungen von etwa zehn Personen ein. Zur Sprache kommen sollen aber auch Erwartungen und Wünsche, die Pilger auf dem Weg allgemein an eine klösterliche Raststätte haben. Am Anfang wird es um die Innenperspektive <?page no="250"?> gehen: Wer ist es, der im Kloster Huysburg Gastfreundschaft pflegt und was motiviert uns dazu? In einem zweiten Schritt soll das Erleben der Pilger umrissen werden. Als Drittes wird der Blick geweitet über den Kreis der tatsächlichen Pilger auf die vielen, die als Gäste ein Kloster wie das unsere aufsuchen. Wir leben als Benediktinermönche im Kloster Huysburg, dessen Wurzeln ins zehnte Jahrhundert zurückreichen. Es liegt auf den Anhöhen des Huywaldes in der Nähe von Halberstadt im Vorharz. Heute ist der Ort geprägt durch vier Faktoren: die Mönchsgemeinschaft, die hier lebt und arbeitet - zusammen mit zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern; Pfarrort für eine zahlenmäßig kleine katholische Gemeinde, verteilt auf 16 Dörfer nördlich des Huys; Wallfahrtsort für das Bistum Magdeburg, er liegt am St.-Jakobus-Pilgerweg in Sachsen-Anhalt und ist gleichzeitig Ziel jährlicher Bistumswallfahrten; die Huysburg ist eine Stätte gelebter Gastfreundschaft, sehr konkret mit einem Gäste- und Tagungshaus und - vor allem im Blick auf Tagesgäste - mit einem Klostercafé und Klosterladen. So ist der Pilgerempfang eingebettet in eine vielfältig geprägte Atmosphäre. Wir Mönche leben nach der Regel des heiligen Benedikt (etwa 480 bis 547). Auch wenn diese Lebensregel schon vor anderthalb Jahrtausenden verfasst wurde, ist sie von erstaunlich bleibender Aktualität. Ein ganzes Kapitel der Regel (Regula Benedicti = RB) widmet Benedikt der Aufnahme von Gästen, die - wie er selbst wohl aus eigener Erfahrung gut weiß - „dem Kloster nie fehlen“ 376 . Auch die Aufnahme der Pilger wird eigens mehrfach erwähnt. „Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus: denn er wird sagen: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt 25,35) Allen erweise man die angemessene Ehre, besonders den Brüdern im Glauben und den Pilgern.“ 377 Benedikt macht klar: Die Aufnahme von Gästen und Pilgern ist keine Aufgabe gelebter Höflichkeit oder rein zwischenmenschlichen Respekts: Mönche haben ihr Leben der Gottsuche und der Christusbegegnung verschrieben, sie fühlen sich von Gott her dazu eingeladen, und antworten mit ihrer Lebensform und ihren Gelübden auf diese Einladung. Und so heißt es bei Benedikt sehr deutlich: Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Pilgern zeige man 376 Regula Benedicti 53, 16. 377 Regula Benedicti 53, 1-2. <?page no="251"?> Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen. 378 Die Gästeaufnahme ist damit nicht einfach eine zu bewältigende Arbeit, sondern vor allem eine geistliche Aufgabe. Dass der Gästeempfang trotzdem gut organisiert sein soll, ist für Benedikt selbstverständlich und er gibt entsprechende Anweisungen. Man soll die Gäste auch zum Gottesdienst mitnehmen, soll sie aufmerksam versorgen und Zeit für Begegnung und Gespräch vorsehen. 379 Aber auch hier: Der zuständige Bruder soll „ganz von Gottesfurcht durchdrungen sein“ 380 und „Das Haus Gottes soll von Weisen auch weise verwaltet werden“ 381 . Konkret sieht das bei uns so aus, dass wir über die Klosterpforte und die Rezeption des Gästehauses versuchen, präsent und ansprechbar zu sein - verbunden mit allen heute möglichen medialen Gegebenheiten. Übernachtung und Verpflegung sind durch das Gästehaus und die dortigen Mitarbeiter gewährleistet. Alle unsere Gottesdienste sind öffentlich und wir laden zu allen Gebetszeiten ins Chorgestühl ein. Dort liegen einfach handhabbare Textblätter und Texthefte aus. So können die Gäste gut mitbeten und nachvollziehen was geschieht. Und wie gesagt, wir laden dazu ein, wir verpflichten niemanden. Der Gästebruder begrüßt die Gäste nach ihrer Ankunft, z. B. bei der ersten Mahlzeit im Speisesaal des Gästehauses, er nimmt Kontakt auf und bietet Gesprächsmöglichkeiten an. Für Tagesgäste ist der Klosterladen oder das Klostercafé ein wichtiger Anlaufpunkt, wo sie auch Auskunft zu den Wegen in der Umgebung erhalten können. Soweit die Innenperspektive der Empfangenden. Hier durchaus im doppelten Sinn des Wortes gemeint: Wir empfangen Menschen und erfahren uns dabei in der Begegnung mit ihnen immer wieder als Beschenkte und werden so selbst Empfangende für die Teilgabe an ihrer Freude und ihren bereichernden Lebensperspektiven und für ihren Dank. Die Außenperspektive der Ankommenden oder der Pilgernden lässt sich in drei Elementen betrachten: ihre Ankunft bzw. das Empfangenwerden, das Verweilen und das Aufbrechen. Wie zu zeigen sein wird, gibt es zu jedem Element spezifische Erwartungen und Wünsche. Bei der Ankunft freuen sich die Pilger über ein freundliches und wertschätzendes Empfangenwerden, sowohl durch 378 Vgl. Regula Benedicti 53, 15. 379 Vgl. Regula Benedicti 53, 8-14. 380 Regula Benedicti 53, 21. 381 Regula Benedicti 53, 22. <?page no="252"?> die Mitarbeitenden als auch durch die Schwestern und Brüder der aufgesuchten Klöster. Wie groß die Erwartung gerade an Klöster ist, zeigt sich in der Schilderung schlechter Erfahrungen von zwei Pilgerinnen: Einmal hier in Deutschland, wo trotz vorheriger Anmeldung keine Schwester Zeit für eine kurze Begrüßung fand. Ein anderes Beispiel aus Spanien, wo in einem Kloster sehr deutlich zwischen vorangemeldeten, gut zahlenden Pilgern und zugelaufenen Ad-hoc-Besuchern unterschieden wurde - bis hin zum Verweis auf einen zugigen Essplatz auf dem Hof. Ein solches Verhalten wird Klöstern besonders lange nachgetragen. An das weitere Ankommen stellen sich wie an allen Rastplätzen auf dem Weg ähnliche Anforderungen: Vordringlich sind die körperlichen Bedürfnisse. Schwester Laetitia, eine befreundete Benediktinerin, fasst es aus eigener Erfahrung in die Worte: „Dem Pilger geht es erstmal um ganz elementare Dinge: Dusche, gegebenenfalls Wunden versorgen, Wäsche, Essen, Schlafen - in dieser Reihenfolge. Dann kommt Sightseeing, vielleicht Museum, dann das Fromme.“ So wird es sehr geschätzt, möglichst rasch nach der Ankunft die Zimmer aufsuchen zu können. Wenn die körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind, öffnen sich die Sinne auch wieder für anderes. Die Atmosphäre des Ortes wird intensiver wahrgenommen, der Wunsch, den Ort zu erkunden, wird wach und führt die bei uns rastenden Pilger auf die Terrasse des Klostercafés, in die Kirche und in den Garten. Das bisher Beschriebene gilt vor allem für Pilger mit Nachtquartier. Für Pilger, die nur kurzzeitig bei uns einkehren, stellt es sich ein wenig anders dar. So schreibt die Pilgerin Tamara: „Und wenn ich nur im Kloster eine Rast einlege und nicht nächtige: Eine Gelegenheit zum Ausruhen, das heißt auch eine offene Kirchentür. (Im Hessischen waren die Kirchentüren oft verschlossen, in einem verregneten Mai nicht sehr angenehm.)“ Und Edith schrieb: „Das Sitzen auf einer Kirchenbank in einem Kirchenraum, das war eine wirkliche Rast, das war der richtige Ort und die Bank war nie hart.“ Und immer wichtig: „Eine Toilette, Zugang zu Trinkwasser (ich habe auch schon unterwegs an Haustüren geklingelt, weil der Tag so heiß war und keine Einkaufsmöglichkeit am Weg.)“ Viele kommen gerne zu den Gebetszeiten der Mönchsgemeinschaft, manche nehmen dabei die Einladung an, im Chorgestühl Platz zu nehmen, andere lassen das Geschehen lieber aus der Entfernung von einem Sitzplatz im Kirchenschiff auf sich wirken. Einmal angekommen, lassen sich die Wünsche und Bedürfnisse der Rastenden noch weiter differenzieren, hier vor allem zwischen Einzelpilgern, Pilgergruppen und den Besuchermassen an den Wallfahrtstagen. Einzelpilger waren es in <?page no="253"?> den letzten Jahren bei uns auf der Huysburg pro Saison etwa 70: Sie haben Zeit für sich mitgebracht, z. B. zum Lesen und Betrachten. So schätzen sie es sehr, vor Ort Zugang zu geistlicher Literatur zu haben, zur Bibel und zu Gebetbüchern - im eigenen Gepäck wäre das alles zu schwer. Gerne wird auch das Gesprächsangebot der Mönchsgemeinschaft wahrgenommen: Einmal aussprechen können, was mich jetzt im Augenblick oder auch schon länger bewegt. Dann die Pilgergruppen, pro Saison zählen wir etwa 120 Personen in unterschiedlich großen Gruppen. Für sie bedeutsam ist vor allem die Gruppenerfahrung, in der Gruppe unterwegs zu sein. Da stehen das Kloster und die Mönchsgemeinschaft nicht so im Fokus wie bei den Einzelpilgern. So nehmen sie seltener die Einladung zu den Gebetszeiten wahr, nutzen unsere Kirche aber gern für eigene Andachten und Gottesdienste. Zu denken ist hier vor allem an Gruppen wie die Teilnehmenden der Magdeburger Fußwallfahrt nach Klüschen Hagis im Eichsfeld oder regionale Gruppen auf dem Jakobsweg Sachsen-Anhalt. 382 Hier zu nennen sind aber auch Pilgerinitiativen, die unser Kloster selbst verantwortet: Schon seit Mitte der 1990er-Jahre macht sich jährlich Anfang Mai eine stetig wachsende Zahl von Männern auf den Benediktuspilgerweg: eine zweitägige Fußwallfahrt von Groß Ammensleben durch die Börde bis zur Huysburg. Und seit 2009, aus Anlass der Erinnerung an die 20-jährige Wiederkehr der innerdeutschen Grenzöffnung initiiert, gibt es die West-Ost-Wallfahrt: Eine gemischte Gruppe von Pilgerinnen und Pilgern startet jährlich im September im Benediktinerinnenkloster Marienrode bei Hildesheim und nimmt den Weg über Lamspringe, Wernigerode und Osterwieck zur Huysburg. Sehr bewusst wird der Übergang über eine Jahrzehnte nicht zu durchdringende Grenze erlebbar. Bemerkenswert ist hier die Tendenz zu Verstetigung und zur Verbindlichkeit. In den letzten Jahren haben sich zu beiden Pilgerwegen Pilgerbruderschaften gegründet: eine Benediktus-Männer-Bruderschaft für den gleichnamigen Pilgerweg und eine aus Frauen und Männern zusammengesetzte Ekkehard-Bruderschaft für die West-Ost-Wallfahrt. Hier wurde die Chance gesehen, über die erste begeisterte Generation hinaus die Nachhaltigkeit in den Blick zu nehmen, die andernorts schon seit Jahrhunderten gelebt und geschätzt wird. Als Vorbild dienten hier die Matthiasbruderschaften, deren Zweck und Ziel die Wallfahrt zum Grab des Apostels Matthias in Trier sind. Die Verbindung dorthin ist leicht zu erklären: Heute bildet die 1972 zu DDR-Zeiten gegründete Kommunität auf der Huysburg eine Gemeinschaft mit den Benediktinern in der Trierer Abtei St. Matthias. Eine der Hauptaufgaben des dortigen Konvents ist die Seelsorge an „ihrem“ Apostelgrab, denn hier wird seit Jahrhunderten das Grab des Apostels Matthias verehrt. Bis ins Mittelalter reicht die Geschichte einiger Bruderschaften und Pilgergruppen zurück. So gibt es auch 382 Vgl. Magdeburger Fußwallfahrt o. J. <?page no="254"?> reiche Erfahrung mit der Organisation von Wallfahrten. Diese wurden für die neuen Pilgerinitiativen der Huysburg gern genutzt. An beiden Orten - in der Abtei in Trier und im Kloster Huysburg - gehört zum Wallfahrtsbetrieb auch das Massenerlebnis. In Trier ist das besonders am sogenannten „Großen Pilgersonntag“ am Sonntag nach Christi Himmelfahrt erfahrbar: Schon am Samstag läuten jede halbe Stunde die Glocken zu den Einzügen der Fußpilger der Bruderschaften und Pilgergruppen. Am Sonntag ist dann Großgottesdienst mit rund 1500 Teilnehmenden in oder vor der Matthiasbasilika. Hier steigert sich das schon benannte Gruppenphänomen: Je größer die pilgernden Menschengruppen, desto geringer das konkrete Interesse am Kloster vor Ort. Das heißt, es gibt natürlich ein Interesse am Kloster und seiner Atmosphäre, aber der Wunsch nach Kontakt mit den dort lebenden Mönchen tritt dahinter zurück. So gibt es nicht wenige Matthiaspilger, die fest davon überzeugt sind, dass wir Franziskaner seien. Nicht ganz so drastisch, aber doch ähnlich verhält es sich bei der Bistumswallfahrt auf der Huysburg: Am ersten Sonntag im September versammeln sich regelmäßig um die 3000 Menschen auf dem Berg. Einige wenige machen sich von Schwanebeck aus zu Fuß auf den Weg, die meisten kommen mit Autos oder Bussen bis zum Fuße des Huys, wo sie parken und von dort herauflaufen. Immerhin ein kurzes Stück zu Fuß, doch scheint das weniger dem Pilgerideal, sondern vielmehr der geringen Anzahl an Parkplätzen um die Huysburg geschuldet zu sein. Das Hauptanliegen der Menschen gilt dem morgendlichen Großgottesdienst am Außenaltar und der Begegnung miteinander unter Wahrnehmung der Programmangebote bis zur nachmittäglichen Wallfahrtstunde. Der Kontakt mit uns Mönchen ist trotzdem ein Teil von zahlreichen Angeboten zur Information, zum Austausch und zur geistlichen Anregung. Doch zurück zu den hier stärker interessierenden Einzelpilgern und ihrem Aufbruch nach der Rast. Gestärkt an Leib und Seele, schätzen viele Pilger einen gestalteten Abschied in einer freundlichen und persönlichen Begegnung mit einem der vor Ort Verantwortlichen. Selbst Nichtchristen sind häufig offen für einen Segen oder einen Zuspruch. Oder wie Edith über den Beginn ihres Pilgerweges schrieb: „Ich wäre ohne einen Segen nicht losgegangen. Dann wäre es einfach nur eine Wanderung. Aber ich will pilgern. Es ist mir wichtig, in einer Kirche zu beginnen, das ist ein bisschen so, als holte ich Gott in seinem Zuhause ab und nehme ihn mit, ganz wie ein vertrauter Freund an meiner Seite.“ Im Kloster Huysburg verbinden wir den Segenswunsch meist mit dem Schlusssegen des Morgengebetes. Ausbaufähig ist sicher noch das Angebot eines konkreten Aufbruchsegens zum Weggeleit für Einzelne und Gruppen. <?page no="255"?> Die Gastaufnahme im Kloster Huysburg hat für uns einen hohen Stellenwert und ein breit angelegtes Spektrum. Willkommen sind Einzelne und Gruppen aus Kirche und Nicht-Kirche, sei es zu Einkehr und Besinnung oder Klausurtagungen; ebenso Unternehmen und Institutionen sowie Gruppen- und Familienfeiern. Der Empfang der Pilger ist ein wichtiger Aspekt neben anderen. Die Anliegen, die den Pilgern wichtig sind, teilen sie auch mit „normalen“ Gästen, die den Ort als Kraftquelle aufsuchen und erleben. Zu nennen sind hier die vielen Frauen und Männer, die vor allem Ruhe und Orientierung im Glauben suchen, Einzelne, die hier auftanken oder über Dinge sprechen wollen, die sie anderswo nur schwer über die Lippen bringen, z. B. in einer Lebenskrise, bei Beziehungsproblemen oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Ein hilfreicher Rahmen sowie die Möglichkeit vertrauensvoller Aussprache werden hochgeschätzt - unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religion oder Konfession. Benannt werden müssen an dieser Stelle aber auch Enttäuschungen. Manche Gäste verbinden sehr konkrete Vorstellungen mit einem Klosteraufenthalt. Der Vergleich dieser mitgebrachten, vorher nicht kommunizierten Vorstellungen mit unserem hotelartig geführten Gästehaus und seiner mitunter dichten Belegung hat in seltenen Fällen zu raschen Wiederabreisen geführt, häufig ohne die Möglichkeit eines klärenden Gesprächs. Denn die Gästezimmer haben durchwegs eine ruhige Lage und für Einzelne bieten wir Mahlzeiten im Schweigen mit uns Mönchen an. In den letzten zehn Jahren, seit der Inbetriebnahme unseres Gästehauses in der heutigen Größe, gab es aber auch zahlreiche positive Entwicklungen. Neben den bereits erwähnten Pilgerangeboten seien hier drei aktuelle Beispiele genannt. Auf Anfrage eines Reisebüros in Bremerhaven und in enger Kooperation mit den dortigen Fachkräften entwickelten wir erstens das Format einer Wander- und Kulturwoche, die als Leserreise in Illustrierten vermarktet wurde. Von zwei ausgebildeten Begleiterinnen aus dem Freundeskreis des Klosters geführte Wanderungen in Huy und Harz wechselten mit kulturellen Elementen wie z. B. dem Besuch des Domschatzes in Halberstadt ab. Auch Elemente des Pilgerns, beispielsweise Gehen im Schweigen, waren Teil des gemeinsamen Unterwegssein. Der Tagesplan berücksichtigte die Gebetszeiten der Gemeinschaft und ließ auch Raum für Freizeit. Das Angebot wurde überraschend gut nachgefragt, so dass sogar ein Zusatztermin avisiert werden musste. Schon seit mehreren Jahren bieten wir zweitens in Zusammenarbeit mit der Katholischen Erwachsenenbildung in Sachsen-Anhalt und dem regionalen Landesheimatbund sogenannte „Klostererfahrungstage“ an. Auch hier bildet die Einladung zu den gemeinsamen Gebetszeiten den zeitlichen Rahmen. Hinführung zu Gebet und Liturgie sowie Erschließung des gottesdienstlichen Raumes, Impulse für die persönliche Besinnung und Erkundungen der näheren Umgebung gehören ebenso zum Programm wie ein Gesprächsabend zum <?page no="256"?> Thema „Was ich einen Mönch schon immer mal fragen wollte“. Durch die Kooperationspartner werden die unterschiedlichsten Menschen angesprochen, die hier gemeinsame Erfahrungen machen. Steigender Beliebtheit erfreuen sich drittens die Huysburger Fastenkurse: Für acht bis zehn Tage heraus aus dem gewohnten Alltag, Verzicht auf die üblichen Konsumgüter, in der Gesellschaft von Gleichgesinnten dem Körper etwas Gutes tun. Neben Brühen, Tees und Säften maßvolles Bewegen im Huywald rings um das Kloster, Einladung zu den Gebetszeiten, Anregungen zur Besinnung und immer wieder Ruhephasen. Ohne „geistlichen Verpflichtungscharakter“ findet das Angebot sowohl in christlichen Kreisen als auch bei „religiös Unmusikalischen“ eine gute Nachfrage. Trotz guter Vernetzung im kirchlichen und gesellschaftlichen Kontext gibt es noch Entwicklungspotenzial. Die lockeren Verbindungen zu den Tourismusverantwortlichen in Halberstadt und seiner Umgebung, im Landkreis Harz und auf Landesebene ließen sich im Rahmen des Spirituellen Tourismus noch weiter intensivieren und ausbauen. Im Blick auf die Gestaltung der Wanderwege im Huy und weiterer lokaler Aktivitäten ist uns die Kooperation mit dem Förderverein zwischen Huy und Bruch und unserer Ortsgemeinde wichtig. Langjährige Zusammenarbeit verbindet uns mit den Trägern der Straße der Romanik und dem Jakobusweg Sachsen-Anhalt. Weiteres Potenzial der Zusammenarbeit bieten die nahe gelegenen Pilgerwege: der Harzer Klosterwanderweg und die Via Romea. Der Beitrag versucht, einen Bogen zu schlagen von der Motivation des klösterlichen Empfangspersonals über die Etappen des Ankommens, Verweilens und Weiterziehens hin zu den verschiedenen Charakteren und Bedürfnissen der Ankommenden sowie zu Chancen und Grenzen weiterer Möglichkeiten. „Pilgern und Kloster als Kraftquelle für den Weg, das passt perfekt zusammen.“ Der Satz stimmt auch am Ende des Beitrags aus allen vorgestellten verschiedenen Perspektiven immer noch. Und er schließt mit dem Wunsch, dass noch viele Menschen die Huysburg und andere von Mönchen und Nonnen belebte Klöster als Kraftquelle erfahren mögen. <?page no="257"?> Becker OSB, P. (1999): Trier. St. Eucharius - St. Matthias. In: Die Männer- und Frauenklöster der Benediktiner in Rheinland-Pfalz und Saarland. St. Ottilien. 902-937. (= Germania Benedictina IX) Becker OSB, P. (1996): Die Benediktinerabtei St. Eucharius - St. Matthias vor Trier. Berlin/ New York. (= Germania sacra NF 34,8) Bernard, B. (1995): Die Wallfahrten der St.-Matthias-Bruderschaften zur Abtei St. Matthias in Trier. Vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Heidelberg. Lorek, D. (Hg.) (2004): In nomine Domini! Die Huysburg. Zur Geschichte des Priesterseminars. Leipzig. Magdeburger Fußwallfahrt (o. J.): Fußwallfahrt Magdeburg - K lüschen Hagis. [online] Verfügbar unter: http: / / www.magdeburger-fusswallfahrt.de/ Nonn OSB, N. (2011): Willkommen! Vom Segen der Gastfreundschaft. Münsterschwarzach. (= Münsterschwarzacher Kleinschriften Bd.181) Regula Benedicti (2006): Die Benediktusregel Lateinisch/ Deutsch. [hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz] 4. verbesserte Auflage. Beuron. Römer, C. et al. (2012): Huysburg. In: Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. St. Ottilien. 627-696. (= Germania Benedictina X/ 1) <?page no="259"?> Kirche und Spiritualität sind in den letzten Jahren weiblicher geworden. Viele Männer finden sich mit ihrem Lebensgefühl und mit ihren Themen offenbar immer weniger in ihr wieder. Da sich viele in ihrer Arbeitswelt fremdbestimmt und eingesperrt fühlen, erleben sie alles, was sie auch in ihrer Freizeit tatsächlich oder vermeintlich einschränken will (u. a. die Kirche), als Beengung. Wenn schon Kirche, dann bitte eine Kirche in Bewegung. Männer suchen Gegenwelten zum Alltag und haben eine große Sehnsucht nach Weite und Freiheit. So haben viele eine natürliche Affinität zum Pilgern, das im Wesentlichen die Haltung des Aufbruchs, des Aufdem-Wege-Seins als Erfahrung vermittelt. Die Ruhe und Bewegung, in die Männer beim Pilgern eintauchen, werden ihnen zur Quelle der Kraft und Inspiration. <?page no="260"?> Religion ist im sogenannten christlichen Abendland Frauensache geworden. Männer tun sich schwer, einen Zugang zu ihr zu finden. Viele Männer umgehen, ja fliehen geradezu vor der Welt der Religion und nehmen Abstand von der Kirche. Der Auszug bzw. der Rückzug der Männer aus dem kirchlichen Leben in den letzten 50 Jahren ist eklatant. Männer sind nicht nur religiösen Fragen gegenüber distanzierter als Frauen, sondern sie sind auch in der Partizipation am kirchlichen Leben auffällig und zunehmend auf dem Rückzug. Nach wie vor sind zwar die höchsten Leitungsämter sowohl der Römischkatholischen als auch der Evangelischen Kirchen in Deutschland vorwiegend von Männern besetzt, aber auch das ändert sich gerade. In den Leitungsämtern der evangelischen Landeskirchen, aber auch in der mittleren Ebene sowie in der Besetzung der Pfarrstellen halten zunehmend Frauen Einzug. Die Kirchenvorstandswahlen in den evangelischen Landeskirchen der letzten Jahre haben zu einem deutlichen Übergewicht von Frauen in den Entscheidungsgremien der Kirchengemeinden geführt. Auf der Ebene der ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bilden Frauen schon seit Jahrzehnten eine deutliche Mehrheit und Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen werden überwiegend von Frauen (geschätzte 80 %) besucht. Kirche wird an der Basis fast ausschließlich von Frauen organisiert und gestaltet. Diese Entwicklung ist erklärungsbedürftig und von den Kirchenleitungen in ihrer ganzen Dramatik noch nicht wirklich wahrgenommen worden! Es ist verständlich, dass hauptamtliche Vertreter der kirchlichen Männerarbeit, die diese Entwicklung seit Jahren beobachten, als erste reagiert und Umfragen in Auftrag gegeben haben. „Was Männern Sinn gibt - Leben zwischen Welt und Gegenwelt“ so lautet eine von Martin Engelbrecht und Martin Rosowski herausgegebene Umfrage bzw. Studie, die im Jahr 2005 von der Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Kirchlichen Arbeitsstelle für Männerseelsorge in den deutschen Diözesen in Auftrag gegeben und vom Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur an der Universität Bayreuth durchgeführt wurde. Bei dem zugrunde liegenden Forschungsprojekt „Die unsichtbare Religion bei kirchenfernen Männern“ wurden Männer zwischen 20 und 70 Jahren aus Bayern und Sachsen in persönlichen Interviews befragt. Als ein wichtiges Ergebnis hält die Studie fest: „Männer fühlen sich sehr wohl spirituell kompetent - doch sie legen hohen Wert darauf, ihre religiösen Erfahrungen selbstbestimmt zu gestalten und ihnen ihre eigene männliche Stimme zu geben.“ 383 383 Engelbrecht/ Rosowski 2007, 28. <?page no="261"?> Was sind nun die Gründe für die männliche Zurückhaltung in religiösen und kirchlichen Fragen und spiritueller Praxis? Sind die Männer religiösen Fragen gegenüber uninteressierter als Frauen oder haben sie etwa Angst vor der Religion? Fehlt ihnen vielleicht ein religiöses Gen? Oder sind die Kirchen in ihren Angeboten und in ihrer Sprache mittlerweile so weiblich dominiert, dass Männer sich mit ihren Themen nicht mehr angesprochen fühlen? Der Auszug bzw. Rückzug der Männer aus dem religiösen und kirchlichen Leben ist nicht nur Ausdruck eines Desinteresses oder gar Ausdruck ihres Emanzipationsbestrebens, sondern auch Folge von zum Teil unbewusster Angst vor der Religion. Der christliche Glaube basiert auf Erfahrungen, Haltungen und Einstellungen, die auf den neuzeitlichen Mann in mancher Hinsicht bedrohlich, ja sogar lebensgefährlich wirken. Es sind m. E. drei wichtige Erfahrungen bzw. Haltungen, die in der Spiritualität gemacht werden können bzw. erwartet werden, die vielen Männern Mühe machen und die sie nur schwer aushalten: In der christlichen Religion werden Erfahrungen der Passivität und der Abhängigkeit thematisiert und in sozialen Zusammenhängen symbolisch gestaltet. Aus Anlass von Geburt, Heirat und Tod werden Übergangsrituale gefeiert (Taufe, Trauung, Beerdigung), die helfen sollen, die erlebte Ohnmacht an diesen Lebensübergängen zu verarbeiten. Für Männer, die vom Wahn der Machbarkeit bestimmt sind, wirken solche Themen und Rituale schwierig. Das Kreuz bzw. der gekreuzigte Christus, der in diesen Ritualen eine zentrale Rolle spielt, ist das Gegenbild der Wahnvorstellung männlicher Machbarkeit und Selbstbeherrschung. Dass da einer von ihnen am Kreuz festgenagelt wird, dem Spott und der Gewalt der Menschen ausgeliefert, das bedroht männliches Empfinden stärker als weibliches und löst tiefsitzende Ängste aus. In der christlichen Religion werden Erfahrungen der Infantilität thematisiert und in sozialen Zusammenhängen symbolisch gestaltet. Nach biblischer Tradition sind die Gläubigen Kinder, Söhne und Töchter Gottes, des himmlischen Vaters. Sie werden durch die Taufe in diese Beziehung gerückt und immer wieder eingeladen, im Glauben ihre Gotteskindschaft anzunehmen. Solcher Glaube kann vor dem Rückfall in falsche Infantilität bewahren und helfen, zu einer erwachsenen reifen Form von Männlichkeit zu gelangen. „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war“ (1 Kor 13,11). Viele neuzeitliche Männer verdrängen jedoch die eigenen Kindheitsanteile. Sie tun sich schwer mit zweckfreien spielerischen Aktivitäten. Gleichwohl sind viele von einem kindlichen Glauben und einer Naivität beherrscht, man könne das, was man zerstört hat, auch wieder völlig reparieren. Der zerstörerische Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen ist u. a. von dieser infantil-naiven männlichen Mentalität geprägt, die keine Verantwortung übernehmen will. <?page no="262"?> In der Kirche gibt es relativ oft den Typ des kindlichen Mannes, der nicht erwachsen geworden ist und der zu seiner Macht (zu verstehen im Sinne von Einflussnahme) in Bezug auf andere Menschen kein positives Verhältnis findet. Mit Hinweis auf Jesus von Nazareth, der angeblich auf alle Macht verzichtet habe, lehnen viele religiös oder kirchlich geprägte Männer (unter ihnen viele Pfarrer) Macht generell ab. Sie haben geradezu Angst vor der Macht. Wenn jedoch Macht nicht ergriffen und gestaltet wird, „geht sie zum Teufel“. Es werden sich andere finden, die in das Machtvakuum hineingehen und es u. U. mit Absichten und Energien verbinden, die Menschen zerstören und in Abhängigkeit bringen. Dass manche selbsternannte friedliebende Männer mit ihrem erklärten Machtverzicht das Thema Macht nur verdrängen, ist offensichtlich. Sie können dann auf andere Weise unglaublich autoritär werden. In der christlichen Religion werden schließlich Erfahrungen der Emotionalität thematisiert und im sozialen Zusammenhang symbolisch gestaltet. Gerade in religiösen Kontexten steigen manchmal Sehnsüchte, Ängste, Träume der Vereinigung und Vernichtung aus der Trieb- und Gefühlswelt empor, die auf Männer besonders bedrohlich wirken, weil sie selber keinen Zugang zu ihren Emotionen haben. Eine Parole der Neuzeit, von Männer ausgegeben und von Männern beherzigt, lautet deshalb: Beherrsche dich, deine Gefühle, deine Triebe! Der so beherrschte Mensch ist aber auch der beherrschbare Mensch. Die Erziehungsmethoden für Jungen in der Hitlerjugend während des Nationalsozialismus in Deutschland, die auf körperliche und mentale Abhärtung und absolute Kontrolle der Emotionen abzielten, hatten die Erziehung zum gehorsamen, willenlosen Soldaten und seine totale Beherrschbarkeit zum Ziel. Die Angst der Männer vor der Religion ist also nicht ganz unbegründet. Es kann durchaus gefährlich sein, sich in der Religion der göttlichen Macht anzuvertrauen, sich ihr passiv zu überlassen, die Kontrolle abzugeben und von starken Emotionen oder vom Geist Gottes ergriffen und berührt zu werden. Neben der Angst vieler Männer vor der Religion scheinen auch die zunehmende Feminisierung von Kirche und Spiritualität ein wesentlicher Grund dafür zu sein, dass Männer sich dort nicht mehr wohlfühlen und auf Abstand gehen. Nicht nur in der Kirche, sondern auch in esoterischen Gruppen und Zirkeln, überall wo es um Religion und Spiritualität geht, machen Frauen ihren Einfluss zunehmend geltend. Sie stellen nicht nur die Mehrheit der Teilnehmer, sondern prägen und bestimmen auch als Verantwortliche weithin die Themen, Fragestellungen, Methoden und Inhalte von Veranstaltungen. Bis in die Theologie und kirchliche Verkündigung ist die Dominanz des Weiblichen zu spüren. Dass diese Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten mit dem Aufkommen der feministischen Theologie begonnen hat und rasant fortgeschritten ist, ein entscheidend <?page no="263"?> wichtiges emanzipatorisches Potenzial hat und für die Frauen und die Kirche einfach dran und notwendig war und ist, ist nicht zu bestreiten. Mittlerweile haben wir aber in der evangelischen Kirche (und von der soll im Folgenden vor allem die Rede sein) einen Zustand von kirchlichem Leben erreicht, der viele Männer tief verunsichert. Männer finden sich mit ihrem Lebensgefühl und mit ihren Themen offenbar immer weniger in der Kirche wieder. Der zunehmende quantitative und qualitative Einfluss und Niederschlag weiblicher Inhalte und Formen im Bereich von Spiritualität und kirchlichem Leben scheint mit dem Rückzug der Männer aus dem kirchlichen Leben in unmittelbarer Wechselbeziehung zu stehen. Den Frauen ist an dieser Stelle kein Vorwurf zu machen. Die Männer haben diese Entwicklung durch ihren Rückzug befördert und sind jetzt dran, sich als Gegenüber und Partner wieder ins Spiel zu bringen. Weil Männer einen anderen Körper haben und ihr Gehirn anders benutzen als Frauen, glauben sie auch anders. Sie glauben nicht an etwas anderes als Frauen, aber sie glauben anders, d. h. sie haben andere Zugänge zur Religion und Spiritualität. „Männerglaube wirkt karg und einsilbig, will die eigene Lebensrealität darin finden, liebt den Einsatz von Kraft und Aggression, muss archaischer, ritualisierter, pathetischer sein. Lust und Sinnlichkeit dürfen nicht ausgeschlossen werden.“ 384 Von daher scheint gerade das Pilgern eine ideale Form männlicher Spiritualität zu sein. Denn beim Pilgern kann man etwas tun, man darf sich bewegen, der Einsatz von Körperkraft ist notwendig und man ist in der Regel frei und selbstbestimmt unterwegs. Das sind Erfahrungen und Haltungen, die männlichen Mentalitäten entsprechen. Männer suchen vor allem die Tat. Männliche Energie hat Biss, ist offensiv und will gestalten. Darin kommt auch der wilde Mann zum Zug. Männliche Energie zieht das Tun dem bloßen Sein vor. Viele Männer tun sich schwer mit den klassischen Übungen der Spiritualität. Fasten und Beten ist nicht immer ihre Sache. Sie wollen lieber zupacken, etwas tun. Erfahrungen von Abhängigkeit und Passivität im Sinn des Geschehenlassens, die konstitutiv zur Religion und Spiritualität gehören, machen manchen Männern Angst. Frauen haben eher gelernt, damit umzugehen. Es fällt ihnen leichter, loszulassen, Dinge geschehen zu lassen, sich Gott zu überlassen. So mag das Nicht-aushalten-können von Passivität einerseits eine Schwäche von Männern sein. Andererseits ist ihr Drang zur Tat ihre Stärke. Und dieser Drang zur 384 Hofer 2013. <?page no="264"?> Tat und zur Bewegung findet im Pilgern einen adäquaten Ausdruck und eine angemessene religiöse Gestalt. Drei elementare Austauschprozesse, die unser ganzes Leben bestimmen, machen auch die Faszination des Pilgerns aus: 1. der räumliche Austausch (Ortswechsel), 2. der energetische Austausch (Stoffwechsel) und 3. der soziale Austausch (Wortwechsel). Die Sehnsüchte, die Männer in Bewegung bringen, sind vielfältig: Die Suche nach Freiheit und Abenteuer, die in einem minutiös durchorganisierten Alltag kaum noch erfahrbar sind. Die Sehnsucht nach einem einfachen Leben; der Versuch, mit weniger auszukommen, als Reaktion auf das Leben in einer Konsum- und Überflussgesellschaft. Die Sehnsucht nach Bewegung: den eigenen Leib, körperliche Grenzen zu spüren und unter gewissen Umständen zu überschreiten. Die Sehnsucht nach dem Elementaren: Sonne, Wind und Regen auf der eigenen Haut zu spüren, das scheint Männer noch mehr anzuziehen als Frauen. Heilung erfährt man selten an dem Ort, wo Arbeit und gestörte Beziehungen Leib und Seele entkräftet und verwundet haben. Heilung braucht den Ortswechsel. Um Heilung zu finden, muss man herausgehen aus den krankmachenden Verhältnissen. Das weiß derjenige, der eine Kur beantragt, das weiß der Urlauber und der Pilger. Um Heilung zu erfahren, muss man Orte der Kraft aufsuchen, wo man nicht nur sich selbst, sondern den heilenden Kräften des Lebens, ja dem Heiligen selbst begegnet und dadurch erneuert und verändert wieder zurückkehren kann. Die Studie „Was Männern Sinn gibt …“, die die Religiosität von kirchlich distanzierten Männern untersucht, zeigt deutlich: Männer wehren sich zunehmend gegen jede Form der Fremdbestimmung und bauen sich bewusst Gegenwelten zur oft fremdbestimmten Alltags- und Arbeitswelt auf, in denen sie auftanken, Kraft schöpfen und den Wert und Sinn ihres Lebens selbst bestimmen. Dabei spielen Motive wie Kampf, Leben und Abenteuer, Beziehung, Kreativität, Natur usw. eine wichtige Rolle. Vor allem die Natur ist für viele Männer eine Quelle von Kraft und sinnvollem Lebens. Und mit der kommt man beim Pilgern in engen Kontakt. <?page no="265"?> Beim Pilgern laufen nicht nur verschiedene körperliche Austauschprozesse ab, sondern es wechseln auch mentale Höhe- und Tiefpunkte einander ab. Hape Kerkeling beschreibt diese Erfahrung so: „Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er ist eine Herausforderung und eine Einladung. Er macht dich kaputt und leer. Restlos. Und er baut dich wieder auf. Gründlich. Er nimmt dir alle Kraft und gibt sie dir dreifach zurück.“ 385 Viele machen sich auf den Weg, allein, zu zweit, in kleinen oder größeren Gruppen. Sie brechen auf aus der Enge ihrer Alltagswelt mit einer oft noch unbestimmten Sehnsucht nach Weite und Freiheit, nach Kraft und Verwandlung, die sie in der Schöpfung, auf dem Wege oder an einem ganz bestimmten Ort für sich oder andere erwarten. Manche Männer sind beim Pilgern auf der Suche nach sich selbst, weil sie meinen, sich irgendwie verloren zu haben in den vielen Anforderungen, die in Arbeit und Familie auf sie einstürmen. Krisen in der Lebensmitte verunsichern zusätzlich und kosten viel Kraft. Sie sind auf der Suche nach Orientierung und Kraft für ihr Leben. In der Psychobewegung der letzten Jahrzehnte ist immer wieder die Rede von Kraftressourcen, die man in sich selbst finden und aktivieren könne. Die Arbeit an der eigenen Identität, ein zu sich selbst Kommen, wird als Aufgabe und Ziel des Pilgerns angesehen. Viele derer, die so aufgebrochen sind, um sich selbst zu finden, sind auf dem Weg zunächst in große Turbulenzen geraten. Die Anstrengungen des Weges haben sie durchgeschüttelt und manchmal an den Rand der Verzweiflung gebracht. Auf dem Weg ist ihnen vielleicht unter Schmerzen das Liebste genommen worden: die Geborgenheit, die Sicherheit, die Gewohnheit. Beim Pilgern kann es zu ganz unvermuteten Erfahrungen kommen: Statt zur Ruhe zu kommen, wird man in einem Art Wandlungs- und Sterbeprozess durchgeschüttelt, aufgewühlt und kommt mit seinen eigenen Möglichkeiten an eine Grenze. Der Weg nimmt, bevor er gibt. Er verunsichert, bevor er neue Orientierung und Kraft schenkt. Mancher Pilgerweg wird zum Läuterungs- und Reinigungsweg, bevor er zu Orten der Kraft führt. Diese findet man nicht nur in sich selbst, sondern dort, wo seit Jahrhunderten Pilger Kraft und Orientierung gefunden haben: im Tempel, am Grab eines bzw. einer Heiligen, auf dem heiligen Berg, vor einem Kruzifixus, aber auch im eigenen Herz und anderswo. Ist der Körper in seinen biologisch-energetischen Austauschprozessen nicht gestört, so kann Bewegung, z. B. das kontinuierliche Gehen beim Pilgern, das ‚zu Fuß unterwegs sein‘ allgemein, zu einer genussvollen Erfahrung werden, die nicht nur der körperlichen Gesundheit dient, sondern auch positive Bewusstseinszustände wie Gelassenheit und ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln kann. Manchen körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen sowie seelischen Belastungen kann man so geradezu davongehen. Man kann die Zeit ver- 385 Kerkeling 2006, 343. <?page no="266"?> gessen, in der Bewegung des Gehens völlig aufgehen und in Bewusstseinszustände geraten, die man als Flow-Erlebnisse bezeichnet. Das scheinen besonders Männer, die viel leistungsorientierter unterwegs sind als Frauen, zu lieben: An die eigenen Grenzen zu gehen und dabei zu spüren, wie sich in ihnen etwas verwandelt. Wandeln, das alte Wort für ‚eine edlere Art des Ganges‘ 386 , und sich wandeln, im Sinne von verwandeln, hängen eng miteinander zusammen. Wallen wiederum, das Grundwort von Wallfahrt, bezeichnet neben der Bewegung von Ort zu Ort auch die Bewegung des quellenden sprudelnden Wassers. Offenbar kommt beim Wallfahren etwas in Bewegung, zum Fließen, was zuvor erstarrt und tot war. Was sich der Pilger auf dem Weg oder am Ziel vor allem erhofft, ist die wandelnde und heilende Begegnung mit Gott. Er hofft, Anteil an der Kraft Gottes zu bekommen: Befreiung zu erfahren, Weisung zu gewinnen und - wenn sich an seinem Zustand nichts ändern sollte - wenigsten die Kraft zu bekommen, sein Schicksal tragen zu können. Nähert man sich dem Ziel einer Pilgerfahrt, so gerät man in eine innere Spannung und freudige Erwartung. Bald ist es geschafft. Die Mühen des Weges werden ein Ende haben, man darf sich schon auf das Ruhen und Ankommen am Ort der Kraft freuen. Auch wenn die Kräfte nach langer Wanderschaft geschwunden sind, werden sie jetzt noch einmal mobilisiert. Das Ziel zieht wie ein Gravitationsfeld mächtig an. Vieles von dem, was bereits auf dem Weg als spirituelle Kraft erfahrbar war, wird sich nun verdichten und noch konzentrierter präsent sein. Am lang ersehnten Ziel atmet der Pilger nun die Atmosphäre des Ortes und spürt die Kraft, die sich als Aura hier verdichtet hat und die ihm jetzt greifbar nah ist. Das Wissen: ‚Ich bin da‘, löst einen Gänsehauteffekt aus. Er wird von dem Ort berührt, angerührt und ergriffen. Bisher war er vielleicht als Spurensucher der Aktive und versuchte, sein Leben und die Spur des Heiligen zu begreifen und zu ergreifen. Jetzt kann es passieren, dass er von dem, was er begreifen wollte, selbst ergriffen wird. Dankbarkeit und Freude durchströmen ihn. In einem Augenblick der Selbstvergessenheit kann er geradezu in Ekstase geraten, d. h. außer sich sein vor Glück. Der spirituelle Stoffwechsel ist eine Form der Entleerung und der neuen Füllung, ja mehr noch: Eigentlich besteht er in einem Sterben und Neuwerden. Christliche Spiritualität ist im wesentlichen Sterbespiritualität. Das wird bei einem Pilgerweg besonders deutlich. Der Weg hat einen gelehrt, mit Schmerz, Verzicht und Verlust umzugehen. Vielleicht ist einem auf dem Weg unter Schmerzen das Liebste genommen worden, vielleicht ist man sich selbst als Objekt der Sorge und des narzisstischen Bedauerns genommen worden. Vielleicht ist man sich selbst gestorben. Das ist eine notwendige Vorbereitung für das Neue, das sich nun einstellen will. Der Weg mit all seiner Anstrengung nimmt und gibt. Er nimmt einem Selbstbezogenheit, Schuld, Sorgen und Lasten und gibt einem das Leben in Fülle. 386 Vgl. Grimms Wörterbuch. <?page no="267"?> Pilgern vollzieht sich - wie alles Leben sonst auch - immer in Beziehungen, im sozialen Raum, in Gemeinschaft. Auch wenn man allein unterwegs ist, kommt man am Wege oder in den Quartieren immer wieder in Kontakt zu Menschen und damit in den Wortwechsel und in Gemeinschaft. Auch wenn Männer oft wortkarg sind, so sind sie auf dem Weg durchaus gesprächig. Wenn man nebeneinanderher geht und sich nicht - wie sonst etwa in Gruppen im Kreis sitzend - ständig anschauen muss, reden Männer durchaus von sich. Vielen scheint es beim Gehen leichter zu fallen, sich zu öffnen und mitzuteilen. Männer - so meine jahrelange Beobachtung - scheinen sich lieber allein oder in Kleingruppen auf den Weg zu machen. Das ermöglicht eine größere Flexibilität in der Organisation und Durchführung sowie ein größeres Maß an Selbstbestimmung auf dem Weg. Ist man in einer großen Gruppe unterwegs, so kann u. U. der Wortwechsel zur Belastung werden. Viele Männer lieben die Einsamkeit und sehnen sich nach Ruhe. In den vielfältigen Belastungen ihres Berufs suchen sie nach Gegenwelten zum Alltag, in denen sie wenigsten für eine kurze Zeit selbstbestimmt und zurückgezogen leben können. Für eine positive Energiebilanz suchen sie immer mal wieder den Rückzug, am liebsten in die Natur. Die Ruhe, in die sie beim Wandern, Joggen oder Pilgern eintauchen, wird ihnen zur Quelle der Kraft und Inspiration. Manche berichten gar von mystischen Erfahrungen, die sie dort machen. Während weibliche Spiritualität tendenziell kommunikativ und gemeinschaftsorientiert ist, wollen die meisten Männer mit sich und ihrem Gott lieber allein sein. Sie bewegen sich dabei gern in der Natur, wo sie ihren Wunsch nach Autonomie mit dem Gefühl der Gnadenhaftigkeit des Daseins und des eigenen Lebens verbinden können. Einige Männer suchen auch gern das spirituelle Abenteuer. Sie wollen Spiritualität mit ihren konstruktiven Aggressionen und ihrer schöpferischen Potenz verbinden. Männer lieben Rituale. Erst in letzter Zeit ist uns in Gesellschaft und Kirche die wertvolle Bedeutung von Ritualen wieder bewusst geworden. Sie sind in der Vergangenheit in der Religion oft von Kommunikation und Therapie abgelöst wurden. Ihre Wiederentdeckung ist etwas Kostbares. Man muss nicht immer und ständig verbal kommunizieren, an religiöse Erfahrungen kommt man vor allem über Rituale ran. Das entlastet und freut Männer besonders. Von einem „gestreckten Ritual“, das eine ganze Nacht andauert, soll im Folgenden kurz berichtet werden. Es ist Nacht, die Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag. Über 40 Männer haben sich auf den Weg gemacht, um in dieser besonderen Nacht auf einer <?page no="268"?> Pilgerwanderung in der Meditation des Leidens und Sterbens Jesu über sich selbst nachzudenken und eine spirituelle Erfahrung zu machen. Die meisten kennen sich nicht. Sie verstehen sich jetzt als Brüder für eine Nacht. Jeder wird willkommen geheißen: „N.N. sei willkommen in unserem Kreis! “ Sie wollen den Weg Jesu und der Jünger in dieser Nacht miterleben. „Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet“ singen sie und feiern das Abendmahl Jesu. Dann brechen sie auf und pilgern durch die Nacht. Eine kleine Dorfkirche lädt zum Verweilen ein. Im Schein der Kerzen hören sie einen Abschnitt aus der Leidensgeschichte Jesu, den sie im Schweigen bedenken. Dann geht es wieder hinaus in die Nacht. Auf einer Waldlichtung hören sie die Ölberggeschichte. Jesus fleht zu Gott: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen …“. Im anschließenden schweigenden Gehen fragen sie sich, wo komme ich in dieser Geschichte vor. Ein Lagerfeuer empfängt sie am Rand eines Dorfes, hier hören sie die Geschichte von der Verleugnung des Petrus. Lange schauen sie in die Flammen, dann ergeben sich spontan Gespräche zu zweit, zu dritt. Die Texte und Rituale erzählen von Freundschaft und Verrat, Aggression und Hingabe, Macht und Ohnmacht, Schweiß und Blut. Themen, die Männer beschäftigen, kommen zur Sprache und Darstellung. Gerade hatte einer der Leiter die Männer in einem Bibliolog in ein Gespräch mit Petrus am Lagerfeuer verwickelt. Plötzlich ist die 2000 Jahre alte Geschichte von Verrat und Verlassenheit ganz aktuell. Die meisten schauen schweigend ins Feuer und hängen ihren Gedanken nach. Andere beginnen zaghaft ein Gespräch zu zweit oder zu dritt. Wir gehen weiter. Neben mir geht Udo K. (31 Jahre). Er trägt das schlichte, aus zwei Ästen zusammengefügte Holzkreuz mit einer Dornenkrone aus Stacheldraht der Gruppe voran. Als ich ihn frage, woher er komme und wie er von diesem Pilgerweg erfahren habe, erzählt er mir seine Geschichte: Er kommt aus Thüringen, hat im Internet zufällig von diesem Pilgerweg gelesen und ist für diese Nacht ca. 150 km angereist, um dabei zu sein. Seine Freundin hat ihn verlassen, so berichtet er, und er ist völlig „von der Rolle“. In erstaunlicher Offenheit erzählt er, wie er nun ohne Halt ist. Er muss aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen und weiß nicht wohin. Auch beruflich ist es z.Z. schwierig. Er arbeitet im Marketing als Werbetexter. Sein Chef hat ihn vorübergehend freigestellt, weil er ihn so nicht gebrauchen kann. Er soll sich eine kreative Auszeit nehmen und endlich wieder in die Spur kommen. Warum er in diesem Zustand ausgerechnet an dem Männernachtpilgerweg teilnimmt, weiß er auch nicht so genau. Aber er ahnt und spürt - so sagt er - dass er in der Geschichte dieser Nacht irgendwie vorkommt und dass er in seiner Suche nach Neuorientierung hier anknüpfen kann. Vor allem braucht er jetzt Kraft und einen neuen Halt. Die alten Strukturen seiner männlichen Identität sind ins Wanken geraten, er ist zutiefst verunsichert und „leidet wie ein Hund“. Es tut ihm gut, das alles im Dunkeln einmal auszusprechen. Die Geschichte dieser Nacht hört er in dieser Ausführlichkeit heute zum ersten Mal. In der DDR geboren und aufgewachsen, hatte er keine Verbindung zu Kirche und Christentum gehabt. Natürlich wisse er, dass Jesus gekreuzigt worden sei, aber die näheren Umstände <?page no="269"?> seien ihm unbekannt. In dieser Nacht wird ihm klar, wie aktuell diese 2000 Jahre alte Geschichte ist. In den Bibeltexten, die zur Sprache kommen, begegnet ihm eine andere Wirklichkeit, die ihn neugierig macht. In den Ritualen und Symbolen verbindet sich diese Wirklichkeit mit seiner Leidensgeschichte. Das Aussprechen seiner inneren Not hat ihm sichtlich gutgetan. Ich spüre deutlich, dass wir zwei jetzt noch einen Schritt weitergehen können. Ich frage, ob ich ihn segnen darf. Ja, das möchte er sehr gern. So gehen wir ein paar Schritte zur Seite. Während die anderen im Dunkeln an uns vorüberziehen, lege ich ihm die Hände auf und stelle ihn im Segen unter den Schutz und in den Machtbereich des Gekreuzigten und bitte, dass er sich seiner erbarme. Bald danach beginnt der Kreuzweg. Sieben Stationen Jesu ins Gespräch gebracht mit sieben Leidenserfahrungen von Männern heute. „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus und preisen dich“, betet einer vor und alle (auch Udo) antworten im Chor: „Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst! “ Am Ziel angekommen, spüren alle große Müdigkeit, aber es ist ihnen etwas gelungen, was selbst den Jüngern nicht gelungen ist, sie sind nicht eingeschlafen, haben mit Jesus diese Nacht durchwacht, und darauf sind sie auch ein wenig stolz. Was suchen Männer in dieser Übergangssituation? Kurz gesagt, sie suchen Halt und Orientierung, sie suchen sich selbst bzw. eine neue männliche Identität. Sie suchen Erlösung. In der grundlegenden Verunsicherung brechen viele Fragen auf. Es sind Grundfragen der Identität in der Sehnsucht nach Leben: „Wer bin ich eigentlich? Was will ich eigentlich? Kann ich mich auf mich - mein Gefühl, meinen Körper, meinen Verstand verlassen? Wer ist der andere eigentlich? Was will er eigentlich? Kann ich ihm - seinem Wort, seinem Verhalten, seiner Liebe - vertrauen? “ 387 Solche Fragen verunsichern zunächst, sind aber die Voraussetzung für eine neue Orientierung auf der Suche nach dem Größeren. Viele Männer sind in ihrer Haltung zum Leben und in ihrem Lebensstil eher Vorrübergehende und Durchreisende, manche erleben Sesshaftigkeit (Beruf, Familie, Haus, Kirche etc.) gar als Beengung und Eingesperrtsein und haben eine große Sehnsucht nach Weite und Freiheit. Von daher haben viele Männer eine natürliche Affinität zum Pilgern, das im Wesentlichen die Haltung des Aufbruchs, des Auf-dem-Wege-Seins als Maxime hat, die wiederum in der christlichen Tradition vielfältige Wurzeln hat. In den Aufzeichnungen des Mystikers und Wüstenvaters Johannes Kassian (388 n. Chr.) findet man die Empfehlung: „Omni modes fugare debere mulieres et episcopos - auf jede nur denkbare Weise zu fliehen vor den Frauen und vor dem Bischof“. Etwas verkürzt ist daraus die klassische Maxime des Mönchtums geworden: „Fliehe den 387 Riess 187, 44. <?page no="270"?> Bischof und die Frau! “ Die Wüstenväter hatten den Lebensstil der apostolischen Wanderprediger (u. a. Paulus) übernommen, sie hatten keine Familie, keinen Besitz, sie lebten als Fremde in der Welt. Religion verstanden sie nicht als Festsitzen, sondern als Exodus, Christentum als „Xeniteia“, als freiwillige Heimatlosigkeit. Deshalb: „Fliehe den Bischof und die Frau! “, denn sie stehen für das Gegenteil, sie verlangen Sesshaftigkeit. Der Bischof war und ist bis heute oberster Repräsentant einer sesshaften Religion, die sich als Volkskirche etabliert und vor allem in Parochien (Gemeindebezirken) organisiert hat. Als Kirche am Ort wird ihre Arbeit an der Basis heute vorwiegend von Frauen gestaltet. Sie haben vielerorts ein beachtliches Netz von sozialen und diakonischen Einrichtungen aufgebaut, wo viele Menschen Hilfe und Geborgenheit in einer kalten und entfremdeten Welt finden. Kirchliche Gruppen mit ihrer Gluckenwärme, mir ihren therapeutischen Angeboten, Mutter-Kind-Kreisen, Tafeln usw. vermitteln soziale Sicherheit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich oftmals in der Feststellung ausdrückt: „Schön, dass wir einander haben, schön, dass wir zusammen sind …“. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Hier wird eine wichtige - leider oft nur von Frauen gestaltete - Arbeit geleistet, ohne die unserer Kirche und Gesellschaft Wesentliches fehlen würde, und die sich unmittelbar aus dem Evangelium ableiten lässt. Dieser auf soziale und diakonische Arbeit ausgerichteten Kirche, in der mit einer hohen kommunikativen Kompetenz Probleme angegangen und Menschen in Beziehung gebracht werden, fehlt jedoch Entscheidendes: Das Archaische in der Religion, z. B. das Ritual, das oft ohne Worte wirkt und Kräfte freisetzt. Doch heute ist das Ritual in der Kirche vielerorts dem Kommunikativen gewichen. Wo einmal Rituale waren, ist Therapie geworden. In dieser Kirche fühlt man sich zu Hause, wenn man ihre Sprache spricht, ihre Kommunikationswege versteht und beherrscht. Und genau da tun sich Männer schwer, oft wollen sie es auch gar nicht. Auffallend ist, dass viele Männer heute, ähnlich wie damals bei den Wüstenvätern, der Ortskirche, die vom Bischof repräsentiert und von Frauen an der Basis organisiert wird, den Rücken kehren. Aber immer mehr religiös suchende Männer machen sich vorwiegend allein auf den Weg, um etwa in der Natur, auf Pilgerwegen, im Kloster oder anderswo das „secum esse“, das Bei-Sich-Sein und Gott zu suchen. Viele Männer sind eher Vorübergehende und Durchreisende auf dem Weg durch diese Welt. Was sie für sich suchen, ist ihnen nicht immer klar. Aber aufbrechen, unterwegs sein, die eigenen Kräfte spüren, das Heilige ahnen und sich ihm nähern, ist vielen näher, als im Gemeindehaus im Kreis um eine gestaltete Mitte zu sitzen und über ihre Befindlichkeiten zu reden. <?page no="271"?> Engelbrecht, M./ Rosowski, M. (2007): Was Männern Sinn gibt - Leben zwischen Welt und Gegenwelt. Stuttgart. Gerland, M. (2014): Männlich glauben. Eine Herausforderung für den spirituellen Weg. Freiburg. Gerland, M. (2009): Faszination Pilgern. Eine Spurensuche. Leipzig. Grober, U. (2007): Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst. Frankfurt am Main. Hofer, M. (2003): Männer glauben anders. Innsbruck. Kerkeling, H. (2006): Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. München. Riess, R. (1987): Sehnsucht nach Leben. Spannungsfelder, Sinnbilder und Spiritualität der Seelsorge. Göttingen. <?page no="273"?> Pilgern ereignet sich für die meisten Menschen nicht wandernd, sondern medial. Jüngst hat das Pilgern auch in Kinos und Fernsehen Einzug gefunden. Mit dem Wechsel zum Medium Film sind inhaltliche Verschiebungen verbunden, die danach fragen lassen, wie Pilgern im aktuellen Spielfilm geschildert wird. An vier Beispielen wird deutlich: Das Thema des Pilgerns ist für den Film aus mehreren Gründen attraktiv. Gleich einem Roadmovie spielt sich eine Entwicklung ab, eine äußerlich gewonnene und eine sichtbare innere Transformation. Weil die Filme auf der Schwelle von Religion und Nicht-Religion spielen, können sie - ohne aufdringlich religiös zu sein - existenzielle Tiefe und Relevanz einspielen. Nicht zuletzt ist das Movie als Ausdruck gelebter Sehnsucht populär. <?page no="274"?> Pilgern ereignet sich für die meisten Menschen medial. Der Millionenauflage von Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“, das zum meistgedruckten deutschsprachigen Sachbuch avancierte, und unzähligen Lichtbildpräsentationen stehen deutlich geringere Zahlen tatsächlicher Pilger gegenüber. Jüngst hat das Pilgern auch in Kinos und Fernsehen Einzug gefunden. Mit dem Wechsel zum Medium Film sind auch inhaltliche Verschiebungen verbunden. Alle Filme, die im Folgenden vorgestellt werden, zeigen die Abfolge eines Transformationsritus und verbinden Alltag und Religion miteinander. Dem Bußprozess folgend wird mit dem Ablegen des Alten der Übergang in ein neues Leben möglich. Religion spielt sich ab im Wechselspiel zwischen distanzierten aber offenen Subjekten und starken Symbolen. In dieser Stellung auf der Schwelle von expliziter und impliziter Religion spiegelt sich das Potenzial des Pilgerns auch für den Film wider. 388 Der 2010 gedrehte Film „Dein Weg“ (DW) von Emilio Estevez kam im Sommer 2012 in die deutschen Kinos. Er platziert das Pilgern nach Santiago de Compostela in einen Konflikt zwischen Vater und Sohn, die einander fremd geworden sind. Der weltoffene Sohn kommt auf seiner ersten Pilgeretappe ums Leben. Der Vater, der seine Urne heimholen will, nimmt spontan die Ausrüstung des Sohnes und die Urne mit dem eingeäscherten Sohn und geht mit ihm den Weg weiter. Obwohl der Vater Tom ein abweisender Einzelgänger ist, gesellen sich ihm weitere Pilger zu. Entscheidende Szenen spielen sich an drei markanten Orten des Weges ab: Am Cruz de Ferro folgt man dem Brauch, einen mitgebrachten, Belastendes symbolisierenden Stein abzulegen. In Santiago betreten selbst die religionsdistanzierten Mitpilger ehrerbietig die Kathedrale. Am Atlantik, in Finisterre als Endpunkt der Reise bekennen alle Mitpilger ihre tiefliegenden Pilgermotive. Tom streut die Asche seines Sohnes ins Meer. Der Abspann zeigt ihn in den Fußspuren seines Sohnes als Weltenbummler. 388 Vgl. Mäder 2012, 9ff. Die Methoden der Filmanalyse auch in religionshermeneutischer Hinsicht sind inzwischen ausgesprochen elaboriert. Neben der Narration des Films werden ästhetische Aspekte, die Rezeption durch die Zuschauer, der Kontext von Filmentstehung und -rezeption wie auch die filmspezifischen Kommunikation in den Blick genommen. Weil es hier um die mit dem Pilgern verknüpften Sinnangebote geht, kann die Analyse sich methodisch auf die Narration des Films konzentrieren. Vgl. auch Hermann 2001; Hermann 2007. <?page no="275"?> „Die Dienstagsfrauen“ (Df) von 2011 erzählt, wie die frisch verwitwete Judith zum Andenken an ihren verstorbenen Mann Arne dessen begonnenen Pilgerweg nach Lourdes vollenden möchte. Ihre Freundinnen, die Dienstagsfrauen, sind zwar nicht begeistert, schließen sich aber der trauernden Judith an. Die Hauptdarstellerin Judith versucht mit verbissenem Eifer, das Pilgern ihres verstorbenen Mannes nachzuvollziehen, bis sie einsehen muss, dass dessen Tagebuch Betrug ist: Arne ist nie gepilgert, sondern hat die Zeit mit einem Freund verbracht. Der Nachvollzug als Versuch, Schuld abzutragen, konfrontiert sie um so deutlicher mit dem Scheitern ihrer Ehe wie auch mit ihrer Schuld, mit dem Ehemann einer Mitpilgerin fremdgegangen zu sein. Das Pilgern wird für sie und ihre Mitpilgerinnen zu einer kathartischen Übung, die durch Buße Umkehr ermöglicht. Damit wird ein traditionelles und hoch religiöses Pilgermotiv aufgegriffen. Vorangetrieben wird der Bußprozess durch die soziale Nähe - das Frauenquartett in den 40ern interagiert unentwegt - und die durch Anstrengung und Alltagsdistanz geschwächte Selbstbehauptung. Auf die Katharsis unterwegs folgt die Auflösung in Lourdes, das für Heilung und Versöhnung steht. Die irritierende filmische Verknüpfung von Jakobsweg und Lourdes macht erzählerisch Sinn als Zusammenspiel von Weg und Ziel, sozialen und explizit religiösen Motiven, Reinigung und Neuwerden. Obwohl ohne religiöse Motivation aufgebrochen, lassen sich zumindest die drei, die sich auf das Pilgern eingelassen haben, auf die Rituale des Wallfahrtsortes ein. Im ganzen Film ist explizite und sehr traditionell gefärbte Religion sehr präsent und in die unterhaltsame, gegenwartsnahe Interaktion der Freundinnen eingebettet: In traditioneller Sprache wird von Schuld, Vergebung und erlassenen Sünden gesprochen. Wichtige Szenen spielen sich in einem Kloster mit Mönchen, Gebetskerzen, Rosenkranz und gregorianischem Gesang ab. Religion bietet den Schutzraum, der Reue, Schuldeingeständnis und tätige Buße ermöglicht. Eine kurze Schlussszene beleuchtet die Nachhaltigkeit der erpilgerten Emanzipation und Wahrhaftigkeit. Der Film „Ich trag dich bis ans Ende der Welt“ (EdW) kam 2010 in der ARD mit beachtlichen 5,7 Millionen Zuschauern zur Ausstrahlung. Anna, die Zeugin eines Seitensprungs ihres Ehemanns wird, schließt sich spontan ihrem Vater Horst an, der - an Krebs erkrankt, seinen Tod erwartend - eine Pilgerwanderung auf dem Camino Francés unternimmt. Sie flieht aus dem goldenen Käfig gehobener Mittelstandsidylle, aus einem Leben, in dem sie nur noch Dienstleisterin der Familie ist. Der grantelnde Vater hat ein gespanntes Verhältnis zu seiner Tochter, seit er Frau und Tochter verlassen hat. Aber mit der Zeit kommen beide einander näher. <?page no="276"?> Für Horst hat das Pilgern eine eminent religiöse Bedeutung. Er bezeichnet es als Weg zur Erleuchtung, Suche nach sich selbst, Vergebung der Sünden und Eingang in den Himmel. Horst legt am Cruz de Ferro einen Stein ab, der für die missglückte Ehe steht, und kann sich seiner Tochter offenbaren. Durch das Ablegen- und Loslassen-Können des Belastenden erlöst, kann er nun auch sein Lebens loslassen und stirbt. Anna trägt die Urne des eingeäscherten Vaters seinem letzten Wunsch gemäß bis nach Finisterre, wo sie die Asche verstreut. Während Anna pilgert, gerät das Leben ihrer Familie aus den Fugen. Der Ehemann reist ihr nach, aber Anna weist seine Einladung zur Rückkehr ab. In der Schlussszene sieht man sie glücklich mit ihren Kindern aus dem Haus des Mannes aus- und in das Haus des verstorbenen Vaters einziehen. Der 2007 in Deutschland in die Kinos gekommene Film „Saint Jacques … Pilgern auf Französisch“ (PaF) schickt drei zerstrittenen Geschwister aufgrund einer Klausel im Testament ihrer Mutter gemeinsam auf den Jakobsweg, den sie widerwillig um des Erbes willen auf sich nehmen. Die illusionslose Lehrerin Clara, der Alkoholiker Claude und der Workaholic Pierre schließen sich in Le Puy einer bunt gemischten Reisegruppe an, deren Teilnehmer durchgängig aus nichtreligiösen Gründen dabei sind. Nach anfänglichen Konflikten raufen sich die Geschwister und auch die Gruppe zusammen. Der Film zeigt Pilgern als gruppendynamischen Prozess, der Menschen mit sich und anderen in Beziehung bringt. Die auch in den übrigen Filmen für den spanischen Jakobsweg geschilderten drei Kulminationspunkte Cruz de Ferro, Kathedrale von Santiago und Atlantik werden aber so oberflächlich abgehakt, dass sie keine dramaturgische Wirkung entfalten können. Zudem werden die Spezifika von Christentum und Islam verwischt, Religion erscheint lebensfern und wird einzig von dem zurückgebliebenen Ramzi praktiziert. Aber Pilgern gibt mit seiner Alltagsdistanz Menschen einen Freiraum, sich ihren Problemen zu öffnen und in neuen Rollen auszuprobieren. <?page no="277"?> Alle vier Filme folgen van Genneps dreiphasiger Struktur von Passageriten mit Trennung, Übergang und Wiedereingliederung. 389 Die Übergänge sind in den Filmen durch Orts-, Kleidungs- und Verhaltenswechsel deutlich markiert und gehören zu den dramatischen Momenten. Der Aspekt Transformation ist bereits von Turner auf das Christentum insgesamt und das Pilgern im Speziellen bezogen worden. Entgegen Turners Annahme, dass Riten in der Moderne liminoid, also individuell und experimentell durchgeführt werden, bleibt die Durchführung in den Filmen überwiegend konventionell-liminal: „Es geht durchs Sterben nur.“ 390 Mäder verbindet über die Transformation Religion, Reisen und Film. Religiöses Reisen bietet sich darum als Thema für Filme an. Filme zum Reisen können Religion in verschiedener Weise thematisieren: als Reise innerhalb einer religiösen Tradition, als letzte Reise als Sinnbild des Todes sowie in funktionaler Äquivalenz als Transformationsprozess. Die hier untersuchten Filme verbinden alle drei Aspekte: Sie spielen auf dem christlich geprägten Jakobsweg, erzählen persönliche und soziale Wandlungsprozesse und thematisieren den Tod. 391 Durchgängig beginnen die Filme mit Szenen aus der Alltagswelt. Diese wird jedoch unterbrochen und irritiert. In allen Filmen reißt der Tod aus dem Gewohnten heraus, sei es die eigene Krebserkrankung oder der Tod des Gatten, Sohnes oder der Mutter. Der Aufbruch folgt also keinem eigenen Entschluss, ist nicht intrinsisch und schon gar nicht religiös motiviert (besonders deutlich in PaF). Der Tod als Sinnbild des von außen Auferlegten und somit Unverfügbaren nimmt den Hinterbliebenen ihr Leben aus der Hand. Der Kontrast des Auferlegten wird besonders scharf, weil viele der Protagonisten beruflich erfolgreich sind und mitten im Leben stehen. Letztlich zeigt sich aber, dass sie trotz ihres scheinbar funktionierenden Selbstmanagements immer schon nicht Herr ihrer selbst waren, sondern von Erwartungen getrieben und in missglückten Beziehungen lebten. Der Tod wird zur heilsamen Unterbrechung des Alltags und zum Katalysator, das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Die Protagonisten werden aus ihren beherrschten Alltagszusammenhängen herausgeworfen und müssen sich dem Unverfügbaren, dem Einbruch von Transzendenz stellen. Gerade weil der Tod unwiederbringlich Fakten schafft und so das Offenhalten der Optionsgesell- 389 Vgl. Turner/ Turner 1978; Vgl. Turner 2000. Dieses Schema kann Haab 1998 in modifizierter Form in einer empirischen Studie auch für das Reale sowie Pilgern bestätigen. Vgl. Lienau 2009a, 106ff.; Vgl. Lienau 2014. 390 Vgl. Gerhard Tersteegen in dem einzigen Pilgerlied des Evangelischen Gesangbuchs, das eine pietistisch-eschatologische Lebenshaltung beschreibt (EG 393 „Kommt, Kinder, lasst uns gehen“, Vers 3). 391 Mäder 2012, 46ff. u. 196ff. <?page no="278"?> schaft konterkariert, kann er die Beteiligten außer sich bringen. Er holt sie heraus, löst sie ab und ermöglicht so den Abschied aus festgefahrenen Beziehungsmustern. Am Anfang steht nicht die Sehnsucht nach dem gelingenden Leben, vielmehr am Ende die Erfüllung. Im Zentrum des dreigliedrigen Ritenmodells steht der Übergang, die Schwellenphase. Es ist eine Sphäre spezifischer Relevanzen, in der die Protagonisten sich anders ausprobieren und anders werden können. Alle Filme erzählen intensive gruppen- und psychodynamische Prozesse. Möglich wird die Interaktion durch die lange miteinander verbrachte Zeit, durch Nähe und Aufeinanderangewiesen-Sein sowie körperliche Herausforderung. Diese Stresssituationen lassen sonst kontrollierte Charakterzüge ungehindert zutage treten. 392 Das ungewohnte Setting des Pilgerns bringt eingeübte Beziehungsmuster durcheinander und fordert zu neuen Bewältigungsstrategien heraus. Mitgebrachte Konflikte werden im ungewohnten Setting des Pilgerns anders durchlebt. Die ungewohnten körperlichen Anstrengungen führen etwa zu einem Wechsel des Dominanzverhältnisses zwischen Vater und Tochter und spielen die eigene Endlichkeit ein (EdW). Die Filme werden zu Hymnen auf die zwischenmenschliche Solidarität. In den Gruppen erträgt man einander tolerant mit seinen Eigenheiten, jeder kann sich ohne Maske unverstellt ausleben. Die Mitpilger stützen einander, helfen mit lebenspraktischen Dingen wie auch mit Trost und Ermahnung. Die herausfordernde Situation des Pilgerns unterstreicht, dass der Einzelne sein Leben nicht allein bewältigen kann. Zudem geht es um die Tragfähigkeit von Familie. Am deutlichsten wird dies in DW, EdW und Df, wo ein Angehöriger stellvertretend für den Verstorbenen den Weg zu Ende geht. Zugleich wird damit die gestörte Beziehung zu dem nun verstorbenen Familienmitglied wieder geheilt. Wie die Gruppe die Bewältigung des den Einzelnen überfordernden Weges ermöglicht, so trägt die Familie über die Grenze des Todes hinaus. Indem Menschen füreinander einstehen, kann menschliches Leben auch über den Tod hinaus vollendet werden. Die Pilger relativieren Selbstbehauptung und Autonomiestreben zugunsten von Hingabe an und Einbindung in Familie, Gruppe, den vorgegebenen Weg und die Pilgerrolle. Diese durch erfahrene Annahme ermöglichte Selbstaufhebung in ein Anderes lässt die Pilger neu zu sich kommen. Sie emanzipieren sich von Verbissenheit oder Mutterbindung, Frauenrolle, überholtem Lebenskonzept oder einengender Partnerschaft. Selbstrelativierende Einbindung und Emanzipation bilden keine Gegensätze, sondern bedingen einander. 392 Lienau 2009b, 71. <?page no="279"?> Alle Filme machen die Phasen der inneren Transformation an äußeren Orten und Handlungen fest. Aktivität und Passivität, eigenes Tun und Annehmen spielen dabei ineinander. Dem traditionellen Bußprozess folgend steht am Anfang die Konfrontation mit dem eigenen Versagen und das Eingeständnis der Schuld. Angenommen werden kann diese Kritik, weil man sich im Kreis der Mitpilger aufgehoben und angenommen weiß. Die Konfrontation mit sich selbst durch das Laufen kommt in der reuigen Selbsterkenntnis am Cruz de Ferro auf den Punkt. Das Ablegen eines Steins beschreibt die kathartische Lösung vom Alten, die Feier der Messe in Santiago die Freude und der Blick auf den Atlantik die Offenheit für und den Ausblick auf das Neue. Die drei Orte entsprechen den Schritten der Buße/ Beichte, Absolution und neue Existenz. Alle Filme greifen als Epiloge die am Beginn gezeigten Szenen aus dem Alltag wieder auf und rahmen so das Pilgern. Durch diese Einbettung wird die durch das Pilgern bewirkte Veränderung profiliert als Kontrast sichtbar. Während der Übergang in das Pilgern als Bruch geschildert wird und die Ablösung überfordert, ergibt sich nun die Wiedereingliederung stimmig aus der Entwicklung während des Pilgerns. Die unterwegs erfahrene Selbstbestärkung und Loslösung von bestimmten Mustern erweist sich als nachhaltig: Die Hausmutter wird berufstätig, die zerstrittenen Geschwister sind versöhnt und die Ehefrau verlässt ihre zerrüttete Partnerschaft. Tom gibt sein festgefahrenes Leben auf und geht - seinem Sohn gleich - auf Reisen (DW). Die in Ramsis Trauer angedeutete Aufgabe, ohne Mutter zu leben (PaF), ist ebenso eine Übergang in ein neues Leben wie das Verwehen der Asche Horsts (EdW). Der Übergang in eine neue Form des Daseins wird unterstrichen durch die Frage von Horsts Tochter, wie es drüben im Paradies sei, und ihrer Feststellung, dass das Ende des Pilgerns ein Anfang sei. Alle untersuchten Filme verbinden eher religionsdistanzierte Protagonisten mit einer existenziellen Krisensituation und starken traditionellen religiösen Symbolen. Identifikation wird durch den dokumentarischen Charakter der Filme erleichtert, der durch Abbildung markanter Orte und Baudenkmäler unterstrichen wird. Er legt die Tatsächlichkeit des Geschehens nahe, was wiederum eine religiöse und nicht nur ästhetische Aneignung des Betrachters erleichtert. Die Pilger sind in ihrer Religiosität jeweils typisch für unsere Gegenwartskultur und <?page no="280"?> mithin anknüpfungsfähige Identifikationsfiguren. 393 Sie weisen eine rudimentäre religiöse Sozialisation auf, zu der etwa elementare Formen wie das Bekreuzigen gehören. Man bezeichnet sich als nicht mehr gläubig bzw. praktizierend, die meisten ahnen aber, dass kirchlicher Religionspraxis ein Sinnversprechen innewohnt. Abgesehen von PaF und Estelle in Df öffnen sich die Beteiligten zusehends für Religion. Anfangs skeptische Pilger wie Jack und Joost in DW betreten in Santiago die Kathedrale auf Knien rutschend und beten sichtlich ergriffen. Dennoch braucht religiöse Erfahrung zumindest Offenheit. Pilger wie Estelle in Df, die keine Bereitschaft zu religiöser Erfahrung zeigen, verzeichnen keine persönliche Entwicklung. In PaF wird am Cruz de Ferro der Stein erst direkt am Hügel aufgehoben und im Vorbeigehen abgeworfen, der Ritus also ohne Verständnis für die Sache vollzogen. Die Messe in der Kathedrale von Santiago wird eher touristisch konsumiert als mitgefeiert. Entsprechend ist keine religiöse Entwicklung zu erkennen. Pilgern ist nicht selbstwirksam - religiöse Erfahrung braucht Menschen, die sich die Dinge persönlich aneignen. Durchgängig steht die intensive Beteiligung an religiösen Riten in starkem Kontrast zur anfänglichen Religionsdistanz und zur Weigerung, sich als religiös zu outen. In DW zeigen Toms Mitpilger erst am Ziel, dass es unter der flapsigen Oberfläche noch etwas Tieferes gibt. 394 Die Filme zeigen als Chance des Pilgerns deutliche Diesseitigkeit mit einem spielerisch-experimentellen Ausprobieren großer religiöser Gesten zu verbinden. Geglaubt wird, was sich hier und jetzt experimentell bewährt und so situative Evidenz gewinnt. Wahr ist, was sich im Moment in der je eigenen Perspektive als hilfreich erweist. Religion ist deutlich eine Funktion menschlicher Selbstdeutung. Sie zeigt sich hier als Praxis und Prozess. 395 Dies passt zur episodischen Struktur des Genres Reisefilm: Der Wegcharakter des Pilgerns lässt unterschiedliche Facetten ohne Zwang zur Vereinheitlichung aneinanderfügen. So entsteht ein Mosaik inhomogener Einzeleindrücke, die im Ganzen des Films ineinander spielen und ein stimmiges Bild einer unsteten Suche nach einem (religiösen) Selbstverständnis ergeben. In dieser Orientierung an Erfahrungsprozessen spiegelt sich die für die religiöse Gegenwartskultur typische Subjektivierung von Religion wider. Religion ereignet sich am Ort des Subjekts, indem es für sich Sinn bildet. Diese als Subjektivierung von Religion bezeichnete Individuation, also die je selbst gemachte Erfahrung, bedeutet aber keinesfalls eine Individualisierung. Vielmehr werden gerade zum Zweck eigener Erfahrung 393 Zur Unterscheidung religiöser von ästhetischer Erfahrung durch den Aspekt der Welthaltigkeit religiöser Erfahrung bzw. der ‚Aura der Faktizität‘ (Geertz) vgl. Gräb et al. 2007. 394 Vgl. Jung 1999. Sein Erfahrungsbegriff weist eine dreigliedrige Struktur auf, „die Erleben und symbolische Form durch Artikulation zusammenschließt“ (Jung 1999, 14), mithin auf die persönliche Aneignung der bloßen Ereignisse angewiesen ist. 395 Schnell 2008, 124f. empfiehlt statt des Substantivs Transzendenz das Verb transzendieren und spricht von Transzendierungserfahrungen. <?page no="281"?> Gemeinschaftserfahrungen und erfahrungsintensive sozial kommunizierte Symbole eingesetzt. Diese Riten und Symbole entstammen in den Pilgerfilmen einer fremden Welt: Wegkreuze sind altertümlich, Kirchen mittelalterlich, religiöses Personal Mönche, ausgedrückt wird überkommene Sühnetheologie, gesungen wird gregorianisch und gebetet in abständiger Sprache. Religion ist mithin kein Moment der Gegenwart, sondern ein anachronistisches Anderes zur Alltagswelt, ein Erhabenes und nicht dem Wandel des irdischen Unterworfenes. Man muss keinen eigenen Glauben mitbringen, aber kann in ihm zu Gast sein. Die Pilger lernen von außen nach innen. Gerade weil nicht das Bekenntnis am Anfang steht, sondern das neugierig-experimentelle Vollziehen, ermöglicht Pilgern auch distanzierten Zeitgenossen einen Zugang zu prägenden religiösen Erfahrungen. Die mediale Rezeption des Pilgerns lässt dessen religiöses Potenzial deutlich zutage treten. An Wendepunkten tiefer Verunsicherung, wo Menschen aus überschaubaren Routinen herausgerissen werden, erfahren sie durch Religion heilsame Verwandlungen, indem sie explizite traditionelle Religion suchen. Die Filme greifen aufmerksam den religionskulturellen Wandel zur Subjektivität auf und erzählen in der Struktur von Transformationsriten überzeugende Geschichten menschlicher Bewährung. Pilgern verändert nicht nur Menschen, es verändert sich auch selbst, wenn es medial präsentiert wird. In vielem entspricht das Film-Pilgern dem realen Pilgern, soweit es empirisch erhebbar ist: 396 Pilgern bietet intensives Erleben, verändert und ist religionsproduktiv. Ähnlich sind auch die Erfahrungen der Begrenztheit (Sterben, Kondition), die Reduktion auf elementare Vollzüge und der Charakter des Pilgerns als Heterotopie, die zu neuen Rollenmustern herausfordert. Die in den Filmen hervorgehobene biografische Motivation ist zumindest für individuelle Langstreckenpilger belegt. Differenzen gibt es hinsichtlich der Gewichtung von Erfahrungsbereichen: Im realen Pilgern sind Leiblichkeit und Natur wirksamere Erfahrungsbereiche als in den Filmen. Dabei geht es einerseits um nicht intentionale pathische Erfahrungsmodi eines Sich-Vorfindens, die die Einbindung in den Zusammenhang des Seins erfahren lassen. Andererseits thematisieren die Filme stärker Geselligkeit innerhalb der eigenen Gruppe, die zwar nicht zu einer Individualität aufhebenden Communitas führt, aber zu einer Krise des Selbstbildes, die zum 396 Ein Vergleich mit dem realen Pilgern steht vor dem Problem, dass nicht nur die Pilgerpraxis, sondern auch ihre Analyse sehr vielfältig ist. Ich beziehe mich hier auf die methodisch validesten empirischen Studien: Ethnologisch: Haab 1998; Soziologisch: Kurrat 2012; Geografisch: Specht 2009; Theologisch: Lienau 2009b. <?page no="282"?> Entwickeln einer neuen Identität herausfordert. 397 Auffällig ist vor allem: Explizite und zudem anachronistisch-traditionelle Religion, die im realen Pilgern sehr randständig ist, bekommt in den Filmen einen hohen Stellenwert. Auch der Vergleich des Pilgerns im Film mit literarischen Berichten zeigt neben Ähnlichkeiten auch Unterschiede. 398 In Büchern begegnen uns weitgehend starke Protagonisten, die wenig aus sozialen Kontakten leben. Die Berichte sind geprägt von elaborierter Selbstwahrnehmung und Reflexion. Wie im realen Pilgern fällt - im Gegensatz zu den Filmen - auch in der Literatur die weitgehende Absenz expliziter Religion auf. Gerade die allen untersuchten Filmen gemeinsamen Koordinaten Krisensituation (oft Sterben) als Auslöser, religionsdistanzierte Pilger (oft überhaupt ohne intrinsische Motivation) und starke Formen expliziter Religion haben aber weder im realen Pilgern noch in der Literatur eine auch nur annähernd ähnliche Bedeutung. Das spricht dafür, dass es sich hier um ein medienspezifisches Darstellungsmuster handelt. Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ zeigt eine deutlich größere Ähnlichkeit zu den Filmen als die anderen Bücher: Es kennt eine biografische Krisensituation als Auslöser, einen schwachen Protagonisten und spielt sich stärker in der sozialen Interaktion ab. Da es das auflagenstärkste Pilgerbuch ist, könnte vermutet werden, dass hier wie in den Filmen die Orientierung an einem breiten Publikum das ausschlaggebende Kriterium für die Schilderung des Pilgerns ist. Entscheidender als das Anspruchsniveau ist aber die akustische bzw. optische Wahrnehmbarkeit. Der Schwerpunkt wird auf das gelegt, was sich mit den audiovisuellen Mitteln des Films schildern lässt. Darum haben soziale Kommunikation und explizite Religion in traditionellen und eindeutig als solchen erkennbaren Formen hier ein starkes Gewicht, während pathische Wahrnehmung zugunsten von Handlung zurücktritt, und innere Prozesse zugunsten von Dialogen, in denen Gedanken und Gefühle hörbare Gestalt gewinnen. Die Schilderung religiöser Erfahrung hängt also inhaltlich entscheidend von ihrem Medium ab. Filme fokussieren auf ihre sicht- und hörbare erzählbare Gestalt. 397 Dass in den Filmen Krisen Auslöser und entscheidende Momente des Pilgerns sind, widerspricht der Beobachtung des Natursoziologen Rainer Brämer, der das Pilgern durch die Suche nach einer Idylle gekennzeichnet sieht (vgl. Brämer 2010). 398 Eine Analyse der Bücher von Paulo Coelho, Hape Kerkeling, Carmen Rohrbach und Lee Hoinacki findet sich in Lienau 2009a, 87-105 und ausführlicher in Lienau 2014. <?page no="283"?> Brämer, R. (2010): Heile Welt zu Fuß. Empirische Befunde zum spirituellen Charakter von Pilgern und Wandern. [online] Verfügbar unter: http: / / wanderforschung.de/ files/ heile-welt-zu-fuss1265034962.pdf [Letzter Zugriff 06.04.2014]. Gräb, W. et al. (Hg.) (2007): Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Frankfurt am Main. Haab, B. (1998): Weg und Wandlung. Zur Spiritualität heutiger Jakobspilger und pilgerinnen. Freiburg/ CH. Hermann, J. (2007): Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion. Göttingen. Hermann, J. (2001): Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film. Gütersloh. Jung, M. (1999): Erfahrung und Religion: Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie. Freiburg im Breisgau/ München. Kurrat, C. (2012): Biografische Bedeutung und Rituale des Pilgerns. In: Kurrat, C./ Heiser, P. (Hg.) (2012): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg. Berlin. 161-191. Lienau, D. (2014): Religion auf Reisen. Eine empirische Studie zur religiösen Erfahrung von Pilgern. Freiburg. Lienau, D. (2009a): Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern. Ostfildern. Lienau, D. (2009b): Sich erlaufen. Pilgern als Identitätsstärkung. In: International Journal of Practical Theology, 1/ 2009. 62-89. Mäder, M.-T. (2012): Die Reise als Suche nach Orientierung. Eine Annäherung an das Verhältnis zwischen Film und Religion. Marburg. Schnell, T. (2008): Implizite Religiosität. Vielfalt von Lebensbedeutungen in religiösen Ausdrucksformen. In: Gräb, W./ Charbonnier, L. (Hg.) (2008): Individualisierung - Spiritualität - Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive. Berlin. 111-135. Specht, J. (2009): Fernwandern und Pilgern in Europa. Über die Renaissance der Reise zu Fuß. München. Turner, V. (2000): Schwellenzustand und Communitas. In: Turner, V. (2000): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main/ New York. 94-127. Turner, V./ Turner, E. (1978): Image and pilgrimage in Christian culture: anthropological perspectives. New York. <?page no="285"?> Seit 2013 erprobt die Sächsische Jugendstiftung mit ihrem Programm „Zwischen den Zeiten“ Pilgern auf seine Eignung als Methode der Sozialen Arbeit. Dieser neue Ansatz befand sich damals noch in der Pilotphase und hatte sich zu bewähren. Nun, fast vier Jahre später, ist das Programm erwachsen geworden. In der Ursprungsidee handelte es sich bei dem Projekt „Zwischen den Zeiten“ um einen speziellen, mobilen, sozialen Trainingskurs gemäß Jugendgerichtsgesetz für Heranwachsende, im Besonderen für sanktionierte Jugendliche, die gemeinnützige Arbeitsstunden ableisten müssen. Dieses Angebot wurde durch die Sächsische Jugendstiftung erfolgreich auf Auszubildende, jugendliche Arbeitssuchende, Schulabgänger und junge Menschen in Freiwilligendiensten erweitert. In diesen Kontexten erprobte, entwickelte und evaluierte die Sächsische Jugendstiftung Pilgern als Methodik der Sozialen Arbeit. <?page no="286"?> Viele Schritte und tausende Kilometer wurden seit Programmbeginn mit verschiedensten jungen Menschen auf dem Pilgerweg der alten Handelsstraße Via Regia gegangen. Insgesamt legten die 340 teilnehmenden Jugendlichen ungefähr 3.500 km zu Fuß zurück und im Kontext der Kriminalprävention wurden mehr als 6.500 gemeinnützige Arbeitsstunden abgeleistet. Und nur jeder 33. Jugendliche fühlte sich den Strapazen nicht gewachsen und brach den Kurs ab. Zeit zum Nachdenken und Begegnen fanden wohl alle. Die klassischen religiösen/ spirituellen oder touristischen Zielsetzungen des Pilgerns treten im Programm „Zwischen den Zeiten“ in den Hintergrund, während ein Aspekt - „das in der Fremde sein“ - in den Vordergrund tritt. Insgesamt fünf Tage sind die jungen Menschen dabei jeweils auf Pilgerwegen unterwegs. Während dieser einen Woche werden neben dem Unterwegssein nach der vorgegebenen Tour Arbeiten an diversen Wegabschnitten durchgeführt. Einen wichtigen Baustein in diesem Programm bildet die Erarbeitung von moralischen Wertevorstellungen innerhalb der sozialen Trainingskurse. Oberste Priorität hat dabei die Selbstreflexion und das Bewusstwerden der Eigenverantwortung. „Mit dem Programm ‚Zwischen den Zeiten‘ wird ein Angebot der Begleitung und Unterstützung der Ich-Werdung Heranwachsender zu einem moralisch gebildeten, eigenverantwortlich handelnden und zur Selbstreflexion fähigen Individuum formuliert.“ 399 In einer Zeit der „Auflösung traditioneller Bindungen und Gewissheiten und einer wachsenden Vielzahl an Optionen der Lebensgestaltung und Ausgestaltung sozialer Kontakte, Lebensstile und beruflicher Perspektiven, zu einem Abschnitt struktureller Unsicherheit und Zukunftsungewissheit wie auch individueller Handlungsspielräume[...].“ 400 werden Modelle, die Konsequenzen eigener Handlungen alltags- und realitätsnah, erleb- und begreifbar machen, wichtiger denn je. Selbstwirksamkeit ist das Schlüsselwort, pädagogische Begleitung und Unterstützung nur ein Angebot auf dem eigenen Weg zum Erwachsenwerden. Das Herausgehen der Jugendlichen aus ihrem Lebensmilieu, die Zeit zum Nachdenken während des stundenlangen und manchmal auch monotonen Gehens (zwischen 15 km und 33 km pro Tag) und das Einlassen auf andere innerhalb und außerhalb der Gruppe scheinen sich positiv auf ihren individuellen Entwicklungsprozess zum Erwachsenwerden auszuwirken. Physische und psychische Grenzen werden bewusst von ihnen wahrgenommen. Es ist für sie eine Zeit der Konzentration auf das Wesentliche durch Reizarmut, die für viele der Teilnehmer eine neue Erfahrung mit sich bringt. Das Programm bietet den jungen Menschen Freiraum, um über eigene Wunschvorstellungen und deren 399 Sächsische Jugendstiftung 2016. 400 Sächsische Jugendstiftung 2016. <?page no="287"?> Realisierung nachzudenken. Auch, dass Handlungen und Entscheidungen entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen, wird aus der Freiheit der eigenen Entscheidung erlernt und erfahren. So muss z. B. bei Programmabbruch die Rückreise selbst gestaltet werden. Auch bereits geleistete gemeinnützige Stunden im Programm werden im Fall des „Hinwerfens“ aberkannt. Die im Programm angebotenen lebenspraktischen Aufgaben und die dabei gesammelten Erfahrungen sind förderlich für die spätere Einbindung in den Alltag der Jugendlichen und können einen Perspektivwechsel ermöglichen. Das weniger kopflastige learning by doing stärkt hierbei die Kompetenzen zur Problemlösung. Die jungen Menschen erleben unmittelbar, dass ein bestimmtes Verhalten ein entsprechendes Ergebnis nach sich zieht. Auch die große räumliche Entfernung vom Heimatort hat sich bewährt. Zusätzlich zu dem Aspekt, dass dadurch der Abbruch des Projektes erschwert wird, empfinden die Jugendlichen die große Entfernung auch als eine Art symbolischer Distanz zu ihrem bisherigen Leben. Unabdingbar für das pädagogische Gelingen sind wenige, dafür aber klar aufgestellte Regeln und eine übersichtliche Struktur innerhalb der Projektwoche (Aufteilung in Pilger-, Arbeits-, Bildungs- und Freizeiteinheiten). So werden die Inhalte für alle Teilnehmer transparent dargestellt. Der Appell an die Eigenverantwortlichkeit - nur wenn man selbst die Dinge in die Hand nimmt, kann man auch auf sie stolz sein - wirkt durch seine Selbstbestimmung motivationsfördernd und steigert die Problemlösekompetenzen. Grundlagen des verwendeten Bildungsansatzes sind neben einem humanistischen Menschenbild vor allem das Entwicklungsstufenmodell und die Diskussionsmethoden Moralischer-Dilemmas und Lebensmaximen nach Kohlberg. 401 Nach erfolgter Prozessevaluation der beschriebenen Zielgruppenerweiterung wurde das Programm 2014 auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt. Aus soziologischer und pädagogischer Perspektive wurden dazu zwei voneinander unabhängige Studien durchgeführt. Stephan Hein (TU Dresden) untersuchte vor allem die angewandte Bildungsmethodik nach Kohlberg 402 und verglich die moralische Urteilsfähigkeit heranwachsender Straftäter mit der Urteilsfähigkeit gleichaltriger Teilnehmender, die einen Freiwilligendienst ableisteten. Das Ergebnis lässt zum einen darauf schließen, dass das Programm „Zwischen den Zeiten“ auf die Zielgruppe der nicht straffällig gewordenen Jugendlichen sinnvoll anwend- und erweiterbar ist. Und zum anderen „[…] wird aus den Daten deutlich, dass beide Teilnehmenden-Gruppen auf vergleichbarem Niveau mo- 401 Vgl. Kohlberg 1996. 402 Vgl. Kohlberg 1996; Vgl. Hein/ Enger o. J. <?page no="288"?> ralischen Urteilens hinsichtlich der Einschätzung einer dilemmatischen Situation argumentieren[…].“ 403 Angela Teichert (Private Fachhochschule Dresden) untersuchte durch Teilnehmende Beobachtung und Experteninterviews die Wirksamkeit des Programms aus Sicht der am Jugendstrafverfahren Beteiligten. „Junge Menschen, die eine Straftat begangen haben, brauchen eine Chance, ihr Lebenskonzept zu überdenken und andere Handlungsalternativen in Erwägung zu ziehen. Die Forscherin und die Forscher sind sich darüber einig, dass der Arbeits- und Pilgerweg perspektivisch eine noch bedeutendere Rolle einnehmen wird.“ 404 Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchungen war der Transfer der Methode in die sächsische Trägerlandschaft und die anschließende Verselbständigung der Arbeit die nächste Zielsetzung. Externe Trainer wurden in die pädagogische Methode eingewiesen und geschult, wobei die Stiftung auch nach den Kursen zur weiteren Begleitung supervidierend zur Verfügung stand und steht. Auf diesem Weg konnte der Programmansatz u. a. bei diversen Trägern der Jugendhilfe und Jugendberufshilfe etabliert werden. Erste nachhaltige Erfahrungen berichten, z. B. die Euroschulen, die bei der Ausbildung ehemaliger Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Pilgerweges feststellten, dass ihre Ausbildungsabbruchquote geringer auszufallen scheint als bei Jugendlichen, die nicht diese Art von Grenzerfahrungen erlebten. Nachdem sich „Zwischen den Zeiten“ sachsenweit innerhalb der Jugendhilfelandschaft bei Kooperationspartnern etablierte, erweiterte sich auch der Aktionsradius des Programms. Die Idee des Pilgerns als sozialpädagogische Methodik hat sich mittlerweile in mehreren anderen Bundesländern fest etabliert. Im Jahr 2016 fand in Dresden eine Fachtagung zum Thema „Pilgern, eine Methode der Sozialen Arbeit! ? “ statt, in der die Ergebnisse der dreijährigen Methoden- und Programmentwicklungsphase Fachkräften aus dem Bereich Sozialwesen, Justiz und Verwaltung zugänglich gemacht wurden. Unter anderem wurden die Resultate der wissenschaftlichen Evaluationen der TU Dresden 405 und der Privaten Fachhochschule Dresden 406 im Rahmen des Fachtages veröffentlicht. Parallel zu diesem Programmaufbau konnte, mit Blick auf Europa, durch Claudio Orlacchio ein Forschungsprojekt im Rahmen des Förderprogramms ERASMUS+ entwickelt und etabliert werden. Dieses Forschungspro- 403 Hein/ Enger o. J. 404 Teichert 2015. 405 Vgl. Hein/ Enger o. J. 406 Vgl. Teichert 2015. <?page no="289"?> gramm mit dem Namen „Between Ages: Network for young offenders and NEET“ wird seit 2015 mit unseren Kooperationspartnern aus Frankreich, Belgien, Italien und Deutschland und unter Führung der Privaten Fachhochschule Dresden umgesetzt. Die Endergebnisse dieser Arbeit werden 2018 in Brüssel vorgestellt. Beim abschließenden Versuch, Pilgern in die drei Hauptansätze der Sozialen Arbeit (Soziale Gruppenarbeit, Einzelfallhilfe, Gemeinwesenarbeit) einzuordnen, zeigt sich noch einmal die gesamte Komplexität der Methode. Beim sozialpädagogischen Pilgern wird man zumeist als Gruppe unterwegs sein. Aus dem unterschiedlichen physischen und psychischen Leistungsvermögen der Teilnehmenden ergibt sich zwangsläufig ein großes methodisches Repertoire für die Soziale Gruppenarbeit. Menschen, die sich gemeinsam einer länger andauernden und hohen physischen Belastung stellen, kommen in der Regel zu unterschiedlichen Zeitpunkten an individuelle Belastungsgrenzen. Auch wird die Wahrnehmung und Wertschätzung der Umwelt (Natur, Wetter, Sehenswürdigkeiten, Begegnung mit anderen Menschen) von Teilnehmenden zu Teilnehmenden deutlich variieren. Diese individuellen Aspekte wahrzunehmen und wertzuschätzen, stellen erhebliche Anforderungen an das Sozialverhalten einer gemeinsam pilgernden Gruppe. Aus der Perspektive der Einzelfallhilfe wird natürlich jedes Individuum einen von dieser Gruppe losgelösten Lerneffekt und im Idealfall Erkenntnisgewinn erringen, der aber nicht zwingend aus der sozialen Interaktion der Gruppe hervorgeht, sondern auch absolut intrinsisch zustande kommen kann. Vor allem für die persönliche Reflexion und evtl. Neubewertung des bisher zurückgelegten Lebensweges/ Pilgerweges scheint die Methode Pilgern ein hohes Potenzial zu besitzen. Im Bereich der Methode Gemeinwesenarbeit entfalten vor allem Pilgertouren mit heranwachsenden Straftätern ein hohes Potenzial: zum einen durch die Ableistung einer gesellschaftlichen Wiedergutmachung in Form von gemeinnützigen Arbeitsstunden und zum anderen durch die Einbindung von Paten, Stakeholdern und dem gemeinnützigen Umfeld der Herbergen. Hierdurch kann eine gesellschaftliche Wahrnehmung jugendlicher Straftäter erreicht werden, die deutlich von dem in den Massenmedien gezeichneten Bild variiert. Es kann dadurch ein Beitrag geleistet werden, den pädagogischen Grundsatz von „ambulant vor stationär“ zu stärken und der nicht selten von der Öffentlichkeit geforderten stärkeren „Strenge“ entgegenzuwirken. Sozialpädagogisches Pilgern entzieht sich momentan durch seine Komplexität mehr oder minder einer eindeutigen methodischen Zuordnung. Selbst wenn <?page no="290"?> man das Pilgern auf den rein physischen Vorgang reduziert und versucht, es als spezielle Methode der Erlebnispädagogik darzustellen, wird man ihm nicht umfänglich gerecht. Kann es überhaupt gelingen, Pilgern als sozialpädagogische Methode zu definieren, so sollte man einer dynamischen Definition den Vorrang geben, die auch die momentane gesellschaftliche Wertschätzung des Pilgerns einschließt. Blanz, M./ Como-Zipfel, F./ Schermer, F. J. (Hg.) (2013): Verhaltensorientierte Soziale Arbeit: Grundlagen, Methoden, Handlungsfelder. Stuttgart. Bundesministerium für Justiz (Hg.) (2009): Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? " Mönchengladbach. (= Jenaer Symposium 9.-11. September 2008) Garz, D. (2008): Sozialpsychologische Entwicklungstheorien - Von Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart. 4. Auflage, Wiesbaden. Gugel, G. (2010): Handbuch Gewaltprävention II - Für die Sekundarstufen und die Arbeit mit Jugendlichen: Grundlagen - Lernfelder - Handlungsmöglichkeiten. Tübingen. Hein, S./ Enger, S. (o. J.): Erfolgskriterien und -aussichten moralischer Bildung am Beispiel eines sozialen Trainingskurses. TU Dresden. Kohlberg, L. (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung. Berlin. Sächsische Jugendstiftung (2016): Zwischen den Zeiten. Dresden. Teichert, A. (2015): Zwischen den Zeiten - Mobiler Arbeitsweg. Private Fachhochschule Dresden. Weiterführende Infos Presse und Forschungsberichte zum Download: http: / / www.saechsische-jugendstiftung.de/ zwischen-den-zeiten <?page no="291"?> In sieben Schritten nähert sich der Aufsatz dem Phänomen und der Zukunft des Pilgerns: Nach Definition, Analyse und Geschichte des Wallfahrens schließt sich die Darstellung der heutigen Nachfragesowie Angebotsseite an. Vor allem aus dem Modell des Jakobsweges leiten sich die Perspektiven des Spirituellen Wanderns ab. Insgesamt werden die sehr unterschiedlichen Polaritätsfelder des modernen Wallfahrens untersucht: Hat Pilgern religiös, gesellschaftlich und/ oder wirtschaftlich eine Zukunft? <?page no="292"?> „Pilgern ist kein Wandern“ würden selbst heute viele der befragten Zufußgehenden auf historischen Wegen sagen. Selbst der nicht unbedingt katholische Hape Kerkeling hat nach seiner Rückkehr aus Santiago de Compostela 2001 massiv zurückgewiesen, dass er auf Wandertour gewesen sei. 407 Aber was soll es denn sonst sein. Man geht zu Fuß wie die Wanderer, folgt den von Wanderverbänden ausgeschilderten Wegen, ist professionell wetterbeständig bekleidet, benutzt Wanderkarten oder GPS zur Orientierung. 408 Und doch soll Pilgern etwas anderes als Wandern sein? Das Wort Pilgern stammt vom lateinischen peregrinus ab, das mit Fremdling übersetzt werden kann. Wörtlich gesehen, ist der Pilger jemand, der per agrum geht, also sich über seine Heimat hinaus aufmacht, in die Fremde geht. 409 Ebenso bedeutet das deutsche Wort Wallfahrer eine Person, die unterwegs ist, wobei wallen noch stärker ein Ziel beinhaltet, wohin es zu fahren gilt. Allein von den Begriffen her lässt sich also noch keine eindeutige Differenzierung zwischen Wandern und Pilgern herauslesen. Auch wenn die beiden zeitgenössischen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in den Alpen jährlich ihre Gebirgswanderurlaube durchführten, wird man dabei nicht von Pilgern sprechen, obwohl der Nachfolger Christi in den Wanderschuhen steckt. Pilgern ist also so etwas wie „Wandern plus x“, um es als solches für jeden erkennbar und abgrenzbar zu machen. Und dieser Kick war in früheren Zeiten eindeutig der Glaubens- und Religionsbezug, heute, wie wir noch sehen werden, immer öfter nicht die Suche nach Gott, sondern die eigene Sinnsuche, die Suche nach sich selbst. Damit lässt sich das Pilgern zur Unterscheidung vom Wandern - im traditionellen Sinn - auf die vereinfachte Formel bringen: „Beten mit den Füßen.“ 410 Spätestens seit Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“, das 2006 auf den Markt kam und sich innerhalb eines Jahres im deutschsprachigen Raum mehr als 2 Mio. Mal verkaufte, ist das Thema Pilgern in Mitteleuropa en vogue. 411 Alle, auch die Reisebranche, redet von neuen, sinnorientierten Wachstumsmärkten, doch die faktenorientierte Aufarbeitung und Analyse in der Theologie, Ethnologie oder Tourismuswissenschaft hinkt noch hinterher. 412 In den letzten Jahren sind an mehreren Hochschulen bereits For- 407 Vgl. Kerkeling 2006. 408 Vgl. Dreyer/ Menzel/ Endreß 2010; Vgl. Quack/ Hallerbach/ Hermann 2010. 409 Zum Folgenden vgl. Mielenbrink 1993; Vgl. Ueberschär 2005; Vgl. Wallner 2001; Vgl. Wintersteller 2006. 410 Mielenbrink 1993. 411 Vgl. Kerkeling 2006. 412 Zum Folgenden vgl. Zulehner 2002; Vgl. Antz/ Isenberg 2006; Vgl. Wöhler 2007; Vgl. Sommer/ Saviano 2007; Vgl. Antz 2007b; Vgl. Ponisch 2008. <?page no="293"?> schungsarbeiten entstanden, die nach und nach Daten zusammentragen. Eine tragfähige wirtschaftsorientierte Untersuchung des neuen europäischen Pilgerreisemarktes steht jedoch noch aus. Dazu fehlen umfängliche Befragungsergebnisse der Endkunden, die das - wie wir noch sehen werden - komplexe Thema des Pilgertourismus abbilden. Auch der Markt des Pilgerns ist noch in einer breiten und diffusen Wachstumswelle und noch nicht aus den Kinderschuhen herausgewachsen. Das interdisziplinäre Herangehen ist gerade bei diesem Tourismusfeld unabdingbar, da in den Bereichen der Religionswissenschaft und Volkskunde bereits weitergehende Arbeiten, insbesondere zur Nachfrage- und Angebotsseite des Pilgerns, vorliegen. Wenn Pilgern ein Wachstumsbereich des Tourismus werden wird - wovon ich überzeugt bin -, ist eine breite wissenschaftliche Basis auch innerhalb der Tourismuswissenschaft dringend notwendig. Zusammenfassend ließe sich also sagen: Pilgern - wie viel ließe sich über dieses Thema sagen, wenn wir nur etwas wüssten. Das Phänomen des Pilgerns, der Sinnsuche im Unterwegssein, ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Wallfahrt gilt als früheste Form des Tourismus, des bewussten, nicht auf die Arbeit bezogenen Reisens. 413 In Europa war das Pilgern bis in die Zeit der Aufklärung hinein immer mit der Religion des Christentums und dem Glauben an den einen Gott verbunden; in anderen Weltreligionen ist sie bis heute rein religiös. Außerdem war das Pilgern immer auf ein festes Ziel orientiert, einen Ort, der als heilig empfunden wurde und an dem der Pilger innere oder äußere Heilung suchte. Der reale Weg dorthin war ebenso bedeutsam, da er einen Teil des ideellen Lebensweges hin zu Gott symbolisierte. Religiöse Verwurzelung, Heiliger Ort und Pilgerweg sind die drei Bestandteile der traditionellen Pilgerfahrt geblieben. Schon der griechische Historiker Herodot berichtet von den ägyptischen Pilgern entlang des Nils zum Tempel der Göttin Sehet; und die Griechen pilgerten zu den Heiligtümern des Apollon in Delphi oder der Artemis in Ephesos. Auch alle heutigen Weltreligionen kennen das Pilgern zu besonderen Kraftorten, wobei als vierte Komponente ein mehr oder weniger ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl hinzukommt. Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2000 die unbeschreibliche Zahl von mehr als 200 Mio. Menschen auf Pilgerreisen unterwegs waren. Der Hinduismus bündelt die vier zentralen Pilgerreisen nach Badrinath, Kedarnath, Gangotri und Yamunotri zum Chardham (Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod); alle zwölf Jahre geht es zur Kumbh Mela nach Allahabad, wo dann bis zu 70 Mio. Menschen hinströmen. 413 Zum Folgenden vgl. Mielenbrink 1993; Vgl. Ueberschär 2005; Vgl. Groen 2007. <?page no="294"?> Der Buddhismus kennt ebenfalls vier heilige Stätten in Indien, Lumbini (Ort der Geburt), Sarnath (der ersten Lehre), Bodhgaya (der Erleuchtung) und Kushinagar (des Todes von Gautama Buddha). Oder der Shintoismus Japans kennt die Pilgerfahrt (Junrei) zum Ise-Großschrein auf Kii, zu dem jährlich 6 Mio. Menschen kommen. Die virtuelle Reise zu den Pilgerzielen könnte so weiter um die Welt gehen, wobei den christlichen Ländern und den westlichen Tourismuswissenschaften diese Phänomene nahezu unbekannt sind. Auch alle drei monotheistischen Weltreligionen kennen das dem Menschen anscheinend innewohnende Wallen zu Heiligen Orten. 414 Das Judentum hat am wenigsten Pilgertraditionen, kennt aber die Pilgerfahrt zum Tempel des Salomo in Jerusalem, wo einst die Bundeslade mit den beiden Gesetzestafeln des Mose aufbewahrt wurde. Dorthin sollte jeder männliche Israelit dreimal im Jahr pilgern; mit anderem Vorzeichen tun sie dies auch seit der Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahre 70 (Klagemauer). Der Islam nennt als eine seiner fünf Hauptsäulen die Wallfahrt (Haddsch) der männlichen Moslems einmal im Leben zur Kaaba in Mekka, die oft mit dem Besuch des Grabes Mohameds in Medina verbunden wird. Aber auch der Felsendom in Jerusalem, von wo Mohamed in den Himmel geritten sein soll, steht hoch auf der Liste der islamischen Pilgerstätten. Hier treffen sich die drei monotheistischen Weltreligionen an einem, wenn auch nicht gemeinsamen Wallfahrtsplatz. Auch das Christentum hat früh dem Wallfahrtswunsch der Menschen Raum geschaffen. 415 Bereits im 3. Jahrhundert, spätestens aber mit der Auffindung der Kreuzreliquien in Jerusalem durch die Kaiserin Helena im Jahr 326 mehren sich die Pilgerfahrten ins Heilige Land zu den Stätten des Lebens und Sterbens Jesu. Dazu gehörten interessanterweise von Anfang an viele Frauen, wie die Nonne Egeria, die Römerin Paula mit ihrer Tochter Eustochia sowie die Heilige Melania mit ihrer gleichnamigen Großmutter. Die früheste, schriftlich in einem anonymen Reisehandbuch mit Etappen dokumentierte Reise eines christlichen Pilgers nach Palästina führte im Jahr 333 über den Landweg von Bordeaux nach Jerusalem. Mit der Eroberung der heiligen Stätten durch den Islam 636 flauten diese Fahrten ab, nahmen mit der Eroberung Palästinas durch die europäischen Kreuzfahrerheere (1099-1291) sprunghaft zu und reduzierten sich danach wieder auf ein geringes Maß vornehmer, mit dem Schiff von Venedig kommender Pilger. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhundert beginnt eine erneute Sehnsucht nach Jerusalem, der Stadt der drei Weltreligionen; in Deutschland vor allem nach der Pilgerfahrt Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1898. Nicht nur in Jerusalem über dem leeren Grab des Religionsstifters Jesu, sondern auch in Rom über dem Grab des Apostels Petrus und dem des Apostels Paulus, für die Jerusalemer Kreuzreliquien und den Bischof von Rom, den 414 Vgl. Groen 2007. 415 Zum Folgenden vgl. Mielenbrink 1993; Vgl. Jehle 2005; Vgl. Groen 2007. <?page no="295"?> Papst, ließ der Sohn Helenas, Kaiser Konstantin der Große aus Mitteln des Staates vier monumentale Kirchenbauten errichten. Diese wurden bereits mit ihrer Erbauung zu Pilgerzielen. Bis in die frühe Neuzeit war dabei der Weg für die Nordalpinen über die „Via Francigena“ (876 Ersterwähnung), die bereits als Römerstraße bestehende, mittelalterliche Heeres- und Handelsstraße festgelegt. Mit der Eroberung Jerusalems durch den Islam wurde Rom der zentrale christliche Pilgerort Europas. Um diesen Anspruch in der Konkurrenz zu anderen Orten zu festigen, ließ man sich bezüglich des Marketings schon einiges einfallen. Dazu gehört die Einführung des Heiligen Jahres (Anno Santo) 1300, in dem Rom ca. 30 Tsd. Pilger aufnahm. Das ursprünglich alle 100, nun alle 25 Jahre stattfindende Ereignis ist heute medial weltweit präsent. Spätestens der Heilige Philipp Neri fügte um 1600 den vier Patriarchalbasiliken S. Giovanni in Laterano, S. Pietro in Vaticano, S. Paolo fuori le Mura und S. Maria Maggiore die Kirchen S. Croce in Gerusalemme, S. Sebastiano alle Catacombe und S. Lorenzo fuori le Mura hinzu, um auf diesem stadtinternen Pilgerweg zu Roms sieben Hauptkirchen einen vollkommenen Ablass zu erreichen. Konkurrenz erwuchs Jerusalem und Rom im Mittelalter mit der Auffindung des Grabes des Heiligen Apostels Jakobus des Älteren und seiner kirchlichen Beisetzung im heutigen Santiago de Compostela um 820 unter König Alfons II. von Asturien. Sehr schnell wurde das Apostelgrab am Ende der damalig bekannten Welt (Küstenort Finisterre, Finis Terrae, Ende der Welt) zum europaweit nachgefragten Wallfahrtsort einer Lebenspilgerfahrt. Dem Beispiel Roms folgend, wurden auch hier ab 1428 besondere Heilige Jahre (Anno Santo) eingeführt, wenn der Gedenktag des Jakobus, der 24. Juni, auf einen Sonntag fällt. Im größten Wallfahrtsboom des 11. bis 13. Jahrhunderts sollen jährlich 200 Tsd. Menschen den Weg nach Santiago gefunden haben. Mit der Reformation, der Entwicklung von Nationalstaaten und -kriegen sowie der Aufklärung verloren alle genannten Pilgerfahrten bis Ende des 19. Jahrhunderts - wie man es heute ausdrücken würde - ihre Marktrelevanz. Neben diesen drei großen Wallfahrten des christlichen Mittelalters (Peregrinationes Maiores) entstanden nun in Europa zwei neue internationale Marienwallfahrtsorte in Lourdes (1858) und Fatima (1917), die Ausdruck einer seit dem Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr da gewesenen Marienverehrung ab Mitte des 19. Jahrhunderts sind. Die fünf Genannten (Jerusalem, Rom, Santiago, Lourdes, Fatima) sind auch heute die fünf international bedeutsamsten Wallfahrtsstätten des Christentums in Europa. Auf diese beziehen sich auch die weiteren Aussagen zu den Fernpilgerwegen, wobei das Marktsegment des Pilgertourismus damit nur partiell erfasst wird. Man bedenke beispielsweise, dass allein die seit 1709 bestehende, für uns Europäer eher unbekannte Wallfahrt zur Nuestra Senora de Guadalupe Hidalgo in Mexiko jährlich 20 Mio. Besucher anlockt. Daneben entstanden seit dem frühen Mittelalter unzählige kleine und große Heiligtümer (Gräber, Wunder, Reliquien), die entsprechende Fern- und Nahwallfahrten <?page no="296"?> hervorbrachten und noch hervorbringen. Nahezu unbeachtet pilgern beispielsweise jährlich aus dem Rheinland Pilgergruppen in Mehrtagesmärschen zum Grab des Heiligen Apostels Matthias in Trier (seit dem 13. Jahrhundert) oder national orientiert pilgern Österreicher jährlich nach Mariazell (seit dem 14. Jahrhundert), wo sich zur Wallfahrt der Völker 2004 auf dem Mitteleuropäischen Katholikentag 80 Tsd. Menschen versammelten. Selbst der Protestantismus, der keinerlei religiösen Bezug zum Pilgern hat und die später katholisch genannte Wallfahrtspraxis bekämpfte, reagiert mit dem 2007 in Sachsen-Anhalt eingeweihten Lutherweg auf die wieder erwachende Suche des Menschen nach Religion, Ort, Weg und Gemeinschaft. Während das traditionelle Pilgern einerseits fast immer körperlich mit dem Wandern und anderseits inhaltlich mit der Religion verbunden war, bietet sich heute im christlichen Kulturraum ein sehr viel differenzierteres Bild. 417 Die Pilgerwanderung im klassischen Sinn ist einerseits nur noch ein Teil des Spirituellen Tourismus sowie andererseits des Wandertourismus. Meist entstehen Mischformen verschiedener inhaltlicher Ausrichtung, Gruppengröße, Reiselänge sowie Fortbewegungsmittel, die fast alle noch unter dem Dach des Angebotes Pilgern firmieren. Den größten Teil des Pilgertourismus macht nämlich heute der mit Flugzeug, Bahn oder Bus, und nicht der mit den Füssen aus. 418 416 Eigene Darstellung. 417 Zum Folgenden vgl. Mielenbrink 1993; Vgl. Wallner 2001; Vgl. Neuhold 2003; Vgl. Hänel 2004; Ueberschär 2005; Vgl. Antz/ Isenberg 2006; Vgl. Bachler/ Wentz 2007; Vgl. Antz 2007b; Vgl. Ponisch 2008. 418 Vgl. Treutler 2004. <?page no="297"?> Da ein wachsender Teil der eigentlichen Pilgerwanderer nicht mehr rein auf religiöser Suche ist, wurde statt des üblichen Begriffs Pilgern als umfassenderer Begriff Spirituelles Wandern als Segment des Wandertourismus wie des Spirituellen Tourismus gewählt. 419 Von den genannten drei inhaltlichen Vorrausetzungen der traditionellen Pilgerfahrt sind nur knapp zwei, der Spirituelle (statt der Heilige) Ort und der Weg, übrig geblieben. Religion und Glauben als Hauptantriebsfedern des historischen Pilgerns treten vor allem in Europa hinter individualisierten Gründen in den Hintergrund. Das Spirituelle Wandern unterteilt sich grundsätzlich einerseits in den Bereich der Wallfahrt, die einen Kurzurlaub mit klarer Zielorientierung zu einem Nahziel darstellt. Dabei handelt es sich fast immer um eine Gruppenreise mit dem Schwerpunkt auf Religionstourismus, eventuell mit Kultur- und Naturerlebnis. Andererseits orientiert das Pilgern auf einen längeren Urlaub mit Ziel- oder Wegorientierung zu einem nationalen oder internationalen Fernziel. Das Spirituelle Wandern findet in diesem Fall entweder als Individual- oder als Gruppenreise statt. Der inhaltliche Schwerpunkt, das Motiv der Reise, kann entweder der klassische Religionstourismus, der oft eigenständige Kulturtourismus, die neuere Form des Naturtourismus oder die Reise zum Ich, also der Spirituelle Tourismus im engeren Sinn abzüglich des Religionstourismus, sein. Damit wird die Ausrichtung des Pilgerns im Gegensatz zum normalen Tourismus auf den Kopf gestellt. Es geht nicht mehr so sehr um die Reise weg zu einem Ziel, sondern um die Reise hin zu sich selbst. 420 419 Vgl. Lutz 1990; Vgl. Antz 2007b; Vgl. Dreyer/ Menzel/ Endreß 2010. 420 Zum Folgenden vgl. Zulehner 2002; Vgl. Neuhold 2003; Vgl. Berkemann 2006; Vgl. Körtner 2006. 421 Eigene Darstellung nach Wikipedia. <?page no="298"?> Wandern mutet uns modernen Menschen schon manchmal anachronistisch im Gegensatz zu unserer hochtechnisierten Welt an. Dann muss uns das Pilgern oder Spirituelle Wandern doch wie eine Ausdrucksformel aus einer ganz anderen Welt vorkommen. Und trotzdem oder vielleicht deshalb wächst der Markt des Wanderns wie des Pilgerns. 422 Zunächst belächelt, wundern sich die Analysten darüber, dass beide Marktsegmente nicht nur wie früher allein von der Zielgruppe 50 +, sondern verstärkt auch von jüngeren Menschen (Mittzwanziger) und von Menschen im stressigsten Berufsalltag (Mittvierziger) nachgefragt werden. Wie wir aus anderen Bereichen der Konsumforschung wissen, werden diese Zielgruppen auch in ihrer späteren Entwicklung immer wieder auf das Urlaubsprodukt zurückkommen, mit dem sie schon früher positive Erfahrungen gemacht haben. Wie lässt sich aber eine nicht homogene, sondern höchst individualisierte Zielgruppe für Spirituelles Wandern definieren und erfassen, und dies vor dem Hintergrund unvollständiger wissenschaftlicher Analysen. 423 Wie viele von den geschätzten weltweiten 200 Mio. Pilgerreisen jährlich zu nationalen und internationalen Zielen sind Fußpilger? Wie viele der 10 Mio. jährlichen Besucher Roms kommen aus religiösen Gründen und dann noch zu Fuß? Wie viele der örtlichen und regionalen Wallfahrten sind gar nicht erfasst und bekannt? Fühlen sich diese Fußpilger denn überhaupt als Touristen im statistischen Sinn? Und trotzdem tragen immer mehr Menschen zur Wertschöpfung des Tourismus bei, die eine Pilgerwanderung durchführen. Allein von den professionellen christlichen Reiseveranstaltern in Deutschland werden pro Jahr 150-200 Tsd. organisierte Spirituelle Reisen verkauft, wozu aber weniger Fußpilgerfahrten gehören. Der Marktanteil des Pilgerns könnte sich künftig auf 5 bis 10 % am Gesamtmarkt des Tourismus entwickeln, wenn die Kunden richtig angesprochen werden. Über die Analyse der sonstigen Trends im Tourismus kommen wir den heutigen und künftigen Zielgruppen des Pilgerns durchaus näher. Die engere Zielgruppe der religiös motivierten Christen sucht über die Pilgerwanderung eine Verfestigung des Glaubens bzw. eine Erweiterung des Glaubensgefühls außerhalb des Kirchengebäudes. Dieses Motiv verfolgen fast komplett alle Beteiligten des Pilgerkurzurlaubs (Wallfahrt), die aber touristisch bisher kaum erfasst wurden, sowie eine stetig wachsende Gruppe der Fernzielpilger. Eine stärker dem Buspilgertourismus zuzurechnende Zielgruppe ist die des klassischen Kul- 422 Zum Folgenden vgl. Dreyer/ Menzel/ Endreß 2010; Vgl. Quack/ Hallerbach/ Hermann 2010. 423 Zum Folgenden vgl. Polak 2002; Vgl. Treutler 2004; Vgl. Strohmeyer 2004; Vgl. Sommer/ Saviano 2007; Vgl. Ponisch 2008. <?page no="299"?> turtouristen, der sich jedoch auch beim Fernreisepilger, verstärkt am spanischen Jakobsweg, wiederfindet. Hier liegt der Schwerpunkt in der sich über Jahrhunderte hinziehenden christlichen Kultur- und Architekturgeschichte als beruhigende Konstante des heutigen multikulturellen Menschen. Ein auf die eigene Sinnsuche bereits hinweisendes Motiv vieler Fußpilger wird in der Zukunft auch der Naturtourismus werden. Mit offenen Augen und Ohren, mit allen Sinnen die Naturschönheiten erfahren, die Früchte der Natur vom Wasser bis zum Obst im wahrsten Sinne genießen, die (göttliche) Schöpfung der Natur in den Fokus des Pilgerns stellen, wird wie beim Wandertourismus verstärkt nachgefragt werden. Diese Tendenz „Zurück zum Ursprung“ hat wenig mit dem ebenfalls steigenden Markt des Aktivtourismus, wie des Schnellgehens oder des Marathons der Zielgruppe 50 +, zu tun, sondern stellt die Naturerfahrung in den Mittelpunkt des Reisebedürfnisses. 424 Eigene Darstellung. <?page no="300"?> Ausgehend vom Wellnesstrend der 1990er-Jahre, der den traditionellen Gesundheitstourismus schon vor schwierige Aufgaben gestellt hat, wird die Entwicklung zum Spirituellen Wandern, der Reise zum Ich, die gesamte Gesundheitswirtschaft ebenso vor höhere Herausforderungen stellen. 425 Die physische wie psychische Gesundung des Menschen über das Wandern entlang eines über Jahrhunderte vom Menschen genutzten Pilgerweges inmitten einer weitgehend intakten Natur ist das Hauptmotiv - bewusst oder unbewusst - bei der wachsenden Nachfrage nach Pilgerwanderreisen. Und ein Höchstmaß an Erfüllung dieser Sinnsuche beim Pilgern erwartet auch der Gesundheitstourist bei den traditionellen christlichen Pilgerrouten - je älter der äußere Weg, umso besser für die innere Gesundheit. Die unüberschaubare Differenzierung der Nachfrager im Tourismus zwischen Religion, Kultur, Natur oder Gesundheit ist Ausdruck der multioptionalen globalisierten Welt, die auch nicht nur ein Pilgern im klassischen, religiösen Sinn zulässt. 426 Sie bietet damit eine breite Chance für den Tourismusmarkt, diese nachgefragten vielfältigen Optionen in individuelle Angebote umzusetzen. Die Ausrichtung des Spirituellen Wanderns konzentriert sich auf den Sinn suchenden Kunden im weitesten Sinn, der eine ebenso hybride Angebotsentwicklung nach sich zieht. Es werden auch bei einem wachsenden spirituellen Tourismusmarkt der Zukunft keine Massen- und Konfektionsangebote nachgefragt, sondern individuelle Lösungen vom Kunden vorgezogen. Das hört sich zunächst wie ein nicht zu entwirrender Gordischer Knoten an. Doch der gesamte, auch internationale Tourismusmarkt wird sich in Richtung Individualisierung entwickeln. Selbst die Global Player der Tourismuswirtschaft bringen immer mehr sinnorientierte individualisierte Lösungen auf den Markt, wie Urlaube in einem im ganzen sanierten mittelalterlichen Dorf in der Toskana (historische Erlebniswelten) oder mit von örtlichen Naturschutzverbänden organisierten Taucherjachten in der Karibik (natürliche Erlebniswelten). Es bedarf nur einer, wie im parallel sich entwickelnden internationalen Handel, ausdifferenzierten Logistik, um der individualisierten Sinnorientierung des Kunden ein entsprechendes Pilgertourismusangebot zu offerieren. 425 Vgl. Jäger/ Quarch 2004; Vgl. Gutmann/ Gutwald 2005; Vgl. Horx 2005; Vgl. Wöhler 2007; Vgl. Ponisch 2008. 426 Zum Folgenden vgl. Opaschowski 2001; Vgl. Jäger/ Quarch 2004; Vgl. Strohmeyer 2004; Vgl. Horx 2005; Vgl. Gutmann/ Gutwald 2005; Vgl. Tölkes 2006; Vgl. Ganz 2006; Vgl. Antz/ Eisenstein/ Eilzer 2011. <?page no="301"?> Bislang werden die Pilgerreisen wie die anderen spirituellen Reiseangebote in Deutschland meist von den ungefähr 50 kleinen Reiseanbietern, von den traditionellen Bildungsträgern oder von den kirchlichen Trägern direkt organisiert. 427 Dazu kommen die großen spirituellen Reiseveranstalter „Biblische Reisen“ (ökumenisch) und „Bayerisches Pilgerbüro“ (katholisch), die insgesamt pro Jahr ca. 50 Tsd. Reisende bedienen. Hier werden aber meist Gruppenreisen mit anderen Verkehrsmitteln als den Füßen organisiert. Während die Anbieter des Fußpilgerns noch den Schlaf der Gerechten träumen, wurde im Umfeld von Wander- und Pilgervereinen viel für das eigentliche Produkt in Deutschland getan. 428 Dies betrifft die wissenschaftliche Erforschung von Orten und Wegen (Hochschulen), die Ausschilderung der Wege (Wanderverbände), die Kartierung, die Publikationen (Jakobus- und Geschichtsgesellschaften), die Herbergshinweise sowie die geistliche Betreuung in den Orten auf den Wegen (Kirchen). Neben den traditionellen Jakobswegen, die den Anschluss nach Frankreich suchen, entwickelt sich auch eine neue Affinität in Richtung Rom, während die Fußpilgerfahrt nach Jerusalem, der Stadt dreier Weltreligionen, noch kaum Anhänger gefunden hat. Gerade die Via Francigena von Canterbury nach Rom, die mittelalterliche Frankenstraße nach der Routenführung der 996 unternommenen Pilgerfahrt Bischofs Sigeric von Canterbury (1996 Europäische Kulturstraße), ist in den touristisch weniger bekannten Regionen Italiens, Emilia Romagna und Latium, bereits ausgeschildert und wird auch in Deutschland von regionalen Initiativen, wie der Pilgerroute Stade-Rom nach der um 1250 entstandenen Chronik des Abtes Albert von Stade als Initiative der Stadt Stade, weiterentwickelt. Gerade wegen des teilweise überbordenden Marketings auf dem Reisebuchmarkt zum Jakobsweg, wird diesem internationalen Fußpilgerprojekt über die Alpen bzw. von Assisi (Heiliger Franziskus) nach Rom eine Zukunftschance eingeräumt. Neben den drei traditionellen Pilgerrouten entstanden in Deutschland auch thematische Routen mit regionalem bis internationalem Anspruch, wo nicht so sehr der Zielort als der Pilgerweg im Vordergrund steht. Dazu gehören beispielsweise regional die Bistumswallfahrt des Bistums Magdeburg nach Huysburg - in einem eher areligiösen Land mit immerhin 5 Tsd. Besuchern jährlich -, überregional der Elisabethpfad Eisenach-Marburg (auf der Route des Jakobsweges) und international der Bonifatiusweg Exeter-Fulda. Lange noch nicht ist das Fußpilgern an seinem spirituellen oder touristischen Endpunkt angekommen. Doch, was dem Touristiker wie dem Tourismuswissenschaftler nicht nachvollziehbar erscheint, der Pilgermarkt entwickelt sich am Rand und auch ohne die bisherigen touristischen Markt- und Organisationsmechanismen. Wie die Romantiker Anfang des 19. Jahrhunderts einfach durch die 427 Vgl. Treutler 2004; Vgl. Strohmeyer 2004; Vgl. Sommer/ Saviano 2007. 428 Vgl. Isenberg 2000; Vgl. Kuhli 2004; Vgl. Dreyer/ Menzel/ Endreß 2010; Vgl. Quack/ Hallerbach/ Hermann 2010. <?page no="302"?> Fränkische Schweiz und den Harz aufgebrochen sind, ohne das Netz der Turnund-Taxis’schen Postkutschen-Maschinerie einzubeziehen, so brechen Anfang des 21. Jahrhunderts Menschen auf, die sich über Internet, Literatur und Karten einen individuellen Reiseweg zu sich selbst entworfen haben, ohne einen Reisemittler oder -veranstalter einzubeziehen. Professionelles Reisemanagement kann wie im 19. Jahrhundert in Zukunft auch hier seinen Markt finden, wenn sich eine auf win-win-orientierte Kommunikation und Kooperation zwischen Kirchen und Reiseveranstaltern, Reisevermittlern, Hotellerie und Gastronomie entwickelt und verstetigt. Anhand des Jakobsweges bzw. der -wege lässt sich das Prinzip einer Entwicklung und Professionalisierung einer Pilgerroute durch Europa sehr gut verdeutlichen. 429 Nach dem Niedergang der europäischen Wallfahrt nach Santiago de Compostela in Reformation und Glaubenskriegen im 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, einem erneuten Aufschwung im Barock mit dem Neubau der Kathedrale und einer massiven Säkularisierungswelle im 19. Jahrhundert, erfolgte mit der Auffindung der verschollenen Gebeine des Hl. Jakobus 1879 und der Anerkennung der Echtheit durch Papst Leo XIII. 1884 inmitten der positivistischen Gründerzeit und Fortschrittsgläubigkeit eine erste neue Pilgerbewegung und eine spirituelle Wende. Die Rückbesinnung auf nationale spanische Werte (1937 Nationalfeiertag am Jakobustag durch General Francisco Franco), auf gründliche archäologische und historische Forschungen (1950 Gründung der ersten Jakobusgesellschaft in Paris), auf die gemeinsamen europäischen Kulturwurzeln (1987 erster europäischer Kulturweg des Europarates. 1993 UNESCO-Weltkulturerbe; 2000 Europäische Kulturhauptstadt) sowie auf die einigenden Kräfte des Christentums (1982 Europa-Feier Papst Johannes Paul II. 1989 Katholischer Weltjugendtag) bildeten in enger Verklammerung den gesamtgesellschaftlichen Rahmen auch des pilgertouristischen Marketings. Der Aufschwung der Jakobuspilgertradition seit Anfang der 1980er-Jahre hängt also - wie oben bereits theoretisch dargelegt - damit zusammen, dass es eine über tausendjährige Wallfahrtsgeschichte gibt (Tradition), ein zentrales Pilgerziel (Grab des Heiligen Apostels Jakobus des Älteren in der Kathedrale von Santiago de Compostela) und ein historisch belegtes, europaweites Wegenetz, auf dem schon jahrhundertelang Pilger vor uns gelaufen sind. Diese prickelnde und nicht künstlich zu schaffende Vorstellung, direkt in den Fußstapfen unserer Vorfahren zu stehen und zu gehen, macht die besondere Kraft der Jakobs- 429 Zum Folgenden vgl. Isenberg 2000; Vgl. Kuli 2004; Vgl. Klein 2005; Vgl. González Alvarino 2006; Vgl. Wintersteller 2006; Vgl. Wöhler 2007; Vgl. Sommer/ Saviano 2007; Vgl. Ponisch 2008. <?page no="303"?> wege aus. Der Weg zwischen Pyrenäen und Galizien, der bereits 1047 erstmals erwähnte, eigentliche Jakobsweg (Camino de Santiago. Camino Francés) ist eine bis heute feste Route zwischen historischen Städten, Klöstern und Pilgerhospitälern. Er wurde bereits 1980 durch Elias Valina Sampedro dokumentiert und ausgeschildert. Ihm folgten das Centre d’ Ètudes Compostellanes in Paris in den 1980er-Jahren mit der Klassifizierung und Beschilderung der französischen Wege, insbesondere der Chemins de Saint-Jacques, den bereits im 12. Jahrhundert genannten vier Hauptwegen Via Turonensis (Tours und weiter nach Norden/ England), Via Lemovicensis (Limoges und weiter nach Nordosten/ Rhein), Via Pudensis (Le Puy und weiter nach Osten/ Schweiz) und Via Tolosana (Toulouse und weiter nach Südosten/ Italien). Diese fünf Wege bilden das Rückgrat des europäischen Jakobspilgerwanderns. Daran knüpfen die weiteren nationalen und internationalen Routen an, denn mittelalterliche Pilgerzeichen und -berichte finden sich auch in England, Skandinavien oder Russland. Obwohl die Deutschen Jakobusgesellschaft bereits 1987 gegründet wurde, bedeutende Ausstellungen 1984 in München und Kongresse 1988 bei Bamberg zum Pilgern in Deutschland stattfanden, begann die Ausweisung von deutschen Jakobswegen erst 1992 mit dem Pilgerweg Rothenburg ob der Tauber-Nürnberg - interessanterweise durch den protestantischen Pfarrer Paul Geißendörfer. Seiner Initiative folgten u. a. die Fränkische Jakobusgesellschaft ab 1998, der Landschaftsverband Rheinland mit Wegen im Rheinland und Westfalen ab 1999, der Verein Ökumenischer Pilgerweg mit der Via Regia Görlitz-Vacha 2003 und die Jakobusgesellschaft Sachsen-Anhalt mit dem Weg Jerichow-Eckartsberga auf die Via Regia 2005. Neben der noch auszubauenden wissenschaftlichen kulturhistorischen und volkskundlichen Forschung, der immer verbesserungswürdigen Ausschilderung, der weiter anzupassenden Wegeliteratur, der noch entwicklungsfähigen Akquise von Pilgerherbergen und der unterschiedlich ausgeprägten geistlichen Betreuung sind beim Jakobsweg auch in Deutschland effektive Grundlagen geschaffen, die ihresgleichen im Innenmarketing anderer Tourismusbereiche suchen müssen. Umso erstaunlicher ist die bisher eher unprofessionelle Behandlung des Jakobsweges durch die Tourismuswirtschaft. Wie in Zeiten des Mittelalters ließe sich da doch ein großes Stück des Pilger-Bratens abschneiden, wenn das bestehende Innenmarketing in verkaufsfähige Reiseangebote umgemünzt würde. Gleichzeitig besteht durch den Kerkeling-Effekt in Deutschland so etwas wie die Gefahr einer Übersteuerung des „Tourismusproduktes“ Jakobsweg. Im Jahr 2007 pilgerten 70 % mehr deutsche registrierte Pilger, real knapp 14 Tsd., nach Santiago, das sind 12 % der gesamten Santiagowallfahrer. Diese wie die anderen Zählungen von Pilgern sind jedoch allenfalls Richt- und Vergleichswerte, da nur die Pilger in Santiago registriert werden, die sich als Pilger verstehen, die die letzten 100 km zu Fuß (200 km mit Fahrrad oder Pferd) zurückgelegt haben <?page no="304"?> und sich wegen einer Pilgerurkunde (Compostela) anmelden. Nicht erfasst sind die unzähligen Fußpilger, die irgendwo in Europa auf den Spuren des Apostels Jakobus laufen (Wegorientierung) und auch nicht bis Santiago kommen wollen/ müssen (Zielorientierung). So wurden beispielsweise 2004 allein bei der Fränkischen Jakobusgesellschaft 3.411 Pilgerausweise verkauft und 2007 bei der Deutschen Jakobusgesellschaft 10.961 Anfragen beantwortet. Um das touristische Produkt des Jakobsweges weiter voranzubringen, eröffnet sich ein sehr breites und differenziertes Potenzial, dass noch lange nicht ausgeschöpft ist. Wie der Heilige Jakobus uns bereits über 1000 Jahre lang mehr oder weniger angezogen hat, so wird mir nicht bange, dass seine Anziehungskraft auch unseren Zeitgeist überlebt - global war sie auf jeden Fall schon immer. 430 Eigene Darstellung. <?page no="305"?> Die Fakten sprechen zunächst für sich, obwohl zur Entwicklung des Fußpilgerns als Richtschnur nur die langjährigen Zahlen des Jakobsweges und regional von einigen Pilgerwegen Einzelerfassungen vorliegen: Es gibt in Europa einen eindeutigen Trend zum Pilgern. 431 So wie Slow Food die langsame Seite der Nahrung und Ernährung propagiert und weltweiten Zulauf erhält, so entwickelt sich das Pilgern zur langsamen und sinnhaltigen Auf- und Verarbeitung des Lebensweges. Auch die Entwicklung des Spirituellen Tourismus insgesamt spricht eine eindeutige Sprache: Über ganz Europa verteilt registrierte man 1990 in Lourdes 5 Mio. Wallfahrer, im Heiliger Jahr 2000 in Rom 8,5 Pilger oder 2006 bei der Abschlussmesse Papst Benedikt XVI. auf dem Weltjugendtag in Köln 1 Mio. Jugendliche - und dies unter dem nicht gerade coolen und ichbezogenen Motto „Wir sind gekommen, um Ihn anzubeten.“ Gerade aus dem Bereich der letztgenannten Zielgruppe ist interessant, dass sich bei der Internetsuche die Zahl der Nennungen von Pilgrimage von 1,2 Mio. im Jahr 2004 auf 12,4 im Jahr 2006, und sogar für Pilgern im deutschsprachigen Bereich von 77 Tsd. auf 760 Tsd. im gleichen Zeitraum vervielfacht hat. Auch die Trendforscher gehen davon aus, dass sich die Spaßgesellschaft der 1990er-Jahre zur Sinngesellschaft wandeln wird. 432 In allen Bereichen des menschlichen Lebens wird an der Globalisierung, Individualisierung und Beliebigkeit gelitten und die Krisen und Katastrophen der Jahre 2001 (11. September) oder 2008 (Banken) tun ihr Übriges. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Umdenken der Menschen in allen Bereichen und die Suche nach einem inneren Sinn keine Modeerscheinungen sind, die nach einer Saison wieder verschwinden. Themen wie Wohlfühlen und Geborgenheit stehen nach dem Freizeitforscher Horst Opaschowski bei den Deutschen ganz oben, weshalb sich aus der bisherigen Wellnessausrichtung im Reiseverhalten eine eindeutige Sinnorientierung ab den 2000er-Jahren entwickelt. Entsprechend der individualisierten Sinnmotive empfiehlt er auch der Reisebranche, auf ein breites Nischenmarketing zu setzen. Der Zukunftsforscher Matthias Horx schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er vom künftigen Selfness-Trend spricht, der als „Reisen, um sich selbst zu finden“ definiert wird. Dabei werden Erfahrung, Engagement und Spiritualität immer wichtiger. Selbst die Kirchen, die sich mit dem Begriff und der Thematik der Spiritualität, die keine eindeutige Glaubens-, sondern wieder eine individualisierte, manchmal beliebige Ich-mach-mir-meine- Religion-selbst-Ausrichtung beinhaltet, manchmal schwer tun, haben die Zeichen der Zeit erkannt. Papst Benedikt XVI. hat zum Abschluss des Weltju- 431 Zum Folgenden vgl. Zulehner 2002; Vgl. Ueberschär 2005; Vgl. Gutmann/ Gutwald 2005; Vgl. Antz 2007b; Vgl. Antz/ Eisenstein/ Eilzer 2011; Vgl. Antz/ Berkemann 2013. 432 Vgl. Opaschowski 2001; Vgl. Horx 2005; Vgl. Antz/ Eisenstein/ Eilzer 2011. <?page no="306"?> gendtages in Sydney die Jugend und damit die zukünftige Welt aufgerufen, gegen die geistige Wüste anzukämpfen und die Welt spirituell zu erneuern. Dass das 21. Jahrhundert das „Jahrhundert der Spiritualität“ werden wird, hat bereits der 1996 zum Katholizismus konvertierte Philosoph Ernst Jünger vorhergesagt. Wenn sich also das gesellschaftliche Umfeld und die Freizeit- und Tourismusnachfrage unter den Motiven Sinn und Langsamkeit entwickelt, die sich unter dem wissenschaftlichen Dach des Slow Tourism zusammenfassen lassen, wie steht es nun mit dem Pilgern? Kann aus den heute 200 Mio. geschätzten Pilgerreisen pro Jahr ein touristisches Geschäftsfeld des Spirituellen Wanderns und dann noch eins mit rasantem Wachstum entwickelt werden? Diese Frage ist mit einem eindeutigen „Ja“ zu beantworten. Was fehlt, ist einerseits die marktgerechte Aufarbeitung der Nischennachfrager, denn mit einem „Ich-erschlage-alle-Religionsund-Sinn-Reiseinteressierten-mit-einem-Konfektionsangebot“ werden die Anbieter nicht weiterkommen. Und andererseits kann sich das Pilgerwandern zu einem Wachstumsmarkt mausern, wenn die Primäranbieter, insbesondere die Kirchen, nachfragorientierte und authentische Produkte, insbesondere zur Sinnorientierung, auf den Markt bringen und begleiten. Gegen Relativierung und Beliebigkeit, aber auch auf neuen Wegen neben der Gemeindekirche, können und müssen die christlichen Kirchen ein unverrückbares Angebot entgegensetzen. Wenn dies kundenorientiert und professionell gemacht ist - wie in einem anderen kirchennahen Gesellschaftsbereich beispielsweise durch die Initiative „Andere Zeiten“ nachgewiesen -, dann wird es auch gebucht und die Nachfrage nach christlichen Inhalten wird sich weiter steigern lassen. Die Kirchen besitzen im Kern Wahrheit, Echtheit, Tradition; und nur das Original wird auch im spirituellen Reisemarkt wie in der Konsumgüterindustrie nachgefragt. Auch wird der Luxus von morgen die Einfachheit sein - und damit auch das Pilgern. Und übrigens zum vormerken: Das nächste Heilige Jahr mit vollkommenem Ablass findet in Santiago de Compostela 2021 statt. Adolphsen, H./ Nohr, A. (Hg.) (2003): Sehnsucht nach Heiligen Räumen - eine Messe in der Messe. Darmstadt. Antz, C. (2008): Kulturtourismus. Empfehlungen für einen langfristigen Erfolg. In: Loock, F./ Scheytt, O. (Hg.): Kulturmanagement und Kulturpolitik. Lfg. 8, D 1.6. Berlin. 1-18. <?page no="307"?> Antz, C. (2007a): Reisen zu heiligen Orten. Spiritueller Tourismus als eine gesellschaftlichkirchliche Initiative aus Sachsen-Anhalt. In: Schmude, J./ Schaarschmidt, K. (Hg.) (2007): Tegernseer Tourismus Tage 2006 - Proceedings. Regensburg (Beiträge zur Wirtschaftsgeographie Regensburg 9), 11-17. Antz, C. (2007b): Spiritueller Tourismus. In: Egger, R./ Herdin. T. (Hg.) (2007): Tourismus: Herausforderung: Zukunft. Wien-Berlin. 113-123. (= Wissenschaftliche Schriftenreihe des Zentrums für Tourismusforschung Salzburg 1) Antz, C./ Berkemann, K. (Hg.) 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Ostfildern. <?page no="311"?> Kunsthistoriker und Kulturmanager, seit 1998 Referatsleiter im Wirtschaftsministerium Sachsen-Anhalts in Magdeburg sowie seit 2011 Honorarprofessor am Institut für Management und Tourismus an der Fachhochschule Westküste in Heide. 1992-2006 für Sachsen-Anhalt Aufbau der touristischen Landesprojekte „Straße der Romanik - Reise ins Mittelalter“, „Blaues Band - Wassertourismus in Sachsen-Anhalt“ und „Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt“, seit 2000 gemeinsam mit den christlichen Kirchen in Deutschland Konzeption des Zukunftsthemas Spiritueller Tourismus und seit 2009 Erforschung des Wachstumsmarkts Slow Tourism. Im Rahmen der Hochschulforschung bundesweite Vortrags- und Veranstaltungspräsenz, Jury- und Beiratstätigkeit sowie zahlreiche Veröffentlichungen. Als Evangelischer Theologe von Beruf Pfarrer in Hettstedt. Ab 2005 Gründungspräsident der St. Jakobus Gesellschaft Sachsen- Anhalt und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Deutscher St. Jakobusvereinigungen. Er unternahm Pilgerreisen nach Santiago de Compostela (Spanien), in die Mönchsrepublik Berg Athos (Griechenland) und zur Armenisch- Apostolischen Kirche in Etschmiadsin. Auf diesem Fachgebiet übt er u.a. verschiedene Dozententätigkeiten aus. Aufnahme in das WHO is WHO in der Bundesrepublik Deutschland. Veröffentlichungen in Pilger-/ Wanderführern Sachsen-Anhalts, historischen Sachbüchern, Tagespresse und Journalen. Pastorin und seit 2011 Referentin für Pilgern im Arbeitsbereich Kirche im Tourismus im Haus kirchlicher Dienste der Evangelischlutherischen Landeskirche Hannovers. Neben ihrem Studium der Theologie Ausbildung als geistliche Begleiterin. Seit seiner Eröffnung hat sie Pilgergruppen auf dem Pilgerweg Loccum-Volkenroda begleitet. Sie bildet ehrenamtliche Pilgerbegleiter aus und fort und bietet Pastoralkollegs und Akademietagungen rund um das Thema „Pilgern“ und geistliches Leben an. Außerdem hat sie den Stadtpilgerweg Osnabrück konzipiert. <?page no="312"?> Dipl. Sozialpädagoge (FH) Beccaria, Fachkraft für Kriminalprävention. Ab 2010 entwickelte er ein sozialpädagogisches Konzept als Angebot an heranwachsende Straftäter, um mit einer Pilgerwanderung ihre gerichtlichen Arbeitsstunden abzuleisten. Inzwischen liegen mehrjährige Erfahrungen und Evaluationsergebnisse aus über 40 Pilgertouren mit ca. 350 Teilnehmern vor. Gemeinsam mit Kerstin Merbeth, Sozialpädagogin und freiberufliche Journalistin, hat er einen Erfahrungsbericht zu dieser Tätigkeit verfasst. Spiritual, Geistlicher Leiter der Evangelischen Bildungsstätte Kloster Germerode und Pfarrer für Meditation und geistliches Leben der Evangelischen Kirche von Kurhessen Waldeck. Außerdem ist er Autor verschiedener spiritueller Bücher, u.a. „Faszination Pilgern“ (2009) sowie „Männlich glauben“ (2014). Seit mehr als 20 Jahren veranstaltet der Evangelische Theologe Pilgerwanderungen u.a. auch nur für Männer. Wissenschaftlicher Referent für Marketing und Tourismus, Landschaftsverband Rheinland, Kulturzentrum Abtei Brauweiler. Studium der Geographie an der Universität Göttingen und University of Exeter mit dem Abschluss Dipl.-Geogr. Promotion an der Universität Greifswald zum Thema „Pilgertourismus als alternative Reiseform“. Nach praktischer Tätigkeit in einer PR- und Tourismusmarketing-Agentur Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Greifswald und Projektkoordinator an dem Interreg-Projekt zur Revitalisierung des Pommerschen Jakobsweges. Weitere Forschungsschwerpunkte neben der Tourismusgeographie sind die Stadt- und Regionalentwicklung sowie die Politische Geographie. Seit 2000 Professor an der Hochschule Hannover für Sozialmanagement und Grundlagen des Sozialstaats. Arbeitsschwerpunkte sind Institutionen und Organisationsentwicklung, Theorie des Sozialstaats, Forschung zu Diakoniewissenschaft sowie Zivil- und Bürgergesellschaft. Autor mehrerer Publikationen, zuletzt „Kommunizieren in sozialen und helfenden Berufen“ (Stuttgart 2017). Nach dem Studium der Theologie in Münster und Tübingen war er als Pfarrer in Herford, in der Geschäftsführung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Berlin sowie als Projektleiter bei der Bertelsmann-Stiftung tätig. <?page no="313"?> Seit 2012 leitet er als Geschäftsführer die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen. Diese engagiert sich in den aktuellen Arbeits- und Themenfeldern der Kirchen, der Caritas und Diakonie. Sie unterstützt offene „Kirchen am Weg“, wie Autobahn-, Radwege-, Pilger- oder Citykirchen, und bietet Konferenzen und Tagungen zum Themenbereich an. Als evangelischer Theologe war er nach der Promotion an der Theologischen Fakultät Basel Gemeindepfarrer sowie Studienleiter an der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Studium der Sozialwissenschaften an der Ruhr- Universität Bochum, Promotion im Fach Soziologie an der FernUniversität in Hagen zur „Renaissance des Pilgertums“, Gastwissenschaftler an der Universidade de Santiago de Compostela (USC) seit 2017, laufendes Langzeitforschungsprojekt über Lern- und Reflexionsprozesse auf dem Jakobsweg und lebensgeschichtliche und berufsbiografische Veränderungsprozesse infolge einer Pilgerschaft, Seit 2012 Professur für Tourismusmanagement und Marketing an der Fachhochschule Südwestfalen. Nach ihrem Studium und der Promotion im Bereich Wirtschaftsgeographie/ Tourismus an der Universität Paderborn sechs Jahre für das Wander- und Tourismusmarketing der Region Müllerthal - Kleine Luxemburger Schweiz im Luxemburgischen in Echternach tätig, zuletzt als Geschäftsführerin. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich „Neue Muße im Tourismus“, wobei insbesondere Themen wie Mentale Erholung und Gesundheit sowie Spiritualität im Fokus stehen. An der Fachhochschule Südwestfalen hat sie 2014 die Vertiefungsrichtung Tourismus im Studiengang International Management ins Leben gerufen. Promotion über religiöse Erfahrung beim Pilgern. Er ist passionierter Pilger, leitet seit 15 Jahren regelmäßig Pilgergruppen und publiziert zu geistlichen, theologischen und religionssoziologischen Aspekten des Pilgerns. Als Mitglied der Arbeitsgruppe für Empirische Religionsforschung (AGER) an der Universität Bern arbeitet er an einer quantitativen Studie zu unterschiedlichen Erfahrungsmodi von Pilgern. Er ist Pfarrer und Gründungsmitglied der christlichen Lebensgemeinschaft Kommunität Beuggen und arbeitet als theologischer Studienleiter mit Schwerpunkten Religion und Entwicklung sowie Interkulturalität bei Mission 21 in Basel. <?page no="314"?> Pilgerpastor der Evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland und seit 2007 Leiter des Pilgerzentrums an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg. Als gelernter Journalist ist er seit 1990 Autor zahlreicher Radiosendungen, zweier Kriminalromane, des ersten Pilgerführers für den Olavsweg in Norwegen und gemeinsam mit Franz Alt und Helfried Weyer Autor des Pilgerbuchs „Aufbruch zur Achtsamkeit“ (2012). Zu seinem Aufgabenbereich gehören Pilgerforschung, theologische Reflexion, die Entwicklung von Pilgerangeboten, Aus-und Fortbildung von Pilgerbegleitern, Koordination der Pilgerarbeit in der Nordkirche und die Durchführung von Pilgerreisen. Die Kontaktpflege zu den Pilgerzentren europaweit ist Teil seines Engagements, ebenso die Durchführung von Pilgermessen und Symposien. Stellvertretender Geschäftsführer beim Deutschen Wanderverband. Er beschäftigt sich seit seiner Diplomarbeit „GIS-gestütztes Wanderwegemonitoring im Naturpark Südeifel“ im Jahr 2001 mit Wanderwegen und deren Qualität. Als Projektmanager hat er von 2001 bis 2003 das vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Projekt „Wanderbares Deutschland“ begleitet. Seit 2008 ist er bei der Deutscher Wanderverband Service GmbH beschäftigt und dort u.a. in den Themenbereichen Kooperationen, Marktforschung, Qualitätsmanagement, Social Media sowie touristische Beratung und integratives Wegemanagement aktiv. Referent für Kirche und Tourismus in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) in München. Zuvor absolvierte er ein Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Zürich und München. In den Jahren 1984 bis 2001 Gemeindepfarrer im Großraum München sowie von 2001 bis 2007 Referent für Gemeindeentwicklung in der ELKB. Seit 2007 Leitung des Arbeitsbereiches Kirche und Tourismus und 2013 Mitbegründer der ökumenischen und länderübergreifenden Initiative Bergspiritualität. <?page no="315"?> Professor für Systematische Theologie/ Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen, München und Göttingen 1990 Promotion sowie 1997 Habilitation in Göttingen. Es folgten Lehrstuhlvertretungen und seit 1999 die Professur für Systematische Theologie zunächst am Evangelisch-Theologischen Fachbereich der Universität Mainz. 2006 erfolgte der Ruf nach Berlin. Ordination 1996 in der Evangelischlutherischen Landeskirche Hannovers und seitdem regelmäßig ehrenamtlich predigend. Seit 2017 Direktor des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Davor stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Langjähriger Pfarrer an der Stiftskirche St. Servatii zu Quedlinburg und Theologischer Vorstand für die Domschätze Quedlinburg und Halberstadt. Seit 2013 Präsident der Deutschen Lutherweg-Gesellschaft im Ehrenamt. Vortragstätigkeit zum Thema Pilger- und Kirchentourismus aufgrund eigener empirischer Studien. Benediktinermönch der Abtei St. Matthias Trier-Huysburg und geistlicher Leiter des Gäste- und Tagungshauses im Kloster Huysburg bei Halberstadt. Nach einer Ausbildung zum Paramentensticker und dem Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Katholischen Theologie in Trier promovierte er 2006 mit einer Arbeit zur Geschichte der Innenausstattung der Basilika St. Matthias in Trier im 19. und 20. Jahrhundert. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte sind die Begleitung und Seelsorge im Gästeempfang des Klosters Huysburg, u.a. von Pilgern auf dem Jakobsweg. Mit verschiedenen Kooperationspartnern entwickelt er zudem Angebote im Rahmen des Spirituellen Tourismus.