eBooks

Digitalisierung

Interdisziplinär

0813
2018
978-3-7398-0435-4
978-3-8676-4853-0
UVK Verlag 
Ralph-Miklas Dobler
Daniel Jan Ittstein

Digitalisierung ist in aller Munde. Aber darunter kann sowohl die bloße Umwandlung und Darstellung von Information und Wissen in digitale Zahlencodes als auch die so genannte digitale Transformation bezeichnet werden, die auch als digitale Revolution oder digitale Wende bezeichnet wird. Die künftige Entwicklung der Digitalisierung hängt davon ab, wer die Zukunftsvorstellungen umsetzt. Bislang geschieht dies insbesondere durch die Wirtschaft. Doch nur in einem Dialog zwischen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft kann eine umfassende Zukunftsvision gestaltet werden. Die interdisziplinären Beiträge dieses Buches möchten dazu beitragen. Darin werden unter anderem die veränderten Anforderungen in der Lehre und Ausbildung erläutert, die die digitale Wende mit sich bringt. Auch die Manipulationsmöglichkeit durch Meinungsmache, Falschinformationen und Lügen wird behandelt. Ein wichtiges Thema, denn anonyme Fake-Profile sowie Social-Bots treiben auf zahlreichen Plattformen ihr Unwesen und versuchen, auf Privatleben, Politik und Wirtschaft Einfluss zu nehmen. Ob wir wollen oder nicht - die digitale Revolution schreitet voran, einen Aus-Knopf für das Internet gibt es nicht.

<?page no="1"?> Ralph-Miklas Dobler, Daniel Jan Ittstein (Hg.) Digitalisierung interdisziplinär <?page no="3"?> Ralph-Miklas Dobler, Daniel Jan Ittstein (Hg.) Digitalisierung interdisziplinär UVK Verlag ' München <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 978-3-86764-853-0 (Print) ISBN 978-3-7398-0434-7 (ePUB) ISBN 978-3-7398-0435-4 (ePDF) © UVK Verlag München 2018 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Einbandgestaltung: *+! / "", &+,%%(/ / ! - #$"! ./ ") Coverfoto: © iStock-MATJAZ SLANIC Printed in Germany UVK Verlag Nymphenburger Strasse 48 · 80335 München Tel. 089/ 452174-65 www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Tel. 07071/ 9797-0 www.narr.de <?page no="5"?> Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis der ersten Interdisziplinären Ringvorlesung, die im Sommersemester 2017 an der Fakultät 13 - Studium Generale und Interdisziplinäre Studien an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München stattfand. Kein Ort wäre besser geeignet gewesen, um ein aktuelles Phänomen wie das der Digitalisierung aus verschiedenen fachlichen Perspektiven zu betrachten und mit Studierenden, Kollegen und interessierten Zuhörern zu diskutieren. Entsprechend weit gespannt sind die hier versammelten Beiträge, die den aktuellen Digitalisierungs-Diskurs um Überlegungen aus den Bereichen Wirtschaft, Medien, Politik, Bildung, Medizin und Gesundheit, Kultur, Sprache und Gesellschaft bereichern. Digitalisierung ist in aller Munde. Dabei ist der Begriff nicht eindeutig. Mit Digitalisierung kann sowohl die bloße Umwandlung und Darstellung von Information und Wissen in digitale Zahlencodes bezeichnet werden, aber ebenso auch die so genannte digitale Transformation, die auch als digitale Revolution oder digitale Wende bezeichnet wird. Im letzten Jahrhundert diente die Technologie vor allem der Automatisierung und Optimierung. Es wurden Computernetzwerke geschaffen, Arbeitsplätze modernisiert und Softwareprodukte wie Office-Anwendungen für die breite Masse eingeführt. Basierend auf diesen Entwicklungen treiben seit Anfang des 21. Jahrhunderts disruptive Technologien und innovative Geschäftsmodelle die Digitalisierung voran. Ihre Grundlage ist die weltweite Vernetzung von Recheneinheiten, was vor allem einen Aufstieg der Informations- und Kommunikationstechnologie zur Folge hatte. Durch das Mantra des „Mobile First“ wurde das Internet mittels neuer Mobiltelefontechnologie unser ständiger Begleiter. Durch das bevorstehende Mantra der „Artificial Intelligence First“ wird die digitale Technologie unser ubiquitärer Helfer, wobei die Aus- und Nebenwirkungen noch nicht abzusehen sind. In der Wirt- <?page no="6"?> 6 V Vo orrwwoorrtt schaft soll die vierte industrielle Revolution als „Industrie 4.0“ für Wachstum sorgen. Digitalisierung ist schnell, präzise und nicht an Ort und Zeit gebunden. Sie hat in nur wenigen Jahrzehnten zu gravierenden Umwälzungen geführt. Angefangen von der Umdeutung des Begriffs der Güter und der Werke, der Vereinfachung von Kopier- und Distributionsmöglichkeiten über die Veränderung der Arbeitswelt bis hin zur Verschmelzung von Virtualität und Realität. Ganze Unternehmen und Branchen wurden umgeformt oder dem Untergang preisgegeben. Spezialisierte digitale Plattformen verdrängen traditionelle Player, obwohl sie keine eigenen Gerätschaften, Fahrzeuge oder Immobilien besitzen. Die Betreiber sozialer Netzwerke erstellen keine bzw. kaum eigene Inhalte. Der User-generated Content wird zur Analyse genutzt, auf der wiederum die Personalisierung (auch von Werbung) beruht. Mit der Industrie 4.0 und ihrer Smart Factory setzen sich beispiellose Robotertypen und Prozessketten durch und werden Entwicklungen wie das Internet der Dinge und der 3D-Druck gefördert. Künstliche Intelligenz, Big Data und Cloud-Computing erlauben vorher nicht gekannte Aktivitäten und Analysen. Neue Ein- und Ausgabegeräte und neue Verfahren wie die Datenbrille bzw. die Virtual-Reality-Brille sowie die Gestensteuerung transformieren Büroraum und Werkbank sowie den Bereich der Unterhaltung. Fälschlicherweise wird diese Transformation als vorwiegend wirtschaftsnahes Thema gesehen. Durch die breite Nutzung digitaler Produkte sind diese jedoch längst zu ubiquitären Begleitern unseres Alltags geworden und schon lange nicht mehr nur eine wirtschaftliche Determinante. Die Digitalisierung wird viel diskutiert und kritisiert, und insbesondere die nächste Entwicklungsstufe, die sie ermöglicht, ist in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik höchst umstritten. So gibt es düstere Prognosen, die davon ausgehen, dass durch die Automatisierung bis 2030 etwa die Hälfte der aktuellen Arbeitsplätze verlorengeht. Basierend darauf wird zum Beispiel in der Ende 2016 von der ZEIT-Stiftung online gestellten „Charta der digitalen Grundrechte“ ein Recht auf Arbeit festgeschrieben. Andere fordern das <?page no="7"?> Vorwort 7 bedingungslose Grundeinkommen, wohingegen Befürworter der digitalen Wende betonen, dass zahlreiche neue Berufsfelder geschaffen werden können. Der Preis für zahlreiche vermeintlich lebensverbessernde digitale Dienstleistungen sind die übermittelten und umfangreich ausgewerteten Nutzerdaten. Sie sind vertrauter Besitz von Unternehmen, Organisationen und Staaten und bilden und als Big Data das wohl wertvollste Kapital der Zukunft. Dabei wird gefürchtet, dass weniger der Staat, sondern die großen Internetkonzerne die Grundrechte gefährden, da diese das Leben durch digitale Technologien zunehmend vermessen und ein Überwachungsregime ermöglichen. Die umfassende Kenntnis anderer Menschen ist ein Machtdispositiv, das in Konkurrenz zu den demokratisch gewählten Volksvertretern steht oder von diesen instrumentalisiert werden kann. Durch das Sammeln von Daten und die Metrisierung menschlicher Handlungen entsteht Transparenz, deren positive Seite dann überschritten wird, wenn das Mögliche zur Verpflichtung wird. Die digitale Wende führt auch zu neuen Anforderungen in der Lehre und Ausbildung. Zum einen soll die Lehre selbst effizienter gestaltet werden, zum anderen sollen die SchülerInnen, Auszubildenden und Studierenden auf die digitalisierte Arbeitswelt vorbereitet werden. Darüber hinaus müssen LehrerInnen und ArbeitnehmerInnen in Fortbildungen für die neuen Aufgaben qualifiziert werden, um in einer digitalisierten Welt ihre Fähigkeiten einbringen zu können. Andererseits belegen Studien die negativen Auswirkungen des Gebrauchs von digitalen Medien durch Kinder und Jugendliche. Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafmangel und soziale Inkompetenz sind nur einige der vorgebrachten Symptome. Längst hat die Digitalisierung auch die Kommunikation verändert. Soziale Medien ermöglichen einen unmittelbaren, schnellen und scheinbar grenzenlosen Austausch von Informationen und Wissen, der nicht aufgehalten oder rückgängig gemacht werden kann. Weder der Empfang noch der Versand können vollständig kontrolliert werden. Im Netz kann sich jeder <?page no="8"?> Die wenigen Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, dass die Digitalisierung neue Werte generiert und Gewohnheiten verändert. Organisationsformen, Wissensproduktion und -reproduktion, Kommunikation sowie die Wahrnehmung der Realität sind durch die technische Revolution einem umfangreichen Wandel unterworfen, dessen Nähe zu einer Ideologie darin liegt, dass die Erneuerungen mit dem Glauben an die Leistungsfähigkeit einhergehen. Die künftige Entwicklung der Digitalisierung hängt davon ab, wer die Zukunftsvorstellungen umsetzt. Bislang geschieht dies insbesondere durch die Wirtschaft. Wichtig wird jedoch sein, mit allen Akteuren in einen Dialog zu treten. In erster Linie müssen das digitale Subjekt verstanden, die Wirkungszusammenhänge erklärt und die dominierende Frage des „wie digitalisieren? “ durch ein „wer, was, warum? “ ersetzt werden. Nur in einem Dia- 8 V Voorrwwoorrtt Benutzer und jede Benutzerin ohne gewählte RepräsentantInnen Gehör verschaffen und (zumindest scheinbar) gegenüber Personen, die in der Realität kaum zu erreichen sind, die eigene Meinung kundtun. Dies alles erfolgt unter dem aufmerksamen Blick der Öffentlichkeit, weshalb die digitale Kommunikation ein probates Mittel gegen Unterdrückung und Zensur zu sein scheint. Allerding kann das vermeintlich perfekte basisdemokratische System durch Meinungsmache, Falschinformationen und Lügen auch zum Schaden des souveränen Volks eingesetzt werden. Die zugehörigen Stichworte sind Fake News, alternative Fakten und Populismus. Außerdem nutzen Terroristen das digitale Netz, um den Schrecken ihrer Taten möglichst flächendeckend zu verbreiten sowie zur Rekrutierung und zur Kommunikation. Das Internet verschiebt so die Topographie von Terror und Krieg. Schließlich führt die Virtualisierung des Dialogs zur Ausbildung von Avataren. Das Verhältnis zwischen der realen Identität und dem digitalen Profil kann dabei unterschiedlich ausgeprägt sein. Es ist kaum möglich, zwischen wahr und falsch, echt und unecht, real und künstlich zu unterscheiden. Anonyme Fake-Profile sowie Social-Bots treiben auf zahlreichen Plattformen ihr Unwesen und versuchen, auf Privatleben, Politik und Wirtschaft Einfluss zu nehmen. <?page no="9"?> Vorwort 9 log zwischen Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kann eine umfassende Zukunftsvision gestaltet werden. Die interdisziplinären Beiträge des vorliegenden Bandes möchten dazu beitragen. München, im Juli 2018 Ralph-Miklas Dobler Daniel Jan Ittstein <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................... 5 Abbildungsverzeichnis.........................................................................15 Silke Järvenpää 1 "Privacy is dead - get over it! "....................................................17 Daniel Jan Ittstein 2 Robotics & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit in Zeiten der Digitalisierung ......................................................31 †b/ ‰û^-ýRbZ fb/ õ4n4ýb/ ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨\Z ìrjV-ýû8 rn-bRý- V<4648R-jVb/ .6fR<rý4/ b6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨\B †Rb èû<û6^ý fb/ ‰/ nbRý ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨Z^ †Rb fRZRýr: b ñ/ r6-^4/ 8rýR46 r<ýRù Zb-ýr: ýb6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ZZ Katharina von Helmolt 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und IntegrationOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO êÊ &RZ/ rýR46¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ZB .6ýbZ/ rýR46¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨X^ &bfRb6 û6f &RZ/ rýR46¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨XX &bfRb6 û6f „: ûjVý8RZ/ rýR46 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨XB „rñRý ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨Ub Ralph-Miklas Dobler 4 Terrorismus und digitale Medien ................................................63 †b^R6RýR46b6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨UX ñb/ / 4/ R-8û-° &bfRb6 û6f ˆR: fb/ ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨UU B8``« bR6b 6bûb †R8b6-R46 fbñb/ / 4/ R-8û- ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨UE */ RbZ 8Rý ˆR: fb/ 6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨UB <?page no="12"?> 12 •; NgL571O9ùOMPN; M7 ó4ñRr: b &bfRb6 û6f ñb/ / 4/ R-8û- ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨S\ ñb/ / 4/ R-8ûû6f -4ñRr: b &bfRb6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨E^ Nicole Brandstetter 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age..85 "6jb ï246 r ñR8b¥ ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ES †RZRýr: óý4/ óýb: : R6Z ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨EE óRb8b6óV4/ ý óý4/ Rb-¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨EE ñVb $r/ / rý4: 4ZRjr: ‰22/ 4rjV« r $b÷ „4/ 8 4^ 2b6ûR6b6b-r6f ‰ûýVb6ýRjRýó† ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨Bb ñVb ób8R4ýRj ‰22/ 4rjV« ‡/ brýR6Z &óýV- ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨B\ (Rb- 3 õ.6ñ‰ûýVb6ýRjRýó rý óýr<b† ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨BX "ûý: 44<¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨BS Galina Gostrer, Peter Jandok 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale für Personen mit Migrationshintergrund ..........................................................99 ‰û-Zr6Z-nbfR6Zû6Zb6« †RZRýr: b (b/ 6^4/ 8b6 ^å/ þb/ -46b6 8Rý &RZ/ rýR46-VR6ýb/ Z/ û6f ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨`b` ‰-2b<ýb fb/ †RZRýr: R-Rb/ û6Z ù46 ï6ýb/ / RjVý ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨`b\ †Rb †rýb6Z/ û6f: rZb û6f RV/ *46ýbõý¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨`bX &RZ/ rýR46-VR6ýb/ Z/ û6f r: ï6ýb/ -jVbRfû6Z-</ Rýb/ Rû8 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨`bS ìrV/ 6bV8û6Z û6f ï8Zr6Z 8Rý <û: ýû/ b: : b6 ï6ýb/ -jVRbfb6 ¨`bB „rñRý û6f ‰û-n: Rj<¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨``^ María Begoña Prieto Peral 7 „Revolución Digital“ Die Bedeutung der Sozialen Medien für den Aufstieg der spanischen Protestpartei Podemos...... 115 ó4ñRr: b &bfRb6 û6f þ4: RýR<« ˆbbR6^: û--b6 -4ñRr: b &bfRb6 24: RýR-jVb …6ý÷Rj<: û6Zb6† ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨``S .6 ÷b: jVb8 *46ýbõý b6ý-ýr6f þ4fb84-† ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨`^b <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis 13 (R6<-242û: R-8ûû6f fRb fRZRýr: b .6^4/ 8rýR46-Zb-b: : -jVr^ý¨¨ `^\ †Rb 24: RýR-jVb ˆ: r-b ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `^E „rñRý ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `^E Anne Brunner 8 Ganz da im Hier und Jetzt - Warum wir handyfreie Zonen brauchen. Von digitalen Risiken und Nebenwirkungen - und heilsamen Zeitinseln ......................................................... 131 ìb/ -ýb: : ý b6f: RjV ÷Rbfb/ rn† ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `\\ ì4VR6 ZbVý fRb õbR-b† ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `\\ õR-R<b6 û6f $bnb6÷R/ <û6Zb6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `\Z `¨ óRýñb6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `\X ^¨ ójV: r^b6¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `Z^ \¨ óûjVý¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `ZS $Rb / RjVýRZ r6<488b6¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `X^ .8 0Rb/ û6f ,býñý : r6fb6 ¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨¨ `X^ <?page no="15"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Einordnung von Sprache und Herkunft in den Gesamtzusammenhang ......................................................................................... 107 Abb. 2: Herkunft als Thema (TrainerInnen-Umfrage) ............................... 108 Abb. 3a + b: Die tägliche Sitzdauer hängt eng mit der Lebenszeit zusammen.................................................................................................. 136 Abb. 4: Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Fernsehkonsum ...................................................................................................... 137 Abb. 5: Wie lange sitzen wir am Tag? ........................................................... 138 Abb. 6: Eine repräsentative Umfrage in Deutschland zeigt: „Das Land sitzt! “. ......................................................................................................... 138 Abb. 7: Nach der Arbeit geht es weiter: Auch am Feierabend wartet die Fernbedienung und schon flimmert die nächste Mattscheibe .......... 139 Abb. 8: Übergewicht: eine moderne Kinderkrankheit, Tendenz steigend . 142 Abb. 9: Mit dem Handy abends ins Bett und morgens aus dem Bett ...... 143 Abb. 10: Das Maß der Erreichbarkeit als Gesundheitsrisiko, hier bezogen auf Schlafstörungen.................................................................. 145 Abb. 11: Stillarbeit ohne Handy? Da steigt die innere Unruhe und Angst. 150 Abb. 12: Unter Freunden: Endlich angekommen - oder doch nicht? ..... 151 Abb. 13: Unser Leben besteht aus Augenblicken, moment by moment.... 153 Abb. 14: Ein Studium Generale mit großer Auswahl: dazu gehören Lehrangebote, die „life“ stattfinden und volle Präsenz erfordern.... 156 <?page no="17"?> 1 "Privacy is dead - get over it! " Silke Järvenpää <?page no="19"?> 1 Privacy is dead - get over it! 19 A provocative title this! And one that unfortunately I cannot lay claim to. Neither, it must be added, is the proposition to get over the death of privacy particularly new. The above, for instance, is a bastardised quotation from 1999, of a comment by Scott McNealy, CEO of Sun Microsystems. At that time, the company was a member of the Online Privacy Alliance. A consumer group had just criticized INTEL’s launch of a new chip that gave away identification information. Û The dismissive remark stuck and has since been used by all and sundry, from Mark Zuckerberg to James Comey, then director of the FBI - who used it after the public was upset about what the Vault 7 WikiLeaks had disclosed. Ú The exposure informed about the CIA’s spying techniques in March 2017 and is considered to be the biggest leak of government surveillance since the revelations by whistle-blower Edward Snowden in 2013. McNealy’s comment that became a meme is borne of the conviction that the idea of privacy is a ‘cultural thing’. As such, if we accept any of the contemporary definitions of culture (“a set of attitudes, values, beliefs, and behaviours shared by a group of people”), culture is dynamic. Ù In other words: Would it not be natural that with change brought about by technological development in the digital age, value systems should follow suit? Why then would one cling to outdated ideas, but to show one’s resistance to progress? 1 What Scott McNealy actually said when challenged, was: “You have zero privacy anyway. Get over it.” - The online magazine ‘Wired’ reported it on 26 January, 1999 (“Sun on Privacy: ‘Get over it’"). 2 Cf, for instance Olivia Solon, With the latest WikiLeaks revelations about the CIA - is privacy really dead? in: The Guardian, 9 March, 2017. 3 For a contemporary definition of culture, see, e.g. D. Matsumoto, Culture and Psychology. Pacific Grove / CA 1996, p.16. <?page no="20"?> 20 Silke Järvenpää In fact, much of Silicon Valley (but also government agencies) have been keen to show that “privacy may be an anomaly”. Ø Let me just cite another examples here, apart from Vint Cerf. Technology journalist Greg Ferenstein provides us with a very American overview over “World History”. × He points to the absence of private spaces in tribal communities around the world, in ancient Greece, Rome and the Middle Ages, and well into the 19th century, before Supreme Court Justice Louis Brandeis formulated, for the first time in US history, a right to privacy. Ö At first sight, Ferenstein’s argument appears temptingly plausible: It is true that poor people’s houses accommodated entire families, that sexual intercourse, for instance, took place before a number of witnesses. It is also true that when King Louis XIV awoke, it was a public event - at least for those admitted to his levée. From their historical examples Ferenstein (and others) deduce that humans have obviously always valued convenience, security, and wealth over privacy, and that the whole debate on privacy is luxury at best and decadence at worst. Apart from the fact that those evangelists of the Valley see tribal cultures as comparable to Westerners in the stone age (a slightly problematic understanding of history), they do not engage in sound research to begin with. Those who do, like Law professor Joseph Cannataci and anthropologist Irwin Altman among them, arrive at different results: The idea of privacy, they find, is valued highly in almost all cultures around the world, and was 4 Vint Cerf quoted in: Business Insider, 21 November, 2013, in an article by Jim Edwards. 5 Greg Ferenstein, The Birth And Death Of Privacy: 3,000 Years of History Told Through 46 Images, on https: / / medium.com/ the-ferenstein-wire/ the-birth-anddeath-of-privacy-3-000-years-of-history-in-50-images-614c26059e (accessed 26.7.2017). 6 Louis D. Brandeis and Samuel Warren, The Right to Privacy, printed in the 1890 volume of the Harvard Law Review. <?page no="21"?> 1 Privacy is dead - get over it! 21 in almost all historical ages. The definition of privacy may differ from region to region and from age to age. But as an idea of value and importance it is universal and part of human nature rather than culture. Õ The 2 0 th and early 21 st centuries, at least, are dominated by resistance to the notion that the erosion of privacy should be become a non-issue. After Vault 7, the print edition of the ‘Süddeutsche Zeitung’ chose a cover that featured the eye of a web camera attached to but disproportionally upstaging a television set. The headline read: “Ausgeguckt. Was Geheimdienste anstellen, um jedes Wohnzimmer ausspionieren zu können”. Ô But in 1997 ‘TIME Magazine’ had already offered a cover story focusing on “The Death of Privacy” and drove home the message by the image of a nondescript individual, shady in every respect, who peeps through a stylized keyhole. And as early as 1970, ‘Newsweek’ devoted an edition to the selfsame topic with a picture that is almost endearing in its pre-digital fears (here anthropomorphic computers fed with punch cards, and other oldfashioned wire-tapping devices dwarf a frightened John and Jane Doe). Ó - Despite the cultural differences that are to be expected across decades and continents, the three cover stories, including their visuals, share common features, the most relevant being the link between the death of privacy and large-scale surveillance measures. This is where advocates who try to convince us that privacy is an anomaly try to pull the wool over our eyes. Most people do not mind a casual intrusion to privacy as much as a systematic one; they do not mind spectators as much as monitors. When the loss or death of privacy is lamented nowadays, complaints are about surveillance, in other words to the “focused, 7 Cf. Joseph Cannataci, The Individual and Privacy, vol. I. Routledge, 2016. 8 Süddeutsche Zeitung, 11/ 12 March, 2017. Cover Credit: AP, Allessandra Schellnegger et. al. 9 TIME Magazine, 25 August, 1997, cover credit: Matt Mahurin; Newsweek, 27 July, 1970, cover credit: John Huehner-Garth. <?page no="22"?> 22 Silke Järvenpää systematic and routine attention to personal details with the purpose of influence, management, protection or direction”. Ûæ There is good reason to see contemporary surveillance critically, and to dismiss arguments along the lines of “If you have nothing to hide, you’ve got nothing to worry about”. The past is again elucidating and has shaped critical surveillance studies. It was the 18 th century, when the debate about privacy was born. A number of Enlightenment philosophers were no longer convinced that God’s all-seeing eye impressed people very much in their lives and decision making. In fact, so much management, direction and influencing was taking place behind closed doors. It was the privileged who were privy to information; they ruled in relative privacy. To Utilitarians, whose ideal society was one which would bring the greatest benefit to the greatest number of people, privacy became a dirty word. ÛÛ Jeremy Bentham, a judge and philosopher, insisted that an end to privacy would be the solution to most ills in society. Total transparency turns into a moral value: “Without publicity, no good is permanent; under the auspices of publicity, no evil can continue”, he claimed. ÛÚ In order to reform society, all institutions were to be built with cost-efficiency and total transparency in mind. Bentham started by proposing the design of a prison whose very architecture would better its inmates. Its name: the Panopticon; its method: total loss of privacy; its economy: random surveillance by a few watchmen. To scholars of Surveillance Studies, the principle of the Panopticon still serves as a model of contemporary cultures of surveillance, and it will soon become clear why. 10 David Lyon, Surveillance Studies: An Overview, Cambridge 2007, p.14. 11 Frank Bannister, The panoptic state: Privacy, surveillance and the balance of risk, in: Information Polity, 10/ 1,2, 2005, p. 65-78. 12 Bentham, The Works Of Jeremy Bentham: Published Under The Superintendence Of His Executor, John Bowring, vol.8, Edinburgh 1839, p.314. <?page no="23"?> 1 Privacy is dead - get over it! 23 Bentham did not live to see his own draft realised, but in the 19 th and 20 th centuries, Panopticons were actually built; the most famous examples being the Presidio Modelo in Cuba and Stateville Prison in Illinois, USA. ÛÙ A Panoptic prison has a watchtower in the centre; the cells are arranged around it. The inmates cannot communicate with each other; they can see the tower but not the guard in the tower. The guard is not capable of monitoring each prisoner at every given moment, but the prisoner knows he may be watched at any time. The psychological effect of the Panopticon is a disciplinary one. The prisoner is subjected to the power of the watchtower, totally and around the clock. Anticipating the guard’s gaze, he checks and self-censors his behaviour. In the 20 th century, French philosopher Michel Foucault saw in the Panopticon the construct that permeated contemporary society everywhere - where power was exercised through bringing visibility and instilling discipline instead of exacting revenge (by torturing transgressors and killing them in public spectacles as a warning to all that were not and could not be monitored). Foucault also saw all modern institutions based on the Panoptic principle: schools, factories, hospitals. In his eyes, it had become an ideology which he called Panopticism. And this was well before the socalled digital age. “The Panopticon is a marvellous machine which, whatever use one may wish to put it to, produces homogeneous effects of power. A real subjection is born mechanically from a fictitious relation. So it is not necessary to use force to constrain the convict to good behaviour, the madman to calm, the worker to work, the schoolboy to application, the patient to the observation of the regulations.” ÛØ 13 Photographs of the Panoptic prison in Illinois can be viewed on, for instance: https: / / prisonphotography.org/ 2010/ 08/ 21/ stateville-prison-joliet-il-art-object/ (accessed 26.7.2017). 14 Michel Foucault, Discipline and Punish, New York 1995, p. 202. <?page no="24"?> 24 Silke Järvenpää The idea that what we do may not be in privacy, will lead to self-monitoring, to self-censorship. Ultimately, we will internalise the Panopticon. Proponents of surveillance nowadays (surveillance which is supported by almost unlimited technological means for the purpose) often argue along Bentham’s line but frame the debate in a positive way. If surveillance helps to maintain order in society, that order will create safety; and this will benefit the majority. Firstly, we see a classic argument by state authorities: Particularly in Western countries, the discourse of privacy is played out against the discourse of security (who would not want most people to be safe? ) Secondly, we tend to observe authoritarian fear mongers following the same strategy, with their most drastic slogan along the lines of “Privacy is for pedos” (i.e. paedophiles). Û× - Accordingly, the mere wish for privacy is a reason to raise suspicion. Apart from the (self-)disciplining function of the Panopticon, Foucault and Bentham uncovered two more. The Panopticon also has the potential to classify and to sort; it is likened to a menagerie, or in other words: a zoo. Moreover, it serves the purpose of a laboratory, or in Foucault’s words: a “machine to alter behaviour, to train or correct individuals”. ÛÖ Ultimately the watched will not only obey the law but conform to the desired norms. If this is the Panopticon’s potential before the digital age, then what we are dealing with nowadays, is practically a Panopticon on steroids. It is not difficult to see why the combination of the Idea (of Panopticism) and technological progress proves to be particularly toxic and may indeed usher in the death of privacy. 15 The remark goes back to former investigative journalist Paul McMullen who defended Rupert Murdoch when the UK inquired into the phone hacks by employees of the tycoon’s News Corp, https: / / www.theatlantic.com/ international/ archive/ 2011/ 11/ former-news-world-reporter-privacy-pedos/ 334970/ (accessed 26.7.2017). 16 Foucault (see footnote 14), p. 203. <?page no="25"?> 1 Privacy is dead - get over it! 25 What made sorting and classifying as well as social engineering a demanding task in the past was the resources needed to collect the data, to analyse them and to turn data into usable information. Networks tended to be wide-meshed. There was a natural limit to storage space, and even semiautomatic measures taken after sorting, lacked consistency and completeness. Often, there was no access to data across borders (such as card catalogues); so Panopticons, though they were in place, existed as contained systems. Nowadays, storage space no longer is an issue. George Brock who traces data protection laws up to ‘The Right to be Forgotten’ states that storage “is expected to grow to 44 zettabytes in 2020”. ÛÕ - This means that, technically, state authorities, agencies and corporations are capable of collecting any amount of an individual’s personal data and keep it forever. When databases are joined, each adds missing parts to a puzzle. Sorting, too, poses no problem. In fact, sorting algorithms have become so sophisticated that the confluence of data and its interpretation make it possible to provide a well-neigh complete profile of an individual. The knowledge that databases may have about us is probably more complete than what a spouse, one’s parents or best friends, or what even a psychotherapist may have after many years of being privy to the life of that individual. Why that should be so threatening may not be immediately apparent. Most human beings, when they go online, define themselves as social creatures and not least as consumers. They chat, make appointments, buy online, self-monitor their health status, and do not mind the collection of their data much. They appreciate advertisement that targets their tastes. It is convenient, and convenience is a strong driver also when it comes to accepting the 17 George Brock. The Right to be forgotten, London and New York 2016, p. 5. <?page no="26"?> 26 Silke Järvenpää terms and conditions of online banking, holiday booking systems, and other e-commerce activities. To many customers the exchange of data for services seems like a win-win situation. What most do not realise, however, is the fact that those activities become their internet identity an identity they have only limited control over. Users may be able to decide what they post on Facebook or WhatsApp. However, consumer habits, movements, contacts, writing style, vital scores (transmitted via activity tracker, as for instance fitness bracelets) speak their own language. With the disclosure of bio-data users will be better known to the Panopticon than to themselves. Or, as social philosopher Zygmunt Bauman noted, “[…] the information that proxies for the person, and in the legal sense is made up of ‘personal data’ only in the sense that it originated with a person’s body and may affect their life chances and choices. The piecemeal data double tends to be trusted more than the person, who prefers to tell their own tale.” ÛÔ With the end of privacy it becomes harder and harder to manage one’s own identity and to plan social interaction with others - two functions that privacy fulfils. ÛÓ Those that do manage one’s identity are the ‘watchmen’ who by default assess, influence and direct based on their value systems and norms. Add to that algorithms which do the groundwork, and consequences are, at times, disastrous. One particularly Kafkaesque example is the “terrorist watchlist”. Officially, there is no such list. When ‘The Intercept’ published leaked information on it, however, the US administration no longer denied its existence. It turned out that a person’s own activities are not the only way to end up on the list. If you and an Islamist’s path cross more than once, maybe in front 18 Zygmunt Bauman and David Lyon, Liquid Surveillance: A Conversation, Cambridge, 2013, p. 13. 19 Cf. Irwin Altman’s study on Privacy Regulation: Culturally universal or Culturally Specific? In: Journal of Social Issues, 33/ 3, 1977. p. 66-84, here p. 66. <?page no="27"?> 1 Privacy is dead - get over it! 27 of the same ATM - and Geo-tracking shows where you have been - this may make you a suspect; if your network of followers on Facebook contains known suspects, you may be declared guilty by association. As Bauman wrote, your data double tends to be trusted more than you. Embedded in the security discourse, we are seeing immense faith in computing algorithms. Once ‘the machine’ suggests to a small committee of government agents that your data double shares with terrorists a certain number of markers and that therefore you should be added to the list, the human agents will follow the suggestion of ‘the machine’. The fallout of such decisions may ruin your real-life existence: “Once the U.S. government secretly labels you a terrorist or terrorist suspect, other institutions tend to treat you as one. It can become difficult to get a job (or simply to stay out of jail). It can become burdensome - or impossible - to travel. And routine encounters with law enforcement can turn into ordeals.” Úæ It is interesting that with the digitalisation of the War on Terror, law enforcement has left the rule of law. The watchlist is pre-emptively punitive. It highlights what is ‘not normal’ and what may lead to disorder. For society at large, mass surveillance with the aim of creating profiles for security reasons may therefore mean the end of a creative and dynamic culture. If people are aware that a system is in place which classifies, corrects, and retrains before unusual things, including unusual ideas, can mature, the Panoptic effect of anticipatory self-censorship kicks into gear. The exchange of unorthodox ideas, ultimately even thinking those ideas becomes something better to stay away from. It is no wonder then that critics of surveillance have seen an Orwellian dimension to this: Big Data and digital profiling also are about ‘thought-policing’. 20 Jeremy Scahill and Ryan Deveraux, The Secret Government Rulebook for labeling you a Terrorist, in: The Intercept, 23 July 2014. <?page no="28"?> 28 Silke Järvenpää However, Big Government is not the only actor that invades an individual’s privacy in order to manage and direct in dubious ways. Big Business, too, is using personal data to sort - and ultimately to exclude entire communities. In her book ‘Weapons of Math Destruction’, mathematician Cathy McNeil convincingly shows how ‘Big Data increases inequality and threatens democracy’ (as the subtitle reads). The cases from private enterprise are compelling: “With ever more information available, including the data from our genomes, the patterns of our sleep, exercise, and diet, and the proficiency of our driving - insurers will increasingly calculate the risk of the individual and free themselves from the generality of the larger pool. […] [I]nsurers are using data to divide us into smaller tribes, to offer us different products and services at varying prices. Some might call this customized service. The trouble is, it is not individual. The models place us into groups we cannot see, whose behaviour seems to resemble ours.” ÚÛ While Bauman’s idea of the digital self as a proxy for the person resonates here, McNeil focuses more on the joint liability the individual is subjected to through algorithmic sorting. With Big Data (some of it bought, some of it extorted, but much of it served on a silver platter by consumers and clients) insurers for instance, adapt and fine-tune their policies. With the growing complexity and capacity of algorithms, insurers tend to believe in the objectivity and infallibility of their calculations. After all, assessment is left to the machine. But as McNeil points out, the model was built by humans. To return to Foucault: Collecting, sorting, profiling, and managing - all of this reflects the power structure of a Panoptic culture. Sorting and profiling will be informed by the value system of the watchers. That value system will partly be based on the norms and values within a certain region at a certain point in time, and not least reflect its prejudices. Presently, the 21 Cathy O’Neil, Weapons of Math Destruction, New York 2016, p. 164. <?page no="29"?> 1 Privacy is dead - get over it! 29 African-American community tends to be seen by corporate and political America almost like a monolithic bloc: financially weak and crime-ridden. In Germany, clients of Turkish descent might be penalised for excesses in their community, because the algorithm identifies them as members of a high-risk group. But while culture is dynamic and biases may slowly change, “automated systems stay stuck in time until engineers dive in to change them.” ÚÚ Another part of the bias behind a corporate algorithm will be due to the simple fact that businesses are in it to make and maximize profit. If the predictions of an algorithm, however faulty they may be, promise that the exclusion of entire communities will lead to more profit, Big Data will indeed be exploited for that. It should have become clear by now that loss of privacy in the world of Big Data means loss of control over one’s own identity management. The information an algorithm creates based on a seemingly sound pool of data will predict how you act and will act in the future. That in turn will decide over treatment you receive, including the opportunities you will be given in life. So the death of privacy is something that should, in the interest of both the individual and the group, be at least delayed. Gary T. Marx, sociologist and scholar of surveillance, offered a typology of resistance in 2003. ÚÙ - Meanwhile technology and the ubiquity of surveillance have evolved and some advice has become obsolete in the face of further erosion of privacy. However, what both scholars and activists agree on is that there is benefit in challenging the status quo. Such activities have effected change, in the form of legal victories, or awareness of surveillance measures after leaks to the public. 22 Ibid., p. 203-204. 23 Gary T. Marx, A Tack in the Shoe: Neutralizing and Resisting the New Surveillance, in: Journal of Social Issues, vol. 59, no. 2, 2003, p. 369-390. <?page no="30"?> 30 Silke Järvenpää But apart from very concrete steps that one can take - from encrypting mails to whistleblowing to going to court - working towards change must also include attempts at breaking present discourse hegemony. What the debate needs is a struggle for different interpretations of reality. So far there has been a tendency to juxtapose surveillance as a subtopic of the security discourse (working for the benefit of the community) with privacy (allegedly only of individual interest and therefore subordinate to group interests). A different interpretation could reframe the debate as a question of surveillance and human rights. It goes without saying that language is important in changing perception of reality. ÚØ 24 From dataveillance to überveillance and the realpolitik of the transparent society: the second workshop on the social implications of national security, ed. by Katina Michael and M. G. Michael Wollongong 2007, p. 71-82. <?page no="31"?> 2 Robotics & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit in Zeiten der Digitalisierung Daniel Jan Ittstein <?page no="33"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 33 Die Digitalisierung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Roboter nehmen dabei in der derzeitigen öffentlichen und populärwissenschaftlichen Debatte eine besondere Rolle ein, da sie häufig als Sinnbild für den Fortschritt im Rahmen der digitalen Transformation gesehen werden. Selbstfahrende Autos, voll automatisierte Fabriken oder Pflegeroboter sind dabei nur einige Schlagworte. Für die einen sind Roboter lang ersehnte Heilsbringer, mit denen Herausforderungen wie der Fachkräftemangel oder der demographische Wandel angegangen werden können. Für die anderen sind sie Vorboten einer Zeit, in der Maschinen alles übernehmen werden und die damit einhergehende Digitalisierung der Gesellschaft bald zu einem „Ende der Arbeit“ führt. Eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr eine Studie von Frey und Osborne. 1 Die Autoren untersuchten anhand von Experteneinschätzungen und beruflichen Tätigkeitsstrukturen die Automatisierbarkeit von Berufen in den USA. Nach ihrer Einschätzung arbeiten derzeit 47 % der Beschäftigten der USA in Berufen, die bis zu den Jahren 2025-2035 mit hoher Wahrscheinlichkeit (> 70 %) automatisiert werden könnten. Andere Studien übertrugen die Ergebnisse von Frey und Osborne, um Aussagen über den möglichen Automatisierungsgrad in anderen Ländern Europas abzuleiten. 2 All diese Ergebnisse erfordern eine vorsichtige Interpretation. 3 Entsprechend wird im folgenden Beitrag exemplarisch hinterfragt, in welchem Entwicklungsstand sich die Robotik befindet, welche wirtschaftlichen Wachstums- und Beschäftigungsef- 1 Carl Benedikt Frey, Michael A. Osborne, The future of employment: how suceptible are jobs to computerisation? Oxford 2013. 2 Jeremy Bowles, The computerisation of European Jobs, Brussels 2014; Mika Pajarinen, Petri Rouvinen, Computerization Threatens One-Third of Finnish and Norwegian Employment, in: ETLA, 34, 2015. 3 McKinsey Global Institute, A Future that Works: Automation, Employment and Productivity, New York 2017; Holger Bonin u.a., Übertragung der Studie von Frey/ Osborne (2013) auf Deutschland, Mannheim 2015. <?page no="34"?> 34 Daniel Jan Ittstein fekte diese Roboterisierung bzw. Automatisierung haben kann und wie wir diese Transformation aktiv gestalten können. 4 DDe err AAuuffsst tiieeg g ddeerr RRoobboot teer r Der Überlieferung nach entwickelte bereits vor über 3000 Jahren ein chinesischer Konstrukteur namens Yin Shi die Idee eines autonom agierenden mechanischen Dieners, der die Menschen im Alltag unterstützen sollte. Einige Jahrhunderte später waren auch die Griechen nahezu besessen von der Vorstellung, dass selbständig agierende mechanische Werkzeuge ihnen das Leben leichter machen könnten. Basierend auf dieser Idee des „menschlichen Dieners“ wurde der Begriff „Roboter“ 1920 vom tschechischen Schriftsteller Karel [apek geprägt, als er ihn erstmalig in seinem Drama „Rossums Universal Robots“ (R.U.R.) erwähnte. 5 Der Begriff leitet sich vom slawischen Wort „robota“ ab, was so viel bedeutet wie Sklavendienst oder Fronarbeit. In dem Theaterstück erzeugt eine Firma künstliche Menschen, die ihren Erfindern dienen sollen. Am Ende lehnen sich die Roboter gegen die Sklaverei auf und vernichten die gesamte Menschheit. Seit den 1940ger Jahren verhilft der Science-Fiction-Schriftsteller Isaac Asimov mit seinen Robotergeschichten, den Begriff „Roboter“ global zu etablieren. Sein literarisches Werk beeinflusste die pop-kulturelle Auseinandersetzung mit Robotern maßgeblich und verfestigte die Vorstellung vom Roboter als menschenähnlicher Maschine mit künstlicher Intelligenz. Während die Roboter sowohl bei [apek als auch bei Asimov menschenähnliche Gestalten waren, so verbindet man heutzutage mit der Begrifflichkeit eine Vielzahl von Apparaturen, die autonom Arbeiten verrichten können, oder anders: sensomotorische Maschinen zur Erweiterung der menschlichen Handlungsfähigkeit. Roboter bestehen aus mechatronischen 4 Grundsätzlich beschäftigt sich die so genannte „Robotik“ mit dem Entwurf, der Gestaltung, der Steuerung, der Produktion und dem Betrieb von Robotern. 5 Karel Capek, Karel Capek’s R.U.R. - Rossum Universal Robots. Ins Deutsche übersetzt und aktualisiert von Yehuda Shenef, Norderstedt 2016, S. 7. <?page no="35"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 35 Komponenten, Sensoren und rechnerbasierten Kontroll- und Steuerungsfunktionen. 6 Durch die größere Anzahl von Feinheitsgraden sowie Vielfalt und Umfang seiner Verhaltensformen unterscheidet sich der Roboter deutlich in der Komplexität von anderen Maschinen. Die Entwicklung technisch autonomer Roboter ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass man ihnen längst nicht mehr nur in Fabrikhallen begegnet. Ausgestattet mit Sensoren, Bewegungsapparaten und einer robusten Steuerung sind sie in der Lage, Dienstleistungen zu erbringen oder zur Unterhaltung beizutragen. Diese Entwicklung geht laut Christaller einher mit einer zunehmenden „Roboterisierung“ der Umwelt, da schon heute deutlich mehr Mikrocontroller in Autos, Flugzeugen, Häusern, Maschinensteuerungen, Satelliten, Mobiltelefonen, Waschmaschinen, Spielautomaten oder Kameras sowie Computern eingesetzt werden als noch vor wenigen Jahren. 7 Der ubiquitäre Einsatz der Technik wird aller Voraussicht nach schon bald dazu führen, dass Roboter nicht mehr die klar abgrenzbaren Maschinen sind, wie wir sie uns heute noch vorstellen. Die gesamte Umgebung in der wir uns bewegen wird roboterisiert sein. Wir Menschen werden durch die Nutzung digitaler Geräte Teil dieser ubiquitären Robotik. Dabei schreitet diese Entwicklung rapide voran. Brynjolfsson und McAfee gehen davon aus, dass wir uns bereits mitten in der „Second Machine Age“ befinden, welche unser aller Leben mindestens genauso grundlegend verändern wird wie die industrielle Revolution vor gut 200 Jahren. 8 Die Ursachen dafür sind zum einen eine exponentielle Steigerung der Rechnerleistung und zum anderen die zentralen ökonomischen Charakteristika digitaler Güter: die Möglichkeit, diese Güter ohne wesentliche Mehrkosten 6 Thomas Christaller, Robotik. Perspektiven für menschliches Handeln in der zukünftigen Gesellschaft, Berlin 2014, S. 19. 7 Christaller (wie Anm. 6), S. 1. 8 Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee, The second machine age. Work, progress, and prosperity in a time of brilliant technologies, New York 2016, S. 7. <?page no="36"?> 36 Daniel Jan Ittstein zu reproduzieren (marginale Grenzkosten), die fehlende Konsumptionsrivalität digitaler Information (Nicht-Rivalität) und die Tatsache, dass bei vielen digitalen Gütern jeder weitere Nutzer den Nutzen für die anderen Nutzer erhöht (Netzwerkeffekt). 9 Durch diese Treiber ist die Digitalisierung inzwischen allgegenwärtig und wir alle produzieren täglich Unmengen digitaler Daten. Diese Daten sind die zentrale Ressource für die Weiterentwicklung der Robotik durch die Künstliche Intelligenz. 10 Bemerkenswert ist dabei die Geschwindigkeit, mit welcher sich diese Technik entwickelt. War zum Beispiel bei Google noch im Jahr 2012 das Thema „Künstliche Intelligenz“ lediglich ein Randthema, so wird inzwischen bereits in über 1.600 Projekten innerhalb des Technologiekonzerns Alphabet (Google, YouTube etc.) daran gearbeitet, diese Technologie in ihre Produkte zu integrieren. 11 Google CEO Sundar Pichai postulierte gar einen Paradigmenwechsel der Internetökonomie, als er im Mai 2017 von einem „[…] important shift from a mobile first to an AI first world […]“ spricht. 12 Hintergrund für diesen Paradigmenwechsel sind die enormen Fortschritte im Bereich des Maschinellen Lernens in den vergangenen Jahren. Ging man zum Beispiel noch im Herbst 2015 davon aus, dass es ein Computer niemals schaffen würde, im Brettspiel „GO“ gegen einen Menschen zu gewinnen, so gewann bereits weniger als sechs Monate später im März 2016 eine Deep-Learning-Maschine gegen einen der besten GO- 9 Brynjolfsson (wie Anm. 8), S. 61-63. 10 Künstliche Intelligenz (KI, auch artifizielle Intelligenz, AI, A. I., englisch artificial intelligence, AI) ist ein Teilgebiet der Informatik, welches sich mit der Automatisierung intelligenten Verhaltens befasst. 11 Andrew McAfee, Erik Brynjolfsson, Machine, platform, crowd. Harnessing our digital revolution, New York 2017, S. 77. 12 Blaise Zerega, Google shifts from mobile-first to AI-first world, https: / / venturebeat.com/ 2017/ 05/ 18/ ai-weekly-google-shifts-from-mobile-first-toai-first-world/ (aufgerufen am 20.09.2017) <?page no="37"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 37 Spieler der Welt mit 4 zu 1. 13 Benötigte man noch bis vor kurzem große Hochleistungsrechner, um nötige Rechenprozesse für das Deep-Learning auszuführen, so werden bereits heute zusätzliche Prozessoren in handelsübliche Mobiltelefone integriert, die Applikationen für Künstliche Intelligenz ermöglichen. 14 Folge ist, dass die Künstliche Intelligenz schon längst in unserem Alltag angekommen ist: Suchanfragen oder die Navigation wird genauer, Autos können autonom fahren und Sprachassistenten in handelsüblichen Mobiltelefonen nehmen uns vorausahnend allerhand Tätigkeiten ab. Dabei verschwimmt die Schnittstelle zwischen Virtuellem und Reellem zusehends. Ein Beispiel ist die „Soulmachine“ - ein so genannter Softbot 15 , der in Form eines Avatars mit Menschen in Dialog treten kann. Die Soulmachine kann aber nicht nur Sprache erkennen und individuell auf das Gesprochene reagieren, sondern sie erkennt zudem Veränderungen in der Gesichtsgestik des Gesprächspartners (z.B. Zustimmung, Freude, Ärger, Wut) und reagiert darauf. Diese Technik wird bereits jetzt erfolgreich in der Kommunikation mit alten und behinderten Menschen eingesetzt. Bei diesen ersten Anwendungen ist zu beobachten, dass die Unterscheidung zwischen reeller und artifizieller Person zunehmend verschwimmt und Nutzer durchaus reelle Emotionen für die Maschinen entwickeln. 16 Eine andere Entwicklung, die zeigt, welches Potenzial in dieser Technik liegt, ist der so genannte „Flow Composer“ von Francois Pachet. 17 Bis vor kurzem ging man selbst in der Wissenschaft noch davon aus, dass Kreativität eine 13 McAfee (wie Anm. 12), S. 2. 14 Beispiele sind das Mate 10 von Huawei oder das iPhone X von Apple. 15 Als Softbot bezeichnet man ein Computerprogramm, das zu gewissem (wohl spezifiziertem) eigenständigem und eigendynamischem (autonomem) Verhalten fähig ist. Das bedeutet, dass abhängig von verschiedenen Zuständen (Status) ein bestimmter Verarbeitungsvorgang abläuft, ohne dass von außen ein weiteres Startsignal gegeben wird oder während des Vorgangs ein äußerer Steuerungseingriff erfolgt. 16 https: / / www.soulmachines.com/ (aufgerufen am 20.11.2017). 17 https: / / flow-machines.com/ (aufgerufen am 22.09.2017). <?page no="38"?> 38 Daniel Jan Ittstein ausschließlich menschliche Fähigkeit sei. Der Flow Composer jedoch zeigt auf eindrückliche Weise, wie gefährdet dieses „Alleinstellungsmerkmal des Menschen“ durch Künstliche Intelligenz ist. Wenn man den Flow Composer ausreichend musikalische Information in Form von Partituren zur Verfügung stellt, so erkennt dieser vollautomatisch stilistische Muster des entsprechenden Komponisten, kann diese imitieren und komponiert darauf basierend neue Musikstücke. 18 Auch wenn dieser SoftBot nicht die kreative Möglichkeit besitzt einen eigenen kompositorischen Stil zu entwickeln, so dient er bereits heute vielen Komponisten dazu, neue musikalische Inhalte zu entwickeln. 19 Genannte Beispiele können lediglich als spielerische Versuche im Bereich der Künstlichen Intelligenz gewertet werden. Sie lassen allerdings erahnen, welches Potential in dieser Technik steckt. Experten wie Andrew Ng verbinden mit der Künstlichen Intelligenz bereits jetzt eine viel größere Vision wenn er sagt: „Ich hoffe, wir können eine KI-gestützte Gesellschaft erschaffen, die jedem erschwingliche Gesundheitsversorgung bietet, jedem Kind personalisierte Bildung bereitstellt, günstige selbstfahrende Autos für alle erhältlich macht, und sinnstiftende Arbeit für jeden Mann und jede Frau.“ 20 Es ist davon auszugehen, dass die Digitalisierung insbesondere durch die Künstliche Intelligenz als Teilgebiet der Robotik ein zentrales Designkriterium unserer gesellschaftlichen Systeme werden wird. Diese Entwicklung kann positiven Nutzen für die Menschheit schaffen - soweit man mit ihr verantwortungsvoll umgeht. 18 Alexandre Papadopoulos u.a., Assisted Lead Sheet Composition using FlowComposer. Proceedings of the 22nd International Conference on Principles and Practice of Constraint Programming - CP 2016, Toulouse 2016, S. 4. 19 Komponisten, die interessiert sind, mit dem Flow Composer zu arbeiten, können sich über www.flow-machines.com anmelden. 20 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andrew Ng: Er will der ganzen Welt Künstliche Intelligenz beibringen, in: FAZ 2017, Frankfurt am Main 2017, http: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ kuenstliche-intelligenz-experte-andrew-nggibt-kuenftig-online-kurse-15143831.html? GEPC=s5 (aufgerufen am 11.08.2017). <?page no="39"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 39 WWaacchhssttu umm aabbsseeiittss öökkoonnoommiisscchheerr IInnddiikkaattoorreen n Gerade weil alle Anzeichen dafürsprechen, dass sich die Robotik rasant entwickeln und integrierter Bestandteil unser aller Leben wird, stellt sich nun die Frage inwiefern diese Entwicklung auch in ökonomischer Hinsicht sinnvoll ist. Wird die Entwicklung der Robotik die Fähigkeit besitzen, das Wirtschaftswachstum zu steigern? Diese Frage ist mehr als berechtigt, denn im Rahmen der Digitalisierung sieht man sich dem so genannten Produktivitäts-Paradoxon konfrontiert. Wirtschaftswissenschaftler wie Robert Gordon gehen dementsprechend nicht davon aus, dass die Einführung von Computern und Robotern bislang zu erheblichen ökonomischen Fortschritten führte. Auch die derzeitigen Entwicklungen hält Gordon für ökonomisch überschätzt: Phänomene wie die zunehmende Vernetzung, der 3D-Druck oder selbstfahrende Autos hätten vergleichsweise geringe wirtschaftliche Bedeutung. Die Entwicklung sei eher evolutionär als revolutionär und zudem eng auf den Aspekt der Digitalisierung beschränkt. Folglich seien „dramatische“ Produktivitätseffekte nicht zu erwarten. 21 Diese Meinung wird durch Zahlen der OECD bestätigt. Trotz zunehmender Digitalisierung sinkt das Produktivitätswachstum in fast allen Staaten der OECD seit geraumer Zeit. 22 Laut einer neuen Studie der OECD betrifft der negative Trend dabei fast alle Sektoren in Industrieländern, kleine Firmen ebenso wie große. 23 Sogar in Bereichen, in denen aufgrund digitaler und technischer Innovationen eigentlich eine Produktivitätsdividende zu erwarten wäre, etwa im Informations-, Kommunikations-, Finanz- und Versicherungssektor, sinkt das Produktivitätswachstum laut den Statistikern. Besondere Brisanz hat dieser Trend, da Produktivitätsgewinne seit 21 Brynjolfsson (wie Anm. 8), S. 77. 22 Catherine Mann, Tackling the productivity paradox: The OECD Global Forum on Productivity. Lisbon 2016, http: / / oecdinsights.org/ 2016/ 07/ 05/ global-forum-onproductivity/ (aufgerufen am 07.08.2017). 23 OECD, The Productivity-Inclusiveness Nexus. Meeting of the OECD Council at Ministerial Level, Paris 2016, S. 18. <?page no="40"?> 40 Daniel Jan Ittstein jeher eine Hauptquelle für den Anstieg der wirtschaftlichen Leistung sind und damit Grundlage für materiellen Wohlstand und reale Entlohnung. Dieses so genannte Produktivitäts-Paradoxon zu erklären ist insbesondere deshalb so komplex, weil das Bildungsniveau übergreifend steigt, der technologische Wandel fortschreitet und Unternehmen sich verstärkt in globalen Wertschöpfungsketten integrieren - alles Faktoren, welche die Produktivität eigentlich stärken sollten. Hinzuzufügen ist, dass die Entwicklung schon lange vor Ausbruch der Finanzkrise einsetzte, also nicht mit dieser Zäsur erklärbar ist. Erklärungsversuche für die Paradoxie sind vielschichtig. Einige Wissenschaftler, wie auch Robert Gordon, erkennen in diesem Abwärtstrend ein permanentes Phänomen. Sie gehen davon aus, dass die größten produktivitätssteigernden Innovationen (Dampfkraft und Elektrizität) hinter uns liegen. Andere Wissenschaftler, wie auch Brynjolfsson und McAfee, argumentieren damit, dass es auch bei der Dampf- und Stromerzeugung einige Jahrzehnte dauerte, bis die Neuerungen angewandt wurden und ein deutlicher Anstieg der Produktivität zu verzeichnen war. Dieser Verzögerungseffekt träfe auch auf die Digitalisierung zu, so dass man davon ausgehen könne, dass die Effizienzsteigerungen in den nächsten Jahren kommen werden. 24 Die reine makroökonomische Sicht führt allerdings zu falschen Schlüssen. Wie die OECD zeigt, ist nämlich seit Beginn dieses Jahrhunderts innerhalb der Staaten eine wachsende Diskrepanz zwischen Spitzenunternehmen (so genannten „frontier firms“) und anderen Firmen feststellbar. Das Produktivitätswachstum der Spitzenunternehmen ist seit 2000 praktisch konstant geblieben und beträgt im Fertigungssektor rund 3,5% pro Jahr. Firmen, die nicht zu den produktivsten Firmen gehören, verzeichneten seit dem Jahr 2000 lediglich Zuwächse von 0,5%. Bei den Dienstleistungsunternehmen waren die Unterschiede noch wesentlicher, nämlich mit Zuwachsraten von 5% bei den Spitzenunternehmen und einer stagnierenden Entwicklung bei 24 Brynjolfsson (wie Anm. 8), S. 101-102. <?page no="41"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 41 den anderen. 25 Hinter diesem Phänomen steht zum einen eine Blockade bei der Diffusion von Innovationen. Nur Spitzenunternehmen ziehen die besten Talente an, erhalten besonders günstiges Kapital und profitieren von Netzwerkeffekten (etwa im Bereich digitaler Plattformen). Des Weiteren verläuft die makroökonomische Strukturbereinigung zu langsam. Sprich: besonders unproduktive Unternehmen, die langfristig kaum überleben können, werden zu lange am Leben gehalten - was insbesondere mit dem billigen Geld im Markt zu begründen ist. Ein weiterer Grund, warum die Produktivitätssteigerungen durch die Digitalisierung kaum in den Statistiken erscheinen, liegt an der verwendeten Messgröße - dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Viele Ökonomen vertreten die Ansicht, dass die Messung nach BIP nicht mehr zeitgemäß sei. So witzelte der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow schon 1987, man könne das Computerzeitalter überall sehen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken. Seither hat sich das Problem potenziert: viele Applikationen heutzutage basieren auf dem so genannten „Freemium- Geschäftsmodell“. Das bedeutet, dass Grundfunktionalitäten den Nutzern kostenfrei zur Verfügung stehen. Die Nutzung dieser kostenlosen Funktionalitäten ist entsprechend nicht im BIP repräsentiert. Allerdings ist der Kundennutzen in Form von Effizienzgewinnen oder der kostenlosen Verfügbarkeit von digitalen Gütern (wie zum Beispiel Information oder Musik) eindeutig vorhanden. Dieser digitale Mehrwert entzieht sich bislang jeder statistischen Kategorisierung. Losgelöst von diesen nicht quantifizierbaren Nutzeneffekten geht das McKinsey Global Institut in einer Analyse davon aus, dass die jährliche Produktivitätssteigerung allein durch die mittels Roboter verursachte Automatisierung in Zukunft bis zu 0,8 Prozentpunkte betragen wird. Damit wäre die Robotik einer der wichtigsten Wachstumstreiber der Zukunft. 26 25 OECD (wie Anm. 25), S. 6. 26 McKinsey Global Institute (wie Anm. 3), S. 16. <?page no="42"?> 42 Daniel Jan Ittstein DDi iee ZZuukkuunnfftt ddeer r AAr rbbeei itt Auch wenn man davon ausgeht, dass durch die Digitalisierung ökonomisches Wachstum entsteht, so verbleibt die Herausforderung einer gerechten Verteilung des daraus entstehenden ökonomischen Einkommens. Derzeit muss man davon ausgehen, dass der durch die Robotik entstehende zusätzliche Wohlstand in Zukunft nicht gerecht verteilt werden wird. Hintergrund ist, dass die zukünftige Wohlstandssteigerung größtenteils durch den Einsatz von Kapital und nicht durch den Einsatz von (menschlicher) Arbeit erzielt wird. Entsprechend partizipieren überdurchschnittlich die Marktteilnehmer, die das nötige Kapital zur Verfügung stellen werden. Dieser Trend ist schon jetzt eindeutig festzustellen. Die Produktivitätssteigerungen der letzten Jahre hatten weltweit keine positive Auswirkung auf die Durchschnittseinkommen und einen negativen Effekt auf die Median- Einkommen in den westlichen Ländern. In anderen Worten: vom Wohlstand partizipiert nur eine äußerst kleine Menge an Menschen; vorwiegend über Kapitaleinkommen. 27 Abgesehen von der ungerechten Verteilung des Einkommens werden, wie eingangs erwähnt, in der öffentlichen und populärwissenschaftlichen Debatte häufig Befürchtungen geäußert, dass technologischer Wandel und insbesondere die Digitalisierung schon bald gänzlich zu einem „Ende der Arbeit“ führen könnten. Einen wesentlichen Impuls für diese Debatte lieferte eine Studie der Ökonomen Frey und Osborne im Jahr 2013. Die Einschätzungen in dieser Studie sollten allerdings mit Vorsicht interpretiert werden. 28 Zum Beispiel basieren die Ergebnisse der Studie von Frey und Osborne im hohen Maße auf den subjektiven Einschätzungen von Robotik-Experten zur Automatisierbarkeit von Berufen. Problematisch hierbei ist, dass Digitalisierungsexperten dazu neigen, die Einsatzmöglichkeiten und praktische Relevanz neuer Technologien zu überschätzen. Insbeson- 27 Brynjolfsson (wie Anm. 8), S. 142-146. 28 Bonin (wie Anm. 3), S. 18-22. <?page no="43"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 43 dere werden die komparativen Vorteile von Menschen bei Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an Flexibilität, Urteilskraft und gesundem Menschenverstand unterschätzt. Solche Fähigkeiten sind nur schwer greifbar und setzen implizites Wissen voraus. Die Herausforderungen der Robotik, solche für Menschen einfach zu bewerkstelligende Tätigkeiten zu automatisieren, bleiben immens und setzen der Mensch-Maschine-Substitution Grenzen. Zudem können der praktischen Umsetzung neuer Technologien rechtliche, gesellschaftliche und ethische Hürden entgegenstehen. Dies verdeutlicht das Beispiel des autonomen Fahrens. Auch wenn es schon bald möglich sein wird, dass Autos völlig autonom fahren, so sind wesentliche Rechtsfragen im Falle eines autonom verursachten Unfalls noch nicht abschließend geklärt. Dies muss nicht zwangsläufig heißen, dass solche Hürden nicht überwunden werden können, jedoch könnte dies die Einführung erschweren und verzögern. Welche Arbeitsplätze in Zukunft aufgrund neuer Automatisierungstechnologien wegfallen, hängt weniger von den Berufen, sondern vielmehr von den Aktivitäten beziehungsweise den Tätigkeitsprofilen der Arbeitsplätze ab. Bisherige Studien zeigen zwar, dass technologischer Wandel zu einem Rückgang von Beschäftigungsverhältnissen mit überwiegend automatisierbaren Tätigkeiten führt. Diese Studien zeigen aber auch, dass ein Großteil der Anpassung dadurch erfolgt, dass die Beschäftigten ihre Tätigkeitsstrukturen anpassen und vermehrt schwer automatisierbare Tätigkeiten ausüben. Die Automatisierungswahrscheinlichkeit ist derzeit vor allem für Tätigkeiten groß, die routinemäßig und standardisiert verübt werden. Der Qualifikationsgrad der Mitarbeiter hat insofern keinen direkten Einfluss auf die Automatisierbarkeit der Tätigkeit wie das McKinsey Global Institut festgestellt hat. 29 Mensch und Maschine werden also komplementär im Produktionsprozess eingesetzt. Neue Technologien können daher Arbeits- 29 McKinsey Global Institute (wie Anm. 3), S. 34-45. <?page no="44"?> 44 Daniel Jan Ittstein plätze verändern, ohne sie zu beseitigen und die gewonnen Freiräume können von den Beschäftigten genutzt werden, um schwer automatisierbare Aufgaben durchzuführen. Automatisierungstechnologien müssen somit nicht notwendigerweise Arbeitsplätze verdrängen. Solange Beschäftigte in der Lage sind, ihre Fähigkeiten entsprechend der veränderten Anforderungen in Betrieben anzupassen und neue Technologien (wie Roboter) als Arbeitsmittel einzusetzen, sind ihre Arbeitsplätze nicht zwangsläufig bedroht. Dies bedingt allerdings, dass die Menschen dazu bereit sind, sich lebensbegleitend nötige Kompetenzen anzueignen und ihnen entsprechende Bildungsangebote auch offenstehen. Die Etablierung einer solchen „Bildungslogik“ wird eine der zentralen Herausforderungen der Gesellschaft sein. DDiiee ddiiggiitta allee TTrraannssffoorrmmaattiioonn aakktti ivv ggeessttaalltteenn Die Digitalisierung wird in naher Zukunft ein zentrales Designkriterium gesellschaftlicher Systeme sein. Die mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboter werden nicht mehr nur klar abgrenzbare maschinelle Diener sein. Wir werden uns in einer ubiquitären Robotik-Umgebung befinden und vielfach unbewusst die künstliche Intelligenz der Maschinen nutzen. Die Robotik wird dazu führen, dass die virtuelle und reelle Welt unbemerkt verzahnt sein wird, um Mehrwerte zu schaffen. Um diese Mehrwerte nutzen zu können, ist es allerdings von evidenter Bedeutung diese Transformation aktiv und mit Augenmaß zu begleiten. Ein unreflektiertes „digital first“, bei dem man sich von den Chancen blenden lässt und Risiken unterschätzt, ist kontraproduktiv und die größte Gefahr, den vollen Nutzen aus dieser technischen Entwicklung zu ziehen. Zentrales Erfolgskriterium wird sein, dass wir dafür sorgen, dass die Mehrwerte auch bei allen Menschen ankommen. Eine Stellschraube ist dabei sicherlich ein angepasstes (Weiter-) Bildungssystem, das Menschen sukzessive erlaubt, sich auf die veränderten Bedingungen einstellen zu können. Das wird allerdings nicht reichen, um das ökonomische Einkommen gerecht zu verteilen. Erste Ideen wie „Roboter-Steuern“, „Negative-Einkommensteuer“ oder <?page no="45"?> 2 Robots & beyond: globaler Fortschritt, Wachstum und Arbeit 45 „Grundeinkommen“ sollten überdacht, weiterentwickelt, getestet und eingeführt werden, um den makroökonomischen Veränderungsprozess zu begleiten. Flankierend ist es längst überfällig, adäquate ökonomische Indikatoren zu entwickeln, die helfen, das Potenzial der Digitalisierung quantitativ abzubilden und dadurch eine breitere Akzeptanz für die digitale Transformation zu ermöglichen. <?page no="47"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration Katharina von Helmolt <?page no="49"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 49 Spätestens mit der medialen Verbreitung des berühmt gewordenen Selfies eines geflüchteten Syrers mit der Bundeskanzlerin Merkel vor einer Berliner Erstaufnahmeeinrichtung im Herbst 2015 ist die Bedeutung digitaler Kommunikation für Migranten und Migrantinnen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. 1 Smartphones sind zu „zentralen Werkzeugen“ der Migration geworden und „WLAN-Hotspots so notwendig wie Wasserstellen“. 2 Wer seine Heimat verlässt, ist auf Informationen über das angestrebte Ziel und die Wege dorthin angewiesen und sucht nach Möglichkeiten, mit den in der Heimat zurückgebliebenen Bezugspersonen in Kontakt zu bleiben. Aber auch im Zielland bietet digitale Kommunikation viele Möglichkeiten, den Prozess der Integration zu gestalten. Die jüngere Migrationsforschung setzt sich in zunehmendem Maße mit der Bedeutung digitaler Kommunikation für die Migration auseinander. Unter Berücksichtigung exemplarischer Studien befasst sich der folgende Beitrag mit der Wechselwirkung zwischen Migration und digitaler Kommunikation. Nach der Darstellung einiger für den Beitrag relevanter Aspekte von Migration und Integration wird der Einfluss von Medien auf Migration, Integration und digitale Diasporagemeinschaften erörtert. Der Beitrag schließt mit dem Vorschlag, den Begriff der Integration in Anbetracht der vielfältigen Möglichkeiten digitaler Vernetzung von Migranten und Migrantinnen neu zu konzeptualisieren. MMiiggrraattiioonn Migration ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Hunger, Verfolgung, Kriege und Pioniergeist haben Menschen seit jeher veranlasst, ein- 1 Manuel Bewarder, Andreas Maisch, Jetzt hat Deutschland die Welt erobert, in: Die Welt, 10.09.2015, https: / / www.welt.de/ politik/ deutschland/ article146281737/ Jetzthat-Deutsch land-die-Welt-erobert.html (aufgerufen am 30.07.2017). 2 Martin Emmer, Carola Richter, Marlene Kunst, Flucht 2.0. Mediennutzung durch Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht, http: / / www.polsoz.fu-berlin.de/ kommwiss/ arbeitstellen/ internationale_kommunikation/ Media/ Flucht-2_0.pdf (aufgerufen am 30.07.2017). <?page no="50"?> 50 Katharina Helmolt zeln oder in größeren Verbänden ihre Herkunftsregionen zu verlassen und nach neuen Lebensräumen zu suchen. In einem frühen Stadium der Menschheitsentwicklung wanderte der homo sapiens von Afrika aus in andere Kontinente. Darstellungen von Migration finden sich bereits in der Bibel und in Texten der Antike. Im weiteren Verlauf der Geschichte waren markante Migrationsereignisse unter anderem die Völkerwanderungen der Spätantike und des frühen Mittelalters, die Auswanderung in die neu entdeckte Welt Amerika und nicht zuletzt die kriegsbedingten Wanderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine Verdichtung von Migrationsbewegungen zu verzeichnen, die mit den rasanten Entwicklungen von Globalisierung und Digitalisierung eng verflochten ist. 3 Komplexe Wechselbeziehungen auf wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher Ebene stoßen zunehmend Migrationsprozesse an. Laut dem UN-Migrationsbericht aus dem Jahr 2016 ist die Zahl der internationalen Migranten und Migrantinnen 2015 weltweit auf etwa 244 Millionen gestiegen, darunter sind geschätzt auch 19,5 Millionen Geflüchtete, die ihre Heimat wegen Krieg und Verfolgung verlassen haben. 4 Auch wenn deutsche Medien vor allem die transkontinentale Flucht nach Europa thematisieren, findet Flucht weltweit vor allem grenznah statt, etwa vier Fünftel der Flüchtenden überqueren nur die Grenze in ihre Nachbarländer um dort Sicherheit zu suchen, weil sie so bald wie möglich in ihre Heimat zurückkehren wollen oder nicht die monetären Mittel für weitere Fluchtwege haben. 5 3 Franz Nuscheler, Globalisierung und ihre Folgen: Gerät die Welt in Bewegung? , in: Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, hg. von Christoph Butterwegge und Gudrun Hentges, Wiesbaden 2006, S. 23-52. 4 United Nations. International Migration Report 2015. Highlights. New York 2016, hier S. 1, http: / / www.un.org/ en/ development/ desa/ population/ migration/ publica tions/ migrationreport/ docs/ MigrationReport2015_Highlights.pdf (aufgerufen am 30. 07.2017). 5 ebd., S. 9. <?page no="51"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 51 Doch Flucht ist nur einer von vielen Gründen für Migration. Migrationsprozesse sind hochkomplexe Vorgänge, die von einer Vielzahl politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und persönlicher Determinanten beeinflusst werden. Ein häufig rezipiertes Migrationsmodell unterteilt die Faktoren der Migration in „Push“- und „Pull-Faktoren“. 6 Danach werden als Push-Faktoren solche Merkmale einer Herkunftsregion bezeichnet, die zur Auswanderung bewegen. Dazu gehören Krieg, Verfolgung, Umwelt- und Naturkatastrophen. Zu den Pull-Faktoren zählen Merkmale einer Zielregion, die zur Einwanderung motivieren. Pull-Faktoren sind unter anderem politische und wirtschaftliche Stabilität, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Ausbildungs- und Verdienstmöglichkeiten. In der Migrationsforschung wird davon ausgegangen, dass digitale Kommunikationstechnologie den Einfluss von Pull-Faktoren erheblich verstärkt. 7 Informationen über Lebensbedingungen in einer Zielregion können über das Internet in alle Gebiete der Welt übertragen werden. Damit werden Bilder von Wohlstand und Sicherheit transportiert und Unterschiede zu den Lebensbedingungen in der Herkunftsregion bewusstgemacht. Auch Nachrichten über Ereignisse und Entwicklungen in einer Zielregion sind unmittelbar nachvollziehbar, Zielregionen und Migrationswege werden damit einschätzbarer. Digitale Kommunikation spielt auch im Bereich von Emotionen eine Rolle, durch die Migrationsprozesse in einem hohen Maße beeinflusst werden. In der Phase der Entscheidung für oder gegen Migration genießt die digitale interpersonale Kommunikation, wie zum Beispiel über Messenger-Dienste übermittelte Darstellungen und Bilder aus der Zielregion, ein weitaus größeres Vertrauen als klassische 6 Ernest George Ravenstein, The Laws of Migration. Second Paper, in: Journal of The Royal Statistical Society, 52, 1889, S. 241-201; Everett S. Lee, Eine Theorie der Wanderung, in: Regionale Mobilität, hg. von György Széll, München 1972, S. 117-129. 7 Peter Han, Soziologie der Migration: Erklärungsmodelle, Fakten, Politische Konsequenzen, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 13. <?page no="52"?> 52 Katharina Helmolt Massenmedien wie Presse, Fernsehen oder Radio. 8 Schließlich bietet digitale Kommunikation die Möglichkeit, während und nach der Migration mit der Familie und Freunden in der Herkunftsregion in Kontakt zu bleiben. Damit erhöht die digitale Kommunikationstechnologie insgesamt die Bereitschaft zur Migration. IInntteeggrraattiioonn Ein Schwerpunkt der Migrationsforschung sind die gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungen, die sich im Zielland der Migration abspielen. Zu Beginn der wissenschaftlichen Erforschung dieser Entwicklungen hat sich vor allem der Soziologe Robert E. Park (1950) mit den Einwanderungswellen in die USA und deren Folgen beschäftigt. Im Zentrum der frühen Migrationsforschung steht der Begriff der „assimilation“ im Sinne einer Anpassung an eine Einwanderungsgesellschaft über mehrere Generationen hinweg. 9 Park geht in seinem Modell des „race relations cycle“ von einem Phasenmodell aus, das in Richtung Aufgabe der ursprünglichen Kultur und Lebensbezüge zielt. Zwar berücksichtigen spätere Migrationsmodelle, dass die Eingliederung in Gesellschaften nicht immer linear verläuft, sondern dass es auch gegenläufige Bewegungen geben kann. Dennoch sind lineare Phasenmodelle noch immer in der Forschungsdiskussion präsent, in der deutschsprachigen Literatur wird dabei üblicherweise der Begriff der „Integration“ verwendet. Integrationsmodelle als normative Beschreibungen von Prozessen der unilinearen Einwanderung in Gesellschaften dienen teilweise auch als politische Orientierungsrahmen. Ein Beispiel ist das Phasenmodell der Integration von Friedrich Heckmann (2015), an dem beispielsweise auch die Landeshauptstadt München ihre In- 8 Emmer, Richter, Kunst (wie Anm. 2), S. 51. 9 Robert E. Park, Our racial frontier on the Pacific. „The race-relations-Contact, competition, accommodation an eventual assimilation-is apparently progressive and irreversible“, in: Race and Culture. The Collected Papers of Robert Ezra Park, hg. von Everett C. Hughes, London 1950, S. 150. <?page no="53"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 53 tegrationspolitik und -arbeit ausrichtet. 10 Heckmann unterscheidet zwischen „struktureller“, „kultureller“, „sozialer“ und „identifikativer Integration“. 11 Strukturelle Integration umfasst nach Heckmann den Zugang zu Kernbereichen der Gesellschaft wie dem Arbeitsmarkt, dem Bildungssystem, dem Wohnungsmarkt oder der politischen Mitbestimmung. Kulturelle Integration bezieht sich auf Veränderungen im kognitiven, affektiven und konativen Bereich, relevant ist hier vor allem der Spracherwerb, aber auch die Übernahme von Werten und Einstellungen der Aufnahmegesellschaft. Die soziale Integration umfasst die Teilhabe im Bereich der Privatsphäre, betroffen sind Freundschaften und Partnerschaften zwischen MigrantInnen und Mitgliedern der Aufnahmegesellschaften. Identifikative Integration schließlich bezieht sich auf die Ausbildung eines Gefühls der Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft. Heckmann betont zwar, dass dieser Prozess eine Veränderungsbereitschaft nicht nur auf der Seite der Migranten und Migrantinnen, sondern auch auf der Seite der Aufnahmegesellschaft erfordert. Unhinterfragt bleibt jedoch in seinem Modell die Annahme eines linearen Prozesses, der erst mit dem vollständigen Aufgehen in der Aufnahmegesellschaft abgeschlossen ist. Dass Migration nicht zwangsläufig mit einer so verstandenen Integration in eine Mehrheitsgesellschaft verbunden ist, untersucht die Migrationsforschung seit den 1990er Jahren unter dem Begriff der „Transmigration“. 12 Transmigration bezeichnet die Substitution der klassischen linearen Migration in einen Nationalstaat durch zeitlich befristete Aufenthalte in einem anderen Land oder auch mehreren anderen Ländern. In einigen Orten der 10 Uschi Sorg und Margret Spohn, Interkulturelles Integrationskonzept. Grundsa-tze und Strukturen der Integrationspolitik der Landeshauptstadt Mònchen, in: Perspektive München/ Konzepte, hg. von Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Stelle für interkulturelle Arbeit, München 2008. 11 Friedrich Heckmann, Integration von Migranten: Einwanderung und neue Nationenbildung, Wiesbaden 2015, S. 18. 12 Han (wie Anm. 7), S. 16. <?page no="54"?> 54 Katharina Helmolt Welt ist diese Form der Migration bereits stark verbreitet. Sie betrifft viele Menschen aus karibischen Ländern oder Mexiko, die in den USA arbeiten und regelmäßig in ihre Herkunftsregionen zurückkehren oder auch asiatische Bauarbeiter und Hausangestellte, die in den Golfstaaten arbeiten aber keine Aussicht auf einen dauerhaften Verbleib an den Orten ihrer Arbeitsplätze haben. 13 Wir finden Transmigration auch in Europa im Bereich der Saisonarbeit in der Land- und Forstwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe oder bei Personen, die in privaten Haushalten im Pflege- und Gesundheitsbereich arbeiten. 14 Aber auch in qualifizierten Arbeitsplätzen nimmt Transmigration zu. So weist Norbert F. Schneider darauf hin, dass in Zeiten häufiger Wechsel der Arbeitsorte, zunehmend befristeter Arbeitsverträge, verbesserter Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur auch das Fernpendeln Hochqualifizierter zunimmt. 15 Forschung unter dem Paradigma der Transmigration befasst sich mit der Frage, wie Personen durch ihre Migrationsaktivitäten geographisch und mental in unterschiedlichen Räumen leben, und wie dadurch hybride identitäre Verortungen entstehen, die sich auf unterschiedliche Kulturen in der Herkunfts- und der Residenzkultur beziehen. Veränderungen finden dadurch nicht nur auf individueller Ebene der Migrantinnen und Migranten, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene in den Herkunftswie in den Residenzkulturen statt 16 . 13 ebd., S. 63. 14 Norbert F. Schneider, Von Migration zur Transmigration. Betrachtungen zum Wanderungsgeschehen in Deutschland und Europa, 2011, S. 14, https: / / www.forschung.sexualaufklaerung.de/ fileadmin/ fileadmin-forschung/ pdf/ Frauen_leben-Doku_vrt2.pdf (aufgerufen am 02.01.2018). 15 ebd. 16 Han (wie Anm. 7), S. 67. <?page no="55"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 55 MMeed diieen n uunndd MMiiggr raat ti ioon n In einem Überblick über die deutschsprachige Forschung zum Zusammenhang zwischen klassischen Massenmedien und Migration unterscheidet Andreas Hepp zwei Zielrichtungen. 17 Die eine analysiert den Einfluss einer möglichst einheitlichen Rezeption von Medien auf den Integrationsprozess. Die andere verfolgt die Annahme, dass die Nutzung von Medien der Herkunftsregion zur Segregation von Migrantinnen und Migranten beiträgt. Dabei liegt beiden Forschungsrichtungen weitgehend unhinterfragt die Vorstellung einer vollständigen Anpassung an nationalstaatliche Mehrheitsgesellschaften zugrunde. Im Hinblick auf digitale Medien werden nach Hepp beide Forschungsrichtungen den komplexen Zusammenhängen zwischen dem Gebrauch digitaler Medien und Migration nicht gerecht. Über Computer oder Mobiltelefone vermittelte digitale Kommunikation bietet Migranten und Migrantinnen Möglichkeiten, die weit über die Nutzung klassischer Massenmedien hinausgehen. Digitale Medien haben das Potenzial, nicht nur unidirektional Informationen zu vermitteln, sondern ermöglichen die interaktive Vernetzung und Vergemeinschaftung über nationale Grenzen hinweg. Untersuchungen der Wechselwirkungen zwischen digitalen Medien und Migration orientieren sich weitgehend am Paradigma der Transmigration. Aus dieser Perspektive steht nicht das Potenzial von Medien für die möglichst rasche Anpassung Eingewanderter an Nationalgesellschaften im Fokus, sondern Prozesse, Formen und Auswirkungen deterritorialisierter digitaler Netzwerke. 18 Die Nationalgrenzen überschreitende Vernetzung 17 Andreas Hepp, Digitale Medien, Migration und Diaspora: Deterritoriale Vergemeinschaftung jenseits nationaler Integration, in: Internet und Migration. Theoretische Zugänge und empirische Befunde, hg. von Uwe Hunger und Kathrin Kissau, Wiesbaden 2009, S. 33-51, hier S. 33. 18 Andreas Hepp, Laura Suna, Stefan Welling, Kommunikative Vernetzung, Medienrepertoires und kulturelle Zugehörigkeit: Die Aneignung digitaler Medien in der polni- <?page no="56"?> 56 Katharina Helmolt ethnischer Gruppierungen oder Migrationsgemeinschaften wird in der Migrationsforschung unter dem Begriff der „digitalen Diaspora“ untersucht. 19 Zentrale Fragestellungen sind dabei, welche Relevanz das Internet für die Bildung und Aufrechterhaltung einer Diaspora hat und welche Möglichkeiten der Artikulation ethnisch-kultureller Identität digitale Medien bieten. Merkmal einer Diaspora ist generell die subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit über lokale Grenzen hinaus, zum Beispiel aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten. Zugehörigkeitsaspekte, die im Rahmen einer digitalen Diaspora eine Rolle spielen können, sind unter anderem Migrationserfahrungen und hybride kulturelle Identitäten. Im Austausch über solche Aspekte in Messenger-Diensten und über Selbstartikulationen in sozialen Netzwerken werden digitale Diasporagemeinschaften interaktiv konstituiert und bestätigt. Nach Hepp entsteht in der Interaktion zwischen Angehörigen einer digitalen Diaspora „ein translokaler Sinnhorizont, d.h. eine gemeinsame Sinnorientierung, die diese Gemeinschaft als solche begründet.“ 20 Eine exemplarische Untersuchung der Bedeutung des Internets für die Konstituierung von Diasporagemeinschaften ist die ethnografische Studie von Daniel Miller und Don Slater (2000) mit Migranten und Migrantinnen aus Trinidad. Die Autoren zeigen, dass im Rahmen digitaler Kommunikaschen und russischen Diaspora, in: Internet und Migration (wie Anm. 17), S. 173-198, hier S. 173. 19 Daniel Miller und Don Slater, The Internet. An Ethnographic Approach, Oxford 2000; Hans Geser, Der Nationalstaat im Spannugnsfeld sub- und transnationaler Online-Kommunikationen, in: Sociology in Switzerland: Towards Cybersociety and Vireal Social Relations, Zürich 2004, http: / / socio.ch/ intcom/ t_hgeser10.htm (aufgerufen am 30.07.2017); Hepp (wie Anm. 17); Alois Moosmüller, Digitale Diaspora. Die Suche nach Anerkennung in virtuellen Räumen, in: Von der digitalen zur interkulturellen Revolution? , hg. von Alois Moosmüller, Baden-Baden 2010, S. 55-70. 20 Hepp (wie Anm. 17), S. 39. <?page no="57"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 57 tion eine von den nationalen Grenzen Trinidads unabhängige neue „virtual ethnicity“ konstruiert wird, die neue Möglichkeiten des „being Trini“ im Sinne einer digital ausgehandelten Diasporaidentität eröffnet. Ein anderes Beispiel ist die von Hans Geser (2004) durchgeführte Studie der spanischsprechenden Diaspora in den USA. Der relevante Identitätsaspekt innerhalb dieses digitalen Netzwerks ist weniger eine bestimmte nationale Herkunft, vielmehr bilden die gemeinsame Sprache und vergleichbare Erfahrungen als Migrantinnen und Migranten in den USA die Bezugspunkte der interaktiven Konstituierung einer digitalen deterritorialisierten Gemeinschaft. Dabei stellen digitale Diasporagemeinschaften keineswegs homogene Einheiten dar, sie zeichnen sich vielmehr durch ein hohes Maß an Heterogenität aus. Ihre Mitglieder sind oft in unterschiedliche lokale Lebenswelten eingebunden und gleichzeitig mit einer Reihe anderer translokaler Gemeinschaften digital vernetzt. Unter Berücksichtigung dieser diasporainternen Heterogenität beschreiben Andreas Hepp, Laura Suna und Stefan Wellingd die digitale Diasporagemeinschaft mit Verweis auf Peter Berger und Thomas Luckmann (1977) als „kulturelles Kontextfeld“, das die Diasporamitglieder, obwohl an verschiedenen Orten lebend und beruflich und sozial unterschiedlich eingebunden, „über die jeweilige Einzelvergemeinschaftung hinweg, [...| - bei aller Differenz - über ähnliche typische Handlungen/ Typen von Handlungen konstituieren“. 21 Die Heterogenität von Diasporagemeinschaften zeigt auch die medienethnografische Untersuchung von Andreas Hepp, Cigdem Bozdag und Laura Suna (2011) in Diasporagemeinschaften türkischer, russischer und marok- 21 Andreas Hepp, Transkulturalität als Perspektive: Überlegungen zu einer vergleichenden empirischen Erforschung von Medienkulturen, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10, 2009, S. 178, http: / / nbnresolving.de/ urn: nbn: de: 0114-fqs0901267 (aufgerufen am 30.07.2017); Peter Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 2003. <?page no="58"?> 58 Katharina Helmolt kanischer Herkunft. Unter dem Begriff der „Medienaneignung“ untersuchen die AutorInnen Formen und Funktionen des Gebrauchs von Medien und die damit verbundene Veränderung von Lebenswelten. Dabei identifizieren sie drei quer zu den Diasporagemeinschaften liegende Medienaneignungstypen, die sich im Hinblick auf ihren Gebrauch von Medien und ihre identitäre Verortung unterscheiden. Die „Herkunftsorientierten“ sind medial vor allem mit ihrer Herkunftsregion vernetzt und fühlen sich subjektiv ihrer (vorgestellten) Heimat zugehörig. 22 Die „Ethnoorientierten“ sind digital sowohl mit der Residenzgesellschaft als auch mit der Herkunftsgesellschaft vernetzt. 23 Identitär verorten sich Ethnoorientierte sowohl in der Herkunftsals auch in der Residenzkultur oder auch zwischen beiden Kulturen. In ihrer Selbstpräsentation im Netz artikulieren sie Zugehörigkeiten und Abgrenzungen sowohl im Hinblick auf die Herkunftsals auch die Residenzkultur. Digitale Medien fungieren für sie somit als Aushandlungsräume ihrer hybriden Identität. 24 Als dritte Kategorie beschreiben die AutorInnen die „Weltorientierten, für die eine intensive Nutzung von Web 2.0-Anwendungen und ein breites und heterogenes Netzwerk typisch ist. 25 Durch umfangreiche Sprachkompetenzen und ein breites Wissen haben die Weltorientierten Zugang zu unterschiedlichen digitalen Kommunikationsräumen und weisen zudem ein starkes Interesse an unterschiedlichen Kulturen auf. 26 Sie stehen Medien der Herkunfts- und der Residenzkultur mit einer kritisch distanzierten Haltung gegenüber und nutzen das Internet besonders für lern- und wissensorientierte Zwecke. Ihre gefühlte und medial artikulierte Identität liegt außerhalb nationaler Grenzen. 22 Mediale Migranten: Mediatisierung und die kommunikative Vernetzung der Diaspora, hg. von Andreas Hepp, Cigdem Bozdag, Laura Suna Wiesbaden 2011, S. 151. 23 ebd., S. 181. 24 ebd., S. 210. 25 ebd., S. 213. 26 ebd., S. 237. <?page no="59"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 59 MMeed diieen n uunndd FFl luucchht tm mi iggr raatti ioonn Vor dem Hintergrund der erhöhten Migrationsbewegungen im Jahr 2015 ist das Interesse an der Bedeutung digitaler Medien für die Fluchtmigration gestiegen. An der Freien Universität Berlin wurde zu dieser Thematik 2016 eine repräsentative Studie mit Geflüchteten durchgeführt, die vorwiegend aus Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan und Iran geflüchtet sind. 27 Die Ergebnisse zeigen, dass das Internet eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Flucht sowie bei der Orientierung nach der Flucht spielt. Das Smartphone ist ein zentrales Instrument, um über Navigationsdienste wie Google Maps die Fluchtroute zu planen, Informationen mit anderen Flüchtenden auszutauschen, Vereinbarungen mit Schleppern zu treffen und während und nach der Flucht mit zurückgebliebenen Familienangehörigen in Kontakt zu bleiben. Für alle Geflüchteten ist die Kommunikation die wichtigste Funktion des Internets. 28 Dabei nutzen sie in unterschiedlichem Ausmaß Medien und Messenger-Dienste. Während die befragten Syrer vor allem über WhatsApp kommunizieren, sind die aus dem Irak Geflüchteten vor allem Nutzer von Facebook. Auch wenn Push-Faktoren wie akute Existenzgefährdung und politische Instabilität in erster Linie ausschlaggebend für die Flucht sind, wird die Entscheidung für eine Flucht auch stark durch Ermutigungen im Rahmen digitaler interpersoneller Kommunikation mit bereits Geflüchteten beeinflusst. Nach der Flucht werden von einem Viertel der Geflüchteten öffentliche Internetforen genutzt, um Berichte, Fotos und Videos über persönliche Fluchterfahrungen zu posten. 29 Das Internet ist somit gerade auch im Fluchtkontext ein wichtiges Medium der Selbstartikulation und auch des 27 Emmer, Richter, Kunst (wie Anm. 2). 28 ebd., S. 51. 29 ebd., S. 51. <?page no="60"?> 60 Katharina Helmolt Austausches und der Verarbeitung von Erfahrungen, die während und nach der Migration gemacht werden. FFa az zi itt Unter dem Einfluss wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen nimmt Migration weltweit zu. Die international vernetzte Wirtschaft erfordert den Austausch von Arbeitskräften, moderne Transporttechnologien ermöglichen das Zurücklegen langer Distanzen, zeitlich befristete Arbeitsaufenthalte in unterschiedlichen Regionen sowie auch das Fernpendeln zwischen Arbeitsplatz und Familie werden dadurch möglich und weiter zunehmen. Arbeitsplätze für Routinetätigkeiten in Entwicklungs- und Schwellenländern werden im Rahmen der Digitalisierung teilweise ersetzt werden, was zu Arbeitsplatzverlusten in Entwicklungs- und Schwellenländern und damit zu Arbeitsmigration führen wird. Auch Fluchtmigration wird ein relevantes Thema bleiben, von internationalen Akteuren geführte Kämpfe um Einfluss und Ressourcen werden auch weiterhin zu Flucht und Vertreibung führen und durch den globalen Klimawandel hervorgerufene Umweltkatastrophen werden auch in Zukunft zu Hunger und Armut und damit Migration führen. Digitale Kommunikation spielt für die Entwicklung des weltweiten Migrationsgeschehens eine wichtige Rolle. Digitale Medien transportieren Werte und Vorstellung anderer Regionen sowie Bilder materiellen Wohlstands, dadurch wird die Diskrepanz zu eigenen Lebensverhältnissen deutlich. Digitale Medien erleichtern die Informationsbeschaffung über Zielregionen sowie die Planung und Durchführung der Migration. Zugleich ermöglichen sie das Aufrechterhalten der Verbindung zu Familie und Freunden sowie zu anderen Diasporamitgliedern und Mitgliedern anderer Diasporagemeinschaften. Diese Potenziale digitaler Kommunikation befördern die Entscheidung für eine Migration. Migration wird aber in Zukunft weniger als in der Vergangenheit unilinear verlaufen. Transmigration im Sinne einer zeitweisen oder dauerhaften Rückkehr in Herkunftsregionen oder des Weiterziehens in neue Regionen <?page no="61"?> 3 Digitale Kommunikation im Kontext von Migration, Diaspora und Integration 61 wird als Option bedeutsamer werden. Menschen, die migriert sind, werden in Zukunft nicht unbedingt schnellstmöglich danach streben, in die Kultur der Residenzgesellschaft einzutauchen, zumal auch diese immer heterogener wird. Vielmehr werden sie mit Hilfe des Internets intensiv mit ihrer Herkunftsregion sowie mit anderen Diasporagemeinschaften vernetzt sein. Bei diesen Prozessen spielt digitale Kommunikation nicht nur als Mitauslöser, sondern auch als Chance für die Betroffenen eine große Rolle. Durch die Funktionen Information, Kommunikation, Selbstartikulation und Partizipation ermöglicht digitale Kommunikation Migranten und Migrantinnen die Integration in digitale Gemeinschaften über die nationalen Grenzen sowohl der Herkunftsals auch der Residenzgesellschaften hinaus. 30 Integration sollte vor diesem Hintergrund nicht mehr nur als linearer Prozess der vollständigen Anpassung an eine Zielgesellschaft verstanden werden. Selbstverständlich ist die aktive Auseinandersetzung mit den lokalen Gegebenheiten einer Residenzgesellschaft sinnvoll und zielführend für ein Miteinander aller Betroffenen. Aber die vollständige Eingliederung in eine Gesellschaft unter Aufgabe der Sprache und Kultur einer Herkunftsregion ist nicht der einzig mögliche Migrationsverlauf. In gewisser Weise ist die Internetnutzung an sich bereits eine Form der Integration der Migranten und Migrantinnen in Netzwerke, die ihnen diverse „Beteiligungschancen“ eröffnen. 31 Förderlich für eine in diesem Sinne als transnationale und transkulturelle Konnektivität verstandene Integration sind vielfache Anschlussmöglichkeiten der betroffenen Migranten und Migrantinnen. Dazu 30 Kathrin Kissau, Das Integrationspotential des Internet für Migranten. Wiesbaden 2008, S. 91. 31 Caroline Düvel, Lokal - translokal - digital: Kommunikative Mehrfachvernetzung und die Aneignung digitaler Medienumgebungen in der russischen Diaspora, in: Internet und Migration (wie Anm. 17), S. 257. <?page no="62"?> 62 Katharina Helmolt gehören sprachliche, mediale und fachliche Kompetenzen, die eine Vernetzung in digitale Netzwerke ermöglichen sowie eine interkulturelle Kompetenz im Sinne eines offenen und selbstreflektierten Teilhabens an und Mitgestaltens von unterschiedlichen virtuellen Räumen. Ob Gesellschaften die Vielfalt von zugewanderten Menschen, die in vielfacher Weise in grenzüberschreitende digitale Gemeinschaften vernetzt sind, konstruktiv für alle Beteiligten nutzen können, liegt auch an der Offenheit der Mitglieder dieser Gesellschaften, diese Vielfalt wahrzunehmen, ihre Vorteile zu nutzen und Lösungen für die damit verbundenen Herausforderungen zu finden. <?page no="63"?> 4 Terrorismus und digitale Medien Ralph-Miklas Dobler <?page no="65"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 65 DDeeffiinniittiioonneenn Terrorismus und Digitalisierung sind zwei der wichtigsten Begriffe des 21. Jahrhunderts. Sie stehen für zwei unterschiedliche Entwicklungen, wobei ein bislang kaum bekanntes Ausmaß an Schrecken und Zerstörung dem Glauben an eine technologische Revolution und an eine bessere Zukunft gegenübersteht. Terror und digitale Medien bilden folglich ein Gegensatzpaar, in dem das absolut Schlechte sowie das erstrebenswert Gute verkörpert sind. Im Folgenden soll es vor allem darum gehen, die Verbindungen zwischen diesen beiden Phänomenen herauszustellen. Es wird sich zeigen, dass die voranschreitende Digitalisierung der Informations- und Kommunikationstechnologie die Entstehung einer neuen Art von Terrorismus, der das Internet als Waffe benutzt, begünstigt. Terrorismus ist eine Derivation vom lateinischen Wort „terror“, was wiederum die Übersetzung des griechischen „phobos“ darstellt. 1 Der Philosoph Aristoteles hatte in seiner Poetik so den Affekt von „Jammer und Erschaudern“ bezeichnet. Terror ist folglich eine Gefühlslage, die man mit dem Empfinden von Schmerz, Jammer, Schaudern und Grauen beschreiben könnte. Wichtig ist dabei, dass sich Terror genau genommen von Angst unterscheidet, wie etwa das englische „terror“ nicht „fear“ ist und der französische „terreur“ nicht der „crainte“ entspricht. Terror ist dem subtilen Horror oft näher als der puren Angst. Das Suffix „-ismus“ im Wort Terrorismus bedeutet so viel wie „auf eine bestimmte Art vorgehen“. Terrorismus ist also so zu handeln, dass innerer Schmerz und Schrecken entstehen. Der Terrorist ist eine Person, die durch ihre Taten Leid und Erschaudern produziert. 1 Zu den Begriffen ‚Terror‘ und ‚Terrorismus‘ vgl.: Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Kultur und Terror. Zur Einführung, in: Themenheft Kultur und Terror, Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1, 2010, hg. von Michael C. Frank und Kirsten Malke, Bielefeld 2010, S. 7-16. <?page no="66"?> 66 Ralph-Miklas Dobler Digitale Medien hingegen sind Kommunikationsinstrumente. Sie stehen, wie es der Begriff nahelegt, in der Mitte zwischen einem Sender und einem Empfänger und dienen der Wissensvermittlung und der Informationsverbreitung. Nach der Erfindung der Schrift und des Buchdruckes wird die Digitalisierung meistens als dritte große Medienrevolution bezeichnet, durch welche sich die Gesellschaft grundlegend verändert. 2 Digitalisierte Kommunikation, die in der Regel über das Internet erfolgt, kennzeichnen Geschwindigkeit, Reichweite und Kontrollverlust. Informationen können in Echtzeit über den gesamten Globus verbreitet werden, das heißt, digitalen Medien sind keine kulturellen, sprachlichen oder nationalen Grenzen gesetzt. Außerdem kann jeder, der an das weltweite Netz angebunden ist, Botschaften senden, deren Inhalte keiner Überprüfung unterzogen werden. Schließlich ist die Digitalisierung auch eine visuelle Revolution, bei der das sichtbare Bild und die visuelle Kommunikation an noch kaum abzuschätzender Bedeutung gewinnen. Orte der Wissensvermittlung durch Bilder und Filme sind neben den Homepages, Newsfeeds und Blogs traditioneller Nachrichtenagenturen vor allem die zahlreichen Plattformen der Sozialen Medien. TTe er rrroorri issmmu uss" MMeed diieen n uunndd BBiillddeerr Terroristen machten bereits im 20. Jahrhundert von Fotografien Gebrauch, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. So haben sich beispielsweise die in Zeitungen, Magazinen und dem Fernsehen verbreiteten Aufnahmen von Entführten der Roten Armee Fraktion (RAF) in das kollektive Bildgedächtnis eingeprägt. Ein kurzer Blick auf die damaligen technologischen Voraussetzungen hilft, die völlig neuen - mit einem Schlagwort der Digitalisierung „disruptiven“ - Möglichkeiten des Terrorismus in 2 Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016; Christoph Kucklick, Die granulare Gesellschaft. Wie das digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Berlin 2016; Philipp Staab, Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus, Hamburg, 2016; Martin Burckhardt und Dirk Höfer, Alles und Nichts. Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung, Berlin 2015; Byung-Chul Han, Im Schwarm des Digitalen, Berlin 2013. <?page no="67"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 67 der heutigen digitalisierten Welt zu verstehen: 3 Da analoge Rollenfilme im Labor entwickelt werden mussten, nutzten die Mitglieder der RAF moderne Sofortbildkameras und leichte, tragbare Videokameras, um unerkannt und schnell aktuelle Aufnahmen ihrer Opfer machen zu können. Jedoch war die Veröffentlichung der Aufnahmen, das heißt die mediale Verbreitung in der Bevölkerung, mit größeren Schwierigkeiten verbunden. 4 Im September 1977 wurde zwar ein Polaroidfoto des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer an die Regierung geschickt, die Bekanntmachung in der abendlichen Tagesschau der ARD unterblieb jedoch. Als Reaktion sendete die RAF Videos an verschiedene Pressevertreter, eine Nachrichtensperre verhinderte jedoch das Erreichen des wichtigsten Ziels der Terroristen: die Öffentlichkeit. 5 Erst nachdem Wochen später ein französischer Sender Filmaufnahmen des Entführten gesendet hatte, zeigte man diese auch in Deutschland. Charlotte Klonk hat hervorgehoben, wie wichtig dabei das Gesicht des Opfers war. Es diente der Identifizierung und schuf das Gefühl von Nähe sowie Echtheit. 6 Breits damals nutzte man die Wirkung der Fotografie und des Films, die als vermeintlicher Spiegel der Realität für real und wahr gehalten wurden. Diese visuelle Manifestation des Terrors war eine neue Medienstrategie, deren Bühne Zeitschriften, Zeitungen und Fernsehen waren. Dort wurden indes nicht nur von den Terroristen selbst produzierte Bildmedien verbreitet. Der Überfall auf das israelische Olympia-Team in München 1972 ist ein frühes Beispiel, für ein weiteres Kalkül des Terrorismus: Die arabische Organisation Schwarzer Sep- 3 Staab (wie Anm. 2), S. 42-47. 4 Charlotte Klonk, Die Entführung Hanns-Martin Schleyers oder die Entdeckung des Mediums Gesicht im terroristischen Bilderkampf, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaft, 2, 2008, S. 48-58; Charlotte Klonk, Terror. Wenn Bilder zur Waffe werden, Frankfurt a.M. 2017, S. 112-122. 5 Zwischen den Fronten. Terroristen funktionalisieren den Informationsauftrag der Medien, Gespräch mit Stephan Weichert, in: Terror (wie Anm. 1), S. 37. 6 Klonk, Entführung (wie Anm. 4), S. 51-53. <?page no="68"?> 68 Ralph-Miklas Dobler tember nutzte die internationale Berichterstattung während des Sportfestes, um durch ihre Tat weltweit und in Echtzeit Millionen von Zuschauern zu erreichen. 7 Die Fernsehteams und Fotografen vor Ort dienten als Multiplikator für den Terrorakt, dessen Wirkung zu einem nicht geringen Teil auf den verbreiteten Bildern beruhte. 8 Das gezielte Heraustreten der Maskierten auf den Balkon, das die Machtlosigkeit der Bundesrepublik Deutschland hervorhob, gehört in diesen Kontext systematischer Verbreitung von Schrecken. 99/ / 1111: : eeiinnee nneeuuee DDiimmeennssiioonn ddeess TTeerrrroorriissmmuuss Mit den Anschlägen auf die beiden Hochhaus-Türme des World Trade Center in New York am 11. September 2001 brach ein neues Zeitalter des internationalen Terrorismus an. Nicht nur, dass die Zerstörungskraft der beiden Passagierflugzeuge sowie die resultierenden Todesopfer alle bislang bekannten Anschläge in den Schatten stellten, offensichtlich spielte bei den Planungen auch die mediale Verbreitung und Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Der Angriff galt zweifelsfrei einem Symbol der weltweit agierenden Wirtschaftsmacht, jedoch waren die beiden verspiegelten Türme auf der von Wasser umgebenen Insel Manhattan auch von verschiedenen Seiten perfekt sichtbar und befanden sich im touristischen Zentrum der Stadt. Dies gewährleistete eine bestmögliche Öffentlichkeit des Attentats. Wie sehr diese von den Terroristen bei den Planungen im Vordergrund stand, belegt nicht zuletzt der inszenatorische Charakter des Anschlags. Das erste Flugzeug schlug um 8: 46 Uhr in den westlichen Turm ein. Folglich existieren nur wenige zufällige Aufnahmen von diesem Ereignis, das jedoch von 7 Vgl. Simone Reeve, Ein Tag im September. Die Geschichte des Geiseldramas bei den Olympischen Spielen in München 1972, München 2005. 8 Sven Beckstette, s.v. Terror, in: Politische Ikonographie. Ein Handbuch, hg. von Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler, München 2011, Bd. 2, S. 416- 417. Charlotte Klonk sah darin einen Grundsatz des modernen Terrorismus: „Nicht der Gewaltakt an sich zählt, sondern die Bilder, die davon in Umlauf gebracht werden“; Klonk, Terror (wie Anm. 4), S. 11. <?page no="69"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 69 schnell herbeigeeilten Journalisten, Kamerateams und Sondersendungen mit einer von Unsicherheit, Schrecken und Informationssuche geprägten Berichterstattung in das Zentrum medialer Aufmerksamkeit gerückt wurde. Als um 9: 03 Uhr die zweite Maschine in den südlichen Turm einschlug, waren weltweit Millionen von Menschen live dabei. 9 Darüber hinaus dokumentierten neue digitale Kompakt- und Filmkameras tausendfach und unkommentiert das Unfassbare. Erstmals wurden Terrorakte zu einem „globalen Medienereignis“ 10 . Die Flugzeuge und die mediale Verbreitung der Bilder und Filme waren die neuen Waffen, mit denen die Attentäter im Namen der Terrororganisation Al-Qaida die Vereinigten Staaten von Amerika auf ihrem eigenen Boden angriffen. Es ist evident, dass mit den Anschlägen auf die beiden Wolkenkratzer des World Trade Center neben der Tötungs- und Zerstörungsabsicht die Erzeugung von Bildern sowie deren mediale Verbreitung in den Vordergrund des terroristischen Kalküls rückten. Entscheidend ist, dass die Terroristen bei der Planung von vorn herein der zu erwartenden visuellen Dokumentation einen entscheidenden Stellenwert einräumten. Musste die RAF noch eigene Bilder verschicken und auf deren Veröffentlichung hoffen, so konnten die Al-Qaida-Attentäter sicher sein, dass zahlreiche Medienvertreter und Zuschauer den Terror erlebten, dokumentierten und verbreiteten. KKrriieegg mmiitt BBiillddeerrnn Dass es sich bei den Ereignissen am 11. September um einen Terroranschlag handelte, wurde kaum eine Stunde nach dem zweiten Einschlag von Präsident George W. Bush klargestellt. 11 Die Antwort waren die Angriffe 9 Beckstette (wie Anm. 8), S. 414; Bilder des Terrors - Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, hg. von Michael Beutner, Joachim Buttler, Sandra Fröhlich, Irene Neverla, Stephan A. Weichert, Köln 2003. 10 Beckstette (wie Anm. 8), S. 415. 11 Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008, S. 185; Frank und Mahlke (wie Anm. 1), S. 7. <?page no="70"?> 70 Ralph-Miklas Dobler auf Afghanistan im Oktober 2001 sowie auf den Irak im März 2003. 12 Allerdings blieb es nicht alleine bei diesen militärischen Aktionen, bei der die mutmaßlichen Mitglieder, Drahtzieher, Hintermänner und Unterstützer von Al-Qaida zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Die traumatische Wirkung des Ereignisses, die durch die eindrucksvollen Bilder der Katastrophe mit ausgelöst wurde, ließ die Vereinigten Staaten auch nach einer medialen Antwortstrategie suchen. Mit der Begrifflichkeit von Thomas Hobbes könnte man bei den Bildern vom 11. September von „signs“ sprechen, die einen „Handlungszwang“ zur Folge hatten. 13 Ein frühes Zeugnis dafür war die live-Übertragung des nächtlichen Angriffs auf Bagdad durch amerikanische Fernsehsender am 21. März 2003. Die BBC positionierte sich dafür auf einem Hoteldach mit bestem Blick auf die Stadt, wobei im Vordergrund der Tigris mit seiner Wasserfläche das Geschehen auf Distanz hielt. Die Ähnlichkeit der Beobachtungsposition zu zahlreichen Aufnahmen von den brennenden und einstürzenden Twin Towers dürfte kein Zufall sein. Anstatt dem blauen Himmel mit den brennenden und qualmenden Wolkenkratzern sah und hörte der Zuschauer unkommentiert die hell wie ein Feuerwerk in verschiedenen Farbtönen aufblitzenden Einschläge der Bomben und Granaten sowie die Rauchwolken über der irakischen Hauptstadt. 14 Fotografische und filmische Bilder spielten im folgenden Irak-Krieg eine Rolle, die über das Dokumentieren der Kampfhandlungen hinausging. Vie- 12 Kippenberg hat darauf hingewiesen, dass offenbar die Unbegreifbarkeit des performativen Aktes zu einer maßlosen Gegengewalt geführt hat, wobei ein Verständnis der Täter-Handlung nicht im Vordergrund stand; Kippenberg (wie Anm. 17), S. 11- 27. 13 Horst Bredekamp und Ulrich Raulff, Handeln im Symbolischen. Ermächtigungsstrategien, Körperpolitik und die Bildstrategien des Krieges, in: kritische berichte, 1, 2005, S. 6. 14 Zur Bedeutung von Terror im Theater des 17. Jahrhunderts vgl. Frank und Mahlke (wie Anm. 1), S. 12. <?page no="71"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 71 le Filme und Fotografien zeigten etwa zerstörtes Kriegsgerät, von dem nicht selten dunkle Rauchsäulen aufstiegen. Heroischer Sieg und Triumph sollten zum Ausdruck gebracht werden. Dies vermittelten auch zahlreiche Aufnahmen, die den Sturz und die Zerstörung von Statuen des ehemaligen Machthabers Saddam Hussein zeigten oder die Paläste der Familie entehrte, indem US-Soldaten dort selbst an intimsten Orten posierten. 15 Die Zerstörung von Kulturgütern in Kriegen, die nicht zuletzt auch die Tilgung jeder Erinnerung zum Ziel hatte, ist aus den Bilderstürmen der europäischen Geschichte bekannt. 16 Neu war jedoch die mediale Verbreitung dieser Taten in Foto und Film. Geradezu zwingend stellt sich hier die Frage, welche Aktionen nur für die fotografischen und filmischen Aufnahmen in Pose gesetzt wurden. Realität und Inszenierung begannen absichtlich zu verschwimmen. Die Wirkungsmacht der Bilder hatte mit Sicherheit einen Einfluss auf viele Handlungen, wenn eine Kamera präsent war. In besonders abstoßender Weise ist dies bei den seit 2004 an die Öffentlichkeit gelangten Aufnahmen aus dem Gefangenenlager Abu Ghraib bezeugt, wo Gefangene erniedrigt und gefoltert wurden, um dies in Fotografien festzuhalten. 17 Im Unterschied zu den offiziellen Kriegsbildern waren die Folterbilder nur für den privaten Gebrauch bestimmt. 18 Nichts desto trotz stehen sie in einer Tradition von Aufnahmen, die Gefangene in erniedrigenden Situationen zeigen, wie sie seit 2002 gezielt aus dem Gefängnis Guantanamo 15 Horst Bredekamp, Marks and signs. Mutmaßungen zum jüngsten Bilderkrieg, in: FAKtisch, hg. von Peter Berz, Annette Bitsch und Bernhard Siegert, München 2003, S. 163-169; Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 226-227. 16 Horst Bredekamp, Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Frankfurt a.M. 1975. 17 John Limon, The Shame of Abu Ghraib, in: Critical Inquiry, 33, 2007, S. 543-572; Birgit Richard, Pictorial Clashes am medialen Gewaltkörper: Abu Ghraib, Nick Berg und Johannes Paul II., in: Ich-Armeen. Täuschen - Tarnen - Drill, hg. von Birgit Richard und Klaus Neumann-Braun, München 2006, S. 235-255. 18 Kathrin Hoffmann-Curtius, Trophäen in Brieftaschen - Fotos von Wehrmachts-, SS-, und Polizeiverbrechen, in: kunsttexte.de, 2002, Nr. 3. <?page no="72"?> 72 Ralph-Miklas Dobler verbreitet wurden. Die Aufnahmen der Männer in orangenen Anzügen, die mit Masken und Brillen jeder Individualität beraubt und wie Tiere in Käfigen gehalten wurden, sollten die Kontrolle über einen kaum fassbaren Gegner demonstrieren - die Terroristen. Entsprechend inszeniert wurde die Eliminierung von mutmaßlichen Anführern. Als der flüchtige Saddam Hussein, dem man die Unterstützung des Terrornetzwerkes Al-Qaida und die Produktion von Massenvernichtungswaffen vorwarf, gefangengenommen wurde, veröffentlichte man Fotografien der folgenden medizinischen Untersuchung. Die Beleuchtung der Bildausschnitte und die gewählte Szene ließen Hussein wie das gedemütigte Opfer einer anderen Art von Terror erscheinen. 19 Geradezu eine Überhöhung im Bildlichen erfolgte im Juni 2006, als Aufnahmen des getöteten Al-Qaida-Führers Abu Musab Al- Zarqawi bei einer Pressekonferenz in einem hellen Holzrahmen mit weißem Passepartout gezeigt wurden. Die erfolgreiche Aktion war im Kampf gegen den Terror so wichtig, dass man den fotografischen Beweis für den Erfolg wie ein Kunstwerk behandelte. Oder anders gesagt, die wertvolle Präsentation des Fotos eines Toten demonstrierte den Wert des Leichnams. 20 Der Einsatz von Fotografien in der Kriegsführung seitens der USA zielte darauf ab, auf die Strategie der Terroristen mit gleichen Mitteln zu antworten. Dass sich die USA damit als demokratischer Staat auf dieselbe Ebene wie Terrorgruppen stellte, wurde insbesondere von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Der erniedrigende Umgang mit Gefangenen und Getöteten sowie deren fotografische Dokumentation sind mit rechtstaatlichen Vorstellungen nicht in Einklang zu bringen. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass die Kommandoaktion zur Ergreifung von Osama Bin Laden im Jahr 2011 sowie dessen Leichnam nicht in Fotografien überliefert wurden. 19 Zur bildlichen Erniedrigung von Terroristen vom 19. Jahrhundert bis zur RAF vgl.; Klonk, Terror ( wie Anm. 4), S. 177-187. 20 Zeynep D. Gürsel, Framing Zarqawi. Afterimages, Headshots, and Body Politics in a Digital Age, in: Double Exposure. Memory and Photography, hg. von Olga Shevchenko, New Brunswick und London 2014, S. 65-90. <?page no="73"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 73 Bereits die Attentäter des 11. September 2001 und in der Folge auch die USA setzten bei der Verbreitung von Fotografien ihrer (Vergeltungs- )Taten auf das Internet. Die im 21. Jahrhundert zunehmend digitalisierte Bevölkerung konnte weltweit in Echtzeit erreicht werden. Dies waren die Grundvoraussetzungen dafür das, dass ein Krieg mit Bildern überhaupt in Erwägung gezogen wurde. Für eine weitere Entgrenzung des Informationsflusses sorgte das Aufkommen der digitalen Sozialen Medien. Man muss sich vergegenwärtigen, dass im Jahr 2001 die weltweite Verbreitung der Bilder des Anschlages auf die Twin Towers in New York noch immer überwiegend in der Hand von Journalisten und Nachrichtenagenturen lag. Durch die Bereitstellung von Facebook im Jahr 2004, YouTube im Jahr 2005 und von Twitter im Jahr 2006 veränderte sich die Verbreitung von Information epochal. Maßgebend dafür war nicht zuletzt auch der Ausbau des mobilen Internets, die beständige Verbesserung der Mobilfunkstandards sowie die Entwicklung leistungsfähiger Smartphones. Entscheidend für die unkontrollierte Verbreitung von Fotografien und Filmen bzw. Streams war schließlich die Integration und ständige Verbesserung von Kameras in die Mobiltelefone. Jedermann konnte nun in Echtzeit über Ereignisse berichten, Information „sharen“, weiterleiten und kommentieren, was einen ungemeinen Machtzuwachs des Individuums zur Folge hatte. Dies veränderte abermals die Medien-Strategie des internationalen Terrorismus. SSoozziiaallee MMeeddiieenn uunndd TTeerrrroorriissmmuuss Eine neue Art von international agierendem Terrorismus bedeutet der sogenannte Islamische Staat (IS), der im Jahr 2014 in Teilen des Iraks und Syriens das „Kalifat“ ausrief. 21 Zur weltweiten Verbreitung von Schrecken 21 Zur Problematik von Religion und Krieg vgl. Kippenberg (wie Anm. 17); Hartmut Zinser, Religion und Krieg, Paderborn 2015. Zum Islamischen Staat vgl. Guido Steinberg, Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror, München 2015; Jürgen Todenhöfer, Inside IS - 10 Tage im ‚Islamischen Staat‘, München 2015; Jessica Stern und J.M. Berger, ISIS. The State of Terror, London 2015. <?page no="74"?> 74 Ralph-Miklas Dobler und Grauen nutzt die Gruppe in professioneller und vielfältiger Weise die Möglichkeiten des Internets. 22 Dabei werden nicht nur selbst formulierte Aufrufe, Bekenntnisse und Drohungen gestreut, sondern die Medien- Strategie setzt vor allem auf den Netzwerkcharakter der Sozialen Medien sowie den Zugang über mobile Endgeräte. Ähnlich wie beim 11. September 2001 werden Anschläge an Orten ausgeführt, welche die Anwesenheit von zahlreichen Augenzeugen garantieren. 23 War das Ziel in New York noch, eine möglichst hohe Aufmerksamkeit von Medienagenturen, Journalisten und Nachrichtensendungen zu erhalten, so setzt der IS auf die unmittelbare und vor allem ungefilterte Informationsvermittlung und Wissensgenerierung auf den Plattformen der Sozialen Medien. Die von Augenzeugen gemachten Fotografien und Filme werden ebenso unkontrolliert und schnell in der digitalisierten Welt verbreitet wie die Reaktionen in Form von Kommentaren und Bekundungen. Durch das Fehlen einer Interpretationshoheit bzw. einer professionellen journalistischen Berichterstattung entstehen zwangsläufig Fehlinformationen und Gerüchte. Als am 19. Dezember 2016 ein Attentäter mit einem polnischen LKW in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz raste, sprach ZDF heute auf Twitter von einem „Unfall“ durch einen „polnischen LKW-Fahrer“. Gleichzeitig verbreiteten Augenzeugen Bilder von Smartphone-Kameras und ein User kommentierte, er wage die „Prognose: Islamistischer Hintergrund“. Internationale Kommentatoren sprachen von einer „attack“ oder zogen parallelen zum IS-Anschlag am 14. Juli 2016 in Nizza, wo ebenfalls ein LKW in eine Menschenmenge gefahren war. Innerhalb von wenigen Minuten war die Aufmerksamkeit weltweit auf Berlin gerichtet und eine nicht zu überblickende Menge an Informationen, Interpretationen, Doku- 22 Vgl. Themenheft ‚Terror. Mediale Aufmerksamkeit als Motiv’, tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien, 4, 2016. 23 Dass Terrorismus bereits bei den Anschlägen am 11. September 2011 „primär eine Kommunikationsstrategie“ war, betonte der Terrorismus-Experte Peter Waldmann; zit. nach Kippenberg, (wie Anm. 17), S. 14-15. <?page no="75"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 75 mentationen und Berichten machten die Runde. Durch den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit wurde nicht nur die Attentate des IS schnell und weitreichend zur Kenntnis genommen. Gezielt setzte die Terrororganisation darauf, dass sich durch Spekulationen, Gerüchte und Falschmeldungen sowie durch spektakuläre unzensierte Fotografien und Filmaufnahmen Lähmung, Schrecken und wohl auch eine gewisse Faszination breitmachten Die Folge war ein völliger Kontrollverlust, der das Gefühl von Unsicherheit erzeugt, was wiederum die rastlose Suche nach neuesten Informationen in den digitalen Medien fördert. 24 Die Ausschaltung jeglicher staatlichen Kontrolle über Information und Wissen zeigte hier ihre negative Seite. Was bereits der nicht zu verhindernde Anschlag selbst demonstrierte, wird in den Sozialen Medien weitergeführt und findet seinen Höhepunkt in Bildern der Attentäter, die diese auf Überwachungskameras absichtlich hinterlassen. 25 Es ist evident, dass bei den Attentaten die Verbreitung in Bild und Film ein entscheidendes Gewicht bei den Planungen besaß. 26 Hinzu kam eine Erweiterung der visuellen Kommunikation durch Symbole. So fällt auf, dass nach dem weißen LKW in Nizza in Berlin ein schwarzer LKW gewählt wurde, beides die Farben der Flagge des IS. Zudem handelt es sich um symbolische Orte. Die Friedenskirche auf dem Breitscheidplatz ist eine 24 ‚So wenig wie möglich berichten! ‘ Über den Umgang mit Terroranschlägen und Amokläufern, Gespräch mit Georg Pieper, Themenheft (wie Anm. 28), S. 24-29. Etablierte Medien durch die unkontrollierte „Berichterstattung“ auf digitalen Plattformen unter Zugzwang geraten. Tatsächlich finden sich auch in seriösen Nachrichtensendungen öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten immer häufiger Filme und Fotografien, als deren Quelle youtube oder Instagram angegeben werden. 25 Vgl. Klonk, Terror (wie Anm. 4), S. 89-91. 26 In Abhörprotokollen der Anschläge in Mumbai 2008 ist die Vorbildlichkeit des 11. September dokumentiert. Ein Anrufer erklärte dem Attentäter Abdul Rehman anerkennend: „Brother Abdul. The media is comparing your action to 9/ 11.“; http: / / www.independent.co.uk/ news/ world/ asia/ mumbai-siege-kill-all-the-hostagesndash-except-the-two-muslims-1232074.html# (aufgerufen am 02.11.2017). <?page no="76"?> 76 Ralph-Miklas Dobler Ruine und erinnert letztlich an die zahlreichen Opfer eines sinnlosen und verlorenen Krieges. 27 Der dort stattfindende Weihnachtsmarkt wird anlässlich eines bedeutenden christlichen Festes aufgebaut und verkörpert zugleich den Konsum der westlichen Welt. Nach dem Anschlag in Nizza erklärte der IS, Ziel sei „the creation of a state of fear and terror and spreading it to other European nations“ gewesen. 28 Absichtlich wurde der Bastille-Feiertag gewählt, da die Erstürmung des Gefängnisses für Frankreich ein Zeichen von Revolution und Freiheit sei, während „France is the one which imprisons many Muslims, persecuting them, plundering their wealth, killing the children and women with the help of their American allies.“ 29 Die Instrumentalisierung der Nutzer von Sozialen Medien als Verstärker für den Terrorismus ist nur ein Element der massenmedialen Strategie des IS. Auch eigene Fotografien und Videos sowie Botschaften werden über dieselben Kanäle verbreitet. Zu dieser Propaganda gehören die seit 2015 vermehrt veröffentlichten Zerstörungsaktionen von antiken Kulturgütern. Aufsehenerregend war die im Februar erfolgte Zerschlagung von kostbaren Statuen im Museum von Mossul. Nach der Einnahme von Palmyra durch den IS am 20. Mai 2015 sprengten die Terroristen am 23. August den Baalshamin-Tempel, der einst allen Göttern geweiht worden war, bevor man ihn zur christlichen Kirche und dann zu einer Moschee umgewandelt hatte. 30 Am 30. August wurde der Bel-Tempel bis auf den Torbogen zerstört. Beide Aktionen richteten sich gezielt gegen Gebäude, die von allen Bewohnern und Religionen der Stadt - auch des Islam - kontinuier- 27 Gerhard Waldherr beschrieb treffend: „Neben dem Bombenstummel der Gedächtniskirche ein Bild der Verwüstung. Der Zweite Weltkrieg trifft auf den Terror des 21. Jahrhunderts“; Gerhard Waldherr, Deutschkunde, in: Kursbuch 187, 2017, S. 26-27. 28 Lone Jihad Guide Team, Inspire Guide, Nice Operation France, 2016. 29 ebd. 30 Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist Horst Bredekamp, Das Beispiel Palmyra, Berlin 2016. <?page no="77"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 77 lich genutzt wurden. Gerade das Beispiel Palmyra, eine geradezu utopische Stadt, die nicht nur ein Miteinander, sondern auch ein funktionierendes Nacheinander demonstrierte, zeigt, dass der IS jeden Anspruch auf Toleranz eliminieren wollte. Am 4. Oktober fiel das dreibogige Monumentaltor, einst als Triumphbogen errichtet, dem Sprengstoff des IS zum Opfer. Es ist offensichtlich, dass in Palmyra gezielt symbolisch aufgeladene Monumente zerstört wurden. Nicht nur das, die Art der Destruktion kalkulierte die Verbreitung im Bild bereits mit ein, denn bei allen Bauten blieben Teile erhalten, so dass Ruinen entstanden, an denen man den Verlust festmachen konnte. 31 Hinter den Angriffen auf die Bauwerke standen abermals nur fadenscheinig religiöse Gründe. Vielmehr trafen die Fotografien und Filme in der westlichen Welt auf ein kulturelles Gedächtnis, in dem die sogenannten Bilderstürme eine gewisse Tradition haben. 32 So entfernten die Reformatoren im 16. und 17. Jahrhundert gewaltsam zahlreiche Kirchenausstattungen aus katholischen Bauten. Ähnlich zerstörerisch war die Französische Revolution und die Reichskristallnacht. Vor diesem Hintergrund wirken die Taten wie ein Rückfall hinter das Bewusstsein für die Bedeutung des kulturellen Erbes und die Leistungen der Denkmalpflege des 20. und 21. Jahrhunderts. Vor den Zerstörungen wurden die antiken Ruinen für ein grausames Schauspiel reaktiviert. Im Theater richteten am 27. Mai 2015 jugendliche Kämpfer des IS 25 syrische Soldaten hin. Das Video dokumentiert ausführlich, wie vor zahlreichen Zuschauern auf den Rängen die Opfer und die Täter wie bei einem Schauspiel die Bühne betraten, um vor der antiken scaena, die mit der schwarz-weißen Flagge des IS dekoriert war, das grausame Drama zu vollziehen. Bewusst wurde ein Symbol westlicher Kultur und Bildung entweiht und diese Schändung in Bild und Film festgehalten 31 Im Kontrast zwischen dem noch Erhaltenen und dem Zerstörten die Tat der Zerstörung quasi mit jedem erneuten Anblicken wiederholt; ebd., S. 20. 32 ebd., S. 26. <?page no="78"?> 78 Ralph-Miklas Dobler und verbreitet. Horst Bredekamp hat darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Töten und Zerstören ebenfalls einen Vorgänger in den europäischen Bilderstürmen findet. 33 Damals wurden Kunstwerke ähnlich wie Menschen behandelt, indem man Statuen den Kopf abschlug oder bei gemalten Porträts auf das Herz zielte. Überwog damals allerdings religiöse Raserei und Zerstörungswut, so wurden die Hinrichtungen und die Zerstörungen in Palmyra professionell inszeniert. Als „substitutiver Bildakt“ zielten die Taten in erster Linie darauf ab, Bilder zu produzieren, die digital verbreitet werden konnten. 34 Zugespitzt könnte man sagen, ohne die Möglichkeit der digitalen Verbreitung des Terrors hätten die Tötungen und Destruktionen anders gesehen oder wären gar unterblieben. Der Bildersturm des IS diente ebenfalls in erste Linie dem Verbreiten von Terror. Dabei entlarvte er sich selbst, denn das Zerstören von Bildern sollte nicht die Spiritualität einer bildlosen Religion realisieren, sondern neue Bilder erzeugen, die als visuelle Waffe eingesetzt wurden. Spektakelkultur stand dabei im Vordergrund und diese bestimmte ein weiteres Thema, das in den Medien gezielt verbreitet wurde. Die wie ein Schauspiel in Szene gesetzte Hinrichtung im Theater von Palmyra war kein Einzelfall. Im Gegenteil vor allem grausame Bilder und Filme von Exekutionen machten im Internet die Runde. Diese wurden so vor dem Publikum der digitalen Öffentlichkeit aufgeführt, worin abermals ein kalkulierter Bezug zur europäischen Geschichte zu erkennen ist. Über Jahrhunderte hinweg wurden dort vor Zuschauern Straftäter gemartert, wobei der Körper als Zielscheibe diente. Michele Foucault hat ausführlich dargestellt, wie dieses Strafschauspiel und das zugehörige Zeremoniell seit der Aufklärung den Bereich der allgemeinen und alltäglichen Wahrneh- 33 ebd., S. 21-24. 34 ebd., S. 224-230. <?page no="79"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 79 mung zunehmend verlassen haben. 35 Heute soll Strafe durch Unausweichlichkeit und nicht mehr durch die sichtbare Intensität wirken, das heißt, physisches Leiden und Schmerz des Körpers bilden nicht mehr deren wesentliche Elemente. 36 Aus Romanen, Bildern, Historienfilmen und Museen sind die in Europa vollzogenen Todesstrafen und Foltermethoden als Bildmuster jedoch bis heute bekannt. 37 Auf dieses Wissen rekurriert der Islamische Staat mit seinen perfiden Hinrichtungsmethoden. Der Terrorismus setzt hier nicht nur auf die Grausamkeit der Tat, sondern auch auf die entstehende Verunsicherung, da die barbarischen Akte einer nur scheinbar längst vergangenen Zeit plötzlich wieder Bestandteil der Gegenwart sind und an Europäern und Amerikanern vollzogen werden. Um die Vollstreckungen noch stärker in der Alltagserfahrung der westlichen Welt zu verankern, ist die Bildsprache der Hinrichtungen professionell sowohl an Hollywood-Produktionen orientiert als auch an zahlreichen grafischen und malerischen Darstellungen aus der Geschichte des Christentums. Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer in den digitalen Netzwerken zu erhalten, führt eine Spirale der Überbietung zu immer neuen Darstellungsformen. Deren unbestreitbare Realität hat die beständige Ausbreitung von Terror zur Folge. Der mediale Aufwand führt eindrucksvoll vor Augen, dass die Hinrichtungen des IS nicht in erster Linie der Bestrafung dienen. Auch hier steht die Produktion von Bildern und Filmen im Vordergrund, die unkontrolliert im digitalen Netz verbreitet werden können. Der menschliche Körper wird hier in einen politischen Körper transformiert, der stellvertretend für eine Nation steht, die mit Terror bedacht werden soll. Innerhalb des militärischen Ungleichgewichts wird so ein Sieg 35 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 2015, S. 9-169. 36 Zuchthäusler wurden in Frankreich bis 1837 in Ketten durch die Städte geführt; ebd. S. 16. 37 Klonk, Terror (wie Anm. 4), S. 14. <?page no="80"?> 80 Ralph-Miklas Dobler auf psychologischer Ebene erzielt, den die unkontrollierte Verbreitung in den Sozialen Medien potenziert. Der grausame Tod einzelner Geiseln des IS führt zu umfangreichen Diskussionen und Berichterstattungen, wodurch dem IS die Macht zuteilwird, die öffentliche Meinung nachhaltig zu beeinflussen. Durch die unkontrollierte Verbreitung und die einsetzende öffentliche Wahrnehmung ist der Tod Einzelner im Nahen Osten um einiges präsenter, als etwa das Abschlachten Hunderter in vielen Teilen Afrikas. Einiges an den Bildern des IS von Geiseln und Gefangenen erinnert zudem an US-Aufnahmen des Krieges gegen den Terror. Dort findet sich etwa die Erniedrigung und Entmenschlichung, während die orangenen Anzüge des Lagers Guantanamo von den Islamisten übernommen wurden, was deutlich vor Augen führte, dass das Handeln eine Reaktion darstellen sollte. 38 Hier wie dort wurden Ereignisse inszeniert, um fotografisch verbreitet zu werden. Neu war, dass der Islamische Staat ohne Kontrolle und Hindernisse die sozialen Netzwerke überfluten konnte, was die Terrorwirkung immens erhöhte. Die Digitalisierung hat die Distanz „zwischen Tat, Bild und Betrachtung“ getilgt. 39 Schließlich nutzt der Islamische Staat digitale Technik für die Selbstdarstellung und Propaganda, wobei schnell deutlich wird, dass vor allem männliche Jugendliche aus einem westlichen Kulturkreis angesprochen werden sollen. Die Terrororganisation rekurriert dabei auf Wünsche und Sehnsüchte der Jugendlichen und macht sich deren Begeisterung und Passionen zu Nutze. So sind im Internet Videos zu finden, die Kommandoaktionen des IS zeigen, bei denen die Attentäter mit kleinen, tragbaren Helmkameras ausgestattet sind. Die oft professionell geschnittenen, mit Musik un- 38 Über die Gründe und Fähigkeiten der Angehörigen des IS, die Greueltaten auszuführen ließe sich viel sagen und analysieren. Das Töten von wehrlosen Menschen ist unmoralisch, vor allem auch im Islam. Allerdings rechtfertigt der Ehrenkodex der Rache das Schlimmste, was Menschen einander antun können; Jörg Baberovski, Räume der Gewalt, Frankfurt a.M. 2015, S. 161. 39 Bredekamp, Bildakt (wie Anm. 21), S. 229. <?page no="81"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 81 termalten und teilweise mit Schrifteinblendungen versehenen Filme zeigen die Taten aus der Perspektive des Terroristen. Sie reihen sich ein in eine neue Medialisierung des Krieges, bei welcher der Point-of-View-Shot sowohl die Realitätsnähe extrem steigert als auch den Soldaten als individualisierten Heroen feiert. 40 Diese rein subjektive und spontane Perspektive auf den Kampf ist aus der digitalisierten Vergnügungsindustrie bekannt: So kann der Spieler von Egoshootern ganz mit dem von ihm gespielten Charakter verschmelzen und dessen Körper durch eine virtuelle Welt steuern. Die weitgehende Immersion bewirkt eine größtmögliche Identifikation mit dem Avatar, die das Gefühl vermittelt, sich selbst zu bewegen und zu töten. Als Bildpraxis der Jugendkultur wurde die Ego-Perspektive längst auch für Actionfilme und Musikvideos übernommen. Während hier versucht wird, so weit wie möglich das Verhältnis von Realität und Fiktion zu nivellieren, lässt der Islamische Staat bei seinen Videos reale Attentate wie ein Spiel erscheinen. Es kann nur gemutmaßt werden, wie sehr hier auch der Drohnenkrieg der USA vorbildlich war. 41 Die Mitglieder der Terrororganisation werden als Einzelkämpfer dargestellt, die ähnlich wie die Avatare der Egoshooter unverwundbar und heroisch zahlreiche Gegner in sehr kurzer Zeit ausschalten. Diese Anschlussmöglichkeit wirkt attraktiv, da der Schritt aus dem Videogame in den echten Krieg durch die übereinstimmenden Sichtweisen ästhetisch quasi aufgehoben wird. Die Botschaft lautet letztlich, dass Jugendliche beim Islamischen Staat das, was sie auf dem Bildschirm täglich praktizieren und rezipieren, in der Realität umsetzen können. Der hierbei immer mitschwingende Traum vom unbesiegbaren Einzelkämpfer, der alle Gegner mit Leichtigkeit besiegt, wird in der gezielten Rezeption von Martial Arts-Filmen weitergeführt. Die schwarzen Anzüge der Kämpfer mit den Masken etwa erinnern an die japanischen Nin- 40 Ramón Reichert, Action Cams: Bilder vom Krieg, in: Pop. Kultur und Kritik, 10, 2017, S. 52. 41 Lucy Suchman, Situationsbewusstsein. Tödliche Biokonvergenz an der Grenze von Körpern und Maschinen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften, 15 ,2016, S. 18-29. <?page no="82"?> 82 Ralph-Miklas Dobler jas, deren Ruf als unbesiegbare Schattenkrieger hier instrumentalisiert wird. Andere Bilder zeigen Angehörige der Terrormiliz beim Kampfkunsttraining, das sie scheinbar sogar gegen Schusswaffen und Artillerie zu schützen vermag. Weniger diskutiert und rezipiert wird in den westlichen Medien schließlich die Verbreitung von Bildern und Texten, die ein sorgenloses Leben in Freiheit und Gemeinschaft propagieren. Diese sowie längere Ausführungen zu Religion, Glauben und dem wahren Islam finden sich vor allem in den Hochglanzmagazinen des Islamischen Staates, die im pdf-Format ebenfalls digital verbreitet werden. Sie dienen der Rekrutierung von Unterstützerinnern und Unterstützern des Terrorismus sowie zur Rechtfertigung und Erklärung. Die fast grenzenlosen Möglichkeiten der Kommunikation erlauben es der Terrororganisation auch, sich gegenüber Sympathisanten und Interessierten zu erklären und die eigene Sicht attraktiv zu vermitteln. Die Sozialen Medien ermöglichen so auch die direkte Ansprache und persönliche Interaktion mit einer virtuellen Gemeinschaft. TTe er rrroorri issmmu uss uunndd ssoozzi iaallee MMeed diieen n Der Islamische Staat nutzt die digitalen Möglichkeiten der direkten und weltweiten Kommunikation. Im Gegensatz zu bisherigen Terrororganisationen verfügt er über eine professionelle Mediengestaltung und eine perfektionierte Medienproduktion, die an westlichen Vorbildern orientiert ist und von dort ausgebildeten Handlangern betrieben wird. 42 Die Bilder und Filme, die in den digitalen Netzwerken verbreitet werden, sind wirkungsvolle Waffen, die jeden in seinem privaten Umfeld treffen können. Sie dienen folglich der Angststeuerung. Entscheidend ist, dass der digitale Terrorismus nicht mehr auf die klassischen Massenmedien als Erfüllungsgenos- 42 Aaron Y. Zelin, Picture Or It Didn’t Happen. A Snapshot of the Islamic State’s Official Media Output, in: Perspectives on Terrorism, 9, 2015, S. 85-97; Brigitte M. Nacos, Mass-Mediated Terrorism. Mainstream and Digital Media in Terrorism and Counterterrorism, Maryland 2016. <?page no="83"?> 4 Terrorismus und digitale Medien 83 sen angewiesen ist. Deren Aufgabe bleibt es zwar den Terror weiter zu verbreiten, indem die Angehörigen des IS aber insbesondere die digitalen Kanäle mit Informationen füllen, bestimmen sie selbst, was von der Öffentlichkeit gesehen und gewusst wird. Mit anderen Worten, eine seriöse journalistische Berichterstattung über die Taten des IS ist erschwert und ein Gesamtbild des digitalen Terrorismus nur schwer zu erhalten. Umgekehrt ist für den Kampf gegen den Terrorismus die Analyse des Medieneinsatzes wichtiger als eine militärische Strategie. Der internationale Terrorismus des 21. Jahrhunderts nutzt zur Verbreitung von Terror die Sozialen Medien als Verstärker. Deren vermeintlich positiven Eigenschaften - keine staatliche Kontrolle, freie Meinungsäußerung, verlustfreie Vervielfältigung, Dezentralisierung, Echtzeit, Kommunikationsfreiheit - zeigen hier ihre negative Seite. Das Problem wird mit dem militärischen Sieg über den Islamischen Staat, der im Herbst 2017 in greifbare Nähe gerückt ist, nicht gelöst sein. Die Digitalisierung hat zu einer neuen Art von Terrorismus geführt, dessen Gefährlichkeit auf das Engste mit dem technologischen Fortschritt verbunden ist. <?page no="85"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age Nicole Brandstetter <?page no="87"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age 87 OOnnccee UUppoonn aa TTiimmee …… Legends, myths, fairy tales - stories are as old as mankind. Almost everybody experienced them as a child, as parents, as friends, or simply as audience. Stories seem to be ubiquitous and their influence pervasive as they provide the backdrop for our private horizon of experience in human interaction. However, up to the turn of the 21st century, the technique of storytelling was rarely associated with business life as it was considered an unprofessional, infantile technique of persuasion as Stephen Denning explains: “The antagonism toward storytelling may have reached a peak in the twentieth century with the determined effort to reduce all knowledge to analytic propositions, and ultimately physics or mathematics.“ 1 Fearing that it could lead people back into ancient times of superstition, fables, and myths, storytelling was rejected as representation of the opposite of science, scholarship, and enlightenment. Yet, as Stephen Denning clarifies, storytelling does not replace analytical thinking but complements it as it stimulates imaginative power, reduces complexity, enhances understandability as well as remembrance, and simply entertains and motivates people since it appeals to emotions and communicative performance. 2 As business inherently consists of persuading people in various circumstances - e.g. team members, superiors, investors, and customers - it cannot abandon the possibility of utilising the strengths and merits of storytelling in the respective settings. That is why, in the last fifteen years, there has been a vivid discussion on how to implement storytelling into the diverse business 1 Stephen Denning, The Springboard. How Storytelling Ignites Action in Knowledge- Era Organizations, New York 2001, p. xv. 2 Ibid., p. xiv-xviii. The finding that emotions play a central role in persuasion traces back to Aristotle’s rhetoric, in which he defines the three modes of persuasion: ‘ethos’ as moral competence and knowledge, ‘pathos’ as emotional appeal, and ‘logos’ as the speech itself. (cf. Aristotle, On rhetoric. A theory of civic discourse, ed. by George Alexander Kennedy, New York 1991.) <?page no="88"?> 88 Nicole Brandstetter segments such as presentations, 3 marketing, 4 corporate identity, 5 leadership, and change management 6 . The 21 st century did not only mark a historic transformation in the perception of storytelling as scholars finally emphasised its importance, but with the rapid advances in digitalisation it also provoked drastic changes in the possibilities of practically implementing storytelling in business life. DDiiggiittaall SSttoorryytteelllliinngg Õ SSiieemmeennss SShhoorrtt SSttoorriieess Ô In 2007, for its 160 th anniversary, Siemens launched its first storytelling campaign ‘Siemens/ answers’ with platforms on YouTube, Facebook, and Twitter, designed to illustrate its solution competence for questions and problems of companies and individuals: “Siemens/ answers is centered around storytelling: In this multichannel ‘magazine’ approach, filmmakers, journalists and writers narrate very personal short stories about people. They’re not classical image-films. In fact, the people and their stories are 3 cf. Carmine Gallo, The Storyteller’s Secret. How TED Speakers and Inspirational Leaders Turn their Passion into Performance, London 2016. 4 cf. Petra Sammer, Storytelling. Die Zukunft von Marketing und PR, Köln 2015, p. 49-69. 5 Ibid., p. 70-89. 6 For storytelling and leadership cf. Stephen Denning, The Leader’s Guide to Storytelling. Mastering the Art and Discipline of Business Narrative, San Francisco 2011. For storytelling and change management cf. Denning, Springboard (see footnote 1). 7 This article is neither about technological possibilities of digital storytelling nor about the influence that the target group has on the creative process but the focus lies on the analysis of the given structure, the story itself as this leads to a deepened understanding of the changes that business narratives have undergone in the digital age. 8 https: / / www.youtube.com/ playlist? list=PL09A1C4B42CBCA1A8 (accessed 26.7. 2017). <?page no="89"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age 89 the center of these films.” 9 In a second release, Siemens restarted the campaign in 2011, now focusing on solutions for sustainability, as they explain in their press release. 10 Finally, ‘Siemens Short Stories’ evolved out of the first campaign with a clear mission stated in the description of the respective YouTube channel: “Renowned film directors, journalists and authors take a personal look at the lives of people benefitting from pioneering technology.” 11 The video ‘A Ferry Tale’ 12 by Hüseyin Tabak (4: 27 minutes) is about the second-hand salesman Fatih Uma living in Istanbul and crossing the Bosporus regularly on a ferry, enjoying his philosophical moments of peace. In contrast to business in general, his work ethic is characterised by minimal profit-making orientation, authenticity, communication, and relationship building. His intercultural and interpersonal competence and his strong bond to Istanbul seem to be in the centre so that the spectator is inclined to believe that he or she is watching an image film of Istanbul or of intercultural understanding. Only at the end of the video, in the last 20 seconds, the real purpose becomes evident when the following three sentences appear successively: At 4: 08 the sentence “Fatih Uma is one of the 260,000 passengers using the Istanbul ferryboats every day to cross the Bosporus” again emphasises the interpersonal and intercultural setting of the video. Then, at 4: 14, the technological benefits and sustainability are highlighted: “Their quiet diesel-electric drives enable the ferries to match energy and fuel consumption optimally in order to minimize the environmental foot- 9 http: / / brandchannel.com/ 2011/ 08/ 08/ siemens-humanizes-brand-through-story telling/ (accessed 26.7.2017). 10 https: / / www.siemens.com/ press/ pool/ de/ pressemitteilungen/ 2011/ corporate _commu nica tion/ AXX20110667d.pdf. (accessed 26.7.2017). 11 https: / / www.youtube.com/ playlist? list=PL09A1C4B42CBCA1A8 (accessed 26.7. 2017). 12 https: / / www.youtube.com/ watch? v=Je0VuAKOW8I&list=PL09A1C4B42CBC A1A8 &index =2 (accessed 26.7.2017). <?page no="90"?> 90 Nicole Brandstetter print.” Yet it is only at 4: 22 that the spectator is able to identify the real purpose of the video: “The ferries’ drives are provided by Siemens.” Taking the title ‘A Ferry Tale’ into account, which can be seen as a play on words with ‘fairy tale’ and therefore as a mise en abyme of its own technique of storytelling, it offers a wide range of speculations on interpretation right from the start. Hence, this video from the campaign ‘Siemens Short Stories’ perfectly illustrates the questions that evolve around that new form of digital storytelling: How do those stories function? Are they simply a new form of commercials? What role does digitalisation play in that process? TThhee NNaarrrraattoollooggiiccaall AApppprrooaacchh: : aa NNeeww FFoorrmm ooff GGeennuuiinneenneessss aanndd AAuutthheennttiiccii-ttyy? ? The Siemens campaign clearly refers to the tradition of narratology by using the label ‘Siemens Short Stories’, and so does the video ‘A Ferry Tale’ with its play on words in the title. Generally speaking, in narratology, the study of the narrative and the narrative structure, the story itself (what is told chronologically) is differentiated from the plot (how the story is told). Transferred to the analysis of audio-visuals, this analytic distinction works well for classical commercials, in which it is clear from the beginning that a certain story is told in a way to convince the spectator of a specific goal defined and obvious from the start. 13 However, with a video like ‘A Ferry Tale’, in-depth analysis cannot be conducted according to this distinction. 13 A good example are the videos from the previous Siemens campaign ‘Siemens/ answers’. In their video ‘A helping hand’, Murphy and Kranen show a young disabled boy receiving help from two engineers who designed a prosthesis by means of PLM software granted by Siemens. Even though the information about the specific software and Siemens’ involvement is again given only in the last 20 seconds, in this video it is clear from the beginning that it is a commercial showing in a rather humorous way with various techniques like comic or slapstick elements (plot) how the very personal situation of a young boy is improved by technology (story). https: / / www.youtube.com/ watch? v=9X-_EEIhurg&index=3&list=PLzLBWU6biUtl fFxVz7rfo4ROA_y3dMY8z (accessed 26.7.2017). <?page no="91"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age 91 From a narratological perspective, the reasons why this way of storytelling has been chosen and what role digitalisation plays need to be clarified. Roland Barthes’ model of ‘writing’ offers a structuralist approach to narratological analysis, which can be applied to fully understand and analyse digital storytelling as exemplified in ‘A Ferry Tale’. First published in 1953, ‘Writing Degree Zero’ was Barthes’ first full-length book and was intended, as Barthes writes in the introduction, as “no more than an Introduction to what a History of Writing might be.” 14 In this work, he distinguishes the concept of 'writing' from that of 'style' or 'language' in a three-dimensional setting. The horizontal axis is formed by what he calls ‘language’, functioning negatively in the manner of a horizon as an initial restricting limit of the possible, which inhibits free choice of the author: “We know that a language is a corpus of prescriptions and habits common to all the writers of a period. Which means that a language is a kind of natural ambience wholly pervading the writer's expression, yet without endowing it with form or content: it is, as it were, an abstract circle of truths, outside of which alone the solid residue of an individual logos begins to settle.” 15 Language is accompanied by style, the vertical dimension. Different to language, the style is based on every individual, although not as a result of free choice but as an invariable binding necessity: “Thus under the name of style a self-sufficient language is evolved which has its roots only in the depths of the author's personal and secret mythology, that subnature of expression where the first coition of words and things takes place, where once and for all the great verbal themes of his existence come to be installed. Whatever its sophistication, style has always something crude about it: it is a form with no clear destination, the product of a thrust, not an intention, and, as it were, a vertical and lonely dimension of thought. Its 14 Roland Barthes, Writing Zero Degree. Translated by Annette Lavers and Colin Smith, New York 1967, p. 6. 15 Ibid., p. 9. <?page no="92"?> 92 Nicole Brandstetter frame of reference is biological or biographical, not historical: it is the writer’s ‘thing’, his glory and his prison, it is his solitude.” 16 Within this framework, each author is provided with the possibility of free choice, the ‘writing’, which Barthes compares to the Aristotelian ethos and in which each author can exemplify his commitment: “A language and a style are blind forces; a mode of writing is an act of historical solidarity. A language and a style are objects; a mode of writing is a function: it is the relationship between creation and society, the literary language transformed by its social finality, form considered as a human intention and thus linked to the great crises of History.” 17 According to Barthes’ definition, ‘writing’ offers the writer the platform for social and historical consideration, which was chosen for his or her form and his or her commitment to this choice. Applied to the video ‘A Ferry Tale’, the concept of ‘language’ would refer to the set of possibilities in the digital age, the new modes of how to tell a story, not only in terms of technological feasibility but also in terms of distribution such as on websites, YouTube, or on social media platforms. The concept of ‘style’ would be the ‘biological’ settings of Siemens, its mission, how it communicates, and what it stands for: technology, innovation, professionalism. 18 Within these coordinates Siemens positions itself with its ‘writing’, i.e. its storytelling approach, within society and evokes associations such as intercultural competence, bridging borders, and sustainability. Nevertheless, these issues are not claimed ostensibly by simply stating or directly addressing them but by showing the very personal story of that salesman who rather indirectly benefits from Siemens’ technology without being aware of it. An unconscious but vital detail, Siemens’ technology enables Fatih Uma to cross the Bosporus, to live his life, and to perform his 16 Ibid., p. 10-11. 17 Ibid., p. 14. 18 The current slogan “Ingenuity for life” clearly illustrates that ‘biology’. <?page no="93"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age 93 work his way. In the digital era, in which people are offered information, advice, and opinions in endless abundance, in constructivist terms Siemens only provides the audience with individual life plans portraying varieties of the possible, in which its technology only serves as background. The spectators can establish their own associations, draw their very personal conclusions, and therefore benefit from the story on an individual level. In that respect, Siemens’ ‘writing’ offers an individual choice within digital abundance and hence creates a new form of genuineness and authenticity by refusing to present a universal answer and only alluding to individual choices. Furthermore, through its ‘writing’ Siemens enriches Simon Sinek’s ‘Golden Circle’ 19 , with which storytelling can be differentiated from classical advertisement: Commercials and advertisements start by answering the question ‘what’ in terms of presenting the product, then proceed to the answer ‘how’ before finally entering the core question ‘why’. Stories, on the other hand, first answer the core question ‘why’ before they continue with ‘how’ and ‘what’. Siemens’ ‘writing’ does not answer a universal ‘why’ but a truly individual one and thus takes an unequivocal stand in the digital age by using the whole range of options yet showing the limits and consequently refocusing on the individual. TThhee SSeemmiioottiicc AAp ppprrooaacchh: : CCr reeaatti inngg MMyytth hss If Siemens only offers individual options, how can the company reach and influence an audience of millions? To approach this question, a second analytical approach by Roland Barthes can be applied: In his work ‘Mythologies’, Barthes defines mythology, on the one hand, as part of semiology, the science of signs and values studying significations apart from their con- 19 Simon Sinek, Start with why. How great leaders inspire everyone to take action, London 2009, p. 37-51. <?page no="94"?> 94 Nicole Brandstetter tent, 20 and, on the other hand, as part of ideology “inasmuch as it is an historical science: it studies ideas-in-form.” 21 In semiology, two objects belonging to different categories, the signifier and the signified, are united by a correlation of equivalence, the sign, “which is the associative total of the first two terms.” 22 This tridimensional pattern can also be identified in myths: “But myth is a peculiar system, in that it is constructed from a semiological chain which existed before it: it is a second-order semiological system.” 23 The sign of the first system becomes the signifier in the mythological system; this is why all technical and narratological material, which constitutes the ‘sign’ in the first system, now simply serves as one signifying entity when caught in the mythical structure and thus creating its own correlation of equivalence with a ‘signified’, the ‘sign’. To avoid confusion, the ‘sign’ of the first system is called ‘meaning’ and simultaneously the ‘signifier’ in the mythological system is the ‘form’; the ‘signified ‘of the mythological structure is labelled ‘concept’ and finally the ‘sign’ is named ‘signification’. 24 If this structure is applied to the video ‘A Ferry Tale’, the ‘form’ is the fact that it is a short film produced in a particular context and for a specific tar- 20 Roland Barthes, Mythologies. Selected and translated by Annette Lavers, New York 1991, p. 110. 21 Ibid., p. 111. 22 Ibid., p. 111. To exemplify this concept, Barthes refers to Saussure’s study, in which that semiological system was applied to language: the signifier is the acoustic image existing only mentally, the signified is the concept and the sign the concrete entity which is named. 23 Ibid., p. 113. 24 Ibid., p. 115. Barthes thinks that system through by explaining the case of a cover of the magazine ‘Paris-Match’ displaying a young black soldier who is saluting, the ‘sign’ of the first system and thus, the ‘form’ of the mythological one. The ‘concept’ of Frenchness and militariness that is displayed leads to the ‘signification’, the fact that France is a great nation without discrimination even though having its colonial history. <?page no="95"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age 95 get group; it is not a mere piece of art but has a clearly defined framework of production. In correlation with the ‘concept’ that a young man who follows his dream and his conviction enjoys his life by selling used clothing, the ‘signification’ is evoked: Siemens creates intercultural understanding and empowers people to cross borders, to fulfil their dreams, and to live their personal life. Hence, this is not only an individual answer in a new way of genuineness but the creation of a myth that serves as a role model for conceptual and encompassing thinking. The myth created here can be applied regardless of whether this individual approach meets the respective individual needs. LLiieess -- ((I Inn))A Au utth heen nttiicciitty y aatt SStta akkee? ? When analysing ‘Siemens Short Stories’ as a new form of authentic myth based on individual choices but applicable universally, one final criterion has to be discussed. Any form of commercial or advertisement evokes a suspicion of lying, of not telling the truth although feigning to establish credibility, and therefore represents the opposite of authenticity. Since Saint Augustine’s definition, lying has been morally and ethically condemned as lies simulate, dissimulate, and deceive. 25 However, lying is not only a moral phenomenon but also a structural one. Hence, in a structuralist sense, lying implies, as Jochen Mecke puts it, a methodological challenge: “If successful, lying implies the covering of all its semiotic traces. Then, however, the analysis of lying is confronted with a serious epistemological problem: how is it possible to analyse an object designed to leave no trace and no sign of its own existence? ” 26 Moreover, the concept of lying depends on the prevailing culture and context, which means that in narratological and structuralist terms an aesthetic lie is possible. The con- 25 Jochen Mecke, Cultures of Lying, in: Cultures of Lying. Theories and Practice of Lying in Society, Literature, and Film, ed. by Jochen Mecke, Berlin 2007, p. 1-27, here p. 3-7. 26 Ibid., p. 8. <?page no="96"?> 96 Nicole Brandstetter cept of lying applies to fiction in a specific sense, although it has never claimed to tell the truth in view of the deliberately fictitious character of the story: “In fact, there is an understanding of lying that is specific to literature and art. Concretely, in the epoch of modernity, lying in literature corresponds to an obvious lack of authenticity.” 27 In modernity, aesthetic authenticity entails the aesthetic renewal of ‘writing’ in comparison to the respective predecessors as the literary text is “an aesthetic and stylistic unity which has to prove its individuality and originality in contrast to modern preceding or contemporary works in the literary field.” 28 In the postmodern age, authors refused to fit in this process of accelerated reinvention and celebrated a seemingly innocent return to classical storytelling by playfully applying modern aesthetic techniques, and thus establishing the conception of the aesthetic lie, namely aesthetic inauthenticity. If this concept is adopted to the analysis of stories told in commercials, the authentic performance can be attributed to classical advertisements that try to honestly convince the audience, whereas inauthenticity is exemplified in the video ‘A helping hand’: It plays with the genre of commercials by integrating humorous techniques of telling a story and thereby cheerfully disclosing that the spectator is watching a commercial, though a very hilarious one. As has been previously shown, a video like ‘A Ferry Tale’ represents a rather new form of authenticity and genuineness emerging from the discrepancy between the individual choice being displayed in the digital era characterised by endless opportunities and the mythical structure that transforms that choice into a universalistic approach. Yet it does not obey the rules of modern aesthetic authenticity as it is not seeking to renew its ‘writing’, nor is it joyfully playing with aesthetic opportunities. On the con- 27 Ibid., p. 10. 28 Nicole Brandstetter, Aesthetics of Inauthenticity in Contemporary French Literature - The Example of Marie Redonnet, in: Cultures of Lying. Theories and Practice of Lying in Society, Literature, and Film, ed. by Jochen Mecke, Berlin 2007, p. 325- 336, here p. 326-327. <?page no="97"?> 5 Stories, Myths, Lies - Business Narratives in the Digital Age 97 trary, digital business narratives, such as ‘Siemens Short Stories’, situate themselves between the poles of verifiability on the one hand, since all information is available at any time anywhere, and restriction on the other hand, as information is filtered by new gate-keepers such as social media platforms acting as news agencies. Interestingly, those business narratives mainly appear on social media platforms and thereby profit from availability, speak to new target groups, and pretend to counteract the accusation of lying, dissimulating, or influencing. Thus, the question is not about (in)authenticity anymore but about a digital era of post-authenticity, in which the conception of authenticity itself has become obsolete. OOuuttllooookk Last spring, Siemens South Africa launched an extended version of what was initiated by ‘Siemens Short Stories’: a short film called ‘Him, Her & Me’ (08: 08 minutes) to make the Siemens brand more human and more relevant specifically for the South African target group. 29 In this short film, the narrator, a fictitious figure that is Siemens itself, tells the story of Sam and Tshepi, a couple on their anniversary day, spontaneously searching for a suitable gift for the other one, thereby not being aware of the dimension to which Siemens technology affects their daily lives as the narrator secretly tells the audience in a conspiratorial way. 30 As can be seen, storytelling still evolves in the digital era, not only in terms of serving as a means of emotional bond for the audience but also with regard to the question of positioning itself with the help of the respective ‘writing’, of creating myths, and thus of evoking the matter of post-authenticity. 29 cf. South African Siemens website: https: / / www.siemens.com/ za/ en/ home.html (accessed 26.7.2017). 30 cf. https: / / www.youtube.com/ watch? v=kjNO0cm-kGM (accessed 26.7.2017). <?page no="99"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale für Personen mit Migrationshintergrund Galina Gostrer, Peter Jandok <?page no="101"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 101 Die Digitalisierung spielt für den Unterricht in allen Bildungsbereichen seit vielen Jahren eine bedeutende Rolle. So wird schon lange nicht mehr ausschließlich mit einem Lehrbuch unterrichtet, sondern digitale Medien werden systematisch genutzt: Û Durch Videos können neue Perspektiven auf einen bestimmten Vermittlungsbereich eröffnet werden; durch Internetrecherchen eignen sich Lernende Medienkompetenzen an und können häufig selbst steuern, welche Richtung und Tiefe ein Thema einnehmen soll; bei serious games steht neben der Wissensaneignung der Unterhaltungsfaktor an gleichberechtigter Stelle. Dieser Beitrag ist zweigeteilt: Im ersten einleitenden Abschnitt soll ein kurzer Überblick über das Thema Digitalisierung des Unterrichts gegeben werden. Hierbei werden die Bereiche des klassischen Unterrichts, des Blended Learnings, des mobilen Lernens und des virtuellen Klassenzimmers vorgestellt. Im zweiten Abschnitt stehen Ergebnisse aus einer Studie im Vordergrund, deren Ziel es war herauszufinden, welche spezifischen Potenziale das Lernen in einem virtuellen Klassenzimmer vor allem für Personen mit Migrationshintergrund hat. Eine Übertragung dieser Ergebnisse auf die berufliche Qualifizierung von Geflüchteten wird am Schluss des Beitrags vorgenommen. AAuussggaannggssbbeeddiinngguunnggeenn: : DDiiggiittaallee LLeerrnnffoorrmmeenn ffüürr PPeerrssoonneenn mmiitt MMiiggrraattiioonnsshhiinntteerrggrruunndd Seit 2014 wurden bis Mai 2017 über 1,5 Mio. Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) gestellt. 2 Wenn wir von einer Gesamtschutzquote von lediglich 50% ausgehen, bleiben mittelfristig 750.000 Personen, von denen ein 1 Andreas Grünewald, Digitale Medien und soziale Netzwerke im Kontext des Lernens und Lehrens von Sprachen, in: Handbuch Fremdsprachenunterricht Bd. 6., hg. von Eva Burwitz-Melzer, Tübingen 2016, S. 463-466. 2 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl. Tabellen, Diagramme, Erläuterungen. Ausgabe Mai 2017, http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Downloads/ Infothek/ Statistik/ Asy l/ aktuelle-zahlen-zu-asyl-mai-2017.html? nn=7952222 (aufgerufen am 04.08.2017). <?page no="102"?> 102 Galina Gostrer, Peter Jandok signifikanter Teil auch in die berufliche Aus-, Fort-, und Weiterbildung integriert werden kann. „Ein Blick auf vergangene Jahrzehnte …[zeigt]“, dass die Integration von Geflüchteten und MigrantInnen „nicht in vollem Umfang gelungen ist“. 3 Die Gründe hierfür sind vielfältig. So bemängelt Öztürk, dass bisherige „an Erwachsene mit Migrationshintergrund erkennbar adressierten Weiterbildungsangebote“ vor allem auf die „Kompensation von Sprach- und Bildungsdefiziten“ abzielen und dabei „die tatsächlichen Weiterbildungsinteressen und -bedarfe“ dieser Zielgruppe vernachlässigen. 4 Wie diese Bedarfe aussehen, lässt sich aufgrund der heterogenen Zusammensetzung dieser Zielgruppe schwer feststellen. Immerhin lassen sich aus der Alters- und Bildungsstruktur Rückschlüsse ableiten: Fast 60% der volljährigen Asylantragsteller aus den Top-10- Herkunftsländern in 2016 sind zwischen 18 und 29 Jahren alt. Von ihnen haben 37% entweder eine Hochschule oder die sekundäre Schulbildung von elf oder mehr Jahren erlangt. 5 Obwohl es zur digitalen Mediennutzung von Geflüchteten bislang noch keine gesicherten Erkenntnisse gibt, kann anhand dieser Daten davon ausgegangen werden, dass digitale Medien 3 Mona Granato u.a., Task Force Flüchtlinge, Wege zur Integration von jungen Geflüchteten in die berufliche Bildung - Stärken der dualen Berufsausbildung in Deutschland nutzen, Bonn 2016, https: / / www.bibb.de/ veroeffentlichungen/ de/ publication/ show/ 8033 (aufgerufen am 04.07. 2017). 4 Halit Öztürk, Migration und Erwachsenenbildung, Bielefeld 2014, S. 59. 5 Matthias Neske, Volljährige Asylantragsteller in Deutschland im Jahr 2016. Sozialstruktur, Qualifikationsniveau und Berufstätigkeit, in: Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, 2, 2017, S. 5 und 7., http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Publikationen/ Kurzanalysen/ kurzanalyse8_sozial-komponenten-gesamt2016. pdf? __blob=publicationFile (aufgerufen am 02.01. 2018). <?page no="103"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 103 nicht nur als Kommunikationssondern auch als Lerninstrument eingesetzt werden können. 6 AAssppeekktte e ddeer r DDiiggiitta alliissiieer ruunngg vvoonn UUnntteer rrriicch htt Im klassischen Präsenzunterricht zeigt sich die Digitalisierung vor allem in Gestalt von Medien, die zum Ersten die face-to-face Interaktion zwischen Lehrpersonen und Lernenden, zum Zweiten die Interaktion zwischen Lernenden und zum Dritten Selbstlernphasen ergänzen. Lern-Tutorials geben Lerninhalte in idealerweise gut aufgearbeiteter Form wieder und ermöglichen dadurch in zum Beispiel Wiederholungsphasen eine Festigung von Wissen. Fremdsprachen können in Form von E-Mail-, Facebook- oder WhatsApp-Partnerschaften zwischen Lernenden-Tandems geübt werden. Über digitale Kanäle erhält die Kommunikation eine authentische Gestalt und kann durch unmittelbare Rückmeldung und reflexive Nachbereitung zu gewünschten Lernfortschritten führen. Vokabel- und Aussprachetrainer können in Selbstlernphasen individuelle Lerninstrumente sein. Mit Blended Learning-Angeboten wird dem Bedürfnis des gemeinsamen Lernens in face-to-face Settings und orts- und zum Teil zeitunabhängigen individuellen Lernphasen entsprochen. Vor allem für weiterbildende und international ausgerichtete Zwecke scheint dieses Arrangement nutzbringend zu sein. In zum Beispiel einer Kick-off-Veranstaltung begegnen sich die Lernenden untereinander und bekommen von einem anwesenden Lehrenden einen ersten Input ins Themengebiet, eine Einführung in die zu nutzende Software und die Aufgaben, die entweder in Gruppen- oder In- 6 Ulrike Hamann, Serhat Karakayali, Mira Wallis, Leif Jannis Höfler, Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen (Qualitative Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung), Berlin 2016, S. 25, https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ filead min/ / fi les/ BSt/ Publikationen/ GrauePublikationen/ Koordinationsmodelle_und_Herausford erungen_ehrenamtlicher_Fluechtlingshilfe_in_ den_ Kommunen.pdf (aufgerufen am 02.01.2018). <?page no="104"?> 104 Galina Gostrer, Peter Jandok dividualarbeit bis zur nächsten Anwesenheitsphase zu erledigen sind. In der Abschlussveranstaltung wird häufig die Lehrveranstaltung entweder mit einer Klausur oder einer Ergebnispräsentation der „Gruppen-/ Selbstlernzeit“ abgeschlossen. Beim mobilen Lernen, bei dem Smartphones oder Tablets genutzt werden, ist neben der zeitlichen die örtliche Unabhängigkeit soweit definiert, dass sie sich während der Lernphase ändern kann: Es ist also möglich in Bewegung (Spazierengehen, S-Bahnfahren) internetabhängig zu lernen. Wenn mit einem Smartphone gelernt wird, spielt vor allem der vergleichsweise kleine Bildschirm eine wichtige Rolle und kann für manche Lernformen eine Einschränkung bedeuten. Beim virtuellen Lernen unterscheidet man zwischen der synchronen und der asynchronen Form. Bei der asynchronen Lehrform findet der Unterricht zeitunabhängig statt. Lehrende und Lernende kommunizieren zum Beispiel mittels eines Forums oder per E-Mail. Die Unterrichtsinhalte werden als Lernpakete auf einer Plattform zur Verfügung gestellt. Somit können die Lernenden ihr Lernpensum, ihre Lerngeschwindigkeit und auch ihre Lernzeiten selbstständig bestimmen. Bei der synchronen Lernform sind Lehrende und Lernende an bestimmte Unterrichtszeiten gebunden. Dadurch entfällt zwar der Vorteil der „Überwindung der Zeitschranke“, als Gewinn ist jedoch die synchrone Kommunikation zwischen den Beteiligten zu betrachten: 7 Es können „live“ Fragen gestellt und beantwortet, Diskussionen geführt und gemeinsam gelernt werden. Die Unterrichtssituation ist also der Präsenzlehre nachempfunden, jedoch befinden sich Lehrende und Lernende in einem virtuellen Raum, der sich durch verschiedene Aspekte auszeichnet. Im folgenden Abschnitt wird auf diese Aspekte des virtuellen Klassenzimmers am Beispiel der WBS Training AG eingegangen. 7 Rolf Schulmeister, eLearning: Einsichten und Aussichten, München 2006. <?page no="105"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 105 DDiiee DDaatte ennggrruunnddllaaggee uunndd iihhr r KKoon ntte exxtt Die WBS Training AG ist mit 175 Standorten im gesamten Bundesgebiet einer der größten Bildungsträger Deutschlands. Unter dem Motto „Wir bilden Sie weiter…“ werden Umschulungen, Weiterbildungen und Sprachkurse angeboten. Die Qualifizierungsmaßnahmen finden seit 2010 überwiegend in einem virtuellen Klassenzimmer mittels der Videokonferenzsoftware Adobe Connect statt. Diese bietet vielfältige Funktionen: Neben der Videobzw. Audioübertragung können sich die TeilnehmerInnen mittels Emoticons zu Wort melden, Lachen symbolisieren und um die Regulierung der Lautstärke (lauter/ leiser) sowie des Sprechbzw. Unterrichtstempos bitten (schneller/ langsamer). Darüber hinaus haben Trainer- Innen und TeilnehmerInnen die Möglichkeit, ihren Bildschirm freizugeben und miteinander ergänzend über den Chat zu kommunizieren. Auch Kleingruppenarbeit ist möglich und wird vielfach eingesetzt. Die WBS-Kurse finden in Vollzeit statt, das heißt von Montag bis Freitag zwischen 8 und 16 Uhr. Dabei läuft der Unterricht hauptsächlich als Audiokonferenz ab: Zum einen sind nicht alle TeilnehmerInnen-Rechner mit einer Kamera ausgestattet, zum anderen ist die Software mit der Videoübertragung schnell überlastet. Den Lehrenden wird freigestellt, ob sie ihre Kamera nutzen. Die TeilnehmerInnen bleiben sowohl für Lehrende als auch füreinander unsichtbar. Diese „Unsichtbarkeit“ wird als „Kanalreduzierung“ bezeichnet, denn durch den Ausfall der paralinguistischen, nonverbalen und extralinguistischen Signale liegt der Fokus ausschließlich auf der verbalen Ebene. 8 Die Kanalreduzierung verringert „die soziale Präsenz des Kommunikationspartners“. 9 Dadurch steht das virtuelle Lernen unter „einem stärkeren 8 ebd., S. 148. 9 Friedrich W. Hesse, Helmut F. Friedrich, Partizipation und Interaktion im virtuellen Seminar, Münster 2001, S. 17. <?page no="106"?> 106 Galina Gostrer, Peter Jandok informativen und geringeren normativen sozialen Einfluss“. 10 Schulmeister schreibt der Kanalreduzierung sogar die „Überwindung von Normenschranken“ zu: „Schranken, die durch soziale Probleme entstanden sind und zu normativen Einstellungen geführt haben“. 11 Zweifellos beziehen sich diese Schranken unter anderem auf Personen mit Migrationshintergrund. Daher stellt sich die Frage, ob und wie Herkunft bzw. visuelle und auditive Hinweise auf ebendiese in der Virtualität wahrgenommen werden. Um diese Fragestellung zu erforschen, wurde ein Methodenmix aus leitfadengestützten Interviews, Gruppendiskussion und Online-Umfrage angewandt. Dabei wurde in drei Zielgruppen unterschieden: TeilnehmerInnen ohne Migrationshintergrund, TeilnehmerInnen mit Migrationshintergrund sowie TrainerInnen. Das Ziel war, die Herausforderungen einer kulturell heterogenen Gruppe in einer virtuellen Lernumgebung aus verschiedenen Blickwinkeln zu eruieren. Der Schwerpunkt lag mit insgesamt acht qualitativen Interviews (Gesamtlänge 374 Minuten), einer Gruppendiskussion (Gesamtlänge 92 Minuten) und 149 UmfrageteilnehmerInnen auf der TeilnehmerInnensicht. Bevor auf die Bedeutung von Sprache und Herkunft für den Lernerfolg und die Akzeptanz der betreffenden TeilnehmerInnen eingegangen werden konnte, wurden die beiden Kriterien Virtualität und Heterogenität in Relation zu anderen relevanten Unterschieden innerhalb einer Kursgruppe gestellt sowie der Einfluss von Virtualität auf Kommunikations- und Interaktionsprozesse im WBS-Lernnetz erörtert. Das folgende Modell bildet den Rahmen für den in dem folgenden Aufsatz dargestellten Ergebnisausschnitt: 10 ebd., S. 25. 11 Ebd, S. 249. <?page no="107"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 107 Abb. 1: Herkunft als Thema (TrainerInnen-Umfrage) MMiiggrraattiioonnsshhiinntteerrggrruunndd aallss UUnntteerrsscchheeiidduunnggsskkrriitteerriiuumm Im Rahmen der Datenerhebung wurde allgemein nach der Wahrnehmung von und dem Umgang mit Unterschieden gefragt. Dadurch soll eine auf ethnische Eigenschaften reduzierte Sicht vermieden und die Interpretation von Heterogenität den InterviewpartnerInnen überlassen werden. Die befragten TeilnehmerInnen zählen folgende Kriterien auf: Vorwissen (6 Nennungen), Berufserfahrung (4 Nennungen) und Medienkompetenz (3 Nennungen) sowie das Alter (3 Nennungen). Herkunft (4) und Sprachkompetenz (3) werden erst auf konkrete Nachfrage genannt. Dabei wird der Migrationshintergrund als etwas Selbstverständliches beschrieben: „Ja, wir haben eine Frau G., die kommt ursprünglich nicht aus Deutschland. Dann haben wir eine Frau A., sie ist zwar in Deutschland geboren, hat aber ein Elternteil, das nicht aus Deutschland ist. Auch bei mir - also ich komme ja auch nicht aus Deutschland, sondern ich komme ursprünglich aus Afghanistan und anhand dessen kann man sehen, dass wir ein paar haben, die nicht wirklich deutsch sind.“ (Teilnehmer, männlich, 35, afghanisch, in Ausbildung zum Bürokaufmann) r€8f-AZ€f5f n ÎALAZ8òó-Ҁò8-LŸ Iòfò8? ŸòL€f5f n Lfò8}$„€òóò M V>^)z F)ð šlOpy^lO g+÷K÷ M MFKŸ÷ZKø÷ VZ÷׀+€Z€b: b )Kø ÷5µ z)„é÷5b÷ Ë>MM)K€^Fb€>K M zb: 5^÷5÷5 nyowpl_Ȏ >ø÷5 M ¶\[\u]tKqK‚Žl`œw^ ( K€÷ø5€Ÿ÷ @÷MMz)„é÷ZZ÷ ( ^÷€K h÷5b5F)÷KzF)ð+F) >ø÷5 M ë÷5zb: 5^b÷z xlmœO`\t‚ \yow Oqwl tb M€b f)Kz)„ KF)„ |+÷5b5FŸ)KŸ €K ø€÷ 1÷FZ€b: b M +ʟZQ µ[O˜t‚‚l\ )Kø xlOÈ`‚lO`yw? OÈ\Ž FM Ÿ5=qb÷KQ ( ^=KK÷K ë>K h>5b÷€Z z÷€KQ ( ^=KK÷K Ê) Ë>KðZ€^b÷K ðò„5÷KQ M ÚROyow_[]RlKl\_ )Kø klO_È\`K ÷„÷5 Êé÷€b5FKŸ€ŸQ ( ²€Ÿ5Fb€>Kz„€Kb÷5Ÿ5)Kø é€5ø K)5 €K h÷5+€Kø)KŸ M€b $65F)„65>+Z÷M÷K 5÷Z÷ëFKb M Ú[_ty^_[]RlKl\_ FZz é€)„b€Ÿ÷z ‡Kµ b÷5z)„÷€ø)KŸz^5€b÷5€)M tb T5)66÷K+€Zø)KŸ )Kø b)zŸ5÷Kµ Ê)KŸ <?page no="108"?> 108 Galina Gostrer, Peter Jandok Der Migrationshintergrund an sich spiele im Kontext der Weiterbildung keine Rolle. Eine Teilnehmerin aus der Weiterbildung zum/ zur PersonalreferentIn (weiblich, 54, russisch) sagt, dass von der Abstammung nur wenig gesprochen wurde, so dass sie nicht wiedergeben könne, „wer was war und woher er kam und unter welchen Umständen oder wie lange er hier lebt“. Außerdem könne sie „nicht beurteilen, […] ob das Ausländer sind, die integriert oder nicht integriert sind, ob die hier studiert haben oder nicht“. Auch in den TrainerInnen-Interviews wird kulturelle Heterogenität als selbstverständlich aufgefasst. Eine Trainerin für Englisch- und Office- Kurse erzählt, sie habe „mittlerweile in jedem Kurs Leute drin, die aus einem anderen Land stammen“. Abb. 2: Einordnung von Sprache und Herkunft in den Gesamtzusammenhang In der TrainerInnen-Umfrage bestätigen 104 von 115 Befragten, nichtmuttersprachliche TeilnehmerInnen in den Gruppen bei WBS unterrichtet zu haben bzw. aktuell zu unterrichten. Über die Herkunft wird dabei nur in den Vorstellungsrunden gesprochen oder von den TeilnehmerInnen selbst thematisiert. ^ò€Lò lLŸA&ò øý L€ò óÊ }òZfòL åø „5-뀟 Æ }ò„8 ? ëf ê p? / t t? o Io/ ΐ®^™ to/ ®? I™²™™o/ ! K/ lIÅ? Io® ™o? Å®oI²o/ ? ®®o® ? ² ΐ/ ! ™Io²l™? ! ? o/ ™ƒ •™/ l? ®o/ ? ®®o®’ <?page no="109"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 109 WWaahhr rnneehhm muunngg uunndd UUmmggaanngg mmiitt kkuullttu urreelllleenn UUnntte errsscch hiieeddeenn Auch wenn über die Herkunft selten gesprochen wird, so empfinden es viele TeilnehmerInnen als Bereicherung, sich mit MitschülerInnen mit einem anderen kulturellen Hintergrund austauschen zu können. Eine Interviewpartnerin (Teilnehmer, weiblich, 50, deutsch, in Weiterbildung zur Integrationsbegleiterin) fand es „vor allem spannend“, die Beiträge ihrer MitschülerInnen aus Kenia, Marokko und dem Kongo zu hören: „Wenn wir jetzt nur alle mit einem deutschen Hintergrund wären, hätte ich nicht so viel gelernt“. So empfindet es auch ihre kenianische Mitschülerin (Teilnehmer, weiblich, 48, in Weiterbildung zur Integrationsbegleiterin): „In Deutschland stellt sich oft die Frage: ,Wie denkt man wirklich über uns? ‘ Und ich wusste vieles, aber durch diese Gruppe ist mir einiges ans Licht gekommen, was ich so wahrscheinlich nirgendwo anders hätte erfahren können.“ Mit „uns“ meint sie Menschen mit Migrationshintergrund, wie sie an einer anderen Stelle erläutert. Dabei sei dieser Wissensaustausch ihrer Meinung nach nur aufgrund der Kanalreduzierung möglich gewesen: „Normalerweise - wäre ich in so einer Gruppe, hätte ich gar nichts gesagt, weil ich mir immer denke: Erstens interessiert’s keinen und meiner Meinung wird eh keiner glauben.“ Die Annahme, dass sich niemand für ihre Meinung interessiere, begründet sie mit der erfahrenen Abwertung aufgrund ihrer Hautfarbe: „Weil im wahren Leben passiert’s immer. Ich laufe durch Deutschland mit einer wunderschönen Farbe und das irritiert manche.“ Im virtuellen Klassenzimmer habe sie ihre Herkunft zunächst verschwiegen, denn „hätte man von vornherein“ auf ihren Migrationshintergrund schließen können, „wären viele Diskussionen anders gelaufen“. Für ihre deutsche Mitschülerin sei es gerade aufgrund der Kanalreduzierung „am Anfang irgendwie schwer“ und „völlig irritierend“ gewesen, „wie Leute so gut Deutsch reden können“: <?page no="110"?> 110 Galina Gostrer, Peter Jandok „Ich hab‘ das nicht so zusammenbekommen und die dann wirklich als Menschen mit Migrationshintergrund sehen. Ich dachte, wenn jemand so gut Deutsch spricht - das sind Fakes, das ist nicht real.“ (Teilnehmer, weiblich, deutsch, 50, in Weiterbildung zur Integrationsbegleiterin) Vor allem habe ihr die „optische Wahrnehmung“ als Orientierungshilfe gefehlt, gerade in Bezug auf die afrikanischen MitschülerInnen: „Wenn Leute aus Afrika kommen […] und dann auch noch die Sprache so gut ist […], ist es ganz seltsam, wenn dieser wichtige, visuelle Punkt einfach wegfällt.“ „Visuelle Indizien“ sind also wichtige Anhaltspunkte, um „jemanden anhand von körperlichen Indizien als Afrikaner, Asiaten oder Europäer“ zu identifizieren. 12 Fallen diese weg, müssen neue Orientierungspunkte gesucht werden. Neben Aussehen und Akzent würden sich „habituelle Merkmale, Gesten, Verhaltensweisen und Namen“ auf die Zuordnung zu bestimmten nationalen Gruppen auswirken. 13 Auch die genannte deutsche Interviewpartnerin versucht, sich dieser Mechanismen zu bedienen. Aber der Name ihrer kenianischen Mitschülerin sorgt neben den sehr guten Sprachkenntnissen für zusätzliche Verwirrung: „das könnte ja auch ein deutscher Name sein“ (Teilnehmer, weiblich, deutsch, 50, in Weiterbildung zur Integrationsbegleiterin). 14 12 Anja Frohnen, Diversity in Action - Multinationaliät in globalen Unternehmen am Beispiel Ford, Bielefeld 2005, S. 77. 13 ebd., 78. 14 Es ist anzumerken, dass sich der vorangegangene Abschnitt auf die Sichtweise von angehenden IntegrationsbegleiterInnen bezieht. Dadurch kann davon ausgegangen werden, dass die zitierten Interviewpartnerinnen durch ihren Berufswunsch besonders auf kulturelle Aspekte fokussiert sind. Eine Befragung von InterviewpartnerInnen aus anderen Schulungen wie etwa zur Sicherheits- oder Lagerfachkraft könnte andere Ergebnisse liefern. <?page no="111"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 111 Der afghanische Interviewpartner (35), der sich in Ausbildung zum Bürokaufmann befindet, empfindet ebenso wie die kenianische Interviewpartnerin die Kanalreduzierung als großen Vorteil. Auch er bezieht sich auf die eigene Erfahrung; diese beleuchtet das Thema Diskriminierung aus einer anderen Perspektive, nämlich die Vorurteile innerhalb des muslimisch geprägten Kulturkreises: Zum einen sei dort „die Stellung der Frau anders als die Stellung des Mannes“, somit würde verstärkt auf Bekleidungsregeln geachtet werden: „Und die trägt ja keine Burka, Tschador oder sonst irgendeine Klamotte“. Außerdem könnten „diese ganzen religiösen Geschichten: Schiiten und Sunniten“ eskalieren: „Und der eine sagt: Aha, das ist ein Mörder, weil der beim Militär gearbeitet hat“. Um solche Konflikte aufgrund religiöser und politischer Einstellungen zu vermeiden, sehe er im virtuellen Unterricht eine gute Möglichkeit zum Lernen: „[…] ich finde es super, wenn sowas angeboten wird, wo die Leute hingehen können und sagen können: ,So, ich bin jetzt nicht mehr Mohammed, ich heiße ab sofort Markus‘. Und dann schreibt man auch für denjenigen, wenn er es wünscht, einen anderen Namen. Das finde ich klasse. Neue Chancen.“ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass gerade Personen mit Migrationshintergrund die Kanalreduzierung positiv bewerten, während Teilnehmer- Innen ohne Migrationshintergrund visuelle Indizien vermissen, um ihre MitschülerInnen anderer Herkunft einordnen zu können. Durch den Ausfall der visuellen Reize lässt sich eine Fokussierung auf auditive Reize, in Form von Aussprache und Sprachkompetenz feststellen. So erläutert eine deutsche Teilnehmerin auf die Frage nach migrantischen TeilnehmerInnen (42, in Ausbildung zur Bürokauffrau): „Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber zwei, wo man es auch hört - Herr J. und Frau G. Es gibt ja mehrere Teilnehmer, ich habe auch jugoslawische Wurzeln, aber ich bin in Deutschland geboren. Es gibt jedenfalls zwei Teilnehmer, ich kann nicht viel über sie sagen, weil sie wenig zum Unterricht beitragen. Nur wenn die Frau G. sich meldet, sie hat ein sehr sehr <?page no="112"?> 112 Galina Gostrer, Peter Jandok schlechtes Deutsch, sehr schlecht. Und man hat Probleme, sie zu verstehen.“ Ähnlich charakterisiert auch eine andere Interviewpartnerin (Teilnehmer, weiblich, 50, Deutsche, in Weiterbildung zur Integrationsbegleiterin) ihre russischsprachigen Mitschülerinnen: „[…] die I. oder die G., ich weiß nicht mehr, wer da ganz gebrochen Deutsch gesprochen hat“. Der Migrationshintergrund rückt also aufgrund der Sprachdefizite in den Vordergrund, während andere Eigenschaften aufgrund der Kanalreduzierung nicht wahrgenommen werden können: „Die nationale Herkunft wird durch den Akzent eines Sprechers akustisch in einem omnipräsenten Zustand gehalten.“ 15 Die Sprachdefizite haben dabei auch Einfluss auf die Beziehung zu den betreffenden TeilnehmerInnen sowie die Wahrnehmung ihrer fachlichen Kompetenz: „Defizite können direkt die Kompetenz sabotieren.“ 16 FFaazziitt uunndd AAuussbblliicckk Der empirische Teil dieses Beitrags hat einen Einblick in subjektive Wahrnehmungen zu den zwei Unterscheidungskriterien kulturelle Herkunft und sprachliche Kompetenz in virtuellen Lernumgebungen gegeben. In ihnen handeln Lehrende und Lernende unter der Bedingung der Kanalreduzierung. Bezüglich der kulturellen Herkunft ist deutlich geworden, dass es Personen mit Migrationshintergrund positiv sehen, nicht mehr aufgrund phänotypischer Merkmale negativ beurteilt zu werden, wie es im Alltagsleben offensichtlich häufig passiert. Die Möglichkeit der Selbstbestimmung wird positiv bewertet. Gleichzeitig empfinden die „biodeutschen“ Befragten kulturelle Diversität jedoch als bereichernd, was durch eine Kanalreduzierung genommen wird. Der Aspekt der sprachlichen Kompetenz wird im virtuellen Klassenzimmer verstärkt, da para-, non- und extraverbale Bereiche in den Hintergrund rücken, die normalerweise zur Verständnissiche- 15 Frohnen (wie Anm. 12), S. 185. 16 Ib., S. 205. <?page no="113"?> 6 Digitalisierung des Unterrichts - Potenziale 113 rung beitragen. In diesem Zusammenhang wird die Unterschreitung eines noch näher zu bestimmenden Sprachniveaus als Hemmnis für die Gruppe, gleichzeitig aber auch als Potenzial zu unterstützendem Engagement gesehen. Bezugnehmend auf die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt mit Hilfe von virtuellen Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen sind die vorgelegten Erkenntnisse von großem Interesse; schließlich sind phänotypische Merkmale (Hautfarbe, Kopftuch, Name) gesellschaftlich bewertete Phänomene. Da die Kanalreduzierung derzeit größtenteils technisch bedingt ist, ist abzusehen, dass sie mittelfristig wegfällt. Es wird also möglich, dass sich alle Lernenden virtuell auch visuell begegnen. Bildungsanbietern und Lehrenden müssen die Vor- und Nachteile für alle Beteiligten bewusst sein. Die letztendliche Entscheidung, ob Lernende die Kamera auslassen oder anschalten, muss eine individuelle sein, um selbstbestimmt lernen zu können. <?page no="115"?> 7 „Revolución Digital“ Die Bedeutung der Sozialen Medien für den Aufstieg der spanischen Protestpartei Podemos María Begoña Prieto Peral <?page no="117"?> 7 „Revolución Digital“ 117 SSoozziiaallee MMeeddiieenn uunndd PPoolliittiikk: : BBeeeeiinnfflluusssseenn ssoozziiaallee MMeeddiieenn ppoolliittiisscchhee EEnntt-wwiicckklluunnggeenn? ? 10.06.2017. Die Süddeutsche Zeitung berichtet über das Wahldebakel von Theresa May. Ich bin froh, dass dieses Mal keine Nachrichten kommen über manipulierte Wahlzettel, Wahl-Roboter oder Versuche aus Russland, die britischen Wahlen zu manipulieren. Stattdessen gibt es Kommentare über die angeschlagene Premierministerin, Lord Buckethead und Elmo, kritische Witzfiguren im politischen Leben Großbritannien. 1 Einen Tag später kommentiert Paul Preston im Guardian: „There was no fake news, to be sure. Maybe Putin and co weren’t interested enough to intervene: but the same clear positioning streamed from mobiles and laptops. Look at Facebook, with over 56% of the voting population on board and political ads pouring in at an unprecedented rate. What did members of that giant community mostly share among themselves? News about Corbyn and May from the Independent, Guardian, Mirror and online Labour backers like the Canary and Evolve Politics.” 2 Wenn es um Wahlen geht, tolerieren Staaten zurecht keine äußeren Einflüsse. Beunruhigend sind für uns Europäer die möglichen Versuche von Hackern, Hillary Clinton zu Fall zu bringen und wie es gegen alle Prognosen eine Persönlichkeit wie Donald Trump schaffte, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Allerdings sind Versuche von Wahlmanipulation nicht neu. Die Amerikaner selbst haben zur Durchsetzung ihrer Interessen die Möglichkeit von Wahlmanipulationen andernorts erwogen. So kann man die Außenpolitik der USA nicht verstehen ohne den Begriff der Monroe Doktrin, mit der 1893 die US-Amerikaner die Intervention in lateinamerikanischen Ländern legitimierten für den Fall, dass die Interessen der USA 1 http: / / www.jetzt.de/ das-ist/ lord-buckethead-intergalaktischer-herausforderer-vontheresa-may (aufgerufen am 02.01.2018) 2 https: / / www.theguardian.com/ media/ 2017/ jun/ 11/ media-bias-no-longer-mattersgeneral-election-2017 (aufgerufen am 02.01.2018) <?page no="118"?> 118 María Begoña Prieto Peral durch die europäischen Kolonialmächte gefährdet sein würden. Es war eine Doktrin, die im 20. Jahrhundert weiter Geltung hatte im Kampf der USA gegen den Aufstieg „kommunistischer oder revolutionären“ Regierungen in Spanien, Lateinamerika oder im Nahen Osten. Heute weckt insbesondere der Einfluss sozialer Medien eine diffuse Angst vor der großen Manipulation. Sind sie wirklich so unkontrollierbar, dass sie die Grundlagen unserer Demokratie gefährden und von innen angreifen? Angst führt zur irrationalen Entscheidungen. Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, die Rolle der Sozialen Medien in unseren politischen Entscheidungen zu analysieren und zu entmythisieren. Der rasante Aufstieg von Podemos in Spanien und die intensive Präsenz der Partei in den sozialen Medien ist eine interessante Fallstudie über die Rolle der Sozialen Medien in der Politik: Beeinflussen sie demokratische Prozesse oder politische Entwicklungen? Können sie sogar Demokratisierungsprozesse auflösen? Ein zweiter wichtiger Punkt in unserer Analyse ist die Verbindung zwischen Populismus und dessen Verbreitung in Netz. Im Fall vom Podemos, einer Protestpartei mit einem klaren linkspopulistischen Hintergrund, scheint sich entsprechend der Ideologie des politischen Philosophen Laclau durch ihre Allianz mit den sozialen Medien ein Weg aufzutun für die Etablierung eines Opposition-Projekts innerhalb des Staates. Eine weitere Frage schwingt in dieser Diskussion mit: Können wir verantworten, dass politische Meinungsbildung immer stärker in den Händen von kommerziellen Anbietern ist, deren Selbstverständnis es nicht wie früher bei der Presse ist, zu informieren und Räume für den politischen Diskurs zu öffnen, sondern Meinungen als Informationsprodukt sehen, als Datenquelle zur weiteren Vermarktung? Bevor ich auf die Entstehung von Podemos eingehe, möchte ich einen Hinweis auf einige Werke geben, die sich mit den Themen Politik und Social Media in deutscher Sprache beschäftigen und auf deren empirischer Forschung und Beobachtung einige meiner Thesen basieren. „Demokrati- <?page no="119"?> 7 „Revolución Digital“ 119 sierung durch Social Media? “ ist die Veröffentlichung eines Mediensymposiums aus dem Jahr 2012, das sich mit der Frage des Demokratisierungspotenzials der Social Medial beschäftigt hat. 3 Laut Bonfadelli, einem der Herausgeber der Studie, gibt es keine „Ja-oder-Nein“-Antwort auf die Frage des Symposiums, „nicht zuletzt weil sich das Web 2.0 ein einem steten Wandel befindet, es weiterer empirischer Analysen bedarf“. So folgert der Autor, dass „von unkritischen und überzogenen Erwartungen in Bezug auf eine allein medientechnisch induzierte Demokratisierung durch Social Media Abschied genommen werden muss.“ 4 Die Rolle der Social Media und deren Wirkung auf die Veränderung von politischen Meinungen wird von Wolfgang Schneider in einem Werk vom 2017 beschrieben. Schweigers These lautet: „Wir leben in einer Zeit des Aufstiegs sozialer Medien und des Bedeutungsverlusts journalistischer Nachrichten. Das schwächt die politische Informiertheit und die Diskursfähigkeit der Bevölkerung und verstärkt die Polarisierung der Gesellschaft.“ 5 Schweiger entwirft anhand der Analyse einiger Beispiele aus der Praxis ein Wirkungsmodell zur Information und Meinungsbildung im Netz. Das Modell werde ich später kurz vorstellen. Im Rückblick auf Barack Obamas früheren Online-Wahlkampf entwickelt Sina Kamala Kaufmann Kriterien, anhand derer sich die Internet-Strategien der deutschen Parteien 2009 untersuchen lassen. Die Autorin bietet einen grundlegenden Korpus der verschiedenen Theorien der Kommunikationswissenschaften in Bezug auf Politik und Social Media. 6 Für die Daten über die Aktivitäten von Podemos in Netz habe ich mich seit Januar dieses Jahres über Facebook, Twitter, Telegram, Whatsapp, Twitter Counter und Google Trends informiert. 3 Demokratisierung durch Social Media? , hg. von Kurt Imhof, Roger Blum, Heinz, Bonfadelli, Ortfried Jarren, Vinzenz Wyss, Wiesbaden, 2012. 4 Ib., S. 12 5 Wolfgang Schweiger, Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern, Wiesbaden 2017, S. 9. 6 Sina Kamala Kaufmann, Politik im Web. Zwischen Wahlkampf und Netzpolitik (Forum Junge Politikwissenschaft, Bd. 27), Bonn 2010. <?page no="120"?> 120 María Begoña Prieto Peral IInn wweel lcchheem m KKoonntteexxtt eennttssttaanndd PPooddeemmooss? ? Die Entstehung vom Podemos muss man kontextuell im Rahmen der Protestbewegung begreifen, die ab Mai 2011 auf den Straßen und Plätzen Spanien ihre Wut gegen die Regierungspartei artikulierte. Die Wirtschaftskrise wütete in Spanien. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 25 %. Mehr als die Hälfte der Gruppe der 20bis 30-Jährigen fand keine Arbeit, viele gingen erzwungenermaßen nach Deutschland, Großbritannien und in die USA, um Arbeit zu finden. Die Regierung reagierte mit auf die Wirtschaftskrise mit Kürzungen bei der Bildung und im sozialen und gesellschaftlichen Bereich. Aber diese Krise ist mehr als eine Wirtschaftskrise. Raul Zelik schreibt in seinem Buch Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien über die Krise: „Sie hat längst nicht nur mit Arbeitslosigkeit, Zwangsräumungen zu tun. Weitgehend unbemerkt hat sich das Land an den Rand einer großen Staats- und Verfassungskrise manövriert. (…) Die Krise hat auch eine historische, eine nationale Dimension. Der spanische Staat leidet unter einem Demokratiedefizit und unter den ungelösten Konflikten mit den anderen Nationen im Staat: den Katalan/ innen, Bask/ innen und Galicier/ innen.“ 7 Nach etlichen Jahren Überfluss, Bauboom, schnellem Wachstum und der Euphorie von Fußball-Europa- und Weltmeisterschaft in den späten Neunzigerjahren und Anfang der Zweitausender Jahre setzt die Immobilienkrise und später die Wirtschaftskrise dem schnellen Wachstum ein abruptes Ende. Als Reaktion setzt die Regierung auf Kürzungen vor allem im sozialen Bereich und trifft die Schwächsten in der Bevölkerung. Korruptionsskandale häufen sich und in der breiten Bevölkerung wächst ein Gefühl der Lähmung, der Untätigkeit. Die Folge ist auch ein Kulturpessimismus, der sich wiederspiegelt in literarischen Werken, die in den ersten 13 Jahren der Zweitausender entstanden sind. Ein düsteres und depressives Bild einer Nation wird gezeichnet, die ihre besten Leute in das Ausland schickt, deren Dörfer sterben und deren 7 Raul Zelik, Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien, Berlin 2015, S. 10. <?page no="121"?> 7 „Revolución Digital“ 121 korrupte Politiker nur an das eigene Weiterkommen denken. Autoren wie Antonio Muñoz Molina oder Sergio del Molino schreiben Titel wie Alles was einmal solide war, Eine Reise durch ein Land, was nie war und formulieren eine „geistige“ Depression, die von vielen geteilt wird: 8 dass Spaniens Boom der neunziger Jahre eine Blase war in vielfacher Dimension, in der Wirtschaft, in der Politik, im sozialen und kulturellen Bereich. Sogar der Gründungsmythos der 1975 entstandenen spanischen Demokratie wird in Frage gestellt. Dieser Mythos erfährt eine schwere Erschütterung, als im Jahr 2008 die Immobilienblase platzt. 9 Der Hilferuf von Autoren wie Enric Juliana, der nach Austerität, Besonnenheit und nach einem „grünen Ritter“ erasmianischer Prägung ruft, einer Figur in „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes, ist nichts anderes als eine brutale Kritik an einem bestimmten „spanischen Weg“ seit der Gegenreformation. 10 Er ist ein Appell, ein neues Land zu bilden, in dem Bescheidenheit, Belesenheit, Aufklärung, gutes Regieren, Konfliktfähigkeit und Solidarität bestimmend sind statt Korruption, Individualismus, Konsum und Streit. Anders als bisherige Krisen, wie 1898 beim Verlust Cubas als letzter Kolonie des spanischen Imperiums, die eine breite Gruppe von Denkern und Intellektuellen in Spanien hervorgebracht (La generación del 98), hat diese neue spanische Krise eine große internationale Projektion. Auch wenn sich die Lebensrealitäten und Probleme in Griechenland, USA (Occupy-Bewegung) und Nordafrika (Arabischer Frühling) unterscheiden, lieferten diese eine wichtige Vorlage für die spanische Bewegung, die nach ihrem Beginn am 15. Mai auch als 15M bezeichnet wird. Ein weiterer Einfluss ist Stéphane Hessels Traktat Empört Euch! . 11 Der Sohn des Schriftstellers Franz Hessel wurde 1917 in Berlin geboren. 1924 8 Muñoz Molina, Antonio, Todo lo que era sólido, Barcelona 2013; Sergio del Molino, La España vacía. Viaje por un país que nunca fue, Madrid 2016. 9 Zelik (wie Anm. 7), S. 10. 10 Enric Juliana, Modesta España. Paisaje después de la austeridad, Barcelona 2012. 11 Stéphane Hessel, Empört Euch! , Berlin 2011. <?page no="122"?> 122 María Begoña Prieto Peral wanderte er mit seiner Familie nach Frankreich aus und wurde französischer Staatsbürger. Hessel beteiligte sich aktiv an der Resistance gegen die Nationalsozialisten und setzte sich nach dem Krieg stark für die Menschenrechte ein. Nach seiner Pensionierung lebte Hessel in Spanien und war mit José Luis Sampedro befreundet, einem spanischen Schriftsteller und Ökonom, der Initiator von Democracia Real Ya, dem Kern der ‚Empörten Bewegung’ war. Neben der internationalen Projektion der Krise und der Artikulation des Protests zählt auch deren mediale Verbreitung zum Instrumentarium des politischen Kampfes. Die spanischen Empörten wollen nicht nur klagen, sondern sie wollten gesehen werden. Der Frühling des 15. Mai war eine medial wirksame Besetzung des öffentlichen Raums, der Plätze, die sonst den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens der Spanier abgeben, an dem sie sich treffen in ihrem alltäglichen Leben. Dort wurde die Wut der Empörung sichtbar gemacht über Facebook und YouTube. Das Video Spanish Revolution zeigt dies beispielhaft. 12 Es ist ein einfaches Video, mit Nahaufnahmen freundlicher und entschlossener Gesichter junger und alter Frauen, Männer, Leuten wie du und ich. Sie schauen die Betrachter an, sprechen mit einfachen Worten, demonstrieren durch ihre schiere Präsenz. Sie sind die Opfer der Krise. Jeder Spanierin kennt sie, kennt jemanden, der von der Krise getroffen ist. Die Krise sind wir. Und wir sind es, die jetzt eine friedliche, gewaltlose Revolution voranbringen. Hinter dem Video und der Massenmobilisierung des 15. Mai steckt ¡Democracia Real Ya! (spanisch: Echte Demokratie jetzt! ), eine Graswurzelbewegung, die als Initiatorin der Proteste in Spanien 2011/ 2012 fungierte. ! Democracia Real Ya! sieht sich als soziale Bewegung, überparteilich, nicht gewerkschaftlich, friedlich, unideologisch, aber nicht apolitisch. Sie definiert und vertritt die Interessen von drei Gruppen, die von der Wirtschaftskrise stark betroffen waren: Arbeitslose, Menschen, die ihre Wohnungen verlo- 12 https: / / www.youtube.com/ watch? v=HSS7J3lhRWA (aufgerufen am 02.01.2018). <?page no="123"?> 7 „Revolución Digital“ 123 ren hatten (Deshauciados), weil sie nicht in der Lage waren, die Hypothek zu zahlen und Jugendliche, die sich in prekären Bildungs- und Arbeitssituationen befanden. 13 LLiinnkkssppooppuulliissmmuuss uunndd ddiiee ddiiggiittaallee IInnffoorrmmaattiioonnssggeesseellllsscchhaafftt In diesem Kontext fragiler politischer, sozialer und wirtschaftlicher Bedingungen entwickelt sich ein Artikulationsprozess der historisch angeschlagenen spanischen Linke, die bisher ratlos sehen musste, wie Wahl für Wahl ihre Anhängerschaft abnahm. Mit der Gründung gab Podemos der Linken in Spanien eine neue Stimme mit einem neuen Diskurs, der sich stark vom marxistischen Gedankengut der spanischen kommunistischen Partei und ihrer Nachfolgerorganisation, Izquierda Unida (spanisch für Vereinigte Linke) unterschied. Den Gründern von Podemos war sehr bewusst, dass sich die Menschen der „Empörten Bewegung“ nicht mit den alten Parolen der Linke mobilisieren ließen. Sie brauchten eine neue Bewegung, die über Klassen und Generationen hinausreichte. Der Weg dahin ging über das Internet, durch Reddit, einer Internet-Plattform, über die alle Interessierten mitdiskutieren können und die maximale Partizipation ermöglichte ohne formale Mitgliedschaft. 14 Der Abschied von der marxistischen Klassenlehre war entschieden und führte zur heftigen Kämpfen in der Führungsriege von Izquierda Unida. Der alte Diskurs wird durch die Theorie des linken Populismus, vor allem in den Gedanken des politischen Philosophen Ernesto Laclau, ersetzt, mit denen er einen großen Einfluss auf die Gründer von Podemos hatte. Bei der Gründung von Podemos sind drei Akteure wesentlich: die Organisation Izquierda Anticapitalista, die ProfessorInnen Gruppe der Universidad Complutense de Madrid und als einer von ihnen, die Figur von Pablo Iglesias. Diese Protagonisten vertreten drei Richtungen in der Partei: Izquierda 13 http: / / www.democraciarealya.es/ (aufgerufen am 02.01.2018). 14 Zelik (wie Anm. 7), S. 148. <?page no="124"?> 124 María Begoña Prieto Peral Anticapitalista steht für den marxistischen Flügel der Partei. Bei der Gruppe der ProfessorInnen der Madrider Universität Complutense handelt sich um Juan Carlos Monedero, Carolina Bencasa, Luis Alegre und Pablo Iglesias. Juan Carlos Monedero, der in Heidelberg bei Klaus von Beyme über die „Gründe der Auflösung der DDR“ promoviert, vertritt die These, dass die „Transición“, die in der europäischen Öffentlichkeit als Erfolgsmodell gesehen wird, nichts anders war als ein Versuch, die Kontinuität franquistischer Machteliten im Staatsapparat zu sichern durch eine fehlende Aufarbeitung der Diktatur. „Die zentrale These darin lautet, traditionelle Machteliten hätten seit dem 19. Jahrhundert sämtliche Demokratisierungsversuche abgewehrt und Spanien werde von einem oligarchischen Regime regiert, das nur deshalb seit über 100 Jahren in zwei Regierungsparteien aufgeteilt sei, um den demokratischen Schein zu wahren.“ 15 Iñigo Errejón promovierte, genauso wie Pablo Iglesias, bei Heriberto Cairo Carou, Dekan der Fakultät für Politikwissenschaften, über den Kampf um die Hegemonie während der ersten MAS-Regierung in Bolivien (2006-2009). In seiner Dissertation beschäftigt er sich gründlich mit der Hegemonietheorie des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci und steht für „einen tendenziell apolitischen Diskurs, der sowohl von Linken wie von Rechten bejaht werden kann“. 16 Pablo Iglesias, verbindet diese Diskurse schließlich in Podemos. Er hat ebenfalls an der Madrider Universität Complutense als Vertretungsprofessor unterrichtet, pflegte gute Kontakte mit Izquierda Unida und gründete mit 32 Jahren das Fernsehprogramm La Tuerka, das zuerst auf lokalen Sendern und dann im Internet ausgestrahlt wird. Für Iglesias sind Medien der richtige Platz, um Politik zu machen: „Doing politics for real is doing politics inside TV sets an in the newspapers”. 17 15 Zelik (wie Anm. 7), S. 13. 16 Ib. S. 128 17 Diego Torres, Inside the Podemos ‘electoral war machine’, 6.5.2016, www.politico.eu/ article/ inside-the-podemos-electoral-war-machine-inigo-errejonpablo-iglesias/ (aufgerufen am 02.01.2018). <?page no="125"?> 7 „Revolución Digital“ 125 Die Debatten, die in der La Tuerka ausgestrahlt werden, verschaffen Iglesias eine große Popularität und beleben mit Qualität der einseitigen regierungsnahen Medienlandschaft. Sie bieten einen Raum für die Sprache eines neuen politischen Diskurses, der nun erkennbar geprägt ist von dem politischen Philosophen Ernesto Laclau und der ideologische Unterbau der neuen Partei wird. Gemeinsam mit Chantal Mouffe, seiner Ehefrau, veröffentlichte Laclau 1985 sein wichtigstes Werk, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 18 Laclau und Mouffe entwickeln die Hegemonietheorie Antonio Gramscis weiter und formulieren die Vision eines Projektes der radikalen und pluralen Demokratie. Eine ausgezeichnete Beschreibung des Denkens beider Autoren und deren Auswirkungen auf die politische Strategie von Podemos bietet Raul Zelik in seinem Buch Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien. Laut Zelik übernehmen Laclau und Mouffe von der Psychoanalyse Jacques Lacans die Annahme, dass menschliche Subjektivität vom Begehren (Emotionen) bestimmt wird. Diese Annahme wird auf das politische Handeln übertragen: Emotionen und nicht Klassenunterschiede führen zum politischen Handeln. Von der strukturalistischen Linguistik übernehmen sie die Vorstellung, dass Konzepte und Begriffe nur durch Antagonismen und Differenz entstehen. Das Volk bildet in der Sprache seine Existenz in der Unterscheidung zum ‚Nicht-Volk’, nämlich den herrschenden Eliten. In ihrer Interpretation der Gramscianischen Hegemonietheorie glauben Laclau und Moufle, „dass eine einzelne Forderung oder ein einziger Akteur weitere Bedeutungen in sich aufnehmen kann. Hegemonie bedeutet, dass ein Akteur beginne, viele andere Akteure zu repräsentieren, und dies geschehe in Verbindung mit einem Symbol, einer Person oder einer Formel, die als ‚leerer Signifikant‘ unbestimmt genug sind, unterschiedliche soziale Kräfte verbinden zu können.“ 19 18 Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, hg. v. Michael Hintz und Gerd Vorwallner, Berlin 2016. 19 Zelik (wie Anm. 7), S . 141 <?page no="126"?> 126 María Begoña Prieto Peral Politisches Handeln und Veränderungen kann man laut Laclau und Mouffe bilden durch die Entstehung eines politischen Akteurs. Bei Podemos konzentriert sich diese Bildung auf die Identifikation eines Feindes, auf einen Begriff, der die Differenz zum Volk herstellen kann: die ‚Kaste’. „Trotz der enormen Unzufriedenheit und dem durch die Krise erzeugten Legitimationsdefizit war es im spanischen Kontext nicht einfach, ein neues ‚Wir‘ wir zu schaffen. Eine neue inkludierende nationale und populäre Identität konnte nicht auf dem antifaschistischen Republikanismus gründen, der die Erinnerung an Niederlagen und Spaltungen aufrief. Das Vaterland war auch kein geeigneter Bezug, da es die reaktionäre Konnotation der Diktatur besaß und an den Konsens der ‚Transición‘ appellierte, gegen den sich das Aufbegehren ja gerade richtete. Außerdem ist Spanien von einer sensiblen plurinationalen Realität geprägt.“ 20 Die Verbindung zwischen der populistischen Theorie Laclaus und deren Darstellung über die sozialen Medien schaffen ein perfektes Instrument der politischen Mobilisierung. Im Gegensatz zur den Fernsehdebatten in La Tuerka, die eine Argumentation, Debatten und rhetorische Fähigkeiten erforderten, stellten die neue Medien eine niederschwellige Bühne zur Darstellung des politischen Diskurses dar. Dieser Weg zeigte erste Erfolge, als die Podemos 2014 nur vier Monate nach ihrer Gründung für das Europaparlament kandidierte. Mit 7,97 % der Stimmen erreichte sie fünf der insgesamt 54 Parlamentssitze und damit das viertbeste Stimmenergebnis der Parteien in Spanien. Das Ergebnis wurde medial auf Twitter und Facebook gefeiert. 48 Stunden nach der Wahl hatte Podemos 194.000 Follower auf Twitter und 380.000 auf Facebook. Das Profil @ahorapodemos hatte in 2014 141.000 Follower. 21 20 Zitat von Cesar Rendueles und Jorge Sola, in: Zelik (wie Anm. 7), S. 144 21 https: / / politica.elpais.com/ politica/ 2014/ 05/ 28/ actualidad/ 1401305050_ 166293.html (aufgerufen am 03.01.2018). <?page no="127"?> 7 „Revolución Digital“ 127 Die Netzstrategie wurde von einem 15-köpfigen Team entwickelt, das aus Studierenden bestand. Sie basierte auf einer multiplen Präsenz auf verschiedenen Kanälen: der offiziellen Webseite der Partei, von dort verzweigend in verschiedene Kommunikationskanäle, Plaza Podemos (eine Plattform basierend auf Reddit, mit einem Social-Bookmarking-Aggregator für Nachrichten, Berichte usw.), Appgree, Facebook, Twitter, YouTube und Telegram. In der Analyse der Inhalte, besonders der Facebookgruppen von Podemos, Grupos de Difusión de Podemos, sehen wir eine vereinfachte Form der Thematisierung politischer Diskurse durch eine einfache, dualistische Sprache mit wenig Austausch unter den Mitgliedern. Die Informationen werden weiter geliked und geleitet, aber selten inhaltlich vertieft. Inwieweit diese vereinfache Form der Darstellung Einfluss auf die politische Meinungsbildung oder sogar Radikalisierungseffekte bei Mitgliedern der Gruppe hat, kann man ohne eine fundierte wissenschaftliche Arbeit nicht sagen. Sicher ist aber, dass die sozialen Netzte keine Orte eines aufgeklärten und aufklärenden Austauschs politischer Meinungen sind, geschweige denn des individuellen politischen Handels sind. Trotzdem erweist sich die Strategie als sehr effektiv und verschafft der Partei den Zugang zum zentralen Ort des politischen Handelns, dem Parlament. Die Kaste Die „Ciudadanìa“ Lügen Anständigkeit Korruption politische Alternative Fäulnis Futur Feigheit Hoffnung Faschismus solidarische Gesellschaft <?page no="128"?> 128 María Begoña Prieto Peral Ignoranz Aufklärung Verrat Gemeinwohl Machismo Gleichberechtigung Quelle: BPP DDiiee ppoolliittiisscchhee BBllaassee Laut Wolfgang Schweiger kann durch geringes Wissen und geringe Medienkompetenz eine Filterblase in sozialen Medien entstehen und die Polarisierung der politischen Milieus verstärken. Man hätte dann im Fall von Podemos ein klares Beispiel einer solchen Filterblase, da in den Foren kaum Austausch über die jeweils eigene Meinung hinweg stattfindet. 22 Im Fall der Mitglieder und Wähler von Podemos lässt sich diese Annahme aber nicht bestätigen. Die Medienkompetenz dieser Menschen war und ist sehr groß. Nach einer Umfrage des Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS) sind die meisten Wähler von Podemos jung, gebildet und medienversiert. 23 Meine Theorie ist daher, dass die Polarisierung durch die Medien verstärkt, aber nicht erzeugt wird und bewusst als politische Waffe gegen andere Parteien eingesetzt wird. Der Linkpopulismus schafft durch die Anwendung von Mechanismen des Medienmarktes mit Hilfe von Google, Twitter und Facebook den Zutritt zu den politischen Bühnen Europas. FFaazziitt Die digitalen Medien haben mit Sicherheit in Spanien den Aufstieg von Podemos begünstigt und beschleunigt, aber nicht verursacht. In Verbindung mit einer populistischen Ideologie verstärken sie als politisches Mittel gezielt die Radikalisierung und Mobilisierung der politischen Gruppen und Akteure im virtuellen Raum. 22 Schweiger (wie Anm. 5), S. 160. 23 https: / / politica.elpais.com/ politica/ 2016/ 06/ 10/ actualidad/ 1465551355_ 015462.html (aufgerufen am 03.01.2018). <?page no="129"?> 7 „Revolución Digital“ 129 Soziale Medien schaffen keinen Raum für Diskussion und Austausch zwischen verschiedenen Lagern. Politische Ideen werden als ‚Konsumgüter‘ angeboten, die liked oder disliked werden können. Im Fall vom Podemos ist durch den Einzug in das europäische und spanische Parlament die Möglichkeit zu konkreterer Politikgestaltung eingetreten. <?page no="131"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt - Warum wir handyfreie Zonen brauchen. Von digitalen Risiken und Nebenwirkungen - und heilsamen Zeitinseln Anne Brunner <?page no="133"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 133 WWeerr sstte elllltt eennddlliicchh wwiieed deerr aabb? ? „Wer stellt endlich das Internet wieder ab? “ So sind erste protestierende Stimmen zu hören. Von denen, die sich nach Ruhe sehnen, Konzentration suchen und einen klaren Kopf brauchen. Kein Wunder: Aufenthalte in Klöstern sind gefragt, Schweigeexerzitien sind beliebt, auch bei Spitzenmanagern und Führungskräften. Ja, wir leben in einer digitalen Revolution. Hat uns irgendjemand gefragt, ob wir die überhaupt wollen? Abstimmen konnten wir darüber jedenfalls nicht. Sie ist über unsere Köpfe hinweg gerollt - und einfach so passiert. Zu den großen, wichtigen Weichenstellungen der Menschheitsgeschichte werden wir offenbar nicht befragt; demokratische Wahlen finden woanders statt. Technische Tüfteleien und Patente scheinen unser Leben weit mehr zu beeinflussen, als wir anfangs ahnten. Entdeckungen und Erfindungen sind oft plötzlich da - überraschend auch für die Forscher selbst. Und dann beginnen sie ein Eigenleben, mit einer Eigendynamik, die niemand vorhersehen konnte. Das zeigt, dass sie offenbar von großem Nutzen sind. Solche Erfolgsgeschichten gab es mit der Erfindung des Telefons, Autos, Radios - und nun auch mit der Digitalisierung. WWoohhi inn ggeehht t ddiiee RReei issee? ? Wir befinden uns auf einer großen Reise, die die gesamte Menschheit, ja den gesamten Planeten umfasst. Niemand kennt die Richtung. Führt der Weg nach oben oder nach unten? Hier scheiden sich die Geister. Flachsinn - Ich habe Hirn, ich will hier raus, so ein aktueller Buchtitel. 1 Das Buchcover zeigt einen eilenden Manager im Anzug, der - Kopf über sein Handy gebeugt kurz davor ist, unmerklich die Straßenlaterne zu rammen. Der Autor, emeritierter Professor der Mathematik mit leitender Funktion bei einer großen Computerfirma, analysiert die negativen Folgen des permanenten Störfeuers um uns herum: „Unser Hirn suchte einst nach der 1 Gunter Dueck, Flachsinn: Ich habe Hirn, ich will hier raus, Frankfurt a.M. 2017. <?page no="134"?> 134 Wahrheit, es grübelte, forschte, suchte, diskutierte und stritt. Es gab, sagt man, noch die Geduld, neue Gedanken sacken und reifen zu lassen. Heute hat unser Hirn die Möglichkeit, alles einfach nur genießend zu konsumieren. Die Ernsthaftigkeit zur wirklichen Auseinandersetzung bleibt auf der Strecke“. 2 Auch der Mediziner und Hirnforscher Manfred Spitzer warnt vor übermäßigem Medienkonsum. In seinen Büchern wird dies mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien belegt. Digitale Demenz handelt nicht nur von einem reduzierten Gedächtnis: „Es geht vielmehr um geistige Leistungsfähigkeit, Denken, Kritikfähigkeit, um die Übersicht im „Dickicht der Informationsflut“. 3 In Cyberkrank geht es um die tiefgreifenden gesundheitlichen Folgen eines digitalen Lebens, sowohl für Körper, Geist und Seele. 4 RRiissiikkeen n uunndd NNe ebbeen nwwiirrkku unnggeen n Jede Entwicklung hat Licht und Schattenseiten. So wie Medikamente heilen können und auch mögliche Nebenwirkungen haben. Oder eine medizinische Operation Leben retten oder auch gefährden kann. Die Art und Weise, digitale Medien zu nutzen, wirkt sich auf die Gesundheit aus. Die schlechte Nachricht: Die Liste der Nebenwirkungen ist lang, und sie wird immer länger. 5 Die gute Nachricht: wir werden uns hier auf nur drei Risiken beschränken. 2 Dueck (wie Anm. 1), S. 10. 3 Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München 2014, S. 18. 4 Manfred Spitzer, Cyberkrank. Wie das digitale Leben unsere Gesundheit ruiniert, München 2017. 5 Manfred Spitzer, Smart Sheriffs gegen Smombies, in: Nervenheilkunde, 35, 2016, S. 95-102, S. 96. ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="135"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 135 1 1.. SSiittz zeen n „Sitzen ist das neue Rauchen! “ So alarmierte ein renommiertes Managermagazin vor einigen Jahren die Businesswelt. „Kaum etwas im Berufsleben des modernen Wissensarbeiters ist so ungesund wie langes Sitzen“. 6 Auslöser für diesen Weckruf waren gesundheitswissenschaftliche Studien, die Sitzen als eigenständigen Risikofaktor neu entdeckt hatten. So konnte eine amerikanische Untersuchung zeigen, wie eng die tägliche Sitzdauer mit der Lebenszeit zusammenhängt: Frauen, die über 6 Stunden saßen, starben um 40% häufiger als diejenigen, die weniger als 3 Stunden hockten. Bei Männern war das entsprechende Risiko um 20% erhöht. Kam Bewegungsmangel hinzu, war das Sterberisiko noch höher: bei Frauen 94% und bei Männern fast 50%. Sitzen wurde damit als unabhängiger Risikofaktor bestätigt (Patel et al. 2010 7 ; s. Abb. 3 a & b). Eine große australische Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Fernsehkonsum. Jede Stunde, die Erwachsene vor der Mattscheibe hingen, erhöhte ihr Sterberisiko durch allgemeine Ursachen um 11%. Das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben, war noch höher (18%). Verglich man zwei Gruppen mit unterschiedlichem Fernsehkonsum miteinander - täglich weniger als zwei versus mindestens vier Stunden - war das Sterberisiko der Vielseher deutlich höher: 46% durch allgemeine Ursachen und 80% durch Herz-Kreislaufkrankheiten (Dunstan et al. 2010 8 ; s. Abb. 4). 6 Nolifer Merchant, Sitzen ist das neue Rauchen, in: Harvard Business Manager, 02/ 2013 (harvardbusinessmanager.de/ blogs/ a-883994.html). 7 Patel A.V., Bernstein L., Deka A., Feigelson H.S., Campbell P.T., Gapstur S.M., Colditz G.A., Thun M.J., Leisure time spent sitting in relation to total mortality in a prospective cohort of US adults. Am J Epidemiol. 2010 Aug 15, 172(4) 419-29. 8 Dunstan D.W., Barr E.L.M., Healy G.N., Salmon J., Shaw J.E., Balkau B., Maglinano D.J., Cameron A.J., Zimmet P.Z., Owen N., Television Viewing Time and Mortality. The Austrian Diabetes, Obesity and Lifestyle Study. Circulation 2010, 121: 384-391. <?page no="136"?> 136 Abb. 3a + b: Die tägliche Sitzdauer hängt eng mit der Lebenszeit zusammen: je länger die eine, desto kürzer die andere. Bei Frauen noch deutlicher als bei Männern (Patel et al. 2010). ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="137"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 137 Abb. 4: Eine große australische Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Fernsehkonsum (Dunstan et al. 2010). Wie lange sitzen wir an einem Tag? Da sammelt sich einiges an, wenn man ihn mental einmal durchgeht: morgens beim Frühstück und Zeitunglesen, im Auto oder im Bus, am Arbeitsplatz oder im Hörsaal, beim Mittagessen, wieder im Büro oder im Seminarraum, nachmittags beim Kaffeetrinken, bei der Fahrt nach Hause, dort wieder am Tisch beim Sichten der Post, beim Abendessen, auf der Couch vor dem TV (s. Abb. 4). Wieviel Zeit kommt da insgesamt zusammen? Das interessiert zunehmend auch Krankenversicherungen. Eine wollte es genauer wissen. In einer aktuellen Bewegungsstudie bilanziert sie für Deutschland: Das Land sitzt! 9 Und das im Schnitt 6,5 Stunden pro Tag. Fast die Hälfte hockt zwischen 5-8 Stunden, jeder Fünfte kommt sogar auf mindestens 9 Stunden. Macht es einen Unterschied, ob man einer Arbeit nachgeht und dadurch länger im Büro sitzt? Nicht unbedingt. Die zur Arbeit fahren, sitzen nur eine halbe Stunde länger als diejenigen, die zu Hause bleiben (s. Abb. 5). 7 Techniker Krankenkasse (TK): Beweg dich, Deutschland! TK-Bewegungsstudie 2016, Hamburg 2016, S. 20 (www.tk.de). <?page no="138"?> 138 Abb. 5: Wie lange sitzen wir am Tag? Da kommt einiges zusammen, wenn man ihn analysiert. Abb. 6: Eine repräsentative Umfrage in Deutschland zeigt: „Das Land sitzt! “ Und das im Schnitt 6,5 Stunden pro Tag (TK 2016). ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="139"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 139 Demnach ist in Deutschland fast jeder zweite Arbeitsplatz ein Sitzplatz. Dort wird bereits ein Drittel des Tages in Passivität verbracht. Nun könnte man meinen, dass die Freizeit nach Bewegung ruft. Muskeln, Sehnen und Augen sehnen sich jedenfalls danach, und auch die Seele. „Und trotzdem sitzen viele auch den Feierabend aus. Über 40% der Befragten geben an, dass ihr Tag meist so anstrengend ist, dass sie ihren Feierabend am liebsten auf dem Sofa verbringen“. 10 Dort wartet schon die Fernbedienung und schnell flimmert die nächste Mattscheibe. Nach dem Film noch die Emails checken und die SMS tippen. Dann noch etwas chatten und telefonieren. Zahlreiche Kanäle wollen bedient und verwaltet werden, diverse Mailboxen sind regelmäßig zu leeren und neu zu füllen. Im Schnitt werden so über drei Stunden verbracht, bei Männern mehr als bei Frauen (s. Abb. 3). Abb. 7: Nach der Arbeit geht es weiter: Auch am Feierabend wartet die Fernbedienung und schon flimmert die nächste Mattscheibe (TK 2016). 10 Techniker Krankenkasse (TK): Beweg dich, Deutschland! TK-Bewegungsstudie 2016, Hamburg 2016, S. 21 (www.tk.de). <?page no="140"?> 140 Wie wirkt sich körperliche Passivität auf die Gesundheit aus? Eine großangelegte Langzeitstudie in Süddeutschland untersuchte, welche Folgen Bewegungsmangel auf die allgemeine Fitness hat. Nach 18 Jahren Studiendauer zeigt sich nun: Bewegungsmuffel sind mit 40 Jahren so fit wie 50- Jährige, die sich regelmäßig bewegen. Mit anderen Worten: Sportlich Aktive sind motorisch rund 10 Jahre jünger als Inaktive. 11 Nach vielen gründlichen Studien bilanziert der amerikanische Mediziner James Levine radikal: Get Up! Why your chair is killing you and what you can do about it. 12 Der Stuhl als lebensgefährliches Möbelstück? Ja, wenn wir darauf einrasten und einrosten! Diese Sorgen scheinen Naturvölker nicht zu haben. Kürzlich wurde das offenbar gesündeste Volk der Welt entdeckt: es lebt abgeschieden in einem Urwald von Südamerika. Ein wichtiges Kriterium ist der Zustand der Herzgefäße. Jugendliche Gefäßwände sind klar erkennbar und elastisch. Wie sahen diese bei den Ureinwohnern aus? Das wurde vor Ort in ihren Dörfern mit moderner Medizintechnik untersucht. Die Mediziner waren erstaunt, wie gesund die Tsimane insgesamt sind, und das auch im hohen Alter. Das Ergebnis wurde in einer angesehenen medizinischen Fachzeitschrift publiziert: „By these findings, an 80-year old Tsimane possesses the ‘vascular age’ of an American individual in their mid fifties”. 13 Bezogen auf das Gefäßalter lagen also ganze 25 Jahre zwischen einem alten Tsimane und einem mittelalten Amerikaner. Was hält diese Indianer so jung und gesund? Die Forscher gehen davon aus, dass der Lebensstil eine entschei- 11 Steffen C. Schmidt; Susanne Tittlbach, Klaus Bös, Alexander Woll, A. Different Types of Physical Activity and Fitness and Health in Adults: An 18-Year Longitudinal Study, BioMed Research International, 2017, https: / / doi.org/ 10.1155/ 2017/ 1785217 (aufgerufen am 04.01.2018). 12 James Levine, Get Up! Why your chair is killing you and what you can do about it, New York 2014. 13 Hillard Kaplan et al., Coronary atherosclerosis in indigenous South American Tsimane: a cross-sectional cohort study, The Lancet, 389, 2017, (1730-39); S. 1734. ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="141"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 141 dende Rolle spielt, darunter die Ernährung und Bewegung. Ein Tag im Urwald besteht aus Jagen, Fischen, Ackerbau und Holz hacken. Täglich bewegen sich Männer etwa 6-7 Stunden, Frauen 4-6. Sitzend wird nur 10% der Tageszeit verbracht, im Gegensatz zu 54% in den USA. Ein starker Kontrast zu unserem bewegungsarmen Lebensstil. Der Körper ist darauf jedenfalls nicht vorbereitet - und dafür auch nicht konstruiert. Die Folgen summieren sich nur langsam und kommen erst später ans Licht. Dazu gehören Übergewicht und Diabetes. Krankheiten, die man eigentlich mit Erwachsenen und Senioren verbindet, betreffen zunehmend auch Kinder und Jugendliche. Moderne, digitale Kinderkrankheiten! (Abb. 8). Dazu gehört auch Kurzsichtigkeit, die häufigste Sehstörung im Jugendalter. Augenärzte konnten in einer kürzlich publizierten Übersichtsarbeit zeigen, dass diese Sehschwäche weltweit zunimmt, besonders deutlich in Asien. Risikofaktoren dafür sind mangelndes Tagesbzw. Sonnenlicht und Naharbeit. Kommt beides zusammen, steigt das Risiko bis zu 16-fach an. Die Autoren bilanzieren, dass Kinderärzte, Eltern und Schulen zusammenarbeiten sollten, um diese Risikofaktoren zu reduzieren, „insbesondere vor dem Hintergrund einer vermehrten Nutzung digitaler Medien“. 14 Ob Orthopäden bald noch vor der „jugendlichen Osteoporose“ warnen? Knochen brauchen den Widerstand der Schwerkraft: laufen, rennen, klettern, hüpfen, springen. Nur durch solche Reize können sie wachsen, sich festigen und stärken. Wichtige Weichen werden schon in den frühen Jahren gestellt. Das wissen auch Eltern in Silicon Valley: Dort boomen Waldkindergärten, Montessori-Schulen sind beliebt, Waldorf-Schulen haben lange Wartelisten. 15 Die Kinder der digitalen Pioniere sollen erst einmal natürlich aufwachsen: sich 14 Wolf A. Lagrèze, Frank Schaeffel, Preventing myopia, Deutsches Ärzteblatt, 114, 2017, 575-80; S. 575. 15 Matt Richtel, A Silicon Valley School That Doesn’t Compute, The New York Times, 23.10.2011, S. A1. <?page no="142"?> 142 austoben, mit dem Ball spielen, Seil hüpfen, die Natur erleben und: mit der Hand schreiben und Bücher lesen. Der Kontakt mit der Technologie kommt früh genug - sagen sie sich dort offenbar gelassen. Und sie wissen, wovon sie reden. Abb. 8: Übergewicht: eine moderne Kinderkrankheit, Tendenz steigend. 22.. SScchhllaaffeenn Unser Tag-Nacht-Rhythmus ist das Ergebnis einer langen Evolutionsgeschichte. Er wird von einem hochkomplexen biologischen System gesteuert, das prinzipiell allen Lebewesen gemeinsam ist. Taktgeber ist die Rotation der Erde, gefolgt von der natürlichen Änderung der Lichtwellen und von Hell und Dunkel. Wie fein abgestimmt diese innere Uhr tickt, haben Naturwissenschaftler lange erforscht. Drei von ihnen haben dafür 2017 den Nobelpreis für Medizin erhalten. Wie gehen wir mit diesem Biorhythmus der Natur um? Laut einer Umfrage bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschäftigten sich fast 70 % noch in den letzten zehn Minuten vor dem Zubettgehen mit ihrem Smart- ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="143"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 143 phone. Fast zwei Drittel (60 %) legen ihr mobiles Gerät vor dem Einschlafen auf den Nachttisch und fast ein Viertel (23 %) sogar direkt in ihr Bett bzw. unter ihr Kopfkissen. Der gleiche Anteil lässt sich nachts absichtlich durch Meldungen des Smartphones wecken åÜ (Abb. 9). Abb. 9: Mit dem Handy abends ins Bett und morgens aus dem Bett Kein Wunder, dass Schlafstörungen steigen. Ein Krankheitsbild, das die Krankenversicherungen ebenfalls zunehmend interessiert. Eine aktuelle Schlafstudie kommt zu dem Schluss: „Ein großer Teil der Erwachsenen bewegt sich mit seinem Schlafpensum im Grenzbereich. Ein Viertel der Befragten schläft definitiv zu wenig. Außerdem sagt jeder Dritte über sich, er schlafe schlecht. Für die Betroffenen bedeutet das: Sie erholen sich nicht über Nacht, tanken keine neue Energie und gehen mit entsprechend gedrosselter Leistungsfähigkeit in den neuen Tag.“ åÚ Demnach klagen 1Ü Tanja Bianca Strube, Tina In-Albon, Hans-Günter Weeß: Machen Smartphones Jugendliche und junge Erwachsene schlaflos? Somnologie 2016, 20: 61-66; S. 62 åÚ Techniker Krankenkasse (TK): Schlaf gut, Deutschland! TK-Schlafstudie 2017, Hamburg 2017, S. 45 (www.tk.de)). <?page no="144"?> 144 „Flex-Beschäftigte“ über besonders schlechte Schlafqualität. å× Diese Gruppe ist unregelmäßigen Arbeitszeiten oder Schichtarbeit ausgesetzt. Die Hälfte von ihnen schläft unter 5 Stunden, leidet also an chronischem Schlafmangel åÔ . Ein anderer Gesundheitsreport meldet, dass die meisten Berufstätigen in Deutschland schlecht schlafen (80%). Das entspricht 34 Millionen Menschen. In der Altersgruppe 35-65 J( bedeutet dies seit 2010 einen Anstieg um 66%. -% Bei der Schlafqualität spielt die Schlafhygiene eine wichtige Rolle: z.B. Rituale, sich vorher zu entspannen und abzuschalten. Abschalten? Das fällt den meisten offenbar schwer: die Mehrheit schaut abends vor dem Einschlafen noch fern (> 80%). Ein Großteil sitzt auch dann noch vor dem Notebook oder Smartphone, um private Angelegenheiten zu erledigen (fast 70%). Und jeder Achte kümmert sich zu später Stunde auch noch um berufliche Themen, z.B. Emails lesen oder den nächsten Tag planen. Ist das noch ‚Feierabend’? Dieser Gesundheitsreport zeigt auch, wie sich bei Erwerbstätigen das Maß der Erreichbarkeit auswirkt: Je höher dieses ist, desto häufiger sind auch die Schlafstörungen (Abb. 10). -å Erreichbarkeit erweist sich damit wiederholt als Gesundheitsrisiko. Der Gesundheitsreport appelliert daran, das Phänomen Schlafstörungen ernster zu nehmen. Es wird bisher deutlich unterschätzt und führt zu ernsthaften gesundheitlichen Schäden. Auch der wirtschaftliche Schaden ist immens: Mitarbeiter sind übermüdet, machen Fehler und melden sich krank. „Die å× Die Techniker Krankenkasse, Schlafstudie 2017, https: / / www.tk.de/ tk/ service/ infografiken/ schlafstudie-2017/ 962776 (aufgerufen am 04.01.2018). åÔ ebd., S. 39 -% DAK Gesundheitsreport 2017, hg. v. DAK-Gesundheit, Andreas Storm, Heidelberg 2017. -å ebd., S. 93 ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="145"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 145 zunehmenden Schlafstörungen in der Bevölkerung sollten uns wachrütteln. Viele Menschen kümmern sich nachts um volle Akkus bei ihren Smartphones, aber sie können ihre eigenen Batterien nicht mehr aufladen.“ -- Abb. 10: Das Maß der Erreichbarkeit als Gesundheitsrisiko, hier bezogen auf Schlafstörungen (DAK 2017). Neue Buchtitel weisen in die gleiche Richtung: Das erschöpfte Selbst, Die erschöpfte Gesellschaft, Digitaler Burnout, Die schlaflose Gesellschaft. -á Und neu erschienen: Digitale Erschöpfung: Wie wir die Kontrolle über unser Leben wiedergewinnen. -ß -- ebd., Pressemeldung. -á Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, Frankfurt 2015; Stephan Grünewald, Die erschöpfte Gesellschaft, Freiburg 2015; Alexander Markowetz, Digitaler Burnout: Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist, München 2015; Hans- Günter Weeß, Die schlaflose Gesellschaft: Wege zu erholsamem Schlaf und mehr Leistungsvermögen, Stuttgart 2016. ÜÛ Markus Albers, Digitale Erschöpfung: Wie wir die Kontrolle über unser Leben wiedergewinnen, München 2017 <?page no="146"?> 146 Das beschäftigt auch Arianna Huffington, ehemalige Chefredakteurin der gleichnamigen Online-Zeitung Huffington-Post. Das Time Magazin zählte sie zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt, und auch zu den 40 einflussreichsten Köpfen der Technikwelt. In ihrem jüngsten Buch fordert sie eine Schlaf-Revolution, die das persönliche Leben umkrempelt, und damit auch die Gesellschaft. Und sie weiß, wovon sie spricht. Als erfolgreiche Gründerin eines Start-Up Unternehmens kennt sie den Zustand, immer online zu sein und ständig „unter Strom“ zu leben - und das bis tief in die Nacht hinein. Dabei hat sie ihre chronische Übermüdung solange unterdrückt, bis sie eines Tages an ihrem Bürotisch auf der Chefetage kollabiert. „Ich habe selbst erlebt, welchen hohen Preis wir für unsere Schummelei gegenüber dem Schlaf bezahlen, als ich aus Erschöpfung zusammenbrach, und es tut mir weh zu sehen, dass liebe Freunde (und Fremde) das Gleiche durchmachen. -Þ Rückblickend analysiert sie, wie es dazu kommen konnte: „Da wir das Gefühl haben, dass der Tag nicht genug Stunden hat, versuchen wir, irgendwo Abstriche zu machen. Dazu bietet sich scheinbar der Schlaf besonders gut an. Tatsächlich hat der Schlaf angesichts dieser erbarmungslosen Definition von Erfolg keine Chance“. -Ü Hinzu kommt, dass soziale Medien an dem Urbedürfnis des Menschen ansetzen, sich zu vernetzen. Dadurch ist man ständig auf der Lauer, ob wieder etwas blinkt und jemand reagiert: „Selbst wenn wir gerade nicht digital verbunden sind, befinden wir uns konstant in einem Zustand erhöhter Erwartung. Und dies ist nicht gerade der Entspannung förderlich, wenn es Zeit ist zu schlafen“. -Ú Offenbar behandeln wir diese Geräte besser als unseren Körper: „Wir machen uns zwar wenig Gedanken darüber, wie wir uns betten, aber wir haben für unsere Geräte jede Menge Ruheplätze und Ruheoasen zum Aufladen in unseren Häusern. Sie gleichen kleinen Pup-Þ Arianna Huffington, Die Schlafrevolution. So ändern Sie Nacht für Nacht Ihr Leben, Kulmbach 2016, S. 25. -Ü ebd., S. 11. -Ú ebd. S. 27. ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="147"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 147 penbetten, wo die Akkus unserer Geräte sich aufladen können, auch wenn wir selbst keine Ruhe finden und unsere Batterien nicht aufladen können.“ -× Zeit, sich den Schlaf zurückzuerobern? Schlaf gut! 3 3.. SSuucchhtt Huffington, die mit einem online-Imperium viel Geld verdient hat, beklagt nun den Geist, der aus der Flasche kam. Selbst private Wohnräume und Rückzugsorte geben keine Ruhe mehr: „Unsere Häuser, unsere Schlafzimmer - sogar unsere Betten - sind mit piepsenden, vibrierenden, leuchtenden Bildschirmen übersät. Die nie endende Möglichkeit, durch bloßes Drücken eines Knopfes Kontakt aufzunehmen - zu Freunden, zu Fremden, zur ganzen Welt, zu jeder Fernsehsendung oder jedem Film, der je gedreht wurde - macht erwartungsmäßig süchtig“. -Ô Dieses Suchtverhalten betrifft nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche und Kinder. Zunehmend alarmiert sind auch Ärzte und Therapeuten. Aus dem Leben verschwunden, so der Titel einer kürzlich erschienenen Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts. á% Auf dem Titelbild sieht man einen kleinen Jungen, der allein in einem dunklen Zimmer sitzt und gebannt nach unten starrt, auf ein bläulich leuchtendes Tablet. „Digitale Medien sind allgegenwärtig und nicht mehr wegzudenken. Doch was, wenn sie das Leben dominieren, man die Kontrolle über den Umgang verliert, Kinder verhaltensauffällig werden, sie so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass Jugendliche aus dem realen Leben verschwinden? Wenn Beziehungen, Ausbildung oder Arbeitsplätze gefährdet sind? “ áå Demnach nimmt die Zahl der Internetabhängigen rasant zu, vor allem bei Jugendlichen. Dabei spielt -× ebd. -Ô ebd. á% 5əžæ œ÷Ğ£Æ+ e£™Éž£É™æ-ÄZ£ÆÂƽÉ媄 ”É¥ žÉæºÉ£ `É-É£ É£™œÍÄ–£ËÉ£+ 壄 ”É–™* áå ebd., S. 26 œÍÄɜ {ž~™É-ºæ™™+ ååß+ -%åÚ+ / ( -ÜÛ-Ô( <?page no="148"?> 148 das Verhalten der Eltern eine wichtige Rolle: „Wenn die Eltern ein dysreguliertes Internetnutzungsverhalten aufweisen, dann auch ihre Kinder.“ á- Inzwischen ist die digitale Spielsucht - Internet Gaming Disorder - als eigenständige Diagnose international anerkannt. Der aktuelle Suchtbericht der Bundesregierung hat als spezielles Kapitel die Computer- und Internetabhängigkeit aufgenommen. Diese nimmt weltweit zu, auch in Deutschland. „Die Verbreitung der Computerspiel- und Internetabhängigkeit hat sich unter 12* bis 17jährigen Jugendlichen von 2011-2015 signifikant erhöht. Bei weiblichen Jugendlichen hat sie sich fast verdoppelt“. áá Der Mediziner und Psychosomatiker Bert te Wildt hat langjährige therapeutische Erfahrung mit Medienabhängigkeit. Inzwischen leitet er die neue Ambulanz für Online-Sucht an einer Universitätsklinik. In seinem Buch Digital Junkies beschreibt er Patienten, die dort - ähnlich wie Drogensüchtige verzweifelt nach Hilfe suchen, oder deren Eltern. Einmal abhängig, kommen die Betroffenen kaum noch los: „Wir haben Patienten, die täglich bis zu 16 Stunden im Internet unterwegs sind - und das über Monate und Jahre hinweg. Die leben quasi online.“ áß Die Therapie ist in dem Fall radikal: „Wir empfehlen eine komplette Abstinenz von dem Bereich im Internet, der zu der Abhängigkeit geführt hat.“ áÞ Dieses Risiko scheint von der Gesellschaft noch ausgeblendet zu werden: „Der entscheidende Grund, warum wir einen blinden Fleck für die Abhängigkeitsgefahren haben, die vom Internet ausgehen, ist ganz einfach der, dass sich unsere Geá- ebd. áá Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2017, hg. von Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Bundesministerium für Gesundheit, S. 62, https: / / www.bun desregierung.de/ Content/ Infomaterial/ BMG/ _3085.html (aufgerufen am 04.01. 2018). áß Bert te Wildt, Interview: Wir holen Betroffene dort ab, wo die Sucht entsteht, in: áÞ ebd. ¦; ; O ¤93; ; O9 ”É–™œÍÄɜ {ž~™É-ºæ™™+ ååß+ -%åÚ+ -Ô*á%- / ( á%( <?page no="149"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 149 sellschaft kollektiv längst derartig abhängig von den digitalen Medien gemacht hat, dass uns die Einzelschicksale kaum auffallen.“ áÜ Onlinesucht hinterlässt Spuren im Gehirn. Eine jüngste neurobiologische Studie aus Süddeutschland machte Schlagzeilen: Die Wissenschaftler konnten dabei nun im Hirnscanner zuschauen. Probanden, die vorher nicht gespielt hatten („gaming-naive subjects“), sollten nun erstmals täglich eine Stunde ein bekanntes Computerspiel durchführen („training group“). Die Forscher waren überrascht: Schon nach sechs Wochen zeigten sich strukturelle Veränderungen, die bei exzessiver Spielsucht bekannt sind: die graue Nervensubstanz im Frontalhirn nahm ab. Hier schrumpfte ein Bereich, der für das menschliche Gehirn wesenstypisch ist und uns in seiner Ausprägung von Tieren unterscheidet. Dieser Hirnteil ist für typisch menschliche Fähigkeiten zuständig: mit Gefühlen umgehen, Impulse kontrollieren und Entscheidungen treffen. Die Wissenschaftler folgern daraus eine klare Evidenz für Ursache und Wirkung und „a direct association between excessive engagement in online gaming and structural deficits in the brain region“. áÚ Ob die Spielneulinge künftig ohne dieses Spiel auskommen oder bereits abhängig geworden sind? Und ob diese hirnorganischen Defizite reversibel sind? Solche Fragen werden Ethikkommissionen, die Studien genehmigen, künftig zunehmend beschäftigen. Kriterien für Abhängigkeit sind v.a. die Dosis und Kontrolle. Kann man ohne die Substanz oder das Teil noch leben und normal ‚funktionieren’? Oder ist man bereits im Netz gefangen und hat seine Freiheit verloren? áÜ Bert te Wildt, Digital Junkies: Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder, München 2016, S. 14. áÚ Feng Zhou u.a., Orbitofrontal gray matter d e fi c i t s a s m a r k e r o f I n t e r n e t g a m i n g disorder: converging evidence from a cross-sectional and prospective longitudinal de-sign, in: Addiction Biology, 2017, https: / / doi.org/ / 10.1111/ adb.12570 (aufgerufen am 04.01.2018). <?page no="150"?> 150 Das wollten Forscher von amerikanischen College-Studenten wissen. á× Als diese den Hörsaal betraten, wurden sie überrascht: Die eine Hälfte sollte ihr Smartphone abgeben, die andere Hälfte sollte es ausschalten und beiseite legen. Anschließend hatten alle eine Aufgabe still und einzeln zu bearbeiten, mit Papier und Bleistift. In bestimmten Abständen wurde ihr emotionaler Zustand gemessen. Das Ergebnis: bei beiden Gruppen erhöhte sich der Angstpegel (Abb. 11). Abb. 11: Stillarbeit ohne Handy? Da steigt die innere Unruhe und Angst (Cheever et al. 2014, Spitzer 2015). Der Grad des Anstiegs war deutlich abhängig vom Maß der Handy- Nutzung: je stärker dieses war, desto mehr stieg die Angst. Mit anderen Worten: Wer das Handy selten nutzt, kann auch gut einmal ohne auskommen. Wer das Handy ständig nutzt, verfällt bei Entzug geradezu in Panik - und wird sich kaum auf die gestellte Aufgabe konzentrieren köná× Nancy A. Cheever, Larry Rosen, Mark Carrier, Amber Chavez, Out of sight is not out of mind: The impact of restricting wireless mobile device use on anxiety levels among low, moderate and high users, in: Computers in Human Behavior, 37, 2014, S. 290-297; Manfred Spitzer, Smartphones, Angst und Stress, in: Nervenheilkunde, 34, 2015, S. 591-600. ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="151"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 151 nen. Umgekehrt konnte an anderer Stelle gezeigt werden, dass Störung und Ablenkung durch das Handy die Leistungen deutlich verschlechtert. So oder so - ein Circulus Vitiosus. Digitale Entzugserscheinungen zeigen sich u.a. in Stress und Angst. Angst wovor? Auch hierfür wurde bereits ein Fachbegriff geprägt: Die Angst, etwas zu verpassen, Fear of Missing Out (FoMO). Dieser Begriff erscheint bereits in englischen Wörterbüchern: “Anxiety that an exciting or interesting event may currently be happening elsewhere, often aroused by posts seen on social media.” áÔ Wissenschaftler haben bereits einen Fragebogen entwickelt, der dieses Phänomen eingrenzt. Darunter sind Items wie: „Ich werde ängstlich, wenn ich nicht weiß, was meine Freunde vorhaben“ oder “Auch wenn ich in Urlaub gehe, verfolge ich das, was meine Freunde so treiben, weiter”. ß% Abb. 12: Unter Freunden: Endlich angekommen - oder doch nicht? áÔ oxforddictionaries.com ß% Andrew K. Przybylski, Kou Murayama, Cody R. DeHaan, Valerie Gladwell, Motivational, emotional, and behavioral correlates of fear of missing out, in: Computers in Human Behavior, 29, 2013, S. 1841-1848; Spitzer (wie Anm. 3×), S. 594. <?page no="152"?> 152 NNiiee rriicchhttiigg aannkkoommmmeenn So entsteht das Gefühl, dass da, wo man gerade ist, nicht der rechte Ort und nicht die rechte Zeit ist. Woanders ist es vielleicht gerade besser, interessanter oder schöner. Und dann, wenn man endlich da ist, wo man vorher sein wollte? Dann ist es vielleicht auch wieder nicht richtig. Denn da draußen ist vielleicht noch mehr los. Also immer gehetzt, gejagt? Nie richtig da und angekommen? (Abb. 12). Digitale Depression ist die Folge dieser permanent vergeblichen Jagd nach Glück. Viele haben offenbar verlernt, den Augenblick zu genießen: „Was ist eine Wandertour noch wert, wenn der Ausblick nicht mit Followern und Friends geteilt wird? Was ist ein perfektes Menü, das nicht abgelichtet wurde? Was eine Party, wenn die Ausgelassenheit und Lebensfreude nicht in einem kleinen Videoclip dokumentiert wird? “ ßå So beschäftigt mit der virtuellen Welt werden selbst die schönsten Momente verpasst oder verdorben: „Statt meiner selbst entscheidet das Internet, wie bedeutsam mein Sonnenuntergangs-Moment ist. Blöd nur, dass mein Sonnenuntergang hier in Konkurrenz steht zu Tausenden anderen noch perfekter in Szene gesetzten Sonnenuntergängen. Plötzlich ist mein persönlicher Glücksmoment nur noch banal.“ ß- Beim Versuch, das Glück per Knopfdruck festzuhalten, zerrinnt es aus den Händen. IImm HHi ieer r uunndd JJeettz zt t llaannddeen n Offenbar ist es eine hohe Kunst, mit dem verlockenden Angebot der neuen Medien bewusst umzugehen. Wir befinden uns alle auf neuem, unbekanntem Terrain, das in der Menschheitsgeschichte so noch nie dagewesen ist. Der Naturmediziner Andreas Michalsen fasst es zusammen: „Mit den digitalen Medien umzugehen ist letztlich ein großes medizinisches Experiment, denn noch ist unklar, wie sie sich auf unsere Gesundheit auswirken.“ ßá ßå Sarah Diefenbach, Daniel Ullrich, Digitale Depression. Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern, München 2016, S. 18. ß- ebd., S. 20. ßá Andreas Michalsen, Mit der Natur heilen, Berlin 2017, S. 194. ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="153"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 153 Aufgabe ist es, die Medien gezielt einzusetzen, statt sich ihnen ganz auszuliefern. Ihre Chancen und Vorteile kontrolliert zu nutzen, die Schattenseiten zu kennen und die Nebenwirkungen zu minimieren. Dabei brauchen wir auch Zeiten, in denen wir im wörtlichen Sinne abschalten, ganz da und präsent sind, im Augenblick landen, im Hier und Jetzt. Auch, um den eigenen Körper wieder wahrzunehmen, ihm Entspannung und Bewegung zu gönnen. Um wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen. Um die Natur und die Jahreszeiten wieder bewusst zu erleben. Unser gesamtes Leben besteht aus solchen einzelnen Augenblicken, die sich wie eine Kette aneinanderreihen. Sie sind das Kostbarste was wir haben: unsere Lebenszeit. Wenn wir nicht aufpassen, sind sie unmerklich verschwunden, und auch die schönsten unwiederbringlich verflogen. Abb. 13: Unser Leben besteht aus Augenblicken, moment by moment. Wenn wir nicht aufpassen, sind sie unmerklich verflogen. <?page no="154"?> 154 „Wir verpassen unzählige Momente, die wir eigentlich erleben könnten, weil wir unsere Aufmerksamkeit nur teilweise auf sie gerichtet haben.“ ßß Dieser Zustand wird im Kontext der Achtsamkeit auch „Nicht-Bewusst- Sein“ genannt, eine Art Dämmerzustand, in dem der Geist halb abwesend ist. Ursache ist der „Monkey-Mind“, der im Kopf herumtobt, ihn durcheinanderbringt und zerstreut. „Die meisten Menschen haben einen sprunghaften Geist, der problemlos von Objekt zu Objekt springt. Diese Tendenz erschwert es ungemein, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum hinweg ungeteilt auf ein Objekt, zum Beispiel den Atemvorgang, zu konzentrieren. Deshalb ist es nötig, den Geist zu beruhigen und zu stabilisie ren.“ ßÞ Der amerikanische Biologe Jon Kabat-Zinn (geb. 1944) hat dazu beigetragen, „Mindfulness“ aus der asiatischen in die westliche Welt zu bringen und in eine Stressklinik zu integrieren. Das von ihm entwickelte Programm (MBSR) ist inzwischen weltweit anerkannt und fester Bestandteil der Psychosomatischen Medizin. Studien zeigen die heilsame Wirkung der Übungen, die Meditation und Yoga umfassen. Dort lernen stressgeplagte und ausgebrannte Patienten, wieder den eigenen Körper wahrzunehmen und im Augenblick anzukommen: „… um sich im heilsamen So- Sein zu üben, und mitten im Ozean des Tuns, von dem unser Leben für gewöhnlich umtost wird, eine Insel des Seins zu schaffen, einen Raum, in dem wir zulassen, dass alle Aktivitäten, auch die des Geistes, völlig zur Ruhe kommen.“ ßÜ Die wichtigste Lektion besteht darin, „vom Aktions- Modus in den Seins-Modus umzuschalten“. ßÚ Inzwischen ist Mindfulness zu einer globalen Bewegung geworden. Die Yogamatte gehört in Kalifornien fast in jeden Fahrradkorb, und ist auch in Europa immer häufiger zu sehen: im Arbeitsrucksack, in der Einkaufsßß Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung, Frankfurt a.M., 2010, S. 37. ßÞ ebd., S. 38. ßÜ ebd., S. 35. ßÚ ebd. ¦; ; O ¤93; ; O9 <?page no="155"?> 8 Ganz da im Hier und Jetzt 155 tasche oder in öffentlichen Parks. Die Vereinten Nationen haben 2015 den ersten Welt-Yoga-Tag ausgerufen, „in der Erkenntnis, dass Yoga einen ganzheitlichen Ansatz für Gesundheit und Wohlbefinden bietet“. ß× Er findet seither jährlich statt: Zu Sommerbeginn lassen sich Millionen Menschen rund um den Globus auf Matten nieder, die den grauen Asphalt in ein buntes Farbenmeer verwandeln. Und das mitten in Bangkok und Berlin, Kabul und Köln, Manhattan und München. Bilder, die dank digitaler Medien um die Welt gehen und diese verbindet. Bilder, die zeigen, wie wenig es braucht, um glücklich zu sein. „Die Welt biegt und dehnt sich“, so beschreibt DIE ZEIT die Premiere ßÔ . Eine Gegenantwort auf die getriebene, gereizte und gehetzte Umgebung? In jedem Fall eine Möglichkeit für einen sinnvollen Ausgleich. Der Psychosomatiker Wildt nennt es „analoge Selbstfürsorge“: regelmäßig Zeitinseln schaffen, um wieder zu sich zu kommen, bei sich zu sein, ohne gestört, unterbrochen und abgelenkt zu werden. Þ% So lche Zeiti ns eln s ind a uch die Ch an ce ein es Stud iu m Gen erale ei ne r Hoch schule: neben dem vielen Fachwissen auch einmal innehalten und sich mit grundsätzlichen Fragen des Lebens befassen. Z.B. über den Sinn des Lebens, Grundwerte und Ethik oder die Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen. Darunter gibt es auch Lehrangebote, die bewusst „life“ stattfinden, also volle Präsenz erfordern; z.B. zu gesunder Lebensführung, bei Bewegungsübungen oder Musikproben. Auch Meditation ist im Angebot - im Rahmen des Münchener Modells. Þå ß× Resolution A/ Res/ 69/ 131; http: / / www.un.org/ depts/ german/ gv-69/ band1/ ar69131. pdf (aufgerufen am 02.01.2018). ßÔ 21.6.2015, zeit.de Þ% Bert te Wildt, Interview: Wir holen Betroffene dort ab, wo die Sucht entsteht, in: Deutsches Ärzteblatt, 114, 2017 S. 29. Þå Andreas de Bruin, Möglichkeiten der Geistesschulung: Meditation im universitären Kontext? Das Münchener Modell, in: Zeitschrift für Bewusstseinswissenschaften, 23, 2017 S. 66-84. <?page no="156"?> 156 Abb. 14: Ein Studium Generale mit großer Auswahl: dazu gehören Lehrangebote, die „life“ stattfinden und volle Präsenz erfordern; z.B. gesunde Lebensführung, Bewegungsübungen oder Meditation. Wer bin ich? Woher komme ich, wo bin ich gerade, wohin möchte ich gehen? Das sind die großen menschlichen Fragen, die auch in einem vollgepackten Fachstudium ihren Platz haben sollten. Damit das Studium nicht nur fachliche Ausbildung ist, sondern auch umfassende Bildung und Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht. Selbst der digitale Pionier Steve Jobs hatte zwei Seelen in seiner Brust: „Ich würde alle Technologie für einen Nachmittag mit Sokrates tauschen“. Þ- Das ist ein Wort. Þ- The Classroom Of The Future. Newsweek 28. Oct 2001, ¦; ; O ¤93; ; O9 www.newsweek.com/ classroom-future-154191; abgerufen am 6.5.2018). <?page no="157"?> www.uvk.de Vom Mythos zur Wertanlage Michael Bloss Gold Vom Mythos zur Wertanlage 2., überarbeitete Auflage 2017, 164 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-823-3 Vom alten Mesopotamien vor 5.000 Jahren über die Rolle des Edelmetalls in der Kolonialzeit bis hin zum Goldstandard der Moderne - Gold ist ein großer Teil unserer Geschichte bzw. hat diese maßgeblich beeinflusst und gestaltet. Und auch noch heute spielt es eine ganz besondere Rolle. Die 2., überarbeitete Auflage des Buches bietet eine spannende und abwechslungsreiche Einführung in das Thema »Gold«. Der Autor spannt den Bogen von der Verwendung des Edelmetalls in der Geschichte, über die Förderung bzw. den Abbau, bis zu den Anlagemöglichkeiten der heutigen Zeit. Dabei kommen auch aktuelle produktions- und finanzwirtschaftliche Zusammenhänge sowie Wert- und Währungssicherungsfragen nicht zu kurz. Das Buch richtet sich an alle, die mehr über die Hintergründe des Edelmetalls und seine Anlagemöglichkeiten erfahren möchten. <?page no="158"?> Ein Sammelsurium der besonderen Art Peter P. Eckstein Das Zahlwort im Sprichwort Ein Sammelsurium der besonderen Art 2018, 172 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-845-5 Dieses Buch ist ein Sammelsurium von Sprichwörtern, die auf Zahlen und Zahlwörtern beruhen. Der Autor bietet darin eine Vielzahl von Erscheinungsbildern, die allgemein Bekanntes, Lehrreiches, Wissenswertes, Bemerkenswertes, Erstaunliches, Faszinierendes, Skurriles und mitunter auch Mystisches augenscheinlich werden lassen. Zu Beginn finden die Leser historische Notizen und sachbezogene Betrachtungen. Das zweite Kapitel umfasst einen breit gefächerten Katalog von Sprichwörtern und Redensarten, die mit Zahlen oder Zahladjektiven geschmückt sind. Während im dritten Kapitel die sogenannte poetische Zahl, die häufig in Reimen und poetischen Versen erscheint, im Zentrum der essayistischen Abhandlungen steht, liegt im Kontext des vierten Kapitels das Augenmerk auf der sogenannten magischen Zahl und schlussendlich im fünften Kapitel auf der sogenannten rätselhaften Zahl. Sie werden erstaunt sein, wie vielfältig und faszinierend ein zahlenmäßiges Erscheinungsbild in Redensarten unserer Alltagssprache ist. www.uvk.de <?page no="159"?> Der richtige Umgang mit Menschen im Beruf und Alltag Nello Gaspardo Von harten Hunden und hyperaktiven Affen Der richtige Umgang mit Menschen im Beruf und Alltag 2017, 158 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-834-9 Jeder Mensch ist einzigartig! Das ist fraglos richtig. Dessen ungeachtet finden Sie bei Ihren Mitmenschen wiederkehrende Charaktereigenschaften, mit denen Sie im Beruf und im Alltag umgehen müssen. Denken Sie nur an den harten Hund aus der Chefetage, den cleveren Fuchs aus dem Controlling oder den zappeligen, aber vor Ideen sprühenden Affen aus der Marketingabteilung. Der Kommunikations- und Verhandlungsexperte Nello Gaspardo skizziert neun solcher Typen anhand von Tierbildern. Er zeigt deren Stärken und Schwächen auf und verrät Ihnen pointiert, was Sie im Umgang mit diesen Menschen unbedingt wissen sollten und wie Sie mit diesen Typen richtig kommunizieren. Das Buch ist ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die im Beruf und im Alltag gemeinsam mit anderen Menschen schnell und harmonisch Ziele erreichen möchten. www.uvk.de <?page no="160"?> Moderne Die Epoche der Moderne wurde inzwischen durch das digitale Zeitalter abgelöst. Nun ist es an der Zeit Bilanz zu ziehen: Wie kann die Moderne in ihrer Gesamtheit dargelegt werden? Welche Errungenschaften hat sie hervorgebracht? Sind die Werte, Ziele und Normen der Moderne im digitalen Zeitalter nun obsolet? Werner Heinrichs liefert die Antworten. Er beleuchtet alle kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Aspekte der Epoche auf spannende Weise. Damit unterscheidet sich der Ansatz dieses Buches deutlich von einschlägigen Kulturgeschichten des 20. Jahrhunderts, die die Moderne nur als eine Zeit der Entwicklung der Künste und gesellschaftspolitischer Veränderungen wahrnehmen. Es beinhaltet außerdem viele originelle und spannende Zitate berühmter Persönlichkeiten. Dieses Buch richtet sich an Studierende wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge und eignet sich ebenfalls als Nachschlagewerk für Leser mit kulturellem und geschichtlichem Interesse. Werner Heinrichs Die Moderne Bilanz einer Epoche 2017, 510 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-808-0 Bilanz einer Epoche www.uvk.de