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Das Bistum Chur

Band II: Seine Geschichte von 1816/19 bis zur Gegenwart

0429
2019
978-3-7398-0624-2
978-3-8676-4868-4
UVK Verlag 
Albert Fischer

Das Bistum Chur blieb nach der Abtrennung der vorarlbergischen und tirolischen Anteile 1816 zunächst auf den neu geschaffenen Kanton Graubünden (ohne das Puschlav), Teile des Kantons St. Gallen und das Gebiet des seit 1719 bestehenden Fürstentums Liechtenstein beschränkt. 1819 kamen umfangreiche Gebiete der «Schweizer Quart» des 1821/27 untergegangenen Bistums Konstanz zum Sprengel Chur, welche der Bischof zum Teil bis heute lediglich als Administrator verwaltet. Letzte Zirkumskriptionsänderungen an den Grenzen des im 19. Jahrhundert neu gestalteten Bistums Chur nahm die römische Kurie 1997 mit der Abtrennung und Erhebung Liechtensteins zu einem Erzbistum vor. Das Bistum Chur umfasst heute ein Territorium von 12'272 Quadratkilometern mit drei Bistumsregionen (Graubünden, Urschweiz, Zürich-Glarus) und ist wie die anderen fünf Schweizer Diözesen direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt. Als Fortsetzung seines ersten Bandes zeichnet der Churer Diözesanarchivar Dr. Albert Fischer nicht nur die Entwicklungslinien seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach, sondern bietet der Leserschaft ein bis in die Gegenwart führendes reichhaltiges Bild des kirchlich-religiösen, kulturellen und institutionellen Lebens im über 1560 Jahre alten Bistum Chur.

<?page no="0"?> Das Bistum Chur blieb nach der Abtrennung der vorarlbergischen und tirolischen Anteile 1816 zunächst auf den neu geschaffenen Kanton Graubünden (ohne das Puschlav), Teile des Kantons St. Gallen und das Gebiet des seit 1719 bestehenden Fürstentums Liechtenstein beschränkt. 1819 kamen umfangreiche Gebiete der «Schweizer Quart» des 1821/ 27 untergegangenen Bistums Konstanz zum Sprengel Chur, welche der Bischof zum Teil bis heute lediglich als Administrator verwaltet. Letzte Zirkumskriptionsänderungen an den Grenzen des im 19. Jahrhundert neu gestalteten Bistums Chur nahm die römische Kurie 1997 mit der Abtrennung und Erhebung Liechtensteins zu einem Erzbistum vor. Das Bistum Chur umfasst heute ein Territorium von 12‘272 Quadratkilometern mit drei Bistumsregionen (Graubünden, Urschweiz, Zürich-Glarus) und ist wie die anderen fünf Schweizer Diözesen direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt. Als Fortsetzung seines ersten Bandes zeichnet der Churer Diözesanarchivar Dr. Albert Fischer nicht nur die Entwicklungslinien seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach, sondern bietet der Leserschaft ein bis in die Gegenwart führendes reichhaltiges Bild des kirchlich-religiösen, kulturellen und institutionellen Lebens im über 1560 Jahre alten Bistum Chur. ISBN 978-3-86764-868-4 www.uvk.de Albert Fischer Das Bistum Chur Band 2 Seine Geschichte von 1816/ 19 bis zur Gegenwart Albert Fischer Das Bistum Chur Band 2 <?page no="1"?> Albert Fischer Das Bistum Chur · Band 2 <?page no="2"?> «Kirchengeschichte ist historische Darstellung der sich entfaltenden Lebensäusserungen im Raum der Diözesan- und Ortsgeschichte sowie in ihrem gesellschaftlich-politischen wie kulturellen Umfeld.» (Karl Kardinal Lehmann) Dr. theol. Albert Fischer, geboren 1964 in Chur, ist Diözesanarchivar des Bistums Chur und seit 2009 Mitglied des Churer Domkapitels. Seit 2014 ist er Dozent für Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit und Churer Diözesangeschichte an der Theologischen Hochschule Chur. <?page no="3"?> Albert Fischer Das Bistum Chur Band 2: Seine Geschichte von 1816/ 19 bis zur Gegenwart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung - des Administrationsrates des Bistums Chur - des Churer Domkapitels - des Diözesankultusvereins - des Generalvikariates für die Kantone Zürich und Glarus Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abruf bar. ISBN 978-3-86764-868-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2019 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas Einbandmotiv Vorderseite: Wappen des Bistums Chur (aufrechter schwarzer Steinbock auf silbernem Grund); Karte des Bistums Chur seit 1997, publiziert in: Erwin Gatz (Hrsg.), Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich - Deutschsprachige Länder, Regensburg 2009, S. 311 [BAC.BA]. Einbandmotiv Rückseite: Der Gute Hirt. Motiv aus der Deckengestaltung im 2. Stock des Bischöflichen Schlosses, Stuckdekoration von 1733 des Meisters Joseph (Name und Herkunft nicht überliefert) [Foto: Hugo Hafner] Druck und Bindung: CPI · Clausen & Bosse, Leck UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="5"?> 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I Die Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Wegbereitung zur Säkularisation im Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17 2. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 als reichsrechtliche Verfügung zur Säkularisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 3. Politische Rahmenbedingungen zwischen 1798 und 1815 und Auswirkungen der Säkularisation auf das Gebiet der damaligen Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 4. Die Abtrennung der Schweizer Quart 1815 als «willkürlicher Gewaltstreich» vor der Suppression des Bistums Konstanz (1821/ 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 5. Die Abtrennung der Churer Dekanate Walgau und Vinschgau 1816 . . . . . . . . .27 II Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Die Aufhebung des Bistums Konstanz 1821/ 27 und die kirchliche Umgestaltung der Schweizer Quart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 2. Vereinigung des Kantons Schwyz mit dem Bistum Chur 1824. . . . . . . . . . . . . .36 3. Das Doppelbistum Chur-St. Gallen 1823-1836/ 47. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 4. Schwierigkeiten bei der Eingliederung des Kantons Schaffhausen in das reorganisierte Bistum Basel 1858/ 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48 5. Eingliederung des Puschlav ins Bistum Chur 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .49 III Die Urkantone und das Bistum Chur: «Das Provisorium als Anomalie und Quelle vieler Übelstände» - Überblick über die wichtigsten Pläne zur Bereinigung der (bislang) ungelösten Bistumsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Erfolglose Verhandlungen der Kantone Uri und Unterwalden, ob und nid dem Wald 1824-1832 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56 2. Plan zu einem «Fünfwaldstätte»-Bistum 1846/ 47 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .58 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 3. Neue Initiativen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . .60 4. Bemühungen zur Schaffung eines Definitivums in der Bistumsfrage unter Bischof Georgius Schmid von Grüneck 1909-1914/ 16 . . . . . . . . . . . . . .67 a) Erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Verwerfung der Ilanzer Artikel im bischöflichen Gutachten von 1914 . . . . . . . . . . . . 68 c) Der Entwurf des Bistumsvertrags von 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5. Neue Versuche: Der Kommissionsbericht der Schweizer Bischofskonferenz 1980 bzgl. Errichtung eines Bistums Luzern mit allen Innerschweizer Kantonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .73 6. Jüngste Initiative: Umfrage und Ergebnisbericht zu einem «Bistum Urschweiz» 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .74 IV Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Einleitung: Die Zeit nach der Reformation als konfessionelles Nebeneinander mit Berührungstangenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .78 1. Umwälzungen der staatlichen und kirchlichen Ordnung nach 1803 und der Zuwachs von katholischen Randgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .80 2. Entstehung der ersten katholischen Gemeinde in Zürich 1807 . . . . . . . . . . . . .81 3. Entfaltung und Anerkennung der katholischen Gemeinde Zürich . . . . . . . . . . .86 4. Die Aufhebung des Benediktinerstiftes Rheinau 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88 5. Das katholische Kirchengesetz von 1863 und die ersten Missionsstationen . . . .92 6. Gründung der Pfarreien in der Stadt Zürich zwischen 1873 und 1974 . . . . . . .95 7. Die Leistungen der Inländischen Mission im Ausbau der Diaspora-Seelsorge auf dem Gebiet des Kantons Zürich (19./ 20. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . .99 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 9. Errichtung des Generalvikariats für den Kanton Zürich 1956 . . . . . . . . . . . . .118 10. Gesetz über das katholische Kirchenwesen 1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .125 11. Pfarreigründungen nach 1963. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130 12. Ein verändertes Bild unter speziellen Umständen: Churer Weihbischöfe als Generalvikare in der Zwinglistadt. . . . . . . . . . . . . . .134 <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis 13. Einbezug des Kantons Glarus und Schaffung der Bistumsregion Zürich-Glarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137 a) Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Differenzen mit und (zeitliche) Trennung von Chur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Innerkirchliche Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 14. Pläne für ein eigenes Bistum Zürich (bis 2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .144 V Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz . . . . . . . 149 1. Liechtenstein und seine Pfarreien bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . .149 2. Liechtenstein als Bischöfliches Landesvikariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151 3. Das liechtensteinische Priesterkapitel 1850-1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .153 4. Das Dekanat Liechtenstein 1971-1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .153 5. Errichtung des Erzbistums Vaduz und Auflösung des Dekanats Liechtenstein 1997. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 VI Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen: Verzeichnis aller Lokal- und Personalpfarreien . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Die Bistumsregion Graubünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161 2. Die Bistumsregion Urschweiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .172 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .179 VII Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen . . . . . . . . 189 1. Kirche und Staat in Graubünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .189 2. Kirche und Staat in der Urschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193 a) Schwyz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Uri. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Obwalden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 d) Nidwalden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Kirche und Staat im Kanton Glarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 4. Kirche und Staat im Kanton Zürich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .198 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis 5. Konferenz der kantonalen staatskirchenrechtlichen Organisationen im Bistum Chur (Biberbruggerkonferenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .200 6. Die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .201 VIII Churer Bischöfe und Bistumsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .203 a) Karl Rudolf von Buol-Schauenstein (1794-1833) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Johann Georg Bossi (1835-1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 c) Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1844-1859). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 d) Nikolaus Franz Florentini (1859-1876). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 e) Kaspar Willi OSB (1877-1879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 f ) Franz Konstantin Rampa (1879-1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 g) Johannes Fidelis Battaglia (1889-1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .234 a) Georgius Schmid von Grüneck (1908-1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Laurenz [Luregn] Matthias Vincenz (1932-1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 c) Christianus Caminada (1941-1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 d) Johannes Vonderach (1962-1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 e) Wolfgang Haas (1990-1997). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3. Die Bischöfe des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263 a) Amédée Grab OSB (1998-2007). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Vitus Huonder (seit 2007). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4. Wandel in Bistum und Bistumsleitung: Einblicke in Struktur und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .267 a) Strukturelle Veränderungen in der Churer Bistumseinteilung zwischen 1816 und Gegenwart (Tabellen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 b) Organisatorische Veränderungen in der Bistumsleitung 1955 - 1978 - 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .275 a) Georg Schlechtleutner: Bischöflicher Kanzler und Generalvikar (gest. 1810) . . . . . . 275 b) Gottfried Purtscher: Erster Regens am Priesterseminar St. Luzi (gest. 1830) . . . . . . 276 c) Johann Josef Baal: Bischöflicher Fiskal und Kanzler (gest. 1844) . . . . . . . . . . . . . . . 280 <?page no="9"?> 9 Inhaltsverzeichnis d) Albert von Haller: Generalvikar und Weihbischof (gest. 1858) . . . . . . . . . . . . . . . . 282 e) Johann Franz Anton Fetz: Vaduzer Hofkaplan und Historiker (gest. 1884) . . . . . . . 284 f ) Christian Modest Tuor: Erster bischöflicher Archivar und Domdekan (gest. 1912) . 286 g) Anton[ius] Gisler: Professor, Regens und Weihbischof-Koadjutor (gest. 1932). . . . . 289 h) Johann Georg Mayer: Pfarrer, Professor, Regens und Verfasser der Churer Bistumsgeschichte (gest. 1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 i) Franz Höfliger: Pfarrer, Bischöflicher Kanzler und «Bettelprälat» (gest. 1985) . . . . . 294 j) Alfred Teobaldi: Bischöflicher Kommissar und erster Generalvikar für Zürich (gest. 1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 k) Giusep Pelican: Erster Generalvikar für Graubünden, Glarus und Liechtenstein (gest. 1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 l) Karl Scheuber: Erster Generalvikar für die Urschweiz (gest. 1979). . . . . . . . . . . . . . 303 6. Bischöfliches Gericht (Offizialat) und Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .304 7. Diözesane Räte und Kommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .306 a) Räte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 b) Kommissionen (in alphabetischer Abfolge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 8. Diözesane Finanzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .310 a) Neuordnung der bischöflichen Verwaltungen (nach 1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 b) Diözesan-Kultusverein (seit 1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 c) Solidaritätsfonds der Diözese Chur (seit 2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 IX Das Churer Domkapitel seit dem 19 Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Begebenheiten und Zusammensetzung des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .317 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) . . . . . . . . . . . .327 a) Die ersten Jahre zwischen 1880 und 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 b) Regelung der Pfarreiverhältnisse in Chur: Zu den Vorschlägen des Domkapitels zwischen 1905 und dem provisorischen Entscheid der römischen Kurie im Frühjahr 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 c) Verselbständigung der Dompfarrei (1948) und Wiedervereinigung mit dem Residentialkapitel (2007). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und gewährtem Privilegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .341 <?page no="10"?> 10 Inhaltsverzeichnis a) «Gewohnheitsmässiges» Wahlverfahren - Zur Situation im 19. Jahrhundert . . . . . . 341 b) Die beiden «freien» Bischofswahlen von 1908 und 1941 vor dem Hintergrund neuer Kapitelsstatuten und des CIC/ 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 c) Verzicht auf «freie» Direktwahl: Auf dem Weg zum gegenwärtigen gültigen Wahlmodus - das Dekret «Etsi salva» von 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 d) Zur Entwicklung nach 1948 bis zur letzten Bischofswahl im Jahre 2007 . . . . . . . . . 348 e) Bischofswahlen des Churer Domkapitels seit 1806 (mit politischen gesamtkirchlichen und partikularrechtlichen Rahmenbedingungen) [Übersichtstabelle] . . . . . . . . . . . . 351 4. Zusammensetzung des Residentialkapitels im 20./ 21. Jahrhundert . . . . . . . . .360 5. Exkurs: Spätgotische Trinkstube des Domkapitels - die Hofkellerei . . . . . . . . .365 X Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 1. Rückblick auf die Zeit vor 1807. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .371 2. Die Anfangszeit des Priesterseminars St. Luzi unter Regens Gottfried Purtscher bis 1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .373 3. Die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .374 4. Einblick in den Tagesablauf in St. Luzi im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . .375 5. Die Zeit bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .376 6. Die Zeit während und nach dem Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .377 7. Die Errichtung der Theologischen Hochschule (THC) 1968 . . . . . . . . . . . . . .380 a) Verunsicherungen: Churer Studienort auf dem Prüfstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 b) Dekret der Studienkongregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 c) «In aevum vivat, crescat, floreat»: Staatliche Anerkennung der Hochschulabschlüsse seit 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 8. Auswirkungen auf die (Pfarrei-)Seelsorge im 20./ 21. Jahrhundert: Laien in pastoralen Leitungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .387 9. Neuere statistische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .388 10. Selbstverständnis des Berufsbildes «Seelsorger/ in» auf dem Prüfstand . . . . . . . .389 XI Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung im Bistum Chur . . . . . . . 391 1. Planung, Vorbereitung und Themenkatalog der Synode 72 . . . . . . . . . . . . . . .393 <?page no="11"?> 11 Inhaltsverzeichnis 2. Beginn und Verlauf der Synode 72 in Chur und ihre thematischen Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .395 3. Verwirklichungsplan der Synode 72 im Bistum Chur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .398 4. Bilanz: Ernüchterung über eine unvollendete nachkonziliare Aufarbeitung . . .400 5. Für eine «Kirche des Dialogs»: Die freie Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken (1994-2001) - eine regional-synodale Nachwirkung mit wenig Echo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .402 XII Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen in Pfarreien, Vereinen und Gruppen . . . . . . . . . 407 1. Auf- und Ausbau eines Vereins- und Verbandskatholizimus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .407 2. Neue religiöse Gruppierungen und Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413 3. Formen und Angebote katholischer Erwachsenenbildung (für Laien). . . . . . . .415 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .417 5. Vom Brauchtümlichen zum Privaten: Entwicklung und Wandel in der (Volks-)Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .439 6. Wallfahrtswesen und -ort in den Churer Bistumsregionen . . . . . . . . . . . . . . . .441 XIII Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . 445 1. Klosteraufhebungen vor und nach der Neuumschreibung des Bistums Chur . .446 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .449 a) Benediktiner und Benediktinerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 b) Dominikanische Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 c) Franziskanische Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 d) Ignatianische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 e) Andere Gemeinschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert . .462 a) Schwestern vom Kostbaren Blut auf Löwenberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 b) Schwestern vom Kostbaren Blut auf Steinerberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 c) Kongregation der Ilanzer Dominikanerinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 <?page no="12"?> 12 Inhaltsverzeichnis d) Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz Ingenbohl . . . . . . 467 4. Missionsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .475 a) Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 b) Mariannhiller Missionare in Altdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 c) Missionare von der Heiligen Familie in Nuolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 d) «kontemplativ im Herzen der Welt»: Missionarinnen der Nächstenliebe in Zürich . 480 XIV Caritas und soziale Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 1. Im Dienste der Caritas und sozialen Gerechtigkeit: Grenzerfahrungen im Wirken von Pater Theodosius Florentini (1808-1865) . . . . . . . . . . . . . . . .482 a) Lebensstationen - Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 b) Pater Theodosius als möglicher Bischofskoadjutor für Chur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 c) «Es müssen die Fabriken zu Klöstern werden» - Florentini als risikofreudiger Fabrikant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 d) Ein Genie mit Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 2. Entwicklungen und Ausformungen im 20. Jahrhundert im Bistum Chur . . . .492 a) Fürstentum Liechtenstein (bis 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 b) Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 c) Graubünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 d) Urschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 XV Katholische Schulbildung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 1. Der «Katholische Schulstreit» in Graubünden im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . .497 a) Katholische Schule in Disentis 1804-1808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 b) Verlegung der Schule nach St. Luzi in Chur 1808-1832 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 c) Rückverlegung nach Disentis (1833-1842) und weitere Unterhandlungen . . . . . . . 500 d) Neue Anstände 1842-1844 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 e) Neubau der katholischen Kantonsschule und Zusammenschluss beider Kantonsschulen (1848/ 50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 f ) Die «katholische Lösung»: Gründung des Kollegiums Maria Hilf in Schwyz (1856) 506 g) Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 2. Bildungs- und Erziehungsstätten der Orden im Bistum . . . . . . . . . . . . . . . . . .511 3. Schulen der Kongregationen im Bistum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .512 4. Freie Katholische Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .514 <?page no="13"?> 13 Inhaltsverzeichnis XVI Kunst und Kultur am Bischofssitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 1. Die wiederentdeckte Grabkammer St. Stephan bei St. Luzi . . . . . . . . . . . . . . .519 2. Die Kathedralkirche zwischen Restaurierungen und Neuschaffungen (19.-21. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .523 a) Reparaturen und Turmneubau nach dem Hofbrand von 1811 . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 b) Neueinrichtung des Kirchenraumes 1845 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 c) Einzelne Brennpunkte bis zur Gesamtrenovation im 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . 528 d) Bau von Hauptorgeln und Orgelemporen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 e) Projekte zu weiteren Renovationen am Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 531 f ) Die Gesamtrenovation unter Emil und Walther Sulser (1921/ 1924-1926) . . . . . . . 533 g) Einbau der Gattringer-Orgel 1938 und Umgestaltung des (Volks-) Altarraumes 1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 h) Umfassende Aussen- und Innenrenovation 2001-2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 3. Vom Churer «Kirchenschatz» zum Domschatzmuseum . . . . . . . . . . . . . . . . . .540 4. Ein belebtes Monument: Das Bischöfliche Schloss seit dem 19. Jahrhundert . .544 5. Ein Quellort für die Bistumgeschichte: Das Bischöfliche Archiv Chur . . . . . . .550 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 I. Churer Bischofsliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 II. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 III. Literaturauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 IV. Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 V. Orts- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 <?page no="15"?> 15 Vorwort Nach der definitiven Abtrennung der Churer Diözesananteile Walgau und Vinschgau 1816 und deren Zuteilung an Brixen erhielt der Bischof von Chur, Karl Rudolf von Buol-Schauenstein (1794-1833), durch päpstliches Breve vom 9. Oktober 1819 «ad personam» die Administration (fast) aller ehemals konstanzischen Bistumsanteile in der damaligen Schweiz (sog. «Schweizer Quart») zugesprochen. Manche Teile gingen später an das 1828 reorganisierte Bistum Basel über; der Kanton Schwyz entschied sich in kirchlicher Hinsicht 1824 definitiv für den Sprengel Chur, doch die anderen beiden Urkantone Uri und Unterwalden (heute: Ob- und Nidwalden) sowie Glarus und Zürich blieben bis zum heutigen Tag lediglich Churer Administrationsgebiete. Wenn sich dieses Jahr dieser kuriale Entscheid zum 200. Mal jährt, trägt der inzwischen fertig gestellte zweite Band der neuen Churer Bistumsgeschichte dazu bei, das Ereignis von 1819 im Lichte der Geschichte besser zu verstehen sowie der Leserschaft die Bemühungen um Auflösung dieses «Provisoriums» aufzuzeigen. Aus einem solchen Administrationsgebiet erwuchs seit Beginn des 19. Jahrhunderts rund um den Zürichsee das katholische Leben in beachtlicher Weise. Der Kanton Zürich zählt heute in vier Dekanaten nicht nur 94 römischkatholische Pfarreien, sondern auf diesem Territorium leben die meisten Katholiken des Bistums Chur. Katholisches Selbstbewusstsein und kirchliches Leben in den 7 Churer Bistumskantonen sind neben dem Blick auf die Entwicklung der örtlichen Diözesankurie mit ihren Hirten und Mitarbeitern ein zentrales Thema dieses Bandes, welcher die Zeit zwischen 1816/ 19 und der Gegenwart umschliesst. Ferner wird dem seit 1948 geltenden Privilegium des Churer Domkapitels bei Bischofswahlen (bei einer Vakanz) Rechnung getragen, das Wirken der auf Bistumsebende tätigen Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften gewürdigt, die bedeutende Arbeit der Caritas und sozialen Dienste im Laufe des 19. Jahrhunderts beleuchtet, die katholische Schulbildung und Erziehung fokussiert und nicht zuletzt auch den über 1560 Jahre alten Churer Bischofssitz als Hort für Kultur und Kunst gewürdigt. Der Autor dankt der UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, insbesondere Frau Uta Preimesser, für die umsichtige Betreuung der 2017 und 2019 durch Zusicherung finanzieller Unterstützung publizierten beiden Bände einer neuen, für eine breite Leserschaft bestimmte, reich bebilderte Churer Bistumsgeschichte. Chur, im August 2018 Albert Fischer <?page no="16"?> Abb. 1: Aus dem Protokoll der Bischofswahl vom 22. Januar 1794 in Chur, woraus Karl Rudolf von Buol-Schauenstein bereits nach dem ersten Wahlgang mit 13 Stimmen als letzter Fürstbischof hervorging (Amtszeit: 1794-1833) [BAC] <?page no="17"?> 17 I. Die Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur Die politischen Umwälzungen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert haben die topographischen und strukturellen Gegebenheiten in Europas Mitte grundlegend verändert. Dabei stellt die Säkularisation von 1802/ 03 zweifelsohne einen der tiefsten Einschnitte in der politischen wie kirchlichen Geschichte der heutigen Länder Deutschland, Österreich und Italien (Brixen, Trient), aber auch in Teilen der heutigen Schweiz dar und ist jenem Bündel von historischen Vorgängen zuzurechnen, welche die Zäsur zwischen der Neueren und der Neuesten Zeit markieren. Wie die Französische Revolution den Untergang der Ecclesia Gallicana erzwang, hat die Säkularisation von 1802/ 03 durch die Mediatisierung aller geistlichen Territorien und geistlichen Reichstände sowie durch Überführung nicht reichsunmittelbaren Kirchengutes in weltliche Hand das Schicksal der alten, seit Otto I. (936-973) begründeten und gewachsenen Reichskirche besiegelt, zudem - als Weiterführung der josephinischen Klosteraufhebungen in Österreich [siehe Band 1, S. 307-326] - eine altehrwürdige klösterliche Kultur fast völlig zerstört und den Untergang des beinahe tausendjährigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806) eingeläutet. 1. Wegbereitung zur Säkularisation im Überblick Die in den geistlichen Staaten schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts umgehende Säkularisierungsangst steigerte sich beträchtlich, als im Juli 1789 in Frankreich die Revolution ausbrach und damit jenes Jahrzehnt begann, in dem die Reichskirche unter dem Damoklesschwert ihres bevorstehenden Endes lebte. Dass die Revolution mit einem Schlag das ganze Feudalsystem aus den Angeln hob und mit dem absolutistischen Königtum auch der damit engstens verbundenen Ecclesia Gallicana den Todesstoss versetzte, nahm man in den katholischen Territorien des Reiches überwiegend mit Schrecken wahr, zumal die Arrondierungsgelüste der deutschen Erbfürsten durch die revolutionären Ereignisse entschieden Auftrieb erhielten. Bereits 1792 und erneut im Juni 1794 erfolgte die Besetzung des linken Rheinufers durch französische Truppen; damit hörte die Herrschaft der geistlichen Kurfürsten von Köln, Trier und Mainz, der Fürstbischöfe von Speyer und Worms sowie der Bischöfe von Lüttich und Basel auf. Beruhte diese Säkularisation zunächst auf dem provisorischen Recht der militärischen Eroberung, erhielt sie ein Jahr später erste völkerrechtliche Grundlage. Denn 1795 zog sich Preussen von der Koalition gegen die revolutionäre Französische Republik zurück und schloss am 5. April 1795 mit Frankreich den Separatfrieden von Basel. Während die öffentliche Friedensurkunde bestimmte, Preussen überlasse <?page no="18"?> 18 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur seine linksrheinischen Besitzungen vorläufig Frankreich, wurde in einer Geheimklausel Preussen eine ausreichende Entschädigung auf dem rechten Rheinufer aus säkularisiertem Kirchengut in Aussicht gestellt. Ähnliche Verhandlungen führte Frankreich mit Baden und Württemberg im August 1796, obwohl alle Beteiligten wussten, dass derartige Separatabkommen von deutschen Reichsfürsten der Reichsverfassung widersprachen. Doch im Friedensvertrag vom Campo-Formio am 17. Oktober 1797 (Ende des 1. Koalitionskrieges) willigte Kaiser Franz II. (1792-1806) selbst in einem Geheimartikel in die Abtretung des linken Rheinufers ein; hierfür sollten angemessene Entschädigungen gesprochen werden. Über solche «indemité convenables» beriet der Friedenskongress in Rastatt (Dezember 1797 bis April 1799); dabei erklärte Napoleon I. Bonaparte (1799- 1814) Frankreichs festen Willen zur Säkularisation der geistlichen Staaten. Nach den Niederlagen des 2. Koalitionskrieges (1797-1801) wurde das Reich im Frieden von Lunéville (Lothringen) am 9. Februar 1801 gezwungen, das ganze linke Rheinufer definitiv an Frankreich abzutreten. In Artikel 6 wird festgeschrieben: «Seine Majestät der Kaiser und König willigen sowohl in Ihrem, als des teutschen Reichs Namen ein, daß die Französische Republik in Zukunft mit völliger Landes-Hoheit, und eigenthümlich jene Länder und Domainen besitze, die an dem linken Ufer des Rheins gelegen sind, und die bisher einen Theil des teutschen Reichs ausmachten […].» Die dort ansässigen und begütert gewesenen erblichen Reichsfürsten sollten aus dem Schoss des Reiches durch Säkularisation geistlicher Staaten entschädigt werden [Artikel 7]. In den abgetretenen linksrheinischen Gebieten fand die Reichskirche mit dem napoleonischen Konkordat vom 15. Juli 1801 (erweitert durch die 77 Organischen Artikel, welche aber vom Papst nicht bestätigt wurden, am 8. April 1802 zum Reichsgesetz erklärt) ihr Ende. Mainz und Trier verloren ihre Metropolitanstellung; Köln ging als Bistum ganz unter, denn das Roer- und Rhein-Mosel Departement wurde zu einem neuen (napoleonischen) Bistum mit Sitz in Aachen vereinigt. Die Abtrennung linksrheinischer Diözesanteile bzw. die Aufhebung linksrheinischer Bistümer und die dort vorgenommene Neuzirkumskription legte praktisch die Reichskirche in Trümmer. Mit der Ratifikationsbulle «Ecclesia Christi» vom 15. August 1801 durch Papst Pius VII. (1800-1823) garantierte auch die römische Kurie den Erwerbern entfremdeten Kirchengutes dessen ungestörten Besitz und machte somit deutlich, dass von ihrer Seite kein effektiver Widerstand gegen die Säkularisation zu erwarten war, wenn auch die Bulle «Qui Christi Domini» die Reste der Erzbistümer und Bistümer ausserhalb des französischen Herrschaftsgebietes ausdrücklich von der Neuordnung ausnahm und ihnen die Aufrechterhaltung ihres kirchenrechtlichen Status quo garantierte. Durch weitere Friedensschlüsse Frankreichs mit England (am 1. Oktober 1801) und Russland (am 9. Oktober 1801) wurden noch bessere aussenpolitische Voraussetzungen geschaffen. Frankreich unter Napoleon I. und Russland unter Zar Alexander I. (1801- 1825) vereinbarten, vorwiegend in Paris debattierend, eine gemeinsame Regelung der Entschädigung deutscher und italienischer Fürsten. In weiteren Geheimverträgen zwischen Frankreich einerseits und Preussen, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen andererseits wurden 1801/ 02 die Gebietsveränderungen festgesetzt. Die sofort einsetzende Beschlagnahmung von Kirchengütern konnte und wollte bereits vor der reichsrechtlichen Regelung 1803 nicht verhindert werden. Somit besass die Reichsdeputation, welche zur <?page no="19"?> 19 2. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 als reichsrechtliche Verfügung zur Säkularisation endgültigen Regelung der Entschädigungen vom Herbst 1802 bis Februar 1803 in Regensburg zusammentrat, nur noch formelle Bedeutung; der russisch-französische Säkularisationsplan lag bereits im November 1802 griffbereit. 2. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 als reichsrechtliche Verfügung zur Säkularisation Ausgangspunkt zur grössten territorialen Umwälzung am Beginn des 19. Jahrhunderts bildete der Reichsdeputationshauptschluss [RDH], der am 25. Februar 1803 in Regensburg angenommen wurde und so die Friedensvertragsbestimmungen von Lunéville in die Tat umsetzte. Der RDH - im Wesentlichen ein französisches Diktat - erhielt durch das Reichsgutachten der Reichskollegien vom 24. Mai 1803 formell als Reichsgesetz Rechtskraft. Mittels einer zweifachen Säkularisation, nämlich einer politischen oder reichsständischen Säkularisation und einer vermögensrechtlichen oder Güter-Säkularisation, führten die Beschlüsse zu einer so gut wie vollständigen Beraubung der deutschen Kirche und fegten die geistlichen Staaten von der Landkarte. Der RDH blieb trotz seiner reichsrechtlichen Verfügung ein ungeheurer Rechtsbruch, bildete aber mittelfristig - nach der Aufgabe des mittelalterlichen Reichskonzepts im Nebeneinander von geistlichen und weltlichen Territorien, was zum Untergang der Reichskirche am 6. August 1806 führte, - den Auftakt zu einer umfassenden Neugestaltung der gesamten europäischen Landkarte. Abb. 2: Alter Reichstag und Rathaus zu Regensburg, Stahlstich von E. Höfer, um 1840 [BAC.BA] <?page no="20"?> 20 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur 3. Politische Rahmenbedingungen zwischen 1798 und 1815 und Auswirkungen der Säkularisation auf das Gebiet der damaligen Schweiz Nach dem Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft Ende 1797 wurde im April 1798 die Helvetische Republik (1798-1803) errichtet, dessen Verfassung - im Auftrag der Hegemonialmacht Frankreich vom Baseler Peter Ochs (1752-1821) in Paris ausgearbeitet - die Stände und deren Souveränität aufhob sowie ihre Grenzen weitgehend veränderte. Ganz im Geist der Französischen Revolution und von der Idee eines religionslosen Staates fasziniert, betrieb man gleichzeitig den Abbau kirchlicher Institutionen. Quasi als Auftakt zu weiteren Aktionen entzog das Helvetische Vollziehungsdirektorium am 27.- April 1798 dem apostolischen Nuntius Pietro Gravina (1794-1798) die Anerkennung als Diplomaten und verwies ihn des Landes mit der Begründung, der Heilige Stuhl stelle keine weltliche Macht mehr dar. Am 8. Mai 1798 wurden die Klöster für «unnötig und volksfeindlich» erklärt und deren Vermögen als Nationaleigentum konfisziert, am 20. Juli die Aufnahme von Novizen untersagt. Für die ganze Helvetische Republik hob ein Gesetz vom 31. August 1798 die Standesprivilegien des katholischen Klerus auf und machte die Geistlichen durch Entzug des aktiven und passiven Stimmrechtes zu einer Bürgerschicht zweiter Klasse. Zwei Wochen später erfolgte am 17. September 1798 die Säkularisierung von 133 Klöster und Stifte. Ein Verbot vom April 1799 untersagte Prozessionen und Wallfahrten. Die Jurisdiktion ausländischer Bischöfe auf Schweizer Boden wurde aufgehoben. Bei anstehenden Bischofswahlen forderte das Direktorium der Hel- Reichsdeputationshauptschluss vom 25 . Februar 1803 • Politische oder reichsständische Säkularisation [RDH §§ 1-29]: Bestimmte Territorien und Güter innerhalb des Reiches definitiv namentlich und förmlich zur Entschädigung zugewiesen • Vermögensrechtliche oder Güter-Säkularisation [RDH §§ 34-26]: Alle Güter der Reichsstifte, Abteien und Klöster zur freien und vollen Disposition des einzelnen Landesherrn übergeben (nahezu vollständige materielle Enteignung der Bischofsstühle und der Domkapitel sowie der Abteien [Totalsäkularisation]) Der säkularisierte reichsunmittelbare Besitz umfasste 12’000 km² (Kurfürstentümer Köln, Mainz, Trier, das Erzbistum Salzburg, weitere 18 Reichsfürstentümer bzw. Hochstifte mit den Domkapiteln, etwa 80 reichsunmittelbare Abteien und mittelbare Stifte sowie über 200 sonstige Klöster, Mediatisierung von 41 Reichsstädten) <?page no="21"?> 21 3. Politische Rahmenbedingungen zwischen 1798 und 1815 und Auswirkungen der Säkularisation … vetischen Republik ein Bestätigungsrecht; päpstliche Verlautbarungen und Hirtenworte der Bischöfe hatten vor ihrer Publikation der Regierung vorgelegt zu werden. Einzig die innerkirchliche Ehegerichtsbarkeit blieb unangetastet. Alle diese Massnahmen bezweckten den raschen Entzug des Einflusses der Kirche auf den einzelnen Bürger und auf das gesellschaftliche Leben. Die Schweiz als religionsloser säkularer Einheitsstaat stand am Beginn des 19. Jahrhunderts in der Folge ihres illusionären Zentralismus, der Verwüstungen durch die französische Besatzung und des wirtschaftlichen wie kirchlichen Niedergangs am Rande des Zusammenbruchs. Die in Paris unter der Federführung Napoleons erarbeiteten Mediationsakte vom 19.- Februar 1803 ermöglichte eine zwar nach wie vor in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Frankreich stehende neue Basis für den Aufbau der 19- Kantone zu einem föderalistischen Staatenbund (1803-1813) mit schwacher Zentralgewalt, was auch einer innerstaatlichen Entwicklung in den Kantonen förderlich war. Insbesondere fielen mit der Mediationsverfassung die Kirchenangelegenheiten wieder in den Kompetenzbereich der einzelnen Kantone; sie beruhte jedoch auf dem Grundsatz der politischen und zivilen Gleichstellung aller Staatsbürger, womit die Abschaffung der klerikalen Vorrechte beibehalten wurde. 1803 konnte der Nuntius in der Schweiz wieder Wohnsitz nehmen. Insgesamt trat eine günstigere Gesinnung gegenüber Kirche, Klöster und Klerus an die Stelle der überzogenen Forderungen der Helvetik. Abb. 3: Die Helvetische Republik (1798-1803) [Quelle: Wikipedia] <?page no="22"?> 22 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur Auf dem Wiener Kongress (1814/ 15) erlangte die Eidgenossenschaft schliesslich dauernde Neutralität, und die inzwischen 22 Kantone (Aargau, Appenzell, Basel, Bern, Freiburg i. Ü., Genf, Glarus, Graubünden, Luzern, Neuenburg, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Tessin, Thurgau, Unterwalden, Uri, Waadt, Wallis, Zug und Zürich) gaben sich im sog. Bundesvertrag eine neue Verfassung; damit begann eine bewegte Epoche (Restauration, Regeneration) vom Staatenbund zum Bundesstaat von 1848. Wenngleich sich die durch die Totalsäkularisation initiierten Veränderungen und Verunsicherungen nicht unmittelbar auf die kirchlichen Territorialstruktur der Schweiz als Staatenbund auswirkten, waren - als direkte Folge des RDH - mit der Auflösung des Mainzer Metropolitanverbandes (1803), zu dem auch die Bistümer Chur und Konstanz gehörten, die Voraussetzungen zu baldiger Aufsplitterung bzw. Neuzuteilung gegeben, da beide Sprengel ausländisches Territorium umgriffen. Abb. 4: Eidgenossenschaft in der Mediationszeit (1803-1813) [Quelle: Wikipedia] Abb. 5 / 6: Versammlung und Vertragsinstrument des Wienerkongresses 1814/ 15 [Quelle: Wikipedia / Orginal des Dokuments vom 9. Juni 1815 im Österreichischen Staatsarchiv, Wien] <?page no="23"?> 23 4. Die Abtrennung der Schweizer Quart (1815) als «willkürlicher Gewaltstreich» … 4. Die Abtrennung der Schweizer Quart (1815) als «willkürlicher Gewaltstreich» vor der Suppression des Bistums Konstanz (1821/ 27) In dieser stürmischen Zeit des Umbruchs fand der jahrhundertealte Gedanke nach kirchlicher Unabhängigkeit der Schweizer Quart von der Diözese Konstanz, der sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts verfolgen lässt, vor allem durch den Paragraphen 29 des RDH, wonach sich die Eidgenossenschaft vom Reichsverband löste, neue kräftige Nahrung, fand jedoch nach 1803 vorerst zu keiner einvernehmlichen Lösung. Das um die Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert gegründete Bistum Konstanz gliederte sich seit dem 17. Jahrhundert in vier Teile, sog. Quarten: Breisgau, Schwaben, Allgäu und Eidgenossenschaft (Schweizer Quart). Die Schweizer Quart umfasste weite Teile der heutigen Schweiz, wie der grössere Teil des Kantons Aargau, Gebiete der Kantone Bern (ohne die Stadt Bern) und Solothurn rechts der Aare, die Kantone Uri (ohne Ursern), Schwyz und Ob- und Nidwalden sowie fast vollständig die Kantone Luzern, Zug, Glarus, Zürich, Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen und die beiden Appenzeller Halbkantone. Wortlaut des § 29 des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 «Die Helvetische Republik erhält zur Vergütung ihrer Rechte und Ansprüche auf die von ihren geistlichen Stiftungen abhängigen Besitzungen in Schwaben, über welche durch die vorhergehenden Artikel disponirt worden ist: das Bisthum Chur, hat aber für den Unterhalt des Fürstbischofs, des Capitels, und ihre Diener zu sorgen; sodann die Herrschaft Trasp [= Tarasp]. Auch steht es ihr frey, mittelst immerwährender, dem reinen Ertrage gleichkommender, jedoch nach dem durch die Helvetischen Gesetze bestimmten Fuß einlösbarer Renten, oder durch jede andere, mit den Interessenten zu treffende Uebereinkunft, alle und jede Rechte, Zehnden, und Domainen, Güter und Einkünfte, an sich zu lösen, welche sowohl dem Kaiser, den Fürsten und Ständen des Reichs, als den säcularisirten geistlichen Stiftungen, fremden Herrschaften und Privatpersonen im ganzen Umfange des Helvetischen Gebietes zustehen. Jene Säcularisationen, welche besagte Republik innerhalb ihrer Gränzen vornehmen dürfte, gehen ohne Verlust und Nachtheil der im Deutschen Reiche gelegenen Zugehörden ihrer geistlichen Stiftungen vor sich, ausschließlich dessen, worüber anders verfügt worden ist; und ein gleiches wird für die Deutschen geistlichen Stiftungen zustehenden Zugehörden in Helvetien festgesetzt. Alle und jede Gerichtsbarkeit eines Fürsten, Standes oder Mitgliedes des Deutschen Reichs in dem Bezirke des Helvetischen Territoriums hört künftig auf, gleichwie alle Lehnenherrlichkeit und alle bloße Ehrenberechtigung. Das Nämliche hat in Ansehung der Schweizerischen, im Umfange des Deutschen Reiches liegenden Besitzungen statt.» [aus: Ulrich Hufeld (Hrs.), Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 92 f.] <?page no="24"?> 24 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur Abb. 7: Südlich der gelb eingezeichneten Linie: Gebiet der «Schweizer Quart» als Teil des Bistums Konstanz [Kartenvorlage: Erwin Gatz / Dominik Burkard, Bistum und Hochstift Konstanz um 1500 (Karten), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches. Von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg i. Br. 2003, S. 854, 895] Von Wichtigkeit für die weitere Entwicklung waren ab 1814 die Initiativen des Nuntius Fabrizio Sceberras Testaferrata (1803-1816), welcher an der römischen Kurie für seine Pläne einer Loslösung der Schweizer Quart aus dem Bistumsverband Konstanz willig Gehör fand. Nach dem heutigen Wissensstand muss sogar konstatiert werden, dass die Abtrennung der Schweizer Quart 1815 an der Kurie bereits beschlossene Sache war, bevor die eigentlichen Unterhandlungen begonnen hatten. Bereits am 7. Oktober 1814 stellte Papst Pius VII. mit dem Breve «Iucundissima Nos» den petitionierenden eidgenös- <?page no="25"?> 25 4. Die Abtrennung der Schweizer Quart (1815) als «willkürlicher Gewaltstreich» … sischen Ständen die Trennung von Konstanz und die Errichtung einer neuen Kirchenorganisation unter der Bedingung in Aussicht, dass erst eine Kathedralkirche, ein Domkapitel, ein Priesterseminar und die entsprechend erforderlichen Dotationen vorhanden sein müssten. Nuntius Testaferrata hielt jedoch das päpstliche Breve zurück, ebenso ein weiteres von Pius VII. an den letzten Konstanzer Bischof, Carl Theodor von Dalberg (1800-1817), gerichtetes Breve «Quod aliquando differre» vom 2. November 1814, worin die Trennung der Schweizer Quart als vollzogen erklärt wurde. Das Zurückbehalten begründete Testaferrata später mit dem Ausstehen der päpstlichen Ernennung des von ihm favorisierten Propstes der Kollegiatskirche von Beromünster, Franz Bernhard Göldlin von Tiefenau (1762-1819), zum Apostolischen Vikar des abgetrennten Gebietes. Als betreff dieser Ernennung in Rom nichts ging, berief der Nuntius auf den 31. Dezember 1814 von sich aus den Urner Tagsatzungsgesandten Florian Lusser in die Luzerner Nuntiatur. Über den Kanton Uri sollte nun der Wortlaut des päpstlichen Breves vom 7. Oktober zusammen mit einem Zirkularschreiben des Nuntius an die übrigen Kantone der Schweizer Quart versandt werden. In diesem Schreiben, datiert auf Neujahr 1815, erklärte Testaferrata, Propst Göldlin sei durch ein apostolisches Breve vom Papst «ad interim» zum Apostolischen Vikar für die Schweizer Quart eingesetzt worden. Damit hatte der Nuntius die Kantone bewusst getäuscht, da das besagte Breve noch gar nicht existier- Abb. 9: Franz Bernhard Göldlin von Tiefenau, Stiftspropst zu Beromünster und Apostolischer Vikar der Schweizer Quart (1815-1819) [Portrait im Gartensaal der Stiftspropstei Beromünster / Foto: Celestyn Richard] Abb. 8: Fabrizio Sceberras Testaferrata, Nuntius in der Schweiz (1803-1816) [PAL] <?page no="26"?> 26 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur te, sondern erst am 11. Januar 1815 in Rom ausgefertigt und am 12. Januar abgesandt wurde. Die Überreichung des Ernennungsdekrets aus der Feder Testaferratas an Göldlin geschah bereits am 10. Januar 1815 in der Residenz des Nuntius; noch am selben Tag meldete der Propst den Kantonen und der Tagsatzung seinen Amtsantritt. Mit diesem, vom Konstanzer Generalvikar Iganz Heinrich von Wessenberg (1802-1817, Bistumsverweser 1817-1827) zurecht beklagten «willkürlichen Gewaltstreich» des Nuntius Testaferrata war die Schweizer Quart in einem Zeitraum von nur zehn Tagen vom Bistum Konstanz abgetrennt worden und der über tausendjährige Konstanzer Diözesanverband zerrissen. Geteilte Aufnahme fand das irreguläre und eigenwillige Vorgehen der Luzerner Nuntiatur bei den einzelnen Regierungen der betroffenen Kantone auf dem Territorium der Schweizer Quart. Uri, Schwyz, Unterwalden ob und nid dem Wald sowie Solothurn stimmten sofort und ohne Einschränkung zu. Luzern gab seiner Verwunderung Ausdruck, dass Göldlin lediglich im Besitz eines Nuntiaturschreibens sei, während das von Testaferrata Abb. 10: Zirkularschreiben von Nuntius Testaferrata vom 1. Januar 1815 [BAC] <?page no="27"?> 27 als vorliegend ausgegebene päpstliche Breve erst noch nachfolgen sollte; insgesamt beschränkte sich Luzern aber auf Unmutsäusserungen. Widerstand regte sich indes bei den Kantonen St. Gallen, Appenzell-Innerrhoden, Thurgau, Zürich und Aargau. Sie zögerten alle mit der Anerkennung des so rasch ernannten apostolischen Vikars. Erst Mitte Februar 1815 hatten alle Kantone die neue kirchliche Ordnung zumindest provisorisch anerkannt. Am 24. Mai 1815 ging ein Dankesschreiben der 11 der 13 betroffenen Kantonen - Zürich und Aargau unterzeichneten nicht - an den Papst, worin sie nicht vergassen, auch dem Nuntius höchstes Lob auszusprechen. Auch in Konstanz selbst regte sich Widerstand. Am 1. Februar 1815 wandte sich das Konstanzer Domkapitel direkt an den Papst. Sich dabei auf das kanonische Recht berufend, betonten die Kapitulare, die Abtrennung eines Bistumsteils bedürfe der Einwilligung des Domkapitels. Doch am «Ist»-Zustand der vollzogenen Trennung änderte sich nichts mehr. Die Abtrennung der Schweizer Quart vom Bistums Konstanz wurde in Konstanz selbst - ganz im Gegensatz zur Abtrennung der württembergischen (1817), bayerischen (1817/ 21) und österreichischen Landkapiteln (1819) - niemals anerkannt. Noch der letzte Bistumsschematismus aus dem Jahre 1821 bezeichnete die Schweizer Quart als lediglich provisorisch abgetrennt. Am 8. März 1816 wurde Nuntius Testaferrata abberufen, was - obwohl nicht nachweisbar - in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem eigenwilligen Vorgehen gesehen werden kann. Nach wiederholter schwerer Krankheit hatte der Nuntius darum ersucht; dennoch bleibt nicht ausgeschlossen, dass Testaferratas Verlangen dem Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi (1800-1806/ 1815-1824) entgegenkam. Es bot sich so die günstige Gelegenheit, die noch ausstehenden Bistumsverhandlungen neuen Kräften anzuvertrauen. Es bleibt festzuhalten: Die ehemalige Schweizer Quart des Bistums Konstanz war durch eine überstürzte Abtrennung vom Bistumsverband noch vor der eigentlichen Suppression von 1821/ 27 in ein Interim versetzt worden, das - dies zeigen die späteren Ausführungen - teilweise bis heute andauert. 5. Die Abtrennung der Churer Dekanate Walgau und Vinschgau 1816 Nach langwierigen diplomatischen Verhandlungen gelang Kaiser Franz I. (1804-1835) am 26. Juni 1814 wieder die Besitzergreifung des seit 1805 an Bayern verlorenen Teils von Tirol; und im Dezember des gleichen Jahres fasste man Tirol und Vorarlberg zu einer Provinz zusammen, zu dessen Gouverneur mit Sitz in Innsbruck der Kaiser den Grafen Ferdinand Ernst von Bissingen (1749-1831) ernannte. Auch kirchlich gab es alsbald rückführende, wenn auch keineswegs die Situation beruhigende Änderungen. Da der Bischof von Brixen, die Churer Anteile Walgau und Vinschgau seit 1808 lediglich provisorisch übernommen wissen wollte [siehe Band 1, S. 371], sah er durch die ‹Heimführung› Tirols unter österreichische Verwaltung die Gelegenheit gekommen, dem Kaiser am 2. August 1814 die Rückstellung der Anteile nach Chur anzubieten. Zeitgleich schlug der päpstliche Nuntius in Luzern, Fabrizio Sceberras Testaferrata, gegenüber Papst Pius VII. 5. Die Abtrennung der Churer Dekanate Walgau und Vinschgau 1816 <?page no="28"?> 28 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur die Wiedererrichtung der Churer Diözese in ihrem vollen Umfang vor 1808 vor. Diesem Vorschlag entsprach Pius VII. und teilte dem Churer Bischof Karl Rudolf von Buol- Schauenstein (1794-1833) per Breve vom 24. August 1814 über die Luzerner Nuntiatur die Rekonsilierung des Churer Sprengels in seine frühere Ausdehnung mit. Der ebenfalls darüber in Kenntnis gesetzte Bischof von Brixen zeigte sich grundsätzlich zur Abtretung der verwalteten Gebiete Walgau und Vinschgau bereit, machte seine Zusage jedoch von der noch ausstehenden kaiserlichen Zustimmung abhängig. Da das päpstliche Breve dem Brixener Oberhirten jedoch die Jurisdiktion bereits entzogen hatte, blieb vorerst nichts anders übrig, als Karl II. Franz von Lodron (1791-1828) zu ersuchen, die Gebiete im Namen und Auftrag des Churer Ordinariates weiter zu verwalten. Die Landesstelle in Innsbruck, im Auftrag des Churer Bischofs vom Churer Regens Gottfried Purtscher (1801/ 07-1830) über die neueste Lage informiert, wandte sich umgehend nach Wien, wo sie sich vor dem Hintergrund des Länderpurifikationssystems, d. h. keine Jurisdiktionsvergabe an einen ausländischen Bischof mehr zu genehmigen, klar gegen eine solche Rückführung aussprach. Die Wiener Staatskanzlei entschied Ende November 1814, das kaiserliche Plazet gegenüber den am 24. August 1814 ausgestellten päpstlichen Breven an Chur und Brixen zu verweigern. Noch bevor Brixen über diesen Entscheid Kenntnis erhalten hatte, liess Lodron an die Adresse Roms, Innsbrucks und Churs verlauten, er werde auf den 1. Januar 1815 weisungsgemäss das altchurerische Gebiet definitiv an Buol-Schauenstein abtreten. In Brixen erhielt man den Negativentscheid aus Wien erst am 31. Dezember 1814, in Chur sogar erst am 2. Januar 1815, als die Rückgabe gemäss Zusage Brixens bereits vollzogen war. Damit löste man einen ganzjährig dauernden Konflikt zwischen der österreichischen Regierung, die auf keinen Fall eine Wiederaufnahme kirchlicher Jurisdiktion durch einen ‹ausländischen› Bischof auf ihrem Verwaltungsterritorium zu akzeptierten bereit war und somit den josephinischen Generalsatz konsequent durchsetzte, mit den beiden Bistümern Brixen und Chur aus. Diese auch die innerkirchliche Verwaltung im Walgau und Vinschgau stark in Mitleidenschaft ziehende Konfliktsituation konnte erst durch die endgültige Entscheidung des Papstes vom Januar 1816 über den Verbleib des österreichischen Anteils des Bistums Chur entschärft werden. Am 3. Januar 1816 schrieb Kardinal Consalvi an den Sekretär und Vertreter des kaiserlichen Botschafters beim päpstlichen Stuhl, Graf Ludwig Lebzeltern (1774-1854), Papst Pius VII. wolle zwar die Breven vom 24. August 1814 an die Bischöfe von Chur und Brixen keineswegs förmlich zurücknehmen, sei aber bereit, ohne seine apostolischen Rechte preisgeben zu müssen, anzuordnen, dass diese vorläufig nicht ausgeführt werden sollten. Wien zeigte sich mit dieser provisorischen Lösung einverstanden, und die Kurie informierte die beiden betroffenen Bischöfe. Das päpstliche Breve vom 27. Januar 1816 an Bischof Karl Rudolf dankt dem Churer Oberhirten für seine stete Ergebenheit und hegt deshalb keine Zweifel, dass der Bischof auch die neueste Entscheidung annehme. In der Hoffnung auf friedvollere ruhigere Zeiten habe Rom die unter den Bischof von Brixen gestellte Administration der tirolischen und vorarlbergischen Gebiete per Dekret am 24. August 1814 «vollständig wieder zurückgestellt». Da nun jedoch «Umstände von ganz besonderer Wichtigkeit eingetreten» seien, werde das obengenannte Breve suspendiert und - wörtlich (in deutscher Übersetzung): «Du wirst Dich also fürderhin von jeder Aus- <?page no="29"?> 29 5. Die Abtrennung der Churer Dekanate Walgau und Vinschgau 1816 übung einer bischöflichen Jurisdiktion in jenen Teilen von Tirol und Vorarlberg enthalten.» Die Administration gehe erneut an Brixen, und der Churer Ordinarius möge sich mit seinem südlichen Nachbarn «in brüderlicher Freundschaft» verständigen, was künftig zum Heil der Gläubigen in den von Chur abgetrennten Gebieten Vinschgau und Walgau (Walgau: 49 Pfarreien und 11 Kuratien; Vinschgau: 33 Pfarreien; insgesamt fast 75'000 Katholiken) diene. Obwohl Buol-Schauenstein die päpstliche Entscheidung wohl oder übel zu akzeptieren hatte, war seine Enttäuschung über diese kirchenpolitisch erzwungene Wende gross. Insbesondere traf ihn der Verlust seiner jährlichen Einkünfte (über 8'000 Gulden), die im Breve keinerlei Erwähnung fanden, äusserst hart, weshalb er Consalvi in einem Schreiben vom 11. März 1816 ersuchte, dass dem nunmehr massiv verkleinerten Bistum Chur die lebensnotwendigen Einkünfte auf irgendeine Art und Weise zuteil würden, ohne die der Bischof kaum leben könne. Doch die finanzielle Regelung blieb auch über das Datum der Abtretung der Churer Teile an Brixen am 1. August 1816 hinaus ungeklärt. Am 6. Oktober 1816, dem Stichtag der offiziellen Übergabe an Brixen, kam für das Bistum Chur in seinen historischen Grenzen die bereits unter Joseph II. (1780-1790) angestrebte und durch ihn persönlich forsierte Diözesanumstrukturierung von Territorien, welchen ‹äusländische› Bischöfe in Tirol seit Jahrhunderten oblagen [siehe Band-1, S. 342-350], durch unnachgiebigen Druck aus Wien und Weisung Roms zu ihrem unwiderruflichen Abschluss. Abb. 11: Päpstlicher Entscheid zur Abtrennung der Distrikte Walgau und Vinschgau von Chur und Angliederung an Brixen (27. Januar 1816) [BAC] <?page no="30"?> 30 I. Säkularisation von 1802/ 03 und ihre Folgen für die Bistümer Konstanz und Chur Abb. 12: Karte des Bistums Konstanz mit der Dekanatseinteilung. Kupferstich von I. R. Holzhalb nach I. B. Sauter, in: Catalogus Personarum ecclesiasticarum et Locorum Dioceseis Constantientis, 1779 [BAC.BA] <?page no="31"?> 31 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur 1. Die Aufhebung des Bistums Konstanz 1821/ 27 und die kirchliche Umgestaltung der Schweizer Quart Der Auskauf der altehrwürdigen Diözese Konstanz auf dem Weg zu ihrer endgültigen Auflösung hatte mit der oben geschilderten Abtrennung der Schweizer Quart 1815 einen wenig rühmlichen Anfang genommen. Als der Heilige Stuhl am 5. Juni 1817 ein Konkordat mit dem Königreich Bayern unterzeichnet und damit zwei neue Kirchenprovinzen - Erzbistum München und Freising [1] sowie Bamberg [2] - mit sechs Suffraganbistümern (Augsburg, Passau, Regensburg [zu 1], Würzburg, Eichstätt, Speyer [zu 2] geschaffen hatte, verlor Konstanz alle Pfarreien, die im Königreich Bayern (1805-1915) lagen an die Diözese Augsburg. König Friedrich I. von Württemberg (1805-1816) bzw. sein Sohn und Nachfolger Wilhelm I. (1816-1864) standen nicht zurück. Bereits 1812 in Ellwangen ein eigenes Generalvikariat errichtet, scheute sich Wilhelm I. nicht, nach dem Tod Bischofs Dalberg am 10. Februar 1817 die württembergischen Pfarreien der Diözese Konstanz, Speyer und Worms dem Generalvikariat Ellwangen zuzuordnen. Auch Österreich hielt sich nicht mit Einverleibungen aus dem Konstanzer Sprengel zurück. Am 2. Mai 1818 liess Kaiser Franz I. durch Papst Pius VII. mit der Bulle «Ex imposito» das gesamte Vorarlberg dem Bischof von Brixen unterstellen. Somit unterstanden dem Bistumsverweser in Konstanz, Ignaz Heinrich von Wessenberg, nur noch Gebiete des Grossherzogtums Baden, die rechtsrheinischen Teile der ehemaligen Diözese Strassburg und die Hohenzollerischen Lande. Doch das formelle Ende der Diözese Konstanz liess nicht mehr lange auf sich warten. Am 16. August 1821 publizierte Pius VII. die Zirkumskriptionsbulle «Provida solersque», womit die Oberrheinische Kirchenprovinz (Erzbistum Freiburg mit Suffraganen Rottenburg, Mainz, Fulda und Limburg) errichtet wurde. Mit Inkrafttreten dieser Bulle war der Untergang des ehemals weitreichenden und bedeutsamen Bistums Konstanz besiegelt. In der Bulle heisst es in deutscher Übersetzung: «Nach einvernommenem Rate einiger Unserer ehrwürdigen Brüder, Kardinäle der heiligen Römischen Kirche, unterdrücken, zernichten und vertilgen Wir daher mit sicherer Erkenntnis und reifer Überlegung und Kraft und Fülle der Apostolischen Gewalt den Titel, den Namen, die Natur, das Wesen und den ganzen gegenwärtigen Bestand der erledigten […] bischöflichen Kirche zu Konstanz.» Wessenberg blieb noch die bittere Pflicht, durch Verlesung eines Zirkularschreibens von allen Kanzeln - geschehen am 28. Oktober 1827 - Klerus und Volk das Ende des Bistums Konstanz mitzuteilen. Damit schien die Diözese Konstanz endgültig untergegangen zu <?page no="32"?> 32 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur sein. Doch der Schein trügt: Bis heute haben sich die schweizerischen Kantone Uri (ohne das Urserntal), Ob- und Nidwalden, Glarus und Zürich noch nicht für den endgültigen Anschluss an eine Diözese entschieden. Sie werden seit 1819 provisorisch vom Bischof von Chur verwaltet; dieser ist damit noch immer «Administrator Apostolicus partis Helvetiae dioecesis quondam Constantiensis» - das heisst, im Amt des Churer Bischofs lebt die Diözese Konstanz weiter. Wie kam es dazu? Nachdem das Bistum Chur seit 1816 zunächst auf das Territorium des heutigen Kantons Graubünden (ohne das Puschlav), auf das Hochtal Ursern, das Sarganser- und Gasterland, das obere Rheintal sowie das Fürstentum Liechtenstein beschränkt blieb, erhielt Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein «ad personam» nach dem Tod am 18. September 1819 des Apostolischen Vikars und Administrators der Schweizer Quart, Franz Bernhard Göldlin, mittels des auf den 9. Oktober 1819 datierten Breves Pius’ VII. die Administration (fast) aller ehemals konstanzischen Bistumsanteile in der damaligen Schweiz zugesprochen, verbunden mit der vollen Weihe- und Jurisdiktionsgewalt. Lediglich zwei kleine Gebiete waren von der Churer Administration ausgenommen: [1.] der östlich der Aare gelegene Teil des Kantons Solothurn, welcher gleich bei der Abtrennung der Schweizer Quart von Konstanz (1815) dem Bischof von Basel zur vorläufigen Verwaltung (bis 1828) übergeben wurde und [2.] der ebenfalls 1815 dem Bischof von Basel anvertraute rechts des Rheins gelegene Zipfel des Kantons Basel-Stadt (bis 1978). Der damalige Nuntius Vincenzo Macchi (1818-1819), welcher diesen Vorschlag in einem längeren Schreiben vom 18. September 1819 an Ercole Consalvi unterbreitet hatte, Abb. 13: Übergabe der Administration der Schweizer Quart an den Bischof von Chur (9. Oktober 1819) [BAC] <?page no="33"?> 33 1. Die Aufhebung des Bistums Konstanz 1821/ 27 und die kirchliche Umgestaltung der Schweizer Quart unterrichtete den Bischof von Chur unter Übersendung des päpstlichen Breves über den Anschluss der ehemaligen Schweizer Quart an seinen Sprengel; kurz zuvor ging ein entsprechender Orientierungsbrief an die betroffenen Kantone. Obwohl Buol-Schauenstein diesen Zuwachs nicht gesucht hatte, musste er ihm doch als Ausgleich für das an Österreich gefallene Gebiet (Dekanate Walgau und Vinschgau) willkommen sein. Diese provisorische Unterstellung unter die Administration des Churer Bischofs Buol-Schauenstein, den der Nuntius für diese Aufgabe als besonders geeignet ansah (langjährige Erfahrung in der Diözesanverwaltung und bischöflichen Amtsführung sowie exzellente Beziehungen mit dem Ausland), sollte bereits laufende Verhandlungen zwecks einer endgültigen Neuorganisation der schweizerischen Bistumsverhältnisse nicht beeinflussen oder hemmen. Jedermann wünschte bald möglichst eine definitive Lösung; insbesondere die römische Kurie glaubte an eine innerhalb von zwei bis drei Jahren zu erreichende definitive Regelung. Aber die Pläne und Meinungen der ehemaligen Konstanzer Diözesanstände waren zu verschieden, um ein rasches Vorankommen zu garantieren. Erst dachte man an ein Nationalbistum, d. h. man plante, das ganze von Konstanz 1815 getrennte Gebiet zu einem einzigen neuen Bistum zu erheben; die Sonderwünsche der einzelnen Kantone liessen diese Idee bald als undurchführbar erscheinen; ebenso verliefen die Pläne zur Schaffung eines säkularen Fünfwaldstätte- Bistums oder eines Regularbistums Einsiedeln mit dem dortigen Abt als Bischof an der Spitze im Sand der Zeit. Ein stark hemmendes Hindernis zu einer raschen definitiven Lösungsfindung bildete der 1804 geschaffene und 1821 nach Kommunikantenzahl (Stand 1820) auf die einzelnen Diözesanstände verteilte «Konstanzer Diözesanfonds» in der ursprünglichen Höhe von 300'000 Gulden Reichswährung. Zweckbestimmung dieses Geldes war es, den diözesan-kirchlichen Einrichtungen der Bistümer, denen die ehemals konstanzischen Gebietsteile einverleibt würden, eine angemessene Dotation zu sichern, was aber von keinem Kanton im Sinne einer Realdotation - Übergabe des Kapitals an den neuen Bischof - erfüllt worden ist. Alle Kantone der früheren Schweizer Quart besitzen bis heute einen Diözesanfonds, den sie teils direkt (Solothurn, Luzern, Zug, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden) teils über die katholische Landeskirche (Aargau, Thurgau, Abb. 14: Karl Rudolf von Buol-Schauenstein, Bischof von Chur 1794-1833 [BAC.BA] <?page no="34"?> 34 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur Glarus, Schaffhausen) verwalten. Zürich hat seinen damals kleinen Betrag von knapp über 1000 Gulden 1865 auf die katholischen Kirchengemeinden übertragen, Appenzell- Innerrhoden auf die Kirchenfabrik des Hauptorts. Die Kantone wenden einen grossen Teil der Fondserträgnisse der Mitfinanzierung der bischöflichen Mensa und der zentralen Diözesaninstitutionen zu, unterstützen mit den Geldern aber auch lokalkirchliche Interessen. Kapitalverteilung des «Konstanzer Diözesanfonds» 1821 Kantone Kommunikantenzahl [Stand 1820] Zustehender Geldbetrag Uri 7'916 9'592 fl. 7 xr. Schwyz 24'346 29'501 fl. Unterwalden 7'628 9'243 fl. 9 xr. Obwalden 8'539 10'347 fl. 2 xr. Luzern 77'267 93'627 fl. 38 xr. Zürich 840 1'017 fl. 52 xr. Glarus 2'313 2'802 fl. 45 xr. Zug 10'379 12'576 fl. 31 xr. Solothurn 6'419 7'778 fl. 9 xr. Schaffhausen 212 256 fl. 53 xr. Appenzell 7'180 8'700 fl. 17 xr. St. Gallen 49'925 60'496 fl. 5 xr. Aargau 30'664 37'642 fl. 41 xr. Thurgau 13'549 16'417 fl. 51 xr. 14 Kantone 247'177 300'000 fl. Das Territorium der ehemaligen Schweizer Quart wurde in den folgenden Jahren zerstückelt und auf 3 Bistümer - Basel, Chur und St. Gallen - aufgeteilt. <?page no="35"?> 35 1. Die Aufhebung des Bistums Konstanz 1821/ 27 und die kirchliche Umgestaltung der Schweizer Quart Überblick über die Aufgliederung der ehemaligen Schweizer Quart nach 1819 (nach Kantonsgebiet) Aargau 1819-1828 Administration zu Chur ab 1828 Teil des reorganisierten Bistums Basel Luzern Thurgau Zug Basel-Stadt (rechts des Rheins) 1815-1978 Administration zu Basel ab 1978 Teil des Bistums Basel Bern (rechts der Aare) 1815-1864 Administration zu Basel ab 1864/ 65 Teil des Bistums Basel Schaffhausen 1819-1857 Administration zu Chur 1858-1978 Administration zu Basel ab 1978 Teil des Bistums Basel Abb. 15: Das Bistum Chur im Jahre 1819 [Karte aus: Robert Gall, Die Rechtsstellung des Bischofs von Chur als Administrator ehemals konstanzischer Bistumsteile in der Schweiz, Freiburg/ CH 1954] <?page no="36"?> 36 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur Solothurn (rechts der Aare) 1815-1828 Administration zu Basel ab 1828 Teil des Bistums Basel Schwyz 1819-1824 Administration zu Chur ab 1824 Teil des Bistums Chur St. Gallen 1819-1823 Administration zu Chur 1823-1836/ 47 Doppelbistum Chur-St. Gallen ab 1847 Bistum St. Gallen Appenzell-Innerrhoden 1819-1866 Administration zu Chur ab 1866 Administration zu St. Gallen Appenzell-Ausserrhoden Uri (ohne Ursern) 1819 bis heute Administration zu Chur Obwalden Nidwalden Glarus Zürich 2. Vereinigung des Kantons Schwyz mit dem Bistum Chur 1824 Bereits auf der Konferenz in Gersau am 27. Januar 1819 beschlossen die Delegierten der Priesterkapitel Uri, Schwyz und March, Obwalden und Nidwalden nach Stimmenmehrheit 9: 1, von einer weiteren Planung des oben erwähnten Regularbistums Einsiedeln endgültig Abstand zu nehmen, hielten aber zugleich fest: «Es ist der sehnliche Wunsch der Konferenz, daß die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden, ob und nid dem Wald, bei jeder künftigen Bisthumsorganisation nicht mögen getrennt werden, sondern unter das eine und nämliche Bisthum zu stehen kommen.» Das hier fast einstimmig verabschiedete Votum - dagegen stimmte bezeichnenderweise der bischöfliche Kommissar und Pfarrer in Schwyz, Thomas Fassbind (1811-1824) − zur unauflöslichen Zusammengehörigkeit von Uri, Schwyz und Unterwalden sollte jedoch lediglich bis Ende 1823 Bestand haben. Die Verhandlungen über die Verteilung des Konstanzer Diözesanfonds zur Ermöglichung der Dotation eines Bistums war dem Landrat in Schwyz im Februar 1821 Anlass, mittels eines Kreisschreibens an die übrigen Urkantone die baldige Beendigung der provisorischen Bistumsverwaltung durch den Churer Oberhirten anzuregen und sich Chur definitiv anzuschliessen, «bevor noch ein höherer Entscheid hierüber erfolget, dessen allfällige Abänderung nicht mehr so leicht erhältlich sein dürfte». Doch für Uri waren Verhandlungen sowohl mit Chur als auch mit dem neu zu organisierenden Bistum Basel eine Option. Die Idee eines festen Anschlusses an Chur fand bei der Geistlichkeit des Standes Schwyz Anklang. In Schwyz am 27. Juli 1821 versammelt, erklärte das Kapitel Schwyz einmütig, <?page no="37"?> 37 2. Vereinigung des Kantons Schwyz mit dem Bistum Chur 1824 es sei «sein sehnlicher Wunsch» sich an das Bistum Chur anzuschliessen und formulierte einige Wünsche hierzu, u. a. die Schaffung eines eigenen Generalvikars oder wenigstens eines bischöflichen Deputaten mit weitreichenden Vollmachten, die Ernennung zweier nicht residierender Domherren aus dem Stand Schwyz, die Anlage der fast 30'000 Gulden aus dem Diözesanfonds auf liegende Güter im Kanton (Zinsen für Bischof und Standesdomherren) sowie die Möglichkeit für Alumnen auch anderswo als im Seminar zu Chur zu studieren. Eine erste wichtige Unterhandlung im Hinblick auf einen definitiven Anschluss von Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden an Chur fand am 23./ 24. Oktober 1821 in Anwesenheit des Churer Bischofs in Altdorf statt. Aus der Zusammenkunft resultierte ein Entwurf für ein Bistumskonkordat. In den Bemerkungen, welche Karl Rudolf von Buol-Schau- Abb. 16: Die Cantone Schwyz und Zug [um 1820], aus: Heinrich Keller, Atlas de la Suisse, Massstab: 1: 190'000, Grösse: 25,4 x 20,1 cm [Quelle: 2010 bey marcel@zumbo.ch] <?page no="38"?> 38 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur enstein dem 9-Punkte umfassenden Entwurf anbrachte, zeigte er sich grundsätzlich zu einer definitiven Aufnahme der Urkantone bereit. Da jedoch der Entwurf u. a. für Uri, Ob- und Nidwalden je einen und für Schwyz je zwei nicht-residierende Domherren mit allen Rechten wie das Residentialkapitel von Chur vorsah, welche von den Ständen frei erkoren werden konnten, und zudem fortan nur mehr ein aus der Diözese Chur stammender Domherr zum Bischof gewählt werden sollte, intervenierte Papst Pius VII. am 15. Mai 1822: «Die Forderung, daß der Bischof aus dem Gremium des Kapitels gewählt wird, bleibt unbeanstandet; dagegen wird die Restriktion, daß nur eingeborne Diözesanen zu den Domherrenstellen gewählt werden können, grundsätzlich angefochten, indem dieses der Kapitelsverfassung widerstreitet und ein neu sich anschließender Bisthumstheil nicht wohl eine Abänderung derselben beanspruchen kann.» Es kam zu Nachverhandlungen auf der Nuntiatur in Luzern, die vom 29. Juli bis zum 3. August 1822 dauerten, aber von scharfen Interventionen aus Graubünden gestört wurden. Im Namen des Kantons Graubünden pochte Florian von Planta (1763-1843), zwischen 1807 und 1829 sechsmal Mitglied des Kleinen Rats, gegenüber dem Churer Ordinarius auf althergebrachtes Recht, wonach die Wahl eines Churer Bischofs auf einen Bündner beschränkt sei. Buol-Schauenstein erwiderte, die Protestnote diene lediglich dazu, längst verjährte Fehden aus dem 16./ 17. Jahrhundert neu aufleben zu lassen, um in Graubünden Spannung zu erzeugen und so den beabsichtigten Anschluss der Urkantone an das Bistum Chur gezielt zu hintertreiben. Die Bischofswahl, so Buol-Schauenstein weiter, sei eine rein innerkirchliche Angelegenheit und keiner willkürlichen, weder menschlich noch politisch motivierten Beschränkung unterworfen. Ungeachtet dieser Gegendarstellung reichte die Regierung von Graubünden am 30. Juli 1822 eine offizielle Protestnote zuhanden der Urkantone ein, worin man sich insbesondere über die Art und Weise der Unterhandlung ohne Einbezug Bündens mokierte. Der Grosse Rat werde alles, «was in dieser Sache geschehen und ohne Vorwissen der Standesregierung weiter geschehen möchte, […] nicht als verbindlich ansehen». Trotz dieser Misstöne aus Graubünden wurde am 8. Februar 1823 in Absprache mit dem Churer Ordinarius ein überarbeiteter Konkordatsentwurf in einer deutschen und lateinischen Fassung nach Rom gesandt. Die drei Kantone beharrten dabei auf ihre bisherigen Rechte, Freiheiten und Privilegien in kirchlichen Angelegenheiten, welche sie bislang unter den Konstanzer Bischöfen genossen hatten. Buol-Schauenstein erklärte, was einst rechtmässig erworben, was von der Konstanzer Kurie ‹de iure› oder ‹consuetudine legali› gestattet und ausgeübt worden, werde kein Churer Bischof den Ständen entreissen oder ändern. Uri, Schwyz und Unterwalden würde die gleiche oberhirtliche Sorgfalt und Behandlung zuteil wie den angestammten Churer Gebieten. Doch auch dieses Mal zögerte Rom die Ausfertigung der Vereinigungsbulle hinaus, da im zweiten Entwurf erneut einige mit den Gesetzen der Kirche in Einklang zu bringende Verbesserungen gefunden wurden. Insbesondere kritisierte Rom, der zu gründende Diözesanfonds sei Eigentum der Kirche und dessen Verwaltung unterstehe ausschliesslich dem Bischof (und nicht wie beabsichtigt den Kantonen). Die später von den Urkantonen gewählten Domherren bedurften der kanonischen Einsetzung durch die Apostolische Datarie; die erstmalige Wahl der fünf Canonici würde Rom (mit Berücksichtigung <?page no="39"?> 39 2. Vereinigung des Kantons Schwyz mit dem Bistum Chur 1824 geeigneter vorgeschlagener Kandidaten) aber selbst vornehmen. Ferner verwarf man das im Entwurf verankerte Begehren, auch alle anderen vom Papst zu ernennenden Churer Domherren müssten Churer Diözesane sein; diese Forderung widerspreche nicht nur den Satzungen des Churer Domkapitels, sondern beschneide grundsätzlich die päpstliche Freiheit. Die Enttäuschung in Uri, Schwyz und Unterwalden war entsprechend gross; bis Ende November 1823 blieben die Verhandlungen blockiert. Am 1. Dezember 1823 gelang nochmals eine letzte, im Verbund mit Schwyz durchgeführte Verhandlungsrunde der vier Landammänner von Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden in Stans. Dabei beharrten sie auf eine staatliche Verwaltung des Diözesanfonds, erhöhten aber im Gegenzug die Summe von 2'000 Fr. auf 4'023 Fr. an den Churer Bischof; inbegriffen waren darin neben den fixen 2'000 Fr. an die bischöfliche Mensa 780 Fr. für die fünf Ruralkanoniker und 1'243 Fr. zur Unterstützung bedürftiger Alumnen aus der Innerschweiz. Obwohl ein neuer Entwurf am 7. Januar 1824 nach Chur geschickt wurde, kam die Angelegenheit weder weiter voran noch zu einem Abschluss. Am 3. August 1824 gelang zwischen dem Churer Bischof Buol-Schauenstein und dem Landammann und Rat des Kantons Schwyz - im Alleingang - eine detaillierte Übereinkunft zu einem definitiven Anschluss an die Diözese Chur. Darin garantierte Schwyz dem Churer Oberhirten eine jährliche Summe von knapp über 1'000 Fr.; einen weiteren Betrag von 480 Fr. brachte der Kanton zur Unterstützung eigener Priesteramtskandidaten auf. Demgegenüber bekam Schwyz zwei Standesdomherren zugesprochen, welche die gleichen Rechte und Pflichten wie die bisherigen nicht-residierenden Churer Domherren Abb. 17: Auszug aus der Übereinkunft zwischen dem Landammann und Rat des Kantons Schwyz sowie dem Bischof von Chur vom 3. August 1824 [BAC] <?page no="40"?> 40 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur Abb. 18: Die Cantone St. Gallen und Appenzell [um 1820], aus Heinrich Keller, Atlas de la Suisse, Massstab: 1: 300'000, Grösse: 21 x 26 cm [2010 bey marcel@zumbo.ch] <?page no="41"?> 41 innehatten (also auch Beteiligung an Bischofswahlen) und von Schwyz eigens jährlich je 240 Fr. ausbezahlt bekamen. Zur Sicherstellung dieser Gelder gründete Schwyz einen Fonds als Kirchengut in der Höhe von 35'000 Fr. Der kirchlichen Obsorge auf dem Territorium des Kantons Schwyz sollte ferner ein bischöflicher Kommissar vorstehen, der von der Schwyzer Regierung dem Churer Ordinarius präsentiert werden durfte; für den Bezirk March war neben der Beibehaltung des dortigen Priesterkapitels und Dekans zusätzlich ein Subkommissar einzusetzen. Mit Datum vom 16. Dezember 1824 schlug Papst Leo XII. (1823-1829) kraft der Bulle «Imposita humilitati Nostrae» den Kanton Schwyz definitiv dem Territorium des Bistums Chur zu. In diesem Dokument wurde zudem präzisiert, dass die beiden Domherren Schwyzer Bürger sein und Wohnsitz im Kanton haben mussten. Ferner sei eine in ungeraden Monaten freigewordene Kapitularenstelle vom Churer Domkapitel selbst, eine in geraden Monaten erledigte hingegen von der Schwyzer Regierung zu besetzen. Der Pontifex bedankte sich in einem Schreiben vom 20. Dezember des gleichen Jahres an Landammann und Regierung des Kantons Schwyz, alle Verhandlungspartner lobend, für das Zustandekommen der Vereinbarung. Während sich Schwyz also Ende 1824 definitiv (aber nicht in Form eines Konkordats) dem Bistum Chur anschloss, führten entsprechende Verhandlungen mit den übrigen Urkantonen nie zum Erfolg, so dass Uri (abgesehen vom Urserntal, das immer zu Chur gehörte) sowie Ob- und Nidwalden zusammen mit Glarus und Zürich (bis heute) de iure nur provisorisch - de facto aber als festen Bestandteil - von Chur verwaltet werden. Die Publikation einer bereits rechtskräftig ausgestellten Bulle von Papst Gregor XVI. (1831-1846) vom 18. September 1831, mittels derer die Kantone Uri, Ob- und Nidwalden dem Bistum Basel zugeschlagen wurden, unterblieb. 3. Das Doppelbistum Chur-St. Gallen 1823-1836/ 1847 Das Bistum St. Gallen ist ein «kantonales» Bistum, da sein Territorium mit jenem des gleichnamigen Kantons übereinstimmt. Was aus heutiger Sicht als Ideal anmutet, war im Entstehen ausserordentlich mühsam. Der Weg führte vom Ende der benediktinischen Reichsfürstabtei St. Gallen über ein Doppelbistum Chur-St.Gallen hin zur eigenständigen Diözese. Das Kernland des 1803 dekretierten Kantons St. Gallen war die am 17. September 1798 aufgehobene Reichsfürstabtei, welche am 8. Mai 1805 durch Beschluss des kantonalen Grossen Rats endgültig als klösterliche und pastorale Institution unterging. Die Politiker des jungen Kantons wünschten bald möglichst ein eigenes, dem Umfang des Kantons, entsprechendes Bistum. Da in Rom hierfür keine Zustimmung zu erreichen war, betrieb der Landammann von St. Gallen, Karl Müller von Friedberg, die Errichtung eines «kantonalen» Säkularbistums, bei dem Landes- und Bistumsgrenzen sich deckten; doch auch diesem Projekt war kein Erfolg beschieden. 3. Das Doppelbistum Chur-St. Gallen 1823-1836/ 1847 <?page no="42"?> 42 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur Ein indirekter, aber wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einem Bistum erfolgte dann 1813. Damals bestellte die Kantonsregierung den heute noch existierenden Katholischen Administrationsrat des Kantons als konfessionelle Behörde zur Verwaltung und Leitung aller katholischen Fonds und Anstalten (so auch der ehemaligen Stiftskirche und der Stiftsbibliothek). Das Katholische Grossratskollegium, das heisst die konfessionelle Volksvertretung unter Leitung des Administrationsrats, wurde nach Abtrennung der Schweizer Quart und damit auch der st. gallischen Gebiete vom Bistum Konstanz (1815) in Rom vorstellig. Am 12. Juni 1817 baten sie Papst Pius VII. nach entsprechenden Unterhandlungen, ihr Territorium zu einem Bistum für den katholischen Teil des Kantons St. Gallen zu erheben. Betreff der (provisorischen) Übertragung des Gebiets als Administratur an Chur liegt vom 9. November 1819 ein Schreiben des Landammans Karl Müller von Friedberg und des Kleinen Rats des Kantons St. Gallen an Buol-Schauenstein vor. Doch erst 1822 ergab sich eine eher verwunderliche Lösung, die allerdings nicht lange Bestand haben sollte. Am 7. Januar 1822 schlug Nuntius Ignazio Nasalli (1820-1826) als Kompromiss ein Konkordat vor, wodurch ein Doppelbistum Chur-St. Gallen zu errichten sei, das durch Personalunion des je halbjährlich an den beiden Sitzen zu residierenden Bischofs verbunden bleiben sollte, das aber St. Gallen ein eigenes Domkapitel, einen eigenen Generalvikar mit bischöflicher Kurie und die Erhebung der ehemaligen Stiftskirche zur Kathedrale zubilligte. Dieser kuriose Vorschlag aus der Luzerner Nuntiatur fand sowohl in Rom als auch in St. Gallen überraschend schnell Zustimmung, da er das den Kantonsgrenzen völlig entsprechende Bistum in Aussicht stellte. Umso grösser hingegen war die Empörung in Graubünden, manifestiert durch die Vertreter des Corpus Catholicum und des Grossen Rats, welche diese Neuschöpfung nie anerkannten. Dessen ungeachtet ratifizierte das Katholische Grossratskollegium von St. Gallen am 1. Mai 1823 das Konkordat, und am 2. Juli 1823 erliess Pius VII. die Errichtungsbulle «Ecclesiae quae antiquitate», welche am 14. April 1824, zwar ohne ausdrückliche Sanktionierung in die Abb. 19: Errichtungsbulle des Doppelbistums Chur-St. Gallen vom 2. Juli 1823 [AKSG] <?page no="43"?> 43 3. Das Doppelbistum Chur-St. Gallen 1823-1836/ 1847 kantonale Gesetzessammlung aufgenommen wurde. Am 27. September 1824 schliesslich präkanonisierte Papst Leo XII. den Churer Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein auch zum Bischof von St. Gallen. Buol-Schauenstein nahm am Gallusfest (16. Oktober) 1824 Besitz von der zur Kathedrale erhobenen Stiftskirche in St. Gallen, ernannte den früheren st. gallischen Konventualen Ämilian Hafner (1765-1847) auf den 1. Januar 1825 zum Generalvikar und bestellte für ihn einen geistlichen Rat. Damit erlosch die provisorische Verwaltung der ehemals fürstäbtischen und konstanzischen Gebiete. Doch Verzögerungen in der Ernennung eines Domkapitels (erst 1830) und rasche Entfremdung des alternden und autoritär auftretenden Churer Bischofs machten das Doppelbistum verfemt; ja es erwies sich immer mehr als folgenschwerer Fehlentscheid. In einer Protestnote des Präsidenten und sämtlicher katholischen Mitglieder des Grossen Rats des Kantons Graubünden vom 25. Juni 1824 an den Churer Bischof sperrte sich die kantonale Vertretung gegen die «Vereinigung des alten und ehrwürdigen Bisthums Chur mit dem ehemaligen constantischen Bisthumstheil im eidgen. Kanton St. Gallen, sowohl in Bezug auf die Form als das Wesen, feyerlichst». Die Kreation ‹Doppelbistum› sähen sie weder als «rechtsbeständig» noch «definitiv» an, sondern lediglich als vorübergehende Verwaltungsform unter der Person des Bischofs Buol-Schauenstein. Abb. 20: Auszug - erste und letzte Seite - aus der beglaubigten Abschrift (11. Oktober 1824) der päpstlichen Ernennung vom 27. September 1824 für Karl Rudolf von Buol-Schauenstein zum Bischof des Doppelbistums Chur-St. Gallen [BAC] <?page no="44"?> 44 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur Abb. 21: Protestnote des katholischen Teils des Grossen Rats des Kantons Graubünden vom 25. Juni 1824 an den Churer Bischof [BAC] <?page no="45"?> 45 3. Das Doppelbistum Chur-St. Gallen 1823-1836/ 1847 Es darf deshalb nicht verwundern, dass nach dem Tod des Churer Oberhirten - Buol- Schauenstein starb am 23. Oktober 1833 in St. Gallen - das St. Galler Grossratskollegium bereits am 28. Oktober 1833 das Doppelbistum einseitig mit 71 gegen 8 Stimmen für aufgehoben erklärte. Im November 1833 hob dasselbe Gremium auch das örtliche Domkapitel auf. Der Konkordatsbruch rief den Protest der Nuntiatur in Luzern und des Staatssekretariats in Rom hervor. Doch erst am 6. August 1835 gelang die förmliche Revokation des einseitigen Beschlusses. Der neue Churer Bischof, Johann Georg Bossi (1835-1844), wurde lediglich provisorisch als Apostolischer Vikar akzeptiert; der nach dem Tod Buol-Schauenstein dieses Vikariatsamt versehende Johannes Nepomuk Zürcher erklärte in St. Gallen am 13. April 1835 in einem Schreiben an Nuntius Filippo de Angelis (1830-1839) seinen Rücktritt. Nach einem Verbot der Regierung des Kantons St.-Gallen, das dem st. gallischen Klerus jede weitere Beziehung mit dem Churer Oberhirten untersagte, bat der Administrationsrat den Papst um einen Bistumsverweser in der Person eines im Kanton St. Gallen tätigen Weltklerikers. Gregor XVI. ernannte hierauf Pfarrer Johann Peter Mirer in Sargans (1829-1836), welcher aus dem bündnerischen Obersaxen stammte, zum Apostolischen Vikar und nahm durch Konsistorialdekret vom 23. März 1836 die Trennung des Bistums St. Gallen vom Churer Sprengel vor. Die Luzerner Nuntiatur zeigte die Dismembration per Dekret vom 26.-April 1836 dem Churer Bischof an. Abb. 22: Trennung des St. Galler Sprengels vom Bistum Chur, Konsistorialdekret vom 23. März 1836 [AKSG] <?page no="46"?> 46 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur St. Gallen besitzt also de iure seit 1836 ein selbständiges Bistum; bis es aber de facto so weit war, verstrichen nochmals elf Jahre, die geprägt waren von harten Auseinandersetzungen. Mit Schreiben vom 27. November 1837 an den Churer Bischof verlangte der Katholische Administrationsrat des Kantons St. Gallen die Aushändigung aller Akten der Pfarrgemeinden im Sarganser- und Gasterland sowie im oberen Rheintal, welche ursprünglich bis zur St. Galler Kantonsgründung 1803 im Dekanatsverband ‹Unter der Landquart› zum Bistum Chur gehört hatten. Die erst am 23. September 1839 mit Rom wieder aufgenommenen Verhandlungen wegen den strittigen Fragen über die Errichtung des Domkapitels und besonders über die Regelung der Bischofswahl zogen sich bis 1844 hin. Als dann endlich ein Konkordat mit begleitenden Ausführungsbestimmungen ausgehandelt und vom katholischen Grossratskollegium am 21. Oktober 1844 bzw. am 14. November 1845 angenommen worden war, wurde es von dem wegen des bevorstehenden Jesuitenverbots in Kulturkampfstimmung tagenden allgemeinen Grossen Rat des Kantons St. Gallen vorerst zurückgewiesen. Der Rat sanktionierte dann aber am 21. November 1845 mit 145 gegen 5 Stimmen das mit dem Heiligen Stuhl am 7. November abgeschlossene und von Nuntius Girolamo d’Andrea (1841-1845) unter Vorbehalt modifizierte Konkordat über die Reorganisation der Diözese St. Gallen - allerdings mit der antipäpstlichen Bedingung regierungsrätlicher Plazetierung jeder Bischofswahl. Der Tod Gregors XVI. (1846) und insbesondere der von Rom nicht angenommene Vorbehalt der st. gallischen Kantonsregierung verzögerten die päpstliche Approbation. Wohl ernannte Papst Pius IX. (1846-1878) Johann Peter Mirer zum ersten Bischof von St. Gallen (1846-1862), die Erektionsbulle «Instabilis rerum humanarum natura» wurde hingegen erst am 8. April 1847 ausgestellt, ohne aber dabei die strittigen Punkte der Bischofswahl aufzunehmen. Zusammen mit der ungekürzten Fassung des Konkordats von 1845 und deren Vollzugsbedingungen nahm man die Bulle in Abb. 23: Errichtungsbulle des Bistums St. Gallen vom 8. April 1847 [AKSG] <?page no="47"?> 47 3. Das Doppelbistum Chur-St. Gallen 1823-1836/ 1847 die Gesetzessammlung des Kantons St. Gallen auf. Am 29. Juni 1847 fand die Bischofsweihe Mirers durch Nuntius Alessandro Macioti (1845-1848/ 50) in der Kathedrale zu St. Gallen statt. Das am Vorabend des Sonderbundkrieges (3.-29. November 1847) und des gesamtschweizerischen Kulturkampfes reorganisierte Bistum St. Gallen hatte nicht nur Bestand, sondern fand schnell die Zustimmung der Katholiken und half auch bei der Vereinheitlichung des künstlich gebildeten Kantons wesentlich mit. Zur äusseren Geschichte des Bistums gehört schliesslich die am 5. Januar 1866 durch päpstliches Konsistorialdekret vollzogene Ablösung der Administratur der beiden durch den Kanton St. Gallen geographisch umschlossenen Halbkantone Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden vom Bistum Chur und deren (bis heute andauernde) provisorische Angliederung an den Sprengel von St. Gallen. Abb. 24 (links): Johann Peter Mirer aus Obersaxen, Pfarrer in Sargans (1829-1836), Apostolischer Administrator (1836-1847) und erster Bischof von St. Gallen (1847-1862) [BAC.BA] / Abb. 25 (rechts): Ehemalige Benediktinerabtei- und seit 1823 Kathedralkirche des Bistums St. Gallen [BAC.BA] <?page no="48"?> 48 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur 4. Schwierigkeiten bei der Eingliederung des Kantons Schaffhausen in das reorganisierte Bistum Basel 1858 / 1978 Der Kanton Schaffhausen, d. h. die einzige katholische Pfarrei Ramsen, gehörte zum alten Bistum Konstanz. 1815 wurden die dortigen Katholiken dem Apostolischen Vikar Göldlin von Tiefenau unterstellt; nach dessen Tod 1819 kam Schaffhausen wie der andere ehemalige konstanzische Bistumsanteil unter die Administration von Chur. Obwohl der Anschluss Schaffhausens an das 1828 reorganisierte Bistum Basel bereits 1831 thematisiert wurde, blieb die Angelegenheit bis 1840 unbearbeitet. Der Auslöser, sich von Chur definitiv zu trennten, waren die Schwierigkeiten bei der Neugründung der ersten römisch-katholischen Pfarrei in der Stadt Schaffhausen und deren Besetzung durch einen von Chur genehmen Priester. Bereits unter dem 22. Dezember 1836 genehmigten die Kantonsbehörden die Abhaltung eines katholischen Gottesdienstes in der Stadt unter diversen, im Januar 1837 festgesetzten Bedingungen, dass [1.] die daselbst wohnhaften Katholiken zuerst einen Kapitalstock von 20'000 Gulden nachweisen mussten, [2.] dass «zur Vermeidung künftig möglicher Ansprüche» lediglich die Nennung einer «Genossenschaft der Katholiken», nie aber der Name einer katholischen Gemeinde zu gebrauchen sei. Drittens war eine Zusammenkunft der Katholiken nur zwecks liturgischer Feiern in dem entsprechenden Lokal (Kapelle) erlaubt. Viertens stand dem Kleinen Rat des Kantons Schaffhausen unter Zuzug von drei Mitgliedern der Katholischen Genossenschaft die Wahl des Seelsorgers aus einer durch den kantonalen Kirchenrat zusammengestellten Dreierliste zu. Um den entstandenen Schwierigkeiten mit dem Churer Ordinariat betreffend diesen Wahlmodus und der aus Chur kirchenrechtlich benötigen Bestätigung des so gewählten Geistlichen auszuweichen, beantragte die Kantonsregierung beim Nuntius die Unterstellung der Katholischen Genossenschaft in Schaffhausen unter die provisorische Administration des Bischofs von Basel; diese erfolgte am 25. Mai 1841. Am 3. Juni 1841 zeigte der Bischof von Basel, Joseph Anton Salzmann (1829-1854), der Schaffhauser Regierung den entsprechenden Wechsel an. Der Delegationsakt bezog sich jedoch nur auf die damals noch nicht formell errichtete Pfarrei in der Stadt Schaffhausen, während die ältere katholische Pfarrgemeinde Ramsen unter der Administration von Chur verblieb. Bei solcher Rechtslage waren Unsicherheiten in der Verwaltung kaum vermeidbar. So schrieb am 19. Februar 1857 der Bischof von Basel, Karl Arnold-Obrist (1855-1862), an den Churer Generalvikar Albert von Haller (1855-1858): «Da mein seliger Vorgänger provisorisch, gemäß einer Erklärung des Hochwürdigsten Herrn Bischofs von Chur, die Jurisdiction nicht nur über Schaffhausen, sondern auch über Ramsen ausübte, habe ich auch bona fide dasselbe gethan; sollte dies gegen den Willen des Hochwürdigsten Herrn Bischofs seyn, so werde ich pflichtgetreu davon mich zurückhalten.» Mit Datum vom 11. Februar 1858 kam es zu einem neuen Beitrittsvertrag, der den ganzen Kanton an das Konkordat von 1828 anbinden sollte. Er wurde zwar von der Schaffhauser Regierung und dem Bischof von Basel unterzeichnet, von Rom aber nie ratifiziert. Seit dieser Zeit steht die gesamte katholische Bevölkerung, also auch diejenige von Ramsen, faktisch unter der Verwaltung des <?page no="49"?> 49 5. Eingliederung des Puschlav ins Bistum Chur 1869 Bischofs von Basel, de iure jedoch unterstand Ramsen als Pfarrei weiter der Administration durch das Bistum Chur. Noch 1882 lässt die Organisation, welche sich die Kirchgemeinde Ramsen gab, die Frage nach der Bistumszugehörigkeit offen. Erst hundert Jahre später, 1978 [! ], schlossen sich die Kantone Basel-Land, Basel-Stadt und Schaffhausen mittels eines Zusatzvertrages vollumfänglich dem Konkordat von 1828 an. Zu erwähnen ist: Erst 1885 wurde die neugotische Pfarrkirche St. Maria als erstes katholisches Gotteshaus in der Stadt Schaffhausen nach der Reformation eingeweiht; damals umfasste die katholische Bevölkerung von Schaffhausen etwa 4'000 Personen. 5. Eingliederung des Puschlav ins Bistum Chur 1869 Bereits 1803 wurde in einem Kommissionsbericht der Tagsatzung festgehalten, es sei bei einer neuen schweizerischen Diözesaneinteilung wünschenswert, den Tessin und das südbündnerische Puschlav von den Bistümern Mailand und Como abzutrennen. Weitere Schritte in dieser Frage (insbesondere betreffend Tessin) versuchte man 1819/ 20 und nochmals 1830; konkrete Ergebnisse blieben jedoch aus. Im März 1855 fasste dann der Grosse Rat des Kantons Tessin den Beschluss, das Kantonsgebiet kirchlich von den Diözesen Mailand und Como zu trennen und mit einem der schweizerischen Bistümer - Basel oder Chur - zu vereinigen. An den Bundesrat ging diesbezüglich am 21. Dezember 1855 eine ausführliche Denkschrift mit der Bitte, die Sache auf Bundesebene einer Lö- Abb. 26: Schloss Munot und Städtchen Schaffhausen am Rhein, Stahlstich von Ludwig Rohbock, 1844 [BAC.BA] <?page no="50"?> 50 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur sung zuzuführen. Mit Schreiben vom 4. Januar 1856 wandte sich auch der Kleine Rat des Kantons Graubünden nach Bern, berichtete darin über die ersten Bestrebungen (1853) zur Loslösung der Gemeinden Poschiavo und Brusio aus dem lombardischen Bistum Como und äusserte klar den Willen, sich der Initiative der Tessiner anzuschliessen. Am 19. März 1856 erging seitens des Bundesrates eine Note an den päpstlichen Geschäftsträger, Giuseppe Maria Bovieri (1848-1864); dieser leitete die Angelegenheit 1857 weiter an den Heiligen Stuhl. Als Ende 1857 von Bovieri noch keine Antwort zu erhalten war, bekundete der Bundesrat seine Absicht, die Angelegenheit vor die Bundesversammlung zu bringen, damit diese verbindliche Beschlüsse fasse, wenn man anders nicht zu einer gütlichen Verständigung kommen könne. In der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung lesen wir: «Daß dem Staate die Befugniß zusteht, sein Gebiet von fremder Episkopaljurisdiktion zu purifiziren, kann mit Grund nicht bestritten werden. Sie ist ein Ausfluß der Staatshoheit, die frei und unbeschränkt ist überall, wo der Staat nicht positiv darauf verzichtet hat. Den Rechten der Kirche tritt die Purifikation nicht entgegen; denn solche, wie die Territorialeintheilung der Bischofssprengel überhaupt, berührt nicht die unveränderlichen, auf göttlichen Sazungen beruhenden Einrichtungen der Kirche, sondern nur deren äußere Verhältnisse, die in ihrer Entstehung und Entwicklung ausschließlich auf menschliche Geseze sich gründen.» Am 15. Juni 1859 beschloss die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft die Aufhebung jeglicher ausländischen kirchlichen Jurisdiktion auf Schweizer Gebiet. Betroffen war zum einen der Kanton Tessin, dessen Gebiet seit Jahrhunderten Abb. 27: Blick auf Poschiavo (um 1860) [BAC.BA] <?page no="51"?> 51 5. Eingliederung des Puschlav ins Bistum Chur 1869 den beiden Diözesen Mailand (davon 54 Pfarreien) und Como (mit 183 Pfarreien) unterstand, zum anderen das bündnerische Val Poschiavo (mit 2 Pfarreien, 10 Geistlichen und 3'200 Katholiken), welches kirchlich zu Como gehörte. Obwohl sich eine Minderheit der ständerätlichen Kommission mittels einer schriftlich eingereichten Note vom 22. Juli 1859 gegen diesen Beschluss und gegen die Trennung schweizerischer Gebietsanteile von den betroffenen Bistümern Como und Mailand ausgesprochen hatte, indem sie betonten, die Angelegenheit sei Sache der Kantone und nicht des Bundes, wurde der Antrag des Bundesrates von National- und Ständerat grossmehrheitlich abgesegnet. Dies hatte für die beiden Pfarrsprengel Brusio und Poschiavo alsbald Konsequenzen. Noch am 8. bzw. 24. Mai 1856 sandte sowohl die Gemeinde Brusio als auch Poschiavo je eine ausführliche Protestnote gegen die Lostrennung von Como an den Bundesrat nach Bern; zudem lag eine Petition an die Regierung des Kantons Graubünden vor, die beiden Pfarreien kirchlich im alten Verhältnis zu belassen. Der nationale Beschluss aus Bern von 1859 zwang aber zur Änderung; Amtshandlungen des Comer Ordinarius im Val Poschiavo waren untersagt. Aber auch der Churer Bischof konnte die Hirtensorge nicht wahrnehmen, solange die römische Kurie die Umverteilung der Talschaft noch nicht vorgenommen hatte. Aus dem Schreiben vom 22./ 26. September 1860 des Kleinen Rates des Kantons Graubünden an das Bischöfliche Ordinariat Chur erfahren wir, dass der Heilige Stuhl die Ablösung des Val Poschiavo aus dem Diözesanverband Como und die Eingliederung in das Bistum Chur befürwortete, «sofern diesen Landestheilen gleiche Vorteile zugesichert bleiben, wie solche ihnen bisher zustanden». Seitens der Bündner Regierung sei man für konkrete Besprechungen mit Ordinariatsvertretern gerne bereit. Im November 1860 trafen sich der damalige Regierungspräsident Alois de Latour, Domdekan Abb. 28: Beglaubigte Abschrift des Vertrags vom 23. Oktober 1869 betreffend Überführung der Pfarreien Poschiavo und Brusio ins Bistum Chur [BAC] <?page no="52"?> 52 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur Christian Leonhard Demont (1860-1867) sowie Generalvikar und Offizial P. Theodosius Florentini OFMCap (1860-1865) zu ersten Gesprächen. 1867 trat das Bistum Como die Pfarreien Brusio und Poschiavo an Chur ab. Nach schwierigen, doch erfolgreichen Verhandlungen zwischen Bern (unter Beiziehung des Ständerates Renward Meyer von Schauensee aus Luzern [1856-1867], zweier Vertreter des Kantons Graubünden, Nationalrat Johann Rudolph von Toggenburg aus Laax [1861-1881] und Ständerat Remigius Peterelli aus Savognin [1864-1873; 1881-1892]) und dem Heiligen Stuhl gelang in Luzern am 23. Oktober 1869 die Übereinkunft, so dass seit dessen Ratifizierung am 29. August 1870 in Bern durch den Geschäftsträger des Heiligen Stuhls, Giovanni Battista Agnozzi (1868-1873), und den Bundespräsidenten Jakob Dubs (Bundesrat 1861-1872) sowie der Publikation dieser Unterstellung am 16. März 1871 der gesamte Kanton Graubünden der bischöflichen Hirtensorge des Churer Ordinarius obliegt. Abb. 29: Bundesbeschluss vom 15./ 22. Juni 1859, publiziert im Amtsblatt des Kantons Graubünden (Chur, 2. September 1859) [BAC] <?page no="53"?> 53 5. Eingliederung des Puschlav ins Bistum Chur 1869 In der Übereinkunft zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Heiligen Stuhl wird u. a. festgehalten (Original in französischer Sprache): § 1 «Die Gemeinden Poschiavo und Brusio werden als dem Bisthum Chur einverleibt anerkannt und genießen von nun an die nämlichen Rechte und stehen in gleichen Verbindlichkeiten wie jede andere Pfarrei dieser Diözese im Kanton Graubünden.» § 2 «Die betreffenden Gemeinden sind für die Abtretung vom bisherigen Bisthumsverband in der Vereinigung mit der Diözese Chur zu keiner Entschädigung oder Leistung, weder an das Bisthum von Como noch an dasjenige von Chur, verpflichtet.» Fazit: Das Bistum Chur in seinen alten Grenzen erlebte im Anschluss an die Umsetzung des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 zu Regensburg einen in materieller wie Abb. 30: Ratifizierung am 29. August 1870 der Eingliederung des Val Poschiavo ins Bistum Chur durch Nuntius Giovanni Battista Agnozzi und Bundespräsident Jakob Dubs [BAC] <?page no="54"?> 54 II. Untergang des Bistums Konstanz und Neuumschreibung des Bistums Chur ideeller Hinsicht äusserst schmerzhaften Gebietsverlust: 1816 verlor es zwei grosse katholische Stammlande, das Dekanat Walgau und das Dekanat Vinschgau, so dass die Bistumsgrenzen zunächst nur mehr Graubünden (ohne das Puschlav), das Urserntal, das Sarganser- und Gasterland, Teile des oberen Rheintals sowie das Fürstentum Liechtenstein umfassten. 1819 wurde Chur fast das gesamte Territorium der Schweizer Quart des Bistums Konstanz als Administrationsgebiet zugeteilt. Davon entschied sich der Kanton Schwyz per Übereinkunft und Bulle von 1824 definitiv für Chur. Das 1828 reorganisierte Bistum Basel umschloss die Kantone Bern, Luzern, Zug, Solothurn, Aargau und Thurgau und nach längerem Prozess wenigstens de facto auch Schaffhausen. Das bündnerische Puschlav als Teil des Bistums Como gelangte 1869 zum Churer Sprengel. Das Territorium des 1803 dekretierten Kantons St. Gallen schliesslich bildete zwischen 1824 und 1836 zusammen mit Chur den Status eines (wenig durchdachten) Doppelbistums. Der hier in den Hauptzügen nachgezeichnete Prozess der Neuzirkumskription des Bistums Chur kam jedoch keineswegs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Abschluss, sondern birgt in sich ein bis heute ungelöstes Problem. Der Churer Bischof ist nach wie vor für die Bistumskantone Uri (ohne Urserntal), Ob- und Nidwalden, Glarus und Zürich lediglich Administrator - konkret «Administrator Apostolicus [Dioecesis Constantiensis]» −, also Verwalter von Teilen einer Diözese, welche seit 1821 gar nicht mehr existiert; eine kirchengeschichtliche Kuriosität, die ihresgleichen sucht. Über die Pläne zur Bereinigung dieses (bislang) ungelösten Provisoriums mit Fokus auf die Urschweiz handelt das nächste Hauptkapitel. <?page no="55"?> 55 III. Die Urkantone und das Bistums Chur: «Das Provisorium als Anomalie und Quelle vieler Übelstände» - Überblick über die wichtigsten Pläne zur Bereinigung der (bislang) ungelösten Bistumsfrage Noch vor der von Nuntius Vincenzo Macchi (1818-1819) betriebenen Übergabe des Territoriums der Schweizer Quart des Bistums Konstanz als Administrationsgebiet an das Bistum Chur gab es diverse, aber letztlich unzulängliche Optionen zur Schaffung eines eigenen Bistums für die Zentralschweiz. Konkret ging es einerseits um ein Regularbistum Einsiedeln für den Kanton Schwyz «und auch etwa für andere Kantone, die dazu Lust haben» [1818]; dabei hätte der Abt von Einsiedeln die Bischofswürde erhalten. Andererseits dachte man an ein mögliches Säkularbistum, welches die Kantone Uri, Schwyz, Abb. 31: Die Cantone Uri und Unterwalden [um 1820], aus: Heinrich Keller, Atlas de la Suisse, Massstab: 1: 260'000, Grösse: 25,9 x 20,7 cm [Quelle: 2010 bey marcel@zumbo.ch] <?page no="56"?> 56 III. Die Urkantone und das Bistums Chur Unterwalden, Zug und Glarus umgriffen hätte, wobei die Residenz des Bischofs (aus dem Weltklerus [deshalb «säkular»]) von diesen fünf Diözesankantonen zu bestimmen war. Doch die Ansichten der einzelnen miteinander unterhandelnden Kantone waren derart konträr, dass keine Einigung zustande kam. 1. Erfolglose Verhandlungen der Kantone Uri und Unterwalden, ob und nid dem Wald 1824-1832 Der Alleingang des Kantons Schwyz, welcher sich entgegen des auf der Januar-Tagung in Gersau 1819 gemachten Absichtserklärung der Innerschweizer Priesterkapitel, Uri, Schwyz und Unterwalden mögen bei einer Neuzirkumskription der Bistümer zusammen bleiben, 1824 definitiv dem Bistum Chur angeschlossen hatte, veranlasste die Vertreter der Kantone Uri und Unterwalden, ob und nid dem Wald, auf einer Konferenz in Bern am 5. August 1824 zu folgender Beschlussfassung zuhanden des Churer Bischofs: Die beiden Kantone würden beim Scheitern weiterer Ergebnis offener Verhandlungen lieber im bisherigen Status eines Provisoriums, also der Administratur ihrer Gebiete durch den Churer Bischof, verharren, bis der Anschluss an ein anderes Bistum möglich werde. Diese Haltung bekräftigte eine weitere Konferenz der drei Landammänner von Uri, Ob- und Nidwalden in Stans vom 28. März 1827. Sie liessen den Nuntius in Luzern wissen, die drei Stände würden von weiteren Unterhandlungen mit Chur zwecks eines definitiven Anschlusses an das Bistum Chur absehen. Ein Jahr später, auf der Konferenz in Stans am 30. Juli 1828, beschlossen Uri, Ob- und Nidwalden die Kontaktaufnahme mit dem inzwischen neu umschriebenen Bistum Basel (Zirkumskriptionsbulle vom 29. Mai 1828). Doch auch diese Pläne blieben bis 1830 ohne konkrete Fortschritte. Erst ein päpstliches Breve von Pius VIII. (1829-1830), datiert mit dem 23. Oktober 1830, an die Regierungen von Uri und Unterwalden, ob und nid dem Wald, gab der Option eines Anschlusses an Basel − wenn auch nur kurzzeitig − neuen Aufwind. Der Papst räumte darin wohl Bedenken der römischen Kurie ein, welche bis dato zu keinem befriedigenden Resultat geführt hätten. Nun aber habe er den Nuntius in Luzern, Filippo de Angelis, beauftragt, für eine definitive Einbindung der beiden Kantone Uri und Unterwalden in das Bistum Basel die dazu nötigen Schritte einzuleiten. Die geradezu in aller Eile bereits am 16. April 1831 in französischer Sprache abgefasste und vom Nuntius und den zuständigen Landammännern unterzeichnete Konvention für eine Inkorporation der Stände Uri, Ob- und Nidwalden in den Sprengel Basel bedurfte noch der Genehmigung durch die bereits bestehenden Basler Diözesanstände. Von diesen forderten die einen die Einberufung einer Konferenz aller betroffenen Stände, die anderen äusserten ihr Befremden über das rasche Vorgehen. Der Nuntius seinerseits drängte auf eine Publikation der Konvention und der auf den 18. September 1831 ausgestellten Bulle Gregors XVI. «Ad faciliorem», welche bereits in der Nuntiatur zur Promulgation bereitlag. Uri schliesslich sorgte sich bei einer Publikation der Bulle ohne vorherige Zustimmung der Diözesanstände um ein friedliches Zusammengehen mit Basel; insbesondere würde Uri und Un- <?page no="57"?> 57 1. Erfolglose Verhandlungen der Kantone Uri und Unterwalden, ob und nid dem Wald 1824-1832 terwalden so in ein ungünstiges Licht gerückt, welches sich negativ auf die künftigen Beziehungen zu den anderen Diözesanständen auswirken konnte. Eine Konferenz fand nicht statt, auch die Publikation der Bulle unterblieb und wurde Makulatur. Im Februar 1832 bricht dann die Aktenlage über die Bemühungen der Urschweiz, mit Basel zu einem Resultat zu kommen, endgültig ab. Uri und Unterwalden blieben weiter unter der (provisorischen) Administratur des Bischofs von Chur. Abb. 32: Beschluss des Grossen Rates des Kantons Schwyz vom 15. Oktober 1841 zur einseitigen Loslösung vom Bistum Chur [BAC] <?page no="58"?> 58 III. Die Urkantone und das Bistums Chur 2. Plan zu einem «Fünfwaldstätte»-Bistum 1846/ 47 In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts kam wieder Bewegung in die urschweizerische Bistumsfrage. Am 15. Oktober 1841 beschloss der Grosse Rat des Kantons Schwyz nach einer Umfrage, die durch Übereinkunft von 1824 geregelte Vereinigung mit Chur einseitig zu lösen und - dem alten Wunsch aus dem Jahre 1819 folgend - wenn immer möglich zusammen mit den anderen Urkantonen Uri und Unterwalden ein eigenes Bistum zu gründen. Die Luzerner Nuntiatur, welche ersucht werden sollte, vom Papst die Einwilligung zu erwirken, hielt sich zurück und verlangte vorerst einen Entwurf sowie eine Meinungsäusserung der einzelnen Stände. Die Sache verlief alsbald im Sand der Zeit; der Schwyzer Willkürbeschluss blieb ohne Auswirkung. Indessen trat im April 1846 Uri mit einem neuen Projekt auf den Plan, das schon 300 Jahre zuvor einmal zur Debatte gestanden hatte. Seine Initiative betraf die Schaffung eines Bistums der fünf alten Orte der Eidgenossenschaft - also Uri (mit Ursern), Schwyz, Unterwalden, Zug und Luzern (ein sog. «Fünfwaldstätte»-Bistum). Trotz ablehnender Haltung seitens Zug arbeitete Uri im Mai 1847 einen Entwurf aus, welcher den betroffenen Ständen unterbreitet wurde. Obwohl auch dieses Projekt aufgrund der politischen Unruhen in der Schweiz keine Umsetzung fand, seien aus diesem Entwurf, welcher als Grundlage zu Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl gedacht war, einige Punkte kurz vorgestellt. Als Bischofsitz des fünf Kantone umfassenden Sprengels war Luzern vorgesehen; die Stiftskirche St. Leodegar sollte zur Kathedrale erhoben werden. Der Ordinarius mit einem vorgesehenen Jahresgehalt von 5'000 Franken war vom Domkapitel aus dem Diözesanklerus zu wählen und vom Heiligen Stuhl nach Prüfung über seine Eignung Beschluss des hohen Großen Rathes des Kantons Schwyz d d 15 October 1841 Nach weiter fortgesetzter Umfrage ward einmüthig beschlossen: 1. daß es im Wunsch und Willen des Großen Raths liege, die bis dato bestandenen Verhältnisse mit dem Bisthum Chur zu lösen und wenn immer möglich, mit den beiden andern Urständen gemeinsam ein eigenes Bisthum zu gründen; dass er zu diesem Ende 2. die hohe Regierungskommission beauftrage: a. sich mit dasiger hochwürdiger Geistlichkeit ins Einverständniß zu setzen und b. vereint mit derselben an die hohe Nuntiatur sich zu wenden und durch hochderselben Vermittlung und Unterstützung die Einwilligung des Heiligen Vaters nachzusuchen und zu erwirken; c. unter Kenntnißgabe von diesem Entschlusse an die beiden hohen Urstände diese zu gemeinsamen Schritten einzuladen. [L. S.] Für getreuen Protokollauszug Der Kanzleidirector A. Eberle <?page no="59"?> 59 2. Plan zu einem «Fünfwaldstätte»-Bistum 1846/ 47 kanonisch einzusetzen. Das Kathedralkapitel bestand laut Entwurf aus 12 Domherren (6 Residentiale, 6 Ruralkanoniker) - wiederum ausschliesslich aus dem diözesanen Weltklerus. Von den sechs residierenden Kanonikern waren fünf von der Regierung des Standes Luzern aus den Chorherren des bisherigen Stiftes St. Leodegar zu wählen, nur einer sollte alternierend aus den anderen vier Kantonen hinzukommen; der Modus des Auswahlverfahrens blieb noch offen. Jeder der fünf Bistumskantone sollte ferner einen oder zwei bischöfliche[n] Kommissar[e] erhalten; diese Aufgabe konnte auch mit dem Amt eines nicht-residierenden Domherrn verknüpft werden. Nicht zuletzt war die Gründung eines eigenen Seminars (mit Sitz in Luzern) ein wichtiger Punkt, welcher in einem späteren Konkordat mit zu berücksichtigen war. Das Bischöfliche Ordinariat Chur an Landammann und Regierungsrath des eidgenössischen Stands Unterwalden nid dem Wald, ob dem Wald, Uri. Hochgeachter Herr Landammann! Hochgeachte Herren Regierungsräthe! Anfangs September dieses Jahres hat das Ordinariat an sämtliche geistliche Capitel ein Circular erlassen, worin dieselben angegangen wurden, sich für Aufhebung des Provisoriums und für Anschluß an ein Bisthum zu verwenden. Wir legen eine Copia desselben bei. Sämtliche Capitel haben hierauf übereinstimmend erwidert, daß sie aus den im Ordinariats-Erlasse angeführten Gründen sich für Aufhebung des Provisoriums und für Anschluß unter annehmbaren Bedingungen verwenden und die Initiative ergreifen werden. Nachdem sich die gesamte Geistlichkeit in diesem Sinne ausgesprochen, nimmt sich das Ordinariat die Freiheit, auch Jhre hohe Behörde mit der gleichen Angelegenheit zu behelligen. Den Gründen, die im Schreiben an die hochwürdige Geistlichkeit angeführt worden, ist nichts weiters beizufügen; sie sprechen von selbst. Weitere Verschiebung kann die Regierung nicht fordern; sie ward schon beinahe ein halbes Jahrhundert verschleppt; sie würde aber auch vom Hochwürdigsten Bischofe nicht weiter zugestanden werden, da Hochderselbe fest entschlossen ist, eher die Administration in die Hände des Heiligen Vaters zurückzustellen, als sie länger provisorisch fortzusetzen. Eine annehmbare Vereinigung läßt sich bei gutem Willen zweifelsohne zu Stande bringen. Das Ordinariat ersucht demnach die hohe Regierung, die Angelegenheit mit möglichster Beförderung zu Handen zu nehmen, im Vereine mit der hohen Geistlichkeit und den Regierungen von [… Name muss hier eingesetzt werden …] Vorschäge zu vereinbaren und einzureichen, welche die Basis gemeinsamer Berathung zu bilden und in ihrem Abschlusse dem Heiligen Stuhle zur Genehmigung vorgelegt zu werden geeignet sind. Gewärtigend, daß die katholische Gesinnung hohe Regierung auch bei diesem Anlasse sich kund gebe, zeichnet Chur, den 4. November 1861 <?page no="60"?> 60 III. Die Urkantone und das Bistums Chur 3. Neue Initiativen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einen vermeintlich neuen Antrieb gab der Bistumsfrage der Ordinariatserlass und das entsprechende Zirkularschreiben des Churer Bischofs Nikolaus Franz Florentini (1859- 1876) vom 4. November 1861 [Wortlaut-S. 59], womit er unter Einfluss seines Verwandten und Churer Generalvikars P. Theodosius Florentini OFMCap gegenüber den Innerschweizer Ständen das Provisorium einseitig aufhob, ohne aber eine wirkliche Lösung voranzubringen. Denn die anfangs Oktober 1861 zusammen getretene Innerschweizer Geistlichkeit - hier am Beispiel Nidwaldens - zeigte sich lediglich damit einverstanden, «daß das Provisorium einmal aufgehoben werden möchte und wünscht unter billigen und annehmbaren Bedingungen definitiv einem Bisthumsverbande beizutreten». Hierfür sei eine Kommission zu gründen, um zusammen mit den jeweiligen Priesterkapiteln, den örtlichen Regierungen und dem Ordinariat eine geeignete Lösung zu finden. In der Folge griff Obwalden in einem Kreisschreiben an die Innerschweizer-Stände vom 31. Januar 1862 die Idee eines Bistums «Waldstätte» der drei Urkantone auf in der Erwartung, dass sich auch Schwyz, das übrigens die staatliche Anerkennung seiner Abb. 33: Zirkularschreiben des Churer Bischofs Nikolaus Franz Florentini vom 4. November 1861 über den Ordinariatsbeschluss zur Aufhebung des Provisoriums [BAC] <?page no="61"?> 61 3. Neue Initiativen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bistumszugehörigkeit von Graubünden bislang nicht erreicht hatte, beteiligen würde. Bischofssitz sollte nämlich Schwyz werden, als Kathedrale die Pfarrkirche St. Martin dienen, das Domkapitel aus einem einzigen residierenden und zehn nichtresidierenden Kanonikern bestehen. Das praktische Jahr vor der Ordination von diözesanen Priesteramtskandidaten hatte - wenn möglich - im Kloster Einsiedeln seinen Standort zu finden [Text des Organisationsentwurfs S. 62-65]. Obwohl Obwalden auf der Konferenz in Beckenried am 7. April 1862 die Gründung eines eigenen Innerschweizer Bistums als «Pflicht» bezeichnete, waren Schwyz und Uri dem neuen Projekt keineswegs besonders wohl gesonnen. Verhandlungen kamen denn auch über vertrauliche Besprechungen nicht hinaus. Schwyz regte schliesslich 1869 neue Verhandlungen mit Graubünden an, wofür sich auch das bündnerische Corpus Catholicum einsetzte, so dass es am 13./ 14. Oktober 1869 in Chur zu einer ersten Zusammenkunft mit Abgeordneten beider Stände kam, ohne aber einer Lösung in der Frage der Neuzirkumskription des Bistums Chur näher zu kommen [Protokoll der Zusammenkunft S.-65 f.]. Abb. 34: Organisationsentwurf zu einem Bistum der Urkantone («Waldstätte») 1862, Seiten 1+2 [BAC] <?page no="62"?> 62 III. Die Urkantone und das Bistums Chur Abb. 35: Organisationsentwurf zu einem Bistum der Urkantone («Waldstätte») 1862, Seiten 3+4 [BAC] Umfang des Bistums Local Wohnsitz Mobilien Unterhalt Kathedrale Organisations-Entwurf eines Bisthums der drei Urkantone § 1 Die drei Urkantone Uri, Schwyz, Unterwalden Ob und Nid dem Wald bilden zusammen ein eigenes Bisthum, das Bistum «Waldstätte». § 2 Schwyz wird als Residenz des Bisthums bestimmt. Dasselbe hat auf eigene Kösten dem Bischofe und seinem Kanzler eine der Würde des ersteren angemeßene feine Wohnung anzuweisen und einzurichten, sowie deren Unterhalt und das dortselbst nöthige Baumaterial zu tragen. Die Pfarrkirche in Schwyz wird mit Beibehaltung ihrer bisherigen Eigenschaften einer Pfarrkirche zur Cathedrale erhoben und wird die nöthigen Paramente für den Gottesdienst u.s.w. unbeschwert der übrigen Stände zum Gebrauche hergeben. <?page no="63"?> 63 3. Neue Initiativen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bischofswahl Kanonische Errichtung Besoldung Kanzler Eid der Treue Rechtsverhältnisse zwischen Kirche und Staat in gemischten Dingen Concordate Domkapitel und geistlicher Rat § 3 Die Wahl des ersten Bischofs aus der Geistlichkeit der Diözesanstände wird dem Heiligen Vater anheimgestellt. Bei späterer Erledigung des Bischofssitzes versammeln sich am Hauptorte der Diözese das Domkapitel (§ 8) nebst je zwei Abgeordneten der Regierungen der Diözesanstände (von Uri und Schwyz je zwei, von Ob- und Nidwalden je einer). Diese schlagen in gemeinsamer Verständigung oder durch absolute Stimmenhoheit in geheimen Skrutinium dem Heiligen Vater einen Kandidaten zur Wahl vor. Der Entscheid über diesen Vorschlag (Praesentatio) wird letzterer in möglichst kurzer Frist dem Capitelvicar zu Handen der Diözesanregierungen mittheilen. § 4 Nach stattgefundener kanonischer Einsetzung des neugewählten Bischofs wird derselbe eine jährliche fixe Besoldung von 7000 Franken nebst seiner Wohnung (§ 2) beziehen. Er ist hiebei aber gehalten, in Fällen längerer Krankheit oder geistigen oder körperlichen Unvermögens einen Generalvikar oder Offizial auf seine Kosten zu unterhalten. Desgleichen liegt ihm ob, dem von ihm gewählten Kanzler freien Tisch und eine von den Diözesanständen an besonders zu leistende jährliche Besoldung von 1000 Franken zu verabreichen. § 5 Der neu gewählte Bischof wird vor seiner Installation gemäß einer zu vereinbarenden und päpstlich zu genehmigenden Formel den Diözesanregierungen den Eid der Treue leisten. § 6 Der Bischof hat seine Erlasse, falls solche bürgerliche Verhältnisse betreffen, den Diözesanregierungen zur Einsicht und Verständigung vorzulegen. Auch werden die Organe des hochwürdigsten Bischofs in bisheriger Weise fortfahren, Erlasse anderweitigen Inhalts, welche zur allgemeinen Veröffentlichung bestimmt sind, den Regierungen einfach mitzutheilen. Desgleichen werden auch letztere ihre legislatorischen Erlasse, insofern dieselben kirchliche Rechte beschlagen, dem Bischofe mittheilen und sich mit ihm darüber verständigen. § 7 Die in den Waldstätten bis anhin bestandenen Rechte und Privilegien in kirchlichen Dingen bleiben den weltlichen Behörden im Allgemeinen gewahrt. Im Interesse größerer Gemeinsamkeit wird aber ein mit dem Bischof abzuschließendes Concordat die Verwaltung des Kirchengutes, des Gottesdienstes, der Ehegerichte in gegenseitiger Verständigung ordnen. § 8 Das Domkapitel bilden nebst einem vom Heiligen Vater zum Domherrn geistlicher Rat zu wählenden, in Schwyz residierenden, an dortiger Pfarrkirche bereits verpfründeten Geistlichen, zehn nicht <?page no="64"?> 64 III. Die Urkantone und das Bistums Chur residierende Domherren. Dazu werden aus Schwyz zwei, aus Uri, Ob- und Nidwalden je ein Weltgeistlicher, der bisher mit Eifer und Klugheit einer Seelsorge vorgestanden, unter Genehmhaltung der resp. Regierung vom Bischofe gewählt. Diese bilden nebst dem vom Heiligen Vater gewählten Domherrn den geistlichen Rath des Bischofs, residieren nicht in Schwyz, sondern werden vom Bischofe bei wichtigen Geschäften einberufen, wo sie dann ein Taggeld von 10 Franken ohne weitere Entschädigung erhalten. Die andern fünf Domherren, ebenfalls vom Bischofe auf Vorschlag der fünf Capitel der Diözesanstände gewählt, werden nur zum Wahlvorschlage des Bischofs, oder bei dessen Tode zur Wahl des Capitelvicars einberufen, wo sie das gleiche Taggeld wie die geistlichen Räthe beziehen. § 9 Für Uebernahme der Theologie und des Seminars während dem letzten praktischen Jahre ist das löbliche Stift Einsiedeln durch die zuständige Behörde zu ersuchen, oder mit dem Bischofe darüber ein anderweitiges Einverständniß zu treffen. § 10 Die Diözesanstände verpflichten sich zur ordentlichen Abreichung der stipulierten Gehalte des Bischofs, des Kanzlers, der geistlichen Räthe und übrigen Domherren, so wie für gehörige Leistung anderer pflichtiger Zuschüße und Beiträge an gemeinsame Diözesanunkosten, wofür vorab die Zinsen der Diözesanfonds angewiesen werden. Diese Beiträge sind von den Kantonen in billiger Würdigung allseitiger Verhältnisse mit besonderer Rücksicht auf Bevölkerung, vorhandene Fonde, Repräsentation u.s.w., zu tragen. Ueber weitere Fondierung des Bisthums werden sich die Regierungen mit dem Heiligen Stuhle durch spätere Unterhandlungen ins Einverständniß setzen. Sollten in der Folge noch andere Kantone dem Bisthum «Waltstätte» beitreten, so hätten dieselben die Kosten nach Verhältniß zu tragen, in welchem Falle dann solche um so viel den bisherigen Diözesanständen abzunehmen wären. Auch bleibt für diesen Fall eine den Umständen angemeßene Erhöhung der bischöflichen Tafel vorbehalten. § 11 Bei eintretender Erledigung des Bischofssitzes wird das Domkapitel sofort durch den Kanzler oder Offizial zur Wahl eines Kapitelvicars einberufen. Derselbe hat in seinem Einverständniße die in § 2 näher bezeichneten Behörden zur Vornahme des Wahlvorschlags eines neuen Bischofs zu versammeln. Seminar Fundation Vacatur <?page no="65"?> 65 Protokoll der Churer Conferenz vom 13 . & 14 October 1869 zwischen den Herren Landammann Damian Camenzind und Regierungsrath Carl Kumin als Abgeordnete der hohen Regierung des Standes Schwyz und den Herren Regierungspräsidenten Dr. Augustin Condrau und Professor Placidus Plattner als Delegierte der hohen Regierung des Standes Graubünden in Sachen einer neuen Circumscription und Reorganisation des Bisthums Chur. Da dem Vertrag vom 3. August 1824 zwischen Fürstbischof Carl Rudolph von Chur und dem hohen Stand Schwyz die Sanktion des hohen Standes Graubünden niemals ertheilt worden und mithin Unterhandlungen auf dieser Grundlage die Bisthumsangelegenheit kaum fördern dürften, so wurden vorab von den Delegierten der hohen Regierung von Graubünden folgende Präliminarien als Basis anzubahnender Unterhandlungen in Anregung gebracht: 1. Den Maßstab für die Zusammensetzung des Domkapitels gibt die Combination des Prinzips der Volkszahl mit dem Diözesanvermögen und der geschichtlichen Stellung der Stände zum Bisthum. 2. In Gemäßheit dieser Combination behielt sich die alte Diözese die Hälfte der Canonikate vor; die andere Hälfte soll der Gesamtheit der bisher administrierten Stände zufallen und nach Maßgabe der Seelenzahl unter dieselben repartiert werden, so daß Schwyz sechs Canonikate erhielte. 3. Das Domkapitel besteht aus 24 Domherren, von welchen sechs das Residentialkapitel bilden und mit Pfründen ausgestattet sind. 4. Mit Ausnahme der Wählbarkeit auf die Dechantei, welche einem gebornen Graubündner vorbehalten bleibt, wird sämtlichen Domkapitularen das Wahl- und Wählbarkeitsrecht für alle Hochstiftspfründen eingeräumt. 5. Das gleiche gilt bezüglich der Wählbarkeit, unter der Voraussetzung der kanonischen Erfordernissen, für alle Priester der Diözese. 6. Hinsichtlich der residierenden Domherren ist eine Erweiterung der Wahlrechte des Domkapitels in dem Sinne wünschbar, daß dasselbe bei allen Wahlen - ausserhalb der päpstlichen Monaten - mitwirken würde. 7. Die organische Mitwirkung der Laienvertretung bei den Canonikatswahlen der betreffenden Stände ist in Aussicht zu nehmen. 8. Die Besorgung der katholischen Pfarrei Chur liegt dem Residentialkapitel ob. 9. Graubünden behält sich eine Umgestaltung der Dompropsteipfründe vor. 3. Neue Initiativen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts § 12 Die auf die Vakaturzeit entfallenden bischöflichen Einkünfte sind vorab zur Verabfolgung eines mäßigen Gehaltes an den Capitelvicar sowie zur Kostendeckung der Wahl und kanonischen Einsetzung des Bischofs zu verwenden. Verwendung des bischöflichen Einkommens während der Vacaturzeiten <?page no="66"?> 66 III. Die Urkantone und das Bistums Chur 10. Die allseitig gesuchte Nothwendigkeit der Hebung des Priesterseminars St. Luzius durch Vermehrung der Lehrkräfte und wissenschaftlichen Hülfsmittel sowie die Bedürfnisse der Kathedrale als Mutterkirche der ganzen Diözese erheischen eine angemessene Gegenleistung von Seite der sich anschliessenden Stände. Demzufolge macht Graubünden die Aushingabe der Erträgnisse der ehemals konstanzischen Diözesanfonds für die genannten Zwecke zur wesentlichen Bedingung einer abzuschliessenden Uebereinkunft. 11. Die Festsetzung des Organisationsplans für das Priesterseminar ist Sache einer besonderen Vereinbarung. 12. Die Hoheitsrechte der Stände in Bezug auf Eigenthum und Verwaltung ihrer Diözesanfundationen werden in ihrem vollen Umfang vorbehalten und hat in dieser Hinsicht dem Status quo zu verbleiben. 13. Insofern auf diesen Grundlagen die Unterhandlungen fortgeführt werden sollten, sind die übrigen administrierten Stände zu denselben einzuladen. Chur, den 14. October 1869. Für getreue Abschrift [Sig.] August[in] Condrau, Regierungspräsident. Für getreue Abschrift Die Cantonskanzlei Schwyz Der Canzleidirector A. Eberle. Abb. 36: Abschrift des Protokolls über die Sitzung vom 13./ 14. Oktober 1869 in Chur [BAC] <?page no="67"?> 67 4. Bemühungen zur Schaffung eines Definitivums in der Bistumsfrage unter Bischof Georgius … Die kirchlichen wie politischen Ereignisse in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - Erstes Vatikanum, Kulturkampf, Modernismus - beliessen so die Bistumsfrage für Uri und Unterwalden im seit 1819 bestehenden Provisorium einer Administratur durch den Churer Ordinarius. 4. Bemühungen zur Schaffung eines Definitivums in der Bistumsfrage unter Bischof Georgius Schmid von Grüneck 1909-1914/ 16 a) Erste Schritte Nachdem Georgius Schmid von Grüneck (1908-1932) aus dem bündnerischen Surrein den Churer Bischofsstuhl bestiegen hatte [siehe unten, S. 234-244], gab er der bald 100-jährigen ungelösten Angelegenheit neue Impulse. In einem vertraulichen Schreiben vom 30. September 1909 wandte er sich an den damaligen Bundespräsidenten Alfons Deucher mit der Anfrage, ob eine Änderung des Provisoriums in ein Definitivum unter Artikel 50 Abschnitt 4 der Bundesverfassung falle, welcher − als Folge des Kulturkampfes − seit 1874 für die Errichtung von Bistümern auf Schweizergebiet die Genehmigung des Bundes erforderte («Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiete unterliegt der Genehmigung des Bundes» - erst durch Volksabstimmung am 10. Juni 2001 mit 64,2% Ja-, zu 35,8% Neinstimmen aufgehoben). In seinem Antwortschreiben vom 11. Januar 1910 bestätigte der Bundesrat diesen Sachverhalt und betonte, der Paragraph gelte auch für Änderungen der Bistumsgrenzen innerhalb der Schweiz. Ferner fügte er hinzu, der definitive Anschluss der bisher provisorisch administrierten Kantone könne nur nach Zustimmung aller Churer Bistumskantone erfolgen. Um diese Hürde zu nehmen, lud Bischof Georgius die Urkantone zu einer Vorbesprechung nach Einsiedeln ein. Auf dieser Zusammenkunft am 24. Mai 1910 betonte der Churer Ordinarius die definitive Regelung der Bistumsfrage als ein Bedürfnis im Interesse des kirchlichen Lebens und einer besseren Verwaltung des ausgedehnten Sprengels. Auch sei eine längst fällige Diözesansynode nur möglich auf der Basis einer unerlässlichen Grundbedingung, nämlich derjenigen der Parität aller Bistumskantone. Vor weiteren Verhandlungen forderten die Landammänner der Stände Uri, Ob- und Nidwalden in einem Kollektivschreiben (unterzeichnet am 28./ 31. Mai [Altdorf/ Sarnen] bzw. 10. Juni 1913 [Stans]) den Kanton Graubünden zu einer eindeutigen Zusicherung auf, dass letzterer die Urkantone als ebenbürtige Glieder des Bistums anerkennen wolle, denn die bislang beharrliche Weigerung einer solchen Anerkennung seitens der Bündner Regierung sei nach wie vor das grösste Hindernis für den definitiven Eintritt in die Diözese Chur. Der Kleine Rat von Graubünden leitete das Schreiben aus der Innerschweiz am 1. August 1913 an die Verwaltungskommission des Corpus Catholicum weiter. Im Oktober 1913 ersuchte diese Kommission das bischöfliche Ordinariat Chur um ein Gutachten. <?page no="68"?> 68 III. Die Urkantone und das Bistums Chur b) Verwerfung der Ilanzer Artikel im bischöflichen Gutachten von 1914 Die von Georgius Schmid von Grüneck selbst verfasste und mit dem 7. März 1914 datierte Stellungnahme erreichte zusammen mit dem Entwurf eines Bistumsvertrags am 18. März die Verwaltungskommission des Corpus Catholicum. In seinen Ausführungen betonte Bischof Georgius, es sei nicht zuletzt der entschiedene Wunsch und Wille des Heiligen Vaters, dass das «abnormale Bistumsverhältnis» endlich geregelt werde. Damit die gewünschte Parität erreicht werden könne, sei von der Bündner Regierung endlich Abb. 37: Antwortschreiben des Bundespräsidenten Robert Comtesse (1910) im Namen des Gesamtbundesrates vom 11. Januar 1910 [BAC] <?page no="69"?> 69 4. Bemühungen zur Schaffung eines Definitivums in der Bistumsfrage unter Bischof Georgius … von den Ilanzer Artikeln aus dem Jahre 1526, insbesondere von Art. 18, wonach nur mehr ein Bündner (aus dem Gotteshausbund) als Bischof von Chur zuzulassen sei, Abstand zu nehmen. Einerseits hätten im 16. Jahrhundert keineswegs alle Gemeinden diesen Artikeln zugestimmt, geschweige denn ihnen staatrechtliche Geltung zugesprochen, sondern diese «als eine Vergewaltigung ihrer religiösen und kirchlichen Überzeugung» betrachtet. Andererseits sei es eine historische Tatsache, dass der Lindauer Vertrag von 1622 in Art. 7 bestimmte, die Wahl eines [Churer] Bischof solle an keinen Angehörigen des Gotteshausbundes gebunden oder beschränkt sein. Art. 8 desselben Vertrags bezeichnete zudem alle antikatholischen Artikel seit der Reformation als null und nichtig. Der viel beschworene Ilanzer Artikel sei nicht nur «längst de facto derogiert», sondern besitze auch «keine Rechtskraft» mehr; entsprechend bezeichnete Bischof Georgius die Bestimmungen aus dem 16. Jahrhundert als «überlebt». Hielte man also im 20. Jahrhundert gegenüber Schweizer Bürgern und Miteidgenossen weiter an solchen fest, wäre dies «ein Anachronismus in optima forma, welcher in der ganzen Schweiz als übel angebracht, ja als geradezu verletzend betrachtet werden müsste». Ja, «es wäre wirklich schwer zu erklären, wie der Stand Graubünden in kirchlicher Beziehung auf einen so engherzigen, rückständigen Standpunkt sich stellen könnte, während er doch in staatlicher Beziehung einer vollen Freizügigkeit huldigt, so dass jeder Schweizer Bürger, auch wenn er nicht im Besitze des bündnerischen Bürgerrechts ist, ungehindert zu den höchsten kantonalen Ämtern gelangen kann». Übrigens betone das eidgenössische Grundgesetz ausdrücklich, dass vor dem Gesetz alle Schweizer Bürger gleich seien. Dieser fundamentale Rechtssatz sollte nach Meinung des Bischofs auch bzgl. der kirchlichen Organisationen Geltung haben. Würde also der Stand Graubünden die Bitte der Urkantone abschlägig behandeln und auf längst ungültig erklärten Artikeln beharren, so würde «dieser Mangel an Entgegenkommen» nicht nur der Schweiz, sondern auch darüber hinaus ohne Zweifel «einen peinlichen Eindruck» hinterlassen. Dann gäbe es nur mehr zwei Wege: das Weiterbestehen eines unmöglich gewordenen Provisoriums, welches «eine Anomalie» darstelle und «die Quelle vieler Übelstände» sei, oder die gänzliche Trennung der Urschweiz von Chur. Vorausgesetzt, die Normen und Bestimmungen, welche im entworfenen Bistumsvertrag niedergelegt worden seien, bildeten die Basis des Anschlusses, sprach der Bischof am Schluss seines Gutachtens die Bitte an alle Mitglieder des Corpus Catholicum aus, dem Gesuch der Regierungen von Uri, Ob- und Nidwalden «in entgegenkommender, freund-eidgenössischer Weise» zu entsprechen und entsprechend auf die Bündner Regierung einzuwirken. c) Der Entwurf des Bistumsvertrags von 1914 Der dem bischöflichen Gutachten beigelegte Entwurf eines Bistumsvertrags (unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Apostolischen Stuhl) greift in seinen Hauptpunkten auf eine Vorgängerversion aus dem Jahre 1892 zurück; die überarbeitete Fassung des Vertrags von 1914 zwischen dem Bischof von Chur und dem Kanton Graubünden umfasste die Territorien der Innerschweizer Stände Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, dazu Glarus sowie die Katholiken im Kanton Zürich. <?page no="70"?> 70 III. Die Urkantone und das Bistums Chur • Der I. Teil betrifft das kirchliche und vermögensrechtliche Verhältnis der alten Bistumsteile (Graubünden, Ursern und Fürstentum Liechtenstein), deren bisherger Status unverändert bleibt. • Der II. Teil betrifft die bislang provisorisch mit dem Bistum Chur verbundenen Kantone Uri, Ob- und Nidwalden sowie Glarus; diese werden definitiv angeschlossen. Die Präsentationsrechte der dazu berechtigten Gemeinden auf Benefizien und Seelsorgeposten bleiben bestehen und der Fortbestand vorhandener kirchlicher Fonds in den einzelnen Kantonen garantiert (Verwaltung [unter strengen Bedingungen] durch die Stände). Man unterscheidet neu zwei Diözesanfonds: die jährlichen Erträge aus dem 1. Fonds sind stiftungsgemäss zu Diözesanzwecken zu verwenden (Mensa episcopalis, Unterhalt des Seminars St. Luzi und Kathedrale); die jährlichen Erträge aus dem 2. Fonds dagegen können mit Zustimmung des Diözesanbischofs zu kirchlichen Zwecken innerhalb der Kantone verwendet werden (Aufbesserung bedürftiger Pfründen, Unterstützung von Alumnen). Uri, Ob- und Nidwalden sowie Glarus erhalten je einen bischöflichen Kommissar. • Der III. Teil regelt die Beziehungen zum Kanton Schwyz, der in teilweiser Abänderung der Bulle «Imposita» vom 3. August 1824 auf die Basis der vollen Gleichberech- Abb. 38: Wortlaut des Entwurfs zu einem Bistumsvertrag von 1914, Seiten 1+2 [BAC und «Folia Officiosa»] <?page no="71"?> 71 4. Bemühungen zur Schaffung eines Definitivums in der Bistumsfrage unter Bischof Georgius … tigung mit den übrigen Ständen gestellt wird und als Churer Bistumsteil die bisher fehlende ausdrückliche staatliche Anerkennung des Kantons Graubünden erhält. Die beiden bischöflichen Kommissare (für Innerschwyz und für die March) bleiben bestehen. Vom bisherigen Kommissariat March-Glarus wird aber der Kanton Glarus getrennt; am bestehenden Priesterkapitel March-Glarus ändert sich dagegen nichts. • Der IV. Teil schliesslich betrifft die Katholiken im Kanton Zürich, welche ungeachtet des Grossratsbeschlusses vom 15. November 1875 kirchlich der Hirtensorge des Churer Bischofs unterstellt blieben [siehe unten, S. 109 f., 118]; auch ihnen wird völlige Parität garantiert unter der Voraussetzung, den ursprünglichen Diözesanfonds (etwas über 1'000 Fr.) zu stellen und regelmässig zu verzinsen; dessen Verwaltung wird dem Vorstand des Priesterkapitels Zürich übertragen. Mit Datum vom 5. Mai 1914 beantragte die Verwaltungskommission des Corpus Catholicum gegenüber dem Kleinen Rat die Zustimmung zum Vertragsentwurf. Nach längerem Seilziehen um eine Verabschiedung des Vertrags ohne Änderung, so dass sowohl das Paritätsprinzip aller Diözesanstände seitens Bünden erstmals unwidersprochen blieb als auch die freie Bischofswahl stillschweigendes Einverständnis erhielt, überreichte der Abb. 39: Wortlaut des Entwurfs zu einem Bistumsvertrag von 1914, Seiten 3+4 [BAC und «Folia Officiosa»] <?page no="72"?> 72 III. Die Urkantone und das Bistums Chur Kleine Rat des Kantons Graubünden am 21./ 29. Januar 1916 den Ständen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden sowie Glarus den Entwurf mit der Anfrage um Eintritt weiterer Verhandlungen. Am 24. Mai 1916 trafen sich in Ingenbohl auch die betroffenen Priesterkapitel mit dem Bischof. Obwohl nun endlich von staatlicher wie innerkirchlicher Seite eine hoffnungsvolle Basis zu einer baldigen Aufhebung des Provisoriums hergestellt war, verhinderten die Ereignisse des Ersten Weltkrieges (1914-1918) ein weiteres Vorankommen, das, obwohl nochmals 1928 aufgegriffen, nach dem Tod Bischofs Georgius 1932 für Jahrzehnte wieder einschlief. Abb. 40: Wortlaut des Entwurfs zu einem Bistumsvertrag von 1914, Seite 5 [BAC und «Folia Officiosa»] <?page no="73"?> 73 5. Neue Versuche: Der Kommissionsbericht der Schweizer Bischofskonferenz 1980 … 5. Neue Versuche: Der Kommissionsbericht der Schweizer Bischofskonferenz 1980 bzgl. Errichtung eines Bistums Luzern mit allen Innerschweizer Kantonen 1977 setzte die Schweizer Bischofskonferenz eine Projektkommission für eine «Neueinteilung der Bistümer der Schweiz» ein, die sich sehr wohl der Schwierigkeit der Aufgabe bewusst war und keineswegs als ihr Ziel, obwohl aus pastoralen Gründen wünschenswert, eine Änderung der bestehenden Bistumsgrenzen um jeden Preis herbeiführen wollte. Das Resultat wurde 1980 den Schweizer Bischöfen vorgelegt. Als Hauptvorschlag resultierte aus der dreijährigen Arbeit folgender: • Beibehaltung des Bistums Sitten (VS) • Beibehaltung des Bistums Lugano (TI) • Erweiterung des Bistums St. Gallen (SG, AI, AR) durch den Kanton Thurgau (TG) • Neuerrichtung eines Bistums Zürich (ZH und SH) [Bischofssitz: Zürich] • Neuerrichtung eines Bistums Luzern (LU, OW, NW, ZG) [Bischofssitz: Luzern] • Neuerrichtung eines Bistums Genf (GE) [Bischofssitz: Genf ] • Reduktion des Bistums Chur (GR, GL, UR, SZ und FL) • Reduktion des Bistums Basel (BS, BL, SO, AG, BE, JU) • Reduktion des Bistums Lausanne-Genf-Freiburg (FR, VD, NE) Abb. 41: Auszug aus der Karte mit dem Alternativvorschlag zu einem Bistum Luzern, Juni 1980 [Quelle: spi (Projektkommission «Bistumsgrenzen» der Schweizer Bischofskonferenz)] <?page no="74"?> 74 III. Die Urkantone und das Bistums Chur Als Alternative zum Hauptvorschlag wurde die Möglichkeit eines Bistums Luzern mit allen Innerschweizer Kantonen (LU, UR, SZ, OW NW, ZG) sowie daraus resultierend die Reduktion des Bistums Chur auf die Kantone GR, GL und dem FL in Erwägung gezogen. Der Nachteil dieser alternativen Lösung lag vor allem im geschichtlich-kulturellen Bereich: Durch die gleichzeitige Abkoppelung aller Urkantone und des Kanton Zürichs würde das Bistum Chur äusserst geschwächt hervorgehen (nur mehr 6 Dekanate mit 155 Pfarreien). Wie wir wissen, ist der Kommissionsbericht in den Schubladen des Archivs der Schweizer Bischofskonferenz verschwunden, ohne dass man bislang (mit Ausnahme der Abtrennung FL und dessen Erhebung zu einem Erzbistum 1997) [siehe unten, S. 156-160] eine weitere Lösung in der stringenten Frage nach dem Verbleib der Churer Administrationsgebiete angestrebt, geschweige denn erreicht hat. 6. Jüngste Initiative: Umfrage und Ergebnisbericht zu einem «Bistum Urschweiz» 2016 Das Zweite Vatikanische Konzil hatte bereits 1965 gefordert, die Grösse der Bistümer weltweit zu überprüfen; dazu legten die Konzilsväter nach längerem Ringen im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe «Christus Dominus» [Abschnitte 22-24] mit dem Augenmerk auf die geänderten pastoralen Bedürfnisse im 20. Jahrhundert Kriterien vor. Eine Teilkirche - sprich Diözese - sollte zum einen eine «organische Grösse» sein; das bedeutet, dass sie als zusammenhängendes Territorium im Kleinen die Vielfalt des ganzen Volkes Gottes, der Weltkirche, nach Möglichkeit aufscheine lässt. Bei Abgrenzung von Diözesen sei, soweit möglich, auf die Zusammensetzung des Gottesvolkes Rücksicht zu nehmen, die viel dazu beitragen könne, die Seelsorge zielbewusst auszuüben. Vorhandene und gewachsene Lebensgemeinschaften sollten nicht (mehr) willkürlich oder aus rein historischen Gründen durch kirchliche Grenzziehung zerteilt werden. Eine (Neu-) Zirkumskription sollte den demographischen und sozialen Entwicklungen gebührend Rechnung tragen. Wenn keine gewichtigen Gründe dagegensprachen, waren staatliche Binnengrenzen zu übernehmen. In einer Teilkirche hatte zum anderen der Diözesanbischof nicht nur theologisch-theoretisch, sondern tatsächlich das sicht- und erfahrbare Zentrum seines Sprengels zu sein, seine bischöflichen Amtshandlungen und Visitationen wenn immer möglich ‹in persona› vorzunehmen und vor allem seine Geistlichkeit zu kennen. Grundsätzlich war er der Leiter und Koordinator der gesamten Seelsorgetätigkeit seiner Diözese; eine Entlastung bot die Berufung von Weihbischöfen. Vor geplanten oder ins Auge gefassten neuen kirchlichen Grenzziehungen in einem Land war jede bislang existierende Diözese einzeln zu begutachten und die oben genannten Grundkriterien, als allgemeine Richtschnur verstanden, «unter genauer Abwägung aller Umstände» anzuwenden. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in «Christus Dominus» abschliessend ausdrücklich festgehalten, dass bei Fragen von Neuumschreibungen von Diözesen die Lage vor Ort durch die jeweilige Bischofskonferenz geprüft werden solle. Für die Kirche in der Schweiz re- <?page no="75"?> 75 6. Jüngste Initiative: Umfrage und Ergebnisbericht zu einem «Bistum Urschweiz» 2016 sultierte erstmals nach dem Konzil der 1980 im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz durchgeführte und oben vorgestellte, wenn auch ohne Auswirkung gebliebene Kommissionsbericht. Der 1983 grundlegend revidierte Codex Iuris Canonici von 1917 sieht zwar in can. 373 interessanterweise in diesem Geschäft keine (federführende) Mitwirkung der Bischofskonferenz mehr vor, doch die bisherige Praxis spricht hier eine andere Sprache. Zwischen 2004 und 2007 führte der Churer Bischof Amédée Grab OSB (1998-2007) Konsultationen betreffend die Angliederung der bisher nur provisorisch dem Bistum Chur zugehörigen Gebiete sowie die mögliche Änderung des Bistumsnamens und die Errichtung einer Konkathedrale in Zürich durch [siehe unten, S. 144-148]. Noch 2004 erklärte der damalige Nuntius Pier Giacomo De Nicolò (1999-2004), diesen Anliegen stünde seitens des Apostolischen Stuhls nichts entgegen, sofern der Diözesanbischof, die Schweizer Bischofskonferenz und die staatlichen Instanzen zustimmten. In der Folge zeigte sich allerdings, dass keineswegs alle Bistumskantone und Körperschaften an einer definitiven Angliederung an das Bistum Chur interessiert waren. Insbesondere Vertretungen der Innerschweizer Kantone legten es als Geringschätzung aus, wenn neben Chur nur, wie vorgeschlagen, Zürich im neuen Bistumsnamen [Doppelbistum Chur-Zürich] aufscheine. Zuletzt startete Bischof Amédée im Frühjahr 2007 noch einmal eine Umfrage an die Kantonsregierungen, Körperschaften und Evangelisch-reformierten Landeskirchen betreffend eine Auflösung des seit 1819 bestehenden Provisoriums. Er tat dies bereits nicht mehr als Diözesanbischof, sondern in seiner Eigenschaft als Apostolischer Administrator (2007), was aber kaum jemanden veranlasst hatte, die Legitimität dieser Umfrage in Frage zu stellen. Die eher kühlen Rückmeldungen aus der Innerschweiz sowie die negative Stellungnahme der Regierung des Kantons Graubünden führten dazu, das Projekt zu sistieren. Aufgrund dieser Ausgangslage startete Grabs Nachfolger, Bischof Vitus Huonder (seit 2007), im März 2016 bei über 900 Personen - Priester, Diakone, Ordensleute, Beratungsgremien, Kirchgemeindepräsidenten - eine von Nuntius Thomas Edward Gullickson (seit 2015) genehmigte und vom Churer Bischofsrat gewünschte Umfrage über ein mögliches «Bistum Zürich» bzw. «Bistum Urschweiz». Ob man von einer grossen Resonanz sprechen will, wenn auf die verschickten Fragebögen gegen 50 % aus allen drei Bistumsregionen Graubünden (21,2%), Zürich-Glarus (51,9%) und Urschweiz (26,9% UR, SZ, OW, NW]) geantwortet haben, möge dahingestellt sein; der Bischof seinerseits wertete dies «als positives Zeichen und als Ausdruck des Engagements sehr vieler für unsere Teilkirche». Die eingereichten Reaktionen und Antworten wurden durch das Zentrum für Human Capital Management der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur ausgewertet. Aus der Auswertung geht hervor, dass die Schaffung eines «Bistums Urschweiz» klar und in allen drei Bistumsregionen (vor allem aber aus der Innerschweiz selbst) mehrheitlich abgelehnt wird, obwohl die 200-jährige Verbundenheit mit Chur wegen der Distanz nur schwach ausgeprägt sei. Neben den Bedenken in finanzieller Hinsicht wurde vor allem damit argumentiert, dass bislang unklar sei, welche Regionen genau zu einem «Bistum Urschweiz» gehören sollten, also neben UR, SZ, OW und NW eventuell auch die Kantone Luzern und Zug. Auch die Frage nach dem Bischofssitz sei nicht einfach, da ohne Luzern ein geographisches Zentrum fehle. Ferner streichen <?page no="76"?> 76 III. Die Urkantone und das Bistums Chur sowohl der Ergebnisbericht als auch die schriftlichen Stellungnahmen der Kantonsregierungen und Körperschaften an den Churer Ordinarius, einem «Bistum Urschweiz» kritisch bis ablehnend gegenüberstehend, heraus, die Anbindung an den Churer Bischofssitz sei wichtig und möge aus finanziellen oder strukturellen Gründen unangetastet belassen werden - ein «Argument für eine starke bistumsweite Einheit und Solidarität», so Bischof Huonder in seinem Rundschreiben vom 12. Mai 2016 im Anschluss an die Auswertung der Umfrage: «Ich betrachte die Tatsache, dass es keine ‹Los-von-Chur›-Bewegung gibt, als breit abgestützten Vertrauensbeweis für den Churer Bischofssitz und auch dafür, dass in den letzten Jahrzehnten - bei allen Schwierigkeiten, die in der Kirche auch in unserem Land in der nachkonziliaren Zeit aufgetreten sind - durch die Churer Bischöfe doch gut und nach bestem Wissen und Gewissen gesorgt wurde: für die Priester, die Diakone, die Mitarbeiter der Seelsorge sowie die Gläubigen der Diözese.» Gemäss der grossmehrheitlich negativen Reaktionen, so der Churer Bischof, könne das Thema «Bistum Urschweiz» definitiv zu den Akten gelegt werden. Damit bleibt (vorerst) auch das Provisorium mit Uri, Ob- und Nidwalden weiterbestehen bzw. harrt auch nach 200 Jahren immer noch einer definitiven Lösung. Abb. 42: Ansicht der Stadt Zürich, Kupferstich von M. Leu (1765) [BAC.BA] <?page no="77"?> 77 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Abb. 43: Der Canton Zürich 1813, aus: Heinrich Keller, Atlas de la Suisse, Massstab: 1: 230'000, Grösse: 20,7 x 26,9 cm [Quelle: 2010 bey marcel@zumbo.ch] <?page no="78"?> 78 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Einleitung: Die Zeit nach der Reformation als konfessionelles Nebeneinander mit Berührungstangenten Bevor vor dem Hintergrund der Umwälzungen staatlicher und kirchlicher Ordnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Entwicklung des kirchlichen Lebens im Kanton Zürich in ihren Hauptzügen dargestellt und der Blick vor allem auf die Ausformungen im 20.-Jahrhundert gerichtet wird, seien drei wichtige Punkte erwähnt: Bereits der Zweite Kappeler Landfriede vom 20. November 1531, welcher die Verhältnisse der katholischen und reformierten Orte in der Alten Eidgenossenschaft nach der Reformation verbindlich regelte und dadurch bis 1712 weitere Religionskriege auf eidgenössischem Territorium zu verhindern vermochte, forderte in den Gemeinen Herrschaften die Zulassung des katholischen Gottesdienstes in einer reformierten Kirche, wenn eine Minderheit dies verlangte. Aufgrund dieser Bestimmung entstanden auch rund um den Zürichsee sog. Simultankirchen. In Dietikon z. B., damals in der Gemeinen Herrschaft Baden gelegen, liess der Abt von Wettingen die Pfarrkirche auch wieder für die katholische Messfeier herrichten. Aus der gemeinsamen Nutzung von Kirchen ergaben sich da und dort Streitigkeiten; zu deren Beilegung richteten die reformierten Orte im 18. Jahrhundert ein Schiedsgericht ein. Dieses war paritätisch zusammengesetzt, sorgte für klare Regelungen vor Ort und erliess Richtlinien für die gegenseitige Achtung der Feiertage. Im 19. Jahrhundert wies die Regierung des Kantons Zürich den Katholiken für die sonntägliche Messfeier zwischen 1833 und 1844 sogar einen gebührenden Platz im Zürcher Fraumünster zu, und in der alten Dietikoner Pfarrkirche bestand bis 1926 ein Simultaneum. Wichtig zu betonen ist zweitens, dass die alt hergebrachten Kollaturrechte (sog. Patronatsrechte) der Klöster auch nach der Reformation bis ins 19. Jahrhundert hinein im Kanton Zürich bestehen blieben. Bei der Ernennung der reformierten Pfarrer waren Äbtissinnen, Äbte oder Pröpste zwar an einen Vorschlag des Zürcher Rates gebunden; damit konnte ausgeschlossen werden, dass nicht wieder ein katholischer Geistlicher eingesetzt und so die Rückkehr zum alten Glauben herbeigeführt wurde. Die Zisterzienserabtei Wettingen ist hierfür ein Paradebeispiel. Das Kloster besass bis zu seiner Aufhebung (Säkularisation) 1841 die Kollaturen aller reformierten und katholischen Gemeinden im Limmattal von Urdorf und Höngg bis nach Baden, mit Ausnahme von Weiningen, das als Fahrer Stiftungsgut zu Einsiedeln gehörte. Noch weniger bekannt dürfte sein, dass es auch das Umgekehrte gab. Der Zürcher Rat übte bis 1843 das Kollaturrecht über die beiden katholischen Pfarrstellen Aadorf und Weinfelden im Kanton Thurgau aus; beide Gemeinden waren konfessionell gemischt und benutzten die Kirche im Simultangebrauch, Die Kollatur Aadorf hatte der Stadtstaat von Zürich vom 1525 aufgehobenen Prämonstratenserkloster Rüti übernommen; das Kollaturrecht in Weinfelden erwarb Zürich 1614 beim Kauf der Herrschaft Weinfelden. Aus der nachstehenden Liste ersieht die Leserschaft die katholischen Kollatoren von reformierten Pfarrstellen. <?page no="79"?> 79 Einleitung: Die Zeit nach der Reformation als konfessionelles Nebeneinander mit Berührungstangenten Die katholischen Kollatoren von reformierten Pfarrstellen Kollator Pfarreien im Kanton Zürich Abt des Zisterzienserklosters Wettingen Dietikon, Kloten, Otelfingen, Thalwil, Höngg Abt des Benediktinerklosters Rheinau Berg, Marthalen Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln Brütten, Meilen, Männedorf, Stäfa, Schwerzenbach, Weiningen Abt des Benediktinerklosters St. Gallen Stammheim Äbtissin des weltlichen Damenstiftes Schänis Knonau Abt des Benediktinerklosters St. Blasien im Schwarzwald Birmensdorf, Stallikon Bischof von Konstanz Laufen, Ellikon Propst des Domstiftes in Konstanz Glattfelden, Ossingen, Schöfflisdorf, Niederweningen Ritterorden Bubikon, Buchs, Hinwil, Wald, Wangen (bei Dübendorf ) Abb. 44: Zisterzienserabtei Wettingen um 1838 Abb. 45: ehemaliges Prämonstratenserkloster Rüti nach 1706 [BAC.BA] Abb. 46: Kolorierter Kupferstich des Benediktinerklosters Maria Einsiedeln [BAC.BA] <?page no="80"?> 80 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Ein dritter wichtiger Punkt war, dass trotz der Reformation in Zürich das Kloster Einsiedeln und die Stadt Zürich ihre alten Beziehungen weiter aufrechterhielten. Einsiedeln war der bedeutendste Wallfahrtsort der Eidgenossenschaft und durch den Pilgerverkehr ein enorm wichtiger Wirtschaftsförderer. Die Pilgerwege aus Süddeutschland nach Maria «im finstern Wald» führten über Zürich und von dort über das Zürcher Oberland nach Einsiedeln. Viele Zürcher zogen aus der Bewirtung und dem Transport der Pilger ihr Einkommen. Bis 1524 pilgerten die Züricher Stadtbevölkerung in Erfüllung eines Gelübdes am Pfingstmontag nach Einsiedeln; dazu war aus jedem Haushalt eine Person aufgeboten. Diese lange unterbrochene Tradition wurde von den katholischen Zürcher Pfarreien 1889 wiederaufgenommen und erfreut sich noch heute reger Teilnahme. 1. Umwälzungen der staatlichen und kirchlichen Ordnung nach 1803 und der Zuwachs von katholischen Randgebieten Die Französische Revolution brachte, wie bereits oben geschildert, für die Alte Eidgenossenschaft eine markante Umwälzung der staatlichen und kirchlichen Ordnung; darüber hinaus wurde ihr Gebiet wegen des Durchzugs fremder Truppen in den europäischen Kriegsschauplatz hineingezogen. Auf die Helvetik (1798-1803) [vgl. Abb. 3] mit dem misslungenen Versuch eines Zentralstaates nach französischem Vorbild folgte 1803 die Mediation [vgl. Abb. 4]. 1814/ 15 diktierten die europäischen Mächte am Wiener Kongress der Schweiz den Bundesvertrag. Mit der Zuteilung von Randgebieten bekam so der Kanton Zürich zwei katholische Gemeinden und ein Kloster: Dietikon und Rheinau. Wie kam es dazu? Das Limmattal hatte bis 1798 zur Gemeinen Herrschaft Baden gehört; die niedere Gerichtsbarkeit übte auf diesem Gebiet das Kloster Wettingen aus. In Dietikon besassen die Zisterzienser einen beträchtlichen Teil ihrer Güter. 1798 wurde Dietikon dem Kanton Baden zugeteilt, in der Mediation 1803 schliesslich eine zürcherische Gemeinde. Das in der Reformation kurzzeitig aufgehobene bedeutende Benediktinerkloster Rheinau wurde nach 1531 wiederhergestellt und erlebte im 17./ 18. Jahrhundert eine wahre Blütezeit. Das süddeutsche Barockstift gehörte zur Landgrafschaft Thurgau. 1803 kamen Kloster und Städtchen Rheinau im Zuge der Neuordnung der Gemeinen Herrschaften an den Kanton Zürich. Der Abt war zugleich Pfarrer der katholischen Gemeinde Rheinau und ernannte zwei seiner Konventualen zu Seelsorgern. Erst 1862 ging Rheinau als letztes der ehemaligen süddeutschen Barockstifte unter [dazu siehe unten, S. 88-92]. Die administrative Unterstellung des zürcherischen Gebiets unter die Obhut des Churer Bischofs ab 1819 wurde von Bürgermeister und Rat des Standes Zürich nicht akzeptiert, wie sie dies in einem Schreiben vom 16. November 1819 an den Churer Bischof deutlich äusserten: Aus «triftigen Gründen» und «ohne vorherige Rücksprache mit der Landesregierung» würden sie die durch päpstliches Breve «verfügte Unterordnung unsrer katholischen Angehörigen nicht annehmen». Entsprechend sandte der Staatsschreiber im Namen des Standes Zürich auch den ersten Hirtenbrief inkl. der gedruckten Verordnun- <?page no="81"?> 81 2. Entstehung der ersten katholischen Gemeinde in Zürich 1807 gen für die Fastenzeit im Februar 1820 nach Chur zurück. Ungeachtet dieser Differenzen mit Chur, die zwar unter anderen Aspekten bis in die jüngste Zeit anhalten sollten, gelang in Zürich und Umgebung alsbald ein beachtlicher Ausbau des katholischen Lebens. 2. Entstehung der ersten katholischen Gemeinde in Zürich 1807 Die Tagsatzung tagte nach 1803 abwechselnd in den Städten Zürich, Bern und Luzern. Als 1807 wieder Zürich an der Reihe war, zogen die Gesandten in feierlichem Zug vom Rathaus zu den Eröffnungsgottesdiensten: die reformierten ins Zürcher Grossmünster, die katholischen Gesandten in den Chorraum des Zürcher Fraumünsters, wo vorübergehend ein Altar aufgestellt wurde und ein Rheinauer Benediktiner als Tagsatzungspfarrer amtete. Die wenigen Katholiken, welche sich in Zürich niedergelassen hatten, bemühten sich, diese Gottesdienstgelegenheit auch nach Ende der Tagsatzung beizubehalten. Dafür erhielten sie Unterstützung durch Nuntius Fabrizio Sceberras Testaferrata und die Gesandten der katholischen Orte. Darauf erlaubte die Zürcher Regierung nach dem Beispiel Abb. 47: Schreiben des Bürgermeisters und Rats des Standes Zürich vom 16. November 1819 an den Churer Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein [BAC] <?page no="82"?> 82 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit der Städte Bern, Aarau und Basel die Gründung einer katholischen Genossenschaft vor Ort. Mit Dekret vom 10. September 1807 (sog. «Toleranzedikt») [Wortlaut S.- 83-85] erliess der Kleine Rat der Stadt Zürich Bestimmungen für die erste katholische Gemeinde in der Zwingli-Metropole. Der katholischen Genossenschaft wurde die St. Anna-Kapelle auf dem Gebiet der evangelischen St. Peter-Gemeinde für die Messfeiern zur Verfügung gestellt. Für die Wahl des Seelsorgers konnte der katholische Kirchenvorstand einen Zweiervorschlag einreichen, aus dem der Kleine Rat, ohne an die Vorschläge gebunden zu sein, die freie Wahl traf. Zum ersten katholischen Pfarrer und Seelsorger mit Sitz in Zürich nach der Reformation wurde der Rheinauer Konventuale P. Moriz Meyer OSB ernannt und am 27. Dezember 1807 durch den Dekan von Zug feierlich installiert. Allerdings war die katholische Gemeinde anfangs sehr klein; wir kennen die Zahl der Gläubigen erst aus dem Jahr 1826: 61 ständige Einwohner, 77 Aufenthalter, 160 Dienstboten und in den Sommermonaten 160 Tiroler Maurer und andere Handwerker. Die Geschäfte führten drei Kirchenvorsteher unter Leitung des Pfarrers. Zur Wahrung des konfessionellen Friedens sollte alles unterlassen werden, was zu Misstrauen und Streit zwischen den beiden Bekenntnissen führen konnte. Aus diesem Grund waren Prozessionen und andere Zeremonien ausserhalb der St. Anna-Kapelle verboten. Der Pfarrer hatte die Zivilstandsregister unter Aufsicht der städtischen Behörden und nach geltenden staatlichen Vorschriften zu führen. Bei gemischten Ehen sollte der Geistliche der Konfession des Bräutigams die Trauung vornehmen. Kinder, deren Eltern verschiedenen Bekenntnissen angehörten, waren in der Regel nach dem Bekenntnis des Vaters zu taufen. Für die Entlöhnung des katholischen Geistlichen und den Unterhalt der kirchlichen Gebäude hatte die neugegründete katholische Gemeinde keine Pfründe. Eine Kirchensteuer war damals ohnehin nicht üblich, daher war man auf Geschenke und Zuwendungen angewiesen. Die Kantonsregierungen von Luzern, Uri, Schwyz, Nid- und Obwalden, Zug sowie die Klöster Fahr, Einsiedeln, Ittingen und Muri sicherten jährliche Beiträge zu. Das Abb. 48 [links]: St. Anna-Kapelle: Friedhofskapelle der reformierten St. Peter Gemeinde in Zürich [BAC.BA] / Abb. 49 [rechts]: P. Moriz Meyer OSB bedankt sich beim Stand Nidwalden für eine Spende von 24 Gulden [aus: Eduard Wymann, Geschichte der katholischen Gemeinde Zürich, Zürich 1907, S. 95] <?page no="83"?> 83 2. Entstehung der ersten katholischen Gemeinde in Zürich 1807 Kloster Rheinau steuerte kirchliche Gerätschaften und Gewänder bei und versprach, zum Lohn des Pfarrers zuzulegen, was für seinen geregelten Unterhalt fehlen sollte. Nach der Zuteilung der ehemaligen Schweizer Quart 1819 an den Churer Bischof blieb der Churer Ordinarius für die Verwaltung und Koordination der Seelsorge im Kanton Zürich bis heute - zwar nur provisorisch − zuständig. Wortlaut des Beschlusses des Kleinen Rates des Kantons Zürich vom 10 September 1807 [nach einer Abschrift von P. Wolven Zelger OSB (Rheinau) aus dem Protokoll des Kleinen Rats, Band XXII, S.-220-226, welche im Bischöflichen Archiv Chur liegt] Der Kleine Rath des Kantons Zürich hat auf den angehörten Bericht seiner Commission der innern Angelegenheiten über das Ansuchen der in der Statt Zürich sich aufhaltenden Katholiken um die Bewilligung zu fortdauernder Ausübung des Katholischen Gottesdienstes und um Einräumung eines darzu erforderlichen Lokals theils einmüthig, theils mit Mehrheit beschlossen: 1 Die Ausübung des Katholischen Gottesdienstes soll in der Statt Zürich unter den nachfolgenden Bedingnissen und nähern Bestimmungen für solange gestattet seyn, als sich der Kleine Rath durch keine wichtigen Gründe zur Rücknahme dieser ertheilten Bewilligung wird bewogen finden. 2 Diese Bewilligung soll unter keinen Umständen weder dem Kanton noch der Stattgemeinde Zürich irgend eine oekonomische Beschwerde oder Unkosten verursachen und (mit einziger Ausnahme der Anweisung des für den Katholischen Gottesdienst zu bestimmenden Gebäudes) bleibt die Sorge für die Einrichtung und Inehrenhaltung dieses Gebäudes sowohl als für den Unterhalt des Geistlichen und für jedes andere gottesdienstliche Bedürfnis, unter Aufsicht und bedürftige Bewilligung der betreffenden Behörden, den katholischen Einwohnern allein überlassen, in der Meinung, daß diese letztern gehalten seyn sollen, der kirchlichen Section der Commission des Innern mit möglichster Beförderung erweislich darzuthun, aus was für bestimmten Quellen sie jezo und in Zukunft den ganzen Umfang der diesfälligen Kösten bestreiten werden und der nämlichen Section zu gleicher Zeit genau anzugeben, auf welchen Fuß sie die Besoldung des Geistlichen festzusetzen gedenken. 3 Da bereits alle zu diesem Behuf mehr oder weniger dienlich erachteten, hiesigen Locale sorgfältig ins Auge gefaßt worden, allein bey allen mit einziger Ausnahme der Capelle zu Sant Anna unüberwindliche Hindernisse und Schwierigkeiten zum Vorschein gekommen sind, hingegen dieses ebenbenannte Local zu Sant Anna den wesentlichen Vortheil darbiethet, daß es isoliert ist und zu keinen Verflechtungen mit dem Protestantischen Gottesdienst Anlaß geben kann, so ersucht die Regierung den Stattrath von Zürich, die gefällige Einleitung zu treffen, daß das mehrbenannte Local den hiesigen Katholischen Einwohnern (zu deren Religioser Besorgung der Stattrath nach seiner Stellung unbezweifelt gerne mitwirken wird) zum Behuf ihres Gottesdienstes angewiesen wird, damit dann dieselben allda (ohne irgend weitere <?page no="84"?> 84 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Beschwerde oder Kosten für den Staat oder das Stadt-Aerarium) die nähern Einrichtungen treffen, wobey ihnen jedoch ausdrücklich zur unerläßlichen Pflicht gemacht wird, alles auf eine Weise anzuordnen, daß das Local zu Sant Anna gleichwohl den zur Petrinischen Gemeinde gehörigen Stadteinwohnern auf bisherigen Fuß zum Abdank- und Begräbnißplaz fortdauernd zudienen könne. 4 Die gegenwärtig angesessenen Katholischen Einwohner werden diesmal und die Kirchenvorsteher künftig einen Vorschlag von zwey Geistlichen machen und der Kleine Rath wird, ohne ausschließend an diesen Vorschlag gebunden zu seyn, die Wahl vornehmen. Ausser den also bestellten Geistlichen soll kein anderer officieren dörfen, es wäre dann in Nothfällen oder bei außerordentlichen Veranlaßungen, wo alsdann der oder die anerkannte Geistliche für ihre Stellvertretter verantwortlich seyn sollen. Diese Katholischen Geistlichen sind in allen Fällen den hiesigen Landesgesezen unterworfen. 5 Aus der Mitte der in Zürich angesessenen Katholischen Einwohner sollen von ihnen selbst drey Kirchenvorsteher gewählt werden, welchen unter dem Vorsiz des anerkannten Geistlichen, die unmittelbare Aufsicht und Leitung ihrer Kirchenangelegenheiten zukömmt und die, gleich dem Geistlichen selbst, für die gewissenhafte Beobachtung der darauf sich beziehenden Verordnungen der Regierung verantwortlich sind. Die Wahl dieser Vorsteherschaft soll zu zwey Jahren erneuert werden, wobey jedoch die bestehenden Vorsteher immer wieder wählbar sind. 6 Die Geistlichen und Vorsteher des Katholischen Gottesdiensts sollen sich in öffentlichen Vorträgen sowohl als in besonderen Unterredungen und überhaupt in allen ihren Verhältnissen und in ihrem ganzen Benehmen theils selbst alles dessen enthalten, was Proselytismus oder Controversen genannt werden kann; theils sollen sie eben dieses allen Angehörigen ihrer Kirche aufs ernstlichste zur Pflicht machen und mit wachsamer Sorgfalt alles vermeiden, was Mißtrauen, Streitigkeit oder Erbitterung veranlassen und das gute Vernehmen zwischen den Bekennern beider Kirchen stören kann. 7 Es sollen ausser der Kirche keinerley Processionen oder andere Ceremonien irgend einer Art vorgenommen werden dörfen. 8 Die laut § 4 bestellten und anerkannten Geistlichen mögen Ehen zwischen Katholiken einsegnen, auch Kinder von Katholischen Eltern taufen, in der Meinung jedoch, daß die Ehen sowohl als die Tauffen in eigens dazu bestimmten und gehörig eingerichteten Registern, welche alljährlich im Jenner der zur Aufsicht bestellten Behörde zur Einsicht übergeben werden sollen, genau eingetragen, auch keinerlei Auszüge aus diesen Matrikeln sowohl als aus den Tauff- und Toten-Registern an die betreffenden Parteyen oder Behörden ausgeliefert werden, wenn sie nicht zuvor von der kirchlichen Section der Commission des Innern legalisiert worden sind. 9 Gemischte Ehen zwischen verschiedenen Religions-Verwandten sollen von dem Geistlichen derjenigen Religion, zu welcher der Mann sich bekennt, eingesegnet werden, als von dem Katholischen Geistlichen, wenn der Verlobte katholisch, die Braut aber reformiert ist und umgekehrt von dem Reformierten Geistlichen, wenn der Bräutigam reformiert, die Verlobte hingegen katholisch ist. <?page no="85"?> 85 2. Entstehung der ersten katholischen Gemeinde in Zürich 1807 10 Da die Kinder in der Regel dem Glauben des Vaters folgen, so mögen die Katholischen Geistlichen Kinder katholischer Väter unter obiger Einschränkung auch dann tauffen, wenn die Mutter der reformierten Kirche angehört. 11 Ehe-Einsegnungen sollen in jedem Fall, die Verlobungen mögen zwischen Katholiken allein oder zwischen beyderlej Religionsverwandten Plaz haben, nicht eher vorgenommen werden können, biß das Ehegericht dazu die gesezliche Bewilligung ertheilt hat und in Rücksicht auf die öffentliche Verkündigung die Vorschriften des Matrimonialgesetzes sind beobachtet worden, wobey insbesondere die Meinung obwaltet, daß alle Ehen zuvor in denjenigen Gemeinden des Kantons sollen verkündet worden seyn, wo die Verlobten verbürgert oder wohnhaft sind. 12 Die Oberpolizeyaufsicht über alles, was auf den Katholischen Gottesdienst Bezug hat, und die besondere Handhabung der gegenwärtigen Verordnung ist der kirchlichen Section der Commission des Innern übertragen, und zu dem Ende hin sollen auch die Geistlichen und die Vorsteher des katholischen Gottesdiensts vor versammelter kirchlicher Section dem Praesidio derselben durch ein förmliches Handgelübd die gewissenhafte Erfüllung aller ihnen durch gegenwärtige Verordnung auferlegten Pflichten angeloben, auch in allen schwierigen Fällen sich Anleitung und Vollmacht von ihr ausbitten. 13 Gegenwärtiger Beschluß soll der aus der Commission der innern Angelegenheiten ernannten kirchlichen Section, dem Kirchen-Rathe, dem Ehegericht und dem Statthalter von Zürich zu Handen des Stadt-Raths und der katholischen Einwohner mitgeteilt werden. 14. Seine Excellenz, der Herr Landammann der Schwyz, sollen (laut Missiven) ersucht werden, seiner Excellenz dem päpstlichen Herren Nuntius und den übrigen in der Schwyz residierenden Ministern auswärthiger Mächte, die dem Katholischen Glaubens Bekenntnisse zugethan sind, in folgender für sie hegenden Achtung von diesem Beschlusse Kenntnis zu geben, wobey gegen den päpstlichen Herren Nuntium die bestimmte Erwartung zu äussern wäre, daß wenn im umgekehrten Falle die Protestantischen Einwohner katholischer Orthe und besonders die Hauptstätte der Katholischen Directorial Stände in der Schweiz ähnliche Faciliteten für die Ausübung ihres Cultus verlangen sollten, denselben gleichmässig werde entsprochen werden. Actum, den 10. Herbstmonath 1807 Coram Senatu Kanzley des Kantons Zürich Stattschreiber Lavater dem Original gleichlautend Hirzel Secretair <?page no="86"?> 86 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit 3. Entfaltung und Anerkennung der katholischen Gemeinde Zürich Im Jahre 1833 trat der vom Kloster Rheinau gestellte Seelsorger für die katholische Gemeinde Zürich zurück. Zum Nachfolger wählte die Zürcher Regierung den Weltgeistlichen Robert Kälin (1808-1866) aus Einsiedeln, der erst seit zwei Jahren Priester (ord. 25. März 1831) und bislang in seinem Heimatort als Sekundarlehrer tätig war. Kälin sollte durch sein Wirken zwischen 1833 und 1862 als katholischer Pfarrer in Zürich die Gemeinde nachhaltig prägen und dank seiner guten Beziehungen zu liberalen Politikern das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Zürcher Staat massgeblich beeinflussen. Kälin hatte seine philosophisch-theologische Ausbildung in Solothurn absolviert und dabei die Verbindung von liberaler Einstellung jener Zeit und katholischer Kirchlichkeit kennengelernt. Dass sich der neue Seelsorger später stark mit der Politik beschäftigte, dabei auch an liberalen Grossanlässen in Zürich auftrat und die moderne Kultur als wichtige Herausforderung an die Kirche sah, gefiel dem Churer Bischof gar nicht, weshalb dieser den Einsiedler Querdenker wiederholt anmahnte. Nichts desto trotz blieb Kälin stets ein eifriger Seelsorger und begabter Prediger, was gerade in einer reformierten Stadt wie Zürich nur dienlich sein konnte. In einem Nachruf auf das Wirken Kälins schrieb die Wochenzeitung «Der Schweizerische Republikaner» 1866: «Er hat als freisinniger katholischer Geistlicher lange Jahre viel dazu beigetragen, daß in Zürich nicht jene confessionellen Störungen eintraten, die man so oft zu bedauern hat, wo allzu eifrige Priester die Ansprüche der katholischen Kirche starr aufrecht zu erhalten sich bemühen. Damit soll indessen nicht gesagt sein, daß der Verstorbene seine Kirche verraten habe; im Gegenteil, bei weisem Nachgeben im Kleinen befähigte er sich, die Hauptsache festzuhalten. Kälin hat dem Katholizismus in Zürich durch seine Freisinnigkeit mehr genützt, als es fanatische Beschränktheit hätte tun können.» Abb. 50: Pfarrer der katholischen Gemeinde in Zürich: Robert Kälin (1833-1862) [aus: Eduard Wymann, Geschichte der katholischen Gemeinde Zürich, Zürich 1907, S. 105] <?page no="87"?> 87 Die St. Anna-Kapelle war in der Zwischenzeit für die stetig wachsende katholische Gemeinde zu klein geworden. Die Verhältnisse an Ostern 1833 schildert ein Bericht in der «Schweizerischen Kirchenzeitung»: «Die Kirche besteht ausschließlich aus einem niedrigen, dumpfen, mit schädlichen Miasmen angefülltem Gemache, dessen schwarze Mauern eher ein altes Magazin oder Backhaus als einen dem höchsten Wesen geheiligten Tempel vermuten lassen. Es war mir unmöglich, durch die Menschenmasse weiter als bis an die offenstehende Türe vorzudringen. Vor der Türe war die Seitengasse auf 40-50 Schritte weit mit fremden Maurergesellen und Taglöhnern angefüllt, welche kaum den Eingang zur Kirche sehen konnten. Mehrere trugen ihre Hüte auf dem Kopfe und rauchten zum Zeitvertreib ein Pfeifchen.» Unter solchen Umständen musste man sich dringend nach einem grösseren Gottesdienstraum umsehen. Die Regierung erlaubte 1833 nach wiederum in Zürich durchgeführter Tagsatzung, den Altar im Schiff des Fraumünsters stehen zu lassen und die Sonntagsmesse vorübergehend dort abzuhalten. Nach der düsteren Friedhofskapelle war für die Katholiken die Messfeier in einer der beiden Münsterkirchen Zürichs ein beachtlicher Gewinn an öffentlicher Wahrnehmung und Anerkennung; man war eine geachtete Glaubensgemeinschaft geworden. Hauptsächlich aufgrund wachsender Schwierigkeiten mit der evangelischen Fraumünster-Gemeinde nahm jedoch die Regierung am 1. August 1840 die gewährte Erlaubnis auf Ende 1843 wieder zurück, stellte dafür aber am 8. September 1842 den Katholiken die 3. Entfaltung und Anerkennung der katholischen Gemeinde Zürich Abb. 51: Blick auf das Fraumünster, Aquarell von Franz Schmid (1830) [BAC.BA] <?page no="88"?> 88 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit als Kornschütte benutzte ehemalige Augustinerkirche am Münzplatz gegen einen jährlichen Mietzins von 100 Fr. zur Verfügung. Pfarrer Kälin bemühte sich mit Erfolg für die dringend notwendige Renovation dieses Gotteshauses. Gelder hierfür sammelten die Katholiken sowohl in der Stadt Zürich als auch im In- und Ausland. Die Pläne zum Umbau stammten von Stadtbaumeister Ferdinand Stadler (1813-1870), welcher hier seine ersten Kirchenbauarbeiten ausführte und später auch die Kirchen in Galgenen und Glarus errichten sollte. Am 21. Oktober 1844 weihte der Churer Bischof Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1844- 1859) mit obrigkeitlicher Erlaubnis die renovierte Kirche ein und spendete nach der Reformation erstmals in Zürich wieder die Firmung. Am 27. Oktober 1844 übergaben die weltlichen Behörden den Bau der katholischen Gemeinde; der Abt von Rheinau hielt das Hochamt und Pfarrer Kälin eine vielbeachtete, später im Druck erschienene Predigt unter dem Titel «Der Tempelbau Gottes in der Menschheit». In der Augustinerkirche konnten an jenem Tag die Gläubigen zudem erstmals in Zürich eine Kirchenorgel hören. Beim Bankett im Hotel «Baur au lac» würdigte und verdankte man die Verdienste auch der Zürcher Reformierten für den Kirchenumbau. 4. Die Aufhebung des Benediktinerstiftes Rheinau 1862 Die definitive Aufhebung der seit Ende des 8. / Anfangs des 9. Jahrhunderts bestehenden Benediktinerabtei St. Maria Rheinau geschah in Raten. Bereits die Auswirkungen der Französischen Revolution beendeten die barocke Glanzzeit in Rheinau: Alte Rechte und Güter gingen verloren und die in der Rheinschlaufe liegenden helvetischen, französischen, österreichischen und russischen Truppen führten das Kloster an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Abt Bernhard Mayer (von Schauensee) OSB [1798-1805] und etliche Konventualen flohen bereits 1798. Der Vollziehungsausschuss der Zürcher Verwaltungskammer unterstellte Anfang März 1800 das Kloster dem Finanzministerium der Helvetischen Republik. Nach 1803 wurde das klösterliche Leben unter Bedingungen wiederhergestellt; der Konvent stand unter Schutz und Oberaufsicht des Kantons Zürich. Die nachfolgenden sechs Jahrzehnte waren aber von einem verzweifelten Kampf um das Abb. 52: Ehemalige Augustinerkirche am Münzplatz in Zürich (um 1844) [BAC.BA] <?page no="89"?> 89 4. Die Aufhebung des Benediktinerstiftes Rheinau 1862 Fortbestehen gekennzeichnet. 1836 erhielt das Kloster einen durch Gesetz aufgezwungenen kantonalen Verwalter. Die bislang noch gestattete Novizenaufnahme sowie Aufnahme von Konventualen aus anderen Klöstern wurde strikte untersagt. Vergeblich bemühte sich der letzte Abt des Klosters Rheinau, P. Leodegar Ineichen OSB (1859-1862), die Niederlassung auf der Rheininsel zu halten. Schon am 14. September 1857 brachte eine ausführliche (gedruckte) Bittschrift des Konvents an die Adresse des Zürcher Regierungsrats die Misere zum Ausdruck, welche als Folge des strikten Novizenverbots das Stift immer mehr aushungerte: «Seit Erlaß des Gesetzes vom 22. März 1836 sind nun 21 für uns kummervolle Jahre verflossen; der Tod hat die Reihe der Konventsmitglieder gelichtet, wir sind in unserer Mehrzahl dem Greisenalter näher gerückt und sehen die heimgegangenen Mitbrüder durch keinen Nachwuchs jüngerer Kräfte ergänzt und ausgefüllt.» Deshalb betonte die Stiftsleitung: «Ohne Gestattung der Novizenaufnahme müßte dasselbe [das Kloster] innert einer Reihe weniger Jahre der sichern Auflösung unrettbar entgegen gehen.» Ein weiterer zentraler Punkt in der erwähnten Bittschrift war die Forderung nach freier Verwaltung des Klostervermögens; das Recht der staatlichen Oberaufsicht wolle man nicht bestreiten. Eine solche habe sich jedoch «auf die Sorge für Erhaltung des Stammkapitals und für treue Rechnungsführung im Allgemeinen» zu beschränken. Eine «Einmischung in den innern Haushalt» sowie eine «Veröffentlichung des Details seiner Bedürfnisse» gehe entschieden zu weit. Verwaltungsverfügungen durch den kantonalen Finanzrat mit Umgehung des Konvents seien inakzeptabel. Falls diese beiden Punkte Berücksichtigung und Umsetzung fänden, sehe sich das Benediktinerkloster zu «willigem Entgegenkommen» bereit, unter dem Aspekt der Förderung der Gemeinnützigkeit in den Abb. 53: Die letzten Benediktinerpatres zusammen mit Abt Leodegar Ineichen, im Hintergrund das Kloster Rheinau [BAC.BA] <?page no="90"?> 90 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Klostergebäuden entweder (a) ein Untergymnasium für ca. 10 bis 15 minderbemittelte Zöglinge mit unentgeltlicher Kost und Logis oder (b) ein Armeninstitut für 20 bis 30 Personen oder (c) eine landwirtschaftliche Armenschule für verwaiste bzw. vernachlässigte Knaben anzubieten. Da der Petition von 1857 kein Erfolg beschieden war, wandten sich Abt Ineichen und der Konvent am 8. Juli 1861 mit denselben beiden Forderungen erneut an den Regierungsrat des Kantons Zürich. Als Gegenleistung seien die Patres unter der Voraussetzung persönlicher und materieller Kräfte zur Pastorierung der gegenwärtig bestehenden katholischen Kirchgemeinden (mit Einschluss von Winterthur) im Kanton Zürich bereit. Die benediktinische Ordensgemeinschaft in Rheinau hoffe, «diesen Verpflichtungen, wenn einmal unsere schwindenden Kräfte wieder ergänzt und erneuert sind, mit Gottes Hülfe genügen zu können und durch die That den Beweis zu leisten, daß auch in der gegenwärtigen Zeit die Klöster sich weder überlebt haben, noch für ein segenreiches Wirken zum Wohle der Menschheit unfähig geworden sind.» Die erneute Eingabe blieb weiter unbeantwortet, was Abt und Konvent im November 1861 noch einmal, geradezu unter Anstrengung letzter Kräfte, aber auch in banger Ahnung des baldigen Endes ihres über tausendjährigen Wirkens am Rhein, veranlasste, einen schriftlichen Hilferuf an einzelne Kantonsräte abzugeben, worin die Benediktiner den festen Willen bekunden, mit Unterstützung junger Patres (falls Novizenaufnahme wieder möglich) sich «den edlen Zwe- Abb. 54: Schreiben vom 8. Mai 1862 des Abtes, Priors und Konvents aus Rheinau an den Churer Bischof [BAC] <?page no="91"?> 91 4. Die Aufhebung des Benediktinerstiftes Rheinau 1862 cken gemeinnütziger Wirksamkeit» - sprich der Seelsorge - zu widmen. Nachdem bekannt geworden war, die Kantonsregierung habe den Grossen Rat beauftragt, die Aufhebung Rheinaus in die Wege zu leiten, wandte sich Abt Leodegar im Namen seines Konvents im Dezember 1861 an dieses Ratsgremium. Der Zürcher Regierungsrat scheine offensichtlich davon auszugehen, «daß es keines weiteren Nachweises unseres Verfalls mehr bedürfe». In Rheinau würden sie «diese herbe Kränkung in Geduld ertragen und fortfahren, Gott zu bitten, daß er den Geist derer, die uns beleidigen, erleuchte und ihre Herzen erweiche». Es sei aber auch des Abtes Pflicht, «gegen diese ungerechte Jmputation zu protestieren». Der Protest aus Rheinau verhallte ungehört. Am 3. März 1862 beschloss der Grosse Rat des Kantons Zürich mit 157 gegen 22 Stimmen die Aufhebung der altehrwürdigen Benediktinerabtei und ergriff am 6./ 7. Mai von Kloster und Gütern Besitz. In einem Schreiben vom 8. Mai 1862 an den Churer Bischof, Nikolaus Franz Florentini, zeigten Abt, Prior und Konvent «im Gefühle des tiefsten Schmerzes» die Aufhebung an, wogegen die Patres getreu ihrer Gelübde «bis zum letzten Atemzuge» gekämpft hätten. Sie dankten darin auch dem Churer Ordinarius für seine Hirtentreue und der damit verbundenen, zwar vergeblich gebliebenen Bemühungen, das Stift «vor dem Untergang zu retten». Die letzten Konventualen verliessen zusammen mit Abt Ineichen am 22. August 1862 das Kloster. Einige Kostbarkeiten des Klosterschatzes fanden in den damals bereits bestehenden katholischen Pfarreien des Kantons Zürich [siehe unten] weitere Verwendung. Die wertvollen Bibliotheksbestände (insgesamt über 8'400 Bände, darunter 500 Wiegendrucke) kamen an die Kantonsbibliothek Zürich, der heutigen Zentralbibliothek; dasselbe gilt für die rund 400 Handschriften. Das inzwischen stark geschrumpfte Vermögen Abb. 55: Ehemaliges Benediktinerkloster Rheinau, Ansicht der Topographie aus dem 19. Jahrhundert [Dokumentationsstelle Rheinau] <?page no="92"?> 92 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit des jahrhundertealten Stiftes von 3'200'000 Fr. verwendete man teilweise für die Bedürfnisse katholischer Kirchgemeinden, teils für Schulzwecke, namentlich für die Universität Zürich [siehe unten] Die Klostergebäude selbst wurden in eine Heil- und Pflegeanstalt, später kantonale psychiatrische Klinik, umgewandelt. 5. Das katholische Kirchengesetz von 1863 und die ersten Missionsstationen Obwohl mit der Aufhebung des Benediktinerklosters Rheinau 1862 den Katholiken im Kanton Zürich eine schmerzende Wunde zugefügt wurde, welche der Zürcher Rat damit begründete, die Klosteraufhebung solle künftig eine bessere Finanzierung der katholischen Seelsorge im Kanton ermöglichen (Gründung des Rheinauerfonds, auch «Katholikenfonds» genannt [bis 1920] in der Höhe von 700'000 Fr.), kennt die Folgezeit auch wichtige Lichtblicke. Dazu gehört das ein Jahr später, 1863, verabschiedete katholische Kirchengesetz, durch welches die Seelsorge der Katholiken im Kanton Zürich künftig - zwar unter Bedingungen − vom Staat her abgesichert blieb. Aufteilung des Rheinauer Stiftsguts bei der Aufhebung 1862 Stiftsgut insgesamt (in Franken) 3'200'000.-- Deckungskapital für die Pensionenauszahlung an die ehemaligen Rheinauer Benediktiner 300'000.-- Ausscheidung der Pfründe Rheinau 250'000.-- Rheinauerfonds für die katholische Seelsorge im Kanton Zürich (sog. «Katholikenfonds») 700'000.-- Hochschulfonds 1'170'000.-- Fonds für das höhere Volksschulwesen 780'000.-- Bereits die Volkszählung von 1860 zeigte die sich anbahnende konfessionelle Durchmischung und damit verbunden das Fehlen der Seelsorge für die steigende Zahl der Katholiken im Kanton Zürich. Jahr der Volkszählung Einwohnerzahl des Kantons Zürich Katholische Einwohner des Kantons Zürich Anteil der Katholiken in % 1850 250'907 6'690 2,6 1860 266'265 11'256 4,2 1870 284'867 17'994 6,3 1880 317'576 30'225 9,5 <?page no="93"?> 93 5. Das katholische Kirchengesetz von 1863 und die ersten Missionsstationen Einerseits schuf die Zunahme von Katholiken im Kanton Zürich Handlungsbedarf, andererseits musste auch der rechtliche Status der Leistungsempfänger aus dem «Katholikenfonds» geregelt werden. Letztes war der Anstoss zu einem katholischen Kirchengesetz. Die Regierung bemühte sich durchaus um eine breit abgestützte Vernehmlassung und befragte auch auswärtige Geistliche und Politiker. Generalvikar P. Theodosius Florentini hatte im Namen der Churer Bistumsleitung dem Grossen Rat vorgeschlagen, die katholischen Geistlichen wie die reformierten von den Kirchgemeinden wählen zu lassen. Falls die Regierung das Ernennungsrecht beanspruche, wäre ein Dreiervorschlag durch die Kirchenpflege oder eine Ausschreibung der Stelle angezeigt, um geeignete Bewerber zu finden. Auf jeden Fall aber müsse der Bischof vor der Wahl oder Ernennung einbezogen werden, um zu verhindern, dass ein gewählter Geistlicher die «Missio canonica» nicht erhalten könnte. Das am 27. Oktober 1863 verabschiedete und sofort in Kraft getretene «Gesetz betreffend das katholische Kirchenwesen» nennt in § 5: «Die gegenwärtig bestehenden katholischen Kirchgemeinden Rheinau und Dietikon bleiben als solche anerkannt.» In § 6 wird neu festgelegt: «Die in der Stadt Zürich und in den zunächst gelegenen Gemeinden Außersihl, Wiedikon, Enge, Riesbach, Hirslanden, Hottingen, Fluntern, Oberstraß und Unterstraß wohnenden Katholiken bilden eine neue katholische Kirchgemeinde.» Eine Erweiterung der Begrenzung war später nur durch Zustimmung und Beschluss des Grossen Rates möglich. In §- 7 werden ferner die in Winterthur (als wichtiger Wirtschaftsstandort), Töss, Veltheim, Oberwinterthur, Wülflingen und Seen wohnenden Katholiken in einer neuen katholischen Kirchgemeinde zusammengefasst. Diese vier Kirchengemeinden, auch als «Staatspfarreien» bezeichnet, - Rheinau, Dietikon, Zürich-Stadt und Winterthur - waren gemäss Gesetz die einzigen anerkannten katholischen Institutionen. Die der kirchlichen Rechtsordnung unbekannte Rechtsform ‹Kirchgemeinde›, für den Staat lediglich ein Spezialfall der politischen Gemeinde, sollte inskünftig die Katholiken vereinigen. Um die Mitsprache der Gläubigen - ein wichtiges Anliegen liberaler Kreise - zu ermöglichen, waren in Zürich und Winterthur die niedergelassenen Ausländer bis zur Kantonsverfassung von 1869 stimm- und wahlberechtigt. Das Kirchengesetz regelte ferner die Löhne der Geistlichen, welche von der Kirchgemeinde vorgeschlagen und von der Regierung ernannt wurden, sowie Bau und Unterhalt der kirchlichen Gebäude aus der Übernahme der Pfründe Dietikon und dem «Katholikenfonds». Erst die Kantonsverfassung von 1869 führte die Gemeindewahl der katholischen Pfarrer ein (Art. 64); die Geistlichen unterlagen zudem alle sechs Jahre einer Bestätigungswahl. Eine Protestnote seitens des Churer Bischofs vom 16. Januar 1869, das mit der Bestätigungswahl verbundene Abberufungsrecht widerspreche dem Weihe-Charakter und der höheren Sendung eines katholischen Priesters, zeitigte keine Wirkung. Nicht zuletzt sah sich der Staat durch das Gesetz von 1863 legitimiert, auch hinsichtlich der nicht geregelten Bistumszugehörigkeit der katholischen Kantonseinwohner dem Regierungsrat die Berechtigung zuzusprechen, «dem Grossen Rathe seiner Zeit über den definitiven Anschluß der katholischen Einwohner des Kantons Zürich an ein schweizerisches Bisthum die eigneten Anträge [zu] hinterbringen» [§ 2]. Da der Bischof von Chur seit 1819 als juristische Instanz nicht anerkannt war, stand dem kantonalen Regierungsrat die <?page no="94"?> 94 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Disziplinierungsbefugnis auch über fehlbare katholische Geistliche zu [§ 24]. Das neue Gesetz behandelte letztlich die katholischen Kirchgemeinden gleich wie die reformierten und übernahm in weiten Bereichen die Bestimmungen des (reformierten) Kirchenwesens von 1861. Diese Tatsache wurde dem Gesetz in der Rückschau immer wieder als schwerwiegender Fehler angelastet, doch fanden oder vermochten damals die angefragten Personen bis hinauf zu Generalvikar Florentini wenig dagegen einzuwenden. 1963 schrieb der erste Generalvikar der heutigen Bistumsregion Zürich-Glarus, Alfred Teobaldi (1956- 1969), das Gesetz von 1863 sei «eine in aller Eile vorgenommene Adaption des für die reformierte Kirche bestimmten auf sie zugeschnittenen Gesetzes über das Kirchenwesen von 1861» gewesen. Die Volkszählung von 1860 ergab neben den oben bereits erwähnten Zahlen, dass im Kanton Zürich 4'869 Katholiken verstreut lebten, ohne in der Nähe einen Gottesdienst ihrer Konfession besuchen und bei Krankheit, Taufen und Beerdigungen einen Priester zuziehen zu können. Gegen diese Misere ergriff Generalvikar Florentini die Initiative. Er übertrug als provisorische Sofortmassnahme den benachbarten ausserkantonalen Pfarreien die Betreuung einer Region im Kanton Zürich. Doch längerfristig brauchte es Seelsorgezentren im Zürcher Gebiet. Zu diesem Zweck gründete man in Zug 1863 die Inländische Mission [siehe unten, S. 102], deren Hauptanliegen die Sicherstellung der Diasporaseelsorge war. Noch kurz zuvor oder um die gleiche Zeit wurden im Kanton Zürich vier Missionsstationen gegründet: als erste Männedorf (im September 1864), als erstes Projekt der Inländischen Mission folgte Horgen (1865), zwischen 1864 und 1872 wurden ferner im Dachgeschoss einer Fabrik in Gattikon (mit Zustimmung des Fabrikbesitzers) jeweils sonntags hl. Messen gelesen; die Regierung genehmigte für diese Missionsstation sogar einen Zuschuss aus dem «Katholikenfonds». Und da ins Zürcher Oberland viele Arbeiter aus Abb. 56: Katholische Kirche St. Stephanus in Männedorf, vollendet 1893 [BAC.BA] <?page no="95"?> 95 6. Gründung der Pfarreien in der Stadt Zürich zwischen 1873 bis 1974 der March eingewandert waren, fand man auf Vermittlung des Pfarrers von Tuggen und langjährigen Dekans des Priesterkapitels Zürich-March (1808-1877), Alois Rüttimann (1855-1886), zu dessen Sprengel das Zürcher Gebiet zählte [siehe unten, S. 103-f.], ein Gottesdienstlokal in Rüti, im Gasthof «Pilgersteg», dessen Saal im oberen Stock als Kapelle hergerichtet wurde. Als Seelsorger konnte ein Kapuziner aus dem Kloster in Rapperswil gewonnen werden (bis 1883). Ein 1872 eingereichtes Gesuch um Anerkennung als Kirchgemeinde Rüti wurde wegen fehlender Mittel abgelehnt. Die Kirche in Rüti konnte 1879 eingesegnet werden. An den Sonntagen kamen die Menschen zu Fuss aus den Ortschaften Wald, Dürnten, Bubikon, Hinwil und Wetzikon nach Rüti. 6. Gründung der Pfarreien in der Stadt Zürich zwischen 1873 und 1974 Von einer Erfolgsgeschichte gekennzeichnet war die einstige Diasporapfarrei St. Peter und Paul in Zürich, welche nach dem schweren Rückschlag der durch den Kulturkampf und die Entscheide auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/ 70) hervorgerufenen Gründung der Altkatholischen Kirche in Zürich [siehe Kasten] ohne staatliche Unterstützung, jedoch mit einem jungen Seelsorgeteam und zusammen mit engagierten Laien Modell stand für die künftigen Pfarreigründungen auf Stadtgebiet. Altkatholiken verdrängen Katholische Gemeinde aus der Augustinerkirche in Zürich Die altkatholischen Kirchen in Deutschland, Österreich und der Schweiz - hier «Christkatholische Kirche» genannt - entstanden aus Protest gegen die dogmatischen Definitionen des Jurisdiktionsprimats und der päpstlichen Unfehlbarkeit, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil am 18. Juli 1870 in der Dogmatischen Konstitution «Pastor Aeternus» verkündet worden waren [siehe unten, S. 222-224]. Abb. 57 / 58: Katholische Kirche St. Josef in Horgen (Aussen- und Innenansicht), fertiggestellt 1872 [BAC.BA] <?page no="96"?> 96 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Im Dezember 1872 schlossen sich Teile der Katholiken in Zürich zu einem «Verein freisinniger Katholiken von Zürich und Umgebung» zusammen. Nach vorangegangenen leidenschaftlichen Agitationen kam es am 8. Juni 1873 zu einer entscheidenden Gemeindeversammlung in der Augustinerkirche. Der Verein freisinniger Katholiken verlangte von der Katholischen Gemeinde Zürich und ihren Seelsorgern eine klare Distanzierung von den päpstlichen Dogmen. So wurde an diesem Tag u. a. folgender Punkt zur Abstimmung gebracht: «Die katholische Kirchgemeinde Zürich verlangt von ihren gegenwärtigen und zukünftigen Seelsorgern die Erklärung, dass dieselben sich allen direkten oder indirekten Verkehrs mit dem unfehlbaren Papste zu Rom oder der von diesem eingesetzten Vikaren, Nuntien und Bischöfen enthalten werden.» Gegen diesen grundstürzenden Antrag sowie gegen die Abstimmungsberechtigung der Gemeinde überhaupt erhob Pfarrer Johann Sebastian Reinhard klaren Protest, was aber nicht hinderte, dass die Kirchgemeindeversammlung diesen und weitere Anträge mit 291 zu 109 Stimmen annahm. In Zürich kam es am 29. Juni 1873 durch einen in der Augustinerkirche durchgeführten altkatholischen Gottesdienst zur Trennung. Pfarrer Reinhard und sein Vikar Dominikus Bossard aus Zug wurden unter massivem Einfluss freisinniger Kräfte in der Stadt alsbald von der Zürcher Regierung abgesetzt und als Seelsorger der nun mehr Altkatholischen (Christkatholischen) Kirchgemeinde entlassen. Der römisch-katholischen Minderheit - neu als von der Zürcher Regierung nicht anerkannte «Katholische Genossenschaft für Zürich und Umgebung» bezeichnet - gelang in der Folge durch aktive Sammeltätigkeit von Geistlichkeit und Volk der Ankauf einer Liegenschaft in Zürich-Aussersihl für den Bau einer neuen Kirche (Einsegnung des vorerst einfachen Gottesdienstraums zu Ehren der Apostelfürsten Petrus und Paulus: 2. August 1874). Abb. 59 (links): Bauherr der Pfarrkirche St.-Peter und Paul: Johann Sebastian Reinhard (1863-1877) und Abb. 60 (rechts): Karl Reichlin, Pfarrer von St. Peter und Paul (1877-1903) [BAC. BA] <?page no="97"?> 97 6. Gründung der Pfarreien in der Stadt Zürich zwischen 1873 bis 1974 Die Inländische Mission hatte sich anfänglich in der Stadt Zürich nicht engagieren können, da hierfür ihre Mittel schlichtweg (noch) nicht ausreichten. Der Nachfolger Kälins in der Leitung der bis 1873 vom Staat anerkannten Kirchgemeinde Zürich-Stadt, Johann Sebastian Reinhard aus Reiden/ LU und ehemaliger Lehrer an der Kantonschule Luzern (1863-1877), suchte Unterstützung zum Ausbau der städtischen Seelsorge in Luzern beim sog. «Katholischen Kultusverein», dessen Zweck darin bestand, den Besitztum der katholischen Genossenschaft von Zürich auch für die Zukunft sicher zu stellen. Aus solchen Eigentumsübertragungen sind übrigens die heutigen Pfarreistiftungen im Kanton Zürich entstanden. Mit Hilfe aus Luzern und weiterer grosszügigen Spenden (Ende Juni 1884: rund 80'000 Fr.) baute man nach dem Wegfall der Augustinerkirche an die Christkatholiken (1873) eine neue Kirche in der damals noch selbständigen Vorortsgemeinde Aussersihl, einem rasch wachsenden Fabrik- und Gewerbequartier mit vielen katholischen eingewanderten Arbeiterfamilien (1860: 259 Einwohner; 1870: 1'318; 1880: 3'720). Noch im Sommer 1874 konnten in einem einfachen Raum die ersten Gottesdienste gefeiert werden. Diese vorerst schmucklose Notkirche wurde da und dort spöttisch als «Armleute-Betschopf» abgewertet. Die Kirchweihe vollzog am 6. September 1885 der Churer Bischof Franz Konstantin Rampa. 1896 erhielt die inzwischen vergrösserte Kirche einen Turm und eine neugotische Ausstattung. Zwischen 1877 und 1931 unterstützte die Inländische Mission die Pfarrei St. Peter und Paul mit insgesamt über 152'000 Fr. Wortlaut der Protestnote von Pfarrer Johann Sebastian Reinhard vor der Gemeindeversammlung in der Augustinerkirche am 8 . Juni 1873: «Ich ergreife das Wort, um gegen das ganze Traktandum, gegen das Vorgehen der Altkatholiken dahier zu protestieren, als Pfarrer und im Namen der ganzen gläubigen Gemeinde, gegen das Eintreten auf die vorliegende Angelegenheit. Die Gemeinde von Zürich bildet nur einen kleinen Teil eines sehr grossen Ganzen und hat durchaus kein Recht, über Lehrsätze und Kirchenverfassung zu entscheiden, die das Ganze betreffen, umfassen und binden. Wir haben eine lehrende und hörende Kirche. Das Lehramt gehört der lehrenden Kirche und nicht der Gemeinde und es ist in der ganzen Geschichte der katholischen Kirche unerhört, dass eine Gemeinde sich das Recht der Abstimmung in Glaubenssachen angemasst und geübt hätte. Zudem gebe ich zu bedenken, dass noch sehr viele Katholiken hier wohnen, Katholiken aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Polen, Italien usw., die auch ein Gewissen und auch eine religiöse Überzeugung haben, die von der Frage auch betroffen werden, aber hier nicht abstimmen können. Niemand hat das Recht, über deren Glauben ‹per majora› zu entscheiden. In deren Namen besonders auch erhebe ich meinen Protest. Es ist überhaupt eine Anmassung, zu der keine Gemeinde befugt ist, ist ein Unrecht gegen die Minderheit, ist die ärgste Tyrannei, nämlich Gewissenstyrannei und Unsinn überhaupt, über Dogma ‹per majora› zu entscheiden. Und nicht nur etwa um ein Dogma allein handelt es sich heute, sondern um Lostrennung von Papst und Bischof, um Aufhebung der katholischen Kirche. Wer auf solchem Standpunkt steht, ist schon nicht mehr Katholik. Es ist wie gesagt, und so erhebe ich nochmals meinen Protest und protestiere feierlich gegen jede Diskussion und gegen jede Abstimmung und deren Folgen in dieser Angelegenheit.» <?page no="98"?> 98 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit 1877 übernahm der bisherige Vikar Karl Reichlin aus Schwyz (1851-1908) bis 1903 die Leitung der grössten und am schnellsten wachsenden Pfarrei der Schweiz. Reichlin hatte in Mainz beim bekannten Sozialreformer und späteren Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1850-1877) studiert und somit eine hervorragende Vorbereitung auf seine Tätigkeit in einer Arbeiterpfarrei erhalten. Das junge Seelsorgeteam (Pfarrer und zwei Vikare) erarbeiteten in Zusammenarbeit mit engagierten Laien ein Pfarreimodell mit neuen Betreuungs- und Einbindungsformen durch kirchliche Institutionen, Vereine und Verbände als soziales Netzwerk (stets ohne staatliche Unterstützung). Die Grosspfarrei und «Mutterkirche» von Katholisch-Zürich, St. Peter und Paul, übernahm so die Vorreiterrolle im Diasporakatholizismus. Aus dieser Grosspfarrei Abb. 61-62 (links): Stadtpfarrkirche St. Peter und Paul in Zürich (Gesamtansicht und Portal) [BAC.BA] Abb. 63: Errichtung von katholischen Pfarreien in der Stadt Zürich zwischen 1873 und 1974 [aus: Alfred Borter u.a., Katholiken im Kanton Zürich, Zürich 2014, S. 91] <?page no="99"?> 99 7. Die Leistungen der Inländischen Mission im Ausbau der Diasporaseelsorge … in Aussersihl erwuchsen innerhalb 100 Jahren, bis 1974, − für jedes Zürcher Stadtquartier − weitere total 22 Pfarreien sowie die beiden Missionen der italienischbzw. französischsprachigen Katholiken (1898: Missione Cattolica Italiana / 1925: Mission catholique française) [vgl. Abb. 63]. Die Vorgehensweise der Gründung war denkbar einfach: Eine neu gegründete Pfarrei stellte für ein benachbartes Quartier einen Vikar für den Religionsunterricht ein, der später auch den Sonntagsgottesdienst in einem provisorischen Lokal vor Ort übernahm. Daraus entstand eine Pfarrfiliale, die meist mit dem Kirchenbau eine selbständige Pfarrei wurde. Doch erst das neue Kirchengesetz von 1963 ermöglichte es diesen Pfarreien, finanzielle Mittel für anstehende Renovationen, für Um- oder Neubauten von Kirchen abzurufen; zuvor beruhten der Geldsegen und jegliche Unterstützung auf dem dichten Netzwerk der Diasporaseelsorge und der Inländischen Mission. 7. Die Leistungen der Inländischen Mission im Ausbau der Diasporaseelsorge auf dem Gebiet des Kantons Zürich (19. / 20. Jahrhundert) Bekanntlich konnte die Inländische Mission 2013 ihr 150-jähriges Bestehen feiern. Auch die heutigen Kirchgemeinden der Stadt Zürich, die im 19. und vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Inländischen Mission intensiv unterstützt wurden, drückten ihren Dank mit einer Spende ihres Stadtverbandes von einer halben Million Franken aus. Es ist Tatsache, dass ohne die grossen Leistungen der Inländischen Misson das Netz der Diasporaseelsorge im Kanton Zürich keineswegs so schnell und stark hätte wachsen können. Im Jahresbericht von 1896 wird festgehalten: «Der industriereiche Kanton Zürich wird von Arbeitern aller Art geradezu überschwemmt. […] Es wird eine Zeit kommen, wo wir gezwungen sind, in allen grösseren Ortschaften eine Kirche und ein Abb. 64: Katholische Kirche St. Josef in Affoltern am Albis, fertiggestellt 1892 [BAC.BA] <?page no="100"?> 100 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Pfarrhaus zu bauen und einen Geistlichen anzustellen. Die Aufgabe ist eine ungeheure und die Kosten scheinen fast unerschwinglich zu werden.» Laut Jahresberichten unterstütze die Organisation zwischen 1874 und 1920, hier in chronologischer Abfolge, den pastoralen Aufbau nach dem oben erwähnten Prinzip Missionsstation - Pfarrfiliale - selbständige Pfarrei ausserhalb der Stadt Zürich: so in Horgen (1874), Männedorf (1875), Rüti-Tann (1878), Langnau (1880), Wald (1882), Uster (1884), Wetzikon (1890), Affoltern am Albis (1891), Adliswil (1894), Wädenswil (1895), Thalwil (1899), Bülach (1902 [? ]) und Pfungen (1902), Bauma und Küsnacht- Erlenbach (1903), Kollbrunn (1910), Richterswil (1914) sowie Hombrechtikon (1919). Weitere Pfarreigründungen im Kanton Zürich (ausserhalb der Stadt) zwischen 1920 und 1962 in Klammer: Jahr der kanonischen Pfarreierrichtung Hausen: Herz Jesu (1922) Hinwil: Liebfrauen (1922) Schlieren: St. Josef (1923) Schönenberg: Heilige Familie (1924) Dielsdorf: St. Paulus (1925) Egg: St. Antonius von Padua (1925) Dübendorf: Maria Frieden (1927) Wallisellen: St. Antonius von Padua (1927) Pfäffikon/ ZH: St. Benignus (1928) Zollikon: Hl. Dreifaltigkeit (1931) Turbenthal: Herz Jesu (1934) Meilen: St. Martin (1935) Stäfa: St. Verena (1938) Mettmenstetten: St. Burkard (1941) Bäretswil: Bruder Klaus (1943) [Pfarr-Rektorat] Hirzel: St. Antonius (1946) Kloten: Christkönig (1948) Urdorf: Bruder Klaus (1960) Fischenthal: St. Gallus (1961) [Pfarr-Rektorat] Kilchberg/ ZH: St. Elisabeth (1962) Abb. 65: Kirche St. Georg, Küsnacht [BAC.BA] Abb. 66: Kirche St. Antonius, Hirzel [BAC.BA] Abb. 67: Kirche St. Elisabeth, Kilchberg [BAC.BA] <?page no="101"?> 101 7. Die Leistungen der Inländischen Mission im Ausbau der Diasporaseelsorge … Die Seelsorge in den bis 1962 auf 79 angestiegenen Pfarreien auf dem Gebiet des Kantons Zürich konnte bewältigt werden, weil nach 1870 auch die Priesterberufungen massiv zunahmen und in das von Chur aus administrativ verwaltete Territorium viele Neupriester und Vikare entsandt wurden; zudem kamen Geistliche aus Süddeutschland und Tirol an den Zürichsee. In den 1869 bestehenden 4 Pfarreien wirkten damals ledig 7 Geistliche, 1920 versorgten bereits 65 Priester 28 Pfarreien. Im Stichjahr 1940 wirkten 135 Seelsorger in 57 Pfarreien und 1960 dann 193 in 77 Pfarreien. Abb. 68: Die katholischen Pfarrgebiete im Kanton Zürich (Stand: 1. Juli 1929), hrsg. vom kath. Pfarramt St. Franziskus, Zürich, Karte gedruckt bei: Buchdruckerei H. Börsig’s Erben, Zürich (ohne Jahr) [BAC] <?page no="102"?> 102 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Inländische Mission - Das Schweizer Hilfswerk mit langer Tradition Migration in protestantische Kantone nach 1848 Mit der ersten Bundesverfassung von 1848 wurde in der ganzen Eidgenossenschaft die allgemeine Niederlassungsfreiheit eingeführt. Dies und die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende Industrialisierung führten dazu, dass viele Katholiken aus den katholischen Stammlanden in die protestantischen Mittellandkantone zogen, um dort Arbeit zu suchen und am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu können. Die zumeist jungen Leute verliessen nicht nur ihre Familie, sondern ihr vertrautes, katholisch geprägtes Umfeld. Für eine katholische Seelsorge in der ganzen Schweiz In der neuen, fremden Umgebung hatten die ausgewanderten Katholiken das Bedürfnis nach einem gesicherten sozialen Umfeld und einem soliden religiösen Bezugsrahmen. Es mussten Mittel und Wege gefunden werden, um auch in der Fremde die katholische Seelsorge sicherzustellen. Da die katholische Kirche in den protestantischen Kantonen (das galt auch umgekehrt) nicht anerkannt war und damit keine Kirchensteuern erheben konnte, musste das Geld für die «Missionsarbeit im Inland» durch Sammlungen aufgebracht werden. Basierend auf dem «Piusverein» - 1857-1904 eine Organisation zur Bewahrung des Glaubens und Pflege der katholischen Wissenschaft und Kultur in der Schweiz (seit 1904: Schweizerischer katholischer Volksverein) [siehe unten, S.-408] gründete der Zuger Arzt Melchior Zürcher (1821-1902) 1863 zusammen mit anderen weitsichtigen Männern die Inländische Mission [IM]. Innerhalb kurzer Zeit konnten dank der Hilfe der Schweizer Katholiken und der Arbeit der IM Gottesdiensträume gemietet und Seelsorger angestellt werden. Später half die IM beim Bau von Kirchen und Räumen für Seelsorge und Unterricht. Im Verlaufe der Jahre wurden Dutzende von Pfarreien gegründet. Neue Aufgabenschwerpunkte in der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts Mit der Anerkennung der katholischen Kirche in den meisten Kantonen verlagerte sich die materielle Unterstützung der IM ab 1963 auf die Berg- und Randgebiete. Neue Seelsorgeaufgaben in Agglomerationen kamen hinzu. Unverändert geblieben ist der Kerngedanke: Die IM steht im Dienste der Schwachen in der katholischen Kirche der ganzen Schweiz. [Quelle: www.im-mi.ch] <?page no="103"?> 103 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) Das Landkapitel oder Priesterkapitel [Dekanat] «Zürich-Rapperswil» [lat. «Capitulum rurale Tiguro-Rappersvilani»] des 1821/ 27 untergegangenen Bistums Konstanz umfasste 1807 insgesamt 26 Pfarreien und 30 Kaplaneien aus den heutigen Kantonen Schwyz, St. Gallen und Glarus. Als am 24. August 1807 das Ordinariat von Konstanz den Distrikt Uznach-Rapperswil abtrennte und zum eigenständigen Kapitel Uznach erhob, schlug der damalige Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg vor, der Kapitelsanteil Schwyz- Glarus solle «Altendorf» oder «Altendorf-Zürich» heissen, weil damals der Dekan seinen Sitz in Altendorf hatte [siehe Tabelle S.- 104]. Das Kapitel entschied sich jedoch, vor allem infolge der 1807 neu gegründeten katholischen Pfarrei Zürich, die dem Kapitel am oberen Seeende zugeordnet wurde, für den Namen «Zürich-March» [lat. «Capitulum rurale Tiguro-Marchiensis»], was die konstanzische Kurie genehmigte. Weitere Pfarreien wurden dem Kapitel, welches seit 1819 dem Bistum Chur unterstellt war, im Laufe des 19. Jahrhunderts zugeschlagen: Dietikon, Rheinau, Winterthur und Horgen, ferner die Missionstationen Gattikon-Langnau, Männedorf (Pfarrei 1875), Uster, Bubikon, Rüti- Tann und Wald. Abb. 69: Siegel des Priesterkapitels Zürich-March (1807-1877) aus dem Jahre 1807 [Wappen oben (links-rechts): March - Zürich - Glarus / Wappen unten (links-rechts): Einsiedeln - Höfe] [BAC] <?page no="104"?> 104 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Dekane des Priesterkapitels Zürich-March (1807-1877) Johann Matthäus Diethelm Pfarrer in Altendorf 1788-1814 Dekan 1785-1814 Georg Anton Rudolf Gangyner Pfarrer in Lachen 1807-1842 Dekan 1814-1842 Albert von Haller Pfarrer in Galgenen 1839-1855 Dekan 1842-1855 Josef Alois Rüttimann Pfarrer in Tuggen 1861-1886 Dekan 1855-1886 Bereits im Anschluss an das kantonale Kirchengesetz von 1863, womit Rheinau, Dietikon, Zürich-Stadt und Winterthur die staatliche Anerkennung als katholische Kirchgemeinden zugesprochen erhielten, gibt es im Herbst 1864 Bestrebungen der dortigen Pfarrherren zur Loslösung aus dem Verbund «Zürich-March» und zum Zusammenschluss zu einem eigenständigen Kapitel. Mit einem gemeinsam unterzeichneten Schreiben, verfasst am 3. Oktober 1864 von Pfarrer Josef Maria Ackermann in Dietikon, wandten sich die Geistlichen an den Churer Bischof Nikolaus Franz Florentini. Nach «langer und reiflicher Überlegung dessen, was für die kath. Jnteressen des Kantons Zürich am geeignetsten sein möchte», ersuchten sie deshalb das Ordinariat in Chur erstens um die Schaffung eines eigenen Priesterkapitels, zweitens um Prüfung für die Einsetzung eines bischöflichen Kommissars. Beide Anliegen mögen dem Kapitel «Zürich-March» mitgeteilt werden, welches sich bereits am 6. Oktober in Tuggen zur Jahresversammlung einfinden werde. Als Begründung ihrer Anliegen wurde im Schreiben zum einen die weite Entfernung zu den Kapitelssitzungen in Ausserschwyz oder im Glarnerland genannt. «Unsere Seelsorge erlaubt uns die Abwesenheit auch nur während einer Nacht nicht, ohne daß alle Geschäfte darunter leiden.» Zum anderen seien die gefassten Kapitelsbeschlüsse der March inhaltlich aufgrund der rechtlichen Situation im Kanton Zürich keineswegs eins zu eins umsetzbar bzw., falls durch Anpassungen spezifiziert, bei der Konkretisierung im Kanton Schwyz wiederum meist weniger geeignet. Die katholische Seelsorge in mitten eines protestantischen Umfeldes verlange nach einer entsprechend sinnvollen Lösung für Zürich. Ein zwei bis dreimal im Jahr stattfindendes Treffen des katholischen Klerus im weitgestreckten Kanton Zürich sei nötig, nicht zuletzt deshalb, da auf diesem Gebiet der katholische Glaube wieder «einer besseren Zukunft entgegen» gehe; neue Pfarreien würden entstehen, die Zahl der Geistlichkeit werde steigen, «ohne daß die hohe Regierung hindernd dazwischen tretten wird». Nicht nur den katholischen Gläubigen beizustehen, sei ihr Auftrag, sondern es bestehen der Wunsch und die Hoffnung, dass die katholische Kirche «in allen Gegenden des Kantons Zürich tiefere und festere Wurzeln schlage». Die Gründung eines eigenen Priesterkapitels sei hierfür sehr förderlich. Die Berufung eines bischöflichen Kommissars schliesslich könne das Verständnis der kirchlichen Eigenheiten im Kanton Zürich in Chur vertiefen, das Verhältnis der kantonalen Regierung zum bischöflichen Ordinariat fördern und den Zusammenhalt im örtlichen Klerus stärken. Das Schreiben vom 3. Oktober an den Churer Bischof schliesst mit den Worten: «Wir sind zum voraus überzeugt, daß Sie, hochwürdigster gnädigster Herr, unser Bittgesuch in reifliche Erwägung ziehen werden, und bei dem Wohlwollen, das hochsie für die kath. Jnteressen des Kantons Zürich hegen, in weislicher Erwägung unserer Lage und der vielen Schwierigkeiten, mit denen wir täglich zu kämpfen haben, unsere Wünsche, die einzig das Wohl des kath. Volkes in unserem Landestheil betreffen, in Erfüllung gehen lassen werden.» <?page no="105"?> 105 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) Im Wissen um den Einfluss des damaligen Regens (1844-1874) und Domscholastikus (1862-1873) Valentin Willi an der bischöflichen Kurie und um dessen Wohlwollen gegenüber den Zürcher Seelsorgern ging am 5. Oktober 1864 aus der Feder Ackermanns ein Schreiben ähnlichen Inhalts auch an die Leitung des Priesterseminars St. Luzi in Chur. Der Dekan des Priesterkapitels «Zürich-March» schrieb seinerseits am 5. Oktober 1864 aus Tuggen an den bischöflichen Kanzler Josef Meinrad Appert (1858-1878) nach Chur, er werde das Anliegen der fünf Zürcher Kleriker, welche jetzt schon meist a priori von Versammlungen fernblieben, dem Kapitel vorlegen. Doch er denke nicht, «daß die bischöfl. Curie sich besonders beeilen dürfte, auf diese Frage einzutretten - und ebenso, daß die Lostrennung von einem Capitel und die Errichtung eines eigenen von 5 Mann keine so leichte Sache seyn werde». Das Kapitel «Zürich-March» sei einstweilen darauf bedacht, am ‹status quo› festzuhalten, bis von Chur aus «Mittheilung gegeben wird». Der provisorische Zustand des Zürcher Gebiets zum Bistum Chur mache wohl kaum «eine Umstürzung bestehender Verhältnisse und eine Mißachtung der Geschichte wünschenswerth». Auf der Kapitelsversammlung in Tuggen vom 5./ 6. Oktober 1864, wo (wiederum) eine Vertretung aus Zürich fehlte, verlas man das in Chur eingereichte Gesuch um Loslösung der Zürcher Geistlichkeit aus dem Priesterkapitel «Zürich-March». Die versammelten Kleriker äusserten hierauf nicht nur ihr Befremden über das Verhalten der in und um Zürich tätigen Mitbrüder, sondern liessen ihrem Missmut freien Lauf über das «eigenmächtige Fernbleiben» jener geistlichen Herren. Die Offiziale des Kapitels erhielten die Vollmacht, sich der Ärgernis erregenden Angelegenheit anzunehmen und «mit Rücksicht auf die Geschichte und Verhältnisse die Unzulässigkeit des Begehrens» abschlägig vor dem Abb. 70: Brief vom 3. Oktober 1864 des Klerus im Kanton Zürich an den Churer Bischof [BAC] <?page no="106"?> 106 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Bischof zu vertreten. Dekan Rüttimann berichtete am 11. Oktober 1864 nach Chur, das Kapitel protestiere gegen den eigenmächtigen Schritt des Zürcher Klerus und ersuche den Bischof, keinesfalls darauf einzutreten, denn (a) die geographische Entfernung Zürichs von der March sei «durch die neuen Verkehrsmittel» im Vergleich zu früher um 2/ 3 kürzer geworden, (b) die «exceptionellen Verhältnisse» in der Pastoral würden sich durchaus vergleichen lassen mit denjenigen im paritätischen Kanton Glarus. Grundsätzlich (c) könne man den Kapitelsdekan ebenso gut einmal in Zürich wählen und auch dort als Pfarrer stationiert sehen, doch die gegenwärtige Lage und (d) die «Abhängigkeit des Zürcher Clerus von der protest. Regierung in Wahl und Existenz» legen es nahe, das Dekanat besser ausserhalb des Kantons Zürich zu platzieren. Schliesslich wiederholte er seine Ansicht, (e) die seit 1819 vorherrschende provisorische Zuordnung des Territoriums Zürich zum Bistum Chur würde es nicht ratsam erscheinen lassen, ein eigenes Kapitel zu konstituieren. Bis Januar 1876 blieb die Exemtionsbestrebung der Zürcher Geistlichkeit ohne Folgen - das Projekt wurde von der bischöflichen Kurie am 26. Oktober 1864 als «nicht zeitgemäß und den Bedürfnissen nicht entsprechend» sistiert. Dann ergriff der aus Zug stammende erste Pfarrer in Horgen, Konrad Dominikus Bossard (1874-1886), vor dem Hintergrund entstandener persönlicher Differenzen bei der Wahl der Kapitelssextarie von neuem, aber Abb. 71: Auszug aus dem Scheiben des katholischen Klerus des Kantons Zürich an den Churer Bischof vom März 1876 [BAC] <?page no="107"?> 107 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) ohne den Pfarrer in Rheinau, Carl Benziger (1875-1879), miteinzubeziehen, die Initiative. Bossard unterlag bei der Wahl des Sextars Benziger. In einem ausführlichen Schreiben, datiert in Zürich im März (ohne Tag) 1876, gelangten Antonio Scalabrini, Pfarrer in Zürich (1874-1879), Johann Severin Pfister, Pfarrer in Winterthur (1871-1901), Albert Diethelm, Pfarrer in Dietikon (1871-1908), der oben genannte Konrad Dominikus Bossard, Christian Wetterwald, Missionsgeistlicher in Männedorf (1875-1876), sowie die beiden Vikare in Zürich, Johann Rudolf Cavelti (1874-1877) und Franz Dominik Schilter (1875-1876), an den Churer Bischof. In «aller Bescheidenheit, aber auch mit aller Entschiedenheit» stellten sie folgendes Gesuch: «Es wolle das hochwürdige bischöfl. Ordinariat beschliessen: 1. Die Curatgeistlichkeit des Kantons Zürich bildet von nun an ein eigenes Capitel und hat sich als solches sofort zu constituieren (die Capitels-Statuten zu entwerfen und dem Ordinariate zur Genehmigung vorzulegen etc.), 2. Für den Kanton Zürich wird auch aus dortigem Curatclerus ein eigenes bischöfliches Commissariat aufgestellt.» Der Vorstand des Priesterkapitels «Zürich-March» sah sich infolge dieses Schreibens nach Chur zu einer Dringlichkeitssitzung genötigt. In einer ausführlichen Stellungnahme vom 27. März 1876, verfasst durch den Kapitelssekretär und Pfarrer in Galgenen, Franz Josef Pfister (1873-1918), an den Churer Bischof werden folgende Punkte herausgehoben: Die neuerlich an das Bischöfliche Ordinariat gelangte Bittschrift um ein eigenes Priesterkapitel Zürich betone wohl den Zusammenhang des Zürcher Klerus, welcher dadurch gestärkt werden könnte. Dieses Argument wirke jedoch konträr, wenn bereits die von sieben Geistlichen (4 Pfarrherren, 2 Vikaren, 1 Missionspriester) unterzeichnete Petition ohne Rücksprache mit dem Pfarrer in Rheinau und ohne dessen Unterschrift eingereicht werde. Es sei ferner eine Tatsache, dass der Klerus des Kantons Zürich seit dem Negativentscheid von 1864 dem Kapitel «Zürich-March» «mehr oder weniger immer eine zurückhaltende Stellung eingenommen» habe. Seine Weigerung, die Beiträge in die Priesterunterstützungskasse einzubezahlen, sei «nicht minder übel». Das vorgebrachte Argument, ein selbständiges Kapitel werde gegenüber der Regierung des Kantons Zürich «mehr Achtung und Ansehen genießen» und entsprechend mit grösserem Erfolg «die Rechte der Kirche mehren und vertheidigen können», sei «reine Jllusion». Gerade wegen der nach wie vor geringen Anzahl der katholischen Geistlichen in und um Zürich, erscheine die Stellung des einzelnen, vor allem der Priester auf den staatlich nicht anerkannten Missionsstationen, wenig gesichert; zudem stammten einige unter ihnen nicht aus dem Bistum Chur. Vielmehr könnte die Bildung des Kapitels in dieser so gearteten Zusammensetzung der weltlichen Regierung «als Provokation» erscheinen; mit einer Anerkennung sei nicht zu rechnen. Dem Priesterkapitel «Zürich-March» erscheine es deshalb für ratsam, von dem wieder vorangetriebenen Anliegen Abstand zu nehmen, nicht dass sich die Regierung des Kantons Zürich veranlasst sähe, «gegen die Katholiken auf dem Wege der Gesetzgebung noch schroffer vorzugehen», vor allem da sich die Regierung in der seit 1819 hängigen Bistumsfrage bis- <?page no="108"?> 108 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit lang nie für Chur entschieden habe. Die Kreation eines eigenständigen Kapitels könne man nicht gutheissen; dagegen aber gestatte das Priesterkapitel «Zürich-March» mit dem nötigen Einverständnis des Churer Bischofs den Mitgliedern aus Zürich den Austritt aus dem Kapitel. Damit befreie man die Austrittswilligen von allen Rechten und Pflichten. Der Sekretär hält sogar nachdrücklich fest: «Wir müßen diesen Austritt sogar wünschen, wenn der Klerus von Zürich fortfahren sollte, sich nur als einen erzwungenen ‹Anhängsel› unseres Kapitels zu betrachten.» Am Schluss des ausführlichen Schreibens vom 27. März 1876 fixierte man entsprechend dem Begehren des Klerus aus Zürich folgenden Gegenantrag: 1. «Es sei das Gesuch der Kuratgeistlichkeit des Kantons Zürich um Kreierung eines selbständigen Kapitels abzuweisen, dagegen dem hochwürdigen Klerus der Region Zürich als Bindemittel und Organ für den gegenseitigen Verkehr die Spezialkonferenzen zu empfehlen mit freier Wahl des Vorstandes und des Sekretariats auf je zwei Jahre. 2. Es sei für den Kanton Zürich ein eigenes Bischöfliches Commissariat in Ehesachen zu errichten; jedoch so, daß die Kompetenzen desselben bestimmt angegeben und so ausgeschieden werden, daß sie mit den bestehenden Rechten eines jeweiligen Decans des Zürich- March-Capitels in keiner Weise collidieren.» Abb. 72: Auszug aus dem Schreiben des Kapitels «Zürich-March» vom 27. März 1876 an den Churer Bischof [BAC] <?page no="109"?> 109 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) In einer persönlichen Note vom 30. März 1876 an den Bischof warnte Rüttimann in seiner Stellung als Dekan vor einem zu schnellen Schritt, nachdem ihm Florentini einen baldigen Kurialentscheid angekündigt hatte. Rüttimann hält fest: «So gerne ich die Zürcher austretten ließe, ist mir ein eigenes Capitel daselbst nicht denkbar.» Zudem sehe er es als verfehlt an, nach dem im November 1875 erfolgten einseitigen Beschluss des Zürcher Kantonsrates zur Trennung vom Bistum Chur «einen Churbischöflichen Commissar im Canton Zürich aufzustellen». Ein Kommissar ohne klare bischöfliche Vollmachten und ohne staatliche Anerkennung nütze nichts. Er fürchte um die noch bestehende Freiheit der katholischen Gemeinden auf dem Territorium des Kantons Zürichs und vielleicht sogar um ein unter Strafe gestelltes Verbot jeglicher Kommunikation mit Chur. Folgenden Kompromissvorschlag unterbreitete er dem Bischof: «Zur Besprechung und Behandlung kirchlicher Angelegenheiten versammelt sich der Zürcherische Clerus vierteljährlich und so oft ihn der Praeses einberuft in Conferenzen. Praesident und Secretair werden frey und alle 1 Jahre gewählt.» Da ein bischöfliches Kommissariat Zürich seiner Meinung nach nicht durchführbar sei, mögen die Zürcher Pfarrherren bzgl. Ehesachen und in allen anderen kirchlichen Angelegenheiten die katholischen Gemeinden direkt mit der bischöflichen Kurie in Kontakt treten. Am 22. April 1876 erging an den Zürcher Klerus die Antwort des bischöflichen Offiziums durch Weihbischof Kaspar Willi (1869-1877). Die Eingabe Rüttimanns vom 30. März zeitigte Wirkung. Nach Erwägung aller in Frage kommenden «localen, personellen und historischen Momenten» könne sich Chur nicht für eine formelle Trennung vom Landkapitel «Zürich-March» entscheiden und die geforderte Errichtung eines eigenen Kapitels «Zürich» nicht «decretieren». «Dagegen sind zur gemeinsamen Besprechung und Behandlung hinsichtlich Angelegenheiten für den hohen Curat-Clerus des Kantons Zürich freie, das ist, vom Kapitels-Verband unabhängige Priester-Conferenzen einzuführen, die sich vierteljährlich, und so oft [sie] der Praeses sonst einberuft, versammeln. Der Praeses und der Secretär der Priester-Conferenzen werden von der Zürcherischen Geistlichkeit auf bestimmte Amtsdauer frei aus ihrer Mitte erwählt. Ehethunlichst soll ein neues, nur den Kanton Zürich umfassendes Bischöfliches Commissariat errichtet werden. Inzwischen mögen die katholischen Geistlichen und Gemeinden des Kantons Zürich in Ehesachen und sonstigen kirchlichen Angelegenheiten unmittelbar mit der bischöflichen Curia verkehren.» Die Reaktion aus der Zürcher Geistlichkeit liess nicht lange auf sich warten. Am 30. Juni 1876 schrieb Pfarrer Pfister aus Winterthur an den bischöflichen Kanzler, der Entscheid aus Chur hätte «nur theilweise befriediget». Viel wichtiger als die mögliche Schaffung eines Kommissariats wäre die Errichtung eines selbständigen Kapitels gewesen; ohne in Konflikt mit der Kantonsregierung zu kommen, hätte man ein solches Ruralkapitel einführen können. Auf eigenen Füssen zu stehen und unabhängig vom Kapitel «Zürich- March» zu agieren, erachte er nach wie vor als beste Lösung. Erst ein im Namen der katholischen Zürcher-Priesterkonferenz gestelltes erneutes Gesuch vom 20. Februar 1877, unterzeichnet von den Pfarrherren Pfister (Winterthur) und Diethelm (Dietikon), um eine förmliche Loslösung des Zürcher Klerus vom Kapitel March und um gleichzeitige Schaffung eines eigenen Kapitels Zürich (Beitritt für alle katholischen Geistlichen im Kanton «obligatorisch») zeitigte zusammen mit einem <?page no="110"?> 110 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Beschluss vom 9. Juli 1877 der am 15. Mai in Galgenen zusammengekommenen Kapitelskreise March, Höfe und Glarus Wirkung. Da sich der Zürcher Klerus, so die Argumentation der Marcher-Konferenz, schon länger lediglich als ein «erzwungenes Anhängsel» des Kapitels March betrachte und «konsequent» jeglicher Kontaktnahme aus dem Weg gehe, sei eine Trennung sinnvoller als weitere Querelen. Der Kapitelsvorstand sei deshalb überzeugt, «daß ein ersprießliches und allseitig gedeihliches Wirken jeder Corperation nur im innigen Anschluß der Glieder an das Haupt möglich ist». Es könne ihm nicht gleichgültig sein, «wenn in Zukunft der ruhige Gang der Kapitelsversammlungen durch Differenzen gestört werden sollte, welche so tief gehen und unter obwaltenden Umständen nicht behoben werden können». Deshalb erachte man die Auflösung des Verhältnisses Zürich-March - unter Wahrung der Eigentumsrechte auf einen ungeschmälerten Kapitelsfonds (Zürich war nach der Reformation bis zu Pfarrer Robert Kälin nicht mehr Mitglied) - tatsächlich für gewinnbringend und befürworte diese. Der aus Domat/ Ems stammende ehemalige Einsiedler Benediktiner und frühere Weihbischof Kaspar Willi trennte als neuer Churer Oberhirte (1877-1879) schliesslich per Dekret vom 20. Dezember 1877 die katholische Geistlichkeit im Kanton Zürich vom Kapitelsverband «Zürich-March» ab. Der Zürcherische Klerus konstituierte sich in der Folge als selbständiges «Priesterkapitel für den Kanton Zürich», welches bis 1978 Bestand hatte. Am 28. Dezember 1877 ernannte Willi den Pfarrer in Winterthur, Johann Severin Pfister, zum bischöflichen Kommissar des neu geschaffenen Territoriums. Abtrennung vom Kapitel «Zürich-March» und Neukonstitution als «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» Bischöfliches Dekret vom 20 . Dezember 1877 1. Der bisherige Verband der katholischen Geistlichkeit des Kantons Zürich mit dem Rural-Kapitel March ist für die Zukunft des gänzlichen gelöst und aufgehoben. 2. Die aus dem bisherigen Kapitels-Verband ausscheidende katholische Geistlichkeit des Kantons Zürich darf jedoch von dem vorhandenen Fonds des gesamten Kapitels keinen Antheil beanspruchen. 3. Die katholische Geistlichkeit des Kantons Zürich konstituiert sich zu einem eigenen Kapitel, dessen nähere Organisation von einer ad hoc einberufenen Priester-Conferenz zu berathen und dem hochwürdigsten Bischofe zur Genehmigung vorzulegen ist. Der Beitritt zum Kapitel ist für alle in der Seelsorge im Kanton Zürich angestellten Kleriker Pflicht und obligatorisch. Dabei gibt sich aber das bischöfliche Ordinariat der zuversichtlichen Erwartung hin, daß, wenn auch die beiden Seiten der Geistlichkeit nicht mehr dem gleichen Kapitelsverband angehören, gleichwohl ein freundschaftliches Verhältniß unter denselben fortbestehe, und jeder Theil den andern, weil sie die gleichen Intereßen haben, in der Ausübung ihrer hl. Amtspflichten nach Kräften unterstützen werde. <?page no="111"?> 111 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) Laut «Schematismus der Geistlichkeit des Bisthums Chur» für 1878 zählte der Kanton Zürich 284'867 Einwohner, davon 17'944 Katholiken; im Schematismus für 1891 registrierte man bereits 339'014 Einwohner, davon 40'402 römisch-katholischen Glaubens; 1901 schliesslich führt der Schematismus 432'433 Einwohner auf, davon 81'429 Katholiken. Sowohl diese Statistik als auch die wachsende Zahl der Pfarreien gaben der früheren Argumentation der petitionierenden Geistlichen aus dem Kanton Zürich recht, der katholische Glaube gehe auf ihrem Gebiet «einer besseren Zukunft» entgegen und ein eigenes wie selbständig agierendes Kapitel sei daher angebracht. Abb. 73: Angaben aus dem «Schematismus der Geistlichkeit des Bisthums Chur», Stand 1878, für den Kanton Zürich [BBC] <?page no="112"?> 112 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Dekane des Priesterkapitels Zürich (1877-1978) Dekane bzw Bischöfliche Kommissare für das gesamte Territorium (bis 1956) Johann Severin Pfister Pfarrer in Winterthur 1871-1901 1876/ 77-1901 [Kommissar und Dekan] Josef Benedikt Burtscher Pfarrer in Rheinau 1883-1907 1901-1907 [Kommissar] Albert Diethelm Pfarrer in Dietikon 1871-1908 1901-1908 [Dekan] Johannes Ev. Theodor Meyer Pfarrer in Winterthur 1901-1929 1907/ 08-1930 [Kommissar und Dekan] Christian Herrmann Pfarrer in Herz Jesu, Zürich- Wiedikon 1921-1933 Pfarrer in St. Theresia, Zürich 1933-1945 1930-1940 [Kommissar] Hermann Camenzind Pfarrer in Dietikon 1909-1943 1940-1951 [Kommissar] Alfred Teobaldi --- 1951-1956 [Kommissar] Dekane in den vier Dekanaten Zürich - Winterthur - Albis - Zürcher Oberland (erste bischöfliche Ernennungen am 20. November 1930 [publiziert in FO, Nov./ Dez 1930) Dekanat Zürich-Stadt Christian Herrmann Pfarrer in Herz Jesu, Zürich- Wiedikon 1921-1933 Pfarrer in St. Theresia, Zürich 1933-1945 1930-1940 Josef Rupf Pfarrer in Guthirt, Zürich 1923-1953 1940-1957 Hans Henny Pfarrer in Liebfrauen, Zürich 1954-1969 1958-1969 Guido Kolb Pfarrer in St. Gallus, Zürich 1966-1972 Pfarrer in St. Peter und Paul, Zürich 1972-1993 1970-1974 August Durrer Pfarrer in St. Konrad, Zürich 1970-1998 1974-1978 <?page no="113"?> 113 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) Dekanat Winterthur Johann Baptist Senn Kooperator in Winterthur 1901-1934 Pfarr-Rektor in Herz Jesu, Winterthur 1934-1937 1930-1937 [1938 vakant] Rupert Nieberl Pfarrer in Rheinau 1919-1942 1939-1942 Anton Mächler Pfarrer in St. Peter und Paul, Winterthur 1929-1955 1942-1955 Johann Meinrad Grüninger Pfarr-Rektor in Herz Jesu, Winterthur 1937-1959 Pfarr-Rektor in St. Laurentius, Winterthur 1959-1962 1955-1962 Casimir Meyer Pfarrer in Niederhasli-Dielsdorf 1954-1968 1962-1968 Fridolin Imholz Pfarrer in Herz Jesu, Winterthur 1959-1986 1969-1974 Gebhard Matt Pfarrer in St. Peter und Paul, Winterthur 1969-1980 1975-1980 Dekanat Albis Hermann Camenzind Pfarrer in St. Agatha, Dietikon 1909-1943 1930-1951 Wilhelm Anton Telle Pfarrer in Horgen 1939-1972 1951-1970 Johannes Rieger Pfarrer in St. Agatha, Dietikon 1953-1973 1970-1982 Dekanat Zürcher Oberland Ferdinand Ziegler Pfarrer in Männedorf 1920-1932 1930-1933 Peter Oswald Bast Pfarrer in Uster 1916-1947 1934-1950 Adolf Meyer Pfarrer in Wald 1933-1957 1951-1956 [1957 vakant] Johannes Bruggmann Pfarrer in Uster 1955-1968 1958-1968 Hermann Josef Würsch Pfarrer in Egg 1953-1984 1969-1978 Mit Datum vom 24. Februar 1879 genehmigte der Churer Bischof Franz Konstantin Rampa die ausgearbeiteten Statuten des Priesterkapitels. Darin wird in Abschnitt II der Zweck der Gründung hervorgehoben: «Innige Verbindung mit dem hochwürdigsten Bischof; gemeinsame Besprechung kirchlicher Angelegenheiten im wissenschaftl. und practischen Gebiete; die Verwaltung der Seelsorge soweit möglich einheitlich zu gestalten; und endlich Pflege freundlicher Collegialität.» Jedes neu eintretende Mitglied - das waren die vom Bischof ordentlich bestellten Weltpriester im Kanton Zürich (Ordensleute nur Ehrenmitglieder <?page no="114"?> 114 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit mit beratender Stimme) - hatte sich schriftlich oder mündlich innerhalb 14 Tagen nach Übernahme des Amtes beim Vorstand (Präses bzw. Dekan, Vizepräses bzw. Kämmerer, Aktuar bzw. Sekretär) zu melden. Der Vorstand wurde auf jeweils 2 Jahre (mit Wiederwählbarkeit) aus den Reihen der amtierenden Pfarrherren im Territorium gewählt. Beiträge in die Kapitelskasse und Teilnahme an den zweimal im Jahr stattfindenden, vom Dekan einberufenen Versammlungen waren obligatorisch; wiederholtes unentschuldigtes Fernbleiben musste dem Ordinariat in Chur gemeldet werden. Bei Todesfällen hatte jedes Mitglied für den Verstorbenen eine Messe zu applizieren. Die regulären Sitzungen oder ausserordentliche Zusammenkünfte, die der Vorstand oder 2/ 3 der Mitglieder einfordern konnten, waren gemäss Statut folgendermassen gegliedert: a) Eröffnung mit einem kurzen Gebet b) Kurze Ansprache des Präses (Dekan) c) Verlesung des letzten Protokolls d) Mitteilungen des bischöflichen Kommissars e) Vortrag über ein zuvor festgelegtes Thema durch ein Mitglied des Priesterkapitels f ) Traktanden (gemäss Präses) g) Weitere Anträge (aus dem Kreis des Kapitels) h) Abschluss durch ein kurzes Gebet Abb. 74: Statuten des Priesterkapitels Zürich, approbiert durch Bischof Franz Konstantin Rampa am 24. Februar 1879, Blatt 1+2 [BAC] <?page no="115"?> 115 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) 1902 erstellte Josef Benedikt Burtscher zuhanden des bischöflichen Ordinariats Chur einem Kommisariatsbericht, worin er Angaben des in Rheinau tätigen Lehrers Heinrich Suter zur Bevölkerungsstatistik der römisch-katholischen Pfarreien des Kantons Zürich zusammenstellte und mit einer Karte ergänzte. Die in Luzern gedruckten Daten und Karte werden hier wiedergegeben. Abb. 75: Statuten des Priesterkapitels Zürich, approbiert durch Bischof Franz Konstantin Rampa am 24. Februar 1879, Blatt 3+4 [BAC] <?page no="116"?> 116 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Pfarrei (in alphabetischer Abfolge) Zahl der dazu gehörenden Gemeinden Zahl der vor Ort wirkenden Geistlichen Zahl der Katholiken Affoltern am Albis 14 2 1'767 Altstetten 12 2 2'292 Adliswil 2 1 1'164 Bülach 35 2 1'630 Dietikon 3 1 1'433 Grafstal 6 1 619 Horgen 3 1 1'519 Kollbrunn 12 2 848 Küsnacht/ ZH 5 1 924 Langnau am Albis 2 1 777 Männedorf 6 2 1'373 Oerlikon 14 2 2'970 Pfungen-Neftenbach 10 1 366 Rheinau 14 1 1'654 Rüti 3 2 1'926 Thalwil 2 2 1'439 Uster 9 1 1'454 Wald 2 1 1'360 Wädenswil 2 1 1'380 Wollerau * 2 --- 932 Wetzikon 9 1 1'828 Winterthur 21 4 7'921 Zürich (linkes Ufer) Kreise I, II, III 7 27'107 Zürich (rechtes Ufer) Kreise I, IV, V 9 16'756 Total [für 1902] 24 189 49 81'429 *Die Katholiken von Richterswil [849] und Hütten [83] waren 1902 noch zu Wollerau/ SZ pfarrgenössig. <?page no="117"?> 117 8. Vom einstigen Kapitel «Zürich-Rapperswil» zum «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» (1877-1978) Abb. 76: Das Territorium der katholischen Pfarreien im Kanton Zürich 1902 (Massstab: 1: 150'000), Topographische Anstalt Winterthur J. Schlumpf [in: Josef Burtscher (Hrsg.), Der Kanton Zürich in seinem Wiederbeginn des Katholizismus nach der Reformation, seiner Statistik, seiner Neueinteilung und Umgrenzung der Pfarreien sowie in seiner Tätigkeit auf dem Gebiete des Religionsunterrichts, gedruckt bei J. Schili, Luzern 1902] [BBC]. <?page no="118"?> 118 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit 9. Errichtung des Generalvikariats für den Kanton Zürich 1956 Die Unterstellung der Zürcher Katholiken unter die Churer Administration beruhte einzig auf dem päpstlichen Breve vom 9. Oktober 1819; diese Übertragung war von der Zürcher Regierung nie anerkannt worden. Da anfänglich die Katholikenzahl verschwindend gering ausfiel, drängte sich eine staatskirchliche Kontaktaufnahme, geschweige denn eine entsprechende Regelung mit dem Churer Bischof nicht auf. Nach der öffentlich-rechtlichen Anerkennung 1863 und der stetig anwachsenden Zahl von katholischen Gläubigen, die von immer mehr (Churer) Geistlichen pastoral betreut wurden, stärkte sich auch das Band zwischen Zürich und Chur. Obwohl im November 1875 der Zürcher Kantonsrat einseitig die Loslösung des Kantons Zürich vom Bistum Chur beschloss, was von staatsrechtlicher Seite eigentlich gar nicht möglich war, da keine juristisch geregelte Beziehung zwischen Staat und Kirche bestand, blieb die 1819 getroffene päpstliche Verfügung unbeschadet in Kraft und die bischöfliche Jurisdiktion über die Katholiken in und um Zürich bestehen. Ein bischöflicher Vorstoss 1909/ 10 zur Regelung der provisorischen Bistumszugehörigkeit blieb wirkungslos. In der Antwort des Zürcher Regierungsrates vom 10. Februar 1910 an den Churer Bischof Georgius Schmid von Grüneck heisst es deutlich: «Die Geschichte unseres Kantons im vergangenen Jahrhundert zeigt, daß die Beziehungen unserer Behörden zu den katholisch-kirchlichen Organen nicht immer das friedliche Gepräge gehabt haben, das sie glücklicherweise heute charakterisiert. Mit Rücksicht auf die Kollisionen, die aus der Einverleibung des Kantons Zürich in die Diözese Chur durch päpstliches Breve [von 1819] entstanden waren, haben es die zürcherischen Behörden immer abgelehnt, den Kanton Zürich in ein festes Verhältnis zu der katholischen Kirchenorganisation zu bringen. Sie sind dabei von der Ansicht ausgegangen, daß die gegenseitige rechtliche Unabhängigkeit die beste Grundlage für ein friedliches Zusammenwirken sei. […] Wir bitten Sie daher, bei Ihren weitern Verhandlungen über die von Ihnen angeregte Frage von dem Einbezug des Kantons Zürich ganz absehen zu wollen.» Noch das staatliche Gesetz über das katholische Kirchenwesen vom 7. Juli 1963 [siehe unten, S. 125-130] umgeht die Frage der Bistumszugehörigkeit. Innerkirchlich zählte das Gebiet des Kantons Zürich, wie oben dargelegt, von 1807 bis 1877 zum Priesterkapitel «Zürich-March»; dazu zählten bis 1877 auch die katholischen Pfarreien im Kanton Glarus. Wegen der anwachsenden Katholikenzahl trennte Chur unter Bischof Kaspar Willi per Dekret vom 20. Dezember 1877 die Zürcher Geistlichkeit vom Kapitelsverband «Zürich-March» und wies den Klerus an, ein eigenes Priesterkapitel zu gründen, welches bis 1978 bestand. Nicht erst seit 1970, sondern bereits seit November 1930, wird das Kantonsgebiet in vier Dekanate eingeteilt: Zürich-Stadt, Winterthur, Albis und Zürcher Oberland [siehe Tabelle, S. 112 f.]. Das gesamte «Priesterkapitel für den Kanton Zürich» stand unter Oberaufsicht eines bischöflichen Kommissars (1876- 1956). Die auch für Glarus und die Innerschweiz existierenden Kommissare erwuchsen aus dem 17. Jahrhundert und waren als Delegierte des Churer Generalvikars nicht nur Auditoren in Ehefällen (Vollmacht zur Erteilung von Dispensen), sondern auch Zivil- und Strafrichter über die zu ihrem Gebiet gehörende Geistlichkeit. Im 19. Jahrhundert kamen <?page no="119"?> 119 9. Errichtung des Generalvikariats für den Kanton Zürich 1956 vermehrt Verwaltungsaufgaben (u.a. Visitationen) hinzu, wodurch die Kommissare als kirchliche Verwaltungs- und Gerichtsbeamte den Verkehr zwischen Teilgebiet und Churer Bistumsleitung erleichterten sowie die Ordnung der «res mixta» zwischen Kirche und Staat besser in Gang brachten und aufrecht hielten. Die Wahl eines Kommissars erfolgte durch den Churer Bischof auf Vorschlag des jeweiligen katholischen Standes (Kantons). Der Kommissar besass unter den Geistlichen den ersten Rang, in der Kapitelsversammlungen dagegen stand er dem Dekan des Priesterkapitels nach, falls er nicht - wie in Zürich für die Jahre 1876/ 77 bis 1901 und nochmals 1907/ 08 bis 1930 - in Personalunion agierte. Der erstmals 1941 geäusserte Wunsch seitens der Nuntiatur unter Filippo Bernardini (1935-1953) nach einem eigenen Generalvikariat Zürich stiess in Chur beim gerade ins Amt eingesetzten Bischof Christianus Caminada (1941-1962) vorerst auf taube Ohren, obwohl auch der Bistumsleitung klar war, dass in der Stadt Zürich inzwischen ebenso viele (meist zugewanderte) Katholiken lebten wie in den Urkantonen. Neben dem Churer Bischof gab aber auch der Züricher Klerus, insbesondere die erfahrenen Diasporapfarrer, welche die Situation vor Ort bestens kannten, in einer Stellungnahme auf der Pfarrkonferenz von 1946 ihr Votum grossmehrheitlich gegen die Schaffung eines Generalvikariats ab. Der bischöfliche Kommissar und die vier Dekane bildeten zusammen ein Gremium, welches uneingeschränktes Vertrauen in Klerus und Volk geniesse und stets im Einklang mit der Churer Kurie agiere, was bis auf weiteres genüge. Abb. 77: Nuntius Filippo Bernardini (1935-1953) [PAL] Abb. 78: Nuntius Gustavo Testa (1953-1959) [PAL] <?page no="120"?> 120 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit 1950 kam es zu einem zweiten Anlauf mit dem Ziel der Kreierung eines in Zürich wohnhaften Generalvikars. In zwei separaten Schreiben vom 14. September 1954 wandten sich sowohl der Churer Ordinarius als auch der Churer Generalvikar Johannes Vonderach (1952-1962), Dompropst Johann Anton Willi (1950-1963) im Namen des Churer Domkapitels sowie Josef Scheuber als Regens (1941-1960) und namens des Professorenkollegiums am Priesterseminar St. Luzi direkt an den Vorsteher der Konsistorialkongregation, Kardinal Adeodato Giovanni Piazza (1948-1957), welcher in enger Verbindung Abb. 79: Ernennung von Alfred Teobali zum Bischöflichen Kommissar für Zürich am 17. September 1951 durch den Churer Bischof Christianus Caminada (1941-1962) [AGVZH, Sig.-Nr.: 327.01] <?page no="121"?> 121 9. Errichtung des Generalvikariats für den Kanton Zürich 1956 mit der Schweizer Nuntiatur in Bern das «Geschäft» Generalvikariat Zürich entschlossen vorantrieb. Darin äusserten sie ihre Bedenken, zeigten sich aber mit einem Generalvikar für Zürich, welcher nicht in Zürich, sondern im Bischöflichen Palais in Chur Wohnsitz zu nehmen hatte, einverstanden. Kardinal Piazza schrieb am 14. März 1956 an den Churer Bischof, man erwarte von ihm eine baldige Entscheidung; am 17. April 1956 bestätigte Piazza gegenüber Caminada, den Erhalt einer Notiz aus der bischöflichen Kanzlei, der für Zürich vorgesehene Generalvikar müsse in Zürich wohnen. Am 3. Juni 1956 erhielt Caminada von Nuntius Gustavo Testa (1953-1959) den deutlichen Hinweis, er erwarte vom Churer Bischof ohne noch weitere Verzögerung die Nomination und Bekanntgabe des Generalvikars mit Sitz in Zürich. Bedenken seitens im Vatikan tätigen (geistlichen) Personen, auch eine persönliche, schriftlich eingereichte Stellungnahme von Bundesrat Philipp Etter (1934-1959) an den Nuntius bzw. an Kardinal Piazza (30. Mai 1956) und diverse weitere Interventionen gegen ein Generalvikariat Zürich halfen wenig. Von einer direkten Intervention durch den Churer Bischof an den Papst wurde Caminada abgeraten. Wohl vermochte der an der Signatura Apostolica tätige Churer Diözesanpriester, Massimo Lanfranconi (1900-1970), eine Privataudienz bei Kardinal Piazza erwirken. Auf seine Frage, ob nicht doch eine Direktbegegnung zwischen Piazza und Caminada in der Angelegenheit Zürichs sinnvoll wäre, antwortete der Kardinal dem Vermittler abweisend: «Sappiamo già tutto». Lanfranconis Befürchtung bestätigte sich nach dem einstündigen Gespräch: Die treibende Kraft für die baldige Schaffung eines Generalvikariats mit Sitz in Zürich sass auf der Nuntiatur in Bern. Am 12. Juni 1956 schrieb Kommissar Alfred Teobaldi an Bischof Christianus Caminada: «Gestern hörte ich die unmöglichsten Gerüchte, dabei unter anderem, dass die Veröffentlichung der Errichtung eines Generalvikariates in Zürich unmittelbar bevorstehe. Ich kann das nicht glauben, möchte Sie aber auf jeden Fall bitten, eine Bekanntmachung, die mich oder meine Stellung betrifft, mir vorher zur Kenntnis zu bringen.» Das Gerücht sollte sich bewahrheiten. Noch im laufenden Monat Juni 1956 erwirkte oder besser erzwang Nuntius Testa gegen den Willen des Churer Bischofs auf den 1. Juli 1956 die Gründung des Generalvikariats Zürich mit Sitz an der Wiedingstrasse 46 in der Stadt Zürich (seit 1982 am Hirschengraben 66, «Centrum 66» genannt). Bischof Caminada ernannte den seit 1951 amtierenden bischöflichen Kommissar Alfred Teobaldi (1951-1956), welcher von der Idee der Schaffung eines Generalvikariats in Zürich persönlich überzeugt war und diese seine Überzeugung schriftlich wie mündlich im März/ Juni 1944 gegenüber Caminada mit ausführlichen Hintergrundinformationen zum Zustand der katholischen Kirche im Kanton Zürich dargelegt hatte, aber den gewählten Zeitpunkt für die Errichtung des Generalvikariats klar für verfrüht hielt - diese sollte nach seiner Meinung erst nach der Annahme eines neuen Kirchengesetzes über die öffentlich-rechtliche Anerkennung der katholischen Kirche im Kanton Zürich (1963) erfolgen -, zum ersten Generalvikar (1956-1969) [zu seiner Person siehe unten]. Sowohl der evangelische Kirchenrat als auch die Zürcher Regierung hatten gegen die Schaffung eines Generalvikariates in der Zwinglistadt keinerlei Bedenken; ihnen stand ein Zürcher Generalvikar näher (und zwar nicht nur geographisch) als ein Bischof in Chur. <?page no="122"?> 122 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Bischöfliche Kommissare für den Kanton Zürich Johann Severin Pfister aus Tuggen (1876-1901) Josef Benedikt Burtscher aus Rheinau (1901-1907) Johannes Theodor Meyer aus Bremgarten (1907-1930) Christian Herrmann aus Obersaxen (1930-1940) Hermann Camenzind aus Gersau (1940-1951) Alfred Teobaldi aus Zürich (1951-1956) Generalvikare für den Kanton Zürich Alfred Teobaldi aus Zürich (1956-1969) Hans Henny aus Obersaxen (1970-1980) Gebhard Matt aus Ruggell/ FL (1980-1990) Christoph Casetti aus Naters (1990-1993, von Chur aus amtierend) Weihbischof P. Peter Henrici SJ aus Zürich (1993-2003) Weihbischof P. Paul Vollmar SM aus Überlingen/ D (2003-2009) Weihbischof P. Marian Eleganti OSB aus Uznach (2010-2011) Josef Annen aus Schwyz (2009-2019) Im Amtsblatt der Diözese Chur, der «Folia Officiosa» (erschienen 1896-1967), wurde das auf den 29. Juni 1956 datierte «Dekret über die Errichtung des Generalvikariats für den Kanton Zürich» veröffentlicht. In einem einzigen Satz in Latein teilte man der Öffentlichkeit die Errichtung der neuen Institution und die Ernennung Teobaldis zum ersten Amtsinhaber mit Wirkung auf den 1. Juli 1956 mit. Im Bischöflichen Archiv Abb. 80: Bekanntgabe der Errichtung des Generalvikariats Zürich und der Ernennung Alfred Teobalis zum ersten Generalvikar für den Kanton Zürich (in: Folio Officiosa 62 [1956], S. 86) [BBC] <?page no="123"?> 123 9. Errichtung des Generalvikariats für den Kanton Zürich 1956 Chur liegen diverse Textentwürfe zu diesem Dekret; daraus geht hervor, wie schwer sich die bischöfliche Kurie mit der bestmöglichsten bzw. nüchternsten Formulierung tat. Die Nüchternheit des Textes deutet ferner die wenig grosse Begeisterung des Churer Bischofs zur Genüge an, welcher sich nur widerwillig - unter dem zunehmenden Druck des Nuntius - zu diesem Schritt entschliessen konnte. Entsprechend gingen aus Chur lediglich 5'000 Fr. als Startkapital an die neue Stelle in Zürich. Nachdem bereits am 22. September zwischen Bischof Caminada und Alfred Teobaldi erste Vereinbarungen getroffen worden waren [siehe Kasten S. 124], trafen sich am 16. November 1956 im Bischöflichen Schloss auf dem Hof in Chur Bischof Christianus Caminada, Generalvikar Johannes Vonderach, Alfred Teobaldi und sein neuer Sekretär Giusep Pelican (1956-1963) zwecks Festlegung der Vollmachten des neuen Generalvikars für Zürich sowie Klärung der Verwaltungsarbeit zwischen bischöflicher Kanzlei und Zürcher Amtsstelle. Abb. 81: Alfred Teobaldi (1897-1977), erster Generalvikar für den Kanton Zürich 1956- 1969 [AGVZH, Sig.-Nr. 327.01] Abb. 82: Gebhard Matt (1934-2017), Generalvikar für den Kanton Zürich (1980-1990) beim Papstbesuch in der Schweiz 1984 auf dem Flughafen Zürich-Kloten (ganz rechts aussen) [BAC.BA] <?page no="124"?> 124 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Bestimmungen vom 22 September 1956 Zum Generalvikariat gehört das Gebiet des Kantons Zürich. Sein Aufgabenkreis und die Stellung des Generalvikars entsprechen den in den Canones 366-371 CIC/ 1917 enthaltenen Bestimmungen mit Einschränkung auf den Kanton Zürich. Darüber hinaus gelten folgende Bestimmungen: 1. Stellenbesetzungen und Abberufung ist Sache des Bischofs von Chur. Der Generalvikar für den Kanton Zürich hat dabei ein Vorschlagsrecht. 2. An die Kosten des Generalvikariats für den Kanton Zürich leistet das bischöfliche Ordinariat einen angemessenen Beitrag. Der Generalvikar wird sich jedoch dafür tatkräftig einsetzen, dass die Katholiken des Kantons Zürich sobald als möglich selbst für ihre Pastoration (inkl. Generalvikariat) aufkommen und einen verhältnismässigen Anteil an den Lasten der Diözesanverwaltung übernehmen. Der Bischof von Chur stellt dem Generalvikariat einen im kanonischen Recht ausgebildeten Priester zur Verfügung. 3. Entsprechend den Vorschriften von Can. 369 CIC/ 1917 wird der Generalvikar dem Bischof von Chur über seine Tätigkeit auf dem Laufenden halten und im Interesse der Einheit der Diözesanverwaltung regelmässig an den Ordinariatssitzungen in Chur teilnehmen. Andererseits wird der Bischof in Bezug auf den Kanton Zürich keine wichtigen Entscheidungen oder Anordnungen (einschliesslich Stellenbesetzung) treffen, ohne den Generalvikar vorher zu konsultieren. Falls dies wegen der Dringlichkeit des Falles nicht möglich ist, wird er ihn nachträglich baldmöglichst darüber informieren. Unter anderem beschloss man, die Mess-Stiftungen, welche in den Zürcher Pfarreien errichtet werden, vom Generalvikar zu genehmigen und das dritte Exemplar des Stiftungsdokuments neu daselbst in einem eigenen zu schaffenden Archiv abzulegen. Überschüssige Manualstipendien und deren Beträge sind jedoch weiterhin direkt der bischöflichen Kanzlei in Chur zu überweisen. Gewisse Dispensen von Ehehindernisse - Dispens von Hindernis der Bekenntnis- und Religionsverschiedenheit (ausser Islam) - erteilt für den Kanton Zürich das Generalvikariat. Ferner gewährt die Amtsstelle in Zürich Ehetrennungserlaubnisse und ist zuständig für die administrative Ungültigkeitserklärung von Ehen, bei deren Schliessung die kirchliche Eheschliessungsform ausser Acht gelassen wurde. Der Generalvikar stellt zudem das Zelebret für Geistliche aus und erteilt die Beichtjurisdiktion für sein Territorium (allgemeine Beichtvollmacht des Bistums, des Ordens, der Kongregation muss vorliegen). In Übereinstimmung mit den kirchenrechtlichen Vorschriften nimmt der Diözesanbischof die Ernennungen der Pfarrherren und Vikare im Kanton Zürich selber vor; der Generalvikar kann einen Geistlichen zur Aushilfe für eine bestimmte Zeit bestellen. Mit der Installation der ernannten Geistlichen werden weiter- <?page no="125"?> 125 10. Gesetz über das katholische Kirchenwesen 1963 hin die Dekane beauftragt. Der letzte Entscheid bei Ankauf von Bauplätzen, bei Kirchen- und Pfarrhausbauten, Errichtung von Pfarreisälen, etc. sowie bei geplanten umfangreichen (Kirchen-)Renovationen liegt beim Diözesanbischof; der Generalvikar trifft jedoch die Vorbereitungen und unterbreitet der Kurie die Anträge. Pfarreiabgrenzungen können nur nach Rücksprache mit dem Bischof vorgenommen werden. Ein Mitteilungsblatt des Generalvikariats dient schliesslich der internen Information speziell für den Kanton Zürich; dieses existiert heute noch in inzwischen digitaler Form. Die anfängliche Zurückhaltung und Reserviertheit gegenüber Teobaldi, welche ihm der örtliche Klerus wegen seiner fehlenden pastoralen Erfahrung als Pfarrer entgegenbrachte, konnte der Generalvikar allmählich überwinden. Seine Arbeit als Generalvikar sah Alfred Teobaldi einerseits im Ausbau der katholischen Pastoration, andererseits - als deren Voraussetzung (Basis zur späteren Beschaffung erforderlicher finanzieller Mittel) - in der Erlangung der öffentlich-rechtlichen Anerkennung. Alfred Teobaldi schrieb später selbst: «Das Generalvikariat Zürich ist […] zu einer nicht mehr wegzudenkenden Institution geworden, die sowohl für das Bistum Chur als für das ‹christliche Zürich›, wenn ich diese Bezeichnung verwenden darf, von grosser Bedeutung ist.» In einem Schreiben an Generalvikar und Dekane des Kantons Zürich zeigte sich der ehedem gegen die Schaffung eines selbständigen Distrikts eingestellte Churer Bischof in versöhnlichem Ton. Am 4. September 1957 schrieb Christianus Caminada, «um die Pastoration im Kanton Zürich zu intensivieren» sei nicht nur ein Vize-Offizial mit Sitz in Zürich bestimmt, sondern sämtliche vier Dekane habe er zu Ehrenkanonikern ernannt, um sie «in ihrem hohen Amt ganz besonders hervorzuheben». Gleichzeitig machte Caminada aber auch auf die klemme Finanzsituation des Bistums aufmerksam, welche dazu zwinge, Beiträge an das Generalvikariat zu vermindern oder gar ganz zu streichen. Künftig müsse «das wirtschaftlich starke Zürich finanziell sich selber helfen durch Ausgleich aus den Pfarreien». Sein Vorschlag ging dahin, pro Zürcher Katholik einen Beitrag von 20 Rappen an die Kasse des Generalvikariats zu entrichten; er hoffe, die Dekane würden ihn darin unterstützen und zur baldigen Verwirklichung beitragen. Erleichterung in der Frage nach finanzieller Absicherung der ohne Zweifel enorm aktiven katholischen Aufbauarbeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im einstigen reformierten Kanton Zürich schuf dann 1963 das Gesetz über das katholische Kirchenwesen. 10. Gesetz über das katholische Kirchenwesen 1963 In Zusammenarbeit mit Katholiken, Protestanten und der Zürcher Regierung, welche Alfred Teobaldi als Generalvikar gekonnt zu fördern verstand, gelang nach fast 40-jährigem Ringen um die Erneuerung des Kirchengesetzes von 1863 eine Gesetzesrevision unter Berücksichtigung geänderter konfessioneller Verhältnisse im Kanton Zürich, aber auch unter Wahrung der Wesensstruktur der katholischen Kirche. Obwohl das «Gesetz betreffend das katholische Kirchenwesen» von 1863 den Katholiken entgegenkam, indem es die damals bestehenden vier Pfarreien Dietikon, Rheinau, Winterthur und Zürich - zwar den reformierten Gemeinden gleichgestellt - in den Rang einer öffentlich- <?page no="126"?> 126 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit rechtlichen Korporation erhob, verschlechterte sich die rechtliche Lage der Katholiken im Kanton mit der Abspaltung der Christkatholiken in der Stadt Zürich (1873) bald wieder, denn alle späteren Pfarreigründungen waren vom Staat nicht anerkannte Gebilde. Noch 1957 schrieb Generalvikar Alfred Teobaldi in den «Folia Officiosa»: «Mehr als 90 % der Katholiken leben heute in Pfarreien, die keinerlei öffentlich-rechtliche Anerkennung geniessen und höchstens privatrechtlich (nach Art. 60 ff. ZGB) organisiert sind. Am krassesten ist die Situation in der Stadt Zürich, wo nicht die römisch-katholische, sondern die vierzigmal schwächere christkatholische Kirche als ‹Katholische Kirchgemeinde Zürich› anerkannt wird.» Es war deshalb nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig, bereits auf dem am 22. Oktober 1950 durchgeführten Katholikentag in Zürich in aller Öffentlichkeit die Forderung zu stellen, im Bewusstsein der römisch-katholischen Glaubensangehörigen als starke, unabhängige und wertvolle Gemeinschaft, die gegen ein Drittel der stetig wachsenden Bevölkerung des Kantons Zürich repräsentierten (1960 erreicht), das längst überholte Gesetz von 1863 zu revidieren. Faktoren wie der Schritt vom Milieukatholizismus (nach dem Ersten Weltkrieg) zur Integration und zum Aufstieg in der Zürcher Gesellschaft (nach dem Zweiten Weltkrieg) sowie der Prozess der Säkularisierung schufen die Basis zu einem erfolgreichen Voranschreiten mit dem Ziel einer grundlegenden Gesetzesreform. Die ersten Bemühungen um eine Verbesserung der staatskirchenrechtlichen Situation der Katholiken reichen ins Jahr 1920 zurück. Ludwig Schneller, Präsident der «Kommission zum Studium der besseren Finanzierung der zürcherischen Diasporapfarreien», reichte am 13. Dezember eine Motion zur Anerkennung der katholischen Kirche im Kantonsparlament ein. Der Verstoss hatte damals keinerlei Chancen; mit 116 zu 29 Stimmen wurde das Begehren verworfen. In den 40er Jahren trat dann Alfred Teobaldi auf den Plan: Im Auftrag des Churer Bischofs hatte er zu prüfen, ob eine Anerkennung überhaupt angestrebt oder doch besser auf eine vollkommene Trennung zwischen Staat und Kirche hingearbeitet werden sollte. Eine hierzu 1945 ins Leben gerufene Kommission stellte ihre Arbeit 1947 mit der Feststellung wieder ein, eine Trennung von Kirche und Staat sei durch Mitarbeit von Protestanten und Zürcher Regierung nicht zu erreichen. Einzige Möglichkeit bleibe, so Teobaldi, die Revision des Kirchengesetzes von 1863. Im Anschluss an die Resolution auf dem Katholikentag 1950 im Kongresshaus Zürich setzte Bischof Christianus Caminada eine Kommission ein, bestehend aus Nationalrat Emil Duft (Präsident), Rechtsanwalt Josef Kaufmann und Alfred Teobaldi; dieses Dreiergremium wurde später durch je zwei Vertreter der kantonalen Pfarrkonferenz und der christlich-sozialen Kantonsfraktion sowie zwei weiteren Mitgliedern, welche einerseits die bis dato anerkannten drei «Staatspfarreien» (Dietikon, Rheinau, Winterthur), andererseits die Laiendelegierten sämtlicher Pfarreien vertraten, ergänzt. Diese katholische Kirchengesetzkommission reichte nach sieben Jahren intensiver Arbeit am 12. Februar 1957 dem zuständigen Direktor des Innern, Regierungsrat Emil Reich (1954-1959), ihren ausgearbeiteten «Vorschlag für ein römisch-katholisches Kirchengesetz des Kantons Zürich und die damit zusammenhängenden Änderungen der Kantonsverfassung» ein. Bereits 1955 hatte die evangelisch-reformierte Kirche einen Gesetzesentwurf für die Anpassung ihres Kirchengesetzes eingereicht. «Am liebsten», so konstatiert Teobaldi in seinen Aus- <?page no="127"?> 127 10. Gesetz über das katholische Kirchenwesen 1963 führungen in den «Folia Officiosa» von 1957, «hätten wir uns mit einem Rahmengesetz begnügt, das für alle drei christlichen Konfessionen Geltung gehabt und im übrigen die Ordnung der internen Angelegenheiten ihnen selbst überlassen hätte. Eine solche Lösung […] war leider im Kanton Zürich nicht mehr zu erreichen, vor allem darum, weil die Vorarbeiten für das neue reformierte Kirchengesetz bereits zu weit fortgeschritten und zu stark in Einzelheiten gegangen waren». Der von der katholischen Kommission 1957 eingereichte Vorschlag basierte auf der Maxime: «So viel Bindung als nötig - so viel Freiheit als möglich», das heisst, die Bindung ergab sich aus den bereits vorhandenen und zu berücksichtigenden Gesetzen aus der Bundes- und Kantonsverfassung für alle öffentlichrechtlich anerkannten Gemeinden; die Freiheit war dort möglich, wo nicht zwingend staatliche Vorschriften griffen und so die Normen der katholischen Kirche Raum einnehmen konnten. Das revidierte Kirchengesetz sollte insbesondere nichts enthalten, was mit der katholischen Auffassung nicht oder nur schwer vereinbar war. Deshalb sah der Entwurf keine Volkswahl der Geistlichen und noch weniger deren Wiederwahl vor, was aber zwangsmässig zu einer Änderung von Art. 64 der Kantonsverfassung geführt hätte. In der Hauptsache enthielt der «Vorschlag» zwei Arten von katholischen Korporationen: 1. das ganze Zürcher Kantonsgebiet (Name: «römisch-katholische Korporation des Kantons Zürich»), nicht Landeskirche genannt, umfasste alle römisch-katholischen Einwohner/ innen mit einem obersten Organ (Zentralkommission, bestehend aus 15 Mitgliedern [6 Geistliche, 9 Weltliche]), und 2. die Gemeindekorporation (Name: «römisch-katholische Pfarrgemeinde»), - in klarer Abgrenzung zu den von der evangelisch-reformierten Landeskirche verwendeten Begriffen - nicht Kirchgemeinde genannt, das ausführende Organ nicht als Kirchenpflege, sondern als Pfarrgemeindevorstand oder Kirchenrat bezeichnet. Die Pfarrgemeinden sollten künftig auch das Recht haben, sowohl von ihren Konfessionsangehörigen als auch von allen juristischen Personen Kirchensteuern zu erheben. Das Steuerrecht, so Teobaldi, sei eine Folge der neuen Stellung, «die wir erstreben und die endlich die katholische Kirche aus dem Zustand der rechtlichen Inexistenz herausausführen wird». Auch wenn am «Vorschlag» von 1957 diverse Änderungen vorgenommen wurden, waren sich im Grundsatz alle Beteiligten einig, die berechtigten Forderungen der Katholiken nach Gleichstellung zu erfüllen. Ein regierungsrätlicher Kompromissentwurf wurde im Januar 1962 von der Kirchengesetzkommission akzeptiert, doch forderte das Priesterkapitel Zürich eine stärkere Berücksichtigung der katholischen Kirchenstrukturen. Soweit möglich, versprach der neue Direktor des Innern, Regierungsrat Ernst Brugger (1959- 1969), dem Begehren der Geistlichkeit entgegen zu kommen. Im Mai 1962 überreichte der Regierungsrat die revidierte Vorlage dem Zürcher Kantonsrat zur Diskussion. Dabei ist hervorzuheben, dass man die zuerst vermiedenen Begriffe «Körperschaft» und «Kirchgemeinden» anstelle der verwendeten «Korporation» und «Pfarrgemeinde» wieder einsetzte. Am 1. April 1963 wurden schliesslich alle Vorlagen - Änderung der Kantonsverfassung, Frauenstimmrecht in kirchlichen Angelegenheiten, katholisches Kirchengesetz, evangelisch-reformiertes Kirchengesetz - mit überwältigendem Mehr gutgeheissen und die Volksabstimmung darüber auf den 7. Juli 1963 festgesetzt. <?page no="128"?> 128 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Das «Gesetz über das katholische Kirchenwesen» (nicht etwa ‹Kirche›) wurde vom Zürcher Stimmvolk mit 77'441 zu 47'887 Stimmen (bei 35 ungültigen und 12'827 leeren Stimmzetteln) angenommen (61,8 %). Die Stimmbeteiligung lag bei 51,7 %, wobei die wählenden Katholiken stärker am Urnengang vertreten waren als die Protestanten, was damit zu erklären ist, dass es bei dieser Abstimmung für die Katholiken um ein sehr wichtiges ‹Geschäft› ging, dagegen die anerkannte reformierte Landeskirche lediglich über eine Gesetzesrevision zu befinden hatte (mit 88'256 zu 38'161 Stimmen abgenommen) und daher weniger tangiert war. Seitdem bestehen im Kanton Zürich neben der evangelisch-reformierten Landeskirche (darin eingeschlossen die französischen Kirchgemeinschaften) und der christkatholischen Kirchgemeinde Zürich als staatlich anerkannte Personen des öffentlichen Rechts die kantonale römisch-katholische Körperschaft und die römisch-katholischen Kirchgemeinden. Körperschaft und Kirchgemeinden ordnen im Rahmen des staatlichen Rechts ihre innerkirchlichen Angelegenheiten selbständig, stehen aber in allen anderen Belangen unter der Aufsicht der staatlichen Behörden (Oberaufsicht über die Körperschaft: Kantonsrat / staatliche Aufsicht über die Kirchgemeinden: gemäss Gemeindegesetze). Die von den Stimmberechtigten neu zu wählenden Pfarrer der staatlich anerkannten Kirchgemeinden - Ausnahmen bildeten Dietikon, Rheinau und Winterthur - unterlagen zudem alle sechs Jahre einer Bestätigungswahl; der Staat gestand hier die stille Wahl zu. Dieser mit Datum vom 9. September 1964 von der römisch-katholischen Körperschaft erlassene und gesetzlich verlangte Modus entsprach keineswegs dem katholischen Kirchenverständnis, wurde aber der anderen Vorteile wegen akzeptiert; auch Bischof Vonderach und Generalvikar Teobaldi stimmten diesem Modus zu. Als Hauptvorteil zu betrachten, ist die Tatsache, dass der Staat der Körperschaft jährliche Beiträge zuhanden der Kirchgemeinden gewährte und die Erhebung von Steuern - auch von juristischen Personen - ermöglichte. Durch letztere wurden in der Tat viele Geldsorgen gelöst; Pfarrer und Gemeinde konnten fortan mit einer sicheren Einnahmequelle rechnen und mussten sich nicht mehr so sehr Gedanken machen, woher sie das benötigte Geld für Kirchenbau, Renovationen, Seelsorge und ihren Haushalt erhalten sollten. Die Höhe der Einnahmen hing von der Grösse und Struktur der Gemeinde ab, eventuell noch unterstützt durch den städtischen Finanzausgleich. Mit Inkrafttreten einer neuen Besoldungsordnung (1963) betrug der Lohnanstieg für einen Pfarrer mit mehr als 10 Dienstjahren über 70 %, für einen mit mehr als 15 Dienstjahren sogar über 85 %. Als Folge dieses Geldsegens blieben die bislang gewährten Beiträge der Inländischen Mission ab 1965 aus; ferner konnte man auf Kollekten ausserhalb des Kantons Zürich verzichten. Im kirchlichen Mitteilungsblatt schrieb Generalvikar Teobaldi: «Die Besteuerung der natürlichen und juristischen Personen und die staatlichen Leistungen in Form der jährlichen Beiträge an die Kirchgemeinden geben uns nun endlich die Möglichkeit, auf die Unterstützung der Inländischen Mission, die Jahr für Jahr eine gewaltige Hilfe an den Auf- und Ausbau der Seelsorge im Kanton Zürich geleistet hat, zu verzichten.» - Die Diaspora im Kanton Zürich war, wenn überhaupt, höchstens noch eine zahlenmässige Minderheit, der es finanziell ab 1963 immer besser ging. <?page no="129"?> 129 10. Gesetz über das katholische Kirchenwesen 1963 Diese finanzielle Besserstellung bedurfte einer Kontrollinstanz. Es galt das Exekutivorgan, die römisch-katholische Zentralkommission mit 15 Mitgliedern (auf jeweils vier Amtsjahre), wie im Kirchengesetz von 1963 aufgeführt, als Vertretung der römisch-katholischen Körperschaft namentlich auch gegenüber den staatlichen Behörden, zu bestellen. Die Zentralkommission, erstmals konstituiert am 28. Oktober 1963 - so § 10 im Kirchengesetz -, kann «für alle römisch-katholischen Kirchgemeinden verbindliche Vorschriften über die Abgrenzung der kirchlichen Zuständigkeitsbereiche der Kirchgemeindeversammlungen und Kirchenpflegen erlassen». Sie beschliesst ferner nach den geltenden Vorschriften «über die Verwendung der staatlichen Beiträge an die Körperschaft und verwaltet ihre Zentralkasse»; entsprechend hat sie jährlich dem Regierungsrat zuhanden des Kantonsrats «Bericht über ihre Tätigkeit, namentlich auch über die Verwendung der staatlichen Beiträge» zu erstatten. Da es keine kantonale Kirchensteuer gab, wurde die Zentralkasse durch freiwillige Beiträge der Kirchgemeinden alimentiert. Daraus beglich man die Kosten der kirchlichen Verwaltung im Ordinariat Chur, welche den Kanton Zürich betrafen, bezahlte das Generalvikariat und das Vizeoffizialat in Zürich, ausserdem personenbezogene Spezialseelsorge (Fremdsprachige, Arbeiter), sowie die spätere Paulus- Akademie. Zwischen dem 7. November und dem 9. Dezember 1963 konstituierten sich schliesslich auch die Kirchenpflegen in den 67 römisch-katholischen Kirchgemeinden. In der Stadt Zürich einigten sich 22 Kirchgemeinden auf einen gemeinsamen Steuerfuss und gründeten im Herbst 1964 den «Verband der römisch-katholischen Kirchgemeinden der Stadt Zürich», kurz Stadtverband genannt, womit eine komplizierte Ausscheidung der Kirchensteuern auf die einzelnen Kirchgemeinden vermieden werden konnte. Beiträge der Kirchgemeinden an die Zentralkasse der römisch-katholischen Körperschaft von 1965 bis 2015 * Jahr Beitrag Beitragssatz in % Natürliche Personen Beitragssatz in % Juristische Personen 1965 1'981'181.-- 1,80 2,70 1970 4'148'890.-- 2,00 3,00 1975 7'189'799.-- 1,70 2,55 1980 7'681'010.-- 1,70 2,55 1985 13'452'620.-- 2,10 3,15 1990 19'623'525.-- 2,10 3,15 1995 31'858'907.-- 2,90 4,35 2000 31442'386.-- 2,50 3,75 2005 26'696'322.-- 1,80 2,70 2010 32'953'056.-- 1,90 2,85 2015 24'441'626.-- 1,40 1,95 *aus: Alfred Borter, Urban Fink, u.a., Katholiken im Kanton Zürich - eingewandert, anerkannt, gefordert, Zürich 2014, S.129 / Jahresbericht Katholische Kirche im Kanton Zürich 2015 [BBC] <?page no="130"?> 130 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Mit Abänderung der Zürcher Staatsverfassung und Annahme des Gesetzes über das katholische Kirchenwesen am 7. Juli 1963 sind die Katholiken im Kanton Zürich öffentlich-rechtlich anerkannt. Regierungsrat Ernst Bruggmann gibt dabei laut Protokoll des Kantonsrates unumwunden zu: «Im Widerspruch zum kanonischen Recht wurde der katholischen Kirche im Kanton Zürich in bezug auf die Stellung der Kirchgemeinde und die Pfarrerwahl eine demokratische Form aufgezwungen.» Mit dieser, wenn auch in manchen Bereichen nicht befriedigend gelösten «Anerkennung» als Kompromisslösung nach jahrlangem zähen wie ernsthaften Ringen kann der Aufbau der Kirchenstrukturen als abgeschlossen betrachtet werden, nicht aber ihr Ausbau. Denn bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts zog sich die Schaffung neuer Pfarreien bzw. Pfarrvikariate hin. 11. Pfarreigründungen nach 1963 In den rasch wachsenden Agglomerationsgemeinden rund um den Zürichsee entstanden nicht nur neue Kirchen und Pfarreien - zwischen 1970 und 1975 insgesamt 20 (1970 allein in Winterthur durch Dismembration der dortigen Mutterpfarrei St. Peter und Paul 5) -, sondern der dank Steuereinnahmen niedergehende Geldsegen löste nach 1963 geradezu einen Bauboom aus; diverse Vereinshäuser wurden errichtet und zahlreiche bereits bestehende Pfarrkirchen grundlegend renoviert. Im 21. Jahrhundert kam es schliesslich noch zur Errichtung von zwei Personalpfarreien: 2006 der «Missione cattolica italiana» San Francesco in Winterthur und 2012 - seit der Wiedereinführung der ausserordentlichen Form des römischen Ritus durch Papst Benedikt XVI. (2005-2013) - der Pfarrei Hl. Maximilian Kolbe für das Gebiet des Kantons Zürich mit Sitz in Thalwil. Pfarreigründungen im Kanton Zürich zwischen 1963 und 2000 Jahr Ort und Name der Pfarrei 1963 Andelfingen-Stammheim: Mariae Empfängnis Elgg: St. Georg Herrliberg: St. Marien Oberrieden: Heilig Chrüz Regensdorf: St. Mauritius Zürich (Witikon): Maria Krönung 1964 Birmensdorf: St. Martin Illnau-Effretikon: St. Martin Rümlang: St. Petrus und Johannes Vianney 1965 Bonstetten: St. Mauritius und Michael Engstringen (Oberengstringen): St. Mauritius Opfikon-Glattbrugg: St. Anna <?page no="131"?> 131 11. Pfarreigründungen nach 1963 1967 Glattfelden: St. Josef 1970 Dietlikon: St. Michael Uitikon-Waldegg: St. Michael (Pfarr-Rektorat [zu Birmensdorf ]) Winterthur (Deutweg): Herz Jesu Winterthur (Töss): St. Josef Winterthur (Oberwinterthur): St. Marien Winterthur (Seen): St. Urban Winterthur (Wülflingen): St. Laurentius 1971 Feuerthalen: St. Leonhard Gossau/ ZH: Maria Krönung (Pfarr-Rektorat [zu Wetzikon]) Seuzach: St. Martin Sulz: St. Stefan (heute: Pfarrei Glattfelden-Eglisau-Rafz) Volketswil: Bruder Klaus Winterthur (Rosenberg): St. Ulrich 1972 Dietikon: St. Josef Geroldswil: St. Johannes d. T. 1974 Greifensee: Johannes XXIII. (Pfarr-Rektorat [zu Volketswil]) Embrach: St. Petrus Zollikerberg-Zumikon: St. Michael Zürich (Leimbach): Maria-Hilf 1975 Fällanden: St. Katharina von Siena (Pfarr-Vikariat [zu Dübendorf ]) 1981 Wiesendangen: St. Stefan 1982 Maur-Ebmatingen: St. Franziskus (Pfarr-Vikariat [zu Egg]) 1983 Bassersdorf: St. Franziskus 1995 Niederhasli: St. Christophorus 1997 Rüschlikon: St. Nikolaus Im Dekanat Winterthur bildete, wie erwähnt, die Pfarrei St. Peter und Paul neben Zürich am Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiges geistiges Zentrum, nachdem die dortigen kirchlichen Anfänge keineswegs leicht gewesen sind. Nachdem 1813 in Winterthur wohnhafte Katholiken in einer Petition den Stadtrat baten, die Kapelle St. Georg für Gottesdienste nutzen zu dürfen, zeigte sich dieser «geneigt, den Catholiken in ihrem Ansuchen zu entsprechen». Dagegen aber protestierten die kantonalen Behörden. Der Kleine Rat in Zürich lehnte das Winterthurer Begehren rundweg ab; es gebe hierfür keinerlei «dringend nothwendiges Bedürfnis». Ein erneuter Versuch scheiterte 1840 an der ablehnenden Haltung der reformierten Kirchenbehörde in Winterthur, die sich nicht nur gegen einen Simultangebrauch von St. Georg wehrte, sondern ein Ausdehnen der römisch-katholischen <?page no="132"?> 132 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit ‹Macht› in der Stadt befürchtete. Noch 1856 bildete sich ein Initiativkomitee mit dem Ziel, in Winterthur eine Kirchgemeinde und ein katholisches Gotteshaus zu errichten; bislang oblag die Sakramentenspendung dem Pfarrer von Gachnang (Bezirk Frauenfeld/ TG). Erst mit der Aufhebung des Benediktinerklosters Rheinau 1862 und in Verbindung mit dem Kirchengesetz von 1863, worin die in Winterthur, Töss, Wülflingen, Oberwinterthur und Seen wohnenden Katholiken als katholische Kirchgemeinde Anerkennung fanden, kam Bewegung in die Sache. Der neuen Kirchgemeinde wurde vom Winterthurer Stadtrat im Frühjahr 1864 eine rund 42'000 Quadratmeter grosse Parzelle im Neuwiesenquartier übertragen. 1868 wurde der Kirchenbau als architektonischer Mittelpunkt des Quartiers im Rohbau fertiggestellt (Einweihung am 5. Juli 1868), obwohl dieses Stadtviertel noch länger eine Baustelle blieb. Unter dem zielstrebigen Wirken von Johann Severin Pfister, der am 1. Januar 1872 das Pfarramt übernahm und dieses bis 1901 betreute, gelang innerhalb von zehn Jahren der Abschluss der von Architekt Karl Wilhelm Bareiss aus Tübingen (1819-1885) entworfenen neugotischen Kirche; den Schlusspunkt bildete die Kirchweihe zu Ehren der Apostelfürsten Petrus und Paulus am 10. Juli 1897 durch den Churer Bischof Johannes Fidelis Battaglia (1889-1908). Abb. 83 [links]: Johann Severin Pfister aus Tuggen, Pfarrer in Winterthur (1871-1901) und Bischöflicher Kommissar/ Dekan des Priesterkapitels Zürich (1876/ 77-1901) [PfA.Winterthur] / Abb. 84 [rechts]: «Mutterkirche» von Katholisch-Winterthur: Pfarrkirche St. Peter und Paul mit dem 1874 erbauten Pfarrhaus (rechts aussen), Postkarte Ende 19. Jahrhundert [BAC.BA] <?page no="133"?> 133 11. Pfarreigründungen nach 1963 Katholisch-Winterthur nahm unter Pfarrer Pfister als integrative Persönlichkeit kontinuierlich Formen an. Mit dem Bau des Pfarrhauses (1874), einem Vereinshaus an der Wartstrasse sowie der Gründung zahlreicher Gruppierungen, Institutionen und Vereine parallel zum sprunghaften Wachstum der katholischen Bevölkerung um die Jahrhundertwende entstand ein breit abgestützter katholischer Gesellschaftsteil in Stadt und Umgebung. Rund um die «Mutterkirche» St. Peter und Paul als architektonisches wie religiös-symbolisches Zentrum entstanden in chronologischer Abfolge verschiedene weitere «Stützpunkte» des Katholizismus: • Winterthur-Töss: St. Josef (Pfarr-Rektorat seit 1914), Kirche benefiziert am 30. August 1914; • Winterthur-Oberwinterthur: Unsere Liebe Frau Maria Hilf (Pfarr-Rektorat seit 1918), Kircheneinsegnung am 18. Mai 1936, Kirche eingeweiht am 27. April 1957; • Winterthur-Deutweg: Herz Jesu (Pfarr-Rektorat seit 1934), Kirche eingeweiht am 28. Oktober 1934; • Winterthur-Wülflingen: St. Laurentius (Pfarr-Rektorat seit 1959), Kirche eingeweiht am 7. März 1959; • Winterthur-Rosenberg: St. Ulrich (Pfarr-Rektorat seit 1971), Kirche eingeweiht am 21. März 1971; • Winterthur-Seen: St. Urban (Pastoration von Herz Jesu aus, seit 1937), Kirche eingeweiht am 2. November 1974. Alle diese am 1. November 1970 bzw. 1. November 1971 (St. Ulrich) durch Errichtungsdekrete von Bischof Johannes Vonderach zu Pfarrkirchen erhobenen Distrikte bilden heute zusammen mit der örtlichen Personalpfarrei Missione Cattolica italiana die eine römisch-katholische Kirchgemeinde Winterthur - übrigens die grösste Kirchgemeinde im Kanton Zürich -, die einst 1862/ 63 unter schwierigen Vorzeichen entstand und in deren Mittelpunkt weiterhin St. Peter und Paul steht. 2010 verabschiedete die Kirchenpflege den Bericht «Pastoral im Lebensraum Winterthur», welcher eine engere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Pfarreien zum Ziel hat. Das gesamte Winterthurer Stadtgebiet mit rund 26'000 Katholiken wird als ein Pastoralraum gefasst, in dem es inskünftig diverse überpfarreiliche Angebote und soziale Dienstleistungen gibt. Wie anderswo in der Schweiz sind auch die Priesterzahlen im Kanton Zürich nach 1970 rückläufig. 1963 wirkten noch 210 Priester (davon 70 Pfarrer, 11 Pfarr-Rektoren, 87 Vikare, 14 Migrantenseelsorger, 18 Ordensleute) in den Zürcher Pfarreien. 1983 zählte man noch 196 (davon 83 Pfarrer, nur mehr 30 Vikare, dafür 42 Migrantenseelsorger und 42 Ordensleute), 2012 deren 180 (davon 46 Pfarrer, 21 Pfarradministratoren, 13 Vikare, 35 Migrantenseelsorger und 38 Ordensgeistliche). Die Zahl 180 wird wieder wettgemacht durch die Zunahme von Pastoralassistenten/ -assistentinnen [119] und Ständigen Diakonen [27] (zum Teil als Pfarreibeauftragte), so dass 2012 total 326 Seelsorger/ innen im Einsatz standen. In der Bistumsregion Zürich-Glarus wirkten laut Statistik für 2016 insgesamt 162 Priester (davon 32 Ordensgeistliche), 29 Ständige Diakone sowie 80 Pastoralassistenten/ -assistentinnen aktiv in der Gemeindepastoral. <?page no="134"?> 134 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit 12. Ein verändertes Bild unter speziellen Umständen: Churer Weihbischöfe als Generalvikare in der Zwinglistadt Alfred Teobaldi, der unermüdlich darauf hingearbeitet hatte, dass die Begriffe «römischkatholisch» und «zürcherisch» nicht mehr als Gegensätze empfunden werden mussten, wurde nach seinem Rücktritt auf Ende 1969 von einem Geistlichen als Generalvikar von Zürich abgelöst, dem die Diasporasituation keineswegs fremd war: Hans Henny aus Obersaxen (1909-1996), geboren in Chur, später in Bern aufgewachsen, nach seinem Theologie- und kirchenrechtlichen Studium in Rom Pfarrer in Zürich-Bruder Klaus (1944-1954) und Zürich-Liebfrauen (1954-1969), 1951 bis 1968 Vizeoffizial mit Sitz in Zürich, seit 1958 bis 1969 Dekan. Der einer konfessionsverschiedenen Ehe entstammende Priester aus dem Bündnerland zeigte sich nicht nur offen für ökumenische Anliegen im urbanen Umfeld der Stadt Zürich, sondern interessierte sich für neue pastoralsoziologische Fragestellungen; eine Folge davon war die Intensivierung der Fremdsprachigen- und Behindertenseelsorge in seiner Amtszeit als Generalvikar (1970-1980), was den Anstieg der Migrantenseelsorger auf 35 im Jahre 1983 erklärt. Ihm folgte Gebhard Matt aus Ruggell/ FL (1934-2016), welcher nach seinen kanonischen Studien, die er ebenfalls in Rom absolvierte hatte, im Kanton Zürich als Vikar (1964-1968), Pfarrer (1969-1980) und Dekan (1975-1980) in St. Peter und Paul zu Winterthur aktiv in der Seelsorge stand. In seiner Amtszeit als Generalvikar (1980-1990) sah er sich nicht nur mit dem zunehmenden Priestermangel konfrontiert, woraus sich personelle Schwierigkeiten bei Stellenbesetzungen in der Pfarreilandschaft des Kantons Zürich ergaben, sondern auch mit einer ökumenischen und innerkirchlichen Ernüchterung nach den ambitiösen Aufbrüchen in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als Folge der von Bischof Johannes Vonderach quasi im Alleingang vorangetriebenen und in Rom auch erreichten Bestellung eines Bischofskoadjutors am 5. April 1988 in der Person seines bisherigen bischöflichen Kanzlers Wolfgang Haas (1978-1989), welcher wie Matt aus dem Fürstentum Liechtenstein stamme, und nach dessen Übernahme des Churer Bischofsstuhls am 22. Mai 1990 zeigte sich der Generalvikar von Zürich nach persönlichen Gesprächen mit dem neuen Oberhirten und Landsmann unter den gegebenen tumultuösen Zuständen, wie sie im Bistum seit 1988 vorherrschten, nicht mehr gewillt, weiter als Zürcher Generalvikar zu wirken und stellte das Amt zur Verfügung. Somit war nach geltendem Kirchenrecht der Diözesanbischof frei, einen ihm wohl auch genehmeren Kandidaten in der Person von Bischofsvikar Christoph Casetti zu ernennen. Diese Nominierung akzeptierte hingegen Katholisch-Zürich nicht, so dass der neue Generalvikar (1. Juni 1990 bis 30. Juni 1993) keine Möglichkeit hatte, in Zürich zu residieren, sondern seine Amtsgeschäfte von bischöflichen Hof in Chur aus erledigen musste. Die zunehmend unhaltbaren innerkirchlichen Querelen rund um die Koadjutoren-Ernennung und spätere Amtsführung von Wolfgang Haas führten zu einem schweren Vertrauensverlust, der nicht nur in der Geschichte der katholischen Kirche in der Schweiz tiefe Wunden hinterlassen sollte, sondern der auch den administrativen Bistumsteil Zürich schwer schädigte und nach Lösungen verlangte. <?page no="135"?> 135 12. Ein verändertes Bild unter speziellen Umständen: Churer Weihbischöfe als Generalvikare in der Zwinglistadt Am 1. März 1993 teilte Papst Johannes Paul II. (1978-2005) über die Nuntiatur in Bern dem Präsidenten der Schweizer Bischofskonferenz, Bischof Pierre Mamie (Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg 1970-1995), die Ernennung von zwei Weihbischöfen für das Bistum Chur mit. Dass diese Bekanntgabe aus Rom nicht dem betroffenen Diözesanbischof, sondern dem Präsidenten gemacht wurde, verdeutlicht die damalige Ausnahmesituation im Bistum Chur. Die beiden Ernannten, beides Ordensleute, P. Peter Henrici SJ aus Zürich und P. Paul Vollmar SM aus Überlingen am Bodensee, die als Weihbischöfe und Generalvikare in der «Churer Bistumskrise» Entlastung bringen und Führung ermöglichen sollten, nahmen ihr neues Amt nur nach Widerstand und inständigem Bitten von höchster Stelle in Gehorsam an. Der frühere Universitätsprofessor für Philosophie an der Gregoriana in Rom, Henrici, oblag nach der zusammen mit Vollmar in der Klosterkirche Einsiedeln am 31. März 1993 empfangenen Bischofsweihe bis Mitte 2003 der Leitung des Generalvikariats in Zürich. Der Provinzial der Marianisten in der Schweiz, Vollmar, stand zwischen 1993 und 1998 im Dienst als Generalvikar für Graubünden (mit Sitz in Chur); danach übernahm er die Leitung des Generalvikariats Urschweiz bis 2003 (mit Sitz in Sarnen) und wechselte schliesslich als Nachfolger Henricis 2003 bis 2009 nach Zürich. Nach dem Rücktritt von Paul Vollmar im Oktober 2009, dessen Zusammenarbeit mit dem 2007 vom Churer Domkapitel gewählten Bischof Vitus Huonder sich zunehmend schwieriger gestaltete, übernahm Regens und Bischofsvikar Abb. 85 [von rechts nach links]: Generalvikare für den Kanton Zürich: Weihbischof Peter Henrici SJ (1993-2003), Weihbischof Paul Vollmar SM (2003-2009) und Josef Annen (seit 2009) [Foto: Arnold Landtwing, entstanden am 30. Oktober 2014 anlässlich der Feier des 10-jährigen Bestehens der kirchlichen Stelle für Gemeindeberatung und Supervision (© Katholische Kirche im Kanton Zürich)] <?page no="136"?> 136 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Josef Annen interimistisch die Führung des Generalvikariats in Zürich. Nur für kurze Zeit, von Februar 2010 bis Februar 2011 wies das Generalvikariat gar eine Co-Leitung auf: Der am 7. Dezember 2009 ernannte Weihbischof P. Marian Eleganti OSB trug für die Seelsorge, für die Repräsentation sowie für die Kontakte mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften Verantwortung, Josef Annen war (weiterhin) für das Personal und die eigentliche Führung des Generalvikariats zuständig. Mit der Ernennung von Weihbischof Eleganti im Februar 2011 zum Regens des Priesterseminars St. Luzi in Chur (bis 2014) wurde diese bislang einmalige Sonderstellung einer Co-Leitung hinfällig. Seither trägt Josef Annen als ausgewiesener und erfahrender Seelsorger die alleinige Verantwortung für das Zürcher Generalvikariat. Das zaghaft wiederbelebte Amt des Weihbischofs für Chur In der ältesten Zeit wurden die kirchlichen Weihehandlungen entweder durch die Diözesanbischöfe selbst (v.a. Ordinationen) oder mit deren Genehmigung durch Bischöfe benachbarter oder fremder Diözesen vollzogen. Erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts beginnt für das Bistum Chur in seinen alten Grenzen die Überlieferung der Namen von Weihbischöfen, z. T. aus der Diözese Konstanz kommend. Sie waren als Bischöfe «in partibus infidelium» für längere Zeit beauftragt, in Vertretung des Churer Ordinarius, der zum geistlichen Reichsfürsten aufgestiegen und des öftern ortsabwesend war, Weihehandlungen (insbesondere Benediktionen [Kirchweihen]) vorzunehmen. Diese Weihbischöfe hiessen zunächst «vicarii in spiritualibus generales», dann im Unterschied zu den Generalvikaren zutreffender «vicarii in pontificalibus generales»; der gebräuchlichste Titel «episcopi suffraganei» setzte sich letztlich durch. Als letzten Weihbischof vor der Reformation im Bistum Chur, welche vorwiegend Teile Bündens betraf, nennen die Quellen P. Stephan Tschuggli OP, wahrscheinlich aus Stuben im Vorarlberg stammend. Als Konventuale des Dominikanerklosters St. Nicolai in Chur wurde er 1501 zum Weihbischof ernannt und wirkte als «suffraganeus» oder «vicarius in pontificalibus generalis» unter den Bischöfen Heinrich V. von Hewen (1491-1505) und Paul Ziegler (1505/ 09-1541); zuletzt erwähnt im August 1538. Der weitgehende Verlust der weltlichen Herrschaft (Hochstift Chur) und der noch schmerzlichere Verlust zahlreicher Pfarreien in Bünden machten danach einen Suffragan - nicht zuletzt aufgrund hoher Bistumsschulden - sehr wohl entbehrlich. Zwischen 1538 und 1858, also in einer Zeitspanne von 320 Jahren, gab es für Chur keine Weihbischöfe mehr. Erst nach Mitte des 19. Jahrhunderts setzte Rom diese, wenn auch äusserst zaghaft, auch für das Bistum Chur in seinen neuen Grenzen wieder ein, wobei diese interessanterweise fast durchgehend als Koadjutoren an der Seite eines alternden oder kranken Diözesanbischofs zu stehen kamen. Im ausklingenden 20. Jahrhundert schliesslich wurden Weihbischöfe keineswegs aufgrund pastoraler Notwendigkeit, sondern aus kirchenpolitischem Kalkül eingesetzt. Wenn von den fünf Weihbischof-Koadjutoren abgesehen wird (Kaspar de Carl ab Hohenbalken, Antonius Gisler [starb noch als Weihbischof 1932], Laurenz Matthias Vincenz, Johannes Von- <?page no="137"?> 137 12. Ein verändertes Bild unter speziellen Umständen: Churer Weihbischöfe als Generalvikare in der Zwinglistadt Die «wiedererweckte» Berufung von Weihbischöfen für Chur und ihre Entsendung als leitende Persönlichkeiten am Generalvikariat Zürich zeigt nicht nur die Bedeutung dieses seit 1807 gewachsenen römisch-katholischen Distrikts mit heute (zusammen mit dem Kanton Glarus) 103 Pfarreien, 21 Fremdsprachigen-Missionen und über 400'000 Katholiken, sondern lässt auch die Frage nach einer Entscheidung für die seit 1819 nie befriedigt gelöste Situation dieses administrativen Churer Bistumsanteils - konkret die Frage nach einem Bistum Zürich - wieder aufscheinen. Nach der Abberufung von Bischof Wolfgang Haas aus Chur und seiner am 2. Dezember 1997 erfolgten päpstlichen Ernennung zum ersten Erzbischof von Vaduz, was für das Bistum Chur den Verlust des seit alters her zur rätischen Diözese gehörenden Territoriums des Fürstentums Liechtenstein mit sich brachte, konnten Überlegung zu einem selbständigen Bistum Zürich, ohne diese an unselige Personalfragen knüpfen zu müssen, wiederaufgenommen werden [siehe unten, S. 144-148]. 13. Einbezug des Kantons Glarus und Schaffung der Bistumsregion Zürich-Glarus a) Historischer Rückblick Nach der Durchsetzung der Reformation in Stadt und Landschaft Zürich durch Huldrych Zwingli (1484-1531), welcher zuvor als Pfarrer in Glarus (1506-1516) gewirkt hatte und weiterhin gute Beziehung in den Linth-Raum pflegte, versuchte die Innerschweiz den Stand Glarus als Glied der alten acht Orte der Eidgenossenschaft nicht zuletzt aus wirtschaftlichem Interesse - Garantie der Salz- und Getreidezufuhr - im Zeitalter der konfessionellen Spaltung der Eidgenossenschaft auch glaubensmässig an sich zu binden, was trotz Ausschlussdrohungen aus dem Bundverhältnis im Land des hl. Fridolin nur zum Teil gelang. Die Reformation erfasste im Glarnerland alsbald jene Dörfer, deren Bederach und Wolfgang Haas), ist die Zahl der Amtsinhaber eines wieder eingeführten «suffraganeus» sehr gering: streng genommen lediglich 4 [wird Gisler hinzugerechnet: 5]. Diese verschwindend kleine Zahl zeigt, dass für Chur in seiner heutigen Strukturierung in drei regionale Generalvikare mit je einem «vicarius generalis» an der Spitze und zudem einem vom Kirchenrecht vorgeschriebenen Generalvikar für die ganze Diözese das Amt des Weihbischofs schlichtweg überflüssig ist. Churer Weihbischöfe seit dem 19 Jahrhundert • Albert von Haller aus Bern (1858) • Antonius Gisler aus Bürglen/ UR (1928-1932) • Peter Henrici SJ aus Zürich (1993-2007) • Paul Vollmar SM aus Überlingen/ D (1993-2009) • Marian Eleganti OSB aus Uznach/ SG (seit 2009) <?page no="138"?> 138 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit völkerung verhältnismässig arm und politisch wenig einflussreich war: im Sernftal Elm, im Glarner Hinterland Schwanden, Betschwanden, Matt, Kerenzen, Mollis, Niederurnen und Bilten. Die Mehrzahl der in Näfels, Glarus und Linthal wohnhaften begüterten wie auf die Politik Einfluss nehmenden Familien blieben (vorerst) beim «alten, wahren christlichen Glauben». Das Land, welches kirchlich bis 1815 zur Schweizer Quart des Bistums Konstanz gehörte und dem Landkapitel «Zürich-Rapperswil» bzw. «Zürich-March» eingegliedert war, spaltete sich jedoch mehr und mehr in zwei konfessionelle Parteien. Auf dem Ersten Glarner Landfrieden vom 21. November 1532 bestätigte man frühere Landsgemeindebeschlüsse, verankerte die Gleichberechtigung beider Konfessionen, und - als gutes Beispiel der Toleranz - die Kirche von Glarus wurde zur Simultankirche erklärt, was bis 1964 halten sollte. Nach heftigen Agitationen zwischen 1560 und 1564, zu denen vor allem der Wissenschaftler, Historiker und Glarner Landammann Ägidius Tschudi (1505-1572), welcher dahin sann, die Rückkehr zum Katholizismus im Tal mit Gewalt zu erzielen, kam es am 3. Juli 1564 zum Zweiten Glarner Landfrieden: Die bisherigen Abmachungen fanden ihre Bestätigung, das Simultaneum in Glarus wurde bestätigt und ein gleiches für Schwanden (bis 1862) festgelegt. Der dritte Landesvertrag von 1623 schliesslich führte drei Lands- Abb. 86: Die heute evangelische Stadtpfarrkirche in Glarus wurde in den Jahren 1863 bis 1866 nach Plänen von Ferdinand Stadler im neuromanischen Stil als Ersatz für die beim Stadtbrand im Mai 1861 zerstörte Vorgängerkirche erbaut und diente rund hundert Jahre lang als Simultankirche zugleich der reformierten und der römischkatholischen Konfession, bis die Katholiken 1964 mit der Fridolinskirche zusätzlich zur Burgkapelle ein eigenes Gotteshaus bekamen. [BAC.BA] <?page no="139"?> 139 13. Einbezug des Kantons Glarus und Schaffung der Bistumsregion Zürich-Glarus gemeinden ein: eine evangelisch-reformierte, eine katholische und eine gemeinsame. Überproportional erhielten unter Druck der katholischen Orte die lediglich nur mehr ¼ der Landbevölkerung ausmachenden Katholiken grossen Anteil an politischen Ämtern. Diese Bevorzugung der Katholiken wurde erst durch die neue Landesverfassung aus dem Abb. 87: Der Canton Glarus um 1820, aus: Heinrich Keller, Atlas de la Suisse, Massstab: 1: 160'000, Grösse: 20,4 x 25,8 cm [Quelle: 2010 bey marcel@zumbo.ch] <?page no="140"?> 140 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Jahre 1836 aufgehoben. Damit zerfiel das Land Glarus bis ins 19. Jahrhundert hinein konfessionspolitisch und gebietsmässig weitgehend in zwei selbständige Teilstaaten mit je einem eigenen Gerichtswesen (seit 1683). b) Differenzen mit und (zeitliche) Trennung von Chur Die am 2. Oktober 1836 von der Landsgemeinde angenommene neue Glarner Verfassung trat nach erfolgter Zustimmung zu den entsprechenden Gesetzen an der Landsgemeinde vom 9. Juli 1837 in Kraft. Zwar hob der Verfassungstext die Glaubens- und Gewissensfreiheit als «unverletzlich» hervor und gewährte die «freie Ausübung des evangelischreformirten und römisch-katholischen Gottesdienstes in den Gemeinden, wo der eine oder andere dermalen ausgeübt wird», doch schrieb §-80 fest: «Die Geistlichen beider Konfessionen stehen in allen bürgerlichen Beziehungen, in Civil- und Kriminalsachen, unter den Gesetzen und Gerichten des Landes und sind pflichtig, nach § 77 den Eid zu schwören.» Dieser Eid auf die Verfassung implizierte von den katholischen Geistlichen, welche aus dem Tal selbst stammten, aber ebenso von den im Glarnerland niedergelassenen Priestern gemäss Strafprozessordnung bei der Beichte von Verbrechen den Bruch des Beichtgeheimnisses. Alljährlich auf der allgemeinen Landsgemeinde sollten die Seelsorger beider Konfessionen, so zu reinen Staatsbeamten geworden, folgenden Eid leisten: «Der verfassungsmäßigen Regierung Gehorsam zu leisten, den Nutzen des Staates zu befördern und seinen Schaden zu wenden, die bestehende Verfassung und verfassungsmäßigen Gesetze zu beobachten, für die Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung auf die Pfarrangehörigen bestmöglich einzuwirken, die heiligen Amtspflichten zu erfüllen und überhaupt in allem sich so zu verhalten, wie es einem Seelsorger gebührt, ohne Gefährde.» Sollte der eine oder andere katholische Geistliche auf der Landsgemeinde nicht erscheinen und nach obiger Vorschrift den Eid nicht schwören (Bedingung für eine Seelsorgestelle), wurde er hernach vor den Regierungsrat zitiert und erneut zur Eidleistung aufgefordert. Bei beharrlicher Weigerung war der Geistliche zu entlassen, einem Kantonsangehörigen das Einkommen zu entziehen und nach geltendem Gesetz zu bestrafen. Geistliche, die nicht Kantonsbürger waren, mussten, auch wenn sie nicht auf ihre Pfründe verzichtet hatten, sofort das Territorium des Kantons Glarus verlassen. Der katholische Volksteil war neu der protestantischen Mehrheit im Tal ausgeliefert. Wohl gestattete die neue Verfassung den Katholiken die Aufstellung eines eigenen Kirchenrates, dessen Organisation und Befugnisse hingen aber von der Zustimmung der gesetzgebenden protestantischen Mehrheit ab; von einer Selbstverwaltung konnte keine Rede sein. Der in § 77 verankerte Eid der Geistlichkeit auf die Verfassung wurde auf klare Weisung aus Chur von fast allen Priestern verweigert, worauf man vier Geistliche des Landes verwies. Die konfessionellen Streitigkeiten, die durch das Verbot des Churer Bischofs, Johann Georg Bossi (1835-1844), die Katholiken dürften nicht weiter an der jährlich stattfindenden Näfelserfahrt-Feier teilnehmen, wenn ein evangelischer Amtsbruder predigte, noch verstärkten, kulminierten schliesslich am 19. April 1838 in der Aufhebung der provisorischen Unterstellung des Kantons Glarus unter das Bistum Chur mit Bossis Leitung, <?page no="141"?> 141 13. Einbezug des Kantons Glarus und Schaffung der Bistumsregion Zürich-Glarus welche jedoch über dessen Tod hinaus bis 1857 andauerte. Man untersagte dem Churer Ordinarius jede Einmischung in kirchliche Angelegenheiten des Landes; amtliche Mitteilungen Bischof Bossis durften weder Kleriker noch Laien unter Strafe entgegennehmen, geschweige denn verbreiten. Man ging in Glarus soweit, «die nöthigen Unterhandlungen mit den einschlägigen Behörden behufs des Anschlußes an ein anderes schweizerisches Bisthum einzuleiten». Unter gewissen Bedingungen - Bischöfliche Erlasse etc. benötigten vor einer Publikation das Plazet der Standeskommission - beschloss der Glarner Landrat der ausgehandelten Übereinkunft vom 7. September 1857 zwischen dem Stand Glarus und dem Bistum Chur zuzustimmen und machte so nach zähem Ringen und wiederholtem Ansuchen seitens Chur unter Bischof Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1844-1859) zur Beilegung des unsinnigen Konflikts einem unhaltbaren Zustand, in dem die glarnerischen Katholiken beinahe 20 Jahre standen, ein Ende. Der Churer Bischof wurde als Administrator eines zwar lediglich provisorisch zugeteilten Territoriums wieder anerkannt. Die Übereinkunft, welche am 24. November vom Glarner Landrat und am 5. Dezember 1857 von Bischof de Carl ratifiziert und auch der Nuntiatur zuhanden des Heiligen Stuhls eingesandt wurde, hat folgenden Wortlaut: Näfelser Fahrt [Abb wikipedia] Am 9. April 1388 besiegte eine Gruppe von etwa 600 Glarnern mit Unterstützung aus Uri und Schwyz ein weit überlegenes österreichisches Heer. Dieses sollte das Gebiet von Glarus wieder seinen Herren, den Herzögen von Habsburg, unterstellen und unrechtmässiges Vorgehen der Glarner in der Linth-Ebene ahnden. Das Heer drang weit ins Glarner Gebiet vor; die Feinde konnten dann aber beim Viehraub bei Näfels überwältigt und zurückgedrängt werden. An diesen Sieg erinnert die Näfelser Fahrt mit Gedenkgottesdienst, Prozession und politischer Festansprache. Nach der Reformation wurde die Feier von Katholiken und Protestanten getrennt durchgeführt; erst die Landsgemeinde von 1835 beschloss die Näfelser Fahrt wieder gemeinsam zu begehen. Die Feier ist bis heute ein wichtiger Teil des öffentlichen Lebens im Kanton Glarus und verbindet geistliches (interkonfessionelles) Totengedenken spätmittelalterlicher Prägung und weltlich-patriotische Staatsfeier in der Tradition der Schlachtenfeiern des 19. Jahrhunderts, an der dann und wann auch der Churer Bischof gerne teilnimmt. <?page no="142"?> 142 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit c) Innerkirchliche Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts Die reichlich zur Verfügung stehende Wasserkraft und der Pioniergeist von Unternehmerpersönlichkeiten machten den Kanton Glarus schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer stark wachsenden Industrieregion. Die Gründung der ersten Spinnerei des Landes erfolgte 1822 in Schwanden. Geradezu Schlag auf Schlag folgten weitere Firmengründungen: 1831 die Wolltuchfabrik der Gebrüder Hefti in Hätzingen, 1835 die Spinnerei Kunz in Linthal, 1845 die Baumwollspinnerei Schuler in Rüti, 1850 die Wollweberei wiederum in Rüti, 1853/ 56 die Spinnerei & Weberei Bebié in Linthal, 1857 die Übereinkunft 1. Die Angehörigen des Kantons Glarus katholischer Konfession werden wiederum unter die kirchliche Oberleitung des hochwürdigsten bischöflichen Stuhles von Chur gestellt, und zwar provisorisch. 2. Mit Rücksicht auf die Bestimmungen von § 75 der glarnerischen Kantonsverfassung von 1842 sowie vom Satz V des Gesetzes betreffend die Eidesformeln, wornach die Herren Geistlichen beider Konfessionen gleich allen andern Landsleuten und Einwohnern unter die Verpflichtung des Landeseides gestellt werden, wenn sie auch an der Landesgemeinde zur Abschwörung desselben nicht erschienen sind, wird von der Forderung eines besondern Priestereides von Seite der Landesbehörde des Kantons Glarus Umgang genommen. 3. Seine Hochwürden der Bischof von Chur wird von sich aus besorgt sein, die an die Herren Geistlichen im Kanton Glarus abgerichteten kirchlichen Erlasse ganz gleichzeitig, wie sie den Herren Geistlichen zugefertigt werden, auch der Standeskommission mitzutheilen. 4. Die Ratifikation des hohen bischöflichen Stuhls in Chur und des hohen dreifachen Landrathes des eidgenössischen Standes Glarus über die vorstehenden Punktationen wird vorbehalten. Sobald die Ratifikation über die vorliegende Übereinkunft von beiden benannten Oberbehörden ertheilt sein wird, tritt sie in Rechtskraft. Glarus, den 7. September 1857 Kaspar Jenny, Landstatthalter und Altlandammann Alois Rüttimann, Dekan Peter Jenny, d. R. Bischöflicher Kommissar Dr. Rudolf Gallati, d. R. und Pfarrer in Reichenburg <?page no="143"?> 143 13. Einbezug des Kantons Glarus und Schaffung der Bistumsregion Zürich-Glarus Baumwollspinnerei Legler in Diesbach und 1864 die Webereien Sernftal. 1892 hält der Festführer zum eidgenössischen Schützenfest in Glarus stolz fest: «Die zahlreichen hohen Kamine und Fabrikgebäude zeigen auf den ersten Blick, dass wir uns in einem Land der Industrie befinden. So klein der Kanton ist, es gibt etwa 80 Fabriken. Gegen 19'000 Menschen, 55 % der Gesamtbevölkerung, ein höherer Prozentsatz als in allen anderen Kantonen, ja als in allen anderen Ländern Europas, England nicht ausgenommen, nähren sich von der Industrie.» Arbeitssuchende Menschen aus der Innerschweiz, aus dem Tessin und aus Italien fanden Arbeit im Glarnerland. Dadurch stieg die Zahl der Katholiken im Glarner Hinterland (in Linthal 1837: 42 / 1900: 294 / 1960: 1463; in Schwanden 1837: 0 / 1900: 292 / 1960: 827) kontinuierlich an, erreichte in den 70er Jahren des 20.-Jahrhunderts seinen Kulminationspunkt und verlangte nach seelsorgerlichen Lösungen. Katholiken im Kanton Glarus 1837-2015 1837 1850 1860 1880 1900 1920 1930 1960 1970 1980 2000 2015 3'242 3'932 5'827 7'065 7'918 9'997 11'367 16'417 16'727 15'786 14'246 13'736 Zuerst gründete man verschiedene Mädchenheime, welche unter der Leitung von Ingenbohler Kreuzschwestern standen und wo junge billige Arbeitskräfte von zum Teil italienischsprachigen Seelsorgern betreut wurden. Später kam es 1895 zum Bau der katholischen Kirche in Schwanden (1906 eingeweiht, 1972 abgebrochen, 1973 durch Neubau ersetzt). In Luchsingen wurde nach dem stillen Erwerb eines Wohnhauses mit Umschwung (1932) eine Missionsstation (1937) errichtet und zeitgleich mit dem Bau der St. Theresia-Kirche begonnen; ab 1938 war der Pfarrer von Linthal auch für Luchsingen zuständig und vor Ort tätig. In Glarus selbst blieb die Stadtpfarrkirche in Simultangebrauch. Erst nach langwierigen Verhandlungen stimmte die Kirchgemeinde Glarus-Riedern-Ennenda am 2. Juli 1961 dem vorgeschlagenen Projekt zur Errichtung der Fridolinskirche in Glarus zu. Am 23. September 1962 fand die Grundsteinlegung statt, und am 16. August 1964 konnte Bischof Johannes Vonderach das Gotteshaus einweihen. Am 21. Februar 1965 konsekrierte der Churer Ordinarius in Mollis die neu errichtete Marienkirche. Das Territorium des seit 1974 aus 8 Pfarreien bestehende eigenständige Dekanat Glarus (Niederurnen-Bilten: St. Josef, Oberurnen: Hl. Dreifaltigkeit, Näfels: St. Hilarius, Netstal: Hl. Dreikönige, Glarus-Riedern-Ennenda: St. Fridolin [inkl. der Missione cattolica italiana], Schwanden: Mariae Aufnahme in den Himmel, Luchsingen: St. Theresia von Lisieux und Laurentius sowie Linthal: Mariae Aufnahme in den Himmel [letztere drei seit 2001 als Seelsorgeraum Glarus-Süd]) zählte nach 1877 bis 1970 zum Verband (Priesterkapitel) «March-Glarus», anschliessend wurde es dem neu errichteten Generalvikariat Graubünden und Fürstentum Liechtenstein zugeschlagen. Nach Abtrennung des Ländle 1997 und dessen Erhebung zu einem Erzbistum band man auf Initiative des in Zürich amtierenden Generalvikars und Weihbischofs Peter Henrici das Dekanat an das Generalvikariat Zürich; die Churer Bistumsleitung schuf neu die Bistumsregion Zürich- Glarus (seit 1999). So wird sich einmal auch für Glarus als seit 1819 Administrationsgebiet des Bistums Chur die Frage stellen, zu welchem eventuell neu zu schaffenden <?page no="144"?> 144 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Diözesandistrikt das Gebiet definitiv geschlagen werden, oder ob der Kanton Glarus mit rund 40'000 Einwohnern (Stand 2015) beim Sprengel Chur endgültig seinen festen Platz finden sollte. 14. Pläne für ein eigenes Bistum Zürich (bis 2016) Die ehemals kleine Zürcher Diaspora ist heute, obwohl nur administrativ von Chur verwaltet, zum «mächtigsten Glied» des Bistums Chur in seinen seit 1819 bestehenden Grenzen geworden. Der Verband mit Chur, so die eine Argumentation, erweise sich als fruchtbar; zudem sei es nur gerecht, wenn die einst bettelarme Zürcher Kirche nun eine der Hauptstützen des schwächer gewordenen Bistumskerns bilde. Andere Meinungen gehen dahin, nicht nur für Zürich den ständigen Sitz eines Weihbischofs sicherzustellen, sondern - insbesondere in der jüngeren Bistumsgeschichte - wegen der traditionell konservativen Führung auf dem Hof in Chur ein eigenes Bistum Zürich zu kreieren. Wie die hier nachgezeichnete Entwicklung zeigt, halten die zuständigen Stellen eine Neuordnung der Schweizer Bistümer, und darin eine Verselbständigung Zürichs, nach wie vor für nicht so dringend als vielmehr eine engere Zusammenarbeit innerhalb der seit 1999 bestehenden drei Churer Bistumsregionen (Graubünden, Urschweiz und Zürich-Glarus) bzw. zwischen den einzelnen Diözesansprengeln. Wie bereits oben dargelegt, forderte das Zweite Vatikanische Konzil 1965, dass die Grösse der Bistümer weltweit überprüft werden sollte. Dies geschah auch in der Schweiz. Der im Juli 1980 im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut vorgelegte Kommissionsbericht sah unter anderem vor, den Kanton Zürich vom Bistum Chur abzutrennen und zusammen mit Schaffhausen zu einem «Bistum Zürich» mit 5 Dekanaten (2037 km 2 ) zu vereinigen; Sitz des Diözesanbischofs sollte Zürich sein [siehe Abb. 41]. Als Vorteile dieser Neuzirkumskription nannte das Institut die Überschaubarkeit und die daraus resultierende bessere Führung durch Abb. 88: Kirche St. Therèse von Lisieux in Luchsingen Abb. 89: Kirche St. Maria in Mollis [BAC.BA] <?page no="145"?> 145 14. Pläne für ein eigenes Bistum Zürich (bis 2016) den Bischof; zudem erleichtere das bereits existierende Generalvikariat in Zürich den Aufbau einer Bistumsleitung. Nicht zuletzt würde damit «das pastorale, soziale und wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Chur und Zürich» behoben. Die beiden Kantone Zürich und Schaffhausen seien bereits jetzt wirtschaftlich und sozial eng mit einander verflochten; Schaffhausen liege überdies so viel näher beim Bischofssitz als im bisherigen Bistum Basel zu Solothurn. Der Schweizer Grenzkanton wäre nicht mehr «Enklave» eines Bistums, sondern bilde mit dem Kanton Zürich ein geographisch zusammengehörendes Ganzes. Geschichtlich-kulturell wiesen die beiden Kantone keine Vorbelastung auf; zudem seien sie beide historische Diasporagebiete. Der grösste Nachteil dieses Vorschlags resultierte in der Schwächung des Bistums Chur, wohnten doch die meisten Katholiken im Kanton Zürich. Das Projekt verschwand in der Aktensammlung «Bistumsgrenzen» im Archiv der Bischofskonferenz und kam nicht weiter voran. Als im Zuge der kirchenpolitischen Wirren rund um die Einsetzung und Amtsführung von Bischof Wolfgang Haas 1990 die Römisch-katholische Körperschaft des Kantons Zürich gegenüber der Schweizer Bischofskonferenz ihren Wunsch nach einem «Bistum Zürich» zum Ausdruck brachte, beantwortete man das Gesuch nie. Eine erneute Gesuchstellung erfolgte dann 2012, die Gründe für ein «Bistum Zürich» ernsthaft zu prüfen. Die Bischofskonferenz antwortete, zuerst müsse sich der seit 2007 im Amt stehende Churer Bischof Vitus Huonder dazu äussern. Beim «Ad-Limina-Besuch» der Schweizer Bischöfe im Dezember 2014 kam das Anliegen der Zürcher in Rom zur Sprache. Im November 2015 schliesslich wurde das Thema «Bistum Zürich» vom Bischofsrat und von den kantonalen staatskirchenrechtlichen Köperschaften aufgegriffen. Man entschied sich mit Einverständnis des Nuntius, ähnlich wie im Bistum Lausanne-Genf-Freiburg wegen einer möglichen Abtrennung Genfs auch auf Churer Bistumsebene eine Umfrage durchzuführen. Interessanterweise stand die Zürcher Kantonalvertretung nicht hinter diesem Vorgehen. Im März 2016 erging an ca. 900 Personen (Seelsorger, Ordensgemeinschaften, diözesane Beratungsgremien und Kirchgemeindepräsidenten) ein Fragebogen. Zeitgleich wurden direkt vom Churer Bischof die kantonalen Körperschaften, die Evangelisch-reformierten Landeskirchen und die Kantonsregierungen des Bistums um ihre Meinung gefragt. Am 12. Mai 2016 lag der Auswertungsbericht vor und wurde zusammen mit einem ausführlichen Schreiben Bischofs Huonder publiziert. Wie bereits oben dargelegt, lehnte man ein «Bistum Urschweiz» bestehend aus den Kantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden klar ab. Die Meinungen über ein «Bistum Zürich» hingegen gingen gemäss der Umfrage auseinander. Dafür sprach das Argument der Kantonsgrösse und der Anzahl der römisch-katholischen Gläubigen, die gegenwärtig über 50 % der Bistumsangehörigen ausmachen. Dagegen wurde geltend gemacht, dass ein dadurch verkleinertes Bistum Chur zu schwach würde und vor allem finanzielle Probleme den Churer Sprengel belasteten. Angesichts des vielfältigen und ambivalenten Bildes, das die Umfrage von 2016 betreffend ein mögliches «Bistum Zürich» ergeben hatte, beschloss Bischof Vitus Huonder das Kapitel diözesane ‹Neuzirkumskription› noch nicht zu schubladisieren, sondern er beauftragte die Römisch-katholische Körperschaft des Kantons Zürich, zusammen mit dem dortigen regionalen Generalvikar zu klären, ob der Bischof später zur Vertiefung der Frage eine Fachkommission ins Leben rufen sollte, welche die Argumente pro und contra <?page no="146"?> 146 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit vertieft zu prüfen und Vorschläge auszuarbeiten hätte, ob und wie das Projekt «Bistum Zürich» weiter verfolgt werden könnte. Die Gelder (Bistumsbeiträge), welche zwischen 1990 und 1997 seitens der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich aus Protest nicht nach Chur überwiesen, sondern in einen eigens geschaffenen «Fonds Bistum Zürich» gelegt worden waren, sollten nach einem am 29. November 2017 geäusserten Wunsch des Churer Bischofs an die Synode, zu je einem Drittel folgenden Bereichen bzw. Institutionen zugutekommen: (a) dem Bereich ‹Soziales›: an Caritas Graubünden und an die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind, (b) dem Bereich ‹Bildung›: an die Stiftung Priesterseminar St. Luzi, welche die Theologische Hochschule trägt (c) dem Bereich ‹Kultur›: Unterstützung der Restauration des Bischöflichen Schlosses in Chur. Damit wäre das leidige Kapitel der damals zurückbehaltenen Bistumsbeiträge, so der Bischof, «aus der Welt geschaffen» und die insgesamt 1,2 Millionen Franken sinnvoll verwendet. Doch das katholische Kirchenparlament (Synode) sagte am 7. Dezember 2017 mit 82 gegen 3 Stimmen deutlich ‹Nein› zur Auflösung des Fonds. Die Zürcher Katholikinnen und Katholiken sollen, so der Synodalratspräsident, weiter «vom eigenen Bistum träumen». Gegen einen Plan B, der seit 2004 im Stillen kursierte und worin das Bistum Chur in seiner bisherigen Grenzziehung zwar belassen, aber dagegen sein Name im Sinne eines sogenannten Doppelbistums von «Bistum Chur» in «Bistum Chur-Zürich» abgeändert werden sollte, lehnte die Mehrheit der Churer Bistumsleitung 2015 klar ab. Dieser nach wie vor kursierende Plan sieht faktisch vor, binnen 10 Jahren nach Verwirklichung den Bischofssitz nach Zürich zu verschieben, die dortige Stadtpfarrkirche Liebfrauen zur Konkathedrale zu erheben, den altehrwürden Churer Bischofssitz mit seiner spätromanischen Kathedrale hingegen allmählich zu einem musealen Ort zu marginalisieren. Gegen ein solches Vorgehen nahm insbesondere die Bündner Regierung 2007 und erneut 2016 zurecht und in klar ablehnender Haltung Stellung. Bischof Huonder schreibt hierzu in seinem Brief vom 12. Mai 2016 an alle Priester und Diakone sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge im Bistum Chur: «Im übrigen ist nicht von der Hand zu weisen, dass Chur geographisch im Mittelpunkt der Diözese liegt. Denn von Chur nach Rafz, an der Grenze des Kantons Zürich zu Deutschland, fährt man etwa zwei [Auto-]Stunden, ebenfalls von Chur nach Sarnen. Von Chur nach Poschiavo, an der italienischen Grenze, sind es etwa zweieinhalb Stunden. […] Einer Verlegung des Bischofssitzes oder der Änderung des Bistumsnamens ‹Chur›, der trotz aller territorialen Veränderungen des Bistums schon seit über 1500 Jahren so lautet, widersetzt sich übrigens zu Recht und vehement auch die Regierung von Graubünden in ihrer neuesten Stellungnahme. Ich sehe darin nicht Kirchturmpolitik, sondern die Sorge vor Entwurzelung. Denn das Bistum Chur, auch wenn es immer wieder in der Geschichte im Clinch gewesen ist mit dem Kanton Graubünden, gehört doch zur DNA dieses Kantons. Angesicht dieser Lage ist es nicht angebracht und auch nicht praktikabel, einen während der Woche, im «ordentlichen Verwaltungsgeschäft», vermehrt in Zürich ‹residierenden› Diözesanbischof anzustreben. Und auch an den Wochenenden sehe ich aufgrund meiner Erfahrung wenig Möglichkeiten, die Präsenz des Diözesanbischofs in Zürich <?page no="147"?> 147 14. Pläne für ein eigenes Bistum Zürich (bis 2016) zu erhöhen. […] Mehr Präsenz im Kanton Zürich liegt bei der derzeitigen Grösse des Bistums einfach nicht drin. Aufgrund dieser Überlegungen, der eingegangenen Antworten und auch der klaren Haltung der Regierung von Graubünden betrachte ich deshalb die Themen ‹Doppelnamen› und ‹Doppelbistum› sowie Verschiebung des Bischofssitzes definitiv als erledigt.» Die Geschichte des sicher seit 451 bestehenden Churer Bischofssitzes [siehe Band-I] «ist ein Stein gewordenes Zeugnis des Glaubens, das alles überdauert hat, auch die Reformation, die Konfessionskriege, die Französische Revolution, die Säkularisation der Kirche in Europa im 19. Jahrhundert und vieles mehr» [Martin Grichting]. Der seit Jahrhunderten gewachsene christliche Glaube in Rätien schafft nicht zuletzt eine wichtige emotionale Bindung an die Kirche vor Ort, und das ist zweifelsfrei der Churer Hof mit seiner Kathedrale und dem dortigen Bischofssitz. Die ergebnisoffene Umfrage von 2016 lässt letztlich die seit 1819 virulente Lösungssuche nach einer definitiven Angliederung der heutigen Churer Bistumsregionen «Zürich-Glarus» sowie «Urschweiz» an die Diözese Chur oder an ein anderes Bistum in der Schwebe. Nach 200 Jahren «Provisorium» - wahrlich eine «Anomalie und Quelle vieler Übelstände» [Bischof Schmid von Grüneck, 1914] - scheint man nicht zuletzt von Seiten der römischen Kurie noch immer nicht imstande zu sein, durch klare Vorgaben ein Definitivum anzustreben, geschweige denn zu schaffen, so dass der Churer Bischof eigentlich weiterhin «Administrator» von Teilen des Bistums Konstanz ist, welches seit 1821/ 27 gar nicht mehr existiert. <?page no="148"?> 148 IV. Der Kanton Zürich und das Bistum Chur: Ein Administrationsgebiet mit weitgehender Selbständigkeit Abb. 90: Territorium des Fürstentums Liechtenstein, bis 1997 Teil des Bistums Chur [Quelle: wikipedia] <?page no="149"?> 149 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz 1. Liechtenstein und seine Pfarreien bis zu Beginn des 19.-Jahrhunderts Das 160,5 km 2 grosse Territorium des aus der ehemaligen Grafschaft Vaduz und der Herrschaft Schellenberg erwachsenen und seit 1719 bestehenden sowie seit 1806 unabhängigen Fürstentums Liechtenstein als einer konstitutionellen Erbmonarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage (Einwohner: 37'468 [Stand 2015]) gehörte als Teil der römischen «Raetia prima» [siehe Band 1] zum ursprünglichen Bestand des Churer Bistums und blieb dies bis zur Abtrennung bzw. Erhebung zu einem eigenen Erzbistum am 2. Dezember 1997. Liechtenstein liegt an der alten Durchgangsstrasse Mailand-Augsburg, die über St. Luzisteig führte. Es ist deshalb plausibel anzunehmen, dass bereits vor der eigentlichen Christianisierung des rätischen Raumes durch Soldaten und Kaufleute christliches Gedankengut in die Gegend getragen wurde. Liechtenstein, so schreibt Anton Frommelt, «hat also Anteil an der frühesten christlichen Kultur diesseits der Alpen und blieb in allen Fährnissen der Geschichte unentwegt bei seiner Tradition». Dies findet letztlich Niederschlag auch in Art. 37 der geltenden Landesverfassung des Fürstentums von 1921/ 2003, wo es heisst: «Die römisch-katholische Kirche ist die Landeskirche und geniesst als solche den vollen Schutz des Staates.» Dennoch versuchte die staatliche Hand aus dem aus dem 18. Jahrhundert erwachsenen josephinischen-staatskirchlichen Denken heraus (besonders in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts) den Einfluss des Klerus zu mindern und seine Rechte zu beschneiden. Die Geistlichkeit des Landes war von 1370 bis 1717 dem Kapitel (Dekanat) «Unter der Landquart» zugeordnet, anschliessend bis 1816 dem «Capitulum Drusianum» (Dekanat Walgau). Der Klerus betreute bis dahin insgesamt sechs, zum Teil ins Frühmittelalter zurückreichende Pfarreien mit ihren Filialen. Die ‹Kirchengeschichte Liechtensteins› ist entsprechend eine Geschichte seiner Pfarrsprengel. <?page no="150"?> 150 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz Pfarrei [mit Filialen] Erhebung Patronatsrecht Balzers St. Nikolaus um 1305 1314-1824: Haus Habsburg seit 1824: Gemeinde Balzers Bendern Mariae Aufnahme in den Himmel [mit Gamprin, Ruggell (bis 1874/ 75) und Schellenberg (bis 1881), die Weiler Aspen und Auf Berg (bis 1855); jenseits des Rheins Haag, Salez (bis 1514) und Sennwald mit Lienz (bis 1422)] 9. Jahrhundert 809-1177: Äbtissin des Damenstifts in Schänis 1177-1194: Ritter Rüdiger von Limpach 1194-1802: Prämonstratenserkloster St. Luzi in Chur 1802-1804: Fürstenhaus von Oranien- Nassau 1804-1805: Kaiserhaus Österreich 1805-1814: Königlich-Bayerische Regierung 1814-1874: Kaiserhaus Österreich seit 1874: Gemeinde Gamprin Eschen St. Martin Eigenkirche des Klosters Pfäfers [mit Nendeln, St.-Sebastian] 8./ 9. Jahrhundert bis 1838: Abt des Benediktinerklosters Pfäfers 1840-1999: Fürst von Liechtenstein Mauren St. Peter und Paul Hochmittelalter bis 1318: Herren von Schellenberg 1318-1382: Rudolf Amann und seine Nachkommen, Feldkirch 1382-1610: Johanniterpriorat in Feldkirch 1610-1695: Abt des Benediktinerklosters Weingarten 1695-1696: Stadt Feldkirch 1696-1802: Benediktinerkloster Ottobeuren 1803-1805: Kaiserhaus Österreich 1805-1814: Königreich Bayern 1815-1876: Kaiserhaus Österreich 1876-1918: Stadt Feldkirch seit 1918: Gemeinde Mauren Ruggell St. Fridolin 1854 [Kuratie zu Bendern] / 1874 [Pfarrei] 1854-1999: Fürst von Liechtenstein Schaan St. Peter St. Laurentius [mit Planken, St. Josef und Vaduz (bis 1873)] Ferner gehörten die beiden Hofkaplaneipfründen dazu. 9. Jahrhundert [um 1300 wird St. Laurentius alleinige Pfarrkirche] [? ] - 1386: Grafen von Montfort-Feldkirch 1386-1997: Domkapitel von Chur Schellenberg Unbeflecktes Herz Mariens 1874 [Kuratie zu Bendern] / 1881 [Pfarrei] Seit 1874: Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut <?page no="151"?> 151 2. Liechtenstein als Bischöfliches Landesvikariat Triesen St. Gallus und Martin [mit Triesenberg (bis 1768)] 10. Jh. [? ] 1492-1863: Freiherren von Brandis und ihre Rechtsnachfolger seit 1863: Gemeinde Triesen Triesenberg St. Josef 1768/ 1774 1768-1999: Fürst von Liechtenstein Vaduz St. Florinus [seit 1997: Kathedrale] 1842 [Kuratie zu Schaan] / 1873 [Pfarrei] bis 1999: Fürst von Liechtenstein 2. Liechtenstein als Bischöfliches Landesvikariat Nach Abtrennung der vorarlbergischen und tirolischen Bistumsgebiete 1816 und deren Zuteilung an das Bistum Brixen verblieb das Territorium des Fürstentums Liechtenstein als «Rest» des Dekanats Walgau bei Chur und wurde ohne nachweisbare formelle Urkunde zum Bischöflichen Landesvikariat erhoben. Das eigentliche Jahr des Beginns kann nicht ausgemacht werden. 1819 erschien erstmals der Titel «vicarius episcopalis per districtem Principatus Liechtensteiniani». Diese Erhebung wurde sicher durch den Umstand gefördert, dass der in Trimmis geborene walgauische Dekan und Stadtpfarrer von Feldkirch (1795-1811), Josef Anton Mayer [Mayr], im Jahre 1811 als neuer Pfarrer von Balzers (bis 1826) in die Gemeinschaft der liechtensteinischen Geistlichkeit wechselte und als Diözesanpriester im Bistums Chur bleiben wollte, obwohl er noch Ende 1808 nach der ersten provisorischen Zuteilung Vorarlbergs an Brixen den Ehrentitel «Fürstbischöflicher Geistlicher Rat von Brixen» verliehen bekommen hatte. Abb. 91-93 (von links nach rechts): Kapelle St. Mamerta in Triesen (aus dem 9./ 10. Jh.), Pfarrkirche St. Laurentius in Schaan und Pfarrkirche St. Martin in Eschen [BAC.BA] <?page no="152"?> 152 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz Nachfolger des ersten Landesvikars und Churer Kanonikers Mayer wurde 1826 der aus Dardin im Bündner Oberland stammende Jakob Anton Carigiet (1794-1880). Nach seiner Priesterweihe am 23. August 1818 in Chur versah er die Pfarrstellen in Trimmis (1819-1820) und Domat/ Ems (1820-1826), bevor er als Seelsorger nach Schaan wechselte (1826-1858). Zwischen 1858 und seinem Tod bekleidete der ins Churer Residentialkapitel berufene Carigiet das Amt des Domkantors (1858-1867) und des Domdekans (1867-1880). Bald nach Stellenantritt in Schaan schilderte Carigiet am 9. Juli 1828 in dunkelsten Farben die religiösen und sittlichen Zustände in seinem Pfarrsprengel und äusserste den Wunsch nach Abtrennung von Vaduz. Ursache der Misere sah Carigiet primär darin, dass das umfangreiche Gebiet von Schaan-Vaduz mit gegen 2000 Seelen aufgrund der Weigerung der beiden Hofkapläne, in der Pastoral aktiv mitzuwirken (Beichthören, Krankenbesuche, Predigen, Unterricht), worauf die Stiftsbriefe sie nicht verpflichten würden, schlecht versorgt bleibe; deshalb schlug er vor, eine der Hofkaplaneien in eine Kuratie umzuwandeln. Die Unterzeichnung des Status zur Gründung der Kuratie Vaduz gelang jedoch erst am 31. Juli 1842 durch Bischof Johann Georg Bossi und Fürst Alois II. von und zu Liechtenstein (1836-1858). Unter Alois II. gab es eine spürbare Verbesserung im Verhältnis Staat-Kirche. Bossi schrieb am 15. März 1841 an Fürst Alois II., dieser möge den kirchlichen Institutionen im Ländle mehr Schutz vor allem vor den herrschaftlichen Beamten gewähren, welche der Kirche bislang wenig Achtung zollten und der «Geistlichkeit keine Unterstützung in ihren gutgemeinten Anstrengungen zukommen» liessen. Der eher nachgiebige und vermittelnde Charakter des Fürsten bewirkte eine Änderung des bisherigen angespannten Verhältnisses; die staatliche Vormundschaft gegenüber der Kirche wurde spürbar zurückgenommen. So gelang 1858 in Liechtenstein zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Klosterniederlassung: Die ursprünglich auf Löwenberg ob Schluein im Kanton Graubünden angesiedelten Schwestern vom Kostbaren Blut fanden in neuer Zusammensetzung in Schellenberg eine Bleibe [siehe unten, S. 463 f.]. Während der Amtszeit Carigiets als bischöflicher Vikar erfolgte mit der Genehmigung der Statuten 1850 durch den Churer Bischof die Gründung des liechtensteinischen Priesterkapitels. Damit wurde erstmals eine ständige landesweite Vereinigung der Geistlichkeit geschaffen, welche jedoch stets dem Landesvikar (bis Februar 1971) unterstellt blieb. Liste der Bischöflichen Landesvikare im Fürstentum Liechtenstein Amtsdauer Josef Anton Mayer aus Trimmis/ GR (1745-1827) nach 1816 [? ] -1826 Jakob Anton Carigiet aus Dardin/ GR (1794-1880) 1826-1858 Johann Anton Wolfinger aus Balzers/ FL (1798-1870) 1858-1865 Balthasar von Castelberg aus Ilanz/ GR (1812-1897) 1865-1897 Johann Baptist Büchel d. J. aus Balzers/ FL (1853-1927) 1898-1924 Johann Georg Marxer aus Gamprin/ FL (1874-1954) 1924-1947 Josef Wachter aus Schaan/ FL (1894-1976) 1947-1952 Johannes Baptist Zacharias Tschuor aus Rueun/ GR (1896-1990) 1952-1971 <?page no="153"?> 153 4. Das Dekanat Liechtenstein 1971-1997 3. Das liechtensteinische Priesterkapitel 1850-1970 Anstoss zum Zusammenschluss gab ein Schreiben von Bischof Kaspar de Carl ab Hohenbalken aus dem Frühjahr 1848, worin er betonte, die Geistlichen mögen sich «in brüderliche Unterredungen zum vertraulichen Austausche ihrer Gedanken über Seelsorge, deren Hindernisse, Hilfsmittel, Maßregeln und zu gegenseitiger Unterstützung» regelmässig zusammenfinden. Eine solche erste Zusammenkunft wurde auf den 10. Juni 1850 einberufen; dort diskutierte man bereits einen Statuten-Entwurf und wählte als Präses den Pfarrer von Schaan, Jakob Anton Carigiet, als Beirat den Kuraten in Vaduz, Johann Anton Wolfinger, und als Sekretär den Pfarrer von Bendern, Rudolf Schädler. Nach Erhalt des am 16. August 1850 bestätigten Statuts fand die erste ordentliche Priesterkapitelssitzung am 26. August in Schaan statt. Bischöflicher Landesvikar und Präses Carigiet sprach über die Heiligung der Sonn- und Feiertage bzw. die Minimierung von Missbräuchen an solchen Tagen. Wolfinger seinerseits referierte zum Thema ‹Hebung des priesterlichen Ansehens›; Schädler schliesslich sah im stark zurückgegangenen Gottesdienstbesuch ein wichtiges Thema, welches lösungsorientiert angegangen werden sollte. Bis 1852 thematisierte der Klerus auf weiteren Pastoralkonferenzen die Schule und den katechetischen Unterricht, die Reform der Lehrmittel, das Sakrament der Ehe in Staat und Gesellschaft. Das Protokollbuch weist anschliessend eine Lücke bis 1863 auf. Zwischen Juli 1863 und September 1870 diskutierte die Geistlichkeit Liechtensteins, sich mindestens einmal jährlich treffend, Themata wie Verwaltung der Kirchengüter, Aufsicht über das Kirchenvermögen (beim Bischof ), gemischte Ehen, Aufhebung von Feiertagen, Einheitlichkeit im Ritus, Erleichterungen beim Fasten. Auch in den folgenden Jahrzehnten hielt man die regelmässigen Zusammenkünfte aufrecht, bereitete Planung und Durchführung des ersten liechtensteinischen Katholikentags am 8. September 1921 in Schaan vor (ein weiterer solcher Tag folgte am 20. Mai 1929 in Vaduz) und wirkte durch gemeinsam verabschiedete Beschlüsse und auf der Kanzel verlesene Botschaften immer wieder aktiv in die jeweilige Zeit hinein. 4. Das Dekanat Liechtenstein 1971-1997 Im Zuge der durch das Zweite Vatikanische Konzil ausgelöste Reformbewegung beabsichtigte das Bischöfliche Ordinariat in Chur auch eine Neugliederung der Dekanate. Der 1968 aktivierte Priesterrat des Bistums Chur genehmigte 1969 Unterlagen für eine solche Neuordnung, die dann 1970 allen Priesterkapiteln zur Stellungnahme unterbreitet wurden. Das liechtensteinische Priesterkapitel fasste am 12. Februar 1970 folgende Beschlüsse: 1. Liechtenstein will ein eigenes Kapitel bleiben und nicht, wie vorgeschlagen, mit Glarus zusammengehen. Dieser unterbreitete Vorschlag, sei «derart absurd», dass darüber nicht weiter diskutiert werde. 2. In Fragen der Fortbildung des Klerus wird eine Zusammenarbeit mit dem Priesterkapitel Chur angestrebt. <?page no="154"?> 154 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz 3. Die Ämter des Landesvikars und des Kapitelspräses sollen unangetastet bleiben und mit den bisherigen Funktionen weitergeführt werden. 4. Ebenfalls beibehalten werden die bisherigen Formen der Wahlen und der Beschlussfassung. Am 18. Februar 1970 schickte Kapitelspräses Ludwig Josef Schnüriger, Pfarrer von Vaduz (1960-1979), die Beschlüsse mit einem ausführlichen Schreiben nach Chur. Darin betont er deutlich den Willen zur weiteren Eigenständigkeit des Kapitels. Auch als kleine Gemeinschaft würden sie die Landesprobleme selbst am besten kennen und diese auch lösen, denn in Chur gebe es «kaum einen, der imstande wäre, unsere Pfarreien der Reihe nach aufzuzählen». «Von der gesellschaftlichen Struktur, von der politischen Konstellation und von allen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte hat man auf dem Ordinariat einfach zu wenig Kenntnisse.» Einvernehmlich hätte das Priesterkapitel beschlossen, weder das Landesvikariat noch den Kapitelspräses abzuschaffen nur um den Eindruck zu erwecken, «man habe etwas Neues gemacht». Das Projekt ‹Neuordnung der Dekanate› sei, so Schnüriger im Namen des liechtensteinischen Kapitels, «ein bürokratisches papierenes Erzeugnis, das gar nicht in unsere Zeit passt und die speziellen Verhältnisse Liechtensteins völlig ausser Acht lässt». Bischof Johannes Vonderach, wohl etwas konsterniert über die offene Antwort, welche, wie das Schreiben aus Vaduz betont, besser sei als die vielzitierte «kindliche Ergebenheit», «die oft genug mit Heuchelei verbunden war», reagierte unverbindlich und beauftragte den zum Generalvikar für Graubünden ernannte Giusep Pelican (1970-1989) [zu seiner Person siehe unten, S. 301 f.], mit kirchlichen wie staatlichen Stellen in Liechtenstein in Verbindung zu treten. Nach entsprechenden Konsultationen schien sich im Priesterkapitel ein Gesinnungswandel vollzogen zu haben, denn Pelican schrieb am 19. Februar 1971 an den Liechtensteinischen Regierungschef, Alfred Hilbe (1970-1974), der örtliche Klerus zeige sich bereit, das Amt des Landesvikars anstelle des neuen Dekans mit besonderen Aufgaben, «die dem Landesvikar als Vertreter des Bischofs bei der Fürstlichen Regierung oblagen», aufzugeben. Die Regierung aber antwortete, die Bestellung eines eigenen bischöflichen Vikars erachteten sie für das Land als die «zielführendste Lösung», denn dadurch «käme eine Betonung der Eigenstaatlichkeit Liechtensteins innerhalb des Diözesanverbandes zum Ausdruck»; dieser könne die bisherigen Aufgabenbereiche des Landesvikars weiterführen. Überschneidungen mit dem Kompetenzbereich des Dekans würden sie nicht befürchten, da beim Dekan die seelsorgerlichen Aufgaben im Vordergrund stünden, das Landesvikariat hingegen eine kirchliche Interessenvertretung beim Staat im Auge haben müsse. In Bezug auf die Neuordnung der Dekanate hatte das Ordinariat inzwischen vollendete Tatsachen geschaffen: Bereits am 23. Oktober 1970 erteilte Bischof Johannes Vonderach seine Zustimmung zu den «Richtlinien für die Neuordnung der Dekanate» im Bistum. Nach Einlenken der Regierung und deren Einsicht, das Amt des Dekans werte damit den Bistumsteil Liechtenstein auf, stelle es doch neu ein eigenes Dekanat dar, wurde das Territorium des Fürstentums Liechtenstein mit Wirkung ab dem 1. Januar 1971 zu einem eigenen Dekanat erhoben und zusammen mit dem Kanton Glarus dem 1970 neu errichteten Generalvikariat «Graubünden, Liechtenstein und Glarus» zugeordnet. Engelbert Bucher, Pfarrer in Triesenberg (1943-1979), hatte der örtliche Klerus an <?page no="155"?> 155 4. Das Dekanat Liechtenstein 1971-1997 der letzten Sitzung des Priesterkapitels am 9. November 1970 bereits zum ersten Dekan (1970-1978) gewählt. Bischof Vonderach nahm am 17. Februar 1971 den Rücktritt von Landesvikar Johannes Tschuor an und gab gleichzeitig bekannt, dass der neue Dekan inskünftig auch dessen Aufgaben wahrnehmen werde. Als Hauptverantwortlicher ist der Dekan sowohl Beauftragter des Bischofs als auch Sprecher der Mitbrüder des Dekanats gegenüber dem Bischof und dem Ordinariat, führt - auf vier Jahr gewählt (Wiederwahl möglich) - den Vorsitz der mindestens vier Mal jährlich stattfindenden Dekanatsversammlungen, zeichnet für die Pfarrinstallationen verantwortlich, ordnet die Beerdigung von Geistlichen aus dem Dekanat und führt das Dekanatsarchiv. Als Leiter oblag dem Dekan die Förderung und Koordination der gesamten Seelsorge in Liechtenstein; ferner zählten zu seinen wichtigen Aufgaben die Sorge für das spirituelle Leben und die theologische Fortbildung im Dekanat, die Sorge für die Gemeinschaft unter dem Klerus sowie die Sorge für eine gedeihliche seelsorgliche Zusammenarbeit aller Priester, Diakone und der bald anwachsenden Zahl der Laien im pastoralen Dienst. Liste der Dekane im Fürstentum Liechtenstein Amtsdauer Engelbert Bucher aus Kerns/ OW (1913-2002) 1970-1978 Franz Näscher aus Gamprin/ FL (geb. 1938) 1978-1986 Othmar Kähli aus Abtwil/ SG (geb. 1941) 1986-1990 Hans Baumann aus Gurtnellen/ UR (geb.1929) 1990-1994 Franz Näscher aus Gamprin/ FL (geb. 1938) 1994-1997 Bereits Dekan Engelbert Bucher hatte sich in den 70er Jahren erfolgreich um Beiträge der Gemeinden und Pfarreien für die überpfarreilichen Aufgaben bemüht; diese Beiträge wurden vorerst von der Dekanatskonferenz verwaltet. Infolge der vermehrten personellen und finanziellen Verwaltungsaufgaben entschloss man sich zur Schaffung einer Finanzkommission (1984-1988), welche nach Statutenüberarbeitung und einigen Modifikationen zwischen 1989 und 2000 unter dem Namen Administrationsrat arbeitete. Ab 1990 bis 1999 beschloss die Dekanatsversammlung die Finanzierung einer Dekanatskanzleistelle. Bereits das Priesterkapitel als auch das Dekanat entsandten in verschiedene Gremien des Landes Delegierte oder arbeiteten in Kommissionen mit (Erwachsenenbildung, Katechese, Landschul-/ Bildungsrat, Caritas, Stiftungsräte in diversen Institutionen). Da das Dekanat Liechtenstein sich mit einem souveränen Staat deckte, hatte es wie schon das Priesterkapitel Aufgaben wahrzunehmen, die den üblichen Tätigkeitsbereich eines Dekanats überstiegen. Deshalb äusserten Mitglieder vor allem in den 1980er Jahren Gedanken über eine mögliche Aufwertung des Dekanats zu einem Landesvikariat oder zu einem Generalvikariat. Aber mit Ausnahme eines kleines ‹Zwischenaktes› im Jahre 1916, als man mitten im Ersten Weltkrieg (1914-1918) die Idee einer Ablösung Liechtensteins zugunsten des Heiligen Stuhls ins Spiel brachte, damit aber das Fürstenhaus mehr verärgerte als beglückte, gab es nie ernsthafte Absichten für ein eigenes Bistum, auch wenn Kanonikus Johannes Tschuor im Kirchenblatt «In Christo» 1982 die Utopie eines Bistums Liechtenstein ins Spiel brachte. Erst im Zuge der um Wolfgang Haas und sein Wirken als <?page no="156"?> 156 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz Churer Bischof entstandenen und immer stärker werdenden Polarisierungen griffen die Gedanken um eine mögliche Loslösung aus dem Churer Bistumsverband wieder um sich. Als Sondergesandter des Vatikans konsultierte von 1991 an Erzbischof Karl-Josef Rauber (1993-1997 Nuntius in Bern) viele Personen und führte auch Gespräche mit dem Liechtensteinischen Landesfürsten Hans-Adam II. (seit 1989), dem damaligen Regierungschef Mario Frick (1993-2001) und mit Bischof Wolfgang Haas. Alle drei äusserten sich ablehnend gegenüber einer allfälligen Errichtung eines (Erz-)Bistums Liechtenstein. Nuntius Rauber verfolgte diesen Plan nicht weiter und suchte andere Lösungen. Im April 1997 versetzte man ihn als Nuntius für Ungarn nach Budapest; an der römischen Kurie war offenbar der Gedanke eines eigenen Bistums für Liechtenstein weiter verfolgt worden, wogegen der Nuntius sich quer stellte und deshalb kurzerhand aus Bern abberufen wurde. 5. Errichtung des Erzbistums Vaduz und Auflösung des Dekanats Liechtenstein 1997 Wie aus der Literatur zu erfahren ist, fuhr am Nachmittag des 28. Novembers 1997 der Nachfolger Raubers auf der Nuntiatur in Bern, Erzbischof Oriano Quilici (1997-1998), bislang im fernen Venezuela als Kirchendiplomat tätig (1990-1997), beim fürstlichen Schloss ob Vaduz vor und wünschte Fürst Hans-Adam II. zu sprechen. Da dieser landesabwesend war, begab sich der Nuntius ins Regierungsgebäude nach Vaduz und überreichte der Aussenministerin Andrea Willi das an den Fürsten adressierte Schreiben des Vatikans mit dem Vermerk «persönlich/ vertraulich». Der Nuntius erklärte der Ministerin die Sachlage, derzufolge Liechtenstein zum Erzbistum erhoben und der Churer Bischof Wolfgang Haas zum ersten Erzbischof von Vaduz ernannt worden sei. Damit erhielt die Regierung Kenntnis vom Entscheid des Papstes. Die Errichtung erfolgte ohne weitere Absprachen mit irgendeiner staatlichen Stelle in Liechtenstein; anscheinend war auch Bischof Haas nicht vorher informiert worden. Die Mitteilung des 28. Novembers blieb bis zur öffentlichen Bekanntgabe am 2. Dezember 1997 streng vertraulich. Die Apostolische Nuntiatur in Bern gab an diesem Tag folgende Nachricht an die Medien ab (erschienen im «L’Osservatore Romano»): «Der Heilige Vater hat die Erzdiözese Vaduz (Liechtenstein) mit aus der Diözese Chur (Schweiz) ausgegliedertem Territorium errichtet und diese direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt. Gleichzeitig hat der Heilige Vater den Hochwürdigsten Herrn Wolfgang Haas, bisher Bischof von Chur, auf den genannten Erzbischofsstuhl von Vaduz erhoben.» Nuntius Quilici kommentierte die Errichtung durch Papst Johannes Paul II. im Kommuniqué vom 2. Dezember 1997 wie folgt: «In Ausübung seines obersten Hirtenamtes der universalen Kirche ist der Heilige Vater vom Wunsch erfüllt, das Wirken einer der ältesten Kirchen jenseits der Alpen zu fördern. Deshalb hat er entschieden, die direkten Bande mit der kirchlichen Gemeinschaft von Liechtenstein zu stärken und den neuen kirchlichen Jurisdiktionsbereich zu <?page no="157"?> 157 5. Errichtung des Erzbistums Vaduz und Auflösung des Dekanats Liechtenstein 1997 schaffen, der unmittelbar dem Heiligen Stuhl untersteht. Diese Massnahme ist gedacht als Ehrung und bessere Unterstützung einer eifrigen Volksgruppe, die es von den ersten Tagen ihrer Unabhängigkeit verstand, Problemen und Widrigkeiten jeglicher Art zu begegnen, ohne jemals das Gespür ihrer treuen Religiosität zu verlieren. Während ihrer Zugehörigkeit zur Diözese Chur hat die Volksgruppe hochherzig auf allen kirchlichen Ebenen mitgearbeitet. Dies gilt für Priester, Ordensleute und Laien in gleicher Weise. […] Die neue Erzdiözese von Vaduz in Liechtenstein fügt sich künftig in die Reihe anderer Diözesen in Europa ein, die zu unmittelbar dem Heiligen Stuhl unterstellten Erzbistümern erhoben wurden, wie Monaco (Fürstentum) im Jahre 1981 und Luxemburg (Grossherzogtum) im Jahre 1988. Die Gründe dafür liegen in ihrem geographischen Erscheinungsbild ebenso wie in ihrer besonderen Geschichte und herausgehobenen Stellung auf ziviler, kultureller, gesellschaftlicher und religiöser Ebene. Der Heilige Vater wünscht, dass diese Erhebung in allen Gläubigen Liechtensteins einen neuen ‹sensus ecclesiae› erwecke in Gemeinschaft mit ihrem ersten Hirten, dem Hochwürdigsten Herrn Bischof Wolfgang Haas, der aus Vaduz stammt. Seine Heiligkeit betet darum, dass der Glaube auflebe und auf dauerhafte Weise das kirchliche und gesellschaftliche Leben aller seiner Bewohner erfülle und erneuere.» Der Dekanatsvorstand berief auf den 4. Dezember 1997 in aller Eile eine ausserordentliche Dekanatsversammlung ein. In mühsamer wie harter Diskussion versuchten die 24 anwesenden Mitglieder, eine Stellungnahme zu erarbeiten, die schliesslich mit 18 zu 6 Stimmen verabschiedet wurde. Damit zeigt sich, einerseits wie betroffen, andererseits wie Abb. 94 (links): Päpstliche Bulle zur Errichtung des Erzbistums Vaduz vom 2. Dezember 1997 (Deutsche Übersetzung) Abb. 95 (rechts): Päpstliche Bulle zur Ernennung von Wolfgang Haas zum Erzbischof (Deutsche Übersetzung) [BAC] <?page no="158"?> 158 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz uneins Seelsorgeklerus und Laien im pastoralen Dienst gegenüber der päpstlichen Entscheidung waren. Schon zu Beginn der Geschichte des Erzbistums lag über dem von Rom gewünschten «sensus ecclesiae» ein dunkler Schatten, da nicht nur Dekan und Mitglieder des Dekanats Liechtenstein, sondern selbst Bischof Haas als Direktbetroffene nicht (mehr) in die päpstliche Entscheidungsfindung miteinbezogen worden waren, die eine jahrhundertalte Tradition der Zugehörigkeit zum Bistum Chur abrupt beendete. Die Konsequenzen der Entscheidung, seien, so die Stellungnahme der Dekanatsversammlung, «nicht bedacht». Es gebe «keinen dringenden Handlungsbedarf in Liechtenstein, um die Trennung vom Bistum Chur zu vollziehen» - also «eine überstürzte Entscheidung ohne klares Konzept». Nicht zuletzt sei «eine Infrastruktur für ein eigenes Bistum nicht gegeben» und könne «nur schwer aufgebaut» werden; der Verwaltungsaufwand erachteten die 18 Ja-Stimmen als «unverhältnismässig gross». Die Forderung nach Sistierung des ‹Blitzentscheid› fand weder auf der Nuntiatur, geschweige denn in Rom Gehör. Die römischen Stellen benötigen auch keine «mehrjährige Nachdenkpause, in der die Beteiligten miteinbezogen werden» konnten, sondern Johannes Paul II. hatte nach eifrigen, wohl zu eifrigen Vorarbeiten der zuständigen Instanzen entschieden. Die Amtseinsetzung des Erz- Abb. 96 (links): Kathedralkirche St. Florinus zu Vaduz [BAC.BA] / Abb. 97/ 98 (rechts): Amtseinführung am 21. Dezember 1997 (Haas zeigt die päpstliche Ernennungsurkunde) und Wappen des ersten Erzbischofs von Vaduz, Wolfgang Haas [Quelle: wikipedia] <?page no="159"?> 159 bischofs in der zur Kathedrale erhobenen Pfarrkirche St. Florinus zu Vaduz geschah unter Beisein Quilicis bereits am 21. Dezember 1997. Mit diesem Akt ergriff Haas - zwar unter Protestkundgebungen - kirchenrechtlich von seinem neuen Bistum Besitz, führte jedoch bis zum 23. August 1998 (Amtsübernahme durch Bischof Amédée Grab) das Bistum Chur als Apostolischer Administrator weiter. Bei einer Aussprache des Dekanatsvorstandes und einer Abordnung des Administrationsrates mit dem neuen Erzbischof am 30. Dezember 1997 im Pfarrhaus zu Vaduz machte Wolfgang Haas deutlich, dass mit Errichtung des Erzbistums ein neuer Jurisdiktionsbereich geschaffen und daher das bisherige Dekanat Liechtenstein samt der damit verbundenen Gremien seit dem 21. Dezember aufgehoben sei. Die bisherige Dekanatsversammlung traf sich 1998 noch zu vier weiteren Aussprachen mit dem Erzbischof; neben der Erledigung der laufenden Aufgaben ging es um den Aufbau neuer Strukturen. Am 25. Januar 1998 löste der ehemalige Dekan Franz Näscher den Landesseelsorgerat auf, und am 25. Februar 1999 erliess Haas das neue Statut des erzdiözesanen Priesterrats. Die letzte Zusammenkunft der ehemaligen Dekanatsversammlung fand am 2. September 1998 statt. Die Akten des Dekanats und dessen Institutionen gelangten als Depot ins Liechtensteinische Landesarchiv (Vereinbarung am 17. August 1999 abgeschlossen). Die Dekanatsbibliothek mit ca. 5'000 Bänden aus Bibliotheksbeständen mehrerer verstorbener Priester - zuletzt auf dem Dachboden des Pfarrhauses Bendern gelagert - ordne- 5. Errichtung des Erzbistums Vaduz und Auflösung des Dekanats Liechtenstein 1997 Abb. 99: Blick auf Vaduz und Sitz des Landesfürsten (Schloss Vaduz, früher Hohenliechtenstein) [BAC.BA] <?page no="160"?> 160 V. Das Fürstentum Liechtenstein und das Bistum Chur: Vom Bischöflichen Landesvikariat bis zum Erzbistum Vaduz te man nach Sachgebieten und übergab die umfangreiche Sammlung Mitte November 1999 ebenfalls als Depositum der Liechtensteinischen Landesbibliothek. Am Abend des 24.- März 2000 lud der Administrationsrat des ehemaligen Dekanats Liechtenstein zu einer Feier nach Mauren ein, um nicht nur allen Angestellten bei den bis dahin bestandenen Arbeitsstellen, sondern allen Klerikern, Männern und Frauen für ihre geleisteten Dienste für die Kirche in Liechtenstein zu danken. Damit endet die Geschichte des seit 1971 bis 1997 bestehenden Dekanats Liechtenstein - eines Territoriums, welches seit Bestehen des Bistums Chur im 5. Jahrhundert diesem Sprengel zugeordnet war. <?page no="161"?> 161 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen: Verzeichnis aller Lokal- und Personalpfarreien 1. Die Bistumsregion Graubünden Der heutige Kanton Graubünden (GR) nimmt in der Mitte des Alpenraumes, wo sich Ost- und Westalpen verbinden, eine geographische Schlüsselposition ein. Hier treffen drei wichtige europäische Wasserscheiden zusammen und trennen die Einzugsgebiete von Rhein, Inn und den Flüssen der Südtäler und damit von Nordsee, Schwarzem Meer und Adria. Das Territorium präsentiert sich mit seinen 7'105 km² als ein verkleinertes Bild der vielgestaltigen Schweiz. In diesem Gebirgs- und Hochland mit insgesamt 150 Tälern leben und wirken Angehörige verschiedener Volksstämme in 112 Gemeinden. Die Bevölkerung (197'529 Einwohner [Stand 2016]) nahm zwischen 1850 und 2000 um etwa 76 % zu, hat aber dennoch die geringste Bevölkerungsdichte aller Schweizer Kantone (28 Personen/ km²). Der Ausländeranteil liegt mit 18,3 % (2015) unter dem schweizerischen Durchschnitt (24,6- %). Die kantonale Dreisprachigkeit gliedert sich in das Deutsche (76 %), das Italienische (10 %) und in fünf rätoromanische Schriftidiome (14 %), nämlich in das Sursilvan des Bündner Oberlandes, das Sutsilvan Mittelbündens (Schams, Domleschg, Abb. 100: Ehemalige Hauptsprachregionen in Graubünden [Quelle: wikipedia] <?page no="162"?> 162 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Heinzenberg), das Surmiran des Oberhalbsteins, das Putér des Oberengadins und in das Vallader des Unterengadins und des Val Müstair. Gegen die Einführung einer gemeinsamen romanischen Schriftsprache, des ‹Romantsch Grischun› (1982), wehr[t]en sich die Bündnerromanen mit ihren Regionalidiomen, die jedoch immer weniger gesprochen werden. Die Wirtschaft Graubündens wurde seit jeher stark durch die natürlichen Standortvoraussetzungen geprägt. Gegen 90 % des bündnerischen Bodens liegen über 1'200 Meter ü. M., 8 % gelten als Acker- und Wiesland, während die landwirtschaftlich ertragsreiche Zone unter 600 Meter nur gerade 1,3-% ausmacht (landwirtschaftliche Nutzfläche: insgesamt 29,8 %). In den einzelnen Talschaften waren bis in die Mitte des 20.-Jahrhunderts hinein die Land-, Vieh- und Forstwirtschaft prägend. Als naturgegebenes Transitland verbindet Graubünden die bedeutenden europäischen Wirtschafts- und Kulturräume der oberrheinischen und der lombardischen Tiefebene miteinander. Im Sektor Transitverkehr ist dem Kanton im Laufe des 20. Jahrhunderts ein enormer Aufschwung gelungen (Bau und Ausbau der Rätischen Bahn bzw. diverser Passstrassen [Strassennetz: 1632 km, Schienennetz RhB: 397 km]), was alsbald den Fremdenverkehr in die Täler lockte. Die Tourismusbranche zählt heute zu einem der einnahmereichsten Bereichen der bündnerischen Wirtschaft (über 60 %). Neben Landwirtschaft und Fremdenverkehr haben Gewerbe und Industrie (24 %), letztere vor allem im Churer Rheintal, im Domleschg, Oberland, Prättigau und Misox, neue Arbeitsplätze geschaffen. Erwähnt sei auch die Nutzung und der Ausbau der Bündner Wasserkraft in der Nachkriegszeit, was den Berggemeinden zusätzliche Einnahmen aus Steuern und Wasserzinsen gebracht hat. Insgesamt kann man eine deutliche Wandlung vom Bünden als Agrarstaat zum modernen Dienstleistungskanton Graubünden konstatieren. Abb. 101: Tatsächliche Sprachenverhältnisse in Graubünden (Stand 2000) <?page no="163"?> 163 1. Die Bistumsregion Graubünden Die Reformation in Bünden [siehe Band 1, S. 163-176] zog sich anders als in der Eidgenossenschaft über fast 100 Jahre hin, wobei die Konfession von Tal zu Tal, oft von Gemeinde zu Gemeinde wechselte. Die heutige Evangelisch-reformierte Landeskirche Graubünden mit 139 Kirchgemeinden hat ihren Ursprung im Zweiten Ilanzer Artikelbrief von 1526, der Stiftung der Evangelisch-rätischen Synode 1537 und der Confessio Raetica von 1552. Zu den katholischen Stammlanden zählen Ursern, die Surselva und die italienisch sprachigen Valli Calanca und Mesolcina. Mit Hilfe der Rätischen Kapuzinermission konnte im 17. Jahrhundert im Unterengadin, vor allem aber im Oberhalbstein Abb. 102 / 103: Bis Ende 2015 war Graubünden in 39 Kreise eingeteilt (oben), ab Januar 2016 wird der Kanton in 11 Regionen gegliedert (unten) [Quelle: wikipedia] <?page no="164"?> 164 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … und Albulatal der katholische Glaube (wieder) gefestigt werden. Etliche Pfarreien blieben bis weit ins 20. Jahrhundert mit Kapuzinerpatres besetzt; die letzten Vertreter des Reformordens wurden im Oktober 2017 verabschiedet (Andermatt, Lantsch/ Lenz). Die Stadt Chur blieb nach 1530 protestantisch; der Hofbezirk glich einer katholischen Enklave. Bis ins 19.-Jahrhundert versahen Kapuziner nach ihrer Ausweisung aus dem Stadtgebiet die Seelsorge am Dom, welche mit reger Aushilfetätigkeit in der Herrschaft Rhäzüns und in den paritätischen Vier Dörfern gekoppelt war. Nach dem Wegzug der Kapuziner 1880 übernahmen Weltgeistliche die Seelsorge an der Dompfarrei [siehe unten, S. 327-340]. Heute stehen auf dem Platz Chur drei katholische Pfarreien (Dom, Erlöser [errichtet 1935], Heiligkreuz [errichtet 1969]) drei evangelisch-reformierten Kirchgemeinden (St.-Martin mit St.- Regula [Altstadt], Comander-[Neustadt] und Kirche Masans [Chur Nord]) gegenüber. Der Katholikenanteil steht in Graubünden aufgrund der in den letzten Jahren stark angestiegenen ausländischen Wohnbevölkerung sogar wieder über dem der Protestanten: 45 % zu 32,7 % (2015); dagegen bezeichnen sich 14,5 % als konfessionslos [Stand 2015: ständige Wohnbevölkerung in GR bei einem Alter ab 15 Jahre]. Seit 1816 (Abtrennung der vorarlbergischen und tirolischen Anteile) sowie nach der endgültigen Loslösung der Gebiete «Unter der Landquart» (1847 Schaffung des Bistums St. Gallen) bis zur Neueinteilung der Dekanate 1970 zählte man in Graubünden 10 Dekanate: Chur und Umgebung, Disentis/ Cadi, Lugnez/ Lumnezia, Gruob/ Foppa, Misox, Calanca, Ob dem Schyn/ Surmir, Unter dem Schyn/ Sutmir, Engadin-Bergell und seit 1871 Puschlav. Nach der Gründung des Generalvikariats «Graubünden, Liechtenstein und Glarus» am 1. Januar 1970 umfasste dieses Territorium 7 Dekanate: Chur und Umgebung, Surselva, Grigioni italiano, Ob dem Schyn-Davos, Engadin, Liechtenstein und Glarus. Seit 1999 heisst der von einem regionalen Generalvikar geleitete Churer Diözesanteil «Bistumsregion Graubünden»; er zählt 6 Dekanate mit insgesamt 119 Pfarreien (Stand: Januar 2018). Bistumsregion Graubünden Dekanat Chur (22 Pfarreien) Chur, Kathedrale/ Dom, Mariae Aufnahme in den Himmel - Chur, St. Luzi (Seminarkirche) mit Praden, Tschiertschen und Passugg Chur, Erlöser Chur, Heiligkreuz mit Haldenstein und Masans Almens, St. Andreas - Rodels, St. Jakobus d. Ä. und Christophorus mit Fürstenau, Pratval, Rodels und Scharans Andeer, Unsere Liebe Frau von Fatima - Splügen, Christkönig mit Ausserferrera, Avers, Casti-Wegenstein, Clugin, Donath, Hinterrhein, Innerferrera, Lohn, Mathon, Medel im Rheinwald, Nufenen, Patzen-Fardün, Pignia, Sufers, Zillis-Reischen <?page no="165"?> 165 1. Die Bistumsregion Graubünden Arosa, Mariae Aufnahme in den Himmel mit Langwies, Molinis, Pagig, Peist, St. Peter Bonaduz, Mariae Aufnahme in den Himmel mit Safien, Tamins, Tenna und Versam Cazis, St. Peter und Paul mit Präz, Sarn und Tartar Churwalden, St. Maria und Michael mit Malix und Parpan Domat/ Ems, Mariae Aufnahme in den Himmel mit Felsberg Klosters, St. Josef mit Conters, Küblis, Luzein und St. Antönien Landquart, St. Fidelis von Sigmaringen - Maienfeld, Hl. Bruder Klaus (Pfarrvikariat) - Malans, Liebfrauen (Pfarrvikariat) mit Fläsch, Jenins, Igis, Maienfeld und Malans Maladers, St. Antonius von Padua mit Calfreisen, Castiel und Lüen Mastrils, St. Antonius von Padua Paspels, St. Johannes d. T. Rhäzüns, St. Mariae Geburt Seewis-Pardisla, St. Josef - Schiers, Hl. Bruder Klaus mit Fanas, Fideris, Furna, Grüsch, Jenaz, Schiers, Seewis-Dorf und Valzeina Thusis, Guthirt mit Flerden, Masein, Portein, Rongellen, Sils im Domleschg, Tschappina und Urmein Trimmis, St. Carpophorus mit Says Tumegl/ Tomils, St. Mariae Krönung mit Feldis/ Veulden, Rothenbrunnen, Scheid und Trans Untervaz, St. Laurentius Zizers, St. Peter und Paul Abb. 104-106 (von links nach rechts): Pfarrkirchen Heiligkreuz in Chur, Mariae Aufnahme in den Himmel in Arosa und Bonaduz [BAC.BA] <?page no="166"?> 166 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Dekanat Surselva (37 Pfarreien) Cadi Breil/ Brigels, Mariae Aufnahme in den Himmel Danis, Hl. Dreifaltigkeit mit Tavanasa Dardin, St. Sebastian Disentis/ Mustér, St. Johannes d. T. - Cavardiras, St. Antonius von Padua (Kaplanei) - Segnes, St. Sebastian und Rochus (Kaplanei) Medel/ Lucmagn (Platta), St. Martin - Curaglia, St. Nikolaus (Kaplanei) Rabius, Unsere Liebe Frau vom Skapulier Schlans, St. Georg und St. Scholastika Sumvitg, St. Johannes d. T. mit Cumpadials Surrein, St. Placidus Trun, St. Martin - Nossadunna della Glisch / Maria Licht (Wallfahrtskirche) - Zignau, St. Jakobus d. Ä. und Christophorus (Kaplanei) Tujetsch-Sedrun, St. Vigilius - Rueras, St. Jakobus d.Ä. (Pfarr-Rektorat) - Selva, St. Johannes Ap. und Paulus (Kaplanei) Lumnezia Camuns, St. Johannes d. T. Cumbel, St. Stephanus Degen/ Igels, Mariae Aufnahme in den Himmel - Rumein, St. Antonius von Padua Lumbrein, St. Martin - Surin, St. Nikolaus (Kaplanei) Morissen, St. Jakobus d. Ä. und Philippus Surcasti, St. Laurentius - Uors, St. Carlo Borromeo (Kaplanei) Tersnaus, St. Apollinaris Vals, St. Peter und Paul - St. Martin (Lugnez), St. Martin Vella (Pleif ), St. Vincentius Vignogn, St. Florinus Vrin, St. Mariae Geburt <?page no="167"?> 167 1. Die Bistumsregion Graubünden Foppa Andiast, St. Julitta und Quiricus Falera, Herz Jesu Flims, St. Josef mit Fidaz und Trin Ilanz, Mariae Aufnahme in den Himmel mit Luven, Schnaus und Strada Laax, St. Gallus und Othmar Ladir, St. Zeno Obersaxen, St. Peter und Paul (Meierhof ) - St. Martin Pigniu, St. Valentinus Rueun, St. Andreas Ruschein, St. Georg Sagogn, Unsere Liebe Frau Schluein/ Schleuis, St. Peter und Paul Sevgein, St. Thomas Ap. mit Castrisch, und Riein Siat, St. Florinus Surcuolm, St. Georg mit Flond Abb. 107-109 (von links nach rechts): Pfarrkirchen Mariae Aufnahme in den Himmel in Breil/ Brigels, St. Vincentius in Vella (Pleif ) [Innenraum] und St. Zeno in Ladir [BAC.BA] <?page no="168"?> 168 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Dekanat Mesolcina-Calanca (19 Pfarreien) Mesolcina Cama, San Maurizio - Leggia, Santi Bernardo e Antonio Abate Grono, San Clemente Lostallo, San Giorgio Mesocco, Santi Pietro e Paolo - San Bernardino, San Bernardino da Siena Roveredo, San Giulio San Vittore, Santi Giovanni Battista e Vittore Soazza, San Martino Verdabbio, San Pietro Calanca Arvigo, San Lorenzo Augio, Santi Giuseppe e Antonio da Padova Braggio, San Bartolomeo Buseno, Santi Pietro e Antonio Abate Castaneda, San Stefano Cauco, San Antonio Abate Landarenca, Santi Bernardo e Nicolao Rossa, San Bernardo Selma, Santi Giacomo e Pietro Sta. Domenica, Santi Domenica e Maria del Rosario Sta. Maria in Calanca, Santa Maria Assunta Abb. 110/ 111: Pfarrkirchen San Maurizio in Cama (links) und San Martino in Soazza (rechts) [BAC.BA] <?page no="169"?> 169 1. Die Bistumsregion Graubünden Dekanat Poschiavo-Bregaglia (7 Pfarreien) Poschiavo Brusio, San Carlo Borromeo - Viano, Santi Maria e Elisabetta (Kuratie) mit Miralago Campocologno, Sacra Familia Le Prese, Santi Francesco d’Assisi e Antonio Abate Poschiavo, San Vittore Mauro - Cologna, San Antonio da Padova (Kuratie) mit Sant’Antonio Prada, San Bernardo mit S. Annunziata und Pagnoncini San Carlo, San Carlo Borromeo - Pedemonte, Santi Angeli Custodi (Kaplanei) Bregaglia Vicosoprano, San Gaudenzio - Promontogno, Santa Maria Immacolata (Kaplanei) mit Castasegna, Bondo, Soglio und Stampa Abb. 112/ 113: Pfarrkirchen Santi Giuseppe e Antonio in Augio (links) und Santa Maria Assunta in Sta. Maria in Calanca (rechts) [BAC.BA] Abb. 114/ 115: Pfarrkirchen San Carlo Borromeo in Brusio (links) und San Vittore Mauro in Poschiavo (rechts) [BAC.BA] <?page no="170"?> 170 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Dekanat Ob dem Schin-Davos (21 Pfarreien) Alvaneu, St. Mariae Geburt Alvaschein, St. Josef Bivio, St. Gallus Brienz, St. Callistus Cunter, St. Carlo Borromeo Davos-Platz, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis - Davos-Dorf, Herz Jesu (Pfarr-Rektorat) Lantsch/ Lenz, St. Antonius von Padua Mon, St. Franziskus Mulegns, St. Franziskus Parsonz, St. Nikolaus Riom, St. Laurentius Rona, St. Antonius Eremit Salouf, St. Georg - Ziteil, Mariae Heimsuchung (Wallfahrtskirche) Savognin, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis Schmitten (Albula), Allerheiligen Stierva, St. Maria Magdalena mit Mutten Sur, St. Katharina mit Marmorera Surava, St. Georg - Bergün, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis mit Filisur Tiefencastel, St. Stephanus Tinizong, St. Blasius Vaz/ Obervaz, St. Donatus - Lenzerheide/ Lai, St. Carlo Borromeo (Pfarr-Rektorat) mit Lain, Muldain, Solis und Zorten Abb. 116-118 (von links nach rechts): Pfarrkirchen St. Mariae Geburt in Alvaneu, St. Stephanus in Tiefencastel und St. Mariae Unbefleckte Empfängnis in Davos-Platz [BAC.BA] <?page no="171"?> 171 Dekanat Engadin-Val Müstair (13 Pfarreien) Ardez, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis mit Ftan und Guarda Celerina, St. Antonius von Padua Seelsorgeverband Bernina Samedan, Herz Jesu mit Bever Zuoz, St. Katharina und Barbara mit La Punt-Chamues-ch und S-chanf Martina, St. Florinus mit Ramosch und Tschlin Müstair, St. Johannes d. T. Pontresina, Heilig Geist Samnaun, St. Jakobus d. Ä. (in Compatsch) St. Moritz, St. Mauritius - St. Moritz-Bad, Carlo Borromeo - Sils i. E., Christkönig mit Sils i. E., Silvaplana und Maloja, Scuol/ Schuls, Herz Jesu mit Sent Tarasp, Hl. Dreifaltigkeit Valchava, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis mit Fuldera, Lü, Sta. Maria i. M. und Tschierv Zernez, St. Antonius von Padua - Susch, Heilige Familie 1. Die Bistumsregion Graubünden Abb. 119/ 120: Pfarrkirchen Hl. Geist in Pontresina (links) und Herz Jesu in Scuol (rechts) [BAC.BA] <?page no="172"?> 172 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … 2. Die Bistumsregion Urschweiz Von den vier in der Zentralschweiz gelegenen deutschsprachigen Urkantonen zählt Uri (UR) mit einer Fläche von 1'077 km 2 , in 20 Gemeinden gegliedert, 36'142 Einwohner (Ausländeranteil: 11,5 %) [Stand 2016]. Da der überwiegende Teil des Kantons am Gotthard siedlungsfeindlich ist, liegt das Hauptsiedlungsgebiet im Reusstal; Hauptort ist Altdorf. Vom heutigen Kantonsgebiet gehörte nur das Hochtal Ursern (Andermatt bis Furkapass) als fester Bestandteil zum Bistum Chur. Die Lebensader des Kantons Uri ist seit dem Mittelalter die vielbefahrende Gotthardroute. Wirtschaftlich profitiert der Kanton von seiner Nord-Süd-Transitlage: Bau- und Verkehrswirtschaft sowie der Tourismus stehen im Vordergrund. Da nur 4,4 % der Gesamtfläche intensiv nutzbar sind (Wies-/ Ackerbau, Obst-/ Gartenbau) und 20 % als Alpweiden bewirtschaftet werden, verzeichnet der Sektor Land-/ Forstwirtschaft einen geringen Beschäftigungsanteil von 6 %. In der Industrie sind etwa 41 % der Beschäftigten registriert, im Dienstleistungssektor 53 %. 908 km 2 gross ist der in den Voralpen zwischen dem Zürich- und dem Vierwaldstättersee eingebettete Binnenkanton Schwyz (SZ). Durch Tagsatzungsbeschluss wurde 1817 die einst freie Republik Gersau als Bezirk dem Kanton zugeschlagen. In den 30 Gemeinden lebten Ende 2016 155'836 Personen (Ausländeranteil: 20,2 %). Hauptort ist Schwyz; auf Kantonsgebiet liegt ferner der weltbekannte Wallfahrtsort Maria Einsiedeln. Die Wirtschaftsstruktur zeitigt keine eigentlichen Zentren; es herrschen kleinere bis mittlere Gewerbe- und Industriebetriebe vor. Innerkantonal ist die wirtschaftliche Entwicklung sehr unterschiedlich. Neben stark industrialisierten Gemeinden kennt der Kanton Schwyz solche, in denen die Landwirtschaft praktisch die einzige Erwerbsquelle darstellt, oder die weitgehend von Fremdenverkehr und Naherholungstourismus leben. Die wichtigsten Tourismusorte sind Brunnen am Vierwaldstättersee und Einsiedeln. Nur mehr 6 % der erwerbstätigen Wohnbevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig (95 % Tierhaltung), knapp 35 % im Sektor Industrie und Gewerbe sowie 59 % im Dienstleistungsbereich. Der Halbkanton Obwalden (OW), geographischer Mittelpunkt der Schweiz, erstreckt sich mit einer Fläche von 491 km 2 als breites, terrassenförmig abfallendes Tal vom Brünigpass bis zum Alpnachsee, einem Arm des Vierwaldstättersees. Das Melchtal als östliche Seitenkammer des Sarnertals und das touristisch bedeutsame Hochtal Engelberg - eine Enklave (erst 1815 schlossen sich die Benediktinerabtei und die Talgemeinschaft Engelberg Obwalden an) - runden das Bild einer reizvollen Voralpenlandschaft ab. Der Kanton umfasst 7 Gemeinden; Hauptort ist Sarnen (Wohnbevölkerung 2016: 37'376; Ausländeranteil: 14,5 %). Auch nach der Erschliessung durch Strasse und Bahn am Ende des 19. Jahrhunderts blieb Obwalden ein ausgesprochenes Bauernland. Land- und Forstwirtschaft, Holzverarbeitung und Fremdenverkehr (Wahlfahrten zum hl. Bruder Klaus nach Sachseln, Bergtourismus [Pilatus, Titlis]) waren bis gegen Mitte des 20.- Jahrhunderts die Haupterwerbsquellen. Im Laufe der 1950er Jahre betrieb man eine aktive Industrialisierungspolitik (Kunststoff und Apparatebau). So sind heute in der Land- und Forstwirtschaft 10 % beschäftigt, 35 % in Industrie und Gewerbe sowie 55 % im Dienstleistungssektor. <?page no="173"?> 173 2. Die Bistumsregion Urschweiz Nidwalden (NW) mit seinen elf Gemeinden ist im Norden durch den Vierwaldstättersee und in allen anderen Richtungen durch markante Höhenzüge begrenzt; seine Fläche beträgt 276 km 2 . Gemäss Einwohnerstatistik von Ende 2016 leben insgesamt 42'547 Personen in diesem Halbkanton (davon 13,9 % Ausländer). Hauptort ist Stans. Die Landsgemeinde als höchste kantonale Gewalt, 1965 trotz Einführung einer neuen Kantonsverfassung noch fest verankert, wurde nach 600 Jahren 1997 abgeschafft. Wirtschaftlich blieb Nidwalden bis ins 20.-Jahrhundert ein Agrarland. Vieh und Milchprodukte wurden vorwiegend in den Tessin und nach Oberitalien exportiert. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bekamen Industrie (Rotzloch), Handel, Gewerbe und Tourismus einen steigenden Stellenwert, ohne vorerst die prägende Stellung von Land- und Alpwirtschaft im öffentlichen Leben zu gefährden. Heute ist Nidwaldens Wirtschaft geprägt durch eine Vielzahl von kleinen und mittelgrossen Unternehmen aus verschiedenen Branchen (grösster Arbeitsgeber ist die Pilatus-Flugzeugwerke AG in Stans). Das Erstellen eines kantonseigenen Elektrizitätswerkes (1934) und der Ausbau des Strassen- und Schienennetzes (seit 1954) führte zu einer markanten Beschleunigung der technischen und sozialen Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten vermochte auch der Dienstleistungssektor zu expandieren (heute ca. 55 %). Im 19. Jahrhundert waren die Churer Administrationsgebiete des ehemaligen Bistums Konstanz, Uri, Ob- und Nidwalden sowie der durch Vertrag von 1824 zum Bistum Chur geschlagene Kanton Schwyz fast ausnahmslos katholisch. Dieses konfessionell geschlossene Bild blieb im Wesentlichen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unverändert. 1989/ 90 waren im Kanton Uri 89 % katholisch, im Jahr 2000 85,8 %, 2012 noch 81,6- %. Die Evangelisch-reformierte Landeskirche konnte im Urnerland zur Zeit der beginnenden Industrialisierung Fuss fassen. Bereits 1885 gründeten reformierte Eisenbahner und Industrieangestellte die «Protestantische Kirchengemeinde Uri». Sie verfügt heute über Gotteshäuser in Altdorf, Andermatt, Erstfeld und Göschenen. Ihre Gläubigen werden von drei Pfarrämtern in Altdorf, Erstfeld und Andermatt seelsorgerlich betreut. In Ausser- und Innerschwyz liegt der Prozentsatz der katholischen Bevölkerung heute bei noch 62,8 [Stand: 2013]. Das Schwyzer Selbstverständnis war immer in hohem Masse religiös bestimmt. Die Stellung der Katholischen Kirche war in Politik und Alltag lange ungebrochen stark. Durch Zuzügler erhielt der Kanton allmählich grössere konfessionelle Minderheiten, unter denen die Evangelisch-Reformierten mit 11,9 % die stärkste Gruppe stellt; über 14 % bezeichnen sich heute aber als konfessionslos. Obwalden wies 1990 sogar noch 92 % Katholiken auf, zehn Jahre später noch 80 %, 2013 waren es noch 74,2 %. Die heute integrierte evangelisch-reformierte Minderheit (7,8 %) ist im 20. Jahrhundert zugewandert und umfasst sechs Gemeinden im Sarnerseetal und die Kirchgemeinde Engelberg. In Nidwalden überschritt 2012 der protestantische Anteil leicht die 10 %-Marke. Die Katholiken Nidwaldens (2012: 68,8 %) haben die Reformierten als ‹Heiden› erst seit der eidgenössischen Niederlassungsfreiheit von 1848 ins Land gelassen und lange nur widerwillig geduldet. Heute besteht die evangelisch-reformierte Kirche aus einer Kirchgemeinde mit den Gemeindekreisen Stans-Stansstad, Hergiswil und Buochs. 2012 bezeichneten sich 13,9 % als konfessionslos. In den ehemals katholischen Stamm- <?page no="174"?> 174 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … landen der Schweiz sind die Zahlen der als konfessionslos registrierten Personen in den letzten zehn Jahren stark angestiegen und liegen durchschnittlich bei 13 %. Seit 1970 umfasst die Urschweiz 5 Dekanate; das ab 1819 dem Bistum Chur mit Ausnahme Ursern und des Kantons Schwyz bis heute nur provisorisch angegliederte Territorium wird seit 1999 als «Bistumsregion Urschweiz» bezeichnet und zählt insgesamt 84 Ortssowie 1 Personalpfarreien (Stand: Januar 2018). Bistumsregion Urschweiz Dekanat Uri (24 Pfarreien) Altdorf, St. Martin Seelsorgeraum Altdorf Altdorf, Bruder Klaus Amsteg, Heilig Kreuz Andermatt, St. Peter und Paul Attinghausen, St. Andreas Bristen, St. Maria - Mutter vom Guten Rat mit Maderanertal Bürglen, St. Peter und Paul Erstfeld, St. Ambrosius Flüelen, Herz Jesu Göschenen, St. Mariae Aufnahme in den Himmel - Göscheneralp, Mariae Schmerzen (Kaplanei) Seelsorgeraum Urner Oberland Gurtnellen Dorf, St. Michael Gurtnellen Wiler, St. Josef Wassen, St. Gallus - Meien, St. Margaretha (Kaplanei) Hospental, St. Mariae Aufnahme in den Himmel Realp, Heilig Kreuz Schattdorf, St. Mariae Aufnahme in den Himmel Bauen, St. Idda Seelsorgeraum Seedorf-Bauen-Isenthal Isenthal, St. Theodul Seedorf, St. Ulrich Seelisberg, St. Michael Silenen, St. Albin Sisikon, St. Josef (früher St. Ägidius) Spiringen, St. Michael - Urnerboden, St. Erhard (Kaplanei) Unterschächen, St. Theodul <?page no="175"?> 175 2. Die Bistumsregion Urschweiz Dekanat Innerschwyz (22 Pfarreien) Alpthal, St. Apollonia Arth, St. Georg und Zeno - Rigiklösterli, Maria zum Schnee (Pfarr-Vikariat) Seelsorgeraum Arth-Goldau-Lauerz Goldau, Herz Jesu Lauerz, St. Nikolaus Oberarth, Maria Immaculata Personalpfarrei für die ausserordentliche Form des römischen Ritus [für das Gebiet der Urschweiz] Gersau, St. Marcellus Ibach, St. Antonius Eremit Illgau, Hl. Dreikönige Immensee, St. Sebastian Ingenbohl, St. Leonhard - Brunnen, Hl. Dreifaltigkeit Küssnacht am Rigi, St. Peter und Paul - Merlischachen, St. Jakobus d. Ä. (Pfarr-Rektorat) Morschach, St. Gallus Muotathal, St. Sigismund - Bisisthal, Herz Jesu (Kaplanei) - Ried (Muotathal), Maria vom Guten Rat (Kaplanei) Oberiberg, St. Johannes d. T. Riemenstalden, Maria vom Guten Rat Abb. 121-123 (von links nach rechts): Pfarrkirchen St. Mariae Aufnahme in den Himmel in Schattdorf, St.-Maria - Mutter vom Guten Rat in Bristen und St. Michael in Seelisberg [BAC.BA] <?page no="176"?> 176 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Rothenthurm, St. Antonius Eremit - Biberegg, Unsere Liebe Frau von Loreto (Kaplanei) Sattel, St. Peter und Paul Schwyz, St. Martin - Aufiberg, Liebfrauen (Kaplanei) Seewen, Unsere Liebe Frau von Seewen Steinen, St. Jakobus d. Ä. Steinerberg, St. Anna Studen, St. Wendelin Unteriberg, St. Josef Dekanat Ausserschwyz (17 Pfarreien) Altendorf, St. Michael Buttikon, St. Josef Einsiedeln, St. Mariae Aufnahme in den Himmel - Bennau, St. Sebastian (Pfarr-Vikariat) - Egg, St. Johannes d. T. (Pfarr-Vikariat) - Euthal, Mariae Schmerzen (Pfarr-Vikariat) - Gross, St. Johannes Nepomuk (Pfarr-Vikariat) - Trachslau, St. Stephanus (Pfarr-Vikariat) - Willerzell, St. Josef (Pfarr-Vikariat) Feusisberg, St. Jakobus d. Ä. Freienbach, St. Adelrich - Pfäffikon, St. Meinrad (Pfarr-Rektorat) Galgenen, St. Martin Innerthal, St. Katharina von Alexandrien Lachen, Heilig Kreuz Nuolen, St. Margaretha Reichenburg, St. Laurentius Abb. 124/ 125: Pfarrkirchen St. Georg und Zeno in Arth (links) und St. Marcellus in Gersau (rechts) [BAC.BA] <?page no="177"?> 177 2. Die Bistumsregion Urschweiz Schübelbach, St. Konrad Siebnen, Herz Jesu Tuggen, St. Erhard und Viktor Vorderthal, St. Peter und Paul Wangen, St. Kolumban Wollerau, St. Verena Seelsorgeraum Berg Schindellegi, St. Anna Dekanat Obwalden (11 Pfarreien) Alpnach, St. Maria Magdalena Engelberg, St. Mariae Aufnahme in den Himmel mit Trübsee Giswil, St. Laurentius - Kleinteil, St. Antonius von Padua (Kaplanei) Grossteil, St. Antonius Eremit Kerns, St. Gallus - St. Niklausen, St. Nikolaus (Kaplanei) Lungern, Herz Jesu - Bürglen/ OW, St. Wendelin (Kaplanei) Melchtal, Mariae Namen Sachseln, St. Theodul - Flüeli-Ranft, St. Carlo Borromeo (Kaplanei) Sarnen, St. Peter und Paul Seelsorgeraum Sarnen Schwendi, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis Kägiswil, St. Mariae Aufnahme in den Himmel Abb. 126-128 (von links nach rechts): Pfarrkirchen St. Adelrich in Freienbach, St. Margaretha in Nuolen und St. Erhard und Viktor in Tuggen [BAC.BA] <?page no="178"?> 178 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Dekanat Nidwalden (11 Pfarreien) Beckenried, St. Heinrich Buochs, St. Martin Dallenwil, St. Laurentius - Wiesenberg, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis (Kaplanei) Seelsorgeraum Engelbergertal Wolfenschiessen, St. Mariae Geburt - Oberrickenbach, St. Peter und Paul (Kaplanei) Emmetten, St. Jakobus d. Ä. und Theresia vom Kinde Jesu Ennetbürgen, St. Antonius Eremit Ennetmoos, St. Jakobus d. Ä. Hergiswil, St. Nikolaus Obbürgen, St. Antonius von Padua Stans, St. Peter und Paul - Büren, Bruder Klaus (Kaplanei) - Kehrsiten, Maria in Linden (Kaplanei) - Niederrickenbach, Unsere Liebe Frau im Ahorn (Kaplanei) Stansstad, Heilige Familie Abb. 132: Innenraum der Kirche in St. Niklausen (zu Kerns) [BAC.BA] Abb. 129-131 (von links nach rechts): Pfarrkirchen St. Maria Magdalena in Alpnach-Dorf, Herz Jesu in Lungern, Mariae Namen in Melchtal [BAC.BA] <?page no="179"?> 179 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus Wie Graubünden ist auch der Bistumskanton Glarus (GL) mit seinen 685 km² (inkl. Anteil Walensee) Gebirgsland. Grosse Höhendifferenzen prägen das Land; der tiefste Punkt liegt in der Linthebene (414 m), die höchste Erhebung ist der Tödi (3'614 m). 71 % des Kantons liegen in mehr als 1'200 Metern ü. M. (landwirtschaftliche Nutzfläche: 30,5-%). Die Einwohnerzahl des seit 2011 nur mehr drei Einheitsgemeinden (Glarus Nord - Glarus Mitte - Glarus Süd) zählenden Kantons betrug 2016 40'141 Personen (Ausländeranteil: 23,3 %). Bis Ende 2010 zählte Glarus noch 13 Gemeinden: Bilten, Ennenda, Glarus, Haslen, Linthal, Luchsingen, Mitlödi, Mollis, Näfels, Netstal, Niederurnen, Oberurnen und Schwanden. Die Glarner Mundart ist nicht einheitlich, gemeinsam jedoch ist den glarnerischen Idiomen die melodiöse, singende Sprache. Die konfessionellen Zahlen für das Jahr 2000 sprechen von 44 % evangelisch-reformierten Christen und 37,3 % Katholiken; 6,5 % der Einwohner bezeichneten sich als konfessionslos. Zwischen 1500 und 1800 bildete die Reisläuferei eine der Hauptverdienstquellen der Glarner. Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass die Glarner schon früh keine Selbstversorger mehr waren. Sie sicherten sich bereits im 15. Jahrhundert ihr Auskom- Abb. 133/ 134: Pfarrei St. Antonius von Padua in Obbürgen (links) und Kaplanei Maria in Linden in Kehrsiten (rechts) [BAC.BA] Abb. 135-138 (von links nach rechts): Pfarrkirchen St. Martin in Buochs, St. Jakobus d. Ä. in Ennetmoos, St.-Nikolaus in Hergiswil und St. Peter und Paul in Stans [BAC.BA <?page no="180"?> 180 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … men mit Viehexport und Handel mit Milchprodukten. Der Alpwirtschaft kommt heute noch Bedeutung zu; je Alpsommer werden rund 4'000 Tonnen Milch verarbeitet. Bereits im 16. und vermehrt im 17. Jahrhundert kam der Handel mit gewerblichen Produkten und die Handspinnerei auf. Um 1740 hielt die Fabrikindustrie (Weberei) Einzug ins Tal. Als Folge des Einsatzes von Maschinenspinnerei und -weberei war Mitte des 19. Jahrhunderts eine grosse Auswanderungswelle zu verzeichnen; jede zwölfte Person verliess das Glarnerland. An diese prekäre Wirtschaftslage erinnert die Siedlung «New Glarus» im Staate Wisconsin/ USA, welche 1845 von Auswanderern errichtet wurde. Um 1865 kam es dann zum «glarnerischen Wirtschaftswunder»; die Textilindustrie bot über 10'000 Arbeitsplätze. Der Niedergang der Druck- und Textilindustrie gegen Ende des 19.-Jahrhunderts traf das Land noch einmal hart. Dennoch zählt der Kanton Glarus heute mit bedeutenden High-Tech-Unternehmen (nicht nur in der Textilbranche) zu der am stärksten industrialisierten Region der Schweiz; der Anteil der in der Industrie Beschäftigten liegt bei 56-%. Daneben verzeichnet auch der Dienstleistungssektor ein langsames, aber stetes Wachstum. Der vielgestaltige Kanton Zürich (ZH), 1'729 km², liegt im ostschweizerischen Mittelland und erstreckt sich vom Rhein an der nördlichen Landesgrenze bis ins Alpenvorland. Er setzt sich aus 12 Bezirken mit 168 politischen Gemeinden zusammen. Mit über 1,4 Millionen Einwohner (Stand 2016) ist Zürich der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz und gehört zu den dichtbesiedelten Räumen Europas (860 Personen/ km²). Die Agglomeration Zürich, welche auch ausserkantonale Gebiete umfasst, ist der mit Abstand grösste Ballungsraum der Schweiz; beinahe eine Million Menschen wohnen und arbeiten Abb. 139: Blick auf Schwanden [BAC.BA] <?page no="181"?> 181 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus hier. Grösste Gemeinde ist die Stadt Zürich (2016: 402'762 Einwohner, Ausländeranteil: 32,1 %), nach Grösse und wirtschaftlicher Bedeutung gefolgt von Winterthur (2016: 109'775Einwohner); weitere 28 Gemeinden zählen mehr als 10'000 Einwohner. Die Stadt Zürich entwickelte sich seit dem späten Mittelalter zu einer erfolgreichen Handwerker- und Kaufmannsstadt. Mit Beginn der Industrialisierung entstand im Zürcher Oberland eine Textilproduktion, die bis heute Tradition hat. 1836 zählte man 105 Fabriken. In der zweiten Hälfte des 19.-Jahrhunderts konnte Zürich die neu gewonnenen Freiheiten des schweizerischen Bundesstaates für den Ausbau der Maschinenindustrie und des Bankwesens nutzen. Für die wirtschaftliche Prosperität von Bedeutung waren ferner die Gründung der Universität (1833) und die Entscheidung, Zürich zum Sitz der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) zu machen (1855). Im 20. Jahrhundert trugen der Ausbau von Zürich-Kloten zum interkontinentalen Flughafen und desjenigen des Schienennetzes der SBB (Hauptbahnhof Zürich als Knotenpunkt) zum raschen Wachstum des Dienstleistungssektors bei (heute etwa 65-%). Dagegen arbeiten nur mehr 3 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft. Von den 168 Gemeinden können 35 als ländliche Gemeinden eingestuft werden. Trotzdem ist Zürich ein nicht unbedeutender Landwirtschaftskanton geblieben. 43,4 % der Fläche werden landwirtschaftlich genutzt (davon 40 % Ackerland); ferner werden auf ca. 600 ha Reben angebaut (Zürcher Weinland: Bezirke Andelfingen und Bülach). Durch seine wirtschaftliche Entwicklung, sein demographisches und politisches Gewicht ist der Kanton Zürich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Brennpunkt schweizerischen Geschehens mit starker internationaler Verflechtung geworden. Nicht nur gesamt-schweizerische Wachstumsimpulse gingen von hier aus, sondern in Zürich prallten zum einen auch scharfe Gegensätze wiederholt aufeinander (Ustertag und Fabrik-Brand von Uster 1830/ 32, Züriputsch 1839, Generalstreik 1918, Globus-Krawalle 1968, Jugendunruhen 1980), zum anderen zeigen sich hier soziale und wirtschaftliche Probleme (Drogen, Wohnungsnot, Armut) besonders deutlich. Abb. 140: Blick auf die Stadt Zürich [BAC.BA] <?page no="182"?> 182 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Infolge starker Zuwanderung (Zürich als Wirtschaftszentrum) und zunehmender Konfessionslosigkeit ist der Kanton heute multireligiös; keine der Gemeinschaften verfügt mehr über eine absolute Mehrheit. Öffentlich-rechtlich anerkannt sind die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, seit 1963 auch die Römisch-katholische Körperschaft des Kantons Zürich und die kantonalzürcherische Kirchgemeinde der Christkatholischen Kirche der Schweiz sowie auf der Grundlage der neuen Kantonsverfassung seit 2005 zwei der Zürcher jüdischen Gemeinden, wogegen andere es vorgezogen haben, privatrechtlich zu bleiben. 2011 zählten von der Wohnbevölkerung des Kantons Zürich 33,3 % zur evangelisch-reformierten Landeskirche, 28 % zur römisch-katholischen Kirche. Letztere führt, wie oben dargelegt, seit 1956 ein dem Bistum Chur unterstelltes eigenes Generalvikariat in der Stadt Zürich. Seit 1999 sind die beiden administrativ zu Chur gehörenden Bistumskantone Glarus und Zürich zur «Bistumsregion Zürich-Glarus» mit insgesamt 5 Dekanaten und 103 Pfarreien (GL: 8 / ZH: 94) zusammengefasst [Stand: Januar 2018]. Bistumsregion Zürich-Glarus Dekanat Glarus (8 Pfarreien) Glarus, St. Fridolin - Italienerseelsorge - Portugiesenseelsorge - Spanierseelsorge mit Ennenda und Riedern Schwanden, St. Mariae Aufnahme in den Himmel Seelsorgeraum Glarus-Süd mit Elm, Engi, Haslen, Mitlödi, Nidfurn und Schwändi Linthal, St. Mariae Aufnahme in den Himmel mit Braunwald und Rüti Luchsingen, St. Theresia vom Kinde Jesu mit Betschwanden, Diesbach, Hätzingen und Leuggelbach Näfels, St. Hilarius mit Filzbach, Mollis, Mühlehorn und Obstalden Netstal, Dreikönigen Niederurnen, St. Josef mit Bilten Oberurnen, Hl. Dreifaltigkeit Dekanat Zürich-Stadt (25 Pfarreien) Zürich-Neuaffoltern, Allerheiligen Zürich-Oberstrass, Bruder Klaus Zürich-Enge, Dreikönigen Zürich-Riesbach, Erlöser Zürich-Wipkingen, Guthirt Zürich-Höngg, Heilig Geist <?page no="183"?> 183 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus Zürich-Altstetten, Heilig Kreuz Zürich-Oerlikon, Herz Jesu Zürich-Wiedikon, Herz Jesu Zürich-Unterstrass, Liebfrauen Zürich-Leimbach, Maria-Hilf Zürich-Seebach, Maria Lourdes Zürich-Hottingen, St. Anton(ius) von Padua Seelsorgeraum St. Anton- Maria Krönung Zürich-Witikon, Maria Krönung Zürich-Hard, St. Felix und Regula Zürich-Wollishofen, St. Franziskus Zürich-Schwamendingen, St. Gallus Zürich-Industriequartier, St. Josef Zürich-Affoltern, St. Katharina von Alexandrien Zürich-Albisrieden, St. Konrad Zürich-Fluntern, St. Martin Zürich-Aussersihl, St. Peter und Paul Zürich-Friesenberg, St. Theresia vom Kinde Jesu Zürich, Parrocchia-Oratorio Personale Don Bosco Zürich, Paroisse catholique de langue française, Ste-Famille Abb. 141/ 142: Stadtpfarrkirche Liebfrauen in Zürich-Unterstrass, Innen- und Ausansicht [BAC.BA] <?page no="184"?> 184 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Dekanat Winterthur (28 Pfarreien) Bassersdorf, St. Franziskus mit Nürensdorf Bülach, Hl. Dreifaltigkeit mit Bachenbülach, Hochfelden, Höri und Winkel Dielsdorf, St. Paulus mit Bachs, Neerach, Niederweningen, Oberweningen, Regensberg, Schleinikon, Schöfflisdorf und Steinmaur Elgg, St. Georg Seelsorgeraum Elgg-Seuzach- Wiesendangen mit Hagenbuch und Hofstetten Seuzach, St. Martin mit Altikon, Dägerlen, Dinhard, Hettlingen und Thalheim an der Thur Wiesendangen, St. Stefan mit Bertschikon, Ellikon an der Thur, Elsau, Rickenbach-Sulz Embrach, St. Petrus mit Freienstein-Teufen, Lufingen, Oberembrach und Rorbas Glattfelden-Eglisau-Rafz, St. Josef St. Judas Thaddäus St. Maria Magdalena mit Hüntwangen, Stadel, Wasterkingen, Weiach, Wil Illnau-Effretikon, St. Martin mit Brütten und Lindau-Grafstal Kloten, Christkönig Kollbrunn, St. Antonius von Padua mit Kyburg, Schlatt, Weisslingen und Zell Niederhasli, St. Christophorus mit Niederglatt und Oberglatt Opfikon-Glattbrugg, St. Anna Pfungen, St. Pirminius mit Berg am Irchel, Buch am Irchel, Dättlikon, Dorf, Flaach, Hanggart, Neftenbach und Volken Regensdorf, St. Mauritius mit Boppelsen, Buchs, Dällikon, Dänikon, Hüttikon und Otelfingen Rheinau, Liebfrauen (Mariae Aufnahme in den Himmel) Rümlang, St. Petrus und Johannes Vianney Stammheim-Andelfingen • Stammheim, St. Mariae Unbefleckte Empfängnis • Andelfingen, St. Placidus und Sigisbert Seelsorgeraum Andelfingen- Feuerthalen mit Adlikon, Benken, Humlikon, Kleinandelfingen, Marthalen, Oberstammheim, Ossingen, Trüllikon, Truttikon, Unterstammheim und Waltalingen Feuerthalen, St. Leonhard mit Dachsen, Flurlingen und Laufen- Uhwiesen Turbenthal, Herz Jesu mit Wila und Wildberg <?page no="185"?> 185 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus Winterthur-Deutweg, Herz Jesu Seelsorgeraum Winterthur Herz Jesu-St. Urban Winterthur-Seen, St. Urban Winterthur, Missione Cattolica Italiana San Francesco Winterthur-Töss, St. Josef Winterthur-Wülflingen, St. Laurentius Winterthur-Oberwinterthur, St. Marien Winterthur-Neuwiesen, St. Peter und Paul Winterthur-Rosenberg, St. Ulrich Dekanat Albis (22 Pfarreien) Adliswil, Hl. Dreifaltigkeit Affoltern am Albis, St. Josef mit Aeugst am Albis, Hedingen, Obfelden und Ottenbach Birmensdorf, St. Martin - Uitikon-Waldegg, St. Michael (Pfarr-Rektorat) mit Aesch Bonstetten, St. Mauritius und Michael mit Stallikon und Wettswil am Albis Dietikon, St. Agatha + St. Josef Engstringen, St. Mauritius mit Ober- und Unterengstringen Geroldswil, St. Johannes d. T. mit Oetwil am See und Weiningen Hausen am Albis, Herz Jesu mit Kappel am Albis Hirzel, St. Antonius Eremit Horgen, St. Josef Abb. 143-145 (von links nach rechts): Pfarrkirchen St. Anna in Glattbrugg, Herz Jesu in Winterthur-Deutweg und Christkönig in Kloten [BAC.BA] <?page no="186"?> 186 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Kilchberg/ ZH, St. Elisabeth von Thüringen Langnau am Albis-Gattikon, St. Marien Mettmenstetten, St. Burkard mit Knonau, Maschwanden und Rifferswil Oberrieden, Heilig Chrüz Richterswil, Heilige Familie Rüschlikon, St. Nikolaus Schlieren, St. Josef Schönenberg-Hütten, Heilige Familie Thalwil, St. Felix und Regula Thalwil, St. Maximilian Kolbe Personalpfarrei für die ausserordentliche Form des römischen Ritus [für das Gebiet des Kantons Zürich]) Urdorf, Hl. Bruder Klaus Wädenswil, St. Mariae Aufnahme in den Himmel Dekanat Zürcher Oberland (20 Pfarreien) Bauma, St. Antonius von Padua - Bäretswil, Hl. Bruder Klaus (Pfarr-Rektorat) - Fischenthal, St. Gallus (Pfarr-Rektorat) mit Sternenberg Dietlikon, St. Michael Dübendorf, Maria Frieden - Fällanden, St. Katharina von Siena (Pfarr-Vikariat) Seelsorgeraum Dübendorf-Fällanden-Schwerzenbach Egg, St. Antonius von Padua - Maur-Ebmatingen, St. Franziskus (Pfarr-Vikariat) Seelsorgeraum St. Antonius - St. Franziskus, Egg-Maur Herrliberg, St. Marien (Mariae Aufnahme in den Himmel) Hinwil, Liebfrauen Abb. 146/ 147: Pfarrkirche St. Josef in Horgen (links) und Blick auf Wädenswil, im Vordergrund die katholische Pfarrkirche St. Mariae Aufnahme in den Himmel (rechts) [BAC.BA] <?page no="187"?> 187 3. Die Bistumsregion Zürich-Glarus Hombrechtikon, St. Nikolaus mit Grüningen und Wolfhausen Küsnacht/ ZH, St. Georg mit Erlenbach Männedorf, St. Stephan mit Uetikon am See Meilen, St. Martin Pfäffikon/ ZH, St. Benignus mit Fehraltorf, Hittnau und Russikon Rüti-Dürnten-Bubikon, Hl. Dreifaltigkeit Stäfa, St. Verena Uster, St. Andreas Volketswil, Hl. Bruder Klaus - Greifensee, Hl. Johannes XXIII. (Pfarr-Rektorat) Wald/ ZH, St. Margarethen Wallisellen, St. Antonius von Padua mit Wangen-Brüttisellen Wetzikon, St. Franziskus - Gossau/ ZH, Maria Krönung (Pfarr-Rektorat) mit Seegräben Zollikerberg-Zumikon, St. Michael Seelsorgeraum Zollikon, Zollikerberg-Zumikon Zollikon, Hl. Dreifaltigkeit Abb. 148/ 149: Spendenverdankung im Dezember 1946 durch Pfarrer Franz Höfliger (1938-1949) zum Bau der Pfarrkirche St. Verena in Stäfa (links) mit Bild nach ihrer Fertigstellung (rechts) [BAC.BA] Abb. 150/ 151: Pfarrkirchen Maria Frieden in Dübendorf noch ohne Kirchturm (links) und St. Benignus in Pfäffikon/ ZH (rechts) [BAC.BA] <?page no="188"?> 188 VI. Raum, Bevölkerung, Wirtschaft und kirchliche Verhältnisse in den heutigen Bistumskantonen … Gesamtübersicht [Stand: Januar 2018] Bistumsregion Dekanate Lokalpfarreien Personalpfarreien Seelsorgeräume Graubünden 6 119 --- 1 Urschweiz 5 84 1 7 Zürich-Glarus 5 99 4 8 Total 16 302 5 16 Abb. 152: Die Zirkumskription des Bistums Chur seit 1997, publiziert in: Erwin Gatz (Hrsg.), Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich - Deutschsprachige Länder, Regensburg 2009, S. 311) [BAC.BA] <?page no="189"?> 189 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen Die Schweiz zeichnet sich durch eine weltweit gesehen wohl einmalige Vielfalt und Eigenheit im Verhältnis zwischen Kirche und Staat aus. Die Bistumskantone der Diözese Chur kennen für Schweizer Verhältnisse typische Regelungen der Beziehung von Kirche und Staat. Die einzelnen Kantone verfügen im Rahmen der Bundesverfassung von 1874 über die Kirchenhoheit (Landeskirchen); sie regeln also das Verhältnis von Kirche und Staat - entwicklungsgeschichtlich gesehen eine Frucht der Reformation. In den sieben Kantonen bestehen neben den Pfarreien als kirchenrechtliche Einrichtung und in der Regel territorial umschriebene Gemeinschaft von Gläubigen zudem Kirchgemeinden als rein staatskirchen-rechtliche Institution mit öffentlich-rechtlicher Anerkennung. Eine Kirchgemeinde umfasst die auf einem bestimmten Gebiet wohnhaften Konfessionsangehörigen und bezweckt die Besorgung der äusseren ortskirchlichen Angelegenheiten (z.B. Verwaltung von Kirchengut). Zusammen und in wechselseitiger Ergänzung sollen Pfarrei und Kirchgemeinde die kirchlichen Aufgaben auf Gemeindegebiet erfüllen, welche aber seit dem 19. Jahrhundert keineswegs ohne die latente Gefahr von Übergriffen geleistet werden. 1. Kirche und Staat in Graubünden Unter Berufung auf vermeintliche Vorrechte aus der Reformationszeit (sog. «althergebrachte Rechte»), insbesondere auf die Ilanzer Artikel von 1524/ 26, welche zwar durch den Lindauer Vertrag von 1622 und die Scappischen Artikel von 1623 für null und nichtig erklärt worden waren, aber in Art. 30 der Kantonsverfassung von 1820 erneut Aufnahme fanden, versuchte das an die Stelle des rätischen Bundstags getretene gesetzgebende und exekutive Zentralorgan - der Grosse und Kleine Rat - im 1803 geschaffenen Kanton Graubünden weiterhin auf die geistlichen Belange und innerkirchlichen Angelegenheiten des im Umbruch befindlichen Bistums Chur Einfluss zu nehmen. Nach der Errichtung des Doppelbistums Chur-St. Gallen (1823), wogegen das bündnerische Corpus Catholicum (damals der katholische Teil des Grossen Rates) vergeblich opponiert hatte, verweigerte der Grosse Rat mit Beschluss vom 7. Juli 1824 die Anerkennung des Doppelbistums und erklärte, er werde bei der nächsten Sedisvakanz niemanden aus der Diözesangeistlichkeit Besitz ergreifen lassen, der nicht durch einheimische Kanoniker unter Berücksichtigung früherer Landesgesetze (sic! ) zum Bischof gewählt worden sei. Johann Georg Bossi, dem 1835 vom Papst ernannten Nachfolger des 1833 verstorbenen letzten Fürstbischofs Karl Rudolf von Buol-Schauenstein, verwehrte der Kleine Rat bis zur Auflösung des Doppelbistums 1836 die Residenznahme auf dem Hof in Chur. <?page no="190"?> 190 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen 1850 erregte die beiden christlichen Kirchen betreffende grossrätliche Verordnung über die Prüfung kirchlicher Erlasse vom 19. Oktober (sog. Placet) heftige, aber wenig fruchtende Gegenwehr; denn erst 1941 [! ] liess man diesen staatlichen Eingriff fallen. In Art. 1 heisst es: «Alle Anordnungen und Erlasse kirchlicher Behörden der einen oder andern Confession, welche bestimmt sind, direkt oder indirekt an das Volk zu gelangen, sollen vor ihrer Bekanntmachung, Mittheilung, Vollziehung oder Anwendung dem Kleinen Rath zur Einsicht Abb. 153: Verordnung über die Prüfung kirchlicher Erlasse vom 19. Oktober 1850 [BAC] <?page no="191"?> 191 1. Kirche und Staat in Graubünden vorgelegt werden.» Erst zusammen mit der sog. Einsichtsbescheinigung konnte ein kirchlicher Erlass, ein Hirtenwort publiziert oder verlesen werden. Zuwiderhandlungen wurden mit Geldbussen bis zu 300 Franken oder Gefängnis von 2 bis 50 Tagen geahndet. Die Kantonsverfassung von 1854 bezog das Kirchenwesen in die Gemeindeangelegenheiten mit ein. Die Konstituierung eigener Kirchgemeinden vollzog sich jedoch erst langsam. Die revidierte Kantonsverfassung von 1880 entliess die Kirchen aus staatlicher Vormundschaft in die Selbständigkeit. Infolge bildeten sich die katholische und evangelische Landeskirche, und aus den politischen Gemeinden lösten und konstituierten sich die Kirchgemeinden. Kantonale und Landeskirchliche Erlasse Graubünden • Verfassung des Kantons Graubünden vom 18. Mai 2003 • Verfassung der Katholischen Landeskirche Graubünden vom 4. Oktober 1959 • Übereinkommen betreffend das Pfarrwahlrecht der Kirchgemeinden vom 4.-September 1979 • Verordnung über das Verfahren bei Pfarrwahlen vom 20. November 1979 In der seit dem 1. Januar 2004 in Kraft stehenden Kantonsverfassung vom 18. Mai 2003 werden in Art. 98 die evangelisch-reformierte Kirche und die römisch-katholische Kirche «öffentlichrechtlich anerkannt». Beide Religionsgemeinschaften haben ihre inneren Verhältnisse (Lehre, Kultus, etc.) und ihr Vermögen selbständig zu ordnen [Art. 99.1]. Die kantonale Oberaufsicht im Allgemeinen und namentlich zwecks Erhaltung und richtiger Verwendung des Vermögens bleibt jedoch vorbehalten [Art. 99.4]. Die Landeskirchen und ihre Kirchgemeinden sind zur Erhebung von Steuern nach den für die politischen Gemeinden gültigen Grundsätzen berechtigt [Art. 99.2]. Ferner wird festgeschrieben, den Kirchgemeinden stehe das Recht zu, «ihre Geistlichen zu wählen und zu entlassen» [Art. 99.3] - ein hartnäckiges Überbleibsel der Ilanzer Artikel von 1526. Das Recht, die Geistlichkeit zu entlassen, ist im Übereinkommen von 1979 zwischen dem Bischof von Chur und der Verwaltungskommission der Katholischen Landeskirche Graubünden nicht mehr vorgesehen; an deren Stelle trat die Bitte der Kirchgemeinde an den Diözesanbischof, die Prüfung eines Amtswechsels des Seelsorgers durch den Ordinarius zu verlangen. 1959 hat der katholische Bevölkerungsteil Bündens in einer Volksabstimmung die Verfassung der Katholischen Landeskirche Graubünden angenommen; Teilrevisionen erfolgten 1984 und 1993, wodurch die Kirchgemeinden eine Aufwertung erfuhren. Die wichtigsten Organe sind (1.) das Corpus Catholicum [CC] als oberste landeskirchliche Behörde mit freiwilligen katholischen Vertretern des kantonalen Grossen Rats und der Regierung, ferner mit 60 Delegierten der Kirchgemeinden sowie zwei Delegierten des bischöflichen Ordinariates. Die Delegierten des Bischöflichen Ordinariats und der Kirchgemeinden werden auf 4 Jahre gewählt, sind aber unbeschränkt wieder wählbar. Normalerweise tagt das CC einmal jährlich; die Verhandlungen im Grossratssaal in Chur sind in der Regel öffentlich. Als 2. Organ der Katholischen Landeskirche Graubündens ist die Verwaltungskommission als fünfköpfige Exekutive zu nennen. Der Präsident und drei <?page no="192"?> 192 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen Mitglieder werden durch das CC für 4 Jahre gewählt (zweimal wieder wählbar); das fünfte Mitglied bestimmt das Ordinariat (unbeschränkt wieder wählbar). Die Kommission vertritt den katholischen Konfessionsteil gegenüber den kirchlichen und bürgerlichen Behörden und legt dem CC einen Jahresbericht vor. Interessant sind ihre Befugnisse; u.a. seien hier genannt: - Vollzug der landeskirchlichen Gesetze, der Verordnungen und Beschlüsse des CC, - Vorbereitung der Geschäfte des CC, - Verwaltung der kantonalen katholischen Kirchenkasse und der landeskirchlichen Fonds, - Aufsicht über die Kirchgemeinden, - Festsetzung der Grenzen der Kirchgemeinden. Die Katholische Landeskirche von Graubünden Die Katholische Landeskirche von Graubünden ist eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Sie ordnet die landeskirchenrechtlichen Verhältnisse des katholischen Landesteils unter Berücksichtigung der Gesetze der römisch-katholischen Kirche und der Kantonsverfassung. Sie unterstützt und fördert im Rahmen ihrer Befugnisse und Möglichkeiten die Belange der römisch-katholischen Kirche im Kanton Graubünden. • Organe der Katholischen Landeskirche Gesamtheit der stimmberechtigten römisch-katholischen Kantonseinwohner/ innen Corpus Catholicum [CC] Verwaltungskommission Rekurskommission Kirchgemeinden [93 (Stand: 2016)] Kirchgemeindevorstände • Befugnisse / Dienstleistungen der Katholischen Landeskirche: bezahlt Ausgleichsbeiträge an die (ausgleichsberechtigten) Kirchgemeinden leistet Bau- und Werkbeiträge an die Kosten der Kirchgemeinden für Neubauten, Umbauten und Renovationen von Kirchen, Kapellen, Pfarr- und Kirchgemeindehäusern genehmigt Erlasse der Kirchgemeinden unterhält Fachstellen (z.B. Katechetisches Zentrum, Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen) bezahlt Beiträge an kantonale katholische Organisationen unterstützt soziale und caritative Werke finanziert diözesane und schweizerische Fachstellen und Projekte mit <?page no="193"?> 193 2. Kirche und Staat in der Urschweiz 2. Kirche und Staat in der Urschweiz a) Schwyz Der 1824 definitiv an Chur angeschlossene Stand Schwyz hielt in seiner Verfassung von 1848 bis zu ihrer Totalrevision von 1876 am System des Staatskirchentums fest: «Die christliche, römisch-katholische Religion ist die einzige Religion des Staates und die freie Ausübung derselben ist garantiert.» [Art. 2] Ein weiteres Indiz der restriktiven schwyzerischen Politik des Staatskirchentums im 19. Jahrhundert war die Statuierung der Einheitsgemeinden. Bis zur Änderung der Kantonsverfassung 1992 existierten neben 20- selbständigen römisch-katholischen Kirchgemeinden (seit 1898 fakultativ) noch 17 Einheitsgemeinden (seit 1848), d.h. Kommunen, bei denen politische Gemeinde und Kirchgemeinde identisch waren. Mit Inkrafttreten der Kantonsverfassung von 1876 trat an Stelle des Staatskirchentums die Religionsfreiheit. In der Fassung von 1898 schliesslich erkennt man weitere Kompetenzausscheidungen zwischen Kirche und Staat. Insbesondere wurden die bis dahin noch bestehenden repressiven Massnahmen gegenüber den Klöstern im Kanton fallengelassen und die Möglichkeit zur Bildung von öffentlich-rechtlichen katholischen wie evangelisch-reformierten Kirchgemeinden als staatskirchliche Organe geschaffen, worüber dem Staat die Oberaufsicht zukam. Kantonale und landeskirchliche Erlasse Schwyz • Verfassung des eidgenössischen Standes Schwyz vom 23. Oktober 1898 • Organisationsstatut der Römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz vom 8. April 1998 (beschlossen vom Kantonsrat des Kantons Schwyz) • Vereinbarung zwischen dem Bistum Chur und der Römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz betreffend die kirchlichen Stiftungen im Kanton Schwyz (1.-März / 12. Mai 2001) • Gesetz über die Organisation der Kirchgemeinden vom 20. September 2002 (beschlossen vom Kantonskirchenrat) • Verfassung der Römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz vom 17. Oktober 2014 Im Zuge der vom Schwyzer Stimmvolk 1992 genehmigten Teilrevision der Kantonsverfassung nahm man auch eine Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat in Angriff. Vertreter der Kirch- und Einheitsgemeinden arbeiteten ein Organisationsstatut der römisch-katholischen Kantonalkirche aus. Doch in der Volksabstimmung vom 8. Juni 1997 verwarfen die römisch-katholischen Stimmberechtigten nach einem emotional geführten Abstimmungskampf die ihnen vorgelegte Verfassung (6.-November 1996) der römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz. Die eigentliche Gründung einer Kantonalkirche blieb infolge bis 2014 blockiert. Nach Vorlage der vorbereitenden Kommission an den Kantonsrat trat laut Kantonsratsbeschluss ersatzweise das «Organisationsstatut <?page no="194"?> 194 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen der Römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz» am 1. Januar 1999 in Kraft. Erst mit Datum vom 17. Oktober 2014 trat dann die neue «Verfassung der Römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz» in Kraft. Römisch-katholische Kantonalkirche Schwyz Die Römisch-katholische Kantonalkirche Schwyz ist die staatskirchenrechtliche Organisation der römisch-katholischen Kantonseinwohnerinnen und -einwohner. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit und hat ihren Sitz in Einsiedeln. Unter Vorbehalt der Rechte des Kantons regelt die Kantonalkirche für sich und für die Kirchgemeinden die Beziehungen zum Bistum Chur und zum Kloster Einsiedeln auf vertraglichem Weg. Die Kantonalkirche gliedert sich in Römisch-katholische Kirchgemeinden, die zusammen das ganze Kantonsgebiet umfassen. • Organe der Kantonalkirche: Stimmberechtigte Kantonseinwohner/ innen Kantonskirchenrat mit 60 Mitgliedern Kantonale Kirchenvorstand mit 5 Mitgliedern Rekurskommission Kirchgemeinden [37 (Stand: 2014)] • Aufgaben / Dienstleistungen der Kantonalkirche: - Festlegung von Organisation und Verfahren der Organe - Unterstützung der Kirchgemeinden - Sicherstellung eines Finanzausgleichs für die Kirchgemeinden administrative Unterstützung und/ oder Finanzierung von Aus- und Weiterbildungen von katechetisch Tätigen und in der Kirche Mitarbeitenden - Organisation und/ oder Finanzierung von Spezialseelsorgern - Unterstützung von kirchlichen Einrichtungen und Tätigkeiten - Mitgliedschaft in überregionalen, nationalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften und Organisationen Die staatskirchenrechtliche Entflechtung aller bisherigen Einheitsin selbständige Kirchgemeinden hatte mit Blick auf das Ausscheiden zweckbestimmten kirchlichen Eigentums und Vermögens (Kirchen, Pfarrhäuser, Grundstücke, Immobilien) Probleme mit sich gebracht. Entsprechend waren genaue Abklärungen darüber notwendig, wer Eigentümer der kirchlichen Vermögenswerte ist bzw. werden sollte. In langfristiger Perspektive war es angezeigt, die altrechtlichen kirchlichen Vermögensgüter als selbständige Stiftungen zu führen. Eine Vereinbarung zwischen dem Bistum Chur und der Kantonalkirche betreffend die kirchlichen Stiftungen im Kanton Schwyz, die teilweise oder ganz von Kirchgemeinden unterstützt werden, konnte am 5. April 2001 getroffen werden. <?page no="195"?> 195 2. Kirche und Staat in der Urschweiz b) Uri Die bedeutsame Vorgabe in der Kantonsverfassung des Landes Uri von 1984 schreibt fest, die Landeskirchen hätten sich «nach demokratischen Grundsätzen» zu organisieren [Art. 8.1], was für die hierarchisch verfasste Religionsgemeinschaft wie die katholische Kirche nicht unproblematisch ist. Das 1984 zur Genehmigung durch den Regierungsrat angeforderte Organisationsstatut trat nach weiteren Überarbeitungen als «Verfassung der Römisch-Katholischen Landeskirche Uri» 2004 in Kraft. Laut dieser Verfassung gliedert sich der Kanton Uri in 23 Kirchgemeinden; sie sind «die öffentlich-rechtlichen Körperschaften ihrer römisch-katholischen Einwohnerinnen und Einwohner» [Art. 2.3]. Die bisherige und zukünftige Einteilung des Gebietes in Pfarreien [24] wird durch die Gebietsgrenzen der Kirchgemeinden nicht präjudiziert [Art. 2.5]. Die Landeskirche überweist im Rahmen ihrer Kompetenzen die eigenen und die Beiträge der Kirchgemeinden an das Bistum [Art. 4.3]. Aus dem Aufgabenheft sind folgende Bereiche hervorgehoben - Schwerpunkt liegt im Finanzbereich: 1. Mitfinanzierung regionaler Seelsorge- und Caritasaufgaben, 2. Mitfinanzierung der Fremdsprachigenseelsorge, 3. Unterstützung kirchlicher Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, 4. Regelung des Finanzausgleichs unter den Kirchgemeinden sowie 5. Erarbeitung und Vorlagen der Anstellungs- und Besoldungsverhältnisse der Seelsorger und Mitarbeiter/ innen in der Pastoral. Kantonale und Landeskirchliche Erlasse Uri • Verfassung des Kantons Uri vom 28. Oktober 1984 • Vereinbarung zwischen dem Kanton Uri und der Römisch-katholischen Landeskirche Uri zur Neuregelung ihres gegenseitigen Verhältnisses vom 6. Juni 1994 • Verfassung der Römisch-katholischen Landeskirche Uri vom 16. Mai 2004 (Landeskirchenbeschluss) Der Grosse Landeskirchenrat zählt 40 Delegierte; dem Dekanat angehörige Personen sind als Delegierte der Kirchgemeinden nicht wählbar (Amtsperiode: 4 Jahre). Sitzungen finden normalerweise zweimal jährlich statt. Daneben existiert der Kleine Landeskirchenrat mit 5 Mitgliedern, wobei ein Mitglied aus dem Dekanat kommt (Amtsperiode: 2 Jahre). Seine Aufgabe als Vertretung der Landeskirche nach aussen ist es, die Geschäfte des Grossen Landeskirchenrat vorzubereiten sowie deren Beschlüsse umzusetzen; ferner sorgt er für eine geordnete Rechnungsführung und jährliche Rechnungsablage. <?page no="196"?> 196 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen c) Obwalden In Obwalden wird die römisch-katholische Konfession «als Mehrheitsbekenntnis» in der Kantonsverfassung von 1968 anerkennt und geniesst wie die evangelisch-reformierte Kirche den Schutz des Staates [Art. 3.1], beide Kirchen ordnen ihre Angelegenheiten selbständig. Interessant ist der Passus in Art. 7 der Verfassung. Da Obwalden nach wie vor definitiv keiner Diözese angehört, verankerte man bzgl. Bistumsfrage zwei Paragraphen: 1. Ein Konkordat über die Zugehörigkeit zu einem Bistum bedarf der Ratifikation durch den Kantonsrat. 2. Zur Mitwirkung beim Abschluss des Konkordates ist der Regierungsrat zuständig. Des weiteren verankerte man den Religionsunterricht als Pflichtfach auf allen Schulstufen in der Verfassung [Art. 8]. Grundelement der staatlichen Kirchenorganisation ist der 1976 gegründete Verband der 6 römisch-katholischen Kirchgemeinden als öffentlich-rechtliche Körperschaft (umfasst 11 Pfarreien) [Alpnach, Giswil, Kerns, Lungern, Sachseln, Sarnen]. Der Verband vertritt die gemeinsamen Interessen seiner Mitglieder nach aussen, koordiniert und regelt deren gemeinsamen Anliegen. Weiter bezweckt der Verband die Erfüllung übergreifender kirchlicher Aufgaben und die Unterstützung kirchlicher caritativer und sozialer Organisationen. Kantonale und Landeskirchliche Erlasse Obwalden • Verfassung des Kantons Obwalden vom 19. Mai 1968 • Statut des Verbands römisch-katholischer Kirchgemeinden des Kantons Obwalden vom 18. Dezember 2001 d) Nidwalden Art. 34.1 der Kantonsverfassung von Nidwalden aus dem Jahre 1965 schreibt fest: «Die römisch-katholische Kirche ist Landeskirche». Die landeskirchliche Organisation bezieht sich aber nicht auf die römisch-katholische Kirche als solche, sondern auf eine von ihr zu unterscheidende kantonalkirchliche Körperschaft. Die Arbeiten zu einer Verfassung der Römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Nidwalden reichen ins Jahr 1972 zurück; 1974 beschlossen die Kirchenräte die Schaffung einer Kommission. Nach zwei Entwürfen gelangte die ausgearbeitete Version zur Volksabstimmung; sie wurde am 26. Oktober 1975 angenommen. Nach Genehmigung durch den Landrat trat die Verfassung am 2. Juli 1976 in Kraft. Die Römisch-katholische Landeskirche Nidwaldens gliedert sich demnach in 14 Kirchgemeinden und Kapellgemeinden (Stans, Ennetmoos, Dallenwil, Stansstad, Obbürgen, Kehrsiten, Büren, Buochs, Ennetbürgen, Wolfenschiessen, Oberrickenbach, Beckenried, Hergiswil, Emmetten). Interessant ist in diesem Statut von 1975, dass die Pfarrwahl (im Gegensatz zu Graubünden) nicht vorgeschrieben wird, vielmehr heisst es in Art. 11.1: «Die Wählbarkeit zu einem geistlichen Amt richtet sich nach der kirchlichen Rechtsordnung.» Und in Art. 11.2 lesen wir: «Für die geistlichen Ämter besteht keine bestimmte Amtsdauer; die Abberufung von einem geistlichen Amte richtet sich nach der <?page no="197"?> 197 3. Kirche und Staat im Kanton Glarus kirchlichen Rechtsordnung.» Entsprechend ist in Nidwalden die bischöfliche Kurie frei, die Pfarrer und Seelsorger ohne vorherige durchgeführte Wahl zu ernennen und in ihr Amt einzusetzen. Kantonale und Landeskirchliche Erlasse Nidwalden • Verfassung des Kantons Unterwalden nid dem Wald vom 10. Oktober 1965 • Verordnung über die Verwaltung des Diözesanfonds vom 8. Februar 1964 • Verfassung der Römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Nidwalden vom 26.-Oktober 1975 3. Kirche und Staat im Kanton Glarus Die regen Diskussionen um eine neue Verfassung für den Kanton Glarus tangierten 1835 wiederholt drei kirchliche Problemfelder: das vom Churer Bischof Bossi ausgesprochene Verbot zur Teilnahme der Katholiken an der jährlichen Näfelserfahrt-Feier, den Priestereid auf die neue Verfassung und das Recht auf Ein- und Absetzung der Geistlichen. Am 2. Oktober 1836 nahm die Landsgemeinde, auf der nur der protestantische Volksteil anwesend war, die Verfassungsänderung an. In der Folge löste man die eidgenössisch garantierten Verträge zwischen den bislang gleichberechtigten Konfessionen einseitig auf; der katholische Volksteil war nun der protestantischen Mehrheit ausgeliefert. Wohl gestattete die neue Verfassung den Katholiken die Aufstellung eines eigenen Kirchenrates, dessen Organisation und Befugnisse hingen aber von der Zustimmung der gesetzgebenden protestantischen Mehrheit ab; von einer Selbstverwaltung konnte keine Rede sein. Der in Paragraph 77 verankerte Eid der Geistlichkeit auf die Verfassung - die Strafprozessordnung verlangte bei der Beichte von Verbrechen den Bruch des Beichtgeheimnisses - wurde von fast allen Priestern verweigert, worauf man vier des Landes verwies. Die konfessionellen Streitigkeiten kulminierten schliesslich am 19. April 1838 in der Aufhebung der provisorischen Unterstellung des Kantons Glarus unter das Bistum Chur bis 1857 [siehe oben, S. 137-142]. Erst 1866 konstituierte sich in Näfels der Kantonale Katholische Kirchenrat. Heute ist die katholische Landeskirche Glarus als Kirchgemeindeverband strukturiert. Die als kantonale Spezialgemeinden verfassten acht katholischen Kirchgemeinden sind nicht streng an das Kommunalrecht gebunden, sondern auf die kommunalrechtlichen Grundsätze verpflichtet. Dies wahrt einerseits die historisch gewachsene Verbundenheit von Staat und Kirche in Glarus, bewirkt andererseits eine gewisse staatskirchenrechtliche Entflechtung. Kantonale und Landeskirchliche Erlasse Glarus • Verfassung des Kantons Glarus vom 1. Mai 1988 • Verfassung des Verbandes der römisch-katholischen Kirchgemeinden des Kantons Glarus vom 27. Juni 1980 (vom Landrat genehmigt) <?page no="198"?> 198 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen 4. Kirche und Staat im Kanton Zürich Allein von seiner quantitativen Bedeutung nimmt der Kanton Zürich heute eine führende Rolle ein und ist aufgrund des staatskirchenrechtlich hohen Organisationsgrades, der damit verbundenen finanziellen Leistungsfähigkeit und der zahlreichen Arbeitsstellen auch kirchlich zu einem bedeutenden Zentrum herangewachsen. Trotzdem wurde die Unterstellung des Gebietes rund um den Zürichsee unter die Churer Administration (1819) von der Zürcher Regierung nie anerkannt. Mit Beschluss vom 15. November 1875 erklärte der Kantonsrat einseitig die Loslösung der Zürcher Katholiken vom Bistum Chur. Da es diesen überlassen wurde, sich einem beliebigen Bischof zu unterstellen, blieb der Kontakt von Katholisch-Zürich zu Chur aufrecht. Neben den drei alten Pfarrkirchen in Dietikon, Rheinau und Winterthur entstanden im ‹Schutze› des ganz aus reformiertem Geiste konzipierten «Gesetzes betreffend das katholische Kirchenwesen» vom 27.-Oktober 1863, womit der Grosse Rat zwar nicht formell, aber doch praktisch der katholischen Kirche die Stellung einer Landeskirche gewährte, bis über die Mitte des 20.-Jahrhunderts rund 70 weitere Pfarreien. Da diese keine öffentlich-rechtliche Stellung genossen, besassen sie auch nicht das Recht auf Erhebung von Kirchensteuern; sie waren auf freiwillige Kirchenopfer (Almosen) angewiesen und von den Beiträgen der katholischen Inländischen Mission abhängig. Mit grossem Unmut mussten die Katholiken über die Staatssteuer staatliche Leistungen an die reformierte Landeskirche mitfinanzieren. Seit dem lange nachwirkenden Trauma von 1873 (Übertritt der einzigen staatlich anerkannten katholischen Kirchgemeinde der Stadt Zürich zur Altkatholischen Kirche) blieb die Skepsis gegenüber einer öffentlich-rechtlichen Organisation weit verbreitet. Kantonale und Landeskirchliche Erlasse Zürich • Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005 • Kirchengesetz vom 9. Juli 2007 (Kantonsrat) • Kirchenordnung der römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich vom 28. November 1982 (Körperschaft) • Kirchenordnung der römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich vom 29. Januar 2009 (Synode) • Geschäftsordnung der Synode der römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich vom 27. Juni 1985 (Synode) Eine Wende zeichnete sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts ab. Am 16.- Juli 1952 unterzeichneten diverse katholische Organisationen im Kanton Zürich eine Eingabe an den Regierungsrat, worin die Zürcher Katholiken ihren Anspruch auf öffentlich-rechtliche Anerkennung formulierten. Bei den weiteren Verhandlungen blieb bis zuletzt die Frage der Pfarrerwahl umstritten; die staatliche Seite beharrte auf der Elektion durch die Kirchgemeindeversammlung. Mit der Annahme einer Verfassungsänderung vom 7. Juli 1963 umging der Kirchenartikel [Art. 64] über das katholische Kirchenwesen zum einen erneut die Frage des Bistumsverbandes, zum anderen erfuhr die römisch-katholische Kir- <?page no="199"?> 199 che als solche durch die neue Kirchengesetzgebung keineswegs den längst erhofften und erwarteten Status einer öffentlich-rechtlichen Organisation. Staatlich anerkannt sind im Kanton Zürich nur die römisch-katholische Körperschaft und ihre Kirchgemeinden, nicht die katholische Kirche als solche. Die Organe der neuen staatskirchenrechtlichen Struktur von 1963 - Exekutive: Zentralkommission, Legislative: Synode (auf Gemeindeebene: Kirchenpflege und Kirchgemeindeversammlung) - sollen die äusseren Voraussetzungen für die Entfaltung des kirchlichen Lebens schaffen. Erstmals konnte «Katholisch Zürich» dank einer neu geschaffenen Zentralkasse, aus der die finanziellen Bedürfnisse der Zentralkommission bestritten und finanzschwache Kirchgemeinden unterstützt werden konnten, auf genügend finanzielle Resourcen zurückgreifen. So wird auch im neusten Buch «Katholiken im Kanton Zürich» [2014] korrekt festgehalten, dass der Hauptvorteil der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von 1963 «eindeutig im finanziellen Bereich» gelegen habe (S. 128). Da es keine kantonale Kirchensteuer gab, wurde die Zentralkasse durch freiwillige Beiträge der Kirchgemeinden alimentiert. Auf der gesetzlichen Grundlage von 1963 erwuchs alsbald die Möglichkeit der Einziehung der obligatorischen Kirchensteuer durch die Kirchgemeinden; auf die früher unentbehrlichen Sammlungen und Kollekten ausserhalb des Kantons Zürich und auf die Unterstützung der Inländischen Mission wurde fortan verzichtet. Ein weiterer Meilenstein wurde in den 80er-Jahren gesetzt: Durch die Kirchengesetzrevision von 1980 (in Kraft seit 1. Januar 1983) und die Kirchenordnung von 1982 bekam die Körperschaft ein Parlament, die Synode. Die katholische Synode konstituierte sich zu ihrer ersten Sitzung am 22. September 1983. Damit war die Integration der katholischen Zürcher Kirche in das demokratische Zürcher Staatswesen abgeschlossen. Strukturaufbau der römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich Kirchliche Organe Ebene Staatkirchenrechtliche Organe Generalvikariat in Zürich • Generalvikar • Seelsorger(innen)kapitel • Kantonaler Seelsorgerat Kanton Zürich Römisch-katholische Körperschaft • Stimmberechtigte Katholiken/ innen • Zentralkommission [9] (Exekutive) • Synode (Parlament) Dekane Zürich-Stadt Winterthur Albis Oberland Dekanate Fraktionen Synodalen (Vertreter der gegenwärtig 75 Kirchgemeinden) aus den Fraktionen Zürich, Winterthur, Albis und Oberland Pfarrer / Gemeindeleiter/ in Seelsorgeteam Pfarreirat Stiftungsrat Gemeinde Kirchgemeinde Kirchenpflege Kirchgemeindeversammlung Rechnungsprüfungskommission 4. Kirche und Staat im Kanton Zürich <?page no="200"?> 200 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen Wichtige Aufgabenbereiche der Synode als kirchliches Parlament - Wahl des Präsidenten, des Vizepräsidenten und des Büros, der Geschäfts- und der Rechnungsprüfungskommission sowie deren Präsidenten - Wahl der Kommissionen, welche in der Regel die Geschäfte der Synode vorbereiten - Erlass der Kirchenordnung und anderer, für alle Mitglieder und Kirchgemeinden verbindlichen Bestimmungen - Erlass von Richtlinien für die Kirchgemeinden (z.B. über Besoldung) - Beschlüsse über Kostenvoranschlag und Bewilligung der Finanzausgaben - Wahl der Zentralkommission und ihres Präsidenten - Aufsicht über die Zentralkommission - Abnahme von Jahresrechnung und Jahresbericht Zwei kantonale Initiativen zur Trennung von Kirche und Staat wurden 1977 und 1995 vom Stimmvolk deutlich verworfen; die Diskussion über diese Thematik hält jedoch an. Insbesondere die Vorgänge um den Churer Bischof Wolfgang Haas haben seit 1990 einer breiten Öffentlichkeit das Konfliktpotential bewusst gemacht, welches in der dualen Struktur von staatskirchenrechtlich verfassten, auf das Gebiet des Kantons Zürich beschränkten Kirchgemeinden und Zentralkommission einerseits sowie der kirchenrechtlich verfassten Instanzen der römisch-katholischen Kirche (Pfarrei, Diözesanleitung) andererseits steckt. 5. Konferenz der kantonalen staatskirchenrechtlichen Organisationen im Bistum Chur (Biberbruggerkonferenz) In der Amtszeit von Bischof Wolfgang Haas formierte sich in Biberbrugg bei Einsiedeln 1991 die «Konferenz der kantonalen staatskirchenrechtlichen Organisationen im Bistum Chur», welche jährlich mindestens einmal tagt. In den am 10. Juni 1991 erstmals erlassenen und in Glarus am 8. Juni 2000 revidierten Statuten werden folgende Aufgaben der Konferenz genannt: 1. Gegenseitige Orientierung über das Gebiet der Diözese Chur betreffende und weitere Anliegen, 2. Verabschiedung von Empfehlungen insbesondere zu Fragen, welche das Gebiet der Diözese Chur oder weitere Aspekte betreffen, 3. Förderung des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit zwischen den staatskirchenrechtlichen und diözesanen Instanzen und Institutionen im Bistum Chur, 4. Durchführung von Aktivitäten, welche die Wahrnehmung der vorgenannten Aufgaben unterstützen. <?page no="201"?> 201 6. Die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ) Unter Bischof Vitus Huonder (seit 2007) erklärten sich sowohl der diözesane Bischofsrat als auch die staatkirchenrechtlichen Körperschaften zu einer verstärkten Zusammenarbeit und wiesen Ende 2011 in einer Pressemitteilung auf verschiedene gemeinsame Projekte hin. Aufgrund des für die Schweiz typischen dualen Systems bedürfe das Bistum sozusagen «der koordinierten Funktion beider Lungenflügel, der kirchlichen Leitung einerseits und der staats-kirchenrechtlichen Organisationen andererseits, um ein gesunder Organismus zu sein». Aus dieser Überzeugung heraus wurde zum einen bereits mittels einer in Biberbrugg am 21. März 2001 unterzeichneten Vereinbarung die diözesane Schlichtungsstelle geschaffen, welche seit Januar 2012 ihre Arbeit aufgenommen hat und künftig dazu beiträgt, Konflikte, die im Grenzbereich der Zuständigkeiten der kirchlichen Leitung und der staatskirchenrechtlichen Organe entstehen können, gütlich beizulegen. Zum anderen wollen der Bischofsrat und die Biberbrugger Konferenz, die Vereinigung der Kantonalkirchen des Bistums Chur und den Umgang mit Kirchenaustritten vereinheitlichen. Geplant sind ferner jährliche Zusammenkünfte unter dem Motto «Duale Herbstreflexion», woran Diözesanbischof, Mitglieder des Bischofsrates sowie die Präsidenten/ innen der staatskirchenrechtlichen Organisationen teilnehmen. Damit sollen die seit Jahrzehnten im Bistum Chur vorhandenen Spannungen zwischen Kirche und Staat allmählich überwunden werden. 6. Die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ) In einem eigenen Abschnitt sei hier noch auf ein Gremium aufmerksam gemacht, das bereits 1967 entstanden ist: die «Konferenz der katholischen kantonalkirchlichen Organisationen» [KKKO]. Der Zusammenschluss bezweckte die Koordination und Verwendung von Steuergeldern für ausserkantonale Aufgaben. 1971 organisierte sich dieser vorerst lockere Zusammenschluss in Vereinsform unter dem Namen «Römisch-katholische Zentralkonferenz der Schweiz» [RKZ]. Ihr gehören die öffentlich-rechtlich anerkannten römisch-katholischen kantonalkirchlichen Organisationen an. Oberstes Organ der RKZ ist die Plenarversammlung mit je zwei Delegierten der kantonalkirchlichen Körperschaften, die sich mehrmals jährlich zu zweitägigen Sitzungen versammeln. Die fachliche Kompetenz in der Konferenz trug dazu bei, dass die RKZ nicht bloss als Dachverband für überkantonale Finanzierung, sondern auch als Zentrum für das Staatskirchenrecht und Kirchenmanagement wahrgenommen wird. Fazit: Der Begriff der Kirch(en)gemeinde stammt nicht aus dem römisch-katholischen Kirchenrecht. Vorgeprägt durch den evangelischen Gemeindebegriff entstammt er dem deutschen Staatskirchenrecht des 19. Jahrhunderts und floss von daher in diverse Konkordate ein. Er bezeichnet die kirchlich verfasste Ortseinheit. Damit verbunden ist auch die [damals vom preussischen Staat geforderte] Einrichtung der Kirchenvorstände im 19.-Jahrhundert, welche von den Mitgliedern der Kirchgemeinde gewählt werden. Den noch heute bestehenden Kirchenvorständen ist die Verwaltung des Vermögens einer Kirchengemeinde anvertraut. So bildeten sich auch in der Schweiz neben den bereits beste- <?page no="202"?> 202 VII. Das Verhältnis von Kirche und Staat: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen und Ausformungen hen Pfarreien die Kirchgemeinden mit öffentlich-rechtlicher Anerkennung, welche - dies sei nochmals betont - klar vom kirchenrechtlichen Gebilde Pfarrei zu unterscheiden ist. Im Zuge der Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat im 20. Jahrhundert erarbeitete jeder Churer Bistumskanton eine Verfassung der kantonalen römisch-katholischen Landeskirche, welche die einzelnen Kirchgemeinden umfasst (1959 Graubünden, 1963/ 2007 Zürich, 1975 Nidwalden, 1998/ 2014 Schwyz, 2004 Uri, katholische Landeskirche Glarus und Obwalden lediglich als Kirchgemeindeverband [1980/ 2001] strukturiert). Die duale Struktur von Pfarrei und Kirchgemeinden als öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaft, wie sie sich in den Bistümern Chur, Basel und St. Gallen herausgebildet und gefestigt hat, ist einzigartig und nicht zuletzt für die römische Kurie, welche sich mit Sonderwegen ohnehin schwertut, immer wieder eine Herausforderung. Es bleibt die Aufgabe der staatskirchenrechtlichen katholischen Körperschaften, zwischen dem schweizerischen Staatswesen und der katholischen Kirche eine Brücke zu schlagen. Die katholischen Körperschaften kantonalen Rechts sind selbst nicht Kirche, sondern vom Staat dazu bestimmt, die Katholiken auf seinem Territorium zusammenzufassen, um die finanziellen und übrigen materiellen Voraussetzungen für das Wirken der römischkatholischen Kirche sicherzustellen. <?page no="203"?> 203 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts a) Karl Rudolf von Buol-Schauenstein (1794-1833) Karl Rudolf von Buol-Schauenstein wurde am 30. Juni 1760 in Innsbruck als erstes Kind der Eltern Freiherrn Johann Anton Baptist Buol von Schauenstein-Ehrenfels (1729- 1796) und Maria Johanna Reichsgräfin von Sarntheim (1732-1791), geboren. Sein Bruder Johann Rudolf kam 1763 zur Welt († 1834), später noch drei Schwestern, Josepha, Maria Anna und Johanna. Die Aristokratenfamilie von Buol, die sich vom 15. bis zum 19. Jahrhundert von Davos aus im Freistaat Gemeiner Drei Bünde, in der Markgrafschaft Baden und in Österreich weit verzweigte, war eines der bedeutendsten Geschlechter Bündens. Ihr Einfluss auf die zeitgenössische Politik und Kultur war bedeutend. Die katholische Linie (1691-1865) stammte ursprünglich aus der Gerichtsgemeinde Churwalden. Mehrere ihrer Mitglieder hatten hohe militärische Positionen und Beamtenstellungen in österreichischen und französischen Diensten innegehabt. Noch ein Neffe des späteren Bischofs Karl Rudolf, Graf Karl Ferdinand von Buol-Schauenstein zu Rietberg und Strassberg (1797-1865), bekleidete im Kaisertum Österreich von 1852-1859 das Amt des k. k. Ministers für auswärtige Angelegenheiten. Abb. 154 (links): Domherrenwappen von Karl Rudolf von Buol-Schauenstein, Kupferstich nach 1781 (Neudruck von Heinrich Moser, Chur 1977) [BAC.BA] / Abb. 155 (rechts): Portrait des letzten Churer Fürstbischofs und Bischofs des Doppelbistums Chur-St. Gallen (ein weiteres Portrait findet sich in Band 1, S. 357) [BAC.BA] «Die einzelnen Bischöfe, denen die Sorge für eine Teilkirche anvertraut ist, weiden unter der Autorität des Papstes als deren eigentliche, ordentliche und unmittelbare Hirten ihre Schafe im Namen des Herrn, indem sie ihre Aufgabe zu lehren, zu heiligen und zu leiten an ihnen ausüben.» [Zweites Vatikanisches Konzil: Dekret «Christus Dominus» über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, Nr. 11] <?page no="204"?> 204 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Nach dem Gymnasiumbesuch in Feldkirch, absolvierte von Buol das Philosophiestudium in seiner Geburtsstadt, wechselte für die theologischen Fächer dann nach einem Zwischenaufenthalt am Collegio Germanico (1778/ 79) an die Universität Dillingen. Als Kleriker, aber noch nicht zum Priester geweiht, bekleidete er seit 1781 das Amt des Churer Domkantors. In Chur wurde er am 5. April zum Diakon und am 14. Juni 1783 zum Priester ordiniert. Eine eigentliche seelsorgerliche Tätigkeit auf Pfarreiebene hatte von Buol nie ausgeübt. Mit nur 34 Jahren wurde er am 22. Januar 1794 im ersten Wahlgang mit grosser Mehrheit [13 Stimmen] von den Churer Kanonikern zum Bischof gewählt; der damalige Domdekan Luzius Anton Maria Scarpatetti (1781-1803) erhielt drei Stimmen, Domkustos Franz Xaver de Rüplin (1763-1816) eine Stimme, Franz Xaver Adegold drei Stimmen [siehe Abb. 1]. Am 12. September erfolgte die päpstliche Bestätigung, und am 5. Oktober 1794 spendete ihm der Brixener Fürstbischof Karl II. Franz von Lodron (1791-1828) im Dom zu Brixen die Bischofsweihe. Am 5. April 1796 erhielt er als letzter geistlicher Churer Reichsfürst aus Wien von Kaiser Franz II. (1792-1806) die Regalien. Abb. 156: Päpstliche Konfirmation durch Pius VI. (1775-1799) vom 12. September 1794 [BAC] Abb. 157: Verleihung der Reichsregalien an (Fürst-)Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein durch Kaiser Franz II. vom 5. April 1796 (erste und letzte Seite) [BAC] <?page no="205"?> 205 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Unter Buols Episkopat erfolgte die einschneidendste Umgestaltung des Bistums Chur seit dem 9.-Jahrhundert, in dessen österreichischen Anteilen (Vorarlberg, Vinschgau) die josephinische Gesetzgebung unter den Kaisern Leopold II. (1790-1792) und Franz II. nicht zurückgenommen wurde [siehe Band I, S. 358-363]. Als 1799 französische Truppen in das mit Österreich verbündete Graubünden vorstiessen, flüchtete Buol ins Montafon, dann weiter nach Meran, von wo er mit Hilfe seines Kanzlers Johann Josef Baal (1802-1838) [zu seiner Person siehe unten], welcher in Chur verblieb, den Bündner Bistumsanteil weiter zu leiten versuchte. Bischof Karl Rudolf lehnte das 1801 an ihn gerichtete Ersuchen des Churer Domkapitels um Rückkehr in das 1799 unter französischem Druck in die Helvetische Republik eingetretene Graubünden zunächst mit der Begründung ab, dass seine Residenz in Chur trotz reichsrechtlicher Sonderstellung mit der Einquartierung von Truppen widerrechtlich besetzt worden sei, begab sich aber 1802 dennoch in die Bischofsstadt. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 brachte das Ende des Fürstbistums und die Einziehung der bischöflichen Güter in Österreich, nicht aber in Graubünden. Der bischöfliche Hofbezirk, dessen volle Einverleibung in die Stadt Chur laut der im Jahre 1814 in Kraft getretenen neuen Verfassung Graubündens vorgesehen war, blieb nach erbittertem Protest seitens Buols zwar der Hoheit des Kantons unterworfen, aber wurde (noch) nicht mit der Stadt vereinigt; dies geschah erst 1854. Nachdem 1805 die österreichischen Bistumsteile an Bayern gefallen waren und die bayerische Regierung ihr System staatlicher Kirchenhoheit, insbesondere aber die Reglementierung der Priesterausbildung und die Besetzung der geistlichen Stellen auf das neu erworbene Gebiet anwenden wollte, leistete von Buol, der 1801 in Meran unter Leitung Gottfried Purtschers das Churer Priesterhaus eröffnen konnte [siehe Band I, S. 363-370], zusammen mit den Fürstbischöfen von Brixen und Trient entschiedenen Widerstand. Stütze in diesem Kampf fand er auch im von den staatlichen Eingriffen betroffenen Klerus. Die Regierung reagierte vorerst mit der Stornierung des bischöflichen Gehalts, zitierte den Bischof schliesslich nach Innsbruck und liess ihn aufgrund seines ungebrochenen Widerstands 1807 über die Grenze nach Graubünden schaffen. Mit seiner Ausweisung schlossen auch die Tore des Meraner Ausbildungsstätte; im ehemaligen Prämonstratenserkloster St. Luzi in Chur fand die diözesane Priesterausbildung aber noch 1807 eine neue, bis heute bestehende Stätte [dazu unten, S. 371-386]. 1808 verzichtete Karl Rudolf von Buol-Schauenstein gegenüber Papst Pius VII. auf die nun bayerischen Bistumsteile, die 1809 provisorisch den Bistümern Brixen und Trient zugeschlagen wurden. 1816 verlor Chur das Vorarlberg und den Vinschgau definitiv, - jenes Territorium, welches seit der Reformation nicht zuletzt auch die zuverlässigste finanzielle Basis der hochverschuldeten Diözese gebildet hatte. Weil Buol-Schauenstein der Unterstützung des Volksaufstandes im Tirol (1809) verdächtigt wurde, musste er sich zwischen 1809 und Ende 1814 nach Solothurn zurückziehen. Kaiser Franz II. lohnte die Treue des Churer Oberhirten 1810 mit der Verleihung der Propstei Vyšehrad bei Prag und der Herrschaft Schüttenitz an der Elbe; eine vom Kaiser unterstützte Berufung zum Erzbischof von Lemberg schlug Buol jedoch aus. Die Übertragung der Administration fast der gesamten Schweizer Quart des Bistums <?page no="206"?> 206 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Konstanz (1819) empfand der Churer Ordinarius mehr als Last als einen wirklichen Gewinn; Sorgen bereitete ihm auch der kuriale Entscheid von 1823 zur Bildung des Doppelbistums Chur-St. Gallen. In der bischöflichen Residenz in St.-Gallen starb Karl Rudolf von Buol-Schauenstein am 23. Oktober 1833 als letzter geistlicher Fürst des seit 1806 nicht mehr existierenden Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Seine letzte Ruhestätte fand er in der im 17. Jahrhundert angelegten Bischofsgruft im südlichen Seitenschiff der Kathedrale zu Chur. Abb. 158/ 159: Grabepitaph für Karl Rudolf von Buol-Schauenstein in der Kathedrale zu Chur / das Wappen weist den Verstorbenen als Bischof des Doppelbistums Chur-St. Gallen aus (Wappentiere: Steinbock für das Bistum Chur [Mitte links], aufrechter Bär mit gestümmeltem Ast auf der rechten Schulter (Mitte rechts) [Fotos: A. Fischer] Inschrift auf dem Epitaph (in dt . Übersetzung): Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Herr Karl Rudolf aus dem Grafengeschlecht von Buol-Schauenstein, Bischof von Chur und St. Gallen, Reichsfürst, infulierter Propst von Vyšehrad, Prälat des Böhmischen Reiches, Herr zu Fürstenburg, Fürstenau und Schüttenitz. Nachdem er in den schwierigsten Zeiten nahezu 40 Jahre lang der Kirche als Bischof vorgestanden, beständig die mannigfaltigen Bedrängnisse, Beschwerden des Krieges, Güterraub und Verbannung gottergeben ertragen, ging er aus dem Gewühl des Weltentals zur ewigen Ruhe ein. Er starb zu St. Gallen am 23. Oktober und am 28. desgleichen Monats wurde er in der [Bischofs]Gruft zu Chur beigesetzt im Jahre 1833. Geboren am 30. Juni 1760, zum Bischof von Chur erwählt am 22. Januar 1794 und als erster Bischof von St. Gallen erkoren am 27. September 1824. <?page no="207"?> 207 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Der spätere St. Galler Bischof Carl Johann Greith (1863-1882) charakterisierte 1834 den am längsten amtierenden Churer Oberhirten eines (seit 1819) stark gemischtkonfessionellen sowie von liberalen Strömungen mehr und mehr erfassten Bistumsgebiets wie folgt: «Karl Rudolf war ein frommer, gebildeter Kirchenfürst. Unter so mannigfachen Schlägen des Schicksals hat er mit unerschütterlicher Ausdauer sein Hirtenamt geführt, für die Wahrheit und die Rechte der Kirche, für seine Überzeugung und Pflicht ehrenvoll wie ein Held gestritten. Gefühlvoll für das Unglück der Armuth, edel gegen Jedermann, mit Ängstlichkeit der Erfüllung seiner Pflichten als Priester und Christ obliegend, hat ihm zu einem glücklichen Leben vielleicht nur Eines gemangelt, die Kunst nämlich, mit der Beachtung der Wahrheit, des Rechts und der Pflicht, für die er sich stets geopfert, die Verhältnisse des Lebens und die Umstände der Zeiten mehr zu berücksichtigen und wo möglich beide in Einklang zu bringen.» b) Johann Georg Bossi (1835-1844) Johann Georg Bossi erblickte am 10. August 1773 in Mon im bündnerischen Oberhalbstein als Sohn des Ehepaars Paul Jakob Johann Peter Bossi und Maria Barbara Katharina, geb. Wiezel, das Licht der Welt. Die höhere Schulbildung absolvierte Johann Georg an den Gymnasien in Feldkirch und Ottobeuren (Bayern); zwischen 1791 und 1797 weilte er dann als Churer Alumnus für philosophische und theologische Studien am Collegio Elvetico in Mailand. Im Anschluss an die Priesterweihe in Chur am 15. April 1797 - die Primiz feierte er am 23. April 1797 in Mon - wirkte Bossi kurzzeitig als Erzieher der Familie de Mont auf Schloss Löwenberg ob Schluein in der Surselva, 1799 bis 1800 als Pfarrer in Trimmis, dann bis 1824 als Seelsorger in seiner Heimatgemeinde Mon. Seit 1818 versah er zugleich das Amt des Dekans des Abb. 160: Blick auf das Dorf Mon im Oberhalbstein [BAC.BA] <?page no="208"?> 208 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Landkapitels «Ob und Unter dem Schyn», 1826 wurde er nichtresidierender Domherr und noch im gleichen Jahr von Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein als Domscholastikus nach Chur gerufen. Im Nachruf (publiziert in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» 1844) wird festgehalten, Bossis «freundliches, geselliges Wesen im Umgang bei Hohen und Niedern, bei Geistlichen und Weltlichen, bei Katholiken und Reformirten» sei sehr geschätzt worden. Nach dem Hinschied des letzten Fürstbischofs wählte ihn das Churer Domkapitel am 29. Oktober 1833 zum Kapitelsvikar. In St. Gallen ernannte das Domkapitel gegen den Willen des örtlichen Katholischen Administrationsrates Kanonikus Johann Nepomuk Zürcher zum Bistumsverweser. Entsprechend der päpstlichen Bulle «Ecclesias quae antiquitate» vom 2. Juli 1823, durch welche die Errichtung des Doppelbistums Chur-St. Gallen vorgenommen wurde, aber welche von St. Gallen nie ratifiziert worden war, sollte von beiden Kapiteln des Doppelbistums der neue Bischof gewählt werden. Infolge Uneinigkeit in den beiden Domkapiteln des Doppelbistums Chur- St.-Gallen und der Einmischung der beiden kantonalen Räte verstrich die Wahlfrist; die Bestimmung des neuen Oberhirten der Doppeldiözese fiel an den Heiligen Stuhl, der am 19.- November 1834 Bossi als seinen Kandidaten bezeichnete; am 7. April 1835 ernannte ihn Papst Gregor XVI. (1831-1846) zum Bischof von Chur-St.Gallen. Während der Kleine Rat des Kantons Graubünden Bossi die Anerkennung verweigerte, nahm das Churer Domkapitel die päpstliche Entscheidung an. Am 3. Mai folgte wiederum gegen den Einspruch des Kleinen Rates die Inthronisation; die Konsekration nahm Nuntius Filippo de Angelis (1830-1839) unter Assistenz der Äbte von Einsiedeln, Cölestin Müller (1825-1846), und Pfäfers, Plazidus Pfister (1819-1838), am 5.-Juli 1835 in der Klosterkirche Einsiedeln vor. Die Churer Regierungsorgane verweigerten ebenso wie die des Kantons St. Gallen Bossi ihre Anerkennung, erklärten sich jedoch im Gegensatz zu ihren St. Galler Kollegen für den Fall der baldigen Aufhebung des Doppelbistums mit dem neugeweihten Bischof als Churer Oberhirte einverstanden. Eine Residenznahme in Chur lehnten sie vorderhand ab; die Zimmer der bischöflichen Wohnung auf dem Hof wurden versiegelt. Bossi blieb nichts anders übrig, als seine bischöflichen Funktionen von seiner Domherrenwohnung aus wahrzunehmen. Am 12. Juni 1835 wurde Bossi von der neuen Zusammensetzung des Katholischen Grossratskollegiums in St. Gallen lediglich als Apostolischer Vikar provisorisch aner- Abb. 161: Johann Georg Bossi, Bischof von Chur 1835- 1844 (Portrait im Rittersaal des Bischöflichen Schlosses in Chur) [Foto: Hugo Hafner] <?page no="209"?> 209 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts kannt. Dem st. gallischen Klerus blieb unter Strafandrohung die Beziehung zu Bischof Bossi weiterhin untersagt. Auch wurde Bossi die Ausübung der bischöflichen Jurisdiktion im Kanton St. Gallen und der Gebrauch des bischöflichen Siegels mit der Aufschrift ‹Bischof von Chur und St. Gallen› verboten. Briefe mit diesem Absender oder mit dieser Adresse durften durch die Postämter keinesfalls weitergeleitet werden. Vor dem Hintergrund dieser kirchenpolitischen Wirren trennte Papst Gregor XVI. am 23. März 1836 den Sprengel St. Gallen von Chur. Bossi blieb Bischof von Chur und wurde am 10. Mai 1836 von der Regierung des Kantons Graubünden anerkannt; die Verwaltung der Temporalien des ehemaligen Hochstifts wurden ihm übergeben, seine Wohnsitznahme in der Residenz auf dem Hof ermöglicht. Für St. Gallen erlosch Bossis Jurisdiktion kirchenrechtlich 1836. Der damalige Pfarrer von Sargans, Johann Peter Mirer aus Obersaxen (1778-1862), zwischen 1847 bis 1862 der erste Bischof des neugegründeten Bistums St. Gallen [siehe Abb. 24], wurde zum Apostolischen Vikar ernannt; dieser Zustand dauerte bis 1846/ 47. Auch nach Beilegung des Bistumskonfiktes blieb die Amtszeit Bossis als Churer Bischof belastet durch zahlreiche andere Konflikte. So versagte die Mehrheit des katholi- Abb. 162: Ernennungsbulle für Johann Georg Bossi vom 7. April 1835 von Papst Gregor XVI. [BAC] <?page no="210"?> 210 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung schen Klerus des Kantons Glarus den Verfassungseid, als dieser Kanton 1836 eine neue Verfassung erhielt, in der die traditionelle Selbstverwaltung der katholischen Kirche abgeschafft wurde. Der Kanton Glarus löste daher 1838 bis zum Tod Bossis seine ohne hin nur provisorische Verbindung mit dem Bistum Chur auf. Ein weiterer Konflikt entbrannte um das Ernennungsrecht der Lehrer in dem beim Priesterseminar St. Luzi in Chur bestehenden Knabenseminar, einer katholischen Kantonschule, die durch das Corpus Catholicum ideell und finanziell unterstützt wurde. Erst 1842 stand Bossi nach spannungsgeladenen Verhandlungen dem katholischen Schulrat die Ernennungsrechte für die Lehrer - ausgenommen blieben die Lehrkräfte für den Religionsunterricht - zu [zum Schulstreit siehe unten, S. 497-510]. Bischof Johann Georg Bossi war seit dem 3. Mai 1838 durch einen Schlaganfall und der anschliessenden linksseitigen Lähmung in seiner Tätigkeit so behindert, dass er an seine Residenz in Chur gebunden blieb. 1843 erhielt er in Kaspar de Carl ab Hohenbalken einen Koadjutor, um den er im ausdrücklichen Einverständnis des Domkapitels bereits seit 1840 gebeten hatte. Am 9. Januar 1844 starb Bossi in Chur und wurde am 21.-Januar wie sein Vorgänger in der Bischofsgruft im südlichen Seitenschiff der Kathedrale beigesetzt; sein Grabepitaph befindet sich heute in der vorderen Krypta. Inschrift auf dem Epitaph (in dt . Übersetzung): Hier ruht der Hochwürdigste und Erlauchteste Herr Herr Johann Georg Bossi, Bischof von Chur, der beste Vater und Hirte, der während neun Jahren bei fortwährenden widrigen Schicksalsschlägen und Krankheit seine Kirche einem Schiffe gleich geleitet, wie ein Schäflein gehütet [und] wie eine Braut geliebt hat. Geboren in Mon am 10. August 1773. Gestorben am 9. Januar 1844. Er ruhe in Frieden. Abb. 163/ 164: Grabepitaph und Bischofswappen für Johann Georg Bossi in der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] <?page no="211"?> 211 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts c) Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1844-1859) Kaspar de Carl wurde am 27. März 1781 in Tarasp (Unterengadin) geboren. Die seit dem 12. Jahrhundert im bündnerischen Münstertal nachweisbare und später weit verzweigte Familie de Carl war eines der ältesten und bedeutendsten Ministerialgeschlechter der Bischöfe von Chur. Im Benediktinerkloster Marienberg ob Burgeis (Vinschgau), in Pfunds am Inn und in Hall in Tirol erhielt Kaspar sein gymnasiales Rüstzeug. Danach studierte er in Innsbruck Philosophie und am Priesterseminar in Brixen Theologie. Am 6. Oktober 1804 trat er als Alumnus in das Priesterhaus in Meran ein, wo er semestrale wie Schluss-Examina ablegte. In dieser Zeit wurde er am 30. Dezember 1804 in der Seminarkapelle (im Turm des Vinschgauer Tors) zu Meran zum Priester geweiht. Als Repetent arbeitete de Carl anderthalb Jahre in dem 1801 errichteten Meraner Priesterhaus [siehe Band 1, S. 363-370] und versah gleichzeitig die örtliche Spitalseelsorge. Mit dem Churer Bischof 1807 des Landes verwiesen, berief ihn Karl Rudolf von Buol-Schauenstein 1808 als Professor der Rhetorik an das Priesterseminar St.-Luzi; später wurde de Carl dort Präfekt und erhielt den Lehrauftrag in Moraltheologie und Kirchenrecht. 1830 übernahm er die Leitung des Seminars (Regens). 1826 wurde er Domsextar, dann Domkustos, 1841 Dompropst. Nachdem er sich 1842 auf Drängen des Nuntius Girolamo d’Andrea (1841-1845) und im Einverständnis mit dem wahlberechtigten Domkapitel zur Annahme der Koadjutorie mit dem Recht der Nachfolge für den dienstunfähigen Bischof Johann Georg Bossi be- Abb. 165: Zeugnis über Kaspar de Carls Aufenthalt als Alumnus ab 1804 im Priesterhaus zu Meran [BAC] <?page no="212"?> 212 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung reit erklärt hatte, erfolgte am 27. Januar 1843 seine Ernennung zum Titularbischof von Hippo (Nordafrika). Die Bischofsweihe erhielt er am 19. November 1843 durch Nuntius d’Andrea in Chur. Mit dem Tod Bossis 1844 übernahm er die volle Verantwortung über die Churer Diözese. Bossi hatte seinen Nachfolger in einem Hirtenschreiben vom 3.- Dezember 1843 Klerus und Volk anempfohlen (publiziert in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» 1844). Im Wissen um eine nicht mehr vollkommen mögliche gesundheitliche Heilung - wiederholte Rückfälle raubten Bossi teilweise Sprache und Geisteskraft - habe er den Papst um Hilfe gebeten und diese in der Person Kaspar de Carls als Koadjutor dankenswert erhalten. «So übergeben und empfehlen wir, an Geist und Körper unbehülflich und gelähmt ans Krankenlager hingeheftet, unsere innigst geliebte Braut, die sämmtliche Kirche und Diözese Chur, unserem zuverlässigsten und ausgezeichnetsten Gehülfen, dem neugeweihten Coadjutor, der unserer verlassenen Kirche, statt unser, Haupt, Führer, Lehrer und Vater sein wird. Nehmet ihn also an als unsern Stellvertreter. […] Lasst es als euere angelegenste Pflicht empfohlen sein, in öffentlichen und häuslichen Andachten für euern Oberhirten zu beten, daß Gott unserm Stellvertreter […] die Fülle seines heiligen Geistes verleihe, auf daß er in seinem so wichtigen und beschwerlichen Amte mit dem Geiste der Weisheit und des Verstandes, mit dem Geiste des Rathes und der Starkmuth, und mit dem Geiste der Wissenschaft und Gottseligkeit erfüllet werde.» Zwei Ereignisse in de Carls Amtszeit sollen hier kurz Erwähnung finden; sie werden weiter unten separat behandelt (S. 467-475, 497-510). Von den zahlreichen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Kirche und Staat sei die harte Auseinandersetzung de Carls mit dem Kanton Graubünden um den konfessionellen Charakter der Kantonschule in Chur genannt. Der Kanton hob 1850 gegen den Widerstand des Bischofs und weiter Teile der katholischen Bevölkerung den katholischen Status auf. In der Folge errichtete der Bischof zur Förderung des Priesternachwuchses ein bereits früher existentes, aber dann eingegangenes Knabenseminar in Chur, das 1859 an das Kollegium Maria Hilf in Schwyz verlegt wurde. Im Zusammenhang mit zwei Gründungen von Schwesternkongregationen in der Schweiz des 19.- Jahrhunderts trat der Kapuziner und spätere Churer Generalvikar (1860-1865) P. Theodosius Florentini (1808-1865) in das Wirkungsfeld des Churer Bischofs. Florentini gründete 1844 mit Bernarda Heimgartner (1822-1863) die Kongre- Abb. 166: Kaspar de Carl ab Hohenbalken, Bischof von Chur 1844-1859 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="213"?> 213 gation der Lehrschwestern vom hl. Kreuz von Menzingen; die Satzungen wurden 1845 von Kaspar de Carl approbiert. 1852 gründete der Kapuzinerpater mit Maria Theresia Scherer (1825-1888) die Kongregation der Schwestern des hl. Kreuzes von Ingenbohl, die neben Schulen auch Spitäler, Waisen- und Altenheime betreute und in vielen Orten die ambulante Krankenpflege übernahm. Auch die Förderung des liturgischen Lebens in den Pfarreien rechnete de Carl zu seinen vordringlichsten Aufgaben. So plante er auf vielseitigen Wunsch der Seelsorger die Herausgabe eines neuen Rituale, welches als «Rituale Romano-Curiense» 1850 gedruckt werden konnte. An der äusseren Gestalt unterscheidet sich der Neudruck wenig von der Ausgabe aus dem Jahre 1732, doch ist sein Umfang um 70 Seiten grösser; zudem fehlen ein Kalendarium und die Choralnoten; man kann von einer «modifizierten Neuauflage» sprechen. Neu ist darin, dass vereinzelte Texte nicht nur in deutscher Übersetzung vorliegen, sondern auch in romanischer und italienischer Sprache. In seinem Vorwort vom 1.-März 1850 mahnt der Bischof, die Sakramente sollten nicht nur mit äusserer Ehrfurcht, sondern mit innerer Andacht gefeiert werden, unter Verwendung der lateinischen Formeln und Formulare, nach der Vorschrift der Kirche und nach den Bestimmungen des Heiligen Stuhls. Zudem hätten die Priester die Gnadenvermittlung durch die einzelnen Sakramente und die Bedeutung ihrer Zeremonien dem Volk genau zu erklären. Parallel zum Rituale liess de Carl 1853 eine Neuausgabe des «Proprium sanctorum Curiense» folgen. 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Abb. 167: Titelblatt des «Rituale Romano-Curiense» von 1850 [BAC] Abb. 168: Titelblatt des «Proprium Sanctorum Curiense» von 1853 [BAC] <?page no="214"?> 214 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Inschrift auf dem Epitaph (in dt . Übersetzung): Hier ruht im Herrn, Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Herr Kaspar de Carl ab Hohenbalken, geboren am 27. März 1781 in Tarasp, zum Bischof geweiht am 19. November 1843, gestorben am 19. April 1859. Durch Gelehrsamkeit, Sanftmut, Frömmigkeit und ausserordentliche Wohltätigkeit hat er die Freuden des ewigen Lebens und das immerwährende Andenken der Menschen verdient. Abb. 169 (links): Grabepitaph für Bischof Kaspar de Carl ab Hohenbalken in der Krypta der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] / Abb. 170 (rechts): Hinweis auf das Hinscheiden des Churer Bischofs in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» (Ausgabe vom 23. April 1859) [BCC] <?page no="215"?> 215 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Den seit 1855 als Generalvikar wirkende Albert von Haller (1808-1858) erbat de Carl von Rom zusätzlich als Weihbischof (1858) [zu seiner Person siehe unten, S. 282-284]. Kaspar de Carl überlebte ihn um ein Jahr; de Carl starb am 19. April 1859 in Chur und wurde in der Bischofsgruft in der Kathedrale begraben. Die Feierlichkeit der Beerdigung de Carls am 23. April wird in der Ausgabe vom 27. April 1859 der «Schweizerischen Kirchenzeitung» folgendermassen geschildert: «Schon um halb drei Uhr erscholl die Todtenglocke der reformirten Hauptkirche [St. Martin], um auch von Seite der Stadt Chur zum Leichenbegängniß einzuladen. Rasch sammelte sich auf dem bischöflichen Hofe vor der uralten ehrwürdigen Cathedrale eine große Zuschauermenge, während die am Trauerzuge unmittelbar Betheiligten dem bischöflichen Schlosse zueilten. Um drei Uhr gaben die Glocken der Domkirche das Zeichen zur beginnenden Feierlichkeit. Dann setzte sich der Zug vom bischöflichen Schlosse in Bewegung zur Cathedrale, in welcher der Hochselige in der alten bischöflichen Gruft beigesetzt werden sollte. Voraus gingen Kreuz und Todtenfahne, an die sich die Schuljugend, die Kantonsschüler und ihre Lehrer schlossen; hierauf die Seminaristen, die P. P. Capuciner und die auswärtigen Geistlichen. Die Trauermusik begleitete mit ihren dumpfen Tönen den lateinischen Grabgesang der Stiftscapläne, auf welche die residirenden und nichtresidirenden Domherren und auswärtigen Würdenträger folgten, unter welchen die geistliche Abordnung der Klöster Disentis und Einsiedeln sich befand. Dann kam zwischen zwei Diaconen der Hochwürdigste Officiant, der Weihbischof von Feldkirch [Georg Prünster (1836-1861)], im Ornate, ein ehrwürdiger Greis, der von der Last des Alters gebückt, wohl kaum mehr lange unter den Sterblichen wandeln wird. Nun folgte den geistlichen Trägern des umflorten Grabkreuzes und der bischöflichen Jnsignien im Florgehänge der Sarg, an welchen sich die Kantonal- und Stadtbehörden, die zwei reformirten Stadtpfarrer von Chur schlossen, sowie die Abordnungen der Kantone Appenzell I. R., Glarus und Nidwalden. Den Zug schloß an der Spitze der Anverwandten und sonstigen Leidtragenden der bischöfliche Kanzler [Josef Meinrad Appert (1858-1878)] im Namen des Hochwürdigsten Domcapitels. Rechts beim Eintritt in die Kirche wurde der Sarg nach den üblichen Ceremonien in die bischöfliche Gruft gesenkt, wo der Verstorbene nun neben seinen Vorgängern ruht.» d) Nikolaus Franz Florentini (1859-1876) Nikolaus Franz Florentini wurde am 7. September 1794 in Müstair als Sohn des Antoni Florintöni und der Benedicta Conrad geboren. Stationen seiner höheren Schulbildung und philosophisch-theologischen Studien waren das Gymnasium der Benediktinerpatres aus Marienberg in Meran, das Jesuitenkolleg in Solothurn und das Priesterseminar St. Luzi in Chur. Die Priesterweihe spendete ihm am 7. April 1817 der damals in Chur weilende Nuntius der Schweiz, Erzbischof Carlo Zen (1816-1817). Ab 1818 bis 1824 übernahm Florentini die Pfarrseelsorge in Vals, wechselte dann 1824 nach Samnaun, kehrte jedoch bereits 1826 ins Lugnez zurück, wo er die Kaplanstelle in St. Martin, welche zur Pfarrei Tersnaus gehörte, innehatte. 1831 berief ihn Bischof Kaspar de Carl ab Hohenbalken als Professor für Moral an das Priesterseminar nach Chur, wo er bis 1838 lehrte. <?page no="216"?> 216 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Da Florentini aber zutiefst in der Seelsorge seine Erfüllung verspürte, wirkte er nebenher 1832-1833 als Pfarrprovisor von Tersnaus, sowie 1835-1838 als Kaplan in der Pfarrei Domat/ Ems und übernahm ab 1838 bis 1844 vollamtlich die Pfarrei Trimmis. Bereits seit 1841 als nichtresidierender Domherr dem Churer Kathedralkapitel zugehörig, wählten ihn die Kanoniker am 8. Februar 1844 zum Dekan, was ihn zwang, endgültig in Chur auf dem Hof Residenz zu nehmen. Nach dem Tod Bischofs Kaspar de Carl am 19. April 1859 versammelte sich das Churer Domkapitel (22 an der Zahl) am 26. Mai 1859 zur Wahl des neuen Bischofs. Die Wahl gestaltete sich äusserst schwierig. Nach den ersten fünf Wahlgängen führte klar Domscholastikus Christian Leonhard Demont (1856-1859) mit neun Stimmen. Im sechsten lagen Demont und Florentini gleich auf (je 8); erst im achten Durchlauf wurde schliesslich Domdekan Florentini mit 12 Stimmen gewählt (Demont 8; zwei andere je 1). Da das Wahlprozedere durch das Mittagessen unterbrochen worden war - interessanterweise gerade nach dem fünften Wahlgang -, wurde die Wahl von Rom als ungültig erklärt; Papst Pius IX. (1846-1878) ernannte jedoch den Gewählten am 26.-September 1859 frei zum neuen Churer Oberhirten; die päpstliche Bulle wurde am 5. Oktober 1859 ausgestellt. Am 18. Dezember des gleichen Jahres spendete ihm der Basler Bischof Karl Arnold-Obrist (1854-1862) unter Assistenz des Weihbischofs und Generalvikars des Bischofs von Brixen in Vorarlberg mit Sitz in Feldkirch, Georg Prünster (1836-1861), und des Abtes von Einsiedeln, Heinrich IV. Schmid (1846-1874), im Dom zu Chur die Bischofsweihe. Von den zur Konsekrationsfeierlichkeiten nach Chur eingeladenen Bistumskantone schickten lediglich Graubünden und Schwyz eine Regierungsrätliche Abordnung; die Abb. 171-173 (von links nach rechts): Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein ernennt Nikolaus Franz Florentini am 28. Februar 1818 zum Pfarrer in Vals. Bischof Johann Georg Bossi ernennt denselben am 2. Januar 1836 zum Kaplan in Domat/ Ems und am 22. November 1838 zum Pfarrer in Trimmis. [BAC] <?page no="217"?> 217 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Abb. 174 (links): Weihbischof Georg Prünster bedankt sich am 28. November 1859 für die Einladung und bestätigt die Assistenzfunktion bei der Bischofsweihe. / Abb. 175 (rechts): Der Bischof von Basel, Karl Arnold-Obrist, bestätigt Florentini am 3. Dezember 1859 als Hauptkonsekrator zu wirken. [BAC] Abb. 176: Konsekrationsurkunde für Nikolaus Franz Florentini, ausgestellt in Chur am 18. Dezember 1859 von Karl Arnold-Obrist, Bischof von Basel [BAC] <?page no="218"?> 218 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Stände Uri, Ob- und Nidwalden, Glarus und Zürich sahen davon ab. Der Regierungsrat von Zürich schrieb am 13. Dezember 1859 nach Chur: «Wir glauben bei den immer noch nicht liquiden Diöcesan-Verhältnissen unserer katholischen Bevölkerung von einer solchen Abordnung, welche leichte Mißverständnisse hervorrufen dürfte, abstrahiren zu sollen.» Obwohl Wahlkapitulationen vor, bei oder nach Bischofswahlen von Rom längst nicht mehr erlaubt waren - das päpstliche Verbot stammt aus dem Jahr 1695 - unterzeichneten im Mai 1859 die 22 in Chur versammelten Kanoniker solche Kapitulationen, welche am 25.- Mai, einen Tag vor der Wahl, aufgestellt worden waren. Die vom Gewählten beschworenen 10 Punkte - sie wurden im September 1859 vom Heiligen Stuhl mit der Begründung, das Kapitel habe hierzu keinerlei Befugnisse, allesamt annulliert - betrafen die konsequente Fortführung der Schuldentilgung des Bistums und Domkapitels infolge des verheerenden Hofbrandes von 1811, das Verbot, über Holz aus bischöflichen Waldungen nach Belieben zu verfügen, die Akzeptanz der jährlich durch den Bischof vor dem Kapitel abzulegende Rechenschaft über die Verwaltung der Bistumskapitalien, die aktive Bemühung um Errichtung eines Knaben-Gymnasiums (auf dem Hof ), die Übernahme der Realitäten und allen Grundbesitzes bei der oberen Zollbrücke in Landquart durch das residierende Domkapitel und das Einverständnis der Einverleibung alter nicht weiter zu vergebenden Hochstiftslehen (u.a. der Schlösser Remüs und Steinsberg im Unterengadin), welche mit den dazugehörigen Gütern definitiv der bischöflichen Mensa eingegliedert werden sollten. Ferner sollte dem Kapitel bei dem ihm zustehenden Wahlen neuer Canonici von Seiten des neuen Bischofs «vollständige und unbeschränkte Wahlfreiheit» zugesichert werden. Nicht zuletzt forderten die Kapitulationen bei Besetzungen von gutdotierten Pfründen eine klare Bevorzugung von nicht-residierenden Domherren vor anderen Bewerbern. Der von Bischof Florentini mit der Ökonomieverwaltung betraute Verwandte aus Müstair, Paul Foffa, Verfasser einer historischen Skizze über das Münstertal (1864), arbeitete in Folge nicht nur unzuverlässig, sondern erregte durch seine willkürlichen Veräusserungen alter Urkunden aus dem Bischöflichen Archiv an das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg und weitere Veruntreuungen grosses Aufsehen, so dass er auf Druck des Domkapitels und schliesslich auf Weisung des Nuntius entlassen wurde. Welchen Erfolg die Ernennung des zweiten bischöflichen Verwandten aus Müstair, des Kapuziners Theodosius Florentini, zum Generalvikar (1860-1865) verbuchte, ist schwer zu beurteilen, da entsprechende Forschungen über seine Zeit als Offizial und Generalvikar bis dato fehlen und aufgrund mangelnder Quellen auch recht bemühend sein werden. Jedenfalls blieb nach dem Tod Theodosius’ († am 15. Februar 1865 in Heiden/ Appenzell) das Amt des Generalvikars bis 1868 vakant; viele Arbeiten wurden durch den gewissenhaften wie geschäftsgewandten Kanzler Josef Meinrad Appert erledigt. Erst am 21. Dezember 1868 ernannte Florentini den von Papst Pius IX. erkorenen neuen Churer Weihbischof P. Kaspar Willi OSB aus Einsiedeln zum Generalvikar (1868-1877). Willi vertrat den alternden Churer Bischof auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/ 70) [siehe unten, S.-222-224]. <?page no="219"?> 219 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Florentinis Episkopat war nicht nur in der Verwaltung auf dem Hof selbst, sondern auch in der Administration der Bistumskantone durch Rückschläge gekennzeichnet. Es gelang dem Churer Bischof weder die Kantone Uri und Unterwalden definitiv in das Bistum einzugliedern noch die Säkularisation der Benediktinerabtei Rheinau durch den Kanton Zürich im Jahre 1862 zu verhindern [siehe oben]. Auch die darniederliegende Abtei Disentis, deren Verwaltung Florentini im November 1861 als Apostolischer Delegat übernahm, konnte zu seiner Zeit nicht wirklich gehoben werden [dazu weiter unten]. Nach dem Ersten Vatikanischen Konzil kam es in Zürich, wo etwa 8'800 Katholiken lebten, zur Gründung einer altkatholischen Gemeinde (1873), welcher der Kanton die Augustiner-Kirche zusprach. Im November 1875 löste der Zürcher Kantonsrat zudem einseitig die katholischen Gemeinden aus dem Verband der Churer Diözese, ohne jedoch die wachsende pastorale Tätigkeit als solche zu behindern. Noch 1873 konnte in der Stadt Zürich die Pfarrei St. Peter und Paul errichtet werden (Kirchenbau 1874). Zwischen 1874 und 1880 gelangen zudem in Horgen (St. Josef, 1874), in Männedorf (St. Stefan, 1875), in Rüti-Tann (Hl. Dreifaltigkeit, 1878) und in Langnau am Albis (St. Marien, 1880) Gründungen katholischer Pfarreien [siehe oben, S.-100]. Abb. 177 (links): Burgruine Remüs (Tschanüff) bei Ramosch, ehemaliger bischöflicher Verwaltungssitz (Burg 1780 aufgegeben) / Abb. 178 (rechts): Burgruine Steinsberg bei Ardez, seit dem 13. Jahrhundert in bischöflichem Besitz mit Gericht (Burg im Laufe des 16. Jahrhunderts aufgegeben) [BAC.BA] Abb. 179: Nikolaus Franz Florentini, Bischof von Chur 1859-1876 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="220"?> 220 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Die Beschwerden des Alters machten sich immer mehr geltend, und infolge der fast vollständigen Erblindung Florentinis erklärte er am 18. Oktober 1876 seine Demission; Papst Pius IX. nahm seinen Rücktritt am 25. November 1876 an, was der Nuntius am 1.-Dezember 1876 bestätigte. Bereits am 10. Januar 1877 wählte das Churer Domkapitel Weihbischof Kaspar Willi einstimmig zum Nachfolger. Nikolaus Franz Florentini verstarb in der Nacht auf den 29. Juni 1881 in Chur und wurde am 1. Juli 1881 gegen seinen erklärten Willen - er wollte in der Bischofsgruft bestattet werden - auf dem Friedhof vor der Kathedrale beigesetzt. Ein Grabdenkmal wurde seitens des Domkapitels, welches wiederholt mit dem Bischof im Klintsch lag, nie erstellt; jedenfalls fehlt eine Steinplatte in bzw. ausserhalb des Domes. e) Kaspar Willi OSB (1877-1879) Der am 10. Januar 1877 vom Churer Domkapitel als Nachfolger des aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretenen Nikolaus Franz Florentini gleich im ersten Walgang beinahe einstimmig postulierte Weihbischof P. Kaspar Willi OSB zum neuen Churer Oberhirten - eine der 24 Stimmen ging an Domherr Balthasar von Castelberg (1812-1897) - wurde am 2. Februar 1823 in Domat/ Ems als Sohn der Eheleute Jakob Willi und Anna Maria Cathrina Fetz geboren. Der Taufname lautete Balthasar. Der in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» 1879 abgedruckte Nachruf auf Bischof Willi hebt eine strenge religiöse Erziehung im Elternhaus hervor: «So mußten die Kinder jeden Morgen, wenn die Betglocke läutete, aufstehen und den Englischen Gruß beten, durften aber dann wieder in’s Bett gehen. Sie mußten alle Tage der hl. Messe beiwohnen, an Sonntagen mußte Predigt und Christenlehre bei Tisch wiederholt werden.» Seine Gymnasialzeit verbrachte der junge Bündner in Chur, in Freiburg im Uechtland und in Einsiedeln. Danach entschloss sich Balthasar Willi zum Ordenseintritt und legte am 1. Mai 1845 in Einsiedeln die Ewige Profess in die Hände von Abt Cölestin Müller (1825- 1846) ab; er erhielt den Ordensnamen Kaspar. Nach Absolvierung seiner philosophischtheologischen Studien wurde er am 11. Juni 1848 in der Klosterkirche Maria-Einsiedeln durch den ursprünglich aus Obersaxen stammenden Johann Martin Henni, Erzbischof von Milwaukee, Wisconsin/ USA (1843/ 75-1881), zum Priester geweiht. Danach unterrichtete er Rhetorik an der örtlichen Stiftsschule, zu dessen Präfekt er am 23. September 1849 aufstieg. Am 9. Oktober 1853 übernahm Pater Willi die ausgedehnte Pfarrei Einsiedeln; daneben fungierte er als Bezirksschulinspektor, Erziehungsrat des Kantons Schwyz und initiierte die Errichtung des Armen- und Krankenhauses in Einsiedeln. Auf wiederholtes Drängen des Geschäftsträgers der Schweizer Nuntiatur, Giovanni Battista Agnozzi (1868-1873), nach Zustimmung Florentinis zu einem Koadjutor in der Person Kaspar Willis (Schreiben an den Papst vom 4. Juli 1868) und Klärung der Finanzierung des Würdenträgers ernannte Pius IX. (1846-1878) Kaspar Willi am 21. Dezember 1868 zum Titularbischof von Antipatris in Judäa und Weihbischof für das Bistum Chur. Am 7. März 1869 erhielt der Benediktiner in der Klosterkirche zu Einsiedeln durch den Basler Bischof Eugène Lachat (1863-1884) die Bischofsweihe. Die Festpredigt bei der Konsekrationsfeier hielt Thomas Anton Huonder, Pfarrer von Trun (1863-1871), später Regens am Priesterseminar St. Luzi (1880-1898) und Domdekan (1880-1898). <?page no="221"?> 221 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Als Episcopus auxiliaris bereiste Kaspar Willi als allseitig geschätzter Seelsorger und Hirte den ganzen Churer Sprengel, förderte Kirchen(neu)bauten und den Priesternachwuchs. Besonderen Verdienst weist Willi auch beim Aufbau und bei der Neuordnung des Bischöflichen Archivs auf. Der zuständige Archivar Christian Modest Tuor (1877-1893) wurde hierfür in Einsiedeln instruiert, was es ihm ermöglichte, den verwahrlosten wie ungeordneten historischen Archivbestand in Chur einer Ordnung zuzuführen (Tuor erstellte die bis heute wichtigen Registerbände) [siehe unten, S. 288- f.]. Als Vertreter des alternden Churer Bischofs auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/ 70) setzte sich Willi auf Seiten der Majorität in Rom für die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit ein. Seine zweite Romreise 1875 ‹ad limina Apostolorum› führte ihn zu einer weiteren Begegnung mit Papst Pius IX. Pius IX. bestätigte die Elektion Willis durch das Churer Domkapitel vom 10. Januar 1877 und ernannte am 12. März 1877 den Einsiedler Pater zum neuen Churer Bischof; die feierliche Inthronisation in der Kathedrale zu Chur fand am 1. April statt. Der (zweite) Benediktiner auf dem Churer Bischofstuhl erkrankte bereits 1878 an Leberzirrhose (Krankenaufenthalte zwischen August und Oktober 1878 im Kloster Fahr und in der Statthalterei des Klosters Einsiedeln in Pfäffikon/ SZ), die am 17. April 1879 zum Tod führte. Von seinen Plänen vermochte er lediglich das neue «Proprium Curiense» zu verwirklichen und 1879 herauszugeben. Kaspar Willi wurde am 21. April 1879 als letzter Churer Ordinarius in der von Johann VI. Flugi von Aspermont (1636-1661) vor dem Rosenkranzaltar 1652 angelegten Bischofsgruft im Westjochjoch der Churer Kathedrale bestattet. Auf der 1921 ersetzten Boden-Verschlussplatte stehen die Worte: «SEPULTU- RA AD LIBITUM EPISCOPORUM ANNO MDCLII» Alle späteren Bischöfe (als erster Florentini 1881) wurden auf dem Friedhof vor der Westfassade des Domes beerdigt. Abb. 180 (links): Leistungsnachweis der Schulleitung des katholischen Gymnasiums in Chur für Balthasar Willi aus Ems vom 20. August 1827 [BAC] / Abb. 181 (rechts): Leistungsnachweis des Rektors am Jesuitenkolleg St.-Michael in Freiburg im Uechtland für Willi vom 15. August 1881 [BAC] <?page no="222"?> 222 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Erstes Vatikanisches Konzil 1869/ 70 Das Erste Vatikanische Konzil wurde am 29. Juni 1868 von Papst Pius IX. einberufen und am 8. Dezember 1869 als 20. Ökumenisches Konzil im Petersdom zu Rom feierlich eröffnet. Als Zielsetzung fixierte der Papst die Abwehr moderner Irrtümer (Liberalismus), dem er bereits mit der Enzyklika «Quanta Cura» (1864) und dem im Anhang dieses Schreibens publizierten «Syllabus errorum» den Kampf angesagt hatte, sowie die Sicherung von Glaubenswahrheiten [dogmatische Konstitution «Dei Filius», 24. April 1870]. Abb. 182: Amtlich beglaubigte und von der römischen Kurie besiegelte Abschrift der päpstlichen Ernennungsbulle vom 21. Dezember 1868 [Abschrift vom 28. Dezember 1868] [BAC] Abb. 183: Konzilsaula im rechten Kreuzarm des Petersdoms [Quelle: wikipedia] <?page no="223"?> 223 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Nach der Eröffnung fanden die Beratungen der Konzilsväter - maximial 774 Prälaten (mehr als die Hälfte aus Europa) anwesend - in 89 Generalkongregationen unter Vorsitz von 5 italienischen Kardinälen statt. Von Anfang an bestimmte die Debatte über die päpstliche Unfehlbarkeit bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehre das Konzilsgeschehen und teilte die Konzilsväter in zwei Lager. Zu den Gegnern einer möglichen Dogmatisierung zählten fast der ganze deutsch-österreichische Episkopat und ein Teil des französischen Bischofskollegiums. Sie bezweifelten meist nicht die Wahrheit des Dogmas, sondern (aus kirchenpolitischer Rücksicht) die Opportunität der Definition. Am 1. März 1870 entschied Pius IX., dass dem Schema «De Ecclesia Christi» («Von der Kirche Christi») ein Zusatz hinzugefügt werden sollte, der konkret die Unfehlbarkeit des Petrusnachfolgers behandelte. Nach langen zähen Verhandlungen - gegen 60 Bischöfe waren bereits abgereist, um nicht gegen das Dokument stimmen zu müssen - kam es am 18. Juli 1870 zur entscheidenden Abstimmung: mit 533 gegen 2 Stimmen befürworteten die (noch anwesenden) Bischöfe die dogmatische Konstitution «Pastor Aeternus», womit die Definition des Jurisdiktionsprimates und der päpstlichen Unfehlbarkeit für die ganze römisch-katholische Kirche als verbindlich erklärt wurde: • «Nach den Zeugnissen des Evangeliums ist der Jurisdiktionsprimat über die gesamte Kirche Gottes von Christus dem Herrn unmittelbar und direkt dem seligen Apostel Petrus verheissen und übertragen worden.» [1. Kapitel] • «Wer immer Petrus auf diesem Stuhl folgt, erhält gemäss der Stiftung Christi den Primat des Petrus über die gesamte Kirche.» [2. Kapitel] • «Demnach lehren und erklären wir, dass die römische Kirche auf Anordnung des Herrn über alle anderen Kirchen den Vorrang der ordentlichen Gewalt besitzt, und dass diese Jurisdiktionsgewalt des römischen Bischofs, die wirklich bischöflich ist, unmittelbar ist. Ihr gegenüber sind die Hirten und Gläubigen unabhängig von Ritus und Rang, je einzeln oder in ihrer Gesamtheit, zur hierarchischen Unterordnung und zu echtem Gehorsam verpflichtet. Dies gilt nicht nur in Fragen des Glaubens und der Sitten, sondern auch in Disziplinar- und Leitungsfragen der über die ganze Erde ausgebreiteten Kirche, so dass bei Wahrung der Einheit der ‹communio› und des Bekenntnisses desselben Glaubens mit dem römischen Bischof die Kirche Christi eine einzige Herde unter einem einzigen obersten Hirten ist.» [3. Kapitel] • «Im apostolischen Primat, den der römische Bischof als Nachfolger des Petrus, des Ersten der Apostel, über die ganze Kirche innehat, ist auch die höchste Lehrgewalt eingeschlossen. […] Deshab halten wir es für unbedingt notwendig, die einzigartige Stellung, die der eingeborene Sohn Gottes mit dem höchsten Hirtenamt verbinden wollte, feierlich zu bekräftigen. […] Deshalb lehren wir, dass es ein von Gott geoffen- <?page no="224"?> 224 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung bartes Dogma ist: Wenn der römisch Bischof ‹ex cathedra› spricht, das heisst, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität entscheidet, eine Glaubens- oder Sittenlehre sei von der ganzen Kirche festzuhalten, dann vermag er dies durch göttlichen Beistand, der ihm im seligen Petrus verheissen ist, mit jener Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Entscheidung einer Glaubens- oder Sittenlehre ausgestattet haben wollte. Und deshalb sind solche Entscheidungen des römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich» [4. Kapitel] Im Anschluss an die Juli-Sitzung gab es einen Unterbruch bis zum 11. November 1870. In zwei Generalkongregationen wurde dann noch über das Schema «De Sede Episcopali» («Über die bischöfliche Sedisvakanz») beraten. Nach der Annektion des Kirchenstaates durch Italien am 20. September 1870 vertagte Papst Pius IX. das Konzil «sine die» (ohne Termin - also auf unbestimmte Zeit); es wurde nicht wiederaufgenommen. Hauptreaktion auf die Definition des päpstlichen Primats und der Unfehlbarkeit war eine neuerliche Kirchenspaltung: die Gründung der Altkatholischen bzw. Christkatholischen Kirche [siehe oben, S. 95 f.]. Abb. 184 (links): Kaspar Willi OSB, Bischof von Chur 1877-1879 [Foto: Hugo Hafner] / Abb. 185 (rechts): Neuausgabe des «Proprium sanctorum Curiense» 1879 [BAC] <?page no="225"?> 225 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Abb. 186 (links): Programm für das Begräbnis von Bischof Kaspar Willi OSB am 21. April 1879 [BAC] / Abb. 187 (rechts): Marmornes Grabdenkmal mit Bischofswappen Willis (heute an der südlichen Wand der vorderen Krypta in der Kathedrale zu Chur) [Foto: A. Fischer] - Am 8. November 1882 beschloss das Residentialkapitel für den vestorbenen Bischof «eine anständige Gedenktafel» anzubringen. Inschrift auf dem Epitaph (in dt . Übersetzung): Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Kaspar Willi OSB, Konventuale des Klosters Einsiedeln, geboren am 2. Februar 1823 in Ems in Rätien, vom Heiligen Stuhl am 21.-Dezember 1868 zum Titularbischof von Antipatris und Weihbischof für das Bistum Chur designiert, vom Churer Domkapitel am 10. Januar 1877 zum Bischof von Chur gewählt, am 17. April 1879 gestorben. Er ruht in der Bischofsgruft und erwartet die Auferstehung. Das Monument liessen sein Vorgänger und das Residentialkapitel errichten. Er ruhe in Frieden. <?page no="226"?> 226 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung f) Franz Konstantin Rampa (1879-1888) Nach dem frühen Tod des Benediktiners Kaspar Willi auf dem Churer Bischofsstuhl am 17. April 1879 wählte das in Chur versammelte 24-köpfige Domkapitel am 28. Mai 1879 mit 13 Stimmen - 7 Stimmen erhielt Domkustos Hermenegild Simeon (1868-1893) - den Kanoniker und Bischöflichen Kanzler Franz Konstantin Rampa zum Nachfolger. Der aus dem erst seit 1869/ 71 zum Bistum Chur gehörenden Val Poschiavo (zuvor zu Como) stammenden Geistlichen wurde am 13. September 1837 als Sohn des Bauern Antonio Rampa und seiner Ehefrau Domenica Lacqua zu Poschiavo geboren. 1854 besuchte Francesco Constantino die Kantonschule in Chur, wechselte aber bereits 1855 an die Stiftsschule nach Einsiedeln. 1856/ 57 finden wir ihn als Student an der Königlich Bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität in München, 1857/ 58 an der Università Sapienza in Rom und zwischen 1858 und 1861 schliesslich in Mailand. Noch in Mailand für das Bistum Como am 25. Mai 1861 zum Priester ordiniert, arbeitete er zunächst als Vikar im Val Poschiavo. Sein weiterer Weg führte ihn jeweils in kurzen Abständen 1862 als Lehrer ans Kollegium St. Karl nach Zug, 1863/ 64 als Italienischlehrer an die Kantonschule nach Chur, 1864 wiederum nach Zug und schliesslich ab 1865/ 66 bis 1869 als gewählter Pfarrer nach Glarus, wo er in der als Simultaneum genutzten, nach dem Stadtbrand von 1861 wiederaufgebauten evangelischen Stadtpfarrkirche die Gottesdienste zu feiern sowie eine weit verstreute Katholikengemeinde im Glarnerland zu pastorieren hatte. Die Missionsstation Mitlödi geht u.a. auf seine Initiative zurück. In konfessionellen Fragen (z. B. Mischehen) zeigte er keinerlei pastorale Kompromissbereitschaft, was ihm nicht zuletzt von katholischer Seite den Vorwurf der Intoleranz eintrug. Trotz gewisser Spannungen schätze man seine klare Linie, seine seelsorgerliche Kompetenz und berief ihn alsbald zum Schulinspektor für den katholischen Teil des Kantons Glarus. Auf das Studienjahr 1868/ 69 ernannte ihn der Churer Bischof Nikolaus Franz Florentini zum Professor für Exegese und Kirchenrecht am Priesterseminar St. Luzi in Chur (1869-1878). Wieder in Chur wurde Rampa 1875 nicht-residierender Domherr, 1877 Geistlicher Rat und unter Bischof Kaspar Willi ab 1. Januar 1879 als Nachfolger Apperts Bischöflicher Kanzler und Offizial. Seine treue kirchliche Gesinnung, sein fundiertes kanonistisches als auch sprachliches Wissen, seine Kenntnis der Diözesanverhältnisse sowie seine in der Pastoral gesammelte Erfahrung würden Rampa für dieses Amt als bestens geeignet auszeichnen. Die päpstliche Konfirmation der Wahl Rampas zum neuen Churer Bischof erfolgte am 22. September 1879; die Bischofsweihe spendete ihm am 9. November 1879 in der Kathedrale zu Chur der St. Gallener Bischof Carl Johann Greith (1863-1882) [unter Assistenz des Ordinarius von Basel, Eugène Lachat (1863-1886), und des Weihbischofs von Brixen, zuständig als Generalvikar in Feldkirch, Johann Nepomuk Amberg (1865- 1882)]. Mit der Erfahrung als Lehrer, Dozent theologischer Fächer und Seelsorger in der Diaspora fiel es Rampa als Bischof nicht schwer, mit den verschiedensten Gruppierungen im Bistum Chur Kontakte zu pflegen. Jährlich visitierte er systematisch einzelne De- <?page no="227"?> 227 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Abb. 188 (links): Ernennung Rampas am 14. August 1866 durch Bischof Nikolaus Franz Florentini zum Pfarradministrator mit Sitz in Glarus [BAC] / Abb. 189 (rechts): Ein auf den 18. Oktober 1869 datiertes Zeugnis über Rampas qualifizierte pastorale Tätigkeit in Glarus [BAC] - Darin bezeugt der Präsident des Kirchenrates von Katholisch-Glarus, dass Rampa während seiner Amtszeit «den Obliegenheiten und Pflichten eines Seelsorgers im vollen Sinne getreulich & gewissenhaft nachgekommen» sei. Sein Wandel und Leben bezeichneten sie als «erbauend» und «aufmunternd», was sie alle zu grossem Dank verpflichten würde. Abb. 190 (links): Programm für die Konsekrationsfeierlichkeiten [BAC] / Abb. 191 (Mitte und rechts): Konsekrationsurkunde für Bischof Franz Konstantin Rampa, ausgestellt am 9. November 1879 in Chur von Hauptkonsekrator Carl Johann Greith, Bischof von St. Gallen [BAC] <?page no="228"?> 228 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung kanate seines Sprengels. Dadurch lernte er nicht nur die Zustände und Verhältnisse in den einzelnen Pfarreien kennen, sondern, so schreibt Johann Georg Mayer im 2. Band seiner «Geschichte des Bistums Chur» [Stans 1914], Rampas Hirtenwort habe «erfrischend» gewirkt, und durch sein menschenfreundliches Auftreten habe er «die Herzen der Diözesanen» alsbald gewonnen (S. 679). Seinem Klerus, dessen ökonomische Lage der Bischof durch persönliches Einwirken auf die Gemeinden zu verbessern suchte, legte er das Studium des Kirchenrechts besonders nahe. In seinen Hirtenbriefen scheute er sich nicht, in deutlicher Sprache den Gläubigen die verbindliche Lehre der Kirche aufzuzeigen; gleichzeitig gelang es ihm aber auch, die Liebe zur Kirche zu wecken bzw. fördern. Trotz diverser Bemühungen misslangen das Zustandekommen und die Durchführung einer Diözesansynode, auch die von Rampa 1881 geplante Neuauflage eines Churer Rituale konnte nicht verwirklicht werden. Hingegen gelang es Bischof Rampa, den oben erwähnten, eigentlich aus Deutschland stammenden Diözesangeistlichen Johann Georg Mayer (1845-1912), Professor in Kirchenrecht (seit 1889) und Regens am Priesterseminar St. Luzi (seit 1908), 1881 davon zu überzeugen, anhand des von Archivar Christian Modest Tuor (1877-1893) begonnenen erstmals systematisch geordneten Aktenbestandes des Bischöflichen Archivs Chur die früheren Forschungsarbeiten des Geistlichen und Historikers Johann Franz Anton Fetz (1809-1884) über die Churer Bischöfe weiterzuführen. Mayer entschloss sich alsbald, eine eigenständige Churer Bistumsgeschichte zu verfassen; diese erschien zuerst in Abfolge einzelner Faszikel, schliesslich 1907/ 14 in zwei voluminösen Bänden bei der Verlagsbuchhandlung Hans von Matt-& Co. in Stans - sicherlich mit der Verdienst des fleissigen Archivars Tuor, welcher nicht nur Ordnung in ein lange Zeit vernachlässigtes und seit Beginn des 19.- Jahrhunderts an Beständen geschmälertes Diözesanarchiv brachte, sondern grundlegende Registerbände anlegte, die bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Handreichungen für archivalische Forschungen im Bischöflichen Archiv Chur schlechthin bleiben sollten [siehe unten, S. 288-f.]. Auch in der diözesanen Priesterausbildung, mit der Rampa als früherer Professor für Exegese und Kirchenrecht vertraut war, setzte der Bischof neue Akzente: Er verlängerte das Theologiestudium in St. Luzi zu Chur von bislang drei auf neu vier Jahre, forderte einerseits von den Alumnen ein Studium vor Ort von mindestens drei Jahren, gestattete andererseits einzelnen Priesteramtskandidaten einen Teil ihres Studiengangs in Mailand zu absolvieren, wo er 1885 althergebrachte Freiplätze sichern konnte. Nachdem die Zürcher Gemeinde 1873 ihre Kirche an die Altkatholiken verloren hatte, konnte Bischof Rampa 1885 in der Zwingli-Stadt, die inzwischen als die grösste katholische Gemeinde im Bistum Chur zählte, die Kirche St. Peter und Paul in Aussersihl feierlich einweihen. Für deren Bau hatte er bereits 1874 eine Kollekten-Reise nach Frankreich unternommen. Zwischen 1874 und 1890 gelangen an verschiedenen Orten im Kanton Zürich weitere Pfarreigründungen, die hier in Erinnerung gerufen werden dürfen: St. Josef in Horgen (1874), St. Stefan in Männedorf (1875), Hl. Dreifaltigkeit in Rüti-Tann (1878), St. Marien in Langnau (1880), St. Margrethen in Wald (1882), St. Andreas in Uster (1884) und St. Franziskus in Wetzikon (1890). 1869 zählte man im Kanton Zürich erst 4 röm.-kath. Pfarreien mit 7 Priestern, 1893 waren es bereits deren 8 mit 12 Geistlichen. <?page no="229"?> 229 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts Seit 1882 Apostolischer Visitator für die darniederliegende Benediktinerabtei Disentis, hatte Rampa zu deren Wiederaufstieg ebenfalls Wesentliches beigetragen. 1846 durch einen Brand stark in Mitleidenschaft gezogen, kam das Kloster unter die Staatskontrolle des Kantons Graubünden; das kantonale Klostergesetz von 1861 verhinderte weitgehend die Novizenaufnahme und das schon zuvor verarmte Kloster Disentis drohte vollends unterzugehen. Nach einem Stimmungsumschwung in Volk und Bündner Regierung kam es 1880 zu einem Umdenken. Treibende Kräfte waren neben dem Churer Bischof v.a. der Disentiser Redakteur Placi Condrau, der aus Trun stammende Politiker Caspar Decurtins (bekannt unter dem Namen «der Löwe von Trun») und der Maienfelder Theophil von Sprecher. Mit Hilfe der Schweizer Benediktiner-Kongregation, insbesondere durch die Abtei Muri-Gries, wurde das Kloster am Fuss des Oberalppasses vor dem Aussterben bewahrt und erfuhr eine neue Blüte [siehe unten, S. 449]. Wenig Erfolg verzeichnete Rampa hingegen in seinen Bemühungen, von Österreich, welches aufgrund der Abtrennung der vorarlbergischen und tirolischen Bistumsanteile im Jahre 1816 die damals zugesicherte Pension von jährlich 4'000 Gulden gestrichen hatte, wieder zu erlangen. Kaiser Franz Joseph I. (1848-1916) stiftete 1882 für 6'000 Gulden österreichischer Währung - dies entsprach ca. 12'600 Franken - lediglich eine immerwährende Jahrzeit für das Haus Österreich im Dom zu Chur, welche von Bischof und Residentialkapitel am 16. Februar 1882 angenommen wurde und übrigens bis zum heutigen Tag gehalten wird (jeweils am 12. November). Der Kaiser sah davon ab, in Zukunft weitere Zahlungen zu leisten; der Bischof seinerseit leistete nie eine Verzichtserklärung auf die ihm garantierte Pension. Von der oben genannten Summe verwendete man 5'060 Franken zur Tilgung der Kathedral- Turmbauschulden, 4'000 Franken gingen an die Bischöfliche Mensa und 3'540 Franken beliess das Domkapitel für die Bestreitung der Auslagen der Jahrzeitapplikation durch Canonici und Benefiziaten. Weniger rühmlich, für die Kapuziner bis heute eine schwer verständliche Entscheidung, war die Abberufung der Mitglieder des Reformordens von der Seelsorge auf dem Hof im Jahre 1880, welche jene seit dem 17. Jahrhundert ununterbrochen sowie mit Engagement und grosser Anerkennung seitens der katholischen Bevölkerung geleistet hatten. Auf ausdrücklichen Wunsch Rampas, so bezeugt das Domkapitelsprotokoll, beschloss das Residentialkapitel die Übernahme der Seelsorge am Dom. Dem Provinzial der Abb. 192: Franz Konstantin Rampa, Bischof von Chur 1879-1888 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="230"?> 230 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Schweizer Kapuziner mit Sitz in Luzern, welcher, zwar wenig begeistert, zuvor dem Bischof die entgültige Entscheidung überlassen hatte, wurde der Beschluss des Ordinarats- Offiziums durch den Bischof in einem Schreiben vom 14. August 1880 kundgetan. Der Hindergründe und unmittelbaren Folgen dieser Abrufung hervorragender Seelsorgekräfte sowie der weiteren Entwicklung der ‹Domseelsorge› bis in die Gegenwart wird in einem eigenen Kapitel nachgegangen [siehe unten S. 327-340]. Die Kathedrale von Chur plante Rampa, einer Gesamtrestaurierung zu unterziehen, was jedoch aufgrund seiner Hirnhautentzündung im Oktober 1886 nicht mehr realisiert werden konnte. Was hingegen gelang, war ein Neubau der Hauptorgel 1886 durch den Orgelbauer Friedrich Goll in Luzern (Vertrag vom 15. April 1886) [siehe unten, S.-530]. Am Abend des 17. Septembers 1888 starb Bischof Franz Konstantin Rampa im Alter von erst 51 Jahren in Chur und wurde auf dem Friedhof vor der Kathedrale beigesetzt. Sein wenn auch nur kurzes Episkopat von 1879 bis 1888 verdient eine bislang ausstehende detaillierte Darstellung. Abb. 193: Grabepitaph für Bischof Franz Konstantin Rampa an der äusseren Nordwand der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] Inschrift auf dem Epitaph (in dt . Übersetzung): Gebeine und Asche des Erlauchtesten und Hochwürdigsten Herrn Herrn Franz Konstantin Rampa, Bischof von Chur. Er war eine einzigartige Zierde für den altehrwürdigen Sitz des hl. Luzius, fromm in Gott, integer in den Sitten, angesehen in der Wissenschaft, wachsam in der Seelsorge, tüchtig in der Anwendung der kirchlichen Rechtsprechung. Er wurde in Poschiavo am 13. September 1837 geboren, zum Priester geweiht am 25.-Mai 1861, zum Bischof konsekriert am 9. Nobember 1879. Gross ist die Schar der Trauernden um seinen frühen Tod am 17. September 1888. Er ruhe in Frieden. <?page no="231"?> 231 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts g) Johannes Fidelis Battaglia (1889-1908) Nach der Beisetzung Rampas trat das Churer Domkapitel Anfangs November 1888 zusammen und wählte am 6. des Monats im zweiten Wahlgang Johannes Fidelis Battaglia, welcher unter Franz Konstantin Rampa als stiller Arbeiter am Ordinariat die bischöfliche Kanzlei geführt hatte. Johannes Fidelis Battaglia stammte aus Parsonz und wurde am 19. Februar 1829 als Sohn des Bauern Jakob Fidelis Battaglia und seiner Ehefrau Agnes Guetg im Oberhalbstein geboren. Aus der väterlichen Verwandtschaft gingen seit dem 18. Jahrhundert mehrere Geistliche hervor, welche u.a. auch zu Residentialen des Churer Domkapitels aufstiegen: so Johann Anton Battaglia (Domkantor 1776-1781, Domscholastikus 1781- 1802); Bartholomäus Battaglia (Domscholastikus 1814-1826); Johann Maria Battaglia (Domsextar 1827-1836, Domdekan 1836-1843) und Bartholomäus Anton Battaglia (Domkustos 1862-1868) [siehe Verzeichnis des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert, S.-324-326]. Da Johannes Fidelis seine Mutter früh verlor, wurde er seit dem 11. Lebensjahr bei einem geistlichen Onkel erzogen, wo er neben seiner rätoromanischen Muttersprache auch das Deutsch erlernte. Nach dem Besuch der dem Priesterseminar St. Luzi angegliederten Kantonsschule in Chur und der Stiftsschule in Einsiedeln studierte er 1850 bis 1855 als Alumnus des Collegium Germanicum an der Università Gregoriana in Rom Theologie. Daselbst wurde er am 2. Juni 1855 für das Bistum Chur zum Priester geweiht. Zurück im Bündnerland unterrichtete Battaglia alte Sprachen an der oben genannten Kantonsschule in Chur (1857-1859) und zwischen 1859 und 1874 am Kollegium Maria Hilf in Schwyz. Für 1867/ 68 figuriert er zudem als Pfarrprovisor in Falera. Auf Bitten der ersten Generaloberin, Schwester Maria Theresia Scherer, übernahm Battaglia anschliessend die Stelle eines Spirituals am Mutterhaus der Schwestern vom Hl. Kreuz in Ingenbohl (1874-1879), wo er sich durch die Abfassung neuer Ordenskonstitutionen und die Neubearbeitung eines Betrachtungsbuches von Pater Theodosius Florentini verdient machte. 1879 berief ihn Bischof Franz Konstantin Rampa als Kanzler an den Hof zu Chur; gleichzeitig wurde Battaglia nichtresidierender Churer Domherr. Nach Eingang der päpstlichen Bestätigung Battaglias Wahl zum neuen Churer Ordinarius, datiert auf den 14. Februar 1889, spendete ihm der St. Galler Bischof Augustin Egger (1882-1902) unter Assistenz des Bischofs von Basel, Friedrich Fiala (1885-1888), und des Brixener Weihbischofs und Generalvikars in Feldkirch, Johann Nepomuk Zobl (1885-1907), am 31. März 1889 die Bischofsweihe in der Kathedrale zu Chur. Bereits innerhalb der ersten drei Jahre seines bischöflichen Wirkens visitierte Battaglia alle Gemeinden in seinem weitreichenden Churer Sprengel und spendete gleichzeitig das Sakrament der Firmung. Seine Amtszeit war insbesondere durch die wachsende Bedeutung des Diasporakatholizismus im Kanton Zürich und durch entsprechende Errichtung neuer Pfarreien sowie sozialcaritativer Einrichtungen in diesem Kanton geprägt. Zur Erinnerung: Zwischen 1890 und 1910 wurden insgesamt 13 Pfarreien errichtet: St. Franziskus in Wetzikon (1890), St. Josef in Affoltern am Albis (1891), Liebfrauen in Zürich-Unterstrass (1893), <?page no="232"?> 232 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Hl. Dreifaltigkeit in Adliswil (1894), St. Marien in Wädenswil (1895), Herz-Jesu in Zürich-Oerlikon (1895), St. Felix und Regula in Thalwil (1899), Hl. Kreuz in Zürich-Altstetten (1900), St. Laurentius in Bülach (1902), St. Primin in Pfungen (1902), St. Antonius in Bauma (1903), St. Georg in Küsnacht-Erlenbach (1903) und St. Antonius in Kollbrunn (1910). Die 1904 bis 1991 erschienene Tageszeitung «Neue Zürcher Nachrichten» unterstützte Aufbau und Festigung der katholischen Verbände und die 1896 gegründete christlich-soziale Partei [heute: CVP]. Nach 1890 suchten zudem viele Zuwanderer aus Norditalien Arbeit im Kanton Zürich. Sie bildeten dabei eine konfessionelle und sprachliche Minder- Abb. 194: Johannes Fidelis Battaglia, Bischof von Chur 1889-1908 [Foto: Hugo Hafner] Abb. 195 (links): Programm der Bischofsweihe von Johannes Fidelis Battaglia am 31. März 1889 [BAC] / Abb. 196 (rechts): Foto des Bischofs [BAC.BA] <?page no="233"?> 233 1. Die Bischöfe des 19. Jahrhunderts heit. 1896 gab es in der Stadt Zürich bereits 18'000 italienische Daueraufenthalter, so dass im Jahre 1898 die «Missione Cattolica Italiana Don Bosco» in Zürich-Aussersihl, einem multikuturellen Quartier, gegründet und daselbst 1903 ein Gotteshaus für die Seelsorge durch Salesianerpatres eingeweiht werden konnte (Vergrösserung der Kirche 1953). Die bereits unter Bischof Rampa ins Auge gefasste Neuedition des Rituale konnte auch Battaglia nicht verwirklichen, obwohl insbesondere die beiden Geistlichen Dompropst Gaudenz Willi (1842-1920) und Moralprofessor Benedikt Niederberger (1853-1914) weitere wertvolle Vorarbeiten leisteten. Niederbergers Absicht ging klar dahin, das Rituale Romanum - gegen den Willen Roms - unter Beibehaltung der alten Churer Besonderheiten (Ausgabe von 1850) neu zu edieren. Hingegen ist unter Bischof Battaglia auf Initiative des Bischöflichen Kanzlers und späteren Bischofs Georg Schmid von Grüneck (1889-1898) die Herausgabe der zwischen 1895 und 1967 erschienenen «Folia officiosa pro venerabili clero dioecesis Curiensis» als erstes offizielles und wichtiges Publikationsorgan des Bistums Chur zu nennen. Obwohl bis ins hohe Alter rüstig, resignierte Johannes Fidelis Battaglia am 12. Februar 1908 auf das Bistum, stellte sich aber für bischöfliche Amtshandlungen weiter zur Verfügung. Am 3. Juli 1909 erhielt er von Papst Pius X. (1903-1914) den Rang eines Titularbischofs von Cyzicus (Kyzikos, griechische Stadt an der Südküste des Marmarameeres in der antiken Landschaft Mysien [heute: Baliz bei Erdek, Türkei]). Abb. 197 (links): Erster Jahrgang der «Folia Officiosa» [BCC] / Abb. 198 (rechts): Begräbnisfeier für den emeritierten Bischof Battaglia [BAC] <?page no="234"?> 234 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Battaglia starb am 10. September 1913 im St. Johannes-Stift in Zizers an den Folgen eines Schlaganfalls und wurde auf dem Friedhof vor der Kathedrale von Chur am 13.- September 1913 beigesetzt. In einem der zahlreichen Nachrufe (publiziert am 10. September 1913 in der «Neuen Zürcher Nachrichten») ist über das Wirken Battaglias als Churer Hirte zu lesen: «Der neue Bischof zeigte sich nicht mehr als die fast schüchterne Gelehrtennatur von ehedem, sondern als eine leitende und führende, die sich eines dabei freilich wahrte, die Bescheidenheit, die Milde und die liebevolle Güte. Will man das Wirken eines Bischofs von Chur richtig beurteilen, muß man zu dem, was er erreichte, auch das ins Auge fassen, was er zu vermeiden wußte. Ohne je irgendwie in eine schwächliche Nachgiebigkeit oder ungesunde Kompromißsucht zu verfallen - unter steter Wahrung und Betätigung der grundsätzlichen Seiten - wußte er den Frieden in der Diözese und mit den verschiedensten Organen und Behörden und den Instanzen anderer Konfessionen zu wahren, im Residentialkanton sowohl, wie in den Urkantonen und Glarus, und auch wieder in der Diaspora. ‹Friede nach außen, Ordnung nach innen›, das kennzeichnete die bischöfliche Regierungstätigkeit von Bischof Johannes Fidelis. […] Was die Amtstätigkeit von Bischof Johannes Fidelis besonders auszeichnete, war das klare Auge und das sichere Erkennen für das Nahe- und Nächstliegende, für das, was am meisten not tat und was vor allem erforderlich war und die treue hingebende Pflege an alle diese Aufgaben, mochten sie groß oder klein sein. Für Bischof Battaglia war nichts zu geringfügig, aber auch nichts zu schwer, sobald es als Notwendigkeit sich bot.» Vor allem den Zürcher Katholiken sei dieser Churer Bischof «ein wahrhaft väterlicher Freund und Helfer» gewesen. «Für alle katholischen Werke von Bedeutung in Zürich und in der zürcherischen Diaspora, ob kirchlicher oder charitativer oder sozialer Natur, war er ein mächtiger Fürsprecher und hilfreicher Spender. […] Sein Blick erkannte stets, welche Tragweite es für die katholische Kirche der Gesamtschweiz hat, ob der Katholizismus in Zürich unter dessen immer zahlreicher werdenden Katholiken blühe oder verkümmere.» 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts a) Georgius Schmid von Grüneck (1908-1932) In der Reihe der bald 100 Bischöfe, welche historisch nachweislich seit 451 dem Churer Sprengel vorgestanden haben und vorstehen, ragt zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur wegen seines fast 25 Jahre dauernden Episkopats, sondern auch wegen seiner nicht unumstrittenen geistlichen Persönlichkeit Georg[ius] Schmid von Grüneck hervor. Ob er «zweifellos eine der grössten und glänzendsten Gestalten» unter den Churer Ordinarien markiert, oder ob Schmid von Grüneck nicht doch «das Andenken eines energischen und tatkräftigen Bischofs mit einem gewissen Hang zum Herrischen» hinterlässt, wie jüngere Portraits dies herausstreichen, muss erst noch eine bislang ausstehende genauere wissenschaftlich fundierte Forschung seiner Amtszeit erarbeiten. Hierzu wird der im <?page no="235"?> 235 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts Bischöflichen Archiv Chur ruhende Aktenberg, welcher seit 2017 in mühlseliger Arbeit geordnet wird, helfen, Schmids Charaktere und Amtsführung in das richtige Licht zu rücken. Die hier vorliegende Beschreibung seiner Tätigkeit bis zur Bischofswahl und die Charakterisierung seines Episkopats zwischen 1908 und 1932 kann lediglich ein Gerüst zu einer späteren kritischen Aufarbeitung sein. Stationen bis zur Bischofswahl 1908 Im bündnerischen Surrein (früher dt. Surrhein), einer Fraktion der politischen Gemeinde Sumvitg in der Surselva am Vorderrhein, erblickte Georg Schmid von Grüneck am 29. November 1851 das Licht der Welt. Er stammte aus einer alteingesessenen Notablenfamilie des Grauen/ Oberen Bundes. Sein Vater, Martial Anton Modest Schmid von Grüneck, vermählt mit Maria Magdalena Crufer aus Domat/ Ems, stand 1832 bis 1849 als Hauptmann und 1855 bis 1859 als Major in päpstlichen Diensten. Die Grundschule besuchte Georg in Chur, wo die Familie zwischen 1852 und 1862 wohnte, dann wieder in seiner Heimat in Surrein, Sumvitg und Rabius, um im Herbst 1866 auf das Kollegium Maria-Hilf nach Schwyz zu wechseln, wo er mit Erfolg 1872 die Maturaprüfung bestand. Das darauf begonnene Medizinstudium brach er noch 1872 ab und reiste nach London, wo er sich am St. Edmunds-Kolleg als Student für englische Sprache einschrieb. Nebenbei erteilte er Deutschunterricht. In England geprägt durch Abb. 199: Blick auf Surrein [BAC.BA] <?page no="236"?> 236 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Kardinal Henry Edward Manning (Erzbischof von Westminster 1865-1892), einem ausgesprochenen Ultramontanisten, trat er Mitte Januar 1874 als Priesteramtskandidat im Seminar St. Luzi in Chur ein und wurde bereits am 1. August 1875 durch Weihbischof Kaspar Willi ordiniert (niedere Weihen am 21. März; Subdiakon am 27. März u. Diakon am 11. April 1875). Die unruhige Natur trieb es für kurze Zeit als Hilfslehrer ans Kollegium Maria Hilf nach Schwyz und alsbald wieder nach London, wo Schmid von Grüneck in der Pfarrei Hougton le Spring als mitarbeitender Priester wirkte. Zwischen 1876 und 1878 finden wir den jungen Geistlichen an der Dominikanerhochschule Santa Maria sopra Minerva in Rom als Doktorand in Kirchenrecht eingeschrieben. Nach seiner Promotion zum Doktor beider Rechte weilte er eine zeitlang in Frankreich als Privatlehrer im Kreise einer adeligen Familie (Marquis de Cony d’Arsy). Von Bischof Kaspar Willi in die Diözese Chur zurückgerufen, wirkte Georg Schmid von Grüneck zwischen 1878 und 1880 als Lehrkraft an der Klosterschule in Disentis; danach dozierte er bis 1889 Kirchenrecht, Exegese und Pädagogik am Priesterseminar St. Luzi in Chur, wo er sich auch als (Lieder-)Komponist alsbald einen Namen machte. 1889 ernannte ihn Bischof Battaglia zum Kanzler. In dieser Funktion war Schmid von Grüneck die treibende Kraft bei der Gründung und ersten redaktionellen Betreuung des diözesanen Publikationsorgans «Folia Officiosa». Ferner erschien eine neue überarbeitete dreisprachige Fassung (dt., ital., romanisch) des diözesanen Katechismus unter der redaktionellen Hauptarbeit Schmids. Nicht zuletzt gelang es ihm als rechte Hand des Bischofs für die Diasporaregionen in den Kantonen Zürich, Glarus und Graubünden und für den Ausbau der dortigen Seelsorgestationen die dafür nötigen Gelder zu beschaffen, über deren Rechnungsführung er nicht nur in eigener Person wachte, sondern dadurch auch immer stärkere Einflussnahme in der Vergabe solcher Gelder gewann. 1898 schliesslich wurde der emsige Arbeiter aber auch zielstrebige kirchliche Karrieremann (seit 1895 nichtresidierender Domherr) Generalvikar, Offizial und gleichzeitig noch Regens am Priesterseminar (bis 1908). Am 10. Januar 1910 erreichte ihn zudem die Ernennungsurkunde Leos XIII. (1878-1903) zum päpstlichen Ehrenprälaten. In der Zeitspanne von 1898 bis 1908 wurden in Chur 123 Alumnen zu Priestern ordiniert, wobei die Zahl 1905 auf 10 und 1906 bis 1908 noch auf je 6 sank (max. 1899: 19). In der Funktion des Regens ging Georg Schmid von Grüneck nach Abschluss der St. Luzi-Kirchenrenovierung (1885-1889) als Erbauer des Florintrakts in die Geschichte der Churer Klerikerschmiede ein (1898). Das solide viergeschossige Gebäude mit grosser Dachterrasse und einem turmartigen Aufsatz gegen Westen, der ein Pendant zum Dachreiter der Seminarkirche bildete, war bereits 1899 bezugsbereit. Der wandgetäfelte, lichtdurchflutete Speisesaal, der bis heute in dieser Funktion genutzt wird, gehört mit zum Vorzeigeresultat dieses grosszügigen, unter der Leitung des Architekten August Hardegger aus St. Gallen (1858-1927, Hauptvertreter des Historismus) stehenden Erweiterungsbaus in St. Luzi an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Hardegger wirkte ferner als verantwortlicher Architekt beim Bau der Kirchen Herz-Jesu in Zürich-Oerlikon (1891-1892), Liebfrauen in Zürich-Stadt (1892-1894) und Hl. Dreifaltigkeit in Bülach (1900-1902). Überschaut man die bisherige Laufbahn des Geistlichen aus Surrein, erstaunt es wenig, wenn am 7. Mai 1908 das fast vollständig versammelte Churer Domkapitel (6 Residen- <?page no="237"?> 237 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts tiale, 18 Nichtresidentiale) - von diesen 24 waren 3 abwesend - im vierten Wahlgang durch absolutes Mehr Georg Schmid von Grüneck als Nachfolger des altershalber am 12. Februar 1908 zurückgetretenen Johannes Fidelis Battaglia zum neuen Bischof von Chur wählte. Die anderen Stimmen fielen auf Domherr Antonius Gisler. Der Elekt kommentierte seine Wahl mit folgenden Worten äusserst selbstsicher und entsprach ‹demütig› dem Entscheid der Kanoniker: «Berufen von der göttlichen Vorsehung und in den Vorhof des Episkopates gestellt, wo ich beinahe zwanzig Jahre lang alles und jedes lernen konnte, was zur Verwaltung einer Diözese gehört, - geheissen vom Papst in der Audienz vom 27. März des Jahres, die Arbeit für die Kirche Gottes nicht zurückzuweisen, sondern eine etwa auf mich fallende Wahl anzunehmen, - gewählt von euch, ehrwürdige und geliebte Brüder, die ihr, nach Anrufung des Hl. Geistes durch einen Eid euch verpflichtet habt, bei der Wahl des Bischofs nicht auf die Person zu schauen, sondern auf das Wohl und den Nutzen der hl. Kirche Gottes, - so berufen und so geheissen und so gewählt kann ich nicht anders, als in dieser Wahl den Willen Gottes anzuerkennen, den Willen Gottes, dem ich nicht widerstehen darf; und einzig und allein von diesem Beweggrunde geleitet, erkläre ich, dass ich die von euch richtig vollzogene Wahl annehme. Ich hoffe, dass ich durch die Hilfe der göttlichen Gnade arbeite, wie ein guter Soldat Christi und dass ich treu befunden werde.» Entsprechend seines letzten Ausspruchs setzte Georg Schmid von Grüneck, der sich als Bischof immer Georgius schrieb, den Wahlspruch: «Sicut bonus miles Christi» - «Wie ein tapferer Soldat Christi». Dazu passt seine am 8. April 1910 erfolgte Erhebung zum Ritter vom Heiligen Grab in Jerusalem. Noch am Vorabend des Wahltages, also am 6. Mai 1908, trafen sich alle Kanoniker und deponierten zu Händen eines neuen Bischofs einige Punkte (vgl. Domkapitelprotokoll). Unter anderem möge der künftige Ordinarius das Domkapitel in die diözesane Verwaltung mit einbeziehen. Bei Visitationen durch den Bischof seien die früheren Rezesse wieder zu erlassen und auch zu archivieren. Zudem möge der neue Bischof auf die «immer grössere Not der Diaspora in Graubünden» ein Augenmerk richten. Da die Obsorge der Diaspora mit finanziellen Fragen zusammenhänge, müssten diese zuvor sorgsam geklärt werden, bevor v.a. immer neue Missionsstationen im Kanton Zürich errichtet würden. Schliesslich richtete das Domkapitel den Wunsch an den anderntags zu wählenden Bischof, bald eine definitive Regelung der Verhältnisse zwischen dem historisch zu Chur gehörenden Bistumsteil und den seit 1819 administrierten Teilen zu erwirken. Nach einem bald 100-jährigen Provisorium dränge sich eine endgültige Lösung auf. Nach Eintreffen der Konfirmation durch den Heiligen Stuhl am 13. Juli 1908 empfing Schmid am 4. Oktober 1908 in der Kathedrale zu Chur durch seinen Vorgänger Battaglia die Bischofsweihe. <?page no="238"?> 238 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Als «miles fortis» Leiter des Bistums Chur Der Wahlspruch war in der Tat ein deutlicher Ausdruck Schmids ganzer Erscheinung: In Wort und Tat entsprach er dem Bild eines wahren Kirchenfürsten von «pontifikaler Wucht und Würde», welcher dem Bistum Chur längst vor seiner Elektion den «Stempel seiner starken Persönlichkeit» aufgedrückt hatte. - «Was macht euer ‹miles fortis›? » pflegte z. B. der Bischof von Lausanne, Genf und Fribourg, Marius Besson (1920-1945), Churer Kleriker ironisch anzusprechen. Mit der Westschweizer Diözese war Georgius Schmid von Grüneck insofern besonders verbunden, da er nach dem Tod des dortigen Bischofs André Maurice Bovet (1911-1915, gest. 3. August 1915) auf Wunsch des Papstes vom 28. August 1915 an bis zur Konsekration am 9. Januar 1916 des neuen Oberhirten, Placide Colliard (1916-1920), die Administration der Diözese Lausanne und Genf übernommen hatte. Tatkräftig arbeitete Bischof Georgius wie bereits als Kanzler und Generalvikar an einer straffen Organisation der Churer Diözese. Mit genauen Anweisungen wurden die schwierigen und teilweise recht komplizierten Vermögensverhältnisse in den einzelnen Pfarreien neu geordnet. Die verschiedenen Fonds (z. B. Pfrund-, Jahrzeiten- oder Kirchengebäudefonds) hatten säuberlich getrennt voneinander verwaltet zu werden. Gleichzeitig bemühte er sich, die Arbeit seines Amtsvorgängers im Bereich der Diaspora weiterzuführen und unterstützte - später sogar gerühmt als «Vater der Diaspora» - den Bau von Kirchen, die Errichtung neuer Pfarreien v.a. im Kanton Zürich und diverser Bildungs- und sozial-caritativer Einrichtungen in allen Teilen des Bistums. Zwischen 1908 und 1932 errichtete das bischöfliche Ordinariat im Kanton Zürich weitere 17 Pfarreien: St. Anton in Zürich-Hottingen (1908), St. Antonius in Kollbrunn (1910), Hl. Familie in Richterswil (1914), St. Josef in Zürich-Industriequartier (1916), St. Nikolaus in Homrechtikon (1919), Herz-Jesu in Zürich-Wiedikon (1921), Herz-Jesu in Hausen (1922), Abb. 200: Programm zur Konsekrationsfeier von Bischof Georgius Schmid von Grüneck am 4. Oktober 1908 [BAC] <?page no="239"?> 239 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts Liebfrauen in Hinwil (1922), St. Josef in Schlieren (1923), Guthirt in Zürich-Wipkingen (1923), Hl. Familie in Schönenberg (1924), St. Paul in Dielsdorf (1925), Maria Frieden in Dübendorf (1927), St. Anton in Wallisellen (1927), St. Benignus in Pfäffikon/ ZH (1928), St. Franziskus in Zürich-Wollishofen (1928) und Hl. Dreifaltigkeit in Zollikon (1931). Schmids Förderung und Investitionen für weitere (aber nicht verwirklichte) Umbaupläne im Seminar St. Luzi (1917/ 20) sowie für den Neubau des abgebrannten Kollegs in Schwyz (1911) und die Gesamtrestaurierung der Kathedrale zu Chur (1921-1928) [siehe unten] erwuchsen ins Unermessliche. Hinzu kamen beträchtliche Geldgaben aus der privaten Schatulle des Bischofs an durch den 1. Weltkrieg in Not geratene Personen und Institutionen, wofür Schmid alsbald selbst Kredite aufnehmen musste und diese Kredite eigenmächtig über das bischöfliche Ordinariat zu decken glaubte. Die Finanzlage der Churer Diözese geriet darüber insgesamt in eine ernsthafte, ja gefährliche Schieflage (Defizit von mehreren Millionen), was ein Bericht des St. Galler Bischofs, Robert Bürkler (1913-1930), an den Nuntius offen zu Tage beförderte, welcher im Zuge der Churer Koadjutorenfrage 1928 erstellt werden musste. Den stetig wachsenden Schuldenberg abzutragen, bemühte sich unter grossem persönlichen Einsatz Pfarrer und Prälat Franz Höfliger (1892-1985) [zu seiner Person siehe unten, S.-294-298]. Der ‹Bettelprälat› reiste hierzu mehrmals bis nach Amerika und versuchte dort während seiner zweiten Reise 1928 - zwar ohne grosse Erfolgsaussichten, jedoch auf Druck des Bischofs - 41 Bilder aus der (zumeist privaten) Bildergalerie des Churer Ordinarius in Los Angeles in Geld umzuwandeln. Der Erfolg war, wie Höfliger befürchtet hatte, niederschmetternd; die Kosten des Bildertransportes über den Atlantik übertrafen den verschwindend kleinen Erlös für ein paar verkaufte Bilder um ein Vielfaches. Wie die überkommenen Unmengen von Akten und Korrespondenzen zum Geschäft ‹Bilderverkauf› zeigen, beschäftigte sich Schmid von Grüneck seit 1915 intensiv wie auch zeit- und Kräfte raubend mit der (grösstenteils erfolglos gebliebenen) Veräusserung von insgesamt 46 Gemälden. Ab 1909/ 10 bemühte sich Georgius Schmid von Grüneck, dem Wunsch des Domkapitels vom 6. Mai 1908 entsprechend, um die seit 1819 ausstehende definitive Aufnahme der bislang administrierten Kantone Uri, Ob- und Nidwalden in das Bistum Chur [siehe oben, S.- 67-72]. Dabei hatte er den Artikel 50 der Bundesverfassung zu beachten, wonach die Errichtung von Bistümern bzw. auch eine Änderung der Zirkumskrip- Abb. 201: Georgius Schmid von Grüneck, Bischof von Chur 1908-1932 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="240"?> 240 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung tion bestehender Diözesen auf Schweizergebiet der Genehmigung des Bundes unterlag. Bei einer Vorbesprechung mit den Urkantonen am 24. Mai 1910 in Einsiedeln erklärte Schmid von Grüneck die von ihm angestrebte definitive Regelung der Bistumsfrage als eine auch vom Papst begrüsste Forderung, die sich im Interesse des kirchlichen Lebens, einer effizienteren Verwaltung des ausgedehnten Sprengels und als Voraussetzung für eine Diözesansynode stelle. Auch die Verwaltungskommission des bündnerischen Corpus Catholicum begrüsste eine endgültige Regelung des schon bald 100-jährigen Provisoriums im Sinne des Churer Bischofs und beantragte 1914 das Corpus Catholicum zuhanden des Kleinen Rates des Kantons Graubünden, dem Entwurf eines Bistumsvertrags zuzustimmen. Anfang 1916 überreichte der Kleine Rat Uri, Schwyz, Unterwalden ob und nid dem Wald sowie Glarus den Entwurf, worin die Bündner stillschweigend die Streichung der seit 1526 virulent vorhandenen Forderung, nur ein Bündner könne Bischof von Chur sein, akzeptierten, womit das Paritätsprinzip aller Diözesanstände unwidersprochen blieb (freie Bischofswahl und Wahl von Kanonikern aus allen Bistumskantonen ins Domkapitel). Die nicht einfachen Verhandlungen zum Bistumsvertrag zogen sich jedoch bis ins Jahr 1928; Mitte jenes Jahres schien eine Einigung über den mehrfach überarbeiteten Vertragsentwurf in Griffnähe. Doch blieb der Wunsch des Bischofs nach einem Abschluss bis zu seinem Tod 1932 unerfüllt. Selbst spätere, wieder aufgenommene Verhandlungen unter Bischof Laurenz Matthias Vincenz (1932-1941) und Christianus Caminada (1941-1962) führten zu keiner Lösung und verliefen im Sand der Zeit, so dass, wie oben dargelegt, bis heute das Provisorium von 1819 fortbesteht. Abb. 202: Bildergalerie im Bischöflichen Schloss zur Zeit Georgius Schmids von Grüneck [BAC.BA] <?page no="241"?> 241 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts In dem seit altersher zum Bistum Chur gehörenden Fürstentum Liechenstein (1997 Abtrennung und Erhebung zum Erzbistum) wurde 1921 eine neue Verfassung ausgearbeitet und angenommen. Die überholten Vorstellungen von Bischof Georgius, der u.a. das Erziehungswesen allein der Kirche unterstellt wissen wollte, wurden von der liechtensteinischen Regierung abgelehnt; Erziehung und Bildung wurden zwar der staatlichen Aufsicht unterstellt, aber mit dem Vorbehalt der Unantastbarkeit der kirchlichen Lehre. Die katholische Kirche, dafür kämpfte der Churer Bischof mit Erfolg, genoss auch in der neuen Verfassung als Landeskirche den vollen Schutz des Staates. Als «miles fortis» Kämpfer in den geistig-kulturellen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Als besonders tapferer Soldat fasste Schmid von Grüneck sein bischöfliches Amt auf, wenn es galt, die wahre katholische Lehre (gegen die Einflüsse des Modernismus, Sozialismus und Liberalismus) zu verteidigen, so dass er alsbald als «der römischste aller Bischöfe in der Schweiz» bezeichnet wurde. Insbesondere im Modernismusstreit folgte der Churer Bischof stramm der römischen Richtung, ja sogar auf der Ebene der Belletristik, und beauftragte damit den katholische Geistlichen, Schriftsteller und Chefredaktor bei der «Neuen Züricher Zeitung» (1900- Abb. 203 (links): Fotoaufnahme von Georgius Schmid von Grüneck im bischöflichen Ornat [BAC.BA] / Abb. 204 (rechts): Wappen des Bischofs mit dem Wahlspruch «Sicut bonus miles Christi» [BAC] <?page no="242"?> 242 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung 1902) Heinrich Federer (1866-1928), dessen gegen Karl Muth, das «Hochland» und den Modernismus gerichtete Artikelserie in den «Neuen Zürcher Nachrichten» (1910) unter dem Pseudonym ‹Senex› einiges Aufsehen erregte. Denn Federer wurde im sog. Stanser Pädophilenprozess von 1902 wegen einer angeblichen homosexuellen Handlung an einem ihm anvertrauten zwölfjährigen Privatschüler in erster Instanz verurteilt und verlor seine Reputation und seine Arbeitsstelle bei der «Neuen Zürcher Nachrichten»; in zweiter Instanz wurde er jedoch vom Zürcher Obergericht freigesprochen. Andererseits verteidigte Schmid von Grüneck loyal seinen langjährigen wie verdienstvollen Regens (1912-1932) und Dogmatikprofessor am Priesterseminar St. Luzi (seit 1893), Anton Gisler, den späteren Churer Weihbischof (1928-1932) [zu seiner Person siehe unten, S. 289-292], als dieser selber durch seine fundierte, aber schwer lesbare Publikation «Der Modernismus» (Einsiedeln 1912) zu Unrecht unter die Räder der integralistischen Glaubenshüter geriet. Gislers kirchlicher Standort wurde bereits 1909 durch die Ernennung zum Päpstlichen Hausprälaten anerkannt. Bischof Schmid, der sich bereits früher im deutschen Gewerkschaftsstreit zu Wort gemeldet hatte, widersetzte sich auch in der Schweiz rigoros allen Kompromissen und forderte rein katholische, zudem bischöflich kontrollierte Gewerkschaften. Sein Fastenmandat von 1919 war in diesem Sinn abgefasst. Von ihm stammte ferner der Entwurf für das Bettagsmandat der Schweizer Bischöfe von 1920, welches die Gewerkschaftsfrage erneut behandelte. Seiner Forderung, denjenigen Katholiken, welche konfessionell neutralen Gewerkschaften angehörten, gar die Sakramente zu verweigern, folgten jedoch die übrigen Schweizer Bischöfe nicht. Selbst die römische Kurie gab Anweisungen zu einer milderen Auslegung der kirchlichen Lehre in der Seelsorge des Alltags. Am 25. November 1923 erhielt Schmid von Grüneck als Dank für sein Engagement als «miles fortis» in der Gesellschaft von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. die Ehrendoktorwürde (dr. theol. h.c.). Bischof Georgius als international anerkannter und vernetzter Kirchendiplomat im Ersten Weltkrieg Aufgrund seiner Sprachenkenntnisse und Gewandtheit auf dem diplomatischen Parkett, schaltete im Ersten Weltkrieg Papst Benedikt XV. (1914-1922) Schmid von Grüneck in die internationalen Friedensbemühungen des Pontifex ein. Der bischöfliche Hof in Chur wurde in den Kriegsjahren 1914-1918 zu einem Zentrum der kirchlich-diplomatischen Interessenvertretung, die weit über die eifrig betriebene internationale Kriegscaritas hinausreichte und in der direkten Teilnahme Schmids an der berühmten Friedensoffensive Benedikts XV. im Sommer 1917 gipfelte. In der päpstlichen Note «Dès le début» vom 1. August 1917 schlug der Papst als neutraler Vermittler allen kriegsführenden Mächten Friedensverhandlungen vor. Er forderte Abrüstung, eine effektive internationale Schiedgerichtsbarkeit zur Vermeidung künftiger Kriege und den Verzicht auf Gebietsabtretungen. Damit wurden vom Vatikan wesentliche Grundzüge der internationalen Friedensbewegung der Vorkriegszeit aufgegriffen. Der Plan Benedikts wurde ausgeschlagen, da sich jede der Kriegsparteien als durch ihn benachteiligt ansah. Der Vatikan wurde in der Folge <?page no="243"?> 243 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts sogar von den Verhandlungen zum Waffenstillstand 1918 ausgeschlossen. In Chur wirkte Bischof Georgius das ihm Mögliche und gewährte dem damaligen Generaloberen des Jesuitenordens, P. Wladimir Ledóchowski (1915-1942), im St. Johannes-Stift in Zizers Aufnahme, so dass der Pater, durch den Kriegseintritt Italiens bedingt, die Ordensleitung von Rom in das bündnerische Zizers verlegen und von dort aus weiterführen konnte. Daselbst brachte er auch den flüchtigen König Ludwig III. von Bayern (1913-1918) unter. Zudem leitete Bischof Georgius diverse caritative Aktionen für Kriegsopfer in die Wege. Es herrschte eine Zeit des Elends, in der jedoch gerade die Presse von Schmids Erhebung in den Kardinalsstand munter zu spekulieren wusste. Bischof Georgius als Komponist und Kirchenmusiker Neben all diesen Kräfte raubenden Einsätzen als Hirte einer Diözese mit weitreichendem Administrationsgebiet und als Kirchendiplomat in Krisenzeiten auf europäischem Parkett fand Bischof Georgius Zeit und Musse zur Pflege seiner alten künstlerischen Neigungen, besonders jener der Musik. Seine entsprechenden Verdienste liegen in der Förderung des romanischen Chorgesangs, «den er als erster einheimischer Komponist von der deutschen Bevormundung befreite und dem er mit seinen kraftsprühenden patriotischen Liedern und Kriegschören Eigenständigkeit und Unabhängigkeit verlieh» (hrsg. in den «Flurs Alpinas dedicadas als Cantadurs Grischuns», gedruckt bei A. Keel, Chur 1906, 214 Seiten). Auch die Kirchenmusik hat er mit durchaus wertvollen Kompositionen bereichert (Messen, Requien, Antiphonen, Responsorien und diverse Marienlieder), deren Originale trotz intensiver Nachforschungen erstaunlicherweise weder im Bischöflichen Archiv Chur noch in den Räumen des Churer Ordinariats aufzufinden sind. Im Amt des Vorsitzenden der Schweizerischen Bischofskonferenz (1925-1932) starb Georgius Schmid von Grüneck am 6. Mai 1932 in Chur, nachdem er um wenige Monate seinen eigenen Koadjutor und Weihbischof Antonius Gisler überlebt hatte (gest. am 4. Januar 1932 im Kreuzspital Chur) und wurde unter grosser Anteilnahme der Gläubigen des ganzen Bistums Chur am 10. Mai auf dem Bischofsfriedhof vor der Kathedrale zu Chur beigesetzt. Die «Neue Bündner Zeitung» schrieb am 11. Mai: «Die Bestattung des Bischofs Georgius gestaltete sich gestern zu einer großen eindrucksvollen Feierlichkeit. Es nahmen daran teil vor allem die katholische Geistlichkeit mit den höchsten Würdenträgern der Schweiz und der vorarlbergischen Nachbarschaft, der päpstliche Nuntius in Bern, die schweizerischen Bischöfe, Aebte usw., dann die Regierungen der Kantone Graubünden, Glarus und der Urschweiz, die Stadtbehörden Churs, die kathol. Studentenverbindungen der schweiz. Universitäten mit ihren Chargierten und Fahnen [siehe Abb. 205] und ebenso die Männerchöre Chur und Frohsinn Chur, sowie viel Volk, wohl aus den meisten Talschaften des Kantons. Der recht farbenreiche Leichenzug bewegte sich vom bischöflichen Schloß um den Hof herum zur Kathedrale.» Das vatikanische Organ, der «Osservatore Romano», rühmte den Verstorbenen als «geistesgewaltigen Kirchenfürst von internationalem Format und Zeitgenosse universaler Prägung». Der Schweizer Episkopat verliere mit dem Tod Schmids von Grüneck «eines <?page no="244"?> 244 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung seiner hervorragendsten Mitglieder, hervorragendst wegen seiner Geistesschärfe, umfassenden wissenschaftlichen Bildung, seiner eindrucksvollen Würde, seiner Festigkeit in der Regierung und seiner Seelenkenntnis». Diese ruhmreiche Hymne wird sich wohl schwerlich in allen genannten Belangen durch eine wissenschaftliche Erforschung seines Episkopats erhärten können. Abb. 205 (links): Beerdigungszeremonie am 10. Mai 1932 [BAC.BA] / Abb. 206 (rechts): Grabplatte für Bischof Georgius Schmid von Grüneck an der Westfassade der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] Inschrift auf der Grabplatte (in dt Übersetzung) Hier ruht im Herrn Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Herr Georgius Schmid von Grüneck, Bischof von Chur, etc. Geboren am 29. November 1851, zum Priester geweiht am 1. August 1875, zum Bischof gewählt am 7. Mai 1908, konsekriert am 4. Oktober 1908. Verdienstvoll und im hohen Alter stehend, starb er hier am 6. Mai 1932. Der sichtbare Kranz ist dir gewiss, da du zurecht gerühmt wirst, den heiligen Glauben treu bewahrt zu haben. <?page no="245"?> 245 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts b) Laurenz Matthias Vincenz (1932-1941) Laurenz Matthias (romanisch: Luregn Mathias) Vincenz wurde am 26. März 1874 in Andiast in der Surselva als Sohn des Landwirtes Gion Gieri Vincenz und der Maria Margaretha Spescha geboren. Er war das jüngste von fünf Kindern; die beiden Brüder, welche frühzeitig nach Frankreich ausgewandert waren, um den Lebensunterhalt zu verdienen, lernte er erst bei deren Rückkehr kennen. Laurenz wuchs zusammen mit seinen beiden Schwestern auf dem elterlichen Bauernbetrieb auf; insbesondere die Mutter lernte ihre Kinder Einfachheit und Bedürfnislosigkeit. Seine Begabung fiel früh auf, und seine Mutter ergriff trotz Geldnot die Initiative, dem Jungen eine höhere Schulbildung zu ermöglichen. Seine Gymnasialzeit absolvierte er an den Klosterschulen von Disentis und Einsiedeln und trat nach Erlangung der Matura im Herbst 1896 als Alumnus in das Churer Priesterseminar ein, wo er am 19. Juli 1899 von Bischof Battaglia zum Priester ordiniert wurde. Zwischen 1899 und 1901 weilte er zum Weiterstudium in Kirchenrecht an der Università Gregoriana in Rom und wohnte in dieser Zeit im Germanikum. Nach erfolgreicher Promotion zum Doktor in Kirchenrecht (dr. iur. can.) kehrte er ins Bistum Chur zurück und wirkte zuerst als Vikar in der Pfarrei Herz Jesu in Oerlikon/ ZH (1901-1904) und dann in selber Funktion in der Stadtpfarrei St. Peter und Paul in Zürich (1904-1908). Einer Anfrage im September 1902 des Kirchenrates von Cazis, die Pfarrseelsorge dieser Gemeinde im Domleschg zu übernehmen, konnte Vincenz nicht entsprechen, da Bischof Johannes Fidelis Battaglia dem Vikar am 5. September 1902 deutlich machte, er solle in Oerlikon bleiben. Die in schriftlicher Form vom Bündner Regierungsrat Friedrich Brügger am 13. März 1907 vorgebrachte Bitte um Annahme der Stelle als Religionslehrer an der Kantonsschule in Chur lehnte Vincenz ab; Bischof Battaglia schrieb ihm am 18. März 1907, er würde ihn nicht aus Zürich abberufen. «Offen gestanden», so ergänzte der Bischof, «die Stelle des Geistlichen an der Kantonsschule ist nicht beneidenswert». Abb. 207: Blick auf Andiast/ Andest [BAC.BA] <?page no="246"?> 246 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Erst 1908 ging es zurück in die Bündner Metropole. Im September 1908 ernannte Bischof Schmid von Grüneck Vincenz zum Bischöflichen Kanzler (1908-1917) und nach erfolgter Reorganisation der Bistumsverwaltung 1917 zum Generalvikar und Offizial des Bistums (1917/ 19-1932). Bereits 1915 berief ihn Schmid ins Churer Domkapitel; 1921 wurde Vincenz als Domscholastikus (bis 1928) residierender Kanonikus. Am 29. Mai 1928 wählte ihn das Domkapitel zum Domdekan (1928-1932); die Wahl erhielt mit Datum vom 17. Juli 1928 kuriale Bestätigung. 1931 ernannte ihn Papst Pius XI. zum Apostolischen Protonotar. Nach dem Tod von Weihbischof Antonius Gisler (gest. am 4. Januar 1932) ernannte Papst Pius XI. (1922-1939) am 30.- März 1932 den Churer Generalvikar zum neuen Weihbischof (Bischof von Paphos, Zypern) mit dem Recht der Nachfolge des greisen Schmids von Grüneck. Noch bevor Vincenz konsekriert werden konnte, verstarb Schmid am 6. Mai 1932, so dass Vincenz ihm direkt als neuer Churer Ordinarius nachfolgte. Von Nuntius Pietro De Maria (1926-1935) erhielt Vincenz am 22. Mai 1932 unter Assistenz der Bischöfe von Sitten, Viktor Bieler (1919- 1952) und St. Gallen, Alois Scheiwiler (1930-1938), in der Kathedrale zu Chur die Bischofsweihe. Die neunjährige Amtszeit «des schlichten und zurückhaltenden, aber doch volksverbundenen Bischofs» war innerkirchlich durch keine grossen Ereignisse gekennzeichnet; hierzu trugen die gespannte politische Lage nach der Machtergreifung Hitlers 1933 und der 1939 ausgebrochene Zweite Weltkrieg (1939-1945) das ihre bei. Wie bereits früher nach wie vor auch als Hirte ganz auf die Seelsorge ausgerichtet und von «konzilianterer Art als sein machtbewusster Vorgänger», suchte er das Einvernehmen mit den zivilen Behörden der einzelnen Bistumskantone. Die Situation der Katholiken in der Diaspora, die Vincenz von seinem Wirken als Vikar in Zürich persönlich kannte, war ihm ein besonderes Anliegen. Auch unter seinem Episkopat wurden im Kanton Zürich Missionsstationen zu eigenständigen Pfarreien erhoben: St. Katharina in Zürich-Affoltern (1933), St. Theresia in Zürich-Friesenberg (1933), Bruder Klaus in Zürich-Irchel (1933), Herz Jesu in Turbenthal (1934), St. Martin in Meilen (1935), Maria Lourdes in Zürich-Seebach (1935), St. Verena in Stäfa (1938), Erlöser in Zürich-Riesbach (1938), St. Martin in Zürich-Fluntern (1940) und St. Burkard in Mettmenstetten (1941). Abb. 208: Laurenz Matthias Vincenz, Bischof von Chur 1932-1941 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="247"?> 247 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts In seinem bereits am 17. September 1936 verfassten und am 10. Januar 1938 ergänzten Testament wird seine einfache Lebensweise erkennbar: «Ich besitze ganz wenig. Ich habe zwar mein ganzes Leben gespart, aber nicht für mich; ich habe mein Geld verwendet für Arme, für Studenten, für arme Priester, für andere gute Zwecke und auch für meine Familie, so dass nur mehr ganz wenig übrig bleibt.» Die Einfachheit Vincenz’s stellen auch ursprüglich für das Schweizer Radio geplante Notizen heraus, welche im Januar 1941 bei einem Besuch beim Bischof von Chur gemacht worden waren, jedoch aufgrund der aussenpolitischen Ereignissen der Kriegsjahre nicht gesendet werden konnten: «Aus der ausgeprägten Stirne und den grossen Augen des Bischofs», der dem Journalisten von seinem Werdegang berichtete, sprach «eine von der Demut und inneren Festigkeit tiefen Glaubens geadelte grosse Denkkraft». Der in den letzten Monaten seiner Amtszeit vermehrt kränkliche Bischof verstarb am 29. Juli 1941 im Kreuzspital in Chur an den Folgen einer Magenoperation. Laurenz Matthias Vincenz wurde wie seine Vorgänger am 31. Juli 1941 unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Bischofsfriedhof vor der Kathedrale beigesetzt. Sein Grabmal aus Poschiavo-Serpentin gestaltete Bildhauer Carlo Arioli in Chur. Dem ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen, auf eine eigentliche Traueransprache zu verzichten, wurde entsprochen. Domdekan Christianus Caminada (1932-1941), sein Nachfolger im Bischofsamt, sagte damals zur Trauergemeinde: «Der Hochwst. Bischof Dr. Laurentius Mathias Vincenz, dem wir heute die letzte Ehre des christlichen Begräbnisses erweisen, hat noch zwei Tage vor seinem Hinschied den Sprechenden ausdrücklich und wortwörtlich gebeten, dass das Hohe Domkapitel ihm keine Grabrede halten lasse. Ich sagte ihm, dass er doch wohl erlauben werde, dass wir wie bei jedem Verstorbenen wenigstens seinen Namen und die wichtigsten Lebensdaten nennen dürfen. Ein kaum merkliches Lächeln deutete mir an, dass er diese hinnehmen wolle. Ich war gewohnt, meinem lb. Vorgesetzten und Freund im Leben jedem Wink nach Abb. 209: Selbstgestaltete Karte zum 60. Geburtstag von Bischof Vincenz am 26. März 1934 [BAC] <?page no="248"?> 248 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Möglichkeit Folge zu leisten, darum wird die anwesende Trauerversammlung verstehen, dass ich diese Schranken auch heute nicht durchbreche. Ich könnte mich zwar entschuldigen und sagen, dass er selber das Predigtamt so über alle Massen hoch hielt, dass er alle Predigten seiner Firmungsreisen schon Monate vorher schriftlich abfasste und dann mit der Ueberzeugung vortrug, dass die Verkündigung des Gotteswortes die kostbarste evangelische Pflicht des Bischofs sei; also müsse man auch heute predigen. In der Ueberzeugung, dass er als Toter uns heute selber ergreifender predige als je im Leben, weiche ich von seinen Anweisungen nicht ab.» Im Nachruf für den verstorbenen Bischof, abgedruckt in der «Schweizerischen Kirchenzeitung», lesen wir: «Ohne viel Aufhebens zu machen, wirkte er als ‹pastor bonus et fidelis›, geliebt von seinem Klerus, dem er ein wahrer Vater war, und verehrt vom werktätigen Volke, aus dem er hervorgegangen. […] Das Wirken des Oberhirten glänzte nicht so sehr nach außen, ging aber in die Tiefe. Es fiel in ruhige Zeiten, da die inneren Geisteskämpfe des Katholizismus, die sein Vorgänger ausgefochten hatte, verebbt waren und das Verhältnis mit den weltlichen Behörden, auch dank der konzilianten Natur des Bischofs, das beste war. Wenn nötig, konnte er aber auch energisch werden. […] An der Not des Volkes in der herrschenden Kriegszeit nahm sein apostolisches Herz innigen, persönlichen Anteil. Er machte bei seiner letzten Firmreise im Liechtenstein [13.-22./ 24. April 1941], einem hl. Karl Borromäus gleich, den Weg von Dorf zu Dorf zu Fuß und gab so ein erhebendes Beispiel der Einfachheit.» Abb. 210: Grabplatte für Bischof Laurenz Matthias Vincenz an der Westfassade der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] Inschrift auf der Grabplatte (in dt Übersetzung) Gerecht und fromm [ruht hier] [Bischofswappen] Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Herr Dr. Laurentius Matthias Vincenz, Bischof von Chur, geboren am 26. März 1874, zum Priester geweiht am 19. Juli 1899, zum Bischof erwählt am 30. März 1932, konsekriert am 22. Mai 1932. Seinen letzten Tag beging er am 29. Juli 1941. + Unermüdlich (fürsorgend) tätig und betend in seiner Zeit. <?page no="249"?> 249 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts c) Christianus Caminada (1941-1962) Vincenz’s Nachfolger auf dem Churer Bischofssitz stammte ebenfalls aus dem Bündner Oberland. Von kleiner, beinahe unscheinbarer Statur, war Christianus Caminada eine scharf profilierte Persönlichkeit, die auch in ihrer hohen Stellung offene und redliche Zwiesprache zu pflegen verstand. Wenn von ihm gesagt wurde, dass er seine Herkunft aus kleinbäuerlichen Verhältnissen gerne erwähnte, so offenbarte sich das nicht nur in seiner schlichten Art des Umgangs mit jedermann, sondern ebenso sehr in seinem zähen, nicht erlahmenden Arbeitswillen sowie in seinem klugen und klaren Urteil, erwachsen aus kritischem und unabhängigem Denken. Christian Josef (romanisch: Rest Giusep) Caminada erblickte am Dreikönigtag 1876 als Sohn des Landwirtes und Bürgers von Vrin, Giachen Gieri Caminada, und der Magdalena Gartmann aus Surin im Weiler Surin (Gemeinde Lumbrein im Lugnez) das Licht der Welt. Der junge Christian erlebte im Kreis von fünf Geschwistern eine glückliche Kindheit. Nach der Primarschule schickten die Eltern den Buben in die Oberschule nach Vrin, anschliessend in die Klosterschule nach Disentis. Die weitere Ausbildung durchlief Caminada im Stiftsgymnasium Einsiedeln sowie am Salesianerkolleg Regio von Alassio an der Riviera (Provinz Savona, Ligurien). Italien prägte den sich zur romanischen Kultur hingezogen fühlenden Caminada besonders. Ferner besass er in Mailand einige Verwandte, darunter die Schwägerin von Papst Pius XI., Contessa Ernestina Ratti-Caminada. Schliesslich trat Christian Caminada 1897 ins Churer Priesterseminar St. Luzi ein, wo er am 22. Juli 1900 von Bischof Battaglia zum Priester ordiniert wurde. Sein priesterliches Wirken begann mit aktiver Seelsorge als Pfarrer in Dardin (1901- 1905). Dort liess er die Kirche restaurieren und bewirkte, dass der Kirchturm mit neuen Glocken bestückt wurde. 1905 wechselte er auf die andere Talseite nach Obersaxen (bis 1912); von 1912 bis 1919 amtete er als Pfarrer in Trun. Daselbst gab er den Anstoss zur Gründung des kantonalen katholischen Lehrervereins, errichtete selber einen Arbeiter- und den katholischen Volksverein. Caminada erhoffte sich, das christlich-soziale Gedankengut durch die Vereine besser in Familie und Arbeiterschaft tragen zu können. Als einer der ersten Bündner Priester gründete er, beruhend auf den Ideen des deutschen Sozialreformers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888), eine Dorfkasse - ein grosser sozialer Schritt für Trun. Am 2. Juni 1919 berief ihn Bischof Georgius als Domkustos ins Residentialkapitel und übertrug ihm ab Januar 1920 die Seelsorge am Dom. Unter Caminadas fachkundiger Obhut und in enger Zusammenarbeit mit Architekt Walther Sulser sowie diversen Fachleuten gelang zwischen Abb. 211: Eltern von Bischof Christianus: Giachen Gieri und Magdalena Caminada-Gartmann [BAC.BA] <?page no="250"?> 250 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung 1921 und 1926 die Restaurierung der Kathedrale [dazu unten S. 533-535]. Ferner gründete er das Churer Pfarrblatt, worin er in oft sehr deutlichen Worten pastorale Problemfelder ansprach, und errichtete weitsichtig einen Fonds für eine künftige katholische Kirche (Erlöser) im Rheinquartier. Das Churer Domkapitel wählte Caminada am 31.-Mai 1932 zu seinem Dekan, am 17. April 1934 ernannte ihn Bischof Vincenz zum Generalvikar. Als Zeichen des Dankes für seine Dienste im Bistum Chur verlieh ihm Papst Pius-XI. am 8. Juli 1937 die ehrenvolle Würde eines Apostolischen Protonotars. Nach dem Hinschied von Vincenz wählte das Domkapitel am 23. September 1941 in seiner letzten «freien» Wahl nach herkömmlichen Recht [dazu ausführlich unten, S. 343- 345] Caminada zum neuen Bischof; die päpstliche Konfirmation folgte am 17. Oktober, und am 23. November 1941 empfing Christian Caminada in der Kathedrale zu Chur aus den Händen des Nuntius Filippo Bernardini die Bischofsweihe. Als Churer Ordinarius schrieb er sich fortan Christianus. Neben seinen Bemühungen um die Förderung der Seelsorge im Kanton Zürich, ohne aber ein Generalvikariat errichten zu wollen [siehe oben, S. 119 f.] - in seiner 20-jährigen Amtszeit wurden rund um den Zürichsee weitere 13 Pfarreien, 12 Pfarrrektorate und 15 Seelsorgestationen errichtet, intensivierte er die Pastoral an Akademiker und berief diverse Fremdsprachigen-, Gastgewerbe- und Taubstummenseelsorger, spendete gegen 400 Priesterweihen (davon 243 für die Diözese Chur) und konsekrierte über 50- Kir- Abb. 212 (links): Erste Nummer des «Kirchenanzeigers Dompfarrei Chur» (24. Dezember 1922) [BAC]-/ Abb. 213 (rechts): Christian Caminada als Domdekan [BAC.BA] <?page no="251"?> 251 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts Episoden aus der Wirkungszeit Caminadas als Churer Dompfarrer Mit Caminadas Wirkungszeit als pastorales Schwergewicht am Dom erschien am 24.-Dezember 1922 die erste Nummer des «Kirchenanzeigers Dompfarrei Chur», welcher damals als wichtige Informationsplattform für die Kirchgänger der Kathedrale diente und heute dem Historiker eine reichhaltige Fundgrube zum kirchlichen Leben auf dem Hof bietet. Die nachstehende Tabelle zeigt die Gottesdienstordnung in den Stichjahren 1922 und 1930. Stichjahr Sonn- und Feiertage Zeit Wochentage Zeit 1922 und 1930 Stille Messen 05.30 h 06.00 h 07.00 h Stille Messen (mit Kommunionempfang) 05.30 h 06.00 h 06.30 h 07.00 h 07.30 h 08.00 h Stille Messe mit Predigt 08.00 h Amt mit Predigt 09.00 h Singmesse mit Predigt 11.00 h Christenlehre und Segen (nicht an Festtagen und in den Schulferien) 12.30 h Vesper 14.15 h Taufen (oder nach Übereinkunft) 15.00 h Rosenkranzandacht 19.30 h Rosenkranzandacht 19.30 Beichtgelegenheiten Sa 14.30 -21.00 h So ab 05.30 h Beichtgelegenheiten 05.30 - 08.00 h Die sonntägliche Singmesse mit Predigt um 11 Uhr erfreute sich zum einen zunehmender Beliebtheit, zum anderen war sie für Dompfarrer Caminada nach neunjähriger Erfahrung 1928 aber auch Anlass zu einer Rubrik im Kirchenanzeiger. Der verantwortliche Seelsorger prangerte in ungeschminkten Worten die wachsende Unpünktlichkeit der Kirchgänger an. Den notorischen Zuspätkommenden rief er zu: «Wenn ihr euren Dienstherren gegenüber so unzuverlässig seid, wie eurem Herrgott gegenüber, dann begreife ich nicht, warum er euch nicht auf die Strasse stellt.» Er freue sich zwar, «dass die Wege empor zur Kathedrale von halb sechs Uhr an bis ein Viertel vor zwölf fast in einemfort ohne längeren Unterbruch wie auf einem Ameisenwege begangen» würden, aber er verstehe «den elenden Schlendrian derjenigen nicht, die erst bei halbvollendetem Elf-Uhr-Gottesdienst herankeuchen», so dass das Gotteshaus hinten «bis zur Undurchdringlichkeit» angefüllt werde, ohne aber, den Weisungen des Ordners folgend, noch freie Plätze weiter vorne einzunehmen; manche würden stur ihr «schafdummes ‹nein›» der freundlich anweisenden Hand des Ordners entgegensetzen. Caminada räumte ein, <?page no="252"?> 252 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung er könne durchaus verstehen, dass gewisse Predigten weniger gern angehört würden als andere, aber er könne es nicht verstehen, dass ein Christgläubiger seine Seele ohne Schaden bewahren könne, wenn regelmässig die sonntägliche Unterweisung durch bewusstes Zu-spät-Kommen ausfalle. Gemäss seiner Erfahrungen käme es sogar vor, dass gewisse Individuen «vor der Kirchentüre den Schluss der Predigt oder gar des Gottesdienstes abwarten», um erst dann kurz in die Kathedrale einzutreten, um die sonntägliche Pflicht erfüllt zu sehen. Aber auch mit einzelnen Teilnehmern in der hl. Messe schien Caminada wenig erbaut zu sein, wenn er schreibt: «Auch diejenigen begreife ich nicht, die beim Gottesdienst wenigstens teilweise anwesend sind, aber als Statisten, welche ohne Gebet die stumme Rolle des sich langweilenden Zuschauers spielen.» Zu all diesen Feststellungen habe er noch keine befriedigende Erklärung gefunden; er nähme diese jedoch gerne entgegen. Aufrichtig lud der Pfarrer dazu ein, den Gottesdienst nie als eine Last, «welcher man sich widerwillig und nur im letzten Augenblick irgendwie unterzieht», sondern als eine Wohltat zur Auferbauung im Glauben und Leben zu betrachten und ihr entsprechend nachzukommen. chen. Über die personelle Situation im Bistum soll er sich einmal pointiert geäussert haben: «Ich habe dreissig Priester zu wenig, aber zwanzig zu viel.» 1950 beging das Bistum Chur unter seiner Leitung das 1500-Jahr-Jubiläum; weitere Höhepunkte waren 1947 die Heiligsprechung des seligen Niklaus von Flüe (1417-1487), Landespatron der Schweiz, und 1960 das zum 800. Todestag begangene Adalgott- Jubiläum des zwischen 1151 und 1160 amtierenden Churer Bischofs, welcher als Bauherr der heutigen Bischofskirche gilt. In seinem Nachruf auf Christianus Caminada schrieb Regens Werner Durrer: «Bischof Christianus Caminada blieb auch als Bischof der Seelsorger mit dem klaren Blick für Zeitaufgaben und Zeitschwierigkeiten. Mit erstaunlicher Offenheit für neue Probleme verband er ein zähes Festhalten am Althergebrachten, wenn ihm das Neue irgendwie als gefährlich erschien.» (publiziert im «Bündner Tagblatt», 18. Januar 1962). Neben seiner priesterlichen und bischöflichen Tätigkeit widmete sich Caminada bereits früh der kulturgeschichtlichen Erforschung der romanisch-sprachigen Bündner Talschaften. Er war dank seiner Publikationen «Die Bündner Glocken» (Zürich 1915), «Die Bündner Friedhöfe» (Zürich 1918) und dem bis jüngst mehrfach wieder aufgelegten Abb. 214: Christianus Caminada, Bischof von Chur 1941-1962 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="253"?> 253 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts Werk «Die verzauberten Täler - Die urgeschichtlichen Kulte und Bräuche im alten Rätien» (eine Sammlung seiner wichtigsten volkskundlichen Aufsätze, erstmals erschienen in Olten 1961) in Fachkreisen bald ein angesehener Volkskundler und Kunsthistoriker, was ihm 1942 die Würde eines Ehrendoktors der theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. eintrug, und zählt zu den Förderern rätischer Sprache und Kultur. Viele Jahre gehörte er der eidgenössichen Kommission für das Schweizerische Landesmuseum und dem Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Kunstgeschichte an. Das umfangreiche Werk von Caspar Decurtins (1855-1916) aus Trun, die «Rätoromanische Chrestomathie», brachte Caminada mit den Bänden 11 (1916) und 12 (1919) zu ihrem Abschluss. Von all seinen volkskundlichen Untersuchungen betrachtete der Bischof seine Studie über «La canzun da sontga Margriata» - das rätoromanische «St. Margarethen- Lied» - (1938) als Herzstück seiner Arbeiten. Das Lied erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die knapp sieben Jahre als Mann verkleidet zur Alp geht. Als sie eines Tages ausrutscht, entblösst sich ihre Brust und der Hilfssenn entdeckt ihr Geheimnis. Obwohl ihm Margarethe viele grosszügige Versprechungen macht, besteht der Junge darauf, das Geheimnis dem Senn zu verraten. Margarethe muss die Alp verlassen; die Felder und Wiesen verdorren und die Euter der Tiere blieben fortan leer. Caminada deutet die Erzählung als Überreste eines alten heidnischen Fruchtbarkeitskultes, ein «Kristall echt rätischen Gesteins», wie er betonte. Das Wissen um die historische Vergangenheit war für Christianus Caminada als Mensch, Forscher, Priester und Bischof unerlässlich, um die Gegenwart Abb. 215 (links): Ernennung Caminadas zum Ehrenmitglied der Historischen Gesellschaft Graubünden (1941) / Abb. 216 (rechts): Ernennung Caminadas zum Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (1958) [BAC] <?page no="254"?> 254 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung besser verstehen zu können. Und wer das christliche Gedankengut fruchtbar verkünden wollte, musste gemäss seiner Überzeugung die Gegenswart verstehen. Sein Auftreten in Wort und Schrift blieb immer einfach; seine vielseitigen Interessen, Zielstrebigkeit und Arbeitsfreudigkeit haben den Geistlichen aus Surin zu einem unvergesslichen Förderer und Gestalter rätischer Sprache und Kulur werden lassen. Anlässlich des 80. Geburtstages von Bischof Caminada erschien im Amtsblatt der Diözese Chur, in den «Folia Officiosa», eine Publikationsliste [1956, Heft 1, S. 17-19]. Mit der päpstlichen Ernennung vom 12. November 1957 erhielt Bischof Caminada in Generalvikar Johannes Vonderach (1952-1962) einen Weihbischof mit dem Recht der Nachfolge (Koadjutor). Allgemein beliebt und geachtet, starb Christianus Caminada nach längerer Krankheit im Alter von 86 Jahren am 18. Januar 1962 in seiner Residenz auf dem Hof und wurde am 22. Januar unter grosser Anteilnahme auf dem Friedhof vor der Kathedrale beigesetzt. In seiner Traueransprache (publiziert im «Bündner Tagblatt», 24. Januat 1962) hob Bischof Johannes Vonderach die Verdienste seines Amtsvorgängers nochmals hervor. Caminada sei mitunter ein exzellenter «Interpret der herben, monumentalen und weihevollen Sprache» der Churer Kathedrale gewesen und habe immer wieder versucht, den Geist dieses altehrwürdigen Gotteshaueses seiner Diözese einzuhauchen. «Der Geist, der durch Abb. 217 (links): Festlicher Einzug in Attinghausen/ UR: Bischof Caminada, links hinter ihm schreitet Kanzler Johannes Vonderach [BAC.BA] / Abb. 218 (rechts): Grabplatte für Bischof Christianus Caminada [Foto: A. Fischer] <?page no="255"?> 255 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts diese Kathedrale weht, ist der Geist der christlichen Kultur, der Kunst, der lebendigen Kirche. Und Bischof Christianus war der Mann der Kultur, der Kunst und der Kirche.» Caminadas Herkunft aus kleinbäuerlichen Verhältnissen aus dem abgeschiedenen Weiler Surin offenbarte sich nicht nur in der schlichten Art des Umgangs und in seiner auch als Bischof praktizierten anspruchslosen Lebensweise - Räumlichkeiten des bischöfliches Schlosses waren zeitweise an dort bedienstete Arbeiter mit ihren Familien vermietet -, sondern ebenso sehr in seinem zähen, nie erlahmenden Arbeitswillen als Seelsorger, in seinem ungeschmälerten Interesse an volkskundlichen und kunsthistorischen Themen Rätiens sowie als klug wie achtsam handelnder Bischof. Er war zwar kein wortgewaltiger Inschrift auf der Grabplatte (in dt Übersetzung) Verleih uns Frieden, Herr. [Bischofswappen] Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Herr Dr. Christianus Caminada, Bischof von Chur, geboren am 6. Januar 1876, zum Priester geweiht am 22. Juli 1900, zum Bischof gewählt am 23. September und konsekriert am 23. November 1941, entschlief am 18. Januar 1962 friedlich im Herrn. + Gedenkt eurer Vorgänger. Abb. 219: Ordnung für die Begräbnisfeier von Bischof Christianus Caminada [BAC] <?page no="256"?> 256 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Redner; jede Art von Pathos lag ihm fern. Vielmehr wirkte er in Wort und Schrift - er war ein begnadetes Erzählertalent vor Kindern und Erwachsenen - durch die schlichte Kraft des Ausdrucks und durch unsentimentale Wärme des Gemüts, welches immer auch mit Humor durchtränkt war. In einer Predigt zum Letzten Abendmahl am Gründonnerstag erwähnte er, man habe ihm die Fusswaschung an zwölf einfachen Menschen empfohlen. Dazu meint der kleinwüchsige, im fortgeschrittenen Alter zusehends patriarchalisch asketische Züge annehmend, kurz: Er wollte den Rat nicht befolgen und begründete: «Ich bin innerlich nicht so gross, dass ich äusserlich so klein sein könnte.» - Insgesamt darf in Christianus Caminada ein unermüdlicher Seelsorger gesehen werden, der als Hirte trotz einer gesunden Distanz keine Berührungsängste kannte. d) Johannes Vonderach (1962-1990) Johannes Anton Vonderach wurde am 6. Mai 1916 als siebtes und jüngstes Kind des Hoteliers Heinrich Vonderach, Bürger von Spiringen, und seiner Ehefrau Katharina Gisler, ebenfalls von Spiringen, in Unterschächen/ UR geboren. Seine Kindheit und Jugend verbachte Johannes in Erstfeld und Altdorf. Noch während seiner Gymnasialzeit am Kollegium Karl Borromäus in Altdorf starb sein Vater 1929 und nur ein Jahr danach im März 1930 seine Mutter. Nach seiner Maturität (mit Bestnoten) begann Vonderach 1936 das Theologiestudium in Venegono bei Mailand, zog dann aber 1937 für dessen Fortsetzung nach Chur ins Priesterseminar St. Luzi, wo er am 7. Juli 1940 von Bischof Laurenz Matthias Vincenz zum Priester ordiniert wurde. Von 1940 bis 1944 weilte der Geistliche zum Weiterstudium in Theologie an der Universität Fribourg, wo er 1944 bei Professor Xavier von Hornstein über das Thema «Bischof Johann Michael Sailer, ein Meister der Seelsorge, und seine Beziehungen zur Schweiz» promovierte; die Arbeit erschien 1958 lediglich als Teildruck unter dem Titel «Bischof J. M. Sailer und die Aufklärung» in der Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie [S. 257-273. 384-403]. Anschliessend wechselte er an die Universität nach Bern, um dort sein Wissen in Geschichte und Jurisprudenz zu vertiefen. Am 25. Juni 1946 berief ihn Bischof Christianus Caminada zum Bischöflichen Kanzler (bis 1958). Somit begann für den höchst intelligenten Vonderach, welcher nie seelsorgerliche Erfahrungen auf Ebene einer Pfarrei sammeln konnte, die klassische Karriere an der bischöflichen Kurie: Neben seiner Tätigkeit als Bischöflicher Kanzler wurde er am 8. Dezember 1952 Domkustos und gleichzeitig Generalvikar des Bistums Chur. 1955 wählte ihn das Kathedralkapitel zum Domdekan. Am 31. Oktober 1957 wurde der erst 41-jährige Johannes Vonderach von Papst Pius XII. (1939-1958) unter Umgehung des seit 1948 bestehenden neuen Wahlmodus durch das Churer Domkapitel zum Weihbischof ‹cum iure successione› ernannt. Während des Gottesdienstes am 12. November 1957 zum 150jährigen Bestehen des Priesterseminars St. Luzi verkündete der anwesende Nuntius Gustavo Testa die Ernennung und löste damit spontanen Beifall aus. Am 8. Dezember 1957 fand in der Churer Kathedrale die Bischofsweihe statt. Bischof Christianus gab seinem Nachfolger damals folgende kernige Sätze mit auf den Weg: «Johannes, junger Weihbischof, Du schreitest nun als Coadjutor heran zum sechsundneunzigsten Bischof von <?page no="257"?> 257 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts Chur, diesen in seinem hohen Alter zu stützen - und wenn er fällt und nicht mehr aufsteht, weder ihn noch sein Amt zu verlassen. Heb den Stab, wenn er ihm entfallen, wieder auf und gehe, regiere, weise zurecht und stütze die Schwächen der Schwachen! » Doch erst am 18. Januar 1962 entfiel der Stab Bischof Christianus für immer. Am Beerdigungstag, dem 22. Januar, übernahm so Bischof Johannes Vonderach die Leitung des Bistums Chur. Als Wappenspruch und Leitwort hatte er aus dem Hymnus «Ave Maria Stella» die Bitte an Maria ausgewählt: «Iter para tutum» - «Gib uns sicheres Geleit». Die wichtigsten Ereignisse in Vonderachs Amtszeit bildeten das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), wo er als einer der jüngsten Bischöfe aber erstaunlich wenig in Erscheinung trat, und dann − zur Umsetzung der Konzilsbeschlüsse − die Diözesansynode 1972-1975, welche Vonderach als erster Diözesanbischof der Schweiz bereits im Mai 1966 ankündigte. Zum diözesanen «Grossereignis» Synode wird später eingegangen [siehe unten, S. 391-401]. Als weitere Brennpunkte in seinem über 25 Jahre dauernden Episkopat dürfen genannt sein: das zweite Symposium der europäischen Bischöfe, das im Juli 1969 zum Thema «Leben und Dienst der Priester» in Chur stattfand, sowie die beiden Papstbesuche Johannes Abb. 220: Bischof Johannes Vonderach (ganz links) mit weiteren kirchlichen Würdeträgern aus der Schweiz auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil [BAC.BA] <?page no="258"?> 258 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Pauls II. (1978-2005) in der Schweiz 1984 und im Fürstentum Liechtenstein 1985. In seine Amtszeit fielen ferner die staatliche Anerkennung der katholischen Körperschaften im Kanton Zürich (1963), die Errichtung (1968) und der Ausbau der Theologischen Hochschule Chur [THC] (Lizentiatsvergabe seit 1973 und staatliche Anerkennung der Abschlüsse durch den Kanton Graubünden 1976) [hierzu weiter unten]. Der von Vonderach zusammen mit den anderen Schweizer Bischöfen 1975 initiierte und der THC angegliederte «Dritte Bildungsweg» für kirchliche Berufe hatte bis zur Verlegung 1993 nach Luzern seinen festen Sitz in Chur. Bereits 1968 berief Bischof Johannes den vom Konzil vorgeschriebenen Priester- und Seelsorgerat in seiner Diözese zu konstituierenden Sitzung ein. Die zunehmenden pastoralen Aufgaben veranlassten Vonderach zudem, neben den Generalvikariaten in Chur und Zürich (seit 1956) Anfang 1970 ein drittes Generalvikariat für die Innerschweiz einzurichten. Im Zeichen des wachsenden Priestermangels in den 70er-Jahren nahm er die ersten Laientheologen in den kirchlichen Dienst auf. Weltkirchlicher Brennpunkt im Wirken Vonderachs: Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) Nicht nur für den eben erst geweihten und im Hirtenamt stehenden jungen Churer Bischof Johannes Vonderach, sondern für das Leben der katholischen Kirche des 20. Jahrhunderts generell war das von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) 1959 überraschend angekündigte und zwischen 1962 und 1965 durchgeführte Zweite Vatikanische Konzil das wohl prägendste Ereignis. Am 11. Oktober 1962 zog auch Vonderach zur feierlichen und von der Welt voller Erwartung verfolgten Eröffnungszeremonie in den Petersdom ein. Die erste Konzilssession, die bis zum 8. Dezember 1962 dauerte, brachte für den Churer Bischof die unmittelbare Erfahrung von Weltkirche und von vielen Kontakten zwischen den 2381 Konzilsvätern aus allen Kontinenten. Am 29. Oktober ernannte ihn Johannes XXIII. zum Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes des Konzils. Diese Kommission umfasste 10 Mitglieder. Nach der ersten Session starb im Frühsommer 1963 Johannes XXIII. Zu seinem Nachfolger wählte das Konklave am 21. Juni 1963 den damaligen Erzbischof von Mailand, Kardinal Giovanni Montini. Bischof Vonderach kannte Paul VI. (1963-1978) persönlich recht gut, weil der Erzbischof anlässlich seiner Ferien in Melchtal wiederholt mit Vonderach zusammengekommen war; in Sachseln zelebrierte Montini einmal das Amt am Festtag des hl. Bruder Klaus. Wegen eines Unfalls in Rom musste Bischof Johannes die zweite Konzilssession (vom 29. September bis 4. Dezember 1963) bereits im Oktober verlassen und sich in der Schweiz in Spitalpflege begeben. Am 14. September 1964 begann die 3. Session (bis 21. November); Vonderach war wieder in Rom und nahm aktiv an den Verhandlungen teil; er hatte Einsitz in der Arbeitsgruppe der deutschsprachigen Bischöfe. Insgesamt dreimal meldete sich Vonderach in der Konzilsaula persönlich zu Wort; es betraf die Themen Offenbarung, Mischehen, Laienapostolat und Würde der menschlichen Person. Ein Votum Vonderachs über die «Zeichen der Zeit» zur Einleitung des Schematas 13 «Die Kirche <?page no="259"?> 259 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts Auf überdiözesaner Ebene ist (nur) in den 60er und 70er Jahren eine grössere Aktivität Vonderachs zu verzeichnen: So präsidierte der Churer Bischof 1967 bis 1970 die Schweizer Bischofskonferenz; in diesem Gremium war er vor allem für die Bereiche Ökumene, Europa, Medien und für die Schweizerische Nationalkommission «Justitia et Pax» (bis 1977) zuständig. Seit ihrer Gründung 1972 stand er zudem periodisch der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK) vor. 1967, 1969 und 1974 vertrat er die Schweizer Bischöfe bei Bischofssynoden in Rom und war deren Delegierter im Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und in der Konferenz europäischer Kirchen (KEK). Auf seine Einladung hin wurde das CCEE-Sekretariat nach der Gründung des Rates 1971 in Chur errichtet (1977 nach St. Gallen verlegt). Seit 1971 war Vonderach Mitglied der Römischen Kongregation für den Klerus, so dass er gerne und häufig eine Reise nach Rom unternahm. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Churer Bischof im Stillen auf die Verleihung des Kardinalshutes hoffte; dieser ging dann aber 1991 überraschend an den Bischof von Sitten, Henri Schwery (1977-1995); Vonderachs Enttäuschung darüber war vielen nicht verborgen geblieben. Zwischen 1977 und 1994 amtete der Churer Bischof als Grossprior der Schweizer Statthalterei des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem. in der Welt von heute», welches er wegen der fehlenden Zeit nicht voll vortragen konnte, reichte er am 27. Oktober 1964 schriftlich ein (publiziert in: «Schweizerische Kirchenzeitung» 1964, Nr. 50). Darin bemängelt der Churer Bischof das Fehlen einer biblischen Fundierung und eines entsprechenden Gebrauchs des Ausdrucks «Zeichen der Zeit», «um die Aspekte unserer heutigen Zeit zu beurteilen». Wegen dieses Fehlens werde wohl optimistisch die Wertschätzung der menschlichen Person betont, jedoch «die Ideologie des Kollektivismus», welche «die Würde der menschlichen Person missachtet», verschwiegen. Zur Verbesserung verweist Vonderach auf die Eschatologie des Neuen Testaments, welche unmissverständlich zeige, «dass Christus selber, […] das Zeichen der Zeit, auch unserer Zeit ist, in der die Kirche in dieser Welt lebt». Zudem seien «alle Übeltaten der Mächte der Finsternis, die in dieser Welt am Werke sind», Zeichen, «welche die Christgläubigen mahnen Busse zu tun, die Hoffnung auf Christus zu setzen und das Kommen des Gottesreiches zu erwarten». Nur im Licht des eschatologischen Christus als «Zeichen des Jonas», als Sieger und König des Universums könne die Kirche die ‹Zeichen unserer Zeit› auf das Alleinnotwendige hin richtig erforschen. Sein Votum fand später wohl verdiente Berücksichtigung. Seinen 8. Jahrestag der Bischofsweihe, den 8. Dezember, erlebte Vonderach 1965 in Rom beim feierlichen Abschluss des Konzils. Der miterlebte Abschluss dieses letzten grossen Ökumenischen Konzils war für Johannes Vonderach Auftrag, nicht nur den vielbeschworenen Geist des Zweiten Vatikanums zu preisen, sondern seine tatkräftige Umsetzung in der Ortskirche voranzubringen. Es ist deshalb sein unbestrittenes Verdienst, dass er als erster Schweizer Bischof, geprägt vom Erlebnis «Weltkirche», in der Kathedrale zu Chur am 22. Mai 1966 bekannt gab, eine Diözesansynode einzuberufen: die Synode 72. <?page no="260"?> 260 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Vonderachs letzte Amtsjahre überschattete bekanntlich der Konflikt um die vom Bischof selbst gewünschte und an der römischen Kurie betriebene Ernennung seines Kanzlers und Domsextars Wolfgang Haas zum Weihbischof mit dem Recht der Nachfolge. Haas’ Ernennung erfolgte am 25. März 1988. Als der Konflikt immer schärfer wurde und Vonderachs mahnende Stimme zu dessen Beilegung unwirksam verhallte, erklärte der gebrochene und rasch alternde Bischof seinen frühzeitigen Rücktritt, den der Heilige Stuhl mit Wirkung vom 22. Mai 1990 annahm. Anfangs noch im Bischöflichen Schloss wohnend, zog er sich dann zuerst nach Seelisberg/ UR zurück und verbrachte seinen Lebensabend zurückgezogen und innerlich gebrochen in Altdorf; dort starb Johannes Vonderach am 10. Februar 1994. Sein Leichnam wurde nach Chur überführt und auf dem Friedhof vor der Kathedrale zur letzten Ruhe beigesetzt. Bischof Pierre Mamie, damals Präsident der Schweizer Bischofkonferenz, schrieb zum Tod des Churer Bischofs am 10. Februar: «Bischof Vonderach hat uns gerne in seinem Ordinariat in Chur empfangen. Mit seiner Sprachenbegabung und seinem Sinn für Gastfreundschaft, seiner Treue zur Kirche in Rom und dem Nachfolger Petri wird er nicht vergessen werden.» («Schweizerische Kirchenzeitung» 1994, S. 97) - In der Tat, die Grösse und Geborgenheit in der Katholischen Kirche, die Bischof Johannes als junger Oberhirte des Bistums Chur auf dem Konzil erfahren durfte, versuchte er mit grossem Engagement in seinen Sprengel zu tragen. Wie weit er jedoch die nachkonziliare Entwicklung in diversen Teilbereichen wirklich mitzutragen bereit war, ist schwer zu sagen; jedenfalls zeigte er bald nach Abschluss der Synode 72, dessen Initiator er war, eine wachsende Zurückhaltung, ja Ängstlichkeit gegenüber Neuerungen. Sein Wahlspruch «Iter para tutum» - «Gib uns sicheres Geleit» - bestimmte mehr und mehr sein Handeln und auch sein Zaudern. Gewiss war es persönliche Sorge um die Wahrung des katholischen Glaubens, oft aber auch mangelnde Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Nebensächlichem. Auch begründete Kritik, die in mitbrüderliche Sorge wie Sachlichkeit vor ihn getragen wurde, vertrug er schlecht. Sein Aktivismus, den er in gesamtschweizerischen, europäischen und weltkirchlichen Gremien an den Tag legte und sich damit auch zu profilieren wusste, stand im Gegensatz zur wachsenden Zurückhaltung in innerdiözesanen Angelegenheiten. In einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs war Bischof Vonderach - so kann man vorerst zusammenfassen (eine genaue Aufarbeitung seines Episkopats steht wegen den mit Schutzfristen belegten Akten noch Abb. 221: Johannes Vonderach, Bischof von Chur 1962- 1990 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="261"?> 261 2. Die Bischöfe des 20. Jahrhunderts aus) - sicherlich ein treuer Diener der Kirche, ein geschätzter Mitarbeiter in vielen Gremien und ein gern gehörter Prediger. Seine fehlenden Erfahrungen als Seelsorger, wie sie seinem Vorgänger Christianus Caminada als Bischof zugutekamen, liessen Vonderach als Hirte vor allem in den letzten zehn Jahren seiner Amtszeit ängstlich werden gegenüber einer nachkonziliaren Kirche vor Ort, die neue Wege in der Pastoral zu gehen sich nicht scheute. Abb. 222: Grabplatte für Bischof Johannes Vonderach auf dem Friedhof vor der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] Inschrift auf der Grabplatte (in dt Übersetzung) Gib uns sicheres Geleit. [Bischofswappen] Erlauchtester und Hochwürdigster Herr Herr Dr. Johannes Vonderach, Bischof von Chur vom 22. Januar 1962 bis zum 22. Mai 1990. Geboren am 6. Mai 1916, zum Priester geweiht am 7. Juli 1940, zum Bischofskoadjutor ernannt am 31. Oktober und zum Bischof ordiniert am 8. Dezember 1957. Als Emeritus starb er am 10. Februar 1994. Er ruhe in Frieden. <?page no="262"?> 262 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung e) Wolfgang Haas (1990-1997) Vorweg sei hier festgehalten, dass zu lebenden Personen im Hirtenamt im Folgenden lediglich ein kurzes biograpisches Profil geboten, nicht aber auf zum Teil kirchenpolitisch äusserst heikle Situationen eingegangen wird. Erst die Erforschung anhand der in späteren Jahren zugänglichen Akten ermöglicht ein differenziertes Bild der Churer Episkopate ab 1990. Der am 7. August 1948 in Vaduz geborene und aus Mauren/ FL stammende Wolfgang Haas studierte nach der Matura (1968) Philosophie am Collegium Marianum in Liechtenstein und Theologie an der Universität in Freiburg im Uechtland. Am 7. April 1974 spendete ihm Bischof Johannes Vonderach in Chur das Sakrament der Priesterweihe. Parallel zur Assistenz am Lehrstuhl für Dogmatik der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Ü. absolvierte Haas 1974 das Lizenziatsstudium in Theologie sowie von 1975 bis 1978 das Studium des kanonischen Rechts an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Da Vonderach nach dem Rücktritt von Kanzler Sergio Giuliani (1958-1978, Domdekan 1971- 1987) dringend eine ihm gewogene Nachfolge in diesem Amt am bischöflichen Hof brauchte, berief er den jungen Haas vom noch nicht abgeschlossenen Doktoratsstudium aus Rom ab und ernannte ihn im August 1978 zum bischöflichen Kanzler (bis 1989). Trotz Zusicherung des Bischofs, die akademische Arbeit in Chur vollenden zu können, fand Kanzler Haas hierfür keine Zeit mehr, so dass seine umfangreiche Arbeit bis dato in der Schublade verschwand. Auf die ausdrückliche Bitte des Churer Bischofs wurde Wolfgang Haas, 1986 bereits als Domsextar ins Residentialkapitel berufen, von Papst Johannes Paul II. am 25. März 1988 zum Bischofskoadjutor ernannt. Durch das damit verbundene automatische Nachfolgerecht wurde das gemäss kirchlichem Privileg dem Churer Domkapitel 1948 gewährte «Bischofswahlrecht» ab einer von Rom vorgelegten Dreierliste [siehe unten, S. 348 f.] geschickt (wie bereits 1957) erneut umgangen. Die Bischofsweihe fand unter unschönen tumultösen Begleiterscheinungen auf dem Hof vor der Kathedrale am 22. Mai 1988 durch Diözesanbischof Vonderach unter Assistenz der Bischöfe von Sitten (Henri Schwery) und St. Gallen (Otmar Mäder) im Dom zu Chur statt. Haas’ Wahlspruch lautet: «Maria duce obviam Christo» - «Mit Maria Christus entgegen». Abb. 223: Wolfgang Haas, Bischof von Chur 1990- 1997, Apostolischer Administrator 1997-1998 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="263"?> 263 3. Die Bischöfe des 21. Jahrhunderts Seine Amtsführung - Vonderach trat am 22. Mai 1990 zurück - war, durch nicht zur Ruhe kommende innerkirchliche Proteste sowie seine Person vernichtende negative Pressekampagnen überschattet, schwierig und geriet mitunter durch seine zu wenig durchdachten Personalentscheide immer mehr ins Rampenlicht der Kritik, so dass 1993 die römische Kurie Haas zwei Weihbischöfe an die Seite stellte (P. Peter Henrici SJ und P.-Paul Vollmar SM). Da diese Massnahme kaum beruhigende Wirkung zeigte, entschloss sich Papst Johannes Paul II. schliesslich zur Loslösung Liechtensteins aus dem Churer Bistumsverband, erhob dieses Territorium am 2. Dezember 1997 zur Erzdiözese und ernannte Wolfgang Haas mit gleichem Datum zu dessen ersten Erzbischof von Vaduz [siehe oben S. 156-160]. Der auch im Ländle aufkeimende Widerstand gegen diesen Entscheid und die päpstliche Ernennung blieb wirkungslos. Nach seiner Erhebung zum Erzbischof verwaltete Haas das Bistum Chur noch bis zum 23. August 1998 als Apostolischer Administrator. 3. Die Bischöfe des 21. Jahrhunderts a) Amédée Grab OSB (1998-2007) Mit der Amtsübernahme des Einsiedler Mönches und Bischofs Amédée Grab am 23. August 1998 kam es rasch zu einer innerkirchlichen Beruhigung. Grab vermochte durch seine konsiliante und gewinnende Art die äusseren Wogen zu glätten, hatte aber während seines Churer Episkopats manche der anstehenden und tiefer liegenden Probleme keineswegs einer Lösung zugeführt. Am 3. Februar 1930 in Zürich als Sohn des Buchhalters Joseph Grab und seiner Ehefrau Germaine Triolet geboren, wuchs Antoine-Marie (Taufname) in Genf auf, besuchte dort auch das Collège St-Louis, wechselte aber dann als Bürger von Schwyz 1947 nach Einsiedeln. 1949/ 50 trat er ins Noviziat des dortigen Benediktinerklosters ein und studierte an der hauseigenen Schule Theologie. Am 8. September 1950 legte er die feierliche Profess ab (Ordensname: Amédée) und wurde am 12. Juni 1953 daselbst zum Priester geweiht. Als Gymnasiallehrer wirkte er 1955-1958 in Einsiedeln, 1958-1978 am Collegio Papio in Ascona/ TI. Zwischenzeitlich beteiligte er sich an der Synode 72 des Bistums Lugano und amtete als Moderator der Interdiözesanen Koordinationssitzungen der nachkonziliären Synode (1973-1975). 1965/ 66 studierte Grab romanische Philologie an der Universität Fribourg und kehrte 1978 an die Stiftsschule nach Einsiedeln zurück, wo er bis 1983 als Lehrkraft wirkte. 1983 berief man Pater Amédée Grab zum Sekretär der Schweizer Bischofskonferenz (bis 1987); dadurch wurden ihm alsbald Türen zu seiner kirchlichen Karriere geöffnet. Am 3. Februar 1987 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Titularbischof von Cene (nördliches Algerien) und Weihbischof des Bistums Lausanne-Genf-Fribourg mit Sitz in Genf; die Bischofsweihe empfing er am 12. April 1987 durch Bischof Pierre Mamie in der Freiburger Kathedrale. Am 9. November 1995 erfolgte die Ernennung zum Bischof von <?page no="264"?> 264 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Lausanne-Genf-Fribourg (Amtseinführung: 26. November 1995). Seit 1. Januar 1998 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, erreichte ihn am 9. Juni 1998 die Nachricht über seine Wahl durch das Churer Domkapitel zum neuen Churer Bischof, welche bereits am 12. des gleichen Monats von Rom bestätigt wurde. Als Churer Bischof wurde Grab zudem am 18. April 2001 auf der Vollversammlung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) zu dessen Präsidenten gewählt; dem Rat stand er bis 2006 vor. Seine damit verbundene häufige Ortsabwesenheit war für das Bistum Chur wenig dienlich. Papst Benedikt XVI. (2005-2013) nahm am 5.-Februar 2007 den Rücktritt von Amédée Grab als Bischof der Diözese Chur an und ernannte ihn gleichzeitig (bis zur Wahl und Bestätigung seines Nachfolgers) zum Apostolischen Administrator; in dieser Funktion amtete er bis zur Amtsübergabe an Vitus Huonder am 16. September 2007. Seinen Ruhestand verbrachte der vielgereiste und sich gerne in Gesellschaft aufhaltende Benedikter bis Oktober 2017 in einem einfachen Wohnappartement im Priesterseminar St. Luzi. Seit Herbst 2017 wohnt Bischof Amédée im Casa di cura Immacolata in Roveredo/ GR. Abb. 224: Ernennungsbulle vom 12.-Juni 1998 für Bischof Amédée Grab zum Diözesanbischof von Chur [BAC] Abb. 225: Amédée Grab OSB, Bischof von Chur 1998-2007 [Foto: Hugo Hafner] <?page no="265"?> 265 3. Die Bischöfe des 21. Jahrhunderts b) Vitus Huonder (seit 2007) Bischof Amédées Nachfolger, Vitus Huonder, war eine am Churer Ordinariat bereits bekannte Persönlichkeit. Am 21. April 1942 in Trun/ GR geboren, besuchte er ab 1958 das Gymnasium der Benediktiner in Disentis (Matura 1963). Seine philosophischen und theologischen Studien absolvierte Huonder in Einsiedeln, Rom (Sant’ Anselmo) und Fribourg. Am 25. September 1971 weihte ihn Bischof Johannes Vonderach in der Pfarrkirche Felix und Regula zu Thalwil/ ZH zum Priester. Das Weiterstudium an der Universität Fribourg führte ihn 1973 zur Doktorwürde in Theologie; seine Dissertationsschrift trägt den Titel «Israel, Sohn Gottes: Zur Deutung eines alttestamentlichen Themas in der jüdischen Exegese des Mittelalters» (Göttingen 1973). An der Theologischen Fakultät in Fribourg arbeitete er 1972-1976 als Hochschulassistent; ferner wirkte er in dieser Zeit als Dozent für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Chur. Anfang August 1976 wechselte Huonder in die Pastoral und amtete bis 1982 als Pfarrer im zürcherischen Kilchberg, 1982-1984 als Pfarrhelfer in Sachseln und von 1984-1988 als Pfarrer an der Wallfahrtskirche St. Antonius in Egg/ ZH. Nach seiner Habilitation im Fachbereich Liturgiewissenschaft in Fribourg - «Die Psalmen in der Liturgia horarum» (Freiburg/ CH 1991) - berief ihn Bischof Wolfgang Haas am 1. Juni 1990 zum Generalvikar für Graubünden, Glarus und Liechtenstein (bis 1993) und ernannte ihn gleichzeitig in der Stellung des Domkustus zum residierenden Churer Domherrn. 1991 wurde er zudem in den Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem investiert. Kurzzeitig übernahm er an der Theologischen Hochschule Chur die Dozentenstelle für Liturgie (1993-1994), amtete 1997-1998 als Bischofsvikar und unter Bischof Amédée dann seit dem 22. Oktober 1998 wieder als regionaler Generalvikar für die Bistumsregion Graubünden (zugleich Moderator der Diözesankurie). Den päpstlichen Ehrenprälaten (2000) - Vitus Huonder wurde bereits 1998 als ‹episcopabilis› gehandelt - wählte das versammelte Churer Domkapitel am 6. Juli 2007 nach mehreren Wahlgängen aus einer vom Heiligen Stuhl vorgelegten Terna zum Nachfolger Grabs. Da das Wahlergebnis entgegen den Gepflogenheiten nicht geheim blieb, sah sich Papst Benedikt XVI. (2005-2013) gezwungen, die Wahl sofort zu bestätigen den Votierten bereits am 8. Juli 1998 zum neuen Churer Bischof zu ernennen. In der exemten Klosterkirche in Einsiedeln erhielt Huonder am 8. September 2007 die Bischofsweihe; Hauptkonsekrator war Bischof Amédée Grab, Mitkonsekratoren Nuntius Francesco Canalini (2004-2011) und der damalige Basler Bischof Kurt Koch (1995-2010). Huonder wählte als bischöflichen Wahlspruch: «Instaurare omnia in Christo» - «Alles in Christus erneuern». Davon inspiriert war seine Ansprache im Anschluss an die Bischofsweihe an die Gläubigen: «Brüder und Schwestern im Herrn, wir alle bedürfen dieser Erneuerung, die Kirche bedarf ständig dieser Erneuerung, die Welt bedarf ihrer. Deshalb wollen wir uns in Dankbarkeit unserem Herrn übergeben und von ihm alles erwarten. Wir wollen auch in Zeiten von Not und Bedrängnis, von Ratlosigkeit und Unsicherheit, von Zweifeln und Ängsten das Vertrauen in unseren Herrn nicht verlieren, vor allem aber wollen wir ihm unsere ganze Liebe schenken und uns so immer stärker an ihn und an sein Werk, die heilige Kirche, binden. Nichts möge uns, in Anspielung an die Worte des heilige Paulus (Röm 8,35), scheiden von der Liebe Christi: <?page no="266"?> 266 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Von jener Liebe, welche wir ihm erweisen, aber auch von jener Liebe, mit der er uns geliebt hat und unablässig liebt. Mit diesen Worten und Gedanken möchte ich meinen bischöflichen Auftrag beginnen und ihn ganz unter das Zeichen Christi stellen. Alles soll der Verherrlichung unseres Herrn und seiner Kirche dienen und dazu beitragen, dass Christus mehr und mehr bekannt und geliebt werde; dass die Menschen Christus als ihren Heiland und Erlöser erkennen und in ihm das Heil finden. «Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen» (Apg 4,12). So wollen wir uns nach dem Beispiel und Vorbild unserer Gottesmutter Maria, aber auch kraft der Fürbitte der seligen Jungfrau ganz in den Dienst des Herrn stellen.» Nach seinem altersbedingten Rücktrittsangebot im April 2017 verlängerte Papst Franziskus (seit 2013) für viele überraschend die Amtszeit von Vitus Huonder um zwei Jahre (bis Ostern 2019). Ob die vom Bischof erstrebte «Erneuerung in Christus» während seines Episkopats tatsächlich gelingt, muss sich weisen. Die in den letzten Jahren vermehrte Kontaktpflege und starke Förderung traditionalistischer Gruppierungen in der Kirche durch Bischof Huonder (Favorisierung der ausserordentlichen Form des römischen Ritus) trägt sicherlich kaum dazu bei, die Diözese Chur, für die er primär verantworlich zeichnet, auf diese Weise zu einen. Abb. 226: Ernennungsbulle vom 8. Juli 1998 für Vitus Huonder zum Bischof von Chur [BAC] Abb. 227: Vitus Huonder, Bischof von Chur (seit 2007) [Foto: Pieder Sulser] <?page no="267"?> 267 4. Wandel in Bistum und Bistumsleitung: Einblicke in Struktur und Organisation 4. Wandel in Bistum und Bistumsleitung: Einblicke in Struktur und Organisation Der beinahe 40jährige Episkopat des letzten Churer Fürstbischofs Karl Rudolf von Buol- Schauenstein (1794-1833) fiel, wie bereits aufgezeigt, in die Zeit jener grossen Umwälzungen, die dem Churer Bistum zum einen den endgültigen Verlust des tirolischen und vorarlbergischen Anteils (1816), zum andern den Gewinn des schweizerischen Anteils von Konstanz brachte (1819). Darüber hinaus waltete Buol-Schauenstein ab 1823 als Oberhirte einer, wenn auch zeitlich begrenzt (bis 1836) existierenden Doppeldiözese Chur-St.Gallen. Seine längeren Aufenthalte ausserhalb der Bischofsstadt Chur, in Meran (1799-1806), in Solothurn (1809-1814) und St. Gallen bedingten eine funktionierende Bistumsleitung auf dem Hof, die nicht nur im ständigen Kontakt mit dem abwesenden Ortsordinarius, sondern auch im Verbund mit den zuständigen bischöflichen Vikaren in den einzelnen Teilen des weiten Territoriums stand. Deshalb ist ein Blick auf den Wandel von Struktur und Organisation des Bistums Chur im 19. und 20. Jahrhundert, welcher von diversen Geistlichen gestaltet und mitgeprägt wurde, von Wichtigkeit. a) Strukturelle Veränderungen in der Churer Bistumseinteilung zwischen 1816 und Gegenwart (Tabellen) Die in den Tabellen auf S. 268-270 verwendeten Farben bedeuten: Bistumsregion Graubünden Bistumsregion Urschweiz Bistumsregion Zürich-Glarus <?page no="268"?> 268 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Einzelne (Landes-) Regionen / Kantone Kirchliche Einteilung seit 1816/ 19 Kirchliche Einteilung seit 1970 Kirchliche Einteilung seit 2000 Territoriale Namensgebung Graubünden [gehört (ausser das Val Poschiavo) zum Kerngebiet des Bistums Chur] 10 Dekanate - Chur und Umgebung - Disentis - Lugnez - Gruob - Misox (Val Mesolcina) - Calanca (Val Calanca) - Ob dem Schyn - Unter dem Schyn - Engadin-Bergell - Poschiavo (seit 1871) 5 Dekanate - Chur und Umgebung - Surselva - Grigioni italiano (Misox-Calanca/ Poschiavo- Bregaglia) - Ob dem Schyn-Davos - Engadin 6 Dekanate - Chur - Surselva - Melsocina-Calanca - Poschiavo-Bregaglia - Ob dem Schyn-Davos - Engadin-Val Müstair seit 1970: Generalvikariat Graubünden-Glarus-FL (mit Sitz am Churer Ordinariat) Bistumsregion Graubünden Fürstentum Liechtenstein [Kerngebiet Bistum Chur] Bischöfliches Landesvikariat (Liechtensteinisches Priesterkapitel, 1850-1970) Dekanat Liechtenstein (1970-1997) ▶ seit 1997 Erzbistum Vaduz Ursern [Kerngebiet Bistum Chur] Deputat Ursern 1969 Zusammenschluss des Deputats Ursern mit dem Priesterkapitel Uri zum Dekanat Uri zum Dekanat Uri gehörig Bistumsregion Urschweiz <?page no="269"?> 269 4. Wandel in Bistum und Bistumsleitung: Einblicke in Struktur und Organisation Einzelne (Landes-) Regionen / Kantone Kirchliche Einteilung seit 1816/ 19 Kirchliche Einteilung seit 1970 Kirchliche Einteilung seit 2000 Territoriale Namensgebung St. Gallen [1823-1836 Doppelbistum Chur-St.Gallen] Teile aus ehemals Churer Gebieten (Dekanat «Unter der Landquart»): - Kommissariat Unter dem Walensee [seit 1828 Kapitel Gaster] - Kommissariat Ob dem Walensee [seit 1828 Kapitel Sargans] Teile aus ehemals Konstanzer Gebieten (6 Priesterkapitel): - St. Gallen - Gossau - Untertoggenburg - Obertoggenburg - Rheintal - Uznach ▶ seit 1847 bildet der Kanton St. Gallen ein eigenes Bistum Schwyz [seit 1824 definitiv zu Chur] Kommissariat Schwyz [seit 1688] mit Subkommissariat March 2 Priesterkapitel: - Priesterkapitel Schwyz - Priesterkapitel Zürich- March (1807-1877) / Priesterkapitel March- Glarus (1878-1969/ 70) 3 Dekanate - Dekanat Innerschwyz - Dekanat Ausserschwyz - Dekanat Kollegium Maria Hilf, Schwyz 2 Dekanate - Dekanat Innerschwyz - Dekanat Ausserschwyz seit 1970: Generalvikariat Urschweiz (mit Sitz in Chur [bis 1998], Sarnen [1998- 2009] und Ingenbohl [seit 2009]) Bistumsregion Urschweiz Uri [bis heute «Administratio Constantiensis»] Kommissariat Uri [ohne Ursern] [seit 1635] Dekanat Uri [mit Ursern] Dekanat Uri [mit Ursern] Bistumsregion Urschweiz <?page no="270"?> 270 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Einzelne (Landes-) Regionen / Kantone Kirchliche Einteilung seit 1816/ 19 Kirchliche Einteilung seit 1970 Kirchliche Einteilung seit 2000 Territoriale Namensgebung Obwalden [bis heute «Administratio Constantiensis»] zuerst zum Kommissariat Unterwalden, ab 1900 eigenes Kommissariat Dekanat Obwalden Dekanat Obwalden Bistumsregion Urschweiz Unterwalden [bis heute «Administratio Constantiensis»] Kommissariat Unterwalden [inkl. Obwalden], seit ca. 1723 Dekanat Nidwalden Dekanat Nidwalden Bistumsregion Urschweiz Glarus [bis heute «Administratio Constantiensis»] Kommissariat Glarus seit 1678 Die kath. Pfarreien des Kantons GL gehörten zwischen 1807 und 1969 zum Priesterkapitel Zürich- March (1807-1877) bzw. March-Glarus (1878- 1969/ 70) Dekanat Glarus (seit 1974) Dekanat Glarus Bistumsregion Zürich-Glarus Zürich [bis heute «Administratio Constantiensis»] Kommissariat für den Kanton ZH (1876-1956) - Priesterkapitel Zürich- March (1807-1877) / dann: - Priesterkapitel für den Kanton Zürich (1877- 1978) 4 Dekanate - Zürich-Stadt - Winterthur - Albis - Züricher Oberland 4 Dekanate - Zürich-Stadt - Winterthur - Albis - Zürcher Oberland seit 1956: Generalvikariat für den Kanton Zürich (mit Sitz in Zürich) Bistumsregion Zürich-Glarus Schaffhausen 1858 dem Bistum Basel zugeschlagen Hinweis: Erst 1978 schlossen sich die Kantone Basel-Land, Basel-Stadt und Schaffhausen vollumfänglich dem Konkordat von 1828 an und gehören seither fest zum Bistum Basel. Appenzell 1866 als Administration dem Bistum St. Gallen zugeschlagen Die Administration des Gebiets der beiden Halbkanton Appenzell-Innerrhoden und Appenzell-Ausserrhoden durch den Bischof von St. Gallen besteht bis heute. <?page no="271"?> 271 4. Wandel in Bistum und Bistumsleitung: Einblicke in Struktur und Organisation b) Organisatorische Veränderungen in der Bistumsleitung 1955 - 1978 - 2017 Bei der Aufgabenteilung in der diözesanen Verwaltung gab es jahrhundertelang stets zwei wichtige Institutionen: das Residentialkapitel und das bischöfliche Hofmeisteramt. Ersteres stellte und stellt bis heute kontinuierlich Kanoniker zur Unterstützung des Bischofs in der Leitung der «spiritualia» (Generalvikar, Offizial, Kanzler). Letzterem, meist durch weltliche Leute besetzt, stand die Güterverwaltung des Bistums zu (die sog. «temporalia» / heute: Bischöfliche Verwaltung). Die immer aus dem Domkapitel ernannten Generalvikare des 18. Jahrhunderts erfüllten sowohl die Aufgabe eines Vikars wie eines Offizials im modernen Sinn; sie begleiteten die Bischöfe auf den Visitationen; erteilten die Investitur, sassen als erste im geistlichen Gericht («officium» und «consistorium»), welches der Bischof häufig in eigener Person präsidierte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging infolge der Säkularisierung des Eherechts [1862: Bündner Zivilgesetzbuch / 1874: Bundesgesetz] die Tätigkeit des geistlichen Gerichts auf ein Minimum zurück. Die Bezeichnung «Generalvikar» erscheint zwar bereits nach 1810 nur mehr vereinzelt und nach 1860 heissen die ersten Beamten der Churer Kurie - oft sind sie gleichzeitig Kanzler - Offiziale, doch wir können in der Wahrnehmung ihrer Funktionen diese durchaus als Generalvikare sehen. Erst mit der Einführung des CIC/ 1917 schreibt das Kirchenrecht allen Diözesanbischöfen zwingend je einen Generalvikar und einen Offizial vor; doch dauerte es in Chur bis 1932, bis diese Trennung definitiv umgesetzt war und es auch blieb. <?page no="272"?> 272 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Die Diözesankurie nach dem Schematismus von 1955 Bischof Diözesankurie (Curia Episcopalis) Residentialkapitel (Capitulum Cathedralis Curiensis: Canonici residentiales consiliarii) Bischöfliches Gericht (Tribunal Dioecesanum) Diözesanrat (Consilia Dioecesana) Generalvikariat Generalvikar 6 Residentiale Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar (Dompönitentiar) Offizial (in Chur) Administrationsrat mit Deputierten aus: Domkapitel, Seminarprofessoren, Kommissare, Dekane, Bischöfl. Ruralvikare Kanzlei Kanzler, Sekretär, Registrator Vizeoffizial (in Zürich) Bischöfliche Mensa Verwalter 2 Ehebandverteidiger (je einer in Chur und Zürich) Archiv Archivar/ Bibliothekar Iudices prosynodales (in Chur und in Zürich) <?page no="273"?> 273 4. Wandel in Bistum und Bistumsleitung: Einblicke in Struktur und Organisation Die Diözesankurie nach dem Schematismus von 1978 Bischof Leitungsgremien Beratungsgremien Domkapitel Bischöfliches Offizialat [inkl. Vizeoffizialat in Zürich] Verwaltungsrechtspflege (Rekurskommission) Priesterseminar / THC Bischöfliches Ordinariat - Personalkommission (Bischof, Bischofsvikar, 3 Generalvikare, Regens) - Bischöfliche Kanzlei - Bischöfliche Verwaltung - Bischöfliches Archiv - Generalvikariat für den Kanton Zürich Residentialkapitel Diözesaner Priesterrat Diözesaner Seelsorgerat Dekanenkonferenz Fachorientierte Kommissionen Administrationsrat Finanzkommission Diözesankultusverein <?page no="274"?> 274 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Die Diözesankurie heute (gemäss Personalverzeichnis 2017) Bischof Leitungsgremien Generalvikar des Bistums Chur Regionale Generalvikare für Graubünden, Urschweiz, Zürich-Glarus Bischofsvikare • für Jugend und Familie sowie Ordensleute • für Staat-Kirche • für Katechese • für ausserordentliche Form des Röm. Ritus Bischöfliches Ordinariat Moderator Curiae Kanzler Bischöflich Beauftragte Archivar Zeremoniar Bischöfliches Offizialat Offizial Notariat Diözesanrichter Domkapitel Bischöfliche Verwaltung Priesterseminar THC Beratungsgremien Bischofsrat Administrationsrat Finanzkommission Dekanenkonferenz Diözesankultusverein Diözesane Räte: • Priesterrat • Rat der Laientheologen und Diakone • Diözesane Pastoralkonferenz Diözesane Kommissionen: • Diakonie-Kommission • Fortbildungskommission • Katechetische Kommission • Kommission für den Ständigen Diakonat • Fachgremium «Sexuelle Übergriffe» <?page no="275"?> 275 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung a) Georg Schlechtleutner: Bischöflicher Kanzler und Generalvikar (gest. 1810) Unter dem letzten geistlichen Reichsfürsten und Fürstbischof Karl Rudolf von Buol- Schauenstein amtete seit 1776/ 77 bis 1802 als Kanzler der aus Kardaun bei Bozen stammende Georg Schlechtleutner (gest. 1810). Der ehemalige Jesuit, welcher nach Aufhebung der Societas Jesu 1773 in die Diözese Chur inkardiniert wurde, machte sich als tatkräftiger Verwalter alsbald einen Namen, der nicht bei allen Geistlichen nur in positivem Licht stand. Denn seine genauen Kenntnisse über die finanziell wenig erfreuliche Lage des Bistums Chur am Ende des 18. Jahrhunderts zwangen ihn auch zu klaren Stellungnahmen, zum Beispiel in Bezug auf eine weitere Unterstützung der seit 1662 bestehenden, aber unrentablen Knabenschule St. Nicolai auf dem Hof zu Chur, welche auch als «kleines Seminar» in die Geschichte einging. Entgegen der ursprünglichen Intention eines Nuntius aus dem 17. Jahrhunderts erwuchs aus dieser Anstalt nie ein eigentliches Priesterseminar, sondern sie war eine kostenverschlingende Internatsschule für ca. 10 bis 15-jährige Schüler unter der Gesamtleitung des Domscholastikus, auf welcher Latein unterrichtet sowie ein geistliches Leben und der Chorgesang am Dom gepflegt und gefördert werden sollte. In der ersten Zeit des 18. Jahrhunderts wurden pro Jahr gegen 10 Schüler aufgenommen und unterrichtet. Ein Bericht aus dem Jahre 1752 erwähnt aufgrund «immer klemmerer Zeiten» eine Reduktion auf sieben. Die Ausgaben waren bis 1796 fast konstant: jährlich 350 fl. für sieben Schüler, 240 fl. für den Lehrer, 50 fl. an den Gesangsunterricht (durch einen Prämonstratenserpater aus St. Luzi). Gegen diese kostspielige Einrichtung legte sich Kanzler Schlechtleutner ins Zeug. Noch vor deren Schliessung 1799 infolge des Franzoseneinmarsches in die Bündner Metropole und der Besetzung des bischöflichen Hofs wetterte der Verwalter, statt eines Erziehungsseminars für Alumnen sei die Institution zu einer «Ministrantenschule der Domkirche» verkommen. Hauptbeschäftigung sei der Ministrantendienst am Dom; daneben würden die Knaben «für die noth» lesen und schreiben lernen, von einer «moralischen Bildung» hingegen «nichts hören und wissen». Nach drei Jahren Schule und Internat (Zimmer bei einzelnen Domherren/ Benefiziaten) kehrten die Jungen «selten besser, meistens schlechter, ungezogener, ungesitteter, als sie hergekommen» seien, in ihr Elternhaus zurück. Dieses «Denkmal der ärgerlichen Verwaltung», so Schlechtleutner, verdiene keine weitere Unterstützung, da es im Bereich der diözesanen Priesterausbildung nie zweckdienlich gewesen sei. Dagegen tendierte Schlechtleutner für ein Priesterseminar mit Sitz in Feldkirch oder in Meran. Die Vorzüge Merans, so der Kanzler in einem Gutachten an den Churer Bischof, lägen im möglichen günstigen Erwerb des 1782 aufgehobenen Klarissenklosters vor Ort. Zudem gehöre die Pfarrei Tirol-Meran, deren Patronatsrechte der Bischof von Chur innehatte, zu den einträglichsten Pfründen im Bistum. Ferner wohnten zahlreiche fähige Geistliche in der Stadt an der Passer, aus deren Reihen sich Leitungs- und Lehr- <?page no="276"?> 276 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung personen für das Seminar finden liessen. Einziger Nachteil Merans bestehe in der weiten Entfernung von der Bischofsstadt; Meran liege «am Ende der Diöces, wohin ein Bischof kaum ein oder zweymal in seiner Regierungszeit» hinkomme; zudem sei die mühsame und beschwerliche Reise über die Pässe in den Süden nicht gerade förderlich. Doch der Einmarsch der Franzosen in Bünden im Frühjahr 1799, die Flucht des Churer Bischofs zusammen mit Dompropst Fliri, Kanzler Schlechtleutner und Registrator Gottfried Purtscher in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1799 über das Montafon nach Meran, wo der Bischof bis 1807 im Ruffinhaus, dem heutigen Sitz des Bezirksgerichts, Residenz nahm, ermöglichte schliesslich 1801 - nicht zuletzt dank beträchtlicher (testamentarisch festgelegter) Stiftungsgelder des Churer Dompropstes und Generalvikars Christian Jakob Fliri (1776-1801) − die Errichtung eines sog. Priesterhauses in Meran, welches dann 1807 nach Chur verlegt wurde [zu dieser Institution als Vorläufer des heutigen Priesterseminars St. Luzi siehe Band I, S. 363-370]. Nach dem Tod Fliris wurde Schlechtleutner, der geistige Wegbereiter der ersten diözesaneigenen Priesterausbildungsstätte nach dem Konzil von Trient, 1802 ins Residentialkapitel aufgenommen (Domscholastikus, gewählt am 30.-April, installiert am 3. Juni 1802) und Generalvikar des Bistums Chur; in diesen Ämtern starb Georg Schlechtleutner am 11. August 1810 «an den Folgen einer gänzlichen Entkräftigung», so der Eintrag im Protokoll des Domkapitels. Seine letzte Ruhestätte fand er am 13. August auf dem Hoffriedhof zu Chur. b) Gottfried Purtscher: Erster Regens am Priesterseminar St. Luzi (gest. 1830) Eine weitere aus dem heutigen österreichischen Bundesland Tirol (Bezirk Landeck) stammende geistliche Persönlichkeit muss hier genannt werdem: der in Nauders am 8. November 1767 geborene Gottfried Purtscher. Seine Eltern waren Johann Ignaz Purtscher und Maria Elisabeth Sterzinger. Diese schickten Gottfried 11-jährig an das von den Benediktinern aus Marienberg geführte Gymnasium in Meran; später wechselte er nach Innsbruck, wo er Philosophie studierte. Daselbst studierte Purtscher zwischen 1785 und 1789 Theologie am Generalseminar [hierzu siehe Band 1, S. 336-342], bis er wegen Auflehnung gegen die dort dozierte rationalistische Theologie weggewiesen wurde und dank Vermittlung eines ihm wohlgesinnten Lehrers bei Georg Schlechtleutner nach Chur auswich, wo er am 14. November 1790 von Bischof Dionys von Rost zum Priester geweiht wurde. Sein späterer Weggefährte, Franz Anton Tapfer aus Partschins (1773-1835), strich in seiner Rede bei der Beerdigung Purtschers 1830 hervor: «Schon dazumal war er ein Felsen […]; er hütete sich vor dem Sauerteige jener Lehrer, die unter dem Schafspelze eines scheinbar guten Wandels, die Grundsätze unserer reißenden Wölfe verhüllten. Er hütete sich nicht nur, er war kein stummer Hund, sondern er bellte die Wölfe an, und bereute nicht es gethan zu haben, da er sich durch dieselben von der hohen Schule vertrieben sehen mußte.» Schon vor seiner Ordination stand er als Registrator, später als Sekretär sowie Hofkaplan im Dienst der bischöflichen Kanzlei und zählte bald zu den massgeblichen wie auch auf die Churer Bischöfe von Rost und Buol-Schauenstein Einfluss nehmenden Persönlichkeiten. <?page no="277"?> 277 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung Purtscher zeichnete sich nicht nur als Organisations-, sondern auch als Sprachentalent aus. Neben seiner deutschen Muttersprache beherrschte er das Italienische, Rätoromanische, Französische, ferner die englische, spanische und slowenische Sprache; viele seiner Korrespondenzen sind in Latein verfasst; die Kirchensprache beherrschte er auch im mündlichen Umgang. Im Selbststudium vertiefte er kirchenals auch säkularjuristisches Wissen, so dass er in Chur schon bald den Übernahmen «das lebendige Gesetzbuch» trug. Nach dem Tod seines Heimatpfarrers Johann Klotzner (gest. 7. März 1795) versuchte die Gemeinde Nauders den 28-jährigen Purtscher für die Übernahme des Pfarramtes zu bewegen, was dieser aber nicht ohne eine gewisse Wehmut mit der Begründung ablehnte, die ihm von Bischof Karl Rudolf übertragenen Aufgaben nicht aufgeben zu können. Nach dem Franzoseneinfall 1799 in Bünden und der Flucht (mit Bischof und Dompropst) über das Montafon nach Meran begann für Purtscher alsbald die Zeit seines nachhaltigsten Wirkens für das Bistum Chur: ab 1801 als Leiter des Priesterhauses in Meran und ab 1807 als Regens des diözesanen Priesterseminars St. Luzi in Chur, in dessen Amt er am 27. Dezember 1830 in Chur verstarb (zur Anfangszeit des Seminars in Chur unter Purtscher siehe unten, S. 373). Gottfried Purtscher zeichnete sich neben seiner theologischen Lehrtätigkeit (1801- 1830 dozierte er Moraltheologie), seinem Organisationstalent und seiner strengen kirchlichen Treue als begabter Strassenplaner und gewifter Erfinder mechanischer Gegenstände aus, wie z. B. eines Steinbohrers zum Sprengen der Felsen, eines Holzaufzugs (eingesetzt Abb. 228: Nauders (Bezirk Landeck) gehörte kirchlich bis 1816 zum Dekanat Engadin [BAC.BA] <?page no="278"?> 278 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung von der Alten Münz in Chur hinauf zum Seminarspeicher), einer Holzschneidemaschine, einer Wasserpumpe (stand ebenfalls im Seminar St. Luzi in Gebrauch) oder einer Fleisch- und Wein-Konservierungseinrichtung. Zu einem Vertrauten äusserte sich Purtscher einmal dahingehend, Gott habe ihm die Gabe geschenkt, «den Menschen gemeinnützig zu seyn». 1817 beschloss die Bündner Regierung, zwei neue verkehrstechnisch bequemere Strassen von Chur bis auf den Splügenpass bzw. über den San Bernardino-Pass zu bauen; beide wurden 1823 fertiggestellt. Die von Baumeister Giulio Pocobelli (1766-1843) aus Melide projektierte Linienführung für den San Bernardino, insbesondere der Abschnitt zwischen Chur und Rheinwald wurde von der Regierung Regens Purtscher zur Begutachtung übergeben. Gewisse Teilabschnitte, z. B. im Herbst 1817 die Strecke Thusis-Via mala, inspizierte der Geistliche persönlich und legte auch in Bezug auf die entstehenden Kosten diverse Gutachten vor, welche von der Regierung übernommen wurden. Beeindruckt von seiner Orts- und Sachkenntnis beauftragte man ihn, neben seinen geistlichen Aufgaben als Leiter einer Priesterausbildungsstätte den Bau der Linienführung unter Berücksichtung seiner Eingaben (Chur-Splügen) zu überwachen. Purtschers Ruf als ausgewiesener Techniker und Kenner der Terrainverhältnisse führte dazu, eine weitere von der Regierung Graubündens geplante (neue) Strassenführung zwischen Reichenau und Ilanz ‹auf der Höhe des Rheins› zu entwerfen (1818) und dazu einen Kostenvoranschlag zu unterbreiten. In seinem Bericht vom 12. Juni 1818 kommt er zum Schluss, dass die Kosten zwischen 20'000 und 150'000 Gulden zu liegen kommen können: «Mit mehr Bestimmtheit wage ich zu sagen, die Straße sei möglich, sie werde schön, ohne merkliche Steigung, dauerhaft und bequem, wie weit und breit keine ähnliche anzutreffen ist.» Als durch massive Wuhrgänge in Bad Pfäfers dessen Quelle verschüttet und die Wasserleitung nach Ragaz zerstört wurden, rief man wiederum Purtscher zu Hilfe. Unter seiner Anleitung gelangen die Freilegung der Heilquelle und eine neue sichere Wasserführung durch Kanäle nach Ragaz. Durch ein von ihm angelegtes künstliches Pumpwerk wurde das mineralhaltige Wasser zum Trinken und Baden vor Ort nicht nur in die Badehäuser verteilt, sondern bis in die obersten Zimmer der Gästehäuser hinaufgetrieben. Das von Fritz Manatschal herausgegebene «Bündner Volksblatt» (1877-1889) hebt später die Bedeutung dieses Allrounders in geistlicher Kleidung zurecht hervor, wenn es festhält: «Arm an Geldmitteln hat er gleichwohl mit Wenigem Großes erstrebt und gewiß viel Nützliches zu Stande gebracht. Daß er in der Reihe der Gelehrten und großen Mechaniker nicht aufgeführt wird, kommt einzig daher, weil er die Literatur der technischen Künste durch keine Druckschriften bereicherte; er gehörte zu denjenigen praktischen Männern, die lieber handeln als schreiben wollten.» Der hochtalentierte und äusserst praktisch begabte Gottfried Purtscher beeinflusste nicht nur die Geschicke wie Entscheide der Diözesankurie und leitete in bestimmender Manier fast 30 Jahre das von ihm mitbegründete Priesterhaus in Meran bzw. Priesterseminar St. Luzi in Chur, sondern wirkte durch seine Begabung in so vielfältigen Belangen weit über rein kirchliche Kreise hinaus, was ihn nicht nur Anerkennung, sondern auch Neid und Missgunst, ja sogar Verleumdung eintrug. Seine charakterlichen Züge - Unerschrockenheit, Selbstbeherrschung, Diensteifer, Pflichtbewusstsein, Ehrgeiz und Nächstenliebe - machen diese Persönlichkeit im Dienst des Bistums Chur in den ersten drei <?page no="279"?> 279 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung Dezennien des 19. Jahrhunderts zu einem leuchtenden Beispiel priesterlich-caritatien Wirkens, sprang er doch neben seiner Hauptätigkeit als Regens und Lehrkraft in St. Luzi an verschiedenen Orten rund um Chur, im Domleschg, am Walensee oder im Fürstentum Liechtenstein als zum Teil langjähriger Aushilfsseelsorger ein. In der bereits zitierten und später gedruckten Leichenrede auf Purtscher betont Franz Anton Tapfer: «Die Feder, wodurch das Ganze [Wirken Purtschers] in Bewegung gesetzt wurde, war sein Beispiel, seine Schwungkraft, sein unerschütterlicher Muth, der wie das Eisen durch die Hammerschläge gehärtet wurde, seine Liebe zur Kirche, welche Liebe stark ist wie der Tod.» Abb. 229: Grabrede von Franz Anton Tapfer beim Begräbnis des Regens Gottfried Purtschers am 29. Dezember 1830, links: Ansicht des Priesterseminars St. Luzi in Chur um 1830 [BBC] <?page no="280"?> 280 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung c) Johann Josef Baal: Bischöflicher Fiskal und Kanzler (gest. 1844) Ein weiterer Priester aus dem ehemaligen österreichischen Diözesanteil, welcher unter Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein verdienstvolle Verwaltungsarbeit leistete, war der aus dem Vorarlberg stammende Johann Josef Baal (1754-1844), nicht zu verwechseln mit seinem Neffen gleichen Namens, welcher zwischen 1832-1844 als Ökonom in Chur amtete und von 1844-1860 die Pfarrei Balzers betreute. Der aus Tschagguns im Montafon stammende Baal studierte nachweislich in Innsbruck Theologie und wurde am 19. September 1778 in Chur zum Priester geweiht. Als Vorgänger Purtschers arbeitete er nach seiner Ordination ab 1780 als Registrator in der bischöflichen Kanzlei, danach als Fiskal (Ökonom) und nach der Ernennung Schlechtleutners zum Generalvikar ab 1802 bis 1838 als Kanzler. Während der mehrjährigen Abwesenheit des Bischofs (Meran 1799-1807, Solothurn 1809-1814) hielt er trotz zum Teil widriger Umstände in der Residenz auf dem Hof aus und informierte Buol- Schauenstein über die kirchenpolitischen Entwicklungen im seit 1803 bestehenden Kanton Graubünden, in der Bischofsstadt und in der Zeit des Umbruchs der Diözesangrenzen (1808/ 1816), was die reicherhaltene Korrespondenz - in Originalen oder Abschriften - verdeutlicht. Als in der Zeit der bayerischen Herrschaft in Tirol wiederholt bischofstreue durch staatshörige fremde Priester ersetzt wurden, reagierte Kanzler Baal, welcher trotz Nachrichtenverbot an das Churer Ordinariat durch Vertrauenspersonen über die dortige Situation auf dem Laufenden gehalten wurde, in einem Schreiben vom 27. September Abb. 230: Johann Josef Baal, Bischöflicher Kanzler 1802-1838, Zeichnung von L. Köhlenthal (1841) [BAC.BA] <?page no="281"?> 281 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung 1808 (offensichtlich im Auftrag oder mit Billigung des Churer Bischofs) mit deutlichen Worten: «Bey den gegenwärtigen Ereignissen, wo auf verschiedenen Seelsorgen, von denen die rechtmäßigen Hirten entfernt werden, fremde Priester erscheinen, welche daselbst eine geistliche Gewalt ausüben, die sie von niemand rechtmäßig oder von dem hiezu nicht authorisierten Generalvicariat zu Trient empfangen haben, läßt sich nichts anders sagen, als daß solche für Eingedrungene und ihre geistliche Machtausübung für unzulässig, null und nichtig zu achten sey; und daß die betreffenden Bisthumsangehörigen mit solchen keine Gemeinschaft besonders in rebus sacris et divinis haben, oder von ihnen einige Sacramenten (außer nur in casu extremae necessitatis seu mortis) […] empfangen dürfen, ohne zu sündigen und am Schisma theilzunehmen.» Im Zuge des im zweiten Dezennium des 19. Jahrhunderts losgebrochenen Churer Schulstreits, der bis in die Amtszeit von Kaspar de Carl ab Hohenbalken hineinreichte - in Chur existierten eine protestantische und eine den Gebäulichkeiten des Priesterseminars St. Luzi angegliederte katholische höhere Schule (Kantonsschule) [ausführlich unten, S. 497-510] -, erfuhr mitunter auch Johann Josef Baal als treuer Diener des Oridinarius starke Anfeindung. Als 1815 der spätere Pfarrer von Sargans und erste Bischof von St. Gallen, Peter Mirer aus Obersaxen (1778-1862), die 1810 eingerichtete Lehrstelle für Jurisprudenz für die Schüler beider Gymnasien in Chur auf Weisung des Nuntius (dahinter stand der diesem Projekt nie wohlgesonnene Churer Bischof ) aufgeben musste, reagierte die Bündner Regierung scharf und drohte mit der Ausweisung aller nicht-bündnerischen Geistlichen aus dem Kanton, falls die kuriale Weisung zur Aufhebung der Professur nicht zurückgenommen würde. Diese Drohung bezog sich ganz offensichtlich auf die Tiroler und Vorarlberger Geistlichen in der engeren Umgebung des Bischofs, denen viele die Schuld an der starren Haltung Karl Rudolfs gaben: dazu zählten Regens Purtscher, Anton Tapfer und Kanzler Baal. Der Disentiser Mönch, P. Placidus Spescha OSB (1752-1833) aus Trun, ein liberaler und frankophil eingestellter Ordensmann, der sich als Historiograph, Naturforscher, Geograph und Alpinist einen Namen machte und einen umfangreichen handschriftlichen Nachlass hinterliess, schrieb im «Fall Mirer»: «Herr Mirer ist ein gelehrter Mann und so politisch und tolerant, daß er den Reformirten und Katholiken in Chur die Rechtsgelehrsamkeit beibringt. Fanatiker wie Ball [= Baal] und Purtscher auf dem Hof verkennen dem Lande diese Ehre, weil sie Fremdlinge sind und der Fürst-Bischof ihr Sklav ist.» Der erzwungene Rückzug Peter Mirers (1815) kommentiert Spescha wie folgt: «Die Tiroler sind Todfeinde der Reformirten, wie die Italiener, und der Kanzler und der Bischof sind auch mit der Intoleranz-Krankheit behaftet […].» Bezug nehmend auf letztere Vorwürfe schrieb Karl Rudolf am 8. März 1815 an den Kleinen Rat des Kantons Graubünden, die österreichischen Priester seien keine eingedrungene Fremdlinge, sondern Bistumsangehörige, vor allem seien sie keine «Förderer innerer Unruhen»; wären sie solche, müsste der Bischof selbst als der erste dieser Gesellschaft angesehen werden. Nur ein Jahr später verlor die Diözese Chur ihre vorarlbergischen und tirolischen Sprengel. Johann Josef Baal starb in Chur am 3. Januar 1844 im hohen Alter von 90 Jahren. Das von seinem Neffen gleichen Namens gestiftete Grabmal ist in der vorderen Krypta der Kathedrale Chur aufgestellt. <?page no="282"?> 282 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Liste der Bischöflichen Kanzler (seit dem 19 Jahrhundert) [bis 2011 immer Geistliche] Georg Schlechtleutner aus Kardaun (gest. 1810) 1776/ 77-1802 Johann Josef Baal aus Tschagguns (1754-1844) 1802-1838 Kaspar de Carl ab Hohenbalken aus Tarasp (1781-1859) 1838-1844 Johann Baptist Casanova aus Vrin (1793-1857) 1845-1858 Josef Meinrad Appert aus Lachen (1818-1898) 1858-1877 Franz Konstantin Rampa aus Poschiavo (1837-1888) 1877-1879 Johannes Fidelis Battaglia aus Parsonz (1829-1913) 1879-1888 Georg Schmid von Grüneck aus Surrein (1851-1932) 1889-1898 Fridolin Josef Noser aus Oberurnen (1849-1908) 1898-1908 Laurenz Matthias Vincenz aus Andiast (1874-1941) 1908-1917 Tranquillino Zanetti aus Poschiavo (1886-1966) 1917-1919 Giovanni Vassella aus Poschiavo (1861-1921) 1920-1921 Luzius Anton Simeon aus Lantsch/ Lenz (1872-1934) 1921-1932 Franz Höfliger aus Freienbach (1892-1985) 1932-1938 Josef Ambosius Furrer aus Erstfeld (1910-1984) 1938-1946 Johannes Vonderach aus Unterschächen (1916-1994) 1946-1958 Sergio Giuliani aus Poschiavo (1912-1987) 1958-1978 Wolfgang Haas aus Mauren/ FL (geb. 1948) 1978-1989 Leone Lanfranchi aus Poschiavo (1921-2005) 1989-1990 Aurelio Lurati aus Landarenca (1935-2011) 1990-2011 Alfred Schriber-Bruhin aus Lachen (geb. 1952) 2011-2017 Donata Bricci aus Mauren/ FL (geb. 1971) seit 2017 d) Albert von Haller: Generalvikar und Weihbischof (gest. 1858) Das nach 320 Jahren wiedererweckte Amt des Weihbischofs im Bistum Chur [siehe oben, S. 136 f.] fand in der Person von Albert von Haller (fälschlicherweise in der Literatur wiederholt als Albrecht bezeichnet) 1858 seine erste Konkretisierung. Geboren am 18. Juli 1808 in Bern als Sohn des Berner Ratsherrn und Staatsrechtlers Karl Ludwig von Haller und Katharina von Wattenwyl, erlebte er 1817 die aufsehenerregende Konversion seines Vaters. Aus dem Staatsdienst entlassen, zog die Familie 1820 nach Paris. Dort trat auch Albert am 1. August 1826 zur katholischen Kirche über. Bald darauf folgte 1829-1835 das Studium der Philosophie und Theologie in Rom, wo er als Priesteramtskandidat der <?page no="283"?> 283 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung Diözese Lausanne und Genf im Collegio Germanico wohnte. Das Studium schloss er mit dem Doktorgrad in Theologie ab und erhielt am 29. März 1834 in Rom die Priesterweihe. In die Westschweizer Diözese zurückgekehrt, amtete Albert von Haller 1835-1836 als Vikar in Lausanne, wurde dann aber von Nuntius Filippo de Angelis (1830-1839) als Sekretär nach Luzern geholt. Noch vor Ablauf der Amtszeit de Angelis finden wir Haller als Vikar in Schwyz. 1839 wechselte er als Pfarrer nach Galgenen; gleichzeitig (ab 1842) als Dekan des Priesterkapitels Ausser-Schwyz wirkte er bis Oktober 1856 in der March. 1855 wurde er nichtresidierender Churer Domherr und von Bischof Kaspar de Carl ab Hohenbalken im gleichen Jahr, am 20. Juli 1855, zum Generalvikar des Bistums Chur ernannt. 1856 erhielt er das Bürgerrecht der Bündner Gemeinde Lantsch/ Lenz. Papst Pius IX. präkanonisierte Albert von Haller am 18. März 1858 zum Titularbischof von Carrhae (nördliches Mesopotanien / heute: Harran, Türkei) und Weihbischof von Chur. Die Bischofsweihe spendete ihm am 29. Juni 1858 der Basler Bischof Karl Arnold- Obrist unter Assistenz des Bischofs von Lausanne und Genf, Etienne Marilley (1846- 1879), und das Abtes von Einsiedeln, Heinrich IV. Schmid (1846-1874), in der Klosterkirche in Einsiedeln. Erst fünf Monate im Amt starb Haller am 28. November 1858 in Chur. Abb. 231 (links): Albert von Haller, Weihbischof von Chur (1858), Gemälde gemalt 1858 von Giovanni Antonio Rizzi, im Bischöflichen Schloss in Chur [BAC.BA] / Abb. 232 (rechts): Grabmal für Albert von Haller auf der rechten Seite der Westfassade der Churer Kathedrale (beim Haupteingang] [Foto: A. Fischer] <?page no="284"?> 284 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung In seinem am 31. Januar 1858 verfassten Testament (publiziert in der Ausgabe vom 18. Dezember 1858 der «Schweizerischen Kirchenzeitung»), worin er eine «anständige», jedoch «mit Vermeidung alles unnöthigen Aufwandes» verbundene Beerdigung auf dem Hof in Chur erbittet, erweist sich Albert von Haller nicht nur als wohlhabender, sondern auch als durchaus spendefreudiger Geistlicher. Neben der Finanzierung von Stiftmessen zu seinem eigenen Seelenheil in Chur, in Galgenen und in der katholischen Kirche der Stadt Bern verordnete er folgende Legate zugunsten verschiedener Institutionen in der March und in Chur: Testamentarisch festgelegte Legate von Weihbischof Albert von Haller (1858) Gründung einer Pfarrherren-Jahrzeit in der Gemeinde Galgenen Fr. 300.-- Beitrag an den Schulfonds in Galgenen 700.-- Beitrag an den Armenfonds in Galgenen 650.-- Beitrag an den Seelensonntags- oder Bruderschaftsfonds in Galgenen 500.-- Beitrag an den Kirchenmusikfonds in Galgenen 100.-- Beitrag zur Abhaltung von Volksmissionen in Galgenen 350.-- Beitrag zu einem Stipendienfonds für Priesteramtskandidaten aus Galgenen oder aus der March 3'500.-- Beitrag zu einem Fonds zur Aussteuer von jungen Frauen aus Galgenen oder aus der March, die ein Gott geweihtes Leben führen wollen 2'700.-- Beitrag zu einem Waisen- oder Armenhaus in Galgenen oder in der March (Bedingung: muss innerhalb von 6 Jahren entstehen, ansonsten Aufsplitterung des Betrags: an die Direktion der «Verbreitung des Glaubens» in Einsiedeln an die Hilfskasse für bedürftige Priester an die Armenpflege der Gemeinden in der March 5'060.-- 1'800.-- 1’060.-- 2'000.-- Beitrag zu einer Hilfskasse für unterstützungsbedürftige Priester aus dem Kanton Schwyz (Verwaltung durch das Priesterkapitel March) 3'000.-- Beitrag an das Priesterseminar St. Luzi in Chur (zzgl. 150 Bände aus der privaten Bibliothek Hallers) 1'500.-- Beitrag an das Werk «Verbreitung des Glaubens» in Einsiedeln 1'000.-- Obligationen an das Collegio Germanico in Rom Obligation an das Kreuzspital in Chur (lediglich angekündigt) Total (in bar) 19'360 .-e) Johann Franz Anton Fetz: Vaduzer Hofkaplan und Historiker (gest. 1884) Es erstaunt, dass sich im Vaduzer Totenbuch lediglich ein kurzer Eintrag über den Hinschied des am 18. Juni verstorbenen und am 20. Juni 1884 auf dem Vaduzer Friedhof beigesetzten Churer Geistlichen Johann Franz Anton Fetz findet, bereicherte er doch in <?page no="285"?> 285 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Churer Bistumsgeschichte mit mehreren Abhandlungen zu diversen Themen. Johann Franz Anton Fetz stammte aus dem bündnerischen Domat/ Ems, wo er am 21. November 1809 geboren wurde. Das gymnasiale Rüstzeug holte er sich am bischöflichen Knabenseminar (1823-1827) und an der Stiftsschule des Klosters Einsiedeln (1827- 1830). Sicher einen Teil seines Theologiestudiums absolvierte er nachweislich 1833/ 34 und 1834/ 35 am Priesterseminar St. Luzi in Chur (Cursus theologi theoretici II und Cursus theologi practici); am 5. Oktober 1834 spendete ihm infolge der Churer Vakanz Weihbischof Johann Nepomuk Tschiderer in Feldkirch die Priesterweihe. Im September 1835 trat er dann als Kaplan von Galgenen seine erste Seelsorgestelle an. Am 8. Dezember 1838 übernahm er die dortige Pfarrprovisur (bis 1839) und wechselte dann nach Churwalden (bis 1845). Danach erfolgte die Versetzung auf die Kaplanei seiner Heimatgemeinde Domat/ Ems, dessen Pfrund er definitiv im November 1845 bezog, nachdem er zwischen April und November 1845 im Bischöflichen Archiv Chur dringend notwenige Ordnungsarbeiten verrichtet hatte. In Domat/ Ems blieb Fetz bis zum 1. November 1849. Am 7. Dezember 1849 kam er zunächst als Hofkaplan-Provisor an die St. Florinus- Pfrund nach Vaduz/ FL. Erst nach der Präsentation durch Fürst Alois II. am 3. November 1852 erfolgte am 16. November die bischöfliche Ernennung. In Vaduz verbrachte Fetz fast 32 Jahre seines priesterlichen Wirkens (bis zu seinem Tod 1884), erlebte die für das Werden der Pfarrei bedeutsamen Jahre und prägte sie mit. Seit 1842 war Vaduz eine Kuratie und damit faktisch von der Mutterkirche Schaan getrennt, auch wenn die Erhebung zur Pfarrei erst am 27. Mai 1873 erfolgte. Zwischen 1869 und 1873 gelang unter Fetz der Bau der heutigen Pfarrkirche St. Florinus - feierlich eingeweiht am 5. Oktober 1873 durch Weihbischof Kaspar Willi. Wohl in Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes wurde Johann Franz Anton Fetz am 15. Mai 1880 durch Papst Leo XIII. zum nichtre- Abb. 233-235: Schriften des Vaduzer Hofkaplans Johann Franz Anton Fetz (1852-1884) [BBC/ BAC.BA] <?page no="286"?> 286 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung sidierenden Churer Domherrn erhoben. Neben der Seelsorge und seinen historischen Forschungsarbeiten zählt Fetz zu den Mitbegründern des «Liechtensteiner Volksblatt» (1878) und war bis zu seinem Tod als dessen Redaktor tätig. Bibliographie von Johann Franz Anton Fetz Gedenkblätter an Carl Rudolph, aus den Grafen von Buol-Schauenstein &, letzten Fürstbischof von Chur, ersten Bischof von St. Gallen (Verlag von Johann Thomas Stettner), Lindau 1853 Die Schirmvogtei des Hochstifts Chur und die Reichsvogtei in der Stadt Chur. Eine historisch-kritische Monographie (Commissions-Verlag von Caspar von Matt), Stans 1862 Die Schirmvogtei des Hochstifts Chur und die Reformation. Zweite historisch-kritische Monographie, ein Beitrag zur Reformationsgeschichte Graubündens (Commissions-Verlag von Caspar von Matt in Stans), Luzern 1866 Das Bistum Chur. Historisch und statistisch bearbeitet, als Anhang zu den Schematismen von 1863-1869, Chur 1863-1869 Geschichte der kirchenpolitischen Wirren im Freistaat der drei Bünde (Bisthümern Chur und Como). Vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart (im Selbstverlag des Verfassers), Chur 1875 Leitfaden zur Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Geschichte der alten St. Florins- Kapelle und der neuen Pfarrkirche zu Vaduz (im Selbstverlag des Verfassers), Buchs 1882, Reprint: als «Beiträge zur Geschichte und Kultur Liechtensteins und seiner Umgebung» Bd. 2 bei der Verlagsbuchhandlung Domé, Ruggell 1984 f) Christian Modest Tuor: Erster bischöflicher Archivar und Domdekan (gest. 1912) Der von Bischof Nikolaus Franz Florentini und Domkapitel am 15. Juni 1868 auf das seit 1700 bestehende «Hummelbergische Benefizium» an der Kathedrale Chur investierte Geistliche Christian Modest Tuor stammte aus Rabius in der Surselva; der Ort gehörte als Kaplanei bis 1901 zum Pfarrsprengel Sumvitg. Am 21. September 1834 daselbst geboren, wurde er noch vor Abschluss seines dreijährigen theologischen Studiums am Priesterseminar St. Luzi (1857/ 58, 1858/ 59, 1859/ 60) am 21.-August 1859 in Feldkirch durch den dortigen Weihbischof und Generalvikar Georg Prünster zum Priester geweiht. Die Ordination erfolgte deshalb ausserhalb des Bistums Chur, weil der neugewählte Ordinarius Florentini von Rom erst am 26. September 1859 bestätigt und am 12.-Dezember 1859 in Chur geweiht worden war. Tuor betreute als Neupriester bis 1861 das «Salische Benefizium» an der Kathedrale zu Chur und übernahm im Herbst 1861 bis Frühjahr 1868 die Leitung der Pfarrei Rueun/ Ruis. Als der am 10. Januar 1877 zum Nachfolger des im Oktober 1876 resignierten Florentini vom Domkapitel gewählte Churer Weihbischof P. Kaspar Willi OSB mit päpstlicher Konfirmation am 12. März 1877 sein neues Amt als Churer Ordinarius antrat und alsbald den Hummelbergischen Benefiziaten Christian Modest Tuor neben seinen im <?page no="287"?> 287 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung Pflichtenheft festgemachten Aufgaben zum ersten bischöflichen Archivar (1877-1893) berief, hatte das eine wichtige wie brisante Vorgeschichte. Der vom Regensburger Reichsdeputationshauptschluss 1803 angebahnte und alsbald durchgeführte Umsturz der Bistumsverhältnisse zog auch die geistlichen Archive aufs schwerste in Mitleidenschaft. Diverse Bestände aus dem Churer Bistumsarchiv wechselten ihren Besitzer: 1829 gelangte eine erste Lieferung von Akten und Urkunden betreffend die früheren österreichischen Anteile des Bistums nach Innsbruck. 1844 extrahierte Chur vier Kisten mit Pfarreiakten aus Vorarlberg und Tirol mit Lieferziel Feldkirch; von dort sind diese Akten zum Teil in chaotischer wie unsachgemässer Art und Weise weiter verteilt worden, einiges gelangte bis Trient, später nach Brixen. 1848 kamen die Bestände zu den Pfarreien im Gaster und Sarganserland nach St.-Gallen. Bei jedem Aktentransfer wurde weder ein genaues Ausgangsprotokoll mit entsprechend exaktem Verzeichnis ausgestellt, noch erfolgte eine saubere Übernahmebescheinigung seitens der neuen Stelle, was zu einer heillosen (bis heute bestehenden) Unübersichtlichkeit im Verbleib von Churer Archivalien führte. Zu diesem Malum hinzu kam der Umstand einer willkürlichen wie rechtswidrigen Veräusserung zahlreicher mittelalterlichen Urkunden und Akten durch den bischöflichen Verwalter Paul Foffa, der unter seinem Verwandten Bischof Florentini nach Chur geholt wurde und daselbst sein Unwesen trieb, bis er auf Druck des Domkapitels und schliesslich auf Weisung des Nuntius entlassen werden musste. Zuwachs erhielt Abb. 236 (links): Nordfassade des aus dem 13. Jahrhundert stammenden Marsölturms des Bischöflichen Schlosses in Chur / Abb. 237 (rechts): Archiveinrichtung im Historischen Archiv des Marsölturms 1878/ 79, wegen starken Holzwurmbefalls und im Zuge der Raumsanierung 2005/ 06 durch modernes Rollregalsystem ersetzt [Fotos: A. Fischer] <?page no="288"?> 288 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung der Churer Aktenbestand im November 1845 durch Akten aus der ehemaligen Schweizer Quart (Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Glarus, Appenzell, Zürich und Schaffhausen). 1864 schliesslich gelang die Rückführung eines Restbestandes des vom Churer Bischof Johann VI. Flugi von Aspermont (1636-1661) auf Schloss Knillenberg in Obermais/ Meran angelegten sog. «Chur-Tirol-Archiv» [CTA]. Nach einer Forderung des einflussreichen Juristen und Politikers Peter Conradin von Planta (1815-1902) im Jahre 1868/ 70 an die Bündner Regierung zur Übernahme der geschichtlich wertvollen bischöflichen Bestände an das Staatsarchiv, welcher die Diözesanleitung weder entsprechen wollte noch konnte, drängte sich eine gesamte Neuordnung der am Bistumssitz lagernden Archivalien auf. Der unter Bischof Kaspar Willi erfolgte Auftrag an Tuor erfüllte jener, obwohl er kein geschulter Historiker war, alsbald mit grosser Leidenschaft und Sorgfalt. Nach erhaltener Anleitungshilfe im Klosterarchiv Einsiedeln ordnete und registrierte der Benefiziat den Churer Bestand binnen zehn Jahren - ohne Hilfe brauchbarer Repertorien - in drei Folio-Bänden, heute als «Urkundenregister des Hochstifts Chur» [URHC] bezeichnet. In dem am 19.-März 1888 verfassten Vorwort zum ersten Band, worin u. a. pergamentene und papierne Urkunden fein säuberlich in chronologischer Abfolge mit Datum und Kurzregest aufgenommen sind [vgl. Abb. 238], beschreibt Tuor den 1877 angetroffenen Zustand des Archivraums im Marsölturm des bischöflichen Palais: «In dem ohnehin sehr unpractisch eingerichteten Lokal lagen die Urkunden und Schriftstücke bunt durcheinander, theils in morschen Truhen, theils in Salzfässern, theils auf Tischen aufgehäuft. Mäuse und Ratten hatten darin ihre Nester und trieben daselbst ihr Unwesen. Kein wachendes Auge eines Archivars war für die Erhaltung und Ordnung des werthvollen Archiv-Materials besorgt, keine Regesten fanden sich vor. Jedermann hatte ohne Controlle freien Zutritt zum Archive und konnte darin nach Belieben schalten und walten. Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen manches der Zerstörung anheimfiel, manches in fremden Besitz gelangte.» Zu seiner primären Vorgehensweise hielt er fest: «Die practischere, bequemere Aufstellung und Ordnung der Urkunden erforderte vorerst die Entfernung der morschen und Erstellung neuer Schränke. Dieses geschah in den Jahren 1878 und 1879. Gleichzeitig wurde mit Anfertigung von Regesten begonnen.» Nach dem Tod Bischofs Willi am 17. April 1879 schenkte sein aus Poschiavo stammender Amtsnachfolger, Franz Konstantin Rampa, der Archivarbeit Christian Modest Tuors weiter grosses Interesse und Entgegenkommen, so dass letzterer 1888 nach «mühevoller Arbeit» die Regesten «über das gesamte Archiv-Material» fertig stellen konnte. Rampa war es auch, der Johann Georg Mayer (1845-1912), Professor in Kirchenrecht (seit 1889) und Regens am Priesterseminar St. Luzi (seit 1908), 1881 den Auftrag erteilte, anhand des Aktenbestandes, welcher allmählich für wissenschaftliche Zwecke ordentlich geordnet zur Verfügung stand, die Forschungsarbeiten des Geistlichen und Historikers Johann Franz Anton Fetz [zu seiner Person siehe oben] über die Churer Bischöfe weiterzuführen. Mayer [zu seiner Person siehe unten] entschloss sich alsbald, eine eigenständige Churer Bistumsgeschichte zu verfassen; diese erschien zuerst in Abfolge einzelner Faszikel, schliesslich 1907/ 14 in zwei voluminösen Bänden bei der Verlagsbuchhandlung Hans von Matt- & Co. in Stans [siehe unten, S. 294] - sicherlich mit der Verdienst des fleissigen Archivars Tuor, welcher nicht nur Ordnung in ein lange Zeit vernachlässigtes und seit dem 19.-Jahr- <?page no="289"?> 289 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung hundert an Beständen geschmälertes Diözesanarchiv brachte, sondern grundlegende Registerbände anlegte, die bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Handreichungen für archivalische Forschungen im Bischöflichen Archiv Chur schlechthin bleiben sollten. Bereits seit 1878 nichtresidierender Domherr, ernannte Bischof Johannes Fidelis Battaglia Tuor am 14. März 1893 zum Domkustos. Mit der Wahl am 22. Juni 1898 durch das Gesamtkapitel stand Christian Modest Tuor als Dekan dem Churer Domkapitel bis zu seinem Tod im 78. Altersjahr am 17.-Februar 1912 vor. g) Anton[ius] Gisler: Professor, Regens und Weihbischof-Koadjutor (gest. 1932) Der am 25. März 1863 in Bürglen/ UR geborene Anton[ius] Gisler - Eltern: Xaver Gisler und Katharina Schuler - studierte nach dem Gymnasium in Altdorf und an der Stiftsschule in Einsiedeln Philosophie und Theologie an der Gregoriana in Rom (1881-1888) und schloss beide Bereiche mit einem Doktorat ab. Am 28. Oktober 1887 in Rom zum Priester geweiht, kehrte er 1888 als Sprach- und Religionslehrer an die Kantonsschule nach Altdorf zurück; gleichzeitig wirkte er als Kaplan und Präses des Gesellenvereins in Altdorf. Gisler hat sich von seinen ersten Priesterjahren an vielfältigen kirchlichen Aufgaben zur Verfügung gestellt, vor allem aber die geistige Auseinandersetzung mit dem Abb. 238: Band I der dreiteiligen Urkundenregister des Hochschifts Chur 1883 [BAC] <?page no="290"?> 290 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung ‹Zeitgeist› gesucht. 1892 gehörte er zu den Gründern des «Vereins für Geschichte und Altertümer von Uri». 1895 legte Gisler im Auftrag des Kantons Uri eine Studie über die damals die Schweiz bewegende Frage nach dem historischen Gehalt der Wilhelm-Tell- Überlieferung vor, in der er sich im Wesentlichen für deren Zuverlässigkeit aussprach. 1890 wechselte der Geistliche von Altdorf nach Bürglen, um seinem alten Heimatpfarrer eine pastorale Stütze zu sein. Doch 1893 berief ihn Bischof Johannes Fidelis Battaglia als Professor für Dogmatik, Apologetik, Pastoral und Homiletik an das Priesterseminar St. Luzi nach Chur, wo er seit 1913 bis zu seiner Ernennung am 20. April 1928 zum Weihbischof-Koadjutor zusätzlich als Regens amtete. Zur Bischofsnachfolge kam es allerdings nicht, da der am 1. Juli 1928 in der Kathedrale zu Chur von Nuntius Pietro De Maria (1926-1935) zum Titularbischof von Mileve (heute: Mila, Algerien) und Churer Weihbischof mit dem Recht der Nachfolge (Koadjutor) ordinierte Gisler wenige Monate vor seinem Vorgänger Georgius Schmid von Grüneck am 4. Januar 1932 verstarb. Für viele Priestergenerationen war Gisler die unangefochtene theologische Autorität. Gisler dozierte nach dem Zeugnis seiner Schüler in klarem, einfachem und verständlichem neuscholastischen Latein; seine Vorlesungen in Dogmatik hat Gisler später veröffentlicht. Sein Einfluss sollte alsbald über die ehemaligen Klostermauern von St. Luzi Abb. 239 (links): Portrait von Weihbischof Antonius Gisler (1928-1932) [Foto: Carl Anton Lang, BAC.BA] / Abb. 240 (rechts): Grabplatte an der Westfassade vor der Kathedrale zu Chur [Foto: A. Fischer] <?page no="291"?> 291 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung hinausreichen. 1900 gründete er zusammen mit Nationalrat Hans von Matt aus Stans die Zeitschrift «Schweizerische Rundschau», ein Publikationsorgan der deutschschweizerischen katholischen und christlichen Kultur, worin er selbst über 150 Beiträge zum Teil beachtlichen Umfangs veröffentlicht und deren Herausgabe er bis zu seinem Tod 1932 mitgetragen hatte. Gisler ist darüber hinaus als wortmächtiger Prediger und (Fest-)Redner in Erscheinung getreten; er war jahrelang Präsident der Sektion für Wissenschaft und Kunst des schweizerischen katholischen Volksvereins. Ferner bemühte er sich um den Ausbau des katholischen Bildungswesens, konkret um die Gründung einer katholischen Universität für die deutschsprachige Schweiz mit Sitz in Luzern (1918-1920); diese Initiative wurde mit Rücksicht auf die katholische Universität Fribourg schliesslich aufgegeben. Ausserdem hatte er 1907-1927 als Präsident der späteren Missionsgesellschaft Bethlehem wichtigen Anteil an deren Entwicklung, Ausbau und päpstliche Anerkennung (1921) [siehe unten, S.-476-f.]. Innerkirchlich trat der debattierfreudige Churer Dogmatiker alsbald ins unheilvolle Rampenlicht der Abwehrfront gegen den Modernismus. Mit seinem voluminösen Werk «Der Modernismus» (erstmals erschienen 1912) wollte Gisler keineswegs einfach die neue Zeitströmung in ihrer Auseinandersetzung mit philosophischen, weltanschaulichen und äusserst kritischen kirchenpolitischen Fragestellungen verurteilen, sondern ging das Problemfeld ‹Modernismus›, mit dem Rom sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander setzen musste, differenziert an, indem er das, was man rundweg, insbesondere von Seiten der ultramontanen Bewegung in der Kirche, als ‹Modernismus› disqualifizierte, genauer analysierte. Dem selbst ernannten katholischen Glaubenswächter aus Bünden, Eigenständige Werke von Anton[ius] Gisler Die Tellfrage.Versuch ihrer Geschichte und Lösung, hrsg. zur Enthüllung des Telldenkmals in Altdorf am 28. August 1895, verfasst im Auftrage der hohen Regierung des Kantons Uri von Dr. Anton Gisler (Druck und Verlag von K. J. Wyß), Bern 1895 Dogmatische Vorlesungen, lat., 3 Bde., nach Manuskript herausgegeben - I. Band (382 Seiten) [Buchdruckerei K. Oberholzer], Uznach 1902 - II. Band (504 Seiten) [Buchdruckerei K. Oberholzer], Uznach 1903 - III. Band (568 Seiten) [Buchdruckerei Bündner Tagblatt], Chur 1904 Lehrbuch der Homiletik (Buchdruckerei K. Oberholzer), Uznach 1905 Der Modernismus, dargestellt und gewürdigt von Professor Dr. Anton Gisler, Professor der Dogmatik, Chur (Verlagsanstalt Benziger & Co.), Einsiedeln 1912 [erlebte vier weitere Auflagen] In Christi Heimat. Gedenkschrift der dritten schweizerischen Volkswallfahrt ins Heilige Land, vom 29. April bis 21. Mai 1925, hrsg. im Auftrag des schweizerischen Heiliglandvereins, erzählt von Regens Dr. Anton Gisler, Chur (Druck und Verlag Missionshaus Bethlehem), Immensee 1926 <?page no="292"?> 292 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Caspar Decurtins (1855-1916), Professor in Fribourg und Nationalrat, gingen Gislers Problemerörterungen jedoch zu weit; Decurtins verklagte den Churer Dogmatiker kurzerhand in Rom. Gisler wiederum, für den bei einer Anklage in Rom auf Verdacht, selbst ein Modernist zu sein, mehr als seine wissenschaftliche Reputation auf dem Spiel stand, stellte durchaus zurecht Decurtins theologische Kompetenz in Frage. Gisler, der sich einem ganzen Komplott ausgeliefert sah, bei dem Decurtins nur die Speerspitze bildete, wurde schliesslich in Rom mit Hilfe des Churer Bischofs Georgius Rechtgläubigkeit bescheinigt und alsbald als Anerkennung für seine Dienste in Theologie, Wissenschaft und Priesterausbildung zum Koadjutor ernannt. Eine [zu] späte Genugtuung, die Gisler einerseits wohl zu schätzen wusste, ihn andererseits aber auch an die Bischofswahl von 1908 erinnern liess, bei der er als ernsthafter Kandidat gegen Schmid von Grüneck nur äusserst knapp unterlegen war. h) Johann Georg Mayer: Pfarrer, Professor, Regens und Verfasser der Churer Bistumsgeschichte (gest. 1912) Johann Georg Mayer erblickte das Licht der Welt am 1. April 1845 in Deuchelried (Baden-Württemberg/ D). Nach ersten Schuljahren in seinem Heimatort wechselte er 1862-1864 ins vorarlbergische Feldkirch. Nach einjährigem Aufenthalt in der Zisterzienserschule in Mehrerau (1864/ 65) kehrte er wieder nach Feldkirch zurück (1865/ 66). 1866/ 67 finden wir ihn als Student des Philosophiekurses am Kollegium «Maria Hilf» in Schwyz. Im Herbst 1867 entschloss er sich als Priesteramtskandidat für das Bistum Chur in St. Luzi Theologie zu studieren, wo er bis 1870 als ordentlicher Hörer verzeichnet ist. In dieser Zeit empfing er unter Bischof Nikolaus Franz Florentini am 8. August 1869 die Priesterweihe. Noch vor seiner Ordination erwarb er am 24. Januar 1869 das Bürgerrecht der Gemeinde Balzers/ FL und wurde am 30. April in die liechtensteinische Staatsbürgerschaft aufgenommen; 1892 erhielt er das Ehrenbürgerecht der Gemeinde Domat/ Ems. Sein erstes pastorales Tätigkeitsfeld war die Vikariatsstelle an St. Peter und Paul in Zürich, zuständig für die Diasporagemeinden Horgen und Männedorf (Oktober 1870 bis August 1872). Obwohl er im Stillen die Sehnsucht nach klösterlicher Zurückgezogenheit in sich trug, um mehr Zeit für private Studien zu haben, übertrug ihm Bischof Florentini 1872 die Pfarrei Oberurnen/ GL, wo er volle 17 Jahre als geschätzter Seelsorger wirkte. Neben seiner seelsorgerlichen Tätigkeit fand er Zeit für diverse Studien zur Kirchen- und besonders zur Churer Bistumsgeschichte, die ihn nicht nur in die Vatikanischen Archive führten (1885/ 86), sondern bis zu seinem Tod beschäftigen sollten. Einen ersten Niederschlag fanden seine Forschungen in der 1876 erschienen Publikation zu «St.Luzi bei Chur - Geschichte der Kirche, des Klosters und des Seminars» (2. Auflage, Einsiedeln 1907). In Kenntnis über Entstehung und Entwicklung dieser diözesanen Bildungsinstitution des 19. Jahrhunderts erfolgte 1889 die Ernennung Mayers zum Professor für Kirchenrecht nach St. Luzi. Zeitweilig unterrichtete er auch Pastoraltheologie (1896-1912), Liturgik (1897- 1912), Homiletik und Pädagogik (1889-1894) sowie Katechetik (1903-1908). Am 30. Dezember 1889 als nichtresidierender Domherr ins Churer Domkapitel berufen, wurde Chur seine bleibende Wirkstätte. Neben seiner Lehrtätigkeit war Mayer 1894-1898 Öko- <?page no="293"?> 293 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung nom, 1905-1908 Subregens, und leitete zwischen 1908 und 1912 als Regens das Priesterseminar. Mehrere Leitfäden, welche als Manuskript gedruckt wurden, zeugen von seinem Fleiss und Engagement als Professor in St. Luzi. In Anerkennung seiner Verdienste wurde ihm 1906 in Rom der Titel eines Ehrendoktors in Kirchenrecht (Dr. iur can.) verliehen. Neben einem weiteren Werk zur Kirchengeschichte - «Das Konzil von Trient und die Gegenreformation in der Schweiz» in zwei Bänden (erschienen in Stans 1901/ 03) - schuf sich Johann Georg Mayer als Verfasser der umfangreichen «Geschichte des Bistums Chur», dessen zweiten Band er zwei Wochen vor seinem Tod 1912 zu Ende bringen konnte, einen bleibenden Namen. Am 30. November 1912 starb der gelehrte Geistliche und wurde am 4. Dezember unter grosser Anteilnahme vor der Kathedrale zu Chur beigesetzt. In seiner Gedenkansprache charakterisierte Anton Gisler den Verstorbenen wie folgt: «Es waren ihm reiche Ehren zu teil geworden; er aber blieb bescheiden und anspruchslos. Weder Freunde noch Kollegen noch Untergebene brauchten lange auszurechnen, ob es rätlich sei, ihm zu nahen; man war sicher, bei ihm jederzeit ein ruhiges Urteil zu finden, eine sachliche Erwägung, eine wohlwollende Prüfung. Immer wollte er nützlich sein, immer war er diskret und angenehm. Er war kein Trübseliger, kein Spielverderber; die Sonne eines goldenen Humors leuchtete in seinem Herzen und über jeder Gesellschaft, an der er teilnahm.» Abb. 241 (links): Johann Georg Mayer als Pfarrer in Oberurnen/ GL (Foto: H. Weiss, Glarus [1875]) [BAC.BA] Abb. 242 (rechts): Johann Georg Mayer als Domherr und Regens, Portrait im Speisesaal des Priesterseminars St.Luzi [BAC.BA] <?page no="294"?> 294 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung i) Franz Höfliger: Pfarrer, Bischöflicher Kanzler und «Bettelprälat» (gest. 1985) Als am 30. Juli 1985 im hohen Alter von 93 Jahren der päpstliche Ehrenprälat Franz Höfliger in Ingenbohl/ SZ verstarb, schrieb Guido Johann Kolb, damals Pfarrer in St.-Peter und Paul, Zürich-Aussersihl (1972-1993), in seinem Nachruf auf den Churer Diözesanpriester (publiziert in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» 1985): «Mit Prälat Franz Höfliger ist ein Nestor des Schweizer Klerus in die Ewigkeit heimgerufen worden. Die Bezeichnung ‹Nestor› dürfte auf den Heimgegangenen wohl im Vollsinn des Wortes angewendet werden: So wie der griechische Held der Odyssee, der drei Menschenalter erreicht haben soll, ein kluger und redegewandter Kämpfer war, so verkörperte Prälat Höfliger in seinem priesterlichen, seelsorgerlichen und missionarischen Wirken eine Persönlichkeit, die für eine ganze Generation von Geistlichen exemplarisch war. Klugheit «Geschichte des Bistums Chur» in 2 Bänden (Stans 1907/ 14) von Johann Georg Mayer Nach Pater Ambrosius Eichhorns in lateinischer Sprache verfasstem Werk «Episcopatus Curiensis in Rhaetia» (1797) [siehe Band I, S. 354-356] sollten nochmals 110 Jahre vergehen, bis 1907 bei Hans von Matt in Stans der erste Band einer deutschsprachigen «Geschichte des Bistums Chur» (bis Ende des 15. Jahrhunderts) [mit 567 Seiten] aus der Feder des Kirchenjuristen, Professors und Regens am Priesterseminar St. Luzi in Chur, Johann Georg Mayer (1845-1912), in Druck ging. Der zweite Band [mit 780 Seiten] folgte erst nach dem Tod Mayers im Jahre 1914 und beleuchtet die Churer Bischöfe sowie die kirchliche Situation des Bistums bis zur Wahl Georgius Schmids von Grüneck 1908. Wie Mayer in seinem Vorwort zum ersten Band schreibt, hatte er von Bischof Franz Konstantin Rampa bereits 1880 den Auftrag zu einer geschichtlichen Darstellung des Bistums Chur erhalten. Die Geschichte Mayers blieb bis heute das (zwar in weiten Teilen durch jüngere Forschungen zu Teilgebieten der Churer Bistumsgeschichte überholte) Standardwerk. Es reiht sich, so Mayer, «chronologisch an die Reihenfolge der Bischöfe an». Jedem Hauptabschnitt geht jedoch «eine kurze Orientierung, besonders über die politischen Verhältnisse voraus», und am Ende eines Grosskapitels folgt «eine Darstellung der allgemeinen Zustände in der Diözese». Der konzeptionelle und methodische Perspektivenwechsel zeigt sich bei Mayers umfangreichen Werk bereits in der Zielsetzung, nämlich nicht primär eine Geschichte der Bischöfe, sondern des Bistums zu schreiben und vorzulegen. Mayer leistete mit seiner Arbeit einen wichtigen Ansatz zu einer Diözesangeschichte mit Themen, die nicht nur die für Chur prägenden kirchenpolitischen Auseinandersetzungen behandeln, sondern die auch das religiöse Leben vor Ort beschreiben und den monastischen Ausformungen im Bistum Raum geben. <?page no="295"?> 295 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung und Eloquenz waren Talente, die ihm auf der grossen Pilgerfahrt durch dieses Leben wohl zustatten kamen. Die Fülle der Tage, mit der ihn Gott segnete, boten ihm Gelegenheit für ein weitgespanntes Wirken, das man mit Fug und Recht als ein mehrfaches Lebenswerk bezeichnen darf.» Franz Höfliger wurde am 1. Mai 1892 in Wilen (Gemeinde Freienbach/ SZ) als Sohn des Josef Franz Höfliger und der Columba Barbara Müller geboren. In Wollerau wuchs er zusammen mit zwei Geschwistern und zwei Pflegekindern auf. Nach der Volksschule, von Menzinger Schwestern geleitet, besuchte er ab Herbst 1905 das Stiftsgymnasium in Einsiedeln. Aufgrund seines Wunsches, einmal Missionar in Afrika oder Asien zu werden, setzte er ab 1909 seine schulische Ausbildung in Lyon fort, wo er mit der Matura abschloss. Anschliessend trat Höfliger 1913 ins dortige «Istitute des Missions Africaines» der Gesellschaft der Afrikamission ein; doch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1914-1918) zwang ihn, Frankreich zu verlassen und seine theologischen Studien am Priesterseminar St. Luzi in Chur fortzusetzen, wo er am 18. Juli 1915 von Bischof Georgius Schmid von Grüneck zum Priester geweiht wurde. Am 1. August 1915 feierte er in Wollerau Primiz. Regens und spätere Churer Weihbischof Anton Gisler hielt ihm die Primizpredigt unter dem Leitwort: «Ihr sollt meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria bis an die Grenzen der Erde» (Apg 1,8) - Höfligers Lebensprogramm. Nach der Ordination studierte der Neupriester noch zwei weitere Jahre Theologie in Chur und wirkte als Aushilfsgeistlicher in Pfarreien. Mit einer von Bischof Georgius ausgestellten Empfehlung konnte er in Predigten und Vorträgen für die Missionen um Unterstützung werben. Da man aufgrund der Kriegswirren (vorläufig) von Missionseinsätzen absehen musste - Höfliger war vom Institut in Lyon bereits für einen Einsatz in Nigeria vorgesehen - wirkte der junge Priester zwischen 1917 und 1920 als Vikar unter Pfarrer Johannes Lucas (1903-1919) in Rüti-Tann/ ZH, wo er sich nicht nur der Arbeiterseelsorge annahm, sondern von wo aus er mit grossem Engagement mittels Bettelpredigten das nötige Geld für ein erstes einfaches Gotteshaus im zürcherischen Hinwil zusammenbrachte, so dass dort 1918 zum ersten Mal seit der Reformation wieder eine Messe gefeiert werden konnte. Als erster Pfarrer in Hinwil wirkte dann der aus Deutschland stammende Lucas (1919-1930). Nicht nur von seinem Wunsch beseelt, als Missionsgeistlicher zu wirken, sondern auch durch ein vor dem Lyoner Institut 1914 abgelegtes Versprechen an einen möglichen Afrikaeinsatz gebunden, brauchte er seitens dieses Instituts wie auch seines Bischofs die Zustimmung zu einem neuen Einsatz, nämlich zur Führung des Sekretariats am neuen schweizerischen Institut für auswärtige Missionen mit Sitz in Immensee/ SZ. Nach Erhalt der amtlichen Dokumente am 11. November 1919 - Lyon verweigerte zunächst die Zustimmung zur Lösung des Gelübdes, was eine Intervention des Churer Bischofs an den Präfekten der Kongregation de Propaganda Fide nötig machte -, leitete Höfliger ab 1920 bis 1923 in Immensee das Missionssekretariat und trug zusammen mit Gisler als Präsident der «Zivilgesellschaft des Missionshauses Bethlehem» zum Aufbau der «Missionsgesellschaft Bethlehem» bei. Aus Franz Höfligers Lebensbericht erfahren wir: «Die Freuden, Leiden und Sorgen, die mit dieser Tätigkeit verbunden waren, stehen im Buch des <?page no="296"?> 296 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Lebens und der Vergeltung aufgezeichnet. […] Jedes Werk, jedes Opfer für die Bildung dieses Missionswerkes erachte ich als Gnade für mein Leben und als Gewinn für mein Sterben und für die Ewigkeit.» Zu einer eigentlichen ausländischen Tätigkeit Höfligers als Missionsseelsorger kam es nie. Doch wurde Höfliger in den Jahren 1923 bis 1932 zu vier ausgedehnten «Missionsreisen» in die USA entsandt zwecks Beschaffung von Geldmittel für das Missionshaus Immensee, vor allem aber zur Tilgung der Schulden, welche Georgius Schmid von Grüneck im Zuge seiner unvorsichtig getätigten Geldleihen an Institutionen oder Private und seiner im grossen Stil erworbenen Bildersammlung dem Bistum Chur zu hinterlassen drohte. Die Einblicke in Höfligers Reisenotizen, -aufzeichnungen und Korrespondenzen dieser Zeit machen deutlich, dass vor allem der von Schmid von Grüneck erhoffte Erfolg seiner Bilderauktion in Amerika für den damit beauftragten Höfliger als «Bildermakler» eine äusserst mühselige Angelegenheit und diese letztlich zum Scheitern verurteilt war. Anfangs der englischen Sprache wenig mächtig, zudem dem ständigen Vorwurf ausgesetzt, als reicher Schweizer auf dem amerikanischen Festland als Bettler aufzutreten («kein Geld - kein Schweizer»), betrachtete selbst Höfliger die Reisen als gefährliches Wagnis. Ferner war es anfänglich äusserst schwierig, von den zuständigen Ortsbischöfen die Jurisdiktion und die Bettel-Erlaubnis zu erhalten. Trotzdem brachte er für Mission und Bistum rund eine Million Schweizer Franken in die Bettelkasse. Betreffend «Bilderverkauf» in den USA sollte Höfliger bald Recht bekommen: Die von Bischof und Regens Gisler vorangetriebene Idee, die Verschiffung von 41 Bilder mit einem angeblichen Wert von gut vier Millionen, hielt Höfliger, welcher zusammen mit einem in Los Angeles ansässigen Kunsthändler mit dem Verkauf beauftragt wurde, für viel zu riskant. Noch vor der Überfahrt am 3. Juni 1928, unternommen in der Hoffnung gegen alle Hoffnung, betonte er gegenüber dem euphorischen Bischof, dass wohl die wenigsten der Ölgemälde echt, sondern lediglich gute Kopien von Schülern alter Meister seien, welche aber keineswegs den erhofften Erlös einbrächten. Schon der Transport der Kunstgegenstände war abenteuerlich. Ohne Wissen Höfligers wurde in Chur festgelegt, die Bilder über Panama zu schiffen, die Rahmen dazu hingegen über Quebec. Anfangs September 1928 wurde aus dem Hafenzollamt in Los Angeles wohl die Bereitstellung der Bilder mit Rahmen gemeldet, welche in der örtlichen Universitätsgalerie ausgestellt werden sollten, doch exakte Prüfungen verzögerten die Freigabe des Transportgutes um weitere Wochen. Gegen Jahresende 1928 konnte die Ausstellung aufgebaut werden; es fehlten hingegen nach wie vor die wichtigen Atteste der «United States Tresory Agents» für die Echtheit der Sammlung. Betrügereien mit angeblichen Kunstschätzen aus Europa hatten den amerikanischen Kunsthandel stark verunsichert. Franz Höfliger erinnerte sich in dieser ungewissen Zeit des Wartens an die Aussage von Pius XI. bei seiner Privataudienz 1927 beim Heiligen Vater: «Ich glaube nicht an die Authentizität der Bilder seiner [Grünecks] Galerie, noch weniger glaube ich, dass der Bischof damit sein Heil finden wird. Was den Bischof von Chur ins Unglück gebracht hat, war sein [unvorsichtiges] Engagement für die Caritas. Nach meiner Meinung wird ihn nur die Caritas retten.» Als Höfliger schliesslich am 25. Juni 1929 die Rückfahrt über den Ozean antrat, war in der Tat noch kein einziges Bild verkauft. <?page no="297"?> 297 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung Nur wenige Monate später konnte man in der katholischen Presse von Amerika lesen, dass der Churer Bischof höchst persönlich - zusammen mit Franz Höfliger - am 17. September 1929 in New York eintreffe. Angebliche «Diaspora-Not» zwinge den bereits hochbetagten Oberhirten, die Reise anzutreten, in der Absicht auf «amerikanische» Hilfe. Diese Hilfe bestand konkret im Verkauf des einzigen wirklich nachweisbar echten Bildes, dem Portrait «Elisabeths Van Rijn» von Rembrandt (1606-1669), welches einst der Fürst von Liechtenstein an Bischof Georgius verschenkt hatte. Dieses Gemälde konnte weit unter seinem geschätzten Wert von mehr als 200'000 Dollars wenigstens für 100'000 Dollars (umgerechnet über 400'000 Fr.) verkauft werden - ein kleiner Hoffnungsschiffer in der bischöflichen Schuldentilgung, mehr auch nicht, denn alle anderen Bilder mussten nach Auflösung der Zusammenarbeit mit dem völlig unfähigen amerikanischen Kunsthändler wieder auf mühseeligem und kostspieligem Seeweg in die Schweiz zurück transportiert werden. Ohne Höfliger, welcher bis März 1930 noch in den Vereinigten Staaten blieb und ab Herbst 1930 bis Juni 1932 zum vierten Mal als Missionar zur Schuldentilgung in den USA unterwegs war, kehrte Bischof Schmid von Grüneck auf Weihnachten 1929 nach Chur zurück. Wohl für seine unbezahlbar wertvollen wie in grosser Geduld verrichteteten (Bettel-) Dienste erhielt Höfliger 1932 den Titel eines päpstlichen Prälaten; damit löste Georgius Schmid von Grüneck das schon einige Jahre zurückliegende «Versprechen» ein, seinem Bildmakler und unermüdlichen Helfer aus der Schuldenfalle mit einem kirchlichen Ehrentitel Genugtuung zu leisten, die der Geehrte wohl in Gehorsam annahm, aber niemals gesucht hatte. Aus der «Bildergalerie» von Georgius Schmid von Grüneck: Abb. 243 (links): Pietà aus der Schule des Malers Lodovico Carracci (1555-1619) / Abb. 244 (rechts): Pietà, angeblich von Anthonis van Dyck (1599-1641) [BAC.BA] <?page no="298"?> 298 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Nach einer für Höfliger in der Enge der bischöflichen Kanzlei wenig erspriesslichen Zeit (1932-1938) drängte es den Seelsorger wieder in die Pastoral: 1938-1949 wirkte er zuerst als Missionsgeistlicher, Bauherr der St. Verena-Kirche [siehe oben Abb. 148/ 149] und später als erster Pfarrer in der von ihm aufgebauten Pfarrei Stäfa am Zürichsee, dann siedelte er in die Stadt Zürich um, wo er im damaligen Arbeiterquartier Schwamendingen die Pfarrei St. Gallus aufbaute (1949-1966) und hierfür mittels einer beeindruckenden Predigttätigkeit in der ganzen Deutschschweiz das Geld für den Bau des dortigen Gotteshauses zusammenbrachte. Aus Altersgründen demissionierte Franz Höfliger 1966 auf die Stadtzürcher Pfarrpfrund und wirkte bis zu seinem Tod 1985 als Spiritual im Spital St. Josef der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz in Ingenbohl. Sein ganzes Priesterleben, so schreibt Guido Johann Kolb, sei im Zeichen der Eucharistie gestanden. «Dank» sei Höfliger nicht nur ein Wort gewesen, sondern seine Haltung. «Aus der täglichen Eucharistie holte er sich die Kraft für sein immenses Arbeitsprogramm.» Durch «seine Frohnatur, seine Begeisterungsfähigkeit, seine strahlende Offenheit, seine natürliche Autorität» war der Seelsorger und Bettelprälat Franz Höfliger über die konfessionelle Grenze hinweg äusserst beliebt und anerkannt. In seiner Traueransprache am 3.-August 1985 in der Klosterkirche Ingenbohl dankte Bischof Johannes Vonderach dem Verstorbenen für seine vorbildhafte Hingabe und sein rastloses Wirken als Priester im Weinberg des Herrn, in dem er 70 Jahre wenn auch nicht im ferner Afrika oder Asien, so doch im Bistum Chur «missionarisch» äusserst aktiv gewirkt hatte. Abb. 245 (links): Prälat Franz Höfliger als Spiritual in St. Josef, Ingenbohl/ SZ (1966-1985) [BAC.BA] Abb. 246 (rechts): Titelblatt (mit Zeichnung von Roland Thalmann) des lesenswerten Buches von Guido Johann Kolb über Franz Höfliger (erschienen in Freiburg/ CH 1988 [BBC] <?page no="299"?> 299 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung j) Alfred Teobaldi: Bischöflicher Kommissar und erster Generalvikar für Zürich (gest. 1977) Als weitere Persönlichkeit sei hier auf einen Geistlichen eingegangen, der - bereits weiter oben genannt [S. 120-125] - zur Festigung der in der Hälfte des 20. Jahrhunderts stark angewachsenen Zahl von Katholiken und Pfarreien im Administrationskanton Zürich mittels Schaffung konkreter Strukturen ein wichtiges Kapitel in der Churer Diözesangeschichte mitschrieb. Am 31. Oktober 1897 wurde Alfred Teobaldi [siehe Abb. 81] in Wiedikon/ ZH als einziges Kind des aus dem Piemont in die Schweiz eingewanderten italienischen Bahnarbeiters, Giacomo Teobaldi, und der aus dem Walserdorf Bosco/ Gurin stammenden Maria Jacobea Rossi, geboren. An der Grenze zwischen Wiedikon und Aussersihl, an der Badenerstrasse, betrieben die Eltern Teobaldis einen Früchte- und Gemüsestand. Pfarreilich gehörte die Familie zu St. Peter und Paul, hatte aber auch rege Kontakte zur Italienermission, in dessen Gotteshaus Don Bosco Alfred als Ministrant wirkte. Da Teobaldis Mutter mit Pater Maurus Carnot OSB in Kontakt stand, vermochte der Junge im Anschluss an die Volks- und Sekundarschule das Gymnasium der Benediktiner in Disentis besuchen (1912-1915), wechselte für das letzte Studienjahr 1915/ 16 dann ins Kollegium St. Karl Borrmäus nach Altdorf, wo er mit Erfolg 1916 die Matura bestand. Da er für den Eintritt ins Priesterseminar St. Luzi noch zu jung war, studierte er zwei Semester Philosophie und Nationalökonomie an der Universität in Freiburg i. Br.; im Herbst 1917 begann er dann in Chur das Theologiestudium. Im Anschluss an seine Priesterweihe am 18. Juli 1920 durch Georgius Schmid von Grüneck und dem vierten Studienjahr in Chur weilte Teobaldi zum Weiterstudium der Sozialwissenschaften am Institut Catholique de Paris und an der Universität Münster, welches er 1923 mit dem Doktorat in Wirtschaftswissenschaft (dr. rer. pol.) abschloss; das Thema seiner Dissertation lautete: «Die Vorläufer der katholisch sozialen Schulen in Frankreich». In die Schweiz zurückgekehrt, wirkte er zwischen 1923 und 1928 als Vikar in St.-Anton, Zürich-Hottingen, und als Präses des Gesellenvereins Zürich; damit verbunden war die Leitung des Gesellenhaus «Wolfbach». Sein Eifer vor allem zugunsten der vom Schicksal weniger verwöhnten Menschen war beispielhaft. So verdanken wir diesem Geistlichen die am 4. März 1926 erfolgte Gründung der Caritas Zürich und der Aufbau der Behindertenseelsorge in der Stadt [siehe unten, S. 493- f.]. Bereits im Januar 1926 wurde Teobali Präses des Zürcher Kantonalverbandes des katholischen Volksvereins und damit auch Mitglied des Zentralkommitees des Schweizerischen Volksvereins. Dieser Verein war während vieler Jahre Ausgangspunkt für die Tätigkeiten Teobaldis in der breiten Öffentlichkeit (z. B. die Katholikentage). Ferner engagierte er sich in der Blinden- und Taubstummenseelsorge und wirkte 34 Jahre lang als Gefängnisseelsorger in der kantonalen Strafanstalt Regensdorf. Als aktiver Mitarbeiter der katholischen Volkshochschule (seit 1927) gründete er 1954 zudem die Glaubenskurse für Laien und war Initiant der 1966 eröffneten Paulus-Akademie in Witikon/ ZH [siehe unten, S. 415-417]. Zweifellos war Alfred Teobaldi eine charismatische Führungspersönlichkeit, auf die nicht zuletzt der Churer Bischof als Administrator des Kantons Zürich nicht verzichten konnte. 1951 <?page no="300"?> 300 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung ernannte ihn Christianus Caminada zum Bischöflichen Kommissar für dieses Gebiet. Am 1. Juli 1956 erfolgte auf massiven Druck des damaligen Nuntius Gustavo Testa schliesslich die Erhebung des oben genannten Kommissariats zum Generalvikariat unter Leitung Teobaldis [siehe oben S. 118-125]. Der unermüdliche Schaffer setzte sich in dieser neuen einflussreichen Funktion für die staatskirchenrechtliche Anerkennung der katholischen Kirche im Kanton Zürich ein, welche 1963 erreicht werden konnte, und war 1963 bis 1967 Mitglied der Zentralkommission der katholischen Landeskirche. Teobaldi - seit 1964 auch Mitglied des Churer Domkapitels und seit 1967 den Titel eines Apostolischen Protonotars tragend - so kann man mit Hugo Hungerbühler sprechen, «der Intelligenz mit Arbeitsfreude und Gottvertrauen paarte, ist durch seine vielseitige, sozial-karitative, theologisch-pädagogische und kirchenpolitische Tätigkeit» wohl einer der bekanntesten Zürcher Katholiken des 20. Jahrhunderts. Als der Prälat am 26. August 1977 im Krankenhaus Sanitas in Kilchberg bei Zürich im Alter von 80 Jahren starb, sprach man davon, der «heimliche (Nicht-)Bischof von Zürich» sei von dieser Welt gegangen. Tatsache ist: Alfred Teobaldi hat durch sein Engagement die Entwicklung der katholischen Kirche im Kanton Zürich wie kaum ein anderer, auch gegen gewisse Widerstände seitens des Ordinariates in Chur entscheidend mitgeprägt und manche Weichen für die Zukunft gestellt. In der Trauerfeier am 31. August 1977 in Disentis, wo sein sterblicher Leib auf dem Klosterfriedhof zur Ruhe gebettet wurde, hob Bischof Johannes Vonderach Teobaldis Wirken als Generalvikar im Dienst seiner Mitbrüder hervor: «Vor allem möchte ich das Bemühen Generalvikars Teobaldi um das Priesterkapitel des Kantons Zürich und um das Wohl seiner geistlichen Mitbrüder in Amt und Pension nicht übergehen. Wenn auch die Meinungen und Anschauungen auf einzelnen Gebieten nicht immer die gleichen waren, so ist das in der Vielfalt der Lebensumstände und Zeitverhältnisse nicht verwunderlich. Dass sie sich immer wieder zum einen Ziel hinfanden, zum Dienst für den anderen, blieb ihm Ziel und muss Ziel bleiben allen, die sein Werk fortführen.» […] In allem sei er «nicht allein ein Mann der Verwaltung, sondern zutiefst auch Seelsorger» gewesen. Eine Auswahl der gedruckten Schriften von Alfred Teobaldi • Die freie Jugend. Was sie ist und was sie will. Ein Wort über den Schweizer Jungsozialismus, Olten 1917 • Herausgeber der Schriftenreihe «Im Zeitensturm», ab 1921 • Sozialismus und Katholizismus. Eine Rechtfertigung des Bettagsmandates der schweizerischen Bischöfe gegen sozialistische Angriffe, 1921 [unter dem Pseudonym «Sozialis» veröffentlicht] • Freigeld und Katholizismus, Zürich 1934 • Protestanten und Katholiken in der Schweiz. Eine Übersicht über ihre rechtliche Lage, Zürich 1953 • Katholiken im Kanton Zürich. Ihr Weg zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung, bearbeitet und ergänzt von Moritz Amherd, Zürich 1978 <?page no="301"?> 301 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung k) Gion Giusep Pelican: Erster Generalvikar für Graubünden, Glarus und Liechtenstein (gest. 1992) Am 2. Juni 1992 verstarb in Chur nach kurzem schweren Leiden Dompropst Gion Giusep Pelican (seit 1985). Der aus Vrin stammende Sur Giusep, wie er sich gerne vorstellte, wurde am 28. Februar 1924 in Breil/ Brigels geboren. Die Familie zog bald darauf nach Surrein, wo Vater Valentin Pelican zusammen mit seiner Frau Turtè, geborene Caminada, das Bauerngut Bubretsch in Pacht bewirtschaftete. In Surrein und Sumvitg besuchte Gion Giusep die Primar- und Sekundarschule, wechselte anschliessend an das Gymnasium des Benediktinerklosters Disentis, wo er 1946 die Matura erwarb. Während der Gymnasialzeit vermochte in ihm P. Notker Curti OSB (1880-1948) die Liebe zur Kunstgeschichte wecken, welche ihn zeitlebens interessierte, so dass Pelican zwischen 1979 und 1983 als Lehrbeauftrager für kirchliche Kunst an der Theologischen Hochschule Chur tätig war. Im Anschluss an das Theologiestudium am Priesterseminar St. Luzi (1946-1950) empfing er am 2. Juli 1950 die Priesterweihe, blieb dann zwei Jahre als Hofkaplan an der Seite des Churer Bischofs Christianus Caminada und vertiefte zwischen Herbst 1953 und Juli 1956 sein kirchenrechtliches Wissen an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom, welches er mit dem Lizentiat (lic. iur. can.) abschloss. Mit diesem Rüstzeug war er wie geschaffen für den Sekretariatsposten des neu errichteten Generalvikariates für den Kanton Zürich, wo als rechte Hand Teobaldis und in pastoraler Tätigkeit bis 1963 verblieb. Ein Mitbruder nannte Pelican einen «Pionier neuzeitlicher katholischer Seelsorge in ökumenischer Offenheit» - diese hatte er mitunter in Zürich erfahren und leben können. Im April 1964 kehrte Pelican an das bischöfliche Ordinariat auf den Hof nach Chur zurück und amtete daselbst als Sekretär (1964-1969). Als auf Neujahr 1970 Bischof Vonderach das Generalvikariat «Graubünden, Glarus und Liechtenstein» errichtete, berief er seinen Mitarbeiter zum ersten Generalvikar dieses Distrikts (bis Ende 1989). Zusätzlich versah Pelican als Pfarrprovisor ab 1983 die Pfarrei Maladers (bis 1990). Bereits während seiner Tätigkeit in Zürich sicherte Bischof Vonderach Pelican als Domsextar (1967-1972) einen festen Platz im sechsköpfigen Churer Residentialkapitel. Von Februar 1972 bis Februar 1985 amtete er in der Funktion des Domkustus als «Hüter» der Kathedrale und von 1985 bis zu seinem Tod 1992 als Dompropst. Als Dompropst bereitete er in unzähligen Sitzungen die nötige Innenrestauration der Bischofskirche vor, die dann später mit dem Schwerpunkt auf Konservierung, zwischen 2001 und 2007 erfolgreich durchgeführt werden konnte [siehe unten, S. 537-540]. Generalvikar Pelican war zudem massgeblich an der Gründung des Katechetischen Zentrums Graubünden wie der (seit 2014 ökumenischen) Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Chur beteiligt und zeichnete Verantwortung für die Caritas-Regionalstelle für Graubünden-Glarus-Liechtenstein. Als sachkundiger Berater bei Kirchenrenovationen in seinem Distrikt trat er gerne ins Rampenlicht. Mehr in seiner Freiheit baute er am Ordinariat die «Biblioteca romontscha episcopala» auf, legte eine beeindruckende Postkartensammlung an und betätigte sich als eifriger Sammler von Heiligen-, Primiz- und Totenbildchen (heute im Bildarchiv des Bischoflichen Archivs Chur integriert). <?page no="302"?> 302 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Sein Ziel, die Renovation der Kathedrale in Chur beginnen zu können, war ihm nicht mehr vergönnt. Auf eigenen Wunsch wurde Gion Giusep Pelican auf dem Ortsfriedhof von Surrein am 5. Juni 1992 bestattet. Gion Deplazes schrieb 1992 zum Gedenken an den Verstorbenen: «Seinem Charakter entsprechend, war er mehr ein Mann der Arbeit als der grossen Worte und des feierlichen Auftretens.» Abb. 247 (links): Gion Giusep Pelican, Erster Generalvikar für Graubünden-Glarus-Liechtenstein (1970-1989) Abb. 248 (rechts): Karl Scheuber, Erster Generalvikar für die Urschweiz (1970-1973) <?page no="303"?> 303 5. Bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der Churer Bistumsleitung l) Karl Scheuber: Erster Generalvikar für die Urschweiz (gest. 1979) «Mit Domscholastikus Karl Scheuber, der am 26. Juni [1979] nach heimtückischer Krankheit im Kreisspital Ilanz sein reiches Priesterleben abschloss, verlor die Diözese Chur, die Urschweiz und besonders Uri einen geistlichen Hirten», so beginnt Josef Konrad Scheuber (1905-1990), 1978-1990 Resignat in Attinghausen, den Nachruf auf den ersten Generalvikar für die Bistumskantone Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden (publiziert in der «Schweizerischen Kirchenzeitung»). Als Bürger von Wolfenschiessen/ NW erblickte Karl Scheuber am 5. Oktober 1902 in Stans das Licht der Welt. Mit sechs Jahren verlor Karl zusammen mit seinen 9 Geschwistern innert Jahresfrist beide Elternteile. 1923 machte der junge Karl am Kollegium Maria Hilf in Schwyz die Matura und studierte anschliessend in Chur Theologie, wo er am 4. Juli 1926 die Priesterweihe empfing. Sein erster Seelsorgeeinsatz war Altdorf, wo er von 1927 bis 1936 als Pfarrhelfer wirkte; anschliessend übernahm er die Pfarrei St. Peter und Paul in Bürglen (1936-1962). Der Nekrolog hält fest: «Während 26 Jahren setzte Karl Scheuber seinen seelsorgerlichen Eifer, seine Liebe zum Bergland und seinen Leuten, seinen Kunstsinn für die Erhaltung gottgeweihter Stätten ein. Nach geglückter Innen- und Aussenrenovation der prachtvollen Barockkirche entschloss er sich zur Restauration der 12 Kapellen, die den Pfarreisprengel wie ein Rosenkranz umschliessen.» Nicht zuletzt das Tellmuseum in Bürglen konnte 1966 dank des initiativen Ortspfarrers im Wattigwilerturm verwirklicht werden. Scheubers Wirken wurde durch diverse Berufungen in kommunale wie kantonale Gremien belohnt und belastet: Kirchenrat, Schulrat, Mitglied des Erziehungsrates und der Jugendanwaltschaft von Uri, Senat des Kollegiums Karl Borromäus in Altdorf und Spitalrat - alle schätzten Scheubers Klugheit und beratende Stimme. 1951 ernannte ihn Bürglen zum Ehrenbürger. 1957 konnte er das 1100-Jahr-Jubiläum seiner Pfarrei durchführen und schrieb hierzu eine Festschrift. Kein Wunder, dass seine Person und sein unermüdliches Wirken in der Pastoral Bischof Christianus Caminada bewog, nach der Resignation des Bischöflichen Kommissars für Uri, Karl Josef Gisler (1931-1956), Karl Scheuber dieses Amt anzuvertrauen (1957-1962). Nach der Amtsübernahme Vonderachs (1962) berief dieser den Bürgler Pfarrer ins Churer Domkapitel; aufgrund eines alten Brauches geschah die Ernennung Scheubers zum Domscholastikus durch Papst Johannes XXIII. (installiert am 17. Oktober 1962). 1962 bis 1972 betreute Karl Scheuber, vorerst als bischöflicher Delegierter und von 1970 bis 1972 als regionaler Generalvikar, die pastoralen Anliegen der Urschweiz. Seit 1963 bis 1970 präsidierte der in Chur wohnhafte geistliche Würdenträger die bischöfliche Personalkommission (heute: Bischofsrat). Ab 1973 im Ruhestand, stellte Domherr Scheuber seine beratende Stimme Bischof und Bistumsleitung weiter zur Verfügung. Am 29. Juni 1979 nahm das Churer Bistum von einem beispielhaften Geistlichen und Seelsorger Abschied; seine letzte Ruhestätte fand Karl Scheuber auf dem Priesterfriedhof vor der Kathedrale zu Chur, in der Gewissheit des Glaubens entschlafen, die «beglückende Stille im Vaterhaus Gottes» (Ausspruch Scheubers) werde ihm zuteil werden. <?page no="304"?> 304 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung 6. Bischöfliches Gericht (Offizialat) und Rechtsprechung Der Diözesanbischof ist in seinem Sprengel der oberste Richter; insofern kennt die Kirche keine Gewaltenteilung. Die verschiedenen Gewalten werden jedoch unterschieden, so dass der Bischof sich faktisch in inhaltlicher Hinsicht nicht mit den einzelnen Gerichtsverfahren beschäftigt. Er ernennt für diese Angelegenheiten einen im kirchlichen Recht ausgebildeten Offizial, der auch Gerichtsvikar genannt wird; dieser ist der Vorsitzende des diözesanen Gerichtswesens. Wie im zivilen Bereich gibt es auch im kirchlichen Gerichtswesen eine Prozessordnung. Diese dient dazu, allen Beteiligten rechtliches Gehör zu verschaffen und auf nachprüfbaren Wegen zur Findung der Wahrheit und damit zu einem gerechten Urteil zu kommen. Im Bistum Chur lässte sich der Übergang vom geistlichen Gericht alter Ordnung - Bischof als Vorsitzender mit Beirat - zum Einzelrichteramt des Offizials bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts festmachen. Mit Ausnahme des Vinschgaus und mindestens im 15. Jahrhundert des Engadins, wo der Erzpriester bzw. später der Dekan die geistliche Gerichtsbarkeit ausübte, war der Offizial ab dem 14. Jahrhundert für die ganze Diözese zuständig. Soweit quellenmässig feststellbar, waren ab dem Spätmittelalter Offizial und Generalvikariat immer in Personalunion verbunden. Die Ilanzer Artikel von 1524/ 26 schlossen das geistliche Gericht der Churer Bischöfe für das Gebiet der Gemeinen Drei Bünde von der direkten Jurisdiktion in Vermögens- und Strafsachen sowie als Appellationsinstanz bis 1622/ 23 fast gänzlich aus. Infolge der Reformation in Bünden verlor das geistliche Gericht in den meisten Bündner Gemeinden auch in Ehe- und Benefizialsachen jegliche Bedeutung. Die Zerrüttung im 16. Jahrhundert führte entsprechend dazu, dass das Generalvikariat nicht mehr regelmässig besetzt wurde. Im Zuge der innerkirchlichen Reformarbeit drangen die Nuntien darauf, dass ein Generalvikar ernannt wurde bzw. setzten diesen gleich selber ein (so 1599 in der Person Johann Flugis). Die Generalvikare des 17. und 18. Jahrhunderts erfüllten sowohl die Aufgaben eines bischöflichen «vicarius» wie eines Offizials: Sie begleiteten die Bischöfe auf Visitationen, erteilten die Investitur und sassen als erste im geistlichen Gericht («officium» oder «consistorium» genannt), welche der Bischof ‹in personam› oft präsidierte. Allermeist kamen die Amtsinhaber aus dem Residentialkapitel. Im 19. Jahrhundert ging die Tätigkeit des geistlichen Gerichts erneut auf ein Minimum zurück, namentlich infolge der Säkularisierung des Eherechts auf kantonaler und Bundesebene. Die Bezeichnung «Generalvikar» findet sich selten; die Spitzenbeamten der bischöflichen Kurie - oft sind sie gleichzeitig oder vorher Kanzler - heissen nach 1860 «Offiziale»; sie leiten häufig auch die Ordinariatssitzungen. Erst seit Inkrafttreten des kirchlichen Gesetzbuches (CIC) von 1917 wird für alle Diözesen je ein Generalvikar und ein Offizial vorgeschrieben; die personelle Trennung erfolgte im Bistum Chur gemäss nebenstehender Liste erst 1932. Zwischen 1951 und 1990 amtete für das Gebiet des Kantons Zürich insbesondere für den Bereich der Ehesachen ein Vize-Offizial. <?page no="305"?> 305 6. Bischöfliches Gericht (Offizialat) und Rechtsprechung Liste der Offiziale (Praeses Consistorii) [= Generalvikare] 1800-1917/ 32 Georg Schlechtleutner 1802-1810 Bartholomäus Battaglia sicher 1815-1826 Kaspar de Carl ab Hohenbalken 1827-1844 Albert von Haller 1855-1858 P. Theodosius Florentini OFMCap 1860-1865 P. Kaspar Willi OSB 1868-1877 Franz Konstantin Rampa 1878-1879 Johannes Fidelis Battaglia 1879-1889 Georg Schmid von Grüneck 1889-1908 Gaudenz Willi 1908-1917 Laurenz Matthias Vincenz 1917-1932 Trennung des Amtes des Generalvikars vom Amt des Offizials ab 1932 (1951-1990 zusätzlich für den Kanton Zürich: Vize-Offizialat in Zürich) Generalvikare für das ganze Bistum Amtsdauer Offiziale Amtsdauer Luzius Anton Simeon 1932-1934 Ulisse Fortunato Vittore Tamò 1932-1942 Christian Caminada 1934-1941 Josef Ambrosius Furrer 1942-1946 Johann Benedikt Venzin 1942-1952 Kallist Jakob Simeon 1946-1951 Johannes Vonderach 1952-1962 Raymund Staubli 1951-1968 Ludwig Soliva 1962-1969 Josef Ambrosius Furrer 1969-1982 * Wolfgang Haas 1982-1988 Wolfgang Haas 1988-1990 Joseph Maria Bonnemain seit 1989 * Vize-Offiziale in Zürich: - Hans Henny 1951-1968 - Gebhard Matt 1968-1990 P. Peter Henrici SJ P. Paul Vollmar SM 1993-1997 * P. Paul Vollmar SM 2007-2008 Martin Grichting seit 2009 * Generalvikare bzw. Bischofsvikare mit besonderer Verantwortung für die einzelnen Bistumsregionen: <?page no="306"?> 306 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Bistumsregion Graubünden (bis 1997 GR, GL, FL) Bistumsregion Urschweiz (UR, SZ, OW, NW) Bistumsregion Zürich (ZH, seit 1998 auch GL) Gion Giusep Pelican 1970-1989 Karl Scheuber 1970-1972 [Verzeichnis siehe oben S.-122] Vitus Huonder 1990-1993 / 1998-2007 Gregor Burch 1973-1985 vakant 2007-2008 Walter Niederberger 1986-1993 Andreas Rellstab 2009-2011 P. Paul Vollmar SM 1993-2003 Andreas Fuchs seit 2011 Martin Kopp seit 2003 Jedermann, der sich im Zusammenhang mit dem kirchlichen Leben in seinen Rechten verletzt, benachteiligt oder ungerecht behandelt fühlt, ist befugt, eine gerichtliche Klärung seines Anliegens zu verlangen; dieses Recht haben nicht nur Katholiken. Es kommen dabei verschiedene Sachverhalte in Frage, wie etwa Ehrverletzung, finanzielle Streitigkeiten (auch zwischen kirchlichen juristischen Personen), Vermögensstreitigkeiten oder Strafverfahren und auch sog. Personenstandsverfahren (z. B. Ehenichtigkeitsverfahren). Die Ehenichtigkeitsverfahren machen heute faktisch den grössten Teil der Arbeit der Offizialate aus. 7. Diözesane Räte und Kommissionen Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über ehemalige und noch bestehende wichtige diözesane Gremien und deren Aufgabenbereiche. a) Räte Ordinariatsrat 1859-2007 (Ordinariatskonferenzen/ -sitzungen) Dieses durch Aktensammlung «älteste» Beratungsgremium am bischöflichen Hof zu Chur reicht in die Anfangszeit des Episkopats von Nikolaus Franz Florentini (1859- 1876) zurück und endet mit dem Amtswechsel von Amédée Grab zu Vitus Huonder (2007). <?page no="307"?> 307 7. Diözesane Räte und Kommissionen Bischofsrat seit 2009 (früher: Personalkommission 1969-1982 / Personalrat 1983-2008) Zusammen mit diesem Beratungsgremium der engsten Mitarbeiter in der Bistumsleitung (Weihbischof, Generalvikar, regionale Generalvikare und Bischofsvikare) entscheidet der Diözesanbischof primär über anstehende Personal- und sekundär auch über wichtige Sachfragen. Die Zusammenkunft ist ein bis zweimal monatlich am Ordinariat in Chur. Diözesaner Priesterrat seit 1968 «In jeder Diözese ist ein Priesterrat einzurichten. Das ist ein Kreis von Priestern, der als Repräsentant des Presbyteriums gleichsam Senat des Bischofs ist. Seine Aufgabe besteht darin, den Bischof bei der Leitung der Diözese nach Massgabe des Rechts zu unterstützen, um das pastorale Wohl des ihm anvertrauten Teiles des Gottesvolkes so gut wie möglich zu fördern.» [CIC/ 1983, can. 495§1] Der Priesterrat ist also ein (laut Kirchenrecht) verpflichtendes, den Bischof beratendes und unterstützendes Gremium, in dem die Priesterschaft (auch Vertreter der männlichen religiösen Gemeinschaften der Diözese) nach Bistumsregionen, Dienst- und Altersstufen angemessen vertreten sind. Der Rat befasst sich vorwiegend mit der Wahrnehmung der Pastoral und ihrer Planung, ferner mit Fragen des priesterlichen Lebens und Dienstes. Auch soll der Bischof den Priesterat bei Angelegenheiten von grösserer Bedeutung (vor einer Entscheidung) anhören; verpflichtend ist dies für den Bischof in folgenden Fällen: Festlegung bzw. Veränderung von Dekanatsgrenzen, Pfarreierrichtungen, änderungen oder -aufhebungen, vor der Einberufung einer Diözesansynode, vor seiner Zustimmung zu Kirchenbauten oder Profanisierung von Kirchen. Der Priesterrat setzt sich aus gewählten Mitgliedern (aus den Dekanaten), berufenen Mitgliedern (durch den Bischof ) und Vertretern von Amtes wegen (Weihbischof, Generalvikar, regionale Generalvikare, Bischofsvikare, Regens) zusammen. Vorsitzender ist immer der Diözesanbischof. Für die Amtsperiode 2015-2018 besteht der Priesterrat (neben dem Bischof ) aus 32 Geistlichen. Es finden jährlich zwei ordentliche Sitzungen statt. <?page no="308"?> 308 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Diözesaner Seelsorgerat 1967-1998 Die Initiative zur Schaffung von diözesanen Seelsorgeräten findet seinen Ursprung im Zweiten Vatikanischen Konzil. Gerade die soziologischen, geographischen und auch sprachlichen Unterschiede in den Churer Bistumsteilen machen das Gespräch unter den Seelsorgenden notwendig. Im gegenseitigen Austausch können pastorale «Problemfelder» angegangen und gemeinsam einer Lösung zugeführt werden. Dieser diözesane Rat führte Vertreter der kantonalen Seelsorgeräte mit dem Bischof zusammen, wurde aber Ende 1998 durch die Schaffung der diözesanen Pastoralkonferenz [siehe unten] ersetzt. Diözesane Pastoralkonferenz seit 1999 Die «Pastoralkonferenz», dessen Statut am 28. Oktober 1999 von Bischof Amédée Grab unterzeichnet wurde, revidiert durch Bischof Vitus Huonder am 1. Oktober 2009, sieht sich als Beratungsgremium in Fragen der Seelsorge sowie der bistumsweiten Pastoralplanung und trat an die Stelle des früheren diözesanen Seelsorgerates [siehe oben]. Wegen der unterschiedlichen Situation in den drei Churer Bistumsregionen sollen pastorale Fragen vor allem in den kantonalen Seelsorgeräten behandelt werden. Die diözesane Pastoralkonferenz dient ihrerseits der Koordination und dem Erfahrungsaustausch unter den kantonalen Seelsorgeräten. Die Konferenz setzt sich zusammen aus dem Diözesanbischof (Vorsitz), einer Vertretung des Bischofsrates sowie delegierten Mitgliedern der regionalen Seelsorgeräte. Wo kein kantonaler Seelsorgerat besteht, nimmt der Dekan Einsitz in die Konferenz. In der Regel werden zwei Sitzungen pro Jahr abgehalten. Rat der Laientheologen, Laientheologinnen und Diakone seit 2002 Dieser relativ noch junge Rat bezeichnet sich in den Statuten als «ein Gremium der Mitverantwortung», welches den Bischof (ähnlich wie der Priesterrat) in pastoralen Aufgaben und Fragen des kirchlichen Dienstes berät und unterstützt. In Anbetracht der Tatsache, dass die Ständigen Diakone ähnliche pastorale Aufgaben wie die Laientheologen wahrnehmen, bilden sie zusammen ein Gremium. Vor Entscheidungen, die für die ganze Diözese von Bedeutung sind, ist der Bischof gehalten, auch diesen Rat zu konsultieren. Selbst kann der Rat lediglich Entscheide im Sinne von Empfehlungen treffen; diese treten dann in Kraft, wenn der Bischof zustimmt. Die Mitgliederzahl beläuft sich auf 17 (10 VertreterInnen der Laientheologinnen und Laientheologen, 3 Ständige Diakone, 1 Mentor/ in für die künftigen Pastoralassisteninnen und Pastoralassistenten, 3 vom Bischof berufene Mitglieder). Dazu kommen ständige Gäste (1-Vertreter des Priesterrats, 1 Vertreter/ in der in St. Luzi Studierenden, 1 Vertreter/ in der auswärts Studierenden des Bistums Chur). Mindestens zweimal jährlich kommt dieser Rat zusammen. <?page no="309"?> 309 7. Diözesane Räte und Kommissionen Diözesane Dekanenkonferenz seit 1971 Mit der Schaffung der drei Generalvikariate 1956/ 1970 für Zürich, Graubünden-Glarus-Fürstentum Liechtenstein und Urschweiz und der zum Teil damit verbundenen (Neu-) Einteilung der Dekante initiierte Ende 1971 die Bistumsleitung die regelmässige - ein bis zwei Mal jährlich stattfindende - Zusammenkunft aller Dekane, den Hauptverantwortlichen eines Dekanats (früher: Priesterkapitels), mit dem Diözesanbischof. Diözesaner Administrationsrat seit 1970 [siehe hierzu Näheres unter dem Kapitel Finanzverwaltung, S. 311.] b) Kommissionen (in alphabetischer Abfolge) Diözesane Baukommission seit 2016 Die erst im April 2016 errichtete Baukommission berät den Diözesanbischof hinsichtlich der sakralen, liturgischen, gottesdienstlichen und religiösen Aspekte, welche bei Bauten, Umbauten und Restaurationen von Sakralgebäuden und Sakralräumen im Bistum Chur berücksichtigt werden müssen. Die Kommission erteilt im Auftrag des Bischofs die Bewilligung für Restaurationen, (Um)Baumassnahmen und Umnutzungen. Die Erlaubnis für den Neubau einer Kirche sowie für die Profanisierung einer Kirche oder eines Altars wird jedoch gemäss CIC/ 1983 vom Bischof erteilt. Präsident der Kommission ist «ex officio» der Verantwortliche für das kirchliche Stiftungswesen. Auf seinen Antrag ernennt der Bschof aus jedem Bistumskanton auf vier Jahre je ein Mitglied (insgesamt 7). Die Kommission trifft sich ordentlicherweise jährlich ein Mal. Diözesane Diakonie-Kommission seit 2009 (früher [seit 1972] Diözesane Caritas-Kommission) Diözesanes Fachgremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» seit 2009 Sexuelle Übergriffe kommen leider auch im kirchlichen Bereich vor und sind heute vermehrt ein Thema in der Öffentlichkeit. Solche Handlungen durch Personen im kirchlichen Dienst (Geweihte und Laien) sind besonders schmerzlich und verwerflich, denn sie verletzen die Persönlichkeit und Würde eines oft hilfesuchenden Menschen. Sexuelle Übergriffe sind nicht tolerierbar; fehlbare Personen müssen zur Rechenschaft gezogen werden können und haben mit Sanktionen zu rechnen. Hierfür hat das Bistum Chur dieses Fachgremium eingerichtet, welches aus den drei Bistumsregionen mit Ansprechspersonen (Ärzte, Psychotherapeuten, Geistliche) vertreten ist. Gemeldete Vorkommnisse werden vertrauensvoll behandelt und genau geprüft. <?page no="310"?> 310 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Diözesane Finanzkommission seit 1970 [siehe hierzu Näheres unter dem Kapitel Finanzverwaltung, S. 311.] Diözesane Fortbildungskommission seit 1977 (früher: Weiterbildungskommission) Diözesane Katechetische Kommission seit 1972 Vom Diözesanbischof eingesetzt, dient diese Kommission, welche dem Bischofsvikar für Katechese untersteht, der Beratung und Koordination der katechetischen Aufgaben und Anliegen auf Bistumsebene. Hierfür suchen die Kommissionsmitglieder (Bischofsvikar, LeiterInnen der Katechetischen Arbeitstellen, eine Vertretung aus der Theologischen Hochschule Chur) die Zusammenarbeit mit dem «Netzwerk Katechese» und setzen die von der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK) erarbeiteten Richtlinien um oder greifen katechetische Bedürfnisse und Themen der Pfarreien und Regionen auf und vertreten sie bei der Bistumsleitung. Des weiteren fördert die Kommission den Austausch unter den Katechetischen Arbeitsstellen im Bistum bzgl. Begleitung, Aus- und Weiterbildung der Katecheten/ Innen. Mindestens einmal jährlich organisiert sie eine Weiterbildung. Diözesane Kommission für Berufungspastoral seit 2010 (aufgehoben 2014) [früher: Diözesane Kommission für kirchliche Berufe] Diözesane Kommission für den Ständigen Diakonat seit 1999 Diözesane Liturgiekommission (aufgehoben 2013) Diözesane Missionskommission (aufgehoben 2010) 8. Diözesane Finanzverwaltung a) Neuordnung der bischöflichen Verwaltungen (nach 1970) An einer internen Besprechung vom 7. November 1969 im bischöflichen Schloss zu Chur wurde die Bildung einer Kommission für die Neuordnung der diözesanen Verwaltung angeregt. Nach Zustimmung Bischofs Vonderach trafen sich die Mitglieder dieser Kommission - Generalvikar Giusep Pelican (Präsident), Offizial Josef Furrer und der Sekretär der Römisch-katholischen Zentralkommission des Kantons Zürich, Moritz Amherd - erstmals am 17. November 1969. Grund zur Neuordnung waren keineswegs Mängel in der bestehenden Verwaltung (Bischöfliche Mensa, Kanzleikasse, Offizialat, Priesterseminar, Kathedrale, Domkapitel), so wurde betont, sondern «das Informationsbedürfnis der Geldgeber einerseites und die Wünschbarkeit einer besseren Übersicht» - heute spricht <?page no="311"?> 311 8. Diözesane Finanzverwaltung man vom Wunsch nach mehr Transparenz. Mit Ausnahme des Churer Domkapitels [siehe unten, S. 317-369] stand und steht für alle oben genannten Verwaltungen dem Bischof letztinstanzlich die Entscheidung zu. Die Kommission schlug der Diözesanleitung in struktureller Hinsicht die Schaffung einer Bistumskasse vor (= Ausbau der bestehenden althergebrachten Kanzleikasse), in personeller Hinsicht die Schaffung zweier Gremien: des Administrationsrates und der Finanzkommission. Nach weiteren Detailberatungen erliess Johannes Vonderach am 19. März 1970 das Dekret über die neue Finanzverwaltung des Bistums Chur. Die zuständigen Instanzen für die finanzielle Bistumsverwaltung sind seither: Administrationsrat (konstituiert am 17. September 1970) Allgemeine Aufgaben: Der aus fünf Mitgliedern bestehende Administrationsrat berät den Bischof in allen finanziellen Fragen und führt dessen Aufträge aus. Zuständig für die Organisation der Bistumsverwaltung, stellt er Antrag über die Saläre, über (Pacht-)Verträge und übernimmt die Funktion der im CIC vorgesehenen Aufsichtskommission für Mensa und Priesterseminar. Besondere Aufgaben: - Für die Bistumskasse: • prüft die finanzielle Lage, plant und koordiniert die Finanzierung der Aufgaben • erstellt Rechnung und Voranschlag • vertritt Rechnung und Voranschlag vor der Finanzkommission • beschliesst die Ausgaben gemäss Voranschlag - Für die Mensa, Priesterseminar und Kathedrale (Kathedralstiftung seit 1994): • prüft die finanzielle Lage und den Bedarf der einzelnen Verwaltungen • stellt Antrag über die jährlichen Zuwendungen aus der Bistumskasse an diese Verwaltungen respektive über Abgaben an die Bistumskasse Finanzkommission (konstituiert am 23. Juni 1970) Die aus den Bistumskantonen und dem Fürstentum Liechtenstein (bis 1997) zu bildende diözesane Finanzkommission sorgt für den jährlichen Beitrag aus den Kantonen an die Bistumskasse sowie nimmt Rechnung und Voranschlag des Administrationsrates entgegen. <?page no="312"?> 312 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung Verwaltungen Bistumskasse Die neu eingerichtete Bistumskasse führt eigene Rechnung. Einnahmen: - Beiträge aus den Bistumskantonen und FL - Zuwendung der Mensa - Beiträge des Domkapitels an die Besoldung jener Residentialen, die in der Bistumsleitung tätig sind - Kollekten für die Aufgaben des Bistums - Vergabungen Ausgaben: - Kosten des Ordinariats und des Offizialats: Saläre, Büro- und Raumkosten, Haushalt - Zuwendungen an Mensa, Priesterseminar, Kathedrale (nach ausgewiesenem Bedarf ) - Finanzierung allgemeiner und besonderer Bistumsaufgaben * 1 Mensa (Bischöfliche Verwaltung) Die bischöfliche Mensa verwaltet in eigener Rechnung ihr Vermögen (Einnahmen aus Immobilien, Mieten, Pacht-, Baurecht- und anderen Zinsen, Tafelgeld, Weinbau* 2 , Forstwirtschaft* 3 , Gutsbetrieb Molinära* 4 ). Sie stellt dem bischöflichen Ordinariat und Offizialat Amtsräume und Wohnräume kostenlos zur Verfügung und übernimmt die Gebäudereparaturen. Überschüsse werden ganz oder teilweise an die Bistumskasse überwiesen. Können Verpflichtungen der Mensa aus eigenen Erträgen nicht erfüllt werden, erhält sie die erforderlichen Mittel aus der Bistumskasse. Priesterseminar Das Priesterseminar führt eigene Rechnung. Die Ausgaben des Priesterseminars und der Theologischen Hochschule Chur werden bestritten aus den Studien- und Logiegeldern der Studierenden, aus Kirchenopfern und freiwilligen Zuwendungen sowie aus den Erträgen der dem Seminar seit 1807 gehörenden Liegenschaften. Das Priesterseminar kann Beiträge aus der Bistumskasse anfordern. Kathedrale Die Kathedrale führt eigene Rechnung (Kathedralstiftung seit 1994) Revisionstelle Der Bischof bestimmt im Einvernehmen mit der Finanzkommission für die Bistumsverwaltung eine Revisionsstelle auf eine Amtsdauer von zwei Jahren; diese erstattet dem Bischof einen schriftlichen Bericht. * 1 Die Rechung des Generalvikariates für den Kanton Zürich und für das Vizeoffizialat mit Sitz in Zürich (bis 1990) wird von der Römisch-katholischen Zentralkommission des Kantons Zürich geführt; sie wird am Ende eines Jahres gesamthaft in der Rechnung der Bistumskasse aufgeführt. * 2 Seit 1999 bearbeitet Weinbau «cottinelli Malans» die ins Mittelalter zurückreichenden Rebberge des Bistums Chur und keltert daraus die bekömmlichen Weine der ‹Amedeo›-Linie. * 3 Dazu gehören die ansehnlichen Flächen des «Fürstenwaldes» bei Chur und der Oldiswald bei Haldenstein / Untervaz. * 4 Der Gutbetrieb Molinära bei Trimmis/ GR reicht ebenfalls ins Mittelalter zurück und wird nach wie vor in Pacht für das Bistum Chur bewirtschaftet. <?page no="313"?> 313 8. Diözesane Finanzverwaltung b) Diözesan-Kultusverein (seit 1908) Am 6. März 1908 versammelten sich auf Wunsch des Churer Bischofs Johannes Fidelis Battaglia im Priesterseminar St. Luzi zur Gründung des «Diözean-Kultusverein Chur» Domscholastikus Hieronymus Loretz (Präsident), Georg Schmid von Grüneck (Kassier) und Johann Georg Mayer (Aktuar). Laut den am selben Tag festgesetzten Statuten bezweckt(e) der in Chur eingetragene Verein folgendes: • «Bestehende katholische Kultusstationen der Diaspora mit Aktiven und Passiven zu übernehmen und zu erhalten, eventuell für die Katholiken der Diaspora solche zu errichten oder an dortige Kirchenbauten beizutragen» [Art. 3a], Abb. 249a: Bischöflicher Gutsbetrieb Molinära bei Trimmis/ GR (heute) [Foto: A. Fischer] Abb. 249b: Bischöfliche Wappen über der Haustür zum Gutshof: Thomas von Planta (1550- 1565) [links] und Joseph Mohr [rechts] [Foto: A. Fischer] <?page no="314"?> 314 VIII. Churer Bischöfe und Bistumsleitung • «gemeinnützige soziale Institute, wie Waisenhäuser, Krankenhäuser, Altersasyle und Arbeiterheime zu unterstützen» [Art. 3b] sowie • «die christliche Kunst, zumal bei Kirchenbauten und Restaurationen, und die christliche Wissenschaft, besonders nach der kirchenhistorischen Seite hin, mit Rat und Tat zu fördern» [Art. 3c]. Der Verein besteht seither aus drei bis sieben Mitgliedern, welche vom jeweiligen Bischof aus dem Diözesanklerus ausgewählt und ernannt werden. Bereits in der Dezembersitzung des Gründungsjahres werden diverse Werttitel (Aktien und Obligationen) genannt, welche angelegt wurden. Mitte des 20. Jahrhunderts besass der Diözesan-Kultusverein 33 Liegenschaften im Kanton Graubünden (darunter in Davos-Platz: Kirche und Pfarrhaus oder in Landquart: Kirche und Pfarrhaus), deren 27 im Kanton Zürich (so etwa in Bauma, Hausen am Albis, Hinwil, Pfungen oder Wald) und 2 im Kanton Glarus (Schwanden und Luchsingen). c) Solidaritätsfonds der Diözese Chur (seit 2010) Die Synode 72 [siehe unten, S. 391-401] hebt hervor, dass die Kirchensteuer die kirchliche Beitragspflicht konkretisiere. Es ist deshalb in der Diözese Chur Praxis, dass die Gläubigen ihrer Verpflichtung zur finanziellen Solidarität mit der Kirche durch die Entrichtung der Kirchensteuer nachkommen. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (Bundesgerichtsentscheid vom 16. November 2007 und vom 9. Juli 2012) ist es aus staatlicher Sicht zulässig, aus den staatskirchenrechtlichen Institutionen (Kirchgemeinde, kantonale Körperschaft) auszutreten und gleichzeitig zu erklären, dennoch katholisch bleiben zu wollen. Durch einen solchen Austritt, der aufgrund der erwähnten geltenden Praxis den Charakter einer Ausnahme hat, erlischt zwar die Pflicht zur Leistung der Kirchensteuer. Der Austritt entbindet jedoch nicht davon, die kirchliche Beitragspflicht in einer anderen Form zu konkretisieren. Gemäss den Empfehlungen der Schweizer Bischofskonferenz vom Juni 2009 eröffnen die betroffenen Diözesen (Basel, St. Gallen, Lausanne-Genf-Fribourg und Chur) Gläubigen, die aus den staatskirchenrechtlichen Organisationen austreten, aber erklären, dennoch katholische Gläubige bleiben zu wollen, die Möglichkeit, durch jährliche Beiträge ihre materielle Solidarität mit der Kirche weiterhin zu leben. Hierzu ist im Bistum Chur 2010 der «Solidaritätsfonds der Diözese Chur» errichtet worden. Er ist eine privatrechtliche kirchliche Stiftung im Sinne der Art. 80 ff., Art. 87 und Art. 52 Abs. 2 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) sowie der einschlägigen Bestimmungen des CIC/ 1983 mit Sitz in Chur/ Schweiz. Der Zweck der Stiftung entspricht den Bestimmungen von can. 1274 § 1 und § 3 des CIC/ 1983. Die Stiftung hat somit in der Diözese Chur als Einrichtung zu dienen, [a] die Vermögen oder Gaben zu dem Zweck sammelt, dass der Unterhalt der Kleriker, die für die Diözese Dienst tun, gewährleistet ist, falls nicht anders für sie vorgesorgt ist. Die Stiftung ermöglicht es dem Diözesanbischof, [b] den Verpflichtungen gegenüber den anderen Kirchenbediensteten Genüge zu leisten und den verschiedenen Erfordernissen der Diözese nachzukommen. <?page no="315"?> 315 8. Diözesane Finanzverwaltung Die Stiftung nimmt in erster Linie Spenden von Gläubigen des Bistums entgegen, welche aus der Kirchgemeinde bzw. der kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaft ausgetreten sind, aber katholische Gläubige bleiben wollen, und dadurch ihre Solidaritätspflicht gegenüber der Kirche gemäss can. 222 § 1 des CIC/ 1983 erfüllen. Die Stiftung nimmt darüber hinaus Zuwendungen von Personen innerhalb und ausserhalb der Diözese an, welche damit den Zweck der Stiftung unterstützen wollen. Der Stiftungsrat als Vertretungs- und Geschäftsführungsorgan des «Solidaritätsfonds der Diözese Chur» besteht aus maximal sieben Mitgliedern. Ihm gehören von Amtes wegen der jeweilige in Chur residierende Generalvikar (als Vertreter des Bischofs), die regionalen Generalvikare des Bistums und ein Mitglied des diözesanen Administrationsrates an. Zwei weitere Stiftungsräte werden vom Diözesanbischof frei ernannt und sind in wirtschaftlichen bzw. rechtlichen Fragen erfahren. <?page no="317"?> 317 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Das seit 1655 aus 6 residierenden und 18 nicht-residierenden Canonici bestehende Churer Domkapitel [siehe Band 1, S. 147] hat sich in seinem Umfang im 19. und 20. Jahrhundert nicht geändert. Variationen erfahren haben hingegen insbesondere die Aufgabenbereiche des Residentialkapitels. Als Inhaber einer Pfründe, deren Bezeichnung aus dem Mittelalter stammt [siehe Band 1, S. 148] und eingebunden in die Bistumsleitung, übernehmen sie bis in die Gegenwart wichtige Ämter, etwa dasjenige des Generalvikars, des regionalen Generalvikars, des Offizials oder wirken als Bischofsvikare mit besonderer Ressortverantwortung. Seit 1880 betreut (mit einigen zeitlichen Unterbrüchen) ein Mitglied des Residentialkapitels - meistens der Domkustos - die Seelsorge an der Kathedrale, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer eigentlichen Pfarrei heranwuchs. Grössere und einschneidende Veränderungen erfuhr nach einer langen quasi «rechtslosen» Zeitspanne (1806- 1948) das frühere «freie» Bischofswahlrecht des Kapitels; seit 1948 wählt dieses bei Sedisvakanz gemäss eines von Rom zugestandenen Privilegs aus einem Dreiervorschlag den Churer Bischof; nicht zuletzt deshalb erfuhren die Kapitelsstatuten Anpassungen. Auf die Bischofswahlen seit 1835 wird weiter unten ausführlich eingegangen. 1. Begebenheiten und Zusammensetzung des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert Die Truppeneinquartierung 1799/ 1800 durch die Franzosen auf dem Hof, wogegen das Residentialkapitel erfolglos bei der Stadt protestiert hatte, brachte der Enklave einen unruhigen Beginn in ein neues Jahrhundert; Klagen der Hofbewohner erreichten das Domkapitel, welches sich bemüht zeigte, Wasser, Waschküche und Backofen für den täglichen Abb. 250: Wappen des Churer Domkapitels an der Hausfassade des Hofs Nr. 16 (bei der Kathedrale) [Foto: A. Fischer] <?page no="318"?> 318 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Gebrauch der Ansässigen sicherzustellen. Die von der Stadt wiederholt aufgezwungene Mitfinanzierung der Truppeneinquartierung bewirkte Protestschreiben des Kapitels, die mit der Drohung der gänzlichen Konfiszierung des Hofs beantwortet wurden. Weitere Sorgen bereitete die Wiederherstellung der durch die Kriegswirren zerstörten oberen Landquartbrücke; die Kosten des Holztransportes dorthin waren enorm. Wohl verblieb der Zoll an der Landquart vorläufig dem Hochstift, doch deuteten die Ereignisse klar auf eine Änderung der Rechtsverhältnisse des bischöflichen Hofes gegenüber dem Kanton, was mit der Schaffung des Kantons Graubündens (1803) und der Eingliederung in die Eidgenossenschaft in der «Cantonalconstitution» von 1803 erstmals festgelegt wurde, nämlich die Vereinigung des bischöflichen Hofs mit der Stadt (eigene Gerichts- und Polizeihoheit sowie eigene Verwaltung durch den Hofammann noch beibehalten), und durch Kantonsratsbeschluss vom 10. Juli 1852 definitiv erfolgte: die Eingemeindung in die Stadt Chur [siehe Abb. 254]. Nach dem verheerenden Hofbrand im Mai 1811 [siehe Kasten] übergab das Domkapitel im Einverständnis des Hummelbergischen Benefiziaten 1812 das an die Kathedrale angrenzende Haus (heute Nr. 16) den Kapuzinerpatres, da ihr Hospiz ein Raub der Flammen geworden war. Der gesamte Wiederaufbau verursachte grosse Schulden, welche Bistum und Domkapitel bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts abzutragen hatten. Das hatte zur Folge, dass gewisse Domherren- und einfache Benefizien- Pfründen unbesetzt blieben. Die beim Brand komplett zerstörte Domherrenbibliothek versuchte man aus der Hinterlassenschaft der Residentialen in kleinen Schritten wiederaufzubauen. Erst im April 1821 begann man mit dem provisorischen Turmbau der Kathedrale (vollendet 1829) und liess neue Glocken giessen. Feuer im Dach: Der Hofbrand von 1811 Am 13. Mai 1811 verwüstete ein auf dem Dekanatsgebäude ausgebrochenes und mit rasender Geschwindigkeit sich ausbreitendes Feuer auf dem Hof zu Chur mehrere Domherrenhäuser, zerstörte Dachstuhl und Glocken der Kathedrale sowie das Priesterseminar und die Kirche St. Luzi. In der Churer Zeitung, zwischen 1806 und 1814 unter dem Namen «Der Telegraph aus Graubünden» erschienen, konnte man 1811 folgenden Bericht lesen: «Am 13.ten dieses [Monats] brach auf dem zu hiesiger Stadt gehörigen Bischöflichen Hofe gegen 3 Uhr Nachmittags in der Wohnung eines jeweiligen Domdekans eine so schnell um sich greifende Feuersbrunst aus, daß in wenigen Stunden, ausser einigen Privatgebäuden, das Dach der alten Cathedralkirche mit dem Thurm, und das zunächst gelegene Kloster St. Luzi, der Sitz des katholischen Seminariums, nebst der Kirche, ein Raub der Flammen wurden. Durch die thätige von der Stadt und allen zum Theil mehr als drei Stunden entlegenen Ortschaften beider Religionen geleistete Hülfe, wurde das Bischöfliche Schloß und die übrigen Gebäude gerettet.» <?page no="319"?> 319 1. Begebenheiten und Zusammensetzung des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert Zeugenaussagen zur Brandkatastrophe Als erster wichtiger Zeuge dieser auf dem Hof ausgebrochenen Feuersbrunst tritt der damalige Subregens am Priesterseminar St. Luzi, Ignaz Purtscher (1778-1845), auf. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 29. Mai 1811 an das in der Stadt Chur tagende Gericht zur Untersuchung der Brandursache offenbart sich Purtscher als einer der ersten, welche den Ausbruch des Brandes an jenem Montagnachmittag wahrnahmen. Während des Unterrichts «sah ich einen großen Feuerrauch im Dekanatsgebäude aufsteigen, machte deswegen eiligst im Kloster Lärm, kam eilends dahin, suchte die Quelle des Feuers, um sie zu tilgen, fand aber in der Küche weder Mensch noch Feuer, auch keines im Nebenzimmer des P. Dionys, der seine Sachen zusammenpackte, wohl aber unter dem Dache die Bretterwand und das Dach brennen.» Bei dem erwähnten Pater Dionys handelt es sich um den Prämonstratenser Dionys Neiner aus Reute/ Tirol (1764-1815), welcher nach dem Wegzug der Ordensgemeinschaft aus dem Kloster St. Luzi (1806) bis zu seinem Tod als Seelsorger in Bendern wirkte und zur Zeit des Brandes zu Besuch auf dem Hof weilte. Auf dem Dachboden hatte Purtscher mit dem am Fuss der Estrichstiege befindlichen vollen Wassereimer versucht, den Brand einzudämmen; nach vergeblichen Bemühungen floh er ins Freie. Der Wind trug inzwischen die Rauch- und Feuersäule immer stärker nach Osten und ergriff den Dachstuhl der Domschule (Hof 14) und des Hummelbergischen Benefizienhauses (Hof 16) bei der Kathedrale. Der Subregens rief das zusammengelaufene Volk um Wasser und Schöpfbehältnisse; alsbald wurde auch die Feuerspritze herbeigeschafft. Die Zeit drängte, denn bereits war das Feuer auf das Dach der Kustorei (Hof 20) und des Kapuzinerhospizes übergesprungen. Der kräftige Föhn trug die Flammen weiter: vom Kathedralturm auf die Dächer von Kloster und Kirche St. Luzi. Eine weitere Person im Zeugenstand (Aussagen vom 15. Mai 1811) war der damalige Zunftmeister der Schuhmacherzunft in Chur, Johann Baptist Christ. Durch die Sturmglocke aufgeschreckt, stieg Christ auf den Dachboden eines benachbarten Hauses in der Stadt und sah «die Spitze des Hofthurmes in ein dichtes schwarzes Gewölke gehüllt, aus welchem bald darauf die lichtesten Flammen hervorbrachen, die die ganze Thurmspitze ergriffen, vom Wind geleitet nach der Bergseite übergingen und die Klosterkirche bedrohten». Die gefährliche Situation bewog den Zunftmeister, selbst auf den Hof zu eilen. Nach der Brandursache sich erkundigend, verwies man ihn an Pater Dionys Neiner. Die «untrügliche Aussage» des Prämonstratensers wollte Christ in seinem Bericht als wichtiges Zeugnis verankert wissen: «Ich - Pater Dionys Neiner - war mit dem Pater Kapuziner in ruhiger Unterhaltung auf meinem Zimmer, als jemand anzuzeigen kommt, es wäre Rauch unter dem Dach. Ich eilte in die Küche, um zu sehen, ob von da Rauch ausgehen möchte, obschon seit dem Morgen, als die Arbeitsleute weggingen, nicht mehr gefeuert worden ist. Aber weder Feuer noch Rauch war da zu finden. Ich ging eiligst auf den Estrich und fand das Dach schon vom Feuer ergriffen.» Der im Zitat erwähnte Kapuziner war einer der drei Patres - möglicherweise der Superior P. Hierotheus <?page no="320"?> 320 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Fruonz aus Sarnen (1776-1816), welche zusammen mit einem Laienbruder das hinter der Kustorei, gegen Osten liegende Hospiz bewohnten und an der Kathedrale bis 1880 die Seelsorge der Katholiken auf dem Hof versahen. Fazit dieses Brandes an jenem Montagnachmittag des 13. Mai 1811: In wenigen Stunden richtete das Feuer, welches mit grösster Wahrscheinlichkeit durch den Wind aus einem rauchenden Kamin eines benachbarten Hauses getragene Glut auf dem Dach der Domdekanei (Hof 12) seinen Anfang nahm, eine Katastrophe an. Der direkt betroffene Personenkreis auf dem Hof und in St. Luzi - glücklicherweise kam kein Mensch ums Leben - reichte über die Seminarbelegschaft, die Kommunität der Kapuziner, das residierende Domkapitel, zwei Benefiziaten am Dom, andere Weltgeistliche samt Bedienstete bis hin zum Churer Ordinarius als Eigentümer der schwer beschädigten Kathedrale. Abb. 251: Hof mit wiederhergestellter Kathedrale und neuem Turm, um 1829. Aquarell, August von Bayer (1803- 1875) zugeschrieben. Die Brandruine der Kustorei (links) ist immer noch lediglich notdürftig abgedeckt [BAC] <?page no="321"?> 321 «Unauslöschbare» Worte des Dankes für die Hilfeleistung Für die grosse Hilfeleistung bedankte sich mit Schreiben vom 15. Mai 1811 Peter Anton de Latour im Namen des katholischen Teils des Grossen Rats bei den reformierten Ratskollegen: «Wir anerkennen es in voller Ueberzeugung, daß nur durch die ausserordentliche[n] Bemühungen, durch die beispiellose[n] Anstrengungen und durch die gränzenlose Thätigkeit reformierter Seits der ferneren Verbreitung dieses Unglücks und der gänzlichen Verheerung des Bischöflichen Hofes vorgebeugt wurde.» Die Katholiken auf 1. Begebenheiten und Zusammensetzung des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert Abb. 252: Hof mit Kathedrale (noch mit gotischem Turm) und Kloster St. Luzi (Südansicht) vor dem Brand. Ausschnitt aus dem Ölgemälde von Achilles Benz, Basel (1766-1852) [Pfeil: Brandherd Domdechanei] [BAC.BA] Abb. 253: Hof mit neuer Domdechanei [Pfeil] und Kathedrale (noch ohne Turm) (Südansicht) nach dem Brand. Ausschnitt aus dem Aquarell von Wilhelm Weissmantel, um 1820 [BAC.BA] <?page no="322"?> 322 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Nach dem Tod Karl Rudolfs von Buol-Schauenstein (gest. 23. Oktober 1833 in St. Gallen) fand das Churer und St. Galler Domkapitel keine Einigung, die Nachfolge zu regeln, so dass 1835 der Papst Johann Georg Bossi zum neuen Churer Oberhirten bestimmte. Da dieser nach 1838 mehrere Schlaganfälle erlebte, bemühten sich Bossi und das Kapitel beim Nuntius um einen Koadjutor, welcher von Rom aber erst im Januar 1843 in der Person des Kanonisten und Generalvikars Kaspar de Carl ab Hohenbalken erkoren wurde. Nach dem Tod des Domscholastikus Vincenz Dosch aus Tinizong (gest. 5. Februar 1849) weigerte sich de Carl, die Pfründe zwecks Abbau weiterer Domturmbauschulden vakant zu lassen und ernannte Johann Christian von Castelberg zum neuen Scholastikus (1849-1856). 1850 kam es zur Ablösung des Vertrags mit der oberen Zollbrücke in Landquart, welche seit geraumer Zeit immer wieder für Anstände gesorgt hatte; jährlich wurden 2'200 fl. bezahlt. Als Ende 1850 Pater Theodosius Florentini das Kapitel für einen Platz auf dem Hof für das zu errichtende Krankenhaus anfragte, fand er keinerlei Gehör und erhielt eine Absage. Als im November 1851 Bischof de Carl die Anregung machte, die 18 nichtresidierenden Kanoniker durch Wahl zu erküren, erhielt auch er in diesem Anliegen eine klare Absage. Kurz darauf bekam das Residentialkapitel Kenntnis von den Plänen, Pater Theodosius werde seitens der Nuntiatur in Rom als Koadjutor de Carls gehandelt; das rief nicht nur an vorderster Front Dompropst Jakob Franz Riesch (1844-1860) auf den Plan, sondern liess letztlich auch den Bischof zu klarer Stellungnahme heran, ein Koadjutor sei weder notwenig noch in der Person des Vorgeschlagenen wegen seiner Schuldenwirtschaft sinnvoll [dazu siehe unten, S. 486-490]; das «Geschäft» kam nach mehreren schriftlichen scharfen Wortmeldungen aus Chur nach Luzern alsbald zum Erliegen. dem Hof seien den vielen Reformierten zu «wärmsten Dank» verpflichtet, welche unter Gefahren zur Rettung «des Hauptsitzes der Bündnerischen Katholicität herbeigeeilt und solche erzwecket» hätten. Dieser Dank sei «unauslöschbar» und möge auch den kommenden Generationen in steter Erinnerung bleiben. Gleichsam eine Optimierung erfuhr dieser ausgesprochene Dank katholischerseits im Brief des Churer Bischofs Karl Rudolf von Buol-Schauenstein vom 21. Mai an den Churer Stadtmagistraten: «Ich nehme es mir zur besondern Verbindlichkeit, jenen tiefgefühlten Dank zu wiederholen, den ich Löblicher Stadt für ihr gegen unsern Hof bewiesenes Benehmen bey und seit dem unglücklichen Feuerausbruch schuldig bin und den ich in der That nie genug wiederholen kann.» Mit Datum vom 3. Juni 1811 bestätigte die Stadtkanzlei dankend den Eingang des bischöflichen Schreibens mit den Worten, es «gereiche zum größten Vergnügen und besondern Zufriedenheit», dass der Einsatz der Rettungskräfte vom Bischof im «rechten Gesichtpunkt angesechen und mit Jhro Beifall beert» worden sei. Die persönlichen Worte des Bischofs würden von Stadtregierung und Volk gerne entgegengenommen in der Hoffnung, dass «die bewünschte Einigkeit und Freundschaft zwischen beyden Religionen durch weise Vorkehrungen Jhro Hochfürstlichen Gnaden» Bestand hätten und vertieft würden. Die erwünschte Einigkeit und Freundschaft kann im alltäglichen Mit- und Füreinander auch 200 Jahre nach der Brandkatastrophe immer wieder unter Beweis gestellt werden. <?page no="323"?> 323 1. Begebenheiten und Zusammensetzung des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert Im Zuge der Eingemeindung des Hofs in die Stadt, verzichteten die Residentialen gemäss eines Steuervertrags vom 6. Juli 1854 zwischen dem Domkapitel / Hochstift einerseits und dem/ der Stadtrat / Stadt Chur andererseits auf das «Angebot» der Verleihung des Churer Bürgerrechts, behielten dagegen die freie Nutzung ihrer Häuser (ausgenommen der Entrichtung der Grundsteuer) und erreichten die Steuerbefreiung für die Domkirche, den Kirchenschatz, das Bischöfliche Schloss, das Seminar, den Friedhof und für weitere Gebäulichkeiten (wie Dompropstei, Domdekanat). Die Stadtgemeinde übernahm im Gegenzug, wie bereits 1852 festgeschrieben, sämtliche Bau-, Feuer-, Strassen-, Brunnen- und polizeilichen Verpflichtungen, «so wie sie solche in der Stadt selbst zu besorgen pflichtig ist». In einer Eingabe vom 2. August 1854 forderte das Kapitel gegenüber der Stadt Reparartur, Plege und Unterhalt des Hofbrunnens. Die Kontroverse um die rechtliche Lage des Hofplatzes (Frage des Wichtige Punkte aus dem obrigkeitlichen Mandat der Stadt Chur vom 16. September 1852 1. Das Gebiet des bischöfl. Hofes wird von nun an als Stadtgebiet und die dortigen Einwohner als Stadteinwohner angesehen und behandelt. 2. Alle für den bischöfl. Hof, als abgesondertes Gemeinwesen bisher bestandenen öffentlichen Behörden, Stellen, Aemter, Einrichtungen (das Kirchliche ausgenommen) sind als aufgehoben und erloschen zu betrachten und wird dagegen die gesamte Gemeindeverwaltung der Stadt Chur auf den Umfang des bischöfl. Hofes ausgedehnt. 3. Alle für die Stadt Chur in Kraft bestehenden Gemeindestatuten und Verordnungen erhalten gleiche Gültigkeit für den Hofbezirk und hat sich die Wirksamkeit der städtischen Behörden, Einrichtungen, Verwaltungsstellen und Beamtungen von nun an auf das Hofwie auf das übrige Stadtgebeit zu erstrecken. […] 4. Die Stadt Chur übernimmt die Unterhaltung der öffentlichen Strassen, Plätze, Brunnen und Wasserleitung, so wie der bisherigen Beleuchtung auf dem Hofe. Abb. 254: Obrigkeitliches Mandat vom 16. September 1852 der vom Kanton beschlossenen («von der Bürgerschaft weder gewünscht noch verlangt») Eingemeindung des Hofs in die Stadt Chur [BAC] <?page no="324"?> 324 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Eigentums), die seit der Eingemeindung nie juristisch sauber geklärt wurde, bedurfte am 9.-Mai 1928 eines Kantonsgerichturteils: Dieses sprach den Platz in fast vollem Umfang als Gemeindeeigentum der Stadt zu. In seinem Urteil hält der Kanton fest, wie bereits 1854 vereinbart, sei die Stadt Chur seither ihren Verpflichtungen stets nachgekommen; sie habe die Reparatur des Hofbrunnens, die Verlegung neuer Wasserleitungen, später die Sicherstellung des Anschlusses zu einer Hochdruckwasserleitung mit Kanalisation sowie die Versorgung mit elektrischem Licht vorgenommen bzw. garantiert. 1859 erfolgte im Einverständnis mit dem Kleinen Rat des Kantons Graubündens, dem Churer Stadtrat und der bischöflichen Verwaltung der Bau der Hofstrasse, beginnend vom Buol’schen Haus hinauf gegen das Schanigger-Tor zum Plateau zwischen bischöflichem Schloss und der Anlage unterhalb des Kantonschulgebäudes. Die Baukosten teilten sich Kanton und Stadt, welche für den späteren Unterhalt zuständig zeichneten. Das Bistum überliess unentgeltlich den für den Strassenbau benötigen Boden; der Unterhalt der Strassenstützmauern zu den Gartenanlagen des Schlosses und der Domherrenhäuser war jedoch von Bistum bzw. Domkapitel zu tragen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sticht der Entscheid Bischofs Konstantin Rampa zur Abberufung der Kapuziner von der Seelsorge am Dom (1880) und die Übernahme derselben durch das Residentialkapitel heraus; dieses Ereignis mit Langzeitwirkung wird in einem eigenen Kapitel beleuchtet [S. 327-340]. Neben dem Bau des neuen Kathedralturms standen im 1811 durch den Brand beschädigten Dom Restaurierungen und Neuanschaffungen an, welche im 19. Jahrhundert mit der Verlegung der Bodenplatten im Chorraum (1852) und im Kirchenschiff (1858/ 59) beginnen, mit diversen Orgelprojekten für die Westempore ihren Fortgang findet und mit dem Einbau der Hauptorgel von Friedrich Goll (1886) ihren Höhepunkt erreicht. Zwischen 1880 und 1909 sind weitere Akten zu Restaurierungsexpertisen vorhanden, die dann unter Bischof Georgius Schmid von Grüneck zur umfangreichen Domrestaurierung (1921-1926) führen [siehe unten, S. 533-535]. Domkapitel Chur Das Residentialkapitel und seine Mitglieder im 19 Jahrhundert (nach Dignitäten) Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar (in alphabetischer Reihenfolge) Pfründe frei vom Papst bzw. Bischof besetzt Vakanzen: 1835-1841 1893-1897 jeweils vom Generalkapitel gewählt Vakanzen: 1803-1836 gleichzeitig Vizedekan Vakanzen: 1810-1814 1860-1862 Vakanzen: 1794-1811 1814-1836 Vakanzen: 1816-1826 1896-1905 Sextarie definitiv seit 1655 Vakanzen: 1836-1844 1880-1887 Appert, Josef Meinrad 1867-1898 + Balletta, Jakob 1810-1814 + <?page no="325"?> 325 1. Begebenheiten und Zusammensetzung des Residentialkapitels im 19. Jahrhundert Domkapitel Chur Das Residentialkapitel und seine Mitglieder im 19 Jahrhundert (nach Dignitäten) Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar Battaglia, Bartholomäus 1814-1826 + Battaglia, Bartholomäus Anton 1862-1868 + Battaglia, Johann Maria 1836-1843 + 1827-1836 Bergamin, Leonhard Anton 1818-1825 + Blumenthal von, Ludwig Rudolf 1815-1835 + 1811-1815 Bossi, Georg 1826-1835 (Bf.) Brügger, Ulrich 1888-1893 + 1873-1888 Buol, Anton 1775-1818 + Carigiet, Jakob Anton 1867-1880 + 1857-1867 Carl de, Kaspar ab Hohenbalken 1841-1888 (Bf.) 1826-1841 Castelberg von, Johann Christian 1849-1856 + 1836-1849 Cavelti, Johann Rudolf 1898-1918 Decurtins, Johann Florin 1861-1873 + Dosch, Vincenz 1836-1849 + Fetz, Johann Anton 1856-1871 + Florentini, Nikolaus Franz 1844-1859 (Bf.) Heini, Ferdinand 1826-1827 + <?page no="326"?> 326 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Domkapitel Chur Das Residentialkapitel und seine Mitglieder im 19 . Jahrhundert (nach Dignitäten) Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar Huonder, Thomas Anton 1880-1898 + 1871-1880 Kind, Franz 1898-1911 Loretz, Hieronymus 1921 + 1897-1921 1890-1897 Mont de [Demont], Christian Leonhard 1860-1867 + 1856-1860 1849-1856 1844-1849 Orsi von Reichenberg, Joël Anton 1801-1810 + Riesch, Jakob Franz 1844-1860 + Rüplin zu Kefikon, Franz Xaver 1763-1816 + Scarpatetti, Luzius Anton Maria 1781-1803 + 1777-1781 Schlechtleutner, Georg 1802-1810 + Simeon, Hermenegild 1868-1893 (resigniert) Tuor, Christian Modest 1898-1912 + 1893-1898 Willi, Gaudenz 1897-1920 + 1889-1897 1887-1889 Willi, Valentin 1873-1887 + 1862-1873 1844-1862 Zarn, Johann Peter 1856-1857 + 1849-1856 <?page no="327"?> 327 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) a) Die ersten Jahre zwischen 1880 und 1900 Die Geschichte der Seelsorge am Dom reicht ins 17. Jahrhundert zurück. Zwischen 1623 und 1880 wirkten Kapuziner auf dem Hof in Chur und betreuten als bischöflich beauftragte Seelsorger die kleine ‹Hofpfarrei› mit insgesamt etwa 200 Bewohnern (inkl. Geistlichkeit). Bis 1852 bildete der Hof bekanntlich eine eigene politische Gemeinde; im Stadtgebiet konnten sich keine katholischen Familien ansiedeln. Geradezu «Hals über Kopf» gestaltete sich der Abgang der Kapuziner im Jahre 1880. Der damalige Bischof Konstantin Rampa teilte dem Provinzial P. Bernard Christen (1879-1882) nach bereits früher wiederholten Absichtserklärungen (erstmals Ende Oktober 1868 im Domkapitelprotokoll festgehalten), die örtliche Seelsorge in die Hände des Domkapitels zu legen, am 14. August 1880 schriftlich mit, das Domkapitel übernehme definitiv das Pfarramt, somit seien die Kapuziner ihrer Aufgabe enthoben. Wie aus dem Protokoll des Residentialkapitels zweifelsfrei hervorgeht, gründete diese Aktion im ausdrücklichen Wunsch des Diözesanbischofs, aufgrund der Mehrsprachigkeit der Gläubigen auf dem Hof (deutsch, romanisch, italienisch), einer seit Jahren virulenten Spannung zwischen Kapuzinern und Kapitularen und des häufigen Wechsels der Ordensleute sowohl Verwaltung als auch Betreuung der Seelsorge in die Hände des Kapitels zu legen. Das Residentialkapitel zählte an seiner Sitzung vom 13. Juli 1880 diese Gründe auf, hielt aber auch die zu befürchtenden Reaktionen auf einen solchen Schritt fest: nämlich die Desavoierung der Kapuzinerprovinz, die Befürchtung vor scharfen Eingaben in der Presse, die Schädigung des Ansehens einzelner Ordensmitglieder und der Pastoral durch religiöse Orden schlechthin (vor allem in Graubünden). An der Ordinariatssitzung vom 15. Juli 1880 unter Vorsitz des Bischofs sprach sich das bischöfliche Offizium eindeutig für die Aufhebung der Kapuzinermission auf dem Hof aus. So beschloss der Ordinariatsrat, [1.] «die Pastoration der Pfarrei Hof- Chur durch das Domkapitel als wünschenswerth zu erklären», aber [2.] «aus Rücksicht der Pietät vor Realisierung dieses Wunsches mit dem P. Provincial Rücksprache zu nehmen». Pater Christen stellte dann den Entscheid dem Churer Bischof frei, zeigte sich aber keineswegs erfreut. Am 7. August 1880 fällte der bischöfliche Ordinariatsrat den Beschluss zur Aufkündigung der Pastoral durch die Kapuziner und bestimmte, dass die Seelsorge am Dom dem Kapitel überantwortet werde. Der Entscheid stiess bei Katholiken und Protestanten auf wenig Verständnis. Bereits am 8. September 1880 verliessen die Kapuziner Chur, wo sie während 257 Jahren segensreich gewirkt hatten. Bereits am 9. August besprach das Residentialkapitel die Ausgestaltung der Pastoral am Dom. Nach längeren Diskussionen wurde folgender Vorschlag an den Ordinariatsrat (bestehend aus Bischof, Residentialkapitel, Offizial, Kanzler und zwei weiteren Domherren) überreicht: Aus der Mitte der residierenden Domherren möge ein Dompfarrer ernannt werden; diesem sei ein Hilfsgeistlicher als «Pfarrhelfer» (Benefiziat) beizustellen. Die Besoldung des Pfarrers hatte sich aus der innehabenden Domherren-Pfründe, aus den üblichen oder noch festzusetzenden Stolgebühren (für Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen und Requien) und eventuell zu leistenden Zulagen seitens des Bischofs oder der Kapitels- 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) <?page no="328"?> 328 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Wortlaut des Briefes von Bischof Rampa an den Provinzial der Schweizer Kapuziner Chur, 14 . August 1880 [Abschrift aus dem Protokollband des Residentialkapitels 1870-1913, S. 107-109] Hochwürdigster P. Provincial Vor ungefähr 14 Tagen habe ich Jhnen mündlich die Mittheilung gemacht von den Besprechungen meines residierenden Domcapitels, welches die Pastoration der Pfarrei Hof-Chur zum Gegenstande haben und es als wünschenswerth erscheinen ließen, wenn diese Pfarrei nicht länger durch die Kapuziner, sondern von nun an durch das Domkapitel versehen würde. Es schien angemessen, vor einer definitiven Beschlußnahme, welche eine Änderung der bestehenden Verhältniße zur Folge hätte, auch Jhre Ansicht und Meinung in der Sache einzuvernehmen. Sie haben sich offen und unumwunden dahin ausgesprochen, daß die Auflösung der Mission in Chur der ganzen Provinz allerdings unliebsam sein werde, daß Sie jedoch diese Angelegenheit vertrauensvoll und ganz in meine Hand legen. Die freimüthige und zugleich edle Äusserung kam zwar nicht unerwartet, machte aber auf das ganze Domkapitel einen tiefen Eindruck und hätte bald jede Änderung in der Pastoration der Pfarrei Chur in weitere Ferne gerückt, denn das Titl. Domkapitel anerkennt die Verdienste der Schweizerischen Kapuzinerprovinz für das hiesige Hochstift und begreift leicht das Widerstreben, womit diese Provinz den Schauplatz ihrer fast dreihundertjährigen Thätigkeit räumt. Anderseits aber erwartete das hiesige Hochstift auch seitens der PP. Kapuziner billige Beurtheilung seiner Verhältnisse. Schon oft haben hochstehende Geistliche des Jn- und Auslandes ihre Verwunderung über die widernatürliche Beziehung des Domkapitels zur katholischen Bevölkerung von Chur ausgesprochen; ebenso hat das Corpus Catholicum in einer schriftlichen Einlage an das Domkapitel den Wunsch ausgedrückt, daß es selbst die Pastoration der Pfarrei Hof-Chur übernehmen möchte; endlich legt die aus verschiedenen Sprachen gemischte Bevölkerung von Chur ein Gleiches nahe. Aus diesen und anderen Gründen hat das Domkapitel, welchem von jeher zum Vorwurfe und zur Unehre angemahnt wurde, daß es die Verwaltung der Pfarrei fremder Hilfe überlasse, früher schon den Gegenstand wiederholt besprochen, ohne jedoch in Sachen eine Änderung zu treffen. Letzthin aber einigte es sich zu einem definitiven Entschlusse, welcher dahin geht, daß der ehrw. Kapuziner-Provinz die Mission Hof-Chur aufgekündigt und die Pastoration dieser Pfarrei eine Gelegenheit der bevorstehenden Mutationen von dem Domkapitel übernommen werden soll. Jndem ich nun Eure Hochwürden von dieser Entschlußnahme in Kenntniß setze, muß ich mich zugleich eines ganz besonderen Auftrags meines Domkapitels entledigen und sowohl in dessen Namen als auch in meinem Namen der ganzen Schweizerischen Kapuziner-Mission den wärmsten Dank des Hochstiftes für die unzähligen Dienste aussprechen, welche sie so lange Zeit hindurch unserem Bisthum und speziell dem Domkapitel und der Pfarrei Hof-Chur erwiesen hat. Jch kann Jhnen nach meiner vollsten Überzeugung die Versicherung geben, daß, wenn auch die hiesige Mission, so doch die dankbare Erinnerung daran nicht aufhören und daß unser Klerus gegen Jhnen für unser ewiges Vaterland hochverdienten Orden stets fort die gebührende Pietät bezeugen wird. Es wäre deshalb mir und meinem Domkapitel höchst unangenehm, wenn jemand durch die erfolgende Änderung in der Pastoration der hiesigen Pfarrei zu gehässigen Bemerkungen und <?page no="329"?> 329 Auslassungen, sei es gegen das Domkapitel, sei es gegen die ehrw. Kapuziner-Provinz überhaupt oder insbesondere gegen hochwürdigen P. Lucius, derzeitigen Superior und Pfarrer in Chur, sich verleiten ließe. Deshalb wünsche ich sehr und bitte ich Sie, Jhr Ansehen dafür einlegen zu wollen, daß die Ehre des hochw. P. Lucius, dessen Fähigkeiten und Leistungen in mancher Hinsicht ausgezeichnet waren, in keiner Weise geschmälert werde und daß andererseits auch P. Lucius die Gelegenheit des Abschieds unbedingt nicht zu mißliebigen Ausfällen mißbrauche; daraus würde sich nach keiner Seite hin ein Vortheil ergeben. Hiermit hätte ich mich des übernommenen Auftrages erledigt und gebe mich gerne der Hoffnung hin, daß das bisherige gute Einverständniß zwischen dem Hochstift Chur und den ehrw. PP. Kapuzinern zu beidseitiger Wohlfahrt und zum Heile der Seelen fortbestehen werde. Jn dieser Erwartung benutze ich diesen Anlaß, Ew. Hochwürden meine besondere Hochschätzung zu versichern und zeichne Chur, den 14. August 1880 Ew. Hochw. ergebenster Diener in Christo + Franz Constantin, Bischof 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) kasse zusammenzusetzen. Der Pfarrhelfer bezog seinen Lohn aus dem innehabenden Benfizium am Dom und aus Zulagen. Im Pflichtenheft des Dompfarrers schrieb man die unmittelbare Leitung der ganzen Pastoration auf dem Hof fest; dazu gehörte das Predigen, die Volkskatechesen, der Kommunikantenunterricht, die Spendung der Sakramente, Begräbnisse, Krankenbesuche und die vorbildliche Führung der Kirchenbücher. Der Pfarrhelfer seinerseits war immer erster Stellvertreter des Pfarrers und leistete Aushilfe in der Seelsorge (Predigten, Beichthören, Krankenbesuche), unterrichtete Katechese an Abb. 255: Chur - Ansicht des Hofs mit St. Luzi (um 1850) von Théodore Du Moncel (1821-1884) [BAC.BA] <?page no="330"?> 330 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben der Hofschule und bereitete die Kinder auf das Beichten vor. Die anderen residierenden Domherren, so das Protokoll vom 9. August 1880, «werden sich bestreben, mit Liebe und Eifer dem angestellten Seelsorgsgeistlichen in der Pastoration bereitwillige Aushilfe zu leisten, namentlich durch Beichthören, Krankenbesuche und Übernahme von Predigten». An der Ordinariatssitzung vom 11. August 1880 wurde definitiv beschlossen: Der «Ober- und Unterpfarrer» (Dompfarrer und Pfarrhelfer) kommen aus den Reihen der Residentialen (ohne feste Bindung an eine Dignität); deren Gehilfen sind die übrigen Domherren und Dombenefiziaten. Der Bischof ernennt im Einverständis mit dem Residentialkapitel den Dompfarrer und den Pfarrhelfer. Die gesamte Pastoration der Pfarrei Hof stellte man unter die Aufsicht, Verantwortung und Verwaltung des «Oberpfarrers», also des Dompfarrers. Als 58jähriger übernahm Domkustos Hermenegild Simeon (1868-1893) aus Lantsch/ Lenz von 1880 bis 1891 die Hauptverantwortung in der Seelsorge auf dem Hof; als erster Pfarrhelfer amtete bis 1888 Domscholastikus Ulrich Brügger. Der im bischöflichen Schreiben vom 14. August 1880 erwähnte letzte Superior der Kapuziner auf dem Hof, P.-Luzius Lang aus Retschwil/ LU (1876-1880), forderte neben einigen Kirchenutensilien, welche Eigentum der Kapuziner waren, im Auftrag des Provinzials auch die Herausga- Abb. 256 (links): Erste Seite des beim Hofbrand von 1811 geretteten ältesten überkommenen Taufbuches (Beginn 1695) [BAC] / Abb. 257 (rechts): Erster Eintrag im Taufbuch der Kathedrale durch Dompfarrer Hermenegild Simeon (1880-1891) am 12. September 1880 [Nr. 319] [BAC] <?page no="331"?> 331 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) be der im Dom zu Chur befindlichen Reliquien des hl. Fidelis von Sigmaringen. Erstere wurden den Kapuzinern überlassen; auf die Reliquien, so der bischöfliche Kanzler in einem im Auftrag von Bischof und Domkapitel verfassten Brief vom 29. Oktober 1880 an Provinzial Christen, hätten die Kapuziner hingegen keinen nachweisbaren rechtlichen Anspruch. Pater Luzius habe sich und seine Vorgänger immer ‹nur› als Hüter und Wächter, niemals aber als Eigentümer der Reliquien bezeichnet. So habe sich der Superior auch öffentlich von den Reliquien verabschiedet mit den Worten, dass diese als «Zeugen der einstigen Mission» in Chur bleiben müssten. Die Einforderung durch Christen - wohl verstimmt wegen des Entzugs der Seelsorge am Dom - sei nichtig. Der Churer Bischof und das Domkapitel «wissen sich im rechtmäßigen Besitze der genannten Reliquien und weisen darum diese Forderung der Kapuziner auf das Entschiedenste zurück». Nach der Resignation Simeons (1891) kam es zu ersten Änderungen in der Pastoral am Dom. Im Vordergrund stand das leidige Thema der finanziellen Entschädigungen, obwohl die geistlichen Herren eigentlich durch ihre Domherrenpfrund zur Genüge gedeckt waren. Das Ordinariat sprach dem Dompfarrer einen jährlichen Zuschuss von 300 Franken, dem Hilfspfarrer 200 Franken zu. 1896 initiierte dann Simeons Nachfolger, Domscholastikus Gaudenz Willi (1891-1898), die Seelsorge tangierenden Verbesserungen, Abb. 258: Behältnisse mit den Reliquien des hl. Fidelis von Sigmaringen OFMCap (gest. 1622), heutiger Standort im Kryptaaltar der Kathedrale zu Chur [BAC.BA] <?page no="332"?> 332 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben indem er anregte die einfachen Dombenefizien mit Genehmigung des Heiligen Stuhls zu Pfründen mit Pastoralpflichten abzuändern, um die Inhaber verpflichtend einbinden zu können, was bislang aufgrund ihrer Pfrundbriefe nicht möglich gewesen war, so dass bei Weigerung eines Benefiziaten die meiste Arbeit auf dem Dompfarrer lastete und zu immer grösserem Unwillen gegenüber der 1880 übernommenen Verpflichtung der Pastoration am Dom führte. So erstaunt es wenig, wenn in den neuen Statuten des Domkapitels von 1900 sich das Kollegium lediglich bereit erklärte, «vorläufig» weiterhin die Dompfarrei zu versorgen, obwohl es eine eigene Pflicht hierzu nicht sehe. Am 4.- Februar 1910 erhielt dann der Churer Bischof Georgius Schmid von Grüneck von Rom die Vollmacht, dem Domkapitel die Pfarrseelsorge am Hof zu übertragen, die an der Kathedrale bestehenden drei Benefizien Hummelberg-Salis-Gaudenzi zu einem einzigen zusammenzuführen («Beneficium unitum») und den Inhaber als Kuratbenefiziat verpflichtend in die Seelsorgearbeit miteinzubinden. Das oben genannte Datum von 1910 gilt nach Johann Jakob Simonet als «Geburtstag der Dompfarrei». Abb. 259: Ansicht des Hofplatzes mit Westfassade der Kathedrale (Ende 19. Jahrhundert) [Öl auf Holzrugel (Maler unbekannt)] [BAC.BA] <?page no="333"?> 333 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) b) Regelung der Pfarreiverhältnisse in Chur: Zu den Vorschlägen des Domkapitels zwischen 1905 und dem provisorischen Entscheid der römischen Kurie im Frühjahr 1910 Parallel zur Neuregelung des «Beneficium unitum» am Beginn des 20. Jahrhunderts liefen die Bemühungen um eine sowohl für Domkapitel und Bischof als auch für die Seelsorge am Dom befriedigende Lösungssuche in der seit 1880 von Kanonikern provisorisch versehenen Pastoral der Katholiken in Chur. Domscholastikus Hieronymus Loretz (1897-1921, Dompropst 1921) und damals Verantwortlicher für die Seelsorge an der Kathedrale (1898-1905), unterbreitete auf der Kapitelssitzung vom 13. Februar 1905 dem Residentialkapitel erste Vorschläge, stand damit aber - gemäss schriftlich festgehaltener Aussage - «allein da». Vor dem Hintergrund der eigentlichen Aufgabenfelder eines bischöflichen Domkapitels, die darin bestanden, [1.] als Senat des Bischofs diesen in der Verwaltung seiner Diözese aktiv zu unterstützen und [2.] in der Kathedrale regelmässig das «Officium chori» zu verrichten, und den veränderten Zeitumständen, welche eine Beteiligung des Domkapitels an der Seelsorge erforderlich machten, schlug Loretz vor, das Kapitel könne drei Domherren, nämlich einen Dompfarrer und zwei ‹Unterpfarrer› oder Coadjutores stellen, welche vom Bischof approbiert und eingesetzt würden. Das Amt eines Dompfarrers als auch dasjenige der Hilfspriester sei «nicht an eine bestimmte Präbende gebunden»; Loretz betont vielmehr: «Die Pflicht wird vom Domkapitel im allgemeinen» - und «aus freien Stücken» - «übernommen, ohne daß eine bestimmte Präbende zu einem beneficium curatum gemacht werde; es wäre also ein officium personale.» Eine solche Übernahme der Seelsorge am Churer Dom durch das Kapitel möge dieses aber an die Bedingung knüpfen, «daß der Bischof für angemessene Aufbesserung jener Domherren-Präbenden sorge, welche bei sorgfältiger Verwaltung weniger als fr. 3'000.- jährlich brutto abwerfen», sei es «durch einmalige Auszahlung», sei es «durch regelmäßige jährliche Zuschüsse». Der jährliche Betrag errechnete Loretz auf 100 Franken pro Seelsorger, deren Pastoraleinsätze sich ausschliesslich auf die mit der Kathedrale verbundene Pfarrei erstreckten. Sollten zu einem späteren Zeitpunkt weitere katholische Pfarreien in der Stadt entstehen, vor allem bei Überschreitung der Katholikenzahl von 6'000, wäre das Domkapitel dazu zu keinerlei Leistungen verpflichtet. In einem weiteren Punkt schlug Loretz vor, sowohl das Benefizium St. Katharina und Konrad als auch das unierte Benefizium mit Zustimmung Roms in ‹beneficia curata› umzuwandeln; die beiden Inhaber könnten sodann vom Dompfarrer primär zu seelsorgerlichen Arbeiten herangezogen werden. Sogar eine Wohngemeinschaft der Benefiziaten mit dem Dompfarrer in gemeinsamer Haushaltung hielt Loretz für denkbar. In einem achtseitigen Schreiben unterbreitete Domdekan Christian Modest Tuor am 24. Februar 1905 dem Bischof das Resultat der im Kapitel überaus kontrovers diskutierten Vorschläge zur «endgültigen Regelung der Pfarreiverhältnisse von Chur», wie diese bereits in den Statuten des Domkapitels von 1900 unter Paragraph 50 angekündigt worden war. Anhand des genannten Paragraphen, so wurde gleich eingangs betont, sei die Übernahme der Seelsorge am Dom durch das Residentialkapitel nach dem Weggang der Kapuziner 1880 «nicht rechtsverbindlich für die Zukunft», sondern situationsbedingt <?page no="334"?> 334 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben lediglich provisorisch vereinbart worden. Die Kapitulare würden aber auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt klar die Ansicht vertreten, dass ihre primäre Aufgabe nicht in der Seelsorge der rund 5'000 Katholiken in Chur liege, sondern im «dem Bischof in der Leitung der Diözese zu leistenden Beistand» und im gemeinsamen Chordienst. Eine definitive Einbindung des Kapitels in die Seelsorge würde beide Bereiche zu stark tangieren, ja zu deren Erfüllung keineswegs dienlich sein. Umgekehrt belaste eine Umwandlung von Kanonikaten in Kuratpräbenden Inhaber wie Seelsorge, da die Kapitulare, einmal alt und gebrechlich, bislang aber nicht gezwungen, deswegen zu resignieren, der Pastoral nur mehr mit zunehmenden Einschränkungen obliegen könnten und auf die Hilfe ihrer Mitbrüder angewiesen wären. Dabei könnte es vorkommen, dass ein in der Dignität höher gestellter Domherr dem Dompfarrer untergeordnet würde und seinen Anordnungen Folge zu leisten hätte, was dann «leicht zu Reibereien führe» und ohnehin «mit der Würde ihrer Stellung als residierende Domherren doch nicht recht in Einklang zu stehen und überhaupt ein etwas unnatürliches Verhältniß zu sein scheine». Tuor machte ferner auf eine «nicht zu unterschätzende Gefahr» mit unabsehbaren Folgen aufmerksam. Würden Kanonikate zu Seelsorgeposten, wären diese bei Bildung einer Kirchgemeinde letzterer in dem Sinne ausgeliefert, da «dieselbe einen staatlich garantierten Einfluß auf die Kanonikate als Seelsorgepfründen bekämen und nach bündnerischem Gesetze auch die Wahl der betreffenden Canonici verlangen könnte». Aus den genannten Gründen sah sich das Residentialkapitel gegenüber dem Bischof berechtigt und verpflichtet, die Erklärung abzugeben, «daß es seine Zustimmung nicht dazu geben könne, die betreffenden vier Kanonikate [ausgenommen waren Propst und Dekan], oder auch nur eines derselben, in Kuratpräbenden umzuwandeln, oder überhaupt, wie es seit 1880 geschehen ist, das Kapitel einfachhin mit der Seelsorge der Pfarrei Chur zu belasten». Weil aber die Seelsorge am Dom einer tragbaren, der Pastoral dienlichen Regelung dringend bedurfte, zeigte das Kapitel «ein weitherziges Entgegenkommen» und unterbreitete Bischof Battaglia folgenden 3-Punkte-Vorschlag: 1. Das Residentialkapitel stellt aus freiem Entschluss einen aus ihrer Reihe als Pfarrer am Dom zur Verfügung; seine Amtsbezeichnung war in Absprache mit dem Bischof noch zu regeln (eventuell ‹Dompfarrer›). Die Seelsorge, so die Formulierung Tuors, «darf jedoch nicht an die betreffende Präbende gebunden werden», damit der Amtsinhaber resignieren könne, ohne seine Präbende zu verlieren. 2. Das Kapitel schlägt einstimmig vor, das alte Benefizium St. Katharina und Konrad sowie das jüngst unierte Benefizium zu Kuratbenefizien umzuwandeln und beide Inhaber verpflichtend in die Seelsorge mit einzubinden. Zur Sicherstellung der Dotierung des «beneficium unitum» erklärte sich das Kapitel bereit, was aber ein «grosses Opfer» darstellte. 3. Der Bischof seinerseits solle einen dritten Kuratbenefiziaten oder auch Domvikar besolden und so eine Hilfestellung in der Seelsorge am Dom leisten. Mit diesem Lösungspaket standen der «Dompfarrei Chur» [sic] neu ein Pfarrer und maximal drei ihm unterstellte Kapläne zur Verfügung. Darüber hinaus konnte der jeweilige <?page no="335"?> 335 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) Pfarrer auf die Hilfe der Geistlichen an der bischöflichen Kurie zurückgreifen, insbesondere für Predigt (Domscholastikus) und Beichte (Dompönitentiar). Der Vorschlag des Kapitels ebnete trotz vorangehender Klarstellung endlich den Weg zu «einer allseitig befriedigenden und billigen Lösung» in dem seit 1880 schwelenden Konflikt um die Verantwortung in der Pastoral an der Kathedrale zu Chur. Eine «Rückäußerung» seitens des Bischofs liess lange auf sich warten, so dass am 25.-November 1905 Domdekan Tuor erneut an Battaglia gelangte und ihn auf eine baldige Entscheidung drängte, nicht zuletzt auch deswegen, da Domscholastikus Loretz auf Neujahr 1906 die Verantwortung als Seelsorger am Dom abgeben wollte. Mit Datum des 14. Dezember erging die bischöfliche Antwort an das residierende Domkapitel. Bischof Johannes Fidelis erklärte sich mit dem am 24. Februar von Kapitel vorgeschlagenen 3-Punkte-Plan grundsätzlich einverstanden, wünschte jedoch - zum einen zur Sicherstellung der künftigen Pastoration durch das Domkapitel, zum anderen als eindeutige Klarstellung der Anforderungen an die Residentialen - folgende Ergänzung zum oben genannten ersten Punkt: «Das residierende Domkapitel gibt aus seinem Gremium einen Kapitularen als Pfarrer; die Pfarrei darf jedoch nicht an die betreffende Präbende gebunden sein, so daß die Resignation des Pfarrers nicht auch die Resignation auf seine Präbende nach sich zieht. Der Dompfarrer wird vom residierenden Domkapitel designiert, vom Bischof bestätigt und in sein neues Amt eingesetzt. Ebenso ernennt das Domkapitel aus seiner Mitte zum voraus einen Stellvertreter des Pfarrers für den Fall, dass dieser durch Krankheit oder sonstwie an der Erfüllung seiner Pflichten verhindert ist. Jeder Domkapitular mit Einschluß der zwei Dignitäten ist verpflichtet, die auf ihn gefallene Designation zum Pfarrer oder zu dessen Stellvertreter anzunehmen. Die Resignation als Pfarrer tritt erst nach Annahme derselben durch das Domkapitel und den Bischof in Kraft.» Falls diese Erweiterung vom Kapitel akzeptiert werde, so der Bischof weiter, könne die neue Ordnung ab Neujahr 1906 provisorisch in Kraft treten. Nach einer etwa einjährigen Probephase könnten dann «die neuen Bestimmungen dem Hl. Stuhl zur endgültigen Approbation unterbreitet werden». Damit machte der Bischof deutlich, dass er von den Residentialen nicht nur Hilfestellung in der Diözesanleitung erwartete, sondern dass jeder aus diesem Gremium auch für die Aufgabe in der Seelsorge geeignet und bereit sein musste. Diese Ergänzung darf auch als wichtiger Hinweis gelten, bei künftigen Ernennungen von residierenden Domherren, Geistliche mit Pastoralerfahrung auszusuchen. Nach der Resignation Battaglias als Bischof von Chur am 12. Februar 1908 wählte das gesamte Churer Domkapitel den damaligen Offizial und Regens am Priesterseminar St.-Luzi, Georg[ius] Schmid von Grüneck, zum neuen Ordinarius [siehe oben, S.-236-f.]. Als hervorragender Kanonist und talentierter Organisator war ihm auch die definitive Regelung der Pfarrei am Dom ein wichtiges Anliegen. Im Herbst 1909 unterbreitete Schmid von Grüneck der Konzilskongregation (seit 1967 Kleruskongregation) den Vorschlag zur Übergabe der Dompfarrei an das residierende Domkapitel, aber ohne Einbindung an eine bestimmte Dignität. Der Präfekt der Kongregation, Kardinal Casimiro Gennari (1908-1914), antwortete am 7.-Dezember 1909. Mit Freude hätte man an der Kurie zu Kenntnis genommen, dass das Churer Domkapitel der Seelsorge am Dom vorstehen wolle. Doch entgegen der bischöflichen Eingabe bevorzugte die Kongregation die <?page no="336"?> 336 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben feste Verbindung des Amtes des Dompfarrers mit einer bestimmten Kanonikatspfründe - mit der Konsequenz, dass der Inhaber bei einer Resignation auf die Pfarrei auch das Anrecht auf seine Dignität verlieren würde. Die römische Begründung lag insbesondere auf der Betonung der Kontinuität der Seelsorge vor Ort. Das Kapitel sperrte sich gegen die römische Direktive, die Pfarrei mit einer bestimmten Dignität zu verknüpfen und gelangte entsprechend erneut an die Kongregation. Daraufhin erfolgte mit Datum des 4. Februars 1910 von Kardinal Gennari die Erteilung der Vollmacht an den Churer Bischof, dieser könne den ursprünglich vorgelegten Plan - also ohne Einbindung eines spezifischen Kanonikates - ausführen. Ferner seien die beiden Benefizien (St. Katharina und Konrad sowie das Beneficium unitum) an der Kathedrale in die Pastoral mit einzubinden. Die Kongregation fügte jedoch hinzu, die definitive Regelung werde auf jenen Zeitpunkt verschoben, an dem eine weitere katholische Pfarrei für die Stadt Chur von Nöten werde («[...] definitivam eiusdem conventionis approbationem S. C. ad tempus differre censet, quo altera paroecia in civitate episcopali erecta, plenius perspecta erit ratio providendi necessitatibus servitii paroecialis in eadem civitate.» [Abschrift im Domkapitelsprotokoll B, S. 116). Am 10. März 1910 gab Schmid von Grüneck grünes Licht zur Umsetzung. Danach hatte also das Residentialkapitel bis zur Errichtung einer zweiten Pfarrei auf Stadtgebiet die Besorgung der Pfarrei am Dom zu übernehmen. Es stellte hierfür aus den eigenen Reihen einen Pfarrer, wobei grundsätzlich keine Dignität ausgeschlossen war. Dem ‹Dompfarrer› standen infolge zwei Benefiziate und ein Domvikar bei der Ausübung der Seelsorge zur Seite. Der Inhaber des Beneficium unitum wurde laut Pfrundbrief bereits 1907 eindeutig dazu verpflichtet, nicht aber der Benefiziat der Pfründe St. Katharina und Konrad. Den dritten Vicarius stellte und besoldete, jedoch ohne rechtliche Verpflichtung, der Bischof, so dass bei veränderter pastoraler Lage diese Stelle wieder aufgehoben werden konnte. c) Verselbständigung der Dompfarrei (1948) und Wiedervereinigung mit dem Residentialkapitel (2007) Der Zeitpunkt der von der Kongregation 1910 genannten Anpassung kam am 31.-Dezember 1947: Ende 1947 wurde das Domkapitel als «parochus habitualis» von der Führung des Dompfarramtes entlastet. Die Gründe, welche zu diesem Schritt führten, lagen in der starken Zunahme der Katholikenzahl auf 7'000. Im Stadtquartier unterhalb des Churer Bahnhofs errichtete man das Pfarrvikariat Erlöser; die gebaute Kirche wurde am 29.-November 1935 eingeweiht. Durch die Organisation der Kirchgemeinde Chur (März 1922), wodurch die notwendigen Mittel für die Finanzierung der Seelsorge sichergestellt werden konnten, war ein Pfarrer nicht mehr auf den Ertrag aus der Domherrenpfründe angewiesen. Daneben verlangte einerseits die Seelsorge immer grösseren Einsatz, so dass ein Dompfarrer mit den Pflichten eines Kapitulars in Konflikt kommen musste, andererseits forderten die wachsenden Aufgaben in der Bistumsverwaltung eine stärkere Einbindung der Residentialen an der Kurie. Der einstimmige Entschluss des bischöflichen Ordinariats vom 19. November 1947 zur Erhebung einer selbständigen Dompfarrei trat am 1. Januar 1948 in Kraft. Im Protokoll des Residentialkapitels wird festgehal- <?page no="337"?> 337 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) ten, die Domherren stünden «selbstverständlich» weiter für die Mithilfe in der Seelsorge zur Verfügung. Um für den neuen, vom Bischof designierten Dompfarrer Alfred Vieli (1948-1969) Wohn- und Arbeitsräume zu schaffen, kündigte das Residentialkapitel zwei Familien in der Domkustorei (Hof 20); seit der umfangreichen Sanierung von Hof 14 hat der jeweilige Dompfarrer dort seinem Wohn- und Amtssitz. Die Kirchgemeinde Chur übernahm die Besoldung der Geistlichen (Pfarrer und Vikare) sowie die Kosten der Miete; zudem liess sie eine eigene Telefonanlage installieren. Für Licht, Heizung und Telefongespräche hatten jedoch Pfarrer und Vikare aufzukommen. Für die Zukunft deponierte die Kirchgemeinde zudem den Wunsch auf Mitspracherecht bei der Pfarrerbestellung. Mit Datum vom 15. Juli 1950 befreite schliesslich die Konzilskongregation das Churer Domkapitel von der Seelsorgepflicht am Dom. Die Selbständigkeit dauerte lediglich 60 Jahre. 2007 äusserte Bischof Vitus Huonder die Absicht, den jeweils amtierenden Dompfarrer wieder an das Residentialkapitel zu binden, was mit der Amtszeit von Pfarrer Harald Eichhorn (Domkustos 2007-2013, vakant 2013) geschah und unter Pfarrer Gion-Luzi Bühler (Domkustos seit 2014) bislang seine Fortsetzung erfuhr. Das Dompfarramt (Hof 14), welches bis dato im Besitz der bischöflichen Mensa lag, erwarb 2016 das Domkapitel, so dass ausser dem bischöflichen Schloss (Hof 19) alle Gebäulichkeiten auf dem Hof dem Kapitel gehören. Abb. 260: Protokoll der Ordinariatssitzung vom 19. November 1947 mit dem einstimmigen Beschluss zur Lösung der Dompfarrei aus der Verantwortung des Residentialkapitels [BAC] <?page no="338"?> 338 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Liste der residierenden Domherren als Pfarrseelsorger am Dom (seit 1880) inkl . Hilfsgeistlichen (1910-1950) Pfarrherren Zeitspanne Inhaber des Beneficium unitum Inhaber des Benefiziums St.-Katharina und St. Konrad Domvikare Simeon, Hermenegild (aus Lantsch/ Lenz) 1880-1891 Domkustos (1868-1892) Tuor, Christian Modest (1868-1893) Nigg, Josef Anton (1849-1889) --- Willi, Gaudenz (aus Lantsch/ Lenz) 1891-1898 Scholastikus (1889-1897) Jann, Franz Xaver (1893-1899) Kind, Franz Josef (1889-1893) Loretz, Hieronymus (aus Vals) 1898-1905 Scholastikus (1897-1921) Benefizium vakant (1899-1905) Benefizium vakant (1893-1900) Stoffel, Alfons (1900-1905) Laim, Vincenz (aus Alvaneu) 1906-1912 Domkustos (1905-1912) Buinger, Johann Luzius (1906-1907) Hauser, Fridolin (1907/ 08-1910) Willi, Christoph Bartholomäus P., SMB (Provisor 1910/ 11) Fetz, Jakob Anton (1905-1906) Benefizium vakant (1906-1907) Buinger, Johann Luzius (1907-1915) Kaiser, Josef (bezeugt 1906) Hauser, Fridolin (1906-1910) Willi, Albert Anton (1907-1915) Vassella, Giovanni [Johannes] (aus Poschiavo) 1912-1919 Domkustos (1912-1919) Henny, Josef Anton (1911-1915) Willi, Albert Anton (1915-1932) Henny, Josef Anton (1915-1932) Helbling, Josef (1915-1921) Caminada, Christian (aus Vrin) 1920-1932 Domkustos (1919-1932) Zimmer, Johannes (1921-1922) Usteri, Georg (1922-1927) Kuriger, Thomas (1927-1935) <?page no="339"?> 339 2. Seelsorge am Dom - die Übernahme durch das Kapitel (1880) Liste der residierenden Domherren als Pfarrseelsorger am Dom (seit 1880) inkl . Hilfsgeistlichen (1910-1950) Pfarrherren Zeitspanne Inhaber des Beneficium unitum Inhaber des Benefiziums St.-Katharina und St. Konrad Domvikare Venzin, Johann Benedikt (aus Tujetsch) 1932-1938 Domkustos (1932-1942) Kuriger, Thomas (1933-1936) Zurfluh, Ambrosius (1936-1937) Willi, Albert Anton (1932-1953) Rijn van, Johann (1933-1935) Schäfer, Josef (1935-1945) Willi, Johann Anton (aus Lantsch/ Lenz) 1938-1947 Domkantor (1934-1950) Schäfer, Josef (1937-1941) Janka, Christian (1942-1944) Huonder, Carl (1945-1947) Lozza, Duri (1947-1949) Arnold, Josef (1937-1939) Janka, Christian (1939-1942) Soliva, Ludwig (1942-1948) Lozza, Duri (1944-1949) Burch, Gregor (1947-1951) Vieli, Alfred (aus Vals) 1948-1969 erster eigenständiger Pfarrer am Dom Hitz, Johannes (1949-1955) Benefizium vakant (1955-1990) Benefizium vakant (1953-1954) Hübscher, Bruno (1954-2009) Hitz, Johannes (1949-1958) Imfeld, Karl (1958-1962) Good, Josef [Vikar I] (1962-1967) Wolf, Robert [Vikar II] (1962-1965) <?page no="340"?> 340 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Liste der residierenden Domherren als Pfarrseelsorger am Dom (seit 1880) inkl Hilfsgeistlichen (1910-1950) Pfarrherren Zeitspanne Inhaber des Beneficium unitum Inhaber des Benefiziums St.-Katharina und St. Konrad Domvikare Carnot, Paul (aus Samnaun) 1969-1986 Sievi, Josef [Vikar II] (1965-1971) Riedo, Umberto [Vikar I] (1967-1969) Manetsch, Alexi (1971-1974) ab 1975 Laien als Seelsorgebzw. Pastoralassistenten / Ständige Diakone Quinter, Giusep (aus Trun) 1986-2005 Eichhorn, Harald (aus Salem/ D) 2006-2013 Pfr.Adm. seit 2005 Domkustos (2007-2013) Bernadic, Jan (aus Žilina/ Silein, Slowakische Republik) 2013-2014 Pfr.Adm. Bühler, Gion-Luzi (aus Domat/ Ems) seit 2014 Domkustos (seit 2014) <?page no="341"?> 341 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und gewährtem Privilegium In der Geschichte des Bistums Chur spielte das Kollegium des örtlichen Domkapitels stets eine wichtige Rolle. Durch das Verhalten einzelner Kanoniker oder gewisser Gruppierungen im Kapitel vor und bei den jeweiligen Bischofswahlen wurden - mehr oder minder bewusst − Weichenstellungen in der Ausrichtung der Episkopate sowohl im Bereich der Kirchenpolitik als auch im Bereich der Pastoral im Bistum vorgenommen. Nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 fiel das Churer Kapitel insofern in einen rechtlosen Raum, da das seit 1448 bestehende freie Bischofswahlrecht, welches bislang alle Reichsfürstbistümer innehatten [siehe Band 1, S. 144-147), verloren ging und im Fall von Chur bis 1948 ungeregelt blieb. a) «Gewohnheitsmässiges» Wahlverfahren - Zur Situation im 19. Jahrhundert Da Karl Rudolf von Buol-Schauenstein erst nach einem fast 40jährigen Episkopat am 23. Oktober 1833 in St. Gallen verstarb, war der ‹rechtlose› Raum nach 1806 bzgl. Wahlverfahren lange kein Thema. Erst bei der Abfassung der Bulle «Imposita humilitati» vom 16. Dezember 1824, womit der Kanton Schwyz definitiv an das Bistum Chur angegliedert wurde, betonte Papst Leo XII., die Bischofswahl, bei der auch die beiden neuen Schwyzer (nicht-residierenden) Standesdomherren Stimm- und Wahlrecht genossen, sei in Chur gemäss dem legitimen und bis anhin von Rom gebilligten Brauch durch das Kathedralkapitel durchzuführen. Das bedeutete: Obwohl die oben genannte Bulle an keiner Stelle explizit von einem «Bischofswahlrecht», d.h. von einem «ius eligendi episcopum» spricht, anerkannte bzw. billigte Rom auch nach 1806 - dies gleicht faktisch der Gewährung eines Privilegs − das gewohnheitsmässige Verfahren einer [in Chur bislang immer] freien Wahl bei Vakanz des bischöflichen Stuhles. Nach dem Tod Buol-Schauensteins 1833 hätten die Churer als auch die St. Galler Domherren zur Wahl zusammenkommen sollen, um für das zwischen 1823 und 1836 bestehende Doppelbistum Chur-St. Gallen einen geeigneten Nachfolger zu finden. Widerstände und Uneinigkeiten in den beiden Kapiteln, aber auch bei den Kantonsregierungen von St. Gallen und Graubünden zogen die Wahl immer mehr hinaus. Nach Ablauf der Wahlfrist devolvierte das Wahlrecht an den Heiligen Stuhl. Am 6. April 1835 ernannte Papst Gregor XVI. den aus Mon im Oberhalbstein stammenden Churer Domscholastikus und Kapitelsvikar Johann Georg Bossi zum neuen Oberhirten des Doppelbistums. Am 5. Juli 1835 wurde Bossi in Einsiedeln durch den damaligen Nuntius Filippo de Angelis zum Bischof geweiht. Konflikt und Uneinigkeit verhinderten also bereits ein erstes Mal nach 1806 das gewohnheitsmässige (freie) Wahlverfahren. Nach dem Hinschied von Bossi am 9. Januar 1844 übernahm der Churer Dompropst Kaspar de Carl ab Hohenbalken, welcher bereits 1842 vom Papst zum Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) von Bischof Bossi ernannt worden war, direkt die Leitung des Bistums Chur. Somit war ein weiteres Mal nach 1806 keine Wahl zustande gekommen. <?page no="342"?> 342 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Dies änderte sich endlich 1859. De Carl starb am 19. April 1859. Bereits am 26. Mai schritten die 22 in Chur versammelten Kanoniker zur Wahl. Die Wahlgänge verliefen harzig; noch nach dem 5. Wahlgang vereinigte Christian Leonhard Demont die Mehrzahl der Stimmen auf sich. Hierauf unterbrach man das Wahlgeschäft und schritt unbedenklich zum gemeinsamen Mittagsmahl und zum offenen Gedankenaustausch. Kaum verwunderlich, dass anschliessend (endlich) im 8. Wahlgang der favorisierte Kandidat Domdekan Nikolaus Franz Florentini mit 12 Stimmen (8 Stimmen nach wie vor zugunsten Demonts) gewählt wurde. Noch weniger verwunderlich ist es deshalb, dass Papst Pius XI. eine solche Wahl für ungültig erklärte, aber - nicht zuletzt auf Druck des Geschäftsträgers der vakanten Nuntiatur, Giuseppe Maria Bovieri (1848-1864), und des einflussreichen Verwandten Florentinis, des Kapuziners Theodosius Florentini - den in Chur im Mai Gewählten am 26. September 1859 frei zum Churer Bischof ernannte. Die erste «freie» Wahl nach 1806 verlief also keineswegs in geordneten Bahnen. Erst die Elektion des Benediktiners aus Einsiedeln und Weihbischofs Kaspar Willi am 10. Januar 1877 verlief nicht nur einstimmig, sondern «nach Recht und Ordnung» durch das versammelte Churer Domkapitel, so dass Papst Pius IX. den Gewählten am 12. März 1877 bestätigen konnte und zum Bischof von Chur ernannte. Abb. 261 (links): Auszug aus dem Wahlprotokoll vom 26. Mai 1859 (S. 10) [BAC] / Abb. 262 (rechts): Auszug aus dem Wahlprotokoll von 10. Januar 1877 (S. 10) [BAC] <?page no="343"?> 343 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Es ist somit der erste, ohne Zwischenfälle verlaufene «freie» Wahlakt eines Churer Bischofs durch das Kapitel seit dem Verlust des bis 1806 geltenden historischen freien Wahlrechts. Diesem folgten entsprechend am 28. Mai 1879 bzw. am 6. November 1888 noch zwei weitere, in ruhigen Bahnen verlaufene Wahlen mit anschliessender päpstlichen Konfirmation (1879: Franz Konstantin Rampa aus Poschiavo, Bischof von Chur 1879- 1888 / 1888: Johannes Fidelis Battaglia aus Parsonz, Bischof von Chur 1888-1908). Das heisst: Erst 1877, kurz darauf 1879 und nochmals 1888 können im Bistum Chur drei Wahlgänge durch das ansässige Domkapitel registriert werden, die, obwohl seit 1806 kein freies Wahlrecht mehr bestand, faktisch als «privilegium» von Rom gewährt, als gewohnheitsmässiges Verfahren frei durchgeführt wurden. b) Die beiden «freien» Bischofswahlen von 1908 und 1941 vor dem Hintergrund neuer Kapitelsstatuten und des CIC/ 1917 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert überarbeitete das Churer Domkapitel seine Statuten, die am 1. Mai 1900 verabschiedet und bereits am 12. des gleichen Monats von Bischof Johannes Fidelis Battaglia approbiert wurden. Im Kapitel III «De iuribus Capituli» unter Paragraph 10 sprechen die neuen Statuten offen vom Recht der freien Bischofswahl: «[…] ius est liberae electionis Episcopis, quae ad Capitulum generale ipsumque solum spectat, […]». Diese bislang in der Forschung nie beachtete Formulierung von 1900 entsprach durchaus den jüngst vergangenen, entsprechend «frei» durchgeführten Bischofswahlen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch beruhte sie auf einer Fehlinterpretation, welche wahrscheinlich in der erwähnten Wortwahl in der Bulle aus dem Jahre 1824 ihre Legitimation suchte, wo von einem gewohnheitsmässigen Verfahren gesprochen wird, welches - seit 1448 bis und nur bis 1806 - tatsächlich ein «ius liberae electionis Episcopis» gewesen ist. Entsprechend «frei» vollzog sich nach der Resignation Battaglias am 12. Februar 1908 (gest. erst am 10. September 1913 in Zizers) die Wahl des neuen Churer Oberhirten. Im vierten Wahlgang wurde am 7. Mai 1908 zwar äusserst knapp − mit 11 zu 10 Stimmen − Generalvikar, Offizial und Regens Georg Schmid von Grüneck gewählt; die 10 Gegenstimmen gingen zugunsten Anton Gislers, des späteren Churer Weihbischofs; von den 24 Domherren fehlten am Wahltag 3. Nach Eintreffen der Konfirmation durch den Heiligen Stuhl am 13. Juli 1908 empfing Schmid am 4. Oktober 1908 in der Kathedrale zu Chur durch seinen Vorgänger Battaglia die Bischofsweihe. Unter Bischof Georgius erschien 1917 der neue Codex Iuris Canonici für die Lateinische Kirche, welcher die bis dahin gültige jahrhundertealte Sammlung des CIC, herausgegeben 1582 durch Papst Gregor XIII. (1572-1585), ablöste. Über die Bischöfe hält Can. 329 in § 2 fest: Grundsätzlich werden die Bischöfe frei vom Papst ernannt. § 3 regelt die Ausnahme: Wenn einem Kollegium das Bischofswahlrecht (eben das «ius eligendi episcoporum») erteilt wurde, dann ist die Wahl nach den kanonischen Wahlbestimmungen vorzunehmen. Bereits im Allgemeinen Teil der Normen des CIC hält Can. 4 fest: Privilegien und Indulte bleiben unter folgenden Bedingungen in Geltung: (a) falls sie ein Gunsterweis des Heiligen Stuhls sind, (b) falls diese bis 1917 noch in Gebrauch stehen <?page no="344"?> 344 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben und (c) falls diese nicht vor 1917 widerrufen worden sind. Für das Churer «Bischofswahlrecht» bedeuteten diese Normen folgendes: Nach § 3 des Can. 329 [CIC/ 1917] hatte das Churer Domkapitel kein explizites «ius eligendi» mehr vorzuweisen; doch nach § 3 blieb die Formulierung der Bulle «Imposita humilitati» von 1824 im Sinne eines kurialen Gunsterweises weiterhin rechtsgültig. Zudem war dieser Gunsterweis bislang vom Heiligen Stuhl nicht ausdrücklich widerrufen und entsprechend zuletzt in der Wahl von 1908 auch wieder wahrgenommen worden. Einige Jahre nach Einführung des CIC/ 1917 erging im Zuge der Anpassungen der Statuten des Domkapitels an den neuen CIC inklusiv einer Anfrage nach Rom mit Datum vom 4. Januar 1926 ein Schreiben von der Konsistorialkongregation und der Kongregation für die Ausserordentlichen kirchlichen Angelegenheiten an den Nuntius in Bern zuhanden des Churer Domdekans, worin betont wurde, «pro nunc», also gegenwärtig, sei am Modus der Bischofswahl durch das Churer Domkapitel nichts zu ändern (wörtlich: «Attentis omnibus, pro nunc nihil esse innovandum quoad electionem Episcopi»). Vier Monate später, am 1. Mai 1926, verabschiedeten die Domherren ihre revidierten Statuten, welche am 7. Juli 1926 von Bischof Georgius die Approbation erhielten. Im Kapitel III «De iuribus Capituli» (Über die Rechte des Kapitels) wird in § 10 dieselbe Wortwahl wie bereits 1900 verwendet [siehe oben] und hervorgehoben, das Generalkapitel erfreue sich eines freien Bischofswahlrechts («ius est liberae electionis Episcopi»), welches gemäss kurialem Schreiben vom 4. Januar 1926 gegenwärtig nicht geändert zu werden brauche. Erneut wird der Gunsterweis des gewohnheitsmässigen Verfahrens grosszügig als freier Rechtsakt des Kapitels ausgegeben. Abb. 263: Auszug aus dem Wahlprotokoll vom 23. September 1941 (S. 5a/ b und 6a) [BAC] <?page no="345"?> 345 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Da am 30. März 1932 nach dem Tod des Weihbischof-Koadjutors Anton Gisler (gest. 4. Januar 1932) Domdekan Laurenz Matthias Vincenz von Papst Pius XI. zum Weihbischof mit dem Recht der Nachfolge (Koadjutor) ernannt worden war, übernahm der Ernannte nach dem Tod Schmids von Grüneck am 6. Mai 1932 nahtlos die volle Jurisdiktion über den Churer Sprengel; am 22. Mai des gleichen Jahres erhielt Vincenz die Bischofsweihe. Am 23. September 1941 schliesslich erfolgte nach dem Tod von Bischof Vincenz noch ein letztes Mal nach dem von Rom gewährten Modus eine «freie» Bischofswahl, woraus mit ¾ Mehr der 24 stimmberichtigten und anwesenden Domherren (also mit 18 Stimmen) der ehemalige Dompfarrer und seit 1932 amtierende Domdekan Christian Caminada hervorging. c) Verzicht auf «freie» Direktwahl: Auf dem Weg zum gegenwärtigen gültigen Wahlmodus - das Dekret «Etsi salva» von 1948 Nach diversen Verhandlungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Churer Domkapitel legte der Churer Domdekan Benedikt Venzin mit Zirkularschreiben vom 5. Februar 1943 den Kanonikern den bereits am 7. August 1942 von Nuntius Filippo Abb. 264 (links): Auszug aus dem Protokoll des Residentialkapitels vom 16. Oktober 1942 [DKA] Abb. 265 (rechts): Zustimmungserklärung vom 5. Februar 1943 zur Neuregelung bei Bischofswahlen [DKA] <?page no="346"?> 346 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Abb. 266 b: Begleitbrief des Schweizer Nuntius Filippo Bernardini (1935-1953) an den Churer Bischof Christianus Caminada vom 30. Juli 1948 [BAC] Abb. 266 a: Originalurkunde mit dem Dekret «Etsi salva» der Konsistorialkongregation vom 28. Juni 1948 [BAC] <?page no="347"?> 347 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Bernardini erhaltenen Lösungsvorschlag der Kurie für ein modifiziertes Churer Bischofswahlverfahren vor. Der neue Wahlmodus sah wie folgt aus: Der Heilige Stuhl präsentiert dem Churer Kapitel einen Dreiervorschlag, aus dem das versammelte Generalkapitel (24 Domherren) die definitive Wahl treffen kann. Nicht de iure, aber de facto, würde die Terna in Rom aufgrund von vorher bei Bischof und Kapitel eingeholten Informationen zusammengestellt. Gemäss Protokoll des Residentialkapitels vom 16. Oktober 1942 verzichteten nach ausführlicher Diskussion der Thematik bereits die sechs Residentialen zukünftig auf Recht und Privileg für eine frei durchgeführte direkte Bischofswahl («Il Capitulo rinuncia al privilegio dell’ elezione diretta del Vescovo.») Der oben angeführte Vorschlag wurde dann von allen damals im Amt stehenden Domherren unter Verzichtserklärung auf das Privileg der Direktwahl gutgeheissen (23 Unterschriften auf dem Zirkularschreiben vom 5. Februar 1943). 21 Domherren schrieben hinter ihrem Namen dazu: «affirmati» («einverstanden»); nur bei zweien stand eine andere Bemerkung: Karl Kündig notierte neben seinem Namen: «Assentior collegio» - «Ich schliesse mich der Mehrheit an.» Und Karl Josef Gisler notierte, wohl doch ein wenig verärgert: «Roma locuta» - «Rom hat gesprochen». Fünf Jahre später folgte mit dem Dekret «Etsi salva» vom 28. Juni 1948 durch die Konsistorialkongregation die neue und definitive, heute noch geltende Rechtsregelung hinsichtlich der Wahl des Churer Bischofs. Der Wortlaut dieses wichtigen Dekrets sei hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben [lat. Text: Abb. 266]: «Wenn auch die Freiheit des Apostolischen Stuhls bei der Ernennung der Bischöfe gewahrt bleiben muss und die gleiche Vorgehensweise bei diesem sehr wichtigen Rechtsgeschäft wünschenswert ist, können dennoch manchmal schwerwiegende Gründe, vor allem in Anpassung an die örtlichen Gewohnheiten, zu besonderen Normen bei der Bischofswahl raten. In diesem Sinn hat Unser Heiliger Vater, Papst Pius XII., gemäss Seiner Weisheit und seinem Wohlwollen, besorgt um das Wohl der Kirche von Chur hinsichtlich der Wahl eines geeigneten Hirten, nach reiflicher Überlegung geruht, dem Kathedralkapitel der oben genannten Diözese das Privileg zu gewähren, den eigenen Bischof aus drei vom Heiligen Stuhl vorgeschlagenen Priestern zu wählen. Sodann hat der Heilige Vater, unter Aufhebung - soweit nötig - jedes anderen Privilegs, durch dieses Konsistorialdekret angeordnet, dass zukünftig, bei Vakanz des Churer Bischofsstuhles, das Kathedralkapitel dieses Bistums einen Geistlichen aus drei vom Apostolischen Stuhl vorgeschlagenen Kandidaten zum Bischof von Chur wähle. Was immer dem entgegensteht, hat keine Rechtskraft.» Damit besitzt das Churer Domkapitel seit 1948 neu das einzigartige Privileg, bei Vakanz und nur bei Vakanz des Bischofsstuhles von Chur einen Kandidaten aus einer von Rom frei zusammengestellten und über die Nuntiatur in Bern dem Kapitel vorgelegten Dreierliste (Terna) zu wählen. Obwohl das neue Dekret weder den Ursprung noch die Motivation dieses Privilegs in irgendeiner Weise erwähnt, bleibt die Neuregelung der Sache nach in der Linie der bereits 1824 ausgesprochenen kurialen Akzeptanz eines gewohnheitsmässigen Wahlverfahrens, wenn es auch jedes etwaige andere Privileg als aufgehoben erklärt. Das Dekret «Etsi salva» wurde dem Kathedralkapitel und (aus Höflichkeitsgründen) auch der Regierung des Kantons Schwyz mitgeteilt. <?page no="348"?> 348 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben d) Zur Entwicklung nach 1948 bis zur letzten Bischofswahl im Jahre 2007 Im Dekret «Etsi salva» drückt die Konsistorialkongregation im Namen des Papstes das Verständnis für örtliche Sonderheiten aus, die zum Wohl der Ortskirche Chur auch von der Kurie, wie dies im Dekret gewährt wird, Beachtung finden sollte. Dieses kuriale Verständnis schien jedoch schon weniger als zehn Jahre danach nicht mehr allseitig geteilt zu werden, denn am 23. März 1957 teilte die Kongregation für die Ausserordentlichen Angelegenheiten über Nuntius Gustavo Testa dem Churer Bischof Christianus Caminada mit, das Privileg von 1948 gelte nicht bei Wahl von Koadjutoren mit Nachfolgerecht; eine solche unterliege der freien Entscheidung des Papstes. Noch im selben Jahr ernannte Papst Pius XII. (1939-1958) mit Datum vom 31. Oktober 1957 den aus Unterschächen im Kanton Uri stammenden Domdekan (1955-1962) Johannes Vonderach zum Weihbischof-Koadjutor von Caminada (1957-1962); damit hebelte der Papst das selbst gewährte Privileg von 1948 aus, bevor dieses überhaupt erstmals für die Nachfolgeregelung Caminadas hätte greifen können. Welche Gründe spielten hierfür eine Rolle? Diese Frage ist offen oder besser konnte bislang noch nicht untersucht werden. Hierzu bedarf es nicht zuletzt des Zugangs zu den Vatikanischen Archiven und das gründliche Aktenstudium wichtiger Korrespondenzen zwischen Kurie, Nuntiatur, Churer Ordinariat und Domkapitel. Jedenfalls übernahm Vonderach nach dem Tod Caminadas am 18. Januar 1962 nahtlos die volle Jurisdiktion als Bischof von Chur. Am 10. Dezember 1973 revidierte das Churer Domkapitel seine Statuten aus dem Jahre 1926. Erstaunlich ist, dass darin mit keinem Wort explizit Bezug auf das 1948 erteilte Privileg genommen wird. Betreffend Bischofswahl hält § 11 fest: «Dem Generalkapitel steht die Wahl des Bischofs zu. Diese wird aus einem Dreiervorschlag getroffen, der von Rom dem Domkapitel unterbreitet werden muss.» Und ferner wird hinzugefügt: «Das Domkapitel reicht ab Inkrafttreten dieser Statuten» - dies geschah mit bischöflicher Approbation am 1. Januar 1974 - «dem Bischof einen Dreiervorschlag ein, der alle zwei Jahre neu zu überprüfen resp. zu ergänzen ist.» Diese Übergabe von Vorschlägen an den amtierenden Bischof ist durchaus legitim, ist jedoch für Rom gemäss «Etsi salva» weder vorgesehen, geschweige denn bindend. Zehn Jahre später, 1983, erfolgte die Herausgabe des revidierten Codex Iuris Canonici aus dem Jahre 1917. Im Abschnitt über die Bischöfe hält Can. 377 § 1 fest: «Der Papst ernennt die Bischöfe frei oder bestätigt die rechtmässig Gewählten.» In den Allgemeinen Normen betont bereits Can 4: «Wohlerworbene Rechte und ebenso Privilegien, die vom Apostolischen Stuhl bislang physischen oder juristischen Personen gewährt wurden, in Gebrauch sind und nicht widerrufen wurden, bleiben unangetastet, es sei denn, dass sie durch die Canones dieses Codex ausdrücklich widerrufen werden.» Das bedeutete für Chur: Das erteilte kuriale Privileg der Bischofswahl aus einem Dreiervorschlag blieb in Kraft, da es nicht widerrufen, aber bislang auch noch nie in Gebrauch stand. Auf Grund der Neuausgabe des CIC/ 1983 musste das Domkapitel seine Statuten wieder anpassen; die Verabschiedung der Neufassung erfolgte am 2. Juni 1986; an Allerheiligen desselben Jahres erteilte Bischof Vonderach die Approbation. Darin kam es zu interessanten, geradezu selbstherrlichen Formulierungen. In Art. 14/ 1 lesen wir: «Das <?page no="349"?> 349 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Generalkapitel hat aufgrund des Dekrets der Konsistorialkongregation vom 28. Juni 1948 das Recht der Bischofswahl. Diese erfolgt aus einem Dreiervorschlag, der vom Apostolischen Stuhl dem Domkapitel unterbreitet wird.» In Art. 14/ 2 folgt der Zusatz: «Bei Eintritt einer Sedisvakanz legt das Generalkapitel der Apostolischen Nuntiatur eine Liste von wenigstens drei für das Bischofsamt besonders geeigneten Priestern vor.» Hierzu muss ein zweifaches klargestellt werden: 1. Das Churer Domkapitel hat aufgrund des Dekrets «Etsi salva» keineswegs das «Recht der Bischofswahl», sondern lediglich das Privileg dazu. Art. 14/ 1 bedarf also einer Korrektur. 2. Das Dekret von 1948 spricht dem Generalkapitel nirgends das Recht zu, eine Kandidatenliste vorzulegen, wie dies Art. 14/ 2 vorgibt; dieser Passus müsste also ersatzlos gestrichen werden. Das noch nie zur Anwendung gekommene Privileg bereitete scheinbar grössere Interpretationsprobleme, was Ende der 80er Jahren zu seiner erneuten Aushebelung führte, als Papst Johannes Paul II. am 25. März 1988 den jungen Kanzler und Domsextar Wolfgang Haas auf ausdrücklichen Wunsch Vonderachs zum Weihbischof-Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) ernannte. Auf die Stürme jener Zeit wird nicht näher eingegangen; es sei aber betont, dass sich die Lage für den neuernannten Koadjutor mitunter auch deshalb verschlimmerte, da im Zuge der angespannten Lage zwischen Ernennung 1988 und Amtsübernahme 1990 der alternde und schwach gewordene Bischof Johannes Vonderach öffentlich bestritt, Wolfgang Haas als Koadjutor gewünscht zu haben. Diese Misere ging so weit, dass bei der Bischofsweihe die päpstliche Ernennungsbulle für Haas weder öffentlich gezeigt, geschweige denn der Wortlaut verlesen wurde. Man belog die Gläubigen, indem man ihnen weise machte, diese Bulle sei noch nicht eingetroffen und verlas ein abgeändertes Dokument des Nuntius. Der Autor kann dies als damaliger Augen- und Ohrenzeuge bestätigen. In Wahrheit stand in der Bulle, die längst am Churer Ordinariat angekommen war und dort unter Verschluss gehalten wurde, ausdrücklich, dass Bischof Vonderach seinen Nachfolger Haas in Rom gewünscht hatte. Der lat./ dt. Wortlaut der Bulle erschien erst 1991 in der «Schweizerischen Kirchenzeitung». Darin heisst es ausdrücklich, der Churer Bischof habe einen Koadjutor erbeten («coadiutorem petit Episcopum»): «Wir glauben deshalb, es sei der Erwartung des ehrwürdigen Bruders Johannes Vonderach Folge zu leisten, der von Uns zur Förderung der Seelsorge einen bischöflichen Koadjutor erbat.» [S. 543] Somit gelangte das 1948 grosszügig gewährte Privileg der Bischofswahl durch das Generalkapitel erstmals am 9. Juni 1998 zur Anwendung. Aus einer von Rom kreierten Dreierliste wählte an jenem Tag das in Chur versammelte Kapitel den Bischof von Lausanne-Genf-Fribourg, Amédée Grab OSB, zum Nachfolger des zum Erzbischof von Vaduz ernannten und von Chur wegbeförderten Wolfgang Haas (bereits 2. Dezember 1997). Nach Grabs altershalber eingereichtem Rücktritt wählte das Churer Domkapitel am 6. Juli 2007 erst im dritten Wahlgang - zum zweiten Mal gemäss Dekret von 1948 - den gegenwärtig amtierenden Bischof Vitus Huonder. Das Wohlwollen der römischen Kurie gegenüber der Gewährung eines Privilegs hatte seine Grenzen. In beiden Fällen der Anwendung 1998 und 2007 wurde der Dreiervorschlag so zusammengestellt, dass für die Kanoniker letztlich nur ein Kandidat wählbar schien. Eine auf diese Weise «präparierte» Terna aber gereicht kaum zum Wohle des Bistums, sondern verkommt vielmehr zu einer <?page no="350"?> 350 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Pharse, da die Verantwortung dann nicht bei Rom liegt, sondern leicht auf das Wahlgremium abgeschoben werden kann, dem von Rom in Form eines Privilegs in «grossem Wohlwollen» drei Kandidaten zur Auswahl präsentiert worden waren. Fazit: Nach Erlöschen des jahrhundertealten Rechts der freien Bischofswahl für die Domkapitel eines Reichsfürstbistums (1806) bediente sich das Churer Kapitel bis 1942/ 43 vor dem Hintergrund des von Rom 1824 guttierten Modus eines gewohnheitsmässigen Verfahrens faktisch weiter der freien Bischofswahl - vollzogen erstmals 1859, wieder 1877, 1879, 1888, 1908 und zuletzt 1941. Der vom Generalkapitel (24 Kanoniker) gewählte Kandidat wurde jeweils vom Papst bestätigt (konfirmiert). Nachdem das Kapitel 1942/ 43 sich definitiv auch auf diesen Modus zu verzichten bereit erklärt hatte, regelt bis heute die Churer Bischofswahl bei einer Vakanz, und nur bei einer Vakanz, das 1948 ausgestellte Dekret «Etsi salva», wonach des Kapitel aus einer von Rom vorgelegten Terna einen Kandidaten wählen kann. Das Churer «Bischofswahlrecht» beruht also auf einem Privileg, auf einem durch einen Rechtsakt gewährten Gnadenerweis zugunsten der juristischen Person ‹Domkapitel›, worauf aber keinerlei Rechtsanspruch besteht; dieses Privileg kam zum 50.-Jahrestag seines Bestehens erstmals 1998 zur Anwendung. Die in den Tabellen auf den Seiten 351 bis 359 verwendeten Farben bedeuten: = gewohnheitsmässige («freie») Wahl = Wahl nach Dekret «Etsi salva» <?page no="351"?> 351 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Bischofswahlen des Churer Domkapitels nach 1806 (Übersichtstabelle) Politische, gesamtkirchliche und partikularrechtliche Rahmenbedingungen Bemerkungen 1448 Konkordat von Wien-Aschaffenburg vom 17. Februar 1448 zwischen Papst Nikolaus V. (1447-1455), Kaiser Friedrich III. (1452-1493) und den geistlichen Reichsfürsten Die Domkapitel von Reichsfürstbistümern erhalten das freie Bischofswahlrecht, so auch Chur (gilt bis 1806) 1803 Verabschiedung des Reichsdeputationshauptschlusses [RDH] auf dem Immerwährenden Reichstag zu Regensburg am 25. Februar 1803 RDH wird Reichsgesetz durch kaiserlicher Ratifikation am 27. April 1803 Säkularisation geistlicher Staaten Ende der Reichskirche 1806 Kaiser Franz II. legt am 6. August 1806 die Kaiserkrone nieder Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Wiener Konkordat von 1448 tritt ausser Kraft 1794 bis 1833 Amtszeit des letzten Churer Fürstbischofs: Karl Rudolf von Buol-Schauenstein (gest. 23. Oktober 1833) 1823 Juli 2 Bulle von Papst Pius VII. «Ecclesiae quae antiquitate» Errichtung des Bistums St. Gallen und gleichzeitige Vereinigung dieses Territoriums mit Chur (in Form einer «unio aeque principalis») zu einem Doppelbistum Chur - St. Gallen [keine konkordatäre Regelung] <?page no="352"?> 352 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben 1824 Dezember 16 Bulle von Papst Leo XII. «Imposita humilitati» Definitive Vereinigung des Kantons Schwyz mit dem Bistum Chur [keine konkordatäre Regelung] In der Bulle wird betont, die Bischofswahl sei gemäss dem legitimen und bis anhin von Rom gebilligten Brauch des Kathedralkapitels durchzuführen («… decernimus, exequendam esse iuxta legitimam et hucusque receptam consuetudinem ab eius capitulo cathedrali …»). D. h., das gewohnheitsmässige Verfahren [quasi als Privileg] wird von Rom auch nach 1806 anerkannt. Wichtig: Zwischen 1806 und 1859 haben keine Bischofswahlen stattgefunden! Gesamtkirchliche und partikularrechtliche Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen 1826 Mai 12 Bulle von Papst Leo XII. «Postquam» [BAC, 411.03.020] Reduktion der Anzahl der Churer Kanoniker: - 6 Residentiale (Dompropst, Domdekan, Scholastikus, Kantor, Kustos, Sextar) - 9 nichtresidierende Domherren (davon einer aus dem Klerus des Priesterkapitels von St.-Gallen) Diese Bulle wurde nie publiziert, daher ist ihr Inhalt nicht rechtskräftig. --- [1835] Johann Georg Bossi (1835-1844) Domscholastikus und Kapitelsvikar (1826 / 1833-1835) Wahlfrist wegen Uneinigkeit in den beiden Domkapiteln des Doppelbistums Chur-St.-Gallen und Einmischungen der kantonalen Räte von Graubünden und St.-Gallen ungenutzt verstrichen Papst Gregor XVI. ernennt am 6. April 1835 Johann Georg Bossi frei zum Oberhirten des Doppelbistums Chur-St. Gallen <?page no="353"?> 353 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen --- [1844] Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1844-1859) Domkustos (1826-1841) Dompropst (1841-1844) Seit 1842 Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) von Bischof Bossi Mit dem Tod von Bossi am 9. Januar 1844 übernahm de Carl die Jurisdiktion. 1859 Mai 26 Nikolaus Franz Florentini (1859-1876) Domdekan (1844-1859) Gewählt erst im achten Wahlgang mit 12 Stimmen von 22 (Christian Leonhard Demont 8, zwei andere je 1) Wahl von Rom für ungültig erklärt (wegen Wahlunterbruch nach dem 5. Wahlgang durch gemeinsames Mittagessen) Papst Pius IX. ernannte den Gewählten am 26.-September 1859 frei zum Churer Bischof Florentini demissioniert am 18. Oktober 1876 (vom Papst angenommen am 25. November 1876) 1877 Januar 10 Kaspar Willi OSB (1877-1879) Benediktiner des Klosters Einsiedeln Willi wurde am 21. Dezember 1868 von Papst Pius IX. zum Weihbischof für das Bistum Chur ernannt. 1877 vom Churer Domkapitel einstimmig zum Bischof gewählt Papst Pius IX. bestätigte die Wahl und ernannte Willi am 12. März 1877 zum Bischof von Chur (1877-1879) <?page no="354"?> 354 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen 1879 Mai 28 Franz Konstantin Rampa (1879-1888) seit 1875 nicht-residierender Domherr, Bischöflicher Kanzler und Offizial (ab Januar 1879) Einstimmig gewählt? Päpstliche Konfirmation am 22. September 1879 1888 November 6 Johannes Fidelis Battaglia (1889-1908) seit 1879 nicht-residierender Domherr und Bischöflicher Kanzler Im zweiten Wahlgang gewählt Päpstliche Konfirmation am 14. Februar 1889 Battaglia demissionierte am 12. Februar 1908 1900 Mai 1 [bischöfliche Approbation am 12. Mai 1900] Statuten des Churer Domkapitels Kapitel III: De iuribus Capituli § 10 «Praecipuum autem, quo gaudet, ius est liberae electionis Episcopi, quae ad Capitulum generale ipsumque solum spectat, quin potestas civilis ullo modo se interponat aut interponere quaet.» Die Kapitelsstatuten sprechen offen vom Recht der freien Bischofswahl. 1908 Mai 7 Georgius Schmid von Grüneck (1908-1932) seit 1895 nicht-residierender Domherr, seit 1898 Generalvikar, Offizial und Regens Im vierten Wahlgang durch absolutes Mehr gewählt (von den 24 Domherren waren 3 abwesend), also 11 Stimmen; die anderen 10 Stimmen fielen auf Anton Gisler Päpstliche Konfirmation am 13. Juli 1908 <?page no="355"?> 355 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen 1917 Codex Iuris Canonci • Über die Bischöfe, Can. 329: § 2: Grundsätzlich werden die Bischöfe frei vom Papst ernannt. § 3: Ausnahme: Wenn einem Kollegium das Bischofswahlrecht («ius eligendi Episcoporum») erteilt wurde, dann ist die Wahl nach den kanonischen Wahlbestimmungen vorzunehmen. • Allgemeine Normen, Can. 4: Privilegien und Indulte bleiben unter folgenden Bedingungen in Geltung: sie sind ein Gunsterweis des Heiligen Stuhls, sie müssen (bis 1917) noch in Gebrauch stehen, sie dürfen (vor 1917) nicht widerrufen worden sein. Nach § 3 des CIC/ 1917 hatte das Churer Domkapitel kein explizites «ius eligendi». Doch nach § 5 blieb die Formulierung in der Bulle «Imposita humilitati» von 1824 im Sinne eines Gnadenerlasses weiterhin rechtsgültig [siehe oben]; zudem war dieser bislang vom Heiligen Stuhl nicht explizit widerrufen und in der Wahl von 1908 auch wahrgenommen worden. 1926 Januar 4 Schreiben von der Konsistorialkongregation und der Kongregation für die Ausserordentlichen kirchlichen Angelegenheiten vom 4. Januar 1926 an den Nuntius in Bern zuhanden des Churer Domdekans, worin betont wurde, «pro nunc» sei am Modus der Bischofswahl durch das Churer Domkapitel nichts zu ändern: «Attentis omnibus, pro nunc nihil esse innovandum quoad electionem Episcopi.» [BAC, 411.14] 1926 Mai 1 [bischöfliche Approbation am 7. Juli 1926] Statuten des Churer Domkapitels Kapitel III: De iuribus Capituli § 10-: «Praecipuum autem, quo gaudet, ius est liberae electionis Episcopi quae ad Capitulum generale ipsumque solum spectat, quin potestas civilis ullo modo se interponat aut interponere quaet. Confirmatum est hoc ius decisionem S. Congr. Consist. die 4. Jan. 1926 hisce verbis: «attentis omnibus pro nunc nihil esse innovandum quoad electionem Episcopi.» [siehe oben] <?page no="356"?> 356 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen --- [1928] Anton[ius] Gisler (1928-1932) Seit 20. April 1928 Weihbischof-Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) von Bischof Schmid von Grüneck starb aber bereits am 4. Januar 1932 in Chur --- [1932] Laurenz Matthias Vincenz (1932-1941) Domscholastikus (1921-1928) Domdekan (1928-1932) Seit 30. März 1932 Weihbischof-Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) von Bischof Schmid von Grüneck Nach dem Tod Schmids am 6. Mai 1932 übernahm Vincenz die Jurisdiktion (Bischofsweihe am 22. Mai 1932) 1941 September 23 Christianus Caminada (1941-1962) Domkustos (1919-1932) Domdekan (1932-1941) Durch ein ¾ Mehr der 24 stimmberechtigen und anwesenden Domherren gewählt, also mit 18 Stimmen Päpstliche Konfirmation am 17. Oktober 1941 1942 Oktober 16 Definitiver Verzicht des Residentialkapitels auf Recht und Privileg beruhende freie Direktwahl des Churer Bischofs: «Il capitulo rinuncia al privilegio dell’ elezione diretta del Vescovo.» Verhandlungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Churer Domkapitel zwecks Neuregelung des Modus bei Bischofswahlen (bei Sedisvakanz) <?page no="357"?> 357 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen 1943 Februar 5 Zirkularschreiben des Domdekans Benedikt Venzin mit Vorschlag des Heiligen Stuhls vom 7.-August 1942 zur Regelung des künftigen Wahlverfahrens bei Sedisvakanz des Churer Bischofsstuhls (von allen im Amt stehenden 23 Domherren unter der Bedingung auf Verzicht der Direktwahl unterzeichnet): «… conservando in sostanza l’elezione al Capitolo tra una terna di nomi prensenta della Santa Sede e formata, … in base a informazioni avuta del Vescovo e dal Capitolo …» [BAC, 411.14] Der Heilige Stuhl präsentiert dem Churer Domkapitel einen Dreiervorschlag, aus dem das Kapitel die definitive Wahl vornehmen kann. Die Terna werde aufgrund der zuvor bei Bischof und Kapitel eingeholten Informationen zusammengestellt. 1948 Juni 28 Dekret «Etsi salva» der Konsistorialkongregation für das Churer Domkapitel: Rechtsregelung des neuen Wahlverfahrens eines Churer Bischofs durch das Domkapitel: «… Hac mente SSmus Dominus Noster PIUS Div. Prov. PP. XII., pro Sua sapientia et benevolentia, utilitati Ecclesiae Curiensis per idonei Pastoris electionem prospiciens, re mature perpensa, Capitulo Cathedrali supradictae dioecesis privilegium conferre dignatus est proprium Episcopum eligendi intra tres sacerdotes ab Apostolicae Sedis propositos.» Papst Pius XII. gewährt dem Churer Domkapitel das exklusive Wahlprivileg, aus einer von Rom frei zusammengestellten Terna mit 3-Priestern, den Churer Bischof zu wählen (gilt nur bei einer Sedisvakanz). Alle bisherigen Regelungen treten mit diesem Dekret ausser Kraft. Das Dekret wurde dem Churer Domkapitel und der Regierung des Kantons Schwyz bekannt gegeben. 1957 März 23 Schreiben der Kongregation für die Ausserordentlichen Angelegenheiten (über den Nuntius in Bern) an den Churer Bischof Christianus Caminada, worin diese betont, das Privileg von 1948 gelte nicht bei Wahl von Koadjutoren mit Nachfolgerecht; eine solche unterliege der freien Entscheidung des Papstes: «Il privilegio … non può estendersi a quella del Coadiutore con diritto di successione, la cui designazione rimane pertanto alla libera decisione della Santa Sede.» Dieser Brief ist als Vorbereitung zu der noch im selben Jahr erfolgten Koadjutorenernennung zu verstehen. <?page no="358"?> 358 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen --- [1962] Johannes Vonderach (1962-1990) Domkustos (1952-1955) Domdekan (1955-1962) Seit 31. Oktober 1957 Weihbischof-Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) von Bischof Caminada Nach dem Tod Caminadas am 18. Januar 1962 übernahm Vonderach die Jurisdiktion am 22.-Januar 1962. 1973 Dezember 10 [bischöfliche Approbation am 1. Januar 1974] Statuten des Churer Domkapitels § 11: «Dem Generalkapitel steht die Wahl des Bischofs zu. Diese wird aus einem Dreiervorschlag getroffen, der von Rom dem Domkapitel unterbreitet werden muss.» «Das Domkapitel reicht ab Inkrafttreten dieser Statuten dem Bischof einen Dreiervorschlag ein, der alle zwei Jahre neu zu überprüfen resp. zu ergänzen ist.» In den Statuten wird mit keinem Wort Bezug auf das 1948 erteilte Privileg genommen. Die Übergabe von Vorschlägen ist legitim, jedoch für Rom gemäss «Etsi salva» weder vorgesehen, geschweige denn bindend. 1983 Codex iuris Canonici • Bischöfe: Can. 377 § 1: «Der Papst ernennt die Bischöfe frei oder bestätigt die rechtmässig Gewählten.» • Allgemeine Normen: Can. 4 «Wohlerworbene Rechte und ebenso Privilegien, die vom Apostolischen Stuhl bislang physischen oder juristischen Personen gewährt wurden, in Gebrauch sind und nicht widerrufen wurden, bleiben unangetastet, es sei denn, dass sie durch die Canones dieses Codex ausdrücklich widerrufen werden.» Churer Privileg von 1948 bleibt also weiter in Kraft. <?page no="359"?> 359 3. Zum Churer «Bischofswahlrecht» seit 1806: Zwischen gewohnheitsmässigem Verfahren und … Rahmenbedingungen Wahltermin Gewählte / ernannte Person Bemerkungen 1986 Juni 2 [bischöfliche Approbation am 1. November 1986] Statuten des Churer Domkapitels Art. 14 / 1: «Das Generalkapitel hat aufgrund des Dekrets der Konsistorialkongregation vom 28.-Juni 1948 das Recht der Bischofswahl. Diese erfolgt aus einem Dreiervorschlag, der vom Apostolischen Stuhl dem Domkapitel unterbreitet wird.» Art. 14 / 2: «Bei Eintritt einer Sedisvakanz legt das Generalkapitel der Apostolischen Nuntiatur eine Liste von wenigstens drei für das Bischofsamt besonders geeignete Priestern vor.» Das Churer Domkapitel hat aufgrund des Dekrets «Etsi salva» keineswegs das Recht der Bischofswahl, sondern lediglich das Privileg dazu. Das Dekret spricht dem Generalkapitel nirgends das Recht zu, eine Kandidatenliste vorzulegen (Art. 14/ 2 müsste ersatzlos gestrichen werden). --- [1990] Wolfgang Haas (1990-1997) Domsextar (1986-1990) Seit 25. März 1988 Weihbischof-Koadjutor (mit dem Recht der Nachfolge) von Bischof Vonderach Nach der Resignation Vonderachs am 22. Mai 1990 übernahm Haas die Jurisdiktion (bis 1997/ 98) 1998 Juni 9 Amédée Grab OSB (1998-2007) 1995-1998 Bischof von Lausanne-Genf- Fribourg Durch das Domkapitel erstmals nach dem Wahlprivileg von 1948 aus einer von Rom vorgelegten Dreierliste gewählt Päpstliche Konfirmation am 12. Juni 1998, Amtsübernahme am 23. August 1998 2007 Juli 6 Vitus Huonder (seit 2007) Domkustos (1990-2003) Domkantor (2003-2005) Domscholastikus (2005-2007) Durch das Domkapitel im 3. Wahlgang nach dem Wahlprivileg von 1948 aus einer von Rom vorgelegten Dreierliste gewählt Päpstliche Konfirmation am 8. Juli 2007, Amtsübernahme am 16. September 2007 <?page no="360"?> 360 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Domkapitel Chur Das Residentialkapitel und seine Mitglieder im 20 ./ 21 Jahrhundert (nach Dignitäten) Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar (in alphabetischer Reihenfolge) Pfründe frei vom Papst bzw. Bischof besetzt Vakanzen: 2011-2012 jeweils vom Generalkapitel gewählt gleichzeitig Vizedekan Vakanzen: 1946-1952 2013-2014 Sextarie definitiv seit 1655 Vakanzen: 1961-1967 2005-2008 Bonnemain, Joseph Maria seit 2007 2005-2007 2003-2005 Bühler, Gion-Luzi seit 2014 Bünter, Josef Anton Alois 1951-1960 + Burch, Gregor 1979-1985 (resigniert) 1975-1979 Camathias, Fidel Johann 1964-1973 + Caminada, Christian Josef 1932-1941 (Bf.) 1919-1932 Capaul, Johann Paul Martin 1945-1954 + 4. Zusammensetzung des Residentialkapitels im 20./ 21. Jahrhundert <?page no="361"?> 361 4. Zusammensetzung des Residentialkapitels im 20./ 21. Jahrhundert Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar Casetti, Christoph seit 2012 2007-2012 2005-2007 2003-2005 1992-2003 Cavelti, Johann Rudolf [siehe auch 19. Jh.] 1898-1918 + Deflorin, Johann Fidel 1922-1932 + Eichhorn, Harald 2007-2013 (resigniert) Fuchs, Andreas seit 2012 Furrer, Josef Ambrosius 1975-1984 + 1973-1975 1971-1973 Guiliani, Sergio Roberto 1971-1980 (resigniert) 1955-1971 Grichting, Martin seit 2012 2008-2012 Haas, Wolfgang 1986-1990 (Bf.) Huonder, Vitus 2005-2007 (Bf.) 2003-2005 1990-2003 Kind, Franz Josef [siehe auch 19.-Jh.] 1898-1911 + Laim, Vincenz 1912-1928 + 1905-1912 Lanfranchi, Emilio Pietro Silvio 1932-1944 + 1921-1932 <?page no="362"?> 362 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar Lanfranchi, Leone 1989-2005 + 1985-1989 1980-1985 Loretz, Hieronymus [siehe auch 19. Jh.] 1921 + 1897-1921 1890-1897 Lurati, Aurelio 1992-2011 + 1990-1992 Monn, Christian 1980-1989 (resigniert) 1973-1980 Niederberger, Walter seit 2005 1986-2005 Pelican, Gion Giusep 1985-1992 + 1971-1985 1967-1971 Prinz, Robert 1942-1946 + Rossi, Hans 1980-2002 (resigniert) Scheuber, Karl 1962-1979 + Simonet, Johann Jakob 1921-1947 + Soliva, Jakob Ludwig 1963-1974 + 1961-1963 1948-1961 Tamò, Ulisse Fortunato Vittore 1944-1950 + 1934-1944 1932-1934 Tuena, Giuseppe 1962-1971 (resigniert) 1955-1962 <?page no="363"?> 363 4. Zusammensetzung des Residentialkapitels im 20./ 21. Jahrhundert Name, Vorname[n] Dompropst Domdekan Domscholastikus Domkantor Domkustos Domsextar Tuor, Christian Modest [siehe auch 19. Jh.] 1898-1912 + 1893-1898 Vasella, Giovanni Domenico Leone 1919-1921 + 1912-1919 Venzin, Johann Benedikt 1942-1955 + 1932-1942 Vincenz, Laurenz Matthias 1928-1932 (Bf.) 1921-1928 Vogt, Basilius 1928-1934 + Vonderach, Johannes 1955-1962 (Bf.) 1952-1955 Willi, Gaudenz [siehe auch 19. Jh.] 1897-1920 + 1889-1897 1887-1889 Willi, Johann Anton 1950-1963 + 1934-1950 <?page no="364"?> 364 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Abb. 267: Die im Laufe des 19. und 20./ 21. Jahrhunderts in Gebrauch gestandenen bzw. stehenden Brustkreuze der Churer Domherren (Emailverziertes mit Vorder- und Rückseite) [Foto: A. Fischer] <?page no="365"?> 365 5. Exkurs: Spätgotische Trinkstube des Churer Domkapitels - die Hofkellerei 5. Exkurs: Spätgotische Trinkstube des Churer Domkapitels - die Hofkellerei Die wahrscheinlich erste Erwähnung der «Hofkellerei» findet sich im sog. Urbar E [um 1376], einem handschriftlichen Verzeichnis mit Aufzählung der bischöflichen Besitztümer in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts während der Amtszeit des Churer Bischofs Johannes II. (Ministri) von Ehingen (1376-1388). So gehörte auch eine Hofstatt «an des schulherrn seligen hus uff dem hoff, by der trinckstuben» zum Hochstift. Diese Trinkstube, oder auch Chorherren-Trinkstube genannt, befindet sich im Tor- oder Hofturm beim damaligen einzigen Aufgang zum Hof; sie diente als öffentliches Wirtslokal zum Ausschank der Weine aus den bischöflichen Domainen. In einer solchen Weinschenke spielten sich dann und wann auch «handgreifliche» Szenen ab, von denen uns aus dem Jahre 1499 ein Chronist folgende Begebenheit schildert: «Jtem an Sannt Jacobtag apostoli 99 [25. Juli 1499] vff der herren stuben ze Chur waren min herren sufragani aebtt zu Sannt Lutzi vnd Churwalden, item tuomtechan, vil thuomherren vnd guot xellen, vnder denen ich och was, wurden her Hans Laesser [Domherr, Domkustos 1503-1507] vnd Hainrich Satler im bret spilende unains vmb ain denar. Was vnd wie sich die wortt geben habenn, wais ich nit, dann das Hainrich Satler her Hansen einen multaeschen gab. Do saß her Donat Jter [Domkustos (1495-1503), zwischen 1505 und 1526 Domdekan] darnebennt vnd gab dem Satler och ain mulstraich vnd wust der Satler uf vnd der custer uff den banck vnd zuckt von leder, vnd waer maister Joerg Tischmacher nit xin, der custer hett im der grind zerspaltenn. Do vielennt herren vnd xellen zuo vnd machten frid vnd namen trostung.» Aber nicht nur der fröhlichen Geselligkeit bei Spiel und gehöriger Weinkonsumation diente die Trinkstube, sondern das Turmlokal war bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts hinein auch Versammlungsort der Abgesandten des Gotteshausbundes, dessen Haupt bekanntlich der Churer Bischof war. Die im Churer Stadtarchiv leider nur lückenhaft überlieferten Abschiede des Gotteshausbundes titeln zum Beispiel für das Jahr 1541: «Ratschlag gemeines Gotthus Cur, so uff der Herren Trinkstuben den dritten tag Octobris versambt gewesen, Anno 1541». Sicher noch bis 1549 ergingen durch den bischöflichen Hofmeister die Einladungen zu den Bundstagen. Es ist anzunehmen, dass ein Wechsel des Sitzungslokals erst mit dem Übergang des Vorsitzes vom Bischof auf den Churer Bürgermeister eintrat. Im ersten Obergeschoss kann der Gast heute noch an der geschraubten Fenstersäule gegen Westen das Datum 1522 und ein Steinmetzzeichen eingeritzt erkennen. Nach den Stadtrechnungsbüchern führten 1530 die beiden Tischmacher Veit Frell und Gili von Schams «uff der Trinkstuben» länger dauernde Arbeiten aus; möglicherweise handelt es sich dabei um die Einpassung der neuen spätgotischen Holzdecke mit gerundeten Balken, deren Enden mit geschnitzten Herzblättern verziert sind. Jedenfalls fand in den 20er des 16. Jahrhunderts ein Totalumbau der Domherren-Trinkstube statt, indem man noch einen oberen Saal einrichtete (sog. «nüwe Stube», ebenfalls 1522) und diesen mit einer spätgotischen Netzdecke aus Holz mit schlusssteinartigen Rosetten ausstattete. In diesem Raum finden heute die zweimal im Jahr stattfindeten Generalkapitel aller 24 Churer <?page no="366"?> 366 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Domherren statt. Da sich im 1. Stock das Wappen der von Marmels findet, darf ein besonderes Interesse an einem Umbau bzw. Ausbau der Trinkstube im Tortum durch diese Familie angenommen werden; von 1471 bis 1504 amtete Conradin von Marmels als Domdekan (gest. vor dem 8. Oktober 1507). Abb. 268: Ansicht vom Hof mit Torturm und Hofsteig (Anfang des 20. Jahrhunderts) [BAC.BA] Abb. 269: Fünf Wappen von Bündner Geschlechtern, welche in einem engen Lehensverhältnis mit dem Bistum Chur standen [Foto: A. Fischer] <?page no="367"?> 367 5. Exkurs: Spätgotische Trinkstube des Churer Domkapitels - die Hofkellerei Nächste grössere Umbauten sind dann erst 1909 unter dem ursprünglich aus Mailand stammenden Architekten Alfred Chiodera (1850-1916) zu verzeichnen (u.a. Einsetzung des heute noch vorhandenen Wandgetäfers). Dabei entdeckte man an den gegen die Stadt weisenden Aussenwänden diverse Wappenmalereien, von denen heute fünf - nachträglich an der Westfront aufgemalt - zu sehen sind: die Wappen der Freiherren von Sax, Montfort-Feldkirch, von Marmels, der Herren von Rhäzüns und der Freiherren von Vaz [vgl. Abb. 269 (von links nach rechts)], also von Geschlechtern in Bünden, welche in einem engen Lehensverhältnis zum Hochstift bzw. Bistum Chur gestanden hattten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis hinein ins 19. Jahrhundert scheint der Betrieb der Hofkellerei der Dommessmer quasi im Nebenamt geleitet zu haben. Zwischen 1787 und 1797 musste die Schenke eingestellt oder zumindest «gänzlich vernachlässigt» worden sein, denn das Protokoll des Domkapitels hält am 27. Mai 1797 fest, Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein verlange die Wiederinbetriebnahme der «Messmereiwirtschaft» in der Hofkellerei. Die Kanzlei hält im Namen des Bischofs fest: «Der Nutzen und die Nothwendigkeit eines wohleingerichteten Wirthshauses auf diesseitigem Hofe ist auf moralische Grundsätze gegründet. Es giebt vielerley Anläße, daß catholische Landleute und Fremde von Geschäfften in die hiesige Stadt gerufen werden, die aus Mangel eines catholischen Wirtshauses ihre Einkehr bey den Protestanten nehmen müssen, wo sie sich besonders an Fasttägen in der verfänglichen Alternative befinden, oder um ihr theures Geld schlecht bedient zu werden, oder gegen die Pflichten der Religion zu handeln. Und wem sind die Beschwernisse unbekannt, womit die von Zeit zu Zeit hieherkommende Ordinandi in anständige Orte untergebracht werden müssen, denen weder Beruf, weder die Absicht ihrer Anwesenheit, weder der Wohlstand gestatten, in der Stadt zu logiren? Wie viele catholische Handwerksleute und Abb. 270: Ansicht des Hofturms mit Hofsteig (heute). Über den Wappen: spätgotische Trinkstube, 2. Etage: sog. «newe Stube» [Foto: A. Fischer] <?page no="368"?> 368 IX. Das Churer Domkapitel seit dem 19. Jahrhundert: Funktion - Mitglieder - Aufgaben Dienstbothen giebt es nicht, die gewohnt sind, an Son- und Feyertägen in einem gesellschaftlichen Kreise bey einem Glas Wein sich von den mühevollen Arbeiten der ganzen Woche zu erholen? Und wie viele Unanständigkeiten und Versäumnisse der nachmittägigen Gottesdienste könten vermieden bleiben, wenn zu diesen Erholungen eine anständige Gelegenheit auf dem Hofe wäre? Wie aber die damalige Wirtschafft in der Messmerey beschaffen, ist zu allgemein bekannt, als daß sie einer Erwähnung bedürfte; der wirkliche Messmer scheint weder geneigt, weder geeigenschafftet zu seyn, um die angeführten heilsamen Absichten erfüllen zu können. Und darin liegt der Bewöggrund, der Seine Hochfürstlichen Gnaden bewogen hat, an das Hochwürdige Domkapitel die Insinuation ergehen zu lassen, daß auf Wiederherstellung und angemessene Einrichtung der Wirtschafft in der Messmerey zweckmässiger Bedacht genommen werden möchte.» Das Residentialkapitel überlegte im Falle der wenigen Eignung des damaligen Dommesmers Franz Crufer, die Wirtschaft auf Zeit in andere geschicklichere Hände zu legen. Als am 2. Juni 1797 Crufer einwilligte, die Sache mit neuem Eifer in seine Hand zu nehmen, blieb die Wirtschaftsführung einstweilen unverändert. Erst ab 1839 (bis heute) finden wir Wirtepächter, die nicht mehr mit dem Amt des Dommesmer verknüpft wurden. Abb. 271: Blick in die «untere Stube» der Hofkellerei [BAC.BA] <?page no="369"?> 369 5. Exkurs: Spätgotische Trinkstube des Churer Domkapitels - die Hofkellerei 1839-1846 Hofkellereiwirt [Vorname? ] Pradella 1846-1847 vakant 1848-1861 Johann Baptist Durgiai 1861-1867 Carl Riederer 1867-1883 Peter Zarn 1884 Juni-Dezember Hofkellereiwirt [Vorname? ] Pirovino 1885-1890 Hofkellereiwirt [Vorname? ] Moosberger 1890-1897 vakant 1892 Umbauten in der Hofkellerei 1894 Einbau des elektrischen Lichtes in der Hofkellerei 1897-1906 Vermietung an den «Gesellenverein» 1906-1915 Vermietung an den sog. «Hausverein» 1915-1916 Vertrag mit Versicherungsagent [Vorname? ] Berther 1916-1935 Nikolaus Calivers 1935-1940 (? ) Vermietung in Pacht an das Wirtepaar Camenisch-Lang, untervermitetet an Hermann Mannhardt 1940- [? ] Vermietung in Pacht an das Wirtepaar Näscher-Stütz [? ] - 1966 Vermietung in Pacht an Frau Hilda Locher seit April 1966 Vermietung in Pacht an Frau Frida Beccarelli <?page no="371"?> 371 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 1. Rückblick auf die Zeit vor 1807 Im schriftlich verfassten Ad-Limina-Bericht aus dem Jahre 1607 über den Zustand des Bistums Chur zwischen Reformation und Katholischer Reform hielt der bischöfliche Prokurator und Augustinerchorherr Zacharias Furtenbach fest, der (jährliche) Gesamtbedarf von Alumnen für Rätien liege bei 15, um später die Seelsorge in den einzelnen Talschaften gewährleisten zu können. Doch in Anbetracht der hohen Schulden, welche Hochstift und Bistum seit der Reformation bedrückten, sei eine «hauseigene» Seminargründung nach den Vorgaben des Konzils von Trient (1545-1563) ohne massgebliche externe Hilfe nicht möglich. Die Hilfestellung von aussen bestand bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Bereitstellung bzw. (Mit-)Finanzierung von Studienfreiplätzen für Churer Priesteramtskandidaten an Bildungsinstitutionen ausserhalb des Sprengels Chur südlich und nördlich der Alpen, so am Collegio Elvetico in Mailand, am Collegio Germanico in Rom, am Kolleg St. Hieronymus in Dillingen oder am Wiener Kolleg St. Barbara. Erst 1649 gelang nach zähem Ringen in der Stadt Feldkirch eine Niederlassung der Jesuiten und der damit verbundene Aufbau eines Gymnasiums, welches ab 1663 zusätzlich und explizit für diözesane Alumnen einen zweijährigen «Pastoralkurs» in Moral- und Kontroverstheologie sowie kanonischem Recht anbot. Ursprünglich als Lehrplan zur Ausbildung ordenseigenen Nachwuchses geschaffen, erwuchs der jesuitische Studiengang - normalerweise fünf oder sechs Jahre Gymansium und zwei Jahre «Kasuistik» - nicht nur für das Bistum Chur, sondern für viele andere Diözesen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zur «klassischen» Ausbildungsart des Diözesanklerus und etablierte sich bis zur Aufhebung des Jesuitenordens 1773. Die philosophische und theologische Ausbildung zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert lag also fest in den Händen der Societas Jesu. Erst nach 1773 sahen sich die Diözesen gezwungen, sich wieder vermehrt und zum Teil intensiv um eine eigenständige Ausbildung des Klerus auf Bistumsgebiet zu kümmern - so auch Chur [zur Priesterausbildung nach dem Konzil von Trient siehe Band 1, S. 225-239]. Nach erfolglosen Bemühungen um ein «Priesterhaus» in Feldkirch bzw. in Rankweil oder auf Schloss Rietberg im Domleschg gelang schliesslich 1801 unter Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein in der Stadt Meran die Eröffnung eines solchen Hauses [hierzu Band 1, S. 363-370]. Dank eines umfangreichen Häuserkaufs durch den Churer Dompropst Christian Jakob Fliri (1776-1801) und dessen testamentarisch festgemachten finanziellen Absicherung konnte unter Regens Gottfried Purtscher aus Nauders (1801-1830) [siehe oben, S. 276-279] im September 1801 die neue Institution am Vinschgauer Tor bezogen werden. Zwischen 1801 und 1807 erfuhren daselbst insgesamt 70 Alumnen (pro Studienjahr durchschnittlich 15) im Anschluss an ihre gymnasialen <?page no="372"?> 372 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 und philosophisch-theologischen Studien an einer Hochschule eine vertiefte einbis zweijährige pastoralorientierte Formung vor ihrer Ordination. Folgende Fächer wurden unterrichtet: Dogmatik, Moral, Kasuistik, Pastoral, Katechetik, Liturgie und Choralgesang; daneben standen geistliche Betrachtungen aber auch körperliche Betätigung auf dem Stundenplan. Die überwiegende Zahl der Alumnen stammte aus dem vorarlbergischen und tirolischen Bistumsanteil Walgau und Vinschgau (46), 13 Kleriker kamen aus der bündnerischen Surselva und 7 aus dem Engadin. Dem «Priesterhaus» in Meran und den dortigen Lehrkräften aber fehlte die staatliche Anerkennung seitens der österreichischen bzw. bayerischen Regierung, was zu wachsender Kritik an Leitung und Unterricht und schliesslich am 27. Oktober 1807 per Dekret der bayerischen Landesverwaltung Tirols zur Schliessung der «staatszweckwidrigen» Anstalt führte. Der Professorenschaft verweigerte man jegliche Geldauszahlung; die im beschlagnahmten Häuserkomplex wohnhaft gewesene Leitung musste Ende 1807 Tirol verlassen. Die Verjagten erwartete in Chur zwar ein offenes, aber äusserst renovationsbedürftiges Haus: das ehemalige Prämonstratenserkloster St. Luzi (ca. 1149-1807), welches durch Vereinbarung vom 17. Januar 1806 zwischen dem letzten Abt Nicolaus de Rupe Gyr (1782-1806) und seinen wenigen Konventalen einerseits und dem Vertreter des Bischofs, Gottfried Purtscher, andererseits dem Bistum Chur als künftiges diözesanes Priesterseminar überschrieben wurde (ratifiziert am 22. Mai 1806). Unter Leitung des initiativen Meraner Regens entstand so in unmittelbarer Nachbarschaft des bischöflichen Sitzes das erste diözesane Priesterseminar im eigentlichen Sinn. Abb. 272: Ansicht des ehemaligen Prämonstratenserklosters St. Luzi und der Kathedrale (Aquarell von Johannes Christ, 1807). Zustand vor dem Hofbrand von 1811 [BAC.BA] <?page no="373"?> 373 2. Die Anfangszeit des Priesterseminars St. Luzi unter Regens Gottfried Purtscher bis 1830 2. Die Anfangszeit des Priesterseminars St. Luzi unter Regens Gottfried Purtscher bis 1830 Der 12. November 1807 - Zeitpunkt der Ankunft Purtschers in St. Luzi - gilt als offizieller Gründungstag des Priesterseminars mit Sitz in der Bischofsstadt. Die Räumlichkeiten bedurften dringend einer Renovation. Regens Purtscher, einem genialen Allrounder, ist es zu verdanken, dass das Nötigste noch vor dem verheerenden Hofbrand von 1811, der auch St. Luzi in Schutt und Asche legte [siehe oben, S. 318-322], zusammengetragen werden konnte. Unter seiner Leitung errichtete man nach dem Brand Kirche und Seminar in dem Sinne neu, als Purtscher der städtischen Bestimmung, kein Katholik dürfe in Chur neue Gebäude errichten, geschickt auswich, indem er über der Kirche zwei Stockwerke errichten liess. Die Anzahl der Studenten in Chur ist ab 1808 fassbar und aufgezeichnet in den entsprechenden «Catalogi» für die Jahre 1808 bis 1836 bzw. 1817 bis 1864. Ab 1821 ist eine merkliche Steigerung der Studentenzahlen für die drei Studienjahre - Cursus theologi theoretici I / II und Cursus theologi practici - zu verzeichnen. In der Zeitspanne von 1808 bis zum Tod Purtschers 1830 waren nachweislich 298 Alumnen in St. Luzi eingetragen: Aus Graubünden und dem Fürstentum Liechtenstein (Stammgebiet des Bistums Chur) kamen 81 Studenten [75/ 6] (27,2 %), aus dem Gebiet des Kantons St. Gallen und beider Appenzell (Doppelbistum Chur-St. Gallen) 40 [35/ 5] (13,4 %), aus dem Kanton Schwyz (seit 1824 zu Chur) 33 (11,1 %), aus den ehemaligen Dekanaten Walgau und Vinschgau 40 [12/ 28] Alumnen (13,4 %) und aus den Churer Administrationsgebieten (seit 1819) 86 Studiosi (28,9 %) [Spitzenreiter ist der Kanton Aargau mit 36]. Geweiht wurden gemäss Churer Weihebucheinträgen in der Zeitspanne zwischen 1807/ 08 und 1830 für das Bistum Chur bzw. Doppelbistum Chur-St. Gallen total 251 Priester; 211 davon haben mindestens ein Studienjahr im Seminar St. Luzi zugebracht; man kann also noch nicht von einem ganzheitlich in Chur absolvierten «Theologiestudium» sprechen. Folgende Studienfächer wurden angeboten und nachweislich von folgenden Lehrkräften unterrichtet, von denen wir aber nicht alle Namen zweifelsfrei kennen. Studienfach Lehrkraft Theologia moralis Gottfried Purtscher (1800-1830) Anton Tapfer (zeitweise) Dogmatik (mit Apologetik) Anton Tapfer (1800-1835) Kirchenrecht (mit Kirchengeschichte) Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1817-1843) Exegese AT / NT (erst ab 1819) Anton Tapfer (1819-1835) Philosophie [? ] / zeitweise Anton Tapfer Pastoral und Katechetik [? ] / zeitweise Anton Tapfer Liturgik (v.a. Rubrizistik, d.h. Einübung in die Zelebration) [? ] / zeitweise Gottfried Purtscher Kirchlicher Gesang (Choral) Gottfried Purtscher <?page no="374"?> 374 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 3. Die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Nach 30-jähriger Amtszeit starb Regens Purtscher am 27. Dezember 1830, erst 63 Jahre alt. Seine letzte Ruhestätte fand er wie später auch Anton Tapfer und sein Bruder Michael Tapfer (Ökonom des Seminars) in der 1811 vom Brand verschont gebliebenen St. Anna- Kapelle von St. Luzi. Die Grabinschrift Purtschers rühmt ihn und seine Tätigkeit als unvergleichlich, hebt seine Ergebenheit gegenüber Gott und der Kirche sowie seinen Einsatz im Dienst an den Menschen hervor. In der Tat hatte Purtscher mit grossem Engagement und Zähigkeit trotz widriger politischer Umstände, mancher Rückschläge und ständiger Finanznot Grosses geleistet. Bei seinem Tode waren die 1811 zerstörten Gebäude soweit wiederhergestellt und erweitert, dass sie neben dem Priesterseminar auch noch einem Gymnasium (sog. Knabenseminar) mit einem philosophischen Kurs zur Rekrutierung und Sicherstellung eines ausreichenden Priesternachwuchses Platz boten. Purtschers Lebenswerk war jedoch langfristig nicht gesichert; die Finanzlage blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts angespannt und zwang auch die Nachfolger Purtschers als Regenten zu äusserster Sparsamkeit. Die Wahl Bischofs Karl Rudolf fiel auf Kaspar de Carl ab Hohenbalken aus Tarasp, den späteren Churer Bischof (1844-1859). Seit den Meraner Anfängen stand er als Lehrer für Moraltheologie und Kirchenrecht in enger Verbindung mit dem «seminarium». Als neuer Regens (1831-1844) bemühte er sich, die sinkende Zahl von Alumnen zu bremsen. Der Rückgang der Studentenzahl beruhte auf der religiösen Grosswetterlage der Zeit, wie ein Blick in die Statistik anderer Bistümer im deutschsprachigen Raum zeigt. Trotz dieses Malum erfolgte die Heranbildung und Ausbildung der Churer Alumnen in streng kirchlichem Geist. Neben de Carl als Kirchenrechtsprofessor amtete für Dogmatik nach 1835 (bis 1872) Valentin Willi aus Lantsch/ Lenz; für Philosophie, Liturgik und Exegese wirkte bis 1841 der aus Ems stammende Christian Johann Franz Cresta, der nach seinem frühen Tod (1841) von Anton Fetz aus Rhäzüns abgelöst wurde. Moraltheologie lehrte Nikolaus Franz Florentini aus Müstair (1831-1838) sowie Peter Pradella aus Taufers (1838-1849). Als de Carl als Churer Bischof 1859 starb, hinterliess er testamentarisch die Hälfte seines Vermögens der Churer Kathedrale, die andere Hälfte ging als Zeichen der langjährigen Verbundenheit mit St. Luzi in einen Stipendienfonds für Theologiestudenten aus Graubünden. De Carls Nachfolge in der Leitung des Priesterseminars trat 1844 Valentin Willi an, welcher bereits nach dem Tod Anton Tapfers (1835) als Dogmatikprofessor an der Institution tätig und mit den Problemen und Innenseiten des Seminars bestens vertraut war. Die «Ära Willi» dauerte 30 Jahre (bis 1874). Damit prägte dieser Geistliche wie schon der Gründer Purtscher mehrere Priestergenerationen. Eine Zusammenstellung aller Studentennamen zwischen 1807 und 1908 ergibt, dass unter Regens Willi 424 Seminaristen registriert waren. Aus Graubünden stammten z. B. 79 (18,6 %), aus dem Kanton Schwyz 67 (15,8 %), aus Deutschland kamen 32, und aus dem heutigen Kanton Jura waren interessanterweise 17 Alumnen eingeschrieben, die später alle (in Solothurn) für das Bistum Basel ordiniert wurden. Auf Anregung Willis bestimmte das bischöfliche Ordinariat, dass jeder Priesteramtskandidat wenigstens zwei volle Jahre im diözesaneigenen Seminar zuzubringen hatte. Trotz vieler Bemühungen dauerte es bis zum Studienjahr 1848/ 49, in dem <?page no="375"?> 375 4. Einblick in den Tagesablauf in St. Luzi im 19. Jahrhundert wieder eine ansehnliche Alumnenschar von 27 Studenten zu verzeichnen war. Danach gelang eine dauerhafte Konsolidierung der Zahlen, die trotz Schwankungen von Jahr zu Jahr bis auf einen Spitzenwert von 57 (1873/ 74) anstiegen. Die Alumnen kamen im Wesentlichen aus dem Churer Bistumsgebiet und den vom Churer Bischof administrierten Gebieten der ehemaligen Schweizer Quart des 1821/ 27 untergegangenen Bistums Konstanz. Schwerpunktmässig stammten sie aus Graubünden und der Innerschweiz. Ferner schickte das 1847 errichtete Bistum St. Gallen seine Studenten nach Chur. In der Zeit zwischen 1844 und 1874 wurden 271 Priesterweihen gespendet. Auch Willis Nachfolger stand schon länger im Dienst der Churer Priesterschmiede: Regens Hermenegild Simeon aus Lantsch/ Lenz (1874-1880) lehrte seit 1849 als Professor am Seminar Exegese, Kirchengeschichte, dann Pädagogik und Pastoral und seit 1871 Moraltheologie. Auf Ersuchen Simeons kamen 1878 die ersten Ingenbohler Schwestern nach St. Luzi und blieben daselbst bis 1994. Nach dem Wegzug der Kapuziner 1880 legte Simeon alle Ämter in St. Luzi nieder und übernahm als Churer Domkustos die vakant gewordene Seelsorge an der Kathedrale [siehe oben, S. 327-340]. Zusammen mit der Regentie von Thomas Anton Huonder aus Disentis (1880-1898), unter dessen Leitung das Studium auf vier Jahre ausgeweitet wurde (3 Jahre Cursus theologi theoretici I-III, 1-Jahr Cursus theologi practici), durchliefen zwischen 1875 und Ende des 19. Jahrhunderts weitere 337 Alumnen St. Luzi: aus den Kantonen Graubünden 64, Schwyz 62, Uri 30, St. Gallen 48, aus Deutschland 47. Von den 215 Ordinierten figurierten ferner 15 Studenten am Churer Seminar (aus dem Bistum Chur, aus Deutschland, Polen und Tschechien), welche sich als Missionare in die USA senden und sich als Geistliche für amerikanische Diözesen in Chur weihen liessen. 4. Einblick in den Tagesablauf in St. Luzi im 19. Jahrhundert In St. Luzi waren der Tagesablauf und die Lebensordnung der Alumnen durch den «Ordo diurnus in Seminario Clericali ad S. Lucium», wovon zwei nahezu identische Druckfassungen greifbar sind, die, zwar undatiert, wohl aus den 1820er bzw. 1840er Jahre stammten, Abb. 273 / 274: Ansichten des Priesterseminars St. Luzi nach 1890 (links) und Anfang des 20. Jahrhunderts (rechts) [BAC.BA] <?page no="376"?> 376 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 streng reglementiert. Diese Ordnung wurde von Bischof Kaspar de Carl von Hohenbalken 1854 nochmals ergänzt und 1872 unter Bischof Nikolaus Franz Florentini gedruckt. Nach diesen Dokumenten gestaltete sich der Tagesablauf, welcher mit Gebet, geistlichen Übungen und Studium reichlich ausgefüllt war, wie folgt: Zeit Tätigkeit 4.30 Uhr Aufstehen 5.00 Uhr Morgengebet im Oratorium, anschliessend hl. Messe 5.50 Uhr Studium 6.30 Uhr Chorgebet in der Kathedrale bzw. Breviergebet im Oratorium anschliessend Frühstück 9.30 Uhr Brevierhore in der Kathedrale bzw. im Oratorium 10.00 Uhr Studium 11.00 Uhr Angelusgebet mit Gewissenserforschung im Oratorium 11.10 Uhr Mittagessen (mit Tischlesung [NT / Kirchengeschichte]) 12.00 Uhr Gemeinsamer Spaziergang (Mo-Fr) Grundsätzlich galt: Ohne Genehmigung durfte niemand das Haus verlassen oder in den Garten gehen. 13.00 Uhr Studium 14.15 Uhr Chorgebet anschliessend wieder Studium [Interessanterweise war das Tragen einer Brille (ausser fürs Lesen) untersagt.] 18.00 Uhr Abendessen (mit Tischlesung [AT / asketische Literatur]) anschliessend Kolloquium 19.15 Uhr Kasuistik, Liturgik 20.00 Uhr Rosenkranz, Vesper, dann Gewissenserforschung und Lesung aus Heiligenviten 22.00 Uhr Nachtruhe [Das Betreten des Zimmers eines Mitstudenten war streng untersagt.] 5. Die Zeit bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil Der Übergang von 19. in das 20. Jahrhundert wurde in St. Luzi wiederum von einer geistlichen Persönlichkeit stark geprägt: Professor, Regens und Weihbischof Anton Gisler aus Bürglen/ UR, welcher innerkirchlich als Dogmatiker und eifriger Publizist u.a. im Kampf gegen den «Modernismus» in Erscheinung trat. Als brilianter (Fest-)Redner und <?page no="377"?> 377 6. Die Zeit während und nach dem Konzil geschulter Rhetoriker verkörperte er grosse Autorität [siehe oben, S. 289-292]. Gisler betätigte sich auch hochschulpolitisch, indem er sich 1903 - keinesfalls zur Freude der Fraktion in Fribourg - für den Ausbau der theologischen Lehranstalt in Luzern zu einer Theologischen Fakultät einsetzte. Eine bald im Raum stehende Berufung, selbst nach Luzern zu wechseln, unterband Bischof Georgius Schmid von Grüneck. Auf Gisler folgte 1931 bis 1938 Regens Eduard Holdener aus Oberiberg/ SZ, dessen Wirksamkeit von internen Querelen so stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass schliesslich Papst Pius XI. über den Churer Bischof Laurenz Matthias Vincenz hinweg den Leiter des Seminars absetzte; menschlich gebrochen und gesundheitlich stark angeschlagen, starb Holdener 1950 mit erst 57 Jahren in Unterägeri/ ZG. Nach einer kurzen Regentie unter Albert Lussi (1938-1941) übernahm Josef Scheuber bis 1960 die Leitung des Priesterseminars St. Luzi. 1943 wurde das Philosophie- und Theologiestudium von vier auf fünf Jahre erhöht (galt ab 1944). Die Seminaristen wurden zwar bis Ende der 1950er Jahre nach Abschluss des vierten Kurses zu Priestern ordiniert, verblieben dann aber noch ein Jahr für pastoralorientierte Weiterbildung im Haus; erst ab 1959 spendete der Churer Bischof die Weihen im laufenden 5. Studienjahr (um Ostern). Der klerikale Nachwuchs erreichte im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts seinen Kulminationspunkt. Die stärksten Studienjahrgänge seit 1807 waren 1918/ 19 mit 79, gefolgt von 1939/ 40 mit 77 und 1960/ 61 mit nochmals 76 Alumnen. Nach Errichtung des Florinbaus 1898/ 99, weiteren z. T. sehr grosszügigen Erweiterungsplänen 1917/ 20 gelangen unter Regens Holdener die Renovation der Westfassade des Kirchentraktes, die Errichtung des heutigen Glockenturms und Otmartrakts sowie umfangreiche Sanierungsarbeiten im Seminargebäude; 1951/ 52 konnte dann auch die Restaurierung der Seminarkirche St. Luzi in Angriff genommen werden. 6. Die Zeit während und nach dem Konzil Ein Abbild der durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) initierten Aufbruchstimmung stellt - quasi als wichtige Vorarbeit zur 1968 erfolgten Errichtung der Theologischen Hochschule - der Neubau des Hochschultrakts mit Aula, Hörsälen und bescheidenen Appartements für Professoren dar (1963-1965). Im Lehrbetrieb war wohl nach Gisler wiederum ein Dogmatiker, Professor Johannes Feiner aus Zürich (1938-1965), die prägende Gestalt für künftige Theologen. Ansätze Karl Rahners wurden durch ihn gerne aufgenommen und vermittelt; theologische Impulse für die einsetzende ökumenische Ausrichtung bezog Feiner von Karl Barth (1886-1968) und Emil Brunner (1889-1966). Die überraschende Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959) wurde alsbald auch für Feiner persönlich zu seiner grossen Stunde. 1960 wurde er zum Konsultor des römischen «Sekretariats für die Einheit der Christen» unter der Leitung des Kurienkardinals P. Augustin Bea SJ (1959-1968) berufen. So wurde das Konzil Feiners grosses Betätigungsfeld und seine Leidenschaft. An allen Sessionen war er in Rom präsent. Zum «Dekret über den Ökumenismus» schrieb er den offiziellen Kommentar; ferner wirkte er bei der «Erklärung über die Religionsfreiheit» und bei der «Erklärung über die nichtchristlichen Religionen» aktiv mit. <?page no="378"?> 378 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 Johannes Feiner, eigentlich aus Kisslegg (Allgäu) stammend, liess sich nach Ende des Konzils in seiner Geburtsstadt Zürich nieder, wo er 1985 nicht nur starb, sondern zwischen 1966 und 1971 die 1962 gegründete Paulus Akademie leitete. Bereits vor dem Konzil stand bei Johannes Feiner ferner das Konzept für ein gross angelegtes umfassendes Werk, eine moderne «Summa Theologicae». Dieses monumentale, über 6'000 Seiten starke «Mysterium Salutis» [MySal] erschien 1965-1981 unter massgeblicher Mitarbeit von P. Magnus Löhrer OSB (Einsiedeln), welcher später selbst als Gastprofessor zwischen 1973 und 1999 an der THC wirken sollte. Abb. 275: Johannes Feiner (1909-1985), Professor für Dogmatik am Seminar St. Luzi (1938-1965) [BAC.BA] Alojzij Šuštar, im deutschsprachigen Raum Alois Sustar geschrieben, wurde am 14. November 1920 in Grmada, Občina Trebnje, im damaligen Königreich Serbien, Kroatien und Slowenien, geboren. Seine theologischen Studien absolvierte er nach der Okkupation seiner Heimat in Rom, wo er auch 1946 zum Priester geweiht wurde. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit verbrachte Sustar Kuraufenthalte in Davos, was zur Kontaktnahme und bald zu einer engen Beziehung mit dem Bistum Chur führte. 1949-1951 wirkte Sustar als Vikar in St. Moritz im Engadin, 1951- 1959 als Lehrer für Philosophie und Religion am Kollegium Maria Hilf in Schwyz, 1959- 1963 daselbst als Spiritual. 1963 übernahm er die Nachfolge Franz Böckles als Professor für Moraltheologie am Priesterseminar St. Luzi in Chur. Hoch engagiert wirkte er in diversen kirchlichen Gremien des Bistums Chur (Priesterrat, Seelsorgerat, Synode 72); ab 1977 wieder in seiner Heimatdiözese Ljubljana tätig (Domkapitular), wurde Sustar 1980 von Papst Johannes Paul II. (1978-2005) zum Erzbischof des Metropolitansitzes Ljubljana ernannt. 1997 nahm der Papst den bereits 1995 eingereichten Rücktritt an. Am 29. Juni 2007 verstarb Sustar in Ljubjana. Abb. 276: Alois Sustar, Professor (1963-1968), Regens (1965-1968), erster Rektor der THC (1968), Bischofsvikar (1968-1980) und Erzbischof von Ljubljana (1980-1997) [BAC.BA] <?page no="379"?> 379 6. Die Zeit während und nach dem Konzil Die Zeit zwischen Ankündigung und Eröffnung des Konzils weckte auch in St. Luzi viele Erwartungen. Albert Gasser schreibt: «Es war nicht eigentlich Neues, was im Vorfeld in unzähligen Publikationen angekündigt, erläutert und erhofft wurde und das Konzil dann vielfach erbrachte, sondern eine Bestätigung des theologischen Kurses, den das Priesterseminar in Dogmatik, Moraltheologie und biblischer Exegese bereits eingeschlagen hatte.» Die Studentenschaft, zu denen damals auch Gasser zählte (ord. 1966), war «längst für diese Themen sensibilisiert» und wartete «sehnlichst auf einen allgemeinen Durchbruch der Theologie unter dem Zeichen der Heilsgeschichte und einer Ekklesiologie, welche die Kirche als ‹wanderndes Gottesvolk› verstand». Für die theologische ‹Inszenen- Setzung› der Churer Lehranstalt über dem bischöflichen Hof zählten nicht zuletzt die bereits 1954 gegründeten «Theologischen Kurse für Laien» (TKL) [heute: Kurse, angeboten vom Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut TBI, Zürich], die lange Zeit unter der Federführung Feiners standen. Aus der ‹theologischen› Provinz vollends herausgehoben, hatte Johannes Feiner seine Churer Wirkstätte noch vor seiner konzilaren Tätigkeit in Rom mit der Herausgabe des Sammelbandes mit dem Titel «Fragen der Theologie heute» (erschienen 1957). Bereits nach Konzilsabschluss gab es in St.Luzi unter der Leitung des Regens Alois Sustar (1965-1968) gewissene Neuerungen: die Soutanenpflicht wurde ab- Josef Pfammatter (1926-2007) wuchs in Sarnen/ OW auf. Nach dem Abitur am Kollegium Sarnen (1946) studierte er Philosophie und Theologie in Chur, ordiniert 1950. Parallel zu seiner pastoralen Arbeit in Zürich verfolgte er weitere Studien an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Zürich, ab 1955 am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom und an der Ecole biblique et archéologique française in Jerusalem. 1960 promovierte Pfammatter an der Universität Gregoriana zum Dr. theol. Bereits 1959 berief man den Bibelwissenschaftler nach Chur, wo er bis 1994 die Entwicklung von St. Luzi als Seminar und Theologische Hochschule prägen sollte. Am 22. November 2007 starb er in Stans/ NW. Pfammatter war einer der Exegeten, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Auftrag der deutschsprachigen Bischöfe die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift erarbeiteten. Zudem war er Initiator und Mitherausgeber der seit 1972 erscheinenden «Theologischen Berichte». Zusammen mit Sustar engagierte sich Pfammatter auch in der seelsorglichen Aus- und Weiterbildung sowie der kirchlichen Erwachenenbildung. Abb. 277: Josef Pfammatter, Professor für Neues Testament (1959-1994) sowie Regens (1968-1980) und Rektor der THC (1968- 1970) [BAC.BA] <?page no="380"?> 380 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 geschafft und den Studenten erstmals in der Churer Seminargeschichte ein Hausschlüssel ausgehändigt sowie freier Ausgang gewährt; Sustar und sein Nachfolger, Josef Pfammatter (1968-1980), langjähriger Professor für Neues Testament (1959-1994), hatten die nicht leichte Aufgabe, das Priesterseminar St. Luzi bei zunehmend sinkenden Zahlen von Kandidaten [unter Sustar: 49 (1965-1968), unter Pfammatter: 57 Ordinationen (1969-1980)] in der nachkonzilären Zeit zu führen. 7. Die Errichtung der Theologischen Hochschule Chur (THC) 1968 a) Verunsicherungen: Churer Studienort auf dem Prüfstand Wie Regens Alois Sustar in seiner Botschaft zum Seminaropfer am Dreifaltigkeitssonntag vom 9. Juni 1968 festhält, war im Jahr 1967 im Zuge einer angedachten Zusammenarbeit mit dem Seminar Schöneck (Emmetten) der Missionsgesellschaft Bethelehm in Immensee/ SZ in der Öffentlichkeit wiederholt die Rede von einer teilweisen Verlegung der philosophisch-theologischen Ausbildung von Chur nach Zürich. Die Aufgabe des Priesterseminars St. Luzi stand zwar nicht zur Debatte, jedoch diskutierte man ein mögliches Teilstudium in Theologie in der Stadt Zürich. Da die Leitung der Missionsgesellschaft dann aber verbindliche Verhandlungen mit Luzern aufgenommen hatte, war die Frage (vorerst) vom Tisch, hingegen «das äusserst vielschichtige Problem der theologischen Schulen in der deutschsprachigen Schweiz dadurch allerdings nicht endgültig gelöst». Sustar betont, es gehe darum, «den besten Weg für das Bistum und für das Priesterseminar zu finden, wenn irgendwie möglich, im Rahmen einer gesamtschweizerischen Lösung». Die «Immenseeer»-Lösungssuche führte zeitweilig nicht nur zu hitzigen Debatten, sondern im Zuge der Überprüfung der Frage, ob zusammen mit Chur in Zürich einem «scheinbar utopischen Plan», nämlich der Gründung einer eigenen katholischtheologischen Hochschule, eine veritable Chance eingeräumt werden könnte, in Chur zu einer von Bischof Johannes Vonderach einberufenen Sitzung des Priesterrates - übrigens zum ersten Mal in dessen Bestehen. Im Hinblick auf die weitreichenden Folgen einer eventuellen Verlegung der Ausbildung aus dem Churer Seminar traf sich am 12. Februar 1968 in der neu erstellten Aula des Pristerseminars St. Luzi der diözesane Rat; eingeladen waren zudem alle Domherren, die bischöflichen Kommissare, Vikare und Dekane sowie sämtliche Seminarprofessoren. Nach konkreten Zusicherungen (aus Zürich) zum Projekt «Hochschule Zürich» schien die finanzielle Tragbarkeit machbar. Da jedoch sowohl Bistumsals auch Seminarleitung klar gegen jegliche Zweckentfremdung von St. Luzi mahnend die Argumente vortrugen, entschied die Versammlung schliesslich mit 43 Ja gegen 2 Nein (bei 9 Enthaltungen) im Sinne einer qualifizierten Meinungsäusserung als Beratung des Diözesanbischofs: Der Plan einer theologischen Hochschule in Zürich sei «dringend» weiter zu prüfen. Gegen das Vorgehen einer weiteren Prüfung eines neuen Standortes Zürich stellte sich die Theologische Fakultät Luzern in einem Schreiben vom 6. Februar 1968 an Bischof Vonderach, damals Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (1967-1970). Darin wurde in aller Deutlichkeit unterstrichen, es sei gerade die <?page no="381"?> 381 Bischofskonferenz gewesen, welche Ende September 1967 an die Studienkongregation in Rom gelangt sei mit dem dringenden Ansuchen, der Fakultät Luzern das akademische Promotionsrecht zu verleihen und damit Stellung sowie Ausbau des Standortes in der Zentralschweiz zu stärken. Falls der Plan Zürich in nächster Zukunft verwirklicht werden sollte, dürfte das «den Ausbau und die Entfaltung Luzerns empfindlich hemmen, wenn nicht sogar verunmöglichen». Die das Schreiben unterzeichneten 9 Professoren bezichtigten das gegenwärtige Vorgehen als Bruch gegenüber der Willensbekundung der Bischöfe (1967) vor der römischen Kurie. b) Dekret der Studienkongregation Der Abstimmung vom 12. Februar über das weitere Vorgehen nahm nur zehn Tage später die römische Studienkongregation, die «Sacra Congregatio de Seminariis et Studiorum Universitatibus», seine «Dringlichkeit», in dem die Kongregation per Dekret vom 22. Februar 1968 dem seit 1807 bestehenden Priesterseminar St. Luzi den Titel eines «Institutum superius theologicorum studiorum» verlieh, also die Churer Bildungsstätte in den Rang einer Theologischen Hochschule erhob, welche künftig nach erfolgreich abgeschlossenem Studium den Kandidaten kirchlich anerkannte Diplome ausstellen durfte. Wie aus einem Exposé aus der Feder Sustars vom 12. September 1967 ersichtlich, gedieh der Plan, für das Priesterseminar St. Luzi den Grad einer Theologischen Hochschule anzustreben, bereits im Studienjahr 1966/ 67. Über dieses Vorhaben seien, so Sustar, sowohl die Theologische Fakultät Fribourg, die staatliche Theologische Fakultät Luzern als auch sämtliche Priesterseminare in der Schweiz orientiert worden. Bereits zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Exposés konnte festgehalten werden, dass Bischof Johannes Vonderach inzwischen von der Studienkongregation «die grundsätzliche Zustimmung zur Errichtung der Theologischen Hochschule Chur» erhalten habe; nach Klärung einiger Einzelfragen bestünde die Hoffnung auf die formelle Errichtung. Mit der formellen Errichtung am 22. Februar 1968 wurde der eben noch diskutierte Standort Chur entscheidend gestärkt. Die angedachten Pläne zu einer katholisch-theologischen Schule in Zürich liess man fallen. Mit gleichem Datum erfuhren die von Chur am 12. Dezember 1967 erstellten und von Josef Pfammatter bzw. Alois Sustar unterzeichneten Statuten die kirchliche Approbation. Im Begleitschreiben, welches der damalige 7. Die Errichtung der Theologischen Hochschule Chur (THC) 1968 Am Priesterseminar St. Luzi lehrten im Studienjahr 1967/ 68 zehn hauptamtliche Professoren und zwei Dozenten, ferner drei Lehrbeauftragte für einzelne Kurse. Die 61 eingeschriebenen Theologiestudenten (davon 50 für das Bistum Chur) kamen aus den Kantonen Zürich (22), Graubünden (7), Uri (4), Glarus (4), Schwyz (4), Nidwalden (3), Obwalden (2), Luzern (3), St. Gallen (2), aus dem Fürstentum Liechtenstein (1), aus Appenzell-Innerrhoden (1), Aargau (1), Bern (1), aus Deutschland (1) und aus Indien (2), zudem 3 benediktinische Ordensleute. Erstmals figurierte ein Laientheologe und eine Ordensschwester als ordentliche Hörer/ Innen. <?page no="382"?> 382 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 Vorsteher der Studienkongregation und frühere Erzbischof von Toulouse (1956-1966), Kardinal Gabriel-Marie Garrone (1968-1980), dem Dekret beilegte, geht klar hervor, dass die Erhebung des Seminars zur Theologischen Hochschule nach eingehender Prüfung der aus Chur eingereichten Dokumente erfolgen konnte. Im Hintergrund also und parallel zu den Verhandlungen für ein mögliches neues Standbein in Zürich liefen von Seiten der bischöflichen Kurie und der Professorenschaft in St. Luzi Vorstösse zu dieser am 22. Februar erfolgten und ab dem Fest des hl. Thomas von Aquin (7. März 1968) geltenden Erhebung zur Hochschule. Bischof Johannes Vonderach verlas am 6. März bei einem gemeinsamen Abendessen mit Professoren und Studenten das Dekret der Studienkongregation und drückte seine Freude darüber aus, dass die Arbeit im Churer Priesterseminar sowie in Lehre und Forschung so auf eine besondere Weise anerkannt und gewürdigt werde. Die Rangerhöhung bringe aber auch die Verpflichtung mit sich, dieser Anerkennung in Zukunft gebührend Rechnung zu tragen. Als ersten Rektor der neuen Hochschule ernannte Vonderach Regens Alois Sustar (1968), welcher nach seiner bald darauf erfolgten Ernennung am 1. Juli zum Bischofsvikar an der Kurie (1968-1976) durch Josef Pfammatter abgelöst wurde (1968-1970). Nach der Proklamation bedankte sich Bischof Vonderach in seinem Brief vom 19. März 1968 auch im Namen des Churer Domkapitels, des Priesterseminars sowie der Priester, Seelsorger und aller anderen interessierten Kreise seiner Diözese bei der Studien- Abb. 278 (links): Schreiben des Vorsitzenden der Studienkongregation, Kardinal Gabriel-Marie Garrone, an den Churer Bischof Johannes Vonderach vom 23. Februar 1968 [BAC (Kopie)] / Abb. 279 (rechts): Dekret vom 22. Februar 1968 zur Errichtung der Theologischen Hochschule Chur [BAC (Kopie)] <?page no="383"?> 383 7. Die Errichtung der Theologischen Hochschule Chur (THC) 1968 kongregation für die Errichtung der Theologischen Hochschule in Chur. Die von Rom gewährte Ehre wisse man auf Ebene der Diözese als auch darüber hinaus, wie dies die spontanen Reaktionen deutlich zeigten, sehr zu schätzen. Man wisse aber auch um die Verpflichtung, alles daran zu setzen, dass die THC immer besser ausgebaut werde. «Das grosse Anliegen meines Priesterseminars und der Theologischen Hochschule Chur wird sein, Priester und Seelsorger heranzubilden, die wissenschaftich, charakterlich und vor allem im übernatürlichen Geist ihrer Sendung und dem Ruf der Zeit entsprechen werden.» («Sarà somma cura del mio seminario e dell’ istituto nuovo di formare sacerdoti e pastori d’anime che per scienza e carattere, e sopratutto nello spirito sopranaturale siano degni della loro missione e all’altezza die tempi»). c) «In aevum vivat, crescat, floreat»: Staatliche Anerkennung der Hochschulabschlüsse seit 1976 Das Begleitschreiben zum Errichtungsdekret von 1968 schloss mit dem Wunsch, die Churer Bildungsinstitution möge leben, wachsen und gedeihen. Zur Festigung dieses Wachstums gehörte nicht zuletzt das von der Bildungskongregation am 31. Oktober 1973 der Theologischen Hochschule Chur verliehene Recht, neben dem Diplom auch den akademischen Grad des Lizentiats in Theologie zu verliehen. Diese kirchlichen Abschlusszeugnisse benötigten ferner die staatliche Anerkennung. Abb. 280: Leitung des Priesterseminars und Lehrkörper an der 1968 errichteten Theologischen Hochschule Chur (aus: «Sodalengruss» 1968, S. 12 f.) [ASL] <?page no="384"?> 384 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 Lehrkörper 1968 [vgl. Abb. 280] 1. Josef Pfammatter, dr. theol. lic. rer. bibl., Regens am Priesterseminar und Rektor seit 1. Juli 1968 (Neutestamentliche Exegese, Biblische Einleitung) 2. Eduard Christen, dr. theol. lic. phil., Subregens am Priesterseminar (Dogmatik, Soziologie, Methodologie) 3. Linus David (Kirchenmusik, Chorgesang, Stimmbildung, Phonetik) 4. Aladár Gajáry, dr. theol. lic. phil. (Dogmatik) 5. Werner Grätzer SJ, lic. theol., lic. phil., Spiritual am Priesterseminar (Theologie des geistlichen Lebens) 6. Alfons Klingel, dr. theol., lic. phil. (Moraltheologie) 7. Dominik Schmidig, dr. phil., lic. theol. (Philosophie) 8. Josef Sievi, dr. theol. lic. bibl. (Alttestamentliche Exegese, Biblische Einleitung, Hebräisch) 9. Raymund Staubli, lic. theol. (Kirchenrecht, Kunstgeschichte) 10. Alfons Thumiger, dr. mus. sacr. (Kirchengeschichte, Patristik) 11. Johannes Feiner, dr. theol., dr. phil., Leiter der Paulus-Akademie in Zürich, Honorarprofessor (Dogmatik) 12. Alois Sustar, dr. theol., lic. phil., erster Rektor der THC (bis 1. Juli 1968), Bischofsvikar, Honorprofessor (Moraltheologie, Moralpsychologie) Dozenten und Lehrbeauftragte 1968 [vgl. Abb. 280] 13. Anton Baumann, dr. theol., dr. iur. can., Regens am Priesterseminar St. Gallen (Pastoraltheologie, Homiletik) 14. Fidel Camathias, Residierender Domherr [Domkantor] (Praktische Katechetik) 15. Margrit Erni, dr. phil., Luzern (Psychologie) 16. Alois Gügler, dr. phil., Leiter des Katechetischen Institiuts Luzern (Theoretische Katechetik) 17. Elisabeth Suenderhauf, dr. med., Chur (savoir-vivre) und Hugo Suenderhauf, dr. med., Chur (Pastoral-medizinische Fragen der menschlichen Geschlechtlichkeit und der Ehemoral) 18. Robert Trottmann, lic. theol., Leiter des Liturgischen Instituts Zürich (Liturgiewissenschaft) In der Folgezeit bemühte sich die Hochschule, deren Leitung (durch den Rektor) 1970 von der Führung des Priesterseminars (in der Person des Regens) abgetrennt worden war, der Lehrkörper als auch das bischöfliche Ordinariat um die von römischen Behörden erwartete staatliche Anerkennung durch den Kanton Graubünden. Die Verwaltungskommission des «Corpus Catholicum» (Katholische Landeskirche von Graubünden) wurde ersucht, mit der Regierung diesbezügliche Verhandlungen aufzunehmen. Die Kommission gelangte nach Absprache mit Bischof Vonderach am 12. Juli 1974 mit einer Delegation der Theologischen Hochschule und des Ordinariats an die Kantonsregierung. Der <?page no="385"?> 385 7. Die Errichtung der Theologischen Hochschule Chur (THC) 1968 Regierungsrat beauftragte hierauf das zuständige Erziehungsdepartement mit weiteren Abklärungen. Ein juristisches Gutachten kam zum positiven Ergebnis, dass der staatlichen Anerkennung nichts im Wege stand, da laut Art. 41 der Kantonsverfassung von 1892 die Oberaufsicht über das gesamte Unterrichtswesen ohnehin dem Staat zukomme. So gelangte am 19. Februar 1976 das Traktandum vor das bündnerische Parlament. Bei der Vorstellung der Vorlage wurde, abgesehen von juristischen Überlegungen, die kulturelle Bedeutung für Stadt, Region und Bistum ins Feld geführt; mit 98 zu 0 Stimmen wurde der Antrag auf Anerkennung einstimmig angenommen - nicht zuletzt ein mutmachendes ökumenisches Zeichen, bedenkt man, dass noch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Stadt und Kanton mit dem Bistum Chur wegen der konfessionellen Schule in hartem Streit gelegen hatten [siehe dazu unten, S. 497-510]. Priesterseminar und Theologische Hochschule Chur sind seit 1968 nicht nur «unter einem Dach» vereint, sondern beide Institutionen, ergänzt durch den Dritten Bildungsweg mit seinem zeitweiligen Standort Chur (1975-1993) und dem 2003 gegründeten Pastoralinstitut fanden zu einer Symbiose, welche eine fruchtbringende Voraussetzung bot und bietet in der Vorbereitung für Pastoral, Seelsorgearbeit und philosophisch-theologische Wissenschaft. Letztere kann seit 2003 dahingehend noch vertieft werden, mit einem Doktorgrad in Theologie abgeschlossen zu werden. 2006 (erneuert 2013) schliesslich akkreditierte die «Schweizerische Universitätskonferenz» die Churer Bildungsinstitution zu einer «Universitären Hochschule». Das sind erfreuliche Zeichen und Früchte grosser Anstrengungen. Der Blick in die Vergangenheit macht Mut, weiterzuschauen und weiterzubauen, oder mit den Worten des Churer Bischofs Vitus Huonder im Hinblick auf das 200-jährige Bestehen des Priesterseminars St. Luzi (1807-2007), er nimmt Bistum, Seminar und Hochschule «in die Pflicht, das Erreichte zu pflegen, zu erhalten und zu entfalten». Studiengänge / Weihen 2000 2005/ 06 2010/ 11 2016/ 17 (Interdiözesanes) Einführungsjahr für Priesteramtskandidaten --- 6 2 5 Hauptstudium 1.-5. Kurs bzw. Bakkalaureats- [BA 1-3] / Master- Studium [MA 1-2] (an der THC) 12 33 26 31 Lizentiatsstudium (an der THC) 3 8 13 14 Doktoratsstudium * (an der THC) --- 4 3 5 Pastoraljahr 20 10 7 12 Priesterweihen 4 4 3 4 *bislang noch kein Doktorat erfolgreich abgeschlossen <?page no="386"?> 386 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 Leitbild der Theologischen Hochschule Chur [THC] Die THC ist eine kleine Hochschule, die in ihren spezifischen Rahmenbedingungen einen eigenen, profilierten Weg der theologischen Ausbildung geht. Ihrem Ausbildungskonzept liegt das Leitbild einer pastoralen Ausrichtung bei Wahrung der akademischen Qualität zu Grunde. Damit soll eine Antwort auf die heutigen Anforderungen des kirchlichen Dienstes sowohl für Priester wie für Laientheologen und Laientheologinnen gegeben werden. Das Studium an der THC soll die Studierenden befähigen, sich pastoralen Herausforderungen in theologisch verantworteter Weise zu stellen. Forschung und Lehre an der THC sind daher auf folgende Ziele ausgerichtet, die für alle Fächer gelten: • Hohe wissenschaftliche Qualität der vermittelten philosophisch-theologischen Bildung, • Ausbildung im Blick auf die Seelsorge und entsprechendes Gewicht der praktischen Fächer sowie des pastoralen Aspekts aller Disziplinen, • eine ganzheitliche Ausbildung, die sich nicht auf Wissensvermittlung beschränkt, sondern auch die persönliche und spirituelle Formung der künftigen Seelsorger und Seelsorgerinnen umfasst, • ökumenische Zusammenarbeit, interreligiöse Sensibilität und Dialog mit der Kultur und der Welt von heute. [Quelle: www.thchur.ch] Abb. 281: Priesterseminar und Theologische Hochschule heute [Foto: Priesterseminar St. Luzi, Chur] <?page no="387"?> 387 8. Auswirkungen auf die (Pfarrei-)Seelsorge im 20./ 21. Jahrhundert … 8. Auswirkungen auf die (Pfarrei-)Seelsorge im 20./ 21. Jahrhundert: Laien in pastoralen Leitungsfunktionen Vor dem Hintergrund der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hervorgehobenen Bedeutung des Apostolats der Laien wurden bereits 1969 die ersten hauptamtlichen Laientheologen im Bistum Chur in Dienst genommen. Die in Chur zwischen 1985 und 1992 am Institut für Fort- und Weiterbildung der Katecheten [IFOK] und in Luzern am Katechetischen Institut [KIL] bzw. am Religionspädagogischen Institut [RPI] der Theologischen Fakultät zu Katecheten ausgebildeten Männer und Frauen werden - ausgestattet mit einer bischöflichen Missio - vorzugsweise im Religionsunterricht, aber auch in der praktischen Pfarreiarbeit eingesetzt (2015: Total 202). Den künftigen Pastoralassistenten/ innen des Bistums (Stand 2015: 124), die im Anschluss an das eigentliche fünfjährige Theologiestudium zusammen mit den Weihekandidaten ein Pastoraljahr (Kurse im Seminar und seelsorgerliche Erfahrung in einer Pfarrei) absolvieren, steht ein Mentorat begleitend zur Seite. Im Gegensatz zur Praxis in anderen deutschsprachigen Diözesen stehen im Bistum Chur die meisten der inzwischen 51 Ständigen Diakone (Stand 2015) fast ausschliesslich als hauptamtliche Mitarbeiter in der aktiven Pfarreiseelsorge. Im Bistum Chur - insbesondere im Generalvikariat Zürich - besteht die Praxis, für die Organisationsverantwortung in einer Pfarrei ohne Pfarrer am Ort als Ansprechpartner für die Gläubigen sowie für die Wahrnehmung der Seelsorgeaufgaben, zusammen mit einem Pfarradministrator oder dem verantwortlichen Priester, Männer oder Frauen einzusetzen, die im Bistum «Pfarreibeauftragte» (früher: «Gemeindeleiter bzw. -leiterinnen») genannt werden. Die am 10. März 2000 von Bischof Amédée Grab erstmals unterzeichneten Richtlinien für die Einsetzung solcher Personen suchen ihre nicht ganz unproblematische Rechtsgrundlage in CIC/ 1983 Can. 517 § 2, womit aufgrund des Priestermangels dem Ortsordinarius erlaubt wird, einen Diakon oder eine andere Person, die keine Weihen empfangen hat, an der Wahrnehmung der Seelsorgeaufgaben einer Pfarrei teilnehmen zu lassen. Ein vom Pfarradministrator und dem zuständigen Generalvikar approbiertes Pflichtenheft ist Bestandteil der Ernennung, die durch den Diözesanbischof auf drei Jahre ausgesprochen und (ohne Widerspruch) automatisch um weitere drei Jahre verlängert, aber auch jederzeit vom Bischof widerrufen werden kann. Zwar sollte der verantwortliche Priester mit den Vollmachten und Befugnissen eines Pfarrers die Seelsorge leiten, doch de facto übernimmt der Laie die pastorale Leitungsfunktion. <?page no="388"?> 388 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 9. Neuere statistische Angaben Klerus und Laien (nur aktive) im kirchlichen Dienst im Bistum Chur Bistumsregion Graubünden Bistumsregion Urschweiz Bistumsregion Zürich-Glarus ganzes Bistum 2005 Anzahl Katholiken im Pfarrgebiet 85'632 185'177 415'637 686'446 Weltpriester 115 124 131 370 Ordenspriester 29 108 54 191 Ständige Diakone 5 8 17 30 Pastoralassistenten/ -innen 2 13 43 58 Gemeindeleiter/ -innen 7 23 83 113 Hauptamtliche Katecheten/ -innen (mit Missio canonica) 46 48 73 167 am Religionsunterricht beteiligte Personen (Priester, Diakone, Laien) 285 353 1'130 1'768 Anzahl Schüler/ -innen (im Religionsunterricht) 7'039 20'302 22'951 50'292 2010 Anzahl Katholiken im Pfarrgebiet 89'008 185'076 413'653 687'737 Weltpriester 109 94 110 313 Ordenspriester 37 68 25 130 Ständige Diakone 4 16 26 46 Pastoralassistenten/ -innen 16 40 77 133 Gemeindeleiter/ -innen bzw. Pfarreibeauftragte 5 14 42 61 Hauptamtliche Katecheten/ -innen bzw. Religionspädagogen/ -innen (mit Missio canonica) 116 69 80 265 am Religionsunterricht beteiligte Personen (Priester, Diakone, Laien) 208 348 691 1'247 Anzahl Schüler/ -innen (im Religionsunterricht) 6'632 17'503 21'088 45'223 <?page no="389"?> 389 10. Selbstverständnis des Berufsbildes «Seelsorger/ in» auf dem Prüfstand 2015 Anzahl Katholiken im Pfarrgebiet 89'934 178'780 426'917 695'631 Weltpriester 98 102 129 329 Ordenspriester 25 43 36 104 Ständige Diakone 4 24 23 51 Pastoralassistenten/ -innen 5 33 86 124 Pfarreibeauftragte 30 21 39 90 Hauptamtliche Katecheten/ -innen bzw. Religionspädagogen/ -innen (mit Missio canonica) 53 50 99 202 am Religionsunterricht beteiligte Personen (Priester, Diakone, Laien) 193 337 634 1'164 Anzahl Schüler/ -innen (im Religionsunterricht) 6'675 15'302 21'509 43'486 10. Selbstverständnis des Berufsbildes «Seelsorger/ in» auf dem Prüfstand Die Kirche wird seit geraumer Zeit von ihrer «Nutzungsseite», von den Gläubigen her umgebaut; manche fragen sich, was Religion, was Glaube im Leben persönlich «bringt». Im kirchlichen Alltag hat dieses Fragen insbesondere die Rolle des Priesters als des ursprünglich klassischen Seelsorgers verändert und reicht vom Vor-Ort-Manager und Sakramentenspender bis hin zum religiös-therapeutischen Lebensbegleiter von Gläubigen sowie wenig religiös geprägten Menschen. Doch auch die erst in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts hervorgewachsenen Seelsorge-Berufe der Pastoralassistenten/ Innen und des Ständigen Diakonats stehen auf dem Prüfstand. Obwohl vor allem in der deutschspachigen Schweiz die Pastoralassistenten/ Innen in Anwendung des Can. 517 § 2 (CIC/ 1983) als Gemeindeleiter/ innen tätig sind und damit eine «Vorreiterrolle» übernommen haben, ist ihre Berufsrolle im Sinne einer theologischen Laienkompetenz in der Gemeinde keineswegs geklärt. Als ambivalent wird auch der Ständige Diakonat wahrgenommen, der im Bistum Chur seit 2000 zwar einen merklichen Aufschwung erlebt. Er ist gewollt, aber in der klerikal dominierten Kirche noch lange nicht als gleichrangig angesehen, obwohl die Ständigen Diakone als verheiratete Männer (anders als z. B. in Deutschland) als vollamtliche Seelsorger wirken. Auf einer Fachtagung im Februar 2015 in Zürich, an der rund 60 Seelsorgende aus der gesamten Deutschschweiz die «veränderten Rollen» im pastoralen Dienst rege diskutierten, wurde darauf hingewiesen, dass die «Krise der Seelsorgeberufe» mit fundamentalen <?page no="390"?> 390 X. Ausbildung und Einsetzung des Churer Diözesanklerus und anderer pastoraler Mitarbeiter/ innen seit 1807 Erschütterungen der Leitbilder für diese Seelsorgeberufe zu tun habe. Eine Neuausrichtung sei wichtig und notwendig, welche die in den letzten Jahren veränderte religiöse Erwartungshaltung und Bedürfnisse vieler Menschen aufgreife. Andererseits sei aber auch ersichtlich, dass wieder verstärkt an traditionellen Rollenbildern festgehalten und von Kirchen- und Bistumsleitung das Berufsbild «Seelsorge im 21. Jahrhundert» zu wenig ernst angegangen werde. Der Generalvikar für den Kanton Zürich, Josef Annen, betonte deshalb, trotz ambivalenten Verhältnissen und egal welche Namen der/ die Seelsorgende trage (also Priester, Diakon, Ständiger Diakon, Pastoralassistent/ in), wichtig sei die persönliche Authentität, die Nähe zu Jesus, dem Guten Hirten, sowie eine unumgängliche theologisch-pastorale Kompetenzbildung, um so nahe und glaubwürdig bei den Menschen in ihren (Lebens-)Situationen sein zu können. Hierfür bemüht sich die Ausbildungsstätte St. Luzi in Chur [siehe Leitbild THC (Kasten)] in Korrelation mit anderen Bildungsinstituten im In- und Ausland. Das mutmachende Wort von Papst Franziskus (gesprochen 2013 vor Ordensvertreter/ innen aus Südamerika) möge hier als wichtige Wegmarkierung für alle im pastoralen Dienst stehenden Männer und Frauen gesetzt sein: «Reisst die Türen auf. Tut dort etwas, wo der Schrei des Lebens zu hören ist. Mir ist eine Kirche lieber, die etwas falsch macht, als eine Kirche, die krank wird, weil sie sich nur um sich selbst dreht.» <?page no="391"?> 391 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung im Bistum Chur Am 10. März 1969 beschlossen die Schweizer Bischöfe in Olten, in ihren sechs Bistümern und auf dem Territorium der Abtei Saint-Maurice je eigenständig (allerdings parallel, zeitgleich und synchron) eine Diözesansynode abzuhalten, diese jedoch gemeinsam vorzubereiten und später deren Beschlüsse auch wieder gesamtschweizerisch zusammenzufassen. Das Echo auf diese Ankündigung, dessen Idee für das Bistum Chur Johannes Vonderach bereits am 22. Mai 1966 in der Kathedrale Chur anlässlich einer Konzilsfeier lanciert, sie aber nicht weiterverfolgt hatte, war vorerst eher verhalten. Denn dieser Beschluss entsprang nicht einem Bedürfnis oder gar dem Wunsch der kirchlichen Basis, sondern die Initiative kam ‹von oben›, und es bereitete eher Mühe, Anliegen und Inhalt einer solchen Diözesansynode als Instrument zur Umsetzung der Konzilsbeschlüsse in den Ortskirchen zu kommunizieren. Darüber dürfen wir uns nicht wundern, denn gerade die Geschichte der ‹Diözesansynode› lehrt, dass diesem Instrument nicht zuletzt im Bistum Chur keineswegs eine Erfolgsgeschichte beschieden war. Nach der quellenmässig letztmals erfassten und durchgeführten Synode unter dem Churer Bischof Heinrich V. von Hewen (1491-1505) - die Statuten hierzu liegen gedruckt vor - wurde entgegen der Weisung Roms, der Luzerner Nuntiatur und den anfänglichen Plänen zu einer Diözesansynode nach dem Konzil von Trient (1545-1563) im Churer Sprengel nie mehr eine solche Versammlung durchgeführt. Auch in den meisten damaligen Bistümern des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (bis 1806) verschwand das Institut ‹Diözesansynode› bald wieder. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielfach finanzieller und organisatorischer Art. Aber auch die komplexen kirchenpolitischen Zustände im Reich, wie etwa die Konkurrenz zwischen episkopaler und landesherrlicher Gewalt, spielten eine Rolle; synodale Beschlüsse konnten schnell zum Politikum werden. An die Stelle der Diözesansynoden trat - dies gilt insbesondere für das Bistum Chur - das Instrument der bischöflichen Mandate an den Diözesanklerus; ferner wurden aktuelle Probleme und Veränderungen der bzw. in der Seelsorgepastoral auf der Ebene der Priesterkapitel regelmässig erörtert. Dieser Modus behielt die Churer Bistumsleitung bis 1969 bei. Erst mit der konkreten Ankündigung 1969 und der Durchführung der Synode 72 als vom Bischof einberufene und diesen beratende Versammlung von Priestern, Ordensleuten und Laien zeigt sich eine im Geiste des letzten Konzils vollzogene wesentliche Änderung dieses geschichtlich alten Instruments: Auf der Grundlage der Würde in Gleich- <?page no="392"?> 392 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … heit und Gemeinsamkeit aller Glieder des Gottesvolkes erkannte man auch Wichtigkeit wie Notwenigkeit, dass Priester, Ordensangehörige und Laien gemeinsam aktiv an der Ausbreitung der Frohen Botschaft mitwirken und somit auf der Basis der gemeinsamen Würde der Gotteskindschaft am Reich Gottes mitbauen sollten. Trotz der unbestrittenen Kompetenzkonzentration beim Bischof verdeutlicht die neue Synodalbewegung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die (auch von den Konzilsvätern da und dort angestossene) Hebung der Bedeutung von ‹Teilkirche›. Zwischen 1970 und 1994 fanden insgesamt über 100 Diözesansynoden in Mitteleuropa statt. Wie für manch andere kirchliche Sprengel (gemeinsame Synode der Bistümer der BRD, sog. «Würzburger Synode» 1972-1975) ist die zwischen 1972 und 1975 durchgeführte Churer Diözesansynode (kurz: Synode 72) eine bislang unvollendet gebliebene nachkonziliare Aufarbeitung gemäss des Modus «gemeinsam als Volk Gottes unterwegs». Abb. 282: Organe der Synode 72 auf diözesaner und gesamtschweizerischer Ebene [BAC] <?page no="393"?> 393 1. Planung, Vorbereitung und Themenkatalog der Synode 72 1. Planung, Vorbereitung und Themenkatalog der Synode 72 Die eigentlichen Architekten der Synode 72 auf gesamtschweizerischer Ebene waren die Bischofsvikare Alois Sustar (Chur) und Ivo Fürer (St. Gallen). Die beiden diözesanen Synodenpräsidenten und späteren Bischöfe von Ljubljana bzw. von St. Gallen besassen hierfür nicht nur ausgesprochenes Organisationstalent, sondern verfügten über hervorragende internationale Beziehungen, waren sie doch hintereinander Sekretäre des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE). Die Schweizer Bischofskonferenz trat die Vorbereitung an eine Interdiözesane Vorbereitungskommission ab [siehe Abb. 282 (Tabelle)], die im Januar 1970 erstmals zusammentrat. Zielsetzungen der diözesanen Synoden waren: 1. den Glauben im Sinne des Konzils zu vertiefen, 2. Das Bewusstsein der Mitverantwortung in Kirche und Welt zu stärken, und 3. kirchliche Fragen zu aktualisieren und weiter zu entwickeln. Die Hauptaufgabe der Vorbereitungskommission bestand in der Erstellung eines Rahmenstatuts, welches übrigens Rom nicht vorgelegt worden ist und so auch von der Kurie nicht genehmigt werden konnte, und (in Absprache mit der Konferenz der Bischofsdelegierten) des Themenkatalogs. Insbesondere für letzteres erfolgte eine breit angelegte Vernehmlassung beim Kirchenvolk. Alle Katholiken wurden mittels einer Ende 1969 gestarteten mehrsprachig abgefassten Briefaktion konsultiert (1,3 Millionen). Die eingegangenen Anliegen und Wünsche - gesamtschweizerisch gingen von 336'000 Personen mehr als 150'000 Antwortkarten und über 10'000 persönliche Briefe an die Bischöfe ein - wurden registriert und mit Hilfe des Pastoralsoziologischen Instituts St. Gallen mögliche Themenlisten erstellt. Am Ende einigte man sich auf 12 sehr allgemein formulierte Themenkataloge [siehe Abb. 283 (Tabelle)], welche - in sich durchaus Zündstoff bergend - konkret und fest geregelt innerhalb dreier Jahre zwischen 1972 und 1975 in Sessionen von zweimal 4 Tagen [Do-So] pro Jahr (Kommissionssitzungen nicht eingerechnet) zu behandeln waren. Die Interdiözesane Vorbereitungskommission bediente die einzelnen Diözesansynoden mit Vorlagen; sie lieferte die Grundlagenpapiere. Die diözesanen Sachkommissionen bearbeiteten die Entwürfe, ergänzten sie oder änderten sie auch ab. Für die an die gesamtschweizerische Synode abgegebenen Traktanden leistete die schweizerische Sachkommission die Stabsarbeit. Die Wahlen der Delegierten zur Synode 72 waren ein Unikum; ein derartiges Vorgehen gab es niemals zuvor und es erlebte bis heute keine Nachahmung. Gemäss Rahmenstatut, gültig für alle Diözesen, sollte jede Diözesansynode höchstens 200 Synodalen umfassen. Das Mindestalter wurde auf 16 Jahre festgelegt. Die Synode musste zudem zur Hälfte aus Priestern und Ordensleuten und zur Hälfte aus Laien bestehen. Für die Zusammensetzung waren folgende Anteile anzustreben: Die Priester und Ordensleute mussten zu zwei Drittel in der Pfarrseelsorge tätig sein, von diesen wiederum zehn Prozent in der Gastarbeiterseelsorge. Die Ordensleute ihrerseits waren je zur Hälfte Patres/ Brüder und Schwestern. Von den zu wählenden Laien sollte mindestens ein Drittel Mandate an Frauen gehen, mindestens ein Fünftel an Jugendliche exakt zwischen 16 und 25 Jahren und ein Siebtel an Gastarbeiter. Für Senioren über 60 war interessanterweise kein Anteil vorgesehen. Dem Bischof stand es zu, 10 Prozent der Synodalen zu berufen. Alle Synodalen wurden für die <?page no="394"?> 394 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … gesamte Dauer der Synode gewählt; bei vorzeitigem Ausscheiden wurde nachgewählt. Die Synodalen waren an keine speziellen Weisungen gebunden. Dieser Wahlmodus war ein ausgeklügeltes System mit Quotenregelungen, die zweifellos in gewisser Hinsicht repräsentativ waren, aber auch die Grenzen des Machbaren und Sinnvollen erreichten. Diese Ordnung, so schreibt Elisabeth Hangartner-Everts in ihrer Forschungsarbeit über die Synode 72, ermöglichte «ein partnerschaftliches Miteinander von Bischof und Synode». Ein solches Institut «sieht den Bischof nicht mehr einfach als ‹unicus legislator› der Synode, sondern als einen mit besonderer Verantwortung ausgestatteten Gesprächspartner eines sich nach parlamentarischen Spielregeln entfaltenden Sozialkörpers». Die Synodalen wurden nach zwei Systemen gewählt: Priester und Ordensleute wählten ihre Vertreter in ihren Dekanaten bzw. Niederlassungen selbst. Die Laien hingegen wurden indirekt, das heisst durch sog. Elektoren gewählt. Jede Pfarrei im Bistum wählte entsprechend ihrer Bevölkerung Elektoren; die eigentliche Wahl der Laiensynodalen erfolgte dann auf der Versammlung der Elektoren. Im Hinblick auf diese zeitintensive Vorbereitung war die Wahlbeteiligung der Gläubigen insgesamt enttäuschend schwach; sie stand eindeutig hinter den Erwartungen der Organisatoren zurück; dies hing auch damit zusammen, dass die anfängliche Euphorie des Konzils schon längst wieder verblasst war und seit Konzilsende zudem einige Jahre verstrichen waren, in denen von verschiedener Seite, insbesondere von damals namhaften Theologen (Manifest von 1972), nicht nur Kritik an der schleppenden Umsetzung der Konzilsbeschlüsse, sondern auch Kritik an mangelnder Courage der Inangriffnahme drängender Fragen im Leben der Kirche geäussert worden waren. Wider diese spürbare Resignation wollte die mit viel Elan auf die Beine gestellte Synode 72 Analysen und Anstösse liefern, welche für die Bistümer und das kirchliche Leben vor Ort in der Schweiz für die nahe und fernere Zukunft als ernstzunehmende Wegmarkierungen dienen sollten. Abb. 283: Themenkatalog der Synode [BAC] <?page no="395"?> 395 2. Beginn und Verlauf der Synode 72 in Chur und ihre thematischen Schwerpunkte 2. Beginn und Verlauf der Synode 72 in Chur und ihre thematischen Schwerpunkte Die konstituierende Sitzung fand in allen Schweizer Diözesen am Samstag, den 23. September 1972 statt; das Bistum Chur wählte dafür die Stadt mit den meisten Katholiken: Zürich, konkret für den Eröffnungsgottesdienst die Kirche Maria-Krönung in Witikon bzw. für die Sitzung die nahe gelegene Paulusakademie. Für den restlichen Verlauf tagte die Synode (erste Sitzungsperiode: 23.-26 November 1972) stets im Saal des der bischöflichen Mensa gehörenden Restaurants/ Hotels Marsoel in der Bischofsstadt Chur; hier befanden sich auch die Büros des Präsidiums und des Sekretariats. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam im Saal des Hotels Drei-Könige in der Churer Altstadt eingenommen. Bischofsvikar Alois Sustar, der eigentliche ‹Geburtshelfer› der Synode, wurde in Witikon erwartungsgemäss zum Präsidenten, Helene Broggi-Sacherer zur Vizepräsidentin gewählt - ein deutliches Zeichen für die Stellung der Frau in dieser Kirchenversammlung. Als Verhandlungsleiter bestimmten die Delegierten Willy Kaufmann (Bassersdorf ), Elisabeth Blunschy-Steiner (Schwyz) und Albert Gnägi (Zürich). Das Sekretariat übernahm Theologieprofessor Josef Trütsch, tatkräftig unterstützt durch die Ingenbohler Schwester Marionna Theus (Bischöfliches Ordinariat Chur). Das offizielle Verzeichnis im Anhang des Gesamtbandes der Synode 72 im Bistum Chur zählt 191 Synodalen auf; Chur schöpfte Abb. 284: (am weissgedeckten Tisch) Synodenleitung Alois Sustar, Bischof Vonderach, Helene Broggi-Sacherer [BAC.BA] <?page no="396"?> 396 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … also die erlaubte Maximalzahl von 200 Delegierten beinahe aus; dazu kamen Vertreter anderer Kirchen und viele, zum Teil namhafte Gäste wie etwa Hans Urs von Balthasar oder Kardinal Karol Wojtyla (1975). Die auf den einzelnen Sitzungen behandelten, oben bereits erwähnten Themenbereiche situierten die Kirche nach dem Konzil und dienten damit auch als Spiegel des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens im Bistum Chur in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Für die Forschung ist die Synode 72 durchaus eine aussagekräftige und unverzichtbare Quelle des katholischen Zeitempfindens in der Schweiz von damals. Wichtig für den Verlauf und die Abfassung der Texte war, dass die Synode sich fast ausschliesslich von aktiven, praktizierenden und motivierten, wenn auch keineswegs unkritischen katholischen Frauen und Männern zusammensetzte - ein Abbild einer Ortskirche, die sich eingebunden wusste in die vom letzten Konzil erneuerte grosse Weltkirche. Hauptanliegen - dies zeigt auch die Themenwahl - war die Kirche und ihr Zeugnis in der Welt. Das bedeutete: Was Anfang und Ende einer kirchlichen Dogmatik oder Glaubenslehre ansprechen, nämlich Gott und die «Letzten Dinge» (Eschatologie), wurde auf der Synode kaum oder gar nicht behandelt. Im Register des Gesamtbandes existiert das Stichwort «Gott» nicht, einzig der Begriff «Gottesbilder». Hingegen werden die Sakramente als Heilszeichen Christi in Kirche und Welt und in ihrer liturgischen Dimension eingehend behandelt. Man rang gemeinsam um eine zeitgemässe Sakramentenpastoral - um ein Hauptthema also, welches schon die Churer Reformbischöfe im 17. Jahrhundert in ihren Instruktionen als unerlässliche Grundlage zu jeglicher Reform erkannt hatten [siehe dazu Band 1, S. 219-221]. Bezugnehmend auf die gesamtkirchliche Liturgiereform des Konzils mit dem Hauptziel, die Gemeinden zu einer lebendigen Teilnahme an der Feier der Eucharistie als Höhepunkt und Mitte der christlichen Glaubensgemeinschaft hinzuführen, erkannten die Synodalen einen beunruhigenden Sachverhalt: ein mangelndes Eucharistieverständnis, dem sie (zurückgreifend bis auf das Konzil von Trient) mittels Grundlagen und theologischer Verdeutlichung entgegentraten. Bei den Punkten zur ‹Hinführung zur Eucharistie› formuliert die Synode u.a. bzgl. Erstkommunion treffend: «Der Erstkommuniontag, schlicht gehalten, verlangt weitere Vertiefung», bei der auch die Eltern miteinzubeziehen seien, welche «Erstverantwortung» trügen. Im Wissen und aufgrund von Eingaben an die synodale Vorbereitungskommission, dass Eltern, Erzieher, Seelsorger und Katecheten es schwer hätten, dem heutigen Menschen eine verständliche, eindeutige Antwort zu geben auf die Frage: Was ist denn eigentliche Eucharistie? bat die Synode die Schweizer Bischöfe um ein klärendes Pastoralschreiben an alle Katholiken der Schweiz und zudem um einen theologischen Grundlagenbericht (mit besonderer Berücksichtigung der biblischen, patristischen, dogmatischen und liturgischen Gesichtspunkte) zuhanden der Seelsorger. Hier wird eine Not sichtbar, die Fragen nach der bislang getätigten Ausbildung im Bereich des katholischen Eucharistieverständnisses an den theologischen Hochschulen aufwirft, wenn quasi für den ‹Nachholunterricht› ein solches Grundlagenpapier gefordert wird. In Bezug auf den damals bereits spürbaren Priestermangel empfahl die gesamtschweizerische Synode der Bischofskonferenz, «sich für die Einführung des ständigen Diakonats in der Schweiz einzusetzen». Interessant sind die formulierten Punkte der pastoralen Zielsetzung <?page no="397"?> 397 2. Beginn und Verlauf der Synode 72 in Chur und ihre thematischen Schwerpunkte für die damalige Lage der Diözese Chur. Grundsätzlich, so betonten die Synodalen, «sollen junge Männer vermehrt ermuntert werden, sich für das ordinierte Priestertum zur Verfügung zu stellen […] und sich für ihr ganzes Leben dem kirchlichen Dienst zu widmen» [III-5.7.3] Die Churer Synodalen fügten sodann hinzu: «Wo kein ordinierter Amtsträger zur Verfügung steht, oder wo es aus anderen Gründen für angezeigt erscheint, soll an dessen Stelle ein Laie (Mann oder Frau) die Gemeindeleitung übernehmen. Dieser Gemeindeleiter steht einem Seelsorgeteam vor. Dem Team gehört ein ordinierter Priester an, der aber nur bestimmte (in der jeweiligen Situation zu umschreibende) Aufgaben übernimmt, die sich jedoch nicht nur auf die Sakramentenspendung beschränken sollen.» [III 5.7.5] Der damalige Vorschlag ‹Laie als Gemeindeleiter› - ausdrücklich als «Zwischenlösung» bezeichnet -, 1975 mit 118 Jagegen 3 Nein-Stimmen angenommen, verabschiedet und von Bischof Vonderach mit seinem Plazet versehen, etablierte sich, wie wir es heute wissen, zu einer festen Variante in der Gemeindepastoral in Teilen unseres Bistums und der deutschsprachigen Schweiz [vgl. auch die oben, S. 388 f., abgedruckten Statistiken aus den Jahren 2005 / 2010 / 2015]. Ein weiterer Brennpunkt im umfangreichen Themenkreis der Sakramentenpastoral war Ehe und Familie - im Wandel unserer Gesellschaft. Verschiedene gesellschaftliche Wandlungen gefährdeten die Ehe und die Familie, so die Synodalen. Die Folgen seien auch unter den Katholiken mit zunehmender Tendenz (in städtischen wie ländlichen Gebieten) spürbar: Ehekrisen, Ehescheidungen und Wiederverheiratung von Geschiedenen. Die bisherigen Bemühungen der Kirche seien in diesem Bereich «ungenügend». Deshalb Abb. 285: Blick in den Marsoelsaal mit den Synodalen [BAC.BA] <?page no="398"?> 398 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … beschloss die Synode: «Im Bistum Chur ist das kirchliche Ehegericht zu ergänzen durch eine Pastorale Ehekommission, die sich in ihrem Rat und Urteil primär von seelsorgerlichen Erwägungen und nicht nur von juristischen Kriterien leiten lässt. Durch die vertrauensvolle Aussprache sichert sie eine Form der Untersuchung und Abklärung der gescheiterten Ehe, die für den Geschiedenen oder Wiederverheirateten eine seelsorgerliche Hilfe bedeutet.» Zudem beschloss die Synode auf gesamtkirchlicher Ebene der Schweiz, die Schweizer Bischofskonferenz zu ersuchen, zur pastoralen Hilfe für Geschiedene, die wiederverheiratet sind und am sakramentalen Leben der Kirche teilnehmen wollen, Richtlinien zu erlassen. Auch für die persönliche Gewissensbildung in Fragen der Familienplanung legte die Synode Entscheidungshilfen vor und betont dabei nachhaltig: «Der Schwangerschaftsabbruch zerstört ein menschliches Wesen. Er darf keine Methode der Familienplanung sein.» [VI 2.1.2.6] Deshalb seien genügend Beratungsstellen einzurichten und bereits bestehende zu fördern. Ferner berühren die Synodalen das damals medial noch wenig verarbeitete Thema der gleichgeschlechtlichen Zuneigung. Menschen mit solchen Neigungen, deren Ursachen ohnehin noch nicht hinreichend erforscht seien, «dürfen nicht geächtet werden». «Die Gesellschaft muss sie in ihrer Menschenwürde respektieren und ihnen helfen, sich mit ihrer Neigung anzunehmen und in Verantwortung zu leben.» [VI 2.4.2] Die Synode 72 hat auf Bistumsebene wie gesamtschweizerischer Ebene aller Diözesen also wichtige Themenbereiche angesprochen und nach Lösungen gesucht, die heute noch zu Brennpunkten in der Pastoral zählen und u.a. nach wie vor einer verantwortbaren Lösung gegenüber der Gemeinschaft der Kirche und ihrem Auftrag, den Menschen die Vergebung zuzusprechen, zugeführt werden müssen. 3. Verwirklichungsplan der Synode 72 im Bistum Chur In einem Nachtrag von Bischof Johannes Vonderach zu der am 30. November 1975 abgeschlossenen Synode - publiziert in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» am 6. Januar 1977 - betont der Churer Ordinarius, die diözesane Pastoralplanungskommission (unter Abb. 286: Bischof Johannes Vonderach vor versammelter Synode [BAC: BA] <?page no="399"?> 399 3. Verwirklichungsplan der Synode 72 im Bistum Chur Vorsitz von Bischofsvikar Karl Schuler) habe einen eigenen, vom Priester- und Seelsorgerat genehmigten Pastoralplan für die Verwirklichung der Synode 72 im Bistum Chur erarbeitet; diese sei am 9. Dezember 1976 durch das Bischöfliche Ordinariat genehmigt worden. Für die nächsten Jahre sah dieser Plan gemäss den synodalen Themenkreisen folgende Schwerpunkte für die Pastoral vor: 1977/ 78: Vertiefung des religiösen Lebens: Gebet, Gottesdienst, Sakramente (Themenbereiche 2 und 4 der Synodenbeschlüsse) 1978/ 79: Glaubensverkündigung und kirchliche Dienste (Themenbereiche 1 und 3) 1979/ 80: Soziale Aufgaben der Kirche (Themenbereiche 7, 8 und 10) 1980/ 81: Ehe und Familie, Erziehung und Bildung (Themenbereiche 6 und 11) 1982/ 83: Die Kirche in der Gesellschaft (Themenbereiche 5, 9 und 12) Abb. 287: Schreiben von Bischof Johannes Vonderach vom 26. Dezember 1976 [abgedruckt im Gesamtband der Synode 72 Bistum Chur, Chur 1977, S. 5] <?page no="400"?> 400 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … Im Vordergrund dieser Planung standen die in den Synodentexten formulierten pastoralen Anliegen. Hauptadressaten des Plans waren die Seelsorger, die Seelsorgeräte, einzelne Verbände und Gruppen. Die Synode, so sagt es Bischof Vonderach, in seinem Vorwort zur Druckausgabe «Synode 72 Bistum Chur» (Chur 1977), sei bei ihrer Einberufung 1972 vor die Aufgabe gestellt worden, den Menschen vom Evangelium her ihren Dienst in der Gemeinschaft der Kirche anzubieten. Die durchaus vielfältige Arbeit der Synodalen und ihr Engagement verblasste alsbald wieder; von einer Umsetzung der oben angekündigten und geplanten Schwerpunktsjahren auf Ebene der Pfarrei war wenig zu spüren. Die Befürchtung Vonderachs vor Einbüssung ihrer Wirkung, falls die Synode «nur geschichtliches Ereignis» bleiben würde, sollte sich bald bewahrheiten. 4. Bilanz: Ernüchterung über eine unvollendete nachkonziliare Aufarbeitung Die mit viel Elan und unter grossem Engagement seitens der Synodalen organisierten und zwischen 1972 und 1975 durchgeführten Diözesansynode war durchaus eine Manifestation der Kirche vor Ort nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Doch zu sehr stand das Ereignis selbst im Zentrum. Es waren für die meisten Beteiligten Tage intensiver Kirchenerfahrung, vielleicht ein Grossunternehmen, das, weil in allen Diözesen gleichzeitig durchgeführt, in der schweizerischen Kirchengeschichte einmalig dasteht, ein Ort geballten Lernens über Wesen und Aufgabe(n) der Kirche und ihrer Glieder. Entsprechend war die Stimmung der Synodalen drinnen fast euphorisch, von dessen Euphorie jedoch die meisten Gläubigen ausserhalb des Plenarsaals und in den Pfarreien wenig zu spüren bekamen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Wenige - 191 Delegierte für Chur - versuchten konzentriert die nachkonziliare Aufarbeitung. Doch wer sich viel vornimmt, läuft mitunter Gefahr, sich zu übernehmen. Die Synode 72 war eindeutig thematisch überladen; dazu gesellte sich die mangelnde Kompetenz dieser Kirchenversammlung. Sie konnte ja lediglich Problemfelder in Glaubens- und pastoralen Fragen ansprechen und (wenn auch durchaus gut formulierte) Empfehlungen aussprechen. Hinzu kommt: Auch wenn der Diözesanbischof, oft beeindruckt von der Willensbekundung einer kleinen eifrigen Delegationsgruppe, die ihren Beitrag zu einer Vertiefung des Glaubens zu leisten und dadurch den Weg zu Reformen zu ebnen gewillt war, manche Beschlüsse nach den Abstimmungen bestätigte, blieb die wirkliche Umbzw. Durchsetzung ungewiss. Musste doch das Gesamtpacket «Synode 72» über die Nuntiatur Rom vorgelegt werden; und dieses Packet war für die römische Kurie beängstigend dick. Dank laufender Berichterstattung durch die Nuntiatur kannte man an in den entsprechenden Kongregationen bereits die angegangenen «heissen Themen» wie ‹Viri probati›, ‹Frauenordination› oder ‹Kommunion für wiederverheiratet Geschiedene›; man befürchtete neben der durch die Schweizer Bischöfe 1969 eingeführten Generalabsolution weitere Sonderwege. So wurden zum Abschluss der Synode 1975 wohl (nichtssagende) Grussbotschaften zwischen dem Churer Bischof und Papst Paul VI. ausgetauscht, doch liess man alles Weitere auf den Schreibtischen der ku- <?page no="401"?> 401 rialen Ämter geduldig liegen. Neben der auffälligen Zurückhaltung Roms gegenüber der nachkonziliaren Aufarbeitung kam hinzu, dass trotz angestrengter Öffentlichkeitsarbeit die Rezeption als auch die Nacharbeit in der Diözese gering blieb. Gemäss des oben erwähnten Churer Zeitplans sollten Pfarreien, Seelsorgeräte und geistliche Gemeinschaften eine weitere Vertiefung der behandelten Themen angehen, doch dieses Pläne stiessen auf wenig Interesse. Wiederholtes Drängen des vormaligen synodalen Präsidenten für Chur, Bischofsvikar Alois Sustar, brachte wenig Erfolg. Sustar wurde 1980 zudem von Chur abberufen und zum Erzbischof von Ljubljana erhoben (1980-1997); so gesehen war die treibende «synodale Kraft» für manche ausser Reichweite. Zehn Jahre nach Abschluss der Synode organisierte man für die einstigen Delegierten ein Treffen in der Paulus-Akademie in Witikon, wo einst der Startschuss zu einem vielversprechenden Unternehmen gefallen war. Die Nachfrage war beschämend: knapp über dreissig Teilnehmer/ innen fanden sich ein. Die Stimmung war gedämpft bis resignativ. Die Frage steht deshalb am Schluss dieses behandelten diözesanen Themas im Raum: Was bleibt? - Das Bleibende ist der Ausgleich zwischen hierarchischem und synodalem Element bei der Erörterung der zwölf gewählten Mammutthemen im Blick auf die drei von der Synode 72 gesteckten Ziele: 1. den Glauben im Sinn des Konzils zu vertiefen, 2.-das Bewusstsein der Mitverantwortung der Gläubigen als Glieder des neuen Volk Gottes zu stärken, und 3. diverse kirchliche Fragen zu aktualisieren, Problembereiche anzusprechen und weiter zu führen. Ferner sind die damals gesetzten spirituellen und pastoralen Wegweisungen - wie die oben genannten Brennpunkte es zeigten durchaus noch aktuell und z. T. noch nicht einer befriedigenden Antwort zugeführt. Die Grösse und Komplexität der synodalen Arbeit muss aber auch hinterfragt werden, da damit der einfache Gläubige nicht erreicht wird, geschweige denn von der synodalen Euphorie einer «Spezialgruppe» kaum angesteckt werden kann. Wenn in diesen Jahren der Durchführung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) gedacht wird, dann gilt für die Kirche des 21. Jahrhunderts im Grossen wie für die Ortskirche im Speziellen, dass sie für den Ruf nach Reformen offen sein muss. Im Vordergrund allen Reformeiferns steht jedoch immer das Zusammenfinden zu einer starken Gemeinschaft des Zeugnisses und des Dienstes für die eine Kirche Jesu Christi; darin bleiben Laien wie Geistliche gleichermassen gefordert. 4. Bilanz: Ernüchterung über eine unvollendete nachkonziliare Aufarbeitung <?page no="402"?> 402 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … 5. Für eine «Kirche des Dialogs»: Die freie Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken (1994-2001) - eine regional-synodale Nachwirkung mit wenig Echo Aufgrund der krisenhaften Situation rund um die Amtseinsetzung von Bischof Wolfgang Haas als Bischofskoadjutor (1988) und seine Übernahme 1990 als Diözesanbischof (bis 1997) schlug eine vom Corpus Catholicum ins Leben gerufene Kommission, welche sich mit der Frage eines Katholikentags in Graubünden auseinandersetzte, im April 1993 vor, die Probleme im Bistum Chur könnten eventuell sogar von einer Diözesanynode - einberufen von der Bistumsleitung unter Haas und den neu ernannten beiden Weihbischöfen Henrici und Vollmar - diskutiert und behandelt werden. Ein von drei Dekanen, Paul Giger (Surselva), Giusep Quinter (Chur) und Robert Trottmann (Engadin), vorgeschlagenen gemeinsamen «Tag der Bündner Katholikinnen und Katholiken» sei indes frühestens 1994 realistisch. Die Kommissionsmehrheit hielt damals fest, die von verschiedener Seite kritisierte Initiative zu einer solchen Versammlung der Gläubigen in Bünden beruhe auf der «Sorge um die Kirche in Kanton und Bistum». Die ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getretenen drei Dekane beabsichtigten nicht, ein «Scherbengericht» zu veranstalten, sondern «sie möchten die Kirche auf die Höhe der Zeit bringen und versuchen, eine Seelsorge mit mehr menschlicher Wärme zu leben» und «sie wollen das von oben versorgte ‹Volk Gottes› zu einer von unten herauf sorgenden Gemeinschaft machen». Die Kommissionsminderheit vertrat dagegen die Auffassung, «die Willenskundgebung der Dekane tendiere auf eine Spaltung der Einheit der Katholiken hin», grenze Minderheiten aus, stachle Seelsorger gegeneinander auf und stelle die Kirche gar bloss statt sie zu schützen. Bereits Anfang Mai 1993 entschied die von den drei Dekanen eingesetzte Arbeitsgruppe unter Leitung von Dompfarrer Giusep Quinter einseitig und gegen den Willen des Corpus Catholicum für die Durchführung der «Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken» im Frühjahr 1994 mit der Argumentation, «grundsätzlich zu Problemen der Pastoral und der Seelsorge von Katholisch-Graubünden Stellung zu beziehen». Man hoffe, so Quinter, dass sowohl die Landeskirche als auch die neue Bistumsleitung mit den beiden Weihbischöfen zu einem späteren Zeitpunkt bei der Organisation und Durchführung der «Tagsatzung» mitwirken würden. Im August 1993 betonte die Arbeitsgruppe aber, man suche für die Veranstaltung den Konsens mit den Weihbischöfen und dem Corpus Catholicum, und im September 1993 erklärte Paul Vollmar als Generalvikar für Graubünden im Anschluss an ein Gespräch zwischen den Organisatoren und den beiden Weihbischöfen, das Anliegen der «Tagsatzung» «wohlwollend» zu begleiten, ohne aber genauere Versprechungen hierfür abzugeben, ob und wie die bischöfliche Mitarbeit <?page no="403"?> 403 5. Für eine «Kirche des Dialogs»: Die freie Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken (1994-2001) aussehen werde. Diözesanbischof Wolfgang Haas hingegen machte, wie bereits früher in schriftlicher Form deutlich unterstrichen [siehe Kasten], klar, dass seine Haltung dem Vorhaben gegenüber nach wie vor ablehnend sei. Aus dem Schreiben von Diözesanbischof Wolfgang Haas an den Präsidenten der Verwaltungskommission des Corpus Catholicum, Théo Portmann [eingegangen am 11.-Januar 1993]: «Abgesehen von einer Stellungnahme bezüglich der vorgesehenen Sitzung vom 13.1.1993 möchte ich nochmals meine Beurteilung einer allfälligen Kirchenversammlung der Bündner Katholiken kundtun. Eine Kirchenversammlung kann nach katholischem Kirchenverständnis nie eine solche sein, wenn sie gegen oder ohne die rechtmässige kirchliche Autorität (Bischof ) einberufen werden und stattfinden soll. […] Ein vom bischöflichen Hirtendienst abgekoppeltes Verhalten widerspricht im Grunde jeder echten Förderung der christlichen Berufung, Frömmigkeit und der Caritas. Die in Aussicht genommene bzw. von verschiedenen Seiten angeregte Kirchenversammlung kann ich somit aus ekklesiologischen und pastoralen Ueberlegungen niemals gutheissen. Ich stelle grundsätzlich die Kirchlichkeit einer solchen Versammlung in Frage, auch wenn für mich gleichzeitig klar und anzuerkennen ist, dass im staatlichen bzw. zivilen Bereich die Bürger sich grundsätzlich frei versammeln können. Wenn die Organe der Landeskirche aber eine solche Kirchenversammlung auf irgendeine Weise unterstützen würden, würden sich nicht ‹auf unkonventionellem Weg› ihre Bemühungen zur Verständigung fortsetzen, sondern es auf einem dem Wesen und den Gesetzen der römisch-katholischen Kirche zuwiderlaufenden Weg tun, was zugleich bedeuten würde, die Verfassung der Landeskirche zu missachten.» Abb. 288: Karikatur aus der «Bündner Zeitung» vom 30.-Oktober 1993 [BAC] <?page no="404"?> 404 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … Auf der Jahreskonferenz des Corpus Catholicum (Parlament der katholischen Landeskirche Graubündens) am 27. Oktober 1993 wurde der Kommissionantrag [9 zu 3] zur «angemessenen Unterstützung» eines Katholikentags mit 65 zu 10 Stimmen grossmehrheitlich angenommen; der an der Sitzung anwesende Weihbischof Vollmar bekräftigte seinen Willen, die «Tagsatzung» mittragen und begleiten zu wollen. Die von der Kommission angeregte alternative und sogar bessere Form einer ausserordentlichen Diözesansynode unter Churer Bistumsleitung anstelle einer «Tagsatzung» nur von Katholiken und Katholikinnen aus Graubünden, wurde nicht mehr weiter berücksichtigt. Das geschaffene Sekretariat mit Sitz in Chur zur Organisation und Durchführung der «Tagsatzung» stellte in der April-Ausgabe des Churer Pfarrblatts sowie mit einem eigenen Flyer die bevorstehende Versammlung vor. Aus der turbulenten Situation im Bistum Chur entstanden, wolle sie die pastorale Lage erörtern, Möglichkeiten ausloten und Lösungsansätze wie Anträge der Bistumsleitung vorlegen. Als dringend «unter dem Aspekt eines kirchentheologischen Verständnisses im Sinn und Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Synode 72» zu beratende Sachgebiete nannte die Vorbereitungskommission: • die Sicherstellung und Weiterführung der Seelsorge (Hilfe und Solidarität unter den einzelnen Pfarreien), • die Weitergabe des Glaubens (Katechese, Jugend- und Erwachsenenbildung, Seelsorge an geschiedenen Wiederverheirateten), • die Sakramenten-Pastoral (besonders Taufe, Beichte / Bussfeier, Eucharistie, Firmung), • die Ökumene (interkonfessioneller Religionsunterricht, Mischehe-Pastoral, nichtchristliche Religionen, sowie • die Diakonie (Fürsorge) der Ortskirche (Arbeitslosigkeit und ihre Folgen, Randgruppen: Drogen, Aids). Die auf zwei bis drei Jahre angelegte «Tagsatzung» als «freie Zusammenkunft der Bündner Katholikinnen und Katholiken» sollte zweimal jährlich in Sessionen (Fr-So) tagen. Zu den Abgeordneten der einzelnen Kirchgemeinden im Kanton Graubünden (ca. 150 Personen) zählten 1/ 3 Priester, hauptamtlich tätige Laienseelsorger/ innen und Ordensleute. Um den Kreis der Abgeordneten in fachlicher, regionaler und soziologischer Hinsicht zu ergänzen, räumte sich die Vorbereitungskommission das Recht ein, 1/ 10 der Teilnehmer/ innen zu berufen. Die Wahl der Laienvertreter/ innen wurde nach dem Modus der Delegierten der Kirchgemeinden in das Corpus Catholicum durchgeführt. Die Priester, Laienseelsorger/ innen und Ordensleute bestimmte man durch Wahl in den Dekanaten bzw. in den Ordensgemeinschaften. «Begleitet und gestützt» wurde die Tagsatzung nicht vom Churer Diözesanbischof, sondern lediglich vom Parlament der Landeskirche Graubünden und vom Kantonalen Seelsorgerat. Um die kirchliche Legitimität zu unterstreichen, wurde als «Vertreter der Bistumsleitung» Weihbischof und Generalvikar Paul Vollmar gerne hervorgehoben. <?page no="405"?> 405 5. Für eine «Kirche des Dialogs»: Die freie Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken (1994-2001) Am 4. Juni 1994 fand die Eröffnung der «Tagsatzung» im katholischen Kirchgemeindehaus Titthof in Chur mit 128 Delegierten aus 100 der damals 131 Bündner Kirchgemeinden (17 Kirchgemeinden nicht reagiert, 14 Teilnahme abgelehnt) statt. Dazu lud man auch Bischof Wolfgang Haas ein. In einem Schreiben vom 20. Mai 1994 an Pfarrer Giusep Quinter als Vertreter der Zentralkommission der «Tagsatzung» bestätigte Haas den Eingang der Einladung und machte den Standpunkt der Diözesanleitung zu dieser Veranstaltung noch einmal deutlich, indem er betonte, es sei «unfair, den Eindruck zu erwecken, als trage die Bistumsleitung durch Weihbischof und Generalvikar Dr. Paul Vollmar die Tagsatzung mit»; vielmehr sei klar, «dass diese Zusammenkunft von der Bistumsleitung weder getragen noch mitgetragen wird». Der Weihbischof beobachte als Ansprechsperson «lediglich in begleitender Weise die Geschehnisse dieser Zusammenkunft». Damit war weder die Legitimation gegeben, noch lag ein Aufeinander-Zugehen kurz vor Beginn der «Tagsatzung» im Bereich des Erreichbaren. Auch wenn Haas in seinem Brief «alle echten und sachgerechten Bemühungen» der ihm in seinem Bistum anvertrauten Christgläubigen wohl zu schätzen wusste, war schon vor Eröffnung eine wirklich fruchtbare Langzeitwirkung mittels Unterstützung der Bistumsleitung wenig wahrscheinlich. So betonte Josef Pfammatter, wie Quinter Mitglied der Zentralkommission, die «Tagsatzung» könne und wolle keine Weltsynode sein, an der grundsätzlich auf die Probleme der katholischen Kirche eingegangen werde, sondern konzentriere sich auf die Probleme der Kirche in Graubünden. Die Liste der zu behandelnden Themenkreise zeigt jedoch sehr wohl die Problematik, dass gewisse Themata nur gesamtkirchlich und nicht von (wenn auch sehr engagierten) Katholiken in einer Alpenregion angegangen werden, geschweige denn einer Lösung zugeführt werden konnten. Pfammatter räumte demnach auch ein, die Delegierten versuchten, sachbezogen Lösungen in Form von Optionen zuhanden der Bistumsleitung und in Form von Empfehlungen zuhanden bestimmter Personen zu erarbeiten. Diese Arbeitsweise lag bereits der Synode 72 zugrunde - und wie viele der «Empfehlungen» sind damals in einer wahren Aufbruchsstimmung formuliert, wahrlich «sicher» aber ohne Langzeitwirkung deponiert worden? Zu den behandelten Themenkreisen wurden 7 Hefte gedruckt [1995-1998] Themenkreis 1 Sicherstellung und Weiterführung der Seelsorge Themenkreis 2 Dienste und Ämter in der Kirche Themenkreis 3 Erwachsenenbildung: Ehe- und Familienpastoral Themenkreis 4 Katechese und Jugendpastoral Themenkreis 5 Sakramentenpastoral - Sakramente und Segnungen Themenkreis 6 Ökumene Themenkreis 7 Diakonie <?page no="406"?> 406 XI. Gemeinsam als Volk Gottes unterwegs - Die Synode 72 als (unvollendete) nachkonziliare Aufarbeitung … Vom 4.-6. November 1994 folgte dann unter der präsidialen Leitung von Pfarrer Quinter die erste Session im «Haus der Begegnung» des Dominikanerinnenklosters zu Ilanz. Interessanterweise und zur Betroffenheit aller Teilnehmenden glänzte Weihbischof Vollmar entgegen seiner früheren Zusagen, die Tagsatzung zu begleiten, (angeblich aus pastoralen Gründen) mit gänzlicher Abwesenheit. Wie bereits während der Synode 72, so berichtet das Churer Pfarrblatt, «war bei den zahlreichen Frauen und Männern ein grosser Idealismus und viel Glaubensfreude die Triebfeder ihres durchwegs ehrenamtlichen Einsatzes» - ein Zeichen wider Resignation und Ohnmacht. Weitere Sessionen folgten am 5.-7. Mai sowie 3.-5. November 1995, diesmal wieder mit der Teilnahme des Weihbischofs. 1996 folgten nochmals zwei Plenarsitzungen; vom 30. Mai bis 1. Juni 1997 trat die «Tagsatzung» im Kloster Ilanz zu ihrer Schluss-Session zusammen. Bereits vor Beginn der Maisession 1995 stösst die Leserschaft des «Pfarrblatts Chur» bzgl. Tagsatzung auf bemerkenswerte Sätze, die aus Feder des Pastoralassistenten und späteren Diakons Georges Kennel stammen: «Ein Anliegen, das schon bald von grosser Bedeutung sein wird, liegt in der Tranportierung der behandelten Fragen und Ideen an die Basis. Die Tagsatzung darf nicht auf einen Prozess beschränkt bleiben, in welchen lediglich die Delegierten einbezogen sind. Das aufgebrochene Interesse muss auf die Basis übergreifen, damit die Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken nicht das gleiche Schicksal erfährt wie die Synode 72, die in der Kirche leider zu wenig rezipiert worden ist.» Auch wenn nach 1997 bis Mai 2001 sich verschiedene Delegierte in Arbeitsgruppen als «Tagsatzung nach der Tagsatzung» weiter trafen und mit viel Engagement versuchten, die in den Themenheften fixierten Impulse und Anliegen weiter zu verfolgen, muss ähnlich wie bei der Synode 72 konstatiert werden, dass die einstige Aufbruchsstimmung von 1994 bereits nach zehn Jahren verflachte und versiegte. Wohl besuchte im Mai 1999 erstmals seit der Gründung in der Person von Amédée Grab ein Churer Diözesanbischof die «Tagsatzung» und bekundete mit seiner gewinnenden Art seine Wertschätzung dem basiskirchlichen Forum gegenüber. Grab sah dieses Forum als unterstützende wie ergänzende Institution vor allem für den Kantonalen Seelsorgerat, um dadurch «Wesentliches zur Verlebendigung der Kirche» beizutragen, obwohl die «Tagsatzung» nicht eine offizielle Struktur des Bistums sei und sein wolle. Doch ausser einem «breit angelegten Prozess kirchlicher Erwachsenenbildung», so wird 2001 betont, hat das in den verstrichenen sieben Jahren Gesagte und schriftlich Festgehaltene «weder in der Kirchenleitung noch im Kirchenvolk jenen Widerhall gefunden», den sich die Initianten gewünscht hatten. Es ist bezeichnend, dass bereits 2002 sämtliche Akten der «Tagsatzung» (1994-2001) als Schenkung an das Staatsarchiv Graubünden abgetreten worden sind. Dort liegen sie seither für Interessierte der Erforschung einer (inoffiziellen) kirchlichen Basisorganisation im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert offen. Das Schicksal der «Tagsatzung» aber gleicht jenem der Synode 72: eine - vor allem für die beteiligten Delegierten «hilfreiche» wie «wohltuende» - Episode, ohne wirklich bleibendes Echo, welches die Anliegen, Optionen und Visionen in der pastoralen Praxis der Pfarreien in Bünden und darüber hinaus konsequent und nachhaltig einlöst bzw. weiterentwickelt. So bleibt auch nach der offiziellen Auflösung der «Tagsatzung» am 5. Mai 2001 das Bedürfnis nach einer offenen «Kirche des Dialogs» nicht nur in der Bistumsregion Graubünden gross. <?page no="407"?> 407 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen in Pfarreien, Vereinen und Gruppen Wie zu Beginn dieses Buches geschildert, brach am Ende des 18. Jahrhunderts die Alte Eidgenossenschaft zusammen, und es entstand allmählich die neuzeitliche Schweiz. Das Ringen um die politische Neuordnung führte von der Helvetik über die Mediation zum Staatenbund und 1848 zum Bundesstaat. Dieser Prozess «forderte die modernisierungskritischen gesellschaften Kräfte, besonders aber die katholische Kirche heraus» (Rolf Weibel). In Auseinandersetzung mit dem Liberalismus (Kulturkampf als Höhepunkt) emanzipierten sich die Katholiken: «als Vereins- und Parteikatholizismus schuf der Schweizer Katholizismus ein soziales Milieu, das ihm den Aufstieg als gleichberechtigte Kraft im nationalliberalen Staat ermöglichte». 1881 wurde erstmals ein Katholik in den Bunderat gewählt, erneut dann 1919. Die Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg zählten insbesondere in den Städten zu den ‹goldenen Jahren› des Milieukatholizismus. Die unzähligen katholischen Vereine und Verbände bildeten eine wichtige Plattform für den Aufstieg der Laien in der Kirche. Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es bereits wieder eine merkliche Abnahme des sog. «organisierten Katholizismus»; auf der anderen Seite gewann die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Katholiken (Bsp. Zürich) zunehmend an Bedeutung. Nach 1975 übernahmen im Zuge des massiv zunehmenden Priestermangels theologisch ausgebildete Laien immer häufiger Seelsorgeaufgaben, welche bislang vom Klerus abgedeckt worden waren und bewirkten so auch eine Veränderung in der Ausformung des Pfarreilebens und pastoralen Alltags. 1. Auf- und Ausbau eines Vereins- und Verbandskatholismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Vor dem Hintergrund der 1848 gewährten Niederlassungsfreiheit und der beginnenden Industrialisierung setzte eine merkliche Zunahme katholischer Arbeiter mit ihren Familien in den grösseren reformierten Städten und Gebieten ein. Als Folge davon entstand mit Blick auf das Bistum Chur in seinen Grenzen nach 1819 im vom Churer Bischof administrativ verwalteten Gebiet des Kantons Zürich eine rasch wachsende katholische Diaspora, deren Seelsorge dringend zu organisieren war, doch von der Bistumsleitung nicht annähernd entsprochen werden konnte. Hierfür stand der «Piusverein» Pate. Bereits 1853 regte Theodor Scherer-Boccard (1816-1885), Redaktor (1855-1880) der 1832 gegründeten und bis heute bestehenden «Schweizerischen Kirchenzeitung» (SKZ), an, nach dem Vorbild der in Deutschland seit 1848/ 49 existierenden Piusvereine (als organisierte <?page no="408"?> 408 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Form des politischen Katholizismus) ein entsprechendes Pendant in der Schweiz zu gründen mit dem Zweck, den Wiederaufbau katholischer Organisationen und Institutionen zu fördern und zu unterstützen. Bereits existierende einzelne Ortsvereine schlossen sich am 31. Juli 1857 in Beckenried/ NW zum «Schweizerischen Piusverein» zusammen. 1863 konnte erfreulich konstantiert werden, der Katholizismus in der Schweiz habe an Blühkraft zugenommen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der bis 1904 bestehende Piusverein unter Leitung von Theodor Scherer-Boccard (bis 1885) zum «Zentrum aller katholischen Bestrebungen für die Seelsorge der in der Diaspora lebenden Katholiken» und um ihn herum entstand «ein ganzes Geflecht katholischer Organisationen und Institutionen mit religiös-kirchlichem, bildungsmässigem und karitativem Charakter». Für die finanzielle Unterstützung der Diaspora-Katholiken stand alsbald die «Inländische Mission» (gegründet 1863) [siehe oben, S. 102]. 1866 anerkannten die Schweizer Bischöfe sowohl den Piusverein als auch das Werk der Inländischen Mission an. Schweizerische Piusverein (1857-1904) Der Piusverein war von 1857 bis 1904 eine Organisation zur Bewahrung des katholischen Glaubens, der katholischen Wissenschaft und Kultur in der Schweiz. Aus Orts-, Kreis- und Kantonalvereinen bestehend, wurde er von einem zehnköpfigen Zentralkommitee (5 Geistliche, 5 Laien) geleitet. 1892 gab sich der Piusverein neue Statuten und wurde in «Schweizer Katholikenverein» umbenannt. Diese Modernisierung und das neu geschaffene Zentralsekretariat in Luzern brachten einen neuen Aufschwung (1903: 35'000 Mitglieder in 224 Sektionen). Auf dem ersten gesamtschweizerischen Katholikentag 1903 wurde von den Spitzenverbänden beschlossen, sich ab 1904 im «Schweizerischen Katholischen Volksverein» (SKVV) zusammenzuschliessen (1905: 40'693 Mitglieder in 363 Sektionen). Der nach wie vor nur Männern offenstehende Verein regte 1912 die Gründung des «Schweizerischen Katholischen Frauenbundes» (SKF) an, um eine vollständige Vertretung der katholischen Bevölkerung zu erreichen. 1991 wandelte sich der SKVV in einen Förderverein um. Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 beliess zwar viele Bestimmungen von 1848 unverändert, nahm aber vor allem gegen die Katholiken gerichtete neue Artikel auf (Jesuitenverbot, Wiederherstellung aufgehobener Klöster und religiöser Orden unzulässig, Genehmigung des Bundes bei Errichtung neuer Bistümer erforderlich, Abschaffung der geistlichen Gerichtsbarkeit und Einführung des staatlichen Ehe- und Bestattungswesens, Schaffung konfessionell-neutraler Schulen [Schulhoheit aber bei den Kantonen]). Die damit zum Höhepunkt des Kulturkampfes in der Schweiz geführte Situation bewirkte eine stärkere Polarisierung des Piusvereins und Mobilisierung des Volkskatholismus in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien. In Zürich (wie auch in Basel) bildeten sich neue Männer- und Katholikenvereine; diese stellten die ersten institutionellen Kontakte untereinander an den sog. «Diasporatagen» (erstmals 1885) her. Da 1886 die Vertreter des Piusvereins auf die alleinige Führung im katholischen Vereins- und Parteiwesen pochten, <?page no="409"?> 409 1. Auf- und Ausbau eines Vereins- und Verbandskatholismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts kam es 1888 zur Gründung des «Verbandes der katholischen Männer- und Arbeitervereine» (VMAV). Verbandzweck war die religiös-ethische Unterweisung und Weiterbildung seiner Mitglieder. Von Anfang an aber bildete auch die religiös-politische Tätigkeit eine wichtige Komponente, welche bei kantonalen Katholikentagen wie etwa in Zürich (erstmals am 4. Oktober 1884) jeweils stark in Erscheinung trat und zu einer weiteren Entfremdung vom Piusverein führte. Erst 1904/ 05 gelang eine Zusammenführung unter dem Dachnamen «Schweizerischer Katholischer Volksverein» (SKVV). Dieser versuchte sämtliche Bereiche des religiösen, kulturellen und sozialen Lebens abzudecken, indem die Vereinstätigkeiten in total 7 Sektionen aufgeteilt wurden: Sektion 1 Inländische Mission Sektion 2 Soziales Sektion 3 Caritas Sektion 4 Erziehung und Unterricht [1875: Verein für katholische Erziehung] Sektion 5 Wissenschaft und Kunst Sektion 6 Pressewesen [1908: Vereinigung der schweizerischen katholischen Publizisten] Sektion 7 Schutz der Sittlichkeit [Gründung von Schutzvereinen für weibliche und männliche Jugend] 1906 bzw. 1912 schliesslich trat der «Katholische Frauenbund» bzw. «Schweizerische Katholische Frauenbund» (Zusammenschluss regionaler Frauenverbände) dem Dachverband des SKVV bei und vollendete damit den Ausbau und die Festigung der Schweizer Katholiken und Katholikinnen auf kantonaler und nationaler Ebene. Auf Diözesanebene entwickelte sich Zürich neben Luzern und Freiburg i.Ü. unter kräftiger Förderung durch Kleriker und Laien zu einem zusätzlichen katholischen «Vorort» der Schweiz mit seinen Vereinszentren und dem dichten Bildungsangebot. Die einst kleine Zürcher Diasporakirche wurde zweifellos zur aktivsten und kreativsten im Bistum Chur. Bereits 1907 zählte man für die Stadt Zürich 2 akademische Vereine (Turicia, Renaissance), 6 soziale Vereine (darunter den Arbeiter/ Innen-Verein oder die Merkuria, ein Verein für katholische Kaufleute und Beamte, und den Gesellenverein [gegr. 1863]), 5 Schutzvereine für die weibliche und männliche Jugend (u.a. die Jungfrauenkongregation «Maria Immaculata»), 12 caritative Vereine und Institute (Müttervereine, Vinzenzvereine) sowie 6 Gesangsvereine (Cäcilienvereine). Der Zusammenhang war sehr eng, da das Vereinsleben die weltlichen und kirchlichen Anlässe auch der Pfarrei einschloss und die Mitglieder oft mehreren Vereinen gleichzeitig angehörten. Die 1904 bis 1991 erschienene «Neue Zürcher Nachrichten» (NZN) unterstützte Aufbau und Festigung sowohl der katholischen Verbände rund um Zürich als auch die christlich-soziale Parteiarbeit. Da die sozialen Reformen im 19. Jahrhundert von der römisch-katholischen Kirche stark gefördert wurden, entstanden in ländlichen Kantonen als linke Ergänzung zu den da- <?page no="410"?> 410 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … maligen konservativ-katholische Volksbewegungen (1912 als «Schweizerische Konservative Volkspartei» [KVP] gegründet) Christlichsoziale Parteien (CSP). Es erstaunt wenig, dass gerade in Zürich unter den eingewanderten Katholiken eine CSP-Sektion gegründet wurde; hingegen gab es in der Limmatstadt bis 1896 keine katholische Volkspartei; auch heute ist die Vertretung der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) prozentual im Kanton Zürich äusserst schwach (ca. 3'500 Mitglieder bei einem Wähleranteil von 4,8-% [Stand 2013]). Gesamtschweizerische Katholikentage 1903-1954 Jahr Ort Zweck / Motto 1903 Luzern Katholikentag als Bündelung des Schweizer Katholizismus (darauf Zusammenführung und Gründung des SKVV) 1906 Freiburg i.Ü. Zusammenführung der französisch-sprechenden Katholiken mit den Katholiken der deutschsprachigen Schweiz (jeweils Generalversammlung der SKVV) 1909 Zug Katholikentag als religiöse Grundlage und kulturell-sozial-nationale Orientierungsveranstaltung 1913 St. Gallen Katholikentag in Verbindung mit der Feier des 1300-Jahr-Jubiläums der Ankunft des hl. Gallus Abb. 289 (links): Einflussreicher Publizist, Verleger und Politiker: Theodor Scherer-Boccard (1816-1885) [Quelle: wikipedia] / Abb. 290 (rechts): Titelseite der ersten Ausgabe der «Schweizerischen Kirchenzeitung» (SKZ) 1832 [BBC] <?page no="411"?> 411 1. Auf- und Ausbau eines Vereins- und Verbandskatholismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts 1921 Freiburg i.Ü. Katholikentag in Verbindung mit der Feier des 400. Geburtstages des hl. Petrus Canisius (1521-1597) 1924 Basel Katholikentag mit Akzent auf Kulturarbeit (Überlegungen zu den Aufgabenfeldern der Katholiken in Gesellschaft und Politik) 1929 Luzern Katholikentag in Verbindung mit der Feier des 25-jährigen Jubiläums des SKVV (mit Ausarbeitung eines Wirtschafts- und Sozialprogramms der Schweizer Katholiken) 1935 Freiburg i.Ü. Katholikentag im Zeichen der «Katholischen Aktion» für das Laienapostolat unter Leitung der Bischöfe (zudem geprägt vom eucharistischen Landeskongress) 1949 Luzern Motto: «Geheiligt werde Dein Name» Katholikentag wieder zentriert als Kundgebung der Einheit und Geschlossenheit der Schweizer Katholiken (klare Rückkehr von einem religiös-politischen «Parteitag» zum religiös-eucharistischen Gemeinschaftserlebnis) 1954 Freiburg i.Ü. Motto: «Zu uns komme Dein Reich» Letzter gesamtschweizerischer Katholikentag (verbunden mit der 100-Jahr-Feier der Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens (8. Dezember 1854) und des 50-Jahr-Jubiläums des SKVV) Der Preis der seit dem 19. Jahrhundert so gewachsenen relativ abgeschlossenen Sozialform des schweizerischen Katholizismus, indem die katholischen Vereine und Verbände keineswegs von starken Laienpersönlichkeiten geprägt blieben, sondern seit Beginn des 20. Jahrhunderts wieder viel stärker unter der Leitung des Klerus standen, welche den katholischen Glauben gegen Anfechtungen «von aussen» abschirmten, war eine «überwachte» wie «geschützte» Isolierung bzw. Solidarität. Namentlich in den Jugendverbänden wurde die religiös-kirchliche Praxis systematisch kontrolliert. Für Unterhaltungsanlässe am Samstagabend oder Sonntag erliess nicht zuletzt das Bischöfliche Ordinariat in Chur strenge Vorschriften (erstmals 1916) und wiederholte diese 1921, 1922 und 1933, um der Vergnügungssucht Einhalt zu gebieten und die Sonntagspflicht sicher zu stellen. Für die Diasporagebiete wurden interessanterweise Zugeständnisse gemacht: Tanzabende und andere gesellige Anlässe hätten in der Diaspora den Sinn, die Katholiken untereinander bekannt zu machen und zu einigen, was in den katholischen Stammlanden nicht nötig sei. Trotz dieser Zugeständnisse monierte Bischof Georgius Schmid von Grüneck, dass es auch in der Diaspora manche nicht akzeptable Überschreitungen gebe: «Wir können es nicht verhehlen, dass die ganze Entwickelung der heutigen Welt der Sonntagsheiligung feindlich ist.» [«Folia Officiosa» 1922, S. 53-55]. Dennoch wäre es falsch zu behaupten, alle Katholiken hätten in einem solchen Glaubensmilieu aktiv mitgewirkt. Vielmehr ist auch für Katholisch-Zürich festzustellen, dass lediglich ein Drittel der dort wohnhaften Katholiken in Kirche, Vereinen, Verbänden oder Parteien aktiv tätig war, ein Drittel machte pas- <?page no="412"?> 412 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … siv mit, hauptsächlich in der Kirche, und ein Drittel schliesslich besass sogar ein äusserst distanziertes Verhältnis zu Kirche und poltisch-motiviertem (Verbands-)Katholizismus. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und einer starken Modernisierung in der Schweiz, welche in der Landesausstellung in Lausanne 1964 (Expo 64) ihren Ausdruck fand, kam es immer mehr zur Öffnung und Integration des katholischen Bevölkerungsteils in die Gesellschaft; beschleunigt wurde diese Entwicklung durch eine Nivellierung der Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung. Einerseits begann die katholischideologische Geschlossenheit (kritisch «Ghetto» genannt) unter den Bestrebungen der Modernisierung zu bröckeln, andererseits entwickelte sich im Schweizer Katholizismus ein neues weltkirchliches Bewusstsein. In diese Zeit des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels fiel die Ankündigung zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1959) durch Papst Johannes XXIII., welcher damit neben der innerkirchlichen Erneuerung auch eine Öffnung der Kirche ins Heute («aggiornamento») wünschte. Beschwingte Hoffnungen und Erwartungen, ein «sentire cum ecclesia», war zwischen 1959 und dem Konzilsbeginn 1962 zu verspüren, hielt aber nicht an, sondern verblasste in den 80er Jahren (nach Beendigung der Synode 72) alsbald wieder. Abb. 291: Richtlinien betreffend Tanzanlässe an Sonntagen, erlassen am 11. Mai 1922 von Bischof Georgius Schmid von Grüneck (publiziert in: «Folia Officiosa» 28 (1922), S. 53-55) [BBC] <?page no="413"?> 413 2. Neue religiöse Gruppierungen und Bewegungen 2. Neue religiöse Gruppierungen und Bewegungen Beinahe zeitgleich mit der Einrichtung der vom Zweiten Vatikanischen Konzil angeregten neuen Beratungsgremien - von den Pfarreiräten bis hin zu den diözesanen Seelsorgeräten - verlor einerseits der volkskirchlich geprägte Vereins- und Verbandkatholizismus mit wenigen Ausnahmen an Bedeutung, andererseits entstanden «eine fast unübersichtliche Vielfalt» von neuen Bewegungen, Gruppen und Gemeinschaften mit religiösen oder sozialen Zielsetzungen; diese stellen im Vergleich mit der Selbstorganisation des Katholizismus in der national-liberalen Schweiz nach 1848 ein neues Moment dar. Doch erst nachdem die von Rom kirchlich anerkannten neuen Bewegungen und geistlichen Gemeinschaften auf Einladung des Päpstlichen Rates für die Laien 1998 erstmals zu einem Kongress mit Papst Johannes Paul II. im Vatikan zusammengekommen waren, gewannen diese Gruppierungen auch in der Schweiz seitens der Bischofskonferenz an Aufmerksamkeit. Das römische Treffen von 1998 gab ein Jahr danach den Anstoss zu einem europäischen Treffen in Speyer, zu dem sich 174 Gründerinnen und Gründer sowie Verantwortliche von 41 Bewegungen und Gemeinschaften trafen. Im Herbst 1999 fand schliesslich auch die erste schweizerische Begegnung der Verantwortlichen von kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften (200 Vertreter/ innen von 25 Gruppierungen) mit Vertretern der Schweizer Bischofskonferenz statt. Ziel dieser Begegnung war nicht nur das gegenseitige Kennenlernen, sondern eine steigende Wertschätzung der geistlichen Gemeinschaften in der Kirche der Schweiz und vor allem auf Ebene der Pfarreien in den einzelnen Diözesen, wo noch manche, z.T. auch begründete Vorbehalte und Abwehrhaltungen zu verzeichnen waren und bis heute sind. In der Tat bleiben bislang die kirchenrechtlichen Möglichkeiten zur Lösung von strukturellen Problemfeldern zwischen den Gemeinschaften charismatischen Ursprungs (also Bewegungen) und den Gemeinschaften institutioneller Art (also territorial umschriebenen Pfarreien, Orden und Kongregationen) ein weitgehendes Desiderat. Bewegungen vertreten oft ein «Entscheidungschristentum», unterscheiden deutlicher und setzen stärker Grenzen. Geistliche Bewegungen, so schreibt Pfarrer Reto Müller einmal treffend, «neigen häufig zu einem ‹Entweder-Oder›, […] vertreten eine bestimmte Spiritualität und Theologie und erliegen der Versuchung, das, was ausserhalb ist, für nicht ganz perfekt, und das, was überhaupt nicht kirchlich ist, für unerlöst zu halten, das heisst Kirche und Welt als Gegensätze zu betrachten». Pfarreien hingegen leben mehrheitlich offen, innovativ nach allen Richtungen und als «unverbindliche» Volkskirche in einer pluralistischen Gesellschaft. Dennoch können Christen und Katholiken in Pfarreien von Menschen, die einer Bewegung angehören, z.B. (wieder) lernen, in der Stille und im Gebet, wo der Glaube nicht auf Leistung und Aktivismus zielt, eine persönliche Gottesbeziehung zu pflegen. Müller betont: «Zum ‹Festnetz der Pfarreien› ist gewissermassen das ‹Mobilnetz der Bewegungen› hinzugekommen». Beide haben ihre Daseinsberechtigung und müssen im Miteinander als Gläubige leben sowie können voneinander lernen und einander bereichern. <?page no="414"?> 414 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Religiöse Gruppierungen und Bewegungen (gegründet / tätig auf dem Territorium des Bistums Chur) [in alphabetischer Ordnung] 1990 «Bündnerinnen und Bündner für eine glaubwürdige Kirche» [BBGK] (Verein mit Sitz in Chur/ GR) 1981 «Cooperatori Guanelliani» Schwestern: «Töchter der heiligen Maria von der Vorsehung» (Figlie di Santa Maria della Providenza) [FSMP] Sitz: Roveredo/ GR (Altenheim) 1994 «Cursillo de Cristiandad» - Kleiner Kurs über das Christ-Sein Sitz: Zollikon/ ZH 1943 [seit 1962 päpstlich anerkannt] «Fokolar-Bewegung» (kirchlich anerkannt als «Werk Mariens») Nationalsekretariate: Adliswil/ ZH und Zürich 1967 «Gemeinschaft Christlichen Lebens» [GCL] Sitz in der Schweiz: Immensee/ SZ 1986 (Statut kirchlich approbiert) «Gruppi di Preghiera di Padre Pio da Pietrelcina [GP] (Gebetsgruppen Pater Pio) entstehen und wirken vorwiegend innerhalb der Pfarreien 1989 Katholische Volksbewegung «Pro Ecclesia» (Verein mit Sitz in Baden/ AG) 1921 «Legio Mariae» Legion Mariens ist eine Laien-Apostolatsgruppe Sitze in der deutschsprachigen Schweiz: Luzern, Olten, Zürich 1989 «Marianische Frauen- und Müttergemeinschaft» [MFM] (Verein mit Sitz in Zürich) 1981 «Marriage Encounter» [ME] - Begegnung in der Ehe Katholische Aufbruchbewegung von Laien (mit Wurzeln in Spanien) Sitz in der deutschsprchigen Schweiz: Illgau/ SZ 1964 (Statut seit 2002 kirchlich approbiert) «Neokatechumenaler Weg» Methode katholischer Erwachsenenbildung Gemeinschaften im Kanton Zürich 1993 «Servi della Sofferenza» gegründet von Don Pierino Galeone (Erzdiözese Taranto, Italien) seit 1993 kirchlich anerkanntes Säkularinstitut diözesanen Rechts Sitz der Leitung in der Schweiz: Chur/ GR 1998 «Spirituelle Weggemeinschaft» 1998 vom Churer Bischof in kanonischer Form errichtet als «Institut des geweihten Lebens» Sitze: Kehrsiten / NW (bis 2018) und Rheinau/ ZH <?page no="415"?> 415 3. Formen und Angebote katholischer Erwachsenenbildung (für Laien) 3. Formen und Angebote katholischer Erwachsenenbildung (für Laien) 1927 stellte der Zürcher Kantonalverband des Schweizerischen Katholischen Volksvereins (SKVV) auf Initiative von Alfred Teobaldi ein Programm von Bildungskursen zusammen; daraus erwuchs die «Katholische Volkshochschule». Mitte des 20.-Jahrhunderts meldete sich das Bedürfnis katholischer Akademiker, eine vertiefte Einführung in die Glaubenslehre zu erhalten. 1954 begründete Teobaldi zusammen mit Dozenten am Churer Priesterseminar in Zürich an der Katholischen Volkshochschule die «Theologischen Kurse für katholische Laien» [TKL (heute: theologiekurse.ch)]. Am vier Jahre dauernden Kurs wird interessierten Laien eine systematische, qualifizierte Einführung in die Hauptgebiete der Theologie aus katholischer Sicht, aber in ökumenischer Offenheit, vermittelt. Dass der TKL als zu einer interdiözesanen angewachsenen Bildungsinstitution seit Jahren ständig von 180 bis 200 engagierten Menschen besucht wird, darf als Zeichen für seine hohe Akzeptanz gedeutet werden. Bei der Anstellung von Laien im kirchlichen Dienst wurde er bald zur Auflage gemacht; zudem war er Voraussetzung für die weiterführende Berufsausbildung auf dem Dritten Bildungsweg (DBW) in Luzern. Die Institution des TKL bot ab 1975 bis 1987 ein als berufsbegleitender zweijähriger Diplomkurs geführtes «Seminar für Seelsorgehilfe» (SSH) an und organisiert seit 1961 die regional durchgeführten Katholischen Glaubenskurse (KGK). Abb. 292: Paulus-Akademie in Zürich-Witikon [BAC.BA] <?page no="416"?> 416 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Kurzchronik der «Theologie für Laien» in Zürich (seit 2010: «Interdiözesane Vereinigung theologiekurse ch») 1954 Start des ersten «Theologischen Kurses für katholische Laien» (TKL) mit 14 Abendvorlesungen über Philosophie von Prof. Dr. Josepf Trütsch aus Chur Teilnehmer/ innen: 170 Personen 1956 Loslösung des Theologiekurses von der Katholischen Volkshochschule Zürich und Gründung der eigenen Trägerschaft «Interdiözesane Vereinigung TKL» unter dem Präsidium von Alfred Teobaldi (Vizepräsident war Prof. Johannes Feiner, Chur) Zweck: theologische, spirituelle, katechetische und pastorale Aus- und Weiterbildung katholischer Laien 1957-1981 Das Fach Katechetik wir aus dem laufenden TKL herausgelöst und zu einem eigenen einjährigen Kurs (1957-1967) und später zum zweijährigen Katechetikkurs [KK] (1968-1981) ausgebaut. Während fast 25 Jahren besuchen rund 1'000 Frauen und Männer diesen nebenberuflichen Lehrgang. 1958 118 Personen schliessen den ersten vierjährigen Zyklus TKL erfolgreich ab; 16 Absolvent/ Innen erhalten zusätzlich die bischöfliche «Missio canoncia» für die Erteilung von Religions- und Konvertitenunterricht. 1961 Start des ersten «Katholischen Glaubenskurses» (KGK) in Zürich Teilnehmer/ innen: 135 Personen 1969 Registrierung der höchsten Jahresteilnehmerzahl im KGK mit 1'624 Personen (darunter auch 200 Ordensschwestern) 1975-1987 Start des zwijährigen «Seminars für Seelsorgehilfe» (SSH) Ziel ist die Ausbildung von seelsorgerlichen «Allroundern» für pastorale Dienste wie Krankenseelsorge, Liturgie, Katechese, Begleitung pfarreilicher Gruppen und Vereine, Mitarbeit in Fürsorge und Pfarreisekretariat (insgesamt rund 100 Seelsorgehelfer/ innen ausgebildet) 1982-1988 Angebot der «Theologisch-pastoralen Zusatzausbildung für Jugend- und Sozialarbeiter sowie Erwachsenenbildner» (TPZ) (43 Absolvent/ Innen) seit 1986 Lancierung einer neuen Dienstleistung: Kurs- und Medienpakete für selbständig zu gestaltende Erwachsenen- und Elternbildung in Pfarreien und Verbänden 2002 Veränderungen nach 40 Jahren beim Katholischen Glaubenskurs (KGK) Das zweijährige Kursprogramm wird in zwei eigenständige Jahreskurse aufgeteilt: • Kurs «Bibel verstehen» (3 Trimester zum AT / NT) • Kurs «Gott und die Welt verstehen» (3 Trimester zu Grundfragen des Glaubens) 2009 Neuerung beim «Studiengang Theologie» (STh): neben der Teilnahme am Vollstudium ist auch Gasthörerschaft möglich (wahlweiser Besuch einzelner Fächer) 2010 Die Statuten werden den Neuerungen der letzten Jahre angepasst. Der Vereinsname lautet neu: «Interdiözesane Vereinigung theologiekurse.ch» <?page no="417"?> 417 Kerngeschäft Studiengang Theologie (STh) 4 Jahre in Zürich und Luzern sowie als Fernkurs (bislang über 3'000 Absolvent/ innen) Regional durchgeführte Glaubenskurse (KGK) 2 Jahre (bislang über 20'000 Absolvent/ Innen) [Quelle: www.theologiekurse.ch] Ein Spätwerk des ersten Generalvikars für Zürich, Alfred Teobaldi, war die 1966 gegründete «Paulus-Akademie» in Zürich-Witikon (PAZ), die heute von einer Stiftung getragen wird (Statut von 1998) und Kurse, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zu aktuellen Fragen in Politik, Ökonomie, Gesellschaft, Kultur, Religion und Literatur anbietet. Weitere Bildungs- und Tagungszentren unter kirchlicher Trägerschaft im Bistum Chur seien hier der Vollständigkeit halber genannt: Schweizer Jugend- und Bildungszentrum in Einsiedeln/ SZ, Antoniushaus Mattli in Morschach/ SZ, Stiftung St. Karl in Illgau am Oberberg/ SZ, Haus St. Josef in Lungern/ OW, Haus Bethanien in St. Niklausen/ OW, Haus der spirituellen Weggemeinschaft ‹Maria in Linden› in Kehrsiten/ NW, Haus der Begegnung im Dominikanerinnenkloster Ilanz/ GR, sowie das seit April 2003 von Schwestern der Stiftung St.-Magdalena zu Rheinau geführte ‹Haus der Stille› im ehemaligen Klostertrakt Rheinau/ ZH. Bis Dezember 1998 standen die Türen des Bildungshauses des Dekanats Liechtenstein, Haus ‹Stein Egerta› in Schaan, offen. Ein vielfältiges Kursangebot offeriert nach wie vor das Bildungshaus Gutenberg in Balzers/ FL. 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Im Kapitel über die im Bistum Chur verehrten Heiligen, welches Pater Rudolf Henggeler OSB (1890-1971) für die Festschrift des 1500-Jahrjubiläums der rätischen Diözese verfasst hat, hebt der Einsiedler Mönch hervor, dass die Verehrung der Heiligen aus dem Leben der Kirche herausgewachsen sei, aber ihren tiefsten Grund in der Beziehung der Heiligen zu Gott, ihrem Schöpfer, dem allein Heiligen, findet. Gottesverehrung und Heiligenverehrung ist immer wohl zu unterscheiden: «Gott allein gebührt die Anbetung, die Heiligen aber verehren wir als seine treuen Diener und Anhänger, als unsere Vorbilder und Fürbitter» (Henggeler). Der Mensch und noch mehr der Christ ist zur Heiligkeit berufen, zu einem Leben, das Gott «wohlgefällig» ist und für die Mitmenschen über seinen Tod hinaus beispielhaft bleibt. Denn einem solchen Leben öffnet sich durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes in Christus Jesus das Tor zur himmlischen Gemeinschaft. So ist der Gedanke an die ‹Gemeinschaft der Heiligen›, welche im Apostolischen Glaubensbekenntnis festgehalten ist, etwas, «das aus dem Leben eines wahren Christen nicht wegzudenken ist»; in ihm, so sagt Henggeler, liege «eine Kraftquelle für das religiöse wie sittliche Leben von grösster und tiefster Auswirkung». Nicht nur überall dort, wo sich die Reformation (auch im Bistum Chur) ausbreiten konnte, geriet die Verehrung der Heiligen und der damit verbundene spätmittelalterliche 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur <?page no="418"?> 418 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Reliquienkult zum Kampfthema, sondern auch in den katholischen Stammlanden bedurfte es gewisser Korrekturen und Neuerungen. Im Anschluss an das Konzil von Trient (1545-1563) erfuhr der Heiligenkalender eine Reduktion hin auf den spätantik-frühmittelalterlichen Stand und wurde von Rom aus für die nun mehr dezidiert römischkatholische Kirche verbindlich vorgeschrieben. Um Wildwuchs möglichst zu beseitigen, musste die mittelalterliche Praxis, vom Volk erkorene Heilige als Selige gelten zu lassen, beseitigt werden. Niemand sollte mehr ohne päpstliche Zustimmung einen öffentlichen Kult erhalten; darum schuf Papst Urban VIII. (1623-1644) 1631 ein zusätzliches Verfahren, das bei herausragenden Verstorbenen, die man aber noch nicht als Heilige geehrt sehen wollte, eine auf bestimmte Orte, Länder oder Gemeinschaften begrenzte Verehrung erlaubte: die Seligsprechung. Einen neuen, betont ‹katholischen Glanz› erhielt die Verehrung der Gottesmutter Maria. Gerade in der Auseinandersetzung mit protestantischen Autoren erschien die marianische Frömmigkeit mit ihren reichen Ausformungen in der Barockzeit als Ausweis des Katholischen. Diese Entwicklung des demonstrativ katholischen Selbstbewusstseins hielt an und erfuhr im Anschluss an die Aufklärung im Zuge des Ultramontanismus eine bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichende Intensivierung. Dazu trugen die von den Päpsten eingeführten, neuen marianischen Feste wesentlich bei: unter Pius VII. am 24. März «Maria - Hilfe der Christen», am 15. September «Mariae Schmerzen». Pius IX. verkündete am 8. Dezember 1854 das Dogma von der «Unbefleckten Empfängnis» Mariens, deren Lehrverkündigung vom Kirchenvolk tief verinnerlichend aufgenommen wurde, Maria darin aber mehr als eine in Reinheit erstrahlende Jungfrau verehrte. Den 8. Dezember feierte man als das marianische Hochfest schlechthin. Der Rosenkranz mitsamt der Lau- Die Heiligenverehrung (lat. «veneratio», auch «dulia», griech. δουλεία, douleia) ist in der katholischen und der orthodoxen Kirche die feierliche Ehrung einer Person und dadurch die Verherrlichung Gottes selbst, der die «heilige» Person (nach seinem Ebenbild) erschaffen, in Gnade angenommen, mit Charismen reich beschenkt und nach Ablauf ihres irdischen Lebens bei sich vollendet hat. 2004 wurde das «Martyrologium Romanum» (erstmals 1583 im Auftrag von Papst Gregor XIII. zusammengestellt) aktualisiert, worin 6'650 Heilige und Selige sowie 7'400 Märtyrer verzeichnet sind. Auch die katholische Kirche kennt nicht die genaue Zahl, denn das Heiligenwesen in seiner heutigen Form wurde erst 1588 von Papst Sixtus-V. (1585-1590) geregelt. Die evangelischen Kirchen lehnen eine formelle Selig- oder Heiligsprechung als Vorwegnahme der göttlichen Heilsentscheidung ab. Die «Confessio Augustana» (1530) empfiehlt in Artikel 21 aber ausdrücklich das Gedenken an Heilige, allerdings ausschliesslich als Vorbilder im Glauben, während eine Mittlerfunktion oder die Anrufung von Heiligen abgelehnt wird. <?page no="419"?> 419 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur retanischen Litanei wurde zum ersten und allgemein geübten Gebet; eine Vielzahl von Marien-Andachten erlebte eine blütenhafte Zeit. Dazu trugen die im 19. Jahrhundert ein enormes Echo auslösenden Marienerscheinungen bei - zuerst 1846 die Erscheinung vor zwei Hirtenmädchen im französischen La Salette und dann (in der Wirkung alles übertreffend) die Erscheinungen der Unbefleckt-Empfangenen 1858 in Lourdes, gefolgt schliesslich 1916 von den Erscheinungen der Gottesmutter (mit einem Sonnenwunder endend) im portugisischen Fatima. Die Katechismen erhielten eigene Kapitel über die Stellung und Bedeutung Mariens. Aus persönlicher Devotion weihten sich Einzelpersonen, ganze Gruppen und Diözesen, die Päpste an der Spitze, der allerseligsten Jungfrau Maria. Die zahlreichen Gründungen von Ordenskongregationen im 19. Jahrhundert [siehe unten, S. 462-475] sind alle irgendwie marianisch geprägt. So drang das «allgegenwärtige Bild der reinen Jungfrau tief in das katholische Bewusstsein ein» (Arnold Angenendt), beeinflusste die künstlerisch-ikonographische wie poetische Ausformung und trug nicht zuletzt auch zu einer mehr und mehr wachsenden Anerkennung der Würde der Frau in Kirche und Gesellschaft bei. Man hat die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geradezu überschwenglich hervortretende und in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil fortdauernde Marienfrömmigkeit als «marianisches Zeitalter» bezeichnet. Es wundert deshalb kaum, dass sich in der Häufigkeit der Hauptkirchenpatrone von Pfarrkirchen, Pfarrrektoraten, Pfarrvikariaten und Kaplaneien in den drei Regionen Graubünden, Urschweiz und Zürich-Glarus des Bistums Chur (399), ohne die vielen grösseren und kleineren Kapellen mit zu berücksichtigen, neben den frühchristlichen Märtyrer-Namen ein ‹marianischer› Schwerpunkt herauskristallisiert. Die nachstehende Gesamtauswertung verzeichnet 65 Marienpatrozinien (davon 19 «Mariae Aufnahme in den Himmel» und 10 «Mariae Unbefleckte Umpfängnis»). Mit grösserem Abstand folgen die Patronate St. Josef (18), St. Antonius von Padua (16), St. Peter und Paul (16), St. Martin (15) und das Herz-Jesu-Patrozinium (14), welches infolge des seit 1856 für die gesamte römisch-katholische Kirche erklärten Festes des Heiligen Herzen Jesu starke Beliebtheit gefunden hat. Der erst 1947 heiliggesprochene Schweizer Landespatron Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) ist acht Mal als Kirchenhauptpatron gewählt, sieben Mal figuriert der seit 1963 als zweiter Bistumspatron verehrte Carlo Borromeo, und nur gerade noch einmal - für die Priesterseminarkirche in Chur - findet sich der Bistumspatron Luzius. <?page no="420"?> 420 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Häufigkeit der Kirchenhauptpatrone im Bistum Chur [vgl. Kapitel VI, S. 164-171; 174-179; 182-187] Hauptpatron von Pfarrkirchen, Pfarrrektoraten, Pfarrvikariaten und Kaplaneien (ohne Kapellen) [in alphabetischer Abfolge] Bistumsregion Graubünden [GR] Bistumsregion Urschweiz [UR, SZ, OW, NW] Bistumsregion Zürich-Glarus [ZH, GL] Total Adelrich von Einsiedeln, Mart. --- 1 --- 1 Agatha, Mart. --- --- 1 1 Albin von Rom, Mart. --- 1 --- 1 Allerheiligen 1 --- 1 2 Ambrosius, Bf. --- 1 --- 1 Andreas, Apostel 2 1 1 4 Anna, Mutter Mariens --- 2 1 3 Antonius, Mönchsvater Eins. 5 4 1 10 Antonius von Padua, Ordensmann KiLe. 9 2 5 16 Apollinaris, Bf. Mart. 1 --- --- 1 Apollonia, Mart. --- 1 --- 1 Barbara, Mart. 1 --- --- 1 Bartholomäus, Apostel 1 --- --- 1 Benignus von Dijon, GlB. Mart. --- --- 1 1 Bernardino von Siena, Ordensmann 1 --- --- 1 Bernardo von Siena, Ordensmann 4 --- --- 4 Blasius, Bf. Mart. 1 --- --- 1 Bruder Klaus, Eins. (Niklaus von Flüe) 2 2 4 8 Burkard von Beinwil, Pr. --- --- 1 1 Callistus I., Pp. 1 --- --- 1 Carlo Borromeo, Bf. 6 1 --- 7 Carpophorus, Pr. Mart. 1 --- --- 1 Christophorus, Mart. 2 --- 1 3 Christus: Erlöser 1 --- 1 2 Christus: Guthirt 1 --- 1 2 Christus: Herz Jesu 4 5 5 14 Christus: König (Christkönig) 2 --- 1 3 <?page no="421"?> 421 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Clemens I., Pp. 1 --- --- 1 Drei Könige --- 1 2 3 Dominica von Tropea, Mart. 1 --- --- 1 Donatus, Diakon Mart. 1 --- --- 1 Elisabeth, Mutter von Johannes d. T. 1 --- --- 1 Elisabeth von Thüringen --- --- 1 1 Erhard, Bf. --- 2 --- 2 Felix und Regula, Mart. --- --- 2 2 Fidelis von Sigmaringen, Mart. 1 --- --- 1 Florinus, Pr. 3 --- --- 3 Franziskus von Assisi, Ordensmann 3 --- 5 8 Fridolin, GlB. Abt --- --- 1 1 Gallus, Abt 2 3 2 7 Gaudentius von Bergell, Mart. 1 --- --- 1 Georg, Mart. 6 1 2 9 Heilig Geist 1 --- 1 2 Heilig Kreuz 1 3 2 6 Heilige Engel 1 --- --- 1 Heilige Familie 2 1 2 5 Heiligste Dreifaltigkeit 2 1 5 8 Heinrich, K. --- 1 --- 1 Hilarius von Poitiers, Bf. --- --- 1 1 Idda (Ida von Toggenburg), Inklusin --- 1 --- 1 Jakobus d. Ä., Apostel 6 5 --- 11 Johannes XXIII., Pp. --- --- 1 1 Johannes, Apostel 1 --- --- 1 Johannes Bosco, Pr. --- --- 1 1 Johannes der Täufer 6 2 1 9 Johannes Nepomuk, Pr. Mart. --- 1 --- 1 Johannes Vianney, Pr. --- --- 1 1 Josef, Bräutigam Mariens 5 5 8 18 Judas Thaddäus, Apostel --- --- 1 1 <?page no="422"?> 422 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Julitta, Mart. 1 --- --- 1 Julius I., Pp. 1 --- --- 1 Katharina von Alexandrien, Mart. 2 1 1 4 Katharina von Siena, Ordensfrau KiLe. --- --- 1 1 Kolumban, Abt --- 1 --- 1 Konrad, Bf. --- 1 1 2 Laurentius, Diakon Mart. 4 3 1 8 Leonhard, Abt --- 1 1 2 Luzius, GlB. in Rätien 1 --- --- 1 Marcellus I., Pp. --- 1 --- 1 Margaretha von Antiochien, Mart. --- 2 1 3 Maria / Unsere Liebe Frau (Liebfrauen) 4 5 4 13 Maria Frieden --- --- 2 2 Maria Hilf --- --- 1 1 Maria-Licht 1 --- --- 1 Maria Lourdes --- --- 1 1 Maria: Mariae Aufnahme in den Himmel (Mariae Himmelfahrt) 8 6 5 19 Maria: Mariae Geburt 3 1 --- 4 Maria: Mariae Heimsuchung 1 --- --- 1 Maria: Mariae Namen --- 1 --- 1 Maria: Mariae Krönung 1 --- 2 3 Maria: Mariae Schmerzen --- 2 --- 2 Maria: Unbefleckte Empfängnis 6 3 1 10 Maria: Unsere Liebe Frau von Fatima 1 --- --- 1 Maria: Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz 1 --- --- 1 Maria: Unsere Liebe Frau vom Skapulier 1 --- --- 1 Maria vom Guten Rat --- 3 --- 3 Maria vom Schnee --- 1 --- 1 Maria Magdalena 1 1 1 3 Martin, Bf. 6 4 5 15 <?page no="423"?> 423 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Mauritius, Mart. 2 --- 3 5 Maximilian Kolbe, Mart. --- --- 1 1 Meinrad von Einsiedeln, Mart. --- 1 --- 1 Michael, Erzengel 1 4 4 9 Nikolaus von Myra, Bf. 4 3 1 8 Othmar, Abt 1 --- --- 1 Paulus, Apostel 1 --- 1 2 Petrus, Apostel 3 --- 2 5 Petrus und Paulus, Apostel 6 8 2 16 Philippus, Apostel 1 --- --- 1 Pirmin, Bf. --- --- 1 1 Placidus, Mart. und Sigisbert 1 --- 1 2 Quiricus, Mart. 1 --- --- 1 Rochus, Mart. 1 --- --- 1 Scholastika von Nursia, Ordensfrau 1 --- --- 1 Sebastian, Mart. 2 2 --- 4 Sigismund (Sigmund) von Burgund, Kg. --- 1 --- 1 Stephanus, Mart. 3 1 2 6 Theodul, Bf. --- 3 --- 3 Thérèse von Lisieux, Ordensfrau, KiLe. --- 1 2 3 Thomas, Apostel 1 --- --- 1 Ulrich, Bf. --- 1 1 2 Urban, Abt. --- --- 1 1 Valentin, Bf. Mart. 1 --- --- 1 Verena von Zurzach, GlB. --- 1 1 2 Vigilius, Pp. 1 --- --- 1 Victor von Mailand (von Mauretanien), Mart. 2 --- --- 2 Viktor von Solothurn, Mart. --- 1 --- 1 Vincentius von Saragossa, Mart. 1 --- --- 1 Wendelin, Eins. Abt --- 2 --- 2 Zeno von Verona, Bf. 1 1 --- 2 <?page no="424"?> 424 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … • Bedeutung der Marienverehrung In der römisch-katholischen Kirche nimmt die Verehrung Mariens eine wichtige Rolle ein, die Dogmen der unbefleckten Empfängnis (1854) und der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950) gibt es ausschliesslich in der römisch-katholischen Kirche. Die Mariendogmen sind in ihrem Kern Aussagen über Jesus Christus. Maria ist bereits bei Gott vollendet, wie alle Menschen einmal vollendet werden sollen. Maria ist somit der ‹Prototyp› des durch Jesus Christus erlösten Menschen. Nach kirchlicher Lehre ist Maria aber keine Mittlerin zwischen Gott und Mensch, sondern sie führt zu Christus, dem einzig wahren Mittler zwischen Gott und dem erlösungsbedürftigen Menschen. Mit diesem christozentrischen Ziel vor Augen ist eine gesunde Marienverehrung sinnvoll. Abb. 293: Mutter Gottes mit Kind (Hochaltar in der Kathedrale zu Chur) [BAC.BA] Gesamtauswertung 399 Marienpatrozinien (insgesamt) 65 davon: Mariae Aufnahme in den Himmel 19 Josef, Bräutigam Mariens 18 Antonius von Padua, Ordensmann und Kirchenlehrer 16 Peter und Paul, Apostel 16 Martin von Tuor, Bischof 15 Herz Jesu-Patrozinien 14 Jakobus d. Ä., Apostel 11 Antonius, Mönchsvater und Einsiedler 10 Bruder Klaus, Einsiedler (Landespatron) 8 Luzius, Glaubensbote in Rätien (1. Diözesanpatron) 1 Carlo Borromeo, Bischof von Mailand (2. Diözesanpatron) 7 <?page no="425"?> 425 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur • Bedeutung der Herz-Jesu-Verehrung Die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu ist eine Ausdrucksform der römisch-katholischen Spiritualität. Dabei wird Jesus Christus unter dem Gesichtspunkt seiner durch sein Herz symbolisierten Liebe verehrt. Grundtext aus den Evangelien ist Joh 19,34 bzw. Joh 7,37- 39: das durchbohrte Herz des Gekreuzigten als Quelle der Sakramente der Kirche. In der Präfation des entsprechenden Hochfestes (am Freitag in der Woche nach Fronleichnam) heisst es: «Aus seiner geöffneten Seite strömen Blut und Wasser, aus seinem durchbohrten Herzen entspringen die Sakramente der Kirche. Das Herz des Erlösers steht offen für alle, damit sie freudig schöpfen aus den Quellen des Heiles.» Bereits im Mittelalter formte sich eine Herz- Jesu-Verehrung heraus und wurde im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Franziskaner gefördert. Im 17. Jahrhundert galt Franz von Sales (1567-1622) als «Mystiker des Herzens Jesu». Doch erst unter der Salesianerin und Mystikerin Margareta Maria Alacoque (1647-1690) gelang die weltweite Verbreitung der Herz-Jesu-Verehrung. 1856 führte Papst Pius IX. für die ganze Kirche das Hochfest des Heiligsten Herzens Jesu ein. 1899 weihte Papst Leo XIII. die ganze Welt dem Herzen Jesu. Die wiederholte Wahl des Herz-Jesu-Kirchenpatroziniums im Bistum Chur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Abbild der Beliebtheit in der katholischen (Volks)Frömmigkeit dieser Zeit. Im Katechismus der Katholischen Kirche wird die Herz-Jesu-Verehrung auf christozentrischem Fundament zusammengefasst und neu empfohlen. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika «Deus Caritas est» (2005) ausdrücklich auf das durchbohrte Herz Jesu Bezug genommen und zu einer Erneuerung der Herz-Jesu-Frömmigkeit im Herz-Jesu-Monat Juni aufgerufen. Abb. 294: Herz-Jesu-Altar, Ölgemälde aus dem Jahre 1926 von Felix Baumgartner in der Kathedrale zu Chur [BAC.BA] <?page no="426"?> 426 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … • Bedeutung der Verehrung des hl. Antonius von Padua Der aus einer portugischen Adelsfamilie stammende Franziskaner und Zeitgenosse des hl. Franziskus von Assisi, Antonius von Padua (um 1195-1231), wurde auf stürmisches Verlangen des Volkes bereits elf Monate nach seinem Tod am 30.-Mai 1232 von Papst Gregor-IX. (1227-1241) heiliggesprochen. In der Kirchengeschichte gab es bislang keine kürzere Zeitspanne zwischen Tod und Kanonisation (Heiligsprechung). Am 16. Januar 1946 wurde Antonius von Papst Pius XII. zum Kirchenlehrer ernannt. Deutlichstes Attribut des hl. Antonius ist das Jesuskind (Christusverbundenheit). Weitere Attribute sind die Lilie (Reinheit von Körper und Seele), das Herz (Nächstenliebe), die Flamme (Liebe zu Gott und den Menschen, Beschützer der Armen und Bedrängten) sowie die Bibel (Schriftkenntnis). Als Schutzpatron der einfachen Leute fand seine Verehrung im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt und verdrängte in Nordeuropa die bislang starke Verehrung des heiligen Eremiten und Mönchsvaters Antonius (gest. 356). Der am 13. Juni 1231 in der Nähe von Padua verstorbene Heilige wird unter anderem bei Unfruchtbarkeit, Fieber, Pest, Schiffbruch, in Kriegsnöten, für gute Ernten oder bei Viehkrankheiten angerufen. Auch für das Wiederauffinden verlorener Gegenstände ist er ein zuverlässiger Helfer. Gerade als Schutzpatron der Frauen und Kinder, und sein Patronat über die Armen zeigen bis heute seine ungebrochene Beliebtheit im Volk und erklären die häufige Wahl zum Kirchenpatron. Ungeachtet des Wandels in der Heiligenverehrung mit einer christozentrischen Akzentuierung wird anhand der im Bistum Chur vorgegebenen Eigenfeiern seit dem 17. Jahrhundert deutlich, dass historisch beglaubigte Bekenner und Märtyrer aus der frühen Zeit bis in die Gegenwart im liturgischen Kalender zur Kommemoration aufscheinen. Im Zuge der Liturgiereform hat die Ritenkongregation mit Datum vom 6. Juli 1962 einige von Chur eingereichte Änderungen approbiert, welche ab 1963 bistumsweit zu beachten waren (publiziert in den «Folia Officiosa» 1962): So feiert jedes Schweizer Bistum den Landespatron Niklaus von Flüe als kirchliches Hochfest. Hingegen gab es eine Änderung bei den Abb. 295: hl. Antonius von Padua, Gemäde aus dem Jahre 1656 von Giovanni Francesco Barbieri, genannt Guercino (1591-1666) [Quelle: wikipedia] <?page no="427"?> 427 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur • Bedeutung der Verehrung des hl. Josefs Im Unterschied zur Ostkirche ist die Verehrung des Nährvaters Jesu in der Westkirche erst ab Mitte des 9. Jahrhunderts zu verzeichnen, doch es vergingen nochmals fast 1000 Jahre, bis Papst Pius IX. den hl. Josef 1870 zum Schutzpatron der katholischen Kirche erklärte. Papst Leo XIII. schliesslich würdigte in seiner Enzyklika «Quamquam pluries» (1889) nachdrücklich die herausragende Stellung Josefs als Mann der Kirche. Das Leben Josefs wurde zum 100. Jahrestag der erwähnten Enzyklika 1989 von Papst Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben «Redemptoris custos» gewürdigt. Pius XII. führte 1955 als kirchliches Pendant zum weltweit begangenen Tag der Arbeit (1. Mai) und als Reaktion auf die soziale Bewegung den Gedenktag «Josef der Arbeiter» ein. Josef war gemäss biblischer Überlieferung als Bauhandwerker (Zimmermann) tätig und gilt so traditionell als Patron der Arbeiter, insbesondere der Zimmerleute und Holzfäller. Entsprechend gab es im 20. Jahrhundert eine markante Zunahme von Kirchenpatrozinien zu Ehren des hl. Josefs, was auch im Bistum Chur (v.a. in der Bistumsregion Zürich) nachweislich Niederschlag findet. Abb. 296: Die Heilige Familie (mit Johannes d. T. als Knaben) - Josef wird hier als Handwerker dargestellt, Ölgemälde um 1655/ 60 von Bartolomé Esteban Murillo (1618-1682) [Quelle: wikipedia] Churer Bistumspatronen; der hl. Luzius blieb Hauptpatron (neu 2. statt 3. Dezember), doch der über Jahrhunderte als zweiter Patron verehrte Priester Florinus von Ramosch/ Remüs (17. November) wurde durch Carlo Borromeo (4. November) verdrängt. Ferner finden sich früher als Heilige verehrte Personen nicht mehr im diözesanen Offizium: so etwa der nachweislich erste Bischof von Chur, Asinio (bez. 451), Bischof Valentian oder Valentinian (bez. 548), Gaudentius von Bergell, Valentin von Rätien, Viktor von Tomils, die Märtyrer Vitus, Modest und Crescentia oder die angebliche Schwester des hl. Luzius, Emerita. Die nachstehende Übersicht gibt Einblick in die Entwicklung seit dem ersten Druck eines «Proprium Sanctorum Episcopatus Curiensis» im Jahre 1646 bis 1985, als die Schweizer Bischöfe eine neue authentische Ausgabe der «Eigenfeiern für die Bistümer der deutschsprachigen Schweiz» herausgaben. <?page no="428"?> 428 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Abb. 297: «Proprium Sanctorum Episcopatus Curiensis», hrsg. von (Fürst)Bischof Ulrich VI. de Mont (1690) [BAC] Abb. 298: «Officia propria Sanctorum Ecclesiae et Dioecesis Curiensis», hrsg. von Bischof Johannes Fidelis Battaglia (1892) [BAC] <?page no="429"?> 429 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Eigenfeiern im Bistum Chur: Entwicklung vom 17 Jahrhundert bis zur Gegenwart Monat Gemäss «Proprium Sanctorum Episcopatus Curiensis», hrsg. von Bischof Ulrich VI. de Mont (1661-1692) [im Vergleich mit der Erstausgabe von 1646 unter Bischof Johann VI. Flugi von Aspermont (1636-1661)] 1646 / 1690 Gemäss «Officia propria Sanctorum Ecclesiae et Dioecesis Curiensis», hrsg. von Bischof Johann Baptist Anton von Federspiel (1755-1777) 1773 Gemäss «Officia Propria Sanctorum Ecclesiae et Dioecesis Curiensis», hrsg. von Bischof Johannes Fidelis Battaglia (1889-1908) [identisch mit Neuausgabe von 1879] 1892 Gemäss «Officia Propria Dioecesis Curiensis», hrsg. von Bischof Christianus Caminada (mit seinem Vorwort, datiert auf den 30. Juni 1949) 1949 Gemäss «Eigenfeiern für die Bistümer der deutschsprachigen Schweiz» - Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch 1985 [approbiert vom Bischof von Chur am 2. Dezember 1981] 1985 Januar 14. Fest des Namens Jesu 19. Asinio, Bf. von Chur 23. Valentin von Rätien, GlB, Bf. [1690: 28.01.] 23. Raimund von Peñafort OP [1690] 28. Meinrad von Einsiedeln, Mart. [1646] 29. Antonius Migliorati von Amandola OESA [1646] 30. Martina von Rom, Mart. [1646] 31. Eusebius von Viktorsberg, Mart. [1646] 19. Asinio, Bf. von Chur 28. Karl der Grosse, K. 19. Asinio, Bf. von Chur 22. Gaudentius von Bergell, Bf. (? ), Mart. 30. Martina von Rom, Mart. 19. Asinio, Bf. von Chur und Valentin von Rätien, GlB., Bf. 21. Meinrad von Einsiedeln., Eins., Mart. 22. Gaudentius von Bergell, Bf. (? ), Mart. 28. Agnes, Mart. 21. Meinrad, Mönch auf der Reichenau, Eins., Mart. <?page no="430"?> 430 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 Februar 1. Ignatius von Antiochien, Bf., Mart. 3. Blasius, Bf., Mart. 5. Agatha, Mart. 6. Dorothea, Mart. 8. Meinrad von Einsiedeln, Mart. [1690] 9. Apollonia, Mart. [1690] 11. Antonius von Lérins, Mönch [1690] 12. Hilarius von Poitiers, Bf. [1690] 13. Kanut IV. von Dänemark, Kg., Mart. [1690] 14. Johannes von Matha, Bek. [1690] 1. Ignatius von Antiochien, Bf., Mart. 3. Blasius, Bf., Mart. 6. Dorothea, Mart. 9. Apollonia, Mart. 12. Valentin von Rätien, GlB. Bf. 14. Meinrad von Einsiedeln, Mart. 15. Eusebius von Viktorsberg, Mart. 19. Conrad von Piacenza, Eremit 1. Ignatius von Antiochien, Bf., Mart. 3. Blasius, Bf., Mart. 6. Dorothea, Mart. 9. Apollonia, Mart. 13. Valentin von Rätien, GlB., Bf. 14. Meinrad von Einsiedeln, Mart. 15. Eusebius von Viktorsberg, Mart. 16. Märtyrer von Nagasaki 17. Kanut IV. von Dänemark, Kg., Mart. 18. Vinzenz von Valencia, Diakon, Märt. und Anastasius «der Perser», Mönch, Mart. 19. Conrad von Piacenza, Eremit 20. Raimund von Peñafort OP 26. Margareta von Cortona --- --- <?page no="431"?> 431 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 März 6. Fridolin von Säckingen, GlB., Abt 10. Franziska von Rom, Jf. [1646] 17. Patrick, Bf., GlB. [1690] 20. Joachim, Vater Mariens (Todestag) [1646] 22. sel. Niklaus von Flüe, Bek. 6. Fridolin von Säckingen, GlB., Abt 20. sel. Niklaus von Flüe, Bek. 6. Fridolin von Säckingen, GlB., Abt 22. sel. Niklaus von Flüe, Bek. 6. Fridolin von Säckingen, GlB. 15. Klemes Maria Hofbauer, Pr. 6. Fridolin von Säckingen, Mönch, GlB. April 5. Vinzenz Ferrer OP [1690] 13. Hermenegild, Mart. 15. Translatio S. Othmari, Abt 19. Gerold von Vorarlberg, Eins., Bek. 23. Georg, Mart. [1646] 30. Katharina von Siena OP [1646] 15. Translatio S. Othmari, Abt 19. Gerold von Vorarlberg, Eins., Bek. 24. Fidelis von Sigmaringen, Mart. 6. Juliana von Cornillon (von Lüttich), Mystikerin 15. Translatio S. Othmari, Abt 19. Gerold von Voarlberg, Eins., Bek. 23. Georg, Mart. 24. Fidelis von Sigmaringen, Mart. 27. Trudpert, Eins., Mart. 23. Georg, Mart. 24. Fidelis von Sigmaringen, Mart. 27. Petrus Canisius, Ordensmann, KiLe --- <?page no="432"?> 432 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 Mai 4. Monika, Mutter des hl. Augustinus [1690] 5. Pius V., Pp. [1690] 10. Antoninus von Florenz OP, Bf. [1690] 18. Venantius von Camerino, Mart. [1690] 19. Cölestin V., Pp. [1690] 25. Maria Magdalena de Pazzi, Jf. [1690] 26. Filippo Neri, Bek. 1646] 28. Viktor von Tomils, Pr. Mart. 16. Johannes Nepomuk, Pr., Mart. 28. Viktor von Tomils, Pr. Mart. 11. Beatus, Eins., GlB. 16. Johannes Nepomuk, Pr., Mart. 28. Viktor von Tomils, Pr., Mart. 30. Stephan I. von Ungarn, Kg. --- 28. Viktor von Tomils, Pr., Mart. --- Juni 2. Erasmus von Antiochia, Bf., Mart. 5. Bonifatius, Bf., Mart. 6. Norbert von Xanten, Bf. 7. Amantius, Mart. [1690] 15. Vitus, Modest, Crescentia, Mart. 22. Achatius von Armenien und Gefährten, Mart. 2. Erasmus von Antiochia, Bf., Mart. 5. Bonifatius, Bf., Mart. Sonntag nach der Oktav von Fronleichnam: Weihe der Kathedrale zu Chur 15. Vitus, Modest, Crescentia, Mart. 22. Achatius von Armenien und Gefährten, Mart. 2. Erasmus von Antiochia, Bf., Mart. Sonntag nach der Oktav von Fronleichnam: Weihe der Kathedrale zu Chur 15. Vitus, Modest, Crescentia, Mart. 22. Achatius von Armenien und Gefährten, Mart. 2. Jahrestag der Weihe der Kathedrale zu Chur 15. Vitus, Modest, Crescentia, Mart. 2. Jahrestag der Weihe der Kathedrale zu Chur 16. sel. Maria Theresia Scherer, GenOb. [seit 1995] <?page no="433"?> 433 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 Juli 4. Ulrich von Augsburg, Bf. 7. Elisabeth von Portugal, Kg. 8. Margareta von Schottland, Kg. [1690] 11. Placidus und Sigisbert, Mart. / Mönch Glb. 12. Johannes Gualbertus, Abt [1690] 14. Bonaventura, Bf., Kard. 15. Heinrich II., K. [1690] 17. Alexius von Edessa, Eins. [1690] 20. Margaretha von Antiochien, Mart. 28. Victor, Bf. von Rom, Mart. (? ) 30. Nazarius, Mart. 31. Ignatius von Loyola SJ, Bek. [1646] 4. Ulrich von Augsburg, Bf. 9. Leonardus Veghel, Pr. und Gefährten (Märtyrer von Gorkum) 11. Placidus und Sigisbert, Mart. / Mönch GlB. 20. Margaretha von Antiochien, Mart. 28. Victor, Bf. von Rom, Mart (? ) 30. Nazarius, Mart. und Innozenz I., Pp. 4. Ulrich von Augsburg, Bf. 9. Leonardus Veghel, Pr. und Gefährten (Märtyrer von Gorkum) 11. Placidus und Sigisbert, Mart. / Mönch GlB. 20. Margaretha von Antiochien, Mart. 24. Bernhard II., Markgraf von Baden 27. Ulrich (Udalrich) von Einsiedeln, Mönch 28. Victor, Bf. von Rom, Mart. (? ) 30. Nazarius, Mart. und Innozenz I., Pp. 4. Ulrich von Augsburg, Bf. 11. Placius und Sigisbert, Mart. / Mönch GlB. 21. Maria von Einsiedeln 4. Ulrich von Augsburg, Bf. 12. Placidus und Sigisbert, Mart. / GlB. 16. Muttergottes von Einsiedeln/ SZ <?page no="434"?> 434 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 August 2. Gaudentius von Bergell, Bf. (? ), Mart. 7. Translatio S. Florini, Pr. 9. Oswald, Kg., Mart. 11. Afra, Mart. 12. Klara von Assisi, Jf. 13. Kajetan von Thiene, Pr. [1690] 16. Hyacinthus, Mart. 20. Bernhard von Clairvaux OCist., Abt 25. Ludwig IX. von Frankreich, Kg. 27. Philippus Benitius, Pr. [1690] 30. Rosa von Lima, Jf. [1690] 31. Raimundus Nonnatus, Ordensmann, Bek. [1690] 2. Gaudentius von Bergell, Bf. (? ), Mart. 9. Oswald, Kg., Mart. 11. Alfra, Mart. 19. Ludwig von Toulouse, Bf. 27. Translatio S. Florini, Pr. 9. Oswald, Kg., Mart. 11. Afra, Mart. 13. Philomena, Mart. 19. Ludwig von Toulouse, Bf. 27. Translatio S. Florini, Pr. --- 27. Gebhard, Bf. 16. Theodor, Bf. von Sitten <?page no="435"?> 435 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 September 2. Stephan I. von Ungarn, Kg. [1690] 6. Magnus von Füssen, GlB., Abt 9. Valentinian, Bf. von Chur 11. Felix und Regula, Mart. 17. Stigmatation des hl. Franziskus von Assisi [1646] 18. Wenzeslaus von Böhmen, Mart. [1690] 20. Eustachius, Mart. [1646] 22. Mauritius und Gefährten, Mart. 6. Magnus von Füssen, GlB., Abt 9. Valentinian, Bf. von Chur 11. Felix und Regula, Mart. 22. Mauritius und Gefährten, Mart. 1. Verena von Zurzach, GlB., Eins. 3. Gebhard, Bf. 6. Magnus von Füssen, GlB. Abt 9. Valentinian, Bf. von Chur 11. Felix und Regula, Mart. 22. Mauritius und Gefährten, Mart. 26. Lambert von Maastrich, Bf., Mart. 2. Apollinaris Morel, Ordenspriester, Mart. 6. Magnus von Füssen, GlB., Abt 9. Valentinian, Bf. von Chur 11. Felix und Regula, Mart. 22. Mauritius und Gefährten, Mart. 25. Niklaus von Flüe, Landespatron der Schweiz 2. Apollinaris Morel, Ordenspriester Mart. 11. Felix und Regula, Mart. 22. Mauritius und Gefährten, Mart. 25. Niklaus von Flüe, Landespatron der Schweiz 30. Urs und Viktor, Mart. / Hieronymus KiLe <?page no="436"?> 436 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 Oktober 1. Heilige Schutzengel [1646] / Remigius von Reims, Bf. [1690] 2. Ursicin, Bf. 3. Adalgott, Bf. von Chur 5. Constanz und Alexander von Trier, Mart. 6. Bruno der Kartäuser [1646] 8. Brigitta von Schweden [1646] 9. Translatio S. Lucii, Kg., Bf., Mart. [sic! ] 15. Hedwig von Schlesien [1646 / 1690: 17. Okt.] 16. Gallus, GlB., Mönch 17. Theresa von Avila [1646] 19. Justus, Mart. [1646 / 1690: 20. Okt.] / Petrus de Alcántara OFM [1690] 21. Ursula und Gefährtinnen, Mart. 31. Wolfgang, Bf. 2. Ursicin, Bf. 3. Adalgott, Bf. von Chur 5. Constanz und Alexander von Trier, Mart. 9. Translatio S. Lucii, Kg., Bf., Mart. [sic! ] 1. Patron des Bistums Chur 16. Gallus, GlB., Mönch 20. Justus, Mart. 21. Ursula und Gefährtinnen, Mart. 30. Translatio S. Fidelis a Sigmaringen, Mart. 2. Ursicin, Bf. 3. Adalgott, Bf. von Chur 5. Constanz und Alexander von Trier, Mart. 7. Pelagius, Diakon, Mart. 9. Translatio S. Lucii, Kg., Bf., Mart. [sic] 1. Patron des Bistums Chur 11. Leodegar von Autun, Bf., Mart. 16. Gallus, GlB., Mönch 20. Justus, Mart. 21. Ursula und Gefährtinnen, Mart. 30. Translatio S. Fidelis a Sigmaringen, Mart. 31. Wolfgang, Bf. --- 3. Adalgott, Bf. von Chur 5. Thérèse von Lisieux, Ordensfrau 16. Gallus, GlB., Mönch 21. Ursula und Gefährtinnen, Mart. --- 3. Adalgott, Bf. von Chur 16. Gallus, Mönch, Eins., GlB. am Bodensee <?page no="437"?> 437 4. Entwicklung der Eigenfeiern und Wandel in der Heiligenverehrung im Bistum Chur Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 November 3. Pirmin, Bf. 4. Carlo Borromeo, Bf., Kard. 13. Didactus von Alcalá, Bek. [1690] 15. Findanus (Fintan) von Rheinau, Inkluse 16. Otmar, Abt 17. Florinus, Pr. Patron des Bistums Chur 19. Elisabeth von Thüringen 20. Martialis, Mart. [1690] 26. Konrad von Konstanz, Bf. 27. Gregor der Wundertäter, Bf. [1690] 28. Kolumban, Abt 29. Felix von Valois, Eins. [1690] 3. Primin, Bf. 6. Leonhard von Noblat, Diakon, Eins. 16. Otmar, Abt 17. Florinus, Pr. 2. Patron des Bistums Chur 26. Konrad von Konstanz, Bf. 27. Kolumban, Abt 29. Findanus (Fintan) von Rheinau, Inkluse 3. Pirmin, Bf. 5. Idda (Ida von Toggenburg), Inklusin 6. Leonhard von Noblat, Diakon, Eins. 14. Elisabeth von Reute, Mystikerin 15. Findanus (Fintan) von Rheinau, Inkluse 16. Otmar, Abt 17. Florinus, Pr. 2. Patron des Bistums Chur 26. Konrad von Konstanz, Bf. 28. Albertus Magnus, Bf. 29. Kolumban, Abt 3. Pirmin, Bf. 4. Carlo Borromeo, Bf. 6. Leonhard von Noblat, Diakon, Eins. 15. Findanus (Fintan) von Rheinau, Inkluse 16. Otmar, Abt 17. Florinus, Pr. 2. Patron des Bistums Chur 26. Konrad von Konstanz, Bf. 27. Kolumban, Abt 4. Carlo Borromeo, Bf. von Mailand Zweiter Diözesanpatron [seit 1963] 16. Otmar, Abt 17. Florinus, Pr. in Ramosch 23. Kolumban, Abt, GlB <?page no="438"?> 438 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Index: Bek. Bekenner (Confessor) Bf. Bischof Eins. Einsiedler GenOb. Generaloberin GlB. Glaubensbote Jf. Jungfrau K. Kaiser Kard. Kardinal Kg. König Mart. Martyrer/ in OCist Zisterzienser OESA Augustiner-Eremit OFM Franziskaner OP Dominikaner Pp. Papst Pr. Priester sel. Selige/ r SJ Jesuit Monat 1646/ 1690 1773 1892 1949 1985 Dezember 2. Franz Xaver SJ, Bek. 3. Luzius, Kg., Bf., Mart. [sic! ] Patron des Bistums Chur 4. Emerita, Mart. 5. Barbara, Mart. 12. Bibiana von Rom, Mart. [1646 / 1690: 16. Dez.] 3. Luzius, Kg., Bf., Mart. [sic! ] 1. Patron des Bistums Chur 4. Emerita, Mart. 5. Barbara, Mart. 28. Innocentius, Mart. / Antonius von Lérins, Mönch 3. Luzius, Kg., Bf., Mart. [sic! ] 1. Patron des Bistums Chur 4. Emerita, Mart. 5. Barbara, Mart. 23. Antonius von Lérins, Mönch 3. Luzius, Kg., Bf., Mart. [sic! ] 1. Patron des Bistums Chur 4. Emerita, Mart. 2. Luzius, Bf. von Chur Mart. [sic! ] Erster Diözesanpatron 3. Franz Xaver, Ordenspriester GlB 6. Nikolaus, Bf. von Myra Heiligenfest blieb im Bistum Chur durch die Jahrhunderte bis heute erhalten Heiligenfest ab 1963 aus dem «Calendarium Curiense» gestrichen (Änderungen approbiert am 6. Juli 1962 durch die Ritenkongregation) <?page no="439"?> 439 5. Vom Brauchtümlichen zum Privaten: Entwicklung und Wandel in der (Volks-) Frömmigkeit 5. Vom Brauchtümlichen zum Privaten: Entwicklung und Wandel in der (Volks-) Frömmigkeit Die hin und wieder beklagte Säkularisierung im 20./ 21. Jahrhundert ist keineswegs eine Abkehr vom Religiösen an sich, sondern vielmehr eine Loslösung von einer festen Bindung an eine konfessionelle Kirche. Dennoch blieb der Alltag bis hinein in unsere Gegenwart geprägt durch das traditionell Christlich-Religiöse sowohl im öffentlichen als auch privaten Raum. Im 19. Jahrhundert und bis hinein in die Mitte des 20. Jahrhunderts prägte das Beten den Alltag vor allem in den katholisch-bäuerlichen Landesteilen; in den städtischen Agglomerationen war die Kirchenfrömmigkeit auch eine Reaktion auf den die Gesellschaft verändernden Einfluss des Liberalismus und Sozialismus. Eine Vielzahl von Formen und Handlungen herrschten aus der Tradition vor und fanden aktive oder reaktivierte Praktizierung. Die Gläubigen wurden nicht nur vor und an kirchlichen Feiertagen zu Anbetungsstunden zusammengerufen, sondern die wöchentliche Rosenkranzandacht oder die Herz-Jesu-Andacht am ersten Freitag im Monat waren Fixpunkte des Zusammenfindens in der Ortskirche; hinzu kamen auf dem Land Bittgänge und Prozessionen. Von der Kirche her erfuhr auch das private Gebetsleben starken Rückhalt und Förderung. Kirchengesang- und manch andere zur Formung und Festigung eines religiösen Lebens gedruckte Gebetsbücher - bewusst im Taschenformat gestaltet - enthielten nicht nur die wichtigsten Grundgebete, sondern waren katechetisch orientierte Unterstützungshilfen im privaten Beten und Betrachten der katholischen Glaubenswahrheiten. Geistlichkeit, Bruderschaften, marianische Kongregationen und Vereine wirkten als Motoren, da und dort auch als Kontrollinstanzen des katholischen Diktus im Alltag. In Zeiten, da eine Familie durch Krankheiten oder Todesfälle, eine Dorfgemeinschaft durch eine (Natur- oder Brand-) Katastrophe heimgesucht wurden, intensivierte sich das Gebetsleben in Wohnhaus und Kirche. Häuser, Viehställe, öffentliche Gebäude wurden jährlich gesegnet und das regelmässige Sich-Bekreuzigen mit Weihwasser war für Kinder wie Erwachsene ein selbstverständlich gewordener Ritus im Alltag. Gemäss einer vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) 1989/ 90 durchgeführten Befragung zeigt relativ spät ein verändertes Bild mit einer deutlichen Betonung auf das mehr Individuelle: 50 % der Befragten beteten noch «jeden oder fast jeden Tag»; 62 % beschränkten ihr Gebet auf «schwierige Lebenssituationen», und 82 % erklärten gar, dass sie meistens «für sich allein» beten würden. Das gemeinsame, in der Familie gepflegte Gebet, wie es bis etwa in die Mitte des 20. Jahrhunderts zumindest in ländlich-bäuerlichen Gegenden usus war, veränderte sich im Zuge der immer loseren Kontaktnahme mit der Kirche als Instituition zu einer privaten situationsbezogenen Verrichtung in der «stillen» Kammer. In Familien mit kleinen Kindern ‹überlebte› bis heute das Abend- oder Gute-Nacht-Gebet, wo es von Elternteilen aus Pflichtbewusstsein oder aufgrund bestimmter Erziehungsvorstellungen geschätzt wird; in den Formulierungen fühlt man sich dagegen frei, Gebetstexte zu memorieren ist nicht mehr üblich. Es wun- <?page no="440"?> 440 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … dert dann auch nicht, wenn Schüler der Unterstufe oder gar Kinder im Ministrantendienst nicht in der Lage sind, das «Vater unser» auswendig und fehlerfrei zu beten. Im Zuge dieser Entwicklung veränderten sich auch die angestammten Frömmigkeitsformen wie das gemeinsam verrichtete Rosenkranzgebet in der Kirche, die Anbetungsstunden oder andere (eucharistische) Gebetsstunden, zum Beispiel um geistliche Berufe. Vieles davon ging ganz unter. Es sei hier die Feststellung gemacht, dass im Bistum Chur die diözesane Kommission für kirchliche Berufe, seit 2010 in «Kommission für Berufungspastoral» umbenannt, 2014 gänzlich aufgehoben worden ist [vgl. oben S. 310]. In vielen Pfarreien ist zudem ein starker Rückgang von gemachten Messstiftungen zu verzeichnen. Am Sonntag gedenkt man - manchmal litaneiartig aufgelistet - mehrerer Verstorbenen gleichzeitig. Für die einzelnen wurde zum Teil noch eine eigentliche Stiftsmesse erbeten und bezahlt. Ob die zur Pflicht gemachte Applikation aber wirklich erfüllt wird, sei hier dahingestellt. Dass nämlich die Verstorbenen des Gebets der Hinterbliebenden bedürfen, zeigen die um Allerheiligen / Allerseelen und vermehrt auch um Weihnachten brennenden Lichter auf den Friedhöfen; gerade Weihnachten hat sich in diesem Punkt zu einem zweiten, aber betont privat vollzogenen Totengedenktag entwickelt. Zu diesen individuell durchgeführten Riten zählen das nach wie vor äusserst beliebte Entzünden von Kerzen in den Kirchen, aber auch in privaten Räumen. Ferner bedienen sich die Menschen gerne eines im Gotteshaus aufliegenden «Fürbittenbuches», um darin einen persönlichen, meist anonym belassenen Eintrag in Form einer Bitte oder des Dankes zu formulieren. Wenn immer es um die Gesundheit, den Schutz vor Naturkräften und existentielle Fragen geht, erfreut sich das Beten und der Segen der Kirche aber ungebrochener Beliebtheit (z. B. Blasiussegen). Nicht zuletzt sucht das seit dem Mittelalter beliebte Wallfahrtswesen nach neuen Formen, um die Teilnehmer/ innen wieder an dieser althergebrachten Frömmigkeitsform teilhaben zu lassen. Das gemeinsame wie private Gebet hat dort seinen Ort und verbindet die Beteiligten als Gottes Nähe suchende Menschen in ihren Anliegen und Nöten zu einer starken Gemeinschaft; die Pilgerströme nach Lourdes oder die beliebten Abb. 299: Ausdrucksformen des Betens in Tradition und Gegenwart (links: Gemälde von Rudolf Epp (1834-1910), Das Morgengebet / rechts: Beten in Taizé) [Quelle: wikipedia] <?page no="441"?> 441 6. Wallfahrtswesen und -orte im Bistum Chur (Fuss-)Wallfahrten auf dem «Jakobsweg» nach Santiago de Compostela sprechen eine deutliche Sprache. Aber auch die jährlichen Pilgerströme nach Maria Einsiedeln, dem auf dem Territorium des Bistums Chur gelegenen Wallfahrtszentrum der deutschsprachigen Schweiz, sind beträchtlich. Dieser Gnadenort ist aber zugleich eine beliebte Zufluchtsstätte für das private stille Verweilen vor der Schwarzen Madonna. Erst in jüngster Zeit ist ein korrigierender Trend vom mehr Individuellen wieder zurück zum gemeinschaftlich erlebten Feiern, Beten und Bitten feststellbar, welcher in einzelnen Pfarreien oder in kirchennahen (Laien-)Gruppen mit viel Engagement versucht, frühere Andachtsformen (mit gewissen Variationen) neu zu beleben oder mit Unterstützung neuerer Formen wie z. B. derjenigen des Taizégebets zeitgemässe Akzente zu setzen. Auch ist der Einfluss der Geistlichen oder Pfarreibeauftragten im Diakonenamt oder Laienstand nicht zu unterschätzen. Fazit: Das Beten - individuell, privat oder in Gemeinschaft und letztlich unabhängig vom überlieferten spezifisch katholischen Brauchtum - sichert zeitlos die Verbindung zu Gott und so durch Gott zu den Mitmenschen. Von der «Mutter der Ärmsten», der hl. Teresa von Kalkutta (1910-1997, heiliggesprochen 2016), stammt der Ausspruch: «Wenn wir fähig sein wollen zu lieben, müssen wir beten.» 6. Wallfahrtswesen und -orte im Bistum Chur Über Jahrhunderte, vor allem seit dem Hochmittelalter, war das Wallfahren (vom Wort: «wallen» - ziehen) ein fester Bestandteil katholischer Alltagskultur; es gehörte zu den immer wiederkehrenden Ereignissen im Jahres- und Lebenslauf. Die entsprechenden Erfahrungen wie Erinnerungen prägten sowohl den geistigen als auch den emotionalen Horizont des Teilnehmenden, welcher in einer Gruppe Gleichgesinnter zu einem manchmal vom Wohnort recht weit entfernt gelegenen Ziel einer geheiligten Stätte mit einem besonderen persönlichen Anliegen unterwegs war. Stand ursprünglich bei der Motivation der Wunsch nach Heilung von Krankheit und Gebrechen im Vordergrund, werden im Spätmittelalter die Busse, die Bitte um Sündenvergebung und vor allem der Ablass von zeitlichen Strafen zu einem zentralen Motiv. Wallfahrt - «pelegrinatio» - bedeutete aber auch (zeitlich befristeter) Ausbruch aus dem harten, bedrückenden Alltag des mittelalterlichen Menschen. Von der kirchlichen Hierarchie unterschiedlich gefördert, wird das Wallfahrtswesen vor allem in der Zeit der katholischen Erneuerung (16.-18. Jahrhundert) als Ausdruck spezifisch katholischer Frömmigkeit betont und die bereits im Mittelalter aufgekommene Marienwallfahrt rückt (wieder) ins Zentrum. Dieses barocke Wallfahren ist stark mit volkskulturellen Elementen durchsetzt; Überschwang, mitunter auch Ekzesse in weltlichen Freuden nötigen die Bischöfe zu klärenden Worten und Vorschriften bei Wallfahrten. Im Zuge der Aufklärung wurden da und dort Wallfahrtsziele aufgehoben oder das Brauchtum vor Ort von kirchlicher oder staatlicher Seite massiv eingeschränkt. Im 19. und 20. Jahrhundert entstand dann eine Reihe neuer marianischer Wallfahrtsorte und -typen, die europäische Ausstrahlung erlangten (Lourdes, Fatima). Diese Grosswallfahrten führten zu Gründungen von Gedenkstätten der betreffenden Wallfahrtsorte - man spricht von «Kultfiliationen» - in der Schweiz: so etwa Maria-Lourdes in Zürich- <?page no="442"?> 442 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Seebach oder Fatima im bündnerischen Andeer; aber auch die Wallfahrtsstätte des Volksheiligen Antonius von Padua erhielt um diese Zeit Kultfiliationen - im Bistum Chur wäre etwa Egg/ ZH zu nennen. War das Frühmittelalter geprägt vom Besuch der Märtyrergräber, gab es im Hochmittelalter eine Verlagerung zu eucharistischen Wallfahrtsorten, im Spätmittelalter und in der Barockzeit rückte neben Maria auch die Verehrung des Heiligen Kreuzes sowie der Passion Jesu in den Fokus. Das 19. und 20. Jahrhundert wurde dann vollends zum «Zeitalter der Marienwallfahrten». In der Moderne setzt sich diese Reihe fort - nicht zuletzt in kirchlich (noch) nicht anerkannten Wallfahrten, die meist angebliche Marienerscheinungen betreffen (Medjugorje) und in Gruppen oder ganz individuell aufgesucht werden. Im Laufe von über 1600 Jahren sind auf dem Gebiet der heutigen Schweiz viele kleinere und grössere Wallfahrtsheiligtümer entstanden. Auch in der Gegenwart weisen etliche Gegenden der Schweiz, besonders das Wallis, Graubünden, die Zentral- und Südschweiz, eine deutlich erkennbare Sakrallandschaft auf, welche wesentlich von Wallfahrtskirchen und -kapellen geprägt wird. Die nachstehende Tabelle listet die bedeutendsten Wallfahrtsorte in den heutigen drei Churer Bistumsregionen auf: in Graubünden, in der Urschweiz und auf dem Territorium der Kantone Glarus und Zürich. Der Schwerpunkt liegt zweifelsfrei auf einer ausgeprägten Marienverehrung. Bedeutende Wallfahrtsorte im Bistum Chur Bistumsregion Graubünden Ort / Heiligtum (in alphabetischer Abfolge) Entstehung Verehrung Andeer, Unsere Liebe Frau von Fatima 1961/ 63 Maria Calanca, Sta Maria in Calanca - Statue Unserer Lieben Frau - Mutter der göttlichen Vorsehung 13./ 17. Jh. 1851 Maria Disentis, Klosterpatrone Placidus und Sigsibert um 700 Placidus und Sigisbert Disentis, Mater misericordiae (Mutter der Barmherzigkeit) 15. Jh. Maria Mastrils, St. Antonius von Padua 1688 Antonius von Padua Müstair, Gnadenbild Maria Himmelfahrt (aus der ehemaligen Wallfahrtskirche Sta. Maria) 1621 / 1838 Maria Salouf, Unsere Liebe Frau von Ziteil 1580 Maria Trun, Nossadunna della Glisch 1663 Maria <?page no="443"?> 443 6. Wallfahrtswesen und -orte im Bistum Chur Bistumsregion Urschweiz Ort / Heiligtum (in alphabetischer Abfolge) Entstehung Verehrung Uri Bürglen, Schmerzhafte Muttergottes im Riedertal («Vesperbild) 14./ 16. Jh. Maria Erstfeld, Unsere Liebe Frau in Jagdmatt 1339 Maria Gurtnellen, Maria-Hilf-Kapelle in Richligen 1712 Maria Seelisberg, Maria-Sonnenberg vor 1550 Maria Schwyz Einsiedeln, Schwarze Madonna 14. Jh. Maria Immensee, Wallfahrtszentrum für «Wunschpilger» 1896 Antonius von Padua Ingenbohl, Mutter Maria Theresia Scherer (in der Krypta der Klosterkirche) 1938 Maria Theresia Scherer Lachen, Schmerzhafte Muttergottes im Ried 16. Jh./ 1684 Maria Rigi-Klösterli, Gnadenbild «Maria Schnee» 1690 Maria Steinerberg, Gnadenbild «St. Anna selbdritt» 1501 Anna (Mutter Mariens) Tuggen, Kapelle Heiligste Dreifaltigkeit Linthport 1580 Heiligste Dreifaltigkeit Abb. 300: Höchstgelegener Wallfahrtsort Europas (2429 m ü. M.): Ziteil/ GR (mit dem Gemälde der Erscheinung der Mutter Gottes vor dem Hirten Giatgen Dietegen de Marmels, 1580) [BAC.BA] <?page no="444"?> 444 XII. Katholisches Selbstbewusstsein, Glaubensleben, Bildung und Frömmigkeitsformen … Obwalden Kerns, Blutweinende Muttergottes von Siebeneich (Nachahmung des Gnadenbildes von Pötsch in Ungarn) 1721 Maria Melchtal, Gnadenmutter «Unsere Liebe Frau» 1761 Maria Sachseln, Pfarrkirche - Grablege von Niklaus von Flüe Sachseln, Flüeli-Ranft - Geburts- und Wohnhaus von Bruder Klaus - Obere Ranftkapelle mit Klause 1488 Bruder Klaus Sachseln, Unsere Liebe Frau vom Ranft 1504 Maria Sarnen, Sarner Jesuskind im Benediktinerinnenkloster 1615 Christus Sarnen, Maria-Sonnenberg im Stalden 1459 Maria Nidwalden Beckenried, «Seeleute-Heiligtum» im Riedli (Marienstatue) 1615 Maria Dallenwil, Kapelle Wiesenberg 1758 Maria Ennetbürgen, Kapelle St. Jost am Bürgenberg 14. Jh. Jodokus (Jost) Kehrsiten, Maria in Linden 1612 Maria Niederrickenbach, Unsere Liebe Frau von Rickenbach 16. Jh. Maria Bistumsregion Zürich-Glarus Ort / Heiligtum (in alphabetischer Abfolge) Entstehung Verehrung Egg, St. Antonius 1921 Antonius von Padua Hinwil, Unsere Liebe Frau (Ikonen-Kopie des Gnadenbildes von Kasperovskaja in Russland) 1920 Maria Rheinau, Unsere Liebe Frau 16. Jh. Maria Zürich-Seebach, Maria-Lourdes 1935 Maria Abb. 301: Aussenansicht (Einweihung 1921) und Innenraum der Wallfahrts- und Pfarrkirche St. Antonius in Egg/ ZH [BAC.BA] <?page no="445"?> 445 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften Nach dem Ende der harten konfessionellen Kämpfe, nach zum Teil schweren Verwüstungen im Zuge des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648) auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation erhoben sich Klöster und Ordensgemeinschaften in neugestärkter Kraft. Ihre religiöse und nicht minder kulturelle Vitalität widerspiegelt sich nicht zuletzt in prachtvollen Kirchen- und Klosterbauten des Barockzeitalters, besonders eindrucksvoll in Süddeutschland und Österreich. Doch die fortschreitende Aufklärung erwies sich alsbald dem Mönchtum und dem gesamten Ordenswesen gegenüber immer feindlicher. Die bereits nach 1648 losgetretenen Überlegungen zur völligen oder teilweisen Aufhebung der Stifte und Klöster brachte man nicht mehr zum Verstummen; vielmehr diskutierte man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts solche Gedanken wieder verstärkt. Längst vor Ausbruch der Französischen Revolution (1789) wurden in katholischen Ländern Klöster mit oder ohne päpstliche Genehmigung aufgehoben. Unter massivem Druck der königlichen Höfe in Paris, Madrid, Lissabon und Neapel fand sich 1773 Papst Clemens XIV. (1769-1774) bereit, den Jesuitenorden aufzuheben (wieder hergestellt 1814). Unter Kaiser Joseph II. (1780-1790) gingen in den österreichisch-ungarischen Erblanden als Vorbote der staatlichen Repressionspolitik gegenüber einer unter säkulare Aufsicht gezwungenen Kirche und als Ablehnung des Herrschers sowie der massgeblichen Staatsstellen eines kontemplativ ausgerichteten Ordenslebens zwischen 700 und 800 Klöster zugrunde [vgl. Josephinische Klosteraufhebungen im Bistum Chur in Bd. 1, S. 307-326]. Im Zuge der Grossen Säkularistion von 1802/ 03 vollzog sich dann der bis heute umfassendste Enteignungsprozess kirchlich-klösterlichen Besitzstandes; Kirchen und Klöster wurden konfisziert, profanisiert, versteigert oder gar zerstört. Nur in den habsburgischen Landen wurde - zwei Jahrzehnte nach der Klosterreduktion Josephs II. - mit wenigen Ausnahmen auf eine neuerliche Aufhebung der Stifte und Klöster verzichtet. So ist das 19. Jahrhundert gezeichnet von einer den (althergebrachten) Klöstern und Ordensgemeinschaften zugefügten tiefen Wunde. Dank der romantischen Bewegung, die in der Rückschau die Welt des Mittelalters als Ideal zu verklären suchte, und durch die allgemeine Restauration im politischen Bereich lebte das Ordensleben langsam wieder auf; es entstanden alsbald Kongregationen und Missionsgenossenschaften - ein Charakteristikum im klösterlichen Leben weiblicher wie männlicher Konvente des 19. Jahrhunderts, welche auch im Bistum Chur bis weit ins 20. Jahrhunderts hinein in Unterricht, Krankenpflege und Armenfürsorge sowie im Dienst der Weltmission stehend prägend wirken sollten. Im 20. Jahrhundert schliesslich blühten dann als neue Gestalt des religiösen Lebens in Gemeinschaft die Säkularinstitute auf, - also Gesellschaften von Klerikern und Laien, Männern und Frauen, welche durch ein gottgeweihtes Leben (in ihrer weltlichen, beruflichen und familiären Umgebung oder in kleinen Gemeinschaften lebend) nach Verwirklichung christlicher Liebe streben und zur Heiligung der Welt von innen her beizutragen suchen. <?page no="446"?> 446 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften 1. Klosteraufhebungen vor und nach der Neuumschreibung des Bistums Chur Nach der am 3. August 1808 von der königlich bayerischen Regierung beschlossenen Auflösung des Benediktinerstifts Marienberg ob Burgeis im Vinschgau (Neubesiedlung und -aufbau wieder 1816) - die Patres wurden mit zwei Ausnahmen in die Abtei St. Georgenberg-Fiecht (Nordtirol) deportiert - bestanden nur noch drei Mendikantenklöster im Tiroler Anteil des Bistums Chur: die Kapuzinerniederlassungen in Meran (seit 1616), Schlanders (1644-2017) und Mals (1699-1995). Die Patres sammelten regelmässig in den Dörfern freiwillige Gaben und halfen in der Seelsorge aus. Sowohl in Predigten als auch im Kontakt mit der Bevölkerung distanzierten sie sich in aller Deutlichkeit von der staatlichen Religionspolitik. Ihre wiederholte Weigerung, sich dem Ordinariat Trient zu submittieren, führte am 15./ 16. August 1808 in einer Militäraktion zur Deportation der Kapuziner nach Neumarkt (6 Patres) bzw. Klausen (12 Patres). Der Superior des Hospizes in Mals, P. Philipp Decosta OFMCap, und ein weiterer Mitbruder wurden nach Vorladung in Innsbruck im September 1808 in das Zentralkloster Altötting abgeschoben; die Tätigkeit in der Seelsorge wurde ihnen bei Strafe verboten. Abb. 302: Ehemalige Reichsfürstabtei St. Maria in Pfäfers/ SG, aufgehoben 1838 (Ansicht um 1700) [BAC.BA] <?page no="447"?> 447 1. Klosteraufhebungen vor und nach der Neuumschreibung des Bistums Chur In Vorarlberg konnte eine Wegweisung der Kapuziner von Bludenz und der älteren Patres in Blumenegg in Zentralklöster dank des geschickten Taktierens des örtlichen bayerischen Generalkommissars gegenüber der Landesstelle in Innsbruck unterbunden werden. Das weltliche Kanonissenstift Schänis im ehemaligen Churer Dekanat Unter der Landquart wurde 1811 vom Kanton St. Gallen aufgehoben. Nach Auflösung des Doppelbistums Chur-St. Gallen erlebte das älteste bezeugte Benediktinerkloster Rätiens, St. Maria in Pfäfers (gegründet um 730/ 40), seinen ruhmlosen Untergang 1838 durch die Konfiszierung durch den Kanton St. Gallen [siehe unten: Kasten]. In Chur löste sich 1806 der Konvent des um 1140 gegründeten Prämonstratenserstifts St. Luzi auf. In den leerstehenden Gebäulichkeiten fanden 1806 vorübergehend die aus Bayern vertriebenen Redemptoristen Zuflucht. Seit 1807 befindet sich in St. Luzi das Priesterseminar der Diözese. Aufhebung der Abtei Pfäfers durch den Kanton St. Gallen und Liquidation des Klostervermögens Am 20. Februar 1838 setzte man im Grossen Rat des Kantons St. Gallen die Frage nach der Aufhebung Pfäfers auf die Traktandenliste, nachdem eine Kommission das Vermögen aufgehobener Klöster generell als Staatsgut erklärt hatte und dieser Vorschlag mit 81 gegen 43 Stimmen vom Rat angenommen worden war. Als (erste) konkrete Anwendung dieses Beschlusses wurde gleichentags die Auflösung des jahrhundertealten Stiftes Pfäfers mit 77 gegen 32 Stimmen erklärt und sofort ein Auflösungsbeschluss ausgearbeitet, der wiederum mit 86 gegen 30 Stimmen Zustimmung fand. Darin heisst es: «In Betrachtung […], daß die Auflösung der Korporation in ihren eigenen Wünschen liegt, beschließt [der Grosse Rat]: Art. 1: Die Klosterkorporation Pfäfers ist aufgelöst. Art. 2: Sämtliche Mitglieder, sofern sie nicht in ein anderes Kloster eintreten, erhalten lebenslängliche Pensionen, und zwar der Abt fl. 1800, der Dekan fl. 1000, ein jeweiliger Senior fl. 800, jeder Kapitular fl. 600 mit Aufbesserung bis auf fl. 700 für solche, die eine Pfründe versehen, ein Laienbruder fl. 400. […] Die Pensionen fließen vom 1. April laufenden Jahres an, mit welchem Tage der gemeinsame Haushalt im Kloster aufhört. Art. 3: Die Heilquelle [Bad Pfäfers] darf nicht veräußert werden. Art. 4: Der Überschuß des Klostervermögens [400'000 Gulden] soll vorzugsweise zu Schulzwecken, mit besonderer Berücksichtigung des Bezirks Sargans, verwendet werden. Art. 5: Der Kleine Rath ist beauftragt, über die Liquidation und die Art der weitern Verwendung des Vermögens Anträge an den Grossen Rath zu bringen und in der Zwischenzeit die erforderlichen Verfügungen zu treffen.» Mit diesem politischen Beschluss setzte sich der Grosse Rat unter Missachtung des Artikels 12 des Bundesvertrags, welcher das Bestehen der Klöster garantierte, und auch der St. Galler Kantonsverfassung seinen Willen durch. <?page no="448"?> 448 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften Als endlich aus Rom Papst Gregor XVI. (1831-1846) mit Breve vom 20. März 1838, welches erst am 28. März in Pfäfers eintraf, die Bitte der Pfäferser Mönche vom 9. Januar, das Stift aufzuheben, mit grossem Unwillen zurückwies sowie Abt und Konventualen anwies, im Kloster zu bleiben und gegen den Vollzug unberechtigter Erlasse der weltlichen Behörde Einsprache zu erheben, war es zu spät. Die noch anwesenden Mönche hatten ihre Kisten gepackt, die Aussteuer erhalten und bedauerten (vereinzelt) nur noch, dass das Schreiben aus dem Vatikan so spät eingetroffen sei. Am 1. April 1838 kam mit dem Wegzug aller Konventualen die Geschichte des jahrhundertealten Stifts Pfäfers zu ihrem unrühmlichen Ende. Der bereits unter dem letzten Abt Plazidus Pfister (1819-1838) eingesetzte Administrator amtete alsbald als Liquidator. Mit einem ‹Abschiedsgeschenk› von 300 Gulden pro Person entliess man bereits im April 1838 alle Dienstboten des Klosters (etwa 36). Im Mai 1838 wurden der Viehbestand, die landwirtschaftlichen Geräte, die Futtervorräte und die beweglichen Güter an einer öffentlichen Versteigerung verkauft. Um nachteilige Folgen für die Liquidation zu verhindern, erliess die Liquidationskommission im Sommer 1838 einen allgemeinen Schuldenaufruf zur Bereinigung des Vermögens. Die Schuldforderungen wurden beglichen und die Zinserträge aus dem Klostergut eingetrieben, Klostergüter neu vermessen und die Ausmarchung der zu verkaufenden Liegenschaften vorgenommen. Die Stiftskirche wurde zur Pfarrkirche von Pfäfers, besonders wertvolle Gegenstände aus dem Kirchenschatz nach St. Gallen verfrachtet und dort verschachert. Das inventarisierte Stiftsarchiv und Bestände der Bibliothek gelangten ebenfalls nach St. Gallen, wo sie entweder im Stiftsarchiv oder im Staatsarchiv untergebracht wurden. Erst 1853 beschloss die Regierung verbindlich, dass das Stiftsarchiv von Pfäfers dem Staat verbleiben, doch in den Räumen des Stiftsarchivs St. Gallen aufbewahrt werden soll. Als im Jahr der Gründung des eigenständigen Bistums St. Gallen 1847 in den Räumlichkeiten des ehemaligen Klostertrakts eine psychiatrische Klinik eingerichtet und eröffnet wurde, war dies das endgültige Aus des ältesten Benediktinerstifts Rätiens. Abb. 303 (links): P. Plazidus Pfister OSB, letzter Abt (1819-1838) des ältesten Benediktinerstifts Rätiens Abb. 304 (rechts): Ansicht von heute [StiASG / wikipedia] <?page no="449"?> 449 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick Im Gegensatz zum 1828 reorganisierten Bistum Basel (Aargauer Klostersturm 1841) gab es im Churer Sprengel nach der Zuordnung des konstanzischen Gebietes (1819) keine Klosteraufhebungen grossen Stils. Untergegangen ist einzig 1862 das letzte Kloster im Kanton Zürich, das Benediktinerstift Rheinau in einer Rheinschlaufe südlich von Schaffhausen, das auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblicken konnte (siehe oben S. 88-92). Die aus dem Aargau vertriebenen Ordensgeistlichen fanden u. a. auf dem Territorium des Bistums Chur Zufluchtsorte und errichteten neue Wirkungsstätten. So fanden die aus Muri im aargauischen Freiamt vertriebenen Benediktinermönche - Sitz der Abtei heute im tirolischen Gries - in Sarnen/ OW eine neue Heimat. Noch 1841 übernahmen sie dort bis zum Sommer 1974 das Kollegium und die höhere kantonale Schule (seit Schuljahr 1974/ 75 Kantonsschule). In Altdorf/ UR eröffneten Benediktiner aus Mariastein bei Basel, die nach der Aufhebung des Mutterklosters (1874) sich 1906 in Bregenz niederliessen, das Kollegium Karl Borromäus und leiteten bis 1981 den Schulbetrieb. 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick a) Benediktiner und Benediktinerinnen Das auf den Anfang des 8. Jahrhunderts zurückreichende Benediktinerkloster Disentis/ GR am Vorderrhein [siehe Bd. 1, S. 36 f.] wurde im Zuge der Invasion französischer Truppen 1799 in Disentis und des hervorgerufenen Volksaufstands vor Ort völlig eingeäschert. Erst nach einem weiteren verheerenden Brand 1846 und der Überwindung des Auseinanderbrechens der disziplinlos gewordenen klösterlichen Gemeinschaft gelang mit Hilfe der Schweizerischen Benediktinerkongregation und politischer Grössen im Tal unter Abt Benedikt Prevost aus Muri-Gries (1888-1916) ein wirklicher Neuaufbau. Unter den Äbten Beda Hophan (1925-1963) und Viktor Schönbächler (1963-1988) konsolidierte sich Kloster (bis zu 70 Konventualen) wie Stiftsschule und wurde zu einem regionalen Mittelschulzentrum. Unter den Klöstern der Bistumsregion Urschweiz nimmt die Territorialabtei Unserer Lieben Frau in Einsiedeln an Alter und Bedeutung die erste Stelle ein. Das seit dem 10. Jahrhundert bestehende Kloster ist das eigentliche Zentrum marianischer Wallfahrt in der Schweiz. 1798 hob die Helvetische Regierung das Stift zwar auf, doch kehrten die Mönche bereits 1802 wieder nach Einsiedeln zurück. Aus den Konventualen (heute ca. 65. Mitglieder) gingen zwei Churer Bischöfe hervor: Kaspar Willi und Amédée Grab; ferner wurde Abt Benno Gut (1947-1959, gest. 1970) 1959 zum Abt-Primas des Benediktinerordens nach Rom gewählt und 1967 zum Kardinal kreiert. Neben der Führung einer seit 1839 bestehenden ortseigenen Stiftsschule (Internat zwischen 2002 und 2007 geschlossen), des Collegio Papio in Ascona (1927-1964) und der Pfarrseelsorge in Einsiedeln mit sechs Filialkirchen (Bennau, Egg, Euthal, Gross, Trachslau, Willerzell), lange <?page no="450"?> 450 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften auch in Freienbach, Feusisberg und Pfäffikon/ SZ sowie in den im Vorarlberg gelegenen Orten St. Gerold, Schnifis und Blons kommt die spirituelle Betreuung der Einsiedeln angeschlossenen Benediktinerinnenklöster hinzu (Kloster Fahr in der Gemeinde Würenlos/ AG, Abtei St. Lazarus in Seedorf/ UR, Kloster Allerheiligen in der Au bei Einsiedeln, Priorat der Benediktinerinnen von Heiligenkreuz in Cham/ ZG sowie Kloster Glattburg im sanktgallischen Oberbüren). Abb. 306 (links): Benediktinerabtei Maria Einsiedeln SZ Abb. 307 (rechts): Schwarze Madonna in der Gnadenkapelle [Quelle: wikipedia] Abb. 305: Benediktinerabtei Disentis/ GR im 19. Jahrhundert, Kupferstich von Ludwig Rohbock [BAC.BA] <?page no="451"?> 451 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick Die im Kanton Nidwalden gelegene Obwaldner Enklave Engelberg ist heute nicht nur Ausgangspunkt zum hochgelegenen Ski-Paradies Titlis, sondern ebenso benediktinische Wirkstätte. Die Abtei zur seligen Jungfrau Maria und zum hl. Nikolaus in Engelberg reicht in das 12. Jahrhundert zurück und übte bis 1798 die Talherrschaft aus. Die angegliederte traditionsreiche Stiftsschule mit Internat wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgebaut und hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer blühenden Institution entwickelt. Vor Ort betreuen die Benediktiner bis heute die Pfarrei Engelberg. Wie Einsiedeln (Niederlassungen in Nordamerika 1878/ 1893 und Argentinien 1948) ist auch Engelberg an der Weltmission durch Ordensangehörige aktiv beteiligt. In der Zeit des Kulturkampfes, der den Bestand der Klöster gefährdete, entsandte 1873 Abt Anselm Villiger (1866-1901) eine Gruppe von Mönchen in die Vereinigten Staaten, wo sie den Grund zu den Abteien Conception (Missouri) und Mount Angel (Oregon) legten. In Kamerun (Westafrika) übernahmen Patres 1932 vorübergehend die Leitung des Priesterseminars; eine Klostergründung gelang dort 1967 auf Mont Fébé bei Yaunde. Zur Unterstützung in Unterricht, Kranken- und Hausdienst wurden Benediktinerinnen aus der Abtei St. Andreas in Sarnen/ OW nach Afrika gesandt. Abb. 308: Blick auf Engelberg/ OW mit Benediktinerabtei, um 1895 [BAC.BA] Abb. 309: Benediktinerinnenkloster Maria-Rickenbach/ NW [BAC.BA] <?page no="452"?> 452 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften Neben dem 1857 mit Hilfe des Engelberger Abtes Villiger von Schwester Gertrud Leupi (1825-1904) gegründeten Benediktinerinnenkloster Maria-Rickenbach/ NW, dessen Mitglieder (gegenwärtig 15 Schwestern) bis heute die Ewige Anbetung aufrechterhalten, sowie den Benediktinerinnen zum hl. Bruder Klaus in Melchtal/ OW (gegr. 1866), welche dem beschaulichen Leben auch das äussere Apostolat beistellen, ist die in das 12. Jahrhundert zurückreichende Benediktinerinnenabtei St. Johann Baptist im bündnerischen Müstair [siehe Bd. 1, S. 39] zu erwähnen; die letzte Äbtissin starb 1810, seither ist das Kloster ein Priorat. • Benediktinerinnen in Seedorf/ UR (seit 1559) Das Kloster in Seedorf ist das älteste Kloster im Kanton Uri und zudem das einzige, dessen Ursprünge ins Mittelalter zurückreichen. 1197 wurde in Seedorf das Lazariterhaus erbaut. Gründungen des Lazarus-Ordens, eines Spitalordens und später auch Ritterordens, bildeten in der Regel Doppelklöster mit einem Brüder- und einem Schwesternhaus, so auch in Seedorf. Mit dem Ende der Kreuzzüge und einem Rückgang der Betreuung von Aussätzigen verloren die Lazariter an Bedeutung. 1413 wurde das Männerkloster aufgehoben, während das Nonnenkloster weiterbestand, bis es in der allgemeinen Klosterkrise des 16. Jahrhunderts und nachdem 1518 viele Nonnen der Pest erlegen waren, um 1526 endgültig erlosch. Die Gebäude und der Grundbesitz fielen nach damaligem Recht an das Land Uri. Noch vor Beginn der katholischen Erneuerung im Bistum Konstanz wurden 1559 Benediktinerinnen aus dem Kloster Claro bei Bellinzona/ TI, in das leerstehende Lazariterinnenkloster nach Seedorf entsandt. Geistlich betreut wurde das neue benediktinische Kloster, dem bis heute eine Äbtissin vorsteht, zuerst vom Konstanzer Bischof, dann von den Stiften Einsiedeln und Muri, ab 1642 vom Stift Einsiedeln. Laut dem ersten vollständigen Verzeichnis aus dem Jahr 1637 wohnten in Seedorf neun Schwestern. Zur Zeit der Neueinweihung der Kirche um 1700 zählte der Konvent 21 Chorfrauen und 6 Laienschwestern. Ab 1800 ist ein stetiges Wachstum zu verzeichnen (1860: 33; 1915: 40; 1975: 40). Heute leben noch 10 Schwestern im einzigen Frauenkloster im Kanton Uri. Abb. 310: Benediktinerinnenkloster St. Lazarus in Seedorf/ UR (heute) [BAC.BA] <?page no="453"?> 453 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick • Benediktinerinnen in Sarnen/ OW (seit 1615) Die Benediktinerinnen-Abtei St. Andreas in Sarnen wurde um das Jahr 1120 in Engelberg zusammen mit dem oben erwähnten Mönchskonvent als Doppelkloster gegründet. Als Folge der Brandkatastrophe am 16. Juni 1449 bis in das 16. Jahrhundert hinein erlebte die Abtei einen langsamen Niedergang, was 1615 zur Umsiedlung des Klosters nach Sarnen führte. Dort erstarkte die verkleinerte weibliche Gemeinschaft wieder. 1882 konnten Schwestern in die USA entsandt werden, wo das Tochterkloster St. Gertrude in Cottonwood (Idaho) entstand. Rund 60 Jahre später reisten Schwestern nach Kamerun, wo 1968 das Benediktinerinnenkloster St. Benoît in Mbouda gegründet wurde. Das verheerende Hochwasser am 22./ 23. August 2005 beeinträchtigte das klösterliche Leben in Sarnen stark. In der Zwischenzeit konnte ein Grossteil der Instandsetzungsarbeiten an Gebäuden und Kulturgut erfolgreich abgeschlossen worden, so dass der klösterliche Alltag mit seinem Wechsel von Arbeit und Gebet wieder Einzug gehalten hat. Neben dem gemeinsamen Chorgebet liegt ein Hauptakzent in der Betreuung der Wallfahrt zum «Sarner Jesuskind», einer holzgeschnitzten Statue, welche um das Jahr 1360 entstanden ist. Im Kloster St. Andreas entsteht zurzeit das benediktinische Zentrum, in welchem weitere weibliche Ordensgemeinschaften leben und wohnen werden. So ziehen im Herbst 2018 die Schwestern der Klöster Melchtal/ OW und Wikon/ LU nach Sarnen. Abb. 311: Benediktinerinnenkloster St. Andreas in Sarnen/ OW (heute) [BAC.BA] <?page no="454"?> 454 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften • Benediktinerinnen in Melchtal/ OW (1857-2018) Der Luzerner Geistliche Balthasar Estermann (1827-1868) gründete 1866 für arme Mägde eine Schwesterngemeinschaft und siedelte sie unter dürftigen Verhältnissen im Melchtal an. Nach dem Tod des Gründers betreute der Engelberger Pater Berchtold Fluri, Kaplan im Melchtal 1868-1896, dann bis 1909 Spiritual des Klosters, die kleine Gemeinschaft, gab ihr die Benediktusregel und unterstellte sie dem Abt von Engelberg. Differenzen mit dem Abt wegen eigenwilliger Auslegung der Ordensregel durch P. Berchtold brachten die Neugründung zweimal beinahe zum Scheitern. Von einer Klostergemeinschaft kann man seit dem Beginn des ersten Noviziatskurses 1868 reden. Hauspatron ist der 1947 heiliggesprochene Bruder Klaus. Die Schwestern pflegen seit Anfang die ewige Anbetung. 1875 liess P. Berchtold den ersten Bau errichten. Bettelreisen, welche die Schwestern durch ganz Europa, nördlich bis Belgien, im Osten über Bayern und Tirol bis Wien, Ungarn und Rumänien führten, ermöglichten 1893-1896 den Bau des heutigen Klosters und der Kirche (eingeweiht 1896 durch den Churer Bischof Johannes Fidelis Battaglia). Ein Hauptgewicht legten die Schwestern von Beginn an auch auf die Ausbildung von Mädchen und unterrichteten an der Dorfschule im Melchtal. 1897-1926 führten sie ein eigenes Lehrerinnenseminar und einen Deutschkurs für fremdsprachige Mädchen (bis 1970). Platzmangel machte 1901 den Bau des Instituts notwendig. 1929 gründeten die Schwestern das Töchterinstitut mit Internat, an dem die Benediktinerinnen bis 1998 unterrichteten. Danach führte die «Neue Internatsschule Melchtal AG» die Schule mit angestellten Laienlehrkräften bis zur endgültigen Schliessung 2002 fort. Viele Frauen aus Obwalden und der ganzen Schweiz haben im Melchtal ihre weiterführende Schulbildung absolviert. Neben der Schule trugen Weberei und Paramenten- und Fahnenstickerei zum Lebensunterhalt der Nonnen bei. Nachdem 2016 das 150-Jahr-Jubiläum begangen werden konnte, entschieden sich die Schwestern von Melchtal auf Herbst 2018 aufgrund der Überalterung die altehrwürdige Niederlassung aufzugeben und in das neue Benediktinische Zentrum im Frauenkloster Sarnen zu wechseln. • Benediktinerinnen in Müstair/ GR (seit dem 12. Jahrhundert) Das Kloster - als Benediktinerkonvent gegründet [siehe Bd. 1, S. 39 f.] - wurde in seiner über 1200jährigen Geschichte nie völlig zerstört und immer nur partiell umgebaut. So präsentiert sich die Klosteranlage (heute Unesco-Weltkulturerbe) als ein Konglomerat von Gebäuden verschiedenster Baustile unterschiedlicher Epochen und Stile, die sich gut ineinanderfügen. Die Kirche und die Heiligkreuzkapelle sind noch aus der Gründerzeit (8. Jahrhundert) erhalten. Der Plantaturm aus dem 10. Jahrhundert und die Bischofsresidenz aus dem 11. Jahrhundert sind nur einige architektonische Höhepunkte der Klosteranlage. Seit dem 12. Jahrhundert wirken hier Benediktinerinnen (seit 1810 unter Leitung einer Priorin). <?page no="455"?> 455 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick • Benediktinerinnen in Maria-Rickenbach/ NW (seit 1863) 1863 unter der Bezeichnung «Kongregation der Opferschwestern des dritten Ordens des hl. Benedikt» bischöflich bestätigt, entwickelte sich das 1857 gegründete Kloster rasant. Die wachsende Zahl der Schwestern bedingte einen grösseren Bau, der 1864 bezogen werden konnte. In den 1870er Jahren konnten mehrere Tochterklöster in den USA gegründet werden. Um Ordensnachwuchs für das Kloster Yankton zu gewinnen, kaufte Schwester Gertrud Leupi 1890 das Schloss Wikon/ LU und begründete darin 1891 das Erziehungs- und Missionsinstitut Marienburg, das seit 1973 ein selbstständiges Kloster ist. In Maria-Rickenbach, welches 1938 den Status eines Priorats erhielt, wurden Kloster, Kirche und das bis 1986 bestehende Mädcheninstitut in der Folgezeit mehrmals erneuert und erweitert. Ein zweiter Klosterbau wurde 1973-1977 errichtet und die Kirche 1979/ 80 umgebaut und neu geweiht. 2007 feierte das Kloster sein 150-jähriges Bestehen. Das Kloster Maria-Rickenbach ist diözesanen Rechts, es steht unter der Obhut des Bischofs von Chur. Jedoch seit der Gründung bis heute ist der Abt von Engelberg Delegierter des Bischofs. • Benediktinerinnen in der Au, Trachslau bei Einsiedeln/ SZ (seit ca. 1600) Das Benediktinerinnenkloster hat seine Wurzeln im 12. Jahrhundert. Fromme Frauen hatten den Wunsch, in der Nähe der Gnadenkapelle von Einsiedeln zu leben. Sie wurden «Waldschwestern» genannt und wohnten in vier Häusern am Hügelzug des Flusses Alp. 1526 schlossen sie sich in der Vorderen Au zu einer Gemeinschaft zusammen. Sie liessen sich vom Leben der Mönchsgemeinschaft des Klosters Einsiedeln inspirieren und entschieden sich 1617, nach der Regel des hl. Benedikts zu leben. Dem Wunsch der Benediktinerinnen, die ewige Anbetung einzuführen, entsprach der Abt von Einsiedeln 1846; die Gemeinschaft wurde dadurch besonders geprägt. Die Anbetung ist bis heute aktuell. Auch Gläubige aus der nahen und weiteren Umgebung übernehmen freiwillig Anbetungsstunden, bei Tag und Nacht. Abb. 312: Benediktinerinnen in der Au bei Einsiedeln/ SZ [BAC.BA] <?page no="456"?> 456 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften b) Dominikanische Gemeinschaften Der 1953 errichteten Schweizer Dominikanerprovinz gehören im Bistum Chur der erst 1997 gegründete Konvent des hl. Nikolaus in Zürich-Hottingen an; aus seinem Kreis wird die Seelsorge an der «Mission catholique de langue française» (Personalpfarrei) wahrgenommen. Seit ihrer Gründung ist die Provinz bemüht, für die verschiedenen dominikanischen Schwesterngemeinschaften Spirituale zu stellen. Auf Diözesanebene sind dies die beiden Dominikanerinnenklöster St. Peter und Paul in Cazis/ GR (seit 1647) und St. Peter am Bach in Schwyz/ SZ (vor 1275) sowie die Kongregation der Dominikanerinnen in Ilanz/ GR (1865) und die Kongregation der Dominikanerinnen von Bethanien im obwaldischen St. Niklausen (1866) [zu den Kongregationen siehe unten, S. 462-475]. • Dominikanerinnen in Schwyz/ SZ (seit 1275) Vor 1275 taten sich einige fromme Frauen zu einer Gemeinschaft zusammen, um in Gebet und Busse Gott zu dienen; dieser Gemeinschaft schenkte ein gewisser Ritter Hartmann aus Schwyz den sog. «Ritterturm auf dem Bach» und dazugehörendes Land. Dem Geiste des hl. Dominikus verpflichtet (3. Orden), wurde in dem seit 1347 den Namen «St. Peter am Bach» tragenden Kloster 1356 die Klausur eingeführt. Nach einem starken Rückgang im 16. Jahrhundert gelang im 17. Jahrhundert die Konsilidierung des Konvents. Zwischen 1625 und 1629 wurde für damals ungefähr 40 Schwestern ein neues Klostergebäude erstellt, 1639-1641 folgte der Neubau der Kirche. Bis heute pflegen die Dominikanerinnen in Schwyz als geschlossener Konvent unter Leitung einer Priorin das beschauliche Leben. Abb. 313: Dominikanerinnenkloster St. Peter am Bach in Schwyz/ SZ [BAC.BA] <?page no="457"?> 457 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick Abb. 314: Dominikanerinnenkloster St. Peter und Paul in Cazis/ GR [BAC.BA] • Dominikanerinnen in Cazis/ GR (seit 1647) Der zweite Ilanzerbrief von 1526 unterstellte bekanntlich die Verwaltung der Klöster in Bünden der weltlichen Obrigkeit und verbot die Aufnahme von Novizen. Damit erlosch allmählich das Klosterleben der Augustinerinnen in Cazis; 1570 wurde das Kloster definitiv aufgehoben. [siehe Bd. 1, S. 33 f.] In den leerstehenden Klosterräumen wohnen anfangs Mitglieder der Familie Schauenstein, später diejenigen der Planta, schliesslich wurde es baufällig und unbewohnbar. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts schildert ein Kapuzinerpater den Zustand: «Das Kloster machte nicht mehr den Eindruck eines Ordenshauses, vielmehr eines Waldes für wilde Tiere. Das morsche Dach fiel zusammen infolge des Alters. Die Klosterhöfe waren voll von Steinen und Trümmern, so daß einem die Tränen kamen beim Anblick.» 1647 schliesslich berief der Churer Bischof Johann VI. Flugi von Aspermont (1636- 1661) die Chorfrau Johanna Gauwin aus dem Dominikanerinnenkloster in Bludenz zur Neugründung und Leitung eines entsprechenden Frauenkonvents nach Cazis. Johann VI. hatte dabei vor allem schulische Absichten. Die kleine Schar von Dominikanerinnen - zu Beginn waren es sechs Schwestern - führte lange Zeit einen Existenzkampf. Um den Weiterbestand der Gemeinschaft zu sichern, sahen sich die Churer Bischöfe wiederholt genötigt, sich für das materielle Wohl der Schwestern einzusetzen. Zudem setzte 1768 ein verheerender Brand dem Kloster erneut massiv zu. Bis 1928 gehörten die Dominikanerinnen in Cazis zum zweiten Orden, dann aber, mit der Übernahme neuer Konstitutionen, traten sie in den dritten Orden über. Dadurch war es der Gemeinschaft möglich, ihren Wirkungskreis ausserhalb der Klausur <?page no="458"?> 458 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften c) Franziskanische Gemeinschaften Aufgrund des Nachwuchsmangels und der Überalterung sahen sich die Schweizer Kapuziner gezwungen, das noch von Carlo Borromeo ins Leben gerufene, älteste Kapuzinerkloster nördlich der Alpen in Altdorf/ UR auf den Spätsommer 2009 zu schliessen. Bereits im September 2004 wurde das seit 1582 bestehende Kloster in Stans/ NW aufgegeben. In der Zentralschweiz liegt ferner das 1585 gegründete Kapuzinerkloster in Schwyz/ SZ, das unter P. Felizian Bessmer (1884-1964) eine Blütezeit erlebte. Mit seiner Hilfe wurden verschiedene caritative Werke ins Leben gerufen. Heute zählt die dortige Gemeinschaft noch 9 Patres, die u. a. in der Kranken- und Betagtenseelsorge arbeiten. Die Klöster in Arth/ SZ und Sarnen/ OW wurden 1996 bzw. 1972 (als Konvent) / 1992 (als Kleinniederlassung) aufgelöst, die jahrhundertealte Niederlassung der Kapuziner in Näfels/ GL 1986 den Franziskanern übergeben (Kloster Marienburg). Von den einst unzähligen Kapuziner-Hospizen auf Bistumsgebiet sind seit Ende 2017 leider nur mehr ein einziges - Mastrils ob Landquart/ GR - besetzt bzw. die dazugehörige Pfarrei von einem nicht ortsansässigen Pater betreut; Andermatt und Realp (Ursern/ UR), Rigi-Klösterli/ SZ, Tiefencastel, Lantsch, Tomils und die Pfarrei Tarasp im Bünderland mussten in den letzten Jahren aufgegeben werden. Das in der Stadt Zürich gelegene Kapuzinerheim (mit 5 Patres) ist gegenwärtig auch Sitz der Slowenenseelsorge im Kanton. In Stans leben in dem 1614 gegründeten Kapuzinerinnenkloster St. Klara noch 12 Schwestern; der Konvent stand zwischen 1867 und 1988 aktiv im Schuldienst (mit Internatsführung) [Sekundar- und Realschule sowie Handelsschule]. Das Kloster konzentriert sich heute auf seine wesentliche Bestimmung: Es stellt sich «als betende Gemeinschaft den Nöten nah und fern», schreiben die Schwestern in ihrer Medienmitteilung zum 400-Jahr-Jubiläum (2015). zu entfalten. Die Schule St. Catharina, die 1866 eine kurze Blütezeit erlebt hat, wurde 1955 als Haushaltungsschule neu ins Leben gerufen (bis 1998); 1971 konnte aufgrund wachsender Schülerzahlen ein Neubau realisiert werden. So verwirklichte sich die alte Gründungsabsicht Bischofs Johann VI., der 1647 mehrfach in Dokumenten betont hatte, er wolle mit den Dominikanerinnen in Cazis einen Ort für Mädchenbildung in Graubünden schaffen. Diesem Anliegen entsprach im 20. Jahrhundert auch die langjährige Lehrtätigkeit der Schwestern in verschiedenen Gemeinden des Domleschg. 1999 bis 2008 war die «Schule St. Catharina» eine eidgenössisch anerkannte Vorlehrinstitution (10. Schuljahr); seither bietet die Institution schulische, praxisorientierte und Sprachintegrations-Brückenangebote sowie Erwachsenenbildung an. Gegenwärtig leben 39 Dominikanerinnen unter Leitung einer Priorin in Cazis. 2002 sind mehrere Schwestern aus dem Kloster Cazis nach Bludenz entsandt worden. Wie das dortige Dominikanerinnenkloster 1647 den Neuanfang ermöglicht und den Fortbestand des Cazner Konvents gesichert hat, so kümmern sich heute (momentan 4) Schwestern aus Cazis um den Fortbestand des Klosters St. Peter in Bludenz. <?page no="459"?> 459 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick Neben einem Franziskaner-Konvent in Zürich, dem bereits erwähnten Franziskanerkloster Marienburg in Näfels/ GL und einer Gemeinschaft der Franziskaner-Konventualen im Flüeli-Ranft/ OW leben regulierte Franziskaner-Terziarinnen seit dem 13. Jahrhundert im Kloster St. Josef in Muotathal/ SZ (heute Franziskanerinnen-Konventuale). Abb. 315: Kapuzinerkloster in Schwyz/ SZ [BAC.BA] Abb. 316: Pfarrkirche und Kloster St. Josef der Franziskaner-Terziarinnen in Muotathal/ SZ [BAC.BA] <?page no="460"?> 460 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften Als Ausnahmeartikel der Bundesverfassung (auch konfessionelle Artikel genannt) gelten diejenigen Verfassungsnormen, welche die Glaubens- und Gewissensfreiheit einseitig einschränken. Als Ausfluss der konfessionellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts richteten sie sich v. a. gegen die katholische Kirche, aber mit dem 1893 eingeführten Schächtverbot auch gegen das Judentum. Bereits die Verfassung von 1848 verbot den Jesuiten und den «affiliierten Gesellschaften» jedes Wirken in Staat und Kirche. Im Kulturkampf wurden die Ausnahmeartikel in der Bundesverfassung von 1874 verschärft: Art. 51 präzisierte das Jesuitenverbot, Art. 52 verbot die Errichtung neuer oder die Wiederherstellung aufgehobener Klöster, Art. 50 Abs. 4 unterstellte die Errichtung von Bistümern der Genehmigung durch den Bund und Art. 75 schloss Schweizer Bürger geistlichen Standes (auch ordinierte reformierte Pfarrer) von der Wahl in den Nationalrat aus. Im 20. Jahrhundert wurden die Ausnahmeartikel (v. a. der Jesuitenartikel) extensiv ausgelegt und Neugründungen von Klöstern wurden unter anderer Rechtsform toleriert. Nach 1950 anerkannten auch nichtkatholische Staatsrechtler, dass die Art. 51 und 52 unhaltbar und diskriminierend seien. Die Motion Ludwig von Moos (1954) führte schliesslich zur Volksabstimmung vom 20. Mai 1973, in welcher diese beiden Artikel ersatzlos gestrichen wurden. Der Bistumsartikel hingegen wurde erst am 10.-Juni 2001 von Volk und Ständen aufgehoben. d) Ignatianische Gemeinschaft Wenngleich Artikel 51 der Bundesverfassung von 1848 Niederlassung und Tätigkeit der Jesuiten in Schule und Kirche generell verbot (sog. «Ausnahmeartikel») [siehe Kasten], entfalteten Ordensangehörige der selbständigen Vizeprovinz Schweiz (bis 1947 Oberdeutsche Provinz) eine rege Tätigkeit als Studentenseelsorger, Erwachsenenbildner, Publizisten und Referenten. Am 20. Mai 1973 tilgten in der eidgenössischen Abstimmung Volk und Stände das Jesuitenverbot ersatzlos aus der Verfassung. In der Zwinglistadt befindet sich seit 1974 das Provinzialat der Jesuiten in der Schweiz, deren Mitglieder das Katholische Akademikerhaus und das Institut für weltanschauliche Fragen (beide in Zürich) leiten und von 1936 bis 2009 das Periodikum «Orientierung» (bis 1946 «Apologetische Blätter») herausgegeben haben. <?page no="461"?> 461 2. Bedeutende Ordensniederlassungen auf dem heutigen Bistumsgebiet - ein Überblick e) Andere Gemeinschaften Männliche Gemeinschaften [A-Z] Claretinerpatres Haus Claret in Zürich Gesellschaft des katholischen Apostolates (Pallottiner) Morschach/ SZ Mariannhiller Missionare [siehe unten: Missionsgesellschaften] Missionshaus St. Josef in Altdorf/ UR Missionare von der Heiligen Familie [siehe unten: Missionsgesellschaften] Christ-König-Kolleg in Nuolen/ SZ Oratorium des hl. Philipp Neri Opfikon-Glattbrugg/ ZH Prälatur vom Heiligen Kreuz und Opus Dei Sitz des Regionalvikars für die Schweiz in Zürich Priesterbruderschaft St. Petrus Thalwil/ ZH Salesianer Missione Cattolica di Lingua italiana (Pfarrei Don Bosco) in Zürich Schweizerische Missionsgesellschaft Bethlehem [siehe unten: Missionsgesellschaften] Missionshaus Bethlehem in Immensee/ SZ Weibliche Gemeinschaften [A-Z] Augustinerinnen Monastero Santa Maria Presentata in Poschiavo/ GR (1925: das frühere kontemplative Kloster der Augustinerinnen [1629/ 1684] wird eine Kongregation diözesanen Rechts und untersteht dem Churer Bischof / 2000: Einweihung des Zentrums für Spiritualität, Ökumene und Kultur) Eremitinnen Einsiedelei Tschütschi in Rickenbach/ SZ Kongregation der Töchter des Herzens Jesu St. Josefklösterli in Schwyz Missionarinnen der Nächstenliebe (Mutter-Theresa-Schwestern) [siehe unten: Missionsgesellschaften] Zürich Schwestern vom Guten Hirten Zürich (bis 2018) Schwesternschaft vom Heiligen Kreuz Flüeli-Ranft/ OW Spirituelle Weggemeinschaft Rheinau/ ZH (bis 2018 auch in Kehrsiten/ NW) <?page no="462"?> 462 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert vollzog sich in Europa ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel, der alle Lebensbereiche und alle Bevölkerungsgruppen miteinschloss: der Übergang von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dabei ging es grundsätzlich um die Herausbildung einer modernen Gesellschaft unter Berücksichtigung diverser Aspekte wie die des Aufstiegs eines gebildeten und industriellen Bürgertums, der Gleichstellung aller Bürger und Bürgerinnen, der Garantie bürgerlicher Freiheitsrechte, der Gleichberechtigung von Stadt und Land, der Erweiterung der politischen Partizipation durch Ausdehnung des Wahlrechts und des beginnenden Aufbruchs des weiblichen Geschlechts zu seiner Bedeutung in der Moderne. Zwischen dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft und den christlichen Kirchen entstanden im 19. Jahrhundert vielfältige, zum Teil äusserst heftige Konflikte, die geprägt waren durch den Zusammenprall zweier grundsätzlicher Anschauungen, nämlich der liberalen und konservativen. Für die katholische Kirche waren die durch die Französische Revolution 1789 und die Grosse Säkularisation 1803 ausgelösten Erschütterungen und Umwälzungen eine traumatische Erfahrung. Das kirchliche Leben musste neu aufgebaut werden. Damit einher ging auch die geistige Erneuerung. Die kirchlich-religiöse Erneuerung ist eng verflochten mit der geistesgeschichtlichen Wende in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Merkmale der katholischen Erneuerungsbewegung waren Identität und Emanzipation. Die Bewegung betonte die enge Bindung an Rom und den Papst, denn sie war überzeugt, eine strikte an Rom sich anlehnende Kirche könne die grossen Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeist des Liberalismus, des Sozialismus, des Rationalismus und des Atheismus am besten bestehen. Von dieser Bindung an das Papsttum «jenseits der Alpen» erhielt die Bewegung den Namen «Ultramontanismus». An dieser Entwicklung der bewusst nach Rom ausgerichteten, wachsenden Bedeutung der Kirche hatten auch Frauen ihren Anteil; in der Forschung spricht man von einer Feminisierung von Religion und Kirche. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erhielten Frauen unter dem Dach der Kirche einen Handlungsspielraum, welchen die männerdominierte bürgerliche Gesellschaft für Frauen damals noch nicht bereithielt. Sie erhielten die Möglichkeit, ausserhalb des familiären Kontextes, Religion und Glaube aktiv zu gestalten. Ihr Engagement führte zu einer beträchtlichen Veränderung der bestehenden sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse in der Gesellschaft. Aus christlicher Nächstenliebe versuchten Frauen - oft unter dem Vorsitz eines Priesters - die Not von Armen, Kranken und verwahrlosten Kindern zu lindern oder setzten sich für eine bessere Schulbildung ein. Auf diesem fruchtbaren Boden des aktiven Glaubenslebens, verwirklicht in selbstloser Diakonie, erwuchs eine neue Form im Ordensleben der Kirche: die Schwestern-Kongregationen des 19. Jahrhunderts. <?page no="463"?> 463 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert erlebte auch die Schweiz eine bedeutende demographische Entwicklung, welche mit neuen schulischen, caritativen und seelsorgerlichen Herausforderungen verbunden war. Sie bildeten das historische Umfeld für die Gründung von Kongregationen. Auf dem Territorium des Bistums Chur sind in chronologischer Abfolge deren vier von Bedeutung: die Schwestern vom Kostbaren Blut auf Schloss Löwenberg in der Gemeinde Schluein/ GR (gegr. 1834), die Schwestern vom Kostbaren Blut auf Steinerberg/ SZ (gegr. 1845), die Ingenbohler Kreuzschwestern (gegr. 1852-1856) und die Ilanzer Schwesternkongregation (gegr. 1865). Bevor hier näher auf die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz zu Ingenbohl eingegangen wird, sei ein Überblick über die anderen drei genannten Kongregationen geboten. Der Begriff Kongregation bezeichnet kirchenrechtlich zum einen den Zusammenschluss mehrerer Klöster gleicher Observanz unter einen Oberen, zum anderen meint er jene neuzeitlichen religiösen Männer- und Frauengemeinschaften, die in gemilderter Form dieselben geistlichen Übungen wie das Mönchtum praktizierten, jedoch keine, private oder lediglich einfache Gelübde ablegten und meistens auf die Klausur verzichteten, um ihren apostolischen Dienst besser erfüllen zu können. Die Blütezeit der Kongregationen (wie auch auf protestantischer Seite der Diakonissen) setzte im 19. Jahrhundert ein. Ein bedeutender Bevölkerungsanstieg verbunden mit neuen schulischen, caritativen und seelsorgerlichen Herausforderungen bildete das historische Umfeld, vor dem sich insbesondere den weiblichen religiösen Instituten verschiedene soziale Aufgaben eröffneten. Gleichzeitig stieg der Bedarf an als Seelsorger und Erzieher tätigen Ordensmännern. In der Schweiz etablierten sich 1800-1874 neu fünf Männer- und 27 Frauenkongregationen, zuerst in der Westschweiz, ab 1830 auch in Luzern, in der Innerschweiz sowie in den katholichen Pfarreien der Diasporastädte. Ihren Höchststand an Mitgliedern ist nach der Mitte des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen. Veränderte gesellschaftliche Bedingungen, neue Berufsmöglichkeiten sowie die weitgehende Übernahme der sozialen Aufgaben durch staatliche Einrichtungen liessen die Mitgliederzahlen danach stark sinken. Die grosse Zeit der Kongregationen scheint in Europa und in der Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorbei zu sein. Abb. 317/ 318: Löwenberg ob Schluein/ GR - um 1830 (links) und bis September 2019 Sitz eines Transitzentrums (rechts) [Quelle: wikipedia] <?page no="464"?> 464 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften a) Schwestern vom Kostbaren Blut auf Löwenberg Die Gemeinschaft der Schwestern vom Kostbaren Blut auf dem damals noch existierenden Schloss Löwenberg bei Schluein im Bündner Oberland wurde von Anna Maria Brunner-Probst (1764-1836) und ihrem Sohn, einem rastlosen ehemaligen Benediktiner und Trappistenpater, Franz Sales Brunner (1759-1859), 1834 gegründet. Nach der zusätzlichen Gründung einer Missionsschule 1838 auf Löwenberg als erstes ‹Priesterseminar› der Kongregation vom Kostbaren Blut ausserhalb Italiens umfasste die Gemeinschaft 1843 14 Priester, 3 Brüder, 11 Studenten und 16 Schwestern. Infolge der Weigerung des Churer Bischofs, Löwenberger Seminaristen zu ordinieren und weiterer Konflikte mit der Pfarrgeistlichkeit in der Surselva erwirkte Brunner von seinen römischen Oberen - seit 1839 war er Mitglied der Kongregation vom Kostbaren Blut der Provinz Italien - die Erlaubnis zur Auswanderung nach Amerika. 1850 folgten ihm die Schwestern aus der Surselva; das Schloss Löwenberg überliess Brunner samt einem Schuldenberg dem Churer Bischof. In Europa gelang 1858 in Schellenberg/ FL als Filiale der amerikanischen Provinz unter Leitung von Sr. Maria Johanna Grünfelder aus Mels/ SG die Gründung eines neuen Schwesternkonvents. Dort starb Pater Brunner 1859 und fand in der Klosterkirche seine letzte Ruhestätte. In den folgenden Jahren lockerte sich die Verbindung Schellenbergs zur amerikanischen Mutterprovinz immer mehr. 1896 gestattet der Bischof von Chur dem Liechtensteinischen Konvent die Wahl einer eigenen Oberin; die Gütertrennung wurde aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geregelt. Schellenberg erwuchs zum Ausgangspunkt für zahlreiche Gründungen und gilt als Wiege der am 6. August 1922 errichteten Deutschen Provinz der Missionare vom Kostbaren Blut. Die Kongregation - seit 1933 bischöflichen Rechts - umfasst heute etwa 30 Schwestern. b) Schwestern vom Kostbaren Blut auf Steinerberg Die Gründung der «Versammlung vom Kostbaren Blut zur immerwährenden Anbetung des heiligsten Altarsakraments» (Kongregation der Schwestern vom Kostenbaren Blut) auf Steinerberg/ SZ im Jahr 1845 ist das gemeinsame Werk des badischen Priesters und Ultramontanisten Karl Josef Rolfus (1819-1907), damals Vikar in Friedenweiler bei Titisee- Neustadt, der ersten Schwestern und ihrer Oberin Maria Theresia Weber (1822-1848) sowie des damaligen Ortspfarrers Leonhard Loser (1834-1878) und seines Kaplans Josef Meinrad Holdener (1833-1853). Die von Rolfus aufgesetzten Regeln sahen neben strenger Klausur, Armut und Fasten die ewige Anbetung vor. Ferner sollten die Schwestern, welche im Sigristenpfrundhaus gegenüber der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Anna wohnten, sich mit der Erziehung der weiblichen Jugend und mit Handarbeiten befassen. Die Weigerung der Patentausstellung des Schwyzer Kantonsrates an zwei Schwestern im Schuldienst mit der Begründung, sie gehörten keinem kirchlich anerkannten Orden an, drängte auf Inkorporation unter die Generalleitung der Missionare vom Kostbaren Blut; dieser wurde im August 1847 stattgegeben. Gravierende Hungersnot und eine ausgebrochene rätselhafte Krankheit unter den inzwischen 50 Schwestern führte am 3. Juni 1848 mittels Ausweisungsbefehls der Schwyzer Regierung zur Aufhebung des Schwesternhau- <?page no="465"?> 465 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert ses auf Steinerberg; eine Intervention des Churer Bischof fruchtete nicht. Die Schwestern hatten Steinerberg innerhalb von acht Tagen zu verlassen. Die Aufhebung wurde damit begründet, von den Schwestern würden lediglich zwei unterrichten, zudem gehöre die Gemeinschaft keinem kirchlich anerkannten Orden an und besitze keine kanonisch vorgeschriebene wirtschaftliche Ausstattung. Der noch reisetüchtige Rest der Schwestern - Maria Theresia Weber starb in Sattel/ SZ am 28. August 1848 im Alter von erst 26 Jahren - fand zwischen 1848 und 1857 in Ottmarsheim bei Mühlhausen (Diözese Strasbourg) auf Initiative Rolfus’ eine neue Bleibe, wo sich langsam ein bis heute bestehender Konvent bildete, der Mitglied der Konföderation der Benediktinerinnen der ewigen Anbetung mit Sitz der Superiorin in Rouen (Frankreich) ist. Unweit von Waldshut errichtete ein nichtkontemplativer Zweig der Ottmarsheimer Gemeinschaft auf Schloss Gurtweil 1857 das erste deutsche Provinzhaus der «apostolischen» Gemeinschaft der Schwestern von der ewigen Anbetung (bis 1873). 1920 schliesslich gewährte die Liechtensteiner Landesregierung den Schwestern vom Kostbaren Blut die Niederlassungsbewilligung in Gutenberg/ FL zwecks Errichtung einer Haushaltsschule. Bis 1935 stand dort das Provinzhaus mit Noviziat, das seither im Institut St. Elisabeth in Schaan/ FL seine Stätte hat. Abb. 319-321 (von links nach rechts): Karl Josef Rolfus (1819-1907) / Steinerberg (Mitte 20. Jh.) / Leonhard Loser, Pfarrer von Steinerberg (1834-1878) [BAC.BA] Abb. 322: Institut St. Elisabth in Schaan/ FL [BAC.BA] <?page no="466"?> 466 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften c) Kongregation der Ilanzer Dominikanerinnen Die Kongregation der Ilanzer Dominikanerinnen wurde 1865 vom Bündner Priester Johann Fidel Depuoz aus Siat (1817-1875) gegründet, der bis 1860 dem Jesuitenorden angehörte und danach als Churer Diözesangeistlicher von Bischof Nikolaus Franz Florentini inkardiniert wurde. Bereits 1859 vermachte Depuoz dem Priesterkapitel der Surselva eine namhafte Schenkung zur Errichtung einer den Bedürfnissen des romanischen Volkes entsprechenden Erziehungs-, Waisen-, Armen- und Krankenanstalt. 1864 standen Umfang und Ort seiner Gründung fest: die Errichtung einer Bildungsanstalt und eines Spitals in Ilanz. Am 15. November 1865 öffnete das Schulinternat seine Tore, das von einer kleinen religiösen weiblichen Gemeinschaft unter dem Namen «Gesellschaft von der göttlichen Liebe» geführt wurde; erste Oberin war Schwester Maria Theresia Gasteyer aus Wiesbaden (1868-1892). Die bischöfliche Approbation erhielt die Gesellschaft nach Überarbeitung der Statuten, die keine Gelübde vorsahen, im Jahre 1880. Nach dem Tod Depuoz’s 1875 geriet das Institut in finanzielle wie geistliche Schwierigkeiten, was den Abb. 323 (links): Priester Johann Fidel Depuoz aus Siat (1817-1875) Abb. 324 (rechts): Schwester Maria Theresia Gasteyer aus Wiesbaden (1868-1892) [Dominikanerinnenkloster Ilanz] Abb. 325: Kloster und Klosterkirche der Dominikanerinnen in Ilanz/ GR (heute) [BAC.BA] <?page no="467"?> 467 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert Churer Bischof Johannes Fidelis Battaglia bewog, die Schwesterngemeinschaft in Ilanz einem bereits bestehenden Orden einzugliedern. Nach Verhandlungen mit den Dominikanern und nach Prüfung verschiedener Konstitutionsvorlagen entschied man sich für diejenigen der Arenberger Dominikanerinnen. Seit 1893 beobachten die Schwestern in Ilanz die Lebensweise der dominikanischen Spiritualität; 1894 war mit dem Eintreffen des Affiliationsdekretes aus Rom der Anschluss an den Dominikanerorden vollzogen. Nach verschiedenen Umbauten entschloss man sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem Neubau oberhalb Ilanz. Die Gebäulichkeiten beherbergen ausser dem Generalat, dem Noviziat und den Betriebs- und Wohnräumen der Schwestern eine Station für alte und kranke Mitglieder der Kongregation. Die «Kongregation der Dominikanerinnen Ilanz», so die seit 1984 geltende Bezeichnung, besitzt mehrere Niederlassungen in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich sowie in Taiwan und Brasilien. d) Kongregation der Barmherigen Schwestern vom heiligen Kreuz Ingenbohl Gründungszeit Das Institut der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz in Ingenbohl, zwischen 1852 und 1856 nach den Sozialplänen des Kapuziners Theodosius Florentini (1808- 1865) errichtet, entwickelte sich eigentlich aus dem Institut der Lehrschwestern vom heiligen Kreuz in Menzingen, das bereits 1844 mit der Übernahme der dortigen Mädchenschule seinen Anfang genommen hatte. Florentini entfaltete eine vielseitige Tätigkeit auf dem Gebiet der Seelsorge, der Schule, des Armenwesens und der Krankenpflege. Als eine der treuesten und wichtigsten Mitarbeiterinnen gewann er 1844 die aus Meggen/ LU stammende Schwester Maria Theresia Scherer (1825-1888) aus der Gemeinschaft in Menzingen. Der Berufungsweg der Anna Maria Katharina Scherer, so ihr Taufname (geb. am 31. Oktober 1825), ist durch drei Merkmale geprägt: 1. Durch die Betroffenheit von der Not der Zeit, die zum Einsatz für die Schwachen und Bedürftigen führte. Nach dem Besuch der Primarschule in Meggen durchlief sie eine praktische Ausbildung in Haushalt und Krankendienst am Bürgerspital Luzern. Dort wurde ihre physische und psychische Widerstandskraft geschult, aber auch auf die Probe gestellt. 2. Durch die Betroffenheit von Gottes Anruf, der in ihr die Freude am Religiösen wachsen liess. Bereits in ihrer Kindheit war Katharina Scherer mit der kirchlichen Erneuerungsbewegung in Kontakt gekommen. In Meggen wirkte als Pfarrer Karl Meyer (1769-1830); dieser war ein Schüler von Johann Michael Sailer (1751-1832), einem der wegweisenden Pastoraltheologen des 19. Jahrhunderts und markantesten Vertreter der katholischen Erneuerung (Bischof von Regensburg 1829-1832). In der Zeit ihres Wirkens in Luzern bat sie um Aufnahme in den Jungfrauenbund und in den Dritten Orden des hl. Franziskus. <?page no="468"?> 468 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften 3. Durch die Erkenntnis, von Gott nicht nur berührt worden zu sein, sondern auch gesandt zu sein in den Dienst der Kirche. Bei der ersten Begegnung am 5. Oktober 1844 mit Pater Theodosius in Altdorf, der rasch Scherers erzieherischen und sozialen Talente erkannte, entschied sich Katharina für den Eintritt in die noch im Entstehen befindliche Lehrschwesternkongregation von Menzingen (am 1. März 1845; Profess als Sr. Maria Theresia bereits am 27. Oktober 1845). Nach ersten Erfahrungen im Schulunterricht in Galgenen/ SZ kam Sr. Maria Theresia nach Baar/ ZG, später für drei Jahre nach Oberägeri/ ZG. Als Autodidaktin legte sie am 3. November 1849 vor dem Erziehungsrat des Kantons Zug die Lehramtsprüfung ab. Nach kurzen Aufenthalten in Näfels (an der dortigen ‹Industrieschule›) und an der Dorfschule in Menzingen berief sie Pater Theodosius am 1. März 1852 als Vorsteherin in das 1850 eingerichtete Spital Planaterra in Chur. Der rastlos tätige Florentini hatte den Plan gefasst, den Menzinger Lehrschwestern eine Genossenschaft von Krankenschwestern anzugliedern und beide zu einem umfassenden Werk zu vereinigen. Da eine solche Verschmelzung von Unterricht und Caritas nicht zuletzt wegen des Widerstandes der Leiterin in Menzingen, Schwester Bernarda Heimgartner (1822-1863; 1951 seliggesprochen), misslang, entschied sich Maria Theresia auf ihrem Berufungsweg definitiv für die caritative Ausrichtung. 1856 erklärte der Bischof von Basel die beiden Gemeinschaften zu zwei selbständigen Instituten. Noch in Chur wurde Maria Theresia am 13. Oktober 1857 von der inzwischen angewachsenen Schwesterngemeinschaft, welche im 1853 erbauten Churer Kreuzspital im Gäuggeli ihre neue Niederlassung gefunden hatte, zur ersten Generaloberin gewählt. Im Gebäudekomplex des Churer Kreuzspitals wurden das Noviziat und eine Pensionatsschule mit der Ausbildungsmöglichkeit für den Lehr- und Pflegeberuf eingerichtet. Trotz vielseitiger Anerkennung befürchteten die politischen Gegner Florentinis, besonders aus dem Kreis des Bündner Grossen Rates, die Entstehung einer ganzen klösterlichen Anlage auf dem Platz Chur und verhinderten mit Erfolg einen weiteren Ausbau. Im Frühjahr 1858 mussten schliesslich alle in der Krankenpflege nicht benötigten Personen Chur verlassen. Sie übersiedelten nach Ingenbohl/ SZ, wo Pater Theodosius 1855 den heruntergekommenen Nigg’schen Hof auf dem Hügel oberhalb von Brunnen erworben hatte. Dort entstand unter Leitung von Schwester Maria Theresia Scherer (Mitbegründerin und Generaloberin bis zu ihrem Tod am 16. Juni 1888) das Mutterhaus der «Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz», wie sich die Gemeinschaft 1860 nannte. Abb. 326-328 (von links nach rechts): Erstes Spital an der Planaterra (1850-1853) und zweites Spital im Gäuggeli in Chur (1853-1912) / Maria Theresia Scherer als Generaloberin (seit 1857) [BAC.BA] <?page no="469"?> 469 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert Fortschreitender Ausbau in der Schweiz und in Europa Gemeinde- und Kantonsbehörden von Schwyz zeigten sich dem Anfang in Ingenbohl wohlgesinnt und hilfreich, die Bevölkerung hingegen war eher skeptisch. Dem Mut und Einsatz der Schwestern und der Hilfe durch den Pfarrer von Ingenbohl, Melchior Tschümperlin (1855-1871), durch grossherzige Bürger und Lieferanten gelang es, die heruntergekommene Liegenschaft zu sanieren sowie mit einem Gotteshaus und einem neuen Seitenflügel für Noviziat und Pensionat zu erweitern. Unterstützt von Bischöfen und Seelsorgern, Staatsmännern und Fürsten sowie unzähligen katholischen wie protestantischen Laien konnten bei steigenden Zahlen von Eintritten laufend neue Posten übernommen werden − im Bereich der Caritas: Ambulatorien, Spitäler, Pflegedienst in Gefängnissen, Armen- und Waisenhäuser, Hausdienste in allen Priesterseminarien der Schweizer Diözesen (in Chur zwischen 1878 und 1994); im Bereich der Bildung: Tätigkeiten der Schwestern an Volksschulen, Taubstummenschulen, in Pensionaten für Mädchen, in Knabenkonvikten (1865: an 22 Schulen; 1888: an 62 Primar- und Handarbeitsschulen). Hinzu kam die (indirekte) Mitarbeit am Aufbau eines Diaspora-Katholizismus durch Niederlassungen in Städten und ihren Agglomerationen (1888: Gründung des «Theodosianum» in Zürich). Abb. 329 (links): Mutterhaus in Ingenbohl / Abb. 330 (rechts): Gründerpaar Pater Theodosius und Schwester Maria Theresia Scherer, unten: Ansicht nach den ersten Erweiterungsbauten [BAC.BA] <?page no="470"?> 470 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften Im Einverständnis mit den Pionierideen und -taten des Gründers P. Theodosius’, ausser mit dessen Fabrikunternehmungen, vor denen die erste Generaloberin den Kapuziner wiederholt eindringlich gewahrt hatte (wachsende Schuldenberge), entwickelte sich rasch ein vielseitiges Werk der Krankenpflege, der Fürsorge und der (Mädchen-)Bildung, sowohl in den vier Sprachregionen der Schweiz als auch in Süddeutschland, in Böhmen, Ober- und Niederösterreich, Tirol, Slawonien, Dalmatien, Steiermark, Mähren und Ungarn. Im ersten Weltkrieg betreuten Ingenbohler Schwestern in der Schweiz 127 Lazarette, in den Kriegsgebieten Europas deren 122. Drei statistische Schnitte mögen die Entwicklung belegen: 1857 zählte die Kongregation 72 Professen, 50 Novizinnen, 30 Kandidatinnen. Im Todesjahr der 1995 seliggesprochenen Mitbegründerin (1888) betrug die Gesamtzahl der Schwestern 1'658, davon gehörten 993 Schwestern zum Mutterhaus in Ingenbohl. 1920 waren es 6'458 Schwestern, davon in der Schweiz 1'912. Das Institut erreichte 1940 seinen höchsten Mitgliederstand von weltweit 9'638 Schwestern. Diese enorme Zunahme in kurzer Zeit zwang zu Gründungen von einzelnen Provinzen der Kongregation. Aufgrund der rückläufigen Entwicklung von Neueintritten und des steigenden Durchschnittsalters der Schwestern in der Schweizer Provinz sah sich die Generalleitung in Ingenbohl auch auf dem Territorium des Bistums Chur gezwungen, althergebrachte Posten aufzugeben - so das Kreuzspital in Chur (1853-1994) und das Sanatorium Florentinum in Arosa (1929-1996). Ende 2017 umfasste die Kongregation aus dem regulierten 3. Orden des hl. Franziskus von Assisi, welche seit 1987 offiziell den Namen «Barmherzige Schwestern vom heiligen Kreuz» trägt, 3'059 Schwestern, die auf 15 Provinzen in Europa, 1 in den USA und 4 in Indien sowie 3 Vikariate in Taiwan, Brasilien und Uganda verteilt sind (total 338 Niederlassungen). In der 1966 kanonisch errichteten Mutterprovinz Schweiz zählt man gegenwärtig 19 Niederlassungen mit noch total 403 Schwestern (Stichtag: 31.12.2017). Ernsthafte Widerstände In den Zeiten des Kulturkampfes in der Schweiz − eine erste Welle ist in den Dreissiger- und Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen (Jesuitenverbot 1848), im engeren Sinn dann zwischen 1872 und 1880 - gab es wiederholt Widerstände gegen die Berufung von Schwestern in den örtlichen Schulen. Bereits 1846 erlebte Mutter Maria Theresia Scherer selber als junge Schwester die Auswüchse des Kulturkampfes. Der Ruf der Schwestern nach Baar an die dortige Mädchenschule hatte eine leidenschaftliche Opposition hervorgerufen. Von Zug aus hetzte man gegen das «Ungeziefer» katholischer Schulschwestern; einige Bürger von Baar wollten den Aufenthalt von Schwestern grundsätzlich unterbinden. Nicht selten forderten auch andernorts aufsässige Gemeindebeamte die Vorweisung des Heimatscheins. Später 1850 in Näfels erhielt Pater Theodosius für die Schwestern «auf Wohlverhalten hin» die Bewilligung für ihre Tätigkeit in der Armenanstalt vorerst für ein Jahr. Ein gehässiger Artikel in der «Glarner Zeitung» macht die Stimmung deutlich, die in bestimmten liberalen Kreisen gegen Berufungen von Lehrschwestern vorherrschte und über die Medien geschickt verbreitet wurde: «Man verstehe <?page no="471"?> 471 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert uns - nicht die Lehrschwester als Haushälterin ist gefährlich, wohl aber die Lehrschwester in der Ausübung des Lehrerberufes und auch in dieser Stellung nur des Einflusses wegen. […] Unser Wunsch kann daher nur sein, dass der Rat seine Stellung wahre und dem Kantonsschulrat gegenüber den Wunsch zu erkennen gebe, dass diesen Lehrschwestern die Ausübung des Lehrerberufes in hiesigem Kanton bleibend zu untersagen sei. Es wird hoffentlich nicht in der Absicht der Glarner Behörden liegen, die katholischen Schulgemeinden unseres Landes in Lehrschwestern-Provinzen umwandeln zu lassen.» [publiziert in der «Schweizerischen Kirchenzeitung» 12 (1859), S. 350]. Bei der Revision der Bundesverfassung 1874 beschäftigte u. a. der geplante radikale Schulartikel die Räte, der einen Ausschluss der Ordensangehörigen vom Unterricht vorsah. Von dieser Radikalmethode sah man schliesslich ab, forderte aber in Art. 27, dass der Primarschulunterricht «ausschliesslich unter staatlicher Leitung» stehen sollte. Dieser Passus war in den folgenden Jahren immer wieder Stein des Anstosses und Anlass auch in katholischen Kantonen, Schulschwestern vom Unterricht fernzuhalten oder gar auszuschliessen; man spricht hier vom sog. «Lehrschwesternstreit» 1876-1880/ 82. Als Freisinnige schliesslich die Schule völlig zentralisieren und für alle Belange einem eidgenössischen Schulsekretär («Schulvogt» genannt) unterstellen wollten, schlug das Pendel zugunsten der dadurch bedrohten Existenz der Schulschwestern um. Ein Referendum gegen den «Schulvogt» kam zustande und in der Volksabstimmung vom 26. November 1882 erfuhr die umstrittene Vorlage eine deutliche Absage: 318'139 Nein gegen 172'000 Ja - ein deutliches Verdikt des Volkes zuhanden der Bundesversammlung und zugunsten der vielen tätigen Lehrschwestern. Jedenfalls war ein Ausschluss von Ordensleuten vom Lehramt danach kein Thema mehr, und die Existenz der christlichen Schulen wurde fortan nicht mehr in Frage gestellt. Durch die Schulhoheit der Kantone war es den katholischen Kantonen nach 1882 unbenommen, einen grossen Teil ihrer Gemeindeschulen den Lehrschwestern und Schulbrüdern verschiedenen Couleurs anzuvertrauen. Ein weiterer Stein des Anstosses war bereits früher an manchen Orten das Tragen des Ordenskleides. Als Schwester Maria Theresia die Zusicherung für ihre Tätigkeit in Näfels erhielt, durfte sie als ‹Jungfer Theres› die Stelle antreten, statt eines Schleiers lediglich ein Häubchen tragend. Im Kantonspital St. Gallen und in Wil/ SG dauerte es von 1879 bis 1921, bis die Ingenbohler oder auch andere Schwestern in ganzer Ordenstracht ihre Dienste verrichten durften. In den im Anschluss an das Erste Vatikanische Konzil (1869/ 70) ausgelösten Spannungen - päpstliche Unfehlbarkeit, Kampf gegen Liberalismus und Sozialismus - verkam die katholische Kirche zu einem im Namen des Fortschritts mit allen Mitteln zu bekämpfenden Gegner der modernen Kultur. In dieser Krisensituation dachte Maria Theresia Scherer 1873 ernsthaft über eine Verlegung des Mutterhauses von Ingenbohl (eventuell nach Linz) nach. An den Linzer Bischof Franz Joseph Rudigier - in dessen Amtszeit 1853-1884 wurden in seiner Diözese diverse Ingenbohler Niederlassungen gegründet - schrieb die Generaloberin, sie denke offen daran, «falls die politisch-religiös schwierigen Zeiten, die sich immer drohender gestalten, es erfordern würden, ein Asyl ausserhalb der lieben Schweiz zu suchen». Von Wien aus schrieb sie im November 1875 an Sr. Anastasia Hauser in die Schweiz: «Da wir in Österreich und besonders in Wien viele und hohe Gönner haben, so kommen morgen <?page no="472"?> 472 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften 12 Uhr mehrere Herren in der Stadt zusammen, um sich zu beraten, wenn uns in der Schweiz etwas begegnen sollte, was zu tun wäre. Der liebe Gott ist mit unserer Kongregation, das sieht man immer mehr und mehr.» 1880 schliesslich liest man im Protokoll der Generalleitung am 4. November folgenden Eintrag: «Ob es nicht ratsam wäre, da gegenwärtig für Klöster und auch Kongregationen so schwierige Zeitumstände bestehen [gemeint war v. a. der Lehrschwesternstreit], das Institut samt Hof [in Ingenbohl] an einige zuverlässige Herren aus verschiedenen Kantonen der Schweiz formell zu verkaufen? » Ein solcher Scheinverkauf erübrigte sich dann, da der Kulturkampf in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts abflaute. Ein fester Platz in der Kirche: Der lange Weg zur päpstlichen Approbation des Instituts und der Konstitutionen Der kirchenrechtliche Werdegang der Konstitutionen vollzog sich nüchtern betrachtet in drei Etappen: von der Gründung bis zur definitiven Approbation 1897, von der Herausgabe des CIC/ 1917 bis 1962 und vom Zweiten Vatikanischen Konzil über den CIC/ 1983 bis 1986, dem Zeitpunkt der gegenwärtig gültigen und von Rom approbierten Fassung. Von Interesse ist die erste Etappe. Sowohl für den Gründer, P. Theodosius Florentini, wie auch für die Mitbegründerin und erste Generaloberin, Sr. Maria Theresia Scherer, war es von Anfang an ein wichtiges Anliegen, dem jungen Institut einen festen Platz in der Kirche zu geben, ermöglicht nicht nur durch die bischöfliche(n) Approbation(en) in den einzelnen Provinzen, sondern auch durch die päpstliche Approbation als Institut päpstlichen Rechts. Abb. 331 (links): Letzte Aufnahme im Jahre 1888 der ersten Generaloberin Maria Theresia Scherer (gest. am 16. Juni 1888, selig gesprochen am 29. Oktober 1995) / Abb. 332 (rechts): Grabstätte in der Krypta der Klosterkirche des Mutterhauses in Ingenbohl [BAC.BA] <?page no="473"?> 473 3. Gründungen von wichtigen Schwesternkongregationen im 19. Jahrhundert Pater Theodosius hatte zweimal den Boden Roms betreten, um den apostolischen Segen für die beiden Institute Menzingen und Ingenbohl zu bekommen: 1852 und wieder 1862. Die päpstliche Antwort lautete vorläufig aber, die Schwestern der jeweiligen Institute sollen unter der Autorität der Bischöfe wachsen. Die Protokonstitutionen für das Lehrschwesterninstitut Menzingen entwarf P. Theodosius auf der Grundlage der Drittordensregel des hl. Franziskus (1852); diese galten bis 1860 auch für die in der Caritas tätigen Schwestern. Gleichzeitig mit der bischöflichen Anerkennung des Nigg’schen Hofes in Ingenbohl als Mutter- und Bildungshaus der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz für Schule, Armen- und Krankendienst ergänzte der Gründer die Konstitutionen (1860): u. a. durch Artikel für die caritativen Einsätze und vorausschauend bereits für Gründungen von Provinzen im Ausland. Bzgl. Spiritualität wurde darin festgeschrieben, dass das religiöse Leben auf der Grundlage der Gelübde Gehorsam, Armut und Keuschheit, gelebt und umgesetzt im Geist des Evangeliums nach dem Beispiel des Ordensvaters Franziskus, UND die Berufstätigkeit einander bedingen und durchdringen sollten. Mittel und Hilfe für den Lebensalltag waren und sind bis heute das Gebet, die tägliche Betrachtung, Gewissenserforschung und geistliche Lesung, der Empfang der Sakramente, das tägliche Offizium, der Rosenkranz und jährliche Exerzitien. Die Erkenntnis des Gründers: «Was Bedürfnis der Zeit ist, ist Gottes Wille» blieb Wahlspruch des Instituts bis heute und geistliche Grundlage für jede apostolische Arbeit. Nach dem Tod Florentins 1865 bemühte sich Maria Theresia Scherer um Approbation der Ingenbohler Schwesterngemeinschaft durch die neu geschaffene Schweizer Bischofskonferenz. Der St. Galler Oberhirte, Bischof Carl Johann Greith (1863-1882) schrieb ihr am 30. Juni 1865: «Es ist Sache und Befugnis des apostolischen Stuhles zu Rom, einem geistlichen Orden die Approbation zu ertheilen und diese höchste Autorität in der Kirche ist nach ihrer Weisheit hiebei gewohnt, bei neuen Orden die Erfahrung der Jahrzehnte und die Ansichten der Bischöfe zu Rathe zu ziehen.» Abb. 333: Mutterhaus mit Töchterpensionat «Teresianum» (rechts) [BAC.BA] <?page no="474"?> 474 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften Eine wenig glückliche Überarbeitung der Konstitutionen im Jahre 1872 durch den Spiritual P. Paul Amherd OFMCap veranlasste Mutter Maria Theresia die Revision selbst an die Hand zu nehmen. Unterstützung fand sie im neuen Spiritual Johannes Fidelis Battaglia, dem späteren Churer Bischof. Battaglia erwirkte in Rom im Dezember 1878 mit dem «Decretum laudis» die erste kirchliche Anerkennung. Nach weiteren kirchenrecht- Abb. 334: Komplex des Mutterhauses in Ingenbohl [BAC.BA] Abb. 335: Gesamtkomplex heute (Mutterhaus, Theresianum, Schwestern-Altenheim und Krankenhaus, diverse Schulgebäude) [BAC.BA] <?page no="475"?> 475 4. Missionsgesellschaften lichen Anpassungen einem dem Institut wohlgesinnten Protektor in der Person des bekannten Kirchenhistorikers und Theologen Kardinals Joseph Hergenröther (1824-1890) an der Seite erfolgte schliesslich am 4. Januar 1897 die definitive Approbation durch Papst Leo XIII. (1878-1903). Der Satz des Gründers der Ingenbohler-Schwestern «Schwestern brauche ich, die das Kreuz verstehen» charakterisiert nicht nur die Schwesterngeneration der ersten Jahrzehnte in Chur und in Ingenbohl, von Frauen also, die vor keinem noch so schweren Dienst am Nächsten zurückschreckten. Sondern dieser Ausspruch darf auch über die im 19. Jahrhundert ins Leben gerufenen anderen Kongregationen stehen, in denen Frauen durch ihre Tätigkeit in Schule, Armen- oder Krankenpflege im Bistum Chur und darüber hinaus den leidenden Christus im Nächsten erkannten und in der Kreuzesnachfolge ihr Leben in den Dienst für eine Besserstellung der prekären sozialen Verhältnisse in Europa stellten. Ortskirchen und Weltkirche anerkannten durch bischöfliche und/ oder apostolische Approbation der Kongregationen die Wichtigkeit ihres Daseins, bestätigten dadurch das menschliche Engagement als Werk Gottes in der Zeit und gaben damit den Instituten den ihnen gebührenden festen Platz in der kirchlichen Gemeinschaft, welche einige bis heute - auch im Bistum Chur − einnehmen. 4. Missionsgesellschaften Im christlichen Sinn gründet der Begriff «Mission» (von lat. missio, dt. Auftrag, Sendung) auf dem Missionsauftrag Jesu Christi (Mt 28,18-20; Apg 1,8) und wurde ab dem 16. Jahrhundert meist für die Verkündigung des Evangeliums und die gezielte Ausbreitung des Christentums unter verschiedenen, früher Heidenvölker genannten Volksgruppen verwendet. Die als Missionen bezeichneten missionarisch tätigen Gesellschaften waren in transnationale Netzwerke eingebunden und beschäftigten in manchen Fällen einen bedeutenden Anteil an ausländischem Personal. Die moralische und finanzielle Unterstützung der Missionen kam vom sog. Missionswesen in den Herkunftsländern. Die Einsätze der Missionare in Übersee schlossen nebst religiösen oft auch caritative, medizinische sowie entwicklungsbezogene Dienste mitein und wurden als ‹äussere Mission› bezeichnet, im Gegensatz zur sog. ‹inneren Mission› (Volksmissionen). Anfangs des 19. Jahrhunderts entstanden sog. «Missionsvereine», die zur wichtigsten Finanzquelle der Missionen wurden und nach 1880 einen Gründungsboom erlebten. Der bedeutendste katholische ‹Missionsorden› der Schweiz waren eigentlich die Kapuziner; als markante Persönlichkeit gilt der in Indien tätige Kapuzinerbischof Anastasius Hartmann aus Altwis/ LU (1803-1866; Titularbischof und Apostolischer Vikar von Patna bzw. Bombay). Er wurde von Schweizer Jesuiten unterstützt, die später auch sein Werk weiterführten. Erst 1920 wurde den Kapuzinern von der Propaganda Fide das ostafrikanische Vikariat Dar es Salaam (heute Tansania) zugewiesen, wohin die ersten Ordensbrüder 1921 reisten. 1922 übernahm die Provinz ein zweites Missionsgebiet, die Diözese Port Victoria auf den Seychellen. Ferner zogen Schweizer Benediktiner von den beiden Abteien Einsiedeln und Engelberg aus in die Mission. Einsiedeln gründete 1854 in den <?page no="476"?> 476 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften USA das Kloster St. Meinrad, das auch in der sog. Indianermission tätig war. Bedeutend war der sog. «Apostel der Sioux», Bischof Martin Marty aus Schwyz (1834-1896). 1948 zogen Einsiedler Mönche zudem nach Argentinien. Engelberger Benediktiner folgten den Einsiedlern 1873 in die Staaten und übernahmen 1932 eine Mission in Französisch- Kamerun, in der sich 30 Mönche engagierten. Die Bethlehem Mission Immensee (SMB) gilt seit 1921 als die Missionsgesellschaft; 1924 reisten die ersten Missionare nach China aus. Als weitere Missionsgebiete folgten Japan, die USA, Taiwan, Kolumbien und das heutige Simbabwe. Ab 1933 hielten sich Augustiner-Chorherren vom Grossen St. Bernhard in China und ab 1934 solche von Saint-Maurice/ VS in Indien und Peru auf. Zahlreiche Schweizer missionierten für ausländische Orden oder Kongregationen, so etwa für die Mariannhiller Missionare, Redemptoristen, Salettiner, Salvatorianer, Spiritaner, Steyler Missionare oder die Weissen Väter (heute Missionaries of Africa). Gesamthaft waren um die 1'000 katholische Schweizer Männer im 19. und 20. Jahrhundert in einem Missionseinsatz; daneben standen in diesem Zeitraum auch gegen 1'000 Schwestern im Dienst der Mission. a) Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee Zur Förderung der Missionsberufe rief der Savoyer Geistliche Pierre-Marie Barral (1855- 1929) 1895 auf Schloss Neuhabsburg in Meggen/ LU die «Ecole apostolique de Bethléem» (Apostolische Schule Bethlehem; seit 1896 in Immensee/ SZ) ins Leben mit dem Zweck, besonders Söhne aus bedürftigen Familien auf den Missionsberuf vorzubereiten. An die Schule koppelte er entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten in praktischen Berufen. Im gleichen Jahr erschien die erste Ausgabe der vielsprachigen Monatszeitschrift «Bethlehem», die seit 1972 unter dem Namen «Wendekreis» erscheint. Als finanzielle Schwierigkeiten Barrals Werk zu Fall bringen drohten, übertrug der Bischof von Chur, Johannes Fidelis Battaglia, die Leitung der Institution dem jungen Priester (ord. 1896 in Chur) und zwischen 1898 und 1907 Bischöflicher Archivar Pietro Bondolfi aus Poschi- Die Missionsgeschichte lässt sich grundsätzlich in vier Phasen unterteilen: 1. Phase: 2.-15. Jahrhundert Zeit der eigentlichen Christianisierung 2. Phase: 16.-18. Jahrhundert Konfrontation des christlichen Abendlandes mit der nichtchristlichen Neuen Welt (Missionen durch die Gründung der «Congregatione de Propaganda Fide» 1622 straff organisiert) 3. Phase: 19.-20. Jahrhundert Erstarken der Philanthropie und der Mission im Verbund mit dem Imperialismus 4. Phase: nach 1960 Dekolonialisierung und Entstehung eigener Ortskirchen / Mission im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit <?page no="477"?> 477 4. Missionsgesellschaften avo (1872-1943). Nach einer Reorganisation als Missionshaus 1907 errichtete Bondolfi auf Barrals Grundlage 1921 das «Schweizerische Seminar für auswärtige Missionen», seit 1934 kurz Missionsgesellschaft Bethlehem («Societas Missionaria de Bethlehem in Helvetia» [SMB]), mit dem Generalat in Immensee. Das entsprechende Errichtungsdekret wurde am 30. Mai 1921 in Rom ausgestellt. Neben dem Gymnasium mit eidgenössisch anerkannter Maturität führten die Patres von 1922 bzw. 1932 bis 1969 in Wolhusen/ LU bzw. auf Schöneck (Gemeinde Emmetten/ NW) ein Missionsseminar, woraus sie den Nachwuchs für den Missionseinsatz rekrutierten. Die theologische Ausbildung erfolgt seit 1969 für Deutschsprachige an der Theologischen Fakultät Luzern. Eine weitere ‹apostolische Schule› zur Gewinnung von französischsprachigen Mitgliedern eröffnete 1934 in Fribourg (bis 1972). 1995 wurde das Gymnasium in der Zentralschweiz in eine private Stiftung unter dem Namen «Gymnasium Immensee» überführt. 1986 eröffnete die Gesellschaft in Luzern das Romero-Haus, ein missionswissenschaftliches Bildungszentrum, welches seit 2013 die Verwaltung der «Bethlehem Mission Immensee» beherbergt. Entsprechende Forschungen publizierte ab 1945 die «Neue Zeitschrift für Missionswissenschaften» (seit 2005: Jahrbuch «Forum Mission»). Die 1924 einsetzenden Gebietsmissionen verlagerten sich später zu missionarischen Einsätzen in Asien (Taiwan, Japan), Afrika (Simbabwe, Mosambik, Kenia, Tansania), Lateinamerika (Kolumbien) und Europa. Im Mutterhaus Immensee leben derzeit rund 50 z. T. betagte Priester- und Brüdermissionare, die nach vielen Jahren ihres verdienstvollen Einsatzes in Afrika, Asien und Lateinamerika professionelle Pflege und Betreuung erhalten. Abb. 336: Gebäudekomplex der Bethlehem-Missionare in Immensee/ SZ [BAC.BA] <?page no="478"?> 478 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften b) Mariannhiller Missionare in Altdorf Bereits 1910 bis 1920 waren an der Schmiedgasse in Altdorf/ UR erstmals Mariannhiller Patres wohnhaft, welche ihren Urspung in der von Abt Franz Pfanner (1825-1909) im südafrikanischen Mariannhill 1882 als Trappistenkloster gegründete Gemeinschaft haben. Diese wurde nach seinem Tod in eine Missionskongregation umgewandelt. Ziel der Kongregation war, in der Schweiz ein Heim für Missionsstudenten zu errichten. Die intensive Suche nach einem geeigneten Grundstück und dem dafür nötigen Geld führte schliesslich zum Erfolg. Im September 1927 erwarben die Missionare eine Liegenschaft in der Hofstatt in Altdorf. Die ruhige Lage nahe beim Kollegium Karl Borromäus war für ihre Zwecke geeignet. Im Oktober 1927 zogen die Ordensleute im Missionshaus St. Josef ein. Daselbst gründeten die Mariannhiller Missionare 1933 unter Leitung von P. Meinrad Bechtiger eine hauseigene Schule. 1966 auch für Mädchen geöffnet, kam es 1972 zur Vereinigung mit dem Kollegium Karl Borromäus; das Internat bestand weiter bis 1995 (Ende der Missionsschule). Seither verringerte sich die Zahl der Schweizer Mariannhiller stetig. Mit zunehmendem Alter der Patres und Brüder wurde es immer schwieriger, die Liegenschaft in Altdorf zu unterhalten und die gesamte Arbeit selber auszuführen. Aus diesem Grund wurde im Juni 2011 die «Stiftung Mariannhiller Missionare» gegründet. Heute ist das Missionshaus St. Josef in Altdorf der einzige Stützpunkt der Mariannhiller Missionare in der Schweiz. Abb. 337: Missionshaus St. Josef der Mariannhiller Missionare in Altdorf/ UR [BAC.BA] <?page no="479"?> 479 4. Missionsgesellschaften c) Missionare von der Heiligen Familie in Nuolen 1934 erfolgte die Schulgründung der Missionare von der Heiligen Familie (MSF), einer von Jean-Baptiste Berthier (1840-1908) 1895 im niederländischen Grave gegründeten klerikalen Kongregation päpstlichen Rechts, in Nuolen/ SZ, welche von der Missionsschule zum Gymnasium (Christ-König-Kolleg) [1940] ausgebaut wurde. Das gewählte Gebäude war das frühere «Bad Nuolen», ein Hotelbetrieb mit Schwefelquellenbad. Es enthielt einige grössere Säle, die in den Anfängen als Gemeinschafts- oder Klassenräume dienten und etwa 8 kleine Zimmer. Als in den 50er Jahren immer weniger Schüler bereit waren, Priester oder gar Missionar zu werden, sah sich die Missions- und Schulleitung gezwungen, auch Mädchen aus katholischen Familien die gymnasiale Schulbildung in der March zu gewähren; später wurden auch Schüler/ innen anderer Konfessionen aufgenommen. Damit wurde das Kolleg für den Raum Ausserschwyz zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Brennpunkt, welcher vom Bezirk March grosszüge finanzielle Zuschüsse erhielt. Anfang der 70er Jahre erteilte der Bund der Schule die eidgenössische Anerkennung. Da leider immer weniger ordenseigene Patres für den Lehrkörper zur Verfügung standen, die Schule von der Ordensgemeinschaft also nicht weitergeführt werden konnte, musste der Schulträger an eine Fremdlösung denken. 1997 erwarb der Kanton Schwyz die Schule als Teil der Kantonsschule Ausserschwyz. Somit gehören die Schulgebäude und das Gelände dem Kanton Schwyz, das ursprüngliche Kollegium ist seither das Zuhause der noch wenigen ortsansässigen Patres von der Heiligen Familie (seit 2016 auch derjenigen aus Werthenstein/ LU). Abb. 338: Ehemaliges «Bad Nuolen» in heutiger Form (urspr. Kollegium der Missionare von der Heiligen Familie, heute Wohnstätte der Patres) [BAC.BA] <?page no="480"?> 480 XIII. Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften d) «kontemplativ im Herzen der Welt»: Missionarinnen der Nächstenliebe in Zürich Die Gemeinschaft «Missionarinnen der Nächstenliebe» ist eine der erfolgreichsten Ordensgründungen des 20. Jahrhunderts. Die von Mutter Teresa von Kalkutta (mit bürgerlichem Namen Agnes Bojaxhiu, 1910-1997; heiliggesprochen 2016) in Indien gegründete Gemeinschaft erhielt 1950 vom Vatikan als Einrichtung diözesanen Rechts die offizielle Anerkennung. Die Gemeinschaft, welche weltweit in 139 Ländern vertreten ist, zählt rund 5'300 Schwestern in 762 Häusern. In der Schweiz unterhält der Orden gegenwärtig zwei Niederlassungen, seit 1992 in Zürich und seit 1997 in Lausanne. Zur Zürcher Niederlassung gehören fünf Schwestern, von denen vier permanent in der Stadt leben. Die fünf Schwestern sind zwischen 36 und 60 Jahre alt und stammen aus Indien, Schottland, Frankreich und der Schweiz. Zunächst lebte die Zürcher Gemeinschaft in einer Wohnung an der Feldstrasse. 2003 erwarb der Orden eine Liegenschaft im Langstrassenquartier, wo sie Frauen in Not (meist Ausländerinnen) kostenlos Unterkunft anbieten können; sie helfen aber auch Drogenabhängigen, Flüchtlingen und alten Menschen. <?page no="481"?> 481 XIV. Caritas und soziale Dienste Die sozial-caritativen Anliegen im Zeitalter der Industrialisierung und der damit verbundenen massiven Bevölkerungszunahme in den Ballungszentren bzw. des zunehmenden Pauperismus in den ländlichen Gegenden und Talschaften der Churer Bistumskantone wurden nicht nur von Mitgliedern der Kongregationen, die im 19. Jahrhundert auf Diözesangebiet gegründet bzw. sich nieder gelassen hatten, aufgegriffen, sondern hinzu kamen viele Einzelpersonen - Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien -, welche sich aufopfernd in den Dienst der Caritas stellten, neue Organisationen initiierten oder bereits bestehende nachhaltig förderten. Am Beginn der Blütezeit des sog. «Organisationskatholizismus» in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden da und dort auf Pfarreiebene erste einzelne caritative Vereine. Armenpflege, Ortsseelsorge und Diasporahilfe blieben dabei eng miteinander verzahnt. Die Bemühungen von katholischer Seite um eine Sozialreform vor der Einführung der staatlichen Sozialgesetzgebung (1877) sind verbunden mit dem «grössten Philanthropen», den die Schweiz hervorgebracht hat: mit der Person des bereits wiederholt genannten Kapuzinerpaters Theodosius Florentini (1808-1865), welcher zwischen 1860 und seinem Tod 1865 auch das Amt des Generalvikars des Bistums Chur bekleidete. Als «Apostel der werktätigen Liebe» im Kampf gegen eine blosse Humanität ist er als Stifter religiös-caritativer Gemeinschaften in die (Churer Diözesan-)Geschichte eingegangen und als «Apostel der sozialen Gerechtigkeit» gilt er trotz mancher Selbstüberschätzung und ungenügender Kenntnisse über die Eigengesetzlichkeiten des aufkommenden harten Wirtschaftslebens als Pionier einer christlichen Sozialreform, die in der Verwirklichung von Heimarbeit und Heimindustrie in Chur und Umgebung (1848), in der Realisierung von Baumwollspinnerei, Buchdruckerei und -binderei in Ingenbohl (1858), in der Eröffnung und bruderschaftsähnlichen Organisation der Arbeiter in der Tuchfabrik im böhmischen Oberleutensdorf (1859) und der Kartonfabrik in Thal/ SG (1864) unübersehbare Akzente gesetzt hat. Zu Beginn dieses Kapitels sei seiner Person und einigen Aspekten seines breiten Wirkungsfeldes ein Abschnitt gewidmet. <?page no="482"?> 482 XIV. Caritas und soziale Dienste 1. Im Dienste der Caritas und sozialen Gerechtigkeit: Grenzerfahrungen im Wirken von Pater Theodosius Florentini (1808-1865) a) Lebensstationen - Ein Überblick Als Pater Theodosius überraschend am 15. Februar 1865 in Heiden/ AR an den Folgen eines Hirnschlages verstarb, würdigte der damalige Provinzarchivar der Schweizer Kapuziner, P. Alexander Schmid (1802-1875), im «Protocollum maius» den Mitbruder mit dem Eintrag: «Vir ex omni parte ac in toto mundo famosus» - ein in der ganzen Welt viel von sich reden machender Mann. Theodosius Florentini entstammt jenem Kulturzentrum Bündens, das seit Ende des 20.-Jahrhunderts von sich reden macht und von der UNESCO 1983 das Prädikat «Weltkulturerbe» verliehen bekam: Müstair/ GR - Ort, dessen Name auf ‹monasterium› zurückgeht, auf das Benediktinerkloster St. Johann aus dem 9. Jahrhundert. In diesem kleinen Dorf fernab vom grossen Weltgeschehen wurde der spätere «vir famosus» am 23. Mai 1808 als Sohn des Paul Florintöni und der Maria Anna Fallet in der Dorf- und Klosterkirche St. Johannes d. T. auf den Namen Anton Crispin getauft (genaues Geburtsdatum nicht bekannt). Mit vier weiteren Geschwistern wuchs er in einer von Kapuzinern der Tiroler Provinz betreuten Pfarrei auf und kam so bereits früh in Kontakt mit den braunen Kuttenträgern. Nach einem Schulaufenthalt im nahe gelegenen Ort Taufers, wo er die deutsche Sprache erlernte (Muttersprache: ladinisch), wechselte er nach Bozen an das dortige Gymnasium der Franziskaner. Für den inzwischen 13-jährigen Jungen suchten seine Eltern dann einen geeigneten Studienort in der deutschsprachigen Schweiz. So kam Anton Crispin an die Klosterschule der Kapuziner in Stans, wo sein um 13 Jahre älterer leiblicher Bruder, P. Florian (1795-1833), als Lehrer wirkte. Diesem folgte er später nach Baden, wo P. Florian bis zu seinem frühen Tod 1822 als Novizenmeister im dortigen Abb. 339 / 340: Pfarr- und Klosterkirche St. Johannes d. T. (links) und Geburtshaus von Pater Theodosius Florentini (rechts) in Müstair/ GR [BAC.BA] <?page no="483"?> 483 1. Im Dienste der Caritas und sozialen Gerechtigkeit Kapuzinerkloster sein Tätigkeitsfeld hatte. Anton Crispin beendete schliesslich den gymnasialen Lehrgang in Chur an der katholischen Kantonschule (mit Bestnoten). Anton Crispin Florentini entschied sich über Umwegen spontan für den Kapuzinerorden. Darüber ist in seinem selbst verfassten Lebensabriss nachzulesen: «Im Jahre 1825 - ich zählte damals 1