Werner Scholem
Eine politische Biographie (1895-1940)
0813
2014
978-3-7398-0627-3
978-3-8676-4505-8
UVK Verlag
Ralf Hoffrogge
Walter Benjamin beschimpfte ihn 1924 als >>Lausejungen<<, Josef Stalin nannte ihn einen >>tollen Burschen<<, sah ihn jedoch bald als lästigen >>Dummkopf<<. Ähnlich Ernst Thälmann, der vor >>Scholemismus<< warnte. Für den Philosophen Gershom Scholem hingegen war er jedoch vor allem eins: der große Bruder.
Aufgewachsen in einer Berliner jüdischen Familie starteten beide eine Revolte gegen den autoritären Vater und den Chauvinismus des Ersten Weltkrieges. Werner inspirierte den jüngeren Bruder zum Zionismus, er selbst bekannte sich nach langer Sinnsuche zum Kommunismus. Werner Scholem stieg schnell auf, in den Reichstag und die KPD-Zentrale. Als Organisationsleiter >>bolschewisierte<< Scholem die KPD, nur um 1926 als erbitterter Gegner Stalins aus der Partei geworfen zu werden.
1933 wurde Scholem unter mysteriösen Umständen verhaftet, 1935 überraschend vom NS-Volksgerichtshof freigesprochen, jedoch nie freigelassen. Scholem wurde 1940 im KZ Buchenwald ermordet. Bis heute ranken sich literarische Legenden um seine Verhaftung. Franz Jung und Alexander Kluge erzählten sie als Spionagedrama, eine besondere Rolle spielte Scholem auch in Hans-Magnus Enzensbergers Roman >>Hammerstein oder Der Eigensinn<< (2008). War Scholem Agent im Auftrag der Sowjetunion? Verführte er die Generalstochter Marie-Louise von Hammerstein, um ihr die Aufmarschpläne der Reichswehr gen Osten zu entlocken?
Ralf Hoffrogge erzählt - mit Hilfe unveröffentlichter Quellen aus einst geheimen Archiven - die Geschichte eines Menschen, der um eine Utopie kämpfte und an den Widersprüchen seiner Zeit zugrunde ging.
<?page no="0"?> Eine politische Biographie (1895-1940) Geschichte Ralf Hoffrogge Ralf Hoffrogge Werner Scholem Werner Scholem Walter Benjamin beschimpfte ihn 1924 als »Lausejungen«, Josef Stalin nannte ihn einen »tollen Burschen«, ließ ihn jedoch bald als »Dummkopf« fallen. Für den Philosophen Gershom Scholem hingegen war Werner Scholem vor allem eins: der große Bruder. Aufgewachsen in einer Berliner jüdischen Familie starteten beide eine Revolte gegen den autoritären Vater und den Chauvinismus des Ersten Weltkrieges. Werner inspirierte den Bruder zum Zionismus, er selbst bekannte sich zum Kommunismus. Scholem stieg auf, als Organisationsleiter »bolschewisierte« er die KPD, nur um 1926 als erbitterter Gegner Stalins aus der Partei geworfen zu werden. 1933 wurde er verhaftet, 1940 im KZ Buchenwald ermordet. Ralf Hoffrogge erzählt - mit Hilfe unveröffentlichter Quellen aus einst geheimen Archiven - die Geschichte eines Menschen, der um eine Utopie kämpfte und an den Widersprüchen seiner Zeit zugrunde ging. Ralf Hoffrogge ist promovierter Historiker und lebt in Berlin. Sein besonderes Interesse gilt der Gewerkschaftsgeschichte und der historischen Kommunismusforschung. ISBN 978-3-86764-505-8 www.uvk.de <?page no="1"?> Ralf Hoffrogge Werner Scholem <?page no="3"?> Ralf Hoffrogge Werner Scholem Eine politische Biographie (1895-1940) UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Gerda-und-Hermann-Weber Stiftung Berlin, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt sowie die Potsdam Graduate School der Universität Potsdam. Diese Arbeit wurde im September 2013 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation verteidigt, Erst- und Zweitgutachter waren Prof. Dr. Mario Keßler und Prof. Dr. Michael Buckmiller. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-86764-505-8 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandfoto: Werner Scholem beim Antikriegstag 1925 (Privatarchiv Renee Goddard) Druck: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="5"?> 5 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Jugendjahre (1895 - 1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Vier ungleiche Brüder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.3 Rebellionen: vom Zionismus zum Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3 Lazarettgedanken 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2.5 Werner und Emmy Scholem: Eine unstandesgemäße Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .135 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« . . . . . . . 166 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag . . . . . . . . . . . . . . . 193 Scholem als Schulreformer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Antisemitismus und Ostjudendebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Republikaner wider Willen? Gegen Rechtsterrorismus und Faschismus . . . . . . . . . . . 217 Geschichtsphilosophie im Landtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Inflation, Krise und Radikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Reform oder Revolution - Scholems Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) . . . . . . . . . . . . . . . .235 4.1 Die Berliner Opposition 1921 - 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.2 Nationale Revolution an der Ruhr? Scholem und Schlageter im Sommer 1923 . . . . . 248 4.3 Vom Ruhrkampf zum »deutschen Oktober« 1923 - Neue Konflikte in der KPD . . . 251 4.4 Der Griff nach der Führung - Scholem und Genossen erobern die KPD-Zentrale. . . 258 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4.6 Der Apparat schlägt zurück: die Linke Opposition in der Defensive . . . . . . . . . . . . . 284 4.7 Scholem gegen Stalin - eine Frage der Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5. Abtrünnig wider Willen: Werner Scholem als Dissident (1926 - 1928) . . . . . . . .315 5.1 Als linker Kommunist im Reichstag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 5.2 Der Leninbund - Werner Scholem gründet eine Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 6. Zurück in den Hörsaal: Familienleben und Studium in Berlin (1923 - 1933) . . .341 6.1 »Bei Kommunistens« - Emmy und Werner privat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 6.2 Jura als Broterwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 7. Triumph der Barbarei (1933 - 1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .363 7.1 Die Verhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 7.2 Getrennte Wege - eine Familie in Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 <?page no="6"?> 6 Inhalt 7.3 Spionage und Intrigen - Werner Scholem als literarische Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 7.4 Der Fall Hammerstein - Romane und Realitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 7.5 Vom Reichsgericht zum Volksgerichtshof - Scholems letzter Prozess . . . . . . . . . . . . . 409 7.6 Das gestohlene Leben: Plötzensee, Lichtenburg, Dachau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 7.7 Der Mord im Steinbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 8. Erinnerungen an Werner Scholem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .449 9. Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .461 Chronologie zur Biographie Werner Scholem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Liste von Werner Scholems Haftorten 1917 - 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Artikel und Schriften von Werner Scholem (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 10. Quellen, Literatur und Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .465 I. Publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 II. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 III. Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 11. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 12. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .491 <?page no="7"?> 77 Einleitung In seinen »Geschichtsphilosophischen Thesen« von 1940 äußerte der Philosoph Walter Benjamin sich zum traurigen Zustand der Geschichtsschreibung seiner Zeit: »Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich, in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.« 1 Benjamin schrieb diese Zeilen als jüdischer Exilant im besetzten Frankreich, auf der Flucht vor den Schergen der Nazis. Er lag selbst am Boden, die Aussichtslosigkeit seiner Lage trieb ihn im September 1940 in den Freitod. Nur wenige Wochen zuvor, am 17. Juli 1940, starb im Konzentrationslager Buchenwald der Kommunist Werner Scholem. Ermordet durch einen Schuss in den Rücken, im Alter von 44 Jahren. Scholem hatte einen langen Weg hinter sich. Aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie stammend hatte er das Erbe des wohlhabenden Vaters ausgeschlagen. Während seine älteren Brüder das Geschäft übernahmen, rebellierte Werner gemeinsam mit dem kleinen Bruder Gerhard, der später unter dem Namen Gershom Scholem berühmt wurde. Beide schwärmten für den Zionismus, stritten heftig, als Werner 1912 zur sozialistischen Arbeiterjugend wechselte. Beide Brüder kämpften auf ihre Art für ein Ende der Geschichte von Siegern und Besiegten, für eine neue Gesellschaft - ein Anliegen, das auch Benjamin teilte, an dem er zuletzt verzweifelte. Walter Benjamin als enger Freund Gershom Scholems hatte Werners Schicksal verfolgt. In Briefen erkundigte er sich immer wieder nach dem Gefangenen, sorgte sich um dessen Überleben. 2 Werner Scholem und Walter Benjamin gehörten beide zu den Besiegten der Geschichte, doch ihr Begriff von Geschichte hätte unterschiedlicher kaum sein können. Werner vertrat gläubig jenen Historischen Materialismus, den Benjamin hinter sich lassen wollte. Mit Marx und Hegel prophezeite Scholem den Sieg der Weltrevolution, ewartete sie mit der unausweichlichen Konsequenz wie die Erfüllung von Naturgesetzen. Benjamin kritisierte diese Hoffnung als theologischen Spiegeltrick, als Selbstbetrug hinter dem sich der »bucklige Zwerg« der Theologie verbarg. 3 Walter Benjamin reflektierte als Philosoph etwas, an dem Werner Scholem als revolutionärer Kommunist gescheitert war: die befreite Gesellschaft als Utopie der Versöhnung. 1 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, S.-82-94. 2 Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Frankfurt am Main 1995-2000, Band V, 1935-1937, S.-86, S.- 266, S.- 281, S.- 561. Scholems Antworten sind überliefert in: Gershom Scholem (Hg.), Briefwechsel Gershom Scholem - Walter Benjamin 1933-1940, Frankfurt a. M. 1980. 3 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, S.-78. <?page no="8"?> 8 Einleitung Werner hatte seit seiner Jugend an den Sieg des Sozialismus geglaubt, doch bald nach der Machtübernahme Stalins die Sowjetunion als Mutterland des Sozialismus nur noch mit Schrecken und Unverständnis betrachtet. Dort brachte die Revolution weder Erlösung oder Versöhnung, noch Rache für die Entrechteten. Eine neue Gruppe von Herrschern beanspruchte neue Privilegien, ihre Herrschaft war total und duldete weniger Widerspruch als noch das alte Regime. Die alten Revolutionäre wurden verhaftet, zum Erhalt seiner Macht schreckte Stalin nicht vor einem Bündnis mit Hitlerdeutschland zurück. Werner Scholem bezeichnete die Sowjetunion schon 1925 als »Staatskapitalismus« und prangerte damit an, wie sich die Revolutionsgesellschaft dem anglich, was sie einst besiegen wollte. Für seine Blasphemie wurde Scholem aus der Partei ausgeschlossen und als Renegat verdammt. 1926 reiste er noch einmal nach Moskau, um sich zu rechtfertigen - fand jedoch kein Gehör mehr. Zeitgleich hatte Benjamin Sowjetrussland bereist, um für die »Große Sowjetenzyklopädie« über Goethe zu schreiben. Doch die Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch erfüllte sich nicht, Benjamins ernüchternde Erfahrungen wurden Teil der geschichtsphilosophischen Thesen. 4 In seinen Hoffnungen stand Walter Benjamin trotz aller Unterschiede Werner Scholem sehr nahe, wenn er schrieb: »Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt.« 5 Lediglich im »Spartacus« der Novemberrevolution sah Benjamin dieses Bewusstsein nochmals zur Geltung gekommen - jedoch nur »für kurze Zeit«. Die Novemberrevolution von 1918 war für Benjamin etwas Einmaliges, ein Akt der Befreiung, der sich nicht in einem Parteiapparat organisieren ließ. Werner Scholem hatte 1924 als Organisationsleiter der KPD genau dies versucht - ohne Erfolg. Beide waren, auf ihre Art gescheitert am Kommunismus als Utopie des 20. Jahrhunderts. Als fünf Jahre nach beider Tod die Rote Armee 1945 ihre Heimatstadt Berlin befreite, fand mit der Befreiung der Lebenden keine Aussöhnung mit den Toten statt. Denn nicht in Berlin, sondern in Jerusalem hielt ein Überlebender die Erinnerung wach. Gershom Scholem war es, der 1975 mit seiner »Geschichte einer Freundschaft« dem Freund Benjamin ein biographisches Denkmal setzte. 6 Zwei Jahre später veröffentlichte er unter dem Titel »Von Berlin nach Jerusalem« Jugenderinnerungen, die dem Bruder Werner gewidmet waren. 7 Nachdem die Erinnerung an Werner Scholem über dreißig Jahre lang nur in privaten Briefen lebendig war, machte Gershom einen ersten Schritt, dem Bruder ein öffentliches Gedenken zu verschaffen. Im geteilten Deutschland war dies nicht möglich. Im Westen galten Kommunisten als Unpersonen, auch wenn sie sich gegen die Nazis gestellt hatten. Im Osten hingegen wurde auch nach Stalins Tod ein Geschichtsbild gepflegt, für das Benjamins Kritik volle Gültigkeit besaß: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt.« 8 Das 1970 vom Institut für Marxismus- 4 Seine unmittelbaren Erfahrungen finden sich in: Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch, Frankfurt a. M. 1980. 5 Ebenda, S.-88. 6 Fünf Jahre zuvor hatte ein anderer Freund Ähnliches unternommen, vgl. Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe, Frankfurt a. M. 1970. 7 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem - Jugenderinnerungen, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1997 (Original Frankfurt a. M. 1977). 8 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, S.-78. <?page no="9"?> 9 Einleitung Leninismus beim ZK der SED herausgegebene »Biographische Lexikon« zur deutschen Arbeiterbewegung bescheinigte Werner Scholem eine »extrem sektiererisch-dogmatische Linie« und rechtfertigte noch über fünfzig Jahre später seinen Parteiausschluss. Eine im Parteiarchiv der SED angelegte Indexkarte, mittlerweile im Bundesarchiv verwahrt, trägt bis heute den Titel »Werner Scholem, parteifeindliche Gruppierung«. 9 In Westdeutschland, wo die KPD ab 1956 verboten und ihre Mitglieder ein zweites Mal verfolgt wurden, fand ebenfalls keine Versöhnung statt. Restauration und Verdrängung prägten das Bild der jungen Bundesrepublik. Der Kommunismus galt als fremde Bedrohung, die warb und verdarb, eine Fäulnis, die keine innere Berechtigung besaß. Es ist also kein Zufall, dass die Erinnerung an Werner Scholem über Jahrzehnte hinweg keine öffentliche Erinnerung sein konnte. Anders als Walter Benjamin hinterließ er kein theoretisches Werk, das quer zu den Fronten des Kalten Krieges die Geschichte der Sieger hätte herausfordern können. Das Bild Werner Scholems in der Geschichte blieb damit geprägt durch die Memoiren seines Bruders. Sie überlieferten zahlreiche Details aus der gemeinsamen Jugend, die sonst auf immer verloren wären, sie setzten Werner ein erstes Denkzeichen. Dennoch war Gershom Scholems Darstellung ein Kind ihrer Zeit. Sie atmete den Geist langer Auseinandersetzungen der Brüder, vom Streit zwischen dem Sozialisten Werner und dem Zionisten Gerhard, der sich mit der Hebräisierung seines Namens zu »Gershom« selbst neu erfand. 10 Gershom Scholems Jugenderinnerungen sind Protokoll dieser Neu-Erfindung, Geschichte einer Reise, die mit der Ansiedlung in Jerusalem 1923 ihren Endpunkt fand. Werner Scholem dient in dieser Erzählung als Gegenfigur, als moderner Odysseus, der anders als das antike Vorbild nach tragischen Irrfahrten die Heimat niemals fand. Werners tragische Ermordung im KZ Buchenwald war das Ende dieser Reise, Bestätigung für die von Gershom Scholem in vielen Kontroversen energisch vorgetragene These, dass ein »deutsch-jüdischer Dialog« vor 1933 nicht stattgefunden hatte, nicht stattfinden konnte. 11 Werner Scholem fand dementsprechend lange keinen Eingang in die Geschichtsschreibung des Judentums, allenfalls als Randfigur zur Biographie des berühmten Bruders. 12 Obwohl Werner sein politisches Wirken in der Jugendorganisation »Jung Juda« begann und auch als Kommunist sein Judentum nie verleugnete, wurde er schon im Gefolge der Novemberrevolution zum bisweilen polemischen Kritiker des Zionismus. Werner Scholem saß zwischen allen Stühlen. Der bürgerlichen Geschichtsschreibung war er als Kommunist verdächtig, der orthodox-kommunistischen Tradition galt er als Parteifeind, dem Zionismus als Irrläufer. 9 Heute SAPMO im Bundesarchiv Berlin, Bestand SGY 30, Erinnerungsberichte, Index-Karteikarte Werner Scholem. Die Karteien und Findbücher der DDR-Archivare wurden bei der Umlagerung ins Bundesarchiv übernommen. Trotz tendenziöser Einordnungen ist die akribische Vorarbeit der DDR-Archive Grundlage für sämtliche Forschungsarbeiten zur KPD nach 1990, beginnend mit dem Einsatz der DDR- Historiker für die Rückholung der seit 1933 in Moskau lagernden Bestände des historischen Archivs der KPD nach Berlin in den 1960er Jahren. 10 1919 erwähnte Gerhard Scholem den neuen Namen in einem Brief an seine Mutter, vgl. Gerhard Scholem an Betty Scholem, 23. November 1919, in: Betty Scholem u. Gerhard Scholem: Mutter und Sohn im Briefwechsel, hg. von Itta Shedletzky in Verbindung mit Thomas Sparr, München 1989, S.-58. 11 Gershom Sholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, in: ders.: Judaica. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1970, S.-7-11. 12 Dem Publikum in Israel bekannt wurde er durch die hebräische Ausgabe von Gershom Scholems »Von Berlin nach Jerusalem«, vgl. Gershom Scholem, Mi-Berlin Li-Yerushalayim: Zikhronot nev’rim, 1982. <?page no="10"?> 10 Einleitung Es erscheint mir daher keineswegs als Zufall, dass sich erst mit einer Krise der Ideologien 1989 das Interesse an Werner Scholem schlagartig erhöhte. Zwei Briefeditionen aus den Jahren 1989 und 1994 brachten gemeinsam mit vielen Jugendbriefen Gershom Scholems auch einige Briefe von Werner an die Öffentlichkeit, in denen er als junger Sozialist flammende Empörung gegen das Morden des ersten Weltkriegs äußerte. 13 Paradoxerweise hatte Werner selbst diese Schriften damals vernichtet sehen wollen - aus Angst vor Verfolgung durch die politische Polizei. 14 Sein Bruder jedoch hielt sich nicht an die Anweisungen und bewahrte alles für die Zukunft. Auch Werner selbst sammelte - in einem umfangreichen Archiv in seiner Berliner Wohnung hortete er Schriften und Artikel zur Geschichte der KPD, in denen er auch die eigene Rolle dokumentierte. 15 Doch diese Sammlung wurde nach seiner Verhaftung im April 1933 unwiederbringlich zerstört. Sie erlitt damit dasselbe Schicksal wie schon sein Tagebuch aus dem Weltkrieg, das von den Militärbehörden beschlagnahmt wurde. Werner Scholems Nachlass trägt bis heute die Spuren historischer Niederlage. Er besteht aus einer lückenhaften Sammlung von Briefen, die andere von ihm aufbewahrten. 16 Die Briefe sind überwiegend privater Natur und erzählen gerade nicht vom politischen Kampf, den Werner als seine Vision überliefern wollte. Gershom hingegen konnte sein Bild für die Nachwelt selbst prägen - und das seines Bruders gleich mit. 17 Über Jahrzehnte bildeten kurze historische Lexikoneinträge die einzige wissenschaftliche Beschäftigung mit Werner Scholem. 18 Erst später kamen nach der Jahrtausendwende ausführlichere Aufsätze aus der Feder von Michael Buckmiller, Pascal Nafe und Mirjam Zadoff hinzu. Scholems Leben gewann Kontur für die Nachwelt, eine wirkliche Biographie fehlte jedoch. 19 13 Betty Scholem - Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1947, München 1989; sowie Gershom Scholem - Briefe I - 1914-1947, hg. von Itta Shedletzky, München 1994. 14 Er forderte den Bruder gleich zweimal zur Vernichtung der Briefe auf, vgl. Werner an Gerhard Scholem, 13. Oktober 1916 und 5. Februar 1917, Gershom-Scholem-Archiv (im Folgenden GSA) der National Library of Israel, Arc. 4°1599. 15 Das Archiv wird mehrfach erwähnt in der Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDs. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351. 16 Dazu gehören neben den in der National Library of Israel aufbewahrten Briefen seines Bruders auch die Briefe an seine Frau Emmy aus Gefängnissen und Lagern, die von Werner Scholems Tochter Renee Goddard beim Projekt Arbeiterbewegung am Institut für politische Wissenschaft der Leibniz-Universität Hannover hinterlegt wurden. 17 Dies geschah durch die zitierten Jugenderinnerungen, aber auch durch das akribische Sammeln eigener Korrespondenz, die teils veröffentlicht ist, teils noch unveröffentlicht aufbewahrt wird im Gershom-Scholem-Archiv (GSA) der National Library of Israel (Signatur Arc. 4°1599). 18 Hermann Weber u. Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten - Biographisches Handbuch 1918-1945, Berlin 1. Auflage 2004; 2008 erschien eine wesentlich erweiterte Neuauflage, nach der im Folgenden zitiert wird. Der Eintrag zu Werner Scholem ist eine Erweiterung des in der »Wandlung des deutschen Kommunismus« von 1969 enthaltenen Textes; Mirjam Triendl-Zadoff, »Werner Scholem«, in: Michael Berenbaum (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Detroit 2006 sowie Cécil Roth (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971. 19 Michael Buckmiller u. Pascal Nafe, Die Naherwartung des Kommunismus - Werner Scholem, in: Michael Buckmiller, Dietrich Heimann, Joachim Perels (Hg.): Judentum und politische Existenz - siebzehn Porträts deutsch-jüdischer Intellektueller, Hannover 2000; Mirjam Triendl-Zadoff, Unter Brüdern - Gershom und Werner Scholem. Von den Utopien der Jugend zum jüdischen Alltag zwischen den Kriegen, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2007) 2, S.-56-66; dies. Familienrevolution im Jahr 1933. Die deutsch-jüdischen Kommunisten Werner und Emmy Scholem im Briefwechsel. In: Auf unsicherem Terrain. Briefeschreiben im Exil, hg. von Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger, Hiltrud Häntzschel und Inge Hansen-Schaberg. München 2013, S.-175-187; Ralf Hoffrogge, Emmy und Werner <?page no="11"?> 11 Einleitung Stattdessen trat 1997 völlig unverhofft ein literarischer Werner Scholem in die Öffentlichkeit. Mit Franz Jung, Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger haben gleich drei prominente deutsche Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur Scholem als Helden adoptiert. 20 Lange verborgene Quelle dieser literarischen Tradition war ein Roman von Scholems Freund und Mitstreiter Arkadij Maslow. Das Manuskript wurde 1935 im Pariser Exil verfasst, jedoch erst im Jahr 2011 neu entdeckt und veröffentlicht. 21 Doch Maslow und alle späteren Romanautoren interessierten sich kaum für Scholems Ringen um eine bessere Welt, seine Verbindung von Judentum und Sozialismus. Stattdessen diente eine Liebesaffäre aus dem Jahre 1933 als Aufhänger. Scholem, so geht die Legende, soll Marie Luise von Hammerstein, die Tochter des obersten Generals der Reichswehr verführt haben, um ihr militärische Geheimnisse zu entlocken und nach Moskau weiterzuleiten. Von allen Autoren nahm Kluge sich die größte dichterische Freiheit und zeichnete Scholem als kommunistischen James Bond, der 200 Weinsorten am Geschmack erkennen konnte und abends »im Dienste der Weltrevolution« die Kneipen Berlins nach Informationen abgraste. Obwohl Kluge es zweifellos auf die Spitze trieb, sind doch die anderen Texte nicht weniger fiktiv. Scholem erscheint als tragischer Held, dessen Liebesleben interessanter ist als seine politische Utopie. Franz Jung erklärte dazu mit überzeugender Offenheit, die geschichtlichen Quellen »nur insoweit zu benutzen, als man einiges herausziehen kann, was die oben skizzierten Thesen zu decken im Stande ist«. 22 Durch die sich wiederholende Fülle der literarischen Erzählungen, wie sie kein anderer Reichstagsabgeordneter der KPD bisher erlebt hat, erschien der lange verdrängte Werner Scholem bald geradezu als Wiedergänger, dessen Bild an den unwahrscheinlichsten Stellen aufblitzte. Sogar einer der letzten Zeitzeugen sah sich plötzlich im Traum von Scholem verfolgt: im biblischen Alter von 100 Jahren erinnerte sich der Schriftsteller Ernst Jünger 1995 an die gemeinsame Schulzeit mit Werner Scholem. Verbannt von ihren Vätern hatten beide im Sommer 1914 als Banknachbarn ein Internat in Hannover besucht. Im Tagebuch notierte Jünger 90 Jahre später: »Warum erschien mir am morgen Werner Scholem? Seine Präsenz ging über das Traumhafte hinaus.« 23 Die Traumgestalt Werner Scholem erschien in der kollektiven Erinnerung auf drei Ebenen. Mit den Briefeditionen begann eine Dokumentation, ein Hinausgleiten privater in öffentliche Erinnerung. Es folgte eine von jüdischer Geschichte und historischer Kommunismusforschung betriebene, doch bisher nur thesen- und lückenhafte wissenschaftliche Aufarbeitung. Mehr gelesen und einflussreicher für das Bild Scholems war die literarische Fiktion, das Eigenleben seiner Doppelgänger in Romanen und Erzählungen. Alle drei Ebe- Scholem im Kampf zwischen Utopie und Gegenrevolution, in: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge Band 56, S.-157-176; ders. Utopien am Abgrund - Der Briefwechsel Werner Scholem - Gershom Scholem in den Jahren 1914-1919, in: Veit Didczuneit u.a. (Hg.), Schreiben im Krieg - Schreiben vom Krieg - Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S.-429-440. 20 Hans Magnus Enzensberger, Eine posthume Unterhaltung mit Werner Scholem, in: ders., Hammerstein oder Der Eigensinn, Frankfurt a. M. 2008, S.- 137-145. Alexander Kluge, Lebendigkeit von 1931, in: ders., Die Lücke die der Teufel lässt, Frankfurt a. M. 2003, S.-25-30. Franz Jung, Betr. Die Hammersteins, in: Franz Jung Werkausgabe, Bd. 9/ 2, Hamburg 1997. 21 Arkadij Maslow, Die Tochter des Generals, Berlin 2011. Scholem erscheint hier unter dem Tarnnamen Gerhard Alkan. 22 Franz Jung, Betr. Die Hammersteins, a.a.O, S.-216. 23 Ernst Jünger, Späte Arbeiten. Verstreutes. Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S.-181. <?page no="12"?> 12 Einleitung nen intensivierten sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, ihren Ursprung nahmen sie 1989, im letzen Jahr des »kurzen 20. Jahrhunderts«. 24 Dieses Zusammentreffen ist meines Erachtens kein Zufall. Werner Scholem wird interessant als Gegenfigur und Zwischenfigur in einer Zeit, in der die großen Ideologien und Utopien der Moderne in der Krise stecken. Ein erster öffentlicher Nachruf erschien kurz vor seinem 50. Todestag im Juli 1990 im ehemaligen SED-Zentralorgan »Neues Deutschland«. Es bedurfte der finalen Erschütterung des Staatssozialismus, ehe der »Parteifeind« Scholem in Ostberlin rehabilitiert werden konnte. 25 Auch der Zionismus, für den Scholem in seiner Jugend kämpfte, machte in den 1990er Jahren eine ähnliche ideologische Krise durch, die auf die Betrachtung der jüdischen Geschichte im Allgemeinen abfärbte. Werner Scholems späte Aufnahme in die englischsprachige Enzyclopaedia Judaica ist ein Symbol dafür. Ähnlich wie der Sozialismus im Neuen Deutschland erinnerte sich nun auch das Judentum an den verlorenen Sohn. 26 Beide Erinnerungsprozesse waren aus der Krise geboren. Die den Utopien des 20. Jahrhunderts eigene Anrufung von Großkollektiven erwies sich gegen Ende des Jahrhunderts als brüchig. Vor diesem Hintergrund ist die Suche der Scholem-Brüder nach einer geistigen und räumlichen Heimat nicht für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart interessant. Der jüngste Bruder ein Zionist, der zweite ein Kommunist, die beiden älteren Brüder Reinhold und Erich tendierten zum Linksliberalismus oder gar zum nationalen Konservatismus, wie ihn schon der Vater Arthur vertrat. 27 Kaum irgendwo sonst sehen wir diese Widersprüche zwischen Identifikation und Diskriminierung so exemplarisch in der Geschichte einer Familie vertreten. Die Lebenswege der in den 1890er Jahren geborenen Gebrüder Scholem verweisen auf Fragen, die ein Jahrhundert später aufs Neue gestellt wurden. Dies erklärt die Kombination aus langem Schweigen und »Scholem-Boom« seit 1989. Dennoch - eine vollständige Biographie dieses Wiedergängers Werner Scholem fehlte. Sie ist das Ziel dieser Arbeit. Scholems Leben wird anhand der historischen Quellen nachgezeichnet, in zahlreichen unveröffentlichten Briefen und Reden kommt er selbst zu Wort, Einschätzungen von Freunden und Gegnern ergänzen die Darstellung. Die Romanfigur Werner Scholem und die Legende vom Meisterspion werden in Beziehung gesetzt zu den historischen Ereignissen. Gerichtsakten aus den Jahren 1932-1935 ermöglichen einen Blick auf jene Zeit, als Scholem vom Kämpfer für eine bessere Welt plötzlich zum Flüchtling in eine ungewisse Zukunft wurde. Vom Scheitern dieser Flucht, vom Leiden in Gefängnis und Konzentrationslager, davon berichtet der letzte Abschnitt dieses Buches. Scholems Tod im Lager Buchenwald, das endgültige Scheitern seiner Lebenshoffnungen war verbunden mit dem katastrophalen Scheitern deutscher Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Blick auf Scholems Leben ist daher ein Blick auf eine Zeit, die 24 Den Begriff prägte Eric Hobsbawm in: Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 25 Reiner Zilkenat »Das Schicksal von Werner Scholem«, Neues Deutschland vom 14. Juli 1990. 26 Wobei einschränkend gesagt sein muss, dass weder die israelische Historiographie noch die Encyclopaedia Judaica für »das Judentum« stehen. Beide sind vielmehr Versuche, die Vielfalt jüdischer Kultur zu erfassen und für die Gegenwart zu interpretieren. In diesem Sinne ist die Aufnahme von Werner Scholem erwähnenswert. Vgl. Mirjam Triendl-Zadoff, »Werner Scholem«, in: Michael Berenbaum (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Detroit 2006. 27 Vgl. Jay Howard Geller, The Scholem Brothers and the Paths of German Jewry 1914-1939, a.a.O. <?page no="13"?> 13 Einleitung auch unser Leben geprägt hat - Einschnitte, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Dennoch soll der Blick nicht vom Ende her alle Bestrebungen der Vergangenheit entwerten und den Kampf um ein anderes Leben ins Museum verbannen. Im Gegenteil - die Offenheit von Geschichte für eine andere, für eine bessere Zukunft ist treibende Kraft hinter den Anstrengungen, die dieses Buch hervorbrachten. Danksagung Zu Dank verpflichtet für Unterstützung und Hilfe bei der Erstellung dieser Arbeit bin ich an erster Stelle Prof. Mario Keßler und Prof. Michael Buckmiller, die mich über Jahre mit diesem Thema begleitet haben. Zahlreiche andere Kolleginnen und Kollegen standen mir an verschiedenen Stellen hilfreich zur Seite. Zu nennen sind hier Hermann Weber (Mannheim), Ottokar Luban (Berlin), Andreas Herbst (Gedenkstätte Deutscher Widerstand), Valerij Fomichev (Moskau), Herbert Mißlitz (Berlin), Itta Shedletzky (Jerusalem), Moshe Zuckerman (Tel Aviv) und Harry Stein (Gedenkstätte Buchenwald) für zahlreiche Anregungen, Ideen und Hinweise auf Quellen und Dokumente, die sonst unentdeckt geblieben wären. Für Korrekturen und Überarbeitungsideen zum Manuskript und moralische Unterstützung danke ich herzlich Doris Mall, Michael Hewener, Marcel Bois. Katharina Kaps, Tom Jennissen, Nina Knirsch und allen Freundinnen und Freunden von reflect. Zu danken habe ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller im Anhang erwähnten Archive, die mir stets freundlich und mit viel Sachkenntnis den Zugang zu den Quellen ermöglichten. Zu nennen sind hier insbesondere das Bundesarchiv Berlin, die National Library of Jerusalem und das Russische Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI) in Moskau sowie die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin. Kaum zu bewältigen gewesen wäre diese Arbeit ohne die Graduiertenförderung des Landes Brandenburg, aus deren Mitteln mir durch die Universität Potsdam ein Abschlussstipendium gewährt wurde. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universität und des Zentrums für Zeithistorische Forschung möchte ich an dieser Stelle danken nicht nur für diese materielle, sondern auch die immaterielle Unterstützung vielen Fragen. Ganz besonderer Dank geht auch an die Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, grundsätzliche Voraussetzung für das Entstehen dieser Arbeit. Unschätzbare Hilfe mit ihren Erinnerungen an Werner Scholem und seine Familie gaben mir Susanna Capon, Renee Goddard und Hanno Fry sowie Eva Nickel, Muki Tsur und Walter Laqueur. Ihnen, die Emmy und Werner Scholem oder ihr Umfeld noch persönlich erlebt haben, danke ich besonders für ihre unersetzlichen Eindrücke sowie den Mut und das Vertrauen, sie mit mir zu teilen. Ein Wort zur Orthographie Zitate sind im Folgenden stets in der originalen Schreibweise belassen, einschließlich altertümlicher Formen wie etwa »Brod« oder »giebt«, gewollter Falschschreibungen wie »Pardong« oder ungewollter Stilblüten wie »langsiert« o.ä. Auf die Hinzufügung eines »sic« wurde zugunsten des Leseflusses verzichtet, nur offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Bisweilen ergeben sich dadurch Inkohärenzen: Werner Scholem <?page no="14"?> 14 Einleitung benutzt in seinen handschriftlichen Briefen ab 1919 nicht mehr die altdeutsche Schrift, sondern wechselt ins lateinische Alphabet, wodurch bei ihm »daß« zu »dass« wird, »weiß« zu »weiss« etc. In veröffentlichten Reden und Artikeln hingegen spricht bzw. schreibt er weiter »daß« oder »weiß«, gemäß der üblichen Rechtschreibung seiner Zeit. <?page no="15"?> 15 1. Jugendjahre (1895 - 1914) 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie »Wenn ich Werner wäre, wäre ich schon zehnmal weggelaufen und hätte versucht, ohne die ›Familie‹ durchzukommen. Man sieht, von der jüdischen Familie ist bei uns nichts mehr übrig, nach 75 Jahren! ! Hoffentlich geht es mir einmal anders.« 1 Mit diesen knappen aber deutlichen Tagebuchzeilen fasste der fünfzehnjährige Gerhard Scholem im Februar 1913 zusammen, wie sehr der Alltag im Elternhaus ihn und seinen zwei Jahre älteren Bruder Werner abstieß. Ständige Konflikte mit dem autoritären Vater belasteten die Jugendlichen, von familiärer Geborgenheit spürten sie wenig. Als junger Zionist maß Gerhard, der sich später Gershom nannte, sein Elternhaus am Ideal eines authentischen Judentums aus ferner Vergangenheit. Schritt für Schritt hatte er sich dieses Bild aus Büchern angeeignet, lernte auch Hebräisch und floh mit jedem Wort und jeder Buchseite ein Stückchen weiter fort aus der bedrückenden Gegenwart. Der über drei Generationen andauernde Prozess von Assimilation und sozialem Aufstieg der Scholems erschien ihm als Irrweg und Selbstbetrug. 2 Für seinen Vater hingegen war die Familiengeschichte eine Erfolgsgeschichte. Sie erzählte vom Ende jahrhundertelanger Diskriminierung, vom stetigen Gewinn an Anerkennung und Prestige. Die Geschichte begann Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Wanderung der Scholems aus dem schlesischen Glogau in die Metropole Berlin. Scholem, jiddische Variante des hebräischen Wortes »Schalom«, war ursprünglich ein Vorname. Das Wort bedeutete Frieden, ein hoffnungsvoller Segen am Beginn eines Lebensweges. Zum Nachnamen wurde er einer Familienlegende nach durch die taube Sturheit eines Beamten in der Zeit der preußischen Reformen. Diese garantierten den Juden mit dem Edikt von 1812 erstmals bestimmte Grundrechte als Staatsbürger - zwang sie aber auch, sich beständige Familiennamen zuzulegen. Zuvor hatten die Juden nur Vor- und Vatersnamen getragen, die mit den Generationen wechselten. Manch einer vollzog den Wechsel freiwillig - so wurde etwa aus einem Moshe Ben Mendel der bekannte Philosoph Moses Mendelssohn. Für andere war es ein behördlicher Akt, dem man indifferent oder ablehnend gegenüber stand. Doch dies nutzte nichts: die Juden aller Provinzen Preußens mussten sich zur Namensfestlegung auf den Rathäusern melden. Auch Werner Scholems Uururgroßvater musste sich dieser Prozedur unterziehen, in der Familie wurde folgender Hergang dazu berichtet: »Er verstand nicht recht […] und antwortete ›Scholem‹, was der Beamte als Familiennamen eintrug, obgleich es sein Vorname war. Er hieß also fortan Scholem Scholem«. 3 In anderen Dokumenten tauchte er jedoch als Scholem Elias auf, sein Todesdatum wird mit 1809, angegeben - noch vor der Namensreform. Nach Recherchen des Historikers Dov Brilling hat erst seine Witwe 1812 den Namen ihres Mannes als Familiennamen angenommen. 4 Ganz gleich, ob man 1 Gershom Scholem, Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923, herausgegeben von Karlfried Gründer, Frankfurt am Main 1995, erster Halbband 1913-1917, S.11. 2 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-30. 3 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-9-10. 4 Ebenda. <?page no="16"?> 16 1. Jugendjahre (1895 - 1914) der Legende oder der Historie Glauben schenkt - der Name Scholem begleitete von nun an alle Generationen der Familie. Das preußische Judenedikt garantierte den Juden erstmals die Freizügigkeit, ihren Wohnsitz nach eigenem Ermessen zu wählen. So zogen die zwei Söhne des Scholem Elias, einer davon der Urgroßvater von Werner und Gerhard, nach Berlin. Dort brachte die Familie es langsam zu Wohlstand. Diese Entwicklung wurde erleichtert durch eine schleppende, aber doch fortschreitende Tendenz zur Anerkennung der Juden als Bürger. In der Generation von Werners Vater erreichte diese Emanzipation ihren vorläufigen Höhepunkt: Die Verfassung des deutschen Reiches von 1871 brachte volle rechtliche Gleichstellung. 5 Obwohl der Antisemitismus damit nicht aus der Welt war und Laufbahnen in Militär und Staatsverwaltung versperrt blieben, war die institutionelle Diskriminierung der Juden beendet. Gleichzeitig hatte sich ein jüdisches Bürgertum herausgebildet, das sich in Kultur und Bildung am deutschen Bürgertum orientierte und auf die mittellosen »ostjüdischen« Einwanderer aus Polen und Russland herabsah. 6 Arthur Scholem und seine Familie waren Teil des bürgerlichen Aufstiegs und Beispiel für dessen Grenzen. Sein Sohn Gershom schrieb dazu rückblickend: »Im Allgemeinen aber gehörte unser Familienkreis dem kleinen und mittleren jüdischen Bürgertum an, das sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus kleinen und sehr bescheidenen Anfängen emporarbeitete, nicht selten zu Wohlstand, wenn auch kaum zu eigentlichem Reichtum kam und fast ausschließlich unter sich verkehrte.« 7 Im Falle der Scholems lagen die bescheidenen Anfänge im Druckereigewerbe. Werners Großvater Siegfried hatte 1858 in Berlin eine Druckerlehre beendet und sich drei Jahre später selbständig gemacht. Der Betrieb florierte und Siegfrieds Sohn Arthur wurde als Nachfolger angelernt. Man schickte ihn sogar ein Jahr lang zur Ausbildung nach London, wo er als Setzer neben der technischen Ausbildung auch mit den liberalen Ansichten des englischen Bürgertums vertraut wurde. Vor Ausbruch des ersten Weltkrieges »pflegte er jeden Sonntag in ein Café an der Gertraudenbrücke zu gehen, wo er zwei Stunden den ›Manchester Guardian‹ las, der seine Anschauungen mindestens ebenso bestimmte, wie das ›Berliner Tageblatt‹, das bei uns gehalten wurde.« 8 1883 kehrte der junge Arthur Scholem nach Berlin zurück, »mit einem wallenden Vollbart, der später einem - damals modischem - wilhelminisch emporgezwirbelten Schnurrbart Platz gemacht hatte.« Er trat nun in die väterliche Druckerei ein. Aber Vater und Sohn, »beide von jähzornigem Temperament, sonst aber ganz verschieden waren« kamen nicht miteinander aus. 9 Zwei Jahre nach seiner 5 Schon ein vom Reichstag des Norddeutschen Bundes 1869 verabschiedetes Gesetz schrieb diese Gleichstellung fest, es galt ab 1871 im gesamten Staatsgebiet. Informelle Diskriminierungen bestanden jedoch fort. Vgl. Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. III, S.-151ff. 6 Zur Entstehung des jüdischen Bürgertums vgl. Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918, München 1994, S.-8-21. Stephen M. Lowenstein schreibt, dass die ostjüdischen Einwanderer »von Juden wie von Nichtjuden gleichermaßen als Schnorrer abqualifiziert wurden« - ihre Präsenz habe jedoch zur Modernisierung der jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen beigetragen. Vgl. »Die Gemeinde«, In: Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. III, S.-129ff. 7 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-15. 8 Ebenda, S.- 12-13. Das »Berliner Tageblatt«, 1872 von Rudolf Mosse gegründet, startete als Lokalblatt und wurde rasch zu einem überregionalen Organ mit liberaler Ausrichtung. Es war das erste Blatt, das 1928 von Fraktur zu Antiqua wechselte und dadurch im Ausland bekannt wurde. Der 1821 gegründete liberale »Manchester Guardian« wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einem meinungsführenden Blatt in Großbritannien. 9 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-12-13. <?page no="17"?> 17 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie Heirat machte sich Arthur mit einem eigenen Betrieb selbständig, das Stammhaus übernahmen die Brüder Max und Theobald. 10 Das 1892 neu gegründete Unternehmen »Arthur Scholem Buch- und Steindruckerei« hatte anfangs mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen und musste im November 1899 sogar Konkurs anmelden. Nur durch einen Vergleich mit den Gläubigern und eine Übertragung an Ehefrau Betty Scholem konnte die Firma in den folgenden Monaten saniert werden. 11 Werners Mutter Betty Scholem, geborene Hirsch war jedoch nicht nur auf dem Papier entscheidend für den späteren Erfolg - sie übernahm tatsächlich die Buchführung der Firma und war zeichnungsberechtigt für deren Geschäfte. 12 Das mit großer Mühe gestartete Unternehmen expandierte schließlich, nicht zuletzt durch eine innovative Geschäftsidee von Arthur. Als um die Jahrhundertwende das Grammophon in Deutschland populär wurde, lieferten Scholems für die neuen Schellackplatten passgenau und pünktlich ein ungewohntes Druckerzeugnis: runde Etiketten mit Loch in der Mitte. Laut Erzählungen der Familie wurde zeitweise mehr als die Hälfte aller in Deutschland produzierten Platten mit Scholemschen Etiketten beklebt, auch ins Ausland wurde geliefert. Ein Bericht von Werners älterem Bruder Reinhold gibt einen Eindruck von der Leistung des Unternehmens: »Als ich nach meinem Dienstjahr Oktober 1913 ins Geschäft kam, hatte Vater die Etiketten-Abteilung sehr gut organisiert. […] wir belieferten […] eine ganze Anzahl Firmen im Ausland - Paris, Warschau, Beirut usw. Eine besonders erfolgreiche Verbindung waren zwei (oder drei? ) Londoner Firmen. Wir hatten ihre Kataloge. Telegraphische Bestellungen, die bis Donnerstag Mittag eintrafen, gingen am Sonnabend als Pakete zur Post und wurden am Montag früh in London geliefert. Wir waren schneller als die Londoner Konkurrenz.« 13 Die Scholemsche Druckerei war schon vor dem ersten Weltkrieg Teil einer gut organisierten globalen Produktionskette. Als diese Aufträge mit Ausbruch des ersten Weltkrieges stockte, wich Arthur Scholem auf den Druck von Formularen aus, gründete einen auf den Bedarf der Krankenkassen spezialisierten Formularverlag. 14 Das Geschäft war der Stolz des Vaters, sicherte der Familie Wohlstand und einen respektablen Lebensstil. Dennoch wurde bei Tisch nie über Geld oder Geschäft geredet. »Das Thema gab es einfach nicht. Nie wäre es uns in den Sinn gekommen, nach der Situation in der Druckerei oder nach unserer finanziellen Lage zu fragen. Wir wußten nur, wieviel Taschengeld uns alle vierzehn Tage zustand und wieviel wir für die Schulausflüge bekommen würden«, berichtete Gershom. 15 10 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-26; Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-86, Fußnote 2. 11 Das Konkursverfahren wurde im Juli 1900 aufgehoben, im August verkaufte Betty das Unternehmen wieder an Arthur. Vgl. Handelsregister Arthur Scholem Buch- und Steindruckerei, Amtsgericht Charlottenburg, LArch Berlin, A Rep. 342-02, Nr. 42380. Auch Gershom Scholem berichtet von einem »anfangs kleinen und mit beträchtlichen Schwierigkeiten kämpfenden Betrieb«, vgl. Von Berlin nach Jerusalem, S.-13. 12 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-12-13, sowie Handelsregister, siehe oben. 13 Brief Reinhold Scholem an Gershom Scholem 10. Februar 1978, GSA Jerusalem. Reinhold berichtet, dass die Etiketten zunächst außer Haus hergestellt wurden. Arthur Scholem kam durch persönliche Kontakte und gute Englischkenntnisse ab 1901 zum Schallplattengeschäft, erst später richtete er eigene Druckmaschinen dafür ein. 14 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-35. 15 Ebenda, S.-20. <?page no="18"?> 18 1. Jugendjahre (1895 - 1914) Arthur und Betty Scholem, hatten am 2. November 1890 geheiratet. Schon im Jahr nach der Hochzeit wurde das erste Kind geboren. Der am 8. August 1891 zur Welt gekommene Sohn erhielt den Namen Reinhold. Im regelmäßigen Abstand von zwei Jahren kamen weitere Söhne: am 3. Dezember 1893 wurde Erich Scholem geboren, am 29. Dezember 1895 erblickte Werner Scholem das Licht der Welt. Nur eingeschränkt zufrieden war die Großmutter Amalie: »Sie wartete förmlich auf eine Enkeltochter, u. sie nahm es ernsthaft übel, daß wir immer wieder einen Jungen präsentierten. Schon bei Werner war sie beleidigt; u. als gar der vierte erschien, war sie so böse, daß sie mich u. das Kind gar nicht sehen wollte …« berichtete Betty in ihren Erinnerungen. 16 Der vierte Sohn wurde Gerhard genannt, geboren am 5. Dezember 1897. Alle Söhne trugen betont deutsche Vornamen, wie schon der Vater und seine Brüder. Insbesondere den Namen Werner hätte eine traditionelle jüdische Familie wohl kaum gewählt, denn im katholischen Kalender firmierte mit Werner von Bacharach eine besonders dubiose Figur des christlichen Mittelalters. Er war ein Gerberlehrling, der im Jahre 1287 ermordet aufgefunden wurde, was bald den Juden der Umgebung angelastet wurde. Die klassische Ritualmordlegende wuchs sich in den folgenden Jahren zu einem antisemitischen Volkskult aus. Zwar kam es nie zur Heiligsprechung, doch wurde der heilige Werner jahrhundertelang als Märtyrer verehrt - erst 1963 wurde sein Feiertag aus dem Kalender der Diözese Trier gestrichen. 17 Arthur und Betty Scholem, die sonst ein gutes Auge für Antisemitismus hatten, schienen diese Vorgeschichte 16 Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-528; ders., Von Berlin nach Jerusalem, S.-15. 17 Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland, Bonn 2006, S.-42; Erwin Iserloh, Werner von Oberwesel - Zur Tilgung seines Festes im Trierer Kalender, in: Trierer Theologische Zeitschrift, 72, 1963, 270-ff. Betty Scholem um 1896 Arthur Scholem, Aufnahmedatum unbekannt (beide Fotos GSA Jerusalem) <?page no="19"?> 19 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie nicht zu kennen. Arthur wollte schlicht, dass seine Kinder deutsche Namen trugen und sich als Deutsche fühlten. Die Familie lebte zunächst in der Friedrichsgracht in Altberlin, einem Uferweg an der Spreeinsel, deren oberer Teil heute als Museumsinsel bekannt ist. 18 Die Brüder übten sich regelmäßig darin, vom Fenster aus Kirschkerne über die schmale Uferstraße in den Fluss zu spucken. Im Jahr 1906, als Werner zehn Jahre alt war, bezogen die Scholems eine größere Wohnung in der neuen Grünstraße Nr. 26. Die Kinder hatten dort insgesamt zwei Zimmer. Erich und Gerhard teilten sich eines, das zweite blieb für Werner und Reinhold - der allerdings Mitte 1909 das Elternhaus verließ, um sich seiner Ausbildung zu widmen. 19 Durch den Umzug änderte sich ansonsten nicht viel, denn die neue Wohnung lag nur einige Meter weiter auf der anderen Seite des Flusses. Die jüngeren Geschwister erkundeten die Gegend auf eigene Faust und suchten sich ihre Spielplätze selbst - Gelegenheit 18 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-10 19 Vgl. Briefe von Gershom Scholem an Reinhold Scholem vom 26. Februar 1965 und 5. März 1978 sowie den Lebenslauf Reinholds in seinem Brief an Gershom vom 10. Februar 1978, GSA Jerusalem. Friedrichsgracht Berlin, 1909. Rechts im Bild das nördliche Ende der Friedrichsgracht mit Jungfernbrücke und Mündung der Spreestraße (heute Sperlingsgasse). Heute trägt lediglich der Abschnitt nördlich der Gertraudenbrücke die Bezeichnung Friedrichsgracht. (Wikimedia Commons) <?page no="20"?> 20 1. Jugendjahre (1895 - 1914) zum Murmelspiel mit Altersgenossen bot der nahegelegene Märkische Park, wo gerade das gleichnamige Museum vollendet wurde. 20 Die Gegend um die Spreeinsel, im zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört, ist heute Teil der neuen Mitte Berlins, dominiert von Büros und Geschäftsräumen - spielende Kinder sieht man hier nicht mehr. Werner und Gerhard erlebten die Gegend um 1900 in langsamerem Tempo: »Berlin in diesen Vorkriegsjahren war im Grunde noch eine sehr ruhige Stadt. In meinen ersten Schuljahren fuhr man zu Besuch bei den Eltern meiner Mutter mit der Pferdebahn vom Kupfergraben durch den Tiergarten, der noch ein wirklicher großer Park war, nach Charlottenburg. Die Stadt war nur erst zur Hälfte asphaltiert, und in vielen Teilen, vor allem im Osten und Norden, ratterten noch Pferdeomnibusse über Pflastersteine. Die ersten Autobusse waren eine große Sensation, und gar auf das Deck zu klettern ein großes Vergnügen.« 21 Der Berliner Dialekt war damals noch vorherrschend, die Gebrüder Scholem hörten ihn überall in ihrer Umgebung - am Familientisch war das »Berlinern« jedoch streng verboten. 22 Eric Hobsbawm, der einen Teil seiner Jugend im Berlin der Weimarer Republik verbrachte, beschrieb das Berlinerische als »eine beschleunigte, witzige, urbane Adaption des Plattdeutschen, primär ein volkstümliches Idiom, das die einfachen Leute von den feinen Pinkeln trennte, auch wenn es von allen gut verstanden wurde. Allein schon das Beharren auf spezifisch berlinerischen grammatischen Formen, die im Dialekt richtig, im Schuldeutschen dagegen offensichtlich falsch waren, reichte aus, das Berlinerische aus der Bildungssprache herauszuhalten.« 23 Das Bemühen um sprachliche Sorgfalt unterstreicht den bürgerlichen Habitus der Scholems, der auch auf den sorgfältig inszenierten Familienfotos erkennbar ist. Bilder, auf denen die vier Brüder in orientalischen Kostümen posieren, oder die Hochzeit von Onkel Theobald im Jahre 1903, wo die Neffen zu Theatereinlagen herangezogen wurden. Reinhold Scholem erinnerte sich in einem Brief an Gerhard an ein rauschendes Fest mit »100 Personen, Frack und Aufführungen. Du dabei - wenn auch unter Protest - als Mädchen! « 24 Gerhards Unbehagen ist dem Bild durchaus anzusehen, Erich als Schutzmann und Werner mit Bierkrug hatten erträglichere Rollen. Die Bilder zeugen von den glücklichen Jugendjahren der Brüder, Jahre vor den heftigen Konflikten mit dem Vater. Sie zeigen gleichzeitig das Ideal eines bürgerlichen Familienlebens. Dennoch war gerade die Hochzeitsgesellschaft Beleg für eine Sonderexistenz der Scholems. Fast all ihre Bekannten waren jüdischer Herkunft, die Familienmitglieder heirateten nur innerhalb jüdischer Kreise. Einzig Bettys Schwester Käte ging eine sogenannte »Mischehe« mit dem Christen Walter Schiepan ein. Der jüngste Bruder schrieb später, dass das jüdische Bürgertum in jener Zeit »fast ausschließlich unter sich« verkehrte. Er habe im Hause Arthur Scholem sein »ganzes Leben lang niemals ein nichtjüdisches Ehepaar […] freundschaftlich verkehren sehen«. Auch sei gerade der assimilierte Vater strikter Gegner einer jeden »Mischehe« gewesen. 25 20 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-19. 21 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-37. 22 Ebenda, S.-19. 23 Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten, München - Wien 2003, S.-67. 24 Reinhold an Gershom Scholem vom 31. März 1951, GSA Jerusalem. 25 Gershom an Reinhold Scholem vom 29. Mai 1972, GSA Jerusalem; Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-15. <?page no="21"?> 21 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie Diese Sätze wurden niedergeschrieben in Jerusalem unter dem Namen Gershom Scholem. Gerhard hatte früh mit seinem Leben als Deutscher gebrochen und war 1923 nach Jerusalem ausgewandert. 26 Durch bittere Erfahrungen geschärft lenkte sich sein Blick auf das Trennende zwischen den Juden und ihrer Umgebung, während Werner noch lange auf das Gemeinsame hoffte. Obwohl Arthur als Patriarch das Familienleben dominierte, war die Arbeitsteilung innerhalb der Familie nicht unbedingt traditionell. Betty Scholem hatte eine starke Stellung inne und ließ sich weder auf eine rein häusliche noch auf eine repräsentative Position reduzieren. Sie kümmerte sich durchaus um Kindererziehung und den Haushalt, hatte allerdings eine Köchin zur Seite, der sie jeden Morgen ihre Wünsche für die drei Mahlzeiten des Tages diktierte. 27 Auch die Erziehung wurde durch Personal unterstützt - ein allererstes Foto des jungen Werner Scholem zeigt ihn als Kleinkind nicht mit der Mutter, sondern mit Kindermädchen »Mimi«. Diese Entlastung war damals Standard in jedem gehobenen bürgerlichen Haushalt. Ungewöhnlich war dagegen, dass Betty Scholem ihre freie Zeit für die Mitarbeit im Geschäft nutzte. Obwohl der Betrieb nur Arthurs Namen trug, führte Betty die Firma zeitweise allein, etwa wenn Arthur Scholem seinen jährlichen Kuraufenthalt durchmachte, um ein chronisches Herzleiden zu lindern. Auch nach der Geburt der Kinder arbeitete 26 In Familienbriefen wurde er von den Brüdern und der Mutter dennoch stets weiter mit dem Geburtsnamen »Gerhard« angeredet. In dieser Biographie ist für seine Schriften stets »Gershom« als Autorenname bei Zitaten seiner Schriften beibehalten, »Gerhard« wird in der Regel nur für die Jugendjahre benutzt und später durch »Gershom« abgelöst. 27 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.- 23. Die Existenz eines Dienstmädchens im Hause Scholem erwähnt Betty Scholem in ihren Briefen, z.B. vom 5. April 1919 und 30. Mai 1920. Vgl. Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-41 u. S.-71ff. Reinhold, Erich, Werner und Gerhard Scholem, Berlin 1903 (GSA Jerusalem) <?page no="22"?> 22 1. Jugendjahre (1895 - 1914) sie stundenweise in der Druckerei. 28 Doch die Buchhaltung schien nicht ihre eigentliche Leidenschaft zu sein. Gerhard beschrieb seine Mutter als geborene Journalistin, die »in einer Zeit, als Frauen noch nicht an solche Berufe herangelassen wurden, ihren eigentlichen Beruf zweifellos verfehlt« habe. Sie verfasste nicht nur »mit großer Leichtigkeit« Gedichte und Familienstücke, welche die vier Brüder dann bei Familienfeiern vorzuführen hatten, sondern schrieb neben »großartigen Briefen« auch aus eigenem Antrieb Schulaufsätze für ihre Kinder, wenn ihr das Thema zusagte. 29 Die Briefe von Betty an Gerhard wurden 1989 in einem Sammelband veröffentlicht, sie bestätigen das Urteil des Sohnes. 30 Auch Arthur Scholem beschränkte sich nicht nur auf seinen Betrieb. Er engagierte sich für die Interessen seiner Klasse, saß als führendes Mitglied der berufsständischen Kassenvereinigung in der Zentralkommission der Krankenkassen und repräsentierte dort die Unternehmerschaft. 31 Sein Gegenüber waren sozialdemokratische Gewerkschafter wie Gustav Bauer. Er und andere Vertreter der Arbeiterbewegung erfuhren auf solchen Nebenschauplätzen im Kaiserreich eine Anerkennung, die den »vaterlandslosen Gesellen« sonst versagt blieb. Doch trotz seiner professionellen Zusammenarbeit mit Gewerkschaftern, die er durchaus auch einmal nach Hause einlud und mit Gänsebraten bewirten ließ, hatte Arthur Scholem sonst keinerlei Sympathien für die Ziele der Arbeiterbewegung. 32 Seine Loyalität galt der Nation, die Aktivitäten der Sozialdemokratie beschimpfte er als »deutschfeindliche Umtriebe«. 33 Auch nach den Umwälzungen der Novemberrevolution, die einige seiner früheren Verhandlungspartner in hohe Positionen brachte, setzte Arthur Scholem seine Tätigkeit als Vertreter der Unternehmer fort. 34 Er wurde 1919 zum Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses für das graphische Gewerbe Berlins gewählt und moderierte dort Lohnkonflikte. Später trat er sogar in Kommissionssitzungen des Reichstags auf und fungierte als Verhandlungsleiter zwischen Ärzten und Krankenkassen. Diese 28 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-13, S.-23. 29 Ebenda, S.-23f. 30 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, a.a.O. 31 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-21f. 32 Ebenda. 33 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-92f, vgl. auch S.-45. 34 Gustav Bauer etwa wurde schon im Oktober 1918 als Staatssekretär in das Oktoberkabinett Max von Baden berufen. Werner und Kindermädchen Mimi, 1896 (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="23"?> 23 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie Sitzungen, so seine Frau Betty, seien stets »sein Lebenselement« gewesen. 35 Den Söhnen erschien dies als Kränkung. Nüchtern, vielleicht auch mit einem traurigen Unterton konstatierte Gerhard die »Befriedigung« seines Vaters durch die intensive Verbandstätigkeit, während der »Zusammenhang zwischen ihm und uns Kindern nicht besonders eng war.« 36 Man darf vermuten, dass die Rolle als Experte und Unternehmervertreter für Arthur Scholem eine beständige Selbstvergewisserung war. Die Interessen seiner nichtjüdischen Kollegen zu vertreten, bedeutete eine Anerkennung, die in der Generation zuvor kaum denkbar gewesen wäre. In Geschäftskreisen unentbehrlich zu sein - das verschaffte Respekt und Immunität gegen den schwärenden Vorwurf des Parasitismus, mit dem jüdische Geschäftsleute sich konfrontiert sahen. Denn Arthur Scholem war sich trotz allen Stolzes auf das Erreichte bewusst, dass seine Position etwas Prekäres hatte. Er organisierte sich deshalb im »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«. 37 Die 1893 gegründete Organisation war die größte Vereinigung des assimilierten jüdischen Bürgertums in Deutschland. Sie setzte sich für die Durchsetzung jüdischer Gleichberechtigung ein, bot Rechtsschutz gegen Diskriminierung und leistete Aufklärung gegen Antisemitismus. Als Mitglied der Berliner Turnerschaft hatte Arthur Antisemitismus am eigenen Leibe erfahren müssen. Als typischer Sport des deutschen Kleinbürgertums war die Turnerbewegung bis in die 1880er Jahre liberal gesinnt, unterlag aber im folgenden Jahrzehnt den antisemitischen Einflüssen. Arthur war mit vollem Herzen dabei, hatte 1885 unter dem Titel »Allerlei für Deutschlands Turner« sogar ein Buch über den Turnsport herausgegeben. 38 Doch die zunehmende Hetze verleidete ihm bald das sportliche Engagement. Sein Bruder Theobald wurde aus ähnlichen Erfahrungen zu einem Zionisten der ersten Stunde. Onkel Theobalds Ansichten prägten Gerhard und Werner, beide begeisterten sich in ihrer Jugend für den Zionismus. 39 Arthur hingegen lehnte wie alle Mitglieder des Centralvereins die jüdische Nationalbewegung ab. Denn jenseits aller praktischen Arbeit war der Centralverein auch ein politisches Programm: die deutsche Staatsbürgerschaft stand vor dem Judentum, das als Konfession definiert wurde. Judentum war für die Vereinsmitglieder ein Glaubensbekenntnis, keine Volkszugehörigkeit. Man sah sich als Mitglied des deutschen Volkes, »mit dessen Gedeihen in Zeiten der Macht wie der Niederlage« auch ihr Wohl »unauslöschlich verbunden« sei - so schrieb es der Centralverein in seinen Flugblättern. 40 Der Zionismus hingegen sprach angesichts des zunehmenden Antisemitismus in den 1890er Jahren gegen die Assimilation. Seine Anhänger definierten das Judentum sehr wohl als eigenes Volk, das sich idealerweise im eigenen Territorium ansiedeln solle, um die jüdische Kultur wieder zur Blüte zu bringen. Damit stand der Zionismus in ständiger Spannung zu einer anderen Strömung, die bei Juden des Kaiserreichs populär war: dem Sozialismus. Er verkündete Internationalismus und Völkerverbrüderung, sah den Antisemitismus nur als kläglichen Schmutzrand einer dem Untergang geweihten Gesellschaft. In der sozi- 35 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-51, S.-84, S.-118. 36 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-13. 37 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.- 45. Zum Centralverein vgl. Avraham Barkai, »Wehr dich! «: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893 - 1938, München 2002. 38 Scholem, Arthur (Hg.): Allerlei für Deutschlands Turner, Berlin 1885. 39 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-16, S.-26. 40 Flugblatt des Centralvereins aus dem Jahr 1925, Reproduktion online abrufbar unter: http: / / upload. wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 5/ 5d/ CV_Flugblatt.jpg (Zugriff 18.11.2009). <?page no="24"?> 24 1. Jugendjahre (1895 - 1914) alistischen Zukunft wäre für solch mittelalterliche Sentiments kein Platz, und daher waren Juden in den Reihen des Sozialismus willkommen. In der deutschen Sozialdemokratie als stärkster Kraft der Sozialistischen Internationale hatten Juden höchste Positionen inne: in Theoriedebatten, als Parlamentarier und Parteiführer. Ihre eigene kulturelle und religiöse Identität mussten sie jedoch außen vor lassen. 41 Denn nicht allein das religiöse Vorurteil, sondern die Religion selbst war für aufrechte Sozialisten ein Relikt der Vergangenheit. Assimilation und Durchsetzung der Bürgerrechte, Separation und Schaffung eines jüdischen Staates oder gemeinsame Überwindung von Kapitalismus und Antisemitismus in der sozialistischen Gesellschaft - dies waren die drei Wege des Judentums in einer Welt voller Vorurteile. Die Assimilation blieb dabei Mehrheitsströmung. Denn Judenstaat und Sozialismus waren Utopien, der bürgerliche Aufstieg dagen eine konkrete Errungenschaft. Dennoch war die »Judenfrage« nur vordergründig gelöst. Der Antisemitismus war nicht verschwunden, sondern verstärkte sich um die Jahrhundertwende. Zionisten und Sozialisten konfrontierten die Vertreter der Assimilation stets aufs Neue. Die verschiedenen Wege sorgten für Konflikte und brachten bald auch für die Familie Scholem eine Zerreißprobe. Lange Jahre hinweg wurde jedoch der assimilierte Lebensstil im Hause nicht in Frage gestellt. Alles ging »seinen Gang«, sprich: es lief nach den Vorgaben des Familienoberhauptes Arthur Scholem. Obwohl Arthur die Taufe für »charakterlos und kriecherisch« hielt, nahm er keinen Anstoß daran, Weihnachten als »deutsches Volksfest« zu begehen und sich eine Tanne ins Wohnzimmer zu stellen. Ironischerweise fand Gerhard am Weihnachtsabend 1911 ein Bild des zionistischen Vordenkers Theodor Herzl als Geschenk der Mutter unter dem Baum. »Von da an«, so schrieb er, »ging ich Weihnachten aus dem Haus.« 42 Das Geschenk, eigentlich Sympathiebekundung und Spitze gegen Arthur, hatte seine Wirkung deutlich verfehlt. Weihnachtsbaum, Assimilation und deutsche Sitten waren freilich nicht erst durch Arthur Scholem in die Familie gebracht worden. Schon dessen Vater hatte aus Begeisterung für das Nibelungenlied den Vornamen Siegfried angenommen. 43 Auch wenn Arthur Scholem sich mit ihm zerstritt und eigene Wege ging, wurde Siegfrieds deutschfreundlicher Lebensstil fortgesetzt. Das ging soweit, dass Arthur sogar den Gebrauch jiddischer Redewendungen im Hause verbot: seiner Meinung nach förderte der Gebrauch dieses »Jargons« den Antisemitismus. 44 Mutter Betty hielt sich freilich nicht daran, andere Verwandte ebensowenig. Daher schnappten die vier Scholem-Brüder neben dem unerwünschten Berliner Dialekt auch vieles aus dem Jiddischen auf. 45 Der Trend zur Assimilation im Hause Scholem hatte jedoch Grenzen. Obwohl Arthur sein Deutschtum betonte und auf die Reinheit der Sprache achtete, hielt er stur an einem Kern religiöser Identität fest. Die Taufe blieb Tabu, Sabbat und die jüdischen Feiertage wurden stets begangen - was Arthur Scholem jedoch nicht daran hinderte, auch am Versöhnungstag Jom Kippur im Geschäft zu arbeiten. Im Gegensatz dazu wird von Arthurs 41 Vgl. Mario Keßler, Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus. Arbeiterbewegung und jüdische Frage im 20. Jahrhundert, Mainz, 1993, 2. Aufl. 1994. 42 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-17 u. 32f. 43 Ebenda, S.-12. 44 Arthur Scholem behauptete dies in Bezug auf die Stücke des populären jüdischen Herrnfeld-Theaters, die ihren Humor vor allem aus dem deutsch-jüdischen Jargon bezogen. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-22, S.-16. 45 Ebenda, S.-16. <?page no="25"?> 25 1.1 Die Scholems - eine deutsche Familie Gewohnheit berichtet, »ein oder zweimal im Jahre am Mittagstisch eine Rede zum Lob der Mission des Judentums zu halten, welche nach seinen Worten darin bestehen sollte, daß wir der Welt den reinen Monotheismus und eine rein vernunftmäßige Moral verkündigten.« 46 Eine »vernunftmäßige Moral« - diese Formel stellte für den Geschäftsmann Scholem die Verbindung zwischen der Welt des Bürgertums und seinen jüdischen Wurzeln dar. Das Trennende und Rituelle, alle Speise- und Fastenvorschriften, die jiddische Sprache - all dies wurde abgelehnt. Die jüdische Religion wurde damit aus einer komplett eigenständigen Kultur und Lebenswelt in ein philosophisches Bekenntnis verwandelt. Sie war eine Konfession unter vielen, ihre rationale Seite wurde als Verbindung zur deutschen Hochkultur hervorgehoben. Man mag sich vorstellen wie Arthur Scholem fluchte, als sein Sohn Gerhard sich später für die mystische, irrationale Seite des Judentums interessierte, zum Erforscher von Messianismus und Kabbala wurde. Doch die rationalistische Interpretation des Judentums war keine Schrulle Arthur Scholems. Sie entsprach den vom Centralverein vertretenen Idealen und war Mehrheitsströmung des deutschen Judentums jener Zeit. Obwohl er als Familienpatriarch agierte, war Arthur ein abwesender Vater, wichtigste Bezugsperson insbesondere für die jüngeren Söhne Gerhard und Werner war Betty. Bei Arthur hingegen musste ständig auf Geschäft und Herzleiden Rücksicht genommen werden, die Kinder wurden angehalten »ihm nach Möglichkeit Aufregung zu ersparen«. 47 So war es die Mutter, die regelmäßig mit ihren Jungs in die Ferien fuhr. Den Sommer 1899 verbrachten die drei jüngsten mit Betty in Lehnitz bei Oranienburg. Als die Jungen größer waren, wurden die Reisen weiter. Im Sommer 1908 ging es ins Riesengebirge, danach auf eine Zugreise in die Schweiz, wo diesmal auch Arthur dazustieß. Im Hotel »Jungfrau« in Interlaken machte es einen großen Eindruck, wenn die vier Söhne hinter den Eltern in den Speisesaal einmarschierten. 48 Solche Fernreisen waren damals ein Privileg. Massentourismus war unbekannt, in den Kurorten war das gehobene Publikum unter sich. 49 In den Schweizer Bergen unternahmen Werner, Reinhold und Erich ausgedehnte Touren, während Gerhard »für keinerlei Sport zu haben war«. 50 Werner hingegen genoss die Kletterei, auch als Erwachsener sollte er über Jahrzehnte hinweg diesem Sport treu bleiben. 51 Ab 1904 wurde Betty meist nur noch von den jüngeren Söhnen begleitet, die Schweizer Fahrt von 1908 war die letzte gemeinsame Familienreise. Betty berichtet über die folgenden Urlaube »In den großen Ferien reiste ich meistens nur mit Werner u. Gerhard. Beide waren Bücherwürmer und ich ließ sie gewähren! « 52 Dieses Gewährenlassen war wichtig für die Söhne, deren Verhältnis zum Vater bald in offene Rebellion umschlagen sollte. 46 Ebenda, S.-17. 47 Ebenda, S.-13. 48 Brief Reinhold an Gershom Scholem, Brief Nr. 94, GSA Jerusalem. Reinhold datiert diese Reise auf 1908 und berichtet, es sei die letzte gemeinsame Familienreise gewesen. 49 Auch für das jüdische Bürgertum gab es besonders beliebte Ziele, vgl. dazu Mirjam Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad: Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne, Göttingen 2007. 50 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-529f. 51 Ebenda, S.-309, 353. Auch Renee Goddard, Tochter von Werner Scholem, erinnert sich lebhaft an diese Leidenschaft ihres Vaters (persönliches Gespräch vom 8.10.2009). 52 Ebenda, vgl. auch Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-25. <?page no="26"?> 26 1. Jugendjahre (1895 - 1914) 1.2 Vier ungleiche Brüder Alle vier Söhne von Arthur und Betty Scholem besuchten das Luisenstädtische Realgymnasium in Berlin, eine traditionsreiche Gründung aus dem Jahr 1836. Schon Arthur selbst und seine drei Brüder hatten dort die Schulbank gedrückt. 53 Das »Realgymnasium« war ein Kompromiss zwischen dem »humanistischen Gymnasium« mit seiner Anlehnung an die griechisch-römische Antike und den Realschulen, die sich auf moderne Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften konzentrierten. Um das Abitur vergeben zu dürfen, mussten die Realgymnasien den Lateinunterricht aufnehmen, durften aber auf das Altgriechische verzichten. 54 Im Rückblick kritisierte Werner Scholem dies als Kompromiss auf dem Rücken der Schüler: »Die Realgymnasien sind ein unglückliches Zwitterding zwischen dem Gymnasium und der Realschule. Die Überlastung und Zersplitterung der Schüler in den Realgymnasien ist ganz besonders stark, da hier beide Geistesrichtungen, die sprachlich-geschichtliche und die mathematisch-naturwissenschaftliche, zusammengeschmiedet werden. Dieses Zusammenschmieden kann natürlich zu nichts Gutem führen.« 55 Werner äußerte dies 1922, noch Jahre nach dem Ende seiner Schulzeit klangen Überforderung und Auflehnung gegen fremdbestimmte Inhalte durch. Die Überlastung der Lehrpläne äußerte sich auch darin, dass von den Eltern verlangte berufspraktische Inhalte außen vor blieben: Reinhold und Erich Scholem besuchten auf Veranlassung des Vaters zusätzlich private Sprachkurse im Englischen und Französischen. 56 Schon während ihrer Schulzeit nahmen die vier Scholem-Brüder höchst unterschiedliche Wege. Reinhold und Erich waren von Arthur für die Nachfolge des Betriebes ausersehen und gingen in dieser Rolle auf. Reinhold verließ das Gymnasium schon nach dem »Einjährigen«, also der mittleren Reife. Danach begann der Siebzehnjährige eine Lehre als Setzer in den Druckereien des Vaters und des Onkels Theobald. Es folgten ab 1909 drei Jahre Berufspraxis in London, Paris und Turin. Weihnachten 1911 kehrte er für einige Monate zurück in den elterlichen Haushalt und arbeitete wieder im Geschäft mit. Mit einundzwanzig Jahren leistete Reinhold dann im Oktober 1912 seinen Wehrdienst als »einjährig-Freiwilliger« bei einem Telegraphen-Bataillon in Berlin-Treptow ab. Dieser verkürzte Miltärdienst war eine Sonderregelung, die ein Jahrhundert zuvor in der preußischen Armee eingeführt worden war. 57 Junge Männer, die das Abitur oder die Mittlere Reife vorweisen konnten, 53 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.- 529. Zur Geschichte der Schule existieren zwei Jubiläumsschriften: »1836-1936. Festschrift zur Feier des 100 jährigen Bestehens des Luisenstädtischen Realgymnasiums«, Ohne Autor, Berlin 1936; sowie Meyer, Alfred Gustav: Zur Geschichte des Luisenstädtischen Realgymnasium 1836-1911, Berlin 1912. 54 Die Realgymnasien hatten sich aus Bürgerschulen und Realschulen entwickelt, die wegen ihrer berufspraktischen Inhalte vom kaufmännisch und technisch orientierten Bürgertum bevorzugt wurden. Sie hatten allerdings den Nachteil, dass sie keinen Zugang zu Universität und höherem Staatsdienst boten. Die Bezeichnung »Realgymnasium« wurde 1882 eingeführt, der dahinterstehende Kompromiss hatte sich jedoch schon zuvor entwickelt. Vgl. Helmut Becker u. Gerhard Kluchert, Die Bildung der Nation - Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Stuttgart 1993, S.-6. 55 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 105. Sitzung am 23. Februar 1922. 56 Die folgenden biographischen Daten nach Briefen von Reinhold an Gershom Scholem vom 29. Februar 1972 sowie 10. Februar 1978 mit Lebensläufen von Reinhold und Erich, jeweils GSA Jerusalem. Einen ersten Vergleich der Biographien unternahm Jay Howard Geller: The Scholem Brothers and the Paths of German Jewry 1914-1939, in: Shofar 30, Heft 2, 2012, S.-52-73. 57 Vgl. Lothar Mertens: Das Privileg des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes im Kaiserreich und seine gesellschaftliche Bedeutung, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 39/ 1, S.-59-66, 1986. S.-61. <?page no="27"?> 27 1.2 Vier ungleiche Brüder durften nach diesem Paragraphen »freiwillig« einen verkürzten einjährigen Wehrdienst ableisten. 58 Alle anderen, die nur die achtjährige Volksschule besucht hatten, mussten volle drei Jahre Wehrdienst leisten. Bildungshürde und die zusätzliche Anforderung, die Ausrüstungs selbst zu finanzieren, sorgten dafür, dass nur Söhne aus Bürgertum und Adel von der Regelung Gebrauch machen konnten. Trotz der verkürzten Ausbildungszeit rekrutierte sich das Offizierskorps der kaiserlich-preußischen Armee vor allem aus Einjährig-Freiwilligen, denn für den Offiziersstand war Bildung unbedingte Voraussetzung. Das deutsche Kaiserreich war eine Gesellschaft, in der nicht nur beim Militär adelige und bürgerliche Offiziere über Soldaten aus dem »einfachen Volke« kommandierten. Im Berufsleben und in den wohlhabenden Haushalten mit ihren Dienstboten setzten sich diese Hierarchien fort. Ganz nonchalant bezeichnete Betty Scholem in ihren Briefen Vermittlungsstellen für Dienstmädchen als »Sklavenmärkte«. 59 Dies war ironisch, vielleicht sogar mitfühlend gemeint - und doch nahm sie ganz selbstverständlich die Befreiung von Hausarbeit als Privileg in Anspruch. Familie Scholem mit Köchin, Dienstmädchen und Gymnasialausbildung für die Söhne befand sich am oberen Ende dieser hierarchischen Gesellschaft, in der Klassenzugehörigkeit nicht hinter einer Fassade demokratischer Gleichheit verborgen lag, sondern offen zur Schau gestellt wurde. Auch Werners Bruder Erich diente ab Oktober 1914 als einjährig-Freiwilliger. Sein Militärdienst ging jedoch nahtlos über in die Schrecken des Weltkrieges, in dem die alte Ordnung des Kaiserreiches ihr Ende fand. Erich absolvierte wie Reinhold eine Ausbildung zum Drucker und arbeitete seit Anfang 1912 beim »Manchester Guardian« in England, von 1913 bis zum Sommer 1914 dann in Paris. Die Auslandsaufenthalte prägten die älteren Brüder nachhaltig, noch über sechzig Jahre später erinnerte sich Reinhold: »Ich bin noch heute Vater dankbar, dass er mich drei Jahre ins Ausland geschickt hat, wo die Erfahrungen der verschiedenen Umgebungen einen dauernden Eindruck auf mich gemacht haben. Damals waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern viel größer als heute, wo alles mehr oder weniger dem internationalen amerikanischem Beispiel folgt.« 60 Altersunterschied, Militärdienst und Auslandsaufenthalte bedeuteten, dass die Älteren früh den Kontakt zur ihren jüngeren Brüdern verloren. 61 Erich und Reinhold hatten ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater und nahmen die Rolle als Nachfolger im Betrieb dankbar an. Auch politisch standen sie Arthur näher, was die Kluft zwischen älteren und jüngeren vertiefte - Gerhard schrieb später an Reinhold: »Wir haben uns daher in dieser Zeit Deines Jahres als Einjähriger und Deiner Residenz im kleinen Zimmer gegenüber dem Schlafzimmer unserer Eltern oft genug gesehen, obwohl wir sicherlich kaum je über irgendeinen ernsten Gegenstand wirklich gesprochen haben. Der Abstand in den Jahren war damals viel zu groß, von den verschiedenen Richtungen unserer Anschauungen und geplanten Lebensläufe ganz abgesehen.« 62 Auch wenn es zu Gesprächen kam, verliefen diese nicht unbedingt glücklich: »Ich entsinne mich noch an die Qualen, die ich bei den Reden ausstand, 58 Für Nichtabiturienten war das Privileg über längere Zeit umstritten, erst 1877 wurde der erfolgreiche Abschluss der Untersekunda als Voraussetzung für das »Einjährige« festgeschrieben. Diese Regelung galt bis zum Ende des Kaiserreichs. Vgl. Becker/ Kluchert, Die Bildung der Nation, S.-5. 59 Betty Scholem an Gerhard Scholem vom 30. Mai 1920. Vgl. Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-71ff. 60 Brief Reinhold Scholem an Gershom Scholem vom 29. Februar 1972, GSA Jerusalem. 61 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-36. 62 Brief Gershom an Reinhold Scholem vom 24. Mai 76, GSA Jerusalem. <?page no="28"?> 28 1. Jugendjahre (1895 - 1914) die du als Einjähriger im Jahre 1913, ich glaube bei dem Telegraphenregiment in Treptow, während deiner Besuche bei uns zu Hause hieltest. Ich verhielt mich dabei vollkommen schweigend, wie überhaupt zu allem, was in meinem Elternhause, vor allem von Vater, über solche Themen geäußert wurde. Dies Schweigen und die hebräischen Studien […] erbitterten unsern Vater außerordentlich. Du hast das alles kaum miterlebt, weil du die ganze Zeit, mit Ausnahme des Dreivierteljahres zwischen Deiner Entlassung vom Militär und dem Kriegsausbruch, gar nicht zu Hause warst. So hast du meine Jugendgeschichte und Entwicklung leider übersprungen und musstest staunen, dass du nach dem Kriege 1920 einen auf einem anderen Planeten lebenden Menschen vorfandst.« 63 Ähnlich entfremdet muss das Verhältnis zwischen Reinhold und Werner gewesen sein, denn auch hier kamen Altersunterschied, Abwesenheit und früher politischer Dissens zusammen. Für Gerhard und Werner waren die nationalen Reden des Bruders unerträglich. Reinhold wusste dies und provozierte genüßlich - etwa, indem er 1919 die »deutsche Idee« gegen die von »Kaffeehaussozialisten« und »ähnlichem Gelichter« angeführte Münchener Räterepublik verteidigte. 64 Gerhard berichtete in seinen Memoiren, dass sich sein ältester Bruder noch 1938 im australischen Exil als »deutschnational« bezeichnete und auf Nachfrage ironisch bemerkte: »Ich werde mir doch meine Anschauungen nicht von Hitler vorschreiben lassen.« 65 Reinhold selbst widersprach allerdings dieser oft zitierten Anekdote. Er bezeichnete sich als »rechtsliberal« und habe mit dem Ausspruch nur seine Zugehörigkeit zur Deutschen Volkspartei ausdrücken wollen, jener 1919 gegründeten Sammelbewegung des deutschen Konservatismus. 66 Mit dem Alter hatten sich Reinholds Einstellungen gewandelt, Flucht und Exil ließen vom Nationalismus seiner Jugend wenig übrig. In den größtenteils unveröffentlichten Altersbriefen erscheint er nicht als unverbesserlicher Deutschnationaler, sondern als Gestrandeter, unfreiwillig vom Hauptstrom der deutschen Kultur abgeschnitten. Im Jahr 1965 schrieb er nach Jerusalem: »Irgendjemand hat mal geschrieben: das Deutschtum das wir erstreben, ist ein Ideal und hat es nie gegeben.« 67 Insbesondere zur deutschen Literatur verspürte Reinhold zeit seines Lebens eine intensive Bindung, auch wenn nach der Katastrophe des Holocaust für ihn und seine Familie ein Leben in Deutschland nicht mehr in Frage kam. 68 Während Reinhold zum rechten Flügel des Liberalismus tendierte, war Erich Scho- 63 Brief Gershom an Reinhold Scholem vom 29. Mai 1972, GSA Jerusalem. Vgl. auch Gershoms Brief an Reinhold vom 24. Mai 1976, GSA Jerusalem: »denn ich habe vergessen, dass du 1912 neun Monate zuhause warst, wo wir beide also mit Werner in den zwei Zimmern für die vier Kinder waren. Aber zwischen einem Fünfzehnjährigen und einem Zwanzigjährigen gibt es nur selten Kontakte«. 64 Reinhold an Gershom Scholem, 25.11.1919, in Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-58. 65 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-47. 66 Brief Reinhold an Gershom Scholem vom 18. Juli 1977, in: Gershom Scholem, Briefe, Bd. III, S.-391. Der Brief bezieht sich nicht auf die Schrift »Von Berlin nach Jerusalem«, sondern auf ein Interview von Gershom, in dem die Anekdote bereits enthalten war. Die Deutsche Volkspartei (DVP) hatte 1919 das Erbe der Nationalliberalen angetreten. Sie vereinte eine Minderheit von »Vernunftrepublikanern« mit einer monarchistischen Mehrheit. Für den Republikanismus stand vor allem Parteiführer Gustav Stresemann, ein Bekenntnis zur Republik gab die Partei erst nach dem Mord an Matthias Erzberger 1921 ab, jedoch bemerkt Hagen Schulze dazu, es sei offensichtlich »daß aus dem monarchistischen Saulus nicht über Nacht ein demokratischer Paulus geworden war«. Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a. M. 1977, S.-342. 67 Reinhold an Gershom Scholem vom 10. Oktober 1965, GSA Jerusalem. 68 Ebenda. <?page no="29"?> 29 1.2 Vier ungleiche Brüder lem schon als junger Mann linksliberal eingestellt. Er war Mitglied des »Demokratischen Klubs« und später der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), in die auch Betty Scholem 1919 als Gründungsmitglied eintrat. 69 Ebenso wie sie war Erich jedoch nicht eigentlich politisch engagiert, »Er wollte vor allem Ruhe haben und so wenig wie möglich sich festlegen.« 70 Gerhard schrieb über Erich, er habe eine «merkwürdig schnelle und sichere natürliche Intelligenz« und gleichzeitig »der Mitwelt gegenüber ein gesundes Mißtrauen […] er war immer ziemlich stark in sich selbst verschlossen.« 71 Erich und Reinhold wurden im Januar 1920 Mitinhaber der Druckerei Scholem und führten sie nach dem Tode des Vaters 1925 weiter. 72 Eigentlich sollten sie die Geschäfte schon eher übernehmen, Krieg und Revolutionszeit hatten dies jedoch verhindert. Ihre Beziehungen zu Arthur bezeichnete Reinhold als »ausgezeichnet«, schnell ließ der Vater ihnen in geschäftlichen Dingen freie Hand und folgte auch in größeren Entscheidungen ihrem Rat. 73 Beim Geschäft konnte Arthur Scholem sehr kooperativ sein. Dies war eine Sprache, die er verstand, hier tolerierte er andere Meinungen. Für die Druckerei hatten Erich und Reinhold nicht nur geschäftliches, sondern auch ästhetisches Interesse: Beide sammelten künstlerisch gestaltete Literaturdrucke und waren Mitglieder bibliophiler Gesellschaften, für die sie in ihrer Druckerei auch eigene Kunst- und Sonderdrucke herstellten. 74 Während die älteren Brüder im Fahrwasser der Eltern blieben, begehrten die Jüngeren auf. Den Anfang machte 1908 der zwölfjährige Werner, der laut Aussage seines Bruders »ein sehr bewegliches Naturell hatte, das schon früh in Opposition gegen das Elternhaus umschlug«. 75 Gershom berichtet von einem Streit Werners mit den Eltern, die Richtung dieser Rebellion bleibt unklar. Liest man spätere Briefe von Arthur aus dem Jahr 1917, so wird allerdings schnell klar, wie dessen Erziehungsstil Widerstand geradezu herausforderte. 76 Arthur verlangte gute »Führung« von seinen Söhnen und weigerte sich, auf ihre Eigenheiten einzugehen. Insbesondere bestand er darauf, dass sie sich auf eine »wirkliche Arbeit«, eine »feste Tätigkeit« vorbereiteten - worunter er eine geschäftliche Karriere nach dem Muster seiner eigenen verstand. Alternativen konnte er nicht denken. Er tat die sich anbahnende wissenschaftliche Laufbahn Gerhards als »Spielerei« ab, als dieser bereits mit hebräischem Unterricht eigenes Geld verdiente. Geld ist ein Schlüsselwort: auch wenn es in den Familiengesprächen zunächst keine Rolle spielte, setzte Arthur später bedenkenlos Finanzen als Druckmittel ein, um die jüngeren Söhne auf eine genehme Bahn zu zwingen. 77 Ohne genau zu wissen, was 1908 vorgefallen 69 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-25. 70 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. S.-47. 71 Gershom Scholem an Erichs Witwe Hilde Scholem, 26. Februar 1965, GSA Jerusalem. 72 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.- 60 und S.- 539 sowie Brief von Reinhold an Gershom Scholem vom 10. Februar 1978, GSA Jerusalem. Laut Handelsregister wurden Reinhold und Erich am 30. Dezember 1919 als haftende Gesellschafter aufgenommen, vgl. Arthur Scholem Buch- und Steindruckerei, Amtsgericht Charlottenburg, LArch Berlin, A Rep. 342-02, Nr. 42380. 73 Reinhold an Gershom Scholem vom 10. Februar 1978, GSA Jerusalem. 74 Ebenda, zum bibliophilen Engagement von Erich und Reinhold vgl. auch Fritz Homeyer: Deutsche Juden als Bibliophilen und Antiquare, 2., erw. und verb. Aufl., Tübingen 1966. Eine Aufstellung der Privatdrucke Erich und Reinhold Scholems findet sich im Internet unter: http: / / meyerbuch.wordpress.com/ 2009/ 10/ 25/ bibliographie-der-privatdrucke-reinhold-erich-scholems-1920-1931/ (Zugriff 22.9.2012). 75 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-36. 76 Zum Folgenden vgl. Arthur Scholem an Gerhard Scholem, 15. Februar 1917 und 12. Mai 1917, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-13f. 77 Betty Scholem u. Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-13f. <?page no="30"?> 30 1. Jugendjahre (1895 - 1914) ist, können wir somit die Grundlinien des Konfliktes erahnen. Arthur, der durch seinen jähzornigen Vater Siegfried geprägt war und einst als junger Rebell dessen Haus verließ, lernte am Ende wenig aus seinem Aufbegehren. Er übernahm Siegfrieds Mentalität von deutscher Tüchtigkeit und prägte sie den eigenen Söhnen ein. Erich und Reinhold störten sich nicht daran, genossen mit Auslandsreisen die Privilegien des Unternehmertums. Doch Arthur arbeitete nicht für die Annehmlichkeiten des Lebens - er lebte, um zu arbeiten. Seine Einstellung war trotz des stolzen Judentums eine protestantische Arbeitsethik ohne Transzendenz. Das Geschäft wurde von der ökonomischen Notwendigkeit zum Selbstzweck, der Berufsverband ersetzte das Familienleben. Werner und Gerhard entzogen sich dieser Leere schon im Kindesalter. Sie suchen nach eigenen Inhalten, wurden Bücherwürmer und lasen unter dem Schutz der Mutter. Betty vermittelte Geborgenheit, konnte aber wenig eigene Werte setzen, weil sie auf Ausgleich bedacht war. Bereits im Kindesalter bemerkte Gerhard, dass seine Mutter »ohne Bedenken an verschiedenen Orten einander widersprechende, den Gastgebern aber angenehme Meinungen äußerte.« 78 Betty Scholem stellte das Vertreten eigener Ideen zurück, zugunsten des Ausgleichs der Persönlichkeiten. Dies schützte die Brüder in Familienkonflikten und schaffte ihnen unersetzliche Freiräume. Doch womit sollten diese gefüllt werden? Auf der einen Seite stand das inhaltsleere Wertesystem des Vaters, auf der anderen Seite das Laissez Faire der Mutter. Gerhard und Werner, beide intelligent und auf ihre Art überaus zielstrebig, fanden in dieser Umgebung keinen Halt. Schon früh übte Werner Streit, Trotz, ungerichtetes Aufbegehren. Die Konsequenzen bedeuten einen ersten harten Einschnitt in seinem Leben, wie Gershom berichtet: »Dies veranlaßte meine Eltern, ihn etwa 1908 für zwei oder drei Jahre in die Samsonschule nach Wolfenbüttel zu schicken, ein jüdisches Internat mit einer Realschule verbunden, eine schon hundert Jahre alte Gründung aus der Zeit des Königreichs Westfalen.« 79 Tatsächlich reichten die Wurzeln der Samsonschule noch weiter in die Vergangenheit. Sie ging zurück auf ein 1786 von Phillip Samson eingerichtetes Bet ha-Midrasch, also ein Lehrhaus für Talmud und Thora. 80 Ihr bekanntester Schüler war im Jahre 1803 Leopold Zunz (1794-1886), Begründer der »Wissenschaft des Judentums«. Zunz war zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer von nur fünf Schülern, die in einem einzigen Raum lebten, lernten und sich dabei überwiegend mit religiösen Dingen beschäftigten. Als Werner Scholem hundert Jahre später an die Samsonschule kam, hatten sich die Verhältnisse sehr verändert. 81 Aus der winzigen und vom Stadtleben abgeschotteten Talmudschule hatte sich eine staatlich anerkannte Lehreinrichtung mit berufsorientierten Inhalten entwickelt, deren etwa 150 Schüler aus einem weiten Einzugsgebiet kamen. 82 Die Samsonschule war eine reine Jungenschule, Religion war bei Werners Einschulung nicht mehr dominanter Lehrinhalt, das Judentum gehörte jedoch zu den Leitwerten der Schule. Laut Melderegister der Stadt Wolfenbüttel kam Werner Scholem nicht 1908 an die Samsonschule, sondern am 15. Oktober 1909, etwa zwei Monate vor seinem vierzehnten 78 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-24. 79 Ebenda, S.-37. 80 Maike Berg, Jüdische Schulen in Niedersachsen. Tradition - Emanzipation - Assimilation. Die Jacobson Schule in Seesen (1801-1922) - Die Samsonschule in Wolfenbüttel (1807-1928), Köln-Weimar-Wien 2003, S.-80-83. 81 Bereits 1807 begann in Form einer Neugründung eine lange Reihe von Schulreformen, Ebenda, S.-40. 82 Die Schule nahm hauptsächlich auswärtige Internatsschüler auf. Vgl. Berg, Jüdische Schulen in Niedersachsen, S.-225-227, Tabelle zu Schülerzahlen auf S.-257f. <?page no="31"?> 31 1.2 Vier ungleiche Brüder Geburtstag. 83 Er besuchte eineinhalb Jahre den Unterricht und lebte im angeschlossenen Internat, bevor er am 30. März 1911 nach Berlin zurückkehrte. Persönliche Unterlagen oder Zeugnisse haben sich aus dieser Zeit nicht erhalten. Aus zeitgenössischen Dokumenten lässt sich jedoch einiges über die Atmosphäre erfahren, in der Werner Scholem den Übergang vom Kind zum jungen Mann erlebte. Das Gebäude der Samsonschule steht heute noch, ein schmuckloser, aber durchaus beeindruckender Backsteinbau mit zwei Türmen. Die jährlich herausgegebene Broschüre mit »Schulnachrichten« pries das idyllische Ensemble: »Die Lage des Neubaues ist in gesundheitlicher wie in erziehlicher Hinsicht eine außerordentlich günstige. Fern vom Getriebe der Stadt erhebt er sich in freier, gesunder Lage, von Wald und Gärten umgeben, ganz nahe am Lechlumer Holz.« 84 Mit anderen Worten: die Schule lag weit vom Schuss am Waldrand, fern von Kneipen, Tanzabenden, Mädchen und allem, was heranwachsende Jungen interessant finden mochten. Immerhin gab es eine Straßenbahnstation, das war es dann aber auch. 85 Das Schulgebäude war in Werners Geburtsjahr 1895 vollendet worden und galt dementsprechend bei seiner Einschulung noch als »Neubau«. 86 Die Samsonschule war eine Realschule, kein Realgymnasium, sie verlieh keine Hochschulreife. Arthur wollte seinem Sohn die Flausen austreiben und ihn ins praktische Leben zwingen. Die Samsonschule erschien dafür bestens geeignet. Hier lernte man Englisch 83 Melderegister nach Straßen 1888-1913, NLA Wolfenbüttel, 34N Nr. 4566. 84 Samsonschule zu Wolfenbüttel - Bericht über die Zeit von Ostern 1896 bis Ostern 1897 erstattet von dem Direktor Dr. Ludwig Tachau, NLA Wolfenbüttel, S.-3. 85 Samsonschule in Wolfenbüttel - Aufnahme-Bedingungen, Wolfenbüttel 1905, NLA Wolfenbüttel. 86 Stolz und detailliert wurde in den Schulnachrichten auf technische Einrichtungen wie Zentralheizung, Gasanschlüsse und zentrale Warmwasserversorgung hingewiesen. Vgl. Samsonschule zu Wolfenbüttel - Bericht über die Zeit von Ostern 1896 bis Ostern 1897 erstattet von dem Direktor Dr. Ludwig Tachau, NLA Wolfenbüttel. Samsonschule Wolfenbüttel 1895 <?page no="32"?> 32 1. Jugendjahre (1895 - 1914) und Französisch statt Latein und Griechisch, als Beruf der Eltern findet sich in den Absolventenlisten mit überwältigender Mehrheit die Angabe »Kaufmann«, in den meisten Fällen identisch mit dem ebenfalls notierten Berufsziel der Schulabgänger. 87 »Viele westdeutsche jüdische Kaufleute, Viehhändler und Metzgermeister schickten ihre Kinder dorthin« schrieb Gershom Scholem lapidar. 88 Wie sich die Schulleitung den Alltag im Internat vorstellte, lässt sich an einer Broschüre aus dem Jahr 1905 ablesen. Dort heißt es unter der Überschrift »Das Leben in der Anstalt«: »Sämtliche im Hause wohnende Zöglinge […] werden ohne Unterschied gleich liebevoll behandelt. Die Erziehung in der Samsonschule nimmt sich, so weit angängig, das Familienleben zum Vorbilde und bemüht sich nach Kräften, den Kindern das Elternhaus zu ersetzen. In erster Linie sind dazu die Hauseltern berufen.« 89 Die »Hauseltern« waren ein angestelltes Ehepaar, das im Internatsgebäude lebte. Über ihre Aufgaben hieß es: »Ihnen liegt, unter Aufsicht des Direktors, die körperliche Pflege der Zöglinge ab. Die Knaben speisen gemeinschaftlich mit den Hauseltern und einem Lehrer. […] Das Leben in der Anstalt ist dem jüdischen Rituale entsprechend. An Sabbathen und Festtagen findet kein Unterricht statt.« 90 Im Folgenden wurde ein besonders prägender Zug der Schule hervorgehoben: »Die Zöglinge sind während des ganzen Tages unter Aufsicht eines Lehrers. Ein Lehrer wohnt unmittelbar neben den Schlafsälen […]. Die Aufsicht ist keine den jugendlichen Frohsinn störende, sondern ein freundliches Überwachen der Gesamtheit.« 91 Das »freundliche Überwachen der Gesamtheit« war schon in der Architektur des Gebäudes angelegt, wo »sämtliche Zöglinge in einem Stockwerk übersichtlich vereinigt« wurden. 92 Die Schüler waren während des Unterrichts zusammen, nahmen alle Mahlzeiten in einem gemeinsamen Speisesaal ein, verbrachten die Nachmittage in verschiedenen »Arbeitszimmern«, die Abende mit gemeinsamen Gesellschaftsspielen, die Nächte im Schlafsaal. 93 Der maß sechzig mal sechs Meter und enthielt 99 Betten mit Eisengestell, ein zweiter Saal immerhin 41 Betten. 94 Auch die Morgenwäsche fand kollektiv statt: »Der große Waschsaal, zu dem der Flurgang vor dem Schlafsaal in seiner ganzen Lage eingerichtet worden ist, […] enthält 105 Waschstände. Jedes Waschbecken hat einen eigenen Wasserzufluss […] Die einzelnen Waschstände werden durch einen hölzernen Handtuchhalter von einander geschieden.« 95 Die Duschen mit nur jeweils zwanzig Plätzen für die »Zöglinge« muteten da fast schon gemütlich an. 96 Aus den Beschreibungen ergibt sich, dass Werner Scholem in der Samsonschule des Jahres 1910 keinerlei Privatsphäre hatte. Nicht nur der Unterricht, sondern sämtliche Körperfunktionen vom Schlaf über das Zähneputzen bis hin zu Mahlzeiten und Brausebad wurden kollektiv verrichtet, unter ständiger Aufsicht mindestens ei- 87 Samsonschule zu Wolfenbüttel. Bericht über die Zeit von Ostern 1909 bis Ostern 1910, NLA Wolfenbüttel. 88 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-37. 89 Samsonschule in Wolfenbüttel - Aufnahme-Bedingungen, Wolfenbüttel 1905, NLA Wolfenbüttel. 90 Ebenda. Der »Samsonsche Legatenfonds« war das Stiftungsvermögen der Schule. 91 Ebenda 92 Samsonschule zu Wolfenbüttel - Bericht über die Zeit von Ostern 1896 bis Ostern 1897 erstattet von dem Direktor Dr. Ludwig Tachau, NLA Wolfenbüttel, S.-4. Im Schulgebäude wohnten neben den 150 »Zöglingen« der Direktor, die Hauseltern und jeweils zwei unverheiratete Lehrer. 93 Samsonschule in Wolfenbüttel - Aufnahme-Bedingungen, Wolfenbüttel 1905, NLA Wolfenbüttel. 94 Samsonschule zu Wolfenbüttel - Bericht über die Zeit von Ostern 1896 bis Ostern 1897 erstattet von dem Direktor Dr. Ludwig Tachau, NLA Wolfenbüttel, S.-6. 95 Ebenda. 96 Ebenda. <?page no="33"?> 33 1.2 Vier ungleiche Brüder ner Lehrkraft. Ob die Schule so den Anspruch eines »dem Familienleben nachgebildeten« Alltags erfüllen konnte? Faktisch glich das streng regulierte Schulleben mehr den Abläufen in einer Kaserne. Konsequenterweise warb die Schule mit dem Privileg, auf den einjährigfreiwilligen Militärdienst vorzubereiten, auch das Gebäude erinnerte mit seiner Backsteinfassade an zeitgenössische Militärarchitektur. Für den dreizehnjährigen Werner war der Schulalltag eine schmerzhafte Umstellung. Er verlor die schützenden Freiräume, die ihm seine Mutter gewährt hatte, verlor die Gemeinschaft mit dem jüngeren Bruder und stand unter ständiger Kontrolle einer misstrauischen Lehrerschaft, deren pädagogische Konzepte von Arthur Scholem selbst hätte stammen können. Denn die Samsonschule legte außerordentlichen Wert auf eine Erziehung im nationalen Sinne. Sie wollte ihre Zöglinge so bilden, dass sie »dies Land lieben mit Herz und Hand in treuer Liebe bis zum Grabe, […] daß sie opferwillig und in unerschütterlicher Ergebenheit zu Kaiser und Reich stehen.« 97 Neben dem Geburtstag des Kaisers und dem Jahrestag der Schlacht bei Sedan wurde jedes Jahr auch der Geburtstag des Herzog-Regenten von Braunschweig vom Direktor mit einer patriotischen Ansprache gewürdigt. 98 Judentum und hebräische Sprache waren Schulstoff, alle Schüler und Lehrer waren Juden - aber der Geist der Schule kaum darauf angelegt, eine wie auch immer geartete jüdische Identität zu pflegen. In den Schulnachrichten wurde nichts über jüdische Erziehung berichtet, aber alle Deutschaufsätze der Klassenstufen aufgezählt. Für die Vierzehnjährigen in der Tertia, was ungefähr Werners Alter entsprach, ging es im Schuljahr 1910/ 1911 um den »Einzug des Helden in die Walhalla«, die »Hunnenfahrt der Burgunden«, um Sachsenherzog Heinrich und Konrad I., abschließend wurde gefragt: »Wodurch erregt das Nibelungenlied unser Interesse für Sigfried bis zu seinem Kampfe gegen die Sachsen und Dänen? « 99 Da die Altersspanne in den Klassenstufen zwei bis drei Jahre umfasste, wissen wir nicht, ob Werner exakt diese Aufsatzthemen gestellt bekam. Doch die nationalromantische Ausrichtung des Lehrplans ist offensichtlich. Weder Lessing als größter Bürger Wolfenbüttels noch seine zur Versöhnung zwischen Christen, Juden und Muslimen aufrufende »Ringparabel« hatten in der Samsonschule Spuren hinterlassen. Das Judentum blieb dort äußere Form, dahinter stand das Nibelungenlied. Arthur Scholem ließ sich die Erziehung seines Sohnes in diesem Geiste über 900 Reichsmark Schulgeld im Jahr kosten. 100 Die Kombination aus Sozialkontrolle und Deutschtümelei wirkte erstickend auf den Heranwachsenden. Gershom erinnerte sich noch Jahrzehnte später an Werners Klagen: »Mein Bruder wurde hier mit einem nicht geringen Ausmaß von religiöser Heuchelei und falschem Patriotismus bekannt, das ihn heftig abstieß. Die Schule wurde streng deutschnational, aber unter Beibehaltung einiger Hauptstücke des jüdischen Rituals, des (verkürzten) täglichen Gebets und der koscheren Küche geführt. In den Ferien bekam ich darüber von meinem Bruder, der sich schon damals an mir rhetorisch zu versuchen begann, einige zynische Vorträge und Herzensergießungen zu hören.« 101 Erst nach eineinhalb Jahren Exil in Wolfenbüttel konnte Werner seine Rückkehr durchsetzen - besuchte dann allerdings nicht mehr 97 Aus einer Selbstdarstellung der Schule von 1906, zit. nach Berg, Jüdische Schulen in Niedersachsen, S.-231. 98 Vgl. Samsonschule zu Wolfenbüttel. Bericht über die Zeit von Ostern 1910 bis Ostern 1911, NLA Wolfenbüttel. 99 Ebenda. 100 Samsonschule in Wolfenbüttel - Aufnahme-Bedingungen, Wolfenbüttel 1905, NLA Wolfenbüttel. 101 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-37, Kursives im Original. <?page no="34"?> 34 1. Jugendjahre (1895 - 1914) dieselbe Schule wie Gerhard, sondern das Dorotheenstädtische Realgymnasium. 102 Er blieb nun ganze zwei Jahre in Berlin, aber die Spannungen mit dem Vater nahmen nicht ab. Nach einem erneuten Krach, der sich diesmal um Werners beginnendes politisches Engagement in der sozialistischen Arbeiterjugend drehte, erfolgte eine weitere Verbannung nach Hannover. Hier besuchte der mittlerweile siebzehnjährige Werner ab 1913 das »Gildemeistersche Institut«, wo er sich auf eine spätere Abiturprüfung in Berlin vorbereiten sollte. 103 Das Studium war nicht mehr gestrichen, die Disziplinierung durch Verbannung blieb. Gildemeisters Institut firmierte als »Vorbereitungsanstalt für alle höheren Militär- und Schul- Examina«. Im Volksmund waren derartige Anstalten als »Knabenpresse« berüchtigt, weil sie ihren Schülern den Prüfungsstoff innerhalb kürzester Zeit einprägen sollten. 104 Im Institut war Werner Banknachbar eines jungen Mannes namens Ernst Jünger, der später mit einem Tagebuch unter dem martialischen Titel »In Stahlgewittern« Berühmtheit als Schriftsteller errang. Jünger erinnerte sich: »Werner Scholem saß neben mir auf einer Schulbank in ›Gildemeisters Institut‹. Das war der Name einer hannoverschen Presse für Schüler, die entweder aus den Staatsschulen geschaßt waren oder dort versagt hatten.« 105 Jünger und Scholem waren Schulkameraden, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Werner, der jüdische Sozialist, antinational eingestellt, mit Sympathien für den Zionismus und ein entschiedener Gegner von Militär und Militarismus. Direkt daneben Ernst Jünger, Protestant mit deutschnationaler Gesinnung und schwärmerisch begeistert für alle Spielarten soldatischen Heldentums. So begeistert, dass er sich im November 1913 mit gerade einmal achtzehn Jahren zur französischen Fremdenlegion gemeldet hatte und in Algerien zum Wüstenkämpfer ausbilden ließ. Eine Episode, die mit der zwangsweisen Rückführung durch eine Intervention des Auswärtigen Amtes endete. 106 Im Sommer 1914 drückten beide in Hannover die Schulbank, verbannt von ihren Vätern, jugendliche Rebellen ganz unterschiedlicher Art. Werner hinterließ bleibenden Eindruck auf Ernst Jünger. In einem Briefwechsel erkundigte er sich Jahrzehnte später bei Gershom Scholem nach dem Schicksal Werners. 107 Noch als Hundertjähriger erinnerte sich Jünger an die gemeinsame Schulzeit. 108 102 Ebenda, S.-36f. Gershom Scholem erwähnt den Namen der Schule nicht, bei einer richterlichen Befragung am 13. Oktober 1921 gab Werner selbst allerdings das Dorotheenstädtische Realgymnasium als Teil seiner Schullaufbahn an, ebenso im Reichstagshandbuch für 1924. Vgl. Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne in Berlin wegen Hochverrats. 1921, BArch, R 3003, 11 J 16/ 1921, Bd. 1; sowie Bureau des dt. Reichstags (Hg.), Reichstagshandbuch II. Wahlperiode 1924, S.-516. 103 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-46. 104 Die Schule in der Hannoveraner Hedwigstraße wurde vor allem von Eltern aus »gut situierten« Elternhäusern besucht, ihre Klientel waren »schwer erziehbare und leistungsschwache Kinder«. Vgl. Artikel »Die Knabenpresse«, Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 11. Juli 2009. Neben der Hedwigstraße hatte das Institut auch Unterrichtsräume in der Ludwigstraße, heute Johannsenstraße. 105 Ernst Jünger, Späte Arbeiten - Verstreutes - Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S.181ff. 106 Zur Biographie Jüngers vgl. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007. 107 Ernst Jünger - Gershom Scholem. Briefwechsel 1975-1981, In: »Sinn und Form«, Heft 3/ 09, S.-293-302, herausgegeben von der Akademie der Künste, Berlin. Vgl. dazu auch zwei Artikel von Mirjam Triendl- Zadoff in der Zeitschrift Freitag: »Der unsichtbare Bruder«, 25. Juli 2009 sowie »Ob mein Bruder Werner gemeint ist? « 18. April 2004. Zadoff wendet sich insbesondere gegen die Konstruktion intellektuellen Gemeinsamkeiten zwischen Gershom Scholem und Jünger in der deutschen Presse. Sie betont zu Recht die Differenzen zwischen Gershom Scholems Zionismus, Werner Scholems Sozialismus und Jüngers nationalkonservativer Einstellung. 108 In seinem Tagebuch notierte er 1995: »Warum erschien mir am morgen Werner Scholem - seine Präsenz <?page no="35"?> 35 1.3 Rebellionen: vom Zionismus zum Sozialismus »Unser Verhältnis war das einer ironischen Sympathie« schrieb Jünger 1975 über Werner Scholem. 109 Von Werners äußerer Erscheinung waren ihm die »intelligente Physiognomie und ein skeptisches Lächeln« im Gedächtnis geblieben. Jünger berichtet, dass Werner damals »im Vergleich zu uns Pubertären ein Erwachsener war« - eine Beobachtung, die er gleich mehrfach anführte. 110 Über den gemeinsamen Unterricht schrieb Jünger: »Unser Deutschlehrer hieß Schmidt - wir nannten ihn ›Schmidtchen‹, wahrscheinlich einiger komischer Züge wegen, für die Schüler ein feines Gespür haben. Eines Tages, als er die Aufsätze zurückgab, sagte er : ›Scholem, ich warne Sie jetzt zum letzten Mal.‹ Das fiel mir auf, doch konnte ich mir darauf keinen Reim machen. Wahrscheinlich hatte Scholem, der uns in der geistigen Entwicklung weit voraus war, diesen Aufsatz benutzt, um nihilistische oder kommunistische Parolen darin unterzubringen, was selbst auf einer Presse nicht hinzunehmen war.« 111 Werner Scholem war in jener Zeit weder Nihilist noch Kommunist. Allerdings hatte er begonnen, sich für den Sozialismus zu interessieren - eine Entscheidung, die sein weiteres Leben prägen sollte. 1.3 Rebellionen: vom Zionismus zum Sozialismus Werners politisches Engagement wurde bereits im Jahre 1912 geweckt, im Alter von sechzehn Jahren. Nach der Rückkehr aus Wolfenbüttel begann er in Berlin seine politische Laufbahn - jedoch nicht als Sozialist, sondern in der zionistischen Schülerorganisation »Jung Juda«. Werner ermunterte auch den jüngeren Bruder zu diesen Treffen. Gerhard folgte ihm interessiert und sollte weitaus länger bei der Sache bleiben als Werner selbst. »Dieser Kreis, der sich ›Jung Juda‹ nannte, war von den zionistischen Studentenvereinigungen hervorgerufen worden, die dort Kandidaten werben wollten, die sich ihnen nach dem Abitur anschließen würden«, berichtete Gershom. 112 Wahrscheinlich gelangte ging über das Traumhafte hinaus.« Ernst Jünger, Späte Arbeiten - Verstreutes - Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S.181ff. 109 Ernst Jünger - Gershom Scholem. Briefwechsel 1975-1981, Brief vom 20. April 1975, a.a.O., S.- 295 sowie Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-47. 110 Ernst Jünger an Gershom Scholem vom 21. Juni 1975, a.a.O., S.-298, sowie Brief vom 20. April 1975, a.a.O., S.-295. 111 Ernst Jünger, Späte Arbeiten - Verstreutes - Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S.181ff. 112 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-46. Ernst Jünger in Uniform, 1922 (Wikimedia Commons) <?page no="36"?> 36 1. Jugendjahre (1895 - 1914) Werner durch Mitschüler zu diesen Treffen, oder aber er wurde direkt durch ältere Studenten angeworben. Werner interessierte vorrangig »der politische Aspekt des Zionismus«, 113 während Gerhard sich von den religiösen und mystischen Seiten des Judentums faszinieren ließ. Bereits im Sommer 1911 hatte er unter dem Eindruck der Lektüre von Heinrich Graetz Standardwerk »Geschichte der Juden« mit dem Studium der hebräischen Sprache begonnen. 114 Er ließ sich von seinem Religionslehrer die Anfangsgründe der Sprache beibringen, um bei seiner Bar-Mizwa den vorgeschriebenen Text aus der Thora frei lesen zu können. Die Bar-Mizwa ist das Initiationsritual, das für jüdische Männer den Beginn der Religionsmündigkeit und des Erwachsenenalters markiert. Sie findet in der Regel zum dreizehnten Geburtstag statt, wobei in der Familie Scholem die Söhne erst am Sabbat vor ihrem 14. Geburtstag die Zeremonie durchliefen. Gershom beschrieb das Ganze wie folgt: »Man wurde in der Synagoge, in die der Vater bei dieser Gelegenheit, wie das allgemein üblich war, mit einem Zylinder ging, zum erstenmal, und für viele zum letztenmal, zur Tora aufgerufen, hatte vorher und nachher zwei kurze hebräische Benediktionen zu sagen und wurde vom Rabbiner vor der versammelten Gemeinde zur Treue zum Judentum und dessen Idealen ermahnt«. 115 Im Gegensatz zu Gerhard hatte Werner sich bei seiner Bar- Mizwa zwei Jahre zuvor die notwendigen Textpassagen in lateinischer Umschrift auf einem Spickzettel notiert, genauso hatten es bereits Erich und Reinhold gemacht. 116 Was Werner am Zionismus faszinierte war also nicht der für deutsche Ohren geheimnisvolle Klang des Hebräischen, das ihm zeitlebens eine Fremdsprache blieb, nicht die Tradition und Erhabenheit des jüdischen Rituals, und auch nicht die mythische Tiefe der uralten Überlieferungen aus Thora und Talmud. Der »politische Aspekt« der ihn anzog, war die säkular-utopische, auf die Zukunft orientierte Seite des Zionismus. Dieser Zionismus verlangte den radikalen Schnitt mit dem Bestehenden, den Ausbruch der Juden aus der umgebenden Gesellschaft und den Neuanfang im eigenen Staat. Auch wenn spätere Historiker dieses utopische Moment nicht ganz zu unrecht als säkularisierte Variante eines traditionellen Messianismus betrachteten, so bedeutete für Werner und viele andere der Zionismus den Bruch mit dem traditionellen Judentum. 117 Die radikale Vision mit ihrem Doppelgesicht aus Tradition und Moderne zog Werner und Gerhard in ihren Bann, gab ihrer bisher ungerichteten Rebellion ein Ziel. Der Zionismus war schon deswegen interessant, weil er den Vater reizte. Darüber hinaus bot er ein umfassendes Gegenkonzept zu Arthur Scholems assimilatorischen Lebensentwurf, dessen betonter Patriotismus die innere Leere seiner Arbeitsethik nicht verdecken konnte. Ebensowenig wurde patriotisches Verhalten belohnt, denn der Antisemitismus stieg anstatt zu verschwinden. 118 Hier bot der Zionismus eine offensive Antwort. Dennoch konnte dies neue Lehre Werner auf Dauer nicht befriedigen. Schon nach wenigen 113 Ebenda. 114 Heinrich Graetz, Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen bearbeitet, 11 Bände, Leipzig, 1853-1875. Es ist wahrscheinlich, dass Scholem eine der dreibändigen Volksausgaben des Werkes las. 115 Zur Bar Mizwa im Hause Scholem vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-41f. 116 Ebenda. 117 Vgl. Michael Löwy, Erlösung und Utopie - Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, Berlin 1997. 118 Vgl. Gershom Scholem, Tagebücher 1913-1917, S.10 sowie einen späteren Brief Werner Scholems vom 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe, hg. von Itta Shedletzky, Bd. I München 1994, S.-6. <?page no="37"?> 37 1.3 Rebellionen: vom Zionismus zum Sozialismus Monaten teilte er seinen Gesinnungsgenossen mit, er habe »einen weiteren umfassenderen Wirkungskreis gefunden und könne sich bei ihnen nicht mehr betätigen.« 119 Werner schloss sich nun der Sozialistischen Arbeiterjugend an. Schnell und mit wachsender Begeisterung verschlang er all die kleinen und billig gedruckten Hefte, mit denen die Sozialdemokratie den Marxismus unters Volk brachte - sein Bruder erwähnte »Schriften von Bebel und Kautsky, die ›Lessinglegende‹ von Franz Mehring und verschiedene Broschüren.« 120 Gerhard hingegen blieb bei »Jung Juda«, was die Harmonie zwischen den Brüdern nicht gerade förderte: »Statt dessen kam es zwischen uns manchmal zu tätlichem Handgemenge, weil er mich in jugendlicher Begeisterung zwingen wollte, sozialistische Reden an ein imaginäres Publikum, die er sich ausdachte und von einem Stuhl aus an mich halten wollte, anzuhören, ein Unternehmen, dem ich mich heftig widersetzte.« 121 Die Arbeiterjugendbewegung, der sich Werner um 1912 angeschlossen hatte, war ein recht neues Phänomen. Bereits seit 1875 gab es in Deutschland mit der Sozialdemokratie eine vereinte sozialistische Partei, die sich nach harten Kämpfen etabliert hatte. Eine organisierte Jugendarbeit fand jedoch lange Zeit nicht statt. 122 Die meisten Vereinsgesetze der Teilstaaten des Kaiserreichs verboten politische Aktivitäten von Jugendlichen unter achtzehn Jahren. Die Arbeiterjugend trat jedoch schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren als Lehrling, Dienstmädchen oder Hilfsarbeiter in den Beruf ein. Sie hatte keinerlei Schutz oder Interessenvertretung: Betriebsräte gab es nicht, Mitgliedschaft in der Gewerkschaft war ihnen verboten. Als Reaktion auf diesen Missstand gründeten sich 1904 in Berlin und Mannheim erste selbständige Zusammenschlüsse von Handwerkslehrlingen. Die Vereinigungen wurden von der Sozialdemokratie manchmal gefördert, mitunter auch misstrauisch beäugt. Die ungestüme Herangehensweise, die mangelnde Disziplin der Jugend, der halblegale Status der Vereine - all dies versprach Ärger. Insbesondere, wenn der »jugendbewegte« Nachwuchs nach dem Vorbild der Wandervögel politische Selbständigkeit und Freiheit von jeder Bevormundung durch die ältere Generation forderte. 123 So etwas passte nicht ins Selbstverständnis der SPD, die als »proletarisches Heer« Disziplin und Geschlossenheit verlangte. Als ein neues Reichsvereinsgesetz das Politikverbot für Jugendliche auf ganz Deutschland ausweitete, erzwang die Parteiführung schließlich einen Kompromiss: es wurden »Jugendausschüsse« auf örtlicher Ebene eingerichtet, die aus Vertretern der Partei, der Gewerkschaften und der Jugend selbst bestanden. Auf Reichsebene gab es eine »Zen- 119 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.46. 120 Als Grundlage seiner sozialistischen Ideen nennt Werner neben dem Erfurter Programm der SPD auch Karl Kautskys Schrift »Ethik und Materialistische Geschichtsauffassung«. Gershom Scholem erwähnt als prägende Texte »Konrad Haenischs Anthologie proletarischer Lyrik und Adolph Hoffmanns damals ungeheuer populäres Heft ›Die Zehn Gebote und die besitzenden Klassen‹ - gewiß eine der gelungensten Propagandabroschüren, die ich je las« Es ist davon auszugehen, dass beide Brüder diesen Kanon lasen und sich darüber austauschten. Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-46; Ders., Briefe I, S.-9. Zur Popularität von Adolph Hoffmann vor 1914 vgl. Horst Groschopp (Hg.), »Los von der Kirche! « Adolph Hoffmann und die Staat-Kirche-Trennung in Deutschland. Texte zu 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Aschaffenburg 2009. 121 Ebenda. Laut mündlicher Überlieferung wurde Gerhard bei einer dieser Gelegenheiten vom älteren Bruder am Stuhl festgebunden - vgl. Gespräch mit Eva Nickel am 5. Dezember 2012, die diese Variante von Gershom Scholem so erzählt bekam. 122 Zum Folgenden vgl. Heinrich Eppe u. Ulrich Herrmann, Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert, Weinheim - München 2008, S.-19-68. 123 Zur bürgerlichen Jugendbewegung vgl. Walter Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung, Köln 1978. <?page no="38"?> 38 1. Jugendjahre (1895 - 1914) tralstelle der Arbeitenden Jugend« unter der Leitung von Friedrich Ebert und Heinrich Schulz. Somit waren die Jugendlichen formal nicht Mitglieder einer politischen Organisation, sondern wurden durch eine Fürsorgeorganisation betreut. Dies wurde durchaus als Knebelung empfunden. Andererseits gab es durch die intensive Repression kaum eine andere Lösung: 1913, kurz nach dem Eintritt Werner Scholems in die Arbeiterbewegung, wurde in Preußen der letzte selbständige Arbeiterjugendverein verboten. Christliche und vaterländische Vereine hingegen konnten ohne Belästigung weiterarbeiten. Dennoch wuchs nach der Institutionalisierung die Anhängerschaft der Arbeiterjugendbewegung in wenigen Jahren stürmisch an. Formelle Mitgliederzahlen gab es aufgrund der indirekten Struktur nicht, allerdings verzeichnete die neu geschaffene Zeitschrift »Arbeiter-Jugend« im Juni 1914 mehr als Hunderttausend Abonnements. 124 Wie kam der Gymnasiast Werner Scholem in diese Bewegung, die eigentlich für die Druckerlehrlinge der Firma Scholem geschaffen war? Warum schloss er sich nicht der bürgerlichen Jugendbewegung an, die bereits seit der Jahrhundertwende eine Generationenrevolte gegen alle Konventionen des Kaiserreichs führte? Auf dem ersten freideutschen Jugendtag hatten sich 1913 über zweitausend Jugendliche versammelt und gelobten in der berühmten »Meißner Formel« ein Leben »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit«. Doch dies war Werner zu wenig. Er suchte nicht nur nach einem ethischen Fundament für die Revolte gegen den Vater, sondern auch nach einer politischen Antwort auf die von den Antisemiten aufgeworfene »jüdische Frage«. 125 Hier waren Zionismus, aber auch Sozialismus interessanter als eine bürgerliche Jugendbewegung, wo Romantik und Innerlichkeit herrschten und die Schwärmerei für Natur und Heimat bald völkische Züge annahm. Der Sozialismus verzichtete auf solche Gefühlsausbrüche, er wollte keine Weltflucht, sondern war im Alltag präsent. Besonders in der proletarischen Metropole Berlin war die sozialistische Bewegung aus dem öffentlichen Leben nicht wegzudenken. Im Wahlrechtskampf 1910 hatten die Sozialisten endgültig das »Recht auf die Straße«, also die Versammlungsfreiheit durchgesetzt. 126 Ihre Umzüge ließen sich nun nicht mehr verbieten. Im Januar 1912 erhielt die SPD bei den Reichstagswahlen über vier Millionen Stimmen, das stärkste Ergebnis, das je eine Partei erreicht hatte. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, daß sich Werner Scholem genau in diesem Jahr dem Sozialismus zuwandte. Doch was faszinierte ihn persönlich daran? Es war gerade nicht die Geste der Provokation, die ihn begeisterte: Werner ging mit seiner neuen politischen Einstellung nicht hausieren, sondern verheimlichte sie gegenüber den Eltern. Denn der Sozialismus bot dem Heranwachsenden ein Lebensziel, das die Familie ihm nicht bieten konnte. Dem Profit als Selbstzweck setzte er die gemeinsame Arbeit zum Wohle aller entgegen. Die autoritären Umgangsformen, die Werner in Schule und Elternhaus abgestoßen hatten, kritisierten die Sozialisten mit reformpädagogischen Konzepten, stellten die Emanzipation der Frau gegen die bürgerliche Familie, forderten die Auf- 124 Eppe/ Herrmann, Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert, S.-51. 125 Scholem schrieb »die Arbeiter-Jugend ist kein Wandervogel, sondern eine richtige Bewegung mit wirtschaftlichen Quellen« und betonte damit die sozialen Forderungen gegenüber einer reinen Generationenrevolte. Vgl. Werner an Gerhard Scholem, 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. 126 Vgl. Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900-1914, Bonn 1995; sowie Bernd Jürgen Warneken u. a. (Hg.): Als die Deutschen demonstrieren lernten. Das Kulturmuster »friedliche Straßendemonstrationen« im preußischen Wahlrechtskampf 1908- 1910, Tübingen 1986. <?page no="39"?> 39 1.3 Rebellionen: vom Zionismus zum Sozialismus lösung der Armee inmitten eines allgegenwärtigen Militarismus. Kurzum: ihr Programm stand für die Errichtung einer utopischen Gesellschaft, gegründet auf den Prinzipien der Rationalität und der Solidarität. Obwohl unklar bleibt, welche genauen Aktivitäten Werner Scholem 1912 und 1913 in der Arbeiterbewegung entfaltete, lässt sich daraus schließen, dass er sich nicht zögerlich, sondern schnell und mit voller Begeisterung in die Bewegung stürzte. Die Broschüren von Bebel, Kautsky und Co. muss er innerhalb kurzer Zeit regelrecht verschlungen haben. Denn bereits wenige Monate nach seiner Hinwendung zum Marxismus musste er nicht mehr seinen kleinen Bruder als unfreiwilliges Publikum missbrauchen, sondern wirkte als Agitator auf echten Versammlungen der sozialistischen Jugend. Sogar das zentrale Parteiorgan »Vorwärts« kündigte einen Auftritt Werners vor Berliner Nachtarbeitern an. 127 Der junge Werner Scholem war als Agitator gefragt: er hatte er einen Bildungsvorsprung gegenüber den Arbeiterjugendlichen, konnte sich die sozialistische Theorie schnell aneignen und weitertragen, war dabei als Gleichaltriger den Lehrlingen, Jungarbeitern und Arbeiterinnen viel näher als die alten Funktionäre aus Partei und Gewerkschaften. Sein schneller Einstieg in die Politik und die damit verbundene Aufmerksamkeit blieben jedoch nicht ohne Folgen. Ein Setzer namens Ebel, ehemals in Scholems Diensten und mittlerweile bei der Buchdruckerkasse tätig, legte eines morgens Arthur Scholem besagte Zeitungsnotiz über den Auftritt »des Genossen Werner Scholem« auf den Schreibtisch. Dies geschah, »um seinem alten Lehrherren eins auszuwischen« berichtete Betty Jahre später. 128 Als der ahnungslose Vater das Kontor betrat und erst aus der Presse über die politischen Aktivitäten des Sohnes erfuhr, war er außer sich. Nicht nur seine Stellung als Familienvater war der Lächerlichkeit preisgegeben. Die »offenbar ironisch gemeinte Glossierung des ›Arbeitgebers‹ und Kapitalisten«, wie Gershom es ausdrückte, stellte seine Autorität im Betrieb in Frage. 129 Der genaue Verlauf des folgenden Streites bleibt im Dunkeln, aber das Ergebnis war drastisch. »Mit Schwierigkeit«, so berichtete Gershom, »einigte man sich darauf, daß mein Bruder, der es gerade bis zur Prima gebracht hatte, Berlin verließ und in Hannover auf das ›Gildemeistersche Institut‹ [..] ging«. 130 Auf der »Presse« sollte er die gymnasiale Oberstufe vollenden, um dann in Berlin als Externer das Abitur abzulegen. 127 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.- 46; Betty an Gershom Scholem, 27. März 1933, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-287. 128 Der so ausgelöste Familienkrach blieb zwanzig Jahre in Bettys Erinnerung haften: Als Ebel 1933 seinen Posten bei der Gewerkschaft verlor, konnte sie sich eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen, obwohl dies »kein schöner Zug« sei. Vgl. Betty an Gershom Scholem vom 27. März 1933, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-287. 129 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-46. 130 Ebenda. <?page no="41"?> 41 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover Verbannt nach Hannover dachte Werner keineswegs daran, von seinem politischen Leben Abstand zu nehmen. Er engagierte sich auch hier in der Arbeiterjugend und trat sofort in die SPD ein, als er im Dezember 1913 achtzehn Jahre alt wurde. 1 Werner stieg in Hannover schnell zum Versammlungsredner auf und wirkte in der sozialistischen Bildungsarbeit als Referent. 2 Mit markigen Worten beschrieb er dem Bruder seine Tätigkeit: »In Hannover aber war ich bis vor kurzem der Spiritus Rektor der Jugend, geehrt und geachtet von der radikalen Minderheit, gefürchtet und gehaßt von den herrschenden Gewerkschaftsführern, der Hecht in der Wahlvereinsversammlung, die Kanone bei der Landagitation.« 3 Die Hannoversche Sozialdemokratie war dennoch nicht so recht nach Werners Geschmack. Die dortige Arbeiterschaft bezeichnete er als eine der »gemäßigsten in Deutschland«, die sich »hyperrevisionistische Abgeordnete« wähle. 4 Dennoch sah Werner sich »inmitten des Parteigetriebes« und hatte seinen Platz gefunden. 5 Dieses Ankommen währte jedoch nur kurz - Werners Leben, das schon bisher nicht besonders gradlinig verlaufen war, geriet in Hannover vollends in Unordnung. Hier erlebte er im Sommer 1914 den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, kurz darauf die Zustimmung seiner Partei zur Ausgabe von Kriegsanleihen. Dies war keine Formalie, sondern die direkte Unterstützung des Krieges. Eine ungeahnte Wendung für die Sozialdemokratie, die in den Jahren zuvor auf allen internationalen Kongressen Friedensresolutionen verabschiedet hatte. Noch im Juli 1914 gab es spontane Protestversammlungen gegen den drohenden Krieg. Sie wurden jedoch zum Ende des Monates vom Parteivorstand gestoppt. 6 Dann wurde es einige Tage still. Am 2. August beschlossen die Gewerkschaften, im Krieg auf Streiks zu verzichten. Und am 4. August 1914 stimmten die Abgeordneten der SPD im Reichstag für die Kriegskredite. Anderswo in Europa passierte Ähnliches - innerhalb weniger Tage zerfiel die Sozialistische Internationale in nationale Blöcke. 7 Insbesondere ihre Führungsmacht, die deutsche Sozialdemokratie stand erschüttert da. Nun zeigte sich, wie oberflächlich ihre 1 Die Angabe 1913 zum Eintritt in die SPD findet sich bei Hermann Weber u. Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten, S.- 820f. Die biographischen Daten zu Scholem wurden Weber in den 1960er Jahren durch dessen Witwe Emmy Scholem bestätigt (Auskunft Hermann Weber an den Verfasser). Da Werner Scholem erst am 29. Dezember 1913 das gesetzlich vorgeschriebene 18. Lebensjahr vollendete, muss er in den letzten Tagen des Jahres 1913 in die SPD eingetreten sein. 2 Schilderung des Verfolgungsvorgangs Werner Scholem vom 7. April 1954, aus: Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDs. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351. 3 Werner an Gerhard Scholem vom 22. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-15. Mit dem »Rausschmiss« ist wohl der erzwungene Schulbesuch in Hannover ab 1913 gemeint, denn einer weiteren Auseinandersetzung über die Frage des Wehrdienstes war Werner im September 1914 zunächst ausgewichen. Vgl. dazu seinen Brief an Gerhard vom 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-7. 4 Werner an Gerhard Scholem vom 22. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-15 5 Werner an Gerhard Scholem vom 8. und 22. September 1914. Ebenda, S.-7, S.-15. 6 Zur Politik der SPD bei Kriegsbeginn vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensbeschlusses 1914/ 1915, Essen 1993. 7 Jedoch gab es in allen Parteien der Internationale Minderheitenströmungen, die sich gegen den Krieg wandten, vgl. dazu Masao Nishikawa, Socialists and International Actions for Peace 1914-1923, Berlin 2010. <?page no="42"?> 42 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Kraft trotz all der Streiks, Wahlerfolge, Maifeiern und Umzüge war. Hinter einer Fassade der Stärke herrschte Ohnmacht und Ratlosigkeit. 8 In den Jahren zuvor war die Sozialdemokratie nach außen stets unversöhnlich aufgetreten, ihre Abgeordneten liebten radikale Reden. Sie konnten aber nichts daran ändern, dass Reichstag und Landesparlamente in der Monarchie nichts zu melden hatten. Die Funktionäre der Gewerkschaften wiederum sprachen vom Sozialismus, legten jedoch vor allem Wert darauf, als Verhandlungspartner anerkannt zu werden. Wenn sich der Gewerkschaftsführer Gustav Bauer mit dem Druckereibesitzer Arthur Scholem zum Gänsebraten traf, nachdem man zuvor ganz ohne Streik Lohn und Krankenkassenbeiträge ausgehandelt hatte, so beschreibt diese Szene vielleicht eher das Wesen der deutschen Arbeiterbewegung um 1914 als die Kampfreden des jungen Werner bei der Landagitation in Hannover. Angesichts dieser Tendenzen bleibt es zwar verwunderlich, aber doch nicht mehr unerklärlich, warum die Reichstagsfraktion der SPD und die Gewerkschaftsführer sich im August 1914 so leicht einfangen ließen von der Fiktion, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg gegen den russischen Zarismus. 9 In einem historischen »Burgfrieden« sollten angesichts der Bedrohung alle Konflikte ruhen: »Ich kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche« warb der Kaiser in seiner Thronrede vom 4. August. Lange verwehrte gesellschaftliche Anerkennung schien jetzt zum Greifen nahe. Die Zustimmung zum Krieg kam daher nicht nur von den Berufspolitikern der Reichstagsfraktion, auch Teile der Basis unterstützten die neue Politik. Werner selbst berichtet, dass in Hannover »viele der treuesten Anhänger vor der Abstimmung sagten: ›Wenn die Abgeordneten nicht bewilligen, so treten wir aus dem Wahlverein‹«. 10 Der sozialdemokratische Wahlverein war im Kaiserreich die unterste Ebene der Parteiorganisation, auch hier erhofften sich viele etwas von der neuen nationalen Geschlossenheit. Den Jubelveranstaltungen und Kundgebungen blieben die meisten Arbeiter und Arbeiterinnen jedoch fern. Hier beteiligten sich »weitgehend Studenten aus der Mittelschicht oder junge Angehörige freier Berufe« - so der Historiker David Stevenson. 11 Die Arbeiterbewegung war nicht als Ganzes vom nationalen Jubel erfasst, aber es war auch nicht allein der »Verrat« der Führung, der die Bewegung lähmte. 12 Sie war gelähmt von oben und unten, zerrissen zwischen Fatalismus, Nationalismus und ohnmächtiger Wut. Es gab nicht überall patriotische Auswüchse wie sie Werner aus Hannover berichtet, aber Propaganda und Verunsicherung reichten, um Protest zu verhindern. Nur eine Minderheit blieb der internationalistischen Idee von Anfang an treu. Zu diesen wenigen gehörte Werner Scholem. 8 Für diese Kombination aus Verbalradikalismus und Abwarten prägte Dieter Groh den Begriff des »Revolutionären Attentismus« - vgl. ders., Negative Integration und revolutionärer Attentismus - Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1973. 9 Der Zarismus galt im 19. Jahrhundert als reaktionäre Schutzmacht der Monarchien Europas, ein sozialdemokratischer Vorbehalt gegen Russland aus dieser Zeit konnte 1914 wieder aktiviert werden. Vgl. dazu Dieter Groh u. Peter Brandt, »Vaterlandslose Gesellen«. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992. 10 Werner an Gerhard Scholem vom 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-7. 11 David Stevenson, Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006, S.-57. 12 Zum Verratsvorwurf in Geschichte und Geschichtswissenschaft vgl. Wolfgang Kruse, Burgfrieden 1914: der »Verrat« schlechthin? , in: Ulla Plener und Simone Barck (Hg.), Verrat - die Arbeiterbewegung zwischen Trauma und Trauer, Berlin 2009; sowie im selben Band: Harald Lange, »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! « - Inhalt und Folgen eines Schlachtrufes. <?page no="43"?> 43 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 43 Die Nachricht vom Kriegsausbruch erreichte ihn in der Schule, kurz vor Beginn der Sommerferien, inmitten einer Schar von patriotischen Klassenkameraden. Zu ihnen gehörte auch Ernst Jünger, der sich in einer Tagebuchnotiz noch 90 Jahre später an die Ereignisse in der Stunde von Lehrer Schmidt erinnerte: »Der Kriegsausbruch war für die meisten von uns auch der letzte Schultag; es ging in der Klasse zu wie in einem Immenschwarm. Schmidtchen war traurig - er sagte ›Sie kennen die Greuel des Krieges nicht.‹ Natürlich wurde er ausgebuht.« 13 Jünger war an jenem Tag frisch frisiert erschienen. Er war alles andere als ein Kriegsgegner und wurde schnell zur Zielscheibe von Scholems Häme: »Vor dem Kampfe salbt der germanische Krieger sein Haupt« spottete Werner über den kriegsbegeisterten Klassenkameraden. 14 In der Schule hatte Werner nichts anderes erwartet - um so größer war der Schock, als er die Sozialdemokratie von »Kriegsrummel und Blutrausch« gepackt fand: »Die Rötesten der Roten stellten sich freiwillig, und ich, bisher wegen mangelndem Patriotismus angesehen, mußte es erleben, daß man mich in einer Versammlung der Arbeiterjugend einen wahnsinnigen Fanatiker und - einen Feigling nannte …« 15 Diese ersten dokumentierten politischen Äußerungen des achtzehnjährigen Werner Scholem verdanken wir einem Briefwechsel mit dem Bruder Gerhard. Die beiden, die sich zuvor über den Gegensatz zwischen Zionismus und Sozialismus heftig gestritten hatten, näherten sich im Sommer 1914 wieder an und begannen einen intensiven geistigen Austausch. 16 Obwohl er nie zum völligen Bruch geführt hatte, muss der vorherige Krach recht heftig gewesen sein - Gerhard jedenfalls fiel es sichtlich schwer, seinen Brief zu beginnen: »Du dürftest dich wohl wundern, von mir einen Brief zu bekommen. Muttersöhnchen! Fanatischer Jude! Gräßlich …« 17 Die unschönen Ausdrücke waren Zitate aus Werners Mund - dennoch suchte er den Kontakt. Gerhard war beeindruckt von der Standfestigkeit des Bruders, der bereits im August seinen Unmut über den Krieg kundgetan hatte - zu einer Zeit, als selbst Karl Liebknecht im Reichstag noch aus Fraktionszwang für die Kriegskredite gestimmt hatte. 18 Gerhard Scholem hingegen war entsetzt über den Kriegsrummel, verfolgte in Berlin aufmerksam die sozialdemokratische Presse und wollte von seinem Bruder nähere Auskünfte über den Sozialismus, dessen Ideale und Philosophie. Er hatte sich dem Marxismus weit angenähert, ging sogar soweit, das Erfurter Programm der Sozialdemokratie anzuerkennen. Aber die Organisation der Partei erschien ihm im Licht der Ereignisse als »trüber See«, ein korrumpierendes Zwangskorsett, das für originelle Denker und die wahren Vertreter 13 Ernst Jünger, Späte Arbeiten - Verstreutes - Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S.181ff. 14 Nach Überlieferung von Jünger, vgl. ebenda. 15 Werner an Gerhard Scholem, 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-7. 16 Zum Folgenden vgl. Gershom Scholem, Briefe I, S.-1-15. Eine Einschätzung des Briefwechsels der Brüder bieten Mirjam Triendl-Zadoff: Unter Brüdern - Gershom und Werner Scholem. Von den Utopien der Jugend zum jüdischen Alltag zwischen den Kriegen. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur Jg. 1 (2007) 2, S.-56-66; sowie Ralf Hoffrogge, Utopien am Abgrund - Der Briefwechsel Werner Scholem - Gershom Scholem in den Jahren 1914-1919, in: Veit Didczuneit, Jens Ebert und Thomas Jander (Hg.): Schreiben im Krieg - Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Zu den Feldpostbriefen sozialdemokratischer Kriegsgegner im Allgemeinen vgl. auch Gerhard Engel, Rote in Feldgrau. Kriegs- und Feldpostbriefe junger linkssozialdemokratischer Soldaten des Ersten Weltkrieges, Berlin 2008. 17 Gerhard an Werner Scholem, 7. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-3. 18 Die kriegskritischen Äußerungen von Werner, auf die Gerhard Scholem sich bezieht, sind leider nicht überliefert, sondern können nur indirekt aus seiner Antwort erschlossen werden. <?page no="44"?> 44 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) der Idee keinen Platz lasse - als Beispiele erwähnte er ganz unbescheiden Proudhon und sich selbst. Statt Organisation interessierten ihn Ethik und die Frage nach dem Sozialismus als Mythos. 19 Werner griff die Fragen seines Bruders gerne auf, gab dabei mit der gelassenen Attitüde des älteren Bruders vor, dessen Wendung zum Sozialismus schon lange erwartet zu haben. Lapidar erklärte Werner: »Jeder denkende Jude wird Sozialist, was Du nun auch bist, da du auf dem Boden des Erfurter Programms stehst.« 20 Wie selbstverständlich vereinnahmte er den Bruder und versuchte, ihn in die Partei zu führen. Umgekehrt sollte Gerhard in den folgenden Jahren immer wieder versuchen, Werner zum Zionismus zurückzubringen. 21 Gerhards Hoffnungen waren nicht unbegründet. Denn trotz seines Engagements für den Sozialismus verleugnete Werner seine jüdische Herkunft keineswegs. Sie hatte ihn erst zur Arbeiterbewegung geführt - als »denkender Jude« war er Sozialist geworden. 22 Diskriminierung und Außenseitertum waren Urgründe für Werners Ablehnung der deutschen Zustände. Auch nach dem Eintritt in die SPD war deshalb sein Bruch mit dem Zionismus nicht endgültig. Zur Überraschung Gerhards teilte Werner die Kritik an der sozialistischen Bewegung. Insbesondere den Äußerungen zu Bürokratie und Parteiapparat stimmte er enthusiastisch zu: »Auch ich hasse die Organisation, und du weißt gar nicht, wie sehr du recht hast mit dem Vergleich des trüben Sees. Aber was hilft’s? Wer auf dem Boden des Erfurter Programms steht, muß doch selbstverständlich wissen, daß die Organisation nötig ist.« Als Ursache der Erstarrung machte Werner die Gewerkschaften aus: »Wie ekelhaft so manches übrigens ist, kann man sich garnicht vorstellen. Seitdem die Gewerkschaften durchaus maßgebend in der Arbeiterbewegung geworden sind, ist die politische Partei nichts weiter als ein Mittel, um Wahlen zu machen. Und die Gewerkschaften? Kennst du Herrn A. Scholem, Berlin C. 19, Beuthstr. 6? Der ist auch ein Gewerkschaftler, nämlich von der anderen Seite; wäre er zufällig ein Arbeiter so wäre er vielleicht Gewerkschaftssekretär - und keinen Deut besser als jetzt.« 23 Klarsichtiger als andere hatte Werner ein grundsätzliches Dilemma der Arbeiterbewegung erkannt, doch ein grundsätzlicher Gewerkschaftsgegner wollte er nicht sein: »Auch kämpfe ich nicht gegen die Gewerkschaften, denn die Arbeiter wären ohne sie heutzutage ein halbverhungertes, versoffenes, elendes Pack, aber unsympathisch sind sie mir gründlich. Denn da sie nur auf das grob Materielle gerichtet sind, so erzeugen sie lederne Menschen und Hämorrhoiden. Was kümmern mich aber die Gewerkschaften? Bin ich ein Proletarier? Mich kümmert nur die Partei.« 24 Obwohl Werner auf den Materialismus schwor, so verstand er darunter etwas anderes als nur den ökonomischen Kampf der Interessen, bei dem sich am Ende das Weltbild von 19 Gerhard an Werner Scholem, 7. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-6. 20 Ebenda. 21 So bezeichnete er in einem Brief an einen zionistischen Mitkämpfer Werners Judentum als »besserungsfähig« und spekulierte darauf, ihn »später sehr für uns zu gewinnen«. Brief Gerhard Scholem an Erich Brauer vom 17. Juli 1916, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-42. 22 Andere dagegen reagierten statt mit verstärkten Bemühungen zur Assimilation. Zur Reflektion des Weltkrieges in der jüdischen Geisteswelt vgl. Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001. 23 Gershom Scholem, Briefe I, S.-8 24 Ebenda, S.15. <?page no="45"?> 45 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 45 »Arbeitnehmern« und »Arbeitgebern« kaum noch unterschied. Die Verrechtlichung des Klassenkampfes, die Werner an Arthurs Beispiel gut beobachtet hatte, drohte in seinen Augen das utopische Moment der Arbeiterbewegung zu ersticken. Werner flüchtete sich in den Gedanken, die Partei könne richten, was in den Gewerkschaften schieflief, in ihm rang ein fast zynischer Pragmatismus mit dem Hang zur Avantgarde. Eine Stütze war ihm die optimistische Geschichtsphilosophie des Marxismus: »Die wirtschaftlichen Verhältnisse drängen zum Sozialismus, also wird er kommen, und seine Begleiterscheinungen werden in Veredelung und Befreiung der Menschen bestehen. Ob er aber ein vollkommenes Glück den einzelnen Individuen bringen wird, weiß ich nicht, man kann es füglich bezweifeln.« 25 War für Werner die Befreiung der Menschheit wirklich nur eine »Begleiterscheinung« anonymer ökonomischer Tendenzen? Würde ein solcher Determinismus nicht sein eigenes Wirken und Kämpfen überflüssig machen? Es scheint, als wolle Werner mit dem Vertrauen auf unbeugsame Gesetze der Geschichte die harten Enttäuschungen des August 1914 herunterspielen. Mit demonstrativer Abgeklärtheit leugnete er die eigene Niederlage: »Ich habe weder in Hannover noch in Berlin irgendwie große Enttäuschung erlebt, denn ich bin nicht wie Lilly Braun und ähnliche Fatzken, mit Illusionen zur Partei gekommen.« 26 Auch seine eigene Stellung in der sozialistischen Bewegung schätzte er trotzig-selbstbewusst und positiv ein: »mit meinen äußeren Erfolgen kann ich sehr zufrieden sein, denn ich bin in Berlin bei den obersten Halbgöttern beliebt und angesehen seit meinem unschuldigen Rausschmiß. […] Erst mein körperliches Übelbefinden und dann der Krieg brachten hier eine Veränderung.« 27 Doch innerhalb von zwei Sätzen kippte Werners Optimismus in die Ratlosigkeit. Am Schluss des Briefes offenbarte er, wie es wirklich in ihm aussah: »Du meinst ich blase Trübsal? Ich sage Dir, binnen 2 Jahren krepiere ich oder eine Irrenanstalt öffnet ihre gastlichen Pforten für mich. Mensch, weißt du was Kopfschmerzen sind? Du ahnst es nicht. Glücklicher, aber ich könnte dir eine poetische Beschreibung davon geben, wie es mal über den Augen, mal an den Schläfen, mal am Hinterkopf, mal an der Stirn, bohrt und hämmert und zieht, während Du das besondere Vergnügen hast, in der Nacht kein Auge zuzutun. Der Arzt aber, das Kamel, zuckt die Achseln und verordnet Ruhe und Schlaf.« 28 Werner war überfordert, dem psychischen Zusammenbruch nahe. Neben der Politik bedrückte ihn auch die Angst vor den Abiturprüfungen im nächsten Jahr: »Dieses Quartal habe ich derart viel in der Schule gefehlt, dass ich eigentlich garnicht da war, was du aber Mutter nicht auf die Nase zu binden brauchst, denn ich falle Ostern früh genug durch. Aber es liegt nicht an meiner Faulheit oder Stupidität, sondern ich bin glatt fertig mit meiner ›Jugend‹-Kraft.« 29 25 Werner an Gerhard Scholem 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-9. 26 Werner an Gerhard Scholem 22. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.- 14. Lily Braun (1865-1916) war Autorin und führendes Mitglied der Frauenbewegung. Braun war Mitglied des revisionistischen Flügels der SPD, der für die Partei eine reformorientierte Politik forderte und dem Revolutionsgedanken eine Absage erteilte. 27 Werner an Gerhard Scholem 22. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-15. Mit dem »Rausschmiß« war die Verbannung nach Hannover ab 1913 gemeint, denn einer weiteren Auseinandersetzung über die Frage des Wehrdienstes war Werner im September 1914 ausgewichen. Vgl. seinen Brief an Gerhard vom 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-7. 28 Werner an Gerhard Scholem 22. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-15. 29 Ebenda. <?page no="46"?> 46 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Werner sollte das Abitur als Externer am Luisenstädtischen Realgymnasium in Berlin ablegen. Sicher war er durch diese Außenseiterstellung im Nachteil, da er nicht dieselbe Vorbereitung wie die anderen Schüler genoss, vielleicht war auch die Lehrerschaft durch vorangegangene Auseinandersetzungen voreingenommen. 30 Für Werner war das Abitur daher ein einziges Knäuel von Versagensängsten. Im Januar 1915 berichtete er von seinen Mühen: »der aussichtslose Versuch, in das Labyrinth der analytischen Geometrie einzudringen, ferner der Versuch, Licht in die Optik zu bringen, absorbieren seit langem meine Gehirnganglien.« Sprachwitz fiel Werner deutlich leichter als Naturwissenschaft und Mathematik. Noch zwanzig Jahre später erinnerte er sich mit Grausen an letzteres Fach, in dem seine Noten zwischen drei und fünf schwankten. Nur »mit Gottes Hilfe« und Gerhards Nachhilfe brachte er es zu befriedigenden Leistungen. 31 Dementsprechend dramatisch war seine Furcht vor dem Abitur: »Die Vertrocknung meines Geistes ist nahezu vollendet. In den nächsten Wochen wird sich mein Schicksal entscheiden; hoffen wir, daß es sich zum Guten wendet.« 32 Seine Mutter berichtet, dass Werner schon vor der mittleren Reife jahrelang Angst gehabt hätte. Noch im Alter von über dreißig Jahren wurde er von Prüfungsängsten heimgesucht, als er sich in einem Zweitstudium der Rechtswissenschaft widmete. 33 Obwohl Werner sich ausdrücken konnte und Bücher geradezu verschlang, entwickelte er nie ein gelassenes Verhältnis zu Prüfungen. 34 Leistungsdruck und fremdbestimmtes Lernen führten bei ihm zu lähmenden Blockaden. Doch sein Unbehagen im September 1914 war nicht nur Versagensangst. Werner steckte in einer Lebenskrise, bei der mehr auf dem Spiel stand als ein Schulabschluss. Wohl jeder Heranwachsende hat irgendwann einmal das Gefühl, dass um ihn herum die ganze Welt verrückt geworden ist. Nur wenige hatten dafür so gute Gründe wie Werner Scholem: Mitten im Abiturstress brach ein Weltkrieg aus, wodurch sein Selbstbild völlig ins Wanken geriet. Denn das neue Leben als radikaler Sozialist wurde fragwürdig, als die Radikalen von einst sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten. Werner, einst »Hecht« und »Spiritus Rector«, wurde von den eigenen Genossen als Feigling beschimpft, die sozialistische Wahlfamilie hatte ihn aufs Kläglichste verlassen. Die leibliche Familie sekundierte mit einem Seitenangriff: Werner wurde vom Vater unter Druck gesetzt, sich freiwillig zum Militär zu melden. Selbst wenn er sich widersetzte, würden bald Zwangseinziehungen beginnen. Krieg und Frieden, Sozialismus oder Nation - für Werner und die Generation von 1914 waren dies keine theoretischen Bekenntnisse, sondern Fragen von Leben und Tod. Werner reagierte auf die Forderungen seines Vaters ausweichend, obwohl seine Stellung gegenüber dem »Wahnsinn« des Krieges vom ersten Tag an ablehnend war. Das er auswich, so Werner, läge »daran, daß ich sehr müde und krank bin und gerade jetzt keine Lust habe, aufs Pflaster gesetzt zu werden. Du siehst daran, daß auch ich allmählich eine ›vernünftige‹ Weltanschauung mir erwerbe, na, vielleicht werde ich auch noch Juniorchef bei Arthur Scholem, Brief- und Steindruckerei.« 35 30 Um den Nachteil auszugleichen, plante er vor den Prüfungen einen Kurzbesuch an der alten Schule in Berlin. Werner an Gerhard Scholem, 2. Januar 1915, GSA Jerusalem. 31 Werner an Betty Scholem, 13. Dezember 1934, Nachlass Emmy Scholem IPW Hannover. 32 Werner an Gerhard Scholem, 2. Januar 1915, GSA Jerusalem. 33 Betty Scholem - Gershom Scholem, Briefwechsel, S.-174. 34 Auch in einem späteren Studium plagten ihn Prüfungsängste, vgl. dazu das Kapitel 5.2 dieser Arbeit. 35 Werner an Gerhard Scholem, 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-7. <?page no="47"?> 47 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 47 Werner war klar, dass sein Vater ihm sofort die finanzielle Unterstützung entziehen würde, falls er sich offen gegen den Krieg aussprach. Auch Gerhard bekam im Herbst 1914 diesen Druck zu spüren: »Es ist eine böse Sache, jetzt sich in Berliner Schulen herumtreiben zu müssen. Die Schüler über 16 Jahre werden nämlich laut Verfügung von oben her ›vorgebildet‹ fürs Militär, allwelche liebliche Beschäftigung auch mich in absehbarer Zeit wird begeistern müssen. Es ist öde. Vater stichelt fortwährend auf mir ’rum, weil ich mich als solcher ›Feigling‹ zeige und durchaus keine edleren Herzensregungen spüren will. Ich bin überhaupt mit Vater auf dem berühmten, dir nicht unbekannten toten Punkt angelangt - und sehe mit Interesse der weiteren Entwickelung der Dinge in der Neuen Grünstraße 26 entgegen. Im übrigen ist jedoch trotz aller Scherereien und Krachs der hiesige Aufenthalt dem Deinigen ganz bedeutend vorzuziehen, bis auf weiteres.« 36 Das Verhältnis zum Vater war nun für beide Brüder zerrüttet. Durch ständige Drohungen mit dem Entzug des Geldes hatte Arthur erreicht, dass seine Söhne außer der baren Zahlung jedes menschliche Interesse an ihm verloren hatten. Alle Drohungen und Sticheleien prallten daher an Gerhard ab. Unbeirrt verfolgte er seine Interessen und engagierte sich weiter im Jung-Juda Kreis. Er erlebte dort jedoch dieselbe Erschütterung wie Werner: Am 5. Februar 1915 erschien in der »Jüdischen Rundschau« ein Aufsatz, der auch die zionistische Bewegung zum Burgfrieden mit der deutschen Kriegspolitik aufrief. Unter dem Titel »Der Krieg der Zurückbleibenden« argumentierte Heinrich Margulies für eine Beteiligung am Krieg. 37 Ebenso Außenseiter wie die Proleten, erhofften sich auch deutsche Juden vom Krieg ein Ankommen in der Nation. Gerhard war empört und formulierte einen Protestbrief, für den er bei Gesinnungsgenossen Unterschriften sammelte. In scharfem Tonfall geißelte er die Ansichten des Verfassers: »Dieser Artikel schlägt den Anschauungen eines großen Teiles unserer Gesinnungsgenossen in Deutschland ins Gesicht. Wir sind nicht der Ansicht, daß dieser Krieg uns das ›Geheimnis der Gemeinschaft‹ enthüllt hat, noch daß ein solcher es überhaupt kann. Ferner glauben wir, daß Deutschlands Sache ebensowenig wie die irgendeines anderen Landes in der Welt die unsere ist.« 38 Interessanterweise unterschrieb auch Werner Scholem diese Protestnote, die »Mit Zionsgruß« schloss. Auf die Frage seines Bruders, wie er nach den Enttäuschungen in der Arbeiterbewegung zum Zionismus stehe, antwortete Werner im Dezember 1914: »Ich bin noch, wie früher, Rachmoneszionist.« 39 Das jiddische Wort Rachmones meint soviel wie Erbarmen oder Mitleid. Es klingt die Nächstenliebe durch, aber das rachmonische Erbarmen konnte auch schnell einen Schlag ins Erbärmliche bekommen. Mal herablassend und dann wieder leidenschaftlich - das war Werners Verhältnis zum Zionismus. Ursache für Werners Wiederannäherung an den Zionismus war die Entfremdung gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft - ein Empfinden, das der Protestbrief mit sei- 36 Gerhard an Werner Scholem, 13. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-10. 37 Heinrich Margulies, Der Krieg der Zurückbleibenden, in: Jüdische Rundschau, 20. Jg. Nr. 6, 5. Februar 1915. Die Jüdische Rundschau war das zentrale Organ des Zionismus in Deutschland. Zur Haltung der Zionisten im Weltkrieg vgl. Stephen M. Poppel, Zionism in Germany 1897-1933: The Shaping of a Jewish Identity, Philadelphia, 1977. 38 Gershom Scholem, Tagebücher Bd. I, S.-89f. Zum Protestbrief und seinen Folgen vgl. den ausführlichen Brief von Gerhard Scholem an Martin Buber vom 10. Juli 1916, in: Gershom Scholem, Briefe, Bd. 1, S.-347. 39 Vgl. Werner an Gerhard Scholem vom 2. Dezember 1914, GSA Jerusalem sowie Brief Gerhard Scholems vom 13. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-13. <?page no="48"?> 48 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) ner antinationalen Stoßrichtung so deutlich zuspitzte. Diese Töne waren kein Ausrutscher, sie sollten sich noch steigern. Regelmäßig bezeichnete Werner die Deutschen als »boches« - ein französisches Schimpfwort aus dem Krieg von 1871, das sich auch im nächsten und übernächsten Krieg hielt. 40 Werner fühlte sich nicht als Deutscher, sondern als etwas anderes - Internationalist, Jude, Sozialist, Außenseiter. Auch in der eigenen Partei blieb Werner von Entfremdung und Diskriminierung nicht verschont. Wie der August 1914 zeigte, waren auch die vermeintlich »vaterlandslosen Gesellen« der Sozialdemokratie Teil der deutschen Gesellschaft. Sie bekämpften Nationalismus und Antisemitismus, hatten aber beides noch lange nicht aus den Köpfen der Mitglieder austreiben können. 41 Fast beiläufig teilte Werner seinem Bruder mit: »Übrigens herrscht in der Partei starker Antisemitismus, der aber den Leuten selbst unbewußt ist.« 42 Erst auf Nachfrage wurde er präziser: »Der Risches in der Sozialdemokratie ist natürlich nicht bei den Führern zu finden, unter denen viele Juden sind, sondern unter den Massen. In Berlin ist das alles nicht so bemerkbar, weil dort überhaupt der Antisemitismus gleich 0 ist, was man erst merkt, wenn man raus kommt. Aber hier ist es schlimm! « 43 Risches ist eine weitere jiddische Wendung und bezeichnete einen populären, aber nicht unbedingt völkisch-rassistischen Antisemitismus. 44 Gerhard berührte das Thema sehr, es bestärkte ihn in seinen Ansichten. In seinem Tagebuch notierte er: »Das ist ein schlagender Beweis für die Richtigkeit der zionistischen Doktrinen. Überall, auch wo sie zuerst und am meisten mitgemacht haben, fliegen wir heraus. Ob das nun die Kapitalisten oder die Arbeiter sind, ist ganz gleich. Es muss eben der Sozialismus in den einzelnen nationalen Grenzen durchgeführt werden, erst dann wird er wirklich international werden. Das sind keine Widersprüche gegen die sozialistischen Grundlehren. Unser Staat oder Gemeinwesen muss von vornherein auf dieser Grundlage eingerichtet werden, dann werden wir darauf weiterbauen können, geistig und körperlich. Aber diese Grundlage brauchen wir. Sogar mit etwas anarchistischem Anstrich.« 45 Immer wieder bestätigten Alltagserfahrungen seine Skepsis gegenüber einer gemeinsamen, deutsch-jüdischen Bewegung. Als Gerhard in der Vorwärts-Buchhandlung von Werner empfohlene sozialistischen Broschüren erwerben wollte, beschwerte sich der Verkäufer 40 Vgl. Werner an Gerhard Scholem vom 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. Dieser Brief enthält von Werners Hand das Datum 20. Juli 1914 und ist dementsprechend im Archivzusammenhang eingeordnet. Verweise auf den ersten Weltkrieg, die Spartakusgruppe und einen Lazarettaufenthalt lassen jedoch erkennen, dass der Brief aus dem Jahr 1916 stammt. Siehe dazu auch das Kapitel »Lazarettgedanken 1916«. 41 Zur Bekämpfung antisemitischer Ideologie durch die SPD vgl. Rosemarie Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich: die Auseinandersetzungen der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus 1871 - 1914, Bonn 1978. 42 Werner an Gerhard Scholem vom 2. Dezember 1914, GSA Jerusalem. 43 Werner an Gerhard Scholem vom 2. Januar 1915, GSA Jerusalem. Jörn Wegner bestätigt in seiner deutschbritischen Vergleichsstudie den ersten Teil von Scholems Analyse und konstatiert, es gäbe im Kaiserreich »keine Parallelen« zu den bisweilen explizit antisemitischen Aussagen von führenden Persönlichkeiten der britischen Arbeiterbewegung. Vgl. Jörn Wegner, »Free-born Englishmen« und »Jew financiers« - Antisemitismus in der britischen Arbeiterbewegung während des zweiten Burenkrieges, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft III/ 2012, S.-26-39. 44 Der Historiker Shlomo Na’aman unterscheidet hier zwischen drei Stufen des Antisemitismus: dem populären Risches, dem politischen Antisemitismus, der sich gegen die Emanzipation der Juden richtete, sowie dem rassistischen Vernichtungsantisemitismus. Vgl. ders.: Die Judenfrage als Frage des Antisemitismus und des jüdischen Nationalismus in der klassischen Sozialdemokratie, in: Ludger Heid u. Arnold Paucker (Hg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933, Tübingen 1992, S.-50. 45 Gershom Scholem, Tagebücher, Bd. I, S.-70f. <?page no="49"?> 49 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 49 namens Rogon bei ihm über die Dominanz der Juden in der Partei. Er sprach ganz frei, obwohl er um die Herkunft der Scholems wusste. 46 Beide Brüder rangen angesichts solcher Erfahrungen mit dem Sozialismus. Während Werner jedoch trotz aller Fehler und Misserfolge der Arbeiterbewegung an deren universalistischem Prinzip festhielt, war Gerhard immer mehr überzeugt von der Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Weges zum Sozialismus. Die unterschiedliche Weltanschauung brachte auch eine verschiedene Wahrnehmung des Familienkonfliktes mit sich: Werner rebellierte gegen die kapitalistische Arbeitsethik des Vaters, Gerhard gegen die Verdrängung der jüdischen Identität. Beide fanden den Familienkonflikt in der Gesellschaft nicht aufgehoben, sondern in enorme Proportionen vergrößert. Ihre Rebellion wuchs über die Familie hinaus, beide erstrebten den Sozialismus als Lösung. Der Konflikt lag dabei weniger in der Frage des Zionismus, sondern in einer tieferen Kontroverse über das, was ihr gemeinsamer Bekannter Walter Benjamin später einmal »den Begriff der Geschichte« nennen sollte. Benjamin war ein enger Freund Gerhards, beide führten einen intensiven Briefwechsel. Mit Werner war er nicht wirklich befreundet, sie sahen sich nur einmal persönlich. Allerdings las Werner während des Krieges Benjamins Schriften, und in den zwanziger Jahren verfolgte Benjamin kritisch, aber doch aufmerksam Werner Scholems Laufbahn als Politiker. 47 Werner bekannte sich bei der Frage nach dem »Begriff« von Geschichte zum Historischen Materialismus: »Das Dogma des Marx’schen Sozialismus ist die materialistische Geschichtsauffassung, deren Geist auch das Erfurter Programm durchweht. Sie besagt, grob ausgedrückt, daß die Dinge den Menschen machen, und nicht der Mensch die Dinge, daß also in der Geschichte nicht ideelle, sondern wirtschaftliche Beweggründe, in erster Linie der Kampf der Klassen, treibende Faktoren sind.« 48 Die Frage der Geschichte war für Werner nichts Philosophisch-Abstraktes, sondern eng verbunden mit Moral und persönlicher Lebensführung. Inspiriert durch einen Aufsatz Kautskys mit dem Titel »Ethik und materialistische Geschichtsauffassung« stellte er fest, »daß wir selbstverständlich als Anhänger der materialistischen Weltauffassung an die eingeborene Moral nicht glauben. Die Ethik des Marxismus verwirft demnach durchaus jedes feststehende Gut und Böse und steht im unversöhnlichen Gegensatz zu Kants Sittengesetz. Sie glaubt, daß die herrschenden Moralgesetze nichts weiter als veränderliche Spiegel der Zeit sind und erkennt als einziges die ›sozialen Ziele‹ an, welche schon dem Tiere innewohnen und deren höchste Verkörperung der Sozialismus ist. Will man allerdings diese ›sozialen Ziele‹ für Moral gelten lassen, so glauben wir auch ein[e] eingeborene Moral. Aber diese ist tierischen Ursprungs und letzten Endes im Tier auch nur durch den Selbsterhaltungstrieb entstanden, welcher somit als der Grund der Ethik stehen bleibt.« 49 Eine solche Reduzierung von Moral und Geschichte auf etwas rein materielles, im Grunde tierisches, war für Gerhard Scholem zutiefst unbefriedigend. Werners Materialismus negierte jede Form von Transzendenz. Für Gerhard war die Geschichte jedoch ein 46 Gershom Scholem, Tagebücher, Bd. I, S.75. 47 Zu Benjamins Kommentaren über Werner Scholem vgl. Kapitel 4.2 und 6.5 dieser Arbeit. Zur Biographie und geistigen Entwicklung Benjamins vgl. Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin - Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 2009. 48 Werner an Gerhard Scholem, 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-8. 49 Ebenda, S.-9. <?page no="50"?> 50 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Träger von Mythos und Offenbarung, von etwas Absolutem, das sich nicht durch Zeitumstände relativieren ließ. 50 Diese Offenbarung suchte er in der jüdischen Überlieferung. Trotz seiner Ablehnung religiöser Orthodoxie ersehnte er eine Erneuerung im Geiste der Thora: »Das innerliche Erfassen der Thora als der wahrhaftigen Lebendigen Seele des Judentums ist die erste Vorbedingung einer gültigen - vor Gott gültigen! - Erneuerung«. 51 Obwohl Gerhard seinem Tagebuch anvertraut hatte, dass er nicht an einen persönlichen Gott glaube, spielte das Spirituelle eine entscheidende Rolle in seinem Leben. 52 Werners Auffassung von Geschichte lehnte er rundweg ab. Er schrieb ihm, dass »wo in der Geschichte es Gesetze gibt, die Geschichte nicht taugt oder die Gesetze nichts wert sind«. 53 Mit dem Begriff des zeit- und wortlosen »Erlebnisses« wendete Gerhard den Begriff der Offenbarung ins Subjektive. Den Sozialismus benannte er als »das schönste« unter allen Erlebnissen und machte klar, dass er sich nicht wegen, sondern trotz des philosophischen Materialismus mit dieser Utopie beschäftigte - er rechnete sich deshalb zu »den Sozialisten, nicht den Sozialdemokraten.« 54 Der populäre Marxismus seiner Zeit, die ökonomistische Verkürzung, das Gerede von ehernen Naturgesetzen erschienen Gerhard als Hindernis, als Teil der Zwänge, von denen es sich zu befreien galt. Die »Menschheit von heute« sah er »eingekeilt in das System der Entwickelung und und des Kausalitätsgesetzes«, eine Tatsache die er nicht theoretisch rechtfertigen, sondern sprengen wollte: »Nicht Evolution, sondern Revolution. So sage ich zum Schrecken der Herren W. Scholem, Ch. Darwin und Ascher Ginsberg«. 55 Gerhard legte den Finger in eine offene Wunde des Kautsky-Marxismus. Ob er anders geurteilt hätte, wenn er Marxens frühe, am revolutionären Subjekt orientierte Schriften wie die »Thesen über Feuerbach« gekannt hätte? Dies bleibt Spekulation - kritisieren konnte Gerhard nur den Marxismus seiner Zeit, und der gefiel ihm nicht. 56 Hinter der Differenz über die politische Frage des Zionismus existierte also ein tieferer Dissens der Brüder über das, »was die Welt im innersten zusammenhält«. Ein Dissens, der Werner und Gerhard noch länger beschäftigen sollte. Werner brachte die Frage in einem Brief aus dem Jahr 1916 auf den Punkt, indem er ein Zitat von Martin Buber aufgriff: »Was bin ich und was ist mein Leben? « 57 Eine Frage, die Werner selbst nur als Prozess beantworten konnte. Er war Teil eines historischen Kampfes, einer Entwicklung von gesellschaftlichen Gegensätzen, die eines Tages 50 Zum Geschichtsbegriff im späteren Werk von Gershom Scholem vgl. David Biale, Gershom Scholem - Kabbalah and Counter-History, Cambridge (MA) - London, 1982. 51 Gershom Scholem an Siegfried Lehmann vom 9. Oktober 1916, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-48. 52 Eintrag vom 20. Januar 1915, Gershom Scholem, Tagebücher, Bd. 1, S.-79. 53 Werner an Gerhard Scholem, 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-11. 54 Gerhard an Werner Scholem, 13. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-11. 55 Gerhard an Werner Scholem, 13. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, 12. Ascher Ginsberg, auch Achad Ha›am (1856-1927), war ein Vorkämpfer des Kulturzionismus, der ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina vor allem als geistiges Zentrum des Judentums aufbauen wollte. 56 In Frühschriften wie den »Ökonomisch Philosophischen Manuskripten« von 1843, die jedoch erst 1932 erstmals veröffentlicht wurden, widmete sich Marx Fragen des Menschenbildes und konstatiert ein »Gattungswesen«, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Obwohl er die Idee einer »menschlichen Natur« später aufgab, ist auch in Marx’ Alterswerk, etwa im Fetischkapitel des Kapital von 1867, der Gedanke prägend, die Menschheit zum Subjekt der Geschichte zu machen, die kein Objekt der historischen Entwicklung mehr ist. Die bei Werner ausgeprägte starke Betonung historischer Gesetze und der Evolution ist dem Einfluss Kautskys geschuldet und typisch für das Geschichtsbild der Sozialdemokratie im Kaiserreich. 57 Werner an Gerhard Scholem, 20. Juli 1916, in: GSA Jerusalem. Das Zitat stammt aus: Martin Buber, Die Legende des Baalschem, Frankfurt a.M. 1908, S.-10. <?page no="51"?> 51 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 51 zur Befreiung der Menschheit führen würden. Sein mehrfacher Bezug auf das Tier hinter der Moral des Menschen verwies auf Darwin, war jedoch ebenso Ausdruck eines ganz persönlichen Zweckpessimismus, mit dem der junge Marxist sich gegen Enttäuschungen wappnete. Dennoch blieb »Partei ergreifen« Werners praktische Antwort alle Fragen nach dem Sinn des Lebens. Gerhard war ähnlich kompromisslos, sah das Ziel seines Strebens aber nicht in einem universalen historischen Kampf. Geschichte war ihm wichtig, er verbrachte sein ganzes späteres Leben mit ihrer Erforschung. Aber sie war für ihn trotz aller wissenschaftlichen Akribie eher ein Weg, um sich einem über der Zeit stehenden Judentum zu nähern. Gerhard wollte die Bandbreite all dessen, was jüdisches Denken ausmachte, neu ausloten. Wenn er Werner nach dem Sozialismus fragte, suchte Gerhard nach dem Mythos dahinter, um diesen in seine Suche nach Transzendenz einzubinden: »Da wir heute nicht mehr an eine Seele glauben, so hat auch der Sozialismus keine Seele mehr, aber ich möchte gerne wissen, ob er einen Mythos hat, wie die Juden die Legende des Nazareners oder des Baal- Schem und den Jahwemythos oder die Buddhisten den Mythos vom vollkommenen Awahat. Und da ich das nicht in Büchern finde, wende ich mich an Dich. Es hängt viel von deiner Antwort ab.« 58 Für den Marxisten Werner waren Religion und Mythen dagegen nur Ausdruck der zugrunde liegenden historischen Verhältnisse, im besten Falle eine kulturelle Oberfläche, im schlimmsten Fall Ideologie und falsches Bewusstsein. Daher reagierte er auf die Frage seines Bruders nach einem »Mythos« des Sozialismus verblüfft und ablehnend: »Mythos, was heißt das? Eine Göttersage können doch blos Völker oder schließlich Religionen haben, aber nicht Weltanschauungen. Schließlich hat der Sozialismus auch nur das Leben als einzige, wahre Verkörperung seiner Ideen.« 59 Während für Werner der Sozialismus die Lehre vom Leben selbst war, suchte Gerhard nach einer Sinnstiftung hinter diesem Leben. Urgrund seines Strebens war die jüdische Offenbarung, in die er sich hineingeboren sah. Sie war verborgene Essenz, verschüttet durch den assimilatorischen »Irrweg« der Familie, aber im Grunde unauslöschlich. Auch bei Werner wollte er diese ewige Präsenz wachrufen. Erwecken oder Überzeugen, Materialismus oder Offenbarung, Fortschritt oder Transzendenz - bei den heranwachsenden Brüdern kristallisierten sich sehr unterschiedliche Weltbilder heraus. Die Rebellion, der Kampf gegen Heuchelei und Chauvinismus in Familie und Gesellschaft führte sie jedoch immer wieder eng zusammen. Insbesondere in der Beziehung zum Vater zeigen sich Parallelen. Werner sah sich in seiner Verbannung in Hannover als Vorreiter. Halb zynisch und halb trotzig forderte er Gerhard im September 1914 auf, ihm nachzufolgen: »Die Nachricht, daß Du auf dem berühmten toten Punkt angelangt bist, hat mich mit Interesse erfüllt. Du bist also auch ein unverbesserlicher ›La-usejunge‹ (wobei au getrennt und langgezogen geknurrt wird), aber noch ißt Du Deinen ›Fraß‹ im Eßzimmer und nicht in Deiner ›Hundehütte‹; folglich wird es wohl noch etwas dauern, bis Du die freie Luft für einen angenehmeren Aufenthalt hältst als das traute Familienleben in der Neuen Grünstr. 26. Da Du mein Dasein nicht kennst, nimmt es mich auch nicht wunder, daß Du lieber an den Fleischtöpfen Ägyptens klebst. Übrigens wird bei Dir der Krach 58 Gerhard an Werner Scholem, 7. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-6. 59 Werner an Gerhard Scholem, 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-9. <?page no="52"?> 52 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) noch schlimmer, denn Du bist der zweite La-usejunge! « 60 Selbstbewusst vergleicht Werner seine Verbannung mit dem alttestamentarischen Exodus, dem Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft. Was der Vater als Strafe verhängte, begriff der Sohn als Befreiung. Gleichzeitig wollte er den Bruder auf die eigene Bahn drängen. Es sollte nicht lange dauern, bis sich Werners Prophezeiung erfüllte. Ursache war der erwähnte Protestbrief an die »Jüdische Rundschau«. Obwohl der Text die Initiative einer Gruppe von Gymnasiasten war, schlug er das scharfe Schreiben hohe Wellen. Gerhard berichtet, dass der Brief »beim Vorstand der Zionistischen Organisation in Deutschland großes Entsetzen hervorrief, da man befürchtete, daß unser Auftritt die zionistische Bewegung in große Schwierigkeiten bringen könnte.« Weiter hieß es: »Der Vorsitzende der Organisation, Dr. Arthur Hantke - einer der fünf Mitglieder der zionistischen Exekutive, der innerlich dachte wie wir - lud zwei der Unterzeichnenden zu sich und bat uns eindringlich, mit allen Schritten vorsichtig zu sein, damit wir weder uns selbst noch die Organisation ins Unglück stürzten.« 61 Dass Hantke sich mit dem Protestbrief einer Schülergruppe befasste, zeigt die zum Zerreißen gespannte Stimmung am Beginn des Weltkrieges. Jede »undeutsche« Gesinnung konnte als Hochverrat ausgelegt werden, insbesondere wenn sie aus jüdisch-zionistischer Ecke kam. Zum Hochverratsverfahren kam es nicht, aber dennoch bekam Gerhard wegen des Briefes Ärger. In der Schule war er schon vorher wegen kritischer Äußerungen aufgefallen, ein besonders patriotischer Mitschüler spionierte ihm nach. 62 Als dieser in einer Pause Gerhards Mappe durchwühlte, fand er den Protestbrief. Gerhard hatte ihn mitgenommen, um seinen Mitschüler Edgar Blum unterschreiben zu lassen. Nun wurde er wegen »subversiver Propaganda« bei der Schulleitung denunziert. Eine wochenlange Untersuchung folgte. Der Schulverweis stand bald fest und Gerhard drohte zudem eine offizielle Relegation. Dies hätte es ihm unmöglich gemacht, an anderen Gymnasien Aufnahme zu finden. Nur durch Intervention des Direktors und einiger Lehrer erhielt er letztendlich ein Abgangszeugnis ohne besonderen Tadel. Auch Gerhard hatte es also geschafft: nachdem das Luisenstädtische Realgymnasium Arthur Scholem, seine drei Brüder und die Söhne Erich und Reinhold erfolgreich zum Abitur geführt hatte, waren nun zwei Scholems hintereinander von der Schule geflogen. Arthur war so aufgebracht, dass er seinem Sohn die Mittel für den Abschluss komplett verweigern wollte und drohte, ihm zu einem »Heringsbändiger« in die Lehre zu schicken - womit im Berliner Dialekt ein Lebensmittelhändler gemeint war. Erst als sein Bruder Theobald Scholem und Bettys Schwester Käte Schiepan sich für ihren Neffen stark machten, durfte Gerhard seine Ausbildung fortführen. Unter Ausnutzung einer kaum bekannten Sonderregel aus dem 19. Jahrhundert, der sogenannten »kleinen Matrikel« konnte er sich vorläufig zum Studium an der Berliner Universität einschreiben und sein Abitur extern nachholen. Dies gelang ihm im Oktober 1915, noch vor seinem achtzehnten Geburtstag. 63 Anders als Werner ließ sich Gerhard nie durch Prüfungsangst blockieren. Er besaß nicht nur Sprach- 60 Werner an Gerhard Scholem, 22. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-14. 61 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-66. 62 Zum Folgenden vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-66 sowie Brief Gershom Scholem an Martin Buber, 10. Juli 1916, in: Gershom Scholem, Briefe, Bd. 1, S.-347. 63 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.67. <?page no="53"?> 53 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 53 gewandtheit, sondern auch eine besondere Neigung für die Mathematik. 64 Betty Scholem berichtete, dass Gerhard laut Auskunft des Schulrektors bereits vor dem Rauswurf alle nötigen Kenntnisse fürs Abitur beisammen hatte. 65 Beide Brüder waren nun aus dem Elternhaus verbannt, wenn auch der endgültige Bruch mit dem Vater noch nicht vollzogen war. Inmitten des Epochenjahres 1914, in dem sich für die Gebrüder Scholem weltgeschichtliche Tragödien mit privaten Sorgen verbanden, gab es allerdings auch ein durchaus positives Element in Werners Leben - eine Entwicklung, die er Gerhard erstaunlich beiläufig am Ende eines Briefes mitteilt: »Übrigens ziehe ich in 8 Tagen zu meiner Schwiegermutter - ich habe mich voriges Weihnachten verlobt - nach Linden, Struckmeyerstr. 6 IV l. Bitte, von nun an dorthin zu schmieren.« 66 Linden war ein Vorort von Hannover. Werner berichtet über diesen Umzug, als ob es ein reiner Adresswechsel wäre und rückte erst neun Monate nach der Verlobung mit der Nachricht heraus. Beides verweist auf die Heftigkeit des vorangegangenen Streits zwischen den Brüdern, der sich erst mit Kriegsausbruch legte. Zudem erschien es Werner nicht ratsam, dass die Eltern von der Verbindung erfuhren - auch deshalb weihte er den Bruder nicht ein. Werner hatte sich bereits Ende 1913 verlobt. Erst im Dezember 1914 erfuhr sein Bruder den Namen der Erwählten - verpackt in eine Kritik an Gerhards poetischen Versuchen: »Dein Gedicht ist schlecht, meine Freundin mußte doppelsohlenkauendes Nashorn einnehmen, als ich sie plötzlich damit überfiel. Übrigens heißt sie, da ihr Name dich interessiert, Emmy Wiechelt.« 67 Das »Nashorn« war eine Anspielung auf das populäre Hausmittel »doppelt kohlensaures Natron«. Bevor Werner ihren Namen preisgab, hatte er immerhin schon eine kurze 64 Ebenda, S.70f, S.-133. 65 Interessant ist, dass Betty über den Protestbrief kein Wort verlor. Ihr zufolge wurde der Schulverweis vom Direktor damit begründet, »daß Gerhard, damals in der Unter-Prima, ihm die Schule sprenge in Juden u. Deutsche. ›Wir Juden u. Ihr Deutsche‹ sage er u. das gehe nicht.« Gershom u. Betty Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-531. Eine Anmerkung Gerhards geht in ähnliche Richtung: »In meiner Schule waren die Juden der oberen Klassen ausnahmslos Zionisten, wir hingen sehr zusammen und machten keinen Hehl aus unseren Anschauungen.« Vgl. Gershom Scholem an Martin Buber vom 10. Juli 1916, in: Gershom Scholem, Briefe, Bd. 1, S.-347. 66 Werner an Gerhard Scholem, 22. September 1914, GSA Jerusalem. 67 Werner an Gerhard Scholem, 2. Dezember 1914, GSA Jerusalem. Emmy Wiechelt, Hannover 1912 (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="54"?> 54 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Charakterskizze der Verlobten geliefert: »Meine Kleine ist übrigens ein nettes und kluges Mädchen. Bis zum Kriege war sie Mitglied des hannoverschen Jugendausschusses, hat auch oft in Versammlungen gesprochen. Dann zog sie sich, erbittert über die Entwicklung des hiesigen Patriotismus zurück. Sie ist Mitglied der Partei und des Zentralverbandes der Handlungsgehilfen, neigt also durchaus zum Anarchismus, ein interessantes Mädchen mit erstaunlichem schriftstellerischem Talent. Das sie hübsch ist, beweist dir die Tatsache, daß sie gestern in einer Stunde 6 mal hartnäckig angequatscht und verfolgt wurde, u.a. von einem Obersten, vor dem sie ausspuckte! « 68 Werner und Emmy hatten sich in der politischen Arbeit kennengelernt, sie faszinierte Werner nicht nur wegen ihres Aussehens, sondern vor allem wegen ihres Engagements in der Arbeiterbewegung, wo Frauen als Versammlungsrednerinnen eher die Ausnahme waren. Emmy war ein Jahr jünger als Werner, im Gegensatz zu ihm entstammte sie dem Arbeitermilieu. Der Stiefvater August Wiechelt war Vorarbeiter im Continental-Gummireifenwerk, die Mutter Emma hatte als Haushaltshilfe gearbeitet. 69 Emmy selbst gab in einem späteren Lebenslauf eine knappe Beschreibung über ihren Hintergrund und erwähnt dabei auch das erste Zusammentreffen mit Werner: »Ich habe die Bürgerschule 73/ 74 Hannover-Wülfel besucht und nach meiner Konfirmation von Ostern 1911 bis Ostern 1912 die Handelsschule Hannoverscher und Lindener Frauenvereine e.v. in Hannover. Ich war dann als Kontoristin, Stenotypistin und als Sekretärin tätig. Ostern 1911 wurde ich Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiter-Jugend in Hannover (Ortsgruppe Wülfel und ca. ein halbes Jahr später Ortsgruppe Linden IV. Bezirk, da meine Eltern ihren Wohnsitz nach Linden verlegten). 1912 wurde ich Leiterin der Ortsgruppe Linden IV. Bezirk und 1913 Mitglied der Zentrale der Arbeiter-Jugend des Stadt- und Landbezirkes Hannover. Ich habe in diesen Jahren durch Teilnahme an Kursen, Besuch von Vorlesungen und eigenen Studien sehr ernsthaft versucht, meine eigenen Kenntnisse zu erweitern. Unter Robert Dähling wurde ich Leiterin des Bildungswesens der Arbeiter-Jugend und lernte dadurch meinen zukünftigen Ehemann, Werner Scholem, kennen, der gleichfalls Mitglied der Hannoverschen Arbeiterjugend war, vor seinem Abiturium in Hannover und später als Student in Göttingen. Er übernahm vielfach Referate und betätigte sich auch sonst in der Jugendbewegung.« 70 Für Emmy bildete die politische Aktivität keinen Konflikt mit dem Elternhaus, war nicht mit Drohungen von Statusverlust verbunden. Ganz im Gegenteil, die sozialistische Bewegung bedeutete Bildungsaufstieg und Emanzipation. Emmy konnte der doppelten Diskriminierung als Frau und Arbeiterin etwas entgegensetzen. Und dies nicht nur durch ein politisches Bekenntnis - die Bildungsarbeit in der Arbeiterjugend, die Selbstbewusstsein und auch bessere Berufschancen vermittelte, war Motor der sozialistischen 68 Werner an Gerhard Scholem vom 14. November 1914, GSA Jerusalem. 69 In der Heiratsurkunde Werner Scholem - Emma Johanna Wilhelmine Wiechelt vom 31. Dezember 1917 wird der ehemalige Beruf von Emmy Scholems Mutter als »Haushaltsstütze« angegeben, ihr aktueller Status als »jetzt verehelichte Arbeiter Wiechelt« - was soviel wie Hausfrau bedeutet. Werners Verlobte taucht nur hier mit dem offiziellen Vornamen Emma auf, ansonsten wurde sie stets Emmy genannt. Vgl. Heiratsurkunde, Nachlass Werner und Emmy Scholem beim Institut für politische Wissenschaft der Universität Hannover, Nr. 1712310. 70 Emmy Scholem, Schilderung des Verfolgungsvorgang, 7. April 1954, in: Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDs. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351. Das Abitur legte Werner allerdings in Berlin ab, nicht in Hannover. <?page no="55"?> 55 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 55 Jugendbewegung. Werner nahm hier eine besondere Rolle ein. Er genoss als Gymnasiast die Bildungsprivilegien des Bürgertums, teilte jedoch sein Wissen mit den Arbeiterjugendlichen, anstatt sich nach oben zu orientieren. Werner und Emmy verband der gemeinsamer Kampf für den Sozialismus, sie teilten eine Utopie und arbeiteten daran, sie in der Gegenwart spürbar zu machen. Der heimliche Umzug zur Verlobten blieb trotz aller Verschwiegenheit den Eltern nicht verborgen. Am 14. November 1914 schrieb Werner seinem Bruder: »Du wirst wissen, daß unsere Obrigkeit in der Beuthstr. 6 durch irgendeinen Spion, durch den er mich überwachen läßt, Lunte über meinen Aufenthaltsort gerochen hat. Er reagierte sauer darauf und behauptete brieflich, man wolle mich ›fangen‹ und ›ich in meiner Dummheit‹ ginge darauf ein.« 71 Werners Vater war kaum begeistert zu hören, dass sich sein Sohn mit achtzehn Jahren bereits verlobt hatte. Die Herkunft der Braut war ebensowenig geeignet, Arthur Scholem mit dem Lebensentwurf seines Sohnes zu versöhnen. Werner sah sich schließlich gezwungen, bei Wiechelts auszuziehen und wieder ein eigenes Quartier zu nehmen. Er nahm diese Wendung jedoch mit Humor und zitierte als Kommentar ein Lied, das Reinhold mit seinen Jungesellenfreunden gerne sang: »Aber, da meine Braut kein Geld hatte, ging es nach dem schönen alten Spruch: »Wir brauchen keine Schwiegermamama, Schwiegermamama, keine Schwiegermamama, Schwiegermamama, ohne Geld, ohne Geld.« 72 Der Auszug scheint auch auf Betreiben von Emmys Eltern erfolgt zu sein: »Wenn sie, die Schwiegermamama, Pinke gehabt hätte, so hätte ich, ›ein Sohn aus guter Familie‹, wie die Obrigkeit mich offiziell benannte, ruhig dort wohnen bleiben können. So aber, raus da aus dem Haus da! Ich, der Sohn aus guter Familie […], verdufte also offiziell.« 73 Im Gegensatz zum Abiturstress oder der gefürchteten Einziehung zum Militär konnte dieser Konflikt Werner nicht aus der Ruhe bringen. Ihm bereitete es Spaß, seinem Vater auf der Nase herumzutanzen: »Übrigens, Spaß beiseite, wenn der Alte denkt, daß er mich durch solche Schwabenstreiche von ›Dummheiten‹ abhalten kann, so kann ich ihm aus jedem pädagogischen Lehrbuch nachweisen, daß er sich auf einem wackligen Holzwege befindet. So’n Hannefatzke, wie er denkt, bin ich nämlich noch lange nicht, was ich dir, teurer Genosse, nicht erst zu versichern brauche.« 74 Drei Tage vorher hatte Werner in einer eiligen Mitteilung seinen Bruder zur Übernahme einer wichtigen Aufgabe aufgefordert: »Lieber Gerhard, erkundige dich sofort, wo Bankdirektor Emil Voigt in Berlin oder Umgebung wohnt ob er noch Bankdirektor ist, weiß ich nicht genau, jedenfalls wohnte er vor Jahren einmal Spandauer Berg 8, Westend. Vielleicht wohnt er noch da. Die Sache ist ungeheuer wichtig und eilt. Wälze sofort das 71 Werner an Gerhard Scholem vom 14. November 1914, GSA Jerusalem. 72 Ebenda. Das Lied hatten Reinhold und seine Freunde zum 50. Geburtstag Arthur Scholems im Jahr 1913 aufgeführt. Ein Ereignis, an den sich Gershom Scholem noch Jahrzehnte später erinnerte, nicht zuletzt, weil er bei selbiger Geburtstagsfeier gezwungen wurde, in einem Schauspiel als Wurstverkäufer aufzutreten. Vgl. Brief Gershom an Reinhold Scholem vom 24. Mai 1976. 73 Werner an Gerhard Scholem, 14. November 1914, GSA Jerusalem. 74 Vgl. Ebenda. <?page no="56"?> 56 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Adressbuch, ich erwarte Dienstag Nachricht.« 75 Erst Tage später enthüllte Werner, was es mit dieser Anweisung auf sich hatte. Er schrieb über Emmy: »Sie ist die uneheliche Tochter jenes Emil Voigt’s, den du unbedingt finden mußt, d.h. seine Adresse.« Die Angelegenheit war Werner ungeheuer wichtig: »Mensch, setze Himmel und Hölle in Bewegung; wenn’s nicht anders geht, fahre nach Spandauer Berg 8, Westend, wo er 1906 gewohnt hat und verfolge von dort seine Spur. Enthülle aber nicht deinen Namen. […] Er lebt sicher noch, denn er schickt noch monatlich an die Mutter Geld; er muß auch noch in Berlin wohnen. Ich würde es dir hoch anrechnen, wenn du ihn aufspürst, denn große Aussichten werden sich dann öffnen! « 76 Emmys Mutter war während ihrer Arbeit als Haushaltshilfe schwanger geworden, erst nach ihrer Hochzeit hatte August Wiechelt das Kind als Stiefvater adoptiert. Obwohl derartige Vorkommnisse im Kaiserreich keine Seltenheit waren, wurden sie doch konsequent verdrängt. Die Lage für die zahlreichen Haushaltshilfen und Dienstmädchen war nicht einfach. Sie unterlagen mit der sogenannten »Gesindeordnung« einem feudalen Sonderrecht, das erst durch die Novemberrevolution beseitigt wurde. 77 Ihre Arbeitszeit war nahezu unbeschränkt, sie wohnten beim Dienstherren und hatten kaum Privatleben. Hausangestellte durften nur mit schriftlicher Erlaubnis der Herrschaften ihre Stellung verlassen. Fehlte diese, war es kaum möglich, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Dies hatte zur Folge, dass sich Haushaltshilfen kaum gegen sexuelle Belästigungen wehren konnten. Die »öffentliche Moral« sorgte zudem dafür, dass die Folgen eines Verhältnisses, ob es nun freiwillig oder erzwungen war, dem Fehlverhalten der Frau angelastet wurden. Emma Rock hatte sich dem Zwang dieser zweifelhaften Moral gebeugt: Emmy wurde der Name ihres leiblichen Vaters verschwiegen, auch wenn dieser immerhin jeden Monat Geld für ihre Erziehung schickte. Emmys Mutter jedoch ließ niemanden an den Scheck heran - Werner schrieb, sie »behütet ängstlich den Postabschnitt, so daß nichts zu ersehen ist.« 78 Bei Nachfragen würde die Mutter »einen Wutanfall mit Weinkrämpfen bekommen.« 79 Werner war die Recherche nach jenem mysteriösen Emil Voigt ein wichtiges Anliegen. - Hoffte er, mit einem »präsentablen« Schwiegervater den Eltern die neue Braut doch noch schmackhaft zu machen? Wollte er in einem »Überraschungscoup« den Vater vor vollendete Tatsachen zu stellen? Monatelang drängte er seinen Bruder immer wieder, alles zu unternehmen, um den Gesuchten aufzufinden: »In der Sache mit Emil Voigt, die von geradezu ungeheurer Tragweite ist, hast Du mich enttäuscht. Der Mann muß doch aufzufinden sein. […] Falls Du die Adresse des Mannes auffindest, wird meine Freigebigkeit grenzenlos sein, nur versuche alles Mögliche und Unmögliche.« 80 Doch im Januar 1915 75 Werner an Gerhard Scholem vom 8. November 1914, GSA Jerusalem. 76 Werner an Gerhard Scholem vom 14. November 1914, GSA Jerusalem. 77 Zur Lage der Dienstmädchen im Kaiserreich vgl. Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde, Arbeiter im deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.- 205-119 sowie Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen - Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S.-109-146. Dienstbotenverträge waren auf ein Jahr ausgelegt und hatten kein reguläres Kündigungsrecht. Kocka bemerkt deshalb, dass die Dienstboten kaum freie Lohnarbeiter waren, da weder ein Tausch von eindeutig bemessenem Arbeitslohn und Arbeitszeit vorlag und ohne Kündigungsrecht keine Marktbedingungen herrschten. Vgl. ders., Arbeitsverhältnisse, S.-111. 78 Werner an Gerhard Scholem vom 2. Dezember 1914, GSA Jerusalem. 79 Ebenda. 80 Werner an Gerhard Scholem, 2. Januar 1915, GSA Jerusalem. <?page no="57"?> 57 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 57 hatte Gerhard immer noch keine Erfolge vorzuweisen. Einen Emil Voigt schien es in Berlin nicht zu geben - das Rätsel um Emmys Herkunft blieb. Ihre Mutter Emma schwieg fast zwanzig Jahre lang, bis sie der Tochter Ende 1933 »den Roman ihrer Geburt« mitteilte, wie Werner die späte Enthüllung ironisch kommentierte. 81 Der geheimnisvolle Vater war kein Bankdirektor, sondern Sohn eines evangelischen Pfarrers. Doch trotz christlicher Erziehung war der junge Emil Voigt nicht geneigt, Emmys Mutter zu heiraten. Sein Vater Pastor Wilhelm Voigt, unterstützte ihn dabei. Er gab noch den Taufpaten für Emma, verweigerte sich jedoch der Hochzeit: ein Dienstmädchen war keine standesgemäße Partie. 82 Emma Rock war in einer unmöglichen Lage, die durch die Reaktion der eigenen Familie noch verschlimmert wurde. Denn ihr Vater Heinrich Rock war Freidenker und hegte einen alten Groll gegen die Kirche. Als seine Tochter im Jahr 1896 ausgerechnet von einem Pfarrerssohn geschwängert und verlassen wurde, bestätigte dies all seine Vorurteile. Er zog durchs Dorf und prangerte vor jedem, der es hören wollte, die Heuchelei der Kirchenmänner an. 83 Ein Trauma, dass Emmys Mutter über Jahrzehnte nicht vergaß. Sie schwieg wie ein Grab und hätte sich, so ätzte Werner »eher die Zunge abgebissen als darüber gesprochen«. 84 Erst nachdem Emmy 1933 sieben Monate im Gefängnis gesessen hatte und danach krank und abgekämpft in Linden Erholung suchte, brach die Mutter ihr Schweigen und erzählte von den eigenen Schicksalsschlägen. Doch von all dem ahnten Werner und Gerhard 1915 noch nichts. Der geheimnisvolle Vater der Verlobten blieb eine unbekannte Größe und verschwand nach einiger Zeit aus ihrer Korrespondenz. Auch, weil anderes sich mit Gewalt in den Vordergrund drängte: Der Krieg. Die Auseinandersetzungen dazu hatten Gerhards Schulabschluss gefährdet und seinen Rauswurf aus dem Elternhaus provoziert. Für Werner entwickelten sie sich zu einer weit existenzielleren Bedrohung. Er konnte zwar den Aufforderungen seines Vaters zum Eintritt ins Militär zunächst ausweichen, sah sich aber bald von der Zwangseinziehung bedroht. Im November 1914 schrieb Werner seiner Mutter: »Mein Freund Jansen ist bei Dixmuiden 85 gefallen, am ersten Tage, als er im Feuer war, ebenso viele Bekannte von mir. Alle am selben Tag, an dem die Regimenter der Freiwilligen den berühmten Sturm unternahmen. Der Leiter der Hannoverschen Arbeiterjugend, der bei Kriegsausbruch wegen Majestätsbeleidigung und Aufreizung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt im Loch saß, erhielt dort das eiserne Kreuz und wurde Unteroffizier.« 86 Bei dem gefallenen Freund Jansen handelte es sich um Emil Jansen, den Werner aus der Arbeiterjugend kannte. Ein Gruppenfoto zeigt die beiden im Sommer 1913 auf einem Wanderausflug. Sie stehen direkt nebeneinander, Werner legte dem Freund und Genossen seinen Arm auf die Schulter. Ein Jahr später war Emil tot. 81 Werner an Emmy Scholem, 30. Dezember 1933, Nachlass Emmy Scholem IPW Hannover. 82 Hier danke ich Frau Siegrid Dominik aus Neubrandenburg für Einsicht in die von ihr erforschte Familiengeschichte der Rocks. 83 Diese Überlieferung stammt von Werners Tochter Renee Goddard, geborene Renate Scholem, vgl. »Manche Toten sind nicht tot - Renee Goddard über ihren Vater, den legendären Sozialisten Werner Scholem«, 45min Fernseh-Dokumentation produziert von Alexander Kluge, gesendet am 11. August 2008 im Magazin News & Stories. 84 Werner an Emmy Scholem, 30. Dezember 1933, Nachlass Emmy Scholem IPW Hannover. 85 Diksmuide, Stadt im belgischen Westflandern. 86 Werner an Betty Scholem vom 24. November 1914, GSA Jerusalem, vgl. auch Gershom Scholem, Tagebücher, Bd. ,1, S.-58. <?page no="58"?> 58 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Der »berühmte Sturm« war ein Angriff im belgischen Flandern am 10. November 1914. Dort eroberten deutsche Freiwilligenregimenter nordwestlich des Ortes Langemarck unter enormen Verlusten einen Geländestreifen von einigen Kilometern Breite. Zweitausend Tote forderte dieses Manöver, das von der deutschen Obersten Heeresleitung wie ein Sieg gefeiert wurde. In einem Kommuniqué der OHL hieß es: »Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ›Deutschland, Deutschland über alles‹ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2.000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.« 87 Die Szene war pure Fiktion, keine andere Quelle belegt den Gesang. Der Angriff selbst war mehr eine Niederlage als ein Sieg. Der Geländestreifen war militärisch nutzlos, die Offen- 87 Zitat nach: Bernd Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz, ›Keiner Fühlt sich hier mehr als Mensch‹ - Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, S.43-84, hier S.-45. »Ausflug von Funktionären der Gruppe Süden der sozialdem. Jugend Berlin im Frühjahr 1913 nach Tegel«. Beschriftung von Werner Scholem selbst. Emil Jansen und Werner Scholem stehend in der ersten Reihe, zweiter u. dritter von links. (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="59"?> 59 2.1 Krieg und Sozialismus in Hannover 59 sive in Belgien wurde wenige Tage nach dem »berühmten Sturm« eingestellt. Es begann ein zermürbender Stellungskrieg über vier Jahre, in denen sich die Front kaum bewegte. Doch solche Fakten zählten wenig. Die Geschichte wurde als Sinnbild für deutsche Tapferkeit in der Presse breitgetreten. Bis in die Weimarer Republik und die Nazizeit war der Mythos von Langemarck einendes Moment für Patrioten, Kriegsnostalgiker und rechte Ideologen aller Spielarten. Doch Werner ließ sich von solchen Siegesberichten nicht irreführen. Der Tod Jansens versetzte ihm einen Schock. »Ich werde bald eingezogen und totgeschossen« schrieb er seinem Bruder. 88 Die Musterung des Geburtsjahrgangs 1895 stehe unmittelbar bevor, die Schulausbildung sollte eigens durch ein Notabitur verkürzt werden. Werner sah sich schon im Grabe liegen und malte Gerhard eine fiktive Todesanzeige aus: »Den Heldentod für das Vaterland starb auf dem westlichen Kriegsschauplatz am …ten unser lieber Sohn, der Füsilier (Musketier, Kanonier) im ….ten Regiment Werner Scholem. In Trauer und Stolz Arthur Scholem und Frau Betty, geb. Hirsch.« 89 Mit den Worten: »So kommt’s, verlaß Dich drauf«, schloss er seine Todesvision. Dann grübelte er weiter - düster aber auf seine eigene Art hoffnungsvoll: »Der Krieg aber wird mehr als 20 Milliarden kosten, eine Summe, die ja unfaßbar ist, Dann hat der Staat kein Geld, und ich hoffe auf einen Revolution, gegen die 1789 ein Kinderspiel war, ebenso wie ja die Kriege jener Zeit ein Kinderspiel gegen den heutigen sind. Wir werden alsdann große Schreckensmänner sein, falls ich dann noch lebe.« 90 In einem Post-Skriptum ganz am Ende des Briefes schlug seine Stimmung dann plötzlich um. Aus dem tiefsten Fatalismus ging Werner zur euphorischen Offensive über.: »Soeben kommt die Nachricht, daß Liebknecht die Mittel zum Morden verweigert hat. Ehre, wem Ehre gebührt! Wir erheben uns und grüßen diesen Mann, der mehr Mut besitzt als 1000 von denen, die sich stumpfsinnig auf den Mordfeldern unter dem Gesang von ›Deutschland, Deutschland‹ abschlachten lassen. Teile mir sofort die Adresse Liebknecht’s mit, auf einer Karte. Ich werde ihm beweisen, daß da auch noch Leute sind, die nicht auf ihn schimpfen. Schreibe auch Du ihm, daß er dir imponiert hat! Wahrhaftig, er ist der Sohn seines großen Vaters.« 91 Der große Vater war Wilhelm Liebknecht, ein Gründervater der Sozialdemokratie. Sein Sohn Karl war entschiedener Antimilitarist und Fürsprecher der Arbeiterjugendbewegung. Er hatte am 2. Dezember 1914 als erster und einziger Abgeordneter im Reichstag gegen eine neue Tranche von Kriegskrediten gestimmt. Im August hatte Liebknecht noch aus Fraktionsdisziplin zugestimmt - nun demonstrierte er Widerstand. Obwohl Werner in Hannover weilte, erfuhr er noch am selben Tag von der Nachricht und war euphorisch: bei der Wahl zwischen Liebknecht und Langemarck musste er nicht lange überlegen. Doch Liebknechts einsames »Nein« im Reichstag brachte noch lange nicht das Ende des Krieges. Werner plante daher andere Schritte, um sein Leben zu retten. Durch eine »Schiebung« wollte er wenigstens der Infanterie entgehen: »Du wirst wissen, daß ich, um der hiesigen Musterung des Jahrgangs 95 zu entgehen, die nächster Tage beginnt, versucht habe, bei ungefährlichen Waffengattungen anzukommen. Das ist keine Aufgabe von Prinzipien, da sie mich sonst ohne Gnade zur Infanterie stecken werden. Übrigens hat es keinen 88 Werner an Gerhard Scholem vom 2. Dezember 1914, GSA Jerusalem. 89 Ebenda. 90 Ebenda. 91 Ebenda. <?page no="60"?> 60 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Zweck, denn ich werde nirgends genommen, sodaß ich also wohl oder übel im Februar in’s richtige Examen muß, wenn ich nicht vorher eingezogen werde. Vergebens versuchte ich eine Schiebung zu machen, um drum rum zu kommen, es mißlang.« 92 Das »richtige Examen« war die gefürchtete Musterung zur Infanterie, der Werner nun trotz Kriegsgegnerschaft durch eine freiwillige Meldung zuvorkommen wollte - Freiwillige durften sich ihre Waffengattung aussuchen. Die Gräuel des Krieges, vor denen Werners Lehrer Schmidt seine Schüler erfolglos gewarnt hatte, hatten sich 1914 zu einem ungeahnten Ausmaß gesteigert. Die Entwicklung der Artillerie war seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/ 71 in ungeahnter Weise fortgeschritten und die Erfindung des Maschinengewehres hob das Handwerk des Tötens auf ein industrielles Niveau. Der Historiker Peter März beschreibt die Situation an der Westfront im Herbst 1914 mit folgenden Worten: »Das Ende des ›Bewegungskrieges im Westen‹ war der Versuch beider Seiten, Ende Oktober/ Anfang November, nochmals im Norden der Front eine Überflügelungs- und damit Einkreisungssituation herzustellen. […] Die deutsche Seite setzte hier jene zusätzlichen zunächst sechs Reservekorps ein, die aus den Kriegsfreiwilligen vom August 1914 gebildet worden waren. In den Reihen dieser neuen, unzureichend (rund acht Wochen) ausgebildeten und ausgerüsteten Einheiten befanden sich besonders viele Gymnasiasten und Studenten. Sie wurden das Opfer jener kompakten Angriffe im britischen Maschinengewehrfeuer, die binnen Minuten Tausende dahinrafften. […] Neben Maschinengewehren führte auch die professionelle Verwendung des britischen Lee Enfield-Repetiergewehrs, des damals leistungsstärksten aller Armeen überhaupt, mit hoher Feuergeschwindigkeit aus guter Deckung eingesetzt, zu den furchtbaren Verlusten der über offenes Feld angreifenden deutschen Freiwilligenregimenter. Selbst deutsche Generalstäbler sprachen im Nachhinein, kritisch gegenüber der eigenen Führung, von einem ›Kindermord‹.« 93 Hier wird verständlich, warum Werner um keinen Preis zur Infanterie wollte, sogar über die Blöße einer freiwilligen Meldung nachdachte. Sein Freund Jansen war bereits tot, genauso wie viele weitere, bedenkenlos geopfert bei militärisch fragwürdigen Operationen. Doch Werners Schiebungen blieben ohne Ergebnis. Sein Leben ging weiter, doch es war ein Leben unter Vorbehalt. Das Abitur, vor dem er sich so lange geängstigt hatte, bestand er Ostern 1915. Die einst weltbewegende Tatsache war in seinen Briefen nicht einmal eine Erwähnung wert. 94 Auch einen Studienplatz in Göttingen hatte Werner erhalten, seine Wahlfächer waren Geschichte und Jura. 95 Das Klima in Göttingen scheint ihm nicht behagt zu haben - an Gerhard schrieb er: »dort herrscht der Korpsstudent und der Freistudent ist ebenso flau wie überall.« 96 Korpsstudenten waren Mitglieder von Burschenschaften 92 Werner an Gerhard Scholem vom 2. Januar 1915, GSA Jerusalem. 93 Peter März, Der Erste Weltkrieg - Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, München 2004, S.-66f. 94 »Nach dem Besuche des Luisenstädtischen und des Dorotheenstädischen Realgymnasiums in Berlin und nach Privatstudium habe ich am Luisenstädtischen Realgymnasium als Externer die Reifeprüfung Ostern 1915 bestanden« gab er Jahre später nüchtern an. Vgl. Richterliche Befragung am 13. Oktober 1921, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Bd 1. 95 Zu den Studienfächern vgl. Hermann Weber u. Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten, S.- 820. Als Studienort wird auch Halle erwähnt, dort war Werner jedoch erst 1916/ 1917 immatrikuliert, als er nach einer Verwundung einer Genesendenkompanie zugeteilt war. Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-109. 96 Werner an Gerhard Scholem, 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="61"?> 61 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 61 und Verbindungen. Ein Milieu, von dem Werner sich fernhielt, obwohl es neben den vaterländischen und antisemitischen Verbindungen auch jüdische Korps gab. Doch auch sie waren Saufvereine mit militärischen Fechtritualen, Männerrunden zur Selbstvergewisserung der Bürgersöhne. Werner dagegen sah sich als »Freistudent«, Wissen und nicht Status war sein Ziel. Doch die Studienzeit dauerte nur kurz. Schule und Ausbildung, Themen die zuvor seine Ängste und Bestrebungen bestimmt hatten, schrumpften angesichts der existenziellen Bedrohung des Krieges zur Bedeutungslosigkeit. Seine Kindheit war vorbei, vielleicht war sie gemeinsam mit Jansen bei Dixmuiden gefallen. Am 11. Juni 1915 wurde Werner Scholem zu einem Infanterieregiment in Quedlinburg eingezogen. 97 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront Über Werners Erlebnisse in den ersten Kriegsmonaten sind nur Bruchstücke zu erfahren. Die im Archiv der Hebräischen Universität Jerusalem überlieferte Korrespondenz bricht Anfang 1915 ab, erst nach einer Lücke von anderthalb Jahren folgt am 19. Juni 1916 der nächste Brief an Gerhard. Ein ganzes Jahr hatte Werner bereits als Soldat verbracht. Er wurde gezwungen, zu kämpfen und zu töten für ein Land, das ihm nur ätzenden Spott wert war, in einem Krieg, den er vom ersten Tag an bekämpft hatte. Seine Kriegserlebnisse hielt er minutiös fest in einem Tagebuch, das mindestens drei Hefte füllte. Keines davon ist überliefert. Eine erste Version des Tagebuches ging bei einer Entlausungskur im Litauischen Kowno (heute Kaunas) verloren. Werner schrieb seine Erlebnisse in mühevoller Arbeit während eines Lazarettaufenthaltes erneut auf - nur um zu erleben, wie diese Aufzeichnungen im Jahre 1917 von einem Militärgericht beschlagnahmt wurden. Sie sind seitdem nicht mehr auffindbar. Ein drittes Tagebuch aus dem Jahr 1918 über das Geschehen der letzten Kriegsmonate ist ebenfalls verschwunden. 98 Vielleicht überstand es den Krieg nicht, oder es fiel 1933 der Vernichtung anheim, als Werners Wohnung nach seiner Verhaftung aufgelöst wurde. Die Sisyphusarbeit, die Werner mit dem Tagebuch unternahm war zeitintensiv und nicht ungefährlich. Gerichte und Polizei interessierten sich sehr dafür. Dennoch setze er gegen alle Widerstände immer neu an mit seinen Aufzeichnungen. Er wollte die Schrecken des Krieges dokumentieren. Etwa für den Bruder Gerhard, der 1916 als erster eine Version des Tagebuchs zu lesen bekam - und einziger Leser blieb. Werner schickte die Hefte per Einschreiben, war sehr besorgt, sie könnten in der Post verlorengehen. Er schrieb jedoch nicht nur für den Bruder, sondern auch für sich selbst. Werner 97 Vgl. Bescheid des Landesamt für Gesundheit und Soziales - Versorgungsamt, Krankenbuchlager Berlin - zu Werner Scholem, Berlin 23. Februar 2010, vgl. auch Michael Buckmiller u. Pascal Nafe, Die Naherwartung des Kommunismus - Werner Scholem, in: Michael Buckmiller, Dietrich Heimann, Joachim Perels (Hg.): Judentum und politische Existenz - siebzehn Porträts deutsch-jüdischer Intellektueller, Hannover 2000. 98 Zahlreiche Briefe an Gerhard verweisen auf die verschiedenen Versionen. So etwa die Briefe vom 13. Juli, 2. August und 22. August 1916, in dem ein im Lazarett geschriebenes Tagebuch mit drei Heften erwähnt wird, das Werner seinem Bruder per Post sandte. Es findet sich aber nicht im Nachlass, weil Werner es auf Anfrage zurückgesandt bekam (Brief vom 13. Oktober 1916). Diese drei Hefte sind wahrscheinlich identisch mit der vom Militärgericht in Halle beschlagnahmten Version, vgl. dazu Brief vom 3. Juni 1917. Eine erste, bei der Entlausung verlorene Version, erwähnt Werner in einem Brief vom 7. Juli 1916. Ein Brief vom 23. Oktober 1918 verweist auf ein drittes Tagebuch, das die letzten Kriegsmonate behandelt. Es existierten also mindestens drei Versionen des Tagebuchs: zwei zu den Kriegserlebnissen bis zum Lazarettaufenthalt Mitte 1916, eine weitere zum Kriegsgeschehen 1918. <?page no="62"?> 62 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) schrieb, um seine Menschlichkeit zu bewahren in einer Welt, in der nur Zufälle die Lebenden von den Toten schieden, wo das Sterben allgegenwärtig war und Menschen zu Material wurden. Die Soldaten waren bloße Objekte militärischer Strategie, in totaler Unsicherheit und Abhängigkeit, ohne Perspektive - Kreaturen, die in den Tag hineinlebten und deren feldgraue Uniformen mehr und mehr mit dem Grau der aufgerissenen Erde verschmolzen. Eine Symbiose, die ihren grausamen Abschluss fand in den grauen Gesichtern der vielen unbegrabenen Toten, die in Granattrichtern und Gräben im geisterhaften Niemandsland zwischen den Fronten verwesten. Das Tagebuchschreiben war Werners Widerstand gegen dieses Kontinuum des Todes, sein Bekenntnis für ein Leben in Menschlichkeit, an dem er trotz des ihm eigenen Pessimismus verbissen festhielt. Nichts kann uns die verlorenen Aufzeichnungen Werner Scholems zurückbringen. Allerdings lässt sich aus seinen Briefen ab 1916 einiges über seine Zeit als Soldat rekonstruieren, und auch einige ergreifende direkte Schilderungen des Alltags in Kasernen, Lazaretten, Biwaks und an der Front finden sich in dieser Korrespondenz. Ein Foto von Werner Scholem aus dem Jahr 1915 zeigt ihn kurz nach seiner Einkleidung in der Uniform eines Infanteristen. Es gleicht sehr dem Foto seines Bruders Reinhold während des Militärdienstes in Treptow 1913. Die Posen sind ähnlich und bei genauem Hinschauen ist es eher Werner, der ein leichtes Lächeln auf den Lippen hat. Er trägt keine Werner Scholem in Uniform 1915, Reinhold Scholem in Uniform 1913 (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="63"?> 63 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 63 Offiziersuniform mit Degen wie der einjährig-freiwillige Reinhold, sondern den schmucklosen Rock eines Infanteristen. Hinter der großen Schirmmütze verschwindet der Charakterkopf mit den abstehenden Ohren beinahe. Die Ohren waren ein Markenzeichen der Scholems, laut Aussage Gerhards hatten sie wegen Ohrenwitzen in der Schule weit mehr zu leiden als durch alle »antisemitischen Rüpeleien«. 99 Doch nur im Wissen um seine Geschichte ahnen wir, dass Werners Lächeln ein gezwungenes Galgenlächeln war, das Foto eine Pose, eine Rolle. Eine Rolle, die so ganz anders war als die Kostümierungen, die er als Kind bei Hochzeitsaufführungen und im Fotostudio einnahm. Auch Reinhold Scholem wurde als Reservist zum Militär eingezogen, sein erster Diensttag war der 4. August 1914. Reinhold diente im Krieg als »Vize-Wachtmeister der Reserve bei der Fernsprech-Abteilung 187«. Im September 1917 wurde er im westpreußischen Hammerstein stationiert, weil er wegen eines Magen-Darmkatarrhs nur noch als »garnisonsverwendungsfähig Heimat« galt. Im letzten Kriegsjahr 1918 war er schließlich Leutnant der Reserve bei mehreren Funkerabteilungen. 100 Erich Scholem hingegen wollte seinen Militärdienst zunächst als Berittener beim Bayrischen Feld-Artillerie Regiment in Fürth verbringen, was jedoch durch den Krieg nicht zustande kam. Er ging stattdessen zu einer »technischen Funker Ausrüstungs-Abteilung der Flieger«. 101 Beide Brüder dienten also bei Fernmeldeabteilungen. Erich kam als Ausrüster der Flieger nicht direkt an die Front, Reinhold war spätestens seit 1917 vom Frontdienst befreit. 102 Die beiden Älteren hatten jene Posten ergattert, um die Werner sich verzweifelt, aber erfolglos bemüht hatte: technische Aufgaben in der Etappe, in sicherer Entfernung von den Mündungen der britischen Lee-Enfield Repetiergewehre. Nach der Einkleidung wurde Werners Infanterieeinheit ausgebildet - es existiert ein weiteres Foto aus dieser Zeit, das Werner in einer Gruppe von Soldaten abbildet, mit der klassisch preußischen Pickelhaube. Es zeigt, wie sehr die Formen des Krieges in seinen ersten Monaten noch dem 19. Jahrhundert verhaftet waren. Während die deutschen Soldaten noch mit ihren repräsentativen, gegen Gewehrkugeln und Granatsplitter reichlich nutzlosen Pickelhauben ins Feld zog, war die französische Armee mit roten Uniformhosen ausgerüstet, was jeder Idee von Tarnung zuwider lief. 103 Erst nach und nach wurden auf beiden Seiten die Ausrüstungen umgestellt, Tarnfarben und Stahlhelme eingeführt. Federn, Bor- 99 Laut seiner Aussage hatten die Scholems seit mehreren Generationen abstehende Ohren, Arthur Scholem hatte es durch langes Training sogar dazu gebracht, mit den Ohren zu wackeln - »ein Kunststück, das den Leuten gefiel«. Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-68. 100 Zu Reinholds Militärzeit vgl. Brief Reinhold an Gershom Scholem vom 29. Februar 1972, GSA Jerusalem sowie Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin, Versorgungsamt - Krankenbuchlager, Bescheid zu Reinhold Scholem vom 22. Juni 2010. 101 Reinhold an Gershom Scholem vom 10. Februar 1978, GSA Jerusalem. 102 Ob er vorher an direkten Kampfeinsätzen beteiligt war, wissen wir nicht. Die »Telegraphentruppen« galten als ungefährlich im Vergleich zur Infanterie. Werners vergebliche »Schiebungen« zielten auf eine Stellung in genau diesen Bereichen ab. Teile der Fernmeldetruppen versahen jedoch direkten Frontdienst, das Ausbessern von Telefonleitungen in den Grabensystemen galt sogar als besonders gefährliche Aufgabe - beschrieben z.B. von Ernst Jünger, In Stahlgewittern, 14. Auflage Berlin 1933, S.-135f. Reinhold Scholem wurde 1916 das eiserne Kreuz verliehen (vgl. Brief Werner an Gerhard Scholem v. 19. Juni 1916; GSA Jerusalem). Jedoch wurde das Eiserne Kreuz nicht nur für Kampfeinsätze, sondern auch für logistische und sonstige Leistungen verliehen. Der mehrmalige Hinweis auf den Einsatz in Reserve-Abteilungen spricht dafür, dass Reinhold Scholem überwiegend in der Etappe diente. 103 Vgl. ein historisches Farbfoto französischer Soldaten während der Marneschlacht 1914 in: Peter März, Der erste Weltkrieg, München 2004, S.-57. <?page no="64"?> 64 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) ten und Pickelhauben, Farben und Folklore verschwanden von den Schlachtfeldern, zeigten sich nur noch in immer seltener werdenden Paraden. Die industrielle Natur des Krieges gebar eine neue Ästhetik. Ihre Farben waren grüngrau und graugrün, reflektiert an nacktem Stahl. Denn unverhüllt und ohne jeden Schnörkel präsentierte sich die Leistungsfähigkeit des Kriegsgerätes. Insbesondere die Artillerie setzte hier Maßstäbe. Trommelfeuer und Maschinengewehre bewirkten eine gespenstische Leere auf dem Schlachtfeld. Der Krieg erschien als ein menschenleeres »Stahlgewitter« - ein Titel, den Werners Schulkamerad Ernst Jünger 1920 für seine Kriegstagebücher wählte. Auf nahe Distanz versagte die Technik jedoch - im Grabenkampf waren die Infanteristen zurückgeworfen auf ihre Bajonette, nicht selten diente der Klappspaten als Mordinstrument. Archaisches Töten wurde zum Alltag, in seltsamer Ungleichzeitigkeit zur futuristischen Moderne der Luftschiffe, Flugzeuge und Unterseebote, die den Krieg in alle drei Dimensionen des Raumes verlagerten. 104 Das 1918 in Stellung gebrachte »Paris-Geschütz« der deutschen Artillerie schleuderte seine Projektile auf einer Bogenkurve mit 40 Kilometer Höhe durch die Stratosphäre ins Ziel und nahm damit den Weltraumflug vorweg. Es hatte eine Reichweite von über 100 Kilometern. Ein Futurismus des Tötens - gleichzeitig ein reines Terrorinstrument: auf solch große Entfernungen konnte nicht auf militärische Einrichtungen gezielt werden. Man schoss blind ins 104 Zur Technik des Krieges vgl. Peter März, S.-120ff, S.-126f. »Rinke, Ich, Uffz. Hoffmann, Feldw. Blut«, ca. 1915; Beschriftung v. Werner Scholem (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="65"?> 65 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 65 Stadtgebiet von Paris, um die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. 105 Obwohl diese und andere technische Neuerungen wie Luftkampf und U-Boot Krieg im Gegensatz zu Kettenpanzern, Maschinengewehr und Artillerie nicht die erhofften militärischen Erfolge brachten, so prägten doch Propagandafotos von stählernen Großgeschützen, stromlinienförmigen Zeppelinen und Unterseeboten das Bild eines Krieges, der alle dekorativen Schnörkel abwarf. Das 20. Jahrhundert hatte begonnen, in der Industrialisierung des Tötens fand es seinen ästhetischen Ausdruck. Als Werner Scholem im Sommer 1915 seine Pickelhaube aufgesetzt bekam, steckte all dies erst in den Anfängen. Werner erlebte als Infanterist die Kämpfe nicht aus der Vogelperspektive der Propagandabilder, sondern von seiner brutalsten und körperlichen Seite, archaisch und vormodern. Sein erster Fronteinsatz nach der Ausbildung erfolgte in Serbien. 106 Hier auf dem Balkan hatte der Weltkrieg seinen Ausgang genommen. Nachdem am 28. Juni 1914 der österreich-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand dem Attentat eines serbischen Nationalisten zum Opfer fiel, begann mit der sogenannten »Julikrise« eine internationale Kettenreaktion, die schließlich zur Konfrontation von Millionen Soldaten auf zahllosen Schlachtfeldern Europas und des Nahen Ostens führte. 107 Obwohl nach dem Attentat äußerliche Ruhe herrschte, wurde hinter den Kulissen wochenlang gerechnet und kalkuliert. Bereits seit Jahren waren die Spannungen zwischen den Großmächten gewachsen, Deutschlands Aufstieg zur Großmacht ab 1871 hatte alles ins Ungleichgewicht gebracht. Ein nationaler Chauvinismus dominierte die deutsche Innenpolitik und drängte, unterstützt von einer expansionsorientierten Industrie, hin zu einer aggressiven Außenpolitik. 108 Insbesondere der forcierte Aufbau einer deutschen Kriegsflotte in der Nordsee hatte zur diplomatischen Isolierung geführt, in der sich Deutschland und Österreich umgeben sahen von einer französisch-russisch-englischen Allianz. Trotz der Einkreisung drängte das Deutsche Reich auf Expansion, verlangte Kolonien und einen »Platz an der Sonne«. 109 Während die Diplomatie von Krise zu Krise stolperte, steigerte sich das Wettrüsten, Planspiele über Angriffe und Gegenangriffe bildeten den ständigen Hintergrund für politische Entscheidungen. Bevor Österreich-Ungarn nach dem Attentat von Sarajewo daher irgendwelche Schritte gegen Serbien unternahm, fragte es daher nach Unterstützung aus Berlin. Österreich be- 105 Zum Paris-Geschütz siehe Peter März, S.-217. 106 Werner Scholems Einsatz in Serbien wird erwähnt in den Erinnerungen Gershoms (Von Berlin nach Jerusalem, S.-92) sowie in Werners Briefen an Gerhard vom 13. Oktober 1916, 22. August 1917 und 23. Oktober 1918. 107 Das bosnische Sarajewo war seit 1908 Teil des österreich-ungarischen Vielvölkerstaates, jedoch gab es dort eine starke serbische Minderheit. Nationalisten innerhalb und außerhalb des damals unabhängigen Königreichs Serbien träumten von einem vereinigten Großserbien, das den gesamten südslawischen Balkanraum umfassen sollte. Daneben war auch die Idee eines südslawischen bzw. jugoslawischen Bundes aus Serben, Kroaten und Slowenen populär und wurde laut David Stevenson gerade von der Gruppe der Attentäter vertreten. Beide Varianten zielten auf die Auflösung der Habsburger-Monarchie. Vgl. David Stevenson, Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006, S.-22-27 108 Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1967, S.-13-46. 109 Es gelang dem Deutschen Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in Afrika mehrere Gebiete zu besetzen, die als »Schutzgebiete« deklariert wurden. Sie umfassten in etwa das heutige Togo, Namibia, Kamerun und Tansania. Die Besetzung nahm keine Rücksicht auf die Einheimischen, wohl aber auf die europäischen Mächte: die Grenzen der Kolonien wurden 1884/ 85 im Rahmen der Berliner-Afrika Konferenz festgelegt, um das Risiko eines Krieges zu vermeiden. Vgl. Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008 sowie Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, 5. Auflage Paderborn 2004. <?page no="66"?> 66 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) fürchtete ein Eingreifen Russlands - das Deutsche Reich gab dennoch Blankovollmacht für den Krieg. 110 Daraufhin wurde am 23. Juli aus Wien ein Ultimatum gestellt, dessen Bedingungen für Serbien kaum annehmbar waren. Man wartete noch ab, bis ein Staatsbesuch des Französischen Präsidenten Poincaré in Russland beendet war, damit sich die Verbündeten nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten. Während der Rückreise der französischen Delegation per Schiff über Stockholm nach Dünkirchen wurde deren Funkverkehr durch deutsches Militär gestört. An einer diplomatischen Lösung bestand kein Interesse. Das Deutsche Reich wollte den Krieg, und es bekam ihn. 111 Als Serbien sich dem Ultimatum nicht fügte, folgte am 28. Juli die Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Nun begann Russland die Mobilmachung seines Heeres. Dies wiederum veranlasste Deutschland am 1. August 1914 zur Kriegserklärung an Russland. Zwei Tage später erklärte Berlin auch Frankreich den Krieg. Als erste Kriegshandlung besetzten deutsche Truppen am 2. August 1914 Luxemburg und marschierten kurz darauf durch das neutrale Belgien gegen Frankreich, was wiederum die Engländer zum Eingreifen gegen Deutschland brachte. Bevor also der Feldzug Österreichs gegen Serbien überhaupt in Gang gekommen war, hatten Bündnisautomatismen und nervöse Militärapparate den Weltkrieg in Gang gesetzt. In wenigen Tagen hatte sich das Kriegsgeschehen nach Norden verlagert, Belgien und später die französische Westfront bildeten den Mittelpunkt der Kämpfe, die russische Ostfront einen zweiten. Der Balkan war zum Nebenschauplatz geworden, nicht Ursache, sondern nur ein Anlass für den Konflikt um die Aufteilung der Welt. Mit seltsamen Fatalismus wurde der Massenmord in Kauf genommen - die Sorge vieler Staatsmänner war es nicht, in einen Krieg verwickelt zu werden, sondern mit einer verspäteten Mobilmachung kostbare Zeit zu verlieren. 112 Während in Mitteleuropa an Ost- und Westfront zunächst ein schneller Bewegungskrieg begann, tat sich in Serbien wenig. Als Werner Scholem mit seiner Einheit in der zweiten Jahreshälfte 1915 dort eintraf, waren die Frontlinien nahezu unverändert. Die geballte Militärmacht des österreich-ungarischen Imperiums hatte es nicht vermocht, das kleine Balkankönigtum in die Knie zu zwingen. 113 Noch komplizierter wurde die Situation, als am 23. Mai 1915 auch Italien in den Krieg eintrat. Die Italiener erhofften sich angesichts der Schwäche Österreichs Gebietsgewinne an der Adria. Die militärische Lage der Donaumonarchie Mitte 1915 war besorgniserregend, Verstärkung durch deutsche Truppen sollte eine Entscheidung herbeiführen. Werner Scholem wurde unfreiwillig Teil dieser Entscheidung, ein Stück Verfügungsmasse im Ringen der Staatsmänner. Durch die Vernichtung der Tagebücher wissen wir nur sehr wenig über Scholems 110 Lange Zeit wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft die These von einem unfreiwilligen Kriegseintritt des Deutschen Reiches vertreten. Mit dem Nachweis einer Verantwortung Deutschlands für den Kriegsausbruch löste Fritz Fischer Ende der 60er Jahre einen Historikerstreit aus, eine Revision zum vorherigen Stand versuchte jüngst Christopher Clark. Vgl. Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911-1914, Düsseldorf 1969 sowie ders., Griff nach der Weltmacht - Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland, Düsseldorf 1967; Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 1913. 111 Vgl. Peter März, Der Erste Weltkrieg, S.-47f. Auch David Stevenson stellt fest, dass Deutschland bewusst die Gefahr eines Kontinentalkrieges einging, vgl. David Stevenson, Der Erste Weltkrieg, S.-29, S.-40. 112 Vgl. David Stevenson, Der Erste Weltkrieg, S.-40. 113 Vgl. Norman Stone, The Eastern Front, London 1975, S.-72ff. <?page no="67"?> 67 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 67 Kriegserlebnisse in Serbien. Er erwähnte den Einsatz in Andeutungen an Gerhard, machte Anspielungen über einen »marodierenden Rückzug aus Serbien«. 114 Hinzu kommt ein Brief aus dem Jahr 1918, in dem Werner den Frankreichfeldzug mit Serbien verglich: »Mein Leben hier ist unverändert, nur häufen sich eben in dieser Zeit der Rückzüge die Strapazen, da man dauernd unterwegs, ohne Standquartier und sehr oft im Biwak liegt. Als ich das erste mal im Felde war, besonders in Serbien, gings auch so, aber welch Unterschied gegen jetzt! « 115 Ein drittes Mal erwähnte er Serbien 1917 im Bericht über einen gegen ihn geführten Militärprozess. »Was ich ihnen von Serbien erzählte, hatten sie wohl auch noch nicht allzu oft gehört« schrieb Werner über die Reaktion des Gerichts auf Schilderungen des Kriegsalltags. 116 Biwak, Standquartier, Strapazen. Das Leben als Infanterist war nicht nur wegen der Todesgefahr unbeliebt, auch abseits der Kämpfe war es hart und schmutzig. Lange Fußmärsche, ständige Mobilität in improvisierten Quartieren, ein ruheloses nomadisches Leben. Dies erlebte Werner als Teil eines immer weiter vorstoßenden Angriffs: die deutschösterreichische Offensive war erfolgreich. Sie startete am 6. Oktober, schon drei Tage später wurde Belgrad erobert. Trotz zähem Widerstand wurde Serbien besiegt, seine Armee unter furchtbaren Verlusten aufgerieben. Keine andere Armee hatte auf die Gesamtzahl gerechnet so viele Tote zu beklagen wie die Serbische. 117 Für die Mittelmächte war dieses Sterben ein großer Erfolg, konnten sie doch endlich eine direkte Landverbindung zum Osmanischen Reich herstellen, dem großen Verbündeten auf dem Balkan. Per Eisenbahn wurde die türkische Armee nun mit Waffenlieferungen aus Deutschland unterstützt, um die Engländer in Palästina abzuwehren. Doch all dies war Strategie, Krieg auf der Landkarte. Über den Krieg auf den Straßen und Feldern, die eigentlichen Angriffe, über das Töten als Beruf des Soldaten, erfahren wir aus den spärlichen Hinweisen in Werners Briefen bis 1916 nichts. Die Andeutungen lassen allerdings durchblicken, dass Werner die Brutalitäten des Krieges nicht verborgen blieben: ein »marodierender Rückzug« und Frontberichte, die selbst ein Kriegsgericht in Erstaunen versetzen. Werner trat mit seinen Aussagen der Propaganda entgegen, wollte vielleicht sogar Kriegsverbrechen andeuten, deren Zeuge er war. Doch dies bleibt im Dunkeln. Erst am 19. Juni 1916 setzt der Briefwechsel wieder ein. Ein Jahr nach seiner Einziehung meldete sich Werner mit einem emphatischen Brief - nicht von der Front, sondern aus der elterlichen Wohnung in Berlin, wo er direkt an Gerhards Schreibtisch saß: »Mensch! Wir streichen die Zeit vom 15ten 9ten 15 bis zum 24ten März 16 als unwürdig aus meinem Leben, vergessen das Dämmerdasein bis zum 31. Mai, wo ich nämlich - tace! - zur kleinen Emmy nach Hannover auf Urlaub fuhr, und beginnen die am 11ten Juni 15 abgerissene Fahne. Dank vor allem meinem Bein! Dank ferner jenem russischen Kanonier der am Naratsch-See jenes 15 cm-Geschoß abfeuerte, das es ermöglichte, hier an deinem Schreibtisch zu sitzen und allein zu sein.« 118 114 Werner an Gerhard Scholem, 13. Oktober 1916, GSA Jerusalem. 115 Werner an Gerhard Scholem, 23. Oktober 1918, GSA Jerusalem. 116 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 117 Peter März, Der erste Weltkrieg, S.-105, S.-229. Allein beim Rückzug 1915 sollen 140.000 Soldaten ums Leben gekommen sein. Vgl. auch »Serbia, Role in the War« in: »The European Powers in the First World War - An Encyclopedia, New York - London 1996 sowie den Artikel »Serbien« in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von Gerhard Hirschfeld u. Gerd Krumeich u. Irina Benz, Paderborn 2003. 118 Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. <?page no="68"?> 68 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Wieder in Berlin, wieder alleine, endlich raus aus dem Krieg. Dass Werner sich für ein zerschossenes Bein noch bedankte, verdeutlicht sein Entsetzen über den Alltag, dem er gerade entkommen war. Die Wunde war keine Kleinigkeit. Sie war nach fast drei Monaten immer noch nicht verheilt, zwei Röntgenbilder wurden gemacht, eine Woche später sollte operiert werden. Seinen allgemeinen Zustand beschieb Werner so: »Ich hinke greulich am Stock und die Leute sehen bewundernd-mitleidig dem feldgrauen Helde nach.« 119 Doch Werner sah sich nicht als Held. Schlicht »unwürdig« erschien ihm die Zeit seines Fronteinsatzes ab Mitte September 1915. Bis auf den Besuch in Hannover wollte er am liebsten das ganze Jahr aus seinem Leben streichen - von der Einberufung bis zum 11. Juni 1916 als er nach Zwischenstationen in Kowno und Graudenz ins Reserve-Lazarett Berlin in der Städtischen Turnhalle Prinzenstraße verlegt wurde. Das Jahr Krieg und Kampf war für Werner ein verlorenes Jahr, das er gerne vergessen würde. Die Daten der Lazarettaufenthalte lassen sich aus Aktenbeständen des »Krankenbuchlager Berlin« ermitteln, wo die Krankenakten des ersten Weltkrieges bis heute archiviert sind. 120 Gestützt auf eine Angabe Gerhards wurde bisher in allen biographischen Texten angegeben, Werner habe sich seine Verwundung während des serbischen Feldzuges im Sommer 1916 zugezogen. 121 Im Sommer 1916 hatte Serbien jedoch längst kapituliert. Die Berliner Krankenakte vermerkt die Verletzung früher und anderswo: Werner Scholem wurde verwundet am 21. März 1916 durch einen Granatsplitter in der linken Ferse während seines Einsatzes »als Musketier der 10. Kompanie Reserve Infanterie-Regiment 227/ 107«. Als Ort ist recht ungenau »bei Jurewo« angegeben. 122 Zwei Tage später wurde Werner ins Kriegslazarett 131B in Kowno eingeliefert, dann am 1. April 1916 ins Festungslazarett Graudenz verlegt, von wo aus er nach Berlin kam. Kowno ist das heutige Kaunas in Litauen, das ehemals westpreußische Graudenz heißt heute Grudziądz und liegt im nördlichen Polen. Werner Scholem wurde also nicht in Serbien verwundet, sondern an der Ostfront. 123 Er selbst gab als Ort den Narocz-See an. 124 Dieses Gewässer, zu deutsch auch Naratsch- oder Narotschsee, liegt im heutigen Weißrussland. 125 Dort verlief im März 1916 die Front zwischen deutschen und russischen Truppen, Werners Einheit war nach der Kapitulations Serbiens verlegt worden. Die Ostfront erstreckte sich im Frühjahr 1916 auf einer Linie vom Baltikum bei Riga über Rumänien bis zum 119 Ebenda. 120 Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin, Versorgungsamt - Krankenbuchlager, Bescheid zu Werner Scholem vom 23. Februar 2010. 121 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-92. 122 Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin, Versorgungsamt - Krankenbuchlager, Bescheid zu Werner Scholem vom 23. Februar 2010. 123 Eine Angabe Emmy Scholems aus dem Jahr 1954 bestätigt dies. In einem Antrag auf Entschädigungsleistungen schrieb sie über Werner, er »wurde während des Weltkrieges I (Frühjahr 1915 bis Dezember 1918) zum Militärdienst eingezogen, wurde an der Ostfront verwundet und nach erfolgter Heilung später an der Westfront eingesetzt.« in: Emmy Scholem, Schilderung des Verfolgungsvorgangs (Werner Scholem), vom 7.4.1954, Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDs. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351. 124 »Naratschsee« im Brief Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem, »Narocz-See« in der Aussage Werner Scholem vom 8. Juli 1933, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Hüffner und Genossen, BArch, R 3018, NJ 3253 Bd. 8. 125 Der Ort Jurewo findet sich nicht auf heutigen Karten, allerdings verweist das Russische Geographische Namensbuch, hg. von Herbert Bräuer, Wiesbaden 1981, auf den Ort als »Dorf nahe. d. Fluß Olsja« im Gouvernement Wilna, auch bekannt unter dem Namen Jarzewo oder Jarzew (Band X., S.-448 u. 547). <?page no="69"?> 69 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 69 Schwarzen Meer. Sie verlief fast völlig auf dem Gebiet des damaligen russischen Reiches, was jedoch keinen wirklichen Erfolg für das deutsche Militär bedeutete. Im Gegenteil war 1916 das Jahr der Wahrheit, in dem klar wurde, wie blauäugig die Annahmen der deutschen Heeresleitung gewesen waren. An der Westfront war es nicht gelungen, Belgien im Sturm zu nehmen. Die deutschen Truppen trafen stattdessen auf harten Widerstand, es gab zahlreiche Ausschreitungen und Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung, die Deutschen hatten panische Angst vor Heckenschützen und Saboteuren, die nur in der Propaganda existieren. Auch in Frankreich ging das Überraschungsmoment rasch verloren. Bereits Anfang September 1914 wurde mit der Marneschlacht die deutsche Offensive zum Stillstand gebracht. Der befürchtete Zweifrontenkrieg war damit Realität. Die Westfront bewegte sich dabei kaum, Geländegewinne von wenigen hundert Metern wurden oft mit Tausenden von Toten bezahlt. Der Krieg hatte sich festgefressen in einem Doppelsystem aus Gräben, Unterständen und Kasematten für beide Kriegsparteien, getrennt durch eine graue Mondlandschaft voller Bombentrichter, Stacheldraht und Minenfelder - eine Sphäre, in der nicht nur menschliches Leben sofort vernichtet wurde, sondern in der über weite Strecken nicht einmal mehr Tiere und Pflanzen existieren konnten. Diese Todeszone zog sich in einem schmalen Streifen über Hunderte von Kilometern durch ganz Europa, von der Nordseeküste bei Antwerpen quer durch Ostfrankreich bis hin zur Schweizer Grenze. An der Ostfront hielt sich der Bewegungskrieg etwas länger. Zunächst hatten russische Truppen schneller als erwartet mobilisiert und in einer ersten Offensive Ostpreußen besetzen können. Ende August 1914 wendete sich jedoch das Blatt. Unter Führung der Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff konnte in einer Zangenbewegung die russische Narev-Armee eingekesselt und vernichtend geschlagen werden. 126 Hindenburg und Ludendorff wurden als die »Helden von Tannenberg« verehrt. Der eigentliche Kampfort lag zwar südlich von Allenstein (heute Olsztyn). Auf Veranlassung Hindenburgs wurde sie jedoch in den Zeitungen zur »Schlacht bei Tannenberg«. Damit sollte eine Niederlage des deutschen Ordens im Jahre 1410 gegen die polnisch-litauische Union »ausgetilgt« werden. Diese Manipulation war eins von vielen Beispielen für die Verbindung aus archaischer Ritterromantik und moderner Kriegspropaganda, mit der das Publikum in Deutschland von 1914 bis 1918 bearbeitet wurde. Die »Schlacht bei Tannenberg« wurde zum Mythos und wirkte über das Ende des Kaiserreichs hinaus. Der Sieg war der Anfang einer Reihe von gelungenen Operationen der Mittelmächte. Mai und Juli brachten eine Wendung zur Offensive, im Sommer 1915 wurden Warschau, Brest-Litowsk, Grodno und Wilna eingenommen. 127 Diese Siege lösten in Deutschland wilde Annexionsphantasien aus - nachdem die politische Führung ursprünglich einen Verteidigungskrieg behauptet hatte, wurden jetzt Eroberungen verlangt. In einer von 325 Hochschullehrern unterstützten »Professoreneingabe« an die Regierung vom Juni 1915 wurde gefordert: die Annexion und Germanisierung Belgiens, den Erwerb von weiträumigem Siedlungsland in Russland und im Baltikum sowie der Neuaufbau eines geschlossenen 126 Vgl. Gerhard P. Groß, Im Schatten des Westens. Die Deutsche Kriegführung an der Ostfront bis Ende 1915, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die Vergessene Front. Der Osten 1914/ 1915. Vgl. zur russischen Perspektive den Aufsatz von Boris Khavkin »Russland gegen Deutschland. Die Ostfront des Ersten Weltkrieges in den Jahren 1914 bis 1915« im selben Band. 127 Vgl. Norman Stone, The Eastern Front, London u.a. 1975, S.-165ff. <?page no="70"?> 70 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) afrikanischen Kolonialreichs. 128 Die Professoren hatten jedoch das Fell verteilt, bevor der russische Bär überhaupt zur Strecke gebracht war. Zur Jahreswende 1915/ 1916 wurde die Ostfront immer unbeweglicher, der Vorstoß war zu Ende. 129 Als Werner Scholem Anfang 1916 nach Osten kommandiert wurde, hofften die Deutschen, ihren Vormarsch wieder in Gang zu bringen. Gleichzeitig plante das russische Militär eine Offensive. Als Ort für den Angriff wählten die russischen Strategen jenen Narotsch-See in Weißrussland, an dessen Westufer Werner Scholem lag - ein Soldat unter vielen der Heeresgruppe Hindenburg, Infanterist in der 10. deutschen Armee unter dem Kommando von Hermann von Eichhorn. Die Front verlief direkt durch den See, dessen Westseite von deutschen Truppen besetzt war, die auch am Nord- und Südufer starke Stellungen unterhielten. Eigentliches Ziel der Offensive war jedoch das Litauische Wilna. Den Zugang über das Seengebiet hatten die Planer ausgewählt, weil der Frontabschnitt vergleichsweise schwach besetzt war. In Kombination mit einem massiven Artillerieeinsatz rechneten die Russen sich Chancen auf einen Durchbruch aus. Artillerie war ein Schlüsselwort des ersten Weltkrieges. Obwohl seit Jahrhunderten gebräuchlich, hatte sich der Einsatz dieses Kampfmittels massiv verändert. Verantwortlich waren nicht einzelne »Wunderwaffen« wie das »Paris-Geschütz«, sondern die schiere Quantität des Granatfeuers. Als Gegentaktik zum unüberwindlichen Maschinengewehrfeuer wurde seit 1916 tagelanges Geschützfeuer eingesetzt. Es galt, den Gegner zu zermürben und seine befestigten Stellungen soweit in Stücke zu schießen, dass die Todeszone der Maschinengewehre durchlässig wurde. An der Westfront in Verdun wurde dieses Konzept im Februar 1916 erstmals erfolgreich eingesetzt. Die Deutschen begannen ein »Trommelfeuer« aus 1200 Geschützen gleichzeitig und konnten damit die französischen Stellungen soweit zerstören, dass ihnen die Eroberung des Forts Douaumont gelang. Es wurde noch im Oktober desselben Jahres von den Franzosen zurückerobert, das Ergebnis aller Bemühungen nach monatelangen Kämpfen war damit gleich Null. Für dieses Nichts wurden 600.000 Tote und Verwundete gezählt, Verdun wurde zum Inbegriff der Sinnlosigkeit des Krieges. Die Gegner Deutschlands konnten sich bald auf das Trommelfeuer und die Menschen und Material vernichtende »Abnutzungsschlacht« einstellen und übernahmen die Taktik schließlich: in der Schlacht bei Arras setzten die Briten 1917 bereits 2200 Geschütze ein, die in kurzer Zeit zweieinhalb Millionen Granaten verschossen. 130 Dennoch brachte die auf Hochtouren laufende deutsche Kriegsmaschinerie die Gegner in härteste Bedrängnis. Die Franzosen operierten in Verdun am Rande ihrer Kraft und drängten deshalb ihre russischen Verbündeten immer wieder zu einer Entlastungsoffensive im Osten, um die deutschen Kräfte zu binden. Das »Weißbluten« Frankreichs, wie General Falkenhayn von der deutschen Obersten Heeresleitung es nannte, sollte um jeden Preis verhindert 128 Die Eingabe sprach von der Loslösung der Flamen aus der »künstlichen romanischen Umklammerung« und der »Eindeutschung« eroberten Siedlungslandes in Polen und Russland und verwies damit auf die Siedlungspläne des Nationalsozialismus. Der Text ist im Wortlaut abgedruckt in: Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik, Wien 1924, S.-185ff. Zur Legitimation von Krieg und Eroberungspolitik durch deutsche Hochschullehrer und Philosophen 1914-1918 vgl. auch Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung - Die deutschen Intellektuellen und der erste Weltkrieg, Berlin 2000. 129 Vgl. Boris Khavkin »Russland gegen Deutschland. Die Ostfront des Ersten Weltkrieges in den Jahren 1914 bis 1915« in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die Vergessene Front. Der Osten 1914/ 1915. S.65-86, hier S.-82. 130 Zu Verdun vgl. Peter März, Der erste Weltkrieg, S.-135ff sowie S.-161. <?page no="71"?> 71 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 71 werden. 131 Der russische Angriff am Narotsch-See im März 1916 stand damit in direkter Verbindung mit der Abnutzungsschlacht am anderen Ende Europas. Man wollte deutsche Truppen von der Westfront binden, die Konzentration der deutschen Kriegsmaschine auf einen Punkt sollte beendet werden. Der erste Weltkrieg wurde entschieden durch Produktionskapazitäten, Logistik, Transportwesen, technische Neuerungen und ihre industrielle Anwendung - letztendlich durch die Fähigkeit, möglichst viel Stahl auf möglichst effiziente Weise zu beschleunigen. Ein kinetischer Krieg, dem die weichen Körper der Menschen kaum gewachsen schienen. Insbesondere das russische Imperium war in dieser Form des Krieges zunächst unterlegen. »Menschenmaterial« gab es hier genug, doch das industrielle Potential war noch nicht entwickelt. Ein ständiger Mangel an Granaten wurde von den Militärs für die schweren Niederlagen des Jahres 1915 verantwortlich gemacht, der Entlastungsangriff im Osten kam erst einen vollen Monat nach Beginn der Schlacht um Verdun zustande. 132 Die Entlastungsoffensive begann am 17. März 1916 mit intensivem Geschützfeuer am Narotschsee. Russlands Armee übernahm die Taktik der Westfront und versuchte, die deutschen Stellungen durch Trommelfeuer zu zerschlagen. Erst am Tag später marschierten die Bodentruppen. 133 Ein deutscher Kriegsbericht vermerkte für diesen Tag: »an allen Stellen werden die Russen unter außergewöhnlich hohen Verlusten glatt abgewiesen«. 134 Der Angriff wurde am nächsten Tag mit starken Kräften zwischen Narotsch- und Wiszniewsee wiederholt, allerdings erneut zurückgeschlagen. Am 20. März dehnten die Russen ihre Offensive aus und griffen südlich von Riga sowie entlang des Flusses Düna an, während die Angriffe am Narotschsee Tag und Nacht fortgesetzt wurden. Hier konzentrierte sich alles. 350.000 russische Soldaten marschierten am Seeufer auf - eine bisher ungesehene Größenordnung, ihr standen nur 75.000 deutsche Verteidiger gegenüber. Die angreifende russische Armee setzte 982 Geschütze im Trommelfeuer ein. 135 Dennoch erreichte sie nichts. Leichte und schwere Artillerie der Angreifer waren schlecht aufeinander abgestimmt, wegen fehlender Aufklärung war unklar, wo die zu vernichtenden deutschen Stellungen lagen. Das russische Feuer verpuffte wirkungslos. 136 Die deutschen Truppen mussten sich am südlichen Seeufer um einige hundert Meter auf einen Höhenzug zurückziehen, ein Durchbruch gelang jedoch nicht. Für den 21. März heißt es im Kriegsbericht: »die Angriffspunkte werden zahlreicher, und die Vorstöße selbst folgen sich an verschiedenen Stellen ununterbrochen Tag und Nacht.« 137 Die Offensive behielt ihre Breite bei, die Angriffe erfolgen südlich von Riga, bei Pastawy und immer wieder am Narotschsee. Es war dieser 21. März 1916, an dem Werner Scholem auf dem Höhepunkt des russischen An- 131 Vgl. Bernd Langer, Revolution und bewaffnete Aufstände in Deutschland, 1918-1923, Göttingen 2009, S.-55. 132 Vgl. das Kapitel »The Shell Shortage«, in: Norman Stone, The Eastern Front 1914-1917, S.-144-164. 133 Zur Chronologie vgl. Schulthess Europäischer Geschichtskalender, Neue Folge, Zweiundreißigster Jahrgang 1916, hg. von Ernst Jäcky und Karl Hönn, München 1921, S.- XXI; Sowie ausführlicher: Deutscher Geschichtskalender - Sachlich geordnete Zusammenstellung der wichtigsten Vorgänge im In- und Ausland, hg. von Dr. Friedrich Pulitz, zweiundreißigster Jahrgang Januar-März 1916, S.-442f. 134 Ebenda, S.-442. 135 Die Zahlen stammen aus: Norman Stone, The Eastern Front 1914-1917, S.-228. 136 Ebenda, S.-229. 137 Deutscher Geschichtskalender - Sachlich geordnete Zusammenstellung der wichtigsten Vorgänge im In- und Ausland, hg. von Dr. Friedrich Pulitz, zweiundreißigster Jahrgang Januar-März 1916, S.-443. <?page no="72"?> 72 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) griffs durch einen Granatsplitter an der rechten Ferse verwundet wurde. Stahl und Fleisch trafen aufeinander, ein zentrales und doch alltägliches Ereignis im Krieg. Werner Scholem fiel aus, der Krieg ging weiter. Auch an den folgenden Tagen gab es immer wieder Artilleriefeuer und Durchbruchsversuche russischer Truppen, die jedoch abgewehrt wurden. Werner Scholem wurde derweil ins Hinterland getragen und auf einen Eisenbahnwagen verladen. Zwei Tage nach der Verwundung erreichte er das Kriegslazarett 131B in Kowno, wo die Wunde professionell versorgt wurde. Nach dem Kontakt von Stahl und Fleisch folgte in einem unvermeidlichen Verwaltungsakt der Kontakt von Stahlfeder und Papier: eine Krankenakte wurde angelegt. Körper sind vergänglich, Stahl und Papier geduldig. Informationssplitter, aus denen sich ein wenig von dem rekonstruieren läßt, was im März 1916 mit Werner Scholem geschah. 138 Während Scholem in Kowno im Lazarett lag, kämpften seine Kameraden am Narotschsee weiter, lebten oder starben, um eine imaginäre Linie auf den Karten des Generalstabs zu verteidigen. Sie erreichten ihr Ziel: am Ende gelang trotz zahlenmäßiger Übermacht der russische Durchbruch nicht. Hunderttausend russische Soldaten waren tot, zwanzigtausend Deutsche verloren ihr Leben. Die Frontlinie blieb unverändert. Ein Sieg für Deutschland? Eine Niederlage für Russland? Werner Scholem stellte sich diese Fragen nicht mehr. »Mensch! « schrieb er im ersten Brief an seinen Bruder, statt der sonst üblichen Anrede »Lieber Gerhard«. Auch den zweiten Brief vom 23. Juni begann er mit einem euphorisch-fassungslosen »Mensch, Mensch! «. Immer wieder taucht das Wort im weiteren Briefwechsel auf, Beschwörung und Schrei des Lebens - des Überlebens. Ein Appell an sich selbst, etwas zu bewahren und neu zu finden, was im Krieg verlorenzugehen drohte. Dem russischen Kanonier dankte Werner förmlich für die Granate und zeichnete seinem Bruder eine »Kurve des Geistes«, in dem er seinen seelischen Zustand auf einer Skala markiert. Sie beginnt mit den Höhepunkten »Mensch« und »Übermensch«, es folgen die Zwischenstufen »Hoffnung« und »Gedrückt«. Die Kurve erstreckt sich vom März 1915 bis zum Juni 1916. Seine Einziehung zum Militär leitet einen langen Abstieg ein, bis in jene unteren Regionen, die Werner mit »animalisch« und »bestialisch« beschreibt. Darunter stehen nur noch »Vieh« und »Kriegshetzer«. Der Krieg als Entmenschlichung, patriotische Kriegshetze als tierischer Bodensatz aller Geisteszustände - das Bild sagt mehr als tausend Worte. 139 Im Gegensatz zum Schulkameraden Ernst Jünger, der sich in den Stahlgewittern des Krieges als Mann beweisen will, so hart wie das metallische Kriegsgerät, suchte Werner seine Vollendung woanders. Ein Stück Stahl im Körper ist seine Chance, dem Wahnsinn zu entfliehen. Am 21. März, dem Tage der Verwundung nimmt seine »Kurve des Geistes« einen steilen Aufstieg hin zu den Skalen »Hoffnung« und »Menschentum«. Die Schlacht am Narotschsee war ein Wendepunkt im Leben Werner Scholems, aber auch ein Wendepunkt des Krieges. Obwohl in der kollektiven Erinnerung nur ihr Gegenpart Verdun eine Rolle spielt, war die Schlacht im Osten Teil desselben Kampfes, ein verzweifelter Versuch, das Schlachten in Frankreich durch einen Angriff am anderen Ende 138 Landesamt für Gesundheit und Soziales - Versorgungsamt Krankenbuchlager, Bescheid zu Werner Scholem, Berlin 23. Februar 2010 139 Das Erlebnis einer Ent-Menschlichung war eine Kollektiverfahrung des Krieges, vgl. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz, ›Keiner Fühlt sich hier mehr als Mensch‹ - Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993. <?page no="73"?> 73 2.2 Ein Roter in Feldgrau - Werner Scholem an der Ostfront 73 des Kontinents zu beenden. Der britische Historiker Norman Stone bezeichnet die Konfrontation am Narotschsee dementsprechend als eine der entscheidenden Schlachten des Weltkrieges. Die russische Militärführung sah sich im März 1916 damit konfrontiert, dass sie trotz vierfacher Überlegenheit und vorzüglicher Ausrüstung keinen Durchbruch erreichen konnte und fünfmal so viele Tote zu beklagen hatte wie die Deutschen. Diese war nicht einmal darauf angewiesen, Reserven von der Westfront zu mobilisieren. Als Entlastung hatte die Offensive komplett versagt. Stone macht dafür die Ineffizienz der russischen Armee verantwortlich, in der statt kapitalistischer Rationalität noch feudale Strukturen vorherrschten: Adelige Herkunft zählte mehr als militärische Befähigung. Am Narotschsee versuchte die russische Armee, die Erfolgstaktiken der deutschen und französischen Streitkräfte zu kopieren, scheiterte jedoch grandios. 140 Dem einfachen russischen Soldaten, der nach einem angeblich zerstörerischen Trommelfeuer ins Feld geschickt wurde und dort völlig intakte deutsche Maschinengewehrstellungen vorfand, tief eingegraben und geschützt von bis zu 15 Reihen Stacheldraht - diesem einfachen Soldaten fehlte hinterher jedes Vertrauen in die militärische und politische Führung seines Landes. Stundenlang musste er unter ständigem Feuer aktionsunfähig auf gefrorenem Boden liegend ausharren, vielleicht verwundet und ohne Hilfe, wartend auf einen Durchbruch der nie gelang. 141 Es war nur eine Frage von Monaten, bis eine Mehrheit der russischen Soldaten den Krieg genauso hasste wie Werner Scholem schon 1914. Zwar gelangen den Truppen des Zaren ab Juni 1916 an der Österreichischen Front noch einige Durchbrüche, aber eine Wende brachten sie nicht. Im Gegenteil: die hohen Verluste 140 Vgl. Norman Stone, The Eastern Front 1914-1917, S.-227-231. 141 Das Beispiel zitiert die Erfahrungen eines russischen Infanteristen an der österreichischen Front, vgl. Norman Stone, The Eastern Front 1914-1917, S.-224. »Kurven des Geistes« - Werner an Gershom Scholem, 19. Juni 1916 (GSA Jerusalem) <?page no="74"?> 74 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) beschleunigten die Erosion von Kampfkraft und Moral der russischen Armee. Es führt also eine Linie von der Schlacht am Narotschsee zur russischen Revolution. Aber auch für Deutschland, dem vermeintlichen Sieger am Narotsch, war 1916 kein erfolgreiches Kriegsjahr. Wie viele Schlachten, bei denen am Ende 20.000 tote Soldaten zu beklagen waren, wollte man noch »gewinnen«? Kriegsmüdigkeit machte sich breit, verstärkt durch die dramatisch verschlechterte Ernährungslage in den Großstädten. Deutschland war in der Vorkriegszeit weitgehend unabhängig von Lebensmittelimporten gewesen. Fehlplanung, Arbeitskräftemangel und der Einsatz von Pferden und Zugtieren fürs Militär führten jedoch dazu, dass die landwirtschaftliche Produktion ab 1916 nicht mehr ausreichte, um die Bevölkerung zu ernähren. Unter dieser Ernährungsnot hatten die Scholems allerdings nicht zu leiden. Während allgemein rationiert wurde, konnten sich wohlhabende Familien auf dem Schwarzmarkt mit Extrarationen versorgen. Einen Eindruck davon gibt ein Brief von Betty an Gerhard aus dem Jahr 1917: »Ein Freßpaket schicke ich Dir auch ohnedies, sobald ich was habe. Wir haben eine Gans bestellt (denn auch Tiere sind verschwunden! ) u[nd] wenn sie anfliegt, solltest Du eine halbe Brust als Geburtstagspaket kriegen, dann schicke ich auch ein Klümpchen Fett mit. Brot ist kaum mehr zu machen, da kein Krümel ohne Marken gegeben werden kann.« 142 Neben dem Gänsebraten bekam Gerhard auch Taschengeld fürs »Kuchenschlemmen«. 143 Die Lage der einfachen Bevölkerung sah anders aus, wie Bettys Hinweis auf die »verschwundenen Tiere« in den Städten andeutet. Näheres erklärt ein Bericht aus der »Vossischen Zeitung« vom April 1917: »Als Anfang vorigen Jahres ein Erlaß des Landwirtschaftsministers auf die jungen Saatkrähen als Nahrungsmittel für die Bevölkerung hinwies, wurden diese Tierchen in den meisten Großstädten zum Durchschnittspreis von 1 Mark verkauft, manchmal auch billiger, je nach der Größe der Tierchen […] Aber wie steht es in diesem Jahr! In einer Anzahl Berliner Geschäfte wurden in den letzten Wochen alte Krähen, und zwar graue Nebel- und schwarze Saatkrähen, zu etwa 2,30 bis 2,90 Mark das Stück verkauft. Das sind ganz unerhörte Preise. Und das für Tiere, deren Geschmack doch in keinem Verhältnis steht zu dem der jungen Saatkrähen und die der Landwirt früher abschoß und auf den Düngehaufen warf! Gegen solche Preise muß die Behörde einen Riegel vorschieben, und zwar sofort.« 144 2.3 Lazarettgedanken 1916 Als Patient im Lazarett in der ehemaligen städtischen Turnhalle Prinzenstraße war Werner im Sommer 1916 nicht auf tote Krähen als Nahrung angewiesen, seine Tante Hedwig versorgte ihn mit besserem. 145 Sogar Arthur Scholem zeigte sich erfreut über die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Werner resümierte ironisch: »Die Mischboche reißt sich um mich! Vater ist gerührt: ›Held! ‹ Reinhold hat das Kreuz! « 146 Werner selbst bekam statt des Eisernen 142 Betty an Gerhard Scholem, 16. November 1917, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.17f. 143 Ebenda. 144 Vossische Zeitung vom 8. April 1917, zitiert nach: Berliner Leben 1914-1918 - eine historische Reportage aus Erinnerungen und Berichten, hg. von Dieter und Ruth Glatzer, Berlin (DDR), 1983. 145 Werner an Gerhard Scholem 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. 146 Werner an Gerhard Scholem 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. <?page no="75"?> 75 2.3 Lazarettgedanken 1916 75 Kreuzes immerhin ein Verwundetenabzeichen, hielt dies jedoch in seinen Briefen nicht für erwähnenswert. 147 Ihn ließen sowohl militärische Auszeichnungen als auch die plötzliche Zuneigung der Familie kalt. Die Onkels bezeichnete er als »Drohnen«, die Familie blieb abfällig »Mischboche« - eine Mischung aus »Boche« und »Mischpoke«. Die Heldenverehrung des Vaters wies er mit einem dreifach unterstrichenen »Nebbich! « zurück - jiddisch für »dummes Zeug«. 148 Die alten Streits waren nicht vergessen. Zwar kam er mit seiner Mutter gut aus, und Tante Hedwig kümmerte sich nicht nur um Werners Bauch, sondern beide verstanden sich auch sonst ganz gut. Hedwig Scholem, geborene Levy, war die Frau von Arthurs Bruder Theobald und bekannte sich wie dieser zum Zionismus - von daher hatte sie einen besonderen Draht zu Gerhard und Werner. 149 Hedwig, auch Hete genannt, erzählte Werner regelmäßig Neuigkeiten und brachte ihm Bücher. 150 Zum Rest der Familie, insbesondere zum Vater behielt Werner jedoch ein distanziertes Verhältnis. Sein eigentlicher Bezugspunkt war Gerhard, dem er von nun an wieder regelmäßig in langen Briefen über sein Leben berichtete. Ihm fehlte der direkte Austausch mit dem Bruder, der in Oberstdorf im Allgäu weilte. Dennoch war Werner froh, in seiner Heimatstadt zu sein, er wollte sich »mindestens den Sommer über in Berlin und den Herbst in der Garnison rumdrücken.« 151 In der Tat sollte sich sein Lazarettaufenthalt bis in den August hinziehen. Werner war fest entschlossen, diese Zeit zu nutzen. Bereits im ersten Brief an Gerhard breitete er ambitionierte Bildungspläne aus: »Ich bekam eine Hörerkarte zur Universität, mit der ich jede Vorlesung besuchen kann. Aber ich will mich auch richtig hier immatrikulieren lassen um womöglich ein Semester zu gewinnen. An Vorlesungen ist nicht viel zu holen, da sie ja alle längst begonnen haben. Ich gehe zu einigen geschichtlichen hin und zur ›Hygiene des männlichen Geschlechtslebens‹ hin. Die ›Unhygiene‹ habe ich ein Semester im Felde studiert. Ich hoffe, du wirst nichts dagegen haben, wenn ich dein Zimmer als Arbeitszimmer benutze und deine Bibliothek (oh! Ja! ) etwas benutze. Es wird alles ordentlich behandelt. Wo soll ich nämlich sonst hin. Bei Erich, unserem teuren Bruder, stinkt’s nach Samen, Pyjama und Geistesöde! « 152 Werners Bildungshunger war groß - gerade in dieser Hinsicht war die Soldatenzeit ein verlorenes Jahr und er wollte an sein unterbrochenes Studium anknüpfen. Bildung war lebendiger Kontrast zur Verrohung des Soldatenlebens. Insbesondere das »unhygienische« Treiben in den Frontbordellen scheint tiefen Ekel bei Werner erweckt zu haben. In einem späteren Brief schrieb er: »Es ist doch das Sittlichste, eine (1) Frau zu haben. Ich habe faktisch im Felde kein Weib berührt! « 153 Doch konnte sich Werner den Rohheiten des Soldatenlebens nicht ganz entziehen. Eine kleine, verschämte Schlussbemerkung am Ende seines euphorischen Briefes spricht Bände: »Ich habe mir das Schnapssaufen wirklich 147 Das Abzeichen erwähnte er in einem Polizeiverhör am 8. Juli 1933, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Hüffner und Genossen, BArch, R 3018, NJ 3253 Bd. 8. 148 Werner an Gerhard Scholem 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. Das Wort »Nebbich« kann auch auf eine unwichtige Person verweisen. 149 Vgl. dazu den Briefwechsel Hedwig Scholem - Gerhard Scholem im GSA Jerusalem. 150 Vgl. Briefe von Werner an Gerhard vom 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. 151 Ebenda 152 Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. 153 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="76"?> 76 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) abgewöhnt.« 154 Wie viele andere auch konnte Werner den Krieg nüchtern nicht ertragen. Mit Alkohol ließen sich die schrecklichen Erlebnisse nicht verarbeiten, aber wenigstens verdrängen. Erst im Lazarett konnte Werner vom Schnaps ablassen, wollte alles Versäumte nachholen. Doch die Lazarettroutine stahl ihm Zeit: »Übrigens täuschst du dich, wenn du meinst, daß ich ebensoviel Zeit wie du habe. Paß mal auf. Morgens um ½ 7 aufstehen, dann Betten machen, waschen, Staub wischen, Briefe schreiben, Verbinden u.s.w. 12 Uhr Mittagessen. 9 Uhr wieder im Lazarett, wo das Licht nicht angemacht wird, also um 10 Uhr alles futsch. Am Nachmittag noch dem Sohne meines Feldwebels Englisch beibringen. Bleibt also nicht viel.« 155 Dennoch nutzte Werner die verbliebene Zeit, um in jeder freien Minute zu lesen und zu schreiben. Tagsüber hatte er Ausgang und konnte von der Prinzenstraße in die Neue Grünstraße hinken - das Lazarett lag nur einige Straßenzüge entfernt von der Scholemschen Wohnung. Einbeinig mit Krücken war die Strecke jedoch eine Herausforderung. Werner nahm die Mühe dennoch gerne auf sich, um Gerhards Schreibtisch zu nutzen und dessen Bücher zu lesen. Die Universität besuchte er bald nicht mehr, die starren Zeitregeln hinderten ihn an den interessanten Vorlesungen, von denen er in der Semestermitte eh schon die Hälfte verpasst hatte. »Ich will daher Platon lesen und deine Bibliothek studieren«, 154 Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. 155 Werner an Gerhard Scholem, 23. Juni 1916, GSA Jerusalem Städtische Turnhalle Berlin Prinzenstraße, die im ersten Weltkrieg als Lazarett diente (LSB Berlin). <?page no="77"?> 77 2.3 Lazarettgedanken 1916 77 schrieb er an Gerhard und fragte weiter: »Komme ich dann im Verlauf einiger Wochen durch einige Abschnitte Kierkegards durch? « 156 Werner warf sich mit aller Kraft ins Selbststudium, neben der Philosophie hatte es ihm vor allem die Geschichte angetan. Die Brüder knüpften nun an ihre Diskussionen von 1914 an. Für beide war Geschichte kein akademisches Interesse, das historische Studium bedeutete die Betrachtung des Lebens an sich. Werner schrieb: »Hier freute mich ein Wort von dir, das mir wesensgleich ist, ›der Mut zum wahrhaftigen Dogmatismus‹. Aber kann der wahrhaftige Dogmatismus nur das Sehen durch die jüdische Brille sein? Natürlich gucke ich, sogar bewußt, durch die jüdische Brille, aber ich sage z.B. das Dogma vom historischen Materialismus, das fester denn je bei mir wurzelt. Ich will die Geschichte mit seinen Augen betrachten. Hier kommen wir ja zur Frage, ob ich Geschichte studieren darf. Nun habe ich ja Görres 157 nicht gelesen, auch mußt du bedenken, daß ich am 11. Juni 15 stehen blieb, aber mir scheint, die Historie ist doch eine sprungweite Entwicklung der Dinge, die anzuschauen aus der Brille des historischen Materialismus sich lohnt.« 158 Arthur Scholem war der Wissensdurst des Sohnes zwar immer noch verdächtig, dennoch entspannte sich das Verhältnis erstmal: »Der Chef ist ganz anders augenblicklich zu mir« notierte Werner. 159 Abgesehen von gelegentlichen Vorschlägen für Jurastudium statt Geschichtsphilosophie hielt Arthur sich zurück und bemühte sich um seinen Sohn. Denn Werners körperliche Verfassung war nicht so gut, wie es die geistigen Höhenflüge vermuten ließen. Am 13. Juli 1916 schrieb er: »Ich bin Montag operiert worden, und mein Bein tut sehr weh. Ich muß nun sicher längere Zeit zu Bett liegen. Deshalb muß ich dir zuvorderst sagen, daß ich persönlich dir deine Sachen nicht schicken kann, da ich nicht mehr aus dem Hause komme, aber ich will es Vater sagen, daß er es tut. Diese wichtige Persönlichkeit ist in einer interessanten Sorge um mich, denn sie taucht täglich an meinem Bett auf. […] Außerdem habe ich mir ein Bett-Schreibpult gekapert, das sich hier herumtreibt, und arbeite den ganzen Tag, wenn mein Bein nicht gerade mal zu weh ist. Ich habe heute nochmal an Brauer geschrieben, daß er herkommt, dann wollen wir alles besprechen. Da ich nicht imstande war, von Sonnabend bis gestern etwas zu tun, denn am Sonnabend und Sonntag war mein Weib hier, und Montag und Dienstag stank mein Gehirn nach Äther. […] Ich hätte vorige Woche deine Bibliothek gern mal bis in die hintersten Regionen durchforscht, denn ich sah, daß alles doppelt steht, aber das würde zu viel Unordnung schaffen. […] Ich habe hier folgende Bücher: Das Ziel, Hauptprobleme der Philosophie (Simmel), die Religion (Simmel), die Legende des Baalschem (Buber), wobei zu bemerken ist, daß ich dies Buch mitnahm, bevor du mir es anrietst, Monrads v. Kierkegard, 160 Stadien auf dem Lebenswegen (Kierkegard), Kierkegard als Philosoph (Höffling), und zuletzt dein Weininger, obwohl ich ihn schon gelesen habe.« 161 Eine beeindruckende Leseliste - insbesondere faszinierte ihn der Ende 1915 erschienene Sammelband »Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist«, einer Aufsatzsammlung mit Beiträgen 156 Ebenda. 157 Joseph Görres (1776-1848), katholischer Publizist und Historiker, zeitweise Anhänger der Französischen Revolution. 158 Werner an Gerhard Scholem, 23. Juni 1916, GSA Jerusalem. 159 Werner an Gershom Scholem, 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. 160 Olaf Peder Monrad, Søren Kierkegaard: Sein Leben und seine Werke, Jena 1909. 161 Werner an Gershom Scholem, 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="78"?> 78 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) prominenter Autoren: Heinrich Mann, Leonhard Nelson, Alfred Kerr, Max Brod, Franz Werfel, Ludwig Rubiner, Hans Blüher, Rudolf Leonhard, Hedwig Dohm, Alfred Wolfenstein, Walter Benjamin und Kurt Hiller. 162 Der Band wurde kurz nach dem Erscheinen wegen seiner pazifistischen Haltung verboten. Werner setzte sich intensiv mit den einzelnen Beiträgen auseinander und nahm sie zum Anlass für eigene Reflexionen. Er lobte Walter Benjamin, besonders jedoch Heinrich Mann: »Daß mir Heinrich Mann aus der Seele spricht, brauche ich kaum erst zu sagen. Besonders hat mir gefallen, daß die Boches dabei etwas abbekommen. Wer dieses Volk näher kennt, der kotzt! « 163 Selten fand Werner stärkere Worte für jenen völkischen Nationalismus, der während des ersten Weltkrieges um sich griff und die politische Kultur Deutschlands über Jahrzehnte vergiftete. Die Erfahrungen des letzten Jahres hatten Werners Gefühl der Entfremdung im eigenen Lande noch einmal verstärkt. Mit großem Interesse wandte er sich jetzt Gerhards Sammlung von jüdischer Literatur zu. Besonders beeindruckte ihn »Die Legende des Baalschem« von Martin Buber, in der dieser am Beispiel des Chassidismus eine Einführung in die jüdische Mystik gab: »Ich lese nun die Legende des Baalschem. Ich habe bisher Hitlahabut und Aboda in mir aufgenommen. Auch hier, bei Aboda, die Frage: Was bin ich und was ist mein Leben? « 164 Hitlahabut und Aboda waren zwei Begriffe, denen Buber eigene Kapitel gewidmet hatte. Sie beschreiben einerseits die Ekstase der Gotteserfahrung, andererseits den Dienst an der Gottheit, wie Buber schrieb: »Hitlahabut ist das Gottesumfangen ohne Zeit und Raum. Aboda ist das Gottdienen in der Zeit und im Raume. Hitlahabut ist das mystische Mahl. Aboda ist das mystische Opfer. Es sind die Pole, zwischen denen das Leben des Heiligen schwingt.« 165 Solche Sätze hätten Werner im Herbst 1914, als er Gerhard den Sozialismus erklärte, wohl nur zu mildem Lächeln gereizt. Damals zählte allein der historische Materialismus und Werner reagierte mit bloßem Unverständnis auf Fragen nach Ethik und Mythos. Ein Jahr Krieg hatte ihn jedoch verändert. Durch die ständige Nähe des Todes gewann die Frage »Was bin ich und was ist mein Leben? « eine verunsichernde Dringlichkeit. Werner wurde offener für Spirituelles und versuchte sich an Bubers Ansatz, den Mythos des Judentums als Quelle für eine kulturelle Wiedergeburt zu erschließen. Ähnlich fasziniert war auch ein Lazarettkamerad, dem das Buch in die Hände fiel: »Mir ist da eine merkwürdige Sache passiert. Ein boche hatte, während ich mal schlief, das Buch angefangen und bat mich, es ihn zu Ende lesen zu lassen. Er war ganz entzückt und sagte, er hätte sowas noch nie gelesen. Seitdem ist er in Buber völlig versunken. Der Mann ist sonst aber ganz boche! Ich sehe, es ist ein merkwürdiges Buch.« 166 Ein Buch, das Juden und »boches« gleichermaßen bewegte? So etwas erschien Werner mehr als seltsam. Er fühlte sich mehr denn je als Außenseiter, wünschte sich einen Austausch dazu mit Gerhard: »Sieh zu, daß du bald zurückkommst. Du verstumpfsinnst ja in Oberstdorf. Ich denke über Palästina nach.« 167 162 Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, München-Berlin 1916. Der Band war der erste in einer Reihe von fünf Jahrbüchern. 163 Werner an Gerhard Scholem, 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. 164 Werner an Gerhard Scholem, 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. 165 Martin Buber, Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. M. 1908, S.-10. Heute gebräuchliche Schreibweisen der Begriffe sind Hitlahavut und Avodah. 166 Werner an Gerhard Scholem, 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. 167 Ebenda. <?page no="79"?> 79 2.3 Lazarettgedanken 1916 79 Werners Nachdenken trug Früchte. Er traf sich mit Gerhards Freund Erich Brauer, um mit diesem über die Mitarbeit an der Jugendzeitschrift »Die Blau-Weiße Brille« zu bereden. Das Blatt wurde von Brauer und Gerhard Scholem gemeinsam herausgegeben und heimlich in der Scholemschen Druckerei hergestellt, es erschienen insgesamt drei Ausgaben. Die Blau-Weiße Brille richtete sich an die jüdische Jugendbewegung, wandte sich gegen den Weltkrieg und seine Unterstützung durch zionistische Gruppen - ein Grund, weshalb es auch für Werner interessant war. 168 Erich Brauer war vom Besuch bei Werner allerdings nicht sonderlich beeindruckt. Er schrieb kurz darauf an Gerhard: »Ich war also bei Deinem fußbeschädigten Bruder. Ich kannte ihn noch nicht so genau. Außerdem mußte er sich ja die Haare scheren lassen. Vertraulich gesagt habe ich von ihm den Eindruck eines nicht besonders logischen und meinungsfesten Menschen. Es mag falsch sein, aber ich habe so die Empfindung, als ob sein Sozialismus eine Protzerei ist. Da merkt man stark, daß der Zionismus uns doch etwas anderes ist, als ihm der Sozialismus. Im übrigen glaube ich nicht, daß er so Jude sein kann wie wir - trotzdem er sich so hinstellt. Ich halte seine Lage doch bei dem jetzigen Zustande des Judentums für sehr schief. Bist Du darin meiner Ansicht? « 169 Werners suchendes Lesen war für Brauer nichts weiter als ein Zeichen von Charakterschwäche, er zog die reine Lehre jeder möglichen Verbindung von Judentum und Sozialismus vor. Es war zu seiner Zeit auch keineswegs üblich, dass Zionisten sich für den Sozialismus begeisterten. Die ersten Zionistenkongresse Ende des 19. Jahrhunderts waren Veranstaltungen des gehobenen Bürgertums, auf denen die Delegierten in Frack und Zylinder auftraten, lediglich in Osteuropa gab es zionistisch-sozialistische Gruppen. 170 In der deutschen Sozialdemokratie blieb der Zionismus dagegen als bürgerlicher Nationalismus verpönt. 171 Gerade Karl Kautsky, theoretischer Vordenker der Sozialdemokratie und auch Werners Vorbild, war in dieser Frage besonders ablehnend. In seinem Aufsatz »Rasse und Judentum« verlangte er die Assimilation der Juden als Vorbedingung einer universalen Emanzipation. 172 Dabei konnte er sich durchaus auf Marx stützen, der in seiner Schrift »Zur Judenfrage« schon 1843 Ähnliches vertreten hatte. Ihm folgend blieb der Marxismus lange gefangen in einem rigiden Universalismus, der mit seinem emphatischen Gleichheitsbegriff kulturelle Differenz nur als Irritation, selten als Bereicherung ansah. Genau aus diesem Grunde konnte sich Gerhard nicht für die Sozialdemokratie begeistern. Als er 168 Zur Blau-Weißen Brille vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.- 76; sowie Gershom Scholem, Tagebücher, I. Halbband 1913-1917, S.- 130f, die Originale befinden sich in der National Library of Israel, Jerusalem. 169 Erich Brauer an Gerhard Scholem, 15. Juli 1916, in: ders., Briefe I, S.-349, Hervorhebungen im Original. 170 Im Gegensatz dazu wies die frühe Ideengeschichte des Zionismus jedoch durchaus sozialistische Einflüsse auf, etwa bei Moses Hess, der als intellektueller Gefährte von Karl Marx begonnen hatte und mit seinem Buch »Rom und Jerusalem« von 1862 eine Gründungsschrift des Zionismus verfasste. 171 Eine Ausnahme war die reformorientierte Strömung der »Revisionisten«, vgl. Andreas Morgenstern, Die »Sozialistischen Monatshefte« im Kaiserreich - Sprachrohr eines Arbeiterzionismus? , in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft III/ 2012, S.-5-25. 172 Karl Kautsky, Rasse und Judentum, Berlin 1914. Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Judentum vgl. Mario Keßler, Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus - Arbeiterbewegung und jüdische Frage im 20. Jahrhundert, 2. Auflage Mainz 1994; Mario Keßler, Zionismus und internationale Arbeiterbewegung: 1897 - 1933, Berlin 1994 sowie Shlomo Na’aman, Die Judenfrage als Frage des Antisemitismus und des jüdischen Nationalismus in der klassischen Sozialdemokratie, in: Ludger Heid u. Arnold Paucker (Hg.): Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933 : soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Tübingen 1992. <?page no="80"?> 80 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Kautskys Aufsatz im Dezember 1914 las, war er schlicht entsetzt. Im Tagebuch notierte er: »Kautskys Vorstellungen vom Zionismus sind furchtbar.« 173 Dies war einer jener Punkte, an denen Gerhard sich der deutschen Arbeiterbewegung besonders fremd fühlte. Die sozialistische Idee faszinierte ihn jedoch weiterhin. Gerhard und Werner waren Ausnahmeerscheinungen im Geistesleben ihrer Zeit. Von verschiedenen Punkten aus versuchten sie, eine jüdisch-sozialistische Utopie zu entwerfen, wobei bei Werner das sozialistische, bei Gerhard das jüdische im Vordergrund stand. Oft redeten sie aneinander vorbei, immer wieder trafen sie sich. Gerhard verteidigte daher seinen Bruder gegen die Vorwürfe Brauers - seine Antwort war jedoch nicht frei von Vereinnahmungsversuchen: »Ich glaube doch, dass deine Meinung über meinen Bruder in wesentlichen Stücken ungerechtfertigt ist, denn selbst, wenn alles so wäre, darfst Du eines nicht vergessen: er ist auf dem Wege. Vor 4 Jahren ging er weg von uns, jetzt kommt er wieder, er schrieb mir, er müsse nach Kriegsende sich genau die jüdische Bewegung ansehen, um an ihr gegebenenfalls mitzuarbeiten. Sein Judentum ist ›besserungsfähig‹, was das so vieler ›Zionisten‹ leider gar nicht ist, denn er ist nicht selbstzufrieden. Je mehr Ihr ihn heranzieht - ich gedenke, ihn später sehr für uns zu gewinnen! - desto mehr wird er immer bewusster sich dem einen Weg zuwenden. Ich weiss, dass er z.B. religiös umgekehrt ist, ich weiss, dass er seine Kinder schon jüdisch erziehen will, ich bin überzeugt, dass er bald beim Hebräischen angelangt sein wird. Grundsätzlich sind wir beide einig: wir haben beide ein wahrhaft ehrliches Ideal der ›Bewegung‹ und vom ›Radikalismus‹. Deine Ansicht über seinen Sozialismus ist ganz sicher ein Irrtum, das weiss ich gewiss, und grade weil ich es weiß, weiß ich, dass [er] ihn zu Zion führen wird. Seine Meinungen ändert er nur ebenso wie wir alle: die wir nach links rutschen. Du, Ich und Er. Und alle! Hoffentlich ist, wenn dieser Brief ankommt, schon alles geregelt, und wir können anfangen zu arbeiten. Denke bitte daran, dass mein Bruder allein, ich möchte beinahe sagen: zuerst gegen mich sich zur B[lau] W[eißen] B[rille] gefunden hat.« 174 Werner, der Gerhard überhaupt erst mit der Gruppe »Jung Juda« und dem Zionismus bekannt gemacht hatte, sollte nun als verlorener Sohn zurückfinden? In der Tat hatte er Gerhard eine neue Haltung mitgeteilt: »Dagegen bin ich im religiösen Sinne zu einem gewissen Abschluß gekommen. Aber wenn ich nun sage, daß ich mich vom krassen Atheismus abgewendet habe - und ich glaube, endgültig - so hat mein Kriegerleben darauf weder direkt noch indirekt Einfluß gehabt. Das brauche ich dir aber wohl nicht erst zu versichern. Aber mein Glaube hat eine verfluchte Ähnlichkeit mit dem Neuhellenismus bekommen. Ich muß nun mal Plato lesen - er kommt nächste Woche, wenn ich zu Bett liege, heran - ich erhoffe Einfluß von ihm. Merkwürdigerweise hat mich z.B. Darwins ›Entstehung der Arten‹ eher zu als von meiner Gedankenrichtung getrieben. Ich sprach - dies ist wichtig für mich - mit Emmy darüber, als ich in Hannover war. Sie ist merkwürdig unreligiös aber dies liegt auch an ihrer bisherigen Entwicklung. Ich trug ihr meinen endgültigen Entschluß vor, nicht aus der jüdischen Gemeinschaft zu scheiden. Und eventuell auch meine Kinder in jüdischem Sinne zu erziehen. Sie war damit nicht nur einverstanden, sondern es hat sie offensichtlich angenehm berührt. Sie kann wirklich für würdig erachtet 173 Gershom Scholem, Tagebücher, Bd. 1, S.-75-76. 174 Gerhard Scholem an Erich Brauer, 17. Juli 1916, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-42. <?page no="81"?> 81 2.3 Lazarettgedanken 1916 81 werden, meine Kinder zur Welt zu bringen. Sie ist frei von christlichem Geist und frei von germanischen Fehlern.« 175 Ob Werners »Kriegerleben« wirklich keinen Einfluss auf seine religiöse Wende hatte? Seine Tiraden gegen die deutschen »Boches« sprachen Bände, und bereits im ersten Lazarettbrief hatte Werner berichtet, dass ihn im Felde ein »fürchterlicher Judenhass« verfolgt habe. 176 Misstrauen gegen jüdische Frontsoldaten war kein subjektives Empfinden, sondern offizielle Politik. Im November 1916 veranlasste der preußische Kriegsminister die Erstellung einer amtlichen »Judenstatistik«. Alle Frontsoldaten jüdischer Herkunft wurden mit folgender Begründung erfasst: »Fortgesetzt laufen beim Kriegsministerium aus der Bevölkerung Klagen darüber ein, daß eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke.« 177 Die Ergebnisse der Statistik widerlegten die von Antisemiten gestreuten Behauptungen - sie wurden jedoch nie veröffentlicht, was den Gerüchten weiteren Auftrieb verlieh. Während für andere der Krieg ein Gemeinschaftserlebnis war, fühlte sich Werner mehr denn je von der deutschen Gesellschaft abgestoßen. Trotz dieser Wendung war Werner von seinem Treffen mit dem Zionisten Brauer nicht ganz überzeugt - die Abneigung war gegenseitig. Werner schrieb, das Gespräch sei nicht zu seiner »vollen Befriedigung ausgelaufen«. 178 Dennoch ließ er sich nicht beirren und wollte an der Blau-Weißen Brille mitarbeiten. Immer wieder dachte Werner über das Verhältnis von zionistischer und sozialistischer Jugendbewegung nach: »Es muß doch ein Zusammenarbeiten, oder vielmehr ein Zugleich-denken möglich sein. Seit 1912 bin ich darüber im unklaren. Ich muß das entscheiden, wenn ich politischen Grund zu ersprießlichem Lebenstun legen will.« 179 Die Frage drängte ihn, und Ende Juli 1916 übermittelte er seinem Bruder dazu ein Manifest, das er in der blau-weißen Brille veröffentlicht sehen wollte: Zur Unbedingtheit einer Jugend. Einige Regeln. Geh aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Du wirst dereinst ein Vaterland haben! Wir zeigen dir die Richtung. Gehen mußt du selber. Versuche immer, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen! Ein jüdischer Schädel ist stärker als die meisten Wände. Bereite keine Taschentücher für deutsche Rotznasen, denn das ist Aufgabe der sozialistischen Jugendbewegung! Bekämpfe du den jüdischen Rotz! Kotze dich dabei gemächlich aus! Bekämpfe den Ernst des Lebens! Verziehe dein Gesicht zu einem anmutigen Grinsen, wenn man dir von Geldfragen spricht! So man dir von Weltkriegen spricht, kotze dreimal, bis dir grüne Galle in das Maul kommt! Diese Galle ist 175 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem, Hervorhebung im Original. 176 Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. 177 Der Text des Erlasses findet sich in Jacob Rosenthal, Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt a. M. - New York 2007, S.-63. Zum deutsch-jüdischen Kriegserlebnis 1914-1918 und seiner erinnerungspolitischen Verarbeitung vgl. Tim Grady, The German- Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory, Liverpool 2011 sowie Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg - Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001. 178 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. 179 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="82"?> 82 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) bitter und wird geeignete Wirkung auf deine Schreiwerkzeuge ausüben. Gehe sodann, und kaufe dem, der dir von Weltkriegen sprach, ein Schlächtermesser oder aber - eine Stinkbombe! Sei intolerant! Da du selber in dir einen großen Opportunisten daherbringst, bekämpfe diesen mit Gift und Galle! Sei fanatisch! Sei asketisch! Sei großmäulig! Habe Ehrfurcht vor den Träumen deiner Jugend und opfere deiner heiligen Zukunft auf den Altären der Gegenwart! Das ist der Sinn einer Jugend-Bewegung! Sprich: ›Diese sind Menschen! ‹, so du von der sozialistischen Jugendbewegung hörst. Wachse, und diese werden deine Brüder sein! Ehre den Mann Liebknecht! Sein Name sei das Symbol der Unbedingtheit! 180 Das Manifest, bisher irrtümlich auf 1914 datiert, fasst Werners geistige Entwicklung im Sommer 1916 zusammen. 181 »Unbedingtheit« war das Schluss- und Schlüsselwort, Kampfansage an jede Halbheit und Anpassung an den »Ernst des Lebens« im Haus des Vaters. Es ist vielsagend, wie in Werners Text Vaterhaus und Vaterland zusammenfallen. Dahinter stand die alte Abscheu vor dem Zwang zur Wahl eines »vernünftigen« Berufes, vor der Einordnung in den alltäglichen Geschäftsbetrieb. Gleichzeitig verwies die Eingangszeile auf etwas Älteres. Sie war direkte Anspielung auf das Buch Genesis, wo Abraham von Gott aufgefordert wurde, Verwandtschaft und Vaterhaus zu verlassen und auszuziehen in ein »Land, das ich dir zeigen werde«. Im ersten Buch Moses war dies das gelobte Land Kanaan. 182 Doch wo lag Werners Land der Verheißung? Die Suche nach Transzendenz war nicht nur durch das Krämertum des Vaters erschwert, denn Vaterland und Vaterhaus standen synonym für den mörderischen Nationalismus der Kriegsgesellschaft. Diesem ungeheuren Druck setzte Werner die Sehnsucht nach dem gelobten Land entgegen. Er wollte mit dem Kopf durch die Wand nach Utopia. Jene, die ihn dorthin begleiten bezeichnete er als Brüder. Eine neue Familie, gleichzeitig eine neue Menschheit - im Gegensatz zur Entmenschlichung, die er im Krieg erlebt hatte: »Ankotzendes Viechertum« lautete eine seiner drastischeren Bezeichnung für das Soldatenleben. 183 Die Natur der Utopie, die Werner dem entgegenstellte, blieb jedoch offen. Lag das neue Vaterland in Palästina? War der sozialistische Zukunftsstaat gemeint? Oder eine Kombination aus beiden? Werner blieb vage beim Ziel, klarer war ihm der Weg: Dem Opportunismus seiner Zeit setzte er die ethische Haltung der Unbedingtheit, den Respekt vor den Träumen der Jugend entgegen. Symbol dafür war ihm Karl Liebknecht. In einem Album 180 Das Manifest findet sich im Werner an Gerhard Scholem vom 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. Wie bereits angemerkt ist der Brief von Werners Hand mit dem Datum 20. Juli 1914 versehen, kann aber aufgrund der Hinweise über Spartakusgruppe, Krieg und Lazarettaufenthalt nur aus dem Juli 1916 stammen. Eine Zeile aus Werners Brief an Gerhard vom 13. Juli 1916 (GSA Jerusalem) bestätigt dies: »Meine Lazarettgedanken zur Jugendbewegung sind nur Illustrationen zu meinem ›Weg‹. Dieser Weg ist anscheinend unklar. Ich las gute Worte darüber im ›Jude‹: gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will! « »Der Jude«, war eine von Martin Buber und Salman Schocken zwischen 1916 und 1928 herausgegebene Monatszeitschrift. Zur Interpretation des Manifestes vgl. auch Mirjam Triendl-Zadoff, Unter Brüdern - Gershom und Werner Scholem - Von den Utopien der Jugend zum jüdischen Alltag zwischen den Kriegen, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2007) 2, 56-66 - leider ist auch hier der Brief falsch datiert. 181 Zur Datierung siehe Fußnote oben. 182 Genesis 12,1-2: »Der Herr sprach zu Abram: Zie weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen« (zit. nach Einheitsüberseitzung, Stuttgart 1980). Werner zitierte die Bibelstelle indirekt nach einer Anspielung aus der Zeitschrift »Der Jude« (siehe Fußnote oben). 183 Werner an Gerhard Scholem vom 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="83"?> 83 2.3 Lazarettgedanken 1916 83 bewahrte Werner eine Bildpostkarte seines Idols aus dem Jahr 1915 auf: Liebknecht in der Uniform eines einfachen Arbeitssoldaten, zielstrebig voranschreitend. Liebknecht trug dieselbe Uniform wie Werner. Er war als Sozialist zwangsweise zum Heer eingezogen worden, jedoch nicht zum Waffendienst, sondern zum Gräbenschaufeln. Nur für Parlamentssitzungen bekam er frei. Dennoch hatte er den Widerstand nicht aufgegeben: Am 1. Mai 1916 organisierte Liebknecht mit der Spartakusgruppe eine Antikriegskundgebung auf dem Potsdamer Platz in Berlin und wurde sofort verhaftet. Am 28. Juni 1916 folgte die Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe. Werner schrieb dazu an Gerhard: »Liebknecht’s Verurteilung hat dich überrascht? Mensch, hier hat man sich über die Wiedergeburt und glaubt allgemein, daß nur die gefährliche Gärung ihm 10 Jahre Zuchthaus erspart habe […] daß hier die Arbeiter der Munitions- und Flugzeugfabriken einen Sympathiestreik gemacht haben, weißt du wohl schon.« 184 In der Tat hatten in Berlin am Tage des Prozesses 50.000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Metallindustrie die Arbeit niedergelegt - der erste politische Massenstreik, den Deutschland je erlebte. 185 Der Staat hatte an Liebknecht ein Exempel statuieren wollen - stattdessen wurde sein Prozess zum Ausgangspunkt eines immer aktiveren Widerstands gegen den Krieg. Tausende Verwundete hatten wie Werner ihre Kriegsgeschichten für die Daheimgebliebenen mitgebracht, darunter auch viele Patrioten, die nun zu zweifeln begannen. Kriegsfreiwillige gab es kaum noch, die Jugend fürchtete sich vor der Musterung. Dies, zusammen mit der sich verschärfenden Lebensmittelknappheit, ergab jene »gefährliche Gärung«, die man in Berlin allerorten spürte. Sein Lob auf Liebknecht unterstrich Werner im Nachsatz zum Manifest noch. Keineswegs solle Brauer die Zeile aus politischen Rücksichten streichen: »Ich halte es für notwendig, daß dieser Name in einer Zeitschrift wie B[lau] W[eiß] endlich erwähnt wird.« 186 . 184 Ebenda. 185 Organisiert wurde der Sympathiestreik nicht von der Spartakusgruppe, sondern von oppositionellen Kräften in der Gewerkschaft der Metallarbeiter, angeführt vom Dreher Richard Müller. Vgl. dazu Ralf Hoffrogge, Richard Müller - der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008. Zur Rolle Liebknechts vgl. Annelies Laschitza, Die Liebknechts. Karl und Sophie - Politik und Familie, Berlin 2007. 186 Werner an Gerhard Scholem vom 20.7 Juli 1916, GSA Jerusalem. »Karl Liebknecht 1915«, Beschriftung von Werner Scholem (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="84"?> 84 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Werners Sorge war unnötig, weil die vierte Nummer der Blau-Weißen Brille nie zustande kam. 187 Ob dies an den sich abzeichnenden politischen Differenzen oder den Umständen des Krieges lag, ist unklar. Obwohl die Leitsätze nie gedruckt wurden - sie sind eine Momentaufnahme von Werners politischer Haltung Mitte 1916. Trotz einer Neuentdeckung des Judentums blieb Werner Sozialist - ein Sozialist, der Halt suchte gegen den Opportunismus der eigenen Bewegung. Werner versuchte, unterbrochene Kontakte neu zu knüpfen. Immer wieder berichtete er dem Bruder vom Stand der Bewegung, von den Bemühungen der Kriegsgegner, sich in der Partei Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig war er entsetzt über das Ausmaß, in dem der Nationalismus vorgedrungen war: »In der sozialistischen Jugend verschwand fast alles im Orkus! Etwas wird dich vielleicht interessieren! Heinz Jansen, mein alter Freund, der sich früher durch Feinheit des Geistes und eine gewisse philosophische Begabung von der Menge abhob, ist ein Heinrich geworden, und zwar ein sehr armer. Denn siehe, er fand im Augusta-Hospital zu Breslau, wo er mit erfrorenen Füßen seit einem dreiviertel Jahr liegt, sein Damaskus. Er schrieb mir, daß er einen Briefwechsel nicht mehr ersprießlich hielte, ohne Erklärung. An Emmy aber sandte er einen öligen Brief, in dem er - er, der Jude Jansen - meine unglückselige jüdische Art zu denken und mich auszudrücken, angriff, mit einem sehr mitleidigen Zug. […] Ferner lobte er bis in den Himmel, dieses ›liebe, prächtige‹ deutsche Volk, diese ›einfachen, herrlichen‹ Leute, welche er getroffen hat. Na, wer diese schweinsschädligen Boches (herrlich treffender Ausdruck! ) für prächtige Menschen hält, den muß ich begraben. Ich begrub also Heinz Jansen und da wäre noch Kalischer, der Jude, der Zionist, der Dialektiker, der ortlose Marxist, der klare Geist. … ! « 188 Gotthold Kalischer war ein gemeinsamer Bekannter von Gerhard und Werner, er hatte im Jahr 1915 den Protestbrief an die »Jüdische Rundschau« unterzeichnet. 189 Nun machte sich Werner sorgen, ob Kalischer weiterhin zu seinen Ansichten stand: »Mir ward von seinen Eltern die Mitteilung, daß er nicht nur österreicher Gardist ist, was das selbe bedeutet wie Fähnrich bei uns, sondern auch, daß er den Feldzug als befreiende Tat grüßt. Doch ich muß ihn selbst hören, ehe ich ihn bestatte, wenn ihn nicht schon die Russen von dieser Erdenlast befreit, denn er steht in Wolhynien. Barbarus hic ego sum! « 190 Die lateinischen Worte borgte Werner von Ovid: Barbarus hic ergo sum, quia non intellegor ulli - »Ein Barbar bin ich hier, da ich von keinem verstanden werde.« Verunsichert fügte er hinzu: »Bin ich nun dumm weil ich nicht umlerne, wo alles umlernt, oder klug? « 191 Beim näheren Nachdenken wollte er jedoch den Freund nicht abschreiben: »Kalischer wollen wir noch nicht bestatten, denn ich habe ja nur das Zeugnis seiner Eltern. Bedenke, wenn jemand zu Arthur Scholem käme, während ich im Felde bin! Vielleicht denkt er auch, ich sei ›vernünftig‹ geworden. Da ein Mensch sehr selten ist, darf man ihn nicht ohne seine eigene Zustimmung abtun.« 192 Werner sollte recht behalten - Monate später erfuhr er, dass Kalischer bei seinen Überzeugungen geblieben war. »Nur durch Zufall« sei er Leutnant 187 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-76, berichtet von nur drei erschienen Nummern. 188 Werner an Gerhard Scholem, 19.Juni 1916, GSA Jerusalem. 189 Vgl. Gershom Scholem, Briefe, Bd. 1, S.-461. In den Verzeichnissen des GSA Jerusalem findet er sich auch unter dem hebraisierten Namen Gershom Kalischer. 190 Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. 191 Ebenda. 192 Werner an Gerhard Scholem, 23. Juni 1916, GSA Jerusalem. <?page no="85"?> 85 2.3 Lazarettgedanken 1916 85 geworden, Anfang 1918 pflegte er sogar Kontakte zu den russischen Bolschewiki. 193 Das lange Spekulieren über das Schicksal der Genossen, die Unsicherheit, ob sie noch lebten, ob sie der Sache noch treu waren - Werners Briefe zeigen deutlich, in welch große Verwirrung und Lähmung der Krieg die Arbeiterbewegung gestürzt hatte. Trotz Liebknechts Vorbild, trotz des Berliner Massenstreiks vom Juni 1916 gab es noch keine organisierte Antikriegsbewegung. Erst langsam begannen die oppositionellen Kräfte sich zu sammeln, Werner beteiligte sich so gut es ging. Schon Anfang 1915 hatte er sich einem Kreis sozialdemokratischer Kriegsgegner angeschlossen, die sich im Ausflugslokal »Karlsgarten« in der gleichnamigen Straße in Berlin-Neukölln trafen. Bis zu seiner Umbenennung 1912 hatte dieser Berliner Arbeiterbezirk den Namen Rixdorf getragen, weshalb die Gruppe sich auch als »Rixdorfer Verschwörer« bezeichnete. Zu den Treffen hatte Werner auch seinen Bruder mitgenommen. Der war vom sozialistischen Zirkel so beeindruckt, dass sich sogar sein Verhältnis zu den zionistischen Gesinnungsgenossen trübte. Am 20. Januar 1915 notierte Gerhard in seinem Tagebuch: »Gestern Jung-Juda. Entfremdung zwischen mir und den Jung-Judäern wird, seit meinem Übergang zu den Rixdorfer Verschwörern, immer fühlbarer. Wir verstehen uns nicht mehr so wie ehedem, und ich gewöhne mich wieder ans Schweigen.« 194 193 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917 und 10. Februar 1918, GSA Jerusalem. 194 Gershom Scholem, Tagebücher, Bd. 1 S.-79. Ausflugslokal »Karlsgarten« in Berlin Neukölln, um 1905 <?page no="86"?> 86 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Diese Entfremdung währte jedoch nicht lange. Im Sommer 1916 war Gerhard wieder bei den »Judäern« angekommen und Werner versuchte durch rastlose Berichte aus der Bewegung, dessen Sozialismus neu zu entfachen. Gleich im zweiten Brief gab er einen langen Bericht zum Zustand der Sozialdemokratie, der die Rolle der Jugend betonte: »Was die ›internen‹ Dinge betrifft, so weiß ich ja auch nicht viel. Denn von meinen Freunden und Bekannten ist längst keiner mehr hier, und die paar Anhängsel, die hier sind, sind schwer zu erreichen. In der Arbeiterjugend sind natürlich alle Menschen Kriegsknechte geworden, gute Leute wie Böhme, Tetzlaff sind gefallen. Die Jugend hat sich selbstverständlich - denn hier war doch guter Same gestreut, dank Liebknecht, Haase, 195 und allen Propheten - vom steuerlosen Kursus getrennt. Ich weiß ja noch keine Einzelheiten, aber es ist dasselbe wie überall. Man bestellte die völlig verseuchte ›Arbeiter-Jugend‹ ab, daraufhin setzten die ›maßgebenden‹ Instanzen die Führer der Jugend ab, worauf natürlich die ›secessio plebis‹ 196 erfolgte. Auffällig heran ist nur die Ausschließlichkeit, mit der die gesamte Jugend in die neuen, von Spartacus beeinflußten Bildungsvereine übertrat. […] Als Mann meiner Jugendbewegung brauche ich Dir kaum zu sagen was das bedeutet. Stelle Dir vor, die gesamte jüdische Jugend wird wieder eine Bewegung in Deinem radikalen Sinn, kein Stillstand! So aber ist es mit der Arbeiter-Jugend. Mein durch das entsetzliche Bochetum des deutschen Volkes im Felde herabgedrückter Sinn für die Hoffnung hat sich froh erhoben als mir klar wurde, daß die Arbeit für die sozialistische Jugendbewegung nicht nutzlos war. Wenn Du nun bedenkst, daß diese von der Schönheit der Tat angehauchte Jugend, diese Garde Liebknechts und Rosa Luxemburgs, morgen die Partei lenken wird, denn aus ihr gehen die Funktionäre und die Tatmenschen der Partei hervor, so wird Dich um so mehr die Mitteilung berühren, daß die Krise der Bewegung im allgemeinen Verfall der Organisationen nicht gelitten, sondern an Stärke zugenommen haben. Ich habe viel davon geschrieben, denn Hoffnungsfaktoren schreibt man groß, ob sie sozialistischer oder zionistischer Natur sind.« 197 Werner hoffte trotz persönlicher Enttäuschungen auf einer Rebellion der Jugend, welche die verkrusteten Strukturen der Arbeiterbewegung aufbrechen sollte. Er hatte Grund dazu, denn im April 1916 hatte eine als Wanderausflug getarnte Geheimkonferenz der Jugend nach einem Referat von Karl Liebknecht die Loslösung vom Mutterverband und seinem Kriegskurs beschlossen. Werner konnte wegen Kriegseinsatz und Verletzung nicht teilnehmen, muss aber im Nachhinein vom Beschluss erfahren haben. Doch die Kriegskritischen Jugendgenossen waren keine Mehrheit - es wird geschätzt, dass sie etwa ein Viertel der Arbeiterjugend repräsentierten. 198 Als Werner im Juli 1916 mehr Informationen erhielt, 195 Hugo Haase (1863-1919) war seit 1913 neben Friedrich Ebert Parteivorsitzender der SPD. Aus Fraktionsdisziplin stimmte er für die Kriegskredite, als er dies im März 1916 änderte, wurden er und weitere Abgeordnete aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen und Haase der Parteivorsitz aberkannt. Mit »Böhme« ist wahrscheinlich Fritz Böhme gemeint, ebenso wie Curt Böhme Teilnehmer einer oppositionellen Jugendkonferenz in Jena im April 1916. Curt Böhme überlebte den Weltkrieg und wurde 1948 Oberbürgermeister von Jena. Zur Jugendkonferenz vgl. Ottokar Luban, Die Jenaer Konferenz der linkssozialistischen Arbeiterjugend mit Karl Liebknecht am 23./ 24. April 1916, Broschüre der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen, Jena 2010, S.-2. 196 »Auszug des Volkes«, legendäres Kampfmittel der Plebejer aus der Zeit der Ständekämpfe im antiken Rom, historisch wahrscheinlich eher ein Streik als ein kompletter Auszug der Unterschichten aus dem Stadtgebiet. 197 Werner an Gerhard Scholem, 23. Juni 1916, GSA Jerusalem. 198 Dies entspräche etwa 13.000 Personen bei einer Gesamtstärke der Arbeiterjugend von 53.000 Mitgliedern. <?page no="87"?> 87 2.3 Lazarettgedanken 1916 87 wurden seine Berichte demenstprechend skeptischer und taktischer: »Du täuschst dich über die Macht des Parteivorstandes. Selbst, wenn er eine Minderheit ist - und er ist jetzt beinahe unbedingt - so hat er noch immer Kraft genug, die Partei zu sprengen, denn er hat den Mammon. Und die nötige freche Rücksichtslosigkeit hat er auch, denn der Lump Scheidemann ist seine fragwürdige Seele. Ihn zu bekämpfen, und wenigstens bis zu einer Klärung der Geister Parteimitglied zu sein, würde ich dir empfehlen. Ich selber aber ringe gerade um Klarheit! Wenn du die Spartacus-Briefe liest, wirst du finden, daß dort sehr berechtigte Angriffe gegen die Gruppe der Arbeitsgemeinschaft drinstehen. Wirkliche Unterschiede bestehen ja nicht zwischen den Gruppen Ledebour-Hoffmann und Spartacus- Luxemburg. Aber doch starke taktische.« 199 Mit wachsender Kriegsmüdigkeit war die Opposition gegen den Philipp Scheidemann, den Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion, stärker geworden, hatte sich jedoch aufgefächert. Neben der in der Jugend einflussreichen Spartakusgruppe widersetzte sich seit März 1916 auch eine Gruppe von Parlamentariern um Georg Ledebour und den Parteivorsitzenden Hugo Haase den Kriegskrediten und wurde dafür aus der Gemeinschaft der SPD-Abgeordneten ausgeschlossen. Sie bildeten nun eine eigene Fraktion im Reichstag: die sozialistische Arbeitsgemeinschaft (SAG). Außerhalb des Parlaments schlossen sich weitere an, etwa Adolph Hoffmann, Verfasser der Broschüre »Die zehn Gebote und die besitzenden Klassen«, die Gerhard und Werner so nachhaltig beeindruckt hatte. Eine Spaltung der Sozialdemokratie wurde sichtbar, wobei die genauen Konturen auch für Werner noch unklar waren: »Ich komme erst allmählich in die Sache hinein und schwanke. Mein Herz zieht mich von vornherein zu Rosa, auch meine ich, die 18 im Reichstag hätten allesamt so vorgehen müssen wie Liebknecht. Mein Verstand aber scheint mir zu beweisen, daß sie in der wichtigen Frage der Beitragssperre Vernunft haben.« 200 Die Beitragssperre war ein Vorschlag radikaler Kriegsgegner: man solle so lange die Mitgliedsbeiträge verweigern, bis die Partei ihren Kriegskurs verlassen habe. Werner fand dies sympathisch, hatte aber taktische Bedenken: »Vorläufig noch Vernunft haben! Meine Gründe dagegen kannst du dir ja denken. Es besteht doch noch Hoffnung auf eine Einigung nach links, die aber durch die Beitragssperre aufgehoben wird - siehe Stuttgart. Der radikalste Flügel der Partei hat doch sogar Leute, die lehren, man soll in den Orten, wo man die Liebknecht-Leute unterdrückt, ihnen die Ehrenämter aberkennt u.s.w. aus der Partei gehen. Nun sage bitte, ob so etwas ersprießlich ist? Nein, das ist es nicht! In corpore, 201 wenn die große Schlacht auf dem Parteitage gewesen ist und die Scheide-Männer gesiegt haben, will ich mit austreten. Aber nicht jetzt, es darf noch nicht sein. Zur Beitragssperre scheint mir auch kein Recht zu sein, da man ja sonst auch mit demselben Recht von Seiten der Scheide-Männer in diesem Augenblick einen Parteitag berufen könnte. Bei der Generalversammlung ist Berlin ganz den Ledebour-Hoffmann Leuten anheim gefallen. Rosa Luxemburg hatte 1/ 5 gegen 4/ 5 für sich.« 202 Schätzung von Siegfried Scholze, zit. nach Ottokar Luban, Die Jenaer Konferenz der linkssozialistischen Arbeiterjugend mit Karl Liebknecht am 23./ 24. April 1916, Broschüre der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen, Jena 2010, S.-5. 199 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. 200 Ebenda. 201 Lat. »Im Körper«, als geschlossene Gruppe, insgesamt. 202 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="88"?> 88 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Die »Scheide-Männer« waren nicht nur im Parlament, sondern auch an der Basis stark. Die Verhältnisse in Berlin, wo kriegskritische Mitglieder dominierten, waren nicht repräsentativ für ganz Deutschland. Dies wusste auch Werner, weshalb er vor Austritten warnte. Er wollte so lange wie möglich in der Partei agieren, um dort die Mehrheitsverhältnisse zu verändern: »Ich neige mich also der Sache nach zu Adolf Hoffmann, der Form nach zu Liebknecht und Rosa. Zur Verbreitung der Spartacus-Gruppe kann ich dir noch sagen, daß Teltow-Beeskow durch die ungeheure geistige Fortgeschrittenheit der Neuköllner Bewegung ihr sicherster Beweis ist. Daß Neu-Kölln geistig an der Spitze der deutschen Arbeiter- Bewegung marschiert, davon hast du ja selbst ein Pröbchen erlebt.« 203 Werner spielt hier auf die Treffen der »Rixdorfer Verschwörer« an. Teltow-Beeskow hingegen war ein linker Wahlkreis im Süden Berlins. Werner hoffte, dass sich lokale Keime von Opposition ausweiten würden. Neben Berlin lobte er Bremen: »Von den einzelnen Organisationen scheint mir Bremen diejenige radikale Gesinnung zu haben, hinter der nur noch der Selbstmord kommt. Ich habe mich mit Hans Pesch über diese Merkwürdigkeit unterhalten. Es scheint wirklich, daß hier 2 Menschen, Pannkoek und Radek, die ›Hohepriester‹ des Marxismus Bleibendes gewirkt haben.« 204 Anton Pannkoek und Karl Radek waren einflussreiche Köpfe unter den sogenannten »Bremer Linksradikalen«, die bereits vor Kriegsausbruch in Opposition zur Parteimehrheit standen. Werners Hoffnung auf eine Linkswende der Arbeiterbewegung war durch die Wende im Parlament und die neu gewonnene Öffentlichkeit der Kriegsgegner nicht unbegründet - allerdings konnte er nicht absehen, wie sich die Konflikte innerhalb der Opposition auswirken würden. Werner stimmte taktisch mit der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft im Reichstag überein, las aber auch die Spartakusbriefe und hatte Briefkontakt zu Ernst Meyer, einem leitendem Mitglied der Spartakusgruppe. Werner plante, mit ihm an einer neuen Braunschweiger Jugendzeitung zu arbeiten. 205 Interessant ist, dass der in seinem Manifest mit linken Kraftausdrücken polternde Werner sich in den Briefen als kühler Taktiker zeigte. Sein Herz zog ihn zu Rosa, sein Hass gegen den Krieg und die patriotischen »boches« kannte kaum Grenzen. Dennoch versuchte Werner stets, seine politischen Aktionen auf die Gewinnung der Mehrheit hin zu orientieren. Seine Haltung war getrieben von Herz und Verstand gleichermaßen, von Leidenschaft und Realismus. Immer wieder war Werner entsetzt über die Trägheit der Parteiapparate und ihre Anpassung an den nationalen Zeitgeist. Wieder einmal schimpfte er auf die Gewerkschaften: »Die deutschen Gewerkschaften haben einen hassenswürdigen Geist, einen deutsch-militaristischen, der ekelhaft ist. Bei diesen boches ist schwer was zu machen. Weimann, der herrliche Berliner Jugendsekretär, vertritt jetzt ganz offen den Gedanken, die Jugend-Bewegung zu einer Pflege umzu-›reformieren‹, vielleicht unter Aufsicht der Gewerkschaften. Aber, glaube mir, die Arbeiter-Jugend ist kein Wandervogel, sondern eine richtige Bewegung mit wirtschaftlichen Quellen. Da wird Herr Weimann recht wenig Erfolg haben.« 206 Ein Abwürgen der rebellischen Jugendbewegung durch die Gewerkschaftsfunktionäre? Das war alptraumhaft für Werner. Doch sah er in den »wirtschaftlichen Quellen«, im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den 203 Ebenda. 204 Werner an Gerhard Scholem, 13. Juni 1916, GSA Jerusalem. 205 Werner an Gerhard Scholem, 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. 206 Werner an Gerhard Scholem, 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="89"?> 89 2.3 Lazarettgedanken 1916 89 bürgerlichen Wandervögeln und der sozialistischen Jugend. Um so mehr störte ihn deren desolater Zustand, nicht unbescheiden träumte Werner vom reinigenden Gewitter: »Ich wünschte, ich könnte die große Anklagerede gegen sie halten, auf dem Parteitage, der da kommen wird.« 207 Doch die politische Abrechnung blieb ferne Sehnsucht, der Krieg hingegen konkrete Bedrohung: »Wenn ich nur ein Mittel wüßte, dem zu entgehen, daß ich nächstes Jahr wieder im Felde sitze, denn vor Herbst 1917 ist das Schlachtfest nicht aus. Da erleide ich am Ende doch noch den verfluchten Heldentod.« 208 Werner schrieb dies kurz vor seiner Operation, wochenlang lang durfte er das Bett nicht verlassen. 209 Anfang des 20. Jahrhunderts war Chirurgie ein großes Risiko, denn ohne Antibiotika drohten auch bei kleinen Eingriffen lebensgefährliche Infektionen. Werner kam jedoch ohne Komplikationen davon. Als er Anfang August 1916 wieder erste Gehversuche machen konnte, war er dennoch alles andere als froh. Eine Welle von Sorgen schlug über ihn zusammen - Auslöser war paradoxerweise die Genesung selbst. Wieder einmal schüttete er Gerhard sein Herz aus: »Ich sitze in der Behausung der Familie Scholem, in deinem Weheloch, denn seit gestern darf ich wieder täglich ausgehen. Ich hatte zuletzt das Liegen im Bett, das 3 Wochen dauerte, sehr über. Es störte mich und ich begann, mir den Hintern wund zu liegen. So förderte ich zuletzt nur noch mein Kriegstagebuch, das jetzt 2 Hefte überschritten hat. Mein ganzer Jammer aus den 6 Kriegsmonaten fiel mich an! […] Es ist zum Kotzen! […] Mach dich nur bereit, sehr bald wieder gemustert zu werden, denn jetzt ist hier alles eingezogen worden, was noch so herumlief, 80.000 Mann aus Berlin allein! Und wenn du gesund und gut erholt aus Zernsdorf zurückkehrst, nehmen sie dich totsicher. Verstehe mich recht! ! Und du weißt doch noch nicht, was es bedeutet, vom Moloch verschlungen zu werden, das kann nur jemand ermessen, dem es selbst passiert ist. Ich warne dich, denn es wäre jammerschade, wenn du eine Kugel in den Kopf kriegst.« 210 Werner fürchtete um das Leben seines Bruders und drang auf ihn ein: »Einer von uns beiden muß doch übrigens bleiben, damit die gens Scholem neue Menschen schaffen kann. Ich tue ja mein Möglichstes, laufe, trotz wahnsinniger Schmerzen, auf Deibel komm raus herum, gegen strengen Befehl des Arztes, aber wer weiß! Die Wunde eitert kaum noch und es scheint, also ob ich nächstes Jahr wieder runtergehen muß. Nochmals darum: Schädige deine Gesundheit, dann sorgst du am besten für sie. Gewöhne dir wahnsinniges Rauchen an und, last not least, kehre so bald wie möglich nach Berlin zurück. Sei nicht engstirnig! « 211 Werners Ratschläge brachten den Wahnsinn des Krieges auf den Punkt. Der seltsamen Freude über die Kriegsverletzung folgte das Entsetzen über die Gesundung, er war ernsthaft bereit zur Selbstverstümmelung, um einem zweiten Fronteinsatz zu entgehen. Drei Wochen lang schrieb er nichts, der nächste Brief vom 22. August 1916 war genauso pessimistisch: »Ich bin sehr gedrückter Stimmung, denn meine Wunde ist jetzt verheilt, und zwar vollkommen verheilt, so daß ich nicht einmal mehr einen Verband trage. Ich werde wohl diese oder nächste Woche entlassen. Ich will dann 14 Tage auf Urlaub, fahren nach, 207 Ebenda. 208 Ebenda. Zum vorausgesagten Kriegsende bezog sich Werner auf einen Zeitungsartikel von 1914: »Ich kalkuliere, dann wird Deutschland den letzten Groschen und den letzten Bissen und den letzten Mann darangesetzt haben, aber so lange dauerts sicher noch! 3 Jahre, wie die ›Times‹ im August 14 prophetisch schrieben.« Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. 209 Vgl. Werner an Gerhard Scholem, 13. Juli und 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. 210 Werner an Gerhard Scholem, 2. August 1916, GSA Jerusalem. 211 Ebenda. <?page no="90"?> 90 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Hannover. Und dann steige ich wieder in die Tiefe, um nächsten Winter oder Frühling doch noch im Massengrab Quartier zu beziehen. Dieser Sommertraum ist bald vorüber. Inzwischen hat der Alte auch wieder festgestellt, daß ich ein Vieh bin, und mir verboten, mich den Verwandten zu zeigen, damit ich keine Dummheiten anstelle und ihn nicht blamiere. Ich habe nämlich 1.) das eiserne Kreuz Herrn Reinholds verspottet (! ! ) und 2.) im Lazarett den ›Vorwärts‹ gelesen. Ich habe aber diesmal dem Alten mächtig die Wahrheit gesagt, und er war auch nachher kleinlaut. Amüsiert habe ich mich, als er mir erzählte, der Gerhard, dieser kluge Mensch, würde sicher doch noch Kaufmann werden. ›Sollt mal sehen, ob der Junge, wenn er seinen Doktor gemacht hat, nicht zum Bankfach übergeht‹. Ich gratuliere dir, o zukünftiger Mann der Bank! Schlimm ist die Sache mit deiner Musterung. Sie nehmen dich diesmal sicher, denn sie brauchen doch Schlachtvieh. Ich warne dich, und rate dir nicht erst am 3ten September herzukommen, in 2 Tagen kannst du nicht die genügenden Vorbereitungen treffen! « 212 Mit einem Mal waren die Probleme vom Herbst 1914 wieder da. Krieg und Todesangst, gleichzeitig der Druck aus der Familie. Doch Werner selbst hatte sich verändert. Für den Vater hatte er nur noch Spott übrig - was ihm zu Schulzeiten das Leben schwer machte, war jetzt nurmehr eine amüsante Anekdote am Rande. In seinem nunmehr 20. Lebensjahr stand er dem Vater fast überlegen gegenüber - im Krieg war Werner erwachsen geworden. Doch was nützte die geistige Unabhängigkeit, wenn jede mögliche Zukunft in einem Punkt zu kollabieren drohte? Der gefürchtete Endpunkt war das Massengrab, das auch dem kleinen Bruder drohte. Dies erschreckte Werner besonders. Seine Ratschläge hatten alle Besserwisserei verloren, nur die ernste Sorge um Gerhards Leben trieb ihn. Einziger Lichtblick in Werners Briefen vom August 1916 ist der Verweis auf den Urlaub in Hannover, bei Emmy, mit der er nun seit fast drei Jahren verlobt war. Das Bild, das Werner von seiner Braut zeichnete, war jedoch weniger verklärt als man es von einem verliebten Jüngling erwarten könnte. Von Anfang an hatten seine Beschreibungen etwas Gönnerhaftes, Werner sah sich als geistiger Mentor seiner Freundin: »Der kleinen Emmy geht’s sehr gut, sie hat zugenommen an Weisheit und Wissen. Nun ist ihr Steckenpferd, das Abiturium nebenher zu schaffen. […] Sie paukt auf Deibel komm raus und könnte es wirklich so etwa mit einem Tertianer gut aufnehmen.« 213 Werner schickte ihr Bücher aus Gerhards Bibliothek und berichtet mit einer Mischung aus Respekt und Überlegenheit über Emmys Bildungseifer: »Nun glaube ich, aus der dreijährigen Kenntnis ihrer geistigen Fähigkeiten ihr eine hohe Begabung für alles Erlernbare - ob für alles denkbare weiß ich nicht - zumessen zu können. Sie wird darum doch nicht Kinder haben, bevor sie das erstemal durchfällt. Schade ist nur, daß sie garnicht gesund ist. Warum, das schreibt sich schlecht. Man sagt es besser.« 214 Wieder einmal weist Werner auf den Bildungsabstand zwischen sich und seiner Verlobten hin - ist es ihm vielleicht gar nicht so recht, dass Emmy versucht, hier aufzuholen um auf Augenhöhe mit ihm zu stehen? Unklar lässt Werner auch Emmys Krankheit - erst aus einer in den 1950ern angelegten Entschädigungsakte samt Gesundheitsgutachten lässt sich erfahren, dass Emmy vom 14. bis 22. Lebensjahr »starke Periodenblutungen mit heftigen 212 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1916, GSA Jerusalem. 213 Werner an Gerhard Scholem, 19. Juni 1916, GSA Jerusalem. 214 Werner an Gerhard Scholem, 23. Juni 1916, GSA Jerusalem. <?page no="91"?> 91 2.3 Lazarettgedanken 1916 91 Schmerzen und Migräne« hatte. 215 Solche Themen erörterte Werner nicht in Briefen. Sexualität war nur in Andeutungen präsent - die jedoch manchmal recht deutlich ausfielen: »Es hat mich sehr interessiert, daß du nahe daran warst, in die Partei des Wachsens zu hopsen. Ceterum censeo vaginas homines esse delendas! Sind sie vielleicht schon vernichtet? « 216 Offensichtlich hatte Gerhard befürchtet, ungeplant Vater zu werden. Wer die unverhoffte Beinahe-Mutter war, wissen wir nicht, da Gerhards Briefe an Werner zum großen Teil verloren sind. Ob es sich um Gerhards Gesinnungsgenossin Julie Schächter handelte, mit der er seit dem Sommer 1915 einen längeren Briefverkehr führte? 217 Seine spätere Frau Escha Burchhardt lernte Gerhard jedenfalls erst 1918 kennen. Allerdings blieben Julie und Gerhard stets beim formalen »Sie« und tauschten sich hauptsächlich über die Sache des Zionismus aus. Und abgesehen davon ist reiner Briefverkehr bis heute wohl das sicherste Verhütungsmittel. Es bleibt also ein Geheimnis, was sich hinter Werners Andeutungen verbarg. Interessanter ist Werners lateinischer Zusatz. Er spielt an auf das Zitat des Römischen Senators Cato: »Cetero censeo Carthago esse delendam« - zu deutsch: »Im übrigen bin ich der Meinung, das Karthago zerstört werden muss«. Werner ersetzt »Karthago« durch »Vagina« - Wünschte er wirklich den Frauen der Welt den Untergang? In einem Brief vom 13. Juli 1916 wurde er deutlicher und äußerte einige Reflexionen zur Frauenfrage im Allgemeinen und zu Emmy im Besonderen: »Daß den Weibern aber der Sinn für Gutes und Großes völlig abgeht, ist wahr, daß aber die Frauenemanzipation der Sieg des Dirnenprinzipes sei, kommt mir merkwürdig vor. Hier wäre Platz, über meine Frau zu sprechen, mit der ich nun bald 3 Jahre zusammen bin, was in unserem Alter eine ganze Spanne Zeit ist. Ich schaue sie gewiß nicht aus honey-moon-eyes an, obwohl ich sie so liebe und notwendig habe, wie menschenmöglich. Sie ist das, was man ein sehr aufgewecktes Mädchen nennt, d.h. sie lernt sehr leicht, und hat sogar einen gewissen Drang, etwas zu lernen. Sie ist in allem Schulkram mir gewiß überlegen. Und trotzdem traue ich ihr nicht zu, mein Denken nachdenken zu können, ich traue ihr nicht die zwar langsam, aber sehr sicher mahlende Mühle meines Verstandes zu, und deshalb bin ich ihr doch meist überlegen. Da sie das erste Weib ist, mir gegen über gern ein Rätsel aus sich machen will, so ist es mir schwer, sie an meinen Gedanken ganz teilhaben zu lassen. Ganz gibt’s ja auch nicht! Sie behauptet, sehr unreligiös zu sein, aber, sie versichert, sie ist abergläubisch, wie alles, was lange Haare hat. Vielleicht verstehen auch die Weiber echte Religiösität gar nicht. Bei ihnen ist alles unfein, entweder sie sind knechtisch oder frech, oder meistens beides. Sei dem, wie es sei! Wir haben diese halben Menschen nötig, nicht etwa nur geschlechtlich, das wäre ja allein ein Unsinn, sondern als Ergänzung. Und da habe ich für mich gute Wahl getroffen, denn sie hat weder die Nachteile eines Berliner Judenmädchen noch die einer Lindener Arbeiterpflanze, sie ist äußerlich und innerlich gut gebaut, und wird, wenn sie was gelernt hat, eine sehr gute Mutter abgeben, anders als das, was wir auf diesem Gebiet kennen.« 218 Frauen waren für Werner nur »halbe Menschen« - aber ganz ohne sie schien es doch nicht zu gehen - »nicht nur geschlechtlich«. Seltsame Töne von einem Rebell, der den 215 Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Nds., NDs. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351, Bl. 52. 216 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. 217 Sie war die einzige Frau, mit der Gerhard in jener Zeit korrespondierte. Gershom Scholem, Briefe, Bd. 1, S.-17-28. 218 Werner an Gerhard Scholem, 13. Juli 1916, GSA Jerusalem. <?page no="92"?> 92 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Vorurteilen seiner Zeit voraus sein wollte. Frauen gegenüber pflegte Werner eingefahrene Ressentiments. Viele seiner Äußerungen hätten genauso auch von den verhassten Soldaten oder Korpsstudenten kommen können, Plattitüden aus Kasernen und Trinkhallen. Werner lehnte die Frauenemanzipation, die im Programm seiner Partei fest verankert war, nicht ab, hielt sie nicht für den Sieg irgendeines »Dirnenprinzips«. Zu seinen Vorbildern im politischen Leben gehörte neben Karl Liebknecht auch Rosa Luxemburg, die führende Theoretikerin des linken Flügels der SPD. Dennoch konnte er weder Frauen im Allgemeinen noch seine eigene Partnerin als gleichwertig anerkennen: »Ich habe die tiefste Mißachtung vor weiblichen Gedanken und du wirst mir ja mal Recht geben, wenn du beweibt sein wirst. Es wäre vielleicht doch gut, wir führten prinzipiell in Palästina die Vielweiberei ein. Du mußt nun nicht etwa denken, ich hätte hier schlechte Erfahrungen gemacht. Nein, ich habe doch eins der klügsten Mädchen, die es gibt. Und doch, wie dumm ist sie gegen mich und wie verständnislos.« 219 Die persönlichen Erfahrungen mit Emmy standen in Widerspruch zu Werners Vorurteilen - eine Tatsache, die er wortreich verdrängte. Gebiete, in denen sie ihm überlegen war, disqualifizierte er mit abfälligen Bemerkungen: Was für Werner zwei Jahre zuvor das weltbewegende und gefürchtete Abiturium war, wird bei Emmy zum nebensächlichen »Schulkram«. Sie ist eines der klügsten Mädchen überhaupt, aber gleichzeitig verständnislos. Immer wieder bewertete er seine Verlobte von überlegener Warte aus. Etwa, wenn er feststellt, sie könne für »würdig erachtet werden« seine Kinder zur Welt zu bringen. 220 Ob auch Emmy überlegte, inwieweit Werner ihrer würdig war? Sie erwiderte seine Liebe - aber ihr politisches Engagement und vor allem ihr Bildungsdrang verweisen darauf, dass sie eigene Pläne hatte. Doch trotz allem liebte Werner seine Verlobte innig. Er schrieb, er hätte sie so notwendig »wie menschenmöglich«. Sie hielt ihn aufrecht in einer Welt voller Krisen und Ungewissheiten. Werner war nicht der einzige fortschrittliche Sozialist, der in patriarchalen Bahnen dachte und handelte. Sein Vorbild Karl Liebknecht war nicht viel besser. Seine Frau Julia kümmerte sich um Haushalt und Kinder, ohne ihre Aufopferung hätte Liebknecht wohl kaum so unbeugsam seinen Kurs verfolgen können - wer hätte sich um seine Söhne gekümmert, nachdem er 1907 wegen Hochverrats verurteilt wurde? Liebknecht akzeptierte unhinterfragt diese Rollenverteilung und nahm sich weitere Freiheiten. Seit 1906 widmete er seine knappe Zeit mehr und mehr einer Geliebten, obwohl Freunde und sogar seine eigene Mutter ihm kräftig ins Gewissen redeten. Nach außen musste jedoch das Bild einer intakten Familie aufrechterhalten werden - eine Aufgabe die zynischerweise der betrogenen Julia Liebknecht zufiel. Eine Trennung als Anerkennung des Faktischen kam nicht in Frage. Erst als Julia 1911 nach einer Gallenoperation starb, »löste« sich das Dilemma. Karl Liebknecht konnte Sophie offiziell heiraten. 221 Die bürgerliche Familie, über die der Theoretiker Marx in seinen Schriften ätzenden Spott vergoss und die Engels historisch dekonstruiert hatte, stand für die meisten Sozialisten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts jenseits aller praktischen Kritik. 222 Man wundert sich angesichts solcher Doppelmoral 219 Werner an Gerhard Scholem, 20. Juli 1916, GSA Jerusalem. 220 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. 221 Vgl. Annelies Laschitza, Die Liebknechts. Karl und Sophie - Politik und Familie, Berlin 2007, S.-97ff. 222 Vgl. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, MEW 21, S.-25- 173. <?page no="93"?> 93 2.3 Lazarettgedanken 1916 93 der Vordenker nicht, dass es bei den gewöhnlichen Arbeitern nicht besser stand mit der Gleichberechtigung. Doch brachte die proletarische Lebenssituation mit Frauen und Kinderarbeit es mit sich, dass die Frauen und Töchter eine andere, selbstbewusstere Stellung im Haushalt hatten als die Bürgerstöchter - eine Tendenz, die schon im Kommunistischen Manifest als fortschrittlich begrüßt wurde. 223 Emmy Scholem war ein Beispiel dafür, wie Lohnarbeit und eigenes Einkommen traditionelle Rollenbilder auflösen konnten. Als kaufmännische Angestellte war sie in einem Beruf aktiv, der lange Zeit nur Männern offenstand. Mit der Expansion des Kapitalismus fiel jedoch diese Schranke - der Bedarf an Sekretariatsarbeiten, Buchhaltung und Verwaltung, der im patriarchalen Frühkapitalismus Anfang des 19. Jahrhunderts gering war, stieg hundert Jahre später im organisierten Kapitalismus der Monopole in ungeahnte Größen. Um hier Frauen als billige Arbeitskräfte einzusetzen, entstand ein neues, weibliches Berufsbild der Angestellten und Sekretärin. Dies ermöglichte Frauen wie Emmy eine eigene Ausbildung und förderte die Vertretung ihrer Interessen in den politischen Organisationen, etwa in der sozialdemokratischen Gewerkschaft »Zentralverband der Handlungsgehilfen«. Werner kam nicht aus dem Arbeitermilieu, er stieß aus dem Bürgertum zur sozialistischen Bewegung. Doch war es gerade die bürgerliche Familie, in der sich die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre entwickelt hatte, eine Norm, die auf das Proletariat und seine Partei ausstrahlte. Misst man die Beziehung von Werner und Emmy an dem, was in der Sozialdemokratie des Kaiserreichs üblich war, so war Emmy als bildungshungrige, politisch aktive Frau zweifellos die Ausnahme. Werner hingegen stellte mit seinem Unverständnis gegenüber ihrer Eigenständigkeit eher die Regel dar, fiel mit seinen Bemerkungen mitunter sogar hinter den erreichten Standard an Gleichberechtigung zurück. Dennoch kamen beide gut miteinander aus. Mit Sicherheit äußerte Werner seine Ansichten gegenüber Emmy nicht so direkt wie »unter Männern«. Dennoch wird Emmy nicht verborgen geblieben sein, woran sie bei Werner war. Sie vermochte es allerdings, sich durchzusetzen und widersetzte sich in den folgenden Jahren recht erfolgreich einer Hausfrauenrolle. Doch die Reibung im gemeinsamen Alltag war 1916 noch Zukunftsmusik. Die Verlobten sahen sich nur bei gelegentlichen Besuchen, Werners Militärdienst hatte nicht nur sein politisches Streben, sondern auch das private Leben unterbrochen. Wie für viele andere war der Alltag während der Kriegsjahre in Wartestellung, der Ausnahmezustand wurde zur Regel. Umso willkommener waren die zwei Wochen Urlaub in Hannover - auch wenn sie nur der Vorbote des erneuten Soldatendaseins waren. Seinem Vater gegenüber erwähnte Werner den Aufenthalt in Hannover nicht. Er begab sich sogar eigens in einen nahegelegenen Kurort, um einen Brief an seine Eltern zu schreiben: »›Man‹ soll denken, ich sei in Rehburg« teilte er Gerhard mit. 224 Betty Scholem war jedoch eingeweiht - Werner bat sie durch Gerhard um zusätzliches Taschengeld, das direkt in die Struckmeyerstraße geschickt werden sollte. Mit Zufriedenheit stellte Werner in Hannover fest, dass dort die Arbeiterjugend sich gänzlich vom Kriegskurs der SPD losgesagt hatte - es herrsche der »alte 223 »Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier ist eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis« - Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S.-472. 224 Werner an Gerhard Scholem, 31. August 1916, GSA Jerusalem. <?page no="94"?> 94 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) August« bemerkte er mit Verweis auf August Bebel, den 1913 verstorbenen Mitbegründer der SPD. 225 Werners nächster Brief datiert vom Oktober 1916. Schon die äußere Form zeigt den abrupten Wechsel seiner Lebensumstände. Der Sommer im Lazarett war vorbei, Werner war wieder ganz Soldat. Er schrieb eine knappe Feldpostkarte, deren Absender aus einer Serie militärischer Abkürzungen bestand: Füs. W. Scholem, Füs. Reg 36, 2. Ers. Bat., 2.Gen. Komp, 6. Korp, Diemitz- / Halle a.-S. Füsilier Werner Scholem vom sechsten Korps der zweiten Genesenden-Kompagnie des zweiten Ersatzbataillons des Füsilier-Regiment 36 in Diemitz bei Halle an der Saale - die Serie von Nummern war Werners neue Lebensrealität. Gerhard hingegen blieb der Privatier »Herr Scholem«. 226 Obwohl die Schrecken der Front weit weg waren, verlief der Kasernenalltag nicht nach Werners Geschmack. Deutlich vermisste er den Komfort des zivilen Lebens - sein Ton gegenüber Gerhard war recht ungehalten: »Mensch, dein Brief hat mich erstaunt! Was soll ich denn hier ohne Geld und Wäsche anfangen? Soll ich vielleicht in der Kaserne wohnen bleiben und die dreckige Militärwäsche anziehen? Bitte sorge doch bestimmt dafür, daß ich Geld bekomme, denn ich hungere und habe bereits beträchtliche Schulden. Sage es ruhig Vater. Ich erwarte sofort 100 M[ark], denn ich gelte doch hier wieder als Einjähriger. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich langweile. Wenn blos nicht der Hauptmann käme und das Geld! Sorge auch dafür, daß Vater gleich mein Entlassungsgesuch erledigt.« 227 Werner hoffte immer noch, wegen Krankheit vom Militärdienst befreit zu werden. Im Nachsatz bat er Gerhard, ihn doch einmal in Halle zu besuchen - die Langeweile plagte ihn arg. Zwei Tage später klagte er dann bereits über Stress: »Mir geht’s äußerlich ganz gut. Nur habe ich den Dienst in seiner nervenaufreibenden Atemlosigkeit sehr unterschätzt. Jetzt, wo ich ganz eingearbeitet bin, muß immer derart schuften, daß ich in meiner freien Zeit ganz kaputt bin. Nichts destoweniger werde ich auf jeden Fall das Tagebuch nach und nach fertig stellen, denn auch mir liegt sehr viel daran, sonst verwischt sich die Erinnerung und ich treffe nicht mehr das ›Kolorit‹ richtig.« 228 Trotz des anstrengenden Dienstes und der knappen Freizeit schrieb sich Werner an der Universität Halle ein, um sein unterbrochenes Studium fortzusetzen. 229 Nach Göttingen und den Vorlesungen in Berlin war dies Werners dritter Studienort - sein Bildungshunger war ungebrochen. Neben Militärdienst, Studium und Tagebuch informierte sich Werner auch über das politische Geschehen - wollte sich allerdings nicht mehr aktiv beteiligen: »Übrigens habe ich auf den ›Vorwärts‹ abonniert, weil er verboten wurde. Ich werde, da 225 Ebenda. 226 Werner an Gerhard Scholem,11. Oktober 1916, GSA Jerusalem. 227 Ebenda. 228 Werner an Gerhard Scholem, 13. Oktober 1916, GSA Jerusalem. 229 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-109. <?page no="95"?> 95 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 95 man anscheinend nicht die Absicht hat, das Verbot aufzuheben, auch noch das Hallesche ›Volksblatt‹ abonnieren, ein sehr sympathisch links stehendes Blatt. Dem hiesigen Parteileben aber werde ich nicht näher treten, denn diesmal will ich den Teufel nicht versuchen, weil es zweckloser Selbstmord wäre.« 230 Als Soldat unterlag Werner der Kriegsgerichtsbarkeit. Schon im zivilen Leben waren Äußerungen gegen den Krieg gefährlich, die Aufregung um den Protestbrief an die »Jüdische Rundschau« Anfang 1915 war ein Beispiel dafür. Gerhards Schulverweis zeigte, wie auch jenseits der Strafjustiz abweichende Äußerungen verfolgt wurden - von Meinungsfreiheit war die Gesellschaft des Kaiserreiches in den Kriegsjahren weiter entfernt als je zuvor. Für Soldaten galt das verschärft. Gehorsamspflicht, Militärjustiz und Briefzensur setzten auch jene Rechtsgarantien außer Kraft, an die Zivilisten noch appellieren konnten. Werner war gewarnt durch sein Vorbild Karl Liebknecht, der von einem Militärgericht verurteilt worden war. Als Soldat durfte er nicht an politischen Versammlungen teilnehmen und musste jedwede »Agitation in Wort und Schrift« unterlassen. Weil Liebknecht sich daran nicht gehalten hatte, saß er nun wegen Landesverrat im Zuchthaus. 231 Werner hatte recht, wenn er bemerkte, dass die Verurteilung zu zwei Jahren eher milde sei - »Landesverrat« konnte mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden, für »Kriegsverrat« war nach § 57 des Militärstrafgesetzes sogar die Todesstrafe möglich. 232 Werner hatte daher Angst, seine Meinung frei zu äußern und bat den Bruder um strenge Vorsichtsmaßnahmen: »Es wäre gut, wenn du die Briefe, welche ich dir schreibe, immer gleich dem Orkus überlieferst, damit schnüfflige Nasen nicht unangenehme Folgerungen aus heimlichen Gerüchen ziehen.« 233 Dass Gerhard dem nicht Folge leistete, ist ein Glücksfall für spätere Leserinnen und Leser. Neben philosophischen und politischen Debatten blieben durch Gerhards Ungehorsam auch zahlreiche Alltagsdokumente überliefert: Werners Beschwerden über die Langeweile des Kasernenalltags oder seine ganz profanen Versuche, in Sachen Kleidung ein wenig Komfort zu arrangieren: »Bitte, veranlasse doch Mutter, mir noch 2 Unterhosen, 1 Nachthemd und wenn möglich 1 Halsbinde zu schicken. Bei den Unterhosen soll sie nicht so lange Dinger nehmen, die mir bis zur Brust reichen! Ferner wäre es mir lieb, wenn du für Sendung eines Schachspiels mit Brett sorgtest.« 234 Jedoch hatte Werner schon bald andere Probleme als die dreckige Militärwäsche. 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht Werners gute Vorsätze über eine Pause in der Politik währten nur wenige Wochen. Trotz aller Risiken trat er in Kontakt mit der Halleschen Arbeiterjugend, beteiligte er sich sogar an der illegalen Agitation. In einem Brief von Emmy an Gerhard ist vermerkt, dass Werner im Winter 1916 mehrere »kriegsgegnerische Vorträge« vor Jugendlichen hielt. 235 Es handelte sich um die Gruppe um Reinhold Schönlank, der 1913 in Halle ein sozialdemokratisches 230 Ebenda. 231 Vgl. Annelies Laschitza, Die Liebknechts, S.-263ff und S.-308ff. 232 Ebenda, S.-308. 233 Werner an Gerhard Scholem, 13. Oktober 1916, GSA Jerusalem. 234 Ebenda. 235 Brief Emmy Scholem an Gerhard Scholem, 5. Februar 1918, GSA Jerusalem. <?page no="96"?> 96 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Jugendheim erkämpft hatte. Schönlank berichtet in seinen Erinnerungen, wie er dort ab 1914 die Opposition zusammenführte: »Um jedoch auch die illegale Verteilung von Flugschriften gegen den Krieg und die Erziehung zur revolutionären Gesinnung durchführen zu können, bildete ich eine aus vertrauenswürdigen jungen Menschen bestehende Gruppe, die sich jeden Mittwoch unter dem Vorwande Schach zu spielen, in dem zu diesem Zweck eingerichteten Raum versammelte. Hier wurde über marxistische Probleme gesprochen, soweit die Jugendgenossen nicht zu dem Heeresdienst einberufen wurden. […] Später schloß sich dieser Gruppe auch der junge Student W. Scholem, der in Halle zur Infanterie einberufen worden war, an, und beteiligte sich fleißig an den geschilderten Aufgaben.« 236 Vor diesem Publikum sollte Neujahr 1917 auch Gerhard einen Vortrag halten - Werner teilte ihm im Dezember mit, dass »die Elite der Hallischen A[rbeiter] J[ugend] mit Spannung auf den ›großen Theoretiker‹ aus Berlin wartet.« 237 Das Wort »Elite« verweist darauf, dass Werners Zirkel in Halle aus einer ausgewählten Gruppe bestand - ähnlich wie die Rixdorfer Verschwörer traf man sich im Geheimen. Im Brief klingt an, dass sich Gerhards Name in bestimmten Kreisen bereits herumgesprochen hatte - der berühmte Professor Gershom Scholem warf seine Schatten voraus. Werner ermahnt den »Theoretiker« daher, auch ordentlich politisch zu werden: »Ich würde dir raten, damit du nicht zu schnell mit deinen Ausführungen fertig wirst, noch einiges, was besonders einer sozialistischen Jugend nichts schaden könnte, hinzuzusetzen. Man erwartet hier ganz besonderes, ich würde dir raten, eine ungeheuer gelehrte Miene aufzusetzen.« 238 Hinter dem Spott verbarg sich deutliche Unsicherheit - sollte der kleine Bruder den Großen überflügeln? Das Verhältnis der beiden war nie ganz frei von Rivalitäten. Ob der Vortrag ein Erfolg war, wissen wir nicht. Werner nimmt darauf in seinen Briefen keinen Bezug, wie immer nach einem persönlichen Treffen der beiden folgt eine Lücke in der Kommunikation: die persönliche Aussprache ersetzte das mühsame Briefeschreiben. Lücken wie diese verweisen darauf, dass auch die ausführliche Korrespondenz der Brüder nur einen Teil von Werners Leben wiedergibt. Nicht nur, dass fast alle Antwortbriefe Gerhards verloren sind - auch sonst blieben gewisse Bereiche ausgespart. Manches wurde auf eine mündliche Aussprache vertagt, Politisches sparten beide oft aus Angst vor Zensur aus. 239 Doch manchmal ging es nicht anders. Am 5. Februar 1917 schrieb Werner einen verzweifelten Brief - er befand sich in größten Schwierigkeiten: »Lieber Gerhard, ich schreibe dir in einer merkwürdigen Lage. Kurz, ich stehe vor dem Abgrund, der mich sicher verschlingen wird. An Kaisers Geburtstag war eine sozialistische Demonstration, bei der ich denunziert wurde. Zuerst erfolgte nichts, sodaß ich leichtsinnigerweise nicht aufpaßte. Gestern hat die Kriminalpolizei bei mir gehaussucht, mit Genehmigung des Garnisonskommandos und leider viel gefunden. Ich erwarte heute oder morgen noch meine Verhaftung. Auf jeden Fall ist mein Studium futsch, und die Strafe, die mir ein Kriegsgericht aufbrummen wird, kannst du dir denken. Ich kann dir näheres nicht schreiben, auf jeden Fall ist für meine nächste Zukunft gesorgt. Meine Braut weiß 236 Erinnerungsmappe Reinhold Schönlank, SAPMO-BArch, SG Y 30 / 1603. 237 Werner an Gerhard Scholem, 26. Dezember 1916, GSA Jerusalem. 238 Ebenda. 239 Dies betraf vor allem die vom Zensor zu genehmigenden Feldpostbriefe, während die privat geschickten Lazarettbriefe frei über Politisches berichten. Mündlich besprochen wurden Werners Fragen zu einer möglichen Berufspraxis als Journalist, vgl. Werner an Gerhard Scholem 6. August 1919, GSA Jerusalem. <?page no="97"?> 97 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 97 Bescheid. Sage den Eltern vorläufig nichts, wenn ich in Untersuchungshaft bin, werde ich es mitteilen. Aber bedenke, daß man bei mir Briefe von dir gefunden hat und ziehe daraus sofort die Konsequenzen.« 240 Auch diese zweite Aufforderung zur Vernichtung von Briefen befolgte Gerhard nicht. Dennoch war er vorsichtig und hinterlegte alles verdächtige bei seinem Freund Harry Heller. 241 Ursprünglich sollten Werners Briefe bei Walter Benjamin deponiert werden - der war jedoch selbst auf der Flucht vor dem Einberufungsbefehl und Gerhard wollte nicht noch weitere Schwierigkeiten machen. 242 Für Werner dagegen war der Ärger nicht mehr abzuwenden. Er wurde nach der Absendung des Briefes verhaftet - die Behörden ermittelten wegen »Majestätsbeleidigung«. Zunächst lautete der Vorwurf auf »Landesverrat«, was die erwähnten zehn Jahre Zuchthaus androhte. Dies wurde jedoch später fallengelassen. 243 Werner verbrachte die nächsten Monate in Untersuchungshaft. Nicht wegen der heimlichen Vorträge, sondern wegen der Demonstration am 27. Januar - »Kaisers Geburtstag«. Das war der inoffizielle Nationalfeiertag des Deutschen Reiches, denn einen regulären gab es nicht. Jeweils am Geburtstag des Monarchen wurden im ganzen Reich Militärparaden, Ansprachen, Gesangsaufführungen, Galadiners und andere Festivitäten veranstaltet. In der Regierungszeit Wilhelm II. fiel der Tag in den Januar und wurde als nationales Gemeinschaftserlebnis inszeniert - etwa in den Schulen, wo die Kinder zur Feier des Tages das Lied »Der Kaiser ist ein lieber Mann« sangen: »Der Kaiser ist ein lieber Mann er wohnet in Berlin und wär das nicht so weit von hier so ging ich heut noch hin Wisst ihr, was ich beim Kaiser wollt’ Ich gäb ihm eine Hand und brächt das schönste Blümchen ihm das ich im Garten fand« 244 Viele Mitglieder der Arbeiterjugend hatten diesen Klassiker einige Jahre zuvor noch selbst singen müssen, denn das »Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen« 240 Werner an Gerhard Scholem, 5. Februar 1917, GSA Jerusalem. 241 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-92. Der Bericht über die Verhaftung Werners enthält an dieser Stelle jedoch einige Ungenauigkeiten. Zum einen die angebliche Verletzung Werners in Serbien, während er tatsächlich an der Ostfront verwundet wurde, sowie die Angabe, Werner hätte in Halle im Lazarett gelegen. Tatsächlich kam Werner Scholem jedoch erst später nach Halle und diente dort in einer Genesenden-Kompanie. 242 Ebenda. 243 Ebenda. 244 Eine dritte Strophe lautete: »Und sagte dann: In treuer Lieb / bring ich das Blümchen dir / Und dann lief ich geschwinde fort / so wär ich wieder hier« Der Text tauchte mit dem Titel »Der König ist ein lieber Mann«, seit 1856 in preußischen Schulbüchern auf. Gesungen wurde er auf eine Melodie von Karl Gotthelf Gläser (1784-1829), aber auch auf die Melodie von »Üb immer Treu und Redlichkeit« von Mozart. <?page no="98"?> 98 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) empfahl es als Auswahllied für die vierte Klasse. Allerdings »in erster Linie für Mädchenschulen«, weil man den Jungs das Blumenpflücken nicht zumuten wollte. 245 Blumen hatten auch Werner und seine Freunde an diesem speziellen Geburtstag nicht dabei. Scholems Genosse Reinhold Schönlank berichtete über ihren Auftritt: »Als für den 27. Januar 1917 eine große Kundgebung des Bürgertums, der Studenten und anderer Schichten der Bevölkerung auf dem Hallmarkt angesetzt worden war, an der der liberale Pfarrer der Paulusgemeinde Pröcker sprechen sollte, beschlossen wir, diese Demonstration in unserem Sinne umzustellen. Wir verteilten Flugblätter unter den dicht gedrängten Menschen an 50 zuverlässige Jugendliche, die beauftragt waren, bei passender Gelegenheit auszurufen: ›Hoch Liebknecht‹, ›Nieder mit dem Krieg! ‹ Ein greller Trillerpfiff ertönte, als Pröcker zum Hochruf auf Wilhelm II. ansetzte. Er verstummte vor Entsetzen und wir, nachdem ein Hochruf auf Liebknecht ausgebracht wurde, die Internationale anstimmten. Die zahlreich erschienene Polizei begann eine wilde Jagd gegen die Jugendlichen, es gelang jedoch fast allen Jugendlichen, sich der Verhaftung zu entziehen. Werner Scholem und ich wurden verhaftet […].« 246 Werner hatte in seiner Uniform als Infanterist demonstriert. Ohne Zweifel hätte er auch in Zivilkleidung samt der von Mutter erbetenen Halsbinde antreten können. Doch er wollte ein Zeichen setzen: Ein Soldat des Kaisers, der die Internationale sang - das war ein Aufruf zur Befehlsverweigerung. 247 Werner entkam im Tumult und wurde erst später verhaftet, nach eigener Aussage von einer Studentin denunziert. 248 Es muss sich um eine Kommilitonin von der Universität Halle gehandelt haben - eine Frau, die Werner kannte, wahrscheinlich saß sie in Vorlesungen und Seminaren mit ihm. Sie muss der Polizei seinen Namen direkt angegeben haben, sonst hätten die Behörden kaum so schnell die Identität eines unbekannten Infanteristen feststellen können. In Halle machte Werner somit erste Erfahrungen mit Denunziation und Gesinnungsjustiz - weitere sollten folgen. Die Untersuchungshaft verbrachte er in der Justizvollzugsanstalt Halle I, die 1842 als »preußisch-königliche Strafanstalt für lange Zuchthausstrafen« eröffnet worden war. 249 Das Gebäude wurde wegen seiner dicken Backsteinmauern im Volksmund »Roter Ochse« genannt. Im Jahr 1885 waren im Innenhof des Gefängnisses die Anarchisten August Reinsdorf und Emil Küchler hingerichtet worden, nachdem sie ein vergebliches Sprengstoffattentat auf Kaiser Wilhelm I. unternommen hatten. 250 Nach dem Ende des Kaiserreichs diente der »Rote Ochse« auch in der Weimarer Republik als Haftanstalt. Während des Nationalsozialismus wurden dort ab 1942 wieder Hinrichtungen durchgeführt - über 500 politische Gegner des NS-Regimes fanden hier den Tod. Nach 1945 wurde die Anstalt dem sowjetischen Militär übergeben und seit 1950 vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR zur Inhaftierung politischer Gegner benutzt. Im Jahr 1989 wechselten die politischen Verhältnisse erneut, die politischen Häftlinge wurden 245 Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, Jahrgang 1912, S.-623-626, zitiert nach www.volksliederarchiv.de (Zugriff 2.8.2010). 246 Erinnerungsmappe Reinhold Schönlank, SAPMO-BArch, SG Y 30 / 1603. 247 Werner berichtet nicht über Details der Demonstration, erwähnt aber den Gesang und gab im Revisionsverfahren vor dem Militärgericht in Magdeburg offen zu, mitgesungen zu haben. Vgl. Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 248 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 249 Werners folgende Briefe tragen den Absender »Am Kirchtor 20 A«, hinter der sich besagte Anstalt verbirgt. 250 Vgl. dazu Max Schütte, August Reinsdorf und die Niederwaldverschwörung, Berlin 1983. <?page no="99"?> 99 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 99 befreit - der rote Ochse jedoch blieb. Der Hauptteil des Gebäudes ist weiterhin eine Justizvollzugsanstalt mit zahlreichen Gefangenen, nur ein Teilbereich dient seit den 1990er Jahren als Gedenkstätte »für die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus«. 251 An politische Häftlinge vor 1933 wird nicht erinnert. 252 Werner verbrachte viel Zeit im »Roten Ochsen«, denn nach einer ersten Verurteilung vor einem lokalen Militärgericht in Halle wegen Majestätsbeleidigung ging er in Berufung und seine Untersuchungshaft verlängerte sich. Der Alltag im Gefängnis war trist, auch wenn sich die Freunde sehr bemühten, wie eine Postkarte zur Mai-Demonstration 1917 251 Zur Konzeption der Gedenkstätte vgl. die Internetseiten des Landes Sachsen-Anhalt sowie der Stadt Halle: http: / / www.halle.de/ index.asp? MenuID=715 sowie http: / / www.sachsen-anhalt.de/ LPSA/ index. php? id=3380, Zugriff jeweils 2.8.2013. 252 Auch die Literatur zur Geschichte der Haftanstalt beschränkt sich auf die Zeiten 1933-1945 und 1945- 1989: Daniel Bohse und Alexander Sperk (Bearb.): Der Rote Ochse Halle (Saale). Politische Justiz 1933- 1945, 1945-1989, hg. v. Joachim Scherrieble, Berlin 2008; Kurt Fricke: Die Justizvollzugsanstalt »Roter Ochse« Halle/ Saale 1933-1945 - Eine Dokumentation, hg. vom Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1997; Kurt Fricke: Die Strafanstalt Roter Ochse in Halle 1933 bis 1989, in: Geschichte der Stadt Halle, hg. von Werner Freitag, Katrin Minner und Andreas Ranft, Halle 2006, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, S.-415-431; Alexander Sperk: Die MfS-Untersuchungshaftanstalt »Roter Ochse« Halle/ Saale von 1950 bis 1989. Eine Dokumentation, hg. vom Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1998; Michael Viebig: Das Zuchthaus Halle/ Saale als Richtstätte der nationalsozialistischen Justiz (1942 bis 1945), hg. vom Ministerium des Innern des Landes Sachsen- Anhalt, Magdeburg 1998. »Mai-Demonstranten 1917 Halle Volkspark«. Untere Reihe, dritte von links: Anna Schönlank (mit Kind), daneben Reinhold Schönlank Zusatz von Werner Scholem im Fotoalbum: »[…] Mai-Demonstration der Freien Sozialistischen Jugend (F.S.J.) in Halle 1917. Die Karte wurde mir in das Kirchtor-Gefängnis geschickt. Die Demonstranten zogen am Gefängnis vorbei, wo ich in Untersuchungshaft sass.« (Quelle: Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="100"?> 100 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) beweist: die sozialistische Jugend zog aus Solidarität am Gefängnis vorbei und schickte Werner ein Bild in die Zelle. Doch trotz solcher Gesten zermürbte die Haft. In einer Nachricht, die er im August 1917 »auf geheimnisvollen Gaunerpfaden« herausschmuggeln ließ, berichtete Werner seinem Bruder: »Im Ernst, lieber Junge, ich sitze vollkommen beschäftigungslos bald 7 Monate in Einzelhaft! Was das heißt, kann nur der ermessen, der das durchgemacht hat. Schoenlanks und andere Genossen schicken mir Essen. 253 Aber die Bücher müssen erst durchs Gericht, und dieses enthält mir alle wissenschaftlichen Werke vor. Ich darf nur leichte, völlig unpolitische Unterhaltungsliteratur lesen. Heute haben sie mir z.B. Freiligenrath’s Gedichte vorenthalten! Auch nach meiner Verurteilung, obwohl ich doch nun meine Strafe absitze, hat sich nichts geändert. Man hat mich im Untersuchungsgefängnis gelassen und behandelt mich wie zuvor. Eines teils ist das ganz gut; denn meine Aufseher behandeln mich als Politischen viel besser als die anderen, und in Spandau wird man kujoniert. Aber diese entsetzliche Einzelhaft zermürbt jeden Menschen auf die Dauer. Du sitzt den ganzen Tag in der Zelle und stierst die 4 Wände an und das seit 200 Tagen! « 254 Das gefürchtete »Kujonieren« bedeutete etwa soviel wie schikanieren. 255 Es ist interessant, dass Werner dieses Schicksal erspart blieb - im Kaiserreich galt trotz aller Gesinnungsjustiz ein gesonderter Ehrenkodex für politische Vergehen. Bereits die Gründer der SPD, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, waren im Leipziger Hochverratsprozess 1872 zu »ehrenvoller« Festungshaft verurteilt worden. Dies bedeutete privilegierte Haftbedingungen in einer militärischen Anlage und die Trennung von den »gewöhnlichen Kriminellen« im Zuchthaus. Allerdings zeigt Werners Beispiel, dass auch in Zuchthäusern ein informeller Ehrenkodex galt: Die Wärter unterschieden zwischen politischen und kriminellen Gefangenen und erleichterten ersteren das Leben durch kleine Vergünstigungen wie geschmuggelte Briefe. 256 Doch der Ehrbegriff des Kaiserreichs sollte die Zeit nicht überdauern. Der Nationalsozialismus, der sich sonst so gern als Restaurator vergangener Größe inszenierte, machte damit Schluss. In den Gefängnissen und Lagern des NS-Staates wurden politische Häftlinge systematisch erniedrigt und misshandelt, was auch Werner noch am eigenen Leibe erfahren würde. Doch auch ohne Folter und trotz des großen Vorteils, nicht an die Front zu müssen, litt Werner 1917 sehr unter dem Freiheitsentzug. Die monotone Leere und der Mangel an geistiger Betätigung belasteten ihn. Hinzu kam ein erneutes Zerwürfnis mit Gerhard. Gerade jetzt, wo Werner Aufmunterung gebraucht hätte, wurden die Briefe spärlicher. Gerhard berief sich auf die Briefzensur, was Werner jedoch nicht gelten ließ: »Du brauchst dir garnicht so eine ungeheure Reserve aufzulegen. Gerade in punkto Rausschmiß und Ganzheit rechnete ich auf ausführliche Mitteilungen. Wie ich dir schon in meinem vorigen Brief versicherte, kannst du sehr wohl von der Leber weg schreiben, wenigstens in deinen privaten Dingen. Mit demselben Rechte wie du hätte Emmi mir auch schreiben können, 253 Auch die politische Polizei notierte, dass Anna Schönlank »den Studenten Scholem« mit Essen versorgte - ein Beleg dafür, wie intensiv die Hallenser Jugendbewegung überwacht wurde. Vgl. BArch Berlin R 3003- C 21/ 1918, Nr. 3, Bl. 124. Ich danke Ottokar Luban für diesen Hinweis. 254 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 255 Kujonieren = unnötig und bösartig bedrängen, unwürdig behandeln, schikanieren; abgeleitet von dem lateinischen Substantiv coleus (dt.: der Hoden) über das französische coïnner mit gleicher Bedeutung wie das dt. kujonieren - vgl. www.de.wiktionary.org (Zugriff 3.8.2010). 256 Was eventuell auch auf Bestechungen hinwies, aber auch dafür war eine Grundsympathie notwendig. <?page no="101"?> 101 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 101 eine Korrespondenz sei jetzt aussichtslos. Du kannst dich dann nicht wundern, wenn ich meinte, du hättest am Ende Angst.« 257 Die Missstimmung hatte tiefere Ursachen, denn Werner verlangte nicht nur Auskunft »in privaten Dingen«, sondern drängte seinen Bruder zu einem politischen Bekenntnis. Gerhard solle sich der im April 1917 gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) anschließen und Farbe bekennen gegen den Krieg. Die USPD, manchmal auch USP oder USD abgekürzt, war aus der »Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft« der Kriegsgegner im Reichstag hervorgegangen. Alle Diskussionen um Parteieinheit und Beitragssperre hatten sich erledigt, als die Mehrheit der Partei im März 1916 die Kriegsgegner im Reichstag ausschloss und damit die Spaltung einleitete. Reaktion war die Gründungsversammlung der USPD im folgenden Jahr. In der neuen Partei vereinten sich Kriegsgegner aller Facetten. Das Spektrum reichte von den linksradikalen Anhängern Rosa Luxemburgs über die oppositionellen Netzwerke der Berliner Metallarbeiter bis hin zu den reformorientieren »Revisionisten« um Eduard Bernstein. Bernstein stammte aus einem jüdischen Elternhaus und war als Angestellter zur SPD gestoßen. Nachdem er in den 1880ern viel dazu beigetragen hatte, den Marxismus in der Partei zu verankern, entwickelte er sich um die Jahrhundertwende zum entschiedenen Gegner des Linken Parteiflügels. Bernsteins Ziel war eine »Revision« des Marxismus, worunter er eine Anpassung der revolutionären Theorie an die reformorientierte Praxis der SPD verstand. 258 Jedoch wollte Bernstein keine Verantwortung für den Weltkrieg übernehmen. Schon 1915 hatte er öffentlich protestiert, 1917 schloss er sich der USPD an. Während Werner Liebknecht zu seinem Vorbild erhoben hatte, begeisterte sich Gerhard stürmisch für Bernsteins große Verweigerung. In seinem Tagebuch notierte er im Juni 1916: »Ja, zum Teufel! : Ich habe mich zum Marxisten entwickelt! Es ist nichts mit der anderen Seite, und allein der Marxismus garantiert dauernde Neugeburt der Bewegung. 2 Typen: Revisionismus und Marxismus! Ein Schuft, wer sich nicht ganz ungeteilt und besinnungslos auf die Seite des Marxismus stellt (Ehre Ed. Bernstein, dem tiefen Grübler und Sucher, dem ehrlichsten Menschen Judas, der noch mit 65 Jahren sich entschieden hat, gegen die Verwirrung, die er selber geboren hat. Das ist wahrhaft Umkehr, Teschuwa! 259 Verbeugt euch, ihr Jungen! ) Das ist wahrhafte Bewegung: die Überwindung des Revisionismus durch seinen eigenen Heros und Führer, möchten doch die zionistischen Revisionisten auch also tun! Der Weg Bernsteins ist größer als der Weg Liebknechts. Physisch und psychisch. Liebknecht war nie verwirrt, Bernstein 15 Jahre! Aber ich stehe zu beiden, und da im zionistischen Lager die Bernsteins unauffindbar sind, so gibt es nur eins: die Liebknechtelianer! « 260 257 Werner an Gerhard Scholem, 17. Juni 1917, GSA Jerusalem. 258 Vgl. dazu Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 1973. 259 Im Original hebräisch, RH. 260 Tagebucheintrag vom 38. Juni 1916, zitiert nach Gershom Scholem, Briefe, Bd. 1, S.- 346. Gerhard überschätzte die Wende Bernsteins: In der Kriegsfrage war dieser Gegner der Mehrheits-SPD, seine revisionistischen Ansichten änderte Bernstein jedoch nicht. Interessanterweise war Bernsteins Revisionismus, der auch eine Aufweichung der marxistischen Kolonialkritik beinhaltete, offen für eine Diskussion über jüdische Kolonisation in Palästina; eine Debatte, die hauptsächlich in den »Sozialistischen Monatsheften« stattfand. Sie führte während des Weltkrieges, den andere Revisionisten mehrheitlich befürworteten, zur weitgehenden Akzeptanz des Zionismus. Vgl. Andreas Morgenstern: Die <?page no="102"?> 102 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Angesichts solcher Bekenntnisse war es nicht verwunderlich, dass Werner im Sommer 1917 annahm, er hätte seinen Bruder längst für den Sozialismus der USPD gewonnen. Aus dem Gefängnis schrieb er ihm: »Früher hattest du ganz andere Ansichten, betreffs des Anschlusses an eine Partei und ich weiß, daß du noch im vorigen Jahr meintest, im Falle der Spaltung der Sozialdemokratie würdest du dich dem linken Flügel anschließen. Und du dachtest damals auch nicht anders über die Beziehungen der Revolution zur Politik. Jedenfalls tut es mir sehr leid, daß du anscheinend dieser ganzen Frage - nämlich der Frage der Internationalen, welche allein solche Zustände verhüten könnte, unter denen auch du leidest - daß du dieser Frage garnicht mehr näher getreten bist. Die hohen Regionen, in denen du dich aufzuhalten pflegst, scheinen dich etwas dem Erdboden entrückt zu haben. Vielleicht sind aber die nächsten 2 oder 3 Jahre dazu angetan, dich unsanft zu erinnern, wo du dich befindest und zuvor gebe ich die Hoffnung nicht auf, dich in meinen Jagdgründen zu treffen.« 261 Werner musste jedoch zugeben, dass es durchaus Kontroversen um die neue Partei gab - gerade in radikalen Kreisen hatte man Bedenken, sich dieser Formation anzuschließen: »Zwar, ein ganzer Teil meiner Freunde hat das auch nicht getan und leider meine Braut auch nicht, die jetzt in Hannover auch wieder den Fiedelbogen kräftig schwingt. Diese Leute, inspiriert aus Bremen, hetzen gegen die Unabhängigen als ›Parteizentrum‹. Aber mir scheint, sie haben die Grenze zwischen Marxist und Anarchist schon bedenklich überschritten. Nun, ich kann mich hier doch nicht so ausschreiben wie ich möchte; es ist eben schade, daß du nicht hier warst.« 262 Werner musste letztlich anerkennen, dass unter der Zensur der Briefwechsel »von der Leber weg« nicht so einfach war - umso mehr ärgerte es ihn, dass Gerhard nicht zu Besuch kam. Werner fühlte sich alleingelassen und von Nachrichten abgeschnitten: »Ich weiß ja garnichts über alles, was dich angeht« schrieb er. Auch politische Neuigkeiten erhoffte er sich: »Ich hätte dich auch gern gefragt, was Juden und Judengenossen zu den neuesten Vorgängen in Palästina gesagt haben? « 263 Die Neuigkeiten aus Palästina betrafen das militärische Vorgehen der Engländer gegen das Osmanische Reich, den deutschen Verbündeten am Mittelmeer. Werner interessierte sich nach wie vor für den Zionismus und alles, was damit zusammenhing. Sein Enthusiasmus für die einst gelobten Bremer Linksradikalen war hingegen verflogen: ihre Politik, die er als reine Anti-Haltung wahrnahm, war ihm zu wenig. Die Frage der Organisation und Durchsetzbarkeit hatte für Werner Priorität vor der abstrakten Reinheit radikaler Entwürfe. Eine weitere Ebene des Streits zwischen den Brüdern war der Familienkrach. Werner warf Gerhard wieder einmal vor, nicht konsequent mit dem Vater zu brechen: »wenigstens erscheint es mir kläglich, daß du nach dem von mir schon lange erwarteten Rausschmiß »Sozialistischen Monatshefte« im Kaiserreich - Sprachrohr eines Arbeiterzionismus? , in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft III/ 2012, S.-5-25. 261 Werner an Gerhard Scholem, 17. Juni 1917, GSA Jerusalem. 262 Werner an Gerhard Scholem, 3. Juni 1917, GSA Jerusalem. Die Bemerkung über Bremen verweist auf die Strömung der »Bremer Linksradikalen«, auf dem Flügel der SPD, die sich schließlich als »Internationale Kommunisten Deutschlands« (IKD) verselbständigte und 1919 in der KPD aufging. Vgl. dazu Gerhard Engels Biographie zu einem zentralen Protagonisten dieser Bewegung: Gerhard Engel, Johann Knief - ein unvollendetes Leben, Berlin 2011. 263 Werner an Gerhard Scholem, 3. Juni 1917, GSA Jerusalem. <?page no="103"?> 103 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 103 noch immer von einem gewissen Herrn Geld annimmst.« 264 Hier übertrieb Werner jedoch, denn am Familientisch hatte sich Gerhard klar mit dem Bruder solidarisiert. In den Memoiren berichtete er ausführlich darüber: »Zwei weitere Tage später erhielt mein Vater die offizielle Mitteilung der Behörde, daß sein Sohn verhaftet und wegen Landesverrat vor ein Kriegsgericht kommen würde. Es gab eine fürchterliche Szene am Mittagstisch. Als ich gegen eine seiner Behauptungen leisen Einspruch erhob, bekam er einen Wutanfall. Er hätte nun genug von uns beiden. Sozialdemokratie und Zionismus - alles dasselbe, kriegsgegnerische und deutschfeindliche Umtriebe, die er in seinem Haus nicht weiter dulden würde. Er wolle mich nicht weiter sehen. Ich stand auf und ging auf mein Zimmer. Einen Tag später erhielt ich von ihm einen eingeschriebenen Brief, in dem er mich aufforderte, am 1. März sein Haus zu verlassen.« 265 Wie zahlreiche andere Dokumente hob Gerhard auch diesen Brief auf. Er führte ihn 1923 bei der mühevollen Überfahrt nach Palästina mit sich und bewahrte ihn über 60 Jahre in seinen Unterlagen. Erst 1989, sieben Jahre nach seinem Tod, wurde das Schreiben veröffentlicht. Wie kaum ein anderes Dokument zeigt es den Grad der Entfremdung und Zerrüttung zwischen Arthur und den zwei jüngeren Söhnen: »Ich habe mich entschlossen, für Dich nicht mehr zu sorgen und teile Dir daher folgendes mit: Du hast bis zum 1. März meine Wohnung zu verlassen und wirst sie ohne meine Erlaubnis nicht mehr betreten. Um Dich nicht mittellos zu lassen, werde ich Dir am 1. März 100 Mark überweisen. Auf irgend welche weiteren Bezüge hast Du von mir nicht zu rechnen. […] Ob ich nach dem Kriege die Mittel für Dein weiteres Studium bewilligen werde, wird von Deiner Führung bis dahin abhängen. - Dein Vater Arthur Scholem.« 266 Obwohl Gerhard und Arthur in derselben Wohnung lebten, die Schlafzimmer wenige Meter voneinander entfernt, ging Gerhard diese Mitteilung als Einschreiben zu. Er befolgte die Aufforderung und nahm sich ein Zimmer in einer Pension. 267 Erst nachdem andere Familienmitglieder monatelang drängten, ließ Arthur sich erweichen, seinem Sohn wenigstens das Studium zu finanzieren - jedoch auch dies nur mit schriftlichem Vorbehalt: »Solltest du aber Deiner antideutschen Gesinnung irgendwie erkennbaren Ausdruck geben, so würde ich das Tischtuch zwischen uns ebenso zerschneiden, wie ich es mit Werner - leider zu spät - getan habe.« 268 Wie Werner prophezeit hatte, konnte Gerhard dem Konflikt nicht ausweichen. Die Rebellion der Brüder verlief dementsprechend parallel, wenn auch nie ganz gleichförmig. Beide protestierten gegen Patriotismus und Krämerseele, stießen jedoch auf Granit. Noch in seinen Maßregelungen zeigte Arthur, wie wenig er seine Söhne verstand. Er konnte es sich nicht verkneifen, Gerhard eine letzte Lektion in Sachen Arbeitsmoral zu geben: »Es wird deinem Hochmut sehr gut tun, wirkliche Arbeit zu leisten. Denn was Du als solche betrachtest, ist doch nur Spielerei und die Leute, die Dir für deine Schriftstellereien und Sprachstunden jetzt Geld geben müssen, sind sicher im Innern nicht wenig darüber entrüstet. Denn Geld ist etwas sehr Konkretes und Leuten, die sich nur mit Abstraktem beschäftigen, gilt es als anrüchig, es zu verdienen.« 269 264 Ebenda. 265 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-92f. 266 Brief Arthur Scholem an Gerhard Scholem 15. Februar 1917, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-13. 267 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-93f. 268 Brief Arthur Scholem an Gerhard Scholem 12. Mai 1917, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-13. 269 Ebenda. <?page no="104"?> 104 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Wirkliche Arbeit und konkretes Geld - das waren die Leitsterne in Arthur Scholems Universum. Dass Geld selbst eine Abstraktion aus Papier war, hätte er als Unternehmer eigentlich wissen können. Es ist daher auffällig, wie sehr er die wirkliche Arbeit betonte. War dies seine Art, dem antisemitischen Klischee vom jüdischen Spekulanten entgegenzutreten? Arthur verstand sich nicht als Kapitalist, sondern als Handwerker. Seine Arbeit hatte den Betrieb aufgebaut - sie erzeugte den Profit. Dies entsprach dem patriarchalen Selbstverständnis eines Unternehmers der Gründerzeit, in der Arbeit und Ideen der Firmengründer entscheidend für den Unternehmenserfolg waren. Hier fiel natürlich die Leistung der Arbeiter und Arbeiterinnen unter den Tisch. Vor allem aber waren Arthurs Vorstellungen im Jahr 1917 längst anachronistisch. Mit »just-in-time production« für den englischen Markt war sein Unternehmen aus den familiären Formen eines Handwerksbetriebs herausgewachsen, und das große Geschäft sah nochmal anders aus. Anonyme Kapitalgesellschaften wie die AEG scherten sich wenig um Leistung oder »wirkliche Arbeit«, sondern strebten nach Profit durch Monopol. Die Gewinne wurden an Aktionäre verteilt, die das Werk nie gesehen hatten. Arthur war von all dem unbeeindruckt oder distanzierte sich bewusst. Denn oft genug wurden die Widersprüche dieses abstrakten Kapitalismus ohne Gesicht dem verderblichen Einfluss »der Juden« zugeschrieben. Vielleicht schwor Arthur deshalb auf das Konkrete - er hatte seinen Beruf als Setzerlehrling von der Pike auf gelernt und erwartete dasselbe von seinen Söhnen. Allerdings hatten sogar Reinhold und Erich Sinn für das Künstlerische und Abstrakte in ihrem Beruf. Als Bibliophile sammelten sie Kunstdrucke und stellten eigene her, druckten später auch Gerhards Werke. Und natürlich lasen sie die Bücher auch - gerade Reinhold interessierte sich bis ins hohe Alter für deutsche Literatur. Für Arthur hingegen schienen Bücher Stückware zu sein, ihr Inhalt irrelevant, Schriftstellerei eine bloße »Spielerei« - er machte sein großes Geschäft mit Krankenkassenformularen. Seine Auslassungen über Geld zeigen, dass es nicht nur das Deutschtum war, gegen das Gerhard und Werner rebellierten. Es ging genauso um sinnentleerte Arbeitsethik und das Weltbild eines Kleinkapitalisten. Als Konsequenz interessierte sich auch Gerhard bald nur noch für seinen Vater, wenn er von diesem konkretes Geld erwartete. Mehr als die bare Zahlung war von den Familienbanden nicht übrig geblieben. Daher gingen Werners Vorwürfe fehl, wenn er aus sozialistischen Ehrgefühl verlangte, Gerhard solle kein Geld mehr annehmen. Der Vaterkonflikt war zwar für Gerhard und Werner zwar ähnlich, aber letztlich musste jeder seinen eigenen Umgang finden. Allerdings war Werner in seiner Gefängniszelle nur sehr unzureichend informiert darüber, was sich am Küchentisch der Scholems abspielte. Und hinter Werners Beschwerden über Gerhards Schweigen in schwerer Stunde, hinter politischen Dissens und Familienkrach verbarg sich eine weitere Ebene. Denn Werner fühlte sich nicht nur vernachlässigt, sondern regelrecht verraten - dies sagte er Gerhard ganz direkt: »Zu dieser Ganzheit gehört allerdings auch, daß man im Gefängnis sitzende Freunde nicht verleugnet, aus Angst um seine eigene Haut.« 270 Die in den Briefen mehrmals erwähnte »Ganzheit« steht in engem Zusammenhang mit jener »Unbedingtheit« die Werner bereits 1916 in seinem Manifest gefordert hatte. Die Brüder meinten damit die Aufrichtigkeit und Konsequenz ihres jeweiligen Lebensentwurfs 270 Werner an Gerhard Scholem, 3. Juni 1917, GSA Jerusalem. <?page no="105"?> 105 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 105 gegen den allgegenwärtigen Opportunismus der Einknicker und Kriegsgewinnler. Diese Unbedingtheit überbrückte alle politischen Differenzen - was Werner daher am tiefsten verletzte, war die Tatsache, dass Gerhard sein Verhalten vor Gericht kritisierte: »Du sagst zwar vorsichtiger Weise, ich solle mich nicht darüber aufregen, daß du mir ›gelinde gesagt‹ unsozialistisches Verhalten vorwirfst, aber da dies, wie du wohl weißt, ungefähr der schwerste Vorwurf ist, den du mir machen kannst, so habe ich mich dann doch aufgeregt. Ich war platt, da ich ungefähr das Gegenteil erwartet hatte! « 271 Unsozialistisches Verhalten war das Letzte, was Werner hören wollte. Seit Monaten saß er für sein sozialistisches Verhalten in Einzelhaft, und nun sowas. Werner war außer sich: »Nun schreibst du aber selbst, über meinen Prozess wüßtest du nichts Näheres, also ›Äußerungen‹, die du über mein Verhalten ›gehört‹ hast, veranlassen dich, mich schlimmer zu verurteilen als der hiesige Gerichtshof, mich ungefähr einem Gauner gleich zu stellen, der etwas geklaut hat und nachher zu feige ist, es einzugestehen und allerlei Winkelzüge macht, um freizukommen. […] Woher aber hast du Äußerungen von mir gehört! Doch nur von Hedwig, die du wohl kaum als wirkliche Zeugin anführen kannst, oder durch die Mischboche, die nur weiter verbreitet, was unser Vorfahr kluger- und vorbedachterweise ausstreut. Mir scheint, dieser kluge Mann hat ein Ziel seiner Absicht erreicht, den nur er weiß, daß er bei gewissen Leuten mich nur dadurch herabsetzen kann, daß er - mein Verhalten vor Gericht lobt. Muß ich wirklich solchen Entstellungen gegenüber verteidigen, daß mein Verhalten dasjenige eines Sozialisten war? « 272 Werner ging nun in die Offensive - seine Ehre als Sozialist war ihm wichtiger als alle Schwierigkeiten: »Aber trotzdem, deine Sätze zeigen mir eine Gefahr, die mir schlimmer erscheint, als das elende Jahr, das ich am Ende auf einer preußischen Festung zubringen muß. Dieser Gefahr werde ich begegnen, indem meine Verteidigung bei der Berufungsverhandlung in Magdeburg, die am 10ten Juli stattfindet, derart sein wird, daß mir kein Mensch unsozialistisches Verhalten nachsagen kann, es sei denn eben, er will mich verleumden! Auch du bist eingeladen, hinzukommen und die Verteidigungsrede, die ich halten werde, zu hören.« 273 Gerhard forderte er auf, sich nicht von Gerüchten und Hörensagen beeindrucken zu lassen: »Wenn dir aber künftighin etwas zu Ohren kommt, so muß ich dich entschieden ersuchen, dich erst bei meiner Braut zu erkundigen, ob die merkwürdig klingende Äußerung, die schiefes Licht auf mich wirft, auch wirklich von mir getan wurde! « 274 Trotz aller Vorwürfe wollte Werner nicht mit Gerhard brechen - am Ende des Briefes erkundigte er sich nach dem »Damoklesschwert« von Gerhards Musterung. Schließlich bat er ihn, alle zukünftigen Adresswechsel mitzuteilen - denn: »Man verliert sich zu leicht aus den Augen und vor uns liegen noch herrliche Jahre! « 275 Werners Befürchtungen bestätigten sich - die nächste Feldpostkarte musste er an folgende Adresse richten: Musketier Gerhard Scholem, Res. Inf. Reg. 18, 1. Ers. Bat. Rekr. Dep. 1. Abteilung Allenstein (Pr.). Seit dem 18. Juni 1917 war auch Gerhard eine Num- 271 Werner an Gerhard Scholem, 17. Juni 1917, GSA Jerusalem. 272 Ebenda, Hervorhebungen im Original. 273 Ebenda, Hervorhebungen im Original. 274 Ebenda. 275 Ebenda. <?page no="106"?> 106 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) mer im System der Kriegsmaschinerie. 276 Immerhin wurde er zunächst in der Etappe stationiert, dies konnte sich jedoch schnell ändern: »Musketier« war der unterste Dienstgrad der preußischen Infanterie, auch Gerhard hatte es nicht zu einer ungefährlichen Waffengattung geschafft. Werners Ton wurde versöhnlicher, auch, weil Gerhard nicht mehr der Verwandtschaft glaubte, sondern sich nach Abschriften der Berufungsverhandlung erkundigte. Allerdings hatte Gerhard nun nicht mehr die Bewegungsfreiheit, um Werner einen spontanen Besuch für eine Aussprache abzustatten. Es blieb nur die Bitte um schriftliche Nachrichten über die Verhandlung. Auch das Studium musste er unterbrechen. Werner bedauerte dies in einem Versöhnungsbrief, der auch sonst freundlichere Töne anschlug: »Mit Vergnügen hörte ich, daß man dich ›verbohrt und unverschämt‹ nennt und daß ›Hedwig Scholem den Jungen aufgehetzt hat‹. Solche Sachen erfüllen mich immer mit mephistophelischer Freude. Ich hoffe, daß du weiter verbohrt und unverschämt bleibst und dir dabei ein Exemplum nimmst an deinem bodenlos verbohrten Bruder.« 277 Der Streit zwischen den Brüdern war damit beendet. Seine Verbohrtheit bewies Werner wie angekündigt bei der Berufungsverhandlung vor dem Oberkriegsgericht in Magdeburg am 10. Juli 1917, über die er Gerhard einen ausführlichen Bericht zukommen ließ: »Ich will dir doch Einiges über die Verhandlung vor dem Oberkriegsgericht schreiben, sonst lügt man dir wieder die Hucke voll! Also die Öffentlichkeit wurde wieder ausgeschlossen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, aber Arthur Scholem wurde auf besonderen Antrag zugelassen. Emmy mußte raus! Der Tatbestand wurde diesmal garnicht erörtert, da ich gleich zu Beginn zugab, daß ich gesungen hatte. Dafür wurden die Zeugen, nämlich die Studentin, welche mich denunziert hat, deren Mutter und ein Polizist, garnicht vernommen. Eine Stunde häkelten wir uns über das Tagebuch, wobei ich dem Anklagevertreter manchen Hieb versetzte. Denn dieser Herr, der übrigens sehr scharf war, allzu scharf, um Erfolg zu haben, hatte offenbar nicht ordentlich sich vorbereitet und zitierte falsch. Du kannst dir denken, wie ich bei jedem falschen Zitat emporschnellte und ich die ganze Stelle verlesen ließ, die dann ganz anders lautete. Als er gesagt hatte. Natürlich klammerte er sich auch hauptsächlich an das boche und an den berühmten Satz von den ›paar Herrschenden‹, womit das Hallesche Gericht die Vorsätzlichkeit und die böswillige Gesinnung gegen den Kaiser begründet hatte. 3 Stunden dauerten dann die Plädoyers! Zuerst sprach mein Rechtsanwalt sehr gut über die juristischen Fragen. Du kannst dir ja selbst denken, auf wie schwachen Füßen juristisch die Anklage stand, da nach der Novelle von 1908 zum P[aragraph] 91 Maj[estäts] Bel[eidigung] nur bestraft werden kann, wenn sie böswillig, vorsätzlich und in der Absicht der Ehrverletzung begangen ist. Und zwar müssen alle 3 Voraussetzungen zutreffen. Du würdest dich halb schief lachen, wenn du in der Urteilsbegründung der 1ten Instanz lesen würdest, wie sie die Böswilligkeit begründen. Auch konnte kein Mensch beweisen, daß ich die Sache vorsätzlich begangen hatte, was ja auch nicht der Fall ist, denn ich wollte dem Kaiser seine persönliche Ehre gewiß nicht abschneiden, dazu ist er mir viel zu gleichgültig! Der Staatsanwalt meinte, warum ich nicht, wenn ich durchaus demonstrieren wollte, nicht auf sozialdemokratische Versammlungen 276 Zur Adresse vgl. Werner an Gerhard Scholem, 1. Juli 1917, GSA Jerusalem. Zum Einziehungsdatum vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-102 sowie in den Akten des Landesamt für Gesundheit und Soziales - Krankenbuchlager Berlin (Bescheid zu Gerhard Scholem vom 22. Juni 2010). 277 Werner an Gerhard Scholem, 1. Juli 1917, GSA Jerusalem. <?page no="107"?> 107 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 107 gegangen bin, worauf ich ihn versetzte, er solle mir sagen, wenn im Gebiet des 4ten Korps eine Versammlung der radikalen Sozialisten erlaubt worden wäre. […] Du hättest blos die Rede des Anklagevertreters in Magdeburg hören sollen. Allzu scharf macht schartig, ich glaube, er hat sich vor dem Gericht ziemlich lächerlich gemacht, denn er stempelte mich zu einem mit allen Hunden gehetzten Intriganten, einem ›jener Verschwörer und Vaterlandsverräter, die Deutschlands Größe heimtückisch untergraben‹. Aber er verhieb sich sehr oft und widersprach sich auch. So beschrieb er mich einmal mit den leuchtendsten Farben als hochintelligenten Menschen, ein andermal, als er beim Tagebuch war, als grünen Jungen und Nachbeter. […] Nun, jedenfalls hatte der Mann beim Gericht doch keinen vollen Erfolg. […] Nachher kam ich und hielt eine brüllende Rede, die man durch’s ganze Haus gehört haben soll. Ich amüsierte mich innerlich köstlich dabei, während ich Danton mimte. Übrigens sperrten die alten Herren, die beim Oberkriegsgericht sind, Maul und Augen auf, also allzuoft scheint ihnen sowas doch nicht vorzukommen. Aber Sie waren immerhin anständig, denn sie unterbrachen mich nicht, obwohl ich heillos schimpfte. Mein Verteidiger hat mir versichert, die Rede hat mich mindestens 2 Monate mehr gekostet! Also war sie gut! Was man mir besonders als strafverschärfend auslegen wollte, nämlich daß ich ›des Königs Rock‹ trage, das gerade plädierte ich als mildernden Umstand, in dem ich mit lebhaften Farben schilderte, wie gezwungen ich Soldat sei. Ich sage dir, ich war verflucht froh, daß ich nicht Kriegsfreiwilliger bei den Telegraphentruppen war, da hätte ich nicht so das Maul auftun könnte [sic]. Was ich ihnen von Serbien erzählte, hatten sie wohl auch noch nicht allzu oft gehört. Na, kurz und gut, ich hatte, wie du dir denken kannst, eine große Fresse. Über das Urteil war ich sehr überrascht, ich hatte nicht erwartet, weniger, und gleich 7 Monate weniger zu bekommen. Ich hätte ja eigentlich Revision einlegen sollen, aber da hätte ich, bis zur Kriegsgerichtsentscheidung, noch bis November warten müssen. In der Zeit ist meine Strafe rum! « 278 Trotz seiner brieflichen Ausfälle gegen die »boches«, der schonungslosen Schilderungen in den Tagebüchern, trotz großer Fresse und einem Auftritt wie einst Danton wurde Werner nur zu neun Monaten Zuchthaus verurteilt - was neben dem schwachen Auftritt des Staatsanwaltes an der juristisch sehr engen Definition des Tatbestands der Majestätsbeleidigung lag. Fehlende Meinungsfreiheit und Gesinnungsjustiz waren eine Sache - dennoch gab es im Kaiserreich Rechtsnormen, auf die sich selbst Dissidenten wie Werner berufen konnten. 279 Da die vier Monate Untersuchungshaft angerechnet wurden, konnte Werner mit einer Entlassung zum 10. Dezember 1917 rechnen. 280 Das Urteil schien Arthur Scholem versöhnlich gestimmt zu haben - zumindest näherte er sich seinem Sohn nach der Verhandlung wieder an - Werner jedoch verweigerte sich: »Der Alte kam mir auf dem Bahnhof nach und bot mir 20 M[ark] an, in Anwesenheit von Emmy. Daß ich sie nicht nahm, hat ihn furchtbar gekränkt. Aber ich habe jetzt genug, ich bändele keinesfalls wieder an.« Trotz dieser Szene nahm er Gerhard seinen eigenen Weg nicht mehr übel: »Aber ich machte dir keinen Vorwurf daraus, daß du sie wieder blechen läßt, denn ich glaube, jetzt hast du sie in der Tasche. Sie haben jetzt mächtig Angst vor dir und du kannst versichert 278 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 279 Zur Justiz im Kaiserreich vgl. Uwe Wilhelm, Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz. Justizkritik - politische Strafrechtsprechung - Justizpolitik, Berlin 2010 sowie Ann Goldberg: Honour, Politics, and the Law in Imperial Germany, 1871-1914, New York 2010. 280 Werner an Gerhard Scholem vom 12. August 1917, GSA Jerusalem. <?page no="108"?> 108 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) sein, das der Chef bei dir jetzt sich nicht mehr regt. Höchstens wird er noch hinter deinem Rücken über den ›meschuggenen Kerl‹ höhnen.« 281 Auch wenn das Urteil Werner überraschend milde erschien - neun Monate Einzelhaft waren eine lange Zeit. Im Gefängnis hatte er viel Gelegenheit um nachzudenken. Im August 1917 teilte er Gerhard auf einer schlichten Feldpostkarte zwei wichtige Entscheidungen mit. Zuerst: Er wollte nach vier Jahren Verlobungszeit Emmy heiraten, ob mit oder ohne Zustimmung der Familie. Nicht nur Arthur sträubte sich gegen die Verbindung, auch Betty war unzufrieden: »Ich weiß nicht, warum sich Mutter über meine Absicht, Weihnachten zu heiraten, aufregt. Zuerst schmeißen sie mich raus und dann wundern sie sich, wenn ich daraus Konsequenzen ziehe. Übrigens ist die Sache unumstößlich. Zur Trauung wirst du eingeladen, aber d.h. ohne Geld, denn ich bin nun endgültig unter die Proletarier gegangen.« 282 Werner übertrieb vielleicht ein wenig, doch bedeutete seine unstandesgemäße Hochzeit mit der Tochter eines Arbeiters tatsächlich einen Bruch. Ohne die Unterstützung der Familie war es vollkommen unklar, wie er das ersehnte Studium nach dem Krieg finanzieren sollte. Den sagenhaften Bankdirektor Emil Voigt, den er 1914 so brennend gesucht hatte, erwähnte Werner nicht mehr. Die Hoffnung, Emmy einen bürgerlichen Hintergrund zu verschaffen, hatte sich zerschlagen. Doch trotz aller Härten ermunterte er Gerhard zum weiteren Widerstand: »Ich hoffe du kehrst, wenn du frei bist, nicht etwa in die Neue Grünstr. zurück, um dich bei der nächsten Laune wieder rausschmeißen zu lassen. Ich könnte jetzt auch zoppen, 283 wenn ich das Heiratsprojekt verwerfe, aber ich habe endgültig genug. Ich werde über den Rubikon gehen.« 284 Seine zweite Entscheidung - oder eher Erkenntnis - teilte Werner zunächst nur als Andeutung mit: »Was sagst zu dazu, daß unter den englischen Kriegszielen die Aufrichtung des Judenstaates in Palästina ist? Hältst du das für Bluff? Ich nicht! Und ich habe daraus geistige Konsequenzen gezogen. Und bin jetzt auf einen Standpunkt gelangt, den ich bisher verwarf! « 285 Die Engländer konkretisierten ihre Kriegsziele in Palästina drei Monate später in der sogenannten Balfour-Deklaration vom November 1917. Sie versprach Unterstützung für die »Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina«. Werner beeindruckte die sich abzeichnende Wendung der englischen Politik tief. In einem folgenden Brief präzisierte er seine Schlüsse: »Was meine Andeutung sagen wollte, war folgendes: Bisher war ich der Ansicht, der Krieg müsse und würde unentschieden enden. Jetzt aber hoffe und glaube ich, daß er mit der völligen Zerschmetterung Deutschlands enden muß. Kein anderer Ausweg ist möglich und keiner wünschenswert, weder für das internationale Proletariat noch für das jüdische Volk. Und nur im völligen Siege Englands würde Palästina jüdisch! « 286 Diese Worte ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie konnten das Gefängnis nur in Form einer geschmuggelten Botschaft verlassen, während die Andeutungen zuvor mit der Feldpost kamen. Der Unterschied im Tonfall ist deutlich - trotz aller antideutschen Ausfälle war Werner in seiner Parteinahme für den Zionismus bisher nie so 281 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 282 Werner an Gerhard Scholem, 12. August 1917, GSA Jerusalem. 283 Rheinischer Dialekt: untertauchen, eintunken. 284 Werner an Gerhard Scholem, 12. August 1917, GSA Jerusalem. 285 Ebenda, Hervorhebung im Original. 286 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. <?page no="109"?> 109 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 109 weit gegangen. Doch trotz seiner kämpferischen Forderung nach einem jüdischen Palästina unternahm Werner nach der Entlassung keine Schritte, sich in der jüdischen Nationalbewegung zu engagieren. Er verfolgte die zionistischen Debatten, aber »unsere Bewegung« war für ihn weiterhin die sozialistische Arbeiterjugend. 287 Bevor an Politik zu denken war, musste er zudem seine Reststrafe absitzen. Nach der Berufungsverhandlung im Juli 1917 stand das Strafmaß fest und die Untersuchungshaft war beendet - weshalb Werner Ende August 1917 doch noch ins Militärgefängnis Spandau bei Berlin überführt wurde. 288 Der Gefängnisbau im Berliner Vorort war 1879 eingeweiht worden und mit einer Kapazität von 522 Plätzen seinerzeit das größte preußische Militärgefängnis. Zivile Gefangene wurden dort erst ab 1920 inhaftiert, bei der Übergabe war das Gebäude bereits stark baufällig, was zahlreiche Beschwerden zur Folge hatte. 289 Als Werner Scholem dort 1917 seinen unfreiwilligen Aufenthalt absolvierte, wird er die Anlagen in einem ähnlichen Zustand vorgefunden haben. Über die Haftbedingungen dort ist aus seiner Feder allerdings nichts überliefert. Während Werner in Halle und Spandau einsaß, musste Gerhard sich mit den Realitäten des Soldatenlebens auseinandersetzen. Schon die Ausbildung in der Kaserne war ihm ein Gräuel, die Aussicht auf einen Fronteinsatz umso mehr. Doch im Gegensatz zu Werner, der fast drei Jahre lang diente, blieb Gerhards Soldetenleben ein kurzes Intermezzo, wie er in den Memoiren berichtete: »Meine Militärzeit im ostpreußischen Allenstein verlief kurz und stürmisch, und ich will nicht von ihr sprechen. Ich lehnte mich gegen alles auf, was da geschah, und mein Benehmen ließ nur die Wahl: mich entweder vor ein Militärgericht zu bringen oder als geisteskrank zu entlassen. Man entschied sich für letzteres, und nach zwei Monaten wurde ich als ›Psychopath‹ entlassen.« 290 In diesen acht Wochen hatte Gerhard jedoch einiges auszustehen. Seit der ersten Krankschreibung wurde er immer wieder schikaniert, nicht selten mit antisemitischen Übergriffen. Ein bislang unveröffentlichter Brief an den Gesinnungsgenossen Erich Brauer vom Juli 1917 enthüllt Dinge, über die Gershom auch 60 Jahre später nicht schreiben wollte: »Jetzt erst, wenn ich es vorher noch nicht in dieser Klarheit erkannt habe, sehe ich vollkommen ein, daß mit diesen Menschen ein Zusammenleben auf irgendwie längere Zeiten mir absolut unmöglich ist. Nur die blasse Angst, daß ich Anfälle bekomme und in einem solchen Fall einen einmal halbtot schlage, hält sie davon ab, die Sache auf die Spitze zu treiben. […] Von der furchtbaren Gemeinheit, wie Deutsche es verstehen, einem die wenigen Minuten, die man mit ihnen zusammen sein muss, zu verekeln, kannst du dir gar keine Vorstellung machen. Vernünftig mit ihnen reden kannst du nicht, denn sie sind ja nicht geistig im- 287 Werner schrieb, »er kenne aber doch die jüdische Jugendbewegung viel zu wenig, um mir ein Urteil erlauben zu können, ob sie wirklich völlig verwirrt ist oder nicht. Ich kenne nur unsere sozialistische.« Werner an Gerhard Scholem, 25. Dezember 1917, GSA Jerusalem. 288 Das genaue Datum der Überführung ist unbekannt, Werner gab jedoch in seinem Brief vom 22. August 1917 an, er erwarte täglich die Verlegung. Vgl. Werner an Gerhard Scholem, GSA Jerusalem. 289 Die Angabe über die Baufälligkeit stammt aus: Johannes Fülberth: Das Strafgefängnis Spandau - ein Paradies? In: Nachrichtenbrief der Kurt Hiller Gesellschaft e.V., Nr. 21, März 2010. Zur Geschichte des Gebäudes ab 1920 vgl. Bianca Welzing: Die Vorgeschichte des Spandau Allied Prison. Das Strafgefängnis Spandau 1920-1946. In: Michael Bienert, Uwe Schaper u. Andrea Theissen (Hg.), unter Mitarbeit von Werner Breunig: Die vier Mächte in Berlin. Beiträge zur Politik der Alliierten in der besetzten Stadt. Berlin 2007, S.-159-173. 290 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-108. <?page no="110"?> 110 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) stande, klar zu denken, und unterbrechen dich beim dritten Satze. Hinter meinem Rücken schleicht wohl auch schon in grossen Schritten der Antisemitismus heran, aber da ich hier schon eine grosse Probe gemacht habe, indem ich auf dem Kasernenhof vor versammelter Mannschaft und Offizieren einen der Kerle, als er auch nur zu jüdeln anfing, in einem Wutanfall windelweich schlug, lässt man in meiner Gegenwart so etwas lieber bleiben.« 291 Schikane und Antisemitismus brachten Gerhard an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Das Nervenleiden, das ihm diagnostiziert wurde, musste er nicht vortäuschen. Echt waren nicht nur die Gewaltausbrüche, zu denen er sonst nicht neigte, sondern auch die Nervenkrämpfe. Sie stellten sich etwa während einer Strafübung ein, woraufhin man Gerhard etwas behutsamer behandelte. An Brauer schrieb er: »Nervenkrämpfe sind eine furchtbare Waffe, aber sie zieht. Leider ist sie nicht in meiner Macht, denn um Nervenkr[ampf ] zu kriegen, muss man schon sehr gepeinigt worden sein.« 292 Angesichts solcher Unberechenbarkeiten kamen auch die Vorgesetzten immer weniger mit Gerhard zurecht, ihnen schien der neue Rekrut unheimlich zu werden. Gerhard wurde am 21. August 1917 »als dauernd kriegsverwendungsunfähig in die Heimat entlassen.« 293 Werner gratulierte prompt: »Empfange meine Glückwünsche, du armer Gemütskranker! Ja, wenn wirklich tüchtige, wahrhaft scharfsinnige Psychiater dich beobachten, wie denn anders entscheiden! Leider hat man bei mir, der ich doch auch Konflikte mit der militärischen Gewalt hatte, keine Visionen angenommen, sondern mich unbarmherzig dahin getan, wo da herrscht Heulen und Zähneklappern.« 294 Letzteres war eine Metapher aus dem Matthäus-Evangelium für die »äußerste Finsternis« der Hölle - ein Zustand, von dem sich Werner in seiner Zelle nicht weit entfernt sah. 295 Ein Sanatorium schien da wohnlicher. Einige Freunde Werners wählten diesen Weg und ließen sich in Dresden in eine Anstalt einweisen. 296 Sich so dem Militär zu entziehen erforderte jedoch eine ausführliche medizinisch-psychologische Prüfung. Diese brachte bei Gerhard interessante Ergebnisse: »Tatsächlich schrieben die Ärzte, unter deren Aufsicht ich mich etwas mehr als einen Monat befand, daß bei mir durch jahrelange Entwicklungen und die Krise mit meinem Vater eine Schizophrenie ausgelöst worden sei (die damals ›dementia praecox‹ hieß), was ich drei Monate später durch einen Irrtum der Jenaer Stadtverwaltung erfuhr. Die Ärzte riefen meinen Vater nach Allenstein und hielten ihm vor, der häusliche Konflikt sei an meinem Zustand mit schuld. In Wahrheit erinnere ich mich 291 Brief Gerhard Scholem an Erich Brauer, 15. Juli 1917, GSA Jerusalem. 292 Brief Gerhard Scholem an Erich Brauer, 25. Juli 1917, GSA Jerusalem. 293 Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt - Krankenbuchlager, Bescheid zu Gerhard Scholem vom 22. Juni 2010. 294 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 295 Matthäus, 8,12: »Ich sage euch: Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; Die aber, für die das Reich bestimmt war, werden ausgestoßen in die äußerste Finsternis. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen« - zitiert nach der ökomenischen Einheitsübersetzung, eine andere Variante lautet »Da wird sein Heulen und Zähneklappern«. Indem er Nichtjuden aus »Osten und Westen« mit den Stammvätern Israels im Himmelreich beschrieb während die jüdischen »Erben des Reiches« davon ausgeschlossen sind, widerruft Jesus bzw. sein Sprachrohr Matthäus das Versprechen an die Juden, sie seien das »auserwählte Volk«. Diese Stelle des neuen Testaments ist offen für christlich-antisemitische Deutungen über die »Verstocktheit der Juden« die Jesus nicht als ihren Erlöser anerkennen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Werner diese Stelle tatsächlich auf sich als Jude bezog oder das »Heulen und Zähneklappern« lediglich als passenden Ausdruck seiner momentanen Gemütslage ansah. 296 Vgl. Brief Werner an Gerhard Scholem, 29. Juni 1918, GSA Jerusalem. <?page no="111"?> 111 2.4 Majestätsbeleidigung - ein Soldat vor Gericht 111 nicht, jemals in meinem Leben klarer gesehen zu haben als in diesen Wochen. Mein Vater jedenfalls traf sich mit mir, und es kam zu einer Aussöhnung, die freilich darauf beruhte, daß ich nicht mehr zu Hause leben würde.« 297 Trotz dieser positiven Nebenwirkungen war der Patient mit seinem Attest nicht glücklich. Gerhard hatte Angst, für unzurechnungsfähig zu gelten und nicht zur Universität zugelassen zu werden. Noch Monate später musste ihn die Mutter beruhigen: »Liebes Kind! Deine Aufregung ist ganz unnötig u. Ohne jeden Grund! Wir haben diese Diagnose nur deshalb nicht angefochten, sondern begrüßt, weil Du daraufhin auf keinen Fall wieder eingezogen wirst, sondern unbelästigt bleibst u. Dir dies doch die Hauptsache war! […] Auch Dr. Meyer schrieb mir, daß er sein Attest nur auf das Ergebnis hin, Dich frei zu kriegen, ausschrieb, du aber ganz gesund bist. Du kannst ohne Schaden studieren, natürlich mit Maßen, denn Du bist nervös, nicht gleich in 100 Kollegien stürzen.« 298 Gerhard begab sich nun nach Jena zum Studium. Dies hatte den Vorteil, dass er seinen Bruder im Hallenser Gefängnis besuchen konnte. Eine Aussprache trug dazu bei, endlich die letzten Differenzen auszuräumen. 299 Bis zur Verlegung nach Spandau war Zeit für Gespräche und der Briefwechsel pausierte. Den letzten Brief am Tag vor seiner Entlassung widmete Werner jedoch dem Bruder. Er war heilfroh, als sich die Kerkertüren öffneten: »Wenn du mal 10 Monate wirst hinter schwedischen Gardinen zugebracht haben, so wirst du verstehen, daß ich froh bin, obwohl andererseits in der Garnison ein sehr schlimmes Leben auf mich wartet.« 300 Neben der trüben Aussicht auf die Monotonie des Militärdienstes gab es weitere schlechte Nachrichten: die Universität Halle hatte ein Relegationsverfahren gegen Werner angestrengt und wollte ihn exmatrikulieren. Werner hegte schlimmste Befürchtungen: »Natürlich werde ich sicher relegiert, sodaß ich eben gezwungen bin, später nach Zürich zu gehen, wenn ich auf keiner Universität wieder immatrikuliert werde.« 301 Sein Pessimismus war nicht unberechtigt. Die Universitäten des Kaiserreichs waren ein Hort des Konservatismus, die Relegation aus politischen Gründen in einem Studienort konnte sich leicht zur landesweiten Verbannung auswachsen. Doch Werner war fest entschlossen, den Kampf zu gewinnen und auch die Kosten eines Studiums schreckten ihn nicht: »Mit vereinten Kräften werden Emmy und ich es schon ermöglichen, daß ich zu Ende studieren kann. Ich habe die ewige Zobbelei mit der Mischboche satt. Übrigens, wenn ich anfangen werde, zu studieren, wirst du - jetzt schon ein bemoostes Haupt - längst fertig sein. Mit 20 Jahren im 6ten Semester, das nenne ich Schwein! « 302 Werner musste zusehen, wie der kleine Bruder an ihm vorbeizog, während seine eigene Ausbildung immer wieder blockiert wurde. Allerdings baute er darauf, dass Gerhard mit seinen Kontakten etwas ausrichten könnte: »Ich hoffe nun auf dich, daß du brieflich oder irgendwie in meiner Sache Gutes stiften kannst. […] Ich will mich doch mal erkundigen, ob du nicht ev. als Zuhörer am Termin teilnehmen dürftest. Wie wäre es, wenn du eine Eingabe an den hiesigen Universitätsrichter deswegen 297 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-108. 298 Brief Betty Scholem an Gerhard Scholem, 16. November 1917, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-17, Hervorhebung im Original. 299 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-109. 300 Werner an Gerhard Scholem, 9. Dezember 1917. 301 Ebenda. 302 Ebenda. <?page no="112"?> 112 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) machtest. Es wäre mir sehr lieb, wenn du dabei wärst.« 303 Gerhard ergriff die Gelegenheit und zeigte praktische Solidarität: »Mein Bruder veranlaßte mich zu zwei Besuchen beim Rektor, dem bekannten und liberalen Philosophen Hans Vaihinger, dem Autor der ›Philosophie des Als Ob‹, um dort seine Interessen zu vertreten, soweit ich mich erinnere, nicht ohne Erfolg: die Tore der Wissenschaft blieben ihm nicht verschlossen.« 304 Werner wurde in Halle relegiert, konnte jedoch eine Ausdehnung des Verweises verhindern. 305 Erstmal war jedoch ans Studium nicht zu denken - das Militär hatte Werner fest im Griff. Und da er bereits als Querulant galt, war es nicht möglich, sich aus gesundheitlichen Gründen zu drücken. Wenigstens bekam er Urlaub und die Erlaubnis des Bataillons zur Heirat. 2.5 Werner und Emmy Scholem: Eine unstandesgemäße Hochzeit Die Ehe zwischen Werner Scholem und Emmy Wiechelt wurde laut Heiratsurkunde »am einunddreißigsten Dezember Tausend Neunhundert Siebzehn« in Linden bei Hannover geschlossen. Vier Jahre waren beide verlobt gewesen, zwei Tage nach Werners zweiundzwanzigstem Geburtstag fand nun die Hochzeit statt. Als Trauzeugen traten der Schlosser Johannes Rock, ein Onkel von Emmy, sowie der Tischler Karl Kirchmann auf. 306 Wie angekündigt wurde es eine proletarische Hochzeit. Ganz anders als die prunkvollen Feiern der Onkels, an die sich Reinhold und Gershom noch Jahrzehnte später nostalgisch erinnern sollten. Als Werner und Emmy heirateten, gab es keine Gesellschaft mit »100 Personen, Frack und Aufführungen«. 307 Nicht einmal ein Foto ist überliefert. Es war eben keine Scholemsche Hochzeit. Nur die Familie der Braut war zugegen, Werners Eltern blieben bei ihrer Ablehnung. Auch Gerhard war nicht da - schickte allerdings schriftliche Glückwünsche. 308 Nicht nur die Umstände, auch der Ritus selbst war schlicht: »Der Standesbeamte richtete an die Verlobten einzeln und nacheinander die Frage: Ob sie die Ehe miteinander eingehen wollen. Die Verlobten bejahten diese Frage und der Standesbeamte sprach hierauf aus, dass sie kraft des Bürgerlichen Gesetzbuchs nunmehr rechtmaessig verbundene Eheleute seien.« 309 So stand es in der Trauungsurkunde, eine romantischere Zeremonie gab es nicht. Werner hatte sich zwar bewusst entschieden, den jüdischen Glauben beizubehalten. Jedoch war Emmy nicht zum Judentum konvertiert, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten 303 Werner an Gerhard Scholem, 25. Dezember 1917. 304 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-110. 305 Vgl. Brief Emmy Scholem an Gerhard Scholem, 5. Februar 1918, GSA Jerusalem. 306 Vgl. Abschrift Heiratsurkunde, Nachlass Werner und Emmy Scholem beim Institut für politische Wissenschaft der Universität Hannover, Nr. 1712310. Johannes Rock (geb. 25. Oktober 1882 in Moritzburg, heute Hildesheim) war ein Bruder von Emmys Mutter - dank an an Siegrid Dominik für diese Information. 307 Brief Reinhold an Gershom Scholem, 31. März 1951, GSA Jerusalem. 308 Emmy an Gerhard Scholem, 5. Februar 1918. Gerhard hatte Werner kurz zuvor besucht, war aber zu Weihnachten 1917 bereits abgereist - vgl. Briefe Werner an Gerhard Scholem, 19. und 25. Dezember 1917, GSA Jerusalem. 309 Abschrift Heiratsurkunde Werner und Emmy Scholem, Nachlass Emmy Scholem beim Institut für politische Wissenschaft der Universität Hannover, Nr. 1712310. <?page no="113"?> 113 2.5 Werner und Emmy Scholem: Eine unstandesgemäße Hochzeit 113 war, Werner hatte sie auch nicht darum gebeten. 310 Die Hochzeit fand also nur auf dem Standesamt statt. Ob es für den Bürgerschreck und Sozialisten Werner Scholem ein Widerspruch war, sich »kraft Bürgerlichen Gesetzbuches« zu verheiraten? Trotz mancherlei Überheblichkeit in Briefen an den Bruder stand Werner zu Emmy und wollte die Verbindung ein für alle mal bekräftigen. Von Anfang an dachte er an Kinder, eine Fortsetzung der Scholemschen Familiengeschichte. Mit Emmy hatte er darüber gesprochen, wollte den Nachwuchs vielleicht sogar »im jüdischem Sinne« erziehen. Emmy war »angenehm berührt« und sah dies als Vertrauensbeweis. 311 Werners Ankündigung, er wolle mit der Hochzeit »alle Schiffe zum Bürgertum hinter sich verbrennen«, war mehr als revolutionäres Pathos. Denn es war die Heirat, welche die Familie zum Bruch veranlasste. Von ihrer konkreten Familie waren Gerhard und Werner mehr als enttäuscht - dennoch blieb der Gedanke einer jüdischen Familientradition für beide ein geistiger Fixpunkt. Gershom selbst hatte nie Kinder, beschäftigte sich aber ausführlich mit der eigenen Familiengeschichte und hielt bis ins hohe Alter mit den entferntesten Cousinen überall auf der Welt Briefkontakt. Immer wieder ging die Initiative von ihm aus, wenn es darum ging, Nachrichten über die Scholems zu sammeln. Dies war mehr als die Obsession eines kinderlosen Onkels. Für Gershom Scholem war das Judentum ein Erbe nicht nur im geistigen, sondern auch im genealogischen Sinne. Von jüdischen Stammbäumen war er regelrecht besessen, fragte auch flüchtige Bekannte nach den Namen und Geburtsorten der Großeltern, um ihre Ahnenreihen zu verfolgen. 312 Abstammung war ihm entscheidender Teil der jüdischen Identität, wenn auch nicht der einzige Faktor - Gershom Scholem, dem bedeutendsten Gelehrten für Religionsgeschichte in seiner Zeit, wäre es kaum eingefallen, die Bedeutung der Kultur und Religion im Judentum zu leugnen. Eine endgültige Antwort auf die Frage »Was ist ein Jude? « fand er jedoch auch im Alter nicht. Ausgerechnet der »deutschnationale« Bruder Reinhold regte ihn in diesen späteren Jahren noch einmal zum Nachdenken über diese Frage an: »Du findest anbei einen Artikel aus ›Time‹ vom 29. Nov.«, schrieb Reinhold im Jahr 1968, »über die Frage: sind wir Juden eine Rasse, eine Nation oder eine Religion. Ich finde es eine nicht allgemein lösbare Frage, die nach dem Gefühl und der religiösen Einstellung jedes einzelnen zu beantworten ist.« 313 Gershom wies den Gedanken der »Rasse« von sich und gab eine Antwort im Sinne des säkularen Zionismus: »Ich neige dazu, sie für eine Nation zu halten und habe daraus in meinem eigenen Leben die entsprechenden Konsequenzen gezogen.« 314 Die jüdische Nation war seit Jugendtagen Gerhards Antwort auf das Dilemma des Judentums zwischen Assimilation und Antisemitismus, auf die uneindeutige Stellung des Jüdischen zwischen Abstammungsgemeinschaft, Religion und Kultur. Aber die jüdische Nation war eine Antwort, die zahlreiche neue Fragen aufwarf. In welchem Verhältnis stand die Nation zur Abstammung? Brauchte sie ein einheitliches Staatsvolk? War auch ein multi-ethnischer Staat denkbar oder wünschenswert? Gershom 310 Werner an Gerhard Scholem, 12. August 1917, GSA Jerusalem. Werner selbst hatte kein unmittelbares Interesse an Emmys Konversion: »Wenn ich will, würde sie auch Jüdin werden, aber wozu! « - Werner an Gerhard Scholem, 13. Juli 1916. GSA Jerusalem. 311 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, GSA Jerusalem. 312 Jürgen Habermas: Begegnungen mit Gershom Scholem, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, Heft 2 (2007), S.-9-18, hier S.-14. 313 Brief Reinhold an Gerhard Scholem, 2. Dezembr 1968, GSA Jerusalem. 314 Gerhard an Reinhold Scholem, 23. Januar 1969, GSA Jerusalem. <?page no="114"?> 114 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Scholem bejahte dies durch seinen Einsatz für die Friedensinitiative Brit-Shalom, die sich für einen Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung einsetzte. 315 Doch die Organisation war ein kleines Forum, denn längst nicht alle Gesinnungsgenossen folgten Scholem in dieser Frage. Die Definition des Judentums blieb dauerhafter Widerspruch im Zionismus. Dieser durchdrang nicht nur die Sphäre des Politischen, noch beschränkte er sich auf die jüdischen Siedler in Palästina. Die Idee der Abstammung hatte gravierende Konsequenzen für das persönliche Leben auch der deutschen Juden. Hochzeiten, Familiengründungen, Liebesbeziehungen - die Frage der Identität wirkte bis in intimste Bereiche. Obwohl er die Idee der »Rasse« klar ablehnte, sah Gershom Scholem mit Unruhe auf die steigende Zahl der sogenannten »Mischehen« zwischen Juden und Nichtjuden seit der Wende zum 20. Jahrhundert. In seinen Memoiren bezeichnete er sie als »wachsendes Problem« und hob positiv hervor, dass es in der Familie Scholem vor dem ersten Weltkrieg kaum Mischehen oder Taufen gegeben hatte - einzig Bettys Schwester Käte bildete mit ihrem Ehemann Walter Schiepan eine Ausnahme. 316 In seinen Altersbriefen an Reinhold äußerte er sich noch einmal ausführlicher: »Die Mischehen machen auf der ganzen Welt, übrigens, damit du dir keine Schwachheiten einredest auch in Israel, ziemliche Fortschritte. Im Jahre 2000 wird ein Grossteil der Juden wohl verschwunden sein. Freilich ist nicht zu vergessen, dass im Unterschied zu den Mischehen vor 1900, deren Produkte fast gänzlich dem Judentum verloren gingen, jetzt ein beträchtlicher Teil der Kinder sich für Juden halten.« 317 Ähnliche Bedenken wie Gershom sie in diesem Brief aus dem Jahr 1975 äußerte, hatte Betty Scholem schon vierzig Jahre zuvor angebracht. Auch sie sah Mischehen als Problem und ging sogar soweit, die Nürnberger Rassegesetze von 1935 für eine minder schlimme Belastung zu erklären: »Gegen das Verbot der Mischehe kann ja kein Jude etwas haben. […] Ich sehe jetzt erst und mit großem Schrecken, wie ungeheuer viel Mischehen es giebt.« 318 Diese Äußerungen entstanden vor dem Hintergrund der Auswanderungsfrage - Betty beurteilte den Terror der Nationalsozialisten noch zurückhaltend, um sich nicht dem Gedanken stellen zu müssen, ihr Leben in Deutschland hinter sich zu lassen. Trotz dieser Verdrängung zeigen ihre Äußerungen: der Diskurs über die Mischehe war kein rein antisemitisches Konstrukt. Er wurde im Judentum über Generationen hinweg immer wieder geführt, angetrieben von der Sorge, die eigene Gemeinschaft würde sich in der Assimilation auflösen. Gerade die erfolgreiche Emanzipation der deutschen Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte dieser Frage neue Brisanz verliehen. Nun ging Werner eine »Mischehe« mit einer Nichtjüdin ein. Seine Hochzeit war also im doppelten Sinne unstandesgemäß: nicht nur der proletarische, sondern auch der christliche Hintergrund von Emmy brachten ihr die Ablehnung der Familie ein. Der Vorbehalt saß tief, sogar bei den wohlgesonnen Familienmitgliedern. Noch Jahrzehnte später wurde Jürgen Habermas in seiner Starnberger Wohnung Zeuge einer »bewegenden Szene«, in der Werners Tochter Renee, längst erwachsen und erfolgreich als Schauspielerin, »um ihre Anerkennung als Jüdin rang«. Gershom Scholem bestritt in einem emotionalen Streit die 315 Gershom Scholem wirkte dort von der Gründung bis zur Auflösung der Organisation 1933. Vgl. David Biale, Gershom Scholem - Kabbalah and Counter-history, a.a.O., S.-99. 316 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-33. 317 Gerhard an Reinhold Scholem, 10. Februar 1975, in: Gershom Scholem, Briefe, Band III: 1971-1982, S.-113. 318 Betty Scholem an Escha Scholem, 10. Mai 1935, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-402. <?page no="115"?> 115 2.5 Werner und Emmy Scholem: Eine unstandesgemäße Hochzeit 115 jüdische Identität seiner Nichte. 319 Doch trotz dieser tiefsitzenden Vorbehalte gegenüber Mischehen bemühten Gerhard und Betty Scholem sich unmittelbar nach der Hochzeit um ein gutes Verhältnis zu Emmy und Werner. Der eigentliche Widerstand kam auch hier von Arthur. Trotz seines erklärten Deutschtums war er paradoxerweise der größte Gegner jeder Mischehe - so berichtete es jedenfalls Gerhard: »Unser eigener Vater, in dessen Haus ich mein ganzes Leben lang niemals ein nichtjüdisches Ehepaar habe freundschaftlich verkehren sehen, hat sich geweigert, die Frau unseres Bruders Werner, eine Nichtjüdin, auch nur zu sehen - und das war ein mit Bewusstsein assimilierter Jude.« 320 Indem er eine eigene Familie gründete, sah Werner sich gezwungen, mit der Verwandtschaft zu brechen. Mit zweiundzwanzig Jahren folgte er seinen Regeln zur »Unbedingtheit einer Jugend« und verließ das Vaterhaus. Denn die Familie - das war Arthur Scholem. Er entschied als Patriarch über alle relevanten Angelegenheiten, Widerstand konnte er nicht ertragen. Arthur sorgte nach der Hochzeit dafür, dass gegen Werner und Emmy ein regelrechter Boykott geführt wurde. Sogar Betty zwang er, den Kontakt mit ihrem Sohn einzustellen. Werner war enttäuscht: »Außerdem habe ich einen groben Brief von Vater bekommen, der mir erklärt, daß er sich von Mutter trennen würde, wenn diese nicht jeden Briefverkehr mit mir aufgäbe. Mutter ist natürlich zu schwach, um zu widersprechen, was man ihr auch nicht verdenken kann. So hat sie mir also auch einen Abschiedsbrief gesandt und mich gebeten, ihr nicht mehr zu schreiben. Na, meinetwegen.« 321 Auch alle anderen Verwandten setzte Arthur unter Druck, die meisten fügten sich. Monate nach der Hochzeit sah Werner sich weiterhin isoliert. Zum Sommer 1918 hatte neben Gerhard nur Reinhold die Blockade durchbrochen: »Reinhold hat mir geschrieben, wahrscheinlich hat der Krach wegen der Geheimratstochter seine Seele mit etwas mehr Verständnis für meine Lage erfüllt. […] Anscheinend hat die Geheimratstochter kein Geld gehabt, denn ich glaube kaum, daß bei einer großen Mitgift die Konfession ein Hindernis gewesen wäre.« 322 Auch Reinhold wollte sich anscheinend außerhalb der jüdischen Gemeinschaft verheiraten und stieß auf Widerstand. Interessant ist hier wieder die unterschiedliche Interpretation der Brüder in Bezug auf den Familienkonflikt. Während Gerhard in Emmys Christentum die Hauptursache für Arthurs Ablehnung sah, sah Werner dies als vorgeschoben und vermutete das Geld als eigentliches Problem. So oder so - die Beziehungen zum Vater waren zerstört, und Arthurs Boykott wirkte fort: »Mit der Familie stehe ich natürlich kaum in Verbindung, mit Ausnahme von Käte und Hans, die von Zeit zu Zeit etwas Pinke schicken. Hans schrieb höhnisch, der Bannstrahl, den Arthur Scholem gegen ihn geschleudert habe, wegen des Hochzeitsgeschenks, 319 Habermas gibt keine genaue Datumsangabe, das Gespräch muss jedoch Anfang der 1980er Jahre stattgefunden haben, als Werners zweite Tochter Renee Goddard, geboren 1923 als Renate Scholem, in München am English Theatre aktiv war. Vgl. Jürgen Habermas: Begegnungen mit Gershom Scholem, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, Heft 2 (2007), S.-9-18, hier S.-15. 320 Gerhard Scholem an Reinhold Scholem, 29. Mai 1972, GSA Jerusalem. In seinen Memoiren schrieb Gerhard zwar, es habe zumindest ein »kurzes formales Treffen« gegeben - klar ist jedoch, das Arthur kurz nach der Hochzeit die Beziehungen zu Werner abbrach und zu Emmy gar nicht erst anknüpfte. Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-34. 321 Werner an Gerhard Scholem, 20. Februar 1918, GSA Jerusalem. 322 Werner an Gerhard Scholem, 29. Juli 1918, GSA Jerusalem. <?page no="116"?> 116 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) sei immer noch nicht aufgehoben.« 323 Käte Schiepan und Hans Hirsch waren Geschwister von Betty und ignorierten Arthurs Verbote. Werners Familie bestand damit nur noch aus Onkel, Tante und einem Bruder - vielleicht eineinhalb, wenn man Reinholds Annäherung mitzählt. Der wichtigste Ansprechpartner blieb jedoch Gerhard, alle vorangegangenen Differenzen hatten daran nichts ändern können. Aber auch die »Pinke« der Tanten und Onkels war nicht zu verachten, denn aus dem Elternhaus kam gar nichts mehr. Arthur wollte diesen Zustand dauerhaft beibehalten, auch über den Tod hinaus. In seinem Testament bestimmte er nur Reinhold, Erich und Gerhard als Erben. Werner wurde von ihm »auf den Pflichtteil gesetzt« - eine vollständige Enterbung verhinderte das Gesetz, das im Todesfall auch für abtrünnige Söhne einen Mindestanteil vorsah. 324 Die Enterbung wurde vier Jahre nach der Hochzeit in einer Neufassung des Testaments noch einmal notariell bekräftigt. Arthur hielt den Bruch in aller Konsequenz aufrecht. Ihr Leben mussten Werner und seine Frau daher selbst bestreiten. Emmy verdiente als Angestellte deutlich mehr als Werner mit seinem schmalen Sold als Infanterist. Er sah sich schon bald genötigt, seinen Bruder anzupumpen, um sich wenigstens einmal satt zu essen. Er schrieb: »Sonst geht’s mir sehr mies. Ich habe kein Geld und schiebe Kohldampf. Mutter schickt mir garnichts, aus Angst vor Vater. Bitte schicke mir doch sofort die 5 M, welche du übrigens als reicher Student auf 10 M anwachsen lassen könntest, womit du ein gutes Werk tätest.« 325 Wer kein Geld hatte, musste im Kriegsjahr 1918 hungern, auch Werner bekam nur rationierte Militärverpflegung. Seine Aussichten waren trübe, auch für die verschwommene Ferne nach dem Krieg. Anders als der im Studium voranschreitende Gerhard hatte Werner wenig Aussichten und keine Ausbildung. Das Abitur war ein Start, ansonsten hatte er nur den verhassten Soldatenberuf gelernt. Dass der Boykott der Familie sich später lockern würde, konnte Werner Ende 1917 nicht wissen. Für ihn war das Bekenntnis zu Emmy der Abschied aus dem Bürgertum - ein Schritt in eine unsichere Zukunft. 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders Der Heiratsurlaub in Hannover währte nur kurz - ganze 14 Tage waren Werner bewilligt worden. Danach begann erneut das Soldatenleben mit seiner seltsamen Doppelnatur aus Langeweile und Todesangst. Schon am ersten Weihnachtstag 1917 schrieb Werner seinem Bruder einen wehmütigen Brief mit Ausblick auf Kommendes: »Ich wünschte nur, es wäre mir auch vergönnt, bald wieder frei zu sein, denn wenn ich noch 3 Jahre Soldat spielen muß, wird das bisschen Grips, das ich vielleicht noch gerettet habe, sicher völlig 323 Werner an Gerhard Scholem, 23. Oktober 1918, GSA Jerusalem. 324 Testament Arthur Scholem vom 24. September 1921, Abschrift im Nachlass Emmy und Werner Scholem, IPW Hannover. Eine frühere Version des Testaments ist nicht überliefert, es bestehen jedoch kaum Zweifel daran, dass die Enterbung schon 1918 erfolgte. Grund für die Neuabfassung des Testamentes war die Aufnahme von Reinhold und Erich als Gesellschafter in den Familienbetrieb ab 1919. Der Mindestanteil wurde später präzisiert - 50.000 Reichsmark wurden 1921 genannt. Eine nicht unerhebliche Summe, jedoch nur fällig bei Arthurs Tod - vorher bekam Werner keinerlei Unterstützung. 325 Werner an Gerhard Scholem, 10. Februar 1918, GSA Jerusalem. <?page no="117"?> 117 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 117 verschwunden sein, und ein Wesen wird den Zivilrock wieder anziehen, das frißt, quatscht und vögelt, last not least, mit dem dunklen Gedanken, daß dies hätte anders werden können. Aber weißt du ein Schutzmittel gegen den preußischen Militarismus? Ich wünschte, ich wäre auch geisteskrank.« 326 Die ewig gleiche Routine des Militärlebens zehrte an Werners Nerven und stimmte ihn depressiv. Doch als im Februar 1918 Abwechslung kam, wünschte Werner sich bald das Leben in Langeweile zurück: »Mir geht es sehr schlecht! Du weißt vielleicht, daß man gegen mich ein Verfahren wegen Landesverrat eröffnen wollte. Man mußte es aber wieder einstellen, da gar keine Beweise vorhanden waren. Kaum aber hatte man es eingestellt, so wurde ich k.v. für Infanterie geschrieben. Bis dahin hatte ich ein ganz schönes Leben; ich schob Wache und machte Innendienst. Seitdem ist aber der Teufel los! Es ist klar, daß ich mit dem nächsten Transport rauskomme, und ich bin nur deshalb hier, weil noch keiner jetzt gegangen ist. Natürlich habe ich mich dauernd krank gemeldet, aber es nutzt garnichts, denn ich werde immer dienstfähig geschrieben.« 327 Das neue Verfahren gegen Landesverrat war Teil einer größeren Repressionswelle gegen die Arbeiterjugend, die schon Ende 1917 begonnen hatte. Werner, endlich in Freiheit, musste feststellen, daß nun seine Genossen und Genossinnen einer nach dem anderen in die Gefängnisse wanderten: »Übrigens sind jetzt alle meine Freunde verhaftet, Schönlank in Halle, Becker in Hannover, Plettner in Hamburg.« 328 Wohin Werner auch schaute, überall dasselbe: »Im Kittchen! In Schutzhaft! « 329 Zur Jahreswende 1918 wurden in Halle zwei weitere Freunde wegen »Landesverrats« verhaftet. 330 Es waren Werners ehemalige Vermieterin Anna Schönlank, Gattin von Reinhold sowie ein Genosse »Hausschild«, bei dem es sich um den späteren KPD-Militärexperten Robert Hauschild handelte. 331 Geht man die kleine Liste mit den verhafteten Freunden durch, stößt man auf viele Gemeinsamkeiten. Bis auf Robert Hauschild wurden alle in den 1890ern geboren, alle waren aktiv in der ersten Generation der radikalen Arbeiterjugend und gerieten während des Krieges in Konflikt mit dem Staat. Aus fast allen wurden später leitende Kader der KPD. 332 Etwa »Becker aus Hannover«, 1894 geboren als Karl-Albin Becker. 333 Er engagierte sich seit Schülerzeiten in der Hannoveraner Arbeiterjugend, wo auch Werner aktiv war. Karl 326 Werner an Gerhard Scholem, 25. Dezember 1917, GSA Jerusalem. 327 Werner an Gerhard Scholem, 10. Februar 1918, GSA Jerusalem. 328 Werner an Gerhard Scholem, 9. Dezember 1917, GSA Jerusalem. Bei »Plettner« handelt es sich um Karl Plättner. 329 Ebenda. 330 Werner an Gerhard Scholem, 25. Dezember 1917, GSA Jerusalem. Den Jugendlichen wurde vorgeworfen, Flugblätter für einen Streik am 15. August 1917 verteilt zu haben. Vom Oberreichsanwalt wurden mehrere Verfahren wegen Landesverrat eröffnet, Vgl. BArch Berlin R 3003 - C 21/ 1918, Nr. 1-3 sowie BArch Berlin R 3003 - J 171/ 1918, Nr. 1 und BArch Berlin R 3003 - C 147/ 17, Nr. 1 und 2. Ich danke Ottokar Luban für den Hinweis auf diese Quellen. 331 Robert Hauschild, geb. 1900, war fünf Jahre jünger als Werner. Er arbeitete später als Redakteur und Militärexperte für verschiedene KPD-Zeitungen, wurde 1937 in der Sowjetunion verhaftet und im GULAG ermordet. Vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-350f. 332 Von den im Brief erwähnten lässt sich nur für Anna Schönlank nichts Genaueres feststellen, alle anderen finden sich später in den Reihen der KPD wieder. Vgl. dazu Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten. 333 Der jüngere Bruder Ernst Becker war zur Zeit der Verhaftungswelle erst 17 Jahre alt und gehörte wohl noch nicht zu den führenden Kreisen. Es ist daher anzunehmen, dass Werner von Karl-Albin Becker sprach. Vgl. Werber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-93f. <?page no="118"?> 118 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) und Werner waren fast gleichaltrig und teilten ähnliche Ansichten: Becker war ab 1917 einer der führenden Köpfe der »Bremer Linksradikalen«, nach dem Krieg wurde er Chefredakteur der kommunistischen »Hamburger Volkszeitung«. Bei »Plettner« aus Hamburg handelte es sich um den 1893 geborenen Karl Plättner, einem der aktivsten Abeiterjugendfunktionäre Hamburgs und entschiedenen Kriegsgegner. 334 Nach dem Krieg schloss er sich ebenfalls der KPD an, nur um sie 1920 mit einer Linksabspaltung wieder zu verlassen. Innerhalb der neu gegründeten »Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands« (KAPD) organisierte Plättner eine paramilitärische Kampforganisation, die 1921/ 1922 einen bewaffneten Guerilla-Kampf gegen das Kapital führte und durch Überfälle auf Banken und Werkskassen Schlagzeilen machte. 335 Ihre ersten politischen Schritte taten beide jedoch in der Sozialdemokratie: Auf einer »Reichskonferenz der oppositionellen sozialdemokratischen Jugend« zu Ostern 1917 waren Karl Plättner und Karl Becker gemeinsam mit Reinhold Schönlank in eine Redaktionskommission gewählt worden, um »Leitsätze« für die oppositionelle Jugend auszuarbeiten - eine Idee, die Werner schon im Jahr zuvor verfolgt hatte. 336 Er hätte wahrscheinlich selbst an der Konferenz teilgenommen, wenn sein Engagement nicht durch Militär und Untersuchungshaft unterbrochen worden wäre. Der 1890 geborene Reinhold Schönlank war drei bis vier Jahre älter als seine Genossen und leitete das bereits erwähnte Heim der Arbeiterjugend in Halle. Schönlank war gelernter Drogist und hatte wechselweise als Hotelangestellter, Bierbrauer und Apotheker gearbeitet. Bei einem Unfall im Jahre 1910 war er erblindet und kam als »Zögling« in die Hallenser Blindenanstalt - bis er dort 1913 wegen politischer Betätigung hinausflog. Schönlank war später trotz Behinderung in der KPD sehr aktiv. Er wurde zu mehreren Parteitagen delegiert, saß für den Bezirk Halle-Merseburg im Zentralausschuss der Partei. 337 Werner hatte 1917 viel Kontakt mit Schönlank, wohnte sogar zeitweise zur Untermiete bei ihm und seiner Frau Anna, die ihm im Gefängnis mit Essenspaketen versorgte. 338 Doch als Werner im Dezember 1917 das Gefängnis verlassen konnte, waren die Freunde weg. Becker, Plättner und Reinhold Schönlank verbrachten den Rest des Krieges als politische Gefangene und wurden erst im November 1918 durch die Revolution befreit. Die Verhaftungswelle hatte das Netzwerk der radikalen Arbeiterjugend zerrissen. Werner resümierte, die Bewegung sei »entweder tot, wo die Scheidemänner sie beherrschen, oder getötet, indem ihre Vertreter im Gefängnis sitzen.« 339 Er ließ es sich nicht nehmen, einen Seitenhieb auf die zionistische Jugend anzufügen: »Eine solche Schreckensherrschaft, wie sie hier sich breit macht, wäre auch für eure Jugendbewegung ein gutes Gesinnungsprüfzeichen. Da würden auch wohl manche verschwinden, wenn es zum wirklichen Kampf 334 Volker Ullrich, Der ruhelose Rebell. Karl Plättner 1893-1945 - eine Biographie, München 2000; sowie Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-678f. 335 Ebenda. 336 Vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-678. Plättner und Becker setzten sich über die im April 1916 auf einer konspirativen Jugendkonferenz unter Teilnahme von Karl Liebknecht und Otto Rühle gebildete Leitung hinweg, weil sie sich mehr Aktivität wünschten. Vgl Ullrich, Der ruhelose Rebell, S.-36. Zur Jugendkonferenz Vgl. Ottokar Luban, Die Jenaer Konferenz der linkssozialistischen Arbeiterjugend mit Karl Liebknecht am 23./ 24. April 1916, Broschüre der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen, Jena 2010, S.-2. 337 Ebenda, S.-819f. 338 Werner an Gerhard Scholem, 22. August 1917, GSA Jerusalem. 339 Werner an Gerhard Scholem, 25. Dezember 1917, GSA Jerusalem. <?page no="119"?> 119 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 119 kommt.« 340 Werners Optimismus vom Vorjahr war dahin - es sah nicht mehr danach aus, als würde eine junge Garde in Kürze die Arbeiterbewegung übernehmen. Zumindest nicht kurzfristig. Denn im Rückblick ging es allen Verhafteten wie Werner, wenn er am letzten Hafttag schrieb: »An das letzte Vierteljahr, das ich mit Säckenähen verbrachte, werde ich noch lange denken.« 341 Die Gefängniserfahrung war prägend für diese Generation politisch aktiver Jugend. Musterung, militärischer Drill, Klassenjustiz und Zwangsarbeit hinter Knastmauern - das waren Erfahrungen, die niemand einfach so vergaß. Wer so aufwuchs, erwartete vom Staat weder Sozialreformen noch Demokratie, glaubte nicht an Parlament oder Rechtsstaat. Karl Kautskys Ideen aus Friedenszeiten von einer ökonomischen Reifung zum Sozialismus wurden für die radikale Jugend ebenso unglaubwürdig wie Eduard Bernsteins These von der SPD als demokratisch-sozialistischer Reformpartei. Für die Kriegsgeneration stellte sich die Situation anders dar. Schon vor 1914 waren viele unzufrieden mit der Abhängigkeit der Jugendbewegung, mit den eingefahrenen Strukturen der Partei - Werners Briefe vom Herbst 1914 geben deutliches Zeugnis davon. Der Krieg hatte ihre Haltung verstärkt und zur Lebenserfahrung geformt. Wo mehrheitssozialdemokratische Gewerkschafter und Abgeordnete vom Kriegsdienst ausgenommen wurden, zog man die Radikalen zum Militär ein, um sie mundtot zu machen. Wenn dies nicht fruchtete, folgte Gefängnis. Die Kombination aus Militär und Knast traf Prominente wie Liebknecht genauso wie die Jugendlichen Becker, Plättner, Schönlank oder Scholem. Es ist daher kein Zufall, dass Werner und seine Genossen nach dem Krieg nicht zur Sozialdemokratie zurückkehrten. Werners Vision, dass eine radikale Arbeiterjugend die Partei auf ihren revolutionären Kurs zurückführen würde, war spätestens mit Gründung der USPD gescheitert, die Unabhängige Sozialdemokratie war jedoch selbst nur ein Übergangsstadium und zerfiel schon 1920. Somit behielt Werner in gewisser Hinsicht Recht, wenn er 1916 voraussagte, dass die Arbeiterjugend als »Garde Liebknechts und Rosa Luxemburgs« bald die Bewegung lenken würde, weil aus ihr die »Funktionäre und die Tatmenschen der Partei« kämen. 342 Denn die radikale Jugend der 1890er-Jahrgänge wurde mit ihren Erfahrungen zur Gründergeneration einer ganz neuen Bewegung: dem Kommunismus. Ihren Namen erhielt die in Deutschland am 1. Januar 1919 gegründete Kommunistische Partei nach dem »Kommunistischen Manifest« von Marx und Engels. Sie wollte gleichzeitig einen neuen Aufbruch wagen und an alte revolutionäre Traditionen anknüpfen. In der neuen Partei handelten die jugendlichen Radikalen von einst nicht selten als Teil des ultralinken Flügels, wie die Biographien von Werner Scholem und Karl Plättner eindrucksvoll zeigen. Ultralinke - das war eigentlich ein Kampfbegriff ihrer innerparteilichen Gegner. Sie selbst sahen sich schlicht als Revolutionäre und handelten entsprechend. Ihr Radikalismus war mehr als eine Strömung, sondern ein Gründungswiderspruch, der in mehreren Wellen die Politik der KPD bestimmte. Denn nicht nur die Kader der Arbeiterjugend, sondern auch zahlreiche ältere Jahrgänge hatten durch Krieg und Revolution ihr Erweckungserlebnis gehabt. 343 Kriegs- und Repressionserfahrungen des Kaiserreichs wur- 340 Ebenda. 341 Werner an Gerhard Scholem, 9. Dezember 1917, GSA Jerusalem. 342 Werner an Gerhard Scholem, 23. Juni 1916, GSA Jerusalem. 343 David W. Morgan beschreibt dies am Beispiel des 1866 geborenen Vorwärts-Redakteur Ernst Däumig: David. W. Morgan, Ernst Däumig and the German Revolution of 1918, in: Central European History, <?page no="120"?> 120 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) den somit zu einem entscheidenden Bestandteil der politischen Kultur der Weimarer Republik. Aus Sicht der Polizei und Staatsanwälte hatte die Repressionswelle von Ende 1917 für Ruhe gesorgt. Doch diese Ruhe war eine Illusion, Jahre der Unruhe sollten folgen. Auch Werner entkam Anfang 1918 nur knapp einer zweiten Gefängnisstrafe. Aus einem Brief von Emmy an Gerhard erfahren wir mehr und lesen erstmals einige Zeilen aus der Feder von Werners junger Ehefrau: »Unsre sämtlichen Parteifreunde in Halle hat man jetzt eingesteckt und aus den verschiedenen Aussagen einiger Jugendlichen festgestellt, dass Werner im Winter 16 kriegsgegnerische Vorträge gehalten hat. Daraus wollte man ein Verfahren wegen Landesverrat gegen ihn anstrengen, aber es ist nicht gelungen, das Beweismaterial genügte nicht. - Jetzt hat man eben versucht, ihn auf andere Weise unschädlich zu machen, man hat ihn einfach k.v. geschrieben und es ist sehr wohl möglich, daß er noch im Laufe dieser Woche in’s Feld abrückt. Natürlich ist das nichts als Schikane, denn Werner ist längst nicht k.v. für die Infanterie, er ist garnicht imstande, längere Märsche etc. auszuhalten und jeder andere hätte sich mit der Wunde noch jahrelang drücken können. Leider aber hat man in unserem gesegneten Deutschland nur das eine Recht, die Schnauze zu halten und deshalb bleibt Werner nichts weiter übrig als eben in’s Feld zu gehen - oder aber in’s Gefängnis.« 344 Da war es wieder: k.v. - Kriegsverwendungsfähig. Keine andere Abkürzung aus der spröden Militärsprache des Weltkrieges hatte derartig viel Angst und Schrecken verbreitet wie diese zwei Buchstaben. In Werners Falle war »k.v.« Strafe für seine Gesinnung, der im Gefängnis unbesiegte Widerstand sollte an der Front gebrochen werden. Allerdings musste er wegen einer politischen Krise nicht sofort ausrücken. Werner schrieb: »Dienst selber habe ich noch nicht viel gemacht, weil jetzt Alarm wegen der Streikgeschichte war. Da hat man die Kompagnien mit scharfen Patronen ausgerüstet und in der Stadt exerzieren lassen. Mich hat man aber nicht dazu genommen, sondern mich vorher schon weggeschickt.« 345 Es ging um den Januarstreik des Jahres 1918, bereits der dritte Massenstreik gegen den Krieg und Höhepunkt eines eskalierenden Widerstandes. 346 Der erste Massenstreik war jener Sympathiestreik für Liebknecht gewesen, den Werner im Juni 1916 in Berlin miterlebte. Im April 1917 brach eine zweite Streikwelle aus, größer und überregional, motiviert durch die katastrophale Ernährungslage. Im Januar 1918 folgte eine weitere Steigerung. Ursache war die russische Revolution vom November 1917, die ein Angebot der Bolschewiki für sofortige Friedensverhandlungen brachte. Die deutschen Generäle bestanden jedoch auf einem Siegfrieden mit Annexionen in Polen, dem Baltikum und der Ukraine - alle Friedensverhandlungen gerieten ins Stocken. Die Ideologie des Verteidigungskrieges, über Jahre hinweg von Konservativen, Liberalen, Monarchisten und Sozialdemokraten getragen, war nun endgültig entlarvt. Nicht um Verteidigung ging es, sondern um Eroberung. Wut und Verbitterung machten sich breit auf den Straßen - eine Stimmung, die ein Ventil suchte. 1983 Vol. XV, No. 4, S.-303-331; vgl. auch Todd Weir, Between Colonial Violence and Socialist Worldview: The Conversions of Ernst Däumig. German History, vol. 28 issue 2/ 2010. S.-143f. 344 Emmy Scholem an Gerhard Scholem, 5. Februar 1918, GSA Jerusalem 345 Werner an Gerhard Scholem, 10. Februar 1918, GSA Jerusalem. 346 Zum Januarstreik 1918 vgl. Chaja Boebel u. Lothar Wentzel (Hg.), Streiken gegen den Krieg - Die Bedeutung der Massenstreiks in der Metallindustrie vom Januar 1918, Hamburg 2008. <?page no="121"?> 121 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 121 In Berlin gab es im Januar 1918 tagelange Straßenkämpfe und der Belagerungszustand wurde verhängt. Nach einigen Tagen gewann der Staat die Machtprobe - Verhandlungen wurden verweigert, der Streik musste ergebnislos abgebrochen werden. Wenn es darum ging, die Armee gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, wurden unzuverlässige Elemente wie Werner Scholem selbstverständlich »vorher weggeschickt«. Dies funktionierte solange, wie die Mehrheit der Soldaten noch tat, was man ihnen sagte. Unruhestifter und Unbrauchbare wie Werner und Gerhard waren bis Anfang 1918 Ausnahmeerscheinungen im Militärbetrieb - was sich jedoch bald ändern sollte. Echte und vermeintliche »Rädelsführer« der Streiks wurden eingezogen, in jedem Truppenteil stieg die Kriegsmüdigkeit, nachdem die Farce der Landesverteidigung durchsichtig wurde. Von diesem langsamen Stimmungsumschwung bekam Werner jedoch zunächst nichts mit. Ihm bot sich in Halle ein Bild der totalen Niederlage: die Genossen und Genossinnen saßen im Knast, das Militär exerzierte mit scharfen Waffen und hatte die Lage unter Kontrolle. Im Brief an Gerhard gestand er, die Bewegung überschätzt zu haben: »Ich bin nicht derjenige, der sich was vormacht und gebe unumwunden zu, daß wir uns ganz mächtig über die Stimmung in der deutschen Arbeiterschaft getäuscht haben. Die Mehrheit ist wirklich Mehrheit und wenn jetzt Wahlen wären, würden die Unabhängigen aus dem Reichstag verschwinden. Aber was tut’s, man wird eben weiter arbeiten und den Funken vom sozialistischen Geist, der noch vorhanden ist, wieder zum Feuer aufblasen. Aber das deutsche Volk ist wirklich ein hoch interessantes Volk.« 347 Da er in Halle wenig Revolutionäres vorfand, schweifte sein Blick ins Ausland: »Was macht die Schweiz? Dort soll ja jetzt auch nichts mehr los sein? - Ich möchte am liebsten nach Russland gehen und in ›Karl Liebknecht’s sozialistischer Abteilung‹ als Soldat der Revolution eintreten. Da kann man’s noch zu was bringen.« 348 Gerhard, dem diese Zeilen galten, war im Frühjahr 1918 zum Studium in die neutrale Schweiz ausgereist. Dies war ein großer Schritt für ihn: »unbeschreiblich das euphorische Gefühl, das mich durchströmte, als ich auf dem Bodenseedampfer nach Romanshorn stehend auf Deutschland zurückblickte. Der Krieg war für mich vorbei.« 349 Die Zustimmung des Vaters hatte er durch Bettys Vermittlung erhalten - man begründete den Auslandsaufenthalt mit Gerhards angegriffener Gesundheit. Werner dagegen hing im Militär fest und blickte sehnsüchtig nach Russland, wo das gewalttätige Soldatendasein wenigstens der sozialistischen Sache dienen mochte. Doch die Bewegung gegen den Krieg war auch in Halle präsent. Nur vollzog sie sich in anderen Bahnen als erwartet. Gerade in den Gewerkschaften, die Werner schon 1914 völlig aufgegeben hatte, bildete sich Widerstand. Werner erlebte den Januarstreik, unterschätzte jedoch seine Bedeutung. Stattdessen blickte er nach Osten, wo die ersehnte Revolution bereits Realität war. Er befürchtete, eine deutsche Offensive könne die russische Revolution ersticken: »Die Vorgänge in Rußland berühren mich sehr stark. Tatenlos sieht die Arbeiterschaft Deutschlands zu, wie der Militärstiefel alles vernichten wird, was dort im Werden ist. Wäre ich jetzt in Rußland, so würde ich bei der Roten Garde sein und es wäre mir ein Hochgenuß, baltische Barone zu köpfen.« 350 Werner hatte ein eher klassisches Verständnis 347 Werner an Gerhard Scholem, 26. März 1918, GSA Jerusalem. 348 Werner an Gerhard Scholem, 11. April 1918, GSA Jerusalem. 349 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.123. 350 Werner an Gerhard Scholem, 20. Februar 1918, GSA Jerusalem. <?page no="122"?> 122 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) von Revolution, wie ein Jakobiner wollte er Köpfe rollen sehen. Er war Kriegsgegner, aber nie ein Pazifist. 351 Werner hasste den Krieg mit jeder Faser seines Körpers - bejahte aber die revolutionäre Gewalt im Dienste der Befreiung. Tatsächlich glorifizierte er sie hin und wieder sogar. Wenn Werner die baltischen Barone enthaupten wollte, spricht daraus aber weniger der Blutdurst, sondern die alltägliche Ohnmacht, die Werner in den Mühlen von Militärjustiz und Kriegsmaschinerie immer wieder zu spüren bekam. Verbalradikalismus musste dies kompensieren. Eine langsame, etappenweise Zersetzung der Autorität von unten, wie sie bereits durch die Massenstreiks stattfand, entsprach so gar nicht Werners avantgardistischen Revolutionsverständnis. Die Vernachlässigung dieser Ereignisse war jedoch auch seiner persönlichen Lage geschuldet: in Halle überlagerten Todesangst und der Kampf um die eigene Zukunft das politische Geschehen. Doch gab es hier auch Gutes zu berichten: Werners Bemühungen um eine Zurückstellung hatten Erfolg. Dazu hatte es einiges an Einsatz gebraucht: »Wochenlang, solange ich k.v. war, meldete ich mich Tag für Tag krank, trat bei jedem Exerzieren usw., aber alles ohne Nutzen. Endlich am Sonnabend war Besichtigung der Kompagnie durch den Bataillonskommandeur, einem sehr strengen Oberstleutnant. Beim Einzelvorbeimarsch hinkte ich so graulich, daß er mich sofort herausrief und befahl, daß ich sofort nochmal auf meine Dienstfähigkeit untersucht würde. Und siehe da, ich wurde umgeschrieben, und bin nun wieder fein raus, denn Fußdienst mache ich natürlich nicht mehr mit.« 352 Werner wurde nicht ausgemustert, war aber vom Marschieren befreit und wurde als Fahrer eingeteilt. Der Todesangst folgte deshalb für die nächsten Wochen wieder die geliebte Langeweile: »Mir geht es jetzt, den Umständen entsprechend, sehr gut. Unser neuer Feldwebel ist ganz anständig zu mir. Ich fungiere jetzt als Gehilfe beim Gasunteroffizier und mache auch kleine Ordonnanzgänge für die Schreibstube. Auf deutsch, ich mache nichts und wünschte mir, ich könnte diese schöne Zeit, die so verplempert wird, zur Arbeit und zum Lesen benutzen, aber man kommt doch zu nichts, denn kaum hat man was angefangen, so tapert irgendein Fatzke an: ›Sie, was machen Sie, Sie können mal den Eimer runtertragen.‹« 353 Wenig später konnte Werner zwar berichten, dass er »sogar zu Ehren und Würden, wie Mitglied der Küchenkommission, emporsteige« 354 - an der grundsätzlichen Langeweile änderte das jedoch nichts. Sorgen bereitete ihm zusätzlich eine Erkrankung Emmys. Ihr ging es so schlecht, dass sie die Arbeit hatte aufgeben müssen und zeitweise ohne Einkommen war. Nachdem Werner ihr eine Bescheinigung des Militärs geschickt hatte, erhielt sie 351 Insofern ist es nur teilweise korrekt, wenn Mirjam Triendl-Zadoff in ihrem Aufsatz »Unter Brüdern« den Pazifismus als einigendes Band zwischen den Brüdern hervorhebt (vgl. Unter Brüdern - Gershom und Werner Scholem. Von den Utopien der Jugend zum jüdischen Alltag zwischen den Kriegen. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2007) 2, 56-66, hier S.-59). Was die Brüder einte war die Opposition gegen das Morden des Weltkrieges - nicht jedoch die Ablehnung jeder Form von Gewalt. Denn auch Gershom Scholem sah Waffengebrauch als legitimes Mittel zur Selbstverteidigung der Jüdischen Siedlungen in Palästina und verteidigte den Einsatz der Hagana-Miliz gegen den arabischen Aufstand von 1929. Gleichzeitig distanzierte er sich jedoch persönlich und als Sprecher der Friedensorganisation Brith-Shalom von Racheakten oder Provokationen gegenüber der arabischen Bevölkerung - vgl. seinen Brief an Robert Welsch vom 22. September 1929, in: Gershom Scholem, Briefe, Bd. I S.-240ff. 352 Werner an Gerhard Scholem, 20. Februar 1918, GSA Jerusalem. 353 Werner an Gerhard Scholem, 11. März 1918, GSA Jerusalem. 354 Werner an Gerhard Scholem, 26. März 1918, GSA Jerusalem. <?page no="123"?> 123 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 123 zumindest die staatliche »Kriegerfrauen-Unterstützung«. 355 Dies war eine Sozialleistung für die zahlreichen Ehefrauen von Soldaten aus dem Arbeitermilieu, die Mühe hatten, ihre Familie zu ernähren. 356 Die Zulage wurde nicht an alle Bedürftigen, sondern nur an Ehefrauen und Kinder von Soldaten ausgezahlt. Wie der archaische Titel klarmacht, sollten die Leistungen die Loyalität der unteren Schichten zur Kriegspolitik festigen. Gleichzeitig festigten sie das Bild das männlichen Familienernährers, das wegen der enorm angestiegenen Frauenarbeit ins Wanken geraten war. Emmy war nun eine staatlich anerkannte »Kriegerfrau«, die junge Familie Scholem bereits im ersten Ehejahr auf Sozialleistungen angewiesen. Neben dem fehlenden Geld machte Werner der anhaltende Briefboykott durch seine Mutter Sorgen. Er versuchte, sie durch Gerhards Vermittlung zu einem heimlichen Besuch in Halle zu überreden, damit er sich mit ihr aussprechen könne. 357 Doch obwohl sie auf dem Rückweg von einer anderen Reise durch Halle fuhr, ging Betty nicht darauf ein - was Werner sehr enttäuschte: »Sie ist aber wirklich feige, wenn sie Angst hat, in Halle auf der Rückreise den Zug zu unterbrechen. Sie scheint sich dauernd von Spionen umgeben zu sehen.« 358 Ein weiteres, ständig wiederkehrendes Thema in Werners Briefen war die Verpflegungsnot. Im April stand zum Glück das jüdische Passach-Fest an: »Passach habe ich mich dick gefressen. Die Gemeinde hat für die jüdischen Soldaten 2 Abend- und 2 Mittagsmahlzeiten gestiftet, die tip-top waren, 8 M[ark] das Dinner, außerdem bin ich mit einem anderen 2 mal […] eingeladen gewesen, wo man nichts von irgendwelcher Lebensmittelnot spürte.« 359 Wenn gerade kein Feiertag anstand, kaufte Werner zusätzliche Lebensmittel mit Spenden von Gerhard, die dieser in regelmäßigen Raten von fünf und zehn Mark schickte. Mitte April wurde Werner in eine andere Kaserne verlegt, wo er für die Artillerie zum Sichtkanonier ausgebildet werden sollte - er war endlich der Infanterie entkommen. Am Alltag änderte sich zunächst nur wenig, doch Werner fand, er hätte es »ganz gut getroffen« und hoffte auf die Erlaubnis, auswärts zu wohnen. 360 Doch kaum eine Woche später wurde alles wieder umgeworfen: »Bin in großer Eile und teile dir daher nur kurz mit, daß ich soeben eingekleidet wurde und morgen in’s Feld zu einer leichten Munitionskolonne gehe. Obwohl ich erst seit 6 Tagen Artillerist bin. Ich bin aber sehr froh, zu einer Kolonne zu kommen, denn nun brauche ich nicht ausgebildet zu werden und fahre nur immer als Begleitmann eines Wagens die Munition von der Etappe zur Artillerieabteilung.« 361 Obwohl der gefürchtete Fronteinsatz nun Realität wurde, war Werner guter Dinge. Den Dienst als Fahrer hielt er für ungefährlich und hoffte, dem Schlimmsten entkommen zu sein. Er wurde ins belgische Flandern verlegt, wo die Front seit den ersten Kriegsmonaten im Stellungskampf erstarrt war. Anfangs bestätigten sich seine Erwartungen: »Leider bin ich hier dauernd von einer Formation zur anderen verschoben worden, da niemand mich haben wollte, sodaß meine Adresse sich auch immer geändert hat. Aber jetzt bin ich 355 Ebenda. 356 Vgl. Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 32, Hamburg 1995; Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989. 357 Werner an Gerhard Scholem, 26. März 1918, GSA Jerusalem. 358 Werner an Gerhard Scholem, 11. April 1918, GSA Jerusalem. 359 Ebenda. 360 Werner an Gerhard Scholem, 15. April 1918, GSA Jerusalem. 361 Werner an Gerhard Scholem, 21. April 1918, GSA Jerusalem. <?page no="124"?> 124 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) wieder nach mancherlei Irrfahrten bei der Leichten Munitions-Kolonne 1301 gelandet. Mir geht es jetzt ganz gut, wenigstens viel besser als in der Garnison, da man sich hier immerhin satt essen kann. Augenblicklich bin ich sogar abkommandiert als Telefonist bei dem Abteilungs-Stabe unseres Regiments. Das wäre ein schöner Posten für immer, aber leider bin ich vorläufig nur Aushilfe.« 362 Neben der Sorge, direkt an der Front eingesetzt zu werden, war das Essen aufs neue Thema. Werner selbst kommentierte das wiederkehrende Motiv lapidar: »Alle anderen Organe außer Magen, Bauch und … werden hier draußen rudimentär.« 363 Ende Juni 1918 drang erstmals seit langer Zeit wieder eine erfreuliche Familiennachricht zu ihm durch: Ein Brief von der Mutter. Betty schrieb aus dem schweizerischen Montreaux am Genfer See, dort hatte sie wahrscheinlich Gerhard besucht. Der unbeobachtete Aufenthalt gab Gelegenheit, sich mit Werner zu verständigen. Über Gerhards Vermittlung ließ Werner der Mutter einen ausführlichen Bericht zukommen: »Ich schreib dir schon, daß ich damals, am 15ten April, in Halle zur Artillerie versetzt wurde und dort nur 7 Tage blieb, da man das Bestreben hatte, mich baldmöglichst abzugeben. Dadurch kam ich zu einer Munitionskolonne, die damals in Flandern lag. Auch dort suchte man mich abzuschieben, versetzte mich zu einer anderen Kolonne, von dort endlich als Kanonier zu einer Batterie, wo ich also mit in die Feuerstellung mußte.« 364 Mit seiner Vorgeschichte war Werner nicht gerade beliebt bei Vorgesetzten. Die Feuerstellung war jedoch kein Ort, wo er bleiben wollte. Hier waren die Artilleriegeschütze stationiert und schickten ihre Munition hinter die feindlichen Linien - der Produktionsort des gefürchteten Trommelfeuers. Es versteht sich von selbst, daß der Gegner diese Stellungen immer wieder unter Beschuß nahm, lebensgefährliches Gebiet, auch abseits der Front. Da Werner weiterhin kein Interesse hatte, sein Leben fürs Vaterland hinzugeben, versuchte er, schnell wegzukommen: »Ein Attest, das mich von Märschen und Fußdienst befreite, veranlaßte meine sofortige Rückversetzung zu der ersten Kolonne, bei der ich seitdem geblieben bin. […] Zuerst Anfang Mai kamen wir in Flandern in Ruhe und lagen in einem sehr schönen Dorf, wo Milch und Honig floß, d.h. Butter und Eier, dort blieben wir bis Anfang Juni und ich war zuerst als Aushilfe 7 Tage zu meinem Abteilungsstab als Telefonist kommandiert, ein Posten, den ich später mal ganz zu bekommen hoffe. Danach hatte ich bis zum Abrücken ein sehr angenehmes Kommando als Bibliothekar und Aufseher einer Lesestelle […] Aber wieder rückte die Division ab, und ich kehrte zur Kolonne zurück, die nun wieder weit hinten im bewohnten französischen Gebiet liegt. Lange wird das aber nicht dauern, da wir doch erst im Mai Ruhe hatten. Wir kommen wieder in eine andere Gegend der Front.« 365 Werner lag also an der Westfront in Frankreich. 366 Dieses Gebiet hatte die deutsche Militärführung im Frühjahr und Sommer 1918 für eine Offensive ausgesucht, mit der sie den Stellungskrieg beenden wollte. Hintergrund war der Kriegseintritt der USA, den die Deutschen durch unbeschränkten U-Booteinsatz auch gegen US-amerikanische Schiffe 362 Werner an Gerhard Scholem, 15. April 1918, GSA Jerusalem. 363 Werner an Gerhard Scholem, 29. Mai 1918, GSA Jerusalem. 364 Werner an Gerhard Scholem, 29. Juni 1918, GSA Jerusalem. 365 Ebenda. 366 Zur Westfront und der traumatischen Wirkung des Ersten Weltkrieges auf das deutsch-französische Verhältnis vgl. Jean-Jacques Becker u. Gerd Krumeich: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Essen 2010. <?page no="125"?> 125 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 125 im Frühjahr 1917 provoziert hatten. 367 Da die USA seit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges 1865 nur über ein kleines Landheer verfügten, nahm die Mobilisierung und Verschiffung von Truppen nach Europa jedoch mehrere Monate in Anspruch. Allerdings hatte es im Osten eine sehr günstige Wende für die Mittelmächte gegeben: die Oktoberrevolution hatte radikale Kriegsgegner an die Macht gebracht, während die Russische Armee durch Desertationen auseinanderfiel. Lenin und Trotzki sahen sich im März 1918 gezwungen, den Separatfrieden von Brest-Litowsk zu unterschreiben. Damit verzichtete Sowjetrussland auf seine Hoheitsrechte in Polen, Litauen und Kurland und akzeptierte die Unabhängigkeit der Ukraine und Finnlands. 368 Gleichzeitig blieben weite Teile Weißrusslands von deutschen Truppen besetzt. Durch die Implosion des Zarenreiches war das deutsche Ostimperium zur Realität geworden. Mehr als ein Drittel der früheren Bevölkerung des russischen Reiches lebte nun unter deutscher Herrschaft. Die Kriegsziele im Osten vollständig erreicht, der Zweifrontenkrieg beendet - dies gab Grund zum lange vermissten Siegesoptimismus. Dennoch war die Situation prekär. Trotz der Erfolge an der Ostfront waren die deutschen Streitkräfte ausgelaugt, die industriellen Reserven erschöpft und die Kriegsmüdigkeit überall präsent. Am 19. Juli 1917 war im Reichstag von einer Mehrheit aus SPD, Zentrumspartei und der liberalen Fortschrittspartei eine Friedensresolution verabschiedet worden, die eine Beendigung des Krieges forderte und zum Sturz des Kanzlers Bethmann-Hollweg führte. Doch es blieb bei einer Resolution, denn Parlamentsbeschlüsse hatten im Kaiserreich nur empfehlenden Charakter. 369 Auch war es mit der Friedenssehnsucht der Sozialdemokraten nicht so weit her: am Tag darauf stimmten sie einer Vorlage für neue Kriegskredite zu. 370 Totalverweigerung sah anders aus, und die Erfolge im Osten erlaubten es den Propagandaexperten der Obersten Heeresleitung bald, neue Siegeshoffnungen auszulösen. Friedenssehnsucht stützte nun die Angriffe, die kriegsmüden Soldaten hofften auf Verhandlungsfrieden oder Siegfrieden - hauptsache Frieden. Die Situation erschien dem Militär trotz aller Erschöpfungserscheinungen günstig: Der russische Kriegsgegner war ausgeschaltet, England und Frankreich zermürbt, die Verstärkung aus den USA hatte sich noch nicht entfalten können, an der Heimatfront war Ruhe. Statt jedoch mit dem Siegfrieden im Osten eine Verständigung im Westen anzustreben, setzte die Oberste Heeresleitung alles auf eine Karte: Eine letzte Offensive sollte in Frankreich den Krieg entscheiden und Deutschland zum Herrscher Europas machen. 371 Unter 367 Zum Kriegseintritt der USA vgl. Peter März, der Erste Weltkrieg, S.-168 f. 368 Zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk als Verwirklichung deutscher Kriegsziele vgl. ausführlich Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, 415-512. Die Besatzungspolitik und ihre Ausrichtung auf langfristige Kontrolle schildert Vejas Gabriel Liulevicius am Beispiel des Militärstaates Ober-Ost. Vgl. ders., Kriegsland im Osten, insbesondere S.-72-116 zur Militärverwaltung und S.-143-188 zur Kulturpolitik. 369 Eine ausführliche und bis heute lesenswerte Einschätzung zur Friedensresolution und ihren Auswirkungen auf die Parlamentarisierung Deutschlands stammt von Arthur Rosenberg, Historiker, KPD-Politiker und persönlicher Freund Werner Scholems seit den 20er Jahren: Arthur Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer Republik, Hamburg 1991, S.- 134 ff (Original 1928 als »Die Entstehung der deutschen Republik«, Band 2 als »Geschichte der deutschen Republik«, Karlsbad 1935). 370 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen - Deutsche Geschichte 1806-1933, Sonderausgabe Bonn 2006, S.-351. 371 Peter März betont, dass die Offensive »nicht allen um des militärischen Durchbruchs erfolgte«, sondern in engem Zusammenhang mit der Absicherung imperialer Konzepte in Osteuropa stand - vgl. März, der erste Weltkrieg, S.-208f. Bei einem Verständigungsfrieden hätte die deutsche Führung Abstriche machen müssen, andererseits war ihre Verhandlungsposition Anfang 1918 so gut wie selten zuvor. <?page no="126"?> 126 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) dem Decknamen »Michael« wurden die Kräfte konzentriert und eine gigantische Angriffswelle vorbereitet. Die Operationen begannen Ende März 1918 und zogen sich bis in den Sommer. Im Laufe dieser Offensive wurde auch Werner Scholem erneut in den Abgrund des Krieges gezogen - die ruhigen Tage waren vorbei. Ende Juli 1918 berichtete er: »Wir haben an der letzten Offensive in der Champagne teilgenommen. […] Ich bin wieder im heftigsten Feuer gewesen, da die Anmarschstraße stark betroffen wurde und unsere Kolonne bis dicht hinter die Infanteriestellungen Munition fahren mußte. Wir haben auch mehrere Tote, 9 Verwundete und über 30 Pferde verloren. Am anstrengendsten war es, daß wir vom 4ten Juli bis gestern ohne Unterbrechung unter freiem Himmel kampieren mußten. Du kannst dir vorstellen, welch angenehmes Ding das bei Regenwetter ist. Jetzt müssen wir zwar immer noch Munition in die Stellungen fahren, aber erstens ist es hier ganz ruhig geworden und dann liegen wir in den Lazaretten, in denen wenigstens Betten aus Holz sich befinden. Die Beschreibung deines Beschriftung von Scholems eigener Hand: »L.M.K. 1301 (Leichte Munitionskollone des Feldart[illerie] reg[iments] 40 - Exner (Fahrer), Wetzel (Kanonier), gefallen am 15.7.18, Kirchhof zu Montbois (Champagne).« Als Zusatz schrieb Scholem neben das Foto: »Die Gräber meines Fahrers Exner und des an meiner Stelle zu ihm kommandierten Kanonier Wetzel […] Wäre ich nicht während der Schlacht zur Sturmbatterie kommandiert worden, weil man hoffte, dass ich dort fallen würde, so läge ich dort, denn in der Sturmbatterie kam ich heil durch […]« (Quelle: Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="127"?> 127 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 127 dortigen Lebens war mir interessant, denn sie zeigt, daß es doch noch Menschen gibt, die wie Kulturmenschen leben. Ich habe das schon bald vergessen, daß man mal anders leben könnte wie ein gehetztes Tier. Die nächsten Jahre ist ja auch keine Aussicht vorhanden, daß es anders wird. Du wirst längst mit deinem Studium fertig sein und den würdigen Dr.- Titel durch die bürgerliche Welt schleifen, wenn ich noch nicht mal wieder angefangen habe zu studieren. Die Rollen sind doch ungleich verteilt.« 372 Unter den Toten vom Juli 1918 war auch der Kanonier Wetzel, der kurz zuvor Werners Posten übernommen hatte. Hätte Werner noch an seiner Stelle gesessen, wäre es mit ihm vorbei gewesen. Der Krieg hatte ihn erneut mit aller Gewalt erfasst, er war einer Maschinerie untergeordnet, für die Menschenleben und Granathülsen gleichermaßen Verbrauchsmaterial waren. Immer wieder blickte Werner neidisch auf Gerhards Leben in der Schweiz: »Wenn ich deine Briefe lese, ist mir immer, als ob ich einen fernen Blick in das Schlaraffenland tue. Ich denke kaum mehr daran, daß ich es von Rechts wegen auch so haben müßte.« 373 Doch auch im August 1918 hatte Werners Einheit schwerste Kämpfe durchzustehen: »Denn in der Nacht vom 19ten zum 20ten kamen wir dort weg auf einen anderen Frontteil, in die schönste Foch’sche Offensive. 374 Ich habe furchtbare Tage hinter mir, deren Ende auch noch garnicht abzusehen ist. Dein Vergleich mit Uria stimmt, nur daß es sich hier um keine Bathseba handelt. Kaum waren wir hier angelangt, als ich wieder zu der 21en Batterie unseres Regiments einer Infanteriebegleitbatterie kommandiert wurde, bei der ich 6 Tage in Schwerstem Feuer aushalten mußte. Schließlich ging die Batterie 800m hinter den Graben als Tankbatterie in Stellung und ich kam zur Kolonne zurück, wo ich gestern Abend wieder Entsetzliches beim Munitionsfahren aushalten mußte. 2 Leute von uns wurden gestern auch dabei verwundet, wie schon zuvor bei der Batterie Fahrer und Pferd meines Wagens. Ich habe noch Schwein gehabt, aber wer weiß, ob ich das hier gesund überstehe. Übrigens kann die jetzige Schlacht nicht lange dauern, denn die Entente hat fürchterliche Blutopfer zu bringen und ist doch, wenigstens in dieser Gegend, sehr wenig vorangekommen.« 375 Uria war eine legendäre Figur aus dem alten Testament - ein Soldat, der von König David in die vorderste Schlachtreihe geschickt wurde, weil der König dessen Ehefrau begehrte. Doch der Vergleich hinkte: Werners Ehefrau wurde nicht vom Kaiser umworben, es gab keine Verschwörung hinter seinem Leiden. Werner sah sich ziel- und wahllos an die vorderste Frontlinie geworfen, konnte nie einen Sinn hinter dem glorifizierten Kampf erkennen. Der Krieg nahm keine Rücksicht auf Fragen von Sinn und Unsinn oder die Meinung eines einfachen Soldaten. Er war einfach da und hatte eigene Rationalitäten. Manch einer sah den Weltkrieg deshalb als Naturgewalt, in der nur die Stärksten sich beweisen würden. Eine Auslese des Schicksals, die durch Tod und unzähliges Leiden den deutschen Volkskörper als Ganzes stärken würde. Mit prägender Ausdruckskraft vertrat diese Vision Werners alter Schulkamerad Ernst Jünger. Er diente im Frühjahr 1918 ebenfalls an der Westfront, hielt sich jedoch anders als Werner für den Kämpfer einer neuen Zeit. Es waren nicht Werners Tagebücher, son- 372 Werner an Gerhard Scholem, 29. Juli 1918, GSA Jerusalem. 373 Werner an Gerhard Scholem, 1. September 1918, GSA Jerusalem. 374 Der französische Marschall Ferdinand Foch (1851-1929) war 1918 Oberbefehlshaber der alliierten Truppen an der Westfront. 375 Werner an Gerhard Scholem, 1. September 1918, GSA Jerusalem. <?page no="128"?> 128 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) dern Jüngers Kriegsberichte, die später das Bild des Krieges im kollektiven Gedächtnis der Deutschen prägten. 376 Um zu verstehen gegen welche Geisteshaltung Werner im Weltkrieg und danach ankämpfte, macht es Sinn, sich Jüngers Schilderungen näher anzuschauen. Metall war, wie bereits der Titel »In Stahlgewittern« sagt, die zentrale Metapher in Jüngers Kriegstagebüchern. Insbesondere der 1916 eingeführte Stahlhelm galt ihm als Insignie einer neuen Generation, Symbol für das Verschmelzen von Fleisch und Stahl im gehärteten Soldatenkörper: »Ein Gefechtsläufer aus einem württembergischen Regiment meldete sich bei mir. […] Dies war der erste deutsche Soldat, den ich im Stahlhelm sah, und er erschien mir sogleich als der Bewohner einer neuen, geheimnisvollen und härteren Welt. Neben ihm im Straßengraben sitzend fragte ich ihn begierig nach den Verhältnissen in Stellung aus und vernahm eine eintönige Erzählung von tagelangem Hocken in Granattrichtern ohne Verbindung und Annäherungswege, von unaufhörlichen Angriffen, von Leichenfeldern und wahnsinnigem Durst, vom Verschmachten Verwundeter und anderem mehr. Das vom stählernen Helmrand umrahmte, unbewegliche Gesicht und die eintönige, vom Lärm der Front begleitete Stimme machten einen gespenstischen Eindruck auf uns. […] Nichts war in dieser Stimme zurückgeblieben als eine große und männliche Gleichgültigkeit. Mit solchen Männern kann man kämpfen.« 377 Jünger blieb nicht verborgen, was der Krieg aus den Menschen machte. Er sah, wie Weichheit und Lebendigkeit, menschliche Anteilnahme und zivilisatorische Gewohnheiten verschwanden, bis nur noch die Grundbedürfnisse zählten - und irgendwann auch diese nicht mehr, wenn sogar die Frage nach Leben und Tod einer metallenen Gleichgültigkeit wich. Anders als für Werner, der die Abstumpfung mit Entsetzen beklagte und sich wie ein »verhetztes Tier« fühlte, idealisierte Jünger die metallische Härte des Krieges. In aller Konsequenz vollzogen wurde die beschworene Einheit von Fleisch und Stahl jedoch nicht in den lebendigen Soldatenkörpern, sondern im Todesschuss. In zahllosen Leichenfeldern verschmolz lebloses Metall mit leblosen Körpern, die endgültige graue Gleichheit toter Materie. Jünger verschwieg in seinen »Stahlgewittern« den Tod als ultimativen Schrecken des Krieges nicht. Immer wieder beschrieb er mit einer Mischung aus Anziehung und Ekel die Opfer des Grabenkampfes, die unbestatteten Leichen in den Hecken, Gräben und im grauen Niemandsland zwischen den Fronten: »Als ich mich einmal allein durch das Gestrüpp arbeitete, viel mir ein merkwürdiges, zischendes und sprudelndes Geräusch auf. Ich trat näher und stieß auf zwei Leichname, die infolge der Hitze zu einem gespenstischen Leben erwacht schienen. Die Nacht war schwül und still, ich stand lange Zeit wie gebannt vor diesem unheimlichen Fund.« 378 Jünger war nicht trotz, sondern wegen des Todes fasziniert. Die Beschäftigung mit dem Sterben als letzter menschlicher Grenze hatte eine lange Tradition, von der griechischen Tragödie bis zu den düsteren Romanen Edgar Allan Poes. Todessehnsucht und die Faszination des Verfalls erreichten in der Fin-de-Siècle-Stimmung am Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Und nicht nur in der Literatur, sondern auch von der malerischen Avantgarde wurden Kampf und Krieg schon vor 1914 immer 376 Zur Erinnerungskultur vgl. Alan Kramer, The First World War and German Memory, in: Heather Jones u.a. (Hg.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies, Leiden, Boston 2008, S.-385-415; sowie Barbara Korte u.a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur, Essen 2008. 377 Ernst Jünger, In Stahlgewittern, 14. Auflage Berlin 1933, S.-105. 378 Ebenda, S.-174. <?page no="129"?> 129 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 129 wieder gezeichnet, dargestellt und sogar als Aufbruch einer neuen Ära herbeigesehnt. 379 Im Ersten Weltkrieg verband sich das Ur-Motiv der Todessehnsucht auf unheilvolle Weise mit kollektiven deutschen Erfahrungen. Preußen als Führungsmacht des Kaiserreiches war immer ein Militärstaat gewesen, doch eine solch allgegenwärtige Kriegs- und Todeserfahrung wie zwischen 1914 und 1918 hatte es nie erlebt. Die Erfahrung wurde in der Propaganda und von national gesinnten Künstlern als schicksalhaftes Gemeinschaftserlebnis verarbeitet und verklärt. Der Tod im Schützengraben war Vorbedingung für die Frontgemeinschaft der Überlebenden, jenes unzertrennliche Band zwischen Kameraden, die einander auf Leben und Tod vertrauen mussten. Das Sterben konnte jeden treffen, Offiziere und Mannschaften gleichermaßen. Die aristokratische Struktur der Armee hatte sich schon im ersten Kriegsjahr aufgelöst, viele adelige Offiziere fanden in den ersten Kriegsmonaten den Tod. Junge Kräfte aus dem Volk rückten nach und trotz unerbittlicher Befehlsketten wurde der Schützengraben zu einer Art Demokratie des Todes. 380 Die Front stiftete eine patriotische Gemeinschaft des Gefühls, kompensierte das im halbfeudalen Kaiserreich versperrte Bedürfnis nach gesellschaftlicher Teilhabe. Doch nicht nur der Tod, sondern auch die überall waltende materielle Zerstörung trug dieses Element der Demokratie, sogar der Anarchie in sich. Ein Fronterlebnis von Ernst Jünger illustriert dies: »Am Vormittag siedelten wir in unseren neuen Keller über. Auf dem Wege dorthin hätten uns beinahe die Trümmer des einstürzenden Kirchturms erschlagen, der von einem Pionierkommando ohne alle Umstände in die Luft gesprengt wurde, um der feindlichen Artillerie das Einschießen zu erschweren. […] An diesem Vormittag flogen in der näheren Umgebung über ein Dutzend Kirchtürme in die Luft. Wir richteten uns in unserem geräumigen Keller ganz leidlich ein, indem wir Möbelstücke aus Schloß und Hütte, die uns gerade praktisch erschien, zusammenschleppten. Was uns nicht gefiel, wurde verheizt.« 381 Weder Gott noch Kirche, nicht die Hütten der Bauern noch die Schlösser der französischen Aristokraten erhielten Schonung vor der Gleichmacherei des Krieges. Alles was seiner Logik im Weg stand, wurde zerstört, zweckentfremdet, eingeebnet. Die Soldaten, auch die einfachsten Frontschweine und Rekruten, waren als Werkzeuge dieser Zerstörung befreit von allen gesellschaftlichen Konventionen des Friedens. Solange sie sich dem Kriege beugten, konnten sie Gott selbst herausfordern und ein Dutzend Kirchtürme in die Luft sprengen. Der Nihilismus als totale Verneinung von Konvention und Kultur hatte im Kriegserlebnis einen Höhepunkt gefunden. Dieser Zivilisationsbruch hatte weitreichende Folgen. Er stiftete ein Lebensgefühl, das auch die nächste Generation in Deutschland weiterführte. Im bekannten Lied der Hitler- Jugend »Es zittern die morschen Knochen« spiegelt sich dieser Zeitgeist wider: Wir werden weiter marschieren Wenn alles in Scherben fällt, Denn heute gehört uns Deutschland Und morgen die ganze Welt. 379 Vgl. Annegret-Jürgens Kirchhoff, Am Ende einer Epoche - Apokalyptische Visionen in der Kunst vor dem ersten Weltkrieg, in: Kassandra - Visionen des Unheils 1914-1945, Dresden 2008, S.-22-42. 380 Dieses später ideologisch überhöhte Fronterlebnis änderte jedoch nichts an den nach wie vor sehr ungleich verteilten Lebenschancen in der Kriegsgesellschaft, vgl. dazu Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg - Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankfurt am Main 1982. 381 Ernst Jünger, In Stahlgewittern, S.-152. <?page no="130"?> 130 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Für die Überlebenden der Schlachten des Weltkrieges war der Tod also nicht nur Bedrohung, sondern auch Quelle der Macht. Sie selbst waren Todesschützen, Todesbringer, Mörder, Kämpfer - das biblische Gebot »Du sollst nicht Töten« war außer Kraft gesetzt. Ernst Jünger bezeugt die Faszination gerade dieses Tabubruchs, wenn er beschreibt, wie er und seine Kameraden »mit geheimer Wollust« das Magazin mit scharfer Munition füllten. 382 Wer töten durfte, hatte Macht. Das »wollüstige«, sexuelle Allmachtsgefühl vereinte die Männer im Felde. Schwäche, Zweifel, Ohnmacht, Verwundbarkeit - diese Eigenschaften wurden als »weiblich« von der Persönlichkeit abgespalten und verdrängt: »männliche Gleichgültigkeit« war die wichtigste Tugend von Jüngers Kriegern. 383 Jünger sprach nicht über die zahlreichen zerbrochenen Männerkörper und Seelen, wie sie in überfüllten Lazaretten und Nervenheilanstalten zu besichtigen waren. Dieses Schweigen gegenüber der Schwäche verweist auf eine Künstlichkeit, eine Konstruiertheit in Ernst Jüngers Darstellungen. Doch allzu lange galten sie als authentische Zeugnisse des Frontalltages, erst im Jahr 2010 erschien eine kritische Edition der unbearbeiteten Tagebücher aus dem Nachlass. 384 Der Literaturwissenschaftler Peter Uwe Hohendahl benennt nachträgliche Sinnstiftung als zentrales Ergebnis im Vergleich beider Textversionen: »Die sprachliche Bearbeitung der Tagebücher führt u.a. dazu, daß in den Stahlgewittern so etwas wie ein kollektives Kriegssubjekt konstituiert wird, während die Tagebücher noch eine Vielzahl von agierenden und leidenden Individuen zeigen. Die Idee eines kriegerischen Gesamtsubjekts entsteht erst im Prozess der Bearbeitung, denn erst in diesem Vorgang werden aus der Menge der einzelnen Soldaten die mythischen Krieger, die außerhalb des normalen Menschenlebens stehen.« 385 Macht und Männlichkeit sind zentrale Elemente von Jüngers »mythischem Kriegssubjekt«. Aber auch Ohnmacht und passives Ausgeliefertsein gegenüber der allgegenwärtigen Todesdrohung stifteten im Nachhinein Einheit und Sinn für die Überlebenden. Die Überlebensgemeinschaft des Schützengrabens prägte nicht nur Kleingruppen von Frontkämpfern, sondern das Heer als Ganzes und später das Konzept der deutschen Nation. Die zahllosen Standesunterschiede und regionalen Eigenheiten des halbfeudalen Kaiserreiches verwischten sich im Schützengraben: der Rheinländische Bauer kämpfte neben dem Berliner Beamtensohn, die zahlreichen Dialekte vom Plattdeutschen bis zum Schwäbischen fanden und verstanden sich an der Front. 386 Der Krieg trug das Nationalgefühl auch in Schichten, wo es sonst verpönt war - etwa in Werners Partei, die Sozialdemokratie. Nicht nur im Jubel von 1914, sondern auch im Elend danach stiftete der Krieg eine masochistische Leidensgemeinschaft. Das Deutsche Kaiserreich, das erst eine Generation bestand, als föderaler Bundesstaat keine Nationalhymne besaß und nicht einmal eine einheitliche Staatsbürgerschaft kannte, erfand im Feuer des Weltkriegs eine neue Form nationaler Einheit. Basis dieser zweiten Nationswerdung war die Glorifizierung des Todes. Dies geschah nicht nur in der Literatur, sondern vor allem im alltäglichen Heldenkult, durch Kriegerdenkmäler 382 Ebenda, S.-17. 383 Siehe oben. Zum Ideal männlicher Stärke passt der Spott, mit dem sich Jüngers Kameraden über Behinderte (»Bucklige«, »Kobolde«) lustig machten. Ernst Jünger, in Stahlgewittern, S.-179. 384 Jünger, Ernst, Kriegstagebuch 1914-1918, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010. 385 Rezension von Peter Uwe Hohendahl, in: Das Argument, Nr. 290, Heft I/ 2011; Hervorhebung im Original. 386 Jünger gibt die Dialekte oft im Original wieder, etwa das Plattdeutsche auf S.- 155, In Stahlgewittern, a.a.O. <?page no="131"?> 131 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 131 und den in der Weimarer Republik eingeführten »Volkstrauertag«. Ausgeschlossen davon waren die Kriegsgegner im eigenen Land, sie galten als »undeutsch«, als Verräter. Jüngers Beschreibungen waren zentral für die Konstruktion einer nationalen Leidensgemeinschaft. »In Stahlgewittern« verkaufte sich zehntausendfach und wird bis heute neu aufgelegt. Jünger selbst war ein Überlebender, er starb 1998 im biblischen Alter von 102 Jahren. Er gab seiner Zeit eine Stimme, die zahllosen Toten des ersten Weltkrieges sprachen dagegen nicht mehr. Doch jeder der Millionen Gefallenen erhöhte den Status des Überlebenden, der da sprach. Es geschafft zu haben, als Einzelner und Volk unbesiegt geblieben zu sein - das ist die Botschaft von Jüngers Kriegstagebuch. Auch er betonte die pure Zufälligkeit des Überlebens, die sinnlose Schicksalhaftigkeit von Kopfschüssen, Granatsplittern, Artillerieunfällen und fehlgeleitetem Feuer aus den eigenen Reihen. 387 Doch gerade diese blinde Schicksalhaftigkeit verstärkte das Gefühl der überlebenden Frontkämpfer, zu einer auserwählten Art von Kriegern zu gehören. Dieser neue Menschentyp war eindeutig rassisch konnotiert - etwa wenn Jünger das »fast sportsmännische« Verhalten der englischen Truppen dem ängstlichen Gebaren indischer Kolonialsoldaten gegenüberstellte, die »Froschlaute« von sich gaben und um Gnade bettelten. Beim Abtransport der schwer verletzten und in Todesangst schreienden indischen Kriegsgefangenen fühlen sich Jünger und seine Kameraden ihrerseits »urkriegerisch« und »barbarisch«. 388 Obwohl Ernst Jünger selbst zum konservativen Gegner der Nazis wurde - das Motiv der Herrenrasse ist in seinen Schriften angelegt. Auch Werner Scholem erlebte das Frühjahr 1918 an der Westfront. Er und Jünger sahen dasselbe Elend, doch ihre Verarbeitung des Erlebten hätte kaum unterschiedlicher sein können. Werner Scholem gehörte nicht zu den Starken, wollte nicht zu einer stählernen Elite gehören. Sein Körper war schwach und geschunden, und er scheute sich nicht, dies offen auszusprechen: »Meine Wunde ist übrigens wieder aufgeplatzt und eitert manchmal, aber deswegen ist an ein Wegkommen nicht zu denken! Wenn dir dieser Brief stumpfsinnig vorkommt, so vergegenwärtige dir mal bitte die Tatsache, daß ich seit dem 9ten Juni 57 Tage und Nächte im Biwak, d.h. im Dreck, gelegen habe, und noch drin liege. Z. B. augenblicklich schreibe ich dir auf der Erde sitzend, während wiedermal alle Augenblicke ein Regenguß losgehen kann. Dieses Biwakieren ist die schlimmste Strapaze meines jetzigen Lebens. Lieber will ich im Schweinestall auf dem Mist liegen als im schönsten Biwak. Daß trotzdem mein dir wohlbekannter Patriotismus nicht gelitten hat, wirst du mir hoffentlich glauben. Der Gedanke, für eine gerechte Sache zu kämpfen, erleichtert mir alle Strapazen etwas.« 389 Für die von Jünger propagierte deutsche Leidensgemeinschaft hatte Werner nur Zynismus übrig. Er war nie Teil des deutschen Kollektivs gewesen, und der Krieg isolierte ihn mehr denn je, bestärkte ihn in ketzerischen Gedankenspielen von Palästina und Sozialismus. Der Frontalltag hatte für Werner nichts Hohes und Weihevolles an sich. Er war 387 »Gegen Morgen ratterte plötzlich der Maschinengewehrschütze los, da sich dunkle Gestalten näherten. Es war eine Verbindungspatrouille des Infanterieregiments 76, von der er einen Mann niederstreckte. Derartige Irrtümer kamen in diesen Tagen häufig vor, ohne daß man sich lange darüber aufhielt.« Ernst Jünger, In Stahlgewittern, S.-187. 388 Auch die Franzosen werden als ängstlich und wenig heldenhaft charakterisiert, gleichzeitig fühlt er eine archaische »Urfeindschaft« zwischen Deutschland und Frankreich. Zu den einzelnen national-rassistischen Beschreibungen vgl. Ernst Jünger, In Stahlgewittern, S.-66f, S.-170ff, S.-213, S.-215. 389 Werner an Gerhard Scholem, 1. September 1918, GSA Jerusalem; Hervorhebungen im Original. <?page no="132"?> 132 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) stattdessen Nährboden für einen ganz eigenen Pessimismus, mit dem Werners sich immer wieder durch auswegslose Situationen half: Indem er nichts erwartete, wurde er auch nicht enttäuscht. Auch Ende Oktober 1918 war keine Besserung in Sicht: »Mein Leben hier ist unverändert, nur häufen sich eben in dieser Zeit der Rückzüge die Strapazen, da man dauernd unterwegs, ohne Standquartier und sehr oft im Biwak liegt.« 390 Die Rückzüge häuften sich, obwohl die deutsche Offensive im Frühjahr so stark begonnen hatte. Angesichts beeindruckender Anfangserfolge herrschte zeitweise eine ähnliche Stimmung wie im August 1914. Die Überzeugung vom baldigen Sieg und baldiger Heimkehr motivierte gerade in einer Zeit, in der sich die Mehrheit der Truppen erschöpft nach Ruhe sehnte. So trieb die Sehnsucht nach Frieden den Krieg voran. Für den Anfangserfolg sorgte neben freigewordenen Truppen von der Ostfront auch eine Weiterentwicklung des Trommelfeuers zu noch konzentrierteren »Feuerwalzen«. Dabei wurden mit dem mathematisch berechneten parallelen Abschuss von bis zu 6000 Geschützen die Stellungen des Gegners systematisch aufgebrochen - nach Jahren des Stillstands waren plötzlich neue Vorstöße möglich. Werners Aufgabe war es, der Artillerie ihre Munition zu liefern - einer von vielen im Getriebe der Kriegsmaschinerie. Doch die Erfolge waren trügerisch - die Materialkosten der »Feuerwalzen« waren enorm und die Kriegsgegner konnten sich unerwartet schnell auf die neue Taktik einstellen. Bereits zwei Wochen nach Angriffsbeginn hatte die deutsche Seite 230.000 Tote zu beklagen. 391 Sie zu betrauern blieb den Familien überlassen - die Oberste Heeresleitung beschäftigte sich allein damit, wie man das verbrauchte Menschenmaterial ersetzen sollte. Deutschland war buchstäblich ausgeblutet, während aus den USA jeden Monat 100.000 frisch ausgebildete, gut ernährte und ausgeruhte Soldaten in den Kampf geschickt wurden. 392 Im Juli 1918 geriet die deutsche Offensive ins Stocken, bald darauf rückten die Gegner vor. Der Krieg war an eine Wende gekommen. Nur wenige Monate, nachdem im Osten sämtliche Kriegsziele erreicht worden waren, drohte im Westen der Zusammenbruch. Den Generälen Hindenburg und Ludendorff von der Obersten Heeresleitung war diese kommende Niederlage voll bewußt, so sehr sie es später auch leugnen sollten. Um zu retten, was noch zu retten war, begannen auf Initiative der Heeresleitung im Oktober 1918 Verhandlungen. War ein Friede in Sicht? Es waren die USA, die den ausgebluteten europäischen Kriegsparteien das Heft aus der Hand nahmen und die Verhandlungen leiteten. Ein Notenwechsel zwischen der deutschen Führung und dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson lotete die Bedingungen für einen Waffenstillstand aus. Kämpfe und Kriegspropaganda gingen jedoch weiter. Vor allem der militärisch aussichtslose Zustand der deutschen Stellungen wurde der Öffentlichkeit systematisch verschwiegen. Auch dies mag ein Grund gewesen sein, warum Werner sich durch die Nachrichten nur kurz aufmuntern ließ: »Ich war jetzt einige Tage sehr hoffnungsfroh, zum erstenmale während des Krieges, als ich die Noten der neuen Regierung und die Rückfragen Wilsons las. Aber seit der 2ten Note Wilson’s habe ich meine Hoffnungen wieder eingesargt, und bereite mich nunmehr auf den nationalen Ver- 390 Werner an Gerhard Scholem, 23. Oktober 1918, GSA Jerusalem. 391 Peter März, Der erste Weltkrieg, S.-214ff. 392 Ebenda, S.-218. <?page no="133"?> 133 2.6 Im Westen nichts Neues: hier die Front, die Revolution woanders 133 teidigungskrieg à la Gambetta vor. Das Ende ist mir übrigens ganz klar, aber es kann noch 1 Jahr darüber hingehen.« 393 Zwar waren die Rückzüge im Oktober 1918 auch für den einfachen Frontsoldaten nicht zu übersehen. Dennoch glaubte Werner nicht an ein schnelles Ende. Ein nationaler Verteidigungskrieg, mindestens ein Jahr lang - das war es, was Scholem am 23. Oktober 1918 erwartete. Der französische Staatsmann Léon Gambetta, auf den er sich bezog, hatte im deutsch-französischen Krieg 1870/ 71 aus dem Hinterland eine Armee zur Befreiung von Paris organisiert. Eine grandiose Improvisation, die jedoch durch Niederlagen an anderen Fronten nicht mehr zum Erfolg führte. Werner traute Taten dieses Formats auch den deutschen Generälen zu. In der Tat hatte der AEG-Direktor und vormalige Leiter der Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium Walther Rathenau am 7. Oktober 1918 öffentlich zum Volkskrieg aufgefordert. 394 Hintergrund war die Parlamentarisierung Deutschlands durch die Oktoberreform 1918: Am 3. Oktober war erstmals eine dem Parlament verpflichtete Regierung samt zweier sozialdemokratischer Staatssekretäre gebildet worden. Der Kaiser und die Eliten des Reiches hatten innerhalb von Wochen ihren jahrzehntelangen Widerstand gegen jede demokratische Reformen aufgegeben. Ziel dieses von Ludendorff und Hindenburg gestarteten Unternehmens war es, den Alliierten im Rahmen der Verhandlungen ein demokratisches Deutschland zu präsentieren und die Generäle von der Schmach der Niederlage zu entlasten. 395 Aufgrund der militärisch verordneten Demokratisierung sah Rathenau die Bedingungen für eine neue Welle nationaler Begeisterung und die Fortsetzung des Kampfes fürs Vaterland gegeben. Walther Rathenau war deutscher Jude und Patriot - genau wie Werners Vater. Vor diesem Hintergrund ist Werners Skepsis gegenüber einem schnellen Kriegsende mehr als verständlich. Vor allem aber schätzte er den Korpsgeist der Soldaten so ein, daß sie der nationalen Sache bis in den Untergang folgen würden. Seine Erfahrungen von Befehl, Gehorsam und alltäglicher Schikane sprachen für diesen Schluss: »Gestern habe ich sogar die militärische Gewalt gegen einen Rohling anrufen müssen, der mich tätlich angriff. Ich bin anscheinend doch noch nicht ganz verdummt, sonst würden die hiesigen Dummköpfe nicht derart wütend auf mich sein.« 396 Auch im Oktober 1918, als sich Desertationen häuften und die Stimmung kippte, fand Werner Scholem keinen Draht zu seinen Kameraden. Er hatte ihnen nichts zu sagen. Wenn er sich umsah, erwartete er nichts anderes als Krieg bis zum bitteren Ende. Doch alles kam anders. Am 4. November 1918 kippte die Stimmung. Ein spontaner Matrosenaufstand in Kiel, ausgelöst durch den Befehl der deutschen Seekriegsleitung zur letzten Schlacht in der Nordsee. Die Matrosen veweigerten sich. Um an Land nicht wegen Befehlsverweigerung verhaftet zu werden, trugen sie die Meuterei in die Stadt. Die Nachricht verbreitete sich, und mit ihr die Revolte, die bald zur Revolution anwuchs. Überall entstanden spontan Arbeiter- und Soldatenräte, der Widerstand war erstaunlich gering. 393 Werner an Gerhard Scholem, 23. Oktober 1918, GSA Jerusalem. 394 Walther Rathenau, »Ein Dunkler Tag«, Vossische Zeitung vom 7. Oktober 1918. 395 Noch bevor die militärische Niederlage öffentlich wurde, wurde auf diese Weise die Dolchstoßlegende vorbereitet, nach der nicht das Militär, sondern die Kriegsgegner die Niederlage zu verantworten hätten. Gleichzeitig zeigt die Initiative, wie die Oberste Heeresleitung in der Endphase des Kaiserreichs quasi im Alleingang die Geschicke der Politik bestimmen konnte - vgl. dazu Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, S.-363. 396 Werner an Gerhard Scholem, 23. Oktober 1918, GSA Jerusalem. <?page no="134"?> 134 2. Weltkrieg und Revolution (1914 - 1918) Die kampfmüden Truppen verweigerten den Gehorsam, und am 9. November brach mit tatkräftiger Unterstützung der revolutionären Obleute die Revolution in Berlin aus. 397 Der Kaiser musste abdanken, am 11. November 1918 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. Werners kühnste Träume hatten sich über Nacht erfüllt: Die Revolution war gekommen, der Krieg vorbei. 397 Während der Einfluss der Spartakusgruppe in der Antikriegsbewegung und der Novemberrevolution von der DDR-Historiographie überhöht und in der westdeutschen Forschung unterschätzt wurde, spielten die revolutionären Obleute als Organisatoren der Massenstreiks seit 1916 und auch des 9. November 1918 in beiden Forschungstraditionen nur eine Nebenrolle. Zur Korrektur dieses Bildes vgl. Ottokar Luban, Die Novemberrevolution in Berlin - eine notwendige Revision des bisherigen Geschichtsbildes, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Januar 2009 (2009/ I), S.-55-78. <?page no="135"?> 135 3. Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Die Novemberrevolution wurde Werner Scholem zum Leitstern für eine Laufbahn als sozialistischer Politiker, die ihre bescheidenen Anfänge 1919 in der Kommunalpolitik von Linden bei Hannover nahm. Das folgende Kapitel beleuchtet Scholems Aufstieg als Journalist in der Unabhängigen Sozialdemokratie und zeigt, wie der in späteren Jahren von seinen Gegnern als »ultralinks« bezeichnete Scholem hier pragmatisch und mehrheitsorientiert handelte: er wollte die USPD erhalten und zu einer revolutionären Massenpartei aufbauen. Dieses Projekt scheiterte jedoch, und als die USPD im Dezember 1920 auf dem Parteitag von Halle zerbrach, gingen Werner und Emmy Scholem mit dem linken Flügel der Unabhängigen zur KPD. Diese von Scholem anfangs eher mit Distanz beäugte Partei war es, die in der Weimarer Republik zur Organisation der revolutionären Linken wurde, Scholems Name blieb untrennbar mit ihr verbunden. Seine erste Aufgabe in der KPD war ein Posten als Redakteur für die »Rote Fahne« in Berlin, der ihm schon im ersten Jahr Ermittlungen wegen Hoch- und Landesverrat einbrachte. Scholems Fall ist ein Musterbeispiel für Kontinuitäten politischer Justiz in Kaiserreich und Republik, die im Abschnitt »Journalismus und Justiz« untersucht werden. Die Laufbahn als Journalist wurde jedoch, kaum dass sie recht begonnen hatte, durch eine andere Aufgabe verdrängt: ein Mandat im Preußischen Landtag. Scholem wirkte hier von 1921 bis 1924 und wurde durch seine Begabung als polemischer Rhetoriker erstmals überregional bekannt. Zentrales Dilemma der KPD-Fraktion waren die Spielräume des Parlamentarismus, der Widerspruch zwischen Mitgestaltung und revolutionärer Sprengung der Verhältnisse - ein Thema, das im Abschnitt »Reform oder Revolution? - Parlamentarier im Preußischen Landtag« anhand von Scholems Stellungnahmen zu den Themen Schulreform, Antisemitismus und Rechtsterrorismus ausführlich beleuchtet wird. Die geringen Erwartungen, die Scholem von vornherein in den Landtag setzte, wurden durch seine praktischen Erfahrung noch einmal unterboten, nicht zuletzt durch zahlreiche antisemitische Übergriffe gegen seine Person. Scholem entschied sich letztlich gegen jedes Mitgestalten und in ihm verfestigte sich die Idee, die KPD müsse vor allem Avantgarde für eine spätere Revolution sein. Sein Wirken für diese Konzeption innerhalb der Parteistrukturen wird jedoch zunächst ausgespart und im vierten Kapitel »Der Kommunismus - Utopien und Apparate« ausführlich geschildert. <?page no="136"?> 136 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1918 schrieb Werner Scholem dem Bruder einen Brief über sein ganz persönliches Kriegsende: »Mein Lebtag werde ich es nicht verwinden, daß ich die Revolution nicht in Deutschland mitgemacht habe. Solch Pech, während dieser Zeit fern all dieser Ereignisse sitzen zu müssen, während zu Hause jeder halbwegs vorher tätige Mensch Minister wurde. Für mich brachte der Zusammenbruch des Lügensystems für’s erste einen schrecklichen Rückmarsch mit meinem Regiment von der Champagne bis Burg bei Magdeburg, durch Wallonien, Luxemburg, Koblenz, Gießen, Fulda, Eisenach, Sangerhausen. Ich hätte nie geglaubt, daß ich aus diesem Kriege nach Hause marschieren würde wie beim ollen Fritzen. […] Am 24ten früh kam ich hier an, die letzten Jahre sind im Orkus versunken und vor mir liegt ziemlich dunkel die Zukunft.« 1 Diese nüchterne Bilanz zog einer, der in den entscheidenden Stunden nicht dabei war und meinte, alles verpasst zu haben. Doch die Revolution war nicht vorbei. Noch jahrelang sollten soziale Kämpfe, Streiks und bewaffnete Aufstände die politische Bühne der jungen deutschen Republik bestimmen - allesamt Versuche, die Ergebnisse der Novemberrevolution erneut zu wenden. An vielen davon war Werner selbst beteiligt, voller Hoffnung und Erwartung. Doch diese Wendungen waren Ende 1918 weit entfernt. Obwohl er nun frei war, fuhr Werner nicht ins Herz des revolutionären Geschehens nach Berlin, sondern begab sich zu seiner Frau Emmy ins beschauliche Linden. Die Familie hatte Priorität, denn Werner Scholem war Vater geworden. Er berichtete seinem Bruder darüber eher lakonisch als euphorisch: »Hier fand ich neben manchem anderen mein Mädel vor und deine Gratulation dazu. Ja, was soll man zu diesem Faktum sagen! Zuerst hatte ich verlangt, die Geschichte sollte verschwinden, d.h. natürlich ganz zu Anfang der Schwangerschaft, aber bei meiner Frau war das Muttergefühl schon zu stark geworden und dagegen kann man sich nicht auflehnen. Es ist ja auch ganz gut geworden, das Kind ist bei der Großmutter gut aufgehoben, und Emmy hat sogar während der Zeit, wo sie im Geschäft aussetzen musste, ihr volles Gehalt weiter bezogen. Wir wollten deswegen die Sache nicht bekanntwerden lassen, damit die Mischboche nicht höhnisch die Nase rümpfte und schadenfroh sich freute, daß ich schon ›reingefallen‹ sei. Aber leider bist du nicht diskret gewesen, denn wie sollte sonst die Sache bekannt geworden sein. Übrigens hat Mutter sehr nette Briefe und auch Pakete mit Babysachen geschickt.« 2 Als frischgebackene Großmutter war Betty Scholem offensichtlich nicht mehr bereit, sich Arthurs Kontaktverbot zu beugen. Auch ohne Zustimmung ihres Mannes unterstützte sie die junge Familie, traf sich im Februar auch wieder mit Werner in Berlin. 3 Das am 27. September 1918 geborene Kind bekam den Namen Edith Scholem. Werner musste sich erst in die Vaterrolle hineinfinden, was ihm nur unzureichend gelang. Obwohl er in Briefen mehrfach von einer zukünftigen Familie gesprochen hatte, handelte es sich dabei um abstrakte Gedankenspiele über die Weitergabe eines »Scholemschen Erbes«. Mit einem konkreten Kind konnte Werner wenig anfangen. Die Umstände der Geburt erleichterten 1 Werner an Gerhard Scholem, 26. Dezember 1918, GSA Jerusalem. 2 Ebenda. 3 Werner an Gerhard Scholem, 7. Februar 1919, GSA Jerusalem. <?page no="137"?> 137 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 137 ihm die Anpassung nicht. Während Emmy sich in Linden auf die Geburt neuen Lebens vorbereitete, musste Werner im Krieg täglich um das eigene Leben fürchten. Auch Emmy hatte sich täglich gesorgt, ob Werner lebendig heimkehren würde. Nur in Andeutungen konnte sie in einem Brief an Gerhard vom Oktober 1918 ihre Anspannung ausdrücken: »Mir ist garnicht bange vor der Zukunft, wenn nur Werner erst heil zwischen diesen verfl. … raus wäre. Grade in diesen Tagen sorge ich mich sehr, denn ich habe zuletzt am 5. Oktober einen Brief vom 30. September erhalten und grade in dem Brief schreibt er von andauernden Kämpfen und großen Verlusten. Es ist auch noch nie vorgekommen, daß ich so lange ohne Nachricht war. Jetzt habe ich Dich wohl auch noch in Angst gejagt, ich werde dir gleich schreiben, wenn ich einen Brief von Werner bekomme.« 4 Gerhard war der einzige aus Werners Familie, dem Emmy die Nachricht von der Geburt des Kindes anvertraute: »Du musst entschuldigen, dass ich noch nicht eher auf Deine Karte zurückgekommen bin, aber Du hattest es schlecht getroffen, denn ich war krank. d.h. nicht eigentlich krank, ich habe nur ein kleines Mädchen gekriegt, ein klein zierliches schwarzes Ding, ›ein ganzer Scholem‹. Von mir hat es garnichts, wenigstens äußerlich nicht, wohl aber die freche Klappe und Energie und Ausdauer. Es ist etwas zu wunderschönes, ein Kindchen zu haben.« 5 Anders als Werner empfand Emmy das Kind nicht als Belastung - doch war sie bei der Erziehung auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. 6 Sie hatte ab September 1918 vier Monate bezahlten Urlaub erhalten, was eine großzügige Regelung für damalige Verhältnisse war, doch zum 1. Januar 1919 musste Emmy sich wieder ihrem Beruf als kaufmännische Angestellte widmen. Werner war arbeitslos, hatte aber keine Ambitionen, sich als Hausmann zu betätigen. Die Erziehungshilfe durch Emmys Eltern war willkommene Entlastung und sollte in den folgenden Jahren zur Konstante werden. Denn was Werner umtrieb, war die Politik. Die Revolution hatte alle Strömungen der Arbeiterbewegung aus den Fundamenten gehoben, und dies entlockte ihm mehr emotionale Reaktionen als das Familienleben: »Zum ersten male ist mein Gefühl mit dem Verstande in einen Konflikt gekommen, der immer noch andauert. Denn mein Gefühl treibt mich zu den Spartakusleuten, bei denen übrigens auch alle meine Freunde und auch meine Frau sich befinden, mein klarer Verstand läßt mich aber das Zwecklose und Unsinnige dieser Politik zu klar erkennen, als daß ich mich ihr anschließen könnte. Die Unabhängigen aber sind in diesem Moment schon im Zusammenbruch begriffen. Der linke Flügel ist von den Spartaciden, der rechte von der alten Partei nur noch durch Nuancen getrennt. Diese Partei wird sich daher auflösen.« 7 Die Zeit der Illegalität war für die Arbeiterjugend vorbei - gleichzeitig wuchs Werner aus der Rolle des Jugendlichen heraus. Er wollte sich einer neuen Partei anschließen, war jedoch unsicher, wie sich die Teile der zerbrochenen Sozialdemokratie sortieren würden. Die von Werner prophezeite Abspaltung des Spartakusbundes erfolgte in der Tat nur wenige Tage nach der Absendung seines Briefes. Am Neujahrstag 1919 konstituierte sich im Festsaal des Berliner Abgeordnetenhauses die »Kommunistische Partei Deutschlands«. Kern der neuen Gruppe waren die Spartakusanhänger um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Verstärkung erfuhren sie durch die 4 Emmy an Gerhard Scholem, 14. Oktober 1918, GSA Jerusalem. 5 Ebenda, Hervorhebung im Original. 6 Im Februar 1919 kümmerte sich neben Emmy Wiechelt auch Betty Scholem zeitweise um die Tochter. Werner an Gerhard Scholem, 26. Dezember 1918 und 7. Februar 1919, GSA Jerusalem. 7 Werner an Gerhard Scholem, 26. Dezember 1918, GSA Jerusalem. <?page no="138"?> 138 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) linksradikale Gruppierung der »Internationalen Kommunisten Deutschlands«, Parteigänger des Bremer Linksradikalismus, zu der auch Werners Jugendgenossen Karl Plättner und Karl Becker gehörten. Beide waren beim Gründungsparteitag in Berlin dabei und vertraten die Dresdener Ortsgruppe. 8 Kommunismus, das bedeutete Rückbesinnung auf das damals siebzig Jahre alte »Kommunistische Manifest« und gleichzeitig Vorwärtstreiben der kaum sechs Wochen jungen Revolution. Tradition und Zukunft der Arbeiterbewegung sollten in der neuen Partei eine kämpferische Verbindung eingehen. Werner stand dem sehr positiv gegenüber, doch siegten im inneren Konflikt taktische Überlegungen. Obwohl Emmy und zahlreiche alte Freunde zur KPD neigten, blieb Werner in der USPD. 9 Er wollte bei der Mehrheit bleiben und eine Zerfaserung der Linken Kräfte vermeiden. Die KPD, so hatte er klar erkannt, war in ihrer gegenwärtigen Form nur eine Splitterpartei. Sie verfügte nicht über eine breitere Basis in der Arbeiterschaft, relevante Gruppen wie etwa die Revolutionären Obleute als tragende Stütze der Antikriegsbewegung waren ihr ferngeblieben. 10 Werner Scholem sah jedoch deutlich, dass die linke Parteienlandschaft noch im Fluss war. Er wollte an einer Radikalisierung der Unabhängigen mitwirken: »Ich sagte dir schon, dass diese Partei jetzt nichts Feststehendes ist, sondern erst vor dem Scheidewege steht. Auch ich halte nunmehr ein sozialistisches Zentrum für überflüssig, aber erst muss auch das, was links von uns steht, klar werden. Unsere Partei wird dann höchstwahrscheinlich als solche der linksradikalen Einheitsfront beitreten.« 11 In diesem Sinne befürwortete Werner eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen: »Leider aber ist hier unsere Bewegung von der spartacischen getrennt, während sie in Braunschweig Hand in Hand gehen. Aber unsere Genossen hier drängen auch nach links. Der nächste Parteitag, der bald stattfinden wird, wird die Entscheidung darüber bringen, ob die Unabhängige Partei kommunistisch oder mehrheitssozialistisch wird, ob sie für den Parlamentarismus oder für das Rätesystem eintritt. Ich glaube, die Entscheidung fällt nach links.« 12 Werner, in seiner späteren Parteikarriere oft als irrational und »ultralinks« beschimpft, zeigte sich hier als pragmatischer Stratege. Nicht die Abspaltung einer linksradikalen Avantgarde war sein Ziel, sondern die Bündelung revolutionärer Kräfte durch gemeinsame Praxis. 13 Es dauerte nicht lange, bis Werner eine Aufgabe erhielt, in der er seine Ambi- 8 Volker Ullrich, Der ruhelose Rebell, S.- 57. Zum Gründungsparteitag vgl. auch Hermann Weber, Der Gründungsparteitag der KPD. 9 Das genaue Eintrittsdatum ist unbekannt. Emmy Scholem berichtete 1954, dass Werner »nach der Rückkehr aus dem Felde« der USPD beitrat. Werner gab 1921 an, schon 1917 zur USPD übergegangen zu sein. Es ist jedoch wegen Gefängnisaufenthalt und Fronteinsatz wahrscheinlicher, dass er 1917 mit der Partei sympathisierte ohne beizutreten. Vgl. Emmy Scholem, »Schilderung des Verfolgungsvorgangs« (zu Werner Scholem) vom 7. April 1954, Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDS. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351; sowie: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne - Richterliche Befragung am 13.10.1921, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Bd. 1. 10 Der Gründungsparteitag der KPD wurde eigens unterbrochen, um die Obleute zu einem Beitritt zu bewegen, Verhandlungen zwischen Richard Müller und Karl Liebknecht scheiterten jedoch an Kernfragen wie dem Wahlboykott. Vgl. Hermann Weber, Der Gründungsparteitag der KPD, Frankfurt a. M. 1969. 11 Werner an Gerhard Scholem, 7. Februar 1919, GSA Jerusalem. 12 Ebenda. 13 Laut seiner Tante hatte sich Werner nicht einmal dem linken Flügel der USPD angeschlossen: »Er schreibt, daß er sich dem rechten Flügel der Unabhängigen angeschlossen hat und die Zeit bis zur Konstituante fleissig mit Agitation ausfüllen will, was täglich mit 9 M bezahlt wird. Seine Frau gehört der Spartakusgruppe an.« Hedwig Scholem an Gerhard Scholem, 4. Januar 1919, GSA Jerusalem. <?page no="139"?> 139 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 139 tionen ausleben konnte. Während er zur Jahreswende noch über ein Studium in Berlin nachgedacht hatte, zog es ihn jetzt woanders hin: »Seit dem 1ten Februar erscheint der Braunschweiger ›Volksfreund‹, das bekannte Organ unser dortigen Unabhängigen, die wie Du vielleicht weißt, in Braunschweig noch regieren, in erweiterter Form auch für Hannover, und die hannoverschen Parteigenossen haben mich zum Lokalredakteur gewählt.« 14 Für Werner brach eine neue Zeit an - er änderte sogar seine Handschrift vom altdeutschen ins international übliche lateinische Alphabet. 15 Das war Bruch mit der Vergangenheit, Sprung in die Moderne. Mit sichtlichem Stolz berichtete Werner erste Erfolge seiner Tätigkeit: »Photographiert worden bin ich noch nicht aber ich werde in allen Wurschtblättern der Provinz Hannover beschimpft und der ›Volkswille‹, das Mehrheitsorgan, beehrt mich mit dem Prädikat ›unerfahren‹. (›Man muss es gehört haben, wie dieser unerfahrene junge Mann unter dem lärmenden Beifall seiner Anhänger mit alten bewährten Führern des Proletariats umspringt! ‹) Das ist auch schon was wert.« 16 Werner gefiel sich in seiner Rolle als respektloser Sponti, der die alten Herren der Arbeiterbewegung aufmischte. Er stürzte sich voller Elan in die neuen Aufgaben: »Auf mir ruht die ganze Last der Agitation in Hannover, denn ich bin der einzige Referent, so dass ich also vormittags als mein eigener Berichterstatter, nachmittags als Redakteur und abends als Redner tätig sein muss. Z.-B. Sonnabend spreche ich in Göttingen, Sonntag abend in Hameln, Montag abend in Linden usw. Am 23ten sind die Lindener Kommunalwahlen, wobei ich sicher zum Stadtverordneten gewählt werde, da ich der erste Name auf unserer Liste bin. Für die paar Wochen, seitdem ich wieder Mensch bin, ist das schon aller Ehren wert.« 17 Hier war es wieder, das Wort Mensch - Werner hatte sich von den Schrecken der Front erholt und fühlte sich wie neu geboren. Er war er nicht nur der ständigen Todesdrohung entronnen, sondern war endlich ein Teil jenes revolutionären Umbruchs, den er seit Jahren herbeigesehnt hatte. Mittlerweile war er fest davon überzeugt, dass die Revolution in Deutschland eine Zukunft hatte - und dass er Teil dieser Zukunft war. Er engagierte sich nicht nur lokal, sondern hatte die große Politik im Blick: vom 2. bis 6. März 1919 war er in Berlin und nahm als Delegierter für Hannover-Linden am ersten USPD-Parteitag seit der Revolution teil. 18 Dies war sein erster Auftritt auf der überregionalen politischen Bühne. Die Versammlung war lange überfällig gewesen, denn seit ihrer Gründung 1917 hatten die Unabhängigen keinen Parteitag mehr abgehalten. 19 Zu besprechen gab es genug. Die USPD war im November 1918 von der halblegalen Opposition an die Spitze der Regierung gelangt, nur 14 Werner an Gerhard Scholem, 7. Februar 1919, GSA Jerusalem. 15 Mit dem Brief an Gerhard vom 7. Februar 1919, alle »ß« wurden nun zu »ss«, was im Folgenden beibehalten ist. 16 Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. 17 Werner an Gerhard Scholem, 7. Februar 1919, GSA Jerusalem. 18 USPD-Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6. März 1919 in Berlin, in: Hartfrid Krause (Hg.), Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Band I, Glashütten im Taunus 1975, vgl. Delegiertenliste S.-278. 19 Zur Bedeutung des Parteitages vgl. Hartfried Krause, USPD - Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt a. M. 1975, S.-124-132 sowie Dieter Engelmann und Horst Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung - Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands in den Jahren 1917-1922, Berlin 1993, S.- 105-115. Zur USPD allgemein vgl. David W. Morgan, The Socialist Left and the German Revolution - A History of the German Independent Social Democratic Party, 1917-1922, Ithaca-London 1975; Robert F. Wheeler, USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt am Main 1975. <?page no="140"?> 140 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) um im darauffolgenden Monat nach heftigen Auseinandersetzungen mit der alten SPD mit fliegenden Fahnen in die Opposition zu wechseln. Und weil die Unabhängigen im Dezember 1918 auf dem ersten Reichsrätekongress die Wahlen für einen neuen »Zentralrat« der Rätebewegung boykottiert hatten, war die junge Partei nun in den entscheidenden Gremien der Revolutionsregierung nicht mehr präsent. 20 Sie musste aus der Opposition heraus zusehen, wie die Mehrheits-SPD den Kurs der Revolution auf ein bürgerlich-parlamentarisches System steuerte. 21 Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung im Januar 1919 erhielt die USPD schließlich nur 7,6 % der Stimmen, während die SPD 37,9% der Wähler und erstmals auch Wählerinnen für sich gewinnen konnte. Die Unabhängigen Sozialisten steckten also in einer tiefen Krise. Der Aufbau der Partei war nicht einmal abgeschlossen, als es mit der KPD bereits die erste Linksabspaltung gab. Diese krisenhafte, aber auch offene Situation war es, die Werner zur Mitarbeit bewog. Er wollte mitwirken, die revolutionären Kräfte in der USPD zu stärken. Und revolutionär, das bedeutete damals die Bewegung der Räte. Auch Werner Scholem hatte sich intensiv mit dem Rätesystem beschäftigt und für den Parteitag einen eigenen Antrag dazu formuliert. Gemeinsam mit zwei weiteren Delegierten forderte er ein demokratischeres Wahlrecht für den im Frühjahr 1919 geplanten zweiten Reichsrätekongress. 22 In einem Katalog von sechs Punkten verlangte Scholem unter anderem eine Vertretung der Arbeitslosen und den Ausschluss von »Partei- und Gewerkschaftsbeamten«. Die USPD, so forderte Scholem, müsse den Rätekongress ansonsten boykottieren. Dies mag der Grund gewesen sein, warum Scholems Antrag wenig Begeisterung auslöste. Die Partei hatte sich bereits mit dem Boykott des Zentralrats ins Abseits manövriert, man wollte nun revolutionieren anstatt zu opponieren. Scholems Antrag wurde laut Protokoll »nicht genügend unterstützt« und auf dem Parteitag nicht einmal diskutiert, geschweige denn übernommen. 23 Werner Scholems erste Intervention in der überregionalen Politik war damit klanglos gescheitert. Doch dies schien ihn nicht weiter zu stören. Später berichtete er seinem Bruder in begeisterten Worten vom Parteitag. 24 Die Euphorie war authentisch - denn obwohl Scholems Einwurf ignoriert wurde, dominierte das Rätesystem die Debatte und begeisterte selbst die Gemäßigten in der Partei. Alles folgte Georg Ledebour und Ernst Däumig, die an der Entstehung der Rätebewegung mitgewirkt hatten und sich für ein reines Rätesystem aussprachen. 25 Während die Unabhängigen diskutieren, streikte ringsum die Arbeiterschaft in einem landesweiten Ausstand. Die Streikenden forderten Räterepublik und die Sozialisierung der Industrie, protestierten gegen das Zögern der sozialdemokratischen Regierung, Zentren des Protests lagen im Ruhrgebiet, im Mitteldeutschen Industrierevier um Halle- Merseburg und in Berlin, wo die USPD ihren Parteitag abhielt. Die Eröffnungsworte von Fritz Zubeil beschrieben die Lage: »Ganz Deutschland steht in Flammen. An einem Ende 20 Vgl. Allgemeiner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin; Stenographische Berichte, Berlin 1919 (auch als Nachdruck Berlin 1973). 21 Hartfrid Krause spricht von einer Opposition »fern allen praxisverändernden Entscheidungen«. Vgl. Krause, USPD, S.-116. 22 USPD - Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6. März 1919 in Berlin, S.-31. 23 Ebenda, S.-268. 24 Vgl. Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. 25 Vgl. Hartfrid Krause, USPD, S.-126f. <?page no="141"?> 141 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 141 des Reiches sucht man mit Handgranaten, Maschinengewehren und Kanonen den Brand zu löschen; am anderen Ende des Reiches lodern die Flammen von neuem kräftiger auf. […] Die Regierung und auch die Mehrheitsparteien bedenken nicht, daß sie auf einem Vulkan sitzen, daß jeden Augenblick die Eruption ausbrechen kann und sie unter der Lava verschüttet werden.« 26 In solcher Lage fand die Räteidee stürmische Begeisterung bei den USPD-Delegierten. Bei ihrer Gründung 1917 hatten die Unabhängigen demonstrativ das alte Erfurter Programm der SPD von 1891 übernommen. Die USPD sah sich als wahre Sozialdemokratie, benötigte kein neues Programm. Im März 1919 änderte sich dies. Rätesystem und »Selbstverwaltung in den Betrieben« als Maßnahme zur »Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in die sozialistische« waren nun die Losungen. 27 Die Partei sprach ihre Ziele klar aus: »Sie erstrebt die Diktatur des Proletariats, des Vertreters der großen Volksmehrheit, als notwendige Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus. Erst der Sozialismus bringt die Beseitigung jeder Klassenherrschaft, die Beseitigung jeder Diktatur, die wahre Demokratie«. 28 Es ist wichtig festzuhalten, dass die widersprüchlichen Formeln von »Rätedemokratie« und »Diktatur des Proletariats« damals als untrennbare Einheit gedacht wurden. »Diktatur« wurde als Herrschaft der arbeitenden Bevölkerungsmehrheit verstanden. Konkret meinten die Anhänger des »reinen Rätesystems« um Däumig und Ledebour, dass Unternehmer nicht für die Rätewahlen zugelassen wurden. 29 Die Diktatur einer Partei oder gar einer Einzelperson wurde ausdrücklich verneint. In dieser Form unterstützten auch alte Sozialdemokraten wie Karl Kautsky und Hugo Haase das neue Programm. Es formulierte klare sozialistische Ziele - beinhaltete aber auch ein sorgfältiges Abwägen der dazu notwendigen Kampfmaßnahmen: »Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich die U.S.P. aller politischen und wirtschaftlichen Kampfmittel, einschließlich der Parlamente. Sie verwirft planlose Gewalttätigkeiten. Ihr Ziel ist nicht die Vernichtung von Personen, sondern die Beseitigung des kapitalistischen Systems.« 30 Diese Formeln lassen sich nicht nur als Kritik linker Gewaltphantasien lesen, wie auch Werner sie in seinen Briefen aus der Kriegszeit formuliert hatte. Sie bezogen sich vor allem auf die Kräfte der Gegenrevolution, die Anfang 1919 politischen Mord und Terrormaßnahmen nicht nur in der Phantasie praktizierte. Auch die Radikalen in der USPD verurteilten Gewalt und Terror. Sie standen ebenso wie der gemäßigte Parteiflügel in der Tradition der alten Sozialdemokratie, die stets den politischen Kampf und nicht den Bürgerkrieg propagiert hatte. 31 26 USPD - Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6. März 1919 in Berlin, S.-28. 27 Ebenda, S.-3-7. 28 Ebenda, S.-3. 29 Für eine Zusammenfassung der Theorie des »Reinen Rätesystems« von Däumig und Müller vgl. Richard Müller, Das Rätesystem in Deutschland, in: die Befreiung der Menschheit, Leipzig 1921; vgl. auch Ralf Hoffrogge, Richard Müller - Der Mann hinter der Novemberrevolution, S.-108ff. 30 USPD - Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6. März 1919, S.-3. 31 Die KPD allerdings übernahm die Idee des Bürgerkriegs in ihre Propaganda, und je länger die Kriegszeit zurücklag, desto mehr dominierten militärische Metaphern die Rhetorik. Faktisch konnte sie ihre Mitglieder allerdings weder in der Märzaktion 1921 noch 1923 zur bewaffneten Aktionen mobilisieren. Das bevorzugte Kampfmittel der Linken blieb der Streik, auf den jedoch nicht selten von der Gegenrevolution militärisch reagiert wurde. Vgl. dazu Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl - Generalstreik und <?page no="142"?> 142 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Werner Scholem war Teil dieses Aufbruchs, schilderte in einem Brief an Gerhard begeistert die programmatische Wende: »Ich war zu unserem Parteitag delegiert und kann wohl sagen: Die unabhängige Sozialdemokratie ist mit Pauken und Trompeten, wie es ihre Pflicht war, ins kommunistische Lager gegangen. Dieser Abmarsch allein ermöglichte es auch, daß ich in dieser Partei bleiben konnte. Aber einen Unterschied zwischen uns und unseren Brüdern links von uns ist nur noch mit der Lupe zu entdecken. Ich kann dir das im einzelnen nicht so auseinandersetzen, denke nicht an den Parlamentarismus! Sein Todesurteil ist auch bei uns ausgesprochen worden.« 32 Kommunismus, das war für Werner ein Sozialismus der Räte, eine proletarische Demokratie. Diese empfahl er auch seinem Bruder: »Hoch interessant ist das Rätesystem und ich würde dir empfehlen, Dich damit zu beschäftigen. Ich bin übrigens bei den letzten Wahlen in Hannover auch in den großen Arbeiterrat gewählt worden. Es ist nicht gelungen, so grosse Mühe sich auch die Regierung gegeben hat, das System ganz zu beseitigen. Die Keimzellen für ein ausgebautes Rätesystem bleiben und damit ist dem jetzigen Regime der sichere Untergang unausweichlich. Denn vermischen kann man beides nicht, eins muss fallen. Und das kann nur diese famose Regierung sein.« 33 Zur parlamentarischen Demokratie hatte Werner ein dementsprechend ironisches Verhältnis: »Seit dem 23ten Februar bin ich weiß Gott richtiggehender Stadtverordneter, sogar Obmann der Unabhängigen Fraktion, habe bereits eine Etatsrede geschwungen, 10 herrliche Anträge durchgedrückt, sitze in den interessantesten Kommissionen (z.B. für höhere Schulen! ! ) und kann bereits mein Gesicht in parlamentarische Falten legen, wenn ich anhebe mit den geflügelten Worten: ›Meine Damen und Herren! Meine Parteifreunde usw.‹ Man nennt das demokratische Betätigung des freien Volkswillen! « 34 Seine eigentliche Berufung sah Werner woanders: »Außerdem habe ich aber eine Aufgabe, die ich allerdings viel ernster auffasse, nämlich die Organisierung der revolutionär gesinnten Elemente in Stadt und Provinz Hannover. Dabei sind uns derartige Erfolge beschieden, dass man wirklich erstaunt ist. Wo wir noch im Januar verhauen und verschrieen wurden, wo in den Versammlungen das Auftreten eines Unabhängigen fast unmöglich ward, jubelt man uns jetzt zu.« 35 Für Werner war die Revolution in vollem Gange, er erlebte auch die Gewaltakte der Gegenrevolution. Bei seinem Besuch in Berlin wurde er Zeuge, wie die für den Parteitag so inspirierenden Märzstreiks brutal niedergeschlagen wurden. 36 Dabei wurde auch das Quartier der revolutionären Volksmarinedivision gestürmt. Werner glaubte jedoch nicht, dass dies das Ende sein sollte. Seinem Bruder berichtete er in geradezu heiterem Tonfall: »Ich war auf dem Spittelmarkt, als das Marinehaus gestürmt wurde, und du hättest diese Regierungstruppen sehen müssen! Es genügte, die Leutnants, die uns keiner nachmacht, die dicken Feldwebel und die hackenzusammenschlagenden Mannschaften zu sehen, und Märzkämpfe in Berlin 1919, Berlin 2012. Zur Bürgerkriegsrhetorik vgl. Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/ 39 - Berlin und Paris im Vergleich, München 1999. 32 Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. 33 Ebenda. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Vgl. Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl - Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Münster 2012. <?page no="143"?> 143 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 143 man wusste alles.« 37 Werner war überzeugt, dass die Zeit der Feldwebel und Leutnants abgelaufen war - sein ohnmächtiger Pessimismus der Kriegsjahre war einem revolutionärem Optimismus gewichen. Es war paradoxerweise dieser Optimismus und Werners neu gefundener Lebensmut, die zur Entfremdung zwischen den Brüdern beitrug. Denn Gerhard konnte sich nur verhalten für die deutsche Revolution begeistern. Die Abreise in die Schweiz im Mai 1918 beschrieb er in seinen Memoiren als Schlussstrich. Sie ging einher mit einer geistigen Distanz gegenüber dem Geschehen in Deutschland: »Ich blieb etwa anderthalb Jahre in Bern und habe daher die großen Ereignisse, das Kriegsende und das, was übertrieben als deutsche Revolution bezeichnet wird, sowie alles, was darauf folgte, nur von außen und ohne größere innere Beteiligung erlebt.« 38 In einem Brief an seine Verlobte Escha Burchhardt wird klar, dass Gerhards Distanz nicht allein auf den räumlichen Abstand zurückzuführen war: »Die Differenz meiner Haltung zum Kriege und zur Revolution ist sehr klar: Zwar in beiden Fällen beteilige ich mich nicht. Aber dort wandte ich mich ab und hier sehe ich zu. Ich nehme diese Revolution, die zweifellos historische Legitimität besitzt, in mein Gesichtsfeld auf - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Solange die Stellung des Geistes in der neuen Ordnung der Dinge noch nicht durchaus verletzt ist, ist es meine Pflicht, eine ›wohlwollende Neutralität‹ nicht zu verlassen.« 39 Gerhard verlangte es stattdessen nach einer »theokratischen Revolution«. Diese Qualität gestand er der Novemberrevolution nicht zu, »auch wenn sie irgendwo natürlich etwas Messianisches hat.« 40 Obwohl er stets einen anderen Revolutionsbegriff vertreten hatte als Werner, stehen diese Sätze doch im Gegensatz zu früheren Briefen, in denen Gerhard sich zum Sozialismus bekannt hatte. Sein feuriges Interesse für die Sprengung gesellschaftlicher Verhältnisse war deutlich abgekühlt, die Revolution war für ihn noch mehr als früher ein spiritueller Vorgang. Er nannte sich nun Gershom Scholem und suchte nach einer besonderen jüdischen Erneuerung. Wenn Gershom dabei von »Theokratie« sprach, meinte er jedoch keine Priesterherrschaft. Er hatte an anderer Stelle den Dogmatismus sowohl im orthodoxen Judentum als auch im Zionismus deutlich kritisiert. Immer wieder betonte er den suchenden Charakter, wenn er vom Judentum sprach: »Denn wer in der Bewegung ist, darf nicht lehren, sondern suchen. Die Bewegung sucht in ihm. Das Göttliche«. 41 Theokratie meinte bei ihm die spirituelle Herrschaft eines göttlichen Prinzips und nicht die Herrschaft einer menschlichen Priesterkaste, die nicht suchend auftrat, sondern sich anmaßte, das Göttliche schon gefunden zu haben. In der Novemberrevolution konnte Gerhard jedoch die spirituelle Transzendenz nicht erkennen - lediglich »irgendwo« hatte diese für ihn etwas Messianisches. 37 Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. Die Volksmarinedivision war eine Einheit revolutionärer Marinesoldaten, deren Stab zunächst im Marstall am Schlossplatz und ab Januar 1919 im »Marinehaus« am Märkischen Ufer 48 einquartiert war, etwa drei Straßen vom Spittelmarkt entfernt. Werner Scholem beobachtete wahrscheinlich den Aufmarsch der Regierungstruppen. Zu den Märzkämpfen vgl. Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl, a.a.O. 38 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-123. 39 Gerhard Scholem an Escha Burchhardt, 23. November 1918, in: Scholem, Briefe I, S.-184. 40 Ebenda. 41 Brief an Julie Schächter, 26. März 1915, in Gershom Scholem, Briefe I, S.-24. Zum Verhältnis von Religion und Emanzipation bei Gershom Scholem vgl. auch David Biale, Gershom Scholem - Kabbalah and Counter-History, Cambridge (MA) - London, 1982. <?page no="144"?> 144 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Werner spürte das Desinteresse seines Bruders und stellte ihn zur Rede: »Dass ich jetzt erst Deinen Brief vom 23ten Februar beantworte ist kein Zufall. Es dürfte dir vielleicht bekannt sein, dass wir in Deutschland eine ›Revolution‹ haben, und Politiker in Revolutionszeiten haben verdammt wenig Zeit zum Briefeschreiben. Du, auf deiner glückseligen Insel dort, machst dir wohl auch kaum ein richtiges Bild von dem Geschehen hier, ja ich habe auch den Eindruck, als ob Du auch nicht den allergrößten Wert darauf legst, ein solches Bild zu bekommen.« 42 Werner machte die jüdische Sinnsuche seines Bruders verantwortlich für das Desinteresse an der Revolution. Sicher kränkte es auch Werners Ego, daß der Bruder seine Aktivitäten nicht würdigte. Er scheute sich daher nicht, kräftig loszuschimpfen über den Zionismus: »Vielleicht kommst du noch selbst mit hinein in einen revolutionären Strudel, wenn ihr den Judenstaat begründet und Eure Bonzen begehen die entsetzliche Dummheit, dort eine kapitalistische Filiale von London zu begründen, mit einem jüdischen Proletariat. Ein jüdisch-kommunistisches Proletariat in Palästina, ihr könnt was erleben! 43 Nach wie vor war für Werner das Judentum mit Stolz, Stärke und Widerstandsgeist verknüpft. Sein Urteil über die politischen Ambitionen des Zionismus verblüfft jedoch. Es steht in absoluten Gegensatz zu den Gefängnisbriefen aus der Kriegszeit, in denen er auf die Zerschmetterung Deutschlands und ein jüdisches Palästina hoffte. Nun war er wieder bei seiner Position von 1912 angelangt: Der Sozialismus war das umfassendere Emanzipationsprojekt und wichtiger als die besondere jüdische Perspektive. Werners Sinneswandel kam direkt aus der Erfahrung der Revolution, bereits im Weihnachtsbrief 1918 hatte er eine harte Kehrtwende formuliert: »Was macht die Verwirklichung der zionistischen ›Kriegsziele‹ in Palästina? Gibt es schon eine jüdische Annexionspartei, die nach berühmten Mustern auch Syrien und die Sinai-Halbinsel besetzen will, weil diese Gebiete historisch schon mal zur Davidskrone gehört haben? « 44 Im Gefängnisjahr 1917 hatte Werner genau dieselben Kriegsziele gutgeheißen, doch das war nun vorbei. Der Zionismus war für ihn kein Hoffnungsträger mehr eine politische Verwirrung, letztlich nur die jüdische Variante eines eroberungslustigen Imperialismus. Gerhard war entsetzt. Nach der Lektüre von Werners Weihnachtsbrief notierte er im Tagebuch: »Werner hat heute Geburtstag. Ich habe ihm nicht einmal geschrieben. Zwischen uns stehen Berge von Unbekanntschaft, freilich: was soll bei ihm noch überstiegen werden? Ihn beherrschen im letzten Innern furchtbare dämonische Gesetze. Aber wir werden sterben, ohne miteinander gesprochen zu haben. Ich kenne ihn nicht, ich kenne seine Frau nicht, ich weiß nicht, mit welchem Recht er sie hat - ich bin gegen ihn genau das im letzten Grunde, was ich wohlwollende Neutralität nenne. Ich lebe, heißt das, auf Vorschuß mit ihm.« 45 »Wohlwollende Neutralität« - Werner bekam dasselbe Attribut, das Gerhard für die Novemberrevolution reservierte. Es ist kein Zufall, dass Revolution und Abkehr vom Zionismus für Werner Scholem zusammenfielen. Denn erst am 9. November 1918 wurde er in seiner vagen Hoffnung bestätigt, dass eine sozialistische Wende in Deutschland möglich war. Während des Krieges hatte er dies kaum für möglich gehalten - zu tief schienen Militarismus, Chauvinismus und Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft verankert. Erst die Revolution hatte 42 Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. 43 Ebenda. 44 Werner an Gerhard Scholem, 26. Dezember 1918, GSA Jerusalem. 45 Gershom Scholem, Tagebücher, Eintrag 29. Dezember 1918, 2. Halbband S.-427. <?page no="145"?> 145 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 145 dies mit aller Macht aufgebrochen. Die alten Ideologien von Kaiser und Vaterland waren nicht verschwunden - sie hatten sich mit den Freikorps sogar radikalisiert und bewaffnet. 46 Jedoch war mit Massenstreiks, Revolution und Rätebewegung eine Tradition wieder aufgetaucht, die in Deutschland lange verschüttet war. Es war die Tradition der rebellischen Volksbewegungen vom Bauernkrieg bis zu den Barrikaden von 1848, die Tradition des Ungehorsams, des Kampfes gegen Tyrannei, der lange unterdrückte Schrei nach Freiheit und Gleichheit. Werner war überzeugt, dass der Sozialismus und die Emanzipation aller Deklassierten greifbar nahe lagen. Der Zionismus als ferne Utopie in Palästina war für ihn in der neuen historischen Situation nicht mehr notwendig. Gerhard hingegen verlangte es weiterhin nach einer »messianischen« Revolution. Die Brüder waren damit wieder bei ihrem alten Konflikt aus Vorkriegszeiten angelangt. Doch gab es diesmal keine erneute Annäherung, der Riss blieb bestehen. Gerhard orientierte sich auf eine Auswanderung nach Palästina und begann um 1918, seinen Namen in »Gershom« zu hebräisieren. 47 Auch Werner blieb bei seiner Position. In Parlamentsdebatten nannte er den Zionismus eine Variante des bürgerlichen Nationalismus und beklagte polemisch »daß die Nationalisten aller Völker ein Herz und eine Seele sind«. 48 Noch 1930, als Werner längst aus der aktiven Politik ausgeschieden war, nannte er den Bruder scherzhaft einen »Knecht des englischen Imperialismus.« 49 Gershom fand dies »eine mich beleidigende und verdächtigende Bemerkung«, beließ es jedoch auf der ironischen Ebene. 50 Trotz harter Differenzen tauschten sich die Brüder weiter aus. Werner ermunterte Gerhard im Frühjahr 1919 gleich mehrfach, sein Studium doch in Göttingen fortzusetzen, damit sie sich auch persönlich treffen könnten. 51 Dies kam jedoch nicht zustande. Gerhard wählte München als Studienort, lebte später noch kurzzeitig in Berlin und Frankfurt, bevor er 1923 nach Jerusalem auswanderte. 52 Die Brüder unterhielten sich bis auf wenige Besuche nur schriftlich, was die Überwindung von Differenzen nicht einfacher machte. Der Briefkontakt selbst riss bis 1933 nicht ab, wurde jedoch über die Jahre zunehmend spärlicher. Nie wieder sollten sich Gershom und Werner Scholem geistig so nahe stehen wie in den Katastrophenjahren des Weltkrieges. Nicht nur Gerhard, sondern auch der Rest der Scholems zeigte sich distanziert gegenüber den radikalen Strömungen der Revolution. Die Familienmitglieder mischten sich ein, allerdings kaum so, wie es Werner sich wünschte. Über seinen ältesten Bruder schrieb er: »Der gute Reinhold, den ich Gott sei Dank nicht sah, agitiert für die Deutsche Volkspartei, hat sich aber nicht freiwillig gemeldet, als die jeunesse dorée durch Noske bewaffnet wurde.« 53 Reinhold teilte vielleicht die deutschnationale Gesinnung, konnte sich aber 46 Vgl. exemplarisch die Studie von Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971. 47 Vgl. Mirjam Zadoff u. Noam Zadoff, Gerhard Gershom Scholem, in: Barbara Stambolis (Hg.), Jugendbewegt geprägt, a.a.O, S.-641. 48 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. 49 Zuschrift Werners in einem Brief von Betty Scholem an Gerhard Scholem vom 21.-Januar 1930, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-216, Fußnote 3. 50 Ebenda, S.-215. 51 Vgl. Briefe von Werner an Gerhard Scholem, 7. Februar 1919 und 30. März 1919, GSA Jerusalem. 52 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, passim. 53 Werner an Gerhard Scholem, 7. Februar 1919, GSA Jerusalem. Die »jeunesse dorée« ist die »goldene Jugend«, eine Bezeichnung für den genusssüchtigen und leichtlebigen Nachwuchs der Oberklasse, die bereits in der französischen Revolution auf die monarchistischen Gegner der Jakobiner bezogen wurde. <?page no="146"?> 146 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) nicht für die Gewaltpolitik der Freikorps erwärmen. Auch Betty Scholem begrüßte die demokratische Wende, hatte jedoch keinerlei Verständnis für Werners Räterepublik. Wie viele andere auch sah sie darin nur eine unerschöpfliche Quelle der Unruhe: »Wir haben hier ein vollkommenes Chaos, schlimmer kann es kaum werden. Niemand herrscht u. Niemand gehorcht, die Zustände sind furchtbar. Dabei ist es noch zu verwundern, daß der Ordnungssinn der Bevölkerung den Kleinkram des öffentlichen Lebens schützt, so daß es einigermaßen läuft. Ich bin von der Sozialdemokratie aufs tiefste enttäuscht. […] Sie pendelt genau, oder viel schlimmer, als das alte Regime, Herr Müller vom Vollzugsrat hat den Cäsarenwahn sofort bekommen, die kleine Spartakusgruppe droht das Wirtschaftsleben total aufzulösen, womit ja dann Alles zu Ende wäre u. im Kreislauf der Dinge der Diktator erscheinen wird.« 54 Der »Herr Müller« vom Vollzugsrat war jener Richard Müller, der seit 1916 mit seinen revolutionären Obleuten Massenstreiks gegen den Krieg organisiert hatte und nun als Parteigenosse ihres Sohnes kämpfte. Betty Scholem war jedoch trotz aller Skepsis gegenüber solchen Radikalen nicht unpolitisch. Empathisch hatte sie im November 1918 verkündet: »Ich trete der großen demokratischen Partei bei, zu der Theodor Wolff aufgerufen hat. […] Auf meine alten Tage muß ich mich nun um Politik kümmern, denn ich gedenke nicht als Mitläufer zu wählen, sondern werde mir meinen Kandidaten genau ansehen! ! Sonst habe ich über das Frauenwahlrecht meine eigenen Ansichten u. traue ihm einen bestimmenden Einfluß nicht zu. Tante Frieda Bauchwitz aber triumphiert, sie sieht ihre Lebenssehnsucht erfüllt.« 55 Die »große demokratische Partei« war die spätere Deutsche Demokratische Partei (DDP). Das Frauenwahlrecht, zu dem Betty ihre »eigenen Ansichten« hatte war mit der Revolution über Nacht Realität geworden. Jahrzehnte hatten proletarische und bürgerliche Frauenbewegungen dafür gekämpft, aber nichts erreicht. Trotz aller Skepsis zeigen Betty Scholems Briefe, wie 1918 eine Welle der Politisierung alle Schichten erfasste. Das Demokratieverständnis von Bürgertum und dem linkem Flügel der Arbeiterbewegung klaffte jedoch scharf auseinander. Während die einen mit dem Rätesystem auch die Wirtschaft demokratisieren wollen, sahen die Bürgerlichen auch die sanfteste Spielart des Rätesystems noch als gefährliches Chaos. Die Tragik der Novemberrevolution war, dass die Mehrheitssozialdemokraten dieses Urteil teilten. Für die SPD hatten »geordnete Verhältnisse« absolute Priorität. Den Räterepublikanern in USPD und KPD begegnete man mit absolutem Unverständnis, bis hin zur Unterstützung gegenrevolutionärer Gewalt: die Niederschlagung der Märzstreiks 1919 wurde vom sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske befohlen. Doch trotz harter Brüche und Niederlagen war die politische Situation Anfang 1919 offen, und Werner Scholem engagierte sich mit ganzer Kraft für eine Verwirklichung seiner Ideale. All seine Energie und Arbeitskraft flossen in die Politik. Von seiner Frau erwartete er stillschweigend, sie möge dies unterstützen und sich dem Haushalt widmen: »Ich bin natürlich Tag und Nacht unterwegs. Meine Frau ist zu Haus und zeigt bemerkenswerte Hausfrauentalente, ist im Grunde höchst unpolitisch und wünscht, ich solle Strassenfeger werden, aber kein Politiker. In diesen Zeiten ist die Sache auch höchst gefährlich, aber ich sehe nicht ein, warum ich Angst haben soll, nachdem ich 4 Jahre lang um nichts und 54 Betty an Gerhard Scholem, 11. Dezember 1918, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-27. 55 Betty an Gerhard Scholem, 18. November 1918, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-25. <?page no="147"?> 147 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 147 wieder nichts manchmal meinen Kopf habe hinhalten müssen.« 56 Werner verstand nicht, warum sich an der häuslichen Arbeitsteilung etwas ändern sollte. Sein politischer Nachholbedarf hielt ihn davon ab, die eigene Rolle zu hinterfragen. Die Einwände seiner Frau führte er dreist auf »unpolitisches« Bewusstsein zurück, obwohl er Emmy doch gerade wegen ihres politischen Engagements kennen- und liebengelernt hatte. Nur die Hilfe von Emmys Eltern bei der Kindererziehung entschärfte den Konflikt und halfen Emmy, Beruf und Familie zu vereinbaren. Dieses Arrangement geriet jedoch ins Wanken, als Werner zum 1. Juni 1919 als Redakteur an das »Volksblatt« in Halle wechselte. Der Wechsel kam spontan, doch Werner war begeistert von seiner neuen Stelle: »Seit dem 1ten Juni bin ich wohlbestallter Redakteur am Volksblatt für Halle, bekanntlich eines unserer grössten Parteiorgane. Mir war die Stelle telegraphisch angeboten worden, ohne dass ich mich beworben hatte, und ich hatte vorige Woche die Wahl, ob ich Parteisekretär für die Provinz Hannover oder Redakteur in Halle werden wollte. Die Wahl war schwierig für mich. Wäre ich ein Ehrgeiz-Protz, so wäre ich in Hannover geblieben, wo ich bereits bekannt wie ein bunter Hund war und jeden Tag fast im Blatt der Mehrheitsbonzen angemistet wurde. Aber schlieslich [sic] entschied ich mich doch für Halle, denn ich habe keine Lust, Parteisekretär zu werden. Auf das bißchen Bezirksruhm in Hannover pfiff ich gern und mit besonderem Vergnügen legte ich meine ›Würde‹ als Stadtverordneter in Linden nieder! Nebbich! « 57 Werner kannte Halle aus seiner Militärzeit. Hier war er 1916 als Füsilier mit der Genesenden-Kompagnie stationiert gewesen und hatte mehrere Monate hinter den Backsteinmauern des »Roten Ochsen« verbracht. Doch selbst dort hatte ihn die Solidarität der Genossen erreicht - die Maidemonstration 1917 zog am Gefängnis vorbei, regelmäßig wurden ihm Lebensmittel geschickt. Diese Solidarität fußte auf einer langen Tradition. Halle war schon im Kaiserreich eine Hochburg der Sozialdemokratie gewesen, hier hatte sie nach zwölf Jahren Illegalität im Jahre 1890 ihren ersten Parteitag abgehalten und sich den Namen »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« gegeben. Die Stadt war eines der Zentren des mitteldeutschen Industriereviers, zu dem auch Merseburg, Leipzig und das während des Krieges aus dem Boden gestampfte Chemiewerk Leuna gehörten. Neben dem Ruhrgebiet und Berlin war die Region eins von drei industriellen Zentren Deutschlands, Heimat für Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Hier boten sich Werner ganz andere Möglichkeiten als in Hannover. Werner berichtete stolz über die starke lokale Stellung seiner Partei: »In Halle sind wir natürlich erste Geige. Rechtssozialisten gibt es fast garnicht. Der ganze Regierungsbezirk Merseburg, 8 ehemalige Wahlkreise, ist unabhängig und ehrlich revolutionär geworden! « 58 Dies war kein Anfall von Revolutionsoptimismus. In Halle hatte tatsächlich eine Mehrheit der alten SPD den Rücken gekehrt und sich den Unabhängigen zugewandt, während in fast allen anderen Regionen Eberts Sozialdemokratie Mehrheitspartei blieb. 59 Bereits bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 errangen die Unabhängigen im Wahlkreis 56 Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. 57 Werner an Gerhard Scholem, 4. Juni 1919, GSA Jerusalem. 58 Ebenda. 59 Vgl. Hartfrid Krause, USPD - zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt a. M 1975, S.-174f sowie Engelmann/ Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung, S.-102. <?page no="148"?> 148 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Merseburg 44,3% der Stimmen, während die SPD nur 16,3% erhielt. 60 Der Wechsel war für Werner eine echte Gelegenheit, und bei der Entscheidung über den Umzug wurde wenig Rücksicht auf Emmy genommen. Werner schrieb lapidar: »Ich habe eine hübsche Wohnung, natürlich möbliert, in Giebichenstein. Emmy kommt dieser Tage nach; sie trennt sich ungern von Hannover, weil sie das Kind zurücklassen muss.« 61 Dass auch er seine Tochter zurückließ, kam ihm gar nicht in den Sinn. Emmy hingegen machte sich durchaus Gedanken über die Arbeitsteilung. Als die Kindererziehung fürs erste an die Großeltern delegiert war, sah sie erst recht keinen Sinn darin, sich Werners Hausfrauenideal zu fügen. Werner musste nachgeben, war aber um Spott nicht verlegen: »Meine Frau ist rebellisch geworden und will keine Hausarbeiten mehr machen, obwohl sie eine niedliche Hausfrau ist. Sie geht am 1ten September zum Bezirksbergarbeiterrat Halle, eine sehr einflussreiche, mit dem aufsteigenden Rätesystem verwachsene Körperschaft. Wir werden dann übrigens ziemlich viel Geld verdienen, zusammen gegen 100 M, aber das wird auch ausgegeben wie Dreck.« 62 Mit der Arbeit beim Bergarbeiterrat war Emmy nicht nur ökonomisch unabhängig, sondern stand auch wieder im politischen Leben, aus dem Werner sie ohne großes Nachdenken ferngehalten hatte. In Werners Briefen an Gerhard kommen die Konflikte des jungen Paars jedoch nur in Andeutungen ans Licht. Etwas deutlicher wird das Bild in einem Brief von Emmy selbst, den sie Gerhard zu seinem 22. Geburtstag nach München schickte: »Werner ist auf dem Parteitag in Leipzig und wird kaum Zeit finden, dir zu schreiben. Er ist ungeheuer beschäftigt und arbeitet Tag und Nacht. Ich wollte erst nach Hannover zu meiner kleinen Edith fahren, mußte aber doch hier bleiben, um Werners Arbeiten zu erledigen. Mein kl. Mädchen hat sich mächtig rausgemacht, sie spricht alles nach und läuft schon größere Strecken, jeder Baum, jeder Wagen […] ruft ihr Entzücken hervor. Im März hole ich sie nun ganz bestimmt. Ich bin sehr stolz auf meine kl. Tochter! Lieber Gerhard, ich bin leider zu dumm, um meinen Glückwunsch gut formulieren zu können. Ich erwarte von dir und deinem Leben sehr viel. Du bist mir der liebste Mensch von allen, als Mensch habe ich dich lieber als Werner, das hat natürlich nichts damit zu tun, daß Werner mein Mann ist. Du verstehst das doch, nicht wahr? Ich glaube, daß viele Menschen dich sehr gern haben. Und ich wünsche, daß du niemanden enttäuschen möchtest.« 63 Emmy und Gerhard verstanden sich von Anfang an sehr gut. Gerhard hatte ein offenes Ohr für ihre Sorgen und sie vertraute ihm in Momenten, in denen sie sich von Werner unverstanden fühlte. 64 Emmy wollte sich ihrer Tochter widmen, wurde aber von Werner gedrängt, das »praktische« Arrangement mit den Großeltern beizubehalten. So hatte Werner mehr Zeit für Politisches, denn sein hartes Arbeitspensum hatte sich nicht geändert. 60 Valentin Schröder (2011): Zusammenstellung Reichstagswahlen Wahlkreis Merseburg 1918-1933, online unter: http: / / www.wahlen-in-deutschland.de/ wrtwmerseburg.htm (Zugriff 5.8.2011). 61 Werner an Gerhard Scholem, 4. Juni 1919, GSA Jerusalem. 62 Werner an Gerhard Scholem, 6. August 1919, GSA Jerusalem. 63 Emmy Scholem an Gerhard Scholem, 3. Dezember 1919. 64 Gershom Scholem bemerkte später in seinen Erinnerungen schlicht, er hätte »recht gut« mit Emmy gestanden. Ein unabhängiger Briefwechsel der beiden ist für die Jahre 1918/ 1919 und 1934-1968 erhalten. Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-35 sowie Briefwechsel Gershom Scholem - Emmy Scholem, GSA Jerusalem. In einem Brief an Werner Kraft vom April 1919 hob er Emmy, von der er »sehr viel« halte gegenüber dem Bruder hervor, vgl. Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft, Frankfurt a. M. 1986, S.-106. <?page no="149"?> 149 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 149 Er schrieb, seine Zeit sei »mit äusserlichen Dingen so angefüllt, dass ich selbst meine Frau oft genug mehrere Tage nicht sehe.« 65 Ohne Bedenken plante Werner deshalb Emmy zur Erledigung seiner Arbeiten ein. Dem Bruder gegenüber erwähnte er, dass sie Artikel für ihn schrieb, verband dies aber nicht mit besonderer Anerkennung: »Manches ist auch von meiner Frau, die mir etwas hilft, indem sie kleinere Berichte, z.B. heute über eine Frauenversammlung usw. macht.« 66 Die eigenen journalistischen Leistungen dagegen lobte er stets in den höchsten Tönen. Doch Emmy wehrte sich gegen Werners Egoismen. Sie hatte die eigene Berufstätigkeit durchgesetzt und holte später auch ihre Tochter zurück in den Haushalt. Ihr Brief an Gerhard zeigte, wie hart sie sich die Emanzipation erkämpfen musste. Emmy musste nicht nur Werner, sondern auch die eigenen Minderwertigkeitsgefühle überwinden. Obwohl sie in der Arbeiterjugend über Jahre hinweg Weiterbildungen organisiert hatte, hielt sie sich gegenüber den intellektuellen Brüdern Scholem für »zu dumm« um einen Brief zu formulieren. Diese Unsicherheit begrenzte immer wieder das Ausmaß ihrer Rebellion. Neben der Berufstätigkeit war daher die Bildungsarbeit ein wichtiges Anliegen von Emmy. In einem späteren Lebenslauf schrieb sie: »Da ich in Halle einen eigenen Beruf nicht ausüben konnte, habe ich mich während dieser Zeit unentgeltlich in der Sozialfürsorge betätigt. Ich habe außerdem während dieser Zeit Frauen-Schulungs-Abende und Jugend-Kurse abgehalten, und an einem Referenten-Kursus, den der damalige Reichstagsabgeordnete für Halle, Fritz Kunert gab, teilgenommen, ebenso an verschiedenen Arbeitsgemeinschaften. Ich wurde vielfach als Referentin für politische Versammlungen in Halle, Bitterfeld, Merseburg, Weissenfels, Eisleben und vielen anderen Orten angefordert und habe diese Referate auch immer übernommen.« 67 Die Bildungsarbeit mit anderen Frauen war ein Weg, sich aus festgefahrenen Rollenverhältnissen zu lösen. Emmy mischte sich 1919 wieder aktiver in die Politik ein, trat der USPD bei und war im Dezember 1920 sogar Parteitagsdelegierte. 68 Dies war jedoch ihr einziger überregionaler Auftritt, der aufstrebende Politiker blieb Werner. Während Emmy in Halle seine Arbeiten erledigte und den Geburtstagsbrief an Gerhard aufsetzte, besuchte Werner den dritten großen Parteitag der USPD, der vom 30. -November bis zum 6. Dezember 1919 in Leipzig tagte. Auf dem Leipziger Parteitag konnte die USPD eine weit bessere Bilanz ziehen als noch im März in Berlin. Ihre Strukturen waren gestärkt, zahlreiche neue Bezirksvereine hatten sich gegründet, die Partei verfügte über 55 Tageszeitungen - eine davon das »Volksblatt« in Halle, bei dem Werner tätig war. Die Mitgliederzahl hatte sich mehr als verdoppelt und war auf beeindruckende 750.000 angewachsen, das zehnfache der KPD. Die Kommunisten hatten ihren selbst gesteckten Anspruch, als Avantgarde der Arbeiterklasse voranzuschreiten, nicht einlösen können. 69 Die USPD dagegen war nicht nur zahlenmäßig gewachsen, sondern es festigte sich auch die inhaltliche Konsolidierung auf dem Boden des Rätesozialismus. 65 Werner an Gerhard Scholem, 6. August 1919, GSA Jerusalem. 66 Ebenda. 67 Im Originaltext heißt es »Fritz Kundert«, der Abgeordnete hieß jedoch Kunert. Vgl. Emmy Scholem, »Schilderung des Verfolgungsvorgangs« (zu Werner Scholem) vom 7. April 1954, Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDS. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351. Der Hinweis auf einen fehlenden eigenen Beruf deutet an, dass Emmy wohl nur kurz beim Bergarbeiterrat tätig war - die hauptamtlichen Strukturen der Rätebewegung wurden Mitte 1919 allerorten abgewickelt. 68 Auf dem Parteitag in Halle, vgl. Hartfrid Krause (Hg.), Protokolle der USPD, Band 5. S.-208. 69 Vgl. Hartfrid Krause, USPD, S.-150. <?page no="150"?> 150 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Auf dem Leipziger Parteitag konkretisierte die USPD ihre »Programmatische Kundgebung« vom März zu einem umfassenderem »Aktionsprogramm«, das an den Räten als Organisationsform des Sozialismus festhielt. Auch die Forderung nach einer Sozialisierung des Bergbaus, des Bank- und Versicherungswesens, der Energieerzeugung, der städtischen Wohnungswirtschaft sowie der Kohle- und Stahlproduktion wurde einstimmig übernommen. 70 Werners strategische Entscheidung war aufgegangen: die einst bunt zusammengewürfelte Antikriegspartei USPD einigte sich unter einem revolutionärem Programm. 71 Werner Scholem leistete seinen Teil, indem er dem Parteitag die Belange der Jugendbewegung zu Gehör brachte. Aus der im Krieg zerschlagenen oppositionellen Arbeiterjugend war mittlerweile eine »Freie Sozialistische Jugend« entstanden, die der USPD nahestand, aber auch von der KPD umworben wurde. In einem mit »Scholem und Genossen« unterschriebenen Antrag schlug er vor, der Jugendbewegung weitgehende Autonomie zu gestatten. 72 Noch im Sommer hatte Scholem anderes vertreten: Mitglieder der »Freien Sozialistischen Jugend« in Halle beschwerten sich, dass Scholem ihnen das Jugendorgan der USPD aufdrängen wollte und dabei gar gedroht habe, sie »unter Garantie in 14 Tagen an die Wand gedrückt zu haben«. Scholem distanzierte sich später von diesen Ausführungen, zu denen er durch »falsche Informationen gezwungen« worden sei. 73 Vielleicht war diese etwas peinliche Affäre ein Grund, warum er seine Meinung schließlich änderte - auf dem Parteitag plädierte Scholem empathisch für die Unabhängigkeit der Jugendbewegung. Anders als im März wurde sein Antrag nicht übergangen und Werner referierte ausführlich: »Wir legen Wert darauf, in der Jugendorganisation keine Parteijugend zu sein, sondern wir wollen eine revolutionäre proletarische Jugendorganisation sein, in der nicht nach dem Parteiprogramm die 14-, 15- und 16jährigen jugendlichen Arbeiter geteilt werden in U.S.P. und Kommunisten; Jugendliche, die noch nicht das Unterscheidungsvermögen haben zwischen den Parteiprogrammen, zwischen denen noch nicht einmal die Erwachsenden richtig unterscheiden können. Deshalb wollen wir, daß unsere Partei auf dem Parteitag klipp und klar erklärt, daß sie der Jugendorganisation freundschaftlich und sympathisch gegenübersteht, ohne von ihr eine parteitaktische Bindung oder eine parteitaktische Bevormundung zu verlangen. […] Jeder, der mit dem Wesen der Jugendbewegung auch nur entfernt vertraut ist, weiß, daß es nicht anders möglich ist, eine Jugend zu schaffen, die aus sozialistischen Kämpfern besteht.« 74 Scholems Antrag wurde nach kurzer Debatte angenommen. Die USPD verpflichtete sich damit zur Unterstützung der Jugendbewegung insbesondere durch Hilfe bei der Errichtung von Jugendheimen. 75 Der fast 24 Jahre alte Werner Scholem sprach in seinem Redebeitrag von »uns in der Jugendbewe- 70 USPD - Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Leipzig vom 30. November bis 6. Dezember 1919, S.-3ff; in: Hartfrid Krause (Hg.), Protokolle der USPD. 71 Hartfrid Krause spricht von einer »gemeinsamen theoretischen Plattform«, welche die verschiedenen Kräfte der Partei, wenn auch nur für kurze Zeit, vereinte. Vgl. Hartfrid Krause, USPD, S.-153. 72 USPD - Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Leipzig vom 30. November bis 6. Dezember 1919, S.-48. 73 »An die Wand gedrückt«, in: Die Junge Garde, 14. Juni 1919. »Erklärung«, in: Die Junge Garde, 5. Juli 1919. Ich danke dem Kollegen Axel Weipert für den Hinweis auf diese Artikel. 74 Ebenda, S.-450. Scholem optierte damit für eine selbständige Jugendbewegung, wie sie in der alten Sozialdemokratie bis 1908 bestanden hatte. 75 Ebenda, S.- 539. Die Frage der Autonomie der Zeitung wurde ebenfalls positiv aufgenommen und als Entschließung an die Zentralleitung der Partei überwiesen. <?page no="151"?> 151 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 151 gung«. Er betrachtete sich trotz seiner gehobenen Stellung als Redakteur weiterhin als Teil der kämpfenden Jugend. Der Schwerpunkt von Werner Scholems politischer Karriere als unabhängiger Sozialist in den Jahren 1919 und 1920 lag jedoch nicht auf Parteitagen. Seine Redebeiträge waren kurz, wenn er sich überhaupt zu Wort meldete. Es dominierten die alteingesessenen Parteiführer aus der Vorkriegszeit, Scholem wagte allenfalls erste Schritte. Sein eigentliches Milieu war die Tätigkeit als Journalist und Agitator in Hannover und Halle. Hier legte er sich auch mit den »bewährten Führern des Proletariats an«, wenn ihm deren Linie nicht passte. 76 Das fordernde und selbstbewusste Auftreten sicherte ihm Aufmerksamkeit, Parteitagsmandate waren ein erster Vertrauensbeweis in die Fähigkeiten des aufstrebenden jungen Mannes. Sein Brot musste Scholem jedoch in der Lokalredaktion des »Halleschen Volksblattes« verdienen. Er nahm die Tätigkeit als Herausforderung: »Ich bin nun einmal, da ich kein Universalgenie bin, gezwungen, Federfuchser zu sein, und da gibt es nichts besseres für mich als eine grosse Zeitung. Ich bin Provinzredakteur, natürlich die unterste Stufe, aber man kann auch allerlei draus machen.« 77 Wie damals üblich zeichnete Werner seine Artikel nicht namentlich und gab Gerhard daher einen kurzen Abriss über seine Beiträge: »Die Spitzenartikel mit Corpus-Überschrift unter Halle-Saalkreis und Provinz sind zumeist von mir, ausserdem die unsterblichen Stadtverordneten-Stimmungsbilder und endlich alles in diesen Rubriken, was höhnisch über Studenten und Nosketiere geschrieben steht. […] Wenn du das Programm unseres Bildungsausschusses gelesen hast, so denke daran, dass auch Dein Bruder W. Mitglied benannter Körperschaft ist. […] Seitdem ich Gelegenheit habe, wirklichen Einfluss auf das Blatt in meinem Ressort auszuüben, habe ich mich übrigens durchaus bemüht, nicht Lügen zu produzieren und habe, wie Du als aufmerksamer Leser gesehen haben wirst, unsere eigenen Leute nicht geschont, wenn es nötig war. Dem Lokal- oder gar dem Provinzteil einer Zeitung eigene Färbung geben, ist schwer, weil man ja z.T. an manches gebunden ist, das man bringen muss, etwa Bekanntmachungen, usw.« 78 Werner bemühte sich um ein journalistisches Ethos, auch wenn er keine Neutralität anstrebte. Er vertrat einen politischen Standpunkt und wollte für diesen argumentieren. Gerhard bot er an, sich über journalistische Fragen austauschen. Der Bruder war jedoch überhaupt nicht begeistert. In seinem Tagebuch urteilte er über das »Volksblatt«: »Ein ordentlicher Demagogenrummel sehr mäßiger Art, daß man oft denkt: ach, wie viel besser würde ich das den Leuten machen! ! Man sieht es den Leuten an, daß sie nicht schreiben können, und nur deswegen so sinnlos schnell sich abnutzende Worte gebrauchen, um das zu verdecken, wodurch es doch im Gegenteil erst hervortritt.« 79 Gerhard hatte das »Volksblatt« nur mit Widerwillen abonniert, nachdem er seinen Standpunkt aufgegeben hatte, gewisse Zeitungen »aus Prinzip« nicht zu lesen. 80 Die agitierende Sprache, gerichtet an Arbeiterinnen und Arbeiter mit mangelhafter oder fehlender Schulbildung war nicht sein Metier, von Briefpartnern wie Walter Benjamin war er ein anderes Niveau gewöhnt. 76 Werner an Gerhard Scholem, 30. März 1919, GSA Jerusalem. 77 Werner an Gerhard Scholem, 4. Juni 1919, GSA Jerusalem. 78 Werner an Gerhard Scholem, 6. August 1919, GSA Jerusalem. 79 Gershom Scholem, Tagebücher, 2. Halbband S.-476. 80 Ebenda. <?page no="152"?> 152 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Im August 1919 verfasste Gerhard eine mehrseitige Generalabrechnung. Der Text begann mit den Worten »An Werner«, erschien aber wie manch andere harte Worte über den Bruder nur in der Einsamkeit des Tagebuchs. 81 Gerhard nahm die Tätigkeit des Schreibens sehr ernst. Für ihn, den Studenten der Kabbalah, war das Wort etwas Heiliges - nichts flüchtig Hingeworfenes, sondern vergängliche Hülle für den unvergänglichen Logos, den reinen Geist hinter allen materiellen Dingen. In seinem Monolog an den Bruder schrieb Gerhard: »Ich habe deine Zeitung mit dem besten Willen gelesen, das in ihr zu finden, was von einem aufrichtigen, ungemeinen (auch in der moralischen Bedeutung des Nicht- Gemeinen) und zukünftigen reinen Geist zeugen könnte. Ich habe nicht nur in diesen vier Wochen nichts davon gefunden, sondern im Gegenteil, die traurigsten und niederdrückendsten Beweise von Verlogenheit.« 82 Gerhard kritisierte das »innere Sich-selbst- Widersprechen«, dessen »einziges Gesetz es zu sein scheint, grade jeden Moment nicht die Wahrheit, sondern das zu sagen, was Noske oder den Rechtssozialisten schadete«. Er sprach von »Unreinheit« und »erschreckender Gemeinheit« der Sprache, die ihre Leser verderbe und sich in keiner Weise vom »bösesten bürgerlichen Lügenblatt« unterscheide. Diese Schreibweise zeige ihm, »daß von einer Partei, die sich so ausspricht, nichts für den Kommunismus zu erwarten ist«. Gerhard sympathisierte mit dem Kommunismus als Idee, wie er sich einst für den Sozialismus erklärt hatte, für viele Zeitgenossen waren beide Begriffe damals wesensgleich. Gerhard war jedoch völlig entsetzt über die Niederungen von Agitation und Propaganda, in denen konkrete Politik betrieben wurde. Seiner Ansicht nach waren Volksblatt und USPD manipulativ und »jesuitisch im bösen Sinne dieses Wortes«. Gerhard glaubte, die USPD durchschaut zu haben: »All dies verstehe ich jetzt leider nur allzu gut, wenn ich es auch vom Standpunkt des reinen, unantastbaren Kampfes für den Kommunismus nicht verstehe. Meine Hoffnung auf eure Partei war trügerisch. Werdet ihr, was ja leicht möglich ist, einmal die Macht haben, so wird sich die Unreinheit, die Demagogie und all das Schlimme, das ihr ohne Not den Arbeitern, die euch vertrauen, einimpft, […] all dies wird sich dann furchtbar gegen jeden Versuch wenden, Ernst zu machen, denn nichts kann der Gemeinschaft der Menschen verderblicher sein als Demagogie.« Deshalb, so Gerhard pathetisch, werde die Herrschaft von Werners Partei eines Tages in einem »unabwendbaren Meer von Blut« ertrinken. Gerhards bestritt, dass im Kampf für den Kommunismus der Zweck die Mittel heilige. Er verwarf jedes Taktieren, verlangte absolute Reinheit der Anschauungen und die Identität von Taten und Worten. Dies war die »Ganzheit« oder »Unbedingtheit«, über die sich die Brüder bereits in früheren Briefen gestritten hatten. 83 Werner selbst hatte dieses Ideal in seinem Manifest »Zur Unbedingtheit einer Jugend« in wütende Worte gefasst. Gerhard warf ihm nun vor, diesem Ethos abtrünnig geworden zu sein und die eigene Sache verraten zu haben: »In Halle, wo 100.000 Menschen und mehr erzogen werden sollen, liest man euch. Versteht ihr denn nicht, welche Verantwortung ihr habt? « 84 Gerhards Tagebucheintrag, im Grunde ein stummer Brief an den Bruder, schloss mit den Worten: »Ich beschwöre dich: schreibe reinlich oder schreibe gar nicht. Die niedrigste Arbeit ist erhaben gegen- 81 Gershom Scholem, Tagebücher, Eintrag vom 10. August 1919, 2. Halbband S.-507-509. 82 Ebenda, Hervorhebungen im Original. 83 Vgl. Werner an Gerhard Scholem, 3. Juni 1917 und 17. Juni 1917, jew. GSA Jerusalem. 84 Gershom Scholem, Tagebücher, Eintrag vom 10. August 1919, 2. Halbband S.-507-509, Hervorhebung im Original. <?page no="153"?> 153 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 153 über jener des Redakteurs, der mit seinem Worte ohne Gehalt die Sprache der Menschen vernichtet.« 85 Die Heftigkeit von Gerhards Urteil ist in Teilen auf den Zusammenprall der Schreibkulturen zurückzuführen, auf Missverständnisse beim Versuch, mit philosophischem Blick die Kritik im Handgemenge und den Tageskampf der Arbeiterbewegung zu verfolgen. Gerhard respektierte deren Ziele ehrfürchtig, doch gerade wegen dieser Verbundenheit entdeckte er eine problematische Seite in Werners Streben. Neben dem Idealisten Werner Scholem, der sich gegen Krieg, Gewalt und Unterdrückung einsetzte, stand der Politiker Werner Scholem, der Mittel suchte, um seine Ideale zu verwirklichen. Als Journalist galt es zu agitieren anstatt nur zu berichten, taktisch zu denken und zu handeln. Jede Intervention musste pragmatisch erfolgen, gemessen nicht an der Reinheit der Idee, sondern nach dem politischen Effekt. Vom Standpunkt des Philosophen Gershom Scholem, war dies unannehmbar. Die Reinheit war ein absoluter Wert, der nicht korrumpiert werden durfte. Gerhard, der keiner politischen Partei angehörte, musste in seinem Alltag keine Kompromisse machen. Bei Werner sah dies anders aus. Auch er hatte den Anspruch formuliert, »nicht Lügen zu produzieren«. 86 Er nahm seine Rolle als Erzieher ernst, forderte die Selbständigkeit der Jugendbewegung - doch als Journalist musste er sich in Flügelkämpfen verhalten, als Politiker eigene Positionen durchsetzen. Das Dilemma zwischen Zweck und Mitteln war ein zentraler Widerspruch für Werner Scholems politische Karriere und ein Grunddilemma in der Geschichte der Kommunistischen Bewegung. Gerhard hatte in seiner philosophischen Kritik früh auf diese Spannung hingewiesen. Werner jedoch musste sie in der politischen Praxis aushalten. Die Beziehung zwischen den Brüdern blieb prekär, verharrte aber nicht auf jenem Tiefpunkt, den Gerhards Tagebucheintrag vom 10. August anzeigte. Nur einen Monat später besuchte er Werner in Halle, und ein Bericht darüber in Gershoms späteren »Jugenderinnerungen« klingt versöhnlich: »Auf meinem Weg nach Berlin besuchte ich ihn in Halle, wo er Redakteur des lokalen Parteiblatts war. Es war nur natürlich, daß die Diskussion, ob ein Mensch wie er wirklich als Vertreter des Proletariats […] auftreten könne, zwischen uns aufflammte. Ich ging mit ihm in eine Versammlung, wo er sprach, sah mich um und hörte etwas hin. Mein Bruder war demagogisch nicht unbegabt. Bilde dir doch keine Schwachheiten ein, sagte ich zu ihm, sie klatschen nach deiner Rede und werden dich wohl (worauf sein Ehrgeiz ging) bei den nächsten Wahlen auf Empfehlung der Partei zum Abgeordneten wählen, aber hinter deinem Rücken bleibst du, was du bist. ›Der Jude (nicht: der Genosse! ) redet ja ganz schön‹ hörte ich einen der Arbeiter zu seinem Kollegen sagen.« 87 Die vernichtende Kritik an Werners Umgang mit Worten schrumpfte in der Erinnerung zur fast anerkennenden Bemerkung über seine »demagogische« Begabung. Hauptkritik war stattdessen die Tatsache, dass Werner sich gemeinsam mit nichtjüdischen Deutschen politisch organisierte - im Rückblick von Gershom Scholem eine gefährliche Selbsttäuschung. Werner jedoch war gerade »als denkender Jude« Sozialist geworden. Und in der USPD hatte er eine Partei gefunden, die jüdische Mitglieder nicht nur irgendwie tolerierte, sondern ihr politisches Gewicht gegen den Antisemitismus einbrachte. Der Leipziger Parteitag 85 Ebenda. 86 Werner an Gerhard Scholem, 6. August 1919, GSA Jerusalem. 87 Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S.-180. Laut Brief von Werner fand der Besuch Mitte September 1919 statt, Werner an Gerhard Scholem, 15. September 1919, GSA Jerusalem. <?page no="154"?> 154 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) beschloss im Dezember 1919 eine Resolution »Gegen Judenhetze«. Dort hieß es: »Der Parteitag stellt fest, daß der Antisemitismus, die Hetze gegen die Juden als Juden, auch in Deutschland die Waffe der monarchistischen Reaktion geworden ist […]. Der Parteitag fordert das klassenbewußte, revolutionäre Proletariat Deutschlands auf, alle Formen dieser Hetze im Bewußtsein ihres internationalen, reaktionären Charakters auf das entschiedenste zu bekämpfen.« 88 Die Resolution verurteilte alle »Treibereien gegen die eingewanderten jüdischen klassenbewußten Proletarier« und rief in den Betrieben zum Widerstand gegen Antisemitismus auf. Es ist kein Zufall, dass dieser Antrag gerade in den revolutionären Wirren des Jahres 1919 abgefasst wurde. Flugblätter und Hetzschriften der Gegenrevolution richteten sich nicht nur gegen »Spartakisten« oder »Bolschewisten«, sondern schlugen massiv antisemitische Töne an. 89 Mit Berufung auf den Resolutionstext urteilt der Historiker Ludger Heid: »Von allen Linksparteien stellte sich die USPD dem Antisemitismus am konsequentesten entgegen. Mit ihrer Einstellung befand sie sich noch am ehesten in der Tradition sozialdemokratischer Vorstellungen zur ›Judenfrage‹.« 90 Heid hebt zudem hervor, dass mit der Resolution sich erstmals eine deutsche Arbeiterpartei ausdrücklich verpflichtete, die ostjüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter aus Russland und Polen vor Verfolgung zu schützen. Werner Scholem nahm sich diese Resolution zu Herzen. Noch Jahre später, als die USPD längst auseinandergefallen war, verteidigte er im preußischen Landtag die Rechte ostjüdischer Einwanderer. 91 Die Stellungnahme gegen den Antisemitismus wurde von den Delegierten der USPD einstimmig und ohne Gegenrede beschlossen. Dies wird Werner Scholem, falls es dessen überhaupt bedurfte, in seiner Entscheidung vom Dezember 1918 bestätigt haben: dem gemeinsamen Kampf von jüdischen und nichtjüdischen Sozialisten. Werner ließ sich also von Gerhards Kritik nicht aufhalten und vertiefte sein Engagement. Die Entwicklung der Partei in den folgenden Monaten verlief stürmisch. Man intensivierte im Jahr 1920 den Aufbau von Ortsgruppen und Zeitungen, steigerte noch 88 Ebenda, S.-455 u. S.-539. 89 Etwa das vom »Bund der Kaisertreuen« herausgegebene Flugblatt »Deutsche Männer und Frauen«. Dort hieß es: »Oh, du armes, betrogenes deutsches Volk! An deiner Spitze stehen freilich keine Junker mehr, an deiner Spitze stehen jetzt die Bernstein, Cohn, Eisner, Fliedner, Gradnauer, Haase, Haas, Hirsch, Heymann, Herzfeld, Löwengard, Lipinski, Preuß, Rosenfeld, Wurm. Auf 200 Deutsche kommen im Deutschen Reich nur 3 Juden, aber in seiner heutigen Regierung kommen auf 100 Männer schon 80 Juden. […] Und haben die Juden etwa im Kriege das Recht erworben, das deutsche Volk zu regieren? […] Nur wenige standen im Schützengraben. […] Und während draußen die Deutschen bluteten und starben, saßen im Innern die Juden, leiteten das geschäftliche Leben, häuften Schätze auf Schätze, Kriegsgewinne auf Kriegsgewinne und sannen darüber nach, wie sie dem Strafgericht nach dem Kriege entgehen könnten. Und sie fanden die einzige Rettung in der Revolution.« Dokumentiert in: Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin 2011, S.-516f. 90 Ludger Joseph Heid, Juden in der deutschen Arbeiterbewegung vor, während und nach dem großen Krieg, S.-35, in: Angelika Timm (Hg.), Spurensuche - Das Vermächtnis Rosa Luxemburgs für deutsche und israelische Linke, Tel Aviv 2009, S.-17-46. Zur Kontroverse um die »Judenfrage« in Marxismus und Arbeiterbewegung vertrat Edmund Silberner die These eines durchgehenden linken Antisemitismus, Enzo Traverso widersprach ihm mit einer Nachzeichnung marxistischer Debatten zum Thema. Vgl. Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin 1962; ders. Kommunisten zur Judenfrage - zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983; sowie Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843 - 1943), Mainz 1995. 91 Protokolle des Preußischen Landtags, erste Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. Siehe dazu auch das Kapitel »Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag«. <?page no="155"?> 155 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 155 einmal die Mitgliederzahl. Gleichzeitig mussten sich die Unabhängigen veränderten politischen Bedingungen anpassen. Obwohl die Nationalversammlung in Weimar bereits am 31. Juli 1919 eine neue Verfassung für das Deutsche Reich beschlossen hatte, sahen sie den revolutionären Prozess nicht als abgeschlossen an. Denn die von einer Mehrheit aus SPD, DDP und katholischer Zentrumspartei beschlossene Verfassung garantierte Privateigentum und kapitalistische Produktionsweise. Die Märzstreiks von 1919 hatten zwar die Aufnahme von Betriebsräten erreicht, jedoch mit äußerst beschränkten Kompetenzen. 92 Die vom ersten Rätekongress mit überparteilicher Mehrheit geforderte Sozialisierung der Schlüsselindustrien war in eine ergebnislos tagende »Sozialisierungskommission« abgeschoben worden. Betriebsräte und Achtstundentag waren Errungenschaften gemessen an der Lebensrealität des Kaiserreichs. Gemessen an den revolutionären Hoffnungen der Novembertage oder dem alten Erfurter Programm der SPD waren sie jedoch mehr als unzureichend. Nicht nur Radikale wie Werner Scholem, sondern auch der moderate Flügel der Unabhängigen wollte deutlich mehr. Die Kritik der Weimarer Verfassung beschränkte sich also nicht auf »extreme« Ränder, sondern kam aus der Mitte der Arbeiterbewegung und damit aus der Mitte der Gesellschaft. Die USPD konnte mit ihrem Aktionsprogramm bei den ersten Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 ein Ergebnis 17,9% der Stimmen erreichen und erhielt 84 Mandate - nur zwanzig Sitze weniger als die SPD, die 21,9% der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte. Die Unabhängigen konnten darauf hoffen, langsam zur eigentlichen »Mehrheitssozialdemokratie« zu werden. Ihr Erfolg war stark der außerparlamentarischen und revolutionären Mobilisierung geschuldet. Deutlich zeigte sich dies etwa im Kapp-Putsch vom 13. März 1920. 93 Hier marschierten die eigentlichen Antidemokraten - Gegner nicht nur der Weimarer Verfassung, sondern Feinde einer jeden demokratischen Ordnung, ob in Betrieben oder Parlamenten. Geleitet wurde der Putsch von Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp und General Freiherr Walther von Lüttwitz. Unterstützt wurde das Unternehmen durch General Erich Ludendorff, ehemals Mitglied der Obersten Heeresleitung. Im Kapp-Putsch taten sich all jene zusammen, die am Weltkrieg und Massentöten einzig die Tatsache bedauerten, dass Deutschland nicht den Sieg davongetragen hatte. Durch Friedensvertrag und Republik sahen sie sich in ihrer Existenz bedroht: der Versailler Vertrag gestattete dem Deutschen Reich nur ein Heer von 100.000 Mann, während Anfang 1920 noch mehr als doppelt so viele unter Waffen standen. Diese Soldaten waren bisher von Reichsregierung und Alliierten geschätzt und gebraucht wurden - sei es zur Niederschlagung von Streiks und Räterepubliken, sei es zur Bekämpfung der Roten Armee im Baltikum, an der sich bis in den Herbst 1919 deutsche Einheiten beteiligten. 94 Nun waren sie überflüssig und sollten gehen - doch die Truppen wehrten sich und unterstützten Kapp und Lüttwitz beim Versuch, eine Militärdiktatur zu errichten. Wie diese genau aussehen sollte, war unklar. Einige schwärmten noch für die Monarchie, andere 92 Vgl. Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution, a.a.O. 93 Zur Ereignisgeschichte des Putsches vgl. Johannes Erger, Der Kapp-Lüttwitz Putsch, Düsseldorf 1967; James Cavallie, Ludendorff und Kapp in Schweden. Aus dem Leben zweier Verlierer, Frankfurt 1995; Erwin Könnemann u. Hans-Joachim Krusch, Aktionseinheit contra Kapp-Putsch, Berlin (DDR) 1972. 94 Dies geschah auf Aufforderung der Alliierten, doch als die »Baltikumer« außer Kontrolle gerieten, verlangte die Entente deren Rückzug. Vgl. Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917-1933, Berlin 1994, S.-212f. <?page no="156"?> 156 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) hatten nach dem Zusammenbruch der Hohenzollern-Herrschaft bereits eine neue Ideologie gefunden: Die Marinebrigade Ehrhardt, die in Berlin das Regierungsviertel besetzte, trug ein weißes Hakenkreuz auf ihren Stahlhelmen. Es stand für einen neuen, durch die Niederlage von 1918 völkisch radikalisierten Nationalismus: Einzig Blut und Rasse sollten das Deutschtum definieren. Nicht alle Militärs teilten dies, doch Republikaner waren sie ebensowenig. Die am Putsch nicht beteiligten Teile der Reichswehr weigerten sich, auf ihre »Kameraden« zu schießen. Der Republik verbundene Truppen wie die Volksmarinedivision und die republikanische Soldatenwehr waren wegen ihrer revolutionären Gesinnung längst als »unzuverlässig« aufgelöst worden. Die Republik war damit schutzlos, ihre Regierung musste nach Dresden und schließlich nach Stuttgart flüchten. Nur durch einen landesweiten Generalstreik, zu dem Gewerkschaften, SPD, USPD und nach kurzem Zögern auch die KPD aufriefen, konnte der Putsch abgewehrt werden. Mit einer seit dem November 1918 nicht mehr dagewesenen Einheit zeigte die Arbeiterbewegung ihre Kraft und machte klar, dass ohne sie buchstäblich nichts ging. Werner Scholem erlebte die Ereignisse in Halle, wo die Unabhängigen Sozialisten entscheidenden Einfluss auf ein nach Hunderttausenden zählendes Proletariat hatten. Hier verlief die Abwehr des Kapp-Putsches besonders heftig - und Scholem stand in der Mitte des Geschehens. Der Putsch in Berlin begann am 13. März 1920 mit der Vertreibung der Regierung. Außerhalb war die Lage zunächst unklar. In Halle erschien am Montag, dem 15. März noch eine Ausgabe des von Scholem redigierten »Volksblattes« mit einem »flammenden Protest gegen die Militärdiktatur«. 95 Kurz danach wurde die Zeitung unterdrückt und die Redaktion vom Militär gestürmt. Die Stadtverordnetenversammlung stellte sich am selben Tag mit einer gemeinsamen Erklärung aus USPD, SPD und bürgerlichen Demokraten gegen die Putschregierung, die Hallenser Arbeiterschaft trat in den Generalstreik. Am 16. März gelang es den Kappisten, die Redakteure des Volksblattes zu verhaften - auch Scholem wurde gefangengenommen. Doch schon einen Tag später wendete sich das Geschehen: am 17. März 1920 brach infolge des Generalstreiks der Putsch zusammen und Kapp musste ins Ausland fliehen. Durch »das energisches Auftreten« seiner USPD-Genossen vor dem lokalen Oberbefehlshaber konnte nun in Halle die Freilassung Scholems und der anderen Gefangenen erreicht werden. 96 Dennoch beruhigte sich die Lage nicht, sie eskalierte sogar noch. Die lokale Presse wurde weiter unterdrückt, jedoch konnte die Redaktion des Volksblattes »in einer Reihe von Flugblättern die Öffentlichkeit von der Wahrheit unterrichten« - also die Flucht Kapps bekanntmachen. 97 Dennoch blieben die putschenden Truppen weiter in ihren Stellungen, was zu Konflikten mit der Bevölkerung führte. Am 18. und 19. März flammten erste Kämpfe zwischen bewaffneten Arbeitern und Kappisten auf, die sich in den Folgetagen noch steigerten. 98 Die Arbeiter verschanzten sich am Hettstedter Bahnhof 95 Zum Folgenden vgl. den Artikel »Vierzehn Tage ohne Zeitung. Ein Rückblick auf die Märztage in Halle«, Volksblatt Halle, 31. März 1921, nachgedruckt in: Erwin Könnemann u. Gerhard Schulze (Hg.), Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch: Dokumente, München 2002, S.718-724. Der polemische Stil mit Wortschöpfungen wie »Nosketen« legt die Vermutung nahe, dass der Bericht von Werner Scholem selbst stammt. 96 Ebenda, S.-720. 97 Ebenda. 98 Vgl. die eher militärgeschichtliche Studie von Joachim Schunke: Schlacht um Halle - Gewehre in Arbeiterhand, Berlin (DDR) 1956, insbes. S.- 57-76. Zur Regionalgeschichte vgl. auch Könnemann/ Krusch, <?page no="157"?> 157 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 157 im Südwesten der Stadt und wehrten sich erfolgreich gegen eine Vertreibung aus ihrer Stellung, obwohl sie an Waffen und Material deutlich unterlegen waren. Sie wollten die Putschisten aus Halle vertreiben. Es gelang ihnen, in verbissenem Kampf zum Marktplatz vorzudringen und sich dort hinter Barrikaden zu verschanzen. 99 Die Putschisten unternahmen daraufhin eine neue Offensive und scheuten sich nicht, auch in der Innenstadt schwere Artillerie einzusetzen - dennoch hielten ihre Gegner stand. 100 Während der ganzen Zeit ging der Generalstreik weiter, in der Stadt herrschte Ausnahmezustand, Elektrizitäts- und Wasserversorgung lagen infolge der Kämpfe still - »Jung und Alt lief mit Eimern zur Saale, um von dort sich Wasser zu holen« berichtete das »Volksblatt« später. 101 Werner Scholem erlebte diese dramatischen Ereignisse aus nächster Nähe und beteiligte sich persönlich an den Kämpfen. Aus einer im Jahr 1924 geführten Pressepolemik erfahren wir mehr: ein mittlerweile zur SPD zurückgekehrter Kämpfer aus Halle warf ihm Feigheit und Drückebergerei vor. Werner Scholem ließ das nicht stehen und erzwang eine Gegendarstellung im »Vorwärts«: »Es ist unwahr, daß ich mich ›bei irgendeiner kleinen Abwehrabteilung, die unter Führung eines militärunkundigen Genossen stand, herumdrückte und verschwand, als eine etwa 10 Mann starke Reichswehrpatrouille ihre Köpfe über den dortigen Bahndamm hervorsteckte‹. Wahr ist vielmehr, daß ich im Einverständnis mit der den Abwehrkampf in Halle gegen die Weißgardisten führenden Streikleitung die im Norden Halles aufmarschierenden proletarischen Freischaren sammelte und in 24stündigem Kampfe gegen die Schupo und die Reichswehr, welche sich in der Infanteriekaserne in Halle verschanzt hatte, führte. Es kämpften auf proletarischer Seite etwa 5-600 Mann, auf gegnerischer Seite mehr als 1000.« 102 Ob Werner Scholem seine Rolle als Barrikadenkämpfer wahrheitsgetreu schilderte, lässt sich nicht mehr feststellen. Genug militärische Erfahrung zur Leitung einer »proletarischen Freischar« besaß er nach drei Jahren Krieg allemal. Was auch immer seine Rolle war - es kann als sicher gelten, dass Scholem aktiv an den Kämpfen beteiligt war. Im November 1918 hatte er die Revolution nur aus der Ferne erlebt und darüber bitter geklagt. Umso überwältigender muss der Eindruck des Halleschen Aufstand gewesen sein. Hinter den Barrikaden am Hettstedter Bahnhof war die Einheitsfront der Arbeiter verwirklicht: Unabhängige, Kommunisten, SPD-Anhänger und sogar christliche Gewerkschafter standen bewaffnet gegen den Klassenfeind. 103 Dies wies über einen Abwehrkampf zur Verteidigung der Republik hinaus und bestätigte Scholem in seiner Ansicht, dass die Revolution nicht vorbei war. Die Arbeiterschaft schien zum Aufstand bereit, es fehlte nur die Einheit. Doch die »Schlacht um Halle« wurde nicht zum Auftakt einer neuen revolutionären Welle. Trotz Einheitsfront gelang es den Hallenser Arbeitern nicht, die Putschisten vollständig zu besiegen. Die Kämpfe endeten nach vier Tagen heftiger Auseinandersetzungen Aktionseinheit contra Kapp-Putsch, S.-108-118 sowie Werner Raase, Der Kampf um revolutionäre Betriebsräte in den Jahren 1919-1920 - dargestellt vor allem an den Kämpfen im Industriegebiet von Halle Merseburg, Berlin (DDR), 1960. 99 »Vierzehn Tage ohne Zeitung. Ein Rückblick auf die Märztage in Halle«, in: Könnemann/ Schulze, S.-722f. 100 Joachim Schunke, Schlacht um Halle, S.-72. 101 »Vierzehn Tage ohne Zeitung. Ein Rückblick auf die Märztage in Halle«, in: Könnemann/ Schulze, S.-722. 102 »Herr Scholem berichtigt - und eine Antwort darauf«, Vorwärts, 21. August 1924. 103 Ein Zeitzeugenbericht über die fraktionsübergreifende Beteiligung an den Kämpfen findet sich bei Könnemann/ Krusch, Aktionseinheit contra Kapp-Putsch, S.-116. <?page no="158"?> 158 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) am 22. März mit einem Waffenstillstand, am 23. März verließen die proletarischen Kämpfer ihre Stellungen. Danach konnten Gewerkschaftsversammlungen stattfinden und am 26. März wurde der Generalstreik nach 11 Tagen beendet. 104 In anderen Regionen war die Lage weit eher zur Ruhe gekommen. Die Putschisten wurden nicht durch Waffen, sondern durch Streiks gestoppt. Lediglich im Ruhrgebiet bildeten sich ebenfalls Arbeiterwehren. Scholem war über diese Entwicklung mehr als enttäuscht. In einer Parteitagsrede vom Oktober 1920 stellte er die Aktionen in Halle als Beispiel für revolutionäres Handeln dar: »Ich möchte nur feststellen, daß dort, wo die Arbeiterschaft geschlossen war, und dort, wo die Arbeiterschaft hinter einer einheitlichen Führung gestanden hat, es auch während des Kapp-Putsches möglich gewesen ist, eine Aktion durchzuführen, wie es im Interesse des revolutionären Proletariats liegt. Wir nehmen für unseren Haller Bezirk in Anspruch, daß wir so verfahren sind, wie es hätte im ganzen Reich geschehen müssen. Und wenn wir unsere Aktion dann schließlich auch mit einer Art Waffenstillstand haben beenden müssen, blutenden Herzens, so haben wir es tun müssen, weil in andern Teilen des Reiches und weil in der Zentralleitung der U.S.P.D. nicht die genügende Klarheit, nicht die genügende Führung in dieser Aktion vorhanden war, weil wir es nicht allein machen konnten. Aber Genossen, ihr hättet auch in manchen anderen Bezirken dieselbe Macht gehabt wie wir.« 105 In Scholems Augen fehlte es lediglich an Führung und Geschlossenheit, um die Revolution zu vollenden. Tatsächlich war der USPD-Vorstand in Berlin nach einigen Tagen einen Kompromiss mit SPD und Gewerkschaften eingegangen und hatte zum Ende des Generalstreiks aufgerufen. Der Aufruf wurde befolgt, die Streiks eingestellt, revolutionäre Enklaven wie Halle und das Ruhrgebiet waren isoliert. Scholem war nicht der einzige Kritiker dieser Taktik. 106 Die Auseinandersetzungen über den Kapp-Putsch gefährdeten die mühsam erarbeitete programmatische Einigung der USPD. Es wurde klar, das die verschiedenen Strömungen der Partei mit grundsätzlich anderen Positionen in den Generalstreik hineingegangen waren: die einen wollten die Republik vor einem Militärputsch schützen, die anderen das Werk der Novemberrevolution vollenden. Das unmittelbar nach dem Streik vorgebrachte Angebot des Gewerkschaftsführers Carl Legien zur Bildung einer sozialistischen Einheitsregierung aus Gewerkschaften, SPD und USPD vertiefte die Spannungen. Obwohl sie eine Hegemonie der Arbeiterbewegung in der jungen Republik bedeutet hätte, war die Parteilinke gegen eine derartige Koalition. Ernst Däumig als Vertreter der Rätesozialisten lehnte »ein Zusammengehen mit der kompromittierten rechtssozialistischen Partei« kategorisch ab. 107 Die USPD verzichtete auf eine Einheitsregierung, denn auch die gemäßigten Kräfte der Partei waren noch auf starke Distanz zur SPD orientiert. Die folgenden Entwicklungen bestätigten einerseits das Urteil der revolutionären Strömung: obwohl kompromittierte Sozialdemokraten wie Reichswehrminister Noske und der preußische Innenminister Heine zurücktraten, ging die »Politik der Ordnung« weiter. Im 104 »Vierzehn Tage ohne Zeitung. Ein Rückblick auf die Märztage in Halle«, in: Könnemann/ Schulze, S.-724; Joachim Schunke, Schlacht um Halle, S.-76. 105 USPD - Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Halle vom 12. bis 17. Oktober 1920, S.-44; in: Hartfrid Krause, Protokolle der USPD, Glashütten 1975, Band 3. 106 Auch Richard Müller, Leiter der Berliner Betriebsrätezentrale, griff auf dem Haller Parteitag den Parteivorstand heftig an, sein Beitrag lieferte Stichworte für Scholems Kritik. Vgl. USPD - Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Halle vom 12. bis 17. Oktober 1920, S.-33-35. 107 Hartfrid Krause, USPD, S.-171, vgl. auch Engelmann/ Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung, S.-148. <?page no="159"?> 159 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 159 Ruhrgebiet, wo eine zur Abwehr des Putsches gebildete »Rote-Ruhr-Armee« die Macht übernommen hatte, wurden Truppen in Marsch gesetzt. Dieselbe Reichswehr, die noch Tage zuvor geputscht hatte, diente nun der Regierung Ebert zur Niederschlagung revolutionärer Bergleute. 108 General von Seeckt, der mit den Worten »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr« den Schutz der Republik verweigert hatte, wurde wenig später zum Chef der Heeresleitung ernannt. 109 Das wider besseres Wissen fortgesetzte Bündnis aus SPD und Militär bestätigte linke Unabhängige wie Werner Scholem in ihrem Kurs. Es war auch eine wesentliche Ursache für den erdrutschartigen Wahlsieg im Juni 1920, als die USPD auf Kosten der SPD ihren Stimmanteil verdoppelte. Doch das war nicht genug, um die Regierung zu übernehmen, denn die Arbeiterparteien hatten insgesamt verloren. Die Weimarer Republik bekam daher im Sommer 1920 eine bürgerlich-konservative Regierung. Katholische Zentrumspartei, Deutsche Demokratische Partei und die Deutsche Volkspartei, für die Werners »rechtsliberaler« Bruder Reinhold schwärmte, bestimmten nun die Geschicke des Landes. In der Rückschau war das eine entscheidende Niederlage für die politische Linke. Nie wieder sollte in Weimar eine Kraft links von der SPD die Chance auf Regierungsbeteiligung erhalten. Für Werner Scholem und seine Genossen war dies jedoch nicht absehbar - die Wahlergebnisse waren blendend, und die eigentliche Politik wurde sowieso auf der Straße gemacht. Lediglich »genügende Klarheit« und «genügende Führung«, fehlten der Revolution noch. Der Appell zur Führungsstärke aus Werners Parteitagsrede war Konsequenz aus dem vielfachen Scheitern der deutschen Revolution, die sich immer wieder in lokalen Aktionen und Aufständen verfranste, während die Gegenrevolution zentral, entschlossen und brutal handelte. Das Verlangen nach Klarheit im revolutionären Kurs bestimmte auch Scholems Position zur »Kommunistischen Internationale«. Diese von Lenin und den russischen Bolschewiki im März 1919 gegründete Vereinigung erhob den Anspruch, als »Dritte Internationale« die sozialistische Weltrevolution zu vollenden. Die erste Internationale war 1864 noch von Marx und Engels gegründet worden und am Konflikt mit den Anarchisten zerbrochen. Die Zweite Internationale war 1889 als Vereinigung der sozialistischen Parteien entstanden, demonstrativ am 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille. Sie zerbrach im Feuer des August 1914. Die Bolschewiki machten dafür vor allem die Unverbindlichkeit des Ganzen verantwortlich: viele Kongresse, wenig Taten - das war die Zweite Internationale. Statt einer Verbindung autonomer Parteien schlugen sie etwas Neues vor: eine Kommunistische Weltpartei, in der die Parteien der einzelnen Länder nur noch Sektionen sein sollten. Diese internationale Avantgarde würde den Sozialismus aus dem Osten in die Metropolen tragen. Denn eine Revolution in Westeuropa erschien den von Bürgerkrieg, wirtschaftlichem Zusammenbruch und ausländischer Intervention in die Ecke getriebenen Bolschewiki als einziger Weg, die Sowjetmacht zu retten. Die neue Internationale hatte damit von Anfang an eine Doppelfunktion: sie sollte Avantgarde der Weltrevolution sein und gleichzeitig Außenpolitik für Sowjetrussland betreiben. Die Gründungskonferenz fand mit handverlesenen Delegierten statt, geschuldet 108 Zum Verlauf der Ereignisse im Ruhrgebiet vgl. Erhard Lucas: Märzrevolution 1920, drei Bände, Frankfurt a.M. 1973-1978. Ebenso beteiligt an der Niederschlagung waren gegenrevolutionäre Freikorps, Vgl. Hagen Schulze, Freikorps und Republik, Boppard am Rhein, S.-304ff. 109 Engelmann/ Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung, S.-148. <?page no="160"?> 160 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) sowohl dem Chaos des Bürgerkriegs, aber auch der Absicht Lenins, die neue Organisation nur mit zuverlässigen Kräften aufzubauen. 110 Innerhalb der USPD war das Projekt hoch umstritten - auf dem Leipziger Parteitag im Dezember 1919 wurde nach heftiger Debatte eine Kompromissresolution angenommen: Die USPD schlug eine breite Konferenz sozialrevolutionärer Parteien einschließlich der Dritten Internationale vor. 111 Werner Scholem war schon damals gegen diesen Kompromiss, als einer von 54 Delegierten stimmte er für den sofortigen Eintritt in die Moskauer Internationale. 112 Im folgenden Jahr wuchs die Anzahl derjenigen, die mangels anderer Perspektiven alles auf die russische Revolution setzten: mehrere Mitgliederversammlungen sprachen sich für die Moskauer Internationale aus. 113 Die in Leipzig geforderte Konferenz kam im Folgenden nicht zustande - zu tief war der 1914 aufgerissene Graben in der Arbeiterbewegung. Hinzu kamen Interventionen aus Moskau, die eine Verständigung torpedierten. Bereits der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale hatte die USPD in Bausch und Bogen als »Zentrumsströmung« kritisiert, welche »die Einheit der kommunistischen Arbeiter mit den Mördern der kommunistischen Führer, Liebknecht und Rosa Luxemburg« predige. Es wurde gefordert, »die revolutionären Elemente« abzuspalten, was nur durch »schonungslose Kritik und Bloßstellung der Führer des ›Zentrums‹« zu erreichen sei. 114 Obwohl dieses Urteil auf verzerrte Berichterstattung der KPD-Delegation zurückging, wurde es später nicht revidiert, sondern verschärft. Lenin und seine Bolschewiki waren überzeugt, dass die USPD von einer »rechten« Führung dominiert wurde, die um jeden Preis herausgedrängt werden müsse. Anders als Werner Scholem, der die USPD als Ganzes nach links führen wollte, waren die Bolschewiki nicht am Erhalt der Partei interessiert, sie wollten lediglich ihre »besten Elemente« übernehmen. Eine Spaltung - das war die bolschewistische Version von revolutionärer »Klarheit«. Als im Juli 1920 eine vierköpfige USPD-Delegation zum zweiten Weltkongress der Komintern eintraf, wurde sie regelrecht bearbeitet, um einen Keil zwischen die Delegierten zu treiben. Dies gelang jedoch nicht, denn sowohl Linke als auch Gemäßigte waren an der Einheit der Partei interessiert. 115 Gemeinsam versuchten sie, die Aufnahmebedingungen so zu entschärfen, dass die USPD in der Dritten Internationale ihre Autonomie bewahren würde. Sie scheiterten jedoch. Ganze 21 Bedingungen brachte man schließlich aus Moskau nach Berlin, sie forderten eine weitgehende Unterordnung. Es sollten nicht nur vor dem Beitritt alle »Zentristen« ausgeschlossen werden, sondern »periodische Reinigungen« durchgeführt werden, »um die Partei systematisch von kleinbürgerlichen Elementen zu säubern, die sich unweigerlich an sie anschmieren«. 116 Der Historiker Hartfrid Krause fasst zusammen: »Mit der Annahme der 21 Bedingungen war kein Zweifel an der künftigen Gestalt der neuen 110 Vatlin, Die Komintern, S.-26, sowie Hedeler, Die Weltpartei aus Moskau, a.a.O. 111 Hartfrid Krause, USPD, S.-161ff. 112 USPD - Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Leipzig vom 30. November bis 6. Dezember 1919, S.-389, S.-395. 113 Etwa im November 1919 im Bezirk Niederrhein, im Februar 1920 in Essen und Mecklenburg und im Mai 1920 in Gotha vgl. Engelmann/ Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung, S.-127, S.-153f. 114 Ebenda, S.-124f. 115 Hartfrid Krause, USPD, S.-191ff. Auch die italienische Delegation wurde mit Separatgesprächen bearbeitet, vgl. Leonhard, Völker hört die Signale, S.-161-163. 116 Zit. nach Engelmann/ Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung, S.-161f; vgl. auch Hartfrid Krause, USPD, S.-193f . <?page no="161"?> 161 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 161 Dritten Internationale mehr möglich: zentralistischer Aufbau, absolute Unterordnung unter den Willen des EKKI zwischen den Weltkongressen, Disziplinierung der nationalen Parteien, Preisgabe jeder nationalen Selbständigkeit. Den Bolschewiki erschien das als die einzige Möglichkeit, aus den Fehlern der Zweiten Internationale und ihrem Versagen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu lernen und eine Wiederholung der alten Sünden zu verhindern.« 117 Dies vertiefte die Skepsis der gemäßigten Kräfte in der USPD. Die Bedingungen waren für sie unannehmbar, und genau das war ihr Zweck. Die USPD-Linke spielte dieses Spiel mit. Denn der Alternativplan, die Bolschewiki in Kollektivverhandlungen mit anderen europäischen Parteien zu Zugeständnissen zu zwingen, hatte sich erledigt - der USPD fehlten schlicht die Verhandlungspartner. 118 Es war eine »Alles oder Nichts« Situation herbeigeführt worden, die zur Grundsatzentscheidung für oder gegen die russische Revolution wurde. In der sich zuspitzenden Debatte waren daher immer mehr Mitglieder bereit, die 21 Bedingungen anzunehmen. Vorneweg ging Werner Scholem: die Bedingungen brachten genau jene revolutionäre Klarheit, die er im Kapp-Putsch vermisst hatte. 119 Im August und September 1920 wurde in den Ortsgruppen der USPD heftig diskutiert und Werner Scholem agitierte als Referent für die Annahme der 21 Bedingungen. Ein Bericht aus einer Parteiversammlung in Jena am 18. September 1920 ist überliefert, bei der Scholem vor 400 USPD-Genossen eine Resolution für den Anschluss an die Dritte Internationale vortrug. 120 Scholems Entwurf lautete: »Die Mitgliederversammlung der USP in Jena stellt sich auf den Standpunkt, daß die Partei umgebaut werden muß zu einer straff zentralisierten Kampfesorganisation, die fähig ist, in entscheidenden Zeitabschnitten der Revolution die Führung des deutschen Proletariats zu übernehmen. Wer aber das will, kann in den Aufnahmebedingungen der Dritten Internationale keine Hemmung, sondern nur eine Förderung der notwendigen Vereinheitlichung der Partei sehen. Die Jenaer Genossen verpflichteten ihre Delegierten, auf dem Parteitag in diesem Sinne Stellung zu nehmen.« Scholem begründete seine Position mit der Schärfe des Klassenkampfes: »Wenn man auf dem Standpunkt der Rechtssozialisten steht, dann brauchen wir keine straffe zentralistische Kampforganisation. Wir führen aber Krieg, deshalb brauchen wir Armeen, internationale Armeen. Wir müssen kämpfen auf Grund eines Kriegsplans, und das ist das Statut der Dritten Internationale.« Werner Scholem, Antimilitarist, Kriegsgegner und Soldat wider Willen, nahm die Metaphern des Krieges mit in die Politik. Ein Krieg, um alle Kriege zu beenden - das war seine Lehre aus dem Sommer 1914: »Die Zweite Internationale hatte keinen Kampfgeist, das beweist der Weltkrieg. Hätte sie am 4. August 1914 die Kampfesparole gegen den Krieg herausgegeben, wäre er schon im Entstehen kläglich zusammengebrochen.« Trotz revolutionärer Erwartungen mahnte Scholem seine Genossen, sie sollen einen langen Atem haben: »Wir wollen nicht sagen, daß es diesen Winter losgehen wird, der Prozeß kann 117 Hartfrid Krause, USPD, S.-195. Zum Einfluss der Bolschewiki auf die Formation der KPD vgl. auch Ben Fowkes, Communism in Germany under the Weimar Republic, London 1984. 118 Hartfrid Krause, USPD, S.-190f. 119 Auch Hartfrid Krause führt die wachsende Zustimmung zum Beitritt auf die »Eindeutigkeit und Bündigkeit« der Befürworter der Dritten Internationale zurück. Hartfrid Krause, USPD, S.-148f. 120 »Für die Dritte Internationale«, Neue Zeitung für Mittelthüringen, 2. Jg. Nr. 209, 19. September 1920, zitiert nach: Michael Buckmiller (Hg.), Karl Korsch Gesamtausgabe, Band 2 - Rätebewegung und Klassenkampf, Frankfurt a. M. 1980, S.-580-585. <?page no="162"?> 162 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Jahrzehnte dauern.« Gerade deshalb forderte Scholem strengste Geschlossenheit und verteidigte die »Reinigungen« gegen vermeintliche Opportunisten. Am Schluß des Protokolls heißt es »Genosse Scholem […] wirbt nochmals lebhaft für Annahme seiner Resolution und schließt mit dem Endsatz des Internationalen Proletarierliedes.« Scholem überzeugte: von 400 Anwesenden lehnten nur 23 seine Resolution ab. Doch es gab durchaus kritische Stimmen. Ein Genosse Klostermann warnte: »Der Meinungsstreit, sagt Scholem, wird in Zukunft gebannt sein. Wenn das der Fall ist, ist die Partei in Zukunft ein toter Körper.« Klostermann hielt die 21 Bedingungen für fatal: »Ich lehne die Kastrierung der Partei, die Sektenbildung ab.« Unterstützt wurde Scholem von Karl Korsch, einem sozialistischen Philosoph und Juristen, mit dem er in den folgenden Jahren eine enge Freundschaft pflegte. Scholem und Korsch waren sich sicher, daß sich ihre Richtung durchsetzen würde: »Zum Schlusse sagt Genosse Scholem, daß er hofft, daß die radikale Richtung auf dem Parteitag siegen wird. Es würden sich dann nur einige führende Genossen absplittern, von einer Spaltung könne aber keine Rede sein, die Einigung des Proletariats kann dann energisch gefördert werden. Es kann in revolutionären Zeiten kein Hüben und Drüben geben.« 121 Scholems Agitation für die Dritte Internationale markiert einen Positionswandel. Während er sich im Kontext von Jugendbewegung und Rätesystem noch für Autonomie und radikale Demokratie innerhalb der Linken positioniert hatte, so ging er jetzt nach einer Logik von Freund und Feind vor. Ein Parteitag in Halle vom 12. bis 17. Oktober sollte den Streit um die Internationale entscheiden. Kompromissvorschläge gab es dabei nicht mehr, die Delegierten wurden von vornherein in Kampfabstimmungen aus Listen von Befürwortern und Gegnern gewählt - diesem Zweck diente auch Scholems Resolution in Jena. 122 Hartfrid Krause beschreibt das Klima im Vorfeld des Parteitags: »Die einander bekämpfenden Parteirichtungen standen sich wie Feinde aus gegnerischen Klassen gegenüber. Sie zogen alle Register, einschließlich politischer Brandmarkung und persönlicher Verunglimpfung. Pardon wurde nicht gegeben. Viel Staub aus längst vergessenen Schlachten wurde wieder aufgewirbelt. Alte persönliche Fehden brachen von neuem auf. Neue kamen hinzu.« 123 Der Parteitag war für Scholem ein Heimspiel in Halle, Hochburg der USPD-Linken. Es hatte im Vorfeld Kontroversen über den Austragungsort gegeben, wie Scholem in einem Redebeitrag offenbarte: »Es ist ja Verschiedenen im Zentralkomitee sehr unangenehm gewesen, daß der Parteitag in Halle stattfinden sollte. Das ist ohne Zweifel einem Teil des rechten Flügels sehr unangenehm gewesen (Rufe, Heiterkeit), weil sie wußten, wie die Hallesche Arbeiterschaft gesonnen ist.« 124 Scholem griff besonders Wilhelm Dittmann an. Der habe im Vorfeld Erkundigungen eingeholt, »ob der Parteitag in Halle auch ruhig tagen könne. Er habe gehört, die Mansfelder Arbeiter wollten den Parteitag mit Knüppeln auseinanderjagen«. Scholem verbat sich die Annahme, seine Genossen könnten sich derart disziplinlos verhalten. Seine eigentliche Kritik an der Parteiführung betraf jedoch deren Verhalten im Kapp-Putsch, das er als halbherzig und führungsschwach verurteilte. Zur Frage der Internationale äußerte Scholem sich nicht, wohl aber zur gereizten Stimmung 121 Ebenda, S.-581. 122 Hartfrid Krause, USPD, S.-202. 123 Ebenda, S.-204. 124 USPD - Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Halle vom 12. bis 17. Oktober 1920, S.-44; in: Hartfrid Krause (Hg.), Protokolle der USPD, Glashütten 1975, Bd. 3. <?page no="163"?> 163 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 163 in der Partei: »Die beiden Richtungen in der Zentralleitung haben sich bekämpft […]. Deshalb treten wir dafür ein, daß in einer solchen entscheidenden Zeit die Partei nicht zerrissen wird, dadurch, daß in den verantwortlichen zentralen Körperschaften sich zwei Parteien befinden (Sehr richtig! ) Das muß bei zukünftigen Aktionen anders werden. Genossen, wir, die wir aus einem Bezirk kommen, der bisher immer an der Spitze der USPD marschiert ist, der auch in der Frage nahezu geschlossen hinter uns steht, […] wir glauben, wenn auch in den übrigen Teilen des Reiches die Organisation der Partei die Führung des Proletariats übernehmen wird, […] daß es gelingen wird, die Organisation so geschlossen aufrechtzuerhalten, wie es bei uns ist.« 125 Vordergründig erscheint dies als ein Appell gegen die drohende Spaltung, der Subtext war jedoch klar: Scholem verlangte eine Einigung zu den Bedingungen der Hallenser Linken - »wie es bei uns ist« war sein Maßstab. Er schob den Vertretern des »rechten Flügels« alle Verantwortung für die Zerrissenheit der USPD zu. Die Souveränität, mit der er seinen Standpunkt vertrat, gründete sich nicht nur auf die linke Hausmacht in Halle: bereits mit der Delegiertenwahl war klargeworden, dass die 21 Bedingungen eine Mehrheit erhalten würden. Was in Halle geredet und gesprochen wurde, diente somit mehr der Rechtfertigung nach außen als der Verständigung nach innen. Dennoch gab es große Auftritte und Überzeugungsreden: Als Vertreter der Dritten Internationale war der Komintern-Vorsitzende Grigorij Sinowjew persönlich angereist und hielt ein flammendes Referat, gegen die Internationale sprach der Anführer der russischen Menschewiki Julius Martow, der den 125 Ebenda, S.-44f. Parteitag der USPD in Halle, Oktober 1920, Werner Scholem sitzend in der Mitte, vor dem mittleren Baum (Bundesarchiv Berlin, Bild Y 1-49) <?page no="164"?> 164 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Terror der Bolschewiki gegen seine Partei anklagte. 126 Von Sinowjew zeigte sich Scholem stark beeindruckt, der russische Revolutionär sollte später noch eine bedeutende Rolle in seiner Laufbahn spielen. Der Parteitag in Halle hingegen endete, wie es trotz aller Spannung kaum anders zu erwarten war. Nachdem sich eine Mehrheit von 236 Delegierten für die Moskauer Internationale ausgesprochen hatte, erkannte ihnen die Minderheit das Recht ab, für die Partei zu sprechen und verließ den Saal. Ein Ausweichquartier, in dem die Minderheit ihre Tagung fortsetzen konnte, war bereits im Voraus gebucht worden. Die USPD war gespalten. Werner Scholem hatte für die Dritte Internationale gestimmt und blieb im Saal. Er war überzeugt, die eigentliche Mehrheit der Partei zu vertreten. Dies nahm die Gegenseite ebenso für sich in Anspruch. Letztendlich täuschten sich beide. Zwar vereinigten sich nach der Spaltung etwa 300.000 Mitglieder der Linken USPD mit der KPD und hoben diese damit erstmals in den Rang einer Massenpartei - die ursprüngliche KPD hatte im November 1920 nach eigenen Angaben 78.715 Mitglieder. 127 Weil die Gremien der im Dezember 1920 gegründeten »Vereinigten Kommunistischen Partei« (VKPD) paritätisch besetzt wurden, hatte die kleinere KPD dort enormes Übergewicht. Die USPD hatte jedoch zum Parteitag in Halle im Oktober einen Mitgliederstand von 893.923 Mitgliedern bekanntgegeben. Selbst die im Dezember 1920 verkündete optimistische Schätzung von 428.000 Übertritten zur VKPD war deutlich weniger als nach den Delegiertenwahlen vom Oktober zu erwarten gewesen wäre. Die Hoffnung Scholems und der Linken, die Partei fast ungeteilt zu übernehmen, entpuppte sich als Illusion. Doch auch die »Rechten« konnten die verbliebenen Aktiven nicht an sich binden. Stattdessen blieben mehrere Hunderttausend Arbeiterinnen und Arbeiter beiden Strömungen fern. Schätzungen zufolge schied etwa ein Drittel der ursprünglichen Mitglieder, also etwa 300.000 Menschen, frustriert aus der Politik aus. 128 Bei nüchterner Betrachtung der Zahlen war also auch diese zweite Gründung einer Kommunistischen Partei in Deutschland ein Fehlstart. Radikale Linke wie Werner Scholem empfanden die Entwicklung dennoch als Befreiungsschlag: endlich gab es klare Fronten zwischen revolutionärem Kommunismus und reformistischer Sozialdemokratie. Scholem konnte den Schnitt gar nicht früh genug vollziehen. Nur Tage nach der Spaltung agitierte für eine »gründliche Aufräumung« auch in den Gewerkschaften und erreichte tatsächlich, dass die Halleschen Metallarbeiter die Kündigung aller Angestellten der Ortsverwaltung und ihre Ersetzung durch Kommunisten forderten. Der Vorstand des Deutschen Metallarbeiterverbandes war außer sich über den »sowohl an Lebensjahren als auch an Dienstjahren in der Arbeiterbewegung noch sehr jungen Mann« und brandmarkte Scholems Agitation in einer eigens herausgegebenen Broschüre als »wilde Hetze«. Nur mit Hinweisen auf die Geschäftsordnung konnte die Neubesetzung der Ortsverwaltung hinausgeschoben werden. 129 126 Vgl. Wolfgang Leonhard, Völker hört die Signale, S.-171-181. 127 Wolfgang Leonhard bezeichnet die Angaben der KPD zur Mitgliederzahl als »stark übertrieben«, vgl. Leonhard, Völker hört die Signale, S.-182. Bei den Übertritten von der linken USPD zur VKPD schwanken die Angaben zwischen 280.000 und 428.000, vgl. Hartfrid Krause, USPD, S.-218. 128 Alle Zahlenangaben nach Hartfrid Krause, USPD, S.-219. 129 Scholem referierte am 22. Oktober 1920 in einer Parteiversammlung der USPD-Linken zur Gewerkschaftsfrage, am 26. Oktober forderte eine Versammlung des DMV die Neubesetzung, was die Gewerkschaftsleitung wesentlich auf Scholem zurückführte. Vgl. Deutscher Metallarbeiter-Verband, Stellung des <?page no="165"?> 165 3.1 Unabhängiger Sozialismus und mehr - als Agitator in der USPD 165 Die endgültige Scheidung der Arbeiterbewegung in zwei Flügel schlug hohe Wellen nicht nur in den deutschen Gewerkschaften - sie hatte weltweite Folgen. Die USPD war im Sommer 1920 mit einer Unterstützung von fast 4,9 Millionen Wählern und Wählerinnen die größte sozialistische Kraft auf dem zweiten Weltkongress der Dritten Internationale gewesen. 130 Ihre Spaltung rettete die Dritte Internationale vor der Bedeutungslosigkeit und bestätigte Lenins Kurs: auf dem Kongress von Tours spalteten sich im Dezember 1920 die Französischen Sozialisten, die italienische Arbeiterbewegung zerfiel im Januar 1921 in einen Kommunistischen und sozialdemokratischen Flügel. 131 Rund um die Welt wurden nun kommunistische Parteien gegründet, die Ausstrahlung der russischen Revolution erstreckte sich bis nach Lateinamerika und China, drang in Gebiete vor, wo die alte Internationale kaum Anhänger besessen hatte. Die Arbeiterbewegung erlebte einen neuen Globalisierungsschub. Gleichzeitig verfestigte sich die aus Weltkrieg und Revolution geborene Spaltung in Kommunismus und Sozialdemokratie zu einer Trennlinie, die das gesamte 20. Jahrhundert durchziehen sollte. Die internationale Solidarität war für Werner Scholem das Rückgrat der sozialistischen Idee. Es war das Versagen des Internationalismus 1914, das ihn an der Bewegung hatte zweifeln lassen, und es war sein Wiederaufflammen in der revolutionären Welle von 1917, das Scholem endgültig vom Zionismus zum Sozialismus führte. Im Namen des Internationalismus vollzog Scholem nun 1920 seine Wendung zum revolutionären Zentralismus. Schon in seinen Kriegsbriefen hatte er hin und wieder Avantgarde-Phantasien geäußert, sie verbanden sich jedoch stets mit der Rebellion des Individuums - am kohärentesten formuliert in seinem Manifest »Zur Unbedingtheit einer Jugend«. Doch mit der Revolution als Vorzeichen und Lenin als Leitstern waren Disziplin und Gehorsam nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Werners Wendung zum Leninismus beruhte auf Erlebnissen, die Kollektiverfahrung einer ganzen Generation von Aktiven waren. Bereits 1914 hatte er mit Unwohlsein eine gewisse Erstarrung bemerkt, die Arbeiterbewegung erschien ihm als »trüber See«. 132 Die trübe Trägheit der alten Organisationen machte Werner dann ab 1918 für das Scheitern der Revolution verantwortlich. Die Barrikadenkämpfe in Halle bestätigten ihm dies auf tragisch-grandiose Weise: ein revolutionärer Aufbruch, erstickt und verspielt vom Vorstand seiner eigenen Partei. Dass außerhalb des roten Halle vielleicht auch an der Basis Erschöpfung vorherrschte, sah Werner nicht. Er, der stets mit Luxemburg und Liebknecht sympathisiert hatte, brach enttäuscht mit seiner Überzeugungsarbeit innerhalb der USPD. Scholem wollte einen Schnitt, einen revolutionären Neuanfang. Deshalb entschieden sich Werner und auch Emmy für die vereinigte KPD. Auf dem Vereinigungsparteitag am 4. Dezember 1920 in Berlin waren beide als Delegierte der USPD- Linken vertreten. 133 Einstimmig wurde dort ein »Manifest an das deutsche und internati- Vorstandes I. zu den Vorgängen in der Verwaltungsstelle Halle, II. zur Metallarbeiter Reichskonferenz am 28. Februar 1921 in Berlin, Broschüre, Berlin 1921. Danke an den Kollegen Reiner Tosstorff für den Hinweis auf diese Broschüre. 130 Leonhard, Völker hört die Signale, S.-171. 131 Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1965, S.-99. 132 Brief Gerhard an Werner Scholem vom 7. September 1914 sowie Antwort vom 8. September 1914, in: Gershom Scholem, Briefe I, S.-5, S.-8. 133 Bericht über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitages der USPD (Linke) und der KPD (Spartakusbund), abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, S.-274, in: Hartfrid Krause, Protokolle der <?page no="166"?> 166 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) onale Proletariat beschlossen«, das die revolutionäre Aktion forderte: »Nur dank der Trennung von den rechten Unabhängigen ist die Vereinigte Kommunistische Partei entstanden, die kein Diskutierklub, sondern die Partei der revolutionären Tat sein will, nach der die Zeit schreit.« 134 Ohne Diskussion angenommen wurde auch ein Organisationsstatut, das mit der föderalistischen Struktur der USPD brach. 135 Neben der Klarheit des Gedankens schien damit auch die Einheit der Führung verwirklicht. Die deutsche Arbeiterbewegung steuerte damit in eine neue Phase. Die Revolution war vorbei, auch wenn Radikale wie Scholem dies nicht wahrhaben wollten. Die Räte verschwanden und die politischen Parteien im neuen Gegensatzpaar KPD vs. SPD übernahmen die Führung des Geschehens. Zwar existierte die rechte USPD noch eine Zeitlang, vereinigte sich jedoch 1922 mit den Mehrheitssozialdemokraten. Die innerparteilichen Entwicklungen beider Parteien, ihre Stärke und ihr Verhältnis zueinander sowie ihr Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung waren nun die Koordinaten, welche das Schicksal der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik bestimmten. Und die Arbeiterbewegung war entscheidend für die Geschicke der Republik als Ganzes. Werner, der schon bald an die Spitze der KPD vorrückte, erhielt seine Gelegenheit, Geschichte zu machen. 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« »Im Dezember 1920 siedelten wir nach Berlin über, wo mein Mann als Redakteur und Journalist tätig war und ich als Sekretärin und Stenographin.« 136 Mit diesen schlichten Worten beschrieb Emmy Scholem den Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Die Vereinigung von KPD und USPD brachte eine Neuordnung der Parteipresse, bei der sich die Spaltung folgenreich bemerkbar machte. Nur 19 von 55 Tageszeitungen der alten Partei konnten die Linken nach harten, teilweise vor Gericht geführten Auseinandersetzungen in die KPD übernehmen. 137 Die Zeitungskrise schwächte beide Seiten und forderte mitunter absurde Anstrengungen: Um in der Fläche Mitglieder zu halten, wurden von der USPD- Linken ganze Lokalzeitungen aus dem Boden gestampft und nach wenigen Monaten wieder aufgegeben. Für Werner Scholem wurde jedoch die Krise zur Gelegenheit: Kurz nach dem Vereinigungsparteitag verließ er das »Volksblatt« in Halle und wechselte nach Berlin zur »Roten Fahne« - dem Zentralorgan der vereinigten KPD. Dort war er ab dem 1. Januar 1921 als Redakteur angestellt. 138 In Halle wäre Scholem beinahe mit öffentlicher Ehrung verabschiedet worden. In einem Artikelentwurf zu seinem Abgang hieß es: »Der Weggang dieses rührigen Genossen wird von allen ehrlichen Klassenkämpfern, die mit ihm in Berührung gekommen sind, USPD, Band 3, Glashütten im Taunus 1975. 134 Ebenda, S.-227. 135 Vgl. dazu Hartfrid Krause, USPD, S.-222 sowie Wolfgang Leonhard, Völker hört die Signale, S.-181. 136 Emmy Scholem, »Schilderung des Verfolgungsvorgangs« vom 7. April 1954, Entschädigungsakte Emmy Scholem, HStA. Niedersachsen, NDS. 110 W Acc. 14/ 99 Nr. 107351. 137 Hartfrid Krause, USPD, S.-216f. 138 Zum Datum vgl. Bureau des dt. Reichstags (Hg.), Reichstagshandbuch II. Wahlperiode 1924, Berlin 1924, S.-516. <?page no="167"?> 167 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 167 sehr bedauert werden, ist es doch nicht zu leugnen, dass Genosse Scholem durch seine ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten und seine unermüdliche Arbeitskraft dem Bezirk ausserordentlich wertvolle Dienste geleistet hat. Dagegen werden sich die geschworenen Feinde unseres Kollegen, die Opportunisten aller Schattierungen, gratulieren, dass sie diesen hartnäckigen Gegner nun endlich los werden.« 139 Die lobenden Worte wurden jedoch nie gedruckt, sondern sind nur in einer geheimen Moskauer Personalakte überliefert. Den Grund dafür erläutert ein Kommentar ebendort: »Obige Notiz hat Genosse Scholem selbst geschrieben und versucht, dieselbe in den Halleschen ›Klassenkampf‹ bei seinem Weggang von Halle hineinzulangsieren [sic]. Die Veröffentlichung dieser Notiz konnte aber, da sie unzweifelhaft eine grosse Blamage dargestellt hätte, noch in letzter Minute von dem verantwortlichen Hallenser Genossen verhindert werden.« 140 Werner mangelte es nicht an Selbstbewusstsein. Das war im Allgemeinen von Vorteil, zumal das peinliche Eigenlob in diesem Fall nicht ans Licht kam. Für den Nachwuchsjournalisten war Berlin ein Karrieresprung. In nur zwei Jahren hatte er es vom Hannoveraner Lokalteil zum Hauptstadtredakteur geschafft. Er stand in der direkten Tradition seiner Vorbilder Liebknecht und Luxemburg, die im Titel jeder Ausgabe als Gründer der »Roten Fahne« geehrt wurden. Auch finanziell zahlte sich die neue Stellung aus. Werner verdiente 1500 Reichsmark im Monat, hinzu kam das Gehalt von Emmy. 141 Beide waren damit nicht reich, denn die Gehälter der Parteiangestellten orientierten sich am Einkommen eines Facharbeiters. Allerdings hatten Facharbeiterfamilien in der Regel mehr als ein Kind zu versorgen und bezogen selten zwei Gehälter. Werner hatte sich also trotz des Bruchs mit dem Vater eine komfortable Existenz aufgebaut, wozu auch eine eigene Wohnung gehörte. Er und Emmy zogen in die Waldenserstraße 15 nach Berlin-Moabit. Das Haus war 1905 im Stil der Gründerzeit errichtet worden. Es steht noch heute, ein klassischer Berliner Altbau - als die Scholems einzogen, war das Gebäude jedoch keine 20 Jahre alt. Werner und Emmy lebten zwar nicht hinter der eleganten Stuckfassade an der Straßenfront, sondern etwas einfacher im Quergebäude. 142 Ein entscheidendes Privileg konnten sich die beiden jedoch leisten: ein Dienstmädchen. 143 Für Werner war das ein gewohnter Standard, über den er wohl kaum besonders nachdachte. Für Emmy hingegen war das Dienstmädchen Inbegriff des sozialen Aufstiegs. Als uneheliche Tochter einer Haushaltshilfe geboren, war sie nun selbst »Dame des Hauses«, und sei es auch nur in einer Mietwohnung. Der Hintergrund des Arrangements war jedoch nicht Statusbewusstsein, sondern Pragmatismus: es war für Emmy die einzige Möglichkeit, als Mutter berufstätig und politisch aktiv zu bleiben. Denn der Vollzeitrevolutionär Werner war für Trivialitäten wie Hausarbeit kaum zu begeistern. Und staatlich finanzierte 139 Lichnoe delo Sholem, Emma [Personalakte Emmy Scholem], RGASPI Moskau, Komintern, F. 495, op. 205, d. 9797. Der Bericht ist in Emmys Personalakte archiviert, die als Kongressstenotypistin im März 1921 kurzfristig bei der Komintern angestellt war. Zu Werner Scholem existiert in Moskau keine eigene Personalakte. 140 Ebenda. 141 Die Angabe entstammt einem Brief des Polizeipräsidenten Berlin vom 15. Oktober 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Bd. 1. 142 Die Adresse findet sich in: Drucksachen des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, Band 1, Verzeichnis der Abgeordneten. 143 Es wird erwähnt in: Werner Scholem an den Untersuchungsrichter des Reichsgerichts Leipzig am 30. November 1921, in: Strafsache gegen Scholem, BArch, R 3003, 6J 283/ 21, Bd. 3. <?page no="168"?> 168 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Kindertagesstätten waren eine Idee, die 1920 nur in den utopischeren Passagen von August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« vorkam. Mit der Rückendeckung von Ehefrau und Haushaltshilfe mischte sich Werner Scholem nicht nur journalistisch, sondern auch politisch ins Parteileben der KPD ein. Er stieg schnell auf: als am 19. Februar 1921 der Preußische Landtag neu gewählt wurde, erhielt Scholem per Listenplatz ein Mandat und war nun »MdL« - Mitglied des Landtages. 144 Seine Stellung in der Roten Fahne behielt er. Die Kombination von Journalismus und Abgeordnetenstatus hatte für die Partei besondere Vorteile, die später noch erläutert werden sollen. Während Scholems Landtagsreden ausgezeichnet dokumentiert sind, ist seine Tätigkeit bei der »Roten Fahne« schwer nachzuzeichnen. Das Protokoll einer Politbürositzung der KPD gibt an, das Scholem Ende 1922 für das Abendblatt der Roten Fahne zuständig war. Nach dessen Einstellung übernahm er die Berichterstattung über den preußischen Landtag - es ist anzunehmen, dass die entsprechenden Artikel ab 1923 von Scholem stammen. 145 Genau wissen wir es jedoch nicht. Wie bei anderen Arbeiterzeitungen auch wurden Artikel in der »Roten Fahne« nicht mit Namen gekennzeichnet, nur in Einzelfällen finden sich namentliche Kommentare und Interventionen - jedoch meist von der Parteiprominenz oder in Konfliktsituationen. 146 Beides traf für Scholem nicht zu. Prominent wurde er erst später, auch die Konflikte lagen noch vor ihm. Stattdessen tauchte er an anderer Stelle namentlich auf: in einer kleinen Notiz neben dem Inseratenteil wurde Scholem als presserechtlich Verantwortlicher genannt. Offiziell war er damit Chefredakteur der »Roten Fahne«, auch im Verzeichnis der Abgeordneten des Preußischen Landtages war sein Beruf als »Schriftleiter« angegeben. 147 Die KPD hatte allerdings ein instrumentelles Verhältnis zum Presserecht. Dass der 25 Jahre junge Nachwuchsredakteur Scholem nicht wirklich die Redaktion leitete, wurde jedoch erst im Frühjahr 1921 sichtbar, als die junge KPD in eine der größten Krisen seit ihrer Gründung geriet. Diese Krise war alles andere als absehbar. Denn die Fusion mit der USPD hatte der immer am Rande der Legalität um ihre Existenz kämpfenden Partei erstmals eine gewisse Stabilität verliehen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der KPD zeigt, welche Bedeutung diese Konsolidierung hatte: Schon bei ihrer Gründung Anfang 1919 hatte sie das Ziel einer Massenpartei verfehlt. Wenige Wochen später stürzte die Ermordung ihrer Führungsfiguren Luxemburg, Liebknecht und Leo Jogiches die KPD in eine ernste Existenzkrise, fast das ganze Jahr 1919 hindurch konnte sie nur illegal operieren. 148 Als ob dies nicht gereicht hätte, kam es bald darauf zu einer Spaltung: schon auf dem Gründungsparteitag sichtbare Spannungen mit syndikalistisch-linksradikalen Strömungen brachen neu auf, was den Par- 144 Drucksachen des Preußischen Landtages,1. Wahlperiode 1921-1924, Band 1, Verzeichnis der Abgeordneten; sowie: Büro des Preußischen Landtages (Hg.), Handbuch für den Preußischen Landtag 1921. 145 Im Beschluss hieß es zudem vage, Scholem solle diese Aufgabe »zunächst« übernehmen. Sitzung des Polbüros 22. Dezember 1922, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2. 146 Namentlich zeichneten auch die Autoren der von der Komintern herausgegebenen »Internationalen Presse-Korrespondenz« für die Scholem 1922 einige Artikel beisteuerte. Eine Aufstellung dieser und anderer Artikel Scholems findet sich im Anhang. 147 Drucksachen des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, Band 1, Verzeichnis der Abgeordneten; sowie: Büro des Preußischen Landtages (Hg.), Handbuch für den Preußischen Landtag 1921. 148 Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948, S.58. Zur Frühzeit der KPD vgl. auch Werner T. Angress, Die Kampfzeit der KPD 1921-1923, Düsseldorf 1973. <?page no="169"?> 169 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 169 teivorsitzenden Paul Levi zu einer Radikalkur veranlasste. Die Syndikalisten wurden auf dem Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 aus der Partei gedrängt und formierten sich als »Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands« (KAPD) neu. Obwohl Levi autoritär vorging, brachte die Spaltung der Partei zunächst einen Aufschwung, es fand eine Orientierung auf die Mehrheit der Arbeiterschaft statt. Levi veranlasste dazu einen »offenem Brief« an die Führung von USPD, SPD und Gewerkschaften. Seine Forderungen nach Anpassung der Löhne an die Inflation, Aufnahme von Beziehungen zu Sowjetrussland und Produktionskontrolle durch die Betriebsräte erregten große Aufmerksamkeit und sicherten der KPD die Initiative. Diese »Einheitsfrontpolitik« war jedoch umstritten. Sie erschien vielen Parteigenossen als Kompromissangebot, als Rückwärtsbewegung zur Sozialdemokratie. 149 Die Debatte um Einheitsfrontpolitik oder Revolution war ein Grunddilemma der Weimarer KPD, sie bestimmte auch Werner Scholems politischen Werdegang. 150 Als Anfang 1921 die Einheitsfront in eine Krise geriet, positionierte Scholem sich jedoch nicht erkennbar. Die KPD hingegen wurde wieder einmal durchgeschüttelt. Nach Differenzen mit der Komintern traten Levi und sein Mitvorsitzender Ernst Däumig im Februar 1921 ab. 151 Nun kam unter Heinrich Brandler eine neue Führung an die Macht, die Levis Kurs für »opportunistisch« hielt. Sie verlangte ein revolutionäres Vorgehen und wurde aus Moskau unterstützt. Eine Gelegenheit, ihre Stärke zu zeigen sah die neue Führung schließlich einen Monat später im Mitteldeutschen Industrierevier um Halle-Merseburg, Werner Scholems altem Wirkungskreis. Hier, wo schon die USPD stärkste Kraft im proletarischen Lager gewesen war, hatte nun die Vereinigte KPD die Führung übernommen. Bei den preußischen Landtagswahlen 1921 erreichte sie mit 197.113 Stimmen fast dreißig Prozent und wurde stärkste Partei, während die SPD nur 70.340 Wählerinnen und Wähler überzeugen konnte. 152 Die Wahlen waren jedoch nur ein Indikator für die Radikalisierung der Region. Auch die KAPD, welche den Parlamentarismus kategorisch ablehnte, war sehr aktiv. Noch wichtiger war die alltägliche Radikalität im Betrieb, die sich in wilden Streiks und Arbeitsverweigerung äußerte. In einer Erklärung von Otto Hörsing, Sozialdemokrat und Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen, 153 las sich das so: »Wilde Streiks, Raub und Plünderungen werden von Banden und Einzeldiebstählen, Terror und Sachbeschädigungen, Erpressungen und Körperverletzungen in der letzten Zeit abgelöst […] kleine Anlässe werden benutzt, um gegen den Willen der Gewerkschaften mehrere Tage mit vielen Tausenden Arbeitern die Arbeit einzustellen. Demonstrationen ohne Ziel und Zweck werden veranstaltet und schließlich erpressen bewaffnete Banden unter Führung einzelner verantwortungsloser Menschen vom Unternehmer die Zusage der Lohnzahlung für die Zeit der Nichtarbeit.« 154 Arbeiterwiderstand, der nicht in den gewerkschaftlichen Formen verlief, sondern den Alltag kapitalistischer Betriebsabläufe infrage stellte, war für Hörsing gleichbedeutend mit 149 Zur Einheitsfrontdebatte 1920/ 21 vgl. Klaus Kinner, Der deutsche Kommunismus, S.-42-50 sowie Ben Fowkes, Communism in Germany under the Weimar Republic, London 1984, passim. 150 Flechtheim nannte dieses Dilemma die »revolutionäre Quadratur des reformistischen Zirkels«, Ders., Die KPD in der Weimarer Republik, S.-85. 151 Zum Abtritt Levis vgl. Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde, S.-104-113. 152 Stefan Weber, Ein Kommunistischer Putsch? Märzaktion 1921 in Mitteldeutschland, Berlin 1991, S.-27. 153 Die preußische Provinz Sachsen entsprach etwa dem heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt, zuzüglich Nordthüringen, Teilen des westlichen Brandenburgs und Nordwestsachsen, Hauptstadt war Magdeburg. 154 Zitiert nach Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde, S.-141. <?page no="170"?> 170 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Terror und Kriminalität, er klagte gar über »an Wahnsinn grenzende Taten«. Hörsings Verteidigung des Eigentums und seine Anrufung der Gewerkschaften als Ordnungsfaktor stehen beispielhaft für das Unverständnis, mit dem die Sozialdemokratie den in Krieg und Revolution radikalisierten Teilen der Arbeiterschaft gegenüberstand. 155 Vor dem Krieg selbst eine revolutionäre Kraft stand sie nun auf der anderen Seite, war Teil des Staates geworden. Auch Hörsings Vorgesetzter, der preußische Innenminister Carl Severing, war Sozialdemokrat. Die Partei sah sich als Ordnungsmacht, nur innerhalb stabiler Institutionen könnten die von ihr angestrebten demokratischen und sozialen Reformen verwirklicht werden. Hörsing kündigte daher am 16. März 1921 die Besetzung der Region mit starken Polizeiverbänden an. 156 Der Vorstoß wurde von vielen Arbeitern als Provokation verstanden. Die KPD-Zentrale hoffte nun, durch gezielte Eskalation eine neue revolutionäre Dynamik auszulösen. 157 Die »Rote Fahne« begann sofort mit einer Pressekampagne. Die explosive Mischung aus einer radikalisierten lokalen Arbeiterschaft, einer ungeduldigen KPD-Führung und einer Polizeiprovokation erzeugte das, was später unter dem Namen »Märzaktion« in die Geschichte einging: Ein von KPD und KAPD geführter regionaler Arbeiteraufstand ungeahnter Heftigkeit, der als Generalstreik begann und ab dem 23. März für mehrere Tage Züge eines lokalen Bürgerkriegs annahm. 158 Der revolutionäre Schub, den sich die KPD erhofft hatte, blieb jedoch aus. Der Aufstand war regional isoliert, kaum Unorganisierte und keine SPD-Arbeiter schlossen sich an. Der von der KPD ausgegebene Aufruf zum landesweiten Solidaritätsstreik fruchtete nicht, die Kommunisten verließen in Berlin und anderswo als Minderheit die Betriebe. 159 Der Aufstand wurde schließlich vom Militär niedergeschlagen. Für die KPD war das ganze ein Desaster. Die »Märzaktion« hatte zahlreiche Tote gefordert und die Kommunisten politisch isoliert. Der ganze Schwung der Vereinigung war zunichte gemacht, die Existenz der Partei stand erneut infrage. Denn die militärische Niederlage war erst der Beginn einer groß angelegten Repressionswelle. Da die reguläre Justiz mit den Verfahren überfordert war, wurden von Reichspräsident Friedrich Ebert durch eine Notverordnung nach § 48 der Weimarer Verfassung 155 Das Beispiel der Region Halle, insbesondere der Leuna-Werke, diente Karl Heinz Roth als Beleg seiner These einer »anderen Arbeiterbewegung«, deren militante Kampfformen in Widerspruch zur durch Facharbeiter dominierten »professionalistischen« Arbeiterbewegung standen. In der Tat zeigte sich im mitteldeutschen Aufstand 1921 wie schon in den Massenstreiks 1916 und der Novemberrevolution 1918 eine enorme Diskrepanz zwischen den Arbeiterorganisationen und ihrer Basis. Vgl. Karl Heinz Roth, Die »andere« Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart, München 1974, insbes. S.-51ff. 156 Zur Rolle von Polizei und Staatsapparat vgl. Christian Knatz, »Ein Heer im grünen Rock«? Der mitteldeutsche Aufstand 1921, die preußische Schutzpolizei und die Frage der inneren Sicherheit in der Weimarer Republik, Berlin 2000. 157 Von KPD, Komintern und später der DDR-Geschichtswissenschaft wurde die Existenz von Aufstandsplanungen geleugnet, gilt aber mittlerweile als erwiesen. Vgl. Koch-Baumgarten, S.-104-127, sowie S.-127ff sowie Weber, Kommunistischer Putsch, S.-63-82. Vgl. auch Arnold Reisberg, An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit der deutschen Arbeiterklasse in den Jahren 1921 und 1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe Lenins und der Komintern für die KPD, Berlin (DDR) 1971. 158 Zum Beginn und Verlauf der Kämpfe vgl. Weber, Kommunistischer Putsch, S.-97-138; Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde, S.-171ff. 159 Weber, Kommunistischer Putsch, S.-120. <?page no="171"?> 171 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 171 insgesamt 25 politische Sondergerichte zur Aburteilung der Aufständischen eingesetzt. 160 Allein in Berlin gab es drei »außerordentliche Gerichte«. 161 Gegen die Urteile der Sondergerichte war keine Revision zulässig, die verhängten Strafen wurden im Schnellverfahren beschlossen. Der Rechtshistoriker Jürgen Christoph nennt dies eine »auf dem Ausnahmerecht beruhende Außerkraftsetzung elementarer rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien.« 162 Zahlreiche Skandale kamen hinzu - etwa die Verurteilung einer Kommunistin wegen »räuberischer Erpressung«, weil sie bei der Versorgung von Verwundeten eine Schürze an sich genommen hatte. Bis Juni 1921 wurden für 842 Angeklagte insgesamt 1253 Jahre Zuchthaus- und 654 Jahre Gefängnisstrafe verhängt. 163 Als presserechtlich Verantwortlicher der »Roten Fahne« geriet auch Werner Scholem ins Fadenkreuz der Justiz, denn das Zentralorgan der KPD hatte Aufrufe zu Generalstreik und Gegenwehr verbreitet. Entsprechend der Offensivstrategie der Partei wurden die Ereignisse hochgekocht, allerdings war die »Rote Fahne« streng darauf bedacht, nicht offen zu Gewalt oder Umsturz aufzurufen. Stets wurde von »Abwehraktionen« und »Selbstschutz« gesprochen. Die preußische Polizei nahm jedoch auf diese Feinheiten keine Rücksicht. Am 24. März 1921 um kurz vor Mitternacht stürmte sie die Druckerei der »Roten Fahne« und beschlagnahmte die Morgenausgabe. Zudem wurden 16 Druckplatten, 8 Matrizen, 35 Pfund Schriftsatz und ein halber Ballen Papier »zur besonderen Verwendung« mitgenommen. 164 Erst im Nachhinein baten Polizeipräsident und Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht um eine Genehmigung der Beschlagnahme. Das Briefpapier der Staatsanwaltschaft offenbarte, in welchem Geiste die Maßnahmen stattfanden: Aus Sparsamkeit wurden altgediente Vordrucke verwendet, das »königliche Landgericht I. Berlin« mit einer schlichten Durchstreichung zum »Landgericht I. Berlin« demokratisiert. 165 Die Beschlagnahme wurde genehmigt. Am 28. März 1921 wurde erneut die gesamte Ausgabe der »Roten Fahne« eingezogen. Drei Tage später besetzten 14 Polizeibeamte »nach vorhergehender Zivilüberwachung« die Druckerei und beschlagnahmten 4000 Exemplare der Morgenausgabe. Noch am selben Tag folgte ein zweiter Besuch, die Abendausgabe wurde mitgenommen und die Druckmaschine durch Entnahme eines Schwungrades unbrauchbar gemacht. 166 All dies ohne ein offizielles Verbot der Zeitung. Nach einem Protestschreiben der Redaktion vom 1. April benannte der zuständige Staatsanwalt die Aufrufe der KPD als Ursache der Maßnahmen: »Wenn in diesen Aufru- 160 Jürgen Christoph, Die politischen Reichsamnestien 1918-1933, Frankfurt a. M. 1988, S.-101. 161 Die Gerichte waren mit I., II., und III. nummeriert und wurden von einem gemeinsamen »Leiter der Anklagebehörden« namens Hagemann vertreten (vermutlich Max Hagemann, 1883-1968). Vgl. Strafverfahren gegen den Redakteur der »Roten Fahne« Werner Scholem aus Halle und Genossen wegen Hochverrat 1921, GStA PK, Justizministerium, I. HA Rep. 84a Nr. 58552. 162 Jürgen Christoph, Die politischen Reichsamnestien 1918-1933, S.-104. 163 Ebenda, S.-102f. Erst im Mai 1927 konnte der KPD-Landtagsabgeordnete Gustav Menzel an Wilhelm Pieck melden, dass es »nun endlich gelungen ist, das letzte Opfer von unseren Kämpfen in Mitteldeutschland auf freien Fuß zu bekommen.« Brief von MdL Menzel an Wilhelm Pieck vom 31. Mai 1927, SAP- MO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 26. 164 Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, wegen Hochverrat, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Bd.-2. 165 Ebenda. 166 All dies am 31. März 1921, vgl. ebenda. <?page no="172"?> 172 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) fen auch vielfach lediglich zur Bekämpfung der Gegenrevolution und zum Generalstreik aufgefordert wird, so ist dieses alles nur als Vorwand anzusehen, der wahre Kampf soll gegen die bestehende Staatsform gerichtet werden. Die entsprechenden Aufrufe in der kommunistischen Presse sind deshalb als Verbrechen gegen § 85 Str. GB. anzusehen.« 167 Der entsprechende Paragraph stellte die »Aufforderung zum Hochverrat« unter Strafe. Neben der KPD selbst protestierte auch die Druckerei in der Stallmacherstraße 34 gegen die Polizeimaßnahmen - es handelte sich um das Traditionsunternehmen »Moesersche Buchdruckerei«. Durch die Stilllegung der Maschine konnte Moeser andere Aufträge nicht erfüllen und wandte sich erbost an die Redaktion. Dort verwies man jedoch nur lakonisch auf die Ungesetzlichkeit der Polizeimaßnahmen, auf die man keinen Einfluss habe. 168 Der zuständige Prokurist bei Moeser holte nun seinerseits das alte Briefpapier mit dem Zusatz »Kaiserliche Hofdruckerei« heraus und wandte sich direkt an die Staatsanwaltschaft: »Die W. Moesersche Buchdruckerei war vor der Revolution die persönliche Druckerei S.-Maj. d. Kaisers u. Königs und war in der Hauptsache mit rein behördlichen Arbeiten beschäftigt. Nach der Revolution war es natürlich außerordentlich schwierig, die Buchdruckerei der Arbeiter wegen aufrecht zu erhalten und neue Arbeiten heranzuschaffen. […] Es sind lange Verhandlungen darüber gepflogen worden, ob es sich mit dem alten Namen der Firma vertrüge, eine derartige Arbeit zu übernehmen. Die von Seiten der Kommunistischen Partei geäußerten Absichten, vor allen Dingen erst einmal theoretisch vorgehen und ein parlamentarisches Übergewicht gewinnen zu wollen, ergaben evtl. die Möglichkeit eines Übereinkommens.« 169 Erst am 15. April wurden die Maschinenteile zurückgegeben. Der zuständige Prokurist hatte inzwischen trotz seiner 26 Dienstjahre bei Moeser gekündigt - die Geschäftskontakte mit der KPD erschienen ihm unzumutbar. 170 Denn von »theoretischem« oder parlamentarischem Vorgehen konnte angesichts der Offensivstrategie keine Rede sein. Auch nachdem das Scheitern des Mitteldeutschen Aufstandes offensichtlich war, hielt das Zentralorgan der KPD am Eskalationskurs fest. In der »Roten Fahne« vom 14. April 1921 hieß es: »daß die breiten proletarischen Massen schon einzusehen beginnen, daß die revolutionäre Aktion, an deren Spitze sich die Vereinigte Kommunistische Partei gestellt hat, kein Putsch und kein Abenteuer war, sondern eine politische Notwendigkeit, einer jener Kämpfe, die neue und größere Kämpfe auslösen.« 171 Weder der Zusammenbruch des Mitteldeutschen Aufstandes, noch die immer heftiger einsetzende innerparteiliche Kritik oder die staatliche Repression konnte die Partei vom Offensivkurs abbringen. Im Mai 1921 startete die »Rote Fahne« angesichts von Unruhen in Oberschlesien eine neue Kampagne nach demselben Strickmuster wie jene im Vorfeld der Märzaktion. In Oberschlesien hatte das Deutsche Reich 1918 Gebietsverluste in den polnischsprachigen Landesteilen hinnehmen müssen, die endgültige Grenzziehung war nach wie vor umstritten. Konflikte zwischen Deutschen und Polen mischten sich nun im Frühjahr mit Streiks der polnischen Arbeiterschaft, gleichzeitig gab es Gerüchte über eine deutsche Mi- 167 Generalstaatsanwalt beim Landgericht I., Brief vom 1. April 1921, Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Bd. 2. 168 Zum Folgenden vgl. Briefwechsel Verlagsgenossenschaft Rote Fahne - W. Moeser Buchdruckerei, Ebenda Bd. 1. 169 W. Moeser Buchdruckerei an Staatsanwaltschaft Berlin, 8. April 1921, Ebenda, Bd. 2. 170 Briefwechsel Verlagsgenossenschaft Rote Fahne - W. Moeser Buchdruckerei, Ebenda, Bd. 1. 171 »Rote Fahne« Nr. 165, 14. April 1921, Morgenausgabe. <?page no="173"?> 173 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 173 litärintervention. Die KPD sah revolutionäres Potential und gab am 6. Mai ein Extrablatt mit der Schlagzeile »Mobilisierung der Reichswehr - Drohender Krieg gegen Polen« heraus, zudem erging ein Aufruf an die Arbeiter. Darin fand sich auch der Satz »Kommt es zum Kriege, dann sichert der Arbeiterschaft die Waffen«. Dies wurde von der mitlesenden Polizei sorgfältig unterstrichen. 172 Zum nationalen Konflikt gab die »Rote Fahne« klare Losungen aus: »Das polnische Proletariat Oberschlesiens wird sich naturgemäß dann der polnischen Räterepublik anschließen. Die deutsche Arbeiterbevölkerung Oberschlesiens wird für die deutsche Räterepublik entscheiden, und das engste Bündnis beider Räterepubliken in politischer und wirtschaftlicher Beziehung wird die Schwierigkeiten aus dem Wege räumen, die unter der Herrschaft der Bourgeoisie hüben und drüben unüberwindlich sind.« 173 In der Zentrale der KPD und der Redaktion der »Roten Fahne« sah man die oberschlesische Krise als Auftakt zur nächsten Welle der Weltrevolution. Dementsprechend verschärfte sich der Ton in den folgenden Tagen. Die Staatsorgane reagierten und stürmten erneut die Druckerei. In der Abendausgabe vom 9. Mai 1921 schilderte die Redaktion den Vorgang: »Nachdem am Sonnabend vormittag die Morgenausgabe der ›Roten Fahne‹ und das am Freitag abend erschienene Extrablatt in unserer Druckerei, dann die Abendausgabe vom Sonnabend bei den Zeitungshändlern beschlagnahmt worden war, erschien in der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag um 1/ 2 2 Uhr ein Sipoleutnant mit Sipomannschaften, Kriminalbeamten und Zivilisten (Orgesch) im Auftrage des Polizeipräsidiums Abt. -Ia, und erklärte die Beilage der Sonntagsnummer […] für beschlagnahmt. Als Grund zur Beschlagnahme gab der Leutnant folgenden Absatz an ›Arbeiter, macht ein Ende mit der Henkerjustiz der bürgerlichen Gesellschaft! Setzt der Willkür der Bourgeoisie euren revolutionären Willen, eure Kampfentschlossenheit entgegen.‹« Weiter hieß es: »Neben jede Maschine wurde ein Sipomann gestellt. Die Treppenabsätze waren mit Zivilisten besetzt. […] Gegen 4 Uhr verließ die Sipo endlich unsere Druckerei, nachdem der Sipoleutnant geäußert hatte, wir sollten uns keine Mühe machen, die Abendausgabe vom Montag werde wieder beschlagnahmt werden. 174 Neben der Sicherheitspolizei »SiPo« waren laut Redaktion auch Zivilisten und Mitglieder der »Orgesch« beteiligt. Das Kürzel stand für »Organisation Escherich«, ein paramilitärischer Verband in der Tradition der Freikorps. Als Drahtzieher klagte die Redaktion jedoch jemand anderen an: »Was haben die sozialdemokratischen Arbeiter dazu zu sagen, daß dies alles im Auftrag ihres Parteigenossen, des Polizeipräsidenten Richter geschieht? « 175 Ebenso wie Oberpräsident Hörsing war auch der Berliner Polizeipräsident SPD-Mitglied. Die KPD hoffte auf einen Bruch zwischen der SPD-Basis und den sozialdemokratischen Amtsträgern. Jede Repressionsmaßnahme würde diesen Prozess beschleunigen und die vermeintlich revolutionäre Situation vertiefen. Dementsprechend ging auch die Kampagne zu den oberschlesischen Unruhen weiter. Es schien fast so, als sollte eine zweite Märzaktion herbeigeschrieben werden - mit Rückendeckung aus Moskau. In der »Roten Fahne« vom 13. Mai 1921 erschienen »Leitsätze zur Taktik der kommunistischen Internationale während der Revolution«. Dort hieß es wört- 172 Rote Fahne, Extrablatt 6. Mai 1921 Abends, Artikel mit Polizeinotiz in: Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Bd. 1. 173 »Wem soll Oberschlesien gehören? «, Rote Fahne Nr. 206, 9. Mai 1921, Abendausgabe. 174 Rote Fahne Nr. 206, 9. Mai 1921, Abendausgabe. 175 Ebenda. <?page no="174"?> 174 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) lich »Der Generalaufstand ist erst das Endglied von Massenaktionen, die zur Ergreifung der Macht führen. Teilaufstände, bewaffnete Teilaktionen können notwendig werden an vorgeschobenen Punkten und in zugespitzten Situationen.« 176 Dementsprechend wurden Interventions- und Kriegsgerüchte geschürt. So berichtete die »Rote Fahne« von einem »Reichswehrputsch gegen Oberschlesien« und veröffentlichte Dokumente, die eine bevorstehende Intervention gegen Polen belegen sollten. 177 Die Dokumente waren gefälscht, wie der preußische »Staatskommissar für die Erhaltung der öffentlichen Ordnung« in einem Schreiben an den zuständigen Staatsanwalt sofort feststellte. Dennoch forderte er weitere Maßnahmen gegen die »Rote Fahne«, und zwar mit einer interessanten Begründung: Weil »nach den tatsächlichen Verhältnissen der Kriegszustand zwischen Polen und Deutschland besteht, wäre zu erwägen, ob nicht in der Veröffentlichung derartiger, wenn auch gefälschter Dokumente bereits das Unternehmen einer hochverräterischen Handlung zu erblicken sein möchte.« 178 Staatskommissar Robert Weismann, dessen Aufgabe in etwa der des heutigen Verfassungsschutzes entsprach, hielt einen Krieg Deutschlands gegen Polen für nicht nur wahrscheinlich, sondern bereits im Gange. 179 Die Kriegswarnungen der Roten Fahne waren also kein Hirngespinst. Sie entstanden vor dem Hintergrund eines antipolnischen Revanchismus, der bis weit in republikanische Kreise hineinragte. 180 Jedoch täuschte die KPD sich völlig in ihrer Annahme, die Arbeiterschaft würde wenige Wochen nach dem Fiasko der Märzaktion einen neuen Aufstand wagen. Dennoch ging die Pressekampagne weiter. 181 Presserechtlich verantwortlich für all das war Werner Scholem. Sein Name stand klein, aber deutlich im Impressum jeder Ausgabe der »Roten Fahne«. Ebenso in der Schlesischen Arbeiterzeitung - als »Verantwortlicher Redakteur für Politik« wurde Werner Scholem genannt, obwohl die Zeitung in Breslau erschien. 182 Spätestens hier wird klar, dass Scholem keine reale Verantwortung für die redaktionelle Linie der KPD-Presse trug. Er hatte stattdessen die ehrenvolle Aufgabe, seinen Namen für die Offensivstrategie herzugeben und dafür zu haften. Das Risiko war nicht zu unterschätzen. Der verantwortliche Redakteur des kommunistischen »Ruhr-Echo« wurde im April 1921 wegen Aufrufen der KPD-Zentrale 176 Rote Fahne Nr. 213, 13. Mai 1921. 177 Ebenda. 178 Staatskommissar für öffentliche Ordnung an den Staatsanwalt beim außerordentlichen Gericht des Landgerichts I, 13. Mai 1921, in: Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Bd. 1. 179 Robert Weismann (Zentrumspartei) hatte im Februar 1919 schon als Staatsanwalt gegen Karl Radek ermittelt und Aktivitäten der Freikorps gedeckt. Als Staatskommissar wirkte er von 1920-1923, danach wechselte er als Staatssekretär in die preußische Regierung. Weismann, der jüdischer Herkunft war, emigrierte bereits Anfang 1933 und wurde im selben Iahr ausgebürgert. Er starb 1942 in New York. Vgl. Klaus Gietinger, Eine Leiche Im Landwehrkanal - die Ermordung der Rosa L., Berlin 1995, S.-27. 180 Rüdiger Bergien beschreibt diesen Konsens explizit als »bellizistisch«. Laut Bergien genossen die Geheimrüstungen der Reichswehr zur Unterlaufung des Versailler Vertrages Unterstützung bei staatlichen Funktionsträgern bis in die Sozialdemokratie hinein. Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und »Wehrhaftmachung« in Deutschland 1918-1933. München 2012. 181 Neben der »Roten Fahne« berichtete auch die »Schlesische Arbeiterzeitung« über »Oberschlesische Kriegsrüstungen« und forderte die Arbeiter mit Überschriften wie »Krieg dem obeschlesischen Kriege« zu Aktionen auf, vgl. Schlesische Arbeiterzeitung Nr. 110, 22. Mai 1921. 182 Vgl. Ausgabe Nr. 103 vom 13. Mai 1921. Scholem zeichnete mindestens bis Ausgabe 120 am 4. Juni 1921 mit seinem Namen. <?page no="175"?> 175 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 175 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. 183 Da in seiner eigenen Zeitung darüber berichtet wurde, wusste Werner Scholem von dem Fall. Warum nahm er ein solches Risiko auf sich? Die Erklärung liegt im Status als Mitglied des Preußischen Landtages. Als Abgeordneter genoss Scholem Immunität: der Landtag musste jeder Strafverfolgung zustimmen. Schon die Sozialdemokratie des Kaiserreichs hatte »Sitzredakteure«, deren einzige Aufgabe es war, gegebenenfalls für die Partei ins Gefängnis zu gehen. Die KPD nutzte eine ähnliche Taktik, indem sie Abgeordnete zu verantwortlichen Redakteuren ernannte. Wie strategisch dies geschah, zeigt ein polizeiliches Verhörprotokoll von Bernhard Karge, KPD-Bezirkssekretär aus Kassel, der bei der Einsetzung Scholems zugegen war: »Am 17. März fand in Berlin eine Sitzung des Zentralausschusses statt, an welcher auch die leitenden Redakteure der Parteileitung u[nd] Sekretäre der Bezirksleitungen teilnahmen. Die allgemeine Lage […] wurde erörtert u[nd] günstig befunden. […] Nach Ostern sollte, sobald die Zentrale eine solche Parole ausgeben, im engsten Anschluß an die Ereignisse, […] Generalstreik eintreten u[nd] alles zur Ergreifung der Macht geschehen. […] Während der Sitzung wurde der Hörsingsche Erlaß bekannt u[nd] es wurde deshalb erwogen, ob nicht etwa deshalb die Aktion werde schneller einsetzen müssen. […] Man einigte sich indessen darauf, daß die Presse sich auf eine aggressive Propaganda beschränken solle. Ferner beschloß man, daß die preßrechtl[iche] Verantwortlichkeit die Abgeordneten zu übernehmen hätten.« 184 In einer weiteren Vernehmung äußerte sich Karge zur Rolle Scholems: »In der Sitzung des Zentralausschusses am 17. März 1921 ist Scholem nicht besonders hervorgetreten. Er steht überhaupt auf dem Standpunkt, daß er eine solche Aktivität durch individuellen Terror ablehnt. Scholem hat damals in der Sitzung überhaupt nicht gesprochen. An der Konferenz der Parteiredakteure hat Scholem, soviel ich weiß, überhaupt nicht teilgenommen. Er ist dann auf Beschluß der Zentrale, die mit den Redakteuren der ›Roten Fahne‹ darüber verhandelte, als preßrechtlicher Redakteur der ›Roten Fahne‹ bestimmt worden. Er ist aber nur ganz belanglos redaktionell tätig gewesen und hat die hier in Frage kommenden Artikel, wie ich genau weiß, nicht verfaßt. In den Sitzungen des Zentralausschusses im April und Mai hat Scholem erklärt, daß er die Verantwortung für die in der ›Roten Fahne‹ erschienenen Artikel ablehne. Es bezog sich das auch besonders auf den von ihm erwähnten Artikel, in dem zum Ergreifen von Waffen aufgefordert wird. Diese Ablehnung konnte Scholem natürlich nur der Partei gegenüber aussprechen. Der Parteiausschuß hat deshalb der Zentrale das Mißtrauen ausgesprochen, weil die Aufforderung zur Bewaffnung in der Form, wie sie in dem Artikel angesprochen war, der taktischen Einstellung der Partei widersprach.« 185 Wenn man Bernhard Karge Glauben schenkt, lehnte Scholem den offensiven Kurs der KPD ab und distanzierte sich von der Pressekampagne, die in seinem Namen stattfand. Er lag damit auf einer Linie mit vielen anderen Kommunisten, die die Märzaktion für abenteuerlich und fatal hielten - etwa der ehemalige KPD-Vorsitzende Paul Levi, der das 183 Der Staatsanwalt hatte ursprünglich sieben Jahre gefordert, vgl. »Der Weiße Terror wütet«, Rote Fahne - Bezirk Nordwest vom 22. April 1921. 184 Aussage Bernhard Karge vom 19. Januar 1922, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Bd 1. 185 Zeugenvorführung Karge im Amtsgericht Brandenburg an der Havel vom 7. Juli 1922, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Bd 1. <?page no="176"?> 176 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) ganze als »Putschismus« anprangerte und dafür aus der Partei ausgeschlossen wurde. 186 Im Gegensatz zu Levi hielt Werner Scholem jedoch zu seiner Partei, als die Lage Ende März 1921 eskalierte. Karges Aussage ist der einzige Hinweis auf eine kritische Haltung gegenüber der Märzaktion. Scholems Aussagen zur »Schlacht um Halle« im Jahr zuvor lassen dagegen vermuten, dass er den Aufstand kaum erwarten konnte. Störte ihn im März 1921 nur die mangelnde Organisation? Welche Zweifel Scholem unter Genossen auch äußerte - öffentlich stand er mit seinem Namen für die Märzaktion. Und als seine Partei mit der Oberschlesien-Kampagne die gescheiterte Politik eins zu eins wiederholte, stand Scholem nochmal dafür gerade. Kritik wurde nur nach innen geäußert, nach außen hin war Einheit oberstes Gebot. Scholem ging für seine Loyalität ein großes Risiko ein. Die Behörden hielten ihn für den Urheber der KPD-Pressekampagne oder gar der Märzaktion selbst. Sie waren fest entschlossen, Scholem dingfest zu machen. Der Beschluss fiel auf höchster Ebene: Am 28. März 1921 fand um 11 Uhr morgens eine gemeinsame Sitzung der Reichsregierung mit dem Preußischen Staatsministerium statt, in der die Festnahme Scholems »auf frischer Tat« empfohlen wurde. 187 Aus dem Reichs-Innenministerium erging danach folgende Anweisung: »Gegen die ›Rote Fahne‹ soll wegen ihrer aufreizenden Artikel, die sich als hochverräterische Handlungen darstellen, ein Verfahren wegen Hochverrats eingeleitet werden und zwar vor einem in Berlin auf Grund des Artikel 48 Abs.- 2 der Reichsverfassung zu errichtenden außerordentlichen Gericht.« 188 Kurz nach der Märzaktion standen die Sondergerichte bereit. Am 7. April 1921 stellte der Jurist Hagemann als »Leiter der Anklagebehörden bei den außerordentlichen Gerichten I, II, III« in Berlin einen Antrag auf Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Scholem. 189 Es sei »ein Strafverfahren gegen Scholem und Genossen wegen Hochverrates anhängig geworden, begangen durch eine Reihe von Aufrufen und Artikeln in der ›Roten Fahne‹«. Hagemann räumte zwar ein, die Zeitung hätte auch zuvor schon räterepublikanische Tendenzen vertreten - jedoch bis Ende März 1921 »hielt sich diese Tendenz der Roten Fahne innerhalb der gesetzlichen Grenzen.« 190 Wo diese Grenzen verliefen, blieb unklar: »Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das Endziel dieser Aufrufe die Diktatur des Proletariats und die Errichtung der Räterepublik ist. Direkt ausgesprochen ist dieses Ziel jedoch nicht. Es kann daher nur der Tatbestand der §§ 110, 111 des Str.G.B., nicht Hochverrat angenommen werden. Andererseits sind jedoch die Aufrufe derartig aufreizend, dass ihre Veröffentlichung und Verbreitung im staatlichen Interesse nicht ungeahndet bleiben dürfen.« 191 Der Ankläger gab also offen zu, dass der Vorwurf des Hochverrats nicht haltbar 186 Paul Levi, Unser Weg. Wider den Putschismus, Berlin 1921. Nachdruck in: Paul Levi, Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie - Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe; herausgegeben von Charlotte Beradt, Frankfurt a.M.1969. 187 Gemeinsame Sitzung des Reichskabinetts mit dem Preußischen Staatsministerium am 28. November 1921, Online-Ressource »Akten der Reichskanzlei«, www.bundesarchiv.de (Zugriff 16.8.2012). 188 Anweisung Reichsminister des Innern, in: Akten betreffend Kommunismus, BArch R 1501/ 20322. 189 Es handelte sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Max Hagemann (1883-1968), der später zum preußischen Oberverwaltungsgericht wechselte, ab 1942 im »Reichskommissariat für die Behandlung feindlichen Vermögens« tätig war und 1948 erster Präsident des Bundeskriminalamtes wurde. 190 Strafverfahren gegen den Redakteur der »Roten Fahne« Werner Scholem aus Halle und Genossen wegen Hochverrat 1921. GStA PK, Justizministerium, I. HA Rep. 84a Nr. 58552. 191 Ebenda. <?page no="177"?> 177 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 177 war. Dennoch sollte an Werner Scholem ein Exempel statuiert werden. Man warf ihm »Widerstand gegen die Staatsgewalt« (§110 Strafgesetzbuch) und »Öffentliche Aufforderung zu Straftaten« (§ 111 Strafgesetzbuch) vor. Nachdem das Parlament zugestimmt hatte, wurde der Hochverratsvorwurf stillschweigend wieder hinzugefügt. Der preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung hatte Scholem ebenfalls im Blick. Er forderte am 5. Mai 1921 die Staatsanwaltschaft auf, die »Rote Fahne« »durch vorläufige Festnahme des verantwortlichen Redakteurs auszuschalten.« Weiter hieß es: »Wenngleich der derzeitige, verantwortliche Schriftleiter der ›Roten Fahne‹, Werner Scholem, Abgeordneter zum Preußischen Landtage ist, und somit die Immunität der Abgeordneten genießt, begegnet die Anordnung der vorläufigen Festnahme nach der Verfassung keinen Bedenken, sofern sie spätestens im Laufe des auf die Ausübung der Tat folgenden Tages vorgenommen wird.« 192 Die Staatsanwaltschaft solle Scholem »auf frischer Tat« ertappen, denn in diesem Fall schützte die parlamentarische Immunität nicht. Trotz täglicher Polizeirazzien in den Geschäftsräumen der »Roten Fahne« entschied man sich jedoch dagegen, Scholem gleich mitzunehmen. Die Anweisung, jemanden »auf frischer Tat« zu ertappen, wäre eine allzu offensichtliche Umgehung der Immunität - man wollte das Landesparlament nicht provozieren. Bereits kurz nach Zusammentritt des Landtages wurde Werner Scholem also vom Teilnehmer zum Gegenstand der Debatte. Am 16. April und am 9. Mai 1921 beriet der Geschäftsordnungsausschuss über seine Festnahme. 193 Unter der Leitung von Otto Nuschke, Abgeordneter der DDP und Redakteur der Berliner Volkszeitung, entspann sich eine längere Diskussion über den Status der Immunität und die Rolle der Pressefreiheit. 194 Obwohl Nuschke die von der Justiz vorgebrachten Artikel für »schwere Vergehen« hielt, verteidigte er Scholem. Dessen Äußerungen seien politische Äußerungen in einer politischen Zeitung und demnach handele es sich keinesfalls ein kriminelles, sondern um ein politisches Delikt. Und Immunität sei dazu da, Abgeordnete gegen politische Prozesse zu schützen. Nuschke schloss damit an eine gängige Interpretation an, die zwischen »gemeinen« und »politischen« Vergehen unterschied. Ein USPD-Redner verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Unterscheidung zwischen Zuchthaus und Festungshaft, die seinerzeit verhängt wurde, wenn keine »ehrlose Gesinnung« vorläge - Hochverrat als politisches Vergehen könne kein gemeines Verbrechen sein. Politische Straftaten galten in der Weimarer Republik als »ehrenwerte« Taten, zumindest aber hob man sie von »gemeiner Kriminalität« ab. Jedoch wollten nicht alle Abgeordneten Scholem diese Ehre gewähren. Zentrumspartei und Deutschnationale hielten Scholem für »den intellektuellen Urheber der Aktion in Mitteldeutschland« und in »erster Linie« verantwortlich für die begangenen Verbrechen. Wegen Uneinigkeit wurde der Antrag zunächst an den Justizminister zurückgegeben. In der zweiten Sitzung am 9. Mai verlief die Abstimmung dann zu Ungunsten Scholems. 192 Staatskommissar für die Überwachung der Öffentlichen Ordnung an Staatsanwaltschaft Berlin, 5. Mai 1921, Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, wegen Hochverrat, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Bd. 2. 193 Ausschußverhandlungen über die strafrechtliche Verfolgung der Abgeordneten, GStA PK, I. HA Rep. 169 D, I J, Nr. 9a, Beiheft 1, Bd. 1. 194 Zum Folgenden vgl. Preußischer Landtag, Wahlperiode 1921-1924, Drucksache 409: »Bericht des Geschäftsordnungsausschusses über den Antrag des Justizministers auf Genehmigung zur strafgerichtlichen Verfolgung und zur Inhaftnahme des Abgeordneten Scholem wegen Hochverrats«. <?page no="178"?> 178 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Mit zehn zu acht Stimmen wurde die Genehmigung der Strafverfolgung empfohlen. 195 Trotz der Widersprüche im Antrag Hagemanns ging man nun vom Vorwurf des Hochverrats aus. Damit drohte lebenslängliche Haftstrafe, und angesichts der aufgeheizten antipolnischen Stimmung in Deutschland war nicht mit mildernden Umständen zu rechnen. Werner Scholem reagierte entsprechend: er verschwand noch am Tag der Ausschusssitzung spurlos und wurde bis zum Herbst nicht mehr gesehen. Scholems Laufbahn als Abgeordneter war damit unterbrochen, bevor sie richtig begonnen hatte. Die Karriere als Journalist lief jedoch in geisterhafter Weise ohne ihn weiter: Noch wochenlang erschien er im Impressum als presserechtlich Verantwortlicher für die »Rote Fahne« und die »Schlesische Arbeiterzeitung«. Durch die Verzögerung im Parlamentsbetrieb dauerte es noch bis zum 2. Juni, ehe Scholems Immunität durch eine Verfügung des Justizministeriums aufgehoben wurde. 196 Zwei Tage später erging ein Haftbefehl, und Scholem wurde im ganzen deutschen Reich steckbrieflich gesucht. Der Entwurf des Steckbriefes las sich wie folgt: »Scholem, Werner, Redakteur und Schriftsteller, 28.12.95 Berlin geb. […] Größe 167m, schlank, schwarzes lang nach hinten gekämmtes Haar, Augenbrauen schwarz, Augen dunkel, glattrasiert, Adlernase, Mund gewöhnlich, Zähne gut, blasse Gesichtsfarbe abstehende Ohren, ausgesprochen jüdischer Typ, Sprache deutsch, trägt zeitweise Hornbrille. nach erhaltenen Mitteilungen ist sein Aussehen durch Abschneiden des Haares bereits verändert.« 197 Die Charakterisierung als »ausgesprochen jüdischer Typ« wurde vor Veröffentlichung stillschweigend gestrichen. Das falsche Geburtsdatum blieb erhalten, hemmte jedoch nicht den Eifer bei der Fahndung. Scholems Steckbrief erschien in der Zeitschrift »Die preußische Schutzpolizei«, die von 50.000 Schutzmännern in ganz Preußen gelesen wurde. 198 Nicht jeder gewöhnliche Kriminelle bekam solche Aufmerksamkeit, und dementsprechend zahlreich waren die Reaktionen. Laut Polizeimeldungen soll er in Köln gesichtet worden sein, sich aber auch drei Wochen in Hannover aufgehalten haben. Ein Zeitungsredakteur aus dem böhmischen Reichenberg meldete, Scholem sei dort als Journalist tätig. 199 Die Presse vermutete ihn noch weiter 195 Ebenda. 196 Das Parlament musste die Empfehlung des Geschäftsordnungsausschuss noch formell bestätigen. Brief des Reichsminister der Justiz an den Leiter der Anklagebehörde bei den außerordentlichen Gerichten I, II, III in Berlin vom 10. Juni 1921, in: Strafsache gegen Scholem, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Band 2, Bl.87ff. 197 In: Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Band 2. 198 Die Preußische Schutzpolizei, Nr. 9, 15. Juli 1921, S.-119. Zur Auflage vgl. Schreiben der Verlagsgesellschaft Kameradschaft an den Oberstaatsanwalt Berlin vom 17. Juni 1921, in: Strafsache gegen Scholem, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 283/ 21 Band 2, Bl. 90. 199 Meldung der Polizeiwache Zittau vom 19. August 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache Steckbrief Werner Scholem 1921 (aus »Die Preußische Schutzpolizei«, Nr. 9, Juli 1921, S. 119) <?page no="179"?> 179 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 179 östlich, nämlich in Moskau. 200 Die bayrische Grenzpolizeistelle Lindau hingegen meldete nach dem Verhör eines gefassten KPD-Kuriers, Scholem halte sich im tschechischen Aussig auf. 201 Die Fahndung dauerte an, doch Werner Scholem war nicht zu fassen - die Meldungen wurden immer abstruser. Durchaus Unterhaltungswert hat ein Bericht des Deutschen Vizekonsulats im niederländischen Zevenaar. Dort hatte man einen angeblichen KPD- Kurier namens August Bock verhaftet, der präzise Aussagen über Scholem machen konnte: »Sie hätten beide gewohnt im Reichstagsgebäude, der Reichstage hätte gegen sie Strafverfolgung mit Haftbefehl erlassen. Beide hätten russische Pässe als russische Untertanen. […] Auf der Flucht seien beide in Hannover erkannt worden, Scholem ist dann im Auto mit den beiden Pässen spurlos verschwunden. Bock ist aber auf verbotenem Wege nach Holland gebracht worden durch einen gewissen Max Kluge. Auf Vorzeigen des Sowjet-Sterns hätte dieser ihm dabei helfen müssen. […] Alle Kommunisten seien im Besitz von Pässen etc. und den notwendigen Papieren, die Pässe werden alle mit den Stempeln ausgefertigt, die Unterschriften werden gefälscht von jungen Mädchen, die nach einer gewissen Zeit darin eine grosse Uebung hätten. […] Als Endziel in Russland wurde angegeben Taschkent in Turan, dort solle übernommen werden eine Santoninfabrik. […] Scholem und Bock waren nun auf dem Wege nach Russland, die Fabrik aufs neue in Betrieb zu bringen.« 202 Santonin war ein damals gebräuchliches Entwurmungsmittel gegen Darmparasiten - insbesondere gegen Band- und Spulwürmer. Dass Werner Scholem sich als Bandwurmjäger in Taschkent betätigte, darf bezweifelt werden. Wo er sich tatsächlich aufhielt, blieb jedoch verborgen. Dennoch wurde der Prozess vorbereitet: am 13. September stellte der Oberreichsanwalt dem Landtag einen zweiten Antrag auf Strafverfolgung wegen Landesverrat, der sich auf die Mitte Mai in der »Roten Fahne« erschienenen gefälschten Dokumente zur angeblichen Reichswehrintervention in Oberschlesien bezog. 203 Zehn Tage später konnten die Behörden dann endlich einen Erfolg vermelden. Nach dreimonatigem Rätselraten gelang am 23. September 1921 um halb drei Nachmittags die Verhaftung Werner Scholems im Wartesaal zweiter Klasse des Anhalter Bahnhofs in Berlin. Die Verhaftung wurde durchgeführt von der »Abteilung Ia« des Berliner Polizeipräsidiums. 204 Das Kürzel bezeichnete die politische Polizei Berlins, mit der Scholem auch in Zukunft immer wieder regen, wenn auch unfreiwilligen Kontakt haben sollte. Scholem wurde ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht und dort inhaftiert. Einen Tag später wurde er einem Untersuchungsrichter vorgeführt, lehnte es jedoch ab, sich zur Sache zu äußern. Daraufhin verbrachte man ihn ins Untersuchungsgefängnis Berlin Moabit. Man nahm ihm 404 Reichsmark und seine silberne Uhrkette ab, danach durfte gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1. 200 Z.B. die Deutsche Allgemeine Zeitung; vgl. Presseausschnitte und Polizeiberichte in: Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung - Akten betreff Scholem, Werner. 1921-1924, BArch, R-1507/ 739. 201 Grenzpolizeistelle Lindau an Polizeidirektion München am 18. Juni 1921, in: Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung - Akten betreff Scholem, Werner, BArch, R 1507/ 739. 202 Deutsches Vizekonsulat Zevenaar an das Auswärtige Amt Berlin, 23. Juli 1921, in: Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung - Akten betreff Scholem, Werner. 1921-1924, BArch, R-1507/ 739. 203 Ausschußverhandlungen über die strafrechtliche Verfolgung der Abgeordneten, GStA PK, Preußischer Landtag, I. HA Rep. 169 D, I J, Nr. 9a, Beiheft 1, Bd. 1. 204 Deutsche Allgemeine Zeitung, 25. September 1921. <?page no="180"?> 180 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) er in seiner Zelle auf die Anklageerhebung warten. 205 Die Mühlen der Justiz begannen zu mahlen. Die Untersuchungshaft wurde verlängert. Erst um eine Woche, dann um eine weitere. Am 6. Oktober wurde schließlich die gerichtliche Voruntersuchung eingeleitet - auch hier äußerte Scholem sich nicht. Auf der Rückseite eines jeden KPD-Parteibuches befand sich damals der Hinweis, im Umgang mit der Polizei sei Schweigen oberstes Gebot. Werner Scholem hielt sich daran. Wochenlang schwieg er stoisch und gab trotz verschiedener Vernehmungen keinen Hinweis über seinen Aufenthaltsort vor der Verhaftung preis. Lediglich zu seinem Lebenslauf machte er Angaben. Ansonsten hieß es auch im November 1921 noch: »Ich verweigere endgiltig jede weitere Aussage zur Sache«. 206 Die Haft in Moabit konnte Werner Scholem nicht schrecken - in einem Brief an einen nicht näher bezeichneten Genossen »Wilhelm« äußerte er sich geradezu humorvoll über seine Lage: »Mir geht es hier ganz gut, mindestens ebenso wie in dem Drecksnest, wo ich mich andernfalls aufhalten müsste. Ich habe noch seit Halle und Spandau ein bedeutendes Talent, zu sitzen. Ich gedenke, viel zu lernen, und es ist auch was wert, dass man hier ruhig sitzt, ohne dass einen gewisse Fatzken anrülpsen können.« 207 Lediglich der Verlust des Landtagsmandates machte ihm Sorgen: »Beinahe allerdings wäre ich hierher geraten, nachdem ich bereits das Mandat niedergelegt hatte. Dann wäre ich allerdings wütend gewesen. Den Brief an den Präsidenten hatte ich in der Tasche, als ich, übrigens in höflicher Form, von zwei Gentlemen mit der bekannten niedlichen Marke zu einer Autofahrt nach dem Alexanderplatz eingeladen wurde.« 208 In der Tat hatte die »Rote Fahne« schon über eine Mandatsniederlegung Scholems berichtet, wahrscheinlich war dies auch der Grund für seine Rückkehr. 209 Insofern hatte die Verhaftung positive Nebenwirkung: Hätte Scholem sich erfolgreich verborgen und den Brief abgeliefert, wäre er sein Landtagsmandat nur Stunden später losgeworden - ein Karriereknick wider Willen. 210 Scholem ließ im Gefängnisbrief noch allerlei Praktisches für seine Frau mitteilen, Wünsche nach Wäsche und Extramahlzeiten. Aber auch wenn Werner sie immer wieder dazu drängte - Emmy ließ sich nicht auf den Haushalt reduzieren, und hinter Gittern konnte Werner wenig dagegen tun. Er richtete daher in resignativem Ton sein letztes Wort zu diesem Thema aus: »Ich ließe ihr aber sagen, dass meine früheren Wünsche in Bezug auf ihre Beschäftigung hinfällig seien. Sie solle das so machen, wie es ihr am liebsten sei.« Scheinbar hatte es kurz vor der Flucht wieder Differenzen über Emmys Berufstätigkeit gegeben - nun endlich gab Werner nach. Abschließend äußerte er sich zweckoptimistisch über seine Zukunft: »Vielleicht bekomme ich nun Gelegenheit zu einem mehrjährigen Studium, nach dem ich mich immer gesehnt habe. Man weiß nie, wozu etwas gut ist.« 211 205 Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1. 206 »Endgiltig« im Original. Vorführprotokoll vom 14. November 1921, in: Ebenda, Band 1. 207 Werner Scholem an Wilhelm (Nachname nicht überliefert), 27. September 1921, in: Ebenda, Band 1. 208 Ebenda. 209 Vgl. Rote Fahne vom 24. September 1921. Als Nachrückerin war Herta Geffke (1893-1974) vorgesehen. 210 Durch die Festnahme gelangte der Brief jedoch nicht an den Landtagspräsidenten, sondern in Polizeigewahrsam und wurde schließlich Scholems Anwalt übergeben. Scholem blieb Abgeordneter. 211 Werner Scholem an Wilhelm (Nachname nicht überliefert), 27. September 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J <?page no="181"?> 181 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 181 Werner Scholem war nun politischer Gefangener, dementsprechend startete seine Partei sofort eine Solidaritätskampagne. In der »Rote Fahne« hieß es: »Genosse Scholem ist nun doch in die Hände der Polizei gefallen. Genosse Scholem war seit der Zeit der Aufhebung der Immunität im Auftrage der Partei außerhalb von Berlin tätig. Die Polizeibehörden, die alle Kappisten frei herumlaufen lassen und die Meuchelmörder von Arbeiterführern nicht zu finden wissen, hatten einen Riesenapparat aufgeboten, um Genossen Scholem zu verhaften. Mit den widerlichen Spitzelmethoden wurden selbst die nahen Angehörigen unseres Genossen Scholem belästigt, um Scholem eine Falle zu stellen oder eine Mitteilung über seinen Aufenthalt zu erzwingen.« 212 In der Tat hatte die Justiz Scholems Umfeld durchleuchtet und sogar Informationen über seine Eltern eingeholt - in den Akten findet sich auch eine Vorstrafenliste von Arthur Scholem. Diese war pikanterweise mit drei Einträgen länger als die des verlorenen Sohnes: Arthur hatte sich 1905 ein »Gewerbevergehen« zuschulden kommen lassen, war 1897 wegen »Vergehens gegen das Sonntagsruhegesetz« aufgefallen und hatte schon 1888, mit gerade 18 Jahren, fünf Reichsmark Strafe wegen »illegalen Lotteriespiels« zahlen müssen. 213 Werners Strafregister wies dagegen nur einen Eintrag wegen Beleidigung auf - jedoch mit deutlich höherer Geldbuße. 214 Lediglich Betty war bisher polizeilich nicht aufgefallen. Auch andere wunderten sich über das Anwachsen der Kriminalität im Hause Scholem - Walter Benjamin dichtete für den Freund Gershom eigens ein »aramäisches Fragment«, in dem er Werners Verhaftung kommentierte: »Wahrlich kein Gas wächst da, wo das neue Grün ist. Denn die Spuren des Mannes sind dort geblieben samt seiner Brüder. Es haschten aber die Philister einen seiner Brüder. Und Gershom sprach: bin ich der Hüter meines Bruders Werner? Sie entsetzen sich aber über seine Worte. Und seine Sippschaft verdarb und sein ganzes Haus und der Druck dieses Hauses wurde unerträglich in ganz Israel.« 215 Ganz so schlimm kam es nicht - jedoch hatte Werner seinen Ruf als schwarzes Schaf der Familie deutlich ausgebaut. Die KPD hingegen sah ihre ganz eigene Familienehre verletzt. Sie wollte »von gerichtlicher Stelle« aus den Beweis führen, daß nicht nur Scholems Verhaftung, sondern die gesamte Märzaktion eine Polizeiprovokation war. Auch der preußische Landtag stand in der »Roten Fahne« zur Anklage: »Der Prozess wird zugleich die Frivolität der preußischen Landtagsmehrheit entlarven, die auf den Wink eines Staatsanwalts hin Genossen Scholem sofort der Immunität beraubte.« 216 Sofort bemühte die KPD den Geschäftsordnungsausschuß, um Scholems Entlassung zu erreichen, scheiterte jedoch. 217 Der Angeklagte blieb in seiner Zelle in Moabit, nur wenige Straßenzüge vom Heim in der Waldenserstr. 15 entfernt. Doch zwischen Haftanstalt und Wohnzimmer lagen Welten. 16 / 1921 Band 1. 212 »Genosse Scholem verhaftet«, in: »Rote Fahne«, 25. September 1921. 213 Auszug aus dem Strafregister Berlin für Arthur Scholem, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1. 214 Die Militärhaft war interessanterweise nicht vermerkt. Der erwähnte Eintrag stammte noch aus seiner Zeit als Journalist in Halle 1919. Vgl. Auszug aus dem Strafregister Berlin für Werner Scholem, ebenda. 215 Walter Benjamin an Gershom Scholem, 27. Dezember 1921, in: Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. II, S.-230. 216 Rote Fahne, 25. September 1921. 217 »Scholems Haftentlassung abgelehnt«, Vorwärts, 18. Oktober 1921, auch das USPD-Organ »Die Freiheit« brachte am selben Tag eine Meldung dazu. Ausführlich zu dieser Sitzung Drucksache Nr. 1737 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. <?page no="182"?> 182 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Scholem wurde betreut vom Anwalt Dr. Kurt Rosenfeld, Mitglied der USPD. Er hatte in zahlreichen Prozessen prominente Revolutionäre wie Rosa Luxemburg und Kurt Eisner verteidigt, war in der Novemberrevolution kurzzeitig preußischer Justizminister gewesen. 218 Doch solche Zeiten waren vorbei - der Platz für Revolutionäre war wieder die Anklagebank. Rosenfeld konnte zunächst nichts für seinen Klienten tun, und Scholems Lage wurde sogar noch prekärer. Denn im Landtag hatte die KPD eine doppelte Niederlage erlitten: Die Strafverfolgung wurde nun auch wegen der gefälschten Berichte über die Reichswehrintervention in Oberschlesien genehmigt. 219 Diese Berichte hatten in ein Wespennest gestochen. Sie platzten in eine Welle nationaler Empörung, in der sich das ganze Deutsche Reich quer durch alle Parteien über Gebietsverluste und angebliche Übergriffe gegen Deutsche in den zu Polen geschlagenen ehemaligen Gebieten empörte. Werner Scholem wurde zum Sündenbock für die gekränkte nationale Ehre und der Preußische Landtag stimmte einer Strafverfolgung zu. Ob alle, die da abstimmten, auch wussten, was auf dem Spiel stand? Es ging um mehr als ein Pressevergehen: Scholem konnte nun des Landesverrats angeklagt werden. Wie schon 1918 standen zehn Jahre Zuchthaus drohend im Raum. Nun wurde auch klar, warum Scholems Immunität gleich zweimal aufgehoben wurde: Sollte die Hochverratsanklage wegen der dünnen Beweislage scheitern, gäbe es einen weiteren Hebel, um ein Exempel zu statuieren. 220 Staatsanwalt und Regierung wollten Scholem im Gefängnis sehen, koste es, was es wolle. Die Anklage wegen Landesverrats wurde im August 1922 beim Reichsgericht formuliert. 221 Hier wurde noch einmal festgestellt, dass die Enthüllungen gefälscht waren. Das Gericht argumentierte jedoch, Scholem habe an die Echtheit der Dokumente geglaubt. Dies begründe nicht seine Unschuld, sondern die Schwere des Vergehens: Im nationalen Interesse hätte Scholem die Dokumente geheimhalten müssen! In der Anklage hieß es: »Ihre Geheimhaltung anderen Regierungen gegenüber wäre zum Wohle des Deutschen Reiches erforderlich, denn sie würden - immer ihre Echtheit vorausgesetzt - Verstöße der deutschen Regierung gegen den Versailler Vertrag beweisen und daher den Verbandmächten die Unterlage zu weiteren Zwangsmassnahmen gegen Deutschland bieten.« 222 Scholem wurde also nicht angeklagt, weil er Falschmeldungen in die Welt gesetzt habe. Im Gegenteil: er wurde angeklagt, weil er angenommene Verstöße gegen das Völkerrecht durch die deutsche Regierung nicht vertuscht hatte. Diese Anklage wurde formuliert am Reichsgericht in Leipzig, das den Auftrag hatte, die Verfassung der Republik zu schützen. Die Rechtsauffassung des Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer setzte jedoch nationale Interessen Deutschlands über internationales Recht, Pressefreiheit trat zurück hinter deut- 218 Wolfgang Kießling, »Kurt Rosenfeld, ein Anwalt der Arbeiterbewegung«, in: Neue Justiz 41 (1987), S.-93ff. 219 Der Abgeordnete Nuschke hielt zwar die sich überschneidenden Anträge des Oberreichsanwalts für »nicht ganz verständlich«, da Scholem ja bereits in Moabit einsaß. Vgl. Drucksache Nr. 1737 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. Im »Vorwärts« hieß es: »Der Ausschuß sprach sein lebhaftes Befremden aus, daß der Antrag des Oberreichsanwalts erst am 13. September, also volle vier Monate nach der Veröffentlichung der ›Roten Fahne‹ gestellt worden sei«, Vorwärts, 18. Oktober 1921. Dennoch wurde dem Antrag stattgegeben. 220 Diese Strategie war schon Ende August 1921 vorbereitet worden, wie ein interner Vermerk des Oberreichsanwalt beweist. Verfügung des Oberreichsanwalts vom 26. August 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache Scholem, Werner, BArch, R 3003, 6J 34/ 22 Band 2. 221 Anklageschrift des Oberreichsanwalts gegen Werner Scholem, Leipzig 1. August 1922, in: Ebenda. 222 Ebenda. <?page no="183"?> 183 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 183 scher Außenpolitik. 223 Scholem war nicht das einzige Opfer solcher Rechtsbeugungen: eine ganze Reihe von ähnlich gestrickten Landesverratsverfahren richtete sich in den folgenden Jahren gegen Rüstungskritiker und Vertreter der pazifistischen Bewegung. 224 Nicht nur das Briefpapier der Weimarer Justiz stammte aus Kaisers Zeiten, sondern auch Staatsanwälte und Richter. So kam es zu dem Paradox, dass die Hüter einer demokratischen Verfassung den Untertanengeist der Monarchie zur Norm erhoben. Es ging dabei nicht um die Launen einzelner Richter. Vielmehr hielt solche Rechtsprechung die Presse systematisch über Jahre hinweg davon ab, sich mit illegalen Rüstungsprojekten zu beschäftigen. Auch die Aufstellung paramilitärischer Verbände wie Freikorps und »Schwarze Reichswehr« sowie deren Bewaffnung aus Beständen der Armee war tabu. Dieses Redeverbot war Nährboden für die Entstehung eines rechtsterroristischen Milieus, das die Weimarer Republik ihre ganze Existenz hindurch begleitete. 225 Eine weitere Episode aus Werner Scholems Strafverfahren illustriert diese Verhältnisse. Scholem bat um Hafterleichterungen und beantragte, zweimal wöchentlich für einige Stunden Frau und Tochter in seiner Wohnung zu besuchen. Er berief sich auf einen Mithäftling, dem diese Vergünstigungen bereits gewährt seien. Er stimmte auch einer polizeilichen Bewachung und Begleitung zu. Sogar die Kosten der Ausführung wollte er übernehmen. 226 Nach zwei Monaten Haft erschien Scholem die Aussicht auf ein Studium hinter Gefängnismauern nicht mehr besonders verlockend. Der zuständige Richter war jedoch verblüfft. Mehrstündige Ausflüge waren keinesfalls üblich für Untersuchungshäftlinge - nun geriet der Gefängnisdirektor der Strafanstalt Moabit in Erklärungsnot: Welcher Gefangene erhielt solche Vergünstigungen? Eine Recherche ergab, dass es sich um den Gefangenen Leutnant Ernst Krull handelte, der fast täglich aus seiner Zelle geführt wurde, um sie erst gegen Abend wieder zu betreten. Auf Anfrage des Richters antwortete der Oberstrafdirektor in Moabit: »Krull ist ausgeführt worden am: 23., 24., 27., 28., 30.11. 1., 6., 11., 12., 13., 14., u. 16.12. [19]21.« Zur Begründung hieß es: »Die Ausführungen sind vom Gericht aus veranlaßt worden, die Vernehmungen waren beim Reichskommissar für die öffentliche Ordnung«. 227 Angeblich ging es um die Aufklärung des Mordes an dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, einige der Vernehmungen erfolgten auch im Innenministerium. 228 Selbst dem Untersuchungs- 223 Beim Reichsgericht waren zahlreiche Landesverratsverfahren anhängig, die sich um Veröffentlichungen zur Zusammenarbeit von Reichswehr und Freikorps drehten. Oberreichsanwalt Ebermayer verneinte in seinen Memoiren von 1930 den Vorwurf einer politischen Rechtssprechung und gab an, dass er in Absprache mit dem Justizministerium nur Verfahren gegen Personen zugelassen habe, die darauf aus waren »die Aufmerksamkeit der Feindesmächte auf solche Vorkommnisse zu lenken«. Der höchste Staatsanwalt der Republik orientierte sich also noch 1921 am Kriegsrecht der Jahre 1914-1918 und gab zu, dass die Freikorps die Deckung der Regierung genossen. Vgl. Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht - Erinnerungen eines Juristen, Leipzig 1930, S.-143. 224 Vgl. Heinrich Hannover / Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918-1933, Börnheim-Merten 1987, S.-176-192. 225 Paul Levi warnte 1927 entschieden davor, dass das »Staatsgeheimnis« um die Aufrüstung letztlich rechtsterroristische Organisationen schützte. Vgl. Heinrich Hannover/ Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz, S.-192 226 Werner Scholem an den Untersuchungsrichter des Reichsgerichts Leipzig am 30. November 1921, in: Strafsache gegen Scholem Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 283/ 21, Band 3. 227 Oberstrafdirektor der Strafanstalt Moabit an Oberreichsanwalt vom 19. Dezember 1921, in: Ebenda, Band 1. 228 Undatierte handschriftliche Notiz, in: Ebenda, Band 3. <?page no="184"?> 184 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) richter kam diese Begründung seltsam vor. Unter der Datumsliste finden sich handschriftliche Unterstreichungen beim 2. November 1921 und beim 11. Dezember 1921. Daneben stand schlicht: »Sonntag! « 229 Die Bemerkung war so einfach wie entlarvend. Doch weitere Nachforschungen blieben aus. Werners Gesuch wurde nicht bewilligt, und er tobte in seiner Zelle. In einem Brief an Emmy machte er dem Ärger Luft: »Mein Gesuch um Ausführungen ist abgelehnt worden, u.a. mit der Bemerkung, daß es ›auf einem Irrtum oder einem Mißverständnis‹ beruhe, wenn ich behaupte, in andern Fällen würde diese Vergünstigung gewährt. Nun, dann muß hier wirklich eine Zauberei vorliegen! Jeden Morgen, aber auch jeden, auch Sonntags, wird mein Zellennachbar, der Leutnant Krull, der wegen Mordes an Rosa Luxemburg in Untersuchungshaft sitzt, ausgeführt. Irgendeine Sinnestäuschung kann da wohl kaum vorliegen, denn ich höre jeden Morgen, wie der Inspektor in der Mittelhalle heraufruft: ›406 (Das ist Krulls Zellen-Nummer) - Ausführen! ‹ dann läßt ihn der Wachtmeister raus, und er verschwindet für den ganzen Tag. An seiner Zellentür hängt ein Schild ›Ausgeführt‹, das ich jedesmal bewundere, wenn ich zum Verteidiger geholt werde. Herr Krull kehrt abends erst gegen 8 oder 1/ 2 9, manchmal noch später, in’s Gefängnis zurück.« 230 In der Tat war Leutnant Ernst Krull als Verdächtiger im Mordfall Rosa Luxemburg inhaftiert. 231 Der Mathematiker Emil Julius Gumbel berichtete 1922 in seiner vielbachteten Schrift »Vier Jahre politischer Mord« über den Fall und zitierte die Aussage eines Mordbeteiligten. 232 Krull wurde von diesem schwer belastet: »Nach ihm hat auch Leutnant Krull der Frau Luxemburg, als sie im Auto saß, eine Kugel durch den Kopf geschossen. Gegen Krull war ein Verfahren wegen Mordes eingeleitet worden. Er gestand, beteiligt gewesen zu sein, widerrief aber dann. Darauf wurde das Verfahren mangels Beweisen eingestellt, später aber wieder aufgenommen.« Krull war auch im Besitz einer Uhr Rosa Luxemburgs. Gumbel schreibt dazu: »Krull behauptete, die Uhr sei herrenloses Gut gewesen und im Edenhotel von Hand zu Hand gegangen. Krull hielt eine Rede: ›Nichts liegt gegen uns vor, was man uns zum Vorwurf machen könnte. Jeder Deutsche atmete auf, als diese beiden Lumpen ins Jenseits befördert wurden. Der Dank des Vaterlandes gebührt uns dafür. Gegen Leute wie Rosa Luxemburg und Liebknecht muß Richter Lynch auftreten.‹ Krull wurde wegen Diebstahl in zwei Fällen zu drei Monaten Gefängnis verurteilt […].« 233 229 Notiz Oberstrafdirektor der Strafanstalt Moabit an Oberreichsanwalt vom 19. Dezember 1921, in: Ebenda, Band 1. 230 Abschrift eines Briefes von Werner an Emmy Scholem vom 13. Dezember 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1, Blatt 93. 231 Zum Mord an Luxemburg und Liebknecht und den anschließenden Ermittlungen vgl. Klaus Gietinger, Eine Leiche im Landwehrkanal - Die Ermordung der Rosa L., Berlin 1995. Zur kurzlebigen Diskussion um die angebliche Auffindung der Leiche Luxemburgs in der Forensik der Berliner Charité vgl. auch den Sammelband von Annelies Laschitza und Klaus Gietinger (Hg.): Rosa Luxemburgs Tod - Dokumente und Kommentare, Leipzig 2010. 232 Gumbels Schrift erzielte großes Aufsehen, seine Darstellungen wurden in wesentlichen Teilen von offiziellen Stellen bestätigt. Vgl. Emil Julius Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922. Die zitierte Aussage stammt von einem Soldaten namens Runge. Er versetzte Rosa Luxemburg beim Abtransport zwei Schläge mit dem Gewehrkolben, die zur Bewusstlosigkeit führten. Die eigentliche Todesursache war jedoch eine Schussverletzung. Vgl. Gietinger, eine Leiche im Landwehrkanal, S.-36. 233 Emil Julius Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922, S.-13. <?page no="185"?> 185 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 185 Krull besaß Gegenstände der toten Rosa Luxemburg, rechtfertigte ihre Ermordung unverhohlen. Er war also mehr als verdächtig. Doch ob er der Todesschütze war, ließ sich zur Jahreswende 1921/ 22 kaum noch überprüfen. 234 Denn das erste Militärgerichtsverfahren aus dem Jahr 1919 war eine Farce: einer der Hauptverdächtigen bearbeitete Verfügungen und Fahndungsaufrufe, Akten wurden gefälscht; ein Angeklagter wurde bei der Flucht ins Ausland unterstützt. 235 Als Scholem neben Krull im Gefängnis saß, befasste sich endlich ein ziviles Gericht mit der Angelegenheit - die seltsamen Sonntagsverhöre Krulls zeigten jedoch, dass die Mordverdächtigen nach wie vor Schutz von staatlichen Stellen genossen. Werner Scholem fehlte solche Protektion. Nachdem er schon mit der Militärjustiz des Kaiserreiches schlechte Erfahrungen gemacht hatte, zog er auch für die republikanische Rechtsprechung eine bittere Bilanz: »Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Ein Mann, der wegen Mordverdacht sitzt, erhält Vergünstigungen, welche die Untersuchungshaft, die man wohl nur der öffentlichen Meinung wegen aufrechterhält, zur Farce machen; er hat ja auch nur eine Arbeiterführerin erschlagen und ist national gesinnter Offizier! Ein wegen rein politischen Preßvergehens eingesperrter Abgeordneter von nicht genehmer Gesinnung darf nicht einmal in der Woche zu seiner Familie, obwohl es ohne besondere Umstände möglich ist. Justitia fundamentum regnorum! « 236 »Gerechtigkeit ist Grundlage der Staaten« - dieser Merksatz hatte aus Scholems Sicht wenig Bedeutung in der neuen Republik. Seine Wut ist verständlich. Zwar kam später heraus, dass Krull nicht der Mörder Luxemburgs war - die Uhr aus dem Besitz der Toten wurde bereits vor dem Mord gestohlen. 237 Dennoch: Krull saß wegen Mordverdachts, Scholem wegen eines Zeitungsartikels. Es bestand zudem enorme Verdunkelungsgefahr im Mordfall Luxemburg. Dass Krull seine Zelle dennoch nur als Nachtlager benutzte, zeigte den Unwillen der Justiz, die Vorwürfe zu klären. Ganz anders erscheint im Vergleich der bis in Regierungskreise hinein betriebene Aufwand, um Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« auszuschalten. Doch trotz seiner Wut sah Werner keinen Sinn darin, den Fall weiter zu skandalisieren. An Emmy schrieb er: »Ich halte es für aussichtslos, hier etwa deshalb Lärm zu schlagen. was nützt es mir, wenn dem Krull seine Ausgänge verboten werden, was schließlich der höchste Erfolg mei- 234 Der SPD-Reichswehrminister Gustav Noske bestätigte am 8. März 1920 mit seiner Unterschrift als Reichswehrminister das Militärgerichtsurteil gegen die Angeklagten im Luxemburg-Mord, obwohl dessen Mängel offenkundig waren und öffentlich diskutiert wurden. Vgl. Gietinger, Eine Leiche im Landwehrkanal, Berlin 1995. S.-78, S.-108 sowie den Dokumentenanhang. Vgl. auch Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst. Eine deutsche Karriere, Hamburg 2009, hier insbes. S.-120ff. 235 Ein anderer kam mit einer Bagatellstrafe wegen »Beiseiteschaffens einer Leiche« davon. Vgl. Klaus Gietinger, Eine Leiche im Landwehrkanal, S.-46, S.-48, S.58f, S.-60ff. 236 Abschrift eines Briefes von Werner an Emmy Scholem vom 13. Dezember 1921, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1, Blatt 93. 237 Klaus Gietinger, Eine Leiche im Landwehrkanal, S.-81f. Die Akten zum Verfahren gegen Krull finden sich im Landesarchiv Berlin, Rep. 58, Nr. 75. Krull gehörte auch nicht zur GKSD, sondern zum Freikorps Roßbach. Der eigentliche Todesschütze war laut Aussagen von Waldemar Pabst der Leutnant Hermann W. Souchon. Er sprang in einer abgesprochenen Aktion auf das Trittbrett des Autos, mit dem Luxemburg abtransportiert wurde und gab den tödlichen Schuss ab. Souchon wurde nie verurteilt. Im Gegenteil: er führte 1969 erfolgreich einen Prozess, in dem er dem Fernsehjournalisten Dieter Ertel gerichtlich untersagen ließ, ihn als Mörder zu bezeichnen. Der Mörder wurde damit 50 Jahre später zum Ankläger, der aufklärende Journalist wurde verurteilt. Vgl. Gietinger, eine Leiche im Landwehrkanal, S.-94, S.-95-106 sowie Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär, S.-375ff. <?page no="186"?> 186 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) ner Bemühungen sein könnte! Ich hoffe jetzt, daß unser Haftentlassungsantrag Erfolg hat, und meine, es ist das Beste, abzuwarten und zu schweigen. Wenn ich aus der Haft entlassen werde, ginge es mir ja letzten Endes doch besser als dem Krull. Ich werde noch heute durch Rosenfeld dem Reichsgericht mitteilen lassen, daß ich sogar jede politische Tätigkeit außer der Ausübung meines Mandates, zu der ich ja verpflichtet bin, bis zur Entscheidung über meinen Prozeß einstellen werde. Dazu Kaution und die Sicherheit, daß ich mich einem ordentlichen Gericht, im Gegensatz zu den Ausnahmegerichten, niemals entziehen werde - mehr kann man nicht tun. Wenn man mich dann noch weiter einsperrt, so ist es jedenfalls eine Sache, die nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun hat.« 238 Die Kaution sollte eine vorläufige Entlassung erreichen. Scholems eigenes Vermögen reichte dafür jedoch nicht, und von der Familie hatte er nichts zu erwarten. Daher appellierte er brieflich an die Solidarität der Partei. 239 Angesichts der Umstände schwante Scholem, dass es sich um einen Geldbetrag von »etlicher Höhe« handeln müsse. 240 Die KPD sprang ein, obwohl die Kaution sagenhafte 150.000 Reichsmark betrug - das Hundertfache von Scholems Monatslohn. Doch Scholem war wichtig für die Partei, und die Partei besorgte das Geld. Am 29. Dezember 1921 hinterlegte Anwalt Kurt Rosenfeld die komplette Summe - es war Werner Scholems 26. Geburtstag. 241 Trotz dieses einzigartigen Präsents musste er den Jahrestag alleine in seiner Zelle in Moabit verbringen. Erst am 31. Dezember 1921 um halb acht abends wurde Werner Scholem nach fast dreimonatiger Haft entlassen. 242 Den vierten Hochzeitstag konnte er mit Emmy in Freiheit feiern. Die Strafverfahren zu Hoch- und Landesverrat waren damit jedoch nicht aus der Welt, Scholem musste regelmäßig zu Verhören und Gerichtsterminen erscheinen. 243 Er verweigerte weiterhin die Aussage. Die Justiz blieb geduldig. In einem Brief ans Justizministerium vom Januar 1922 erklärte der Oberreichsanwalt seine Taktik: »So soll zunächst abgewartet werden, ob diejenigen Strafverfahren, die wegen der Entstehung der mitteldeutschen Unruhen eingeleitet worden sind, noch etwas den Angeschuldigten Belastendes erbringen.« 244 Doch es fand sich nichts. Eher im Gegenteil: im Januar und Juli 1922 dokumentierten die Behörden die zitierten Aussagen von Bernhard Karge. Der Zeuge betonte, Scholem habe die Aufrufe zur Märzaktion nicht verfasst, sondern sogar ihren Inhalt kritisiert. 245 Das von Anfang an wackelige Hochverratsverfahren wurde damit noch fragwürdiger. Allenfalls einen Missbrauch des Presserechts konnte man Scholem vorwerfen - für Pressedelikte war 238 Abschrift eines Briefes von Werner an Emmy Scholem vom 13. Dezember 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1, Blatt 93. 239 Werner Scholem an die Zentrale der KPD vom Oktober 1921 (exaktes Datum unleserlich), in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 76a. 240 Ebenda. 241 Antrag auf Annahme von Geld zur Hinterlegung vor dem Amtsgerichte vom 29. Dezember 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1; Sowie Beschluss des 1. Strafsenats des Reichsgerichts vom 19. Dezember 1921, in: Ebenda, Band 3. 242 Entlassungsbescheid vom 31. Dezember 1921, in: Ebenda. 243 Zum Haftbefehl: Handschriftlicher Briefentwurf des Oberreichsanwaltes vom 4. Januar 1922, in: Ebenda, Band 3. 244 Oberreichsanwalt an den Reichsminister der Justiz (Briefabschrift) vom 27. Januar 1922, in: Akten betreffend Kommunismus, BArch, R 1501/ 20322. 245 Aussage Bernhard Karge vom 19. Januar 1922, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Bd 1; sowie Zeugenvorführung Karge im Amtsgericht Brandenburg an der Havel vom 7. Juli 1922, Ebenda. <?page no="187"?> 187 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 187 jedoch das Reichsgericht in Leipzig gar nicht zuständig. Eine Blamage in Bezug auf den vermeintlichen Hochverräter wurde dem Reichsgericht im Sommer 1922 nur erspart, weil eine die Republik erschütternde Staatskrise dazwischenkam. Nachdem schon 1921 der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger von völkischen Attentätern ermordet worden war, schlug der Terror im Folgejahr erneut zu. Am 24. Juni 1922 wurde Außenminister Walter Rathenau durch eine Handgranate und mehrere Schüsse aus einem Maschinengewehr getötet. Ein Ausläufer des Schattenmilitärs, über das keine Zeitung berichten durfte, hatte zugeschlagen. Für beide Morde waren Mitglieder der rechtsradikalen »Organisation Consul« verantwortlich, einer Nachfolgeorganisation des am Kapp- Putsch beteiligten Freikorps »Marinebrigade Ehrhardt«. 246 Der zweite Mord richtete sich gegen Rathenaus »Erfüllungspolitik«, seine Kooperation mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges zur Leistung der Reparationen. 247 Die Täter lehnten alle Reparationen ab und strebten eine »nationale Revolution« zur Wiederherstellung deutscher Größe an. Dass gerade Rathenau dabei im Wege stand war paradox, denn seine nationale Gesinnung stand außer Frage. Als Leiter des Rohstoffamtes im preußischen Kriegsministerium war er führender Organisator der deutschen Kriegswirtschaft gewesen, hatte noch im Oktober 1918 gegen Friedensverhandlungen protestiert. Seine spätere »Erfüllungspolitik« war kein Eingeständnis deutscher Kriegsschuld, sondern zielte darauf ab, die Unerfüllbarkeit der Reparationsforderungen durch buchstabengetreue Befolgung zu demonstrieren. Während die völkische Rechte Deutschlands Größe durch eine Revolution wieder herstellen wollte, verfolgte Rathenau dasselbe Ziel mit den Mitteln der Realpolitik. 248 Dennoch galt er nicht nur den Attentätern als Inbegriff der Weimarer »Judenrepublik«. Schon seit Längerem kursierte an deutschen Stammtischen ein Hasslied mit dem Refrain »Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau«. 249 Die Aufforderung hatte nun Gehör gefunden. Der Antisemitismus, schon vor 1918 im Aufschwung, hatte durch die Demütigung der Kriegsniederlage einen weiteren Schub erhalten. 250 Dasselbe Reichsgericht, das Scholem als Hochverräter aburteilen wollte, lehnte es an anderer Stelle ab, den Ausdruck »Judenrepublik« strafrechtlich zu ahnden. Er verweise als Meinungsäußerung auf die »nach Ansicht weiter Volksreise« tatsächlich vorhandene »übermäßige Macht« der Juden im öffentlichen Leben. 251 Erst nach Rathenaus Tod reagierten die staatlichen Organe, das Phänomen des Rechtsterrorismus ließ sich nicht mehr ignorieren. 252 Einen Tag nach dem Attentat hielt Reichskanzler Joseph Wirth im Reichstag eine Rede, von der vor 246 Zu den Hintergründen vgl. Martin Sabrow, Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt am Main 1999; sowie Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär, S.-244; und Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhard, Hamburg 1971, S.-72-100. 247 Zur Erfüllungspolitik vgl. Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917-1933, S.-222ff. 248 Vgl. Shulamit Volkov, Walther Rathenau - The Life of Weimar’s Fallen Statesman, New Haven, 2011. 249 Vgl. Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, Leipzig 1990, S.-266. 250 Zu den Konjunkturen des Antisemitismus in Deutschland und Westeuropa vgl. Lionel B. Steiman, Paths to Genocide - Antisemitism in Western History, London 1998. 251 Heinrich Hannover/ Elisabeth Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933, S.-264. 252 Auch auf den SPD-Politiker Philipp Scheidemann und den jüdischen Journalisten Maximilian Harden wurden politische Attentate von rechts verübt. Beide überlebten jedoch. Hinzu kamen zahlreiche »Fememorde« mit der vermeintliche Verräter aus den eigenen Reihen hingerichtet wurden. Vgl. Heinrich Hannover u. Elisabeth Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933, Bornheim-Merten 1987. S.- 105-145 sowie Martin Sabrow, Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, a.a.O. <?page no="188"?> 188 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) allem ein Satz im Gedächtnis blieb. Mit Blick auf die Rechtsparteien rief der Zentrumspolitiker aus: »Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts! « 253 Diese Aussage forderte einen Paradigmenwechsel von den Weimarer Demokraten, die zuvor ihre Gegner nur auf Seiten der Linken gesehen hatten. Auch die Sozialdemokratie hatte seit 1919 nicht den Schulterschluss mit den ehemaligen Genossen von KPD und USPD gesucht, sondern mit dem Bürgertum eine »Koalition der Ordnung« geschaffen. Diese stützte sich auf eine Armee, deren Ansichten sich im Wesentlichen mit denen der der »Organisation Consul« deckten: beide hatten ihren Ursprung in den Freikorps der Gegenrevolution. 254 Die einen arbeiteten im Regierungsauftrag, die anderen töteten freischaffend. Redeverbot für die Presse und Protektion für Mordverdächtige vom Schlage eines Leutnant Krull hatten dafür gesorgt, dass die von Staat und Gerichten lange gedeckten paramilitärischen Strukturen unkontrollierbar wurden. Der Schock des Rathenau-Mordes führte endlich zum Versuch, diese Zustände zu ändern. Zunächst per Verordnung und dann im Reichstag wurde ein »Gesetz zum Schutze der Republik« erlassen. Es erlaubte das Verbot republikfeindlicher Vereine, Mordaufrufe gegen Mandatsträger der Republik wurden unter Strafe gestellt. Zuständig war ein eigens eingerichteter Staatsgerichtshof, Gegengewicht zum Leipziger Reichsgericht und seiner Verfilzung mit Militär und Paramilitär. Der Staatsgerichtshof war jedoch keineswegs linksverdächtig. Seine Grundlage war eine frühe Form der Extremismustheorie. Sie verfolgte den Rechtsterrorismus ebenso wie alle Revolutionspläne von links. Die politische Justiz sollte mit dem Gesetz also nicht abgeschafft werden, sondern innerhalb eines republikanischen Korridors wirken. 255 Obwohl Scholem als Kommunist außerhalb dieses Korridors stand, profitierte er von der Reform. Denn der Reichstag hatte gleichzeitig mit dem Republikschutzgesetz auch ein »Gesetz über die Straffreiheit für politische Straftaten« verabschiedet, die sogenannte »Rathenau-Amnestie«. 256 Sie war eine Reaktion auf die fragwürdige Praxis der Sondergerichte nach der Märzaktion, die andauernde politische Debatten ausgelöst hatte. Auch das Verfahren gegen Werner Scholem wegen Hochverrats fiel unter die Hoheit des neuen Staatsgerichtshofes, und der machte kurzen Prozess: das Verfahren wurde eingestellt. 257 253 Verhandlungen des Reichstags - Stenographische Berichte, I. Wahlperiode 1920, Bd. 356, 236. Sitzung. Berlin 1922, Sp. 8054 - 8058. 254 Das Programm der Organisation Consul wurde 1921 unter dem Titel »Deutschlands Zukunft - Aufgaben und Ziele« festgehalten, sein monarchistischer Geist ließ sich laut Gabriele Krüger zunächst in der Forderung »Schafft Schwarz-Weiß-Rot! « zusammenfassen. Zunehmend habe jedoch auch völkisch-antisemitisches Gedankengut Aufnahme gefunden - in der organisationseigenen Zeitschrift »Wiking« hieß es etwa, der Kampf der Organisation richte sich »gegen Demokratie, Sozialdemokratie und Judentum«. Vgl. Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971, S.-84f. Vgl. auch Heinrich Hannover/ Elisabeth Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933, S.- 135-145. Zum Zusammenhang zwischen Weltkrieg, Gegenrevolution und NS-Bewegung vgl. auch Gerd Krumeich, Anke Hoffstadt u. Arndt Weinrich (Hg.): Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010. 255 Unter Strafe gestellt wurden »Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform«, wobei Reichsjustizminister Gustav Radbruch (SPD) Kritikern auch aus der eigenen Partei versicherte, dass allein rechtsradikale Taten gemeint seien. Die Beschränkung stand allerdings nicht im Gesetz, das bald genau gegenteilig ausgelegt wurde. Vgl. Heinrich Hannover/ Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918-1933, S.115f. 256 Christoph Jürgen, Die politischen Reichsamnestien 1918-1933, S.-127-163. 257 In einem Schriftwechsel des Innenministers hieß es lapidar: »Das Verfahren gegen den Schriftleiter Werner Scholem in Berlin wegen Hochverrats ist durch Beschluß des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik vom 19. August v. J. [1922, RH] eingestellt worden, da dem Angeschuldigten durch das Gesetz <?page no="189"?> 189 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 189 Ein Aufatmen für Werner Scholem - doch nur vorläufig. Sein Verfahren wegen Landesverrat lief beim Reichsgericht weiter: Landesverrat war kein Vergehen gegen die republikanische Staatsform, sondern ein Verrat an den nationalen Interessen des Deutschen Reiches. Genau dafür sollte sich Werner Scholem nun verantworten. Denkt man an seine Briefe aus dem Ersten Weltkrieg, an die Hoffnung auf eine »Zerschmetterung Deutschlands«, war Scholem zweifellos schuldig. Selbst unter seinen Genossen dürften sich wenige gefunden haben, die einen so konsequenten Antinationalismus vertraten. Aber auch das Reichsgericht konnte nicht eine Gesinnung verurteilen, sondern musste ein Vergehen nachweisen. Dazu wurde im September 1922 das Hauptverfahren eröffnet. Scholem hatte bis zuletzt geschwiegen, der Ausgang des Verfahrens war offen für Überraschungen. Und dafür sorgte Scholem reichlich. Am 27. Oktober benannte Anwalt Rosenfeld plötzlich drei neue Zeugen: den 26jährigen Readakteur Leopold Kreutz, den 21 Jahre alten »Schriftsteller« Heinz Neumann sowie den 29jährigen Fritz Runge. Die Bombe platzte in der Hauptverhandlung, die am 22. Januar 1923 in Leipzig stattfand. Das Gericht folgte zunächst der Konstruktion der Anklage, demzufolge die gefälschten Dokumente »für das Wohl des Deutschen Reiches geheim zu halten waren«. 258 Der Nachweis von Scholems »Verfehlung« geriet allerdings zum juristischen Fiasko. Die Urteilsschrift dokumentiert den Lauf der Verhandlung: »Der Angeklagte, der bis zu seiner Ladung zur Hauptverhandlung jeder Aussage zur Sache verweigert hatte, hat in der Hauptverhandlung bestritten, daß er die Veröffentlichungen veranlaßt habe oder für sie verantwortlich sei. Am 7. Mai 1921 259 habe der Preußische Landtag, dem er angehörte, in einer anderen Strafsache die Genehmigung zu seiner Strafverfolgung erteilt. Um der zu entgehen, habe er sich auf Weisung des Vorstandes seiner Partei am 9. Mai ins Ausland begeben, und zwar zunächst nach Reichenberg in Böhmen, wo er am 10. Mai eingetroffen sei. Durch die auf Veranlassung der Partei erfolgte Abreise von Berlin sei es ihm unmöglich gewesen, noch als verantwortlicher Schriftleiter der Roten Fahne tätig zu sein […] vielmehr habe er angenommen, daß die Leitung seiner Partei alsbald ohne weiteres einen anderen verantwortlichen Schriftleiter abbestellen werde. Als er nach seiner Ankunft in Reichenberg aus den ihm dort zu Gesicht gekommenen Nummern der Roten Fahne ersehen habe, daß er in ihr immer noch als verantwortlicher Schriftleiter genannt werde, habe er gleich nach Berlin an die Parteileitung geschrieben und um Abstellung dieser ›Schlamperei‹ ersucht. Nach einem Aufenthalt von etwa 3 Wochen habe er sich von Reichenberg nach Aussig begeben. Nach Deutschland sei er erst im Herbst 1921 zurückgekehrt. Die Abwesenheit des Angeklagten von Berlin zur Zeit der Veröffentlichungen, das Ersuchen an die Parteileitung um Unterlassung seiner Benennung als Schriftleiter und die Untunlichkeit, aus dem Ausland die Schriftleitung auszuüben, ist durch die einander ergänzenden Aussagen der Zeugen Neumann, Runge und Kreutz in Übereinstimmung vom 21. Juli 1922 (Reichsgesetzbl. I S.595) Straffreiheit gewährt ist.« Vgl. Brief Reichsminister der Justiz an Reichsminister des Innern vom 6. Januar 1923, in: Akten betreffend Kommunismus, BArch, R 1501 / 20322. 258 Urteil im Fall Werner Scholem vom 22. Januar 1923, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 34/ 22 Band 2. 259 Laut Landtagsakten tagte der Ausschuss erst am 9. Mai 1921. Die »andere Strafsache« war das erwähnte Hochverratsverfahren. Vgl. Drucksache Nr. 409 des preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924 sowie Ausschussverhandlungen über die strafrechtliche Verfolgung der Abgeordneten, GStA PK, I. HA Rep. 169 D, I J, Nr. 9a, Beiheft 1, Bd. 1. <?page no="190"?> 190 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) mit den Angaben des Angeklagten bestätigt worden. Hiernach ist nicht erwiesen, daß der Angeklagte nach den allgemeinen Strafgesetzen (als Täter oder Teilnehmer) für die ihm zur Last gelegten Veröffentlichungen verantwortlich ist […] sofern der Angeklagte zur Zeit der Veröffentlichungen noch verantwortlicher Schriftleiter der Roten Fahne war, ist die Annahme seiner Täterschaft durch die erwiesenen Umstände ausgeschlossen.« 260 Das Urteil war eine sensationelle Niederlage für die Staatsanwaltschaft. Scholem wurde ohne Wenn und Aber freigesprochen. Aus all den widersprüchlichen Hinweisen während der reichsweiten Fahndung nach Scholem stellten sich im Nachhinein zwei Information als korrekt heraus: Er war in Tschechien als Journalist tätig. Zunächst beim Reichenberger »Vorwärts«, dem Traditionsorgan der österreich-ungarischen Sozialdemokratie, das sich 1914 dem Kriegskurs verweigert hatte und nun deutschsprachiges Organ der tschechoslowakischen Kommunisten war. 261 Später wechselte Scholem ins nahegelegene Aussig. Doch schon in Reichenberg war er erkannt und denunziert worden. 262 Die Abteilung Ia der Berliner Polizei hatte es am Ende doch geschafft, die entscheidenden Hinweise aus dem Wust an Falschmeldungen herauszufiltern und konnte Scholem bei seiner heimlichen Rückkehr nach Berlin festnehmen. Über den exakten Zeitpunkt von Scholems Flucht war man jedoch nicht informiert, ebensowenig über seine Verweildauer im Ausland. Dies erwies sich als fatal. Scholem wurde freigesprochen, die Staatskasse hatte sämtliche Kosten des Verfahrens zu tragen. Man fragt sich, warum Scholem die Sache nicht schon kurz nach seiner Verhaftung aufklärte - warum nahm er drei Monate Haft auf sich, wenn er seine Unschuld sofort beweisen konnte? Der Verweis auf den »Auftrag der Partei« in Scholems Aussage gibt einen Hinweis: Seine Flucht geschah in Absprache mit der KPD, diese sorgte auch für eine neue Aufgabe während des Exils. Scholem hat kaum auf Abbestellung als Schriftleiter der »Roten Fahne« gedrungen. Die »Schlamperei« hatte System: ein unauffindbarer Schriftleiter war fast noch besser als ein immuner Abgeordneter. Scholem hatte sich bereiterklärt, sämtliche Inhalte der »Roten Fahne« mit seinem Namen zu verantworten. Während der Flucht mag ihm dabei mulmig geworden sein, aber auch nach der Verhaftung blieb er absolut loyal. Er bat das Politbüro der KPD schriftlich um »Verhaltensmaßregeln«, bevor er irgendetwas zur eigenen Verteidigung unternahm. Das höchste Parteigremium diskutierte die Angelegenheit am 15. September 1922, erst nachdem seine Verteidigungsstrategie ausdrücklich gebilligt wurde, benannte Werner Scholem drei Tage später seine Entlastungszeugen. 263 Scholem 260 Urteil im Fall Werner Scholem vom 22. Januar 1923, Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache Scholem, Werner, Redakteur der Roten Fahne, BArch, R 3003, 6J 34/ 22 Band 2. 261 Mario Keßler, Ruth Fischer - Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), S.-39. 262 Die Denunziation tätigte der Redakteur einer anderen Zeitung mit der expliziten Bitte, den Hinweis vertraulich zu behandeln. Vgl. Meldung der Polizeiwache Zittau vom 19. August 1921, in: Akten des Oberreichsanwalts in der Strafsache gegen Scholem, BArch, R 3003, 11 J 16 / 1921 Band 1; der Hinweis auf Aussig stammte vom verhafteten KPD-Kurier Wilhelm Ingruber - vgl. Grenzpolizeistelle Lindau an Polizeidirektion München am 18. Juni 1921, in: Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung - Akten betreff Scholem, Werner, BArch, R 1507 / 739. 263 Im Protokoll heißt es: »Es liegt ein Brief des Gen. Scholem vor, worin er um Verhaltensmaßregeln bei seinem Prozess bittet. Scholem ist wegen Landesverrat, der nicht unter die Amnestie fällt, angeklagt wegen Abdruck von angeblich gefälschten Dokumenten über Waffenlager in Schlesien. Scholem war während Veröffentlichung dieser Dokumente bereits in der Tschechoslowakei und kann dies durch Zeugen nachweisen. Wenn dies geschieht, muss Freispruch erfolgen. Jemand anders kann wegen Verjährung nicht angeklagt werden. Beschluss: Genosse Scholem soll gegen Zeugen nachweisen, dass er wegen Abwesenheit <?page no="191"?> 191 3.2 Journalismus und Justiz: Werner Scholem als Redakteur der »Roten Fahne« 191 handelte ganz und gar als Parteisoldat. Sein Schweigen hatte dafür gesorgt, dass die Justiz sich an ihm festbiss und kein weiteres Verfahren gegen die »Rote Fahne« eröffnete. Die Partei zeigte sich dankbar, stellte Kaution und Anwalt. Die Rechnung ging auf: Nach dem Platzen des Prozesses war niemand mehr haftbar zu machen. Die KPD hatte mit hohem Einsatz gepokert und ihr Spiel gegen den Staat gewonnen. Was bleibt als Fazit vom Fall Scholem? Er wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Restauration und Revolution in der frühen Weimarer Republik. Die 1919 in Weimar beschlossene demokratische Verfassung war zunächst ein Blatt Papier, und es war noch längst nicht ausgemacht, wie sie umgesetzt werden würde. Die KPD hatte ein gespaltenes Verhältnis zu diesem Kampf um die Verfassungswirklichkeit, schwankte zwischen Einheitsfront und Umsturz. Die SPD dagegen vertrat eine rein parlamentarische Politik. Sozialreform oder Reformsozialismus - beides sollte ausschließlich im Rahmen der legalen Institutionen stattfinden. Mit Ausnahme der 1919 gewählten Parlamente gab es jedoch keine republikanischen Institutionen. Das komplette Personal in Justiz, Verwaltung, Polizei und Armee war aus dem Kaiserreich übernommen. 264 Auch die Gesetze hinter der Verfassung stammten aus einer anderen Epoche: Werner Scholem wurde aufgrund des »Preßgesetzes« von 1874 angeklagt. Mit der neuen Verfassung war kein System neuer Rechtsnormen geschaffen, sondern allenfalls ein Anfang dafür gemacht worden. Die gewählten Parlamente waren eine dünne Schicht Demokratie auf dem festen Sockel des alten Staates der Monarchie. Idee der Nationalversammlung von 1919 war, dass die gewählten Parlamente den Staat langsam umgestalten würden. Doch genauso gut war eine Restauration denkbar. Der Status Quo begünstigte dies sogar, es brauchte gar keine konservative Mehrheit, sondern nur ein Patt zwischen Reformkräften und Konservativen. Im Grunde war die Verfassung selbst Ergebnis eines solchen Patts: schon in der Nationalversammlung hatten die Arbeiterparteien als Akteure der Novemberrevolution keine eigene Mehrheit. Und so wurde ein Staat geschaffen, der trotz aller Wahlen nicht einmal dem Namen nach eine Republik war: die Änderung der Bezeichnung »Deutsches Reich« wurde abgelehnt. Im Verfahren gegen Scholem vor dem Reichsgericht kam all dies zusammen. Das Strafgesetzbuch von 1871 und ein Richter mit dazu passender Geisteshaltung machten aus Dokumentenfälschungen »Landesverrat«. Eine Verurteilung Scholems scheiterte - jedoch nur aus Mangel an Beweisen. Die Rechtsnorm zum Landesverrat blieb in Kraft und disziplinierte die Presse: Zehn Jahre nach Scholems Freispruch wurde Carl von Ossietzky mit exakt derselben Begründung verurteilt, nachdem er geheime Rüstungsprojekte aufgedeckt hatte. 265 Die KPD hatte angesichts dieser Verhältnisse eine instrumentelle Einstellung zum nicht als verantwortlicher Redakteur in Frage kommt.« Vgl. Sitzung des KPD-Politbüro am 15. September 1922, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2. 264 Zur Justizpraxis im Kaiserreich vgl. Uwe Wilhelm, Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz. Justizkritik - politische Strafrechtsprechung - Justizpolitik. Berlin 2010. Die Schaffung neuer Institutionen war in der Revolutionsphase bewusst ausgeschlagen worden, die 1918/ 1919 auch von Teilen der SPD geforderte Integration der Räte in die Weimarer Verfassung wurde nie umgesetzt. Vgl. Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution - Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/ 19, Düsseldorf 1963. 265 Ossietzky hatte 1929 illegale Rüstungsprojekte in der angeblich zivilen Luftfahrtforschung öffentlich gemacht. Das 1931 ergangene Urteil ermöglichte den Nationalsozialisten 1933, Ossietzky zu verhaften ohne auf Schutzhaft oder anderes ausweichen zu müssen. Einer Auswanderung, die vom Regime wahrscheinlich sogar gewünscht wurde (Ossietzky bekam demonstrativ seinen Pass zugestellt), widersetzte er sich. <?page no="192"?> 192 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Staat. Ein Rechtsstaat, der im Grunde ein Obrigkeitsstaat war und nicht einmal über republikanisches Briefpapier verfügte, genoss keinerlei Respekt. Die persönliche Erfahrung mit der kaiserlichen Justiz, die nicht nur Werner Scholem mitbrachte, tat ein Übriges. Dementsprechend scheute Scholem sich nicht, gegen das Pressegesetz zu verstoßen, dies durch seine Immunität als Abgeordneter zu decken und sich dann der Justiz durch eine Flucht ins Ausland zu entziehen. Die Bilanz auf Seiten des Staates ist jedoch weit fragwürdiger: Ein Reichskommissar als Hüter der Verfassung regt an, die Immunität eines Abgeordneten ohne Parlamentsbeschluss zu unterlaufen - mit ausdrücklicher Rückendeckung der Reichsregierung, die als Exekutivorgan direkt in die Justiz eingreift und die Gewaltenteilung ignoriert. Ein weiteres Exekutivorgan, die von einem Sozialdemokraten geführte Berliner Polizei, verhindert im Folgenden das Erscheinen der vom Abgeordneten herausgegebenen Zeitung. Die Zeitung ist das Zentralorgan einer mit der SPD direkt konkurrierenden Partei, welche sich nun nicht mehr an der öffentlichen Willensbildung beteiligen kann, obwohl gegen sie kein gerichtliches Verbot vorliegt. Der Ankläger eines Sondergerichts, gebildet unter Berufung auf den Notverordnungsparagraphen § 48 erhebt anschließend den Vorwurf des Hochverrats gegen den entsprechenden Abgeordneten. Dies geschieht in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass die Beweise nicht ausreichen. Ein frei gewähltes Parlament genehmigt die Strafverfolgung dennoch. Um dem unliebsamen Abgeordneten in jedem Fall verurteilen zu können, wird ein Landesverratsvorwurf hinzugefügt. Das Parlament genehmigt erneut die Strafverfolgung. Die schließlich formulierte Anklage geht vom Grundsatz aus, dass alle Journalisten der Republik zur Geheimhaltung von völkerrechtswidrigem Regierungshandeln verpflichtet sind. Es fällt schwer, zu entscheiden, wer in dieser Aufstellung besser dasteht - Staat oder Staatsfeind. Doch es gab auch Gegentendenzen: Das Republikschutzgesetz als Versuch einer Justizreform stellte das Hochverratsverfahren gegen Scholem im Sommer 1922 ein, und auch das Reichsgericht war trotz aller Voreingenommenheit gezwungen, Scholem nach entlastenden Zeugenaussagen freizusprechen. Das Weimarer Rechtswesen war dementsprechend beides, Klassenjustiz und Rechtsstaat. Die Justiz war eine gebundene, sie hatte ihre Grenzen in rechtsstaatlichen Garantien. Deren Geltung wurde da unterlaufen, wo der Staat bei der Durchsetzung versagte - etwa im Mordfall Rosa Luxemburg, dessen Ausläufer Scholem im Strafvollzug erlebte. Das Republikschutzgesetz war ein ernsthafter Versuch, solche Straflosigkeit zu beenden. Er kam politischen Gefangenen wie Scholem zugute, wofür er jedoch keine Wertschätzung aufbringen konnte. Im Preußischen Landtag machte Scholem sich über das Gesetz lustig: »Da lachen ja die Hühner: die Klassenjustiz des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik, der die Reaktionäre streichelt.« 266 In der Tat wurde das Gesetz bald »vornehmlich gegen Kommunisten« angewandt. 267 Der im Fall Scholem zuständige Oberreichsanwalt Ludwig Vgl. Heinrich Hannover/ Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918-1933, S.-186f. 266 Protokolle des Preußischen Landtags, Erste Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. Als Reichstagsabgeordneter verlangte Scholem 1924 die Auflösung des Staatsgerichtshofes, vgl. Antrag von Katz, Scholem und Stöcker vom 9. August 1924 sowie die Interpellation von Scholem und Katz vom 13. August 1924, in: Preußischer Landtag, Drucksache Nr. 430 und Drucksache Nr. 433, 2. Wahlperiode 1924. 267 Dies lag vor allen Dingen an der Auswahl der Richter. Ursprünglich sollte die Hinzuziehung von Laienrichtern eine demokratische Tendenz sicherstellen. Dies gelang jedoch nicht, da bei drei konservativen <?page no="193"?> 193 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 193 Ebermayer gab dies in seinen Memoiren offen zu: »Das Republikschutzgesetz hatte ein eigentümliches Schicksal. Veranlaßt zunächst durch den Rathenaumord, war es in erster Linie als Waffe gegen rechts gerichtet. ›Der Feind steht rechts‹ hieß es damals. Im Laufe der Zeit gestaltete es sich aber mehr und mehr zur Waffe nach links.« 268 Angesichts dieser Verhältnisse zeigt sich die Weimarer Republik bei näherer Betrachtung nicht als gesetzte Größe, die politisch abgelehnt oder verteidigt werden konnte, sondern als Kraftfeld und Kampffeld verschiedener Interessen. Der demokratische Rechtsstaat war ein Versprechen und Ideal, das eingefordert und ausgebaut oder auch demontiert oder deformiert werden konnte. Scholem erlebte diesen Kampf zunächst als Objekt der Justiz. Doch mit seiner Freilassung Ende 1921 änderte sich das. Als Mitglied des Preußischen Landtages war er nun Teil des »Gesetzgebers« und konnte von innen erleben, wie die Weimarer Republik geformt wurde. Scholem beteiligte sich aktiv an diesem Prozess - als revolutionärer Redner, bisweilen auch als praktischer Reformer, immer konfrontiert mit dem massiven Willen zur Restauration seitens seiner politischen Gegner. 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag Der Preußische Landtag, in dem Werner Scholem die Fraktion der »Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands« vertrat, war nicht irgendein Landesparlament. Denn im Weimarer Föderalismus lagen viele Kompetenzen bei den Ländern, und der mit dem Ende der Monarchie entstandene »Freistaat Preußen« war der bevölkerungsmäßig größte Bundesstaat. Seine Fläche umfasste fast ganz Nord- und Ostdeutschland sowie Schlesien und Ostpreußen. Eine Neugliederung dieses Gebildes, das seine Grenzen vergessenen Feldzügen und dynastischen Zufällen vergangener Jahrhunderte verdankte, war wie so viele Reformen mit dem Ende der Revolution steckengeblieben. 269 Also blieb es beim Groß-Preußen, die im Preußischen Landtag beschlossenen Gesetze galten für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung und hatten Vorbildcharakter für andere Gliedstaaten. Obwohl die Anfang 1919 als Vorläufer des Landtages zusammengetretene »Preußische Landesversammlung« eine neue Landesverfassung erarbeitet hatte, war die Abnabelung vom Königreich Preußen noch längst nicht vollendet. Es existierten zahlreiche Landesgesetze, die auf eine Reformulierung warteten, ebenso wichtig war das Verwaltungshandeln bei der Umsetzung der Gesetze. Der im Februar 1921 gewählte erste Preußische Landtag, dem Werner Scholem angehörte, hatte damit eine Schlüsselstellung in der Geschichte Preußens und der Weimarer Republik. Berufsrichtern und sechs nach politischen Mehrheiten bestellten Laienrichtern stets eine konservative Majorität zustande kam. Vgl. Jürgen Christoph, Die politischen Reichsamnestien 1918-1933 sowie Heinrich Hannover/ Elisabeth Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933, S.-116. 268 Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht - Erinnerungen eines Juristen, Leipzig 1930, S.-180. 269 Zwei Ausnahmen erfolgreicher Föderalismusreform waren 1920 die Bildung des Landes Thüringen aus mehreren Kleinstaaten sowie auf kommunaler Ebene die Bildung Groß-Berlins im selben Jahr. <?page no="194"?> 194 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Das Parlament trat am 10. März 1921 im Gebäude des ehemals königlichen Preußischen Landtags in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße zusammen. 270 Dieses Gremium mit seinem vom Adel dominierten »Herrenhaus« und dem Dreiklassenwahlrecht war einst das Bollwerk der Reaktion, das von der Sozialdemokratie in zahlreichen Kampagnen angeklagt wurde. 271 Doch erst die Revolution hatte das Dreiklassenwahlrecht hinweggefegt. Im Landtag tagte der »Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte«, zur Jahreswende 1918/ 1919 wurde hier die KPD gegründet. Doch diese Zeiten von Sturm und Drang waren mit dem Zusammentreten der Landesversammlung vorbei. 272 Die Sozialdemokratie, im alten Regime fast gänzlich aus dem Landtag verbannt, fand sich nun als größte Partei mit Regierungsauftrag wieder. Bei der Neuwahl im Februar 1921 verlor sie zwar deutlich an Stimmen, blieb jedoch mit 114 Abgeordneten stärkste Fraktion unter den 428 Delegierten. 273 Gleich darauf folgten die Anhänger von Gott und Vaterland, die sich in Volksparteien neu formiert hatten: die katholische Zentrumspartei mit 84, die Deutschnationalen (DNVP) mit 75 Abgeordneten und die konservative DVP mit 58 Mandaten. Die sozialistische Linke bildete eine Minderheit mit 28 Mandaten für die USPD und 31 für die KPD. Nachdem im Oktober 1922 die Mehrheit der USPD-Fraktion zur Sozialdemokratie zurückkehrte, verblieb die KPD als einzige Linksopposition. 274 Die KPD war erstmals im Landtag vertreten, die vorherige Wahl hatte sie noch aus revolutionärer Ungeduld boykottiert. Doch mittlerweile war ein gewisser Pragmatismus eingekehrt. Mit Ernst Meyer hatte die Partei sich einen Fraktionsvorsitzenden vorangestellt, der im Sinne Rosa Luxemburgs eine Dialektik von Reform und Revolution vertrat. 275 Statt Wahlboykott und abstraktem Radikalismus stand Meyer für eine Politik, die sich an den Tagesnöten der arbeitenden Bevölkerung orientierte, Reformmaßnahmen nicht ablehnte, dabei jedoch die Grenzen des Parlamentarismus aufzeigte. 276 Ein Blick ins Sprecherverzeichnis der Landtagsprotokolle zeigt Meyer als klaren Wortführer der KPD. 277 Werner 270 Die Straße heißt seit 1951 Niederkirchnerstraße, benannt nach der kommunistischen Widerstandskämpferin Käthe Niederkirchner (geb. 1909, ermordet 1944 im KZ Ravensbrück). Zur Geschichte des Gebäudes vgl. Siegfried Heimann, Der preußische Landtag 1899-1947 - Eine politische Geschichte, Berlin 2011. 271 Etwa in der Wahlrechtskämpfen von 1908-1910, die zur Durchsetzung des Demonstrationsrechtes in Deutschland führten. Vgl. Bernd-Jürgen Warneken (Hg.), Als die Deutschen demonstrieren lernten. Das Kulturmuster »friedliche Straßendemonstration« bei den preußischen Wahlrechtsdemonstrationen 1908- 1910, Tübingen 1986. Zu den Wahlkämpfen vgl. Bernhard Mann, Die SPD und die preußischen Landtagswahlen 1893-1913, in: Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. München 1990, S.-37-48. 272 Zum Preußischen Landtag in Weimar vgl. Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, Düsseldorf 1985; zur Übergangsphase 1919-1921 insbes. S.-32-132 sowie Siegfried Heimann, Der preußische Landtag 1899-1947, Berlin 2011. 273 Eine Tabelle aller Wahlergebnisse 1919-1933 samt Mandatszahlen findet sich bei Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, S.-601. 274 Ebenfalls eine Minderheit im preußischen Parlament waren die Liberalen, vertreten durch 26 Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei. Hinzu kamen acht Abgeordnete für die »Deutsch-Hannoversche Partei« sowie vier Abgeordnete für die »Wirtschaftspartei des deutschen Mittelstandes«. 275 Rosa Luxemburg hatte sich bei der KPD-Gründung 1919 gegen die Forderung nach Wahlboykott gewandt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Zu Ernst Meyer vgl. Florian Wilde: Ernst Meyer (1887- 1930) - vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Eine politische Biographie, Universität Hamburg 2011, online unter: http: / / ediss.sub.uni-hamburg.de/ volltexte/ 2013/ 6009/ pdf/ Dissertation. pdf (Zugriff 18. 4. 2013). 276 Vgl. ebenda, S.-208. 277 Den Titel »VKPD« legte die Partei bald nach der Vereinigung mit der linken USPD ab, weshalb im Folgenden nur von der KPD-Fraktion die Rede sein soll. <?page no="195"?> 195 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 195 Scholem hatte Meyer bereits 1916 kennengelernt und von ihm einige Exemplare der verbotenen Spartacus-Briefe erhalten - sie hatten sein Herz zu Rosa Luxemburg gezogen. 278 Vom taktischen Geschick des Politveteranen lernte Werner im Parlament einiges, auch wenn sich beide später in entgegengesetzten Flügeln der Partei wiederfanden. Weitere prominente Redner der KPD waren Karl Schulz aus Berlin-Neukölln, Otto Kilian aus Halle sowie der Hannoveraner Iwan Katz, mit dem Scholem später eng zusammenarbeiten sollte. Gleich nach dieser Spitzengruppe folgte Werner Scholem selbst, der zu den sieben Hauptrednern der KPD gehörte. 279 Obwohl er wenig parlamentarische Erfahrung besaß wurde Scholem aus dem Stand zu einer prägenden Stimme der KPD-Fraktion. Dies ist durchaus wörtlich zu nehmen: die Parlamentsreden wurden damals ohne Mikrophon gehalten, Rednerinnen und Redner mussten sich mit lauten Worten Gehör verschaffen, oft genug gegen Zwischenrufe und Unruhe. 280 Scholem machte seine Sache offensichtlich gut - er redete nicht nur laut und oft, sondern vertrat die KPD-Fraktion sogar in Konfrontation mit den Ministern der preußischen Regierung. Diese Regierung wurde ab November 1921 aus einer Koalition von Sozialdemokratie, Zentrum, liberaler DDP und Deutscher Volkspartei unter Ministerpräsident Otto Braun gebildet. Der Einbezug der DVP war dabei sehr umstritten. Eigentlich hätten die Mehrheitsverhältnisse auch eine andere Koalition zugelassen: Sozialdemokratie, Zentrum und Liberale. Historiker gaben dieser Kombination später den Namen »Weimarer Koalition«. 281 Faktisch regierte die Weimarer Koalition auf Reichsebene jedoch nur 1919/ 20 sowie 1921, die monarchistische DVP war öfter an Reichsregierungen beteiligt. In Preußen jedoch stellte die Sozialdemokratie unter Ministerpräsident Otto Braun fast ununterbrochen die Landesregierung, meist in Koalition mit Zentrum und DDP. Daher gilt Preußen als »demokratisches Bollwerk« in der krisengeschüttelten Republik. 282 Betrachtet man die Amtszeit Werner Scholems von 1921-1924 relativiert sich dieses Bild jedoch. Zentrum und DDP weigerten sich nach der Februarwahl 1921 schlicht, eine Regierung ohne die DVP zu bilden. Sie gaben den Monarchisten einen klaren Vorzug gegenüber der Sozialdemokratie. Die Einheit der Republikaner blieb ein Rechenexempel, in der Realität übernahm eine Minderheitsregierung unter dem Zentrumspolitiker Adam Stegerwald die Geschäfte. Erst als sich die DVP nach dem Mord an Erzberger gegen den Rechtsterrorismus wandte, sahen 278 Werner an Gerhard Scholem, 7. Juli 1916, in: GSA Jerusalem. 279 Neben den fünf genannten Spitzenrednern hatten Gustav Sobottka und Gustav Menzel ähnlich hohe Redeanteile wie Scholem - berücksichtigt wurde nur die Zahl, nicht die Länge der Redebeiträge. 280 Dies war zum Nachteil der Rednerinnen, die wegen ihrer angeblich schrillen Stimme ins Lächerliche gezogen wurden - etwa bei Ruth Fischer. Vgl. Mario Keßler, Ruth Fischer, Ein Leben mit und gegen Kommunisten, S.-184. 281 Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917-1933, Berlin 1994, S.-71f. 282 Vgl. Dietrich Orlow, Weimar Prussia 1918-1925 - The unlikely Rock of Democracy, Pittsburgh 1986; sowie Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a. M. 1977, insbes. S.-499ff, und S.-562ff. Zur Innen- und Sicherheitspolitik unter der Regie von Innenminister Severing vgl. Thomas Alexander, Carl Severing - Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, S.- 125ff; ausführlicher ders.: Carl Severing - ein Demokrat und Sozialist in Weimar, Frankfurt a. M. 1996. Zur Spätphase der Weimarer Republik vgl. Dietrich Orlow, Weimar Prussia 1925-1933 - The Illusion of Strength, Pittsburgh 1991; sowie Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen - Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928-1932, Bonn 1975. Auch die heutige SPD in Brandenburg bezieht sich positiv auf die These eines demokratischen Preußen: Matthias Platzeck, Sozialdemokraten in Verantwortung: Institutionen, Verfahren und Prinzipienfestigkeit machten Preußen zum Bollwerk der Demokratie, In: Perspektive 21: Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik, Jg. 2008, S.-51 - 57. <?page no="196"?> 196 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) DVP und SPD eine Grundlage zur Zusammenarbeit. 283 Verhandlungen begannen, und am 5. November 1921 wurde die »große Koalition« aus SPD, Zentrum, DDP und DVP gebildet. 284 Die KPD-Fraktion traf 1921 also auf eine Regierung, in der Sozialdemokraten, Katholiken, Liberale und Konservative ein Zweckbündnis bildeten. Insbesondere die Sozialdemokratie wurde für diese »Koalitionspolitik«, die den Kommunisten als Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse galt, heftig angegriffen - nicht zuletzt von Werner Scholem. Durch seine schlagfertige Polemik, seinen unorthodoxen Lebenslauf und sein selbstbewusstes Auftreten war er bald im ganzen Parlament bekannt, oder vielleicht eher berüchtigt. Gleich in der ersten Sitzung wurde Scholem zum Thema der Debatte, als es darum ging, ein Strafverfahren aus seiner Zeit beim Halleschen »Volksblatt« einstellen zu lassen - kein guter Einstand in einem Hause, dessen Mehrheit sehr viel Wert auf bürgerliche Anstandsregeln legte. 285 In der vierten Sitzung ergriff Scholem dann zum ersten Mal das Wort mit einer heftigen Kritik an der Praxis der Ausnahmegerichte nach der Märzaktion. Das Protokoll vermeldete »Große Unruhe und stürmische Zurufe«, woraufhin Scholem von der Glocke des Präsidenten und einem Ordnungsruf unterbrochen wurde. Scholem störte dies nicht, er fuhr fort und nannte den preußischen Innenminister Severing (SPD) einen »polierten Noske aus Bielefeld«. 286 In der nächsten Sitzung fand dann die Wahl des Ministerpräsidenten statt - zur Erheiterung des ganzen Hauses bekam auch Scholem eine Stimme. 287 Scholem war mit 25 Jahren das jüngste Mitglied des Landtags, dessen Alterspräsident Herold noch im Revolutionsjahr 1848 geboren war. 288 Oft wurde ihm deshalb das Recht abgesprochen, sich überhaupt zu äußern: »Ich habe nicht die Absicht, mich mit Herrn Scholem zu unterhalten. Er ist mir dazu zu jung« gab etwa der Abgeordnete Eugen Leidig (DVP) zu Protokoll. 289 Scholem konterte in solchen Fällen sofort: »Aus der Wertschätzung des Herrn Abgeordneten Dr. Leidig mache ich mir verflucht wenig. Aber ich möchte zum Ausdruck bringen, daß wir Jugendlichen alt genug waren, um das sogenannte Vaterland des Herrn Dr. Leidig während des Krieges im Schützengraben zu verteidigen, (Pfuirufe rechts), daß wir alt genug waren, um für dieses Vaterland und für den Geldsack, den Abgeordneter Leidig vertritt, unsere gesunden Knochen zu Markte zu tragen. Wir sind also auch alt genug, um hier mitzuraten.« 290 283 Die DVP befürwortete die von Reichspräsident Ebert am 29. August 1921 erlassene Verordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, ein Vorläufer des Republikschutzgesetzes von 1922. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, S.-342f. 284 Das bürgerliche Minderheitskabinett amtierte von Ende April bis November 1921, während der Märzaktion 1921 stellte somit die SPD geschäftsführend die Regierung und den Innenminister. Erst nach den Neuwahlen im Dezember 1924 kam in Preußen eine »Weimarer« Koalition zustande. Vgl. Thomas Alexander, Carl Severing - Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992, S.-134. Zur in der SPD umstrittenen Regierungsbildung vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, S.-348ff. 285 Das Verfahren, eine Beleidigungsklage, wurde schließlich eingestellt. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 1. Sitzung am 10. März 1921, ebenso 3. Sitzung am 12. März und 4. Sitzung am 7. April 1921. Zu den Spaltenangaben der Redebeiträge vgl. im Folgenden jeweils das Sprechregister der Landtagsprotokolle. 286 Das Verfahren, eine Beleidigungsklage, wurde schließlich eingestellt. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 4. Sitzung am 7. April 1921. 287 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 5. Sitzung am 9. April 1921. 288 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 1. Sitzung am 10. März 1921. 289 Ebenda. 290 Ebenda. <?page no="197"?> 197 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 197 Im Anschluss an solche Polemiken war die Glocke des Präsidenten Scholems ständiger Begleiter, es findet sich kaum ein Redebeitrag ohne sie. Als jugendlicher Rebell ohne Respekt vor Nation und Vaterland war Werner Scholem eine wandelnde Provokation. 291 Dass er kurz nach Zusammentreten des Parlaments steckbrieflich gesucht wurde und für Monate untertauchte, dürfte dieses Bild noch verfestigt haben. Allerdings stand seine Rolle als »enfant terrible« schon vor der Verhaftung fest. Die Rote Fahne beklagte, dass die Mehrheit des Landtags sich »von ihrer Rachsucht und Animosität gegen den Genossen Scholem« zur Aufhebung seiner Immunität hinreißen ließ. 292 In der Tat waren die Gräben zwischen den Fraktionen tief: Am 7. Mai 1923 eskalierte eine Sitzung derart, dass Landtagspräsident Robert Leinert (SPD) die Polizei in den Landtag rief und mehrere kommunistische Abgeordnete abführen ließ. Auch Werner Scholem wurde mitten im Sitzungssaal verhaftet, obwohl er weder zur Debatte gesprochen noch Zwischenrufe getätigt hatte, sondern nur zufällig im Wege stand. Später warf man ihm »Beamtenbeleidigung« und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« vor, weil er die Polizisten als »Büttel« beschimpft habe. 293 Doch trotz Polizei und Präsidentenglocke passte Scholem sich nicht an, sondern sah seinen Widerstand in der Tradition der alten Sozialdemokratie. Genüßlich verwies er nach seiner Verhaftung darauf, dass Landtagspräsident Leinert elf Jahre zuvor selbst als sozialistischer Querulant mit Polizeigewalt aus dem »hohen Hause« entfernt worden war. Scholem veranlasste den Nachdruck eines entsprechenden Artikels aus dem »Vorwärts« von 1912 in der »Roten Fahne« von 1921. 294 Immer wieder zelebrierte Scholem seine Biographie als Provokation - etwa, wenn er bei einer Debatte zur Schulreform als Beweis für den reaktionären Geist bürgerlicher Schulen die Tatsache anführte, »daß ich aus drei von ihnen hinausgeschmissen worden bin.« 295 Ebenfalls biographisch begründete er seine Sachkenntnis zur Reform des Berliner Strafvollzugs: »Ich habe selbst das Vergnügen gehabt, in Moabit zu sitzen, und kenne darum die Verhältnisse dank der Fürsorge des Justizministers.« 296 Was sollte man mit solch einem Abgeordneten tun? Jemandem wie Werner Scholem waren die Honoratioren des Landtages, zu denen Gutsbesitzer, Professoren, Doktoren, Pfarrer, Ärzte und höhere Beamte gehörten, selten begegnet. Ignorieren konnte man ihn nicht, denn seine Provokationen trafen oft genug ins Schwarze. Wegen seiner Kritik an Krieg und Militär, seinen Polemiken gegen den gekränkten Nationalismus einer besiegten Gesellschaft galt Werner Scholem vielen als Verkörperung des vaterlandslosen jüdischen 291 Er passte damit auch ins Bild der KPD-Fraktion, die im Durchschnitt jünger war als der Rest des Parlaments, vgl. Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, S.-276. 292 Rote Fahne Nr. 119 vom 11. März 1922. 293 Ursache war die Weigerung eines KPD-Abgeordneten, den Ausschluss von der Sitzung zu akzeptieren. Scholem berichtete: »Als die Polizei in den Sitzungssaal eindrang, um den Genossen Paul Hoffmann hinauszuschleppen, fand ich mich in einem Gang […]. Um keinen Umweg machen zu müssen, stürzten sich mehrere Polizeibeamte auf mich und rissen mich in rohester Weise aus dem Gang heraus. Ich glaubte, daß damit diese glorreiche Aktion erledigt sei, hatte mich aber geirrt. Denn die Polizei schleppte mich sofort mit Gewalt aus dem Sitzungssaal heraus […].« Scholem wurde ein Jahr später zu 60 Mark Geldstrafe verurteilt. Vgl. Werner Scholem, »Die widerrechtliche Verhaftung der Genossen Scholem, Sobottka und Rosi Wolfstein, in: Rote Fahne Nr. 102 vom 8. Mai 1923. Vgl. auch »Die Polizeiaktion im Landtag« in derselben Ausgabe sowie den Prozessbericht »Die Spitzel-Weiß-Aktion gegen unsere Landtagsabgeordneten vor Gericht«, in: Rote Fahne Nr. 53, 2. Beilage, 16. Mai 1924. 294 Vgl. ebenda sowie »Vorwärts« vom 10. Mai 1912. 295 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 105. Sitzung am 23. Februar 1922. 296 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 210. Sitzung am 23. Februar 1923. <?page no="198"?> 198 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Intellektuellen. Er wurde regelmäßig antisemitisch angefeindet. Eine vergleichende Studie von Birgit Rolke zeigt, dass Scholem von allen 31 jüdischen Abgeordneten, die zwischen 1919 und 1933 im Preußischen Landtagen vertreten waren, zu den acht am häufigsten Angegriffenen gehörte. 297 Dies mag auch daran gelegen haben, dass er sich nichts gefallen ließ und immer zurückfeuerte. 298 Scholem reagierte mit Ironie, manchmal auch Polemik, stets aber mit entschiedenen Gegenangriffen auf eine bürgerliche Elite, die alte Ideale von Religionsfreiheit und Aufklärung längst hinter sich gelassen hatte. Somit kam es zur paradoxen Situation, dass ein erklärter Kommunist und Räterepublikaner wie Scholem bei mehr als einer Gelegenheit rechtsstaatliche Mindeststandards einfordern und bürgerliche Toleranzideale verteidigen musste. Obwohl sich Scholem zu vielen Themen äußerte - Pressefreiheit, Asylrecht, Justizreform, Lebensmittelpreise oder zu dem Verhältnis von Kirche und Staat - so waren doch die Auseinandersetzungen mit Bildungsreform, Rechtsterrorismus und Antisemitismus prägend für seine Parlamentsarbeit. Daher sollen diese drei Themenkomplexe im Folgenden herausgearbeitet werden. In ihnen wird mehr als eine persönliche Einstellung sichtbar. Scholems Stellungnahmen verkörpern die Widersprüche der revolutionären Linken in der Gründungsphase der Weimarer Republik und werfen ein Schlaglicht auf das politische Klima jener Zeit. Scholem als Schulreformer Die Schul- und Bildungsreform war Scholems Expertenthema. Er äußerte sich ausführlich in mehreren Debatten und arbeitete auch im Unterrichtsausschuss mit. 299 Die grundsätzliche Problemstellung war dieselbe wie in allen Einrichtungen des Weimarer Staates. Das Schulsystem als Summe von Personen, Verfahrensweisen und gesetzlichen Regelungen war ein Relikt des Kaiserreiches, es funktionierte nach dessen ideologischen Mustern und widersetzte sich störrisch jeder demokratischen Reform. 300 Im Februar 1922 fand dazu eine von der KPD angestoßene Aussprache dazu statt, in der Scholem Beispiele für Autoritarismus und antidemokratische Tendenzen in den Schulen brachte. 301 Im Geschichtsunter- 297 Rolke nennt Ernst Heilmann, Hermann Badt, Paul Hirsch und Erich Kuttner (alle SPD), Oscar Cohn (USPD), Werner Scholem und Iwan Katz (KPD), an anderer Stelle wird auch Max Lichtenstein (USPD) genannt. Vgl. Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928: Jüdisches Selbstverständnis und preußische Politik, Magisterarbeit am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin 1998, S.-82-84, S.90; zu den Angriffen auf Scholem insbesondere auch S.-79. 298 Scholem wurde durch Angriffe besonders häufig zu Stellungnahmen über sein Judentum gedrängt, während sein Fraktionskollege Iwan Katz weniger oft provoziert wurde. Im Allgemeinen wurden jüdische Abgeordnete aus den Reihen von SPD, USPD und KPD häufiger angegriffen, zum Christentum konvertierte jüdische Mandatsträger blieben gänzlich verschont. Vgl. Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928, S.-83ff. 299 Im Dezember 1922 fungierte Scholem als Berichterstatter des Unterrichtsausschusses gegenüber dem Parlament, vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 261. Sitzung am 1. Dezember 1922. Er verwies auf seine Tätigkeit auch in einem Redebeitrag von 1923, vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 261. Sitzung am 22. Juni 1923. 300 Zwar hatte es in der Revolutionsphase 1918/ 1919 zahlreiche Initiativen zu Schulreform und Trennung von Kirche und Schule gegeben, diese wurden jedoch in den Verhandlungen der Nationalversammlung weitgehend zurückgenommen. Vgl. Helmut Becker u. Gerhard Kluchert, Die Bildung der Nation: Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Stuttgart 1993. S.-159ff. 301 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 105. Sitzung am 23. Februar 1922. <?page no="199"?> 199 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 199 richt etwa würde noch flächendeckend Vorkriegsliteratur verwendet, obwohl dies bereits 1919 per Erlass verboten wurde. Scholem zitierte ein Schulbuch von 1913, das die sozialistische Bewegung und ihre »Wahngedanken« als »schlimme Gefahr für das deutsche Reich« bezeichnete. Das Buch sei weiterhin in Gebrauch, trotz sozialdemokratischer Regierung. Andere Bücher enthielten Lobgedichte auf Kaiser Wilhelm und »Das Lied vom Marschall Hindenburg« zum Mitsingen. 302 Als Extrembeispiel zitierte Scholem einen Lesebuchtext: »Es wird da erzählt wie im Kriege verschiedene Leute auf Patrouille ziehen und wie sie vor sich einige Feinde sehen, und da heißt es: ›Da bleiben die Kerle stehen, - Nämlich die Feinde - 4 Schritte vor uns. Sie unterhalten sich sorglos. Es zuckt einem in den Fingern, die beiden vor uns niederzuknallen; sie wären eine sichere Beute. Doch wir haben andere Aufgaben und so müssen wir sie gehen lassen. Schade! « Scholem kommentierte: »Wir sind als Kommunisten allerdings keine unbedingten Pazifisten, aber wir betrachten es als ein Dokument der Barbarei, wenn die Schüler in den unteren Klassen der Gymnasien belehrt werden, daß man Angehörige einer anderen Nation, die doch ebenfalls nur auf Befehl ihrer besitzenden Klassen in den Schützengräben geschickt worden sind, niederknallen muß; […] Wenn so etwas heute noch möglich ist, so ist das ein Beweis dafür, daß im Kultusministerium ein Geist herrscht, der auf das allerschlimmste das alte System bejaht; dieser Geist bedeutet nicht eine Bejahung des jetzigen Systems, sondern bedeutet einen Rückfall in die Barbarei des Krieges.« 303 Der zuständige »Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung« war Dr. Otto Boelitz, Gymnasialdirektor aus Soest in Westfalen und Mitglied der DVP. Im November 1922 lieferte sich Scholem ein Rededuell mit ihm. 304 Er hatte im Auftrag der KPD eine parlamentarische Anfrage gestellt und konnte dem Minister nachweisen, dass dieser in mehreren Fällen gewählten Schuldirektoren die zum Antritt notwendige Bestätigung verweigert hatte. Selbst einem kommunistischen Physiklehrer versagte das Ministerium eine Direktorenstelle und forderte eine Erklärung über seine politische Einstellung. Scholem bezeichnete dies als illegal, da laut Weimarer Reichsverfassung die Beamtenstellen nur nach Fähigkeit besetzt werden sollten. Zudem gelte auch für Staatsangestellte die »Freiheit der politischen Gesinnung«. Scholem wies nach, dass derartige Praktiken sogar gegen Sozialdemokraten angewandt wurden. Er nannte den Fall eines Geschichtslehrers namens Witte, Mitglied der SPD: »Das ist der Herr, der es gewagt hatte, den Geschichtsunterricht in republikanischem Sinne zu erteilen, und der deswegen natürlich nicht als Direktor bestätigt werden konnte.« 305 Nachdem Boelitz ein einziges Mal einen vom Berliner Magistrat gewählten Kommunisten zum Direktor ernannt habe, so Scholem, hätte er von konservativen Lehrerverbänden heftigsten Protest geerntet: »er mußte de- und wehmütig Abbitte leisten, er mußte das Versprechen geben, daß er keinen Kommunisten mehr bestätigen 302 Die Verwendung dieser Materialien hatte Scholem zufolge System, Schüler seien sogar von ihren Lehrern dazu aufgefordert worden, dem »Verein für Deutschtum im Auslande« beizutreten - einer nationalchauvinistischen Vereinigung unter Vorsitz Hindenburgs. Zum Kult um Hindenburg in den Schulen finden sich zeitgenössische Kritiken in einem Dokumentenband von Rosemarie Wothge (Hg.), Zur Pädagogik und Schulpolitik der KPD in der Weimarer Republik - Eine Auswahl aus der Zeitung »Der Klassenkampf«, Berlin (DDR) 1961, insbes. S.-74-84. 303 Ebenda. 304 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 183. Sitzung am 23. November 1922. 305 Ebenda. <?page no="200"?> 200 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) wolle.« 306 Auch die SPD-Fraktion des Landtages hatte dazu eine Anfrage an das Ministerium gestellt, musste jedoch trotz Regierungsbeteiligung zwei Monate auf Antwort warten, die dann sehr ausweichend ausfiel. Scholem attestierte dem Minister Boelitz in Anspielung darauf »Aaleigenschaften, die ihn befähigen, sich immer wenn man ihn bestimmt etwas fragt, zu drücken und zu winden und keine Antwort zu geben«. 307 Er schloss seine Rede mit einer Aufforderung an die SPD-Fraktion: »Wenn diese Politik weiter getrieben wird, wenn die Sozialdemokratische Partei weiter duldet, daß mit ihrer Billigung ein solcher Minister die Verantwortung für die Erziehung der Jugend hat, dann wird die Generation, die aus den höheren Schulen herauskommt, noch viel reaktionärer werden, als es jetzt die Generation schon ist.« 308 Die KPD-Fraktion kommentierte Scholems Schlusswort mit lauten »Bravo-Rufen«. Nun war es am Minister, Antworten zu liefern. Boelitz wies die Vorwürfe zurück, schob die »ungeeignete Persönlichkeit« der gewählten Rektoren vor und verwies auf Zuständigkeitsprobleme zwischen Magistrat und Bezirksämtern. Hinzu komme, dass einige der Gewählten aus der evangelischen Landeskirche ausgetreten seien. Daraus ergebe sich ein Konflikt mit dem Schulgesetz von 1906, das mangels neuerer Regelungen weiterhin in Kraft sei. Es legte fest, dass die Leitung von Bekenntnisschulen durch atheistische oder freireligiöse Lehrer illegal sei. 309 Nun gab es in Weimar fast nur religiöse »Bekenntnisschulen«, die Einrichtung weltlicher Schulen war bis 1922 kaum vorangekommen. 310 Ein Verbot für atheistische Lehrkräfte, als Direktoren in evangelischen Schulen zu amtieren, war somit ein kaltes Beförderungsverbot. Die Antwort des Ministers zeigte, dass Otto Boelitz kein Interesse an einer Säkularisierung der Schulen hatte. Sein Ziel war es nicht, den einen oder anderen kommunistischen Direktor abzusägen - es ging darum, das national-klerikale Schulsystem als Ganzes zu erhalten. 311 306 Scholem führte dazu Zeugenaussagen an und nannte einen weiteren Fall, der dieselbe Blockadehaltung gegenüber Sozialdemokraten belegte. Es ging um den Französischlehrer Hisserich. Von diesem seien durch seinen Direktor Aufsatzhefte einkassiert und auf Fehler überprüft wurden, um ihn wegen fachlicher Mängel von der Schule zu verweisen. Später stellte sich jedoch heraus: das französische Unterrichtsministerium hatte die Rechtschreibregeln geändert - Hisserichs Korrekturen waren korrekt, der Rektor hatte Fehler hineinverbessert. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 183. Sitzung am 23. November 1922. 307 Ebenda. 308 Ebenda. 309 Das preußische Schulgesetz von 1906 schrieb die Konfessionsschule als Regelschule fest. Der Bildungshistoriker Gerhard Kluchert kommentierte die dahinterliegenden Intentionen wie folgt: »Eine in religiösem Geist gehaltene Schulerziehung war in ihrem Verständnis das beste Mittel, um bei der Jugend der ›niederen Stände‹ bestimmte Denk- und Verhaltensmuster zu erzeugen, die sie für revolutionäre ›Irrlehren‹ unempfänglich machten« Vgl. Becker/ Kluchert, Die Bildung der Nation, a.a.O., S.-160. 310 Die Verbindung der Schulform mit dem Wahlrecht der Erziehungsberechtigten war Teil des sogenannten »Weimarer Schulkompromisses«, der zwischen SPD und Zentrum in der Nationalversammlung ausgehandelt wurde. Er nahm Beschlüsse zur Einrichtung weltlicher Schulen als Regelschule zurück. Formal waren beide Schulformen gleichberechtigt, faktisch wurden konfessionelle Schulen zum Normalfall. Eltern, die für ihre Kinder den Besuch kirchlicher Schulen ablehnten, mussten mit provisorischen Sammelschulen oder Sammelklassen vorlieb nehmen. Vgl. Becker/ Kluchert, Die Bildung der Nation, S.-159-183. 311 Gleichzeitig hatte diente die Schulpolitik zur Mobilisierung für die konservativen Parteien: »Die Parole ›Rettet die christliche Schule‹ war wie keine andere geeignet, ihnen die Unterstützung aller am Erhalt bzw. an der Wiederherstellung des alten Zustandes interessierten gesellschaftlichen Kräfte zu sichern und darüber hinaus auch jene an Kirche und Tradition orientieren Schichten besonders im ländlichen Bereich anzusprechen, deren Gefolgschaft unter den veränderten politischen Bedingungen verlorenzugehen drohte.« Becker/ Kluchert, Die Bildung der Nation, S.-167f. <?page no="201"?> 201 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 201 Scholem griff die ausweichenden Antworten scharf an: »Der Landtag ist gewiß ein überflüssiges Gebilde, das ist selbstverständlich. (Zuruf rechts: und Sie erst! ) Es wäre sehr gut, wenn der Landtag möglichst bald zum Teufel gejagt würde. Aber, meine Damen und Herren, wenn sie nicht wollen, daß der Landtag vollkommen als Affentheater nach außen gilt, (Zuruf rechts), dann müssen Sie wenigstens dafür sorgen, daß ihre Minister Auskunft erteilen, wenn sie von Abgeordneten interpelliert werden.« 312 Die starken Töne zeigen Scholems Dilemma - einerseits hielt er als Räterepublikaner das Parlament für überflüssig, andererseits war ihm an einer tatsächlichen Änderung der Schulverhältnisse gelegen. Dies zeigen seine hartnäckigen Interventionen in weiteren Debatten, die in der Zusammenschau einen regelrechten Bildungsreformplan ergeben. Scholem orientierte sich dabei neben den Debatten der KPD auch an Forderungen aus Gewerkschaften oder dem reformpädagogischen »Bund entschiedener Schulreformer«, nahm auch Impulse aus der USPD auf. 313 Seine Thesen diskutierte er nicht nur im Landtag, sondern auch auf öffentlichen Versammlungen. 314 Er zeigte sich damit als Teil einer aktiven Diskussionsgemeinschaft von Erziehungsreformern und Reformerinnen. In seinem Rededuell mit Boelitz bezog sich Scholem auf einen Entwurf der USPD für das Thüringische Schulgesetz. 315 Dieser verlangte die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems zugunsten einer vierjährigen Grundschule, dann eine Zwischenstufe mit zwei Schulzweigen von denen eine mit, die andere ohne Fremdsprache gestaltet werden solle, wobei jedoch das Latein durch Französisch ersetzt sei. Die Mittelstufe der Klassen acht bis zehn solle dies fortführen, eine Oberstufe schließlich die Hochschulreife ermöglichen - auch dies in zwei Zweigen, entweder als Fortsetzung der Mittelstufe mit Englischunterricht oder wahlweise mit Latein und Griechisch. 316 Für die nationalen Minderheiten forderte Scholem zudem Unterricht in ihren jeweiligen Muttersprachen. 317 Seine Vorschläge liefen auf eine Integration der Volksschulen mit den Gymnasien zu Einheits- oder Gesamtschulen hinaus, hinzu kam eine praxisnahe Reform der Lehrinhalte. Scholem verfolgte damit zwei Ziele: erstens die Aufhebung der bisherigen Volksschule als »Klassenschule« für die unteren Schichten, 318 zweitens die Überwindung des »humanistischen« Bildungsideals mit 312 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 183. Sitzung am 23. November 1922. 313 Auf den Bund entschiedener Schulreformer sowie die Gewerkschaften bezog Scholem sich in der 263. Sitzung am 4. Juli 1923, auf einen USPD-Schulgesetzentwurf in der 183. Sitzung am 23. November 1922, vgl. jew. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924. Zur Position der Weimarer KPD in Schulfragen vgl. Herbert Flach (Hg.): Das proletarische Kind - zur Schulpolitik und Pädagogik der KPD in der Weimarer Republik, Berlin (DDR) 1974; sowie Rosemarie Wothge (Hg.): Zur Pädagogik und Schulpolitik der KPD in der Weimarer Republik, a.a.O.. Zum Bund entschiedener Schulreformer vgl. Armin Bernhard u. Jürgen Eierdanz (Hg.), Der Bund der entschiedenen Schulreformer - Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik, Frankfurt a. M. 1991. 314 So etwa am 19. Mai 1923 im Lokal »Dörings Festsäle« in Berlin-Kreuzberg, vgl. Ankündigung in: »Der Kultusetat und das Berliner Proletariat,« Rote Fahne Nr. 106, 12. Mai 1923. 315 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 105. Sitzung am 23. Februar 1922. 316 Ebenda. 317 Dies war vor dem Hintergrund der 1918 erzwungenen Gebietsabtretungen an Polen ein heikles Thema. Die KPD forderte eine verfassungsmäßige Behandlung der polnischen Minderheit in Deutschland, denn nur so könne einer Diskriminierung der im neuen polnischen Staat lebenden Deutschen vorgebeugt werden. Der Rechten warf er nationale Heuchelei vor: »Wie wollen Sie denn über Vergewaltigung Ihrer Minderheiten schreiben, wenn Sie selber die Splitter, die innerhalb der deutschen Grenzen sind, vergewaltigen? « Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 261 Sitzung am 22. Juni 1923. 318 Zur harten Trennung der Volks- und Oberschulen im Kaiserreich vgl. Gerhard Kluchert, der hier von »zwei Reichen der Bildung« spricht. Becker / Kluchert, Die Bildung der Nation, S.-1-28. <?page no="202"?> 202 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) seinem Latein- und Griechischunterricht. Insbesondere Letzterer war ihm ein Dorn im Auge: »Ich bezeichne es als einen pädagogischen Unfug, wenn man 9- und 10jährigen Kindern Latein als Hauptfach auferlegt.« 319 Auf Gegenliebe oder auch nur Gegenargumente stießen seine Vorschläge jedoch nicht. Wenn er von »Klassenschulen« sprach, witzelte es von rechts: »neun Klassen, von Sexta bis Prima«. Scholem war nicht um eine Antwort verlegen: »Die Kalauer, die Sie mir zurufen, zeigen mir, daß Sie Ihre Gymnasialbildung nicht dazu benutzt haben, wenigstens geistreiche Zwischenrufe zu erlernen« - es folgte laut Protokoll »Große Heiterkeit« im Parlament. 320 Auch von härteren Angriffen ließ Werner Scholem sich nicht aus der Ruhe bringen. Als er die Umwandlung des Lateinunterrichts in Wahlkurse verlangte, kam die Frage von rechts: »Wie wäre es mit Hebräisch? « Scholem antwortete: »Wie wäre es mit Altgotisch? Hebräisch wird ja doch schon an den höheren Schulen gelehrt. Ich weiß gar nicht, warum noch Eulen nach Athen getragen werden sollen. […] Es wird alles getan, damit Sie, Herr Kollege, Ihren Wunsch, Hebräisch zu lernen, erfüllen können.« 321 Gerade da, wo Scholem als pragmatischer Reformer auftrat, wurden seine Vorschläge mit antisemitischen Zwischenrufen beantwortet. Ordnungsrufe gab es in solchen Fällen nicht. Dennoch entwickelte Scholem sein Reformprogramm weiter und machte Vorschläge zum Aufbau eines zweiten Bildungsweges mit kostenlosen Berufsschulen und demokratischer Selbstverwaltung der Schülerschaft. 322 Für die Erwachsenenbildung schlug Scholem eine Ausweitung des Systems von Volksbüchereien und Volkshochschulen vor. 323 Die Büchereien müssten jedoch frei sein von »religiösem, nationalistischem und militaristischem Schund«. Die Auflösung der Verflechtung von Schule und Kirche, die Trennung von Religion und Staat war ihm zentrales Anliegen. Bei anderer Gelegenheit forderte Scholem, dass der preußische Staat nicht mehr für die Gehälter von Pfarrern und Pastoren aufkommen solle. 324 Als Reaktion erntete er dafür den Zwischenruf »Synagogen sind auch dabei«. Scholem konterte lapidar: »Jawohl, Demagogen sind auch dabei.« 325 Scholem wollte die Schulen demokratisieren und von ideologischen Rückständen des Kaiserreichs befreien. Der »heilige Boden der Schule«, wie es ein DVP-Redner formulierte, war für Scholem ein »stinkender Sumpfboden«, den er einer »politischen Trockenlegung« unterziehen wollte. 326 Er verlangte dazu die Einführung eines demokratischen staatsbürgerlichen Unterrichts. 327 Auch hier musste er sich gegen Zwischenrufe wehren und tat dies gewohnt schlagfertig: »Da brüllt schon jemand ›Aha‹. Wenn die Deutschnationalen etwas von staatsbürgerlichem Unterricht hören, wird ihnen schon übel.« 328 Zur Durchsetzung der Staatsbürgerkunde forderte Scholem, »daß die Studienräte, die über 50 Jahre alt sind 319 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 105. Sitzung am 23. Februar 1922. 320 Ebenda. 321 Ebenda. 322 Scholem forderte die Einführung einer Berufsschulpflicht für Jugendliche unter 20 Jahren, finanziert durch die Unternehmer, mit Unterricht während der Arbeitszeit. Bisher war die Berufsschule den Kommunen als freiwillige Maßnahme überlassen, was oft einen Abbau der Schulen bedeutete. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 263. Sitzung am 4. Juli 1923. 323 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 111. Sitzung, 9. März 1922. 324 Ebenda, 261. Sitzung am 22. Juni 1923. 325 Ebenda. 326 Ebenda, 181. Sitzung am 25. Oktober 1922. 327 Ebenda, 263. Sitzung am 4. Juli 1923. 328 Ebenda. <?page no="203"?> 203 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 203 und zu alt sind, um ihren Unterricht noch in modernem Geiste umzustellen, und ihn immer noch im Geiste der Völkerverhetzung und des Militarismus erteilen, endlich entfernt […] werden, und daß an ihre Stellen junge republikanische Studienassessoren treten.« 329 Diese Nachwuchslehrer mussten allerdings erst einmal durch die Universitäten ausgebildet werden. Dort jedoch herrschte ein ähnlicher Geist wie an den Schulen - wenn nicht schlimmer. Scholem sparte auch hier nicht mit Kritik. Er nannte die Weimarer Hochschulen »Bollwerke des alten Systems« und illustrierte dies an Beispielen. Nach wie vor fänden an den Universitäten Feierlichkeiten zum Reichsgründungstag oder zum Geburtstag des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. statt, die regelmäßig zum Anlass für Hetzreden gegen die Republik genommen würden - von staatlich besoldeten Professoren. Die Zuhörerschaft sei von ähnlichem Geist erfüllt. Scholem nannte insbesondere Korps und Burschenschaften, die in ihren Satzungen festhielten, »daß durch die Heirat mit einem farbigen oder jüdischen Weibe die Mitgliedschaft in diesen Korporationen erlischt«. Er führte weiter aus: »Solche Beschlüsse sind ein Beweis für die barbarische Gesinnungs-Bildung der Korpsstudenten und müßten auch den demokratischen und rechtssozialistischen Kreisen zeigen, daß mit guten Zureden solchen Leuten gegenüber nichts getan ist.« 330 Noch während er redete, bestätigten Zwischenrufe Scholems Zeitdiagnose: »sehr verständig« riefen einige Abgeordnete, als Scholem den Arierparagraphen zitierte. 331 Scholem empfahl eine Demokratisierung der Universitäten und die Verjüngung des Personals: »Wir müssen uns gegen die jetzt bestehende Aristokratie der ordentlichen Professoren wenden. Aus diesem Grunde setzen wir uns auch für eine Besserstellung der breiten Masse der Privatdozenten […] ein. Man vertröstet die Privatdozenten mit leeren Versprechungen, obwohl sie einen großen und wichtigen Teil der Lehrarbeit an den Universitäten ausüben müssen. Wenn man sieht, daß manche Privatdozenten heute vielleicht 100 M im Monat verdienen - es gibt solche Fälle - muß man verlangen, daß hier zugegriffen wird. Wir fordern also Gleichstellung der Gehälter der Universitätslehrer, Aufhebung aller Gradunterschiede und eine Umgestaltung des Berufungswesens, bei dem auch eine Mitwirkung der Hörerschaft und vielleicht auch eine Mitwirkung des Laienelements in Frage gezogen werden müßte. Diese letzte Forderung ist allerdings nur durchführbar bei einer Umgestaltung des gesamten Hochschulwesens im Arbeiterstaate.« 332 Als zusätzliche Maßnahmen forderte er eine Erlassung der Studiengebühren für Abiturienten aus minderbemittelten Kreisen, »damit endlich einmal an den Hochschulen auch das Arbeiterelement sichtbar in Erscheinung tritt«. 333 Scholem setzte sich also für eine soziale Öffnung der Universitäten 329 Ebenda, 199. Sitzung am 20. Januar 1923. 330 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 104. Sitzung am 22. Februar 1922. 331 Vgl. ebenda. Moshe Zimmermann misst dem studentischen Antisemitismus eine Schlüsselrolle bei der Etablierung desselben in der »respektablen Bevölkerung« zu: »Der Antisemitismus war unter den Studenten besonders laut. Aus dem Kyffhäuserverband erwuchsen die deutschvölkischen Studentenverbände, die sich bemühten, eine Numerus-clausus Politik durchzusetzen oder Demonstrationen gegen jüdische Professoren zu organisieren. Seit Juli 1931 beherrschte der nationalsozialistische Studentenbund die allgemeine Organisation der deutschen Studentenschaft, und hier war die antisemitische Tendenz demnach entsprechend auffallend und zentral.« Moshe Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997, S.-41. Die Politik des »Numerus-clausus« wollte die Zahl jüdischer Studierender beschränken. 332 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924,104. Sitzung, 22. Februar 1922. 333 Ebenda. <?page no="204"?> 204 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) ein, wandte sich gegen die Prekarisierung des akademischen Mittelbaus und für den Abbau professoraler Privilegien in der Ordinarienuniversität. Seine Bemerkung vom »Arbeiterstaat« zeigte jedoch, dass er selbst nicht recht an eine Umsetzung der Forderungen glaubte. Im bürgerlichen Staat schien ihm derart weitgehende Demokratie nicht möglich. Das Verhalten mancher Landtagsabgeordneten war wie bestellt, um seinen Pessimismus zu bestätigen. Schon zu Beginn seiner Rede über die Hochschulreform war er von der Rechten »mit Lärm empfangen« worden, bis seine Ausführungen nicht mehr zu hören waren. Als er schließlich eine Öffnung der Universitäten auch für internationale Studierende forderte, hagelte es erneut Zwischenrufe: Die deutschen Universitäten seien bereits belastet durch zu viele »galizische« Studenten. Scholem entgegnete: »Wenn Sie sich allerdings nur gegen die sogenannten ›Galizier‹ wenden, dann müssen Sie das auch offen und ehrlich zum Ausdruck bringen; dann müssen Sie sagen: In Wirklichkeit ist es uns gleichgültig, wer an die Universitäten kommt, die Hauptsache ist, daß keine Juden hinkommen«. Kurz darauf folgte erneut die Glocke des Vizepräsidenten: »Herr Abgeordneter Scholem, Sie dürfen nicht behaupten, daß die Leute, die hier am Staatsruder sind, borniert sind. (Heiterkeit) Das widerspricht der Ordnung dieses Hauses, ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.« 334 Scholem forderte soziale Gleichheit, Demokratie und Internationalismus - die politische Rechte reagierte mit Antisemitismus. Den Ordnungsruf bekam Scholem, nicht die rechten Zwischenrufer. Von der demokratischen Mehrheit wurden die Reformvorschläge anschließend überstimmt. Scholem versuchte daher immer wieder, die Sozialdemokratie zu konfrontieren, an ihr republikanisches Gewissen zu appellieren und sie auf seine Seite zu ziehen. Die Reaktion war jedoch verhalten - die SPD zählte für ihre Regierungsmehrheit auf die Stimmen von Zentrum und DVP. Dafür musste sie Otto Boelitz das Bildungsministerium einräumen und auf Bildungsreformen verzichten. Nicht allen war dies recht. Auch die SPD-Abgeordnete Hildegard Wegscheider kritisierte den Minister in einer Rede - Scholem forderte von ihr Konsequenzen: »Ihre ganzen Ausführungen waren hypothetische Ausführungen: wenn das so weiter geht, dann ist das nicht die richtige Koalitionspolitik. Es ist ganz klar, auf diese Weise wird man nicht die Schulreaktion beseitigen, die in Herrn Boelitz - der gerade verschwindet, weil meine Ausführungen ihm unangenehm sind - (Heiterkeit) - einen so umfangreichen Vertreter hat. (Heiterkeit) Die Schulreaktion kann nur beseitigt werden, wenn Herr Boelitz und die Kreise, die hinter ihm stehen, von dem Einfluß auf die Schule abgedrängt werden, wenn ihnen der Einfluß genommen wird. Darüber muß man sich doch klar sein: Herr Boelitz vertritt den Geist von Potsdam.« Auf die Frage von rechts: »Was vertreten sie denn? « antwortete Scholem schlicht: »Wir vertreten den Geist der proletarischen Revolution. Eine sehr klare Gegenüberstellung! « 335 Scholem und der KPD-Fraktion gelang es jedoch nicht, Boelitz zu stürzen. Der Minister amtierte eine volle Legislaturperiode und wurde erst 1925 abgelöst, als die SPD nach Neuwahlen nicht mehr auf die DVP angewiesen war. Boelitz versuchte sich daraufhin als Autor und verfasste ein Schulbuch über das »Grenz- und Auslandsdeutschtum« - ein Werk, dem vom preußischen Erziehungsministerium die Zulassung für den Schulgebrauch verweigert wurde. Erst nach Hitlers Machtübernahme, die Otto Boelitz 1933 in einem 334 Ebenda. 335 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 181. Sitzung am 25. Oktober 1922. <?page no="205"?> 205 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 205 Schreiben an seinen Verlag warm begrüßte, erhielt das Buch die Zulassung für den Geschichtsunterricht. 336 Wenn Scholem also bemerkte, der Minister rede immer gerne von »Staatsgesinnung«, vermeide jedoch in all seinen Reden »wie ein Eiertänzer« das Wort Republik, so steckte dahinter mehr als nur Polemik. 337 Obwohl er ständig auf Granit stieß, forderte Scholem während der vierjährigen Legislaturperiode immer wieder eine Demokratisierung des Bildungssystems.Wie wenig Interesse Teile des Parlaments dafür hatten, zeigte sich beispielhaft in einer Debatte zur Einrichtung von Elternbeiräten. Die KPD hatte einen Antrag eingebracht, in dem sie Elternbeiräte mit Mitbestimmungsrecht an den Schulen forderte. 338 Scholem berichtete dazu aus dem Unterrichtsausschuss, sein Bericht wurde durch provozierendes Lachen unterbrochen. Die Elternbeiräte, so Scholem, seien geradezu ein Paradebeispiel, wie notwendige Reformen regelmäßig »von der Muckermehrheit im Unterrichtsausschuß« verhindert würden. 339 Scholem fuhr fort: »Es wurden nur einige Redensarten gemacht, aus denen hervorging, daß diese Einrichtung für sie mit einem unangenehmen revolutionären Ludergeruch behaftet ist, […] allein aus diesen Erwägungen heraus sind diese unsere Anträge zugegebenermaßen abgelehnt worden.« Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle »Zurufe rechts«. Welcher Natur diese Rufe waren, erfahren wir aus Scholems Reaktion: »Lieber Herr, daß Sie ein Idiot sind, ist mir ganz klar; ihre antisemitischen Zurufe und Handbewegungen zeigen nur, daß sie ein Idiot von besonderen Graden sind.« 340 Es folgten Glocke des Präsidenten und Ordnungsruf gegen Scholem. Der Zwischenruf wurde nicht gerügt. Scholem war außer sich: »Herr Präsident! ich stelle fest, daß ein Abgeordneter den Landtag mit dem Antisemitisch- Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund verwechselt.« Es folgte von rechts der Einwurf: »Dann wären Sie doch nicht hier! « und danach »Stürmische Heiterkeit«. Scholem redete weiter: »Ich verstehe daß, - (anhaltende Heiterkeit rechts) wenn man keine sachlichen Argumente hat, daß man dann selbstverständlich zu antisemitischen Bemerkungen greifen muß. Idioten - ich sage das noch einmal auf die Gefahr hin, einen zweiten Ordnungsruf zu bekommen - antisemitische Idioten sind zu dumm, um sachlich diskutieren zu können. Das ist ja Gerade die Wurzel des Antisemitismus! « 341 336 Agnes Blänsdorf, Zur Entwicklung der Geschichtslehrwerke von der ausgehenden Weimarer Republik bis 1939/ 40, in: Hartmut Lehmann u. Otto Gerhard (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Band 1, Göttingen 2004, S.-302-370, hier S.-304, S.-349. 337 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 181. Sitzung am 25. Oktober 1922. 338 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 190. Sitzung am 1. Dezember 1922. Schon im Januar 1922 hatte der KPD-Politiker Edwin Hoernle als Alternative zur Reform von oben Schüler- und Elternbeiräte gefordert, vgl. Edwin Hoernle, Schulreaktion und proletarische Elternräte, in: Herbert Flach, Das proletarische Kind, S.-129. Dazu auch Rosemarie Wothge (Hg.), Zur Pädagogik und Schulpolitik der KPD in der Weimarer Republik, S.-143-157. 339 Scholem wandte sich insbesondere gegen das Argument des Geldmangels: »Hier aber und bei sehr vielen anderen Anträgen, die auf dem Gebiet des Kultusetats gestellt werden, handelt es sich um Dinge, die man durchführen kann, ohne daß dafür auch nur ein Pfennig besonders aufgebracht zu werden braucht.« Vgl. ebenda. 340 Ebenda. 341 Scholem griff Zwischenrufer auch direkt an, im Protokoll heißt es weiter: »Lieber Herr Koch, daß sie immer sehr fröhlichen Gemüts sind, ist eine bekannte Sache. […] Sie haben eine so angenehme Fähigkeit, sich leicht in eine fröhliche Stimmung hineinzutrinken. (Fortgesetzte Zurufe und Lachen rechts) - Lieber Herr Koch, es kann nicht jeder so gut duften wie Sie, wenn Sie stark gezecht haben. (Große Heiterkeit)« Adressat war der DNVP-Abgeordnete Julius Koch. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlpe- <?page no="206"?> 206 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Die Beratung zu den Elternbeiräten war eine tragische Blamage des preußischen Parlaments. Reformvorhaben wurden ausgelacht noch bevor sie vorgestellt werden konnten. Einziges Gegenargument waren antisemitische Zwischenrufe, die nicht gerügt wurden. Die Sitzungsleitung lag im konkreten Fall beim Vizepräsidenten Wolfgang von Kries. Als Mitglied der Deutschnationalen Fraktion sah er keinen Anlass, seine Parteifreunde zur Ordnung zu rufen. Andere Mitglieder des Präsidiums waren nicht derart offen parteiisch - jedoch gab es keinen Fall, in dem die Sitzungsleitung einen antisemitischen Angriff auf Scholem unterbunden hätte. Antisemitismus und Ostjudendebatte Trotz aller Angriffe ließ sich Werner Scholem nicht in die Defensive drängen. Er teilte aus und verleugnete sein Judentum nicht, obwohl er stets als Atheist auftrat. Dies wurde neben seinen Reaktionen auf Zwischenrufe vor allem dann deutlich, wenn es im Landtag um jüdische Themen ging. Dies war einmal eine Debatte um die »Steuern für Synagogengemeinden«, bei der Scholem die Forderung nach Trennung von Religion und Staat auch für das Judentum wiederholte. Er forderte die Abschaffung aller Kirchensteuern, die Religionsgemeinschaften sollen »den Staat mit ihren Angelegenheiten nicht belästigen«. 342 Weit aussagekräftiger ist jedoch eine Parlamentsdebatte über die »Einwanderung der Ostjuden nach Deutschland«, die zurückging auf eine Anfrage des deutschnationalen Abgeordneten Martin Kaehler, Professor für Nationalökonomie in Greifswald. 343 Da diese Debatte nicht nur Scholems Stellung zum Judentum beleuchtet, sondern ein Schlaglicht auf die Entwicklung des Antisemitismus in der Weimarer Republik wirft, soll sie hier kurz nachvollzogen werden. 344 Kaehlers Anfrage bezog sich auf die in Deutschland lebenden »Ostjuden«. Unter diesem Begriff verstand man damals Einwanderer aus Osteuropa, die im Gegensatz zu den assimilierten »Westjuden« durch die jiddische Sprache und religiöse Orthodoxie geprägt waren. Sie unterschieden sich von den alteingesessenen Juden oft auch durch ihre niedrigere soziale Stellung, als mittellose und sprachunkundige Einwanderer führten sie eine subproletarische Existenz. 345 Statistiken bezifferten die Anzahl ostjüdischer Arbeitskräfte riode 1921-1924, 190. Sitzung am 1. Dezember 1922. 342 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 211. Sitzung am 24. Februar 1923. 343 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. Neben diesen beiden Debatten gab es auch eine Landtagsdiskussion zum Thema Zionismus, in der Werner Scholem sich jedoch nicht äußerte. Vgl. Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928, S.-46. 344 Vgl. dazu auch Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928, S.-50-65. Rolke vergleicht mit einer ähnlichen Debatte der preußischen Landesversammlung von 1919 und einer Haushaltsdebatte von 1920, in der die »Ostjudenfrage« im Zusammenhang mit der Wohnungsnot in Berlin thematisiert wurde. 345 Allerdings waren die Ostjuden keine sozial, kulturell oder politisch homogene Gruppe. So gab es auch in Osteuropa eine bürgerliche Schicht von gebildeten und der Religion fernstehenden Juden, von denen einige wie etwa Rosa Luxemburg oder Arkadij Maslow auch zur sozialistischen Bewegung in Deutschland stießen. Ebenso gab es unter den assimilierten Juden in Deutschland eine - wenn auch zahlenmäßig geringe - Schicht von Industriearbeitern und Arbeiterinnen. Vgl. Moshe Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997, S.- 22f, 92f, 97. Zu Ostjuden in Deutschland vgl. Ludger J. Heid, Maloche, nicht Mildtätigkeit: ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914-1923, Hildesheim 1995; sowie ders.: Ostjuden - Bürger, Kleinbürger, Proletarier. Geschichte einer jüdischen Minderheit im Ruhrgebiet, Essen 2011 sowie Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg 1986. <?page no="207"?> 207 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 207 in Deutschland auf 55.000 Personen, was Kaehler jedoch für zu niedrig hielt, »weil der größere Teil der Ostjuden aber schwerlich als Arbeiter sein Brot in Deutschland sucht.« Seine im Namen der DNVP gestellte Anfrage erklärte die Einwanderung von Ostjuden für »in höchsten Grade unerwünscht« und forderte Abschiebungen. 346 Kaehlers Begründungsrede liest sich wie aus einem Handwörterbuch des modernen Antisemitismus: es sei »gar keine Frage, dass auch heute noch der Bolschewismus in Rußland sowohl wie bei uns mit ostjüdischen Elementen in der Führung und Ausführung sehr stark durchsetzt sei«. Er zitierte als Beleg einen Bericht der liberalen »Kölnischen Zeitung«, auch hier wurde die ostjüdische Einwanderung als »gefährlich« bezeichnet und eine Unterwanderung des »Vorwärts« und der USPD-Zeitung »Freiheit« durch Ostjuden behauptet. Zusätzlich konnte Kaehler auch einen Artikel aus dem SPD-Organ »Neue Zeit« zitieren, wo der Landtagsabgeordnete Theodor Müller osteuropäische »Schieber« in einem Ton angriff, dessen Bezug auf Ostjuden für Zeitgenossen offensichtlich war. 347 Gestützt durch solche Äußerungen seiner politischen Gegner behauptete Kaehler nun dass »diese Art Judentum, wenn es sich intellektuellen Berufen zuwendet, erfahrungsgemäß als Feindin jeder Autorität und überhaupt als zersetzendes Element auftritt.« 348 Dennoch distanzierte er sich von Pogromen und »antisemitischer Hetze«. Bewusst wandte er sich nur gegen die »Ostjuden« und nahm die alteingesessenen Juden aus - obwohl er auch gegen diese verdeckte Drohungen aussprach. 349 Als Vertreter der preußischen Regierung antwortete der sozialdemokratische Innenminister Carl Severing. Er kritisierte die Tatsache, dass »Redner, die in den rechtsradikalen Organisationen ihre politische und völkische Interessenvertretung erblicken, alles darauf anlegen, um die Juden für das wirtschaftliche und politische Elend verantwortlich zu machen, unter dem wir heute leiden.« 350 Severing verwies stattdessen auf Lessings Drama »Nathan der Weise« und appellierte an die Abgeordneten, »daß wir nicht zuerst als Christen und nicht zuerst als Juden und nicht zuerst als Muhammedaner, sondern zuerst als Menschen auf die Welt kommen.« Dies wolle er hochhalten - und »dabei noch deutschen Interessen gerecht werden«. Trotz des aufklärerischen Appells waren diese »Interessen« der dominierende Argumentationsstrang in Severings Rede, die dadurch einen fragwürdigen Charakter annahm. Schon in den Eingangsworten hatte Severing das »Fremdenproblem« als ernste Angelegenheit gewürdigt. Er richtete einen Appell an den Völkerbund, dass Deutschland nicht in der Lage sei, jüdische Familien aufzunehmen, die gerade in größerer Anzahl aus Ungarn ausgewiesen würden: »Jedenfalls sind die derzeitige Ernährungslage, die derzeitigen Erscheinungen auf dem deutschen Wohnungsmarkt und die augenblickliche Aussicht auf dem Wirtschafts- und Arbeitsmarkt nicht dazu angetan, daß wir noch Ausländer zu uns 346 Drucksache Nr. 2932 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. 347 Die Neue Zeit, Nr. 13 vom 24. Juni 1921, vgl. dazu Ludger Heid, »Proletarier zu sein und Jude dazu, das bedeutet unsägliches Leid« - Sozialisten zur »Ostjudenfrage«, S.-185, in: Ludger Heid u. Arnold Paucker (Hg.): Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933, Tübingen 1992. 348 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. 349 Wenn, so Kaehler, die deutschen Juden ihre östlichen »Stammes- und Glaubensgenossen« bedingungslos verteidigten, dann »sägt das Westjudentum den nicht sehr starken Ast ab, auf dem es bei uns noch sitzt.«, Ebenda. 350 Ebenda. <?page no="208"?> 208 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) hereinnehmen können. (Sehr richtig! bei der DNVP). Sie sehen, meine Herren, wenn wir sachlich diskutieren, dann finden sich mindestens viele Berührungspunkte.« 351 Der Sozialdemokrat Severing hatte keine Probleme mit Applaus von Seiten der Deutschnationalen, sondern inszenierte sich als Ordnungspolitiker mit harter Hand. Zugeständnisse bei der Einwanderung begründete er nur mit Rücksicht auf deutsche Minderheiten im Ausland: »wenn wir jetzt in dieser Zeit durch eine Härte in der Fremdenpolizei uns das Odium der Barbaren zuziehen, […] glauben sie, daß dann unsere Landsleute anders behandelt werden.« Ansonsten rühmte Severing sich, einen Erlaß zur Einwanderung der Ostjuden sogar noch verschärft zu haben. 352 Ausdrücklich lobte er, dass »der Herr Vorredner sich bemüht hat, mit aller Sachlichkeit sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.« Er lobte die Arbeit jüdischer Hilfsorganisationen, die für eine schnelle Weiterreise ostjüdischer Einwanderer gesorgt habe. Abschließend stellte Severing fest: »In erster Linie hat selbstverständlich der Deutsche Anspruch auf eine anständige Wohnung, auf Lebensmittel und auf Arbeitsgelegenheit.« Dafür erntete er »Lebhafte Zustimmung links und rechts.« 353 Auf Severings Rede folgte ein Beitrag des Abgeordneten Hans von Eynern als Vertreter des Koalitionspartners DVP. Auch er lobte die »Sachlichkeit« und den »staatlich allgemeinen Ton« des Deutschnationalen Kaehler. Von Eynern verwies darauf, dass nach dem Krieg ein allgemeines »Ausländerproblem« entstanden sei. Dementsprechend sei der Antisemitismus nicht »Folgeerscheinung des Auftretens dieser neuen national-sozialen Partei« - es sei vielmehr so, »daß der Antisemitismus zu seiner Blüte gelangt ist gerade infolge dieses starken Einströmens unerwünschter Elemente, daß seinen Ausdruck findet in dieser Bewegung, die wir alle und die auch die Herren von der Deutschnationalen Volkspartei beklagen.« Die Entstehung der NSDAP, auf die hier angespielt wurde, stieß also bei den Volksparteilern auf Ablehnung - wahrscheinlich, weil es sich um unerwünschte Konkurrenz handelte. Denn ähnlich wie Kaehler machte auch der DVP-Redner die Juden selbst für den Antisemitismus verantwortlich. Dabei nahm er jedoch ebenfalls die alteingesessenen deutschen Juden aus, und lud sie gar ein, mit der DVP das »Ostjudenproblem in 351 Ebenda. Die Abkürzung »D.-nat.V.-P.« in den Originalprotokollen ist im Folgenden der Einfachheit halber zu »DNVP« vereinheitlicht worden. 352 Am 1. November 1919 erließ der preußische Justizminister Wolfgang Heine (SPD) einen Erlass, wonach den im Weltkrieg als Arbeitskräfte nach Deutschland verbrachten osteuropäischen Juden ein Bleiberecht in Preußen zugestanden wurde, wenn sie Arbeitsplatz und Unterkunft nachweisen konnten. War dies nicht der Fall, drohte ihnen die Abschiebung. Solche Deportationen konnten oft durch die soziale Unterstützung der Gemeinden oder des eigens gegründeten jüdischen Arbeiterfürsorgeamtes abgewehrt werden (vgl. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg 1986, S.-270ff sowie Lothar Elsner, Zur Haltung der SPD gegenüber den sogenannten Ostjuden: die Erlasse sozialdemokratischer preußischer Minister gegen asylsuchende »Ostjuden« 1919/ 20, In: Mario Keßler (Hg.), Arbeiterbewegung und Antisemitismus, Bonn 1993). Polizeiliche Meldepflicht und ständige Passkontrollen mit Abschiebungsdrohung bedeuteten jedoch, dass den Ostjuden ein anerkannter Status verwehrt blieb. Der Journalist Joseph Roth brachte diesen Zwiespalt auf den Punkt, wenn er schrieb: »Vom Kampf um die Papiere […] ist ein Ostjude nur dann befreit, wenn er den Kampf gegen die Gesellschaft mit verbrecherischen Mitteln führt.« Zit. nach. Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880-1930, München 2010, S.-307, vgl. dort auch S.-317f und 327f zur Kriminalisierung der Ostjuden durch Polizei und Behörden. 353 Schon 1920 hatte Severing sich in einer Debatte zur Wohnungsnot für ein Ende jeder Einwanderung ausgesprochen. Die von rechten Abgeordneten erhobene Forderung nach einer Internierung aller Ostjuden lehnte er ab, weil sich ja erst recht Protest regen würde, wenn man die Ostjuden »Auf Staatskosten beherbergte und verpflegte«. Vgl. Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928, S.-54f sowie Protokolle der Preußischen Landesversammlung, 149. Sitzung am 7. Juli 1920. <?page no="209"?> 209 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 209 die Hand [zu] nehmen«. Denn gerade auch von deutschen Juden würde die ostjüdische Einwanderung als »mißliebig« empfunden. 354 Danach stand Werner Scholem auf der Redeliste. Nachdem alle bisherigen Redner sich gegenseitig zu ihrer Sachlichkeit beglückwünscht hatten, war es an ihm, der Debatte eine andere Wendung zu geben. Scholem gab seinem Vorrednern in einem Punkt recht, dass nämlich die deutschen Juden den ostjüdischen Zuwanderern in vielen Fällen nicht wohlgesonnen seien: »Das alt eingesessene deutsche Judentum, soweit es kapitalistisch ist, hat gerade das stärkste Interesse daran, […] daß nicht weitere Konkurrenz für dieses deutsche kapitalistische Judentum nach Deutschland kommt. […] Warum sind denn eigentlich die Ostjuden in Deutschland überhaupt so mißliebig? […] Die Ostjuden sind eben ein Volksstamm von scharfer Intelligenz, eine Tatsache, die unbestritten ist, und man fürchtet solche Konkurrenten.« 355 Hier wurde Scholem unterbrochen. Der Zwischenruf ist nicht protokolliert, warf ihm aber anscheinend vor, selbst Ostjude zu sein. Scholem nahm dies zum Anlass, seine Position klarzustellen: »Bitte schön, wenn Sie glauben, daß ich hier als Repräsentant dieser Kreise spreche, ist das für mich sehr schmeichelhaft. Sie müßten dann um so eifriger zuhören, wenn ein solcher Repräsentant spricht. Aber ich kann sagen, […] daß gerade ich kein Repräsentant des deutschen Judentums bin und auch kein Repräsentant der ostjüdischen Kreise. Wenn ich hier spreche, so tue ich es als Repräsentant der proletarischen Kreise, sowohl der deutschen wie auch der osteuropäischen Proletarier.« 356 Scholem sah sich nicht als Sprecher des Judentums, verleugnete aber keineswegs seine jüdische Herkunft. Schon einige Sätze später bekräftigte er diese mit den Worten »ein deutscher Jude wie ich«. Statt Leugnung zeigte er sogar Stolz, gleich mehrfach lobte er »Intelligenz und Geistesschärfe« der Ostjuden. 357 Allerdings begnügte Scholem sich nicht damit, dem Antisemitismus ein positives jüdisches Selbstbild entgegenzusetzen. Er bestand auf einer Betrachtung der Frage vom proletarischen Standpunkt. Dies war mehr als eine Propagandaphrase. Indem Scholem die Rolle der Ostjuden als Arbeiterinnen und Arbeiter in den Mittelpunkt stellte, konnte er sowohl Severings »Fremdenproblem« als auch Kaehlers Antisemitismus beiseite schieben und zum dahinterliegenden sozialen Problem vordringen: die Arbeitsmigration im Nachkriegseuropa. 358 354 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. 355 Faktisch befürchtete das assimilierte deutsche Judentum eher eine Zunahme des Antisemitismus und damit eine Gefährdung der eigenen sozialen Stellung. Als Reaktion erfolgte einerseits Distanzierung von den Ostjuden, gleichzeitig aber die Übernahme sozialer Verantwortung durch spendenfinanzierte Fürsorgeorganisationen. Vgl. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, S.- 482f. sowie ausführlich S.-508-759. 356 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. 357 Hier wirkte Scholems zionistische Vergangenheit nach, denn dort galten Ostjuden als »authentische« Vertreter des Judentums, um sie entstand ein wahrer »Kultus«. Vgl. Gershom Scholem, von Berlin nach Jerusalem, S.-84. Auch außerhalb des Zionismus gab es bisweilen Bewunderung für ostjüdischer Kultur, was sich in Veranstaltungen, Konzerten etc. manifestierte, vgl. Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, S.-717-740. 358 Birgit Rolke kritisierte an Scholems Beitrag, er habe als Kommunist »nur die ostjüdischen Proletarier« im Sinn und verteidige sie aus »rein ideologischen Gründen«. Er unterscheide zwischen kapitalistischen Westjuden und proletarischen Ostjuden und verteidige nur letztere »die unter anderem, eher zufällig auch Juden waren« (S.-53, S.-63). Abgesehen davon, dass Scholem die Ostjuden wegen ihres Judentums als »intelligent« hervorhob, wird dabei übersehen, dass Scholem der Einzige war, der die antisemitische Definition eines »Ostjudenproblems« verließ und eine Debatte über Arbeitsmigration forderte. Problematisch wäre allenfalls, wenn man aus Scholems Aussage eine Gleichsetzung aller deutschen Juden mit »den <?page no="210"?> 210 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Scholem insistierte darauf, »daß es sich nicht nur um die Ostjuden handelt, sondern um die gesamten Osteuropäer, die nach Deutschland kommen«. Er kritisierte die Praxis der »Organe des Innenministeriums, die leider zum großen Teil antisemitischen Einflüssen sehr zugänglich« sind und forderte den Wegfall sämtlicher Einwanderungsverbote für Arbeitssuchende, ungeachtet ihrer Nationalität oder Religion. Gegen Spekulanten, Schieber und Kriminelle solle dagegen, ebenfalls ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, aufs härteste vorgegangen werden. 359 Scholem weigerte sich, über ein »Judenproblem« oder eine »Rassenfrage« auch nur zu diskutieren. Er thematisierte stattdessen konsequent die soziale Frage. Mit dem Zuruf »Ostjuden« wollte ihn die Rechte wieder auf ihr Terrain locken - Scholem verweigerte sich. Als er weiterhin von »ostjüdischen Proletariern« sprach, wurde die Realitätsverweigerung der Antisemiten noch deutlicher: »Gibt es nicht! « kam ein Zuruf von rechts. Dies nahm Scholem zum Anlass, die Geschichte der ostjüdischen Einwanderung aufzuarbeiten. 360 Er verwies auf den Weltkrieg, in der die deutsche Militärführung einen Erlass an die polnisch-jüdische Bevölkerung herausgegeben habe - und zwar auf jiddisch. »In das Deutsch des Herrn Koch übertragen« verlas Scholem zentrale Passsagen: »Als Freunde kommen wir zu Euch. Die barbarische fremde Regierung ist gestürzt. Die gleichen Rechte für die Juden in Polen sollen auf festen Fundamenten aufgebaut werden […] Laßt euch nicht narren durch Versprechungen des Zarismus. Es ist heilige Pflicht, jetzt zusammenzuarbeiten mit den Deutschen für die Befreiung«. 361 Scholems Zitate lösten große Aufregung aus. Er ging jedoch noch weiter und erinnerte daran, wie in der Endphase des Krieges Zwangsarbeiter in den besetzten Gebieten rekrutiert worden seien, darunter auch zahlreiche Juden aus Osteuropa. 362 Scholem führte dies detailliert aus, was nicht ohne Unterbrechungen abging: »Diese Bevölkerung wurde also auf den Marktplatz hin beordert. Kaum war sie erschienen, so kamen Soldaten der deutschen Ortsbehörde, treiben sie zusammen und sorgten dafür, daß diese Juden nicht wieder in ihre Häuslichkeiten zurückkehren konnten. Sie wurden, wie sie dort auf den Marktplätzen erschienen waren, zu den Bahnhöfen getrieben, (Hört! Hört! ) ohne daß sie von ihren Angehörigen Abschied nehmen konnten, und wurden nach Deutschland verschleppt. (Hoert, hört - Zuruf rechts) - Sie wollen das abstreiten, Herr Kaehler? (Abg. Dr. Kaehler: Ich habe gar nichts gesagt) - Ach so, Herr Kaehler kneift jetzt. (Zuruf rechts) Gut, es sind auch Tatsachen, die man nicht abstreiten kann.« 363 Kapitalisten« herauslesen will - allerdings benannte Scholem das »alt eingesessene deutsche Judentum, soweit es kapitalistisch ist« und betonte damit die Existenz nicht-kapitalistischer Juden, zu denen er auch sich selbst zählte. Vgl. Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928. Zur Frage der jüdischen Migration vgl. Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, a.a.O. 359 Scholem forderte gar: »Wir sind dafür, daß jeder Schieber und Wucherer ins Zuchthaus gehört, und daß, solange die Todesstrafe angewendet wird, man gegen Schieber und Wucherer die Todesstrafe verhängt.« - Die Einschränkung »solange …« verwies jedoch darauf, daß diese von der KPD eigentlich abgelehnt wurde. Einige Wochen später verlangte dementsprechend auch Scholem die Abschaffung der Todesstrafe, bezeichnete sie als »Justizmord« und die im Preußischen Strafvollzug angestellten Henker als »gesetzliche Mörder« Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922 und 210. Sitzung am 23. Februar 1923. 360 Für eine historische Aufarbeitung vgl. Ludger Heid, Maloche - nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Proletarier in Deutschland 1914-1923, Hildesheim 1995 sowie Trude Maurer, Ostjuden, S.-34-81. 361 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. 362 Dazu Trude Maurer, Ostjuden, S.-36ff. Die Rekrutierung wurde allerdings im April 1918 eingestellt - vgl. Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S.-309. 363 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. <?page no="211"?> 211 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 211 Dass Scholems Angaben auf Tatsachen beruhten, belegte im Verlauf der Debatte der geradezu surreal wirkende Auftritt eines Zeitzeugen. Dr. Victor Bredt von der »Wirtschaftspartei des deutschen Mittelstandes« gab zu Protokoll: »Meine Damen und Herren, ich kenne das Ostjudentum in Polen ziemlich genau, denn ich bin im Kriege in Polen in einer Stellung gewesen, wo ich den Czenostochauer Bezirk zu verwalten hatte […]. Ich will aber gleich eins vorwegnehmen: am allerungernsten in meinem ganzen Leben habe ich selbst den Befehl ausgeführt, in Czenostochau die Juden auszuheben und als Arbeiter nach Deutschland hinüberzuschicken. Ich will mich nicht besser machen als ich bin: Nicht aus übergroßem Erbarmen oder aus Nächstenliebe, sondern weil ich es für eine wahnsinnige Dummheit gehalten habe. Wir haben uns dadurch zweifellos gründlich unbeliebt und verhaßt gemacht bei den Polen. […] Das hat aber gar nicht geholfen: Gearbeitet haben die Leute alle nicht. (Große Heiterkeit). Herr Scholem, ich habe die Sache selber geleitet und kenne sie genau. Es war im Anfang natürlich ein großes Geschrei, mit furchtbarem Geheul und Gezeter wurden die Leute über die Grenze gebracht. Nach acht Tagen war alles wieder in Ordnung.« 364 Hier unterbrach ihn der Neuköllner KPD-Abgeordnete Schulz mit den Worten: »Sie müssen auf die Kriegsverbrecherliste kommen! « - doch Bredt reagierte gelassen: »Herr Abgeordneter Schulz, setzen sie mich ruhig darauf! « In der Tat verstieß die Deportation der Zivilbevölkerung zwecks Zwangsarbeit gegen die Haager Landkriegsordnung von 1899. 365 Doch das Völkerrecht war schon mit dem deutschen Einmarsch nach Belgien suspendiert worden. An die Stelle des Rechts trat die Gewalt - und diese Erfahrung prägte die politische Kultur der Weimarer Republik. Bredts absoluter Mangel an Schuldbewusstsein war Symptom für den geistigen Zustand der Zwischenkriegsgesellschaft, in der sich deutsche Militärs als Opfer der Siegermächte inszenierten. 366 Auch Scholem thematisierte die Straflosigkeit und unverfrorene Lobpreisung von Kriegsverbrechen: »Meine Damen und Herren, wenn man so etwas gemacht hat, dann hat gerade eine Fraktion, die durchaus all das, was das alte System Deutschlands getan hat, deckt, das geringste Recht, zu verlangen, daß man jetzt diejenigen, die man damals mit Gewalt hierher geholt hat, ebenso mit Gewalt wieder ausweist.« 367 Es war die nationale Heuchelei, die inszenierte Opferrolle der Deutschen und die brutale Ignoranz gegenüber anderen, vermeintlich Minderwertigen, gegen die Scholem im Landtag immer wieder anredete. Am Schluss seiner Rede kehrte er in die Gegenwart der jüdischen Arbeiter und 364 Die Arbeitsproduktivität der jüdischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter wurde zumindest beim Einsatz in den Ostgebieten selbst als gering bewertet, was die Historikerin Trude Maurer auf schlechte Ernährung und Misshandlungen zurückführt Vgl. Trude Maurer, Ostjuden, S.-36. 365 Dort hieß es in Art. 52 über die Behandlung der Bevölkerung besetzter Gebiete: »Naturalleistungen und Dienstleistungen können von Gemeinden oder Einwohnern nur für die Bedürfnisse des Besetzungsheers gefordert werden. Sie müssen im Verhältnisse zu den Hilfsquellen des Landes stehen und dürfen für die Bevölkerung nicht die Verpflichtung enthalten, an Kriegsunternehmungen gegen ihr Vaterland teilzunehmen.« Nur Kriegsgefangene konnten zu Arbeitsdiensten herangezogen werden, für die jedoch strenge Auflagen wie Bezahlung und »Behandlung mit Menschlichkeit« galten. Vgl. Internationale Übereinkunft betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, Den Haag 1899. 366 Auch Victor Bredt distanzierte sich im Weiteren vom Antisemitismus - um dann im selben Atemzug Pogrome durch Vergleich mit Lebensmittelplünderungen zu verharmlosen. Er endete mit der Forderung: »Dann muß Luft geschaffen werden, damit diese Elemente, die hier nichts zu suchen haben, aus Deutschland hinauskommen.« Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. 367 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. <?page no="212"?> 212 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Arbeiterinnen zurück. Allein im Ruhrgebiet arbeiteten zwischen 13.000 und 15.000 jüdische Arbeitskräfte, davon viertausend Bergarbeiter unter Tage. 368 Aussagen von Arbeitsamt und Gewerkschaften belegten laut Scholem, dass die deutsche Arbeiterschaft »mit diesen ostjüdischen Arbeitern auf das Beste zusammenarbeitet«. In der Landarbeit sei das nicht anders: »Es ist zum Beispiel Tatsache, dass pommersche Rittergutsbesitzer in diesem Jahr bereits zum vierten Male jüdische Landarbeiter angefordert haben« Pikanterweise war unter diesen Gutsbesitzern auch der Bruder des DNVP-Abgeordneten Reinhold Wulle. Scholem schloss: »Diese arischen Leute mit dem pommerschen Junkerschädel würden nicht Ostjuden anfordern, wenn sei eben nicht wüßten, daß diese ostjüdischen Landarbeiter ein genügsames, fleißiges und arbeitswilliges proletarisches Element sind.« 369 Seine Schlussadresse an die Deutschnationalen lautete: »Sie bemühen sich, auf die Verzweiflung des Volkes zu spekulieren, das man, weil es ausweglos dem Elend gegenübersteht, mit den Mitteln des Antisemitismus wieder von den wahren Schuldigen am Elend des Volkes ablenken will.« Dementsprechend stellte er im Namen der KPD fest: »Ein ostjüdisches Problem als solches verneinen wir also.« Auch einer restriktiven Einwanderungspolitik im Sinne Severings verweigerte Scholem seine Zustimmung. Er forderte schlicht eine »arbeiterfreundliche und kapitalistenfeindliche Ausländerpolitik«. 370 Werner Scholem hatte als einziger Redner in der bisherigen Debatte den Antisemitismus weder verbreitet noch verharmlost, sondern entschieden abgelehnt. Als einziger benannte er den Zusammenhang von Wirtschaftskrise und Fremdenfeindlichkeit. Nur ein weiterer Redner bezog im Folgenden ähnlich konsequent Stellung. Es handelte sich um Scholems ehemaligen USPD-Parteigenossen Oskar Cohn, der 1922 mit der Rest-USPD zur Sozialdemokratie zurückgekehrt war. Cohn verwies auf seine eigene deutsch-jüdische Familiengeschichte und auf die Leistungen gerade der Ostjuden als »Träger des deutschen Gedankens und der städtischen Selbstverwaltung« in den preußischen Ostprovinzen. Auch im Krieg hätten die Juden zwischen Ost und West vermittelt, den Deutschen als Übersetzer gedient. Dies sei ihnen jedoch nicht gut bekommen: »Von deutscher Seite wurden sie mit der gebührenden Undankbarkeit behandelt, und von ukrainischer und polnischer Seite hatten sie durch die Pogrome des Jahres 1919 über ihre deutschfreundliche Tätigkeit während des Krieges zu quittieren.« 371 Auch wenn Cohn sich verhalten positiv auf den »deutschen Gedanken« bezog, kritisierte er den Utilitarismus der bisherigen Redner. Sie hätten die Frage der Reisefreiheit »nur vom engsten Nützlichkeitsstandpunkt aus betrachtet: gut ist eine Wanderung, wenn sie den deutschen Interessen entspricht, […] schlecht ist ein Bevölkerungselement, namentlich wenn es von Osten kommt, sofern es den Interessen 368 Moshe Zimmermann verweist darauf, dass es neben der ostjüdischen Einwanderung auch ein deutschjüdisches Industrieproletariat gab, dass in Berlin etwa 10-12 % der dortigen Juden umfasste. Die Gruppe wuchs sogar durch Pauperisierungs- und Proletarisierungsprozesse unter jüdischen Angestellten und Handwerkern. Moshe Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997, S.-97. 369 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. Reinhold Wulle (1882-1950) saß für die DNVP im Reichstag und gründete später die antisemitische »Deutschvölkische Freiheitspartei«, die 1924 eine Listenverbindung mit der NSDAP einging. Vgl. Martin Schumacher u.a. (Hg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, 3. Auflage, Düsseldorf 1994. 370 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. 371 Ebenda. <?page no="213"?> 213 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 213 der wirtschaftlichen Kreise schadet oder unbequem ist, die Herr Abgeordneter Fischbeck oder Herr Dr. Kaehler vertritt.« 372 Damit waren es zwei sozialistische Juden, die im Landtag den Antisemitismus ablehnten und eine Migrationspolitik frei von nationalem Chauvinismus forderten. 373 Letzteres hatte jedoch Innenminister Severing entschieden zurückgewiesen. Obwohl er den Antisemitismus ablehnte, verteidigte er eine restriktive Einwanderungspolitik. Er handelte damit in der Kontinuität preußischer Verwaltung, die seit den 1880ern ein System intensiver Migrationskontrolle entwickelt hatte. Die Novemberrevolution und die sozialdemokratische Wende in Preußen hielten diesen Prozess nicht auf - er fand erst in den 1920ern seinen endgültigen Abschluss. 374 Grundlage der Abschottungspolitik war ein immer stärker ins Völkische gewendeter Diskurs über deutsche Nationalität und Interessen. Die Ostjuden dienten dabei als das Gegenüber, das »Fremde«. Nicht nur in der Sozialdemokratie, sondern auch in den christlichen Parteien überlagerte der neue Nationalismus universalistische Ideen. So erklärte Zentrumsredner Friedrich Leonartz: »Meine Partei lehnt jeden Radauantisemitismus wie überhaupt jegliche wider die christliche Liebe verstoßende Art der Volksverhetzung mit aller Entschiedenheit ab. Wir können es nicht ertragen, wenn in dieser widerwärtigen Weise gegen Teile des deutschen Volkes vorgegangen wird, wie es in einer gewissen Presse heute geschieht.« Gleichzeitig erklärte Leonartz jedoch, »daß für uns in der Fremdenfrage einzig und allein das deutsche Interesse maßgebend sein kann.« Nächstenliebe und Nationalinteresse waren für ihn keine Widersprüche: »Ich sprach eben von christlicher Liebe, die christliche Liebe, die wir nach unserer Auffassung allen Menschen schulden, schulden wir aber zunächst unserm deutschen Volke (sehr richtig! rechts).« 375 Angefeuert durch die Zustimmung fuhr er fort: »so glaube ich allerdings, daß die Interessen des deutschen Volkes, die Interessen unserer deutschen Mitbrüder den Interessen irgendwelcher fremdstämmigen Elemente vorgehen.« Als konkretes Beispiel benannte er die Wohnungsnot in Berlin. 376 Angesichts solche Zustände, so Leonartz, »werden Sie mir zugeben, daß es unzweckmäßig ist, wenn Juden, Fremde überhaupt in dieser Weise hier in Berlin Wohnungen beanspruchen, wie es tatsächlich der Fall ist.« Er schloss mit einem patriotischen Aufruf: »Und das eine ist auch sicher, daß das deutsche Volk nur wieder groß wird und die Irredentisten 377 372 Ebenda. 373 In anderen Debatten engagierte sich auch der Sozialdemokrat Ernst Heilmann gegen antisemitische Äußerungen - z.B. durch seine energische Verteidigung der Ostjuden in der Debatte zur Wohnungsnot vom Juli 1920. Auch Iwan Katz äußerte sich für die KPD im Mai 1921 dazu und widerlegte mit Statistiken die hartnäckig vorgetragene Behauptung, ostjüdische Einwanderung sei Ursache der Wohnungsnot. Wie Scholem und Cohn waren auch Katz und Heilmann Linkspolitiker mit jüdischem Hintergrund. Vgl. Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928, S.- 56ff sowie Protokolle der Preußischen Landesversammlung, 149. Sitzung am 7. Juli 1920; Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 16. Sitzung am 4. Mai 1921. 374 Vgl. Lothar Elsner, Zur Haltung der SPD gegenüber den sogenannten Ostjuden, a.a.O., sowie Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S.-380f. Durch die nach dem ersten Weltkrieg neu gezogenen Ostgrenzen musste das Zoll- und Einreisesystem in Preußen komplett neu aufgebaut werden, vgl. ebenda, S.-309ff. 375 Ebenda. 376 »Das stereotype Bild des osteuropäischen Juden, als das eines Profiteurs und Wucherers, der den Deutschen ihre Wohnung Nahrung und Arbeit nahm, entwickelte sich zu einer stetig wiederkehrenden Figur im zeitgenössischen Diskurs.« Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S.-309. 377 »Irredentismus«, vom italienischen Ausdruck terre irredente (»unerlöste Gebiete«), bezeichnete ursprüng- <?page no="214"?> 214 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) nur dann wieder zu uns und unserer Kultur zurückgeführt werden können, wenn wir uns selbst helfen, wenn wir uns auf uns selbst stellen und uns mit aller Entschiedenheit gegen alles Ungesunde und Fremde wehren.« Dass sein Standpunkt keine Einzelmeinung im politischen Katholizismus war, belegt das Protokoll - es verzeichnete lautes »Bravo! « seitens der Zentrumsfraktion. 378 Die vierte und kleinste Regierungspartei nach SPD; Zentrum und DVP war die linksliberale DDP. Sie galt als Gegnerin des Antisemitismus, was sicher auch ein Grund war, warum Scholems Mutter Betty mit dieser Partei sympathisierte. 379 In der Ostjudendebatte zeigte sich jedoch, dass auch hochrangige DDP-Politiker sich dem antisemitischen Zeitgeist nicht entziehen konnten. Für die Liberalen sprach im Landtag Otto Fischbeck, einer der Gründerväter der DDP und ehemals preußischer Staatsminister für Handel und Gewerbe. Fischbeck bezog sich auf Severing: »Ich gebe dem Minister recht. Die Not, unter der wir leiden, wird verstärkt und vermehrt durch den Zuzug nicht nur fremder Juden, sondern der Fremden überhaupt.« Zum Antisemitismus betonte er zunächst seine Mitgliedschaft im »Verein zur Abwehr des Antisemitismus«. Er führte weiter aus: »Ich halte es für einen unglücklichen Versuch, dadurch den Antisemitismus abzuwehren, daß man Dinge, die da sind, die jedermann sieht, abzuleugnen sucht. Meine Partei hat vielleicht wie kein andere in diesem Hause und draußen unter dem Vorwurf zu leiden, daß sie eine Judenpartei sei. Bei den Wahlen spüren wir das, und manche Kübel sind gerade deshalb über uns ausgeschüttet worden. (Sehr wahr! bei den D. Dem.) Wir werden uns auch in Zukunft nicht davon abhalten lassen, unseren liberalen Prinzipien entsprechend, für die Gleichberechtigung aller deutschen Staatsbürger, die der deutschen Kulturgemeinschaft angehören, die hier in Deutschland sind und seßhaft bleiben wollen, die gemeinschaftlich mit uns die Lasten des Dienstes am Vaterland tragen wollen, einzutreten, ohne Rücksicht auf ihre Religion.« 380 Jenseits der Staatsbürgerschaft galt also für den Liberalen Fischbeck eine ganze Reihe von Bedingungen, um Juden als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen. Dennoch beschwor Fischbeck die »Gemeinschaft dieser deutschen Juden mit den übrigen deutschen Volksgenossen« und wollte die assimilierten Juden für den Kampf gegen die Ostjuden gewinnen: »Sie wollen mit uns allen zusammenstehen gegen diese Fremdlinge, die zu uns in Scharen über die Grenze einwandern und hier häufig derartige üble Erscheinungen hervorrufen, wie ich sie vorhin besprochen habe. Meine Damen und Herren, wie wir nicht lich die Forderung der italienischen Nationalbewegung nach Einigung aller Italiener in einem Staat. Der Begriff bezieht sich hier auf deutsche Bevölkerungen in den nach 1918 vom Deutschen Reich abgetrennten Gebieten. 378 Zwar war offener Antisemitismus durch den nachwirkenden Einfluss von Ludwig Windhorst (1812- 1891) ein Tabu in der Partei, dennoch war religiöser Antisemitismus immer latent bis offen vorhanden. So lehnte etwa 1920 in einer Debatte der Landesversammlung über die Ernennung des Sozialisten Kurt Löwenstein zum Großberliner Stadtschulrat ein Zentrumsredner Kurt Löwenstein explizit wegen seiner Jüdischen Herkunft ab. Vgl. dazu Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919- 1928, S.- 44. Zur Zentrumspartei und Antisemitismus vgl. auch Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland, S.-187, S.-231. 379 Vgl. Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland, S.-221. Herzig betont, dass die DDP sich neben der SPD als einzige Partei der Weimarer Republik bereit fand, jüdische Kandidaten für Parlamentswahlen aufzustellen, erwähnt aber leider nicht KPD, USPD und den Leninbund, die dies ebenfalls taten. Die DDP rückte nach 1930 offen von ihrem Kurs gegen den Antisemitismus ab und schloss sich mit dem antisemitischen »Jungdeutschen Orden« zur »Deutschen Staatspartei« zusammen (vgl. ebenda, S.-221f ). 380 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 188. Sitzung am 29. November 1922. <?page no="215"?> 215 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 215 wollen, daß die deutschen Juden beeinträchtigt werden wegen des Verhaltens der auf niedriger Kulturstufe stehenden Elemente, so wollen wir auch nicht, daß letzteren gegenüber ein Auge zugedrückt wird, weil sie der jüdischen Religion angehören.« 381 Auch Fischbeck sah die Ostjuden als minderwertige und lästige »Elemente«. Ausführlich beschwerte er sich über ihre spekulativen Tätigkeiten im Gold- und Devisenhandel, ausdrücklich begrüßte er Vorschriften des Börsenvorstandes, »die den Zutritt zur Börse für solche zweifelhaften Persönlichkeiten erschweren.« Selbst dem Kriegshelden Victor Bredt fiel auf, dass in Fischbecks Rede etwas nicht stimmte. Lakonisch kommentierte er: »Die Rede war formell eine Rede zur Abwehr des Antisemitismus, materiell war es einfach eine antisemitische Rede. (sehr richtig! Links) […] ich habe mich gewundert, daß die Herren von rechts nicht Beifall gerufen haben (Zuruf Rechts: das haben wir getan! ) - Dann ist ja alles gut.« 382 »Dann ist ja alles gut.« - Für eine Hetzrede gegen ostjüdische Einwanderer gab es im Preußischen Landtag im November 1922 parteiübergreifenden Beifall bei Katholiken, Deutschnationalen, Linksliberalen, Nationalliberalen. Die Sozialdemokratie beteiligte sich nicht am Antisemitismus, bemühte sich jedoch, der politischen Rechten durch eine restriktive Ausländerpolitik entgegenzukommen. Einzig ein Vertreter des linken Flügels der SPD in Gestalt von Oskar Cohn distanzierte sich davon und verteidigte die Einwanderer. Die zweite Gegenrede kam von Werner Scholem, als Kommunist und Jude ein doppelter Außenseiter zwischen den Weimarer Demokraten. Abschließend noch eine Beobachtung, die Scholem in der Mitte der Debatte machte: »Es muß festgestellt werden, daß auch heute in dieser Debatte wieder niemand hier im Hause gewagt hat, sich offen zum Antisemitismus zu bekennen, weil man doch fürchtete, damit allzu schlecht zu fahren.« 383 In der Tat bekannte kein Redner sich zu einer antisemitischen Rassentheorie. Lediglich Dr. Kaehler von der DNVP deutete etwas derartiges an, wenn er forderte, Deutschland solle nach dem Vorbild der New Yorker Einwanderungsbehörde Migration nach rassischen Kriterien steuern. Es ist aber bezeichnend, dass Kaehler sich hier und anderswo immer auf Quellen außerhalb des rechten Spektrums bezog. Diese Diskursstrategie zeigt, dass der verbal oder physisch gewalttätige »Radauantisemitismus« im Bürgertum Anfang der zwanziger Jahre nicht salonfähig war. Selbst die DNVP führte erst 1929 einen »Arierparagraphen« ein und verbot Juden die Mitgliedschaft. 384 Im Jahr 1922 hatte jedoch die »radauantisemitische« Strömung durch den Rathenau-Mord massiv an Unterstützung verloren, der von Scholem zitierte völkische »Deutsche Schutz- und Trutzbund« war sogar verboten worden. Radikal antisemitische Parteien wie die NSDAP existierten bereits, hatten jedoch noch keine Massenbasis. Nach der wirtschaftlichen Stabilisierung 1924 nahm der Antisemitismus sogar ab, wie der Historiker Arno Herzig konstatiert: »So sehr der Antisemitismus die politische (Un-)Kultur der Nachkriegsjahre bestimmte, so abrupt ist sein politischer Bedeutungsverlust, den er nach 1923 erlebte und der deutlich macht, daß der Antisemitismus vor allem in Krisenzeiten aktiviert werden könnte und politisch einsetzbar war.« 385 Die Abnahme blieb in der Tat eine Episode. Die parteiübergreifenden Stellungnahmen der Abgeordneten zur ostjüdischen Einwanderung zeigen, dass ein offenes Bekenntnis zum 381 Ebenda. 382 Ebenda. 383 Ebenda. 384 Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland, S.-213. 385 Ebenda. <?page no="216"?> 216 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Antisemitismus tabu war, aber antisemitische Stereotype das Denken bis weit in demokratische Kreise prägten. Hinter einer Welle von Dementis und Distanzierungen kamen sämtliche judenfeindlichen Klischees hervor, von denen dann jeweils die assimilierten deutschen Juden ausgenommen wurden. Selbst ein Redner wie Severing, der sich nicht antisemitisch äußerte, sah sich veranlaßt die vermeintlich »sachliche Argumentation« der äußersten Rechten zu loben. Dieser Brückenschlag funktionierte über das Scharnier der »Deutschen Interessen«, die durch den Versailler Vertrag existenziell bedroht schienen. Auch in der SPD schürte dies Ängste vor »Überfremdung«. Allerdings gab es auch vereinzelt antisemitische Vorfälle unter sozialdemokratischen Parlamentariern: Scholem beschwerte sich über judenfeindliche Zwischenrufe des SPD-Abgeordneten Theodor Ulmer, und auch Iwan Katz wurde bei einer Gelegenheit aus den Reihen der SPD antisemitisch beschimpft. 386 Als Gesamtheit distanzierte sich die Sozialdemokratie jedoch von solchen Übergriffen, der Antisemitismus gehörte definitiv nicht zu ihrem Standardrepertoire. Dies galt ebenso für die KPD: Es gab auch dort antisemitische Vorfälle, sie war jedoch keine antisemitische Partei - sonst hätte Werner Scholem niemals so wirken können, wie es hier dargestellt wurde. Beide Arbeiterparteien und ihre nach Hunderttausenden zählenden Mitgliedschaften waren angesichts der heftigen Konjunkturen des Weimarer Antisemitismus nicht völlig frei von antisemitischen Vorfällen. Sie boten jedoch immer einen Schutzraum, in dem jüdische und nichtjüdische Politiker gemeinsam gegen die völkische Rechte aktiv wurden. 387 386 Scholem äußerte dazu: »Ich stelle fest, daß es die Spezialität des Abgeordneten Ulmer ist, hier im Hause Mitglieder als Judenbengel zu beschimpfen, was der deutschnationalen Fraktion zweifellos sehr sympathisch ist.« Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1928, 248. Sitzung am 7. Juni 1923. Auch Ulmer kam ursprünglich aus der USPD. Im Fall von Katz ist auch der Zwischenruf selbst protokolliert, Katz wurde 1923 aus den Reihen der VSPD mit dem Ruf »Jude! « beschimpft. Vgl. ebenda, 288. Sitzung am 15. Dezember 1923; dazu auch Birgit Rolke, Jüdische Abgeordnete im Preußischen Landtag 1919-1928, S.-14. Auch für den Reichstag in der Endphase des Kaiserreichs gibt es Aussagen über derartige Zwischenrufe aus der SPD. Klaus Gietinger führt aus, wie der sozialdemokratische Kriegsgegner Hugo Haase im März 1916 von Seiten der sozialdemokratischen Kriegsbefürworter beschimpft wurde. Er nennt die Zwischenrufe »Die Judenjungen müssen raus! « von Gustav Bauer sowie »Mit der Judenbande muß Schluß gemacht werden« von Carl Legien. Beide Zwischenrufe tauchen jedoch im Protokoll nicht auf, sondern wurden erst 1918 in einer Verbandstagung der Büroangestellten thematisiert. Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär - Waldemar Pabst, eine deutsche Karriere, S.- 52, S.- 411; Gietinger bezieht sich wiederum auf: Karlludwig Rintelen, Ein undemokratischer Demokrat - Gustav Bauer. Gewerkschaftsführer - Freund Friedrich Eberts - Reichskanzler. Eine politische Biographie, Frankfurt 1993, S.-116. 387 Eine Auflistung antisemitischer Äußerungen in der Weimarer KPD leistet Mario Keßler, vgl. ders., Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Utopie Kreativ, Heft 173 (März 2005), S.-223-232. Olaf Kistenmacher leitet aus diesen und ähnlichen Beispielen eine antisemitische Tradition der KPD ab, vgl. ders. Vom »Judas« zum »Judenkapital«. Antisemitische Denkformen in der KPD der Weimarer Republik, 1918-1933, in: Matthias Brosch u.a. (Hg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, Berlin 2007, S.- 69-86. Im Vergleich mit allen anderen Parteien hatten die sich auf den Internationalismus berufenden Arbeiterparteien SPD, USPD und KPD jedoch am ehesten Argumente gegen den völkischen Antisemitismus. Die Addition von Beispielen zu einer ideologischen Tradition erscheint daher fragwürdig, insbesondere angesichts prominenter Gegenbeispiele wie der hier skizzierten Position Werner Scholems als Sprecher der KPD in der Ostjudendebatte. Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, dass die KPD stets Hauptziel antisemitischer Angriffe und Polemiken war, die nicht nur jüdische Politiker wie Scholem trafen, sondern sich durch die Konstruktion eines »Jüdischen Bolschewismus« auf die gesamte KPD und bisweilen auch die SPD erstreckten. Von den Nazis wurden beide Parteien ab 1933 unterschiedslos verfolgt. <?page no="217"?> 217 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 217 Dass es dennoch in der Ostjudendebatte nicht zur Verständigung zwischen KPD und SPD kam, lag an ihrem Verhältnis zur Nation, das beide Parteien seit dem ersten Weltkrieg trennte. Während die SPD sich seit 1914 zur Verteidigung nationaler Interessen bekannte, bestand die KPD auf einem unbedingten Internationalismus. Die sozialdemokratische Akzeptanz einer deutschen Staatsräson war dementsprechend politischer Kitt für die »große Koalition« in Preußen. In der Einwanderungsfrage bedeutete das Abschottung - nicht antisemitisch begründet, sondern im nationalen Interesse. Republikaner wider Willen? Gegen Rechtsterrorismus und Faschismus Durch die ständigen Anfeindungen gegen seine Person, aber auch durch seine intensive Beschäftigung mit der stagnierenden Bildungsreform hatte Werner Scholem ein scharfes Gespür für die Fragilität der republikanischen Ordnung. Obwohl er die Republik als zum Untergang verurteilte bürgerliche Klassenherrschaft wahrnahm, war er sich doch bewusst, dass eine Beseitigung der Demokratie von Rechts ihm nicht egal sein konnte. Sie würde das Ziel einer Räterepublik nicht näher bringen, sondern zur Unterdrückung jeder politischen Regung von Links führen. Schon historisch waren die in der Tradition der Revolution stehenden Kommunisten entschiedene Gegner der Rechten, für die der Hass auf die »Novemberverbrecher« immer ein gemeinsamer Nenner war. Im Preußischen Landtag gab es daher keine Koalition von »Links- und Rechtsextremisten« gegen die Republik. Die KPD verlangte stattdessen von den Organen des Staates ernsthaftes Vorgehen gegen rechte Republikfeinde, obwohl ihre Alltagserfahrungen zeigten, dass Polizei und Justiz dazu oft nicht bereit waren. Die KPD bemühte sich in ihrer parlamentarischen Arbeit deshalb, Auftritte monarchistischer und rechtsradikaler Gruppierungen anzuprangern. Gerade Werner Scholem setzte sich hier energisch ein. In einer Debatte am 30. November 1922 begründete er zwei Anträge, welche die KPD schon im Juni gestellt hatte. Einer verurteilte die Duldung von monarchistischen Veranstaltungen in Ostpreußen, Schlesien und anderen Teilen des Landes durch kommunale und staatliche Behörden. 388 Ein weiterer, von Scholem selbst eingereichter Antrag beschäftigte sich mit einem Auftritt von Generalfeldmarschall Hindenburg in Königsberg im Juni 1922. 389 Scholem sprach sich heftig gegen derartige Kundgebungen aus: »Hindenburg, der Geschäftsreisende der Monarchie, (große Unruhe rechts) der Mann, bei dessen Namen die gesamte Arbeiterschaft an die hinter ihr liegende ›große Zeit‹ denkt, (Zurufe rechts) dieser Mann wird weiter seine Geschäftsreisen für die Reaktion und für die Konterrevolution durch Ostpreußen unternehmen (sehr richtig! bei den Komm.) und die republikanischen Behörden, die nicht von der Preußischen Regierung zur Ordnung gerufen werden, diese sogenannten republikanischen Behörden, die ein Hohn auf die Republik sind, (sehr richtig! bei den Komm.) werden ihn weiter bei seinen konterrevolutionären Bestrebungen unterstützen. Wenn der Landtag das duldet, so zeigt er, daß er nicht ein Landtag der Republik, sondern ein Landtag der Monarchie, der Konterrevolution ist.« 390 Die »große Zeit« hatte Scholem als Frontsoldat in der von Hindenburg geleiteten Heeres- 388 Die Duldung geschah etwa durch die Abordnung von Schülerdelegationen. Drucksache Nr. 2996 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. 389 Drucksache Nr. 3001 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. 390 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 146. Sitzung am 13. Juni 1922. <?page no="218"?> 218 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) gruppe Ost am eigenen Leibe miterlebt. Es war ihm unerträglich, dass eine solche Figur mit Unterstützung des Staates Krieg und Kaiserzeit verherrlichte. Auch in Königsberg war das einigen zu viel - es wurde eine Arbeiterdemonstration »für die Republik und gegen die Monarchie« organisiert. Daraufhin kam es zum Zusammenstoß: Mehrere Abteilungen der Reichswehr scherten aus einer Parade aus und überfielen die Gegendemonstration. Ein Zivilist wurde durch Bajonettstöße getötet, mehrere andere Demonstranten durch Schüsse verwundet. Das Königsberger Beispiel war kein Einzelfall. Auch im brandenburgischen Zossen hatte es im Juni 1922 Polizeigewalt gegen republikanische Demonstranten gegeben, hier allerdings ohne tödlichen Ausgang. Scholem kommentierte: »Diese blutigen Ereignisse waren nur deshalb möglich, weil überall die Reichswehr und die Organe der preußischen Regierung sich aktiv an den monarchistischen und antirepublikanischen Kundgebungen beteiligten.« 391 Die KPD forderte daher die Entfernung reaktionärer Beamter aus dem Staatsdienst, ein Verbot der Teilnahme an monarchistischen Kundgebungen für Mitglieder von Polizei und Reichswehr, Auflösung aller bewaffneten monarchistischen Verbände und die Bildung republikanischer Arbeiterwehren aus den Reihen von SPD, USPD und KPD. Scholems Antrag fragte: »Ist sich das Staatsministerium der Bedeutung dieser Bewegung bewusst, deren Träger auch vor politischen Meuchelmorden nicht zurückschrecken? « 392 Der Satz bezog sich auf das Erzberger-Attentat, bekam jedoch bald eine unangenehme Aktualität: Nur 12 Tage nach Formulierung des Antrages folgte der Mord an Walter Rathenau. Scholem kritisierte, dass die Warnungen der KPD nicht gehört worden seien. Monatelang, von Juni bis November, sei der Antrag aufgeschoben worden. Zwar habe es nach dem Rathenau-Mord ein Einlenken gegeben. Wesentliche Vorschläge der KPD waren in einem »Berliner Abkommen« aller drei Arbeiterparteien berücksichtigt worden - also auch für die preußische SPD bindend. Doch im November 1922 war es damit bereits vorbei: Die Forderungen der KPD waren nicht im Ansatz erfüllt, die Verantwortlichen des Königsberger Blutbads nicht bestraft. 393 Scholems Bilanz war vernichtend: »Genau wie damals vor dem Rathenau-Mord schnarcht das Innenministerium und lässt sich in seinem politischen Schlaf, der ein gesegneter ist, nicht stören.« Es sei Methode, »nach rechts einige scharfe Worte zu gebrauchen, um dann nach links sagen zu können: was wollen Sie denn, sie stören ja nur die Arbeit, die das Ministerium leistet, um die Republik gegen rechts zu schützen.« 394 Stattdessen, so beklagte Scholem, ginge die preußische Polizei intensiv gegen »Kontrollausschüsse« vor, mit denen die Arbeiterschaft in verschiedenen Orten eine Steigerung der Lebensmittelpreise bekämpfe. Die Preissteigerungen waren Teil der Nachkriegsinflation, die Ende 1922 bedenklich anzog und im Folgejahr einen Höhepunkt erreichen sollte. Werner Scholem protestierte, als die Regierung die Ausschüsse polizeilich auflösen ließ. Die Verbote von rechtsterroristischen Organisationen stünden dagegen nur auf dem Papier - zahlreiche Waffenfunde bewiesen dies. Ein Verbot des »Jungdeutschen Ordens« sei 391 Ebenda, 189. Sitzung am 30. November 1922 392 Drucksache Nr. 2996 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. 393 Scholem kritisierte vielleicht auch deswegen, man habe im Abkommen der drei Arbeiterparteien »unnötige Zugeständnisse« gemacht und das Ereignis sei insgesamt »ungeheuer überschätzt« worden. Vgl. Werner Scholem, Skizze über die Entwicklung der Opposition in der KPD, in: Die Internationale, Jg. 7, Heft 2/ 3, März 1924, S.126 394 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. <?page no="219"?> 219 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 219 in Hannover sogar vom Oberpräsidenten Gustav Noske wieder aufgehoben worden. Die Nationalsozialistische Partei habe Minister Severing für Preußen verboten, ihre Neugründung als »Großdeutsche Arbeiterpartei« jedoch nicht verhindert. 395 In Hannover habe es sogar eine Veranstaltung der NSDAP unter Polizeischutz gegeben, auch die Zeitung der NS-Bewegung sei weiterhin legal, während das KPD-Blatt »Niedersächsische Arbeiterzeitung« wegen »Beleidigung der Regierung« verboten worden sei. 396 Scholem warnte angesichts dieser Erfahrungen erstmals vor einer »faschistischen Gefahr« in Deutschland. Dies war ein neuer Ton - zuvor hatten er und seine Genossen stets von »Reaktion«, »Konterrevolution«, »Monarchisten« oder »Vertretern des alten Systems« gesprochen. Doch schon Anfang der 1920er Jahre gruppierte sich die radikale Rechte um. Der Bezug auf die Monarchie war seit 1918 diskreditiert, das aristokratische Prinzip taugte nicht für den Aufbau einer Massenbewegung. Völkisches Gedankengut diente zunehmend als einigende Ideologie. Denn die »Gegenrevolution« konnte nicht einfach das Rad der Geschichte ins ancièn regime zurückdrehen, sondern musste sich in einer durch Massenmobilisierungen und soziale Kämpfe geprägten politischen Arena neu erfinden. Eine solche Neuformierung der Rechten war in Italien bereits gelungen. Der Begriff des »Faschismus« stammte von Benito Mussolinis 1919 gegründeten »fasci di combattimento«, den »Kampfbünden«. Diese verbanden eine populäre, an sozialistische Programme angelehnte Rhetorik mit einer Politik, die sich radikal gegen alle sozialistischen Forderungen nach politischer Teilhabe in Produktion und Politik stellte. Nur einen Monat vor Scholems Auftritt im Landtag hatte Mussolini durch seinen »Marsch auf Rom« die Macht übernommen - ein Ereignis, dessen Tragweite vielen Beobachtern nicht klar war. Doch Teile der radikalen Rechten, insbesondere die seit 1920 in Bayern aktive NSDAP, orientierten sich am italienischen Vorbild. Sie unternahm 1922 Anläufe, ihre Aktivitäten auch auf Norddeutschland auszudehnen. Werner Scholem beobachtete dies und warnte entschieden davor, die Möglichkeit einer faschistischen Diktatur in Deutschland zu unterschätzen. Er protestierte in seiner Rede vom November 1922 insbesondere gegen Ausführungen Severings zum »deutschen Volkscharakter«, »der es angeblich unmöglich macht, daß sich bei uns etwas Ähnliches abspielt wie in Italien.« Auf einen Zwischenruf hin wurde Scholem noch deutlicher: »Sie kennen natürlich den deutschen Volkscharakter und wissen ganz genau, daß gerade der deutsche Volkscharakter so ist, daß er kritiklos solchen Leuten, wie sie es sind, zu folgen geneigt ist, daß also der deutsche Volkscharakter noch eher vielleicht als der Charakter anderer Völker dazu neigt, sich einer Herrschaft der Reaktion zu beugen. Gerade das deutsche Volk, das aus seiner Geschichte heraus eine gewisse Knechtseligkeit geerbt hat - Sie werden mir das zugeben; das ist eine ganz bekannte Tatsache - , neigt dazu, sich knechten zu lassen. Aber meine Herren von der Rechten, Sie wissen, daß das deutsche Volk immer mehr von seinen eigenen Tyrannen geknechtet worden ist als von den Tyrannen des Auslandes, (Sehr wahr! bei den Komm.) daß also das deutsche Volk, das diese Eigenschaft 395 Die in Norddeutschland erst in Gründung befindliche NSDAP war am 15. November 1922 für Preußen verboten worden, in Bayern und anderen Ländern jedoch noch legal. Die »Großdeutsche Arbeiterpartei« war eine auf Berlin beschränkte Ersatzorganisation, sie kam jedoch über Anfänge nicht hinaus und wurde am 10. Januar 1923 ebenfalls durch Severing verboten. Vgl. Martin Schuster: Die SA in der nationalsozialistischen »Machtergreifung« in Berlin und Brandenburg 1926-1934, Dissertation Technische Universität Berlin, Berlin 2005, S.- 22. Online unter: http: / / opus.kobv.de/ tuberlin/ volltexte/ 2005/ 876/ pdf/ schuster_martin.pdf (Zugriff. 16.2.2012). 396 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. <?page no="220"?> 220 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) noch nicht überwunden hat, gerade dazu neigt, sich eines Tages wieder knechten zu lassen, und zwar noch mehr als bisher.« 397 Scholem hatte keine hohe Meinung vom Freiheitsdrang der Deutschen. Er sah, wie die extreme Rechte immer offensiver und gewalttätiger auftrat. Schon im Juni 1922 warnte Scholem vor einer »planmäßigen Steigerung« der Rechtsaktivitäten, sein Fraktionskollege Iwan Katz sprach offen vor einer »Neuauflage des Kapp-Putsches«. Die große Anfrage der KPD nach dem Rathenau-Mord klagte an: »Noch immer laufen die Putsch- und Mordorganisatoren Hindenburg, Ludendorff, Helfferich und Konsorten frei umher.« 398 Am 20. April 1923 warnte Werner Scholem dann: »Die Ermittlungen der Thüringer Regierung haben ergeben, daß diese Leute auf den Bürgerkrieg mit naher Sicht hinarbeiten. Die Thüringer Regierung hat auch Kuriere der bayerischen Hitlergarde festgesetzt und hat Befehle bei diesen Kurieren gefunden, aus denen klar hervorgeht, daß der nächste Schlag der Faschisten gegen das proletarische Thüringen geplant ist.« 399 Scholems Befürchtungen waren sehr konkret: Im November 1923 scheiterte zwar nicht in Thüringen, aber in München Adolf Hitlers erster Putschversuch, der sich am »Marsch auf Rom« orientierte. Hitler wurde unterstützt von Erich Ludendorff, ehemals Mitglied der Obersten Heeresleitung, bereits 1920 beim Kapp-Putsch dabei - jener Ludendorff, dessen Festnahme die KPD bereits im Juni 1922 gefordert hatte. Der General Ludendorff und der Gefreite Hitler standen für zwei Generationen der politischen Rechten. 400 Sie vertreten unterschiedliche, auch in sich unklare Konzeptionen. Ihre Zusammenarbeit stand jedoch für eine Kontinuität zwischen Kaiserreich, Kriegserlebnis und der entstehenden NS-Bewegung. Den Zeitgenossen demonstrierte sie die Geschlossenheit und den Machtwillen der rechten Republikgegner. Scholem beobachtete diese Tendenzen genau. Anders als es später in der KPD üblich wurde, ging er nicht dazu über, auch die SPD und andere Kräfte wahllos als »faschistisch« zu beschimpfen. Er forderte stattdessen bei mehreren Debatten immer wieder ein entschiedenes Auftreten gegen rechtsradikale Freikorps, Kampfbünde und Gruppierungen. 401 Sich 397 Ebenda. 398 Drucksache Nr. 3208 des Preußischen Landtages, Wahlperiode 1921-1924. Mit »Helfferich« spielte Scholem auf den Bankier und DNVP-Politiker Karl Helfferich (1872-1924) an, der durch antirepublikanische Propaganda und Gewaltaufrufe bekannt geworden war. 399 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 232. 232. Sitzung am 20. April 1923. Zum »proletarischen Thüringen«, in dem SPD und KPD eine engere Zusammenarbeit pflegten als in Preußen vgl. Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg, Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln - Weimar - Wien 2011, insbes.-S.-154f. 400 Militär und Militärerfahrung spielten eine wesentliche Rolle in der Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Gerade in Bezug auf die Freikorps ist diese Kontinuität jedoch in der Forschung umstritten - während die Studie von R.G.L. Waites die Freikorps als »Vanguard of Nazism« sieht, beschreibt Hagen Schulze sie als Kräfte, die zeitweise auch »im Dienste der Republik« gestanden hätten, ebenso die Studie von Hannsjoachim Koch zum »Deutschen Bürgerkrieg«. Die Detailstudie von Gabriele Krüger zur Brigade Ehrhard und der Organisation Consul beschreibt dagegen den Übergang von konservativ-monarchischen zu völkischen Tendenzen. Die biographische Studie von Klaus Gietinger zu Waldemar Papst betont ebenfalls die personellen Kontinuitäten zwischen Gegenrevolution 1919 und NS-Machtübernahme 1933. Vgl. R.G.L. Waites, »Vanguard of Nazism - The Free Corps Movement in Postwar Germany 1918-1923, Cambridge (MA) 1952; Hagen Schulze, Freikorps und Republik, Boppard am Rhein 1969; Hannsjachim W. Koch, Der deutsche Bürgerkrieg - Eine Geschichte der deutschen und österreichischen Freikorps 1918-1923, Frankfurt a. M. etc. 1978; Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhard, Hamburg 1971, insbes. S.-84ff; Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst. Eine deutsche Karriere. Hamburg 2009, insbes. S.-117-176. 401 Am 20. April warnte Scholem vor den »deutschen Faschisten«, die in Mühlheim an der Ruhr Arbeitslose <?page no="221"?> 221 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 221 auf den »Volkscharakter« zu verlassen sei eine »sehr schwache Stütze der Republik gegenüber der Reaktion«. Entschieden widersprach er im November 1922 einer Kritik Severings an den Anfragen und Anträgen der KPD. Scholem zitierte den Minister: »Solche Anfragen seien schon deshalb nicht gut, weil dadurch die deutsche Industrie geschädigt werde.« 402 Scholem hielt dies für symptomatisch, er forderte den Innenminister heraus: »Herr Severing wird wieder Gelegenheit haben, hier von der Tribüne des Landtags nachzuweisen, daß die Preußische Regierung gewillt ist, nichts gegen die Reaktion zu tun, daß sie durch ihr Nichtstun, durch ihre Schläfrigkeit, durch die Schnarchtöne, die sie von Zeit zu Zeit von sich gibt, der beste Schrittmacher der Reaktion ist.« 403 Der Minister konnte nicht umhin, auf diese Polemik zu antworten. Wichtiger schien ihm jedoch zunächst, Vorwürfe der politischen Rechten zu parieren. Von dort wurde behauptet, Maßnahmen der Staatsregierung gegen rechte Vereinigungen hätten den Zweck »die nationale Stimmung weiter Volkskreise zu unterdrücken.« Severing protestierte: »Ich muß gegen diese Unterstellung mit aller Schärfe Verwahrung einlegen. Diese Ausführungen waren eine bedauerliche Rückkehr zu einer früheren - verzeihen sie mir diesen Ausdruck - Unart der alten konservativen Partei, nämlich das nationale Gefühl, den Patriotismus für sich allein in Erbpacht zu nehmen. (sehr richtig! im Zentr. und links). Ich glaube, die Linksparteien dieses Hauses, die verfassungstreuen Parteien, die Parteien, die ihre Vertreter in die Staatsregierung entsandt haben, können auch für sich vaterländisches Gefühl und ebenso die Betätigung dieses vaterländischen Gefühls in Anspruch nehmen.« 404 Während Werner Scholem das »vaterländische Gefühl« der Deutschen als Ursache des Rechtsterrorismus ansah, wollte Severing es für die Sozialdemokratie und ihre Koalitionspartner reklamieren: »In den bedrohten Gebietsteilen unseres Staates und des Reiches haben gerade die verfassungstreuen Parteien in den letzten Wochen und Monaten beweisen, daß sie sich in der vaterländischen Betätigung von den Herren von der Deutschnationalen Volkspartei in nichts übertreffen lassen.« Severing wehrte sich entschieden dagegen, er betreibe Gesinnungspolitik gegen Rechts: »Sie werden mir keinen einzigen Fall nachweisen können, daß jetzt in dieser kleinlich ängstlichen Weise irgendeine Vereinigung, die Ihnen (rechts) politisch nahe stände, schikaniert worden sei.« Die Auflösung von Organisationen erfolge nicht nach deren Programm, sondern in Hinblick auf die Betätigung der Organisationen. Wenn es illegale und bewaffnete Aktivitäten gäbe, dann greife das Republikschutzgesetz. überfallen hätten, wobei es auch Tote gegeben habe. Er forderte erneut Arbeiterwehren zum Selbstschutz und wurde ausgelacht. Am 7. Juni 1923 wehrte Scholem sich gegen die Auflösung von Thüringer Arbeiterwehren und bezeichnete die Auflösung als Maßnahme »zur Unterstützung antirepublikanischer, faschistischer und arbeiterfeindlicher Mörderorganisationen«. Am 4. Juli 1923 zitierte er die Aktivität von Jugendlichen in »faschistischen Organisationen« als Beispiel für eine Verrohung der Jugend, der nicht durch Moralpredigten, sondern durch demokratische Schulreformen begegnet werden müsse. Am 20. Mai 1924 protestierte er gegen das Verbot der Roten Fahne, die zur Verhinderung eines rechten Massenaufmarsches in Halle aufgerufen hatte: »Wenn die Rote Fahne zur Niederschlagung der Faschisten, die einen bewaffneten Aufmarsch vorbereitet haben, aufgerufen hat, so ist es nicht nur das gute Recht der Roten Fahne, sondern auch ihre Pflicht als Organ der Arbeiterpartei […].«Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 232. Sitzung am 20. April 1923, 248. Sitzung am 7. Juni 1923, 263. Sitzung am 4. Juli 1923 sowie 310. Sitzung am 20. Mai 1924. Vgl. auch den Artikel »Das Verbot der Roten Fahne vor dem Landtag, in Rote Fahne, Nr. 88, 21. April 1923, in dem Scholems Rede vom 20. April 1924 zusammengefasst wurde. 402 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. 403 Ebenda. 404 Ebenda. <?page no="222"?> 222 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Dies, so Severing, müssten auch die Deutschnationalen einsehen: »Wir leisten dem inneren Frieden und damit auch letzten Endes dem Interesse der Deutschnationalen Partei und den deutschnationalen Parteigängern den allerbesten Dienst, wenn wir schon den Keimen Widerstand entgegensetzen, den ersten Schritten auf dem Wege zur Volksverhetzung und zum Bürgerkrieg begegnen.« 405 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Severing sich von den Angriffen der Rechten auf seine nationale Zuverlässigkeit weit härter getroffen fühlte als von Scholems Polemik. 406 Aber auch Werner Scholem bekam seine Antwort. Zunächst rechtfertigte Severing das Vorgehen gegen die Kontrollausschüsse: »Wenn ich den kommunistischen Arbeitern sage: maßt euch in den Kontrollausschüssen keine behördlichen Funktionen an, damit ihr mit den Behörden nicht in Konflikt geratet und Zusammenstöße vermeidet, dann ist das sehr viel mehr im Interesse der Arbeiterschaft gehandelt, als wenn Ihre ›Rote Fahne‹ schreibt: Macht die Ungesetzlichkeiten der Kontrollausschüsse in Ahlfeld, Pinneberg und Hornhausen nach! « 407 Severing wollte nicht nur die Interessen der deutschnationalen Wähler, sondern auch die der KPD-Anhänger vertreten: »Ich bin der festen Überzeugung, daß ich durch meine Maßnahmen auch die Interessen der kommunistischen Arbeiter sehr viel besser vertrete als sie durch ihre Reden.« 408 Auf seine angebliche Untätigkeit gegen den rechten Terror ging Severing nur kurz gegen Ende seiner Rede ein: Die NSDAP habe in Hannover keinen Polizeischutz bekommen, die von Scholem nach Zeitungsberichten zitierten Funde rechter Waffenlager seien ihm längst bekannt: »So sehr schnarche ich wirklich nicht, Herr Kollege Scholem, daß ich derartige Mitteilungen nicht auch bemerke.« Dennoch schienen Scholems Worte etwas erreicht zu haben: Zwei Monate später wurde neben der NSDAP auch die »Großdeutsche Arbeiterpartei« verboten. 409 Severing war keineswegs völlig untätig gegen den Rechtsterror. In der Tat versuchte er, mit Partei- und Organisationsverboten die extremsten Auswüchse zu stoppen. 410 Allerdings hatte er ein ganz anderes Verständnis vom Vorgehen gegen Rechts. Während Scholem dem Staat misstraute und von den Linksparteien gemeinsam gebildete Arbeiterwehren forderte, stellte Severing klar: Bewaffnete Organisationen aller Art würden in Preußen nicht geduldet - ganz gleich »ob sie Arbeiterwehr genannt werden und kommunistischen Einschlag erhalten« oder als »Selbstschutzorganisationen zum angeblichen Schutze der Landwirtschaft« aufträten. 411 Scholem warf Severing daher immer wieder vor, 405 Ebenda. Zum Bürgerkrieg als Topos zeitgenössischer Politik vgl. Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/ 39 - Berlin und Paris im Vergleich, München 1999. 406 Rüdiger Bergien weist in seiner Studie zum »Wehrkonsens« der Weimarer Republik Carl Severing eine Schlüsselrolle für die Verbindung von republikanischen und antirepublikanischen Kräften in gemeinsamen Bestrebungen zur Wiederaufrüstung zu. Das ideologische Scharnier dafür bildete die »vaterländische Betätigung« für die »bedrohten Gebietsteile«, also die vom Reich abgetrennten preußischen Ostprovinzen. Vgl. Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik, S.-37f, S.-128. 407 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. 408 Ebenda. 409 Vgl. Martin Schuster: Die SA in der nationalsozialistischen »Machtergreifung« in Berlin und Brandenburg 1926-1934, Dissertation Technische Universität Berlin, Berlin 2005, S.- 22. Online unter: http: / / opus.kobv.de/ tuberlin/ volltexte/ 2005/ 876/ pdf/ schuster_martin.pdf (Zugriff. 16.2.2012). 410 So verbot er 1923 auch die »Deutschvölkische Freiheitspartei«, vgl. Thomas Alexander, Carl Severing - Ein Demokrat und Sozialist in Weimar, S.-681. 411 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. <?page no="223"?> 223 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 223 durch seine Bekämpfung der linken Abwehrorganisation die »Faschistenbanden« zu schützen. 412 Severing hingegen setzte ganz auf die Staatsautorität. Er duldete keine Gegeninstitutionen, seien es nun Arbeiterwehren oder zivile Kontrollausschüsse. 413 Auf Scholems Vorwürfe, dass Reichswehr und Polizei offen mit der Rechten und ihren paramilitärischen Organisationen sympathisierten, ging er nicht ein. Hier zeigt sich ein zentrales Problem der sozialdemokratischen »Reform von oben«. Denn mit dem Personal aus Kaisers Zeiten fiel es schwer, den Staat zu demokratisieren, was wiederum Voraussetzung war, um staatliche Organe ernsthaft gegen den Rechtsradikalismus einzusetzen. Dennoch verließ die SPD sich auf den Staat, wie sie ihn vorfand und wehrte sich gegen alle Formen der Selbstorganisation, auch wenn diese wie z.-B. die Kontrollausschüsse gewaltfrei auftraten. Severing sorgte stattdessen dafür, dass in den größeren Städten Preußens die Polizei durch sozialdemokratische Polizeipräsidenten geleitet wurde. 414 Die antirepublikanische Hegemonie im Staatsapparat wurde durch diesen Austausch der Spitze jedoch nicht gebrochen, bestenfalls war ein Anfang dazu gemacht. Aber auch dies war fraglich: so wurden weiterhin die Offiziere der Sicherheitspolizei (SiPo) hauptsächlich aus Angehörigen der Reichswehr rekrutiert, die wiederum in der Tradition des Weltkriegsheeres und der Freikorps stand. 415 Problematisch erscheint auch Severings Ansatz, die bewaffneten Kräfte der Rechten zu bekämpfen, jedoch ihre Gesinnungsgenossen in der Deutschnationalen Volkspartei als sachliche Dialogpartner anzusprechen. Mit der KPD wurde kein derartiger Dialog gesucht. Allerdings waren auch die Kommunisten nicht unbedingt auf eine Zusammenarbeit, sondern auf eine »Entlarvung« der sozialdemokratischen Regierungspolitik aus. 416 Die enormen Differenzen in Bezug auf das Verständnis von Staat und Nation boten dazu genug Anlässe. Geschichtsphilosophie im Landtag Werner Scholem engagierte sich als energischer Schulreformer, verteidigte angesichts von Rechtsterrorismus und Putschplänen die republikanische Staatsform und setzte sich für eine Ausweitung des Asylrechts ein: Er protestierte 1922 energisch gegen die Abschiebung 412 Vgl. Artikel »Das Verbot der Roten Fahne vor dem Landtag«, in Rote Fahne, Nr. 88, 21. April 1923 mit Bezug auf Scholems Rede vom 20. April 1923. 413 Auch Severings Biograph Thomas Alexander benennt die »Sicherung des innerstaatlichen Machtmonopols« als eines der Ziele im »System Severing«. Dies umfasste auch den Versuch einer Wiederherstellung des Primats der Politik gegenüber dem Militär, etwa durch Stärkung der Oberpräsidien ab 1920, so dass die Verantwortung für die innere Sicherheit nicht mehr bei den Militärbehörden lag. Vgl. ders. Carl Severing - Ein Demokrat und Sozialist in Weimar, S.-507f, S.-681. 414 Ebenda, S.-534ff, S.-561ff. Auf die Reichswehr hatte Severing als Landesminister jedoch keinen Einfluss. 415 Die SiPo wurde schließlich mit der Ordnungspolizei zur Schutzpolizei (Schupo) vereinigt, das Personal übernommen. Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928-1932, Bonn 1975, S.-36. 416 Hier gab es allerdings Unterschiede nicht nur zwischen den Flügeln, sondern auch Bezirken der KPD. In Preußen, wo die SPD regierte, war sie durch ihre Verantwortung für den Polizeiapparat direkter Gegner und wurde im Parlament Ziel einer Entlarvungstaktik. In Bayern hingegen, wo KPD und SPD Opposition gegen eine rechte Regierung betrieben, waren gemeinsame Aktionen inner- und außerparlamentarischer Art keine Seltenheit. An der Ludwig Maximilians Universität München arbeitet derzeit Sebastian Zehetmair an einer Lokalstudie zur KPD in Bayern. Zu Thüringen vgl. Steffen Kachel, Ein Rot-Roter Sonderweg? a.a.O. <?page no="224"?> 224 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) von Syndikalisten aus Spanien und Italien in ihre Heimatländer. 417 Dennoch lehnte er die bestehende Verfassung der Weimarer Republik ab und machte daraus kein Geheimnis: »Verehrter Herr Kollege, die republikanische Staatsform als solche verteidigen wir natürlich. Daß wir nicht diese Republik verteidigen, das wissen Sie ja ganz genau« rief er den Parlamentariern zu. 418 Scholem sprach hier für die ganze KPD. Es ist bereits ausgeführt worden, dass USPD und Kommunisten die Weimarer Verfassung nicht als Abschluss der Novemberrevolution akzeptierten, sondern eine Räterepublik anstrebten. Das damit verbundene Ideal einer radikalen Selbstverwaltung war mit der Übernahme der »21 Bedingungen« zwar für die innere Organisation der KPD aufgegeben worden. Der Zentralismus galt jedoch Anfang der 20er Jahre vielen Kommunisten nur als Mittel. Als politische Form einer kommunistischen Gesellschaft strebten sie weiterhin nach einer Demokratie der Räte. Auch im Tageskampf spielte diese Vorstellung eine Rolle: ob Elternbeiräte, Schülerräte, Kontrollausschüsse für die Lebensmittelpreise oder Arbeiterwehren gegen Rechtsterror - durch die Idee der Selbstverwaltung unterschieden sich Werner Scholems parlamentarische Initiativen deutlich vom Staatsverständnis eines Carl Severing oder Otto Boelitz. Nachdem die Rest-USPD sich 1922 mit der SPD vereinigt hatte, waren die Kommunisten jedoch mit ihren rätedemokratischen Ansprüchen isoliert. 419 Diese Isolation, aber auch die ausbleibende Revolution und die enge Anlehnung an die Sowjetunion führten später dazu, dass sich die Räteideen in der KPD mehr und mehr verflüchtigten und einer autoritären Politik Platz machten. Die Sozialdemokratie blieb jedoch, wenn auch im Negativen, wesentlicher Bezugspunkt für die Weimarer Kommunisten. Das Erbe der Sozialdemokratie war keineswegs etwas Unbewusstes für Werner Scholem. Immer wieder berief er sich auch explizit auf deren Traditionen, etwa beim Internationalismus: »Wir erklären demgegenüber, daß wir die Erben dieser antinationalen Strömungen der deutschen Sozialdemokratie sind und daß wir uns mit Stolz dazu bekennen, die Erben dieses antinationalen, d.h. internationalen Geistes zu sein.« 420 Oft konfrontierte Werner Scholem sozialdemokratische Politiker mit der ihnen unangenehmen Vergangenheit als oppositionelle Sozialisten. 421 Die SPD stand in seinen Augen für den Bruch mit dem linken Erbe, die KPD hingegen für politische Kontinuität. 417 Die spanischen Syndikalisten Nicolau Fort und Lucia Concepcion sowie der italienische Syndikalist Boldrini wurden von den preußischen Behörden in ihre Heimatländer ausgeliefert, weil sie angeblich an politischen Attentaten beteiligt waren. Scholem bestand hier juristisch korrekt darauf, dass die geltenden Auslieferungsverträge nur für gemeine Verbrechen galten, nicht jedoch für politische Taten. Er verteidigte die Inhaftieren als Revolutionäre: »Heute hat ein Revolutionär kein Asylrecht mehr. Die Zeiten, in denen es in der Schweiz, in England und anderen Ländern Asylrecht gab, sind vorüber, weil eben die Zeit vorüber ist, in der noch das Bürgertum ein Interesse daran hatte, daß es solche Freistätten gab, die Zeit, in der noch das Bürgertum selber wenigstens die Nachwirkungen eines Kampfes durchzuführen hatte«. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 136. Sitzung am 16. Mai 1922 sowie Werner Scholem, Die deutsche Auslieferungsschmach, in: Internationale Presse-Korrespondenz Nr. 66, 13. Mai 1922. 418 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 181. Sitzung am 25. Oktober 1922. 419 Ähnliche Ideale vertraten zwar auch KAPD und kleinere Organisationen wie die anarchistische FAUD und syndikalistische Linksgewerkschaften; diese waren jedoch marginal und wurden von der KPD eher als Konkurrenz denn als Bündnispartner gesehen. Vgl. dazu Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, Meinenheim am Glan 1969. 420 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 104. Sitzung am 22. Februar 1922. 421 Etwa im April 1923, als er Severings Vergangenheit als sozialistischer Journalist ansprach. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 232. Sitzung am 20. April 1923. <?page no="225"?> 225 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 225 In seinen Protestreden gegen den Antisemitismus bezog sich Scholem daher ohne Zögern auf eine Reichstagsrede von August Bebel aus dem Jahr 1903, der im Sinne des Erfurter Programms jeden Judenhass verurteilte. 422 Die wirksamste Tradition der alten Sozialdemokratie blieb allerdings die Geschichtsphilosophie, der Scholem immer wieder huldigte. Ihr zufolge war nicht nur das Kaiserreich, sondern auch der Weimarer Staat historisch zum Untergang verurteilt: »Der demokratische Staat, dessen Schwäche wir alle kennen, dessen Schwäche aus der geschichtlichen Entwicklung herrührt, weil diese geschichtliche Entwicklung bereits weiter ist als der demokratische Staat.« 423 Scholems Geschichtsoptimismus stand im Widerspruch zur hellsichtigen Beunruhigung über die Formierung einer faschistischen Bewegung. Er konnte sich schlicht nicht vorstellen, daß faschistische Ideologie auch auf die Arbeiterjugend wirkte. Scholem sah autoritäre Tendenzen allein beim Nachwuchs des Bürgertums, dessen politische Ideale aus dem Absolutismus stammten - für ihn ein »typisches Symptom des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft«. Die Arbeiterjugend hingegen denke anders: »denn die Jugend einer Klasse, die historisch im Aufsteigen begriffen ist, schwärmt für etwas anders als für tyrannische Unterdrückung. Nur die Jugend einer Klasse, die sich nur durch Unterdrückung der Volksmassen noch an der Macht halten kann, wird von vornherein die Unterdrückung als Symbol ihrer politischen Weltanschauung auffassen.« 424 Während Scholem also vor den Faschisten warnte, war er gleichzeitig fest davon überzeugt, dass eine Radikalisierung in künftigen Krisen der Linken zugute kommen würde. Nicht nur die Jugend, sondern auch die »versinkenden Schichten des früheren Bürgertums, jene Intellektuellen, Ärzte und freien Wissenschaftler« würden unausweichlich proletarisiert und sich in die »Kampffront des Proletariats« einreihen. 425 Aus diesen Sätzen spricht das Erfurter Programm der SPD, das schon 1891 den Untergang der Mittelschichten voraussagte und von einer Spaltung der Gesellschaft in zwei »feindliche Heerlager« sprach. 426 Die Geschichtsphilosophie verhinderte somit, kräftig verstärkt durch Carl Severings Appelle an das »nationale Gefühl«, dass Scholem und andere KPD-Politiker ernsthafter nach Bündnissen zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften strebten. Zudem blieb die Natur des »Faschismus« undurchsichtig. War sein Programm eine Rückkehr zum wilhelminischen Absolutismus - oder drohte eine weit schlimmere Knechtschaft? Letzteres hatte Scholem in seinen Bemerkungen zum deutschen »Volkscharakter« angedeutet. Allerdings war das eigentliche politische Ziel ihres Strebens den deutschen Faschisten im Jahr 1923 selbst noch nicht klar. Sie bezogen sich zwar taktisch auf Mussolini, inhaltlich schwankten die zahlreichen rechtsradikalen Gruppen und Grüppchen jedoch zwischen der Wiederherstellung alter Größe und einer unklaren völkischen Utopie. Doch nicht nur im Abwehrkampf gegen die rechte Mobilisierung konnte Scholems Vertrauen auf historische Gesetzmäßigkeiten zum Hindernis werden. Auch im Ringen um soziale Verbesserungen wirkte es sich hemmend aus, etwa wenn Scholem erklärte, seine Bildungsreform sei nur in einem Arbeiterstaat umsetzbar. Der Rückenwind der Geschichte war für Scholem Teil seiner Identität. Zurufe, die ihn mit seiner bürgerlichen Herkunft 422 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 104. Sitzung am 22. Februar 1922. 423 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 189. Sitzung am 30. November 1922. 424 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 181. Sitzung am 25. Oktober 1922. 425 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 202. Sitzung am 23. Januar 1923. 426 In: Horst Seefeld (Hg.), Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S.-77ff. <?page no="226"?> 226 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) konfrontierten, konterte er mit Protest: »Gewiß, ich bin stolz darauf, daß ich auf der Arbeiterseite bin, denn, wie gesagt, ich bin lieber ein Renegat am Bürgertum als ein Renegat an der Arbeiterklasse, lieber ein Renegat an einer Klasse, die verfault ist, die historisch dem Untergang geweiht ist, als an einer Klasse, die im Aufstieg begriffen ist.« 427 Die unruhige politische Situation Anfang der 1920er Jahre war wie geschaffen, um Scholems Geschichtsbild zu bestätigen. Wirtschaftliche und politische Krisen lösten einander ab, die sich abwechselnden bürgerlichen Regierungen waren kaum Herr der Lage. Oft konnten sie sich nur durchsetzen, indem sie ihre demokratischen Grundsätze beiseite schoben. Vor allem die Wirtschaftskrisen schienen Scholems These einer »Verfaulung« der bürgerlichen Gesellschaft zu bestätigen. Hierzu ist ein kurzer Exkurs vonnöten, bevor wir den Blick wieder auf die Bühne des Landtags richten. Inflation, Krise und Radikalisierung Die ersten Nachkriegsjahre bestanden in Deutschland im Grunde aus einer einzigen Wirtschaftskrise, verursacht durch den Wegfall der Kriegskonjunktur, die sich auf ungedeckte Kriegsanleihen und verdeckte Geldentwertung gestützt hatte. 428 Es folgte 1918 das böse Erwachen und die Notwendigkeit, über Nacht eine Umstellung der Rüstungsauf Friedensproduktion vorzunehmen. Doch dieser Binnenmarkt war kaum noch vorhanden, denn die Arbeiterinnen und Arbeiter waren durch Lohnsenkungen verelendet. 429 Auch der äußere Handel stagnierte, Kolonien und Märkte in Übersee waren verloren. Die enormen Reparationsforderungen taten ihr Übriges. 430 Der Zivilisationsbruch des Krieges hatte somit nicht nur das ethische Fundament der bürgerlichen Gesellschaft diskreditiert, sondern auch ihre ökonomischen Leitsätze unterhöhlt. Der Markt erschien der Bevölkerung nur noch als Schwarzmarkt von Spekulanten und Schiebern, ein Synonym für Verbrechen und Korruption - Zustände, welche die Linke antikapitalistisch, die Rechte antisemitisch erklärte. Die lange Zeit nur als Utopie vorhandene Planwirtschaft war hingegen Alltagserfahrung geworden. Sie hatte vier Jahre lang die Kriegsmaschine am Laufen gehalten, Lebensmittel und Konsumgüter staatlich rationiert. Während der Markt für Zerrüttung stand, symbolisierten Staat und Plan einen Rest von Stabilität und Verlässlichkeit. Der Wohnungsmarkt in Berlin stand bereits unter Zwangsverwaltung, für die Großindustrie wurde dasselbe gefordert - nicht nur von Kommunisten, sondern auch in der Sozialde- 427 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 181. Sitzung am 25. Oktober 1922. 428 Das Volumen der Kriegsanleihen betrug 99 Milliarden Goldmark, der Notenumlauf stieg auf das Zwölffache an. Die Preisstabilität wurde durch Kontrollen gesichert, das wahre Ausmaß der Inflation somit erst mit der Niederlage 1918 sichtbar. Vgl. Lothar Wentzel, Inflation und Arbeitslosigkeit - Gewerkschaftliche Kämpfe und ihre Grenzen am Beispiel des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1919-1924, Hannover 1981, S.-4-16, insbes. S.-7. 429 Jürgen Kuczynski gibt schon für 1917 einen Verfall der Kaufkraft der Löhne auf 70% des Wertes von 1900 an. Ders., Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 5., Berlin (DDR) 1962-66, S 179. 430 Die deutsche Regierung hatte ausgehend von Woodrow Wilsons »14 Punkten« mit etwa 30 Milliarden Goldmark gerechnet, da ein Großteil der Forderungen durch Beschlagnahmungen deutscher Guthaben und Sachwerte bereits befriedigt schien. Da die Reparationskommission jedoch Rentenzahlungen für alliierte Kriegsteilnehmer aufnahm, sprengten die zwei Jahre nach Kriegsende vorgestellten Zahlen alle Erwartungen. Vgl. Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917-1933, S.-227. <?page no="227"?> 227 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 227 mokratie. 431 Diese Stimmung setzte sich fort, als die Krise 1923 einen neuen Höhepunkt erreichte. Begonnen hatte das Jahr mit einem deutsch-französischen Konflikt über die Reparationen, der bis zur Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen eskalierte. 432 Der Regierung diente dies als Aufhänger für eine groß angelegte Kampagne nationalen Widerstands, an der sich aus zweifelhaften populistischen Motiven auch die KPD zeitweise beteiligte. 433 Der »Ruhrkampf« währte jedoch nicht lange und bildete nur den Auftakt für die eigentliche Krise im Herbst 1923: die Hyperinflation. Die Geldentwertung hatte schon 1922 ein bedenkliches Niveau erreicht. Sie wurde dennoch bewusst intensiviert, um die Reparationsleistungen zu befriedigen. Die selbstzerstörerische Tendenz einer solchen Wirtschaftspolitik nahm die Regierung in Kauf. Sie wollte die Unerfüllbarkeit der Reparationsforderungen demonstrieren und einen Staatsbankrott vermeiden. 434 Auf Widerstand aus Wirtschaftskreisen stieß man dabei nicht, denn die Wucht dieser Politik traf hauptsächlich Arbeiterschaft und Mittelschichten, teilweise auch Kleinunternehmer. Löhne und Sparguthaben wurden entwertet, Produktionsmittel und Immobilien steigerten ihren Wert durch die Annullierung von Schulden und Hypotheken. Lohnkämpfe wurden unter solchen Bedingungen immer schwieriger, da die Streikkassen der Gewerkschaften bald wertlos waren, Lohnsteigerungen wurden durch neue Inflationsschübe umgehend wieder vernichtet. 435 Die Entwicklung vollzog sich zunächst langsam. Der Dollar, 1914 noch mit 4,20 Goldmark gehandelt, wurde im Mai 1921 mit 52,30 Mark bewertet. Im August 1922 waren es schon 1134,56 Mark. 436 Im Folgejahr 1923 rückte der Kurs in die zehntausender, pendelte sich dann eine Zeitlang bei zwanzigtausend Mark ein. 437 Doch bald stiegen die Preise wieder. Erst mäßig und dann fieberhaft - ein Pfund Kartoffeln kostete 50.000 Mark und am nächsten Tag das Doppelte. 438 Im August 1923 erreichte der Dollarkurs die Millionengrenze. Betty Scholem gab Gerhard, der mitten in der Krise ausgewandert war, ein Stimmungsbild: »Als Du abreistest, kostet z.B. die Wurst, die ich dir mitgab, 12 Millionen das Pfund, heute 240 Millionen, u in diesem u. noch größerem Tempo ist alles gestiegen, […] man kann nur noch mit Milliardenscheinen einkaufen gehen. Der Zusammen- 431 Eine Sozialisierungskommission sollte diese Forderungen umsetzen. Sie wurde April 1919 aufgelöst, nach dem Kapp-Putsch im März 1920 neu eingesetzt und tagte bis 1923 unter Beteiligung prominenter Sozialdemokraten wie Karl Kautsky, Rudolf Hilferding und Rudolf Wissell. Ihre Vorschläge blieben erneut folgenlos. Vgl. Manfred Behrend, Der Wandschirm, hinter dem nichts geschieht - Bildung, Tätigkeit und Ende der ersten deutschen Sozialisierungskommission. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 4/ 1998. 432 Zur Ruhrbesetzung und der Reaktion der Arbeiterbewegung darauf vgl. Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung - Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, 2. Auflage Berlin 1985, S.-553-604 sowie Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S.-125ff. 433 Die Widersprüche dieser Kampagne und Scholems Position dazu werden im folgenden Kapitel beleuchtet. Für einen Überblick vgl. Werner T. Angress, Die Kampfzeit der KPD, S.-361ff. 434 Im Falle eines Staatsbankrotts wurde ein politischer Zusammenbruch der jungen Republik befürchtet. Vgl. Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917-1933, S.-35f. 435 Vgl. dazu Lothar Wentzel, Inflation und Arbeitslosigkeit - Gewerkschaftliche Kämpfe und ihre Grenzen am Beispiel des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1919-1924, Hannover 1981. 436 Ebenda, S.-280. 437 Das Plateau ging auf eine Drosselung der Notenpresse durch die Regierung Cuno zurück, vgl. Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S.-128. 438 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen - Die Erinnerungen 1914-1933, München 2002, S.-57. <?page no="228"?> 228 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) bruch der Wirtschaft ist vollkommen, es kann Niemand etwas kaufen u. dadurch steigt die Arbeitslosigkeit.« 439 Im Betrieb von Arthur Scholem gab es jedoch genug zu tun: »Es wird Dich freuen u. sehr interessieren, daß wir nun auch Geld drucken, u. zwar für die Reichsdruckerei. Im ganzen Betrieb herrscht große Freude u. Emsigkeit, denn über Allen schwebte schon die drohende Entlassung […] Wir arbeiten in 2 Schichten u. jede Nacht kontrollirt Reinhold mit Lump den Arbeitsschluss. Unser erster Correktor Herr Schmidt schläft im Betrieb, eine Schupo-Wache glotzt an der Tür u. auf dem Hof. Es ist jedenfalls ein großes Glück u. man kann froh sein! « 440 Nicht nur für Scholems war die Krise eine Lizenz zum Gelddrucken. Der Warenexport konnte durch die Kombination von niedrigen Löhnen und absurd hoher Kaufkraft des Dollars massiv gesteigert werden - Arthur Rosenberg nannte dies einen »Schleuderexport«. 441 Damit behielt auch das Aktienkapital der Exportunternehmen seinen Wert. Ökonomisch schien der harte Kurs also Sinn zu machen für die Besitzenden der Weimarer Republik, politisch hingegen war er eine Katastrophe, die einiges zum Untergang der Demokratie beitrug. Die Inflation zerstörte jedes Vertrauen die wirtschaftlichen und politischen Eliten und warf die soziale Ordnung bis ins privateste Leben hinein völlig aus den Fugen. 442 Seit Generationen gepredigte Werte wie Sparsamkeit, Fleiß und Erfolg durch Leistung lösten sich über Nacht in Nichts auf. Sebastian Haffner beschreibt diese Stimmung in seinen Memoiren: »Es war eine Lage, in der Geistesträgheit und Verlaß auf frühere Erfahrung mit Hunger und Tod bestraft, aber Impulshandeln und schnelles Erfassen einer neuen Lage mit plötzlichem ungeheuren Reichtum belohnt wurde. Der einundzwanzigjährige Bankdirektor trat auf, wie auch der Primaner, der sich an die Börsenratschläge seiner etwas älteren Freunde hielt. Er trug Oscar-Wilde Schlipse, organisierte Champagnerfeste und unterhielt seinen verlegenen Vater. Unter soviel Leid, Verzweiflung und Bettelarmut, gedieh eine fieberhafte, heißblütige Jugendhaftigkeit, Lüsternheit und ein allgemeiner Karnevalsgeist.« 443 Der Karneval der Neureichen und das Elend der zu kurz Gekommenen war eine explosive Mischung. Es ist kein Zufall, dass Scholem gerade in dieser Zeit vor einer Zunahme des Rechtsradikalismus warnte. Ebensowenig war es Zufall, dass Adolf Hitler und Erich Ludendorff für ihren Putschversuch die Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 wählten. Es inspirierte sie weniger der Jahrestag des »Novemberverbrechens« von 1918, sondern vor allem die Hyperinflation. Die Kommunisten hatten bereits im Oktober 1923 ihre Revolution versucht. Angespornt durch die fieberhafte Gärung und Radikalisierung in allen Schichten der Gesellschaft glaubte man, der Tag des Zorns sei nahe. Seit August 1923 hatten die Führer der KPD in intensiver Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Internationale in Moskau Aufstandspläne geschmiedet. Durch die Machtlosigkeit der Gewerkschaften in der Inflationskrise hatte auch das Ansehen der SPD enorm gelitten, die KPD war nahe daran, ihren 439 Betty an Gershom Scholem, 9. Oktober 1923, Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-83. 440 Ebenda. 441 Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S.- 129. Zur Inflationskonjunktur auch Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917-1933, S.-37. 442 Gustav Stresemann beklagte 1927 in seiner Rede zum Erhalt des Friedensnobelpreises die Proletarisierung eines großen Teils der Mittelschicht als größten Verlust der Inflationskrise, da die Mittelschicht »traditionsgemäß Trägerin des Staatsgedankens« gewesen sei. Vgl. Hagen Schulze, Weimar - Deutschland 1917- 1933, S.-37. 443 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen - Die Erinnerungen 1914-1933, München 2002, S.-58. <?page no="229"?> 229 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 229 Anspruch als führende Arbeiterpartei tatsächlich einzulösen. Doch angesichts des Verfalls aller Autoritäten hoffte die KPD nicht auf Wählerstimmen, sondern auf die Revolution. Sie setzte auf die Kontrollausschüsse und Betriebsräte als Neuauflage der Rätebewegung von 1918, während die proletarischen Hundertschaften die bewaffnete Streitmacht abgeben sollten. Um diese Gegenmacht zu schützen, ging die KDP Ende Oktober 1923 sogar parlamentarische Koalitionen mit der SPD in den Ländern Sachsen und Thüringen ein. 444 Während Bayern als Hort der Reaktion galt, sollte aus dem »Roten Herzen Deutschlands« die Revolution kommen. Der Plan scheiterte jedoch. Ein Betriebsrätekongress am 21. Juni 1923 weigerte sich schlicht, mit den Kommunisten in den Generalstreik zu ziehen - von bewaffneten Aufständen ganz zu schweigen. Der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler sagte die Pläne, ab sehr zum Ärger einiger Heißsporne in der Partei: zu seinen härtesten Kritikern gehörte Werner Scholem. Einzig in Hamburg kam es im Oktober 1923 zu bewaffneten Aktionen. Weil ein Kurier nicht überkam oder die Hamburger Führung die Absage schlicht nicht wahrhaben wollten, griffen mehrere Hundert Kommunisten die lokalen Polizeireviere an und lieferten sich drei Tage Barrikadenkämpfe mit der Polizei. Sie bleiben jedoch isoliert - selbst mehrere Tausend streikende Hafenarbeiter, waren nicht gewillt, dem Hamburger Aufstand zum Sieg zu verhelfen. 445 Für die KPD war dies ein Desaster. Eine Absage des Plans hätte noch das Zurückschwenken auf einen Einheitsfrontkurs erlaubt, um den in der Krise gewachsenen Masseneinfluss zu konsolidieren. Doch das Hamburger Fiasko bekräftigte das Bild von der KPD als verantwortungsloser Putschpartei. Die Kommunisten verloren innerhalb von Tagen ihre Massenbasis. Der Staat schlug ebenfalls zu - überall im Reich setzten Verhaftungen ein, nur die gewählten Parlamentarier waren davon ausgenommen. Reform oder Revolution - Scholems Antwort Hier kehren wir zurück in den Preußischen Landtag, wo die Rolle der KPD im Herbst 1923 heftig debattiert wurde. Minister Severing verlas dazu mehrere abgefangene Briefe der Berliner KPD-Führungsfrau Ruth Fischer an den Komintern-Vorsitzenden Sinowjew. Mit dem brisanten Material konnte Severing belegen, dass die KPD ihren Aufstand langfristig geplant hatte. Doch bei Papierbeweisen blieb es nicht. Severing hatte noch einen weiteren Trumpf im Ärmel: »Unter großer, fortgesetzt steigender Unruhe des Hauses und lebhaften Rufen der Kommunisten werden von einigen Amtsgehilfen Maschinengeweh- 444 Gerade in Thüringen arbeitete die KPD nicht nur instrumentell mit der SPD zusammen - es gab starke Sympathien für eine dauerhafte Zusammenarbeit. Diese stießen in der SPD durchaus auf Resonanz und wirkten weit über das Jahr 1923 bis in die Gründungsphase der SED hinein. Vgl. dazu Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln-Weimar- Wien 2011. Scholem stand dem sehr kritisch gegenüber - die Thüringer SPD-Regierung bezeichnete er als eine »rein bürgerliche Regierung« die »in trauter Gemeinschaft mit dem Bürgertum« gegen die KPD kämpfe. Vgl. Werner Scholem, Die Wahlen in Thüringen, in: Internationale Presse-Korrespondenz, Nr. 181, 16. September 1922. Sowohl in KPD wie SPD gab es jedoch Strömungen, die für eine Zusammenarbeit standen, vgl. dazu Norman H. LaPorte, The German Communist Party in Saxony, 1924-1933: Factionalism, Fratricide and Political Failure, Oxford 2003; zum Verhältnis von Strömungen und Regionen in der KPD vgl. auch Ulrich Eumann, Eigenwillige Kohorten der Revolution. Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2007. 445 Vgl. die ausführliche Studie von Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, Rostock 2005. <?page no="230"?> 230 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) re, Gewehre, Tankabwehrgewehre, Mauserpistolen, Parabellumpistolen, Armeerevolver, Leuchtpistolen, Sprengkapseln, Munition usw. auf den Tisch des Hauses niedergelegt.« 446 Die Waffen waren nach Severings Angaben in Geheimlagern der KPD beschlagnahmt worden. Die Zurschaustellung verfehlte ihre Wirkung nicht - der Landtag tobte und über allem triumphierte der Innenminister als Ordnungspolitiker mit harter Hand. Die Fraktion der KPD war in dieser Dramaturgie nicht vorgesehen, nach Severings Auftritt sollte die Besprechung enden. Nur wenige KPD-Abgeordnete waren anwesend, aufgrund der Verhaftungswelle waren viele in ihren Wahlkreisen gebunden, denn nur Mandatsträger konnten dort als geschützte Vermittler auftreten. 447 Doch Werner Scholem saß im Landtag und forderte Rederecht: »Das ist eine Unverschämtheit! Nachdem er uns herausgefordert hat, sollen wir nicht antworten können! « rief er Severing entgegen und kassierte sofort einen Ordnungsruf. Mit Ach und Krach bekam die KPD schließlich 15 Stimmen zusammen, um ihre Redebeiträge durchzusetzen. Fraktionsführer Ernst Meyer setzte als erster zur Verteidigung an und bestritt die Echtheit der Briefe. Severing sei von Spitzeln und »Achtgroschenjungen« in die Irre geführt worden. Denunziationen ohne Gehalt seien ein alter Polizeitrick. 448 Doch Meyers Polemik lief ins Leere - die Briefe waren echt. Ihr Inhalt spiegelte die Auseinandersetzung zwischen der Komintern in Moskau und der Berliner Bezirksleitung, die auf dem linken Flügel der KPD stand. 449 Inhalt war nicht nur der Hamburger Aufstand, sondern auch eine Berliner Straßendemonstration, bei der die KPD Ausschreitungen provozieren wollte. Nach Meyer sprach Werner Scholem. Bei seinem letzten Rededuell hatte er Severing herausgefordert, nun waren die Rollen vertauscht. Die Kommunisten waren geschlagen und in die Ecke gedrängt. Doch Scholem kümmerte dies nicht. Anders als Ernst Meyer scherte er sich wenig um Dementis sondern entschied sich für die Flucht nach vorne: »Wenn aber dieser Brief echt ist, so ist er gar keine Sensation. Zu verschweigen, daß wir als Kommunisten in Berlin die Absicht hatten, eine Demonstration zu machen, das wäre lächerlich. […] Wir sind stolz darauf, daß die Arbeiter in Berlin gestern in großen Scharen dem Rufe der verbotenen Kommunistischen Partei gefolgt sind, (Bravo! bei den Komm.) daß die Berliner Arbeiterschaft zu der verbotenen Kommunistischen Partei steht und daß diese Verbote für uns kein Hindernis sind, auf der Straße zu erscheinen und unseren Gegnern zu zeigen, daß unsere Partei lebt und daß man eine solche Bewegung wie die unsrige nicht mit Gewaltmaßnahmen ersticken kann. […] Ferner: indem man Waffen hereinschleppt, über deren Ursprung überhaupt gar keine Aufklärung gegeben ist, glaubt man damit ›Enthüllungen‹ zu machen. Aber ich will noch mehr sagen - und ich sage das auch nicht hier als Vertreter einer Organisation, die man zu den übrigen Gruppen der KPD in 446 Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 278. Sitzung am 28. November 1923. 447 Diese Begründung gab Ernst Meyer im Plenum des Landtages. Vgl. ebenda. 448 Ebenda. 449 Vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-287f. Der im Landtag verlesene Antwortbrief Fischers an Sinowjew stammt vom 22. November 1923, eine Kopie findet sich auch in SAPMO- Barch, RY 1/ I 2/ 3/ 208b, Bl. 523ff; weitere Teile des Schriftwechsels finden sich in SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 128, Bl. 87ff. Die Echtheit der Briefe war wenige Tage später auch der KPD-»Rechten« um Ernst Meyer bekannt. In einem internen Bericht an Clara Zetkin erwähnte ein unter dem Decknamen »Josef« schreibender Vertrauter, das Schreiben sei bei einer Durchsuchung in der Parteizentrale in der Rosenthaler Str. 38 beschlagnahmt worden. Vgl. Iozef. P’ismo K. Tsetkin [Brief »Josef« an Clara Zetkin], 1. Dezember 1923, RGASPI, Komintern, F. 528, op. 1, d. 2359. <?page no="231"?> 231 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 231 Gegensatz bringen will, wie es Herr Heilmann lächerlicherweise versucht hat, sondern im Namen der gesamten Kommunistischen Partei: jawohl, da die Reaktion darangeht, die Macht zu ergreifen, bereiten wir die Revolution des deutschen Proletariats vor.« 450 Für diese klare Ansage erntete Scholem emphatischen Beifall und Zustimmung bei der Kommunistischen Fraktion. Er ließ alle Rücksichten fallen und redete sich regelrecht in Rage: »Jawohl, wir bereiten den revolutionären Kampf gegen die Herrschaft der Bourgeoisie, gegen die Diktatur der Bourgeoisie vor, mit dem Ziele, die Diktatur des Proletariats zu errichten. (Bravo! bei den Komm.) Wir bestreiten das nicht und wir treffen alle Maßnahmen, die wir für notwendig halten, und welche Revolutionäre noch immer haben treffen müssen, wenn sie sich zur Revolution gerüstet haben, um die Herrschaft einer politisch und moralisch bankrotten Klasse brechen zu können. (Sehr wahr! bei den Komm.) Herr Severing, Sie Polizeiminister der Stinneskoalition, Beauftragter einer Bourgeoisie, die sich anschickt, Ihnen einen Fußtritt zu versetzten, weil sie Sie nicht mehr braucht, (Sehr wahr! bei den Komm.) Herr Severing, wenn Sie wirklich hier und da Waffen beschlagnahmt haben, die die kommunistische Partei für sich beschafft hat, - damit setzen Sie die Kommunistische Partei in den Augen der Arbeiterschaft nicht herab! (Sehr wahr! bei den Komm.) Herr Severing, Sie können einzelne unserer Funktionäre verhaften, und Sie können uns festsetzen, weil wir gegen Paragraphen verstoßen; aber wir pfeifen auf Ihre Paragraphen und wir pfeifen auf Ihre Gesetzesbestimmungen, die von der Reaktion auch nicht beachtet worden sind. Sie können Hunderte, Sie können Tausende von revolutionären Arbeitern und Funktionären verhaften, - die kommunistische Partei wird ihre Vorbereitungen weiter treffen und wird weiter dafür sorgen, daß dem Proletariat ein Ziel und ein Wege gezeigt wird, daß das Proletariat sieht: eine Führung ist da, eine Bewegung, eine Partei ist da, die die Revolution planmäßig vorbereitet.« 451 Obwohl dies ein geradezu unerhörter Auftritt war, wurde Scholem nicht unterbrochen. Die Glocke des Präsidenten, ständige Begleiterin bei fast jedem seiner Beiträge, schwieg dieses eine Mal. Scholem redete weiter: »Wenn ein Heilmann erklärt, daß die Sozialdemokratische Partei als ganzes gegen jeden bewaffneten Aufstand ist, […] so sagen wir: wir verzichten auf eine Einheitsfront mit Heilmann, […] wir verzichten auf eine Einheitsfront mit Ebert und mit Severing; (Sehr wahr! bei den Komm.) aber die einheitliche Front der Arbeiterschaft, die einheitliche Front mit den sozialdemokratischen Kollegen im Betriebe, die einheitliche Front mit den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei, die über die Konterrevolutionäre Haltung ihrer Führer empört sind, lehnen wir nicht ab. Wir brauchen sie nicht abzulehnen, weil diese Einheitsfront schon da ist. Wenn die politischen Leichen, die in diesem Parlament als Vertreter der Sozialdemokratischen Partei sitzen, die Einheitsfront mit uns ablehnen, so mögen sie es tun. Die Geschichte fragt nicht nach den Redensarten dieser Leute, sondern geht ihren Gang nach der Machtmöglichkeit, die eine Klasse entwickeln kann, welche berufen ist, die Macht in Deutschland zu übernehmen, (Sehr gut! bei den Komm.) und die berufen ist, das bankrotte und zerrüttete Deutschland zu einem neuen, zu einem proletarischen Staat zusammenzuhämmern.« 452 450 Ebenda. 451 Ebenda. 452 Ebenda. <?page no="232"?> 232 Rebell in Redaktion und Parlament (1919 - 1924) Die Rede endete mit stürmischen Beifall und erneutem »Bravo« bei den Kommunisten. Ihre politischen Gegner zogen es vor, nichts zu erwidern. Man ging über zur »Beratung der Verordnung des Staatsministeriums vom 15. September 1923 über das epidemische Auftreten der spinalen Kinderlähmung im Regierungsbezirk Breslau«. Der Auftritt war Scholems letzte große Rede im Landtag - und seine entschiedenste. Zum Streit über »Reform oder Revolution« als Gretchenfrage aller Weltverbesserer gab Scholem eine Antwort, wie sie eindeutiger nicht sein konnte. Doch seine Rede schien wirkungslos zu verpuffen. Hatte es dem Landtag die Sprache verschlagen? Doch auf ihre Art war die Landtagsmehrheit mit dem Übergang zur Tagesordnung durchaus konsequent: Die KPD war für sie kein Diskussionspartner. Sie war ein mit polizeilichen Mitteln zu bekämpfendes Übel. Im besten Falle hielt man sie für hochverräterisch und kriminell, im schlimmsten Fall für rassenfremde Volksfeinde. Scholems Rede richtete sich daher nicht wirklich an bürgerliche Parteien und die SPD. Er sprach nicht mit dem Parlament, sondern klagte es an. Die Rede richtete sich an die proletarischen Massen und die eigene Partei. Beiden wollte er ein Signal geben: Die KPD lebt, der Kampf geht weiter! Scholems Rede war jedoch mehr als nur eine Sammlung revolutionärer Durchhaltephrasen. Sie formulierte ein Programm für die Zukunft der KPD. Ein Programm, das in den folgenden Jahren entscheidenden Einfluss auf die politische Entwicklung der Partei nehmen sollte. Zunächst einmal fällt auf, wie offen Scholem sich von Meyers Taktik absetzte. Anstatt von der SPD Beweise zu fordern, gab Scholem alles zu: Ja, die KPD handelte in Absprache mit der Kommunistischen Internationale! Ja, die KPD organisierte illegale Demonstrationen! Ja, die KPD bereitete eine bewaffnete Revolution vor! Obwohl Scholem jede Meinungsverschiedenheit leugnete, zeigte seine Rede eine klare politische Differenz zum alten Mentor Ernst Meyer. Misstrauen herrschte in der KPD: Scholem war als Vertrauter Ruth Fischers über den Briefwechsel mit Sinowjew informiert und wusste um dessen Echtheit. 453 Meyer hingegen hatte keine Ahnung. Die abgefangenen Briefe richteten sich direkt gegen ihn und den pragmatischen Flügel der KPD, den Fischer und Scholem für die Niederlage im Oktober 1923 verantwortlich machten. 454 Scholem hatte unter Meyers Anleitung lange Zeit Pragmatismus versucht. Im Unterrichtsausschuss, in endlosen Debatten zur Schulreform. Als Dank bekam er antisemitische Schmährufe. Jetzt sagte er offen wie nie zuvor: Ich pfeife auf das Parlament! Die seit seinen Tagen als Bürgervorsteher in Hannover-Linden vorhandene Geringschätzung der repräsentativen Demokratie hatte sich endgültig verfestigt. Im Parlament war nichts zu erreichen, nicht einmal mittelfristig oder taktisch - dieses System war schlichtweg bankrott. Trotz der fatalen Niederlage im Oktober glaubte Scholem noch an eine Stimmung wie im August 1923, als die Massen sich radikalisierten. Doch in der Realität hatte der Hamburger Aufstand die Massenbasis der KPD ruiniert. Die Partei zu alter Schlagkraft zurückzuführen würde monate- oder gar jahrelange Arbeit erfordern. Es gab heftige Debatten, wie die Konsolidierung aussehen sollte. Scholem hatte in seiner Brandrede ein Programm dazu formuliert. Es war schlicht und ließ sich in zwei Worten zusammenfassen: weiter so! 453 Werner Scholem hatte selbst am 30. Oktober 1923 an Grigorij Sinowjew geschrieben, sein Brief nahm Bezug auf die »enge Freundschaft« zu Ruth Fischer und bezeugt, dass die Konversation der beiden abgesprochen war. Vgl. SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 128, Bl. 87f. 454 Zu den innerparteilichen Differenzen in der KPD vgl. das folgende Kapitel mit dem Titel »Von der Berliner Opposition in die Zentrale der KPD«. <?page no="233"?> 233 3.3 Reform oder Revolution? Parlamentarier im Preußischen Landtag 233 Die Niederlage war in seinen Augen nur ein Versagen der Führung, eine Unterbrechung auf dem Weg zur Herrschaft der Arbeiterklasse, die den proletarischen Staat »zusammenhämmern« sollte. Scholem als Vertreter der Klasse hielt sich selbst für diesen Hammer und handelte frei nach dem Sprichwort: wenn man einen Hammer hat, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. Selbstkritik war seine Sache nicht. Scholem kannte entweder abgrundtiefen Pessimismus, wie er ihn in den Schützengräben des Weltkrieges erlebt hatte, oder gipfelhohen Optimismus, wie er ihn 1923 erlebte. Dieser Optimismus sollte in den nächsten zwei Jahren das Geheimnis seines Erfolgs werden. Scholems Flucht nach vorne war genau das Programm, das die geschlagene und verunsicherte Partei gerne hörte. Die Mitglieder wollten keine Zweifel und Selbstkritik, keinen taktischen Rückzug wie Ernst Meyer ihn andeutete. Sie wollten die Revolution, und zwar möglichst schnell. Werner Scholem versprach ihnen die Revolution, und dies war das Geheimnis seines Aufstiegs. <?page no="235"?> 235 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Nach seiner großen Rede im November 1923 hatte Werner Scholem im Landtag nur noch zwei kleinere Auftritte. Schon im Folgejahr riefen größere Aufgaben. Im April 1924 rückte er in die Zentrale der KPD auf, im Monat darauf wurde er in den Reichstag gewählt. 1 Ernst Meyer, bisher Fraktionsführer und Scholems Vorgesetzter, wurde auf ein Seitengleis geschoben. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Und wo genau lagen die Differenzen zwischen dem Meyerschen und dem Scholemschen Kommunismus? Sie waren mehr als ein Nachgang des gescheiterten »Deutschen Oktober« 1923. Werner Scholem selbst erklärte in einem Positionspapier, »daß, die Differenzen, um die es sich handelt, nicht von gestern oder vorgestern stammen.« 2 Um die innerparteilichen Fronten verständlich werden zu lassen, muss die Darstellung hier einen Sprung zurück an den Anfang des Jahres 1921 machen, als Scholem aus der Provinz nach Berlin zurückkehrte und in die Bezirksleitung der KPD aufstieg. Hier stieß er auf eine sich herausbildende oppositionelle Strömung in der Partei, deren Entstehung imAbschnitt »Berliner Opposition« geschildert wird. Diese auch »Linke Opposition« oder von ihren Gegnern »Ultralinke« genannte Richtung wurde zu Scholems politischer Heimat, später mehr und mehr zu seinem Dogma. Kennzeichen der auch in Hamburg und anderswo präsenten Opposition war ihre Ablehnung aller Absprachen, Bündnisse oder gar einer Einheitsfront mit Sozialdemokratie und Gewerkschaften, zugunsten einer unmittelbar »revolutionären« Politik. Dieser Konflikt zog sich etwa durch den »Ruhrkampf« von 1923, in dem die KPD-Führung versuchte, von der nationalistisch-antifranzösischen Stimmung im Ruhrgebiet zu profitieren. Herausgearbeitet wird, wie die Linke und insbesondere Werner Scholem diesen Kurs kritisierte und stattdessen Betriebsbesetzungen forderte. Während die Linke bis 1922 noch als solidarisches Korrektiv der Parteiführung um Heinrich Brandler gewirkt hatte, steigerte sich mit der Zeit die Entfremdung der auseinanderstrebenden Flügel der KPD. Bereits im Frühjahr 1923 standen sich die Berliner Bezirksleitung als Hochburg der Opposition und die Zentrale in offener Feindschaft gegenüber. Die Bezirksleitung in Berlin, in der Scholem mittlerweile eine führende Stellung als Organisationsleiter innehatte, nutzte schließlich die Krise des gescheiterten Aufstandes im Oktober 1923 zur Offensive. Ohne Rücksicht auf eigene Verstrickung in die Ereignisse gingen Scholem und seine Mitstreiter daran, die bisherige Parteiführung unter Heinrich Brandler zu stürzen. Nicht zuletzt durch von Scholem organisierte Schützenhilfe aus Moskau erreichten sie ihr Ziel - ein Vorgang, der im Abschnitt 1 Mit dieser Wahl gab er sein Landtagsmandat kurz vor Ende der Legislaturperiode auf und die KPD bestimmte einen Nachrücker, vgl. Sitzung der Zentrale der KPD vom 9. Mai 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16. 2 Meinungsäußerung des Zentralvorstandes und der Bezirksleitung Berlin Brandenburg an G.E. Sinowjew (von Scholem mit unterschrieben), Berlin, 2. März 1923, SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 128, Bl. 5. <?page no="236"?> 236 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) »Der Griff nach der Führung« beschrieben wird. Das Wechselspiel zwischen Berlin und Moskau, wo nach Lenins Tod 1924 ebenfalls heftige Machtkämpfe ausbrachen, ist Leitmotiv dieses vierten Kapitels. Scholem stieg mit dem Frankfurter Parteitag im April 1924 zum Organisationsleiter der Gesamtpartei auf und führte gemeinsam mit Arkadij Maslow und Ruth Fischer die KPD. Ihr Versuch, sie zu einer Avantgardepartei im bolschewistischen Sinne zu formen wird im Abschnitt »Die Macht des Apparates beschrieben«. Dieses Projekt war jedoch von kurzer Dauer. Denn nach dem Ende der Inflationskrise verflüchtigte sich die revolutionäre Stimmung und damit auch der Resonanzboden für die Konzepte der Linken Opposition. Ein katstrophales Ergebnis bei der Reichspräsidentenwahl von 1925 führte schließlich zur Spaltung der linken Zentrale, wobei Scholem seinem Kurs treu blieb, während sich Ruth Fischer für die zuvor stets abgelehnte »Einheitsfront« mit SPD und Gewerkschaften stark machte. Ziel des neuen Kurses war, nach der Wahl Paul von Hindenburgs zum Staatsoberhaupt die Republik gegen den Monarchismus zu verteidigen. Die Spaltung von 1925 führte schließlich auf Druck von Moskau zur Absetzung der linken KPD-Führung, auch Ruth Fischer konnte sich nicht retten. Wieder in der Opposition gelang es den Linken anders als vor 1923 nicht mehr, einheitlich aufzutreten. Die neue Zentrale unter Ernst Thälmann, selbst ein abtrünniger »Linker« spielte die oppositionellen Gruppen in einem zermürbenden Prozeß gegeneinander aus und schloß eine nach der anderen aus der KPD aus. Die Abschnitte »Der Apparat schlägt zurück« und »Scholem gegen Stalin« zeichnen diese Phase nach, die von unüberschaubar wechselnden Allianzen, zerbrochenen Freundschaften und knallharter Machtpolitik gekennzeichnet war. Scholem, ehemals Vertreter eines autoritären Kurses zur »Bolschewisierung« der Partei, wandelte sich in dieser Zeit mehr und mehr zum Verteidiger der innerparteilichen Demokratie gegen den entstehenden Stalinismus. Sowohl Scholem als auch andere Linke wie Karl Korsch oder Arthur Rosenberg sahen Stalins Politik jedoch nicht in erster Linie als Widerspruch von Demokratie und Autoritarismus, sondern als Frage von Reform oder Revolution, also durch die Brille ihrer Erfahrungen in der SPD vor 1914. Diese Fehleinschätzung, viel mehr jedoch die mangelnde Attraktivität ihres abstrakt-revolutionären Kurses führte dazu, dass die linke Opposition im Herbst 1925 ihre Posten im Zentralkomitee verlor und im November 1926 aus der KPD entfernt wurde. Sie stand vor der schwierigen Wahl, ihre Grundsätze aufzugeben oder eine neue Organisation zu gründen. Dieses Dilemma, das schließlich zur Gründung des »Leninbund« führte, wird jedoch erst im fünften Kapitel »Abtrünnig wider Willen« geschildert, während sich die folgenden Abschnitte Scholems Aufstieg und Fall innerhalb der KPD widmen - eine Parteikarriere, die exemplarisch ist für die Widersprüche der Weimarer KPD und ihr tragisches Scheitern beim Versuch, einen von Moskau unabhängigen Kurs zu entwickeln. <?page no="237"?> 237 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) 237 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) Neben dem Ruhrgebiet und der Region Halle-Merseburg, aus der Scholem Ende 1920 abberufen worden war, war Berlin eines der drei großen Industriezentren der Weimarer Republik, eine Hochburg der Arbeiterbewegung mit ganz eigener Tradition des politischen Radikalismus. 3 Denn Berlin konzentrierte nicht nur ungeheure Massen von Arbeitern und Arbeiterinnen, sondern war Universitätsstadt und politisches Zentrum. Hier traf proletarischer Radikalismus, geboren aus Existenznot und Unsicherheit, auf die verschiedensten Varianten intellektueller Dissidenz. Der Parlamentsbetrieb hatte bereits in der Generation zuvor die bekanntesten Intellektuellen des Marxismus hergeführt. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Otto Rühle lieferten sich in Berlin ihre Debatten mit Kautsky und dem Parteizentrum. 4 Ihre Ideen erfassten die Arbeiterschaft, aber auch Luxemburg und Liebknecht mit ihren Doktortiteln in Ökonomie und Jura lernten von der Basis. Sie übernahmen die Losungen der Rätebewegung und erhoben sie zum Programm der KPD, die ebenfalls in Berlin ihre Wiege hatte. 5 Ebenso wichtig waren die Schriften des promovierten Juristen Karl Korsch, der die rätedemokratischen Impulse in einem System zusammenführte. 6 Korsch wirkte 1919 zeitweise in der Berliner Sozialisierungskommission, 1924 wurde er für die KPD in den Reichstag gewählt, gemeinsam mit Werner Scholem. Beide kamen aus der USPD und wirkten später auf dem linken Flügel der KPD. 7 Doch trotz gegenseitiger Lernprozesse war das Verhältnis zwischen intellektuellem und proletarischem Radikalismus nicht immer harmonisch - bereits auf dem Gründungskongress der KPD hatte es heftige Kontroversen zwischen Luxemburg, Liebknecht und der Mehrheit der Arbeiterdelegierten gegeben. Der Konflikt wiederholte sich unter Paul Levi, ebenfalls promovierter Jurist. Er ließ auf dem Heidelberger Parteitag 1919 die linksradikale Strömung der KPD ausschließen. Die Spaltung hatte ihren Preis: Fast die gesamte Berliner KPD-Basis ging verloren, der Bezirk musste neu aufgebaut werden. Die aus der Spaltung entstandene KAPD wurde in Berlin 3 Diese reichte bis ins Kaiserreich zurück, wie Dirk H. Müller anhand der Metall- und Bauindustrie gezeigt hat, vgl. Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, Berlin 1985. Zu Sozialstruktur und Arbeiterradikalismus vgl. auch Ulrich Eumann, Eigenwillige Kohorten der Revolution, a.a.O. sowie Axel Weipert, Das Rote Berlin - Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830-1934, Berlin 2013. 4 Schon zwanzig Jahre zuvor hatte es in Berlin eine Linksopposition in der SPD gegeben - die sogenannten »Jungen«, welche um 1890 die Gründergeneration herausforderten. Vgl. Dirk H. Müller, Idealismus zur Revolution - zur Opposition der Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand 1890 bis 1894, Berlin 1975. 5 Bereits zur Gründung der USPD 1917 war die Mehrheit der Berliner Parteimitglieder zur neuen Partei gewechselt, die »Mehrheits-SPD« war Anfang 1918 mit 7000 Mitgliedern gegenüber 25.000 Unabhängigen faktisch die Minderheit. Zwar brachte die Revolution auch der SPD zahlreiche neue Mitglieder, jedoch wurde gleichzeitig die Rätebewegung derart stark, dass im Generalstreik Anfang März 1919 auch die SPD-Rätedelegierten gegen die Regierung der Volksbeauftragten antraten. Der Weltkrieg wirkte somit verstärkend auf den Berliner Arbeiterradikalismus. Vgl. Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl - Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Berlin 2012, S.-37, S.-96. 6 Karl Korsch, Was ist Sozialisierung? Ein Programm des praktischen Sozialismus. Original Hannover 1919, Nachdruck in: Michael Buckmiller (Hg.), Karl Korsch Gesamtausgabe, Band 2, S.-97-135. 7 »Für die Dritte Internationale«, Neue Zeitung für Mittelthüringen, 2. Jg. Nr. 209, 19. September 1920, hier zitiert nach: Michael Buckmiller (Hg.), Karl Korsch Gesamtausgabe, Band 2 - Rätebewegung und Klassenkampf, Frankfurt a. M. 1980, S.-580-585. <?page no="238"?> 238 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) zeitweise stärkste Kraft links der SPD. 8 In der Gründerzeit der KPD war es keineswegs so, dass eine intellektuelle Avantgarde Trägerin des Radikalismus war. Im Gegenteil: eine aus Intellektuellen bestehende Führung der KPD versuchte mehrfach, ihre radikalisierte Arbeiterbasis von Alleingängen abzuhalten. 9 Auch wenn der Einfluss der KAPD schon 1921 aufgrund interner Konflikte enorm zurückging, hatte der Arbeiterradikalismus in Berlin keineswegs ein Ende gefunden. Im Gegenteil erzeugte der Auflösungsprozess der KAPD neuen Druck auf die KPD, die als einzige Kraft links der SPD verblieb. Dies schlug sich in einer erneuten Radikalisierung wieder. Die Berliner KPD war somit 1921 fest in der Hand des linken Flügels, der sich bald »linke Opposition« nannte. Als Werner Scholem in seine Heimatstadt zurückkehrte, wurde der Bezirk vom charismatischen Duo Ruth Fischer und Arkadij Maslow geführt. Beide stammten aus gut situierten jüdischen Elternhäusern, genau wie Scholem hatten sie mit ihrer bürgerlichen Herkunft gebrochen und sich dem Sozialismus zugewandt. Ruth Fischer, Tochter eines Wiener Philosophieprofessors, war 1918 Mitbegründerin der österreichischen Kommunistischen Partei gewesen. Sie kam im Jahr darauf nach Berlin, wo sie zunächst im KPD-Theorieorgan »Internationale« mitarbeitete und dann in die Berliner Bezirksleitung wechselte. 10 Maslow, der eigentlich Isaak Jefimowitsch Tschemerinski hieß, entstammte einer südrussischen Kaufmannsfamilie und emigrierte 1899 mit der Mutter nach Dresden. Hochintelligent und musisch begabt beeindruckte er nicht nur als Pianist auf Konzertreisen, sondern hatte auch eine vielversprechende Neigung zur Physik, studierte zeitweise bei Albert Einstein und Max Planck an der Berliner Universität. In Berlin lernte Maslow Ruth Fischer kennen und lieben - sie war es, die den im Krieg entwurzelten Intellektuellen zum Kommunismus bekehrte. 11 Zu den Führungspersönlichkeiten der Berliner Linken gehörte neben Fischer und Maslow auch der Althistoriker und Privatdozent Arthur Rosenberg, der sich 1914 im Alter von nur 25 Jahren mit einer Arbeit unter dem Titel »Der Staat der Alten Italiker« an der Berliner Universität habilitiert hatte. 12 Scholem und Rosenberg wurden nicht nur politische Bundesgenossen, sondern entwickelten eine lebenslange Freundschaft. Das intellektuelle Profil der Berliner KPD-Bezirksleitung ist auffällig, in Auseinandersetzungen wurde sie immer wieder als eine Clique akademischer Wirrköpfe charakterisiert. Besonders pointiert formulierte dies Clara Zetkin: »Die Opposition rekrutiert ihre Anhängerschaft weniger aus den Parteimassen, als aus bestimmten achtelsgebildeten und verbildeten Funktionärskreisen. Daher hat sie es verhältnismässig leicht, sich bemerkbar 8 Vgl. Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-39. Zur KAPD in Berlin vgl. Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, S.-236-251. 9 Die These von der Führung als Trägerin des Radikalismus der KPD ist Leitmotiv der Studien von Klaus- Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik - Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1992, sowie Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde - die Märzaktion der KPD 1921, Frankfurt a. M. - New York 1986. In Frage gestellt wird sie durch die Dissertation von Stefan Heinz, der am Berliner Beispiel einen ausgeprägten Radikalismus der Basis nachweisen kann. Vgl. ders., Moskaus Söldner? »Der Einheitsverband der Metallarbeiter Berlins«: Entwicklung und Scheitern einer kommunistischen Gewerkschaft, Hamburg 2010. 10 Vgl. Mario Keßler, Ruth Fischer - Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Köln-Weimar- Wien 2013. 11 Maslow hatte allerdings schon vorher Kontakte zur Russischen Sozialdemokratie. Vgl. Mario Keßler: Sektierer, Lernender und Märtyrer - Arkadij Maslow (1891-1941), Helle Panke e.V., Pankower Vorträge Nr. 176, Berlin 2013; sowie Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-579-581. 12 Mario Keßler, Arthur Rosenberg - ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889-1943), Köln 2003. <?page no="239"?> 239 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) 239 zu machen, an der Oberfläche zu schwimmen, aber auch, sich fraktionell zu verbinden, einheitlich und geschlossen aufzutreten. Auf breitere Parteimassen kann sie sich nur dort stützen, wo diese politisch noch so gut wie völlig ungeschult und rein gefühlsmäßig ›revolutionär‹ eingestellt sind. Solchen Parteigenossen imponiert Maslows zynische Schnoddrigkeit, Ruth Fischers tönende Rhetorik und Scholems wirrköpfige Dreistigkeit.« 13 Diese Vorstellung von den Intellektuellen als Fremdkörpern und Demagogen wurde auch in der historischen Literatur tradiert - so schrieb etwa Werner T. Angress über die Berliner Linke: »Sie waren im Durchschnitt um zehn Jahre jünger als die Parteiführer der Zentrale, stammten nahezu alle aus dem mittleren Bürgertum […] Im Gegensatz zu ihren klassenbewußten älteren Genossen, die in der Schule militanter sozialer Kämpfe, mit Streiks, Aussperrungen und häufig auch Inhaftierung groß geworden waren, fehlte ihnen politische Erfahrung, Klassenstolz und Reife.« 14 Während Maslow, Fischer oder auch Rosenberg diesem Bild entsprechen mochten, gerät es bei Werner Scholem bereits ins Wanken. Ihm waren weder die militanten Kämpfe noch noch die Haftanstalten der Kaiserzeit fremd. 15 Im Gegensatz zum gängigen Bild wirkten in der Berliner Bezirksleitung zudem eine ganze Reihe Kommunisten mit klassischer Arbeiterbiographie. Zu nennen sind etwa der Mechaniker Anton Grylewicz, der Ende 1920 Organisationsleiter der KPD Berlin wurde, oder der Werkzeugmacher Hans Pfeiffer und der Schlosser Ottomar Geschke, die beide aus der Spartakusgruppe kamen. Ein weiterer Arbeiterfunktionär war Paul Schlecht, der seinen Lebensunterhalt als Werkzeugmacher im Kabelwerk Oberspree verdiente und 1921 ehrenamtliches Mitglied der Bezirksleitung wurde. 16 Abschließend zu erwähnen ist der Mechaniker Max Hesse, dessen Vater einst die Metallarbeitergewerkschaft DMV mitbegründet hatte. Hesse war ein Altersgenosse von Scholem und kam wie dieser im Jahr 1912 zur Arbeiterjugend. Nach Kriegsende wurde er Mitglied des Spandauer Soldatenrates, bevor er ab 1920 als Vorsitzender des KPD-Unterbezirks Charlottenburg amtierte. Mehr als auffällig ist, dass alle fünf während des Ersten Weltkriegs Mitglieder der »Revolutionären Obleute« waren. 17 Diese Bewegung sozialistischer Kriegsgegner hatte seinerzeit nur Facharbeiter und altgediente Gewerkschafter in ihren konspirativen Kreis aufgenommen. 18 Die Häufung derart vieler alter Obleute deutet darauf hin, dass in der Berliner KPD-Bezirksleitung ein 13 K. Tsetkin P’ismo IKKI [Brief Clara Zetkin an EKKI], 23. Februar 1923, RGASPI, F. 528, op. 2, d. 84. 14 Werner T. Angress, Die Kampfzeit der KPD 1921-1923, Düsseldorf 1973, S.-288. Angress bezeichnete die KPD-Linken als intellektuellen Zirkel, der ohne »proletarische Verstärkung« von Männern wie Thälmann und Co. eine »isolierte Clique« geblieben wäre. Kritisch dazu Langels, die Ultralinke Opposition der KPD, S.-20-22. 15 Auch Otto Langels nennt in seiner Studie zur ultralinken Opposition Scholem als Gegenbeispiel für Angress These. Vgl. Otto Langels, Die ultralinke Opposition der KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1984, S.-21. 16 Zu den biographischen Daten vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, 2. Auflage Berlin 2008, S.-292f, S.-329f, S.-579, S.-671f, S.-791f sowie die Liste der Berliner Orgleiter und Polleiter auf S.-1080. Von Hans Pfeiffer existiert eine Erinnerungsmappe, LArch Berlin, C Rep 902-02-04 Nr. 007. 17 Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, Berlin 2008. Zu Max Hesse vgl. S.-369f. Ein weiteres Mitglied der Obleute in der Berliner KPD-Bezirksleitung war der Schlosser Paul Weyer, der ab 1922 Mitglied der Berliner Bezirksleitung wurde, jedoch 1924 als Gegner einer Mitarbeit in den ADGB-Gewerkschaften in Gegensatz zur Zentrale geriet und aus der KPD ausgeschlossen wurde. Vgl. Weber/ Herbst, a.a.O., S.-1019. 18 Zur Entstehung der Obleute-Bewegung vgl. Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, Berlin 1985, S.-285-329; sowie Ralf Hoffrogge, Richard Müller - der Mann hinter der Novemberrevolution, S.-25-69. <?page no="240"?> 240 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) eingespieltes Netzwerk wirkte. 19 Die »Berliner Opposition« war also eine Symbiose. Sie bestand keineswegs nur aus Intellektuellen, sondern ebenso aus einer bisher unbeachteten Fraktion radikaler Arbeiter und Gewerkschafter. 20 Und obwohl in der Opposition die Intellektuellen gegenüber den Arbeiterfunktionären zweifellos die erste Reihe bildeten und auf Kongressen und Veranstaltungen die Reden führten, gibt es kaum Hinweise auf Spannungen. 21 Oskar Wischeropp, Dreher und ebenfalls Mitglied der Bezirksleitung, wandte sich sogar explizit gegen Intellektuellenfeindlichkeit: »Wenn es sich darum handelt, gegen die Intellektuellen vorzugehen, so muss ich schon sagen, ich bin Gegner aller Garantiescheine, für mich spielt ein Mann nur solange eine Rolle, ob Arbeiter oder Intellektueller, solange er die Interessen der Partei vertritt.« 22 Bevor sie ein solches Vertrauen genossen, mussten sich die Neulinge allerdings erst beweisen. Werner Scholem gelang das nicht auf Anhieb, wie eine Beschwerde von Hans Pfeiffer vom März 1921 zeigt: »Von den Genossen in Moabit ist bitter Klage geführt worden, dass Genosse Scholem von der Redaktion der ›Roten Fahne‹ zu der Sonntag-Versammlung am 6. März im Moabiter Gesellschaftshaus ein derart schlechtes Referat gehalten hat, dass unsere Genossen beantragt haben, ihm nicht das Schlusswort zu erteilen.« 23 Doch trotz solcher Startschwierigkeiten fand die Opposition bald zu einer Einheit und gerade Scholem wurde zu einem ihrer profiliertesten Redner. Um 1923 sollte er in Berlin zum führenden Kopf gleich hinter Fischer und Maslow werden. Die jüdische Herkunft des Führungstrios Maslow, Scholem und Ruth Fischer behinderte ihren Weg an die Spitze der Berliner KPD nicht, obwohl es durchaus Angriffe gab. Scholem berichtete seinem Freund Hugo Urbahns im persönlichen Gespräch von antisemitischen Vorfällen, sein Genosse Theodor Kögler erwähnte gar, dass die Berliner Bezirksleitung mit dem Schimpfwort »Judenbengels« belegt worden sei. 24 Aufhalten konnte das 19 Neben der Linie zur linken Opposition der KPD gab es auch eine Fraktion aus dem Umfeld der Revolutionären Obleute, die sich der KAG um Paul Levi zuwandte. Aus ihrem Umfeld heraus wurde Ende 1921 versucht, ein Netzwerk von Obleuten parteiübergreifend neu zu gründen. Arkadij Maslow persönlich forderte am 15. November 1921 die Unterordnung der Obleute unter die 21 Bedingungen, was zu deren Bruch mit der KPD führte. Maslow handelte auf Geheiß des Zentralvorstandes der Berliner KPD, von dem folgende Begründung gegeben wurde: »es muss dem entgegengetreten werden, daß die Führung in einer Revolution irgendeine zusammengewürfelte Kommission haben könne, denn dafür komme nur eine feste Partei in Frage.« Vgl. Sitzungen des Zentralvorstandes, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 14; sowie Ralf Hoffrogge, Richard Müller - Der Mann hinter der Novemberrevolution, S.-167f . 20 Bei den Intellektuellen ist auch der 1922 dazu stoßende Ernst Schwarz zu nennen. Schwarz war promovierter Studienassessor und war mit der USPD zur KPD gekommen, er wirkte auch unter dem Decknamen »Tiede«, stieß 1922 in die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg der KP. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-855f. 21 Erst nach der Übernahme der KPD-Zentrale durch die der Linken 1924 gab es einen offenen Konflikt dieser Art, weil Scholem den Kassierer Arthur König wegen Unfähigkeit absetzen wollte. Scholem wurde von Thälmann beschuldigt, er wolle die Arbeiter aus der Parteileitung verdrängen. Vgl. Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-105; siehe auch der Abschnitt »Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD«. 22 Der Ausspruch fiel, als das BL-Mitglied Paul Weyer im Februar 1923 Maslow als Akademiker und Spitzel angriff: »Ich habe heute noch ein bestimmtes Misstrauen gegen Akademiker. Da ist auch der Genosse Maslow, wer weiß denn, wo er die letzten 10 Jahre gelebt hat und von wo er sein Geld bezogen hat«. Wischeropp tat dies mit den zitierten Worten ab. Vgl. Sitzung der Bezirksleitung des KPD-Bezirks Berlin- Brandenburg-Lausitz, 2. Februar 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 23 Schriftwechsel der Bezirksleitung des KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 25 24 Hermann Weber teilte mir dazu mit: »Von mehreren Freunden Scholems (z. B. Wolfgang Bartels, Wilhelm Riechen und Theodor Koegler) habe ich übereinstimmend erfahren, dass im Gespräch mit Hugo <?page no="241"?> 241 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) 241 die Berliner Linke jedoch nicht. Trotz einzelner Anfeindungen wurde sie über Jahre hinweg von einer breiten Mehrheit Berliner Arbeiterinnen und Arbeiter gewählt und gestützt, im Konflikt immer wieder auch gegen die eigene Parteiführung. Auch in den meist wortgetreu stenographierten Protokollen von Parteitagen und Versammlungen finden sich keine antisemitischen Übergriffe gegen Scholem - selbst da wo die Protokolle unveröffentlicht und intern, also auch unzensiert überliefert sind. Lediglich nach dem Parteiausschluss läßt sich in einem Bericht nachlesen, wie Scholem und Ruth Fischer bei ihrem Ausstieg aus der linkskommunistischen Sammelorganisation »Leninbund« im Mai 1928 von enttäuschten Anhängern als »Judenbande« beschimpft wurden. Die Fraktion, aus der die Äußerung kam, trat später wieder in die SPD ein. 25 Die zwei dokumentierten Vorfälle beziehen sich auf die Parteibasis, schon auf der Ebene von Konferenzdelegierten finden sich solche Zeugnisse nicht mehr. Interessant ist hier der Vergleich mit dem Parlament: Ausfälle, wie sie im Preußischen Landtag buchstäblich an der Tagesordung waren, sucht man in Bezirksleitung, Zentrale und Parteitagen der KPD vergeblich. Zwar gab es in der Parteipresse und in Agitationsreden als Reaktion auf die NS-Bewegung mehrfach fehlgeschlagene Versuche, antisemitische Vorurteile in »antikapitalistisches« Fahrwasser umzuleiten. 26 Eine Diskriminierung jüdischer Mitglieder in den Strukturen der KPD lässt sich jedoch nicht nachweisen. Im Gegenteil beobachtet man eine Fortsetzung der sozialdemokratischen Tradition, dass assimilierte Juden hohe Stellungen bekleideten und Debatten prägten. Gerade in der Linken Opposition wirkten zahlreiche Juden an prominenter Stelle mit, neben den Berlinern etwa der Kaufmannssohn Iwan Katz aus Hannover. 27 Denn die Opposition hatte einen Schwerpunkt in Berlin, war jedoch auch überregional aktiv - eine weitere Hochburg war der Bezirk Wasserkante unter der Führung des Volksschullehrers Hugo Urbahns und Ernst Thälmanns, der sein Erwerbsleben als Rollkutscher in Hamburg begonnen hatte. 28 Urbahns Scholem auf einen verdeckten Antisemitismus in der KPD verwies und er solche indirekten Angriffe auf seine Opposition zurückführte. Als Urbahns sagte, so etwas habe er als linker Oppositioneller noch nie erlebt, erwiderte Scholem, er solle sich ansehen (er war groß, blond, blauäugig) und Scholem selbst, der ja dem Stereotyp des »Juden« entsprach. Sonstige Dokumente habe ich nicht, aber in meinem Film ›50 Jahre KPD‹ hat Koegler gesagt: Die Berliner Opposition sei auch mit dem Ruf ›Judenbengels, raus aus der Münzstraße‹ angegriffen worden.« Schriftliche Mitteilung Hermann Weber an den Verfasser, 23. Juli 2012. 25 Hierzu berichtete Franz Dahlem: »Der Abfall der Maslow, Ruth Fischer und Scholem vom Leninbund und die entsprechende Veröffentlichung durch unsere Parteipresse, haben in Suhl zu einem katastrophalen Zusammenbruch des Leninbundes geführt. Zuerst glaubten die oppositionellen Arbeiter diesen Nachrichten nicht, aber als sie unser Flugblatt mit Auszügen aus den Erklärungen von Maslow und Scholem vor den Betrieben und in einer Betriebsräte-Vollversammlung in Suhl verteilt wurden, da schlug die Ungläubigkeit und die Empörung über diesen ›Verrat‹ in einen Tollen Hass gegen die neuen Renegaten Maslow, Ruth Fischer, Scholem um. Das Gerücht, dass Maslow vom Zentralkomitee mit 100.000,gekauft sein, lief sofort rum. ›Bestochene Hunde‹, ›Judenbande, die zusammen hält‹ waren nur einige Ausdrücke, mit denen die Leute um Heym herum ihrer Wut ausdruck gaben.« Franz Dahlem, »Die Lage im Leninbund. Von Suhl aus gesehen« in: Berichte der Berliner Abt. der Tass über die innerparteiliche Lage der KPD sowie Berichte über Ultralinke und Leninbund, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 705/ 22. Guido Heym, auf den Dahlem hier als Anführer der Suhler Linkskommmunisten anspielt, trat nach dem Konflikt mit seiner Fraktion zur SPD über. 26 Einige dieser Versuche zählt Mario Keßler auf, vgl. ders. Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Utopie Kreativ, Nr. 173, März 2005, S.-223-232. 27 Scholem lernte ihn spätestens 1921 als Fraktionskollegen im Preußischen Landtag kennen, begegnet waren sich beide jedoch auch schon beim USPD-Spaltungsparteitag im Dezember 1920 in Halle. 28 Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, Berlin 2008, S.-925ff. Eine Thälmann-Biographie wird zur Zeit von Norman LaPorte an der University of Glamorgan (Wales) erarbeitet. <?page no="242"?> 242 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Doch wofür stand diese »Linke Opposition« inhaltlich? Ruth Fischer zufolge dominierte von Anfang an eine Skepsis gegenüber der sowjetischen Politik. Sie schilderte als Beleg einen Aufenthalt dreier russischer Oppositioneller, die im März 1921 nach Berlin geschickt worden waren, um sie aus Moskau fernzuhalten. Fischer schrieb, diese hätten schon damals gedrängt, »den Kampf gegen den Totalitätsanspruch des Staates, die Staatspartei und die Entartung des Kommunismus« aufzunehmen. 29 Sie schrieb dies im Jahre 1948 als Abrechnung mit dem Stalinismus, dessen Ursprünge sie bis in die leninistische Frühphase der Komintern versetzte. Fakt ist jedoch, dass die sich 1921 herausbildende Opposition fest auf den Boden des Leninismus stand. Kritik an Sowjetrussland äußerten Fischer und Scholem nicht, sie verteidigten Lenins »21 Bedingungen« und grenzten sich scharf ab von der syndikalistischen KAPD. Scholem schimpfte gerne über die »KAPistischen, antibolschewistischen und antizentralistischen« Tendenzen« in der Bewegung. 30 Seine Wortwahl zeigt, dass seine Opposition mit den syndikalistischen Strömungen aus der Gründungsphase der KPD nichts gemein hatte. Die bisher wichtigste Quelle zur Entstehung der linken Opposition ist ein Artikel von Werner Scholem aus dem Jahr 1924. 31 Scholem beginnt seine Erzählung »nach der Vereinigung des Spartakusbundes mit der Linken USP«. Die damaligen Kritiker hätten sich in »taktischen Fragen« gegen die Levi-Führung gewandt, deren Politik man schon im Frühjahr 1921 in einer Berliner Funktionärsversammlung »energisch zurückgewiesen« habe. Dies verweist auf die Einheitsfrontpolitik des »offenen Briefes«, mit der Paul Levi Anfang 1921 die SPD-Arbeiter zu gewinnen hoffte. 32 Die Opposition verhielt sich dagegen kritisch gegen Versuche, die Massen mit Tagesforderungen zur KPD herüberzuziehen. Sie befürchtete stets die Gefahr des »Opportunismus«, womit ein Abgleiten in sozialdemokratische Reformpolitik gemeint war. 33 Wann immer es darum ging, Aktionen mit der Sozialdemokratie durchzuführen, sah die Opposition darin eine »rechte Gefahr«, die auf eine »Liquidation«, also Auflösung der KPD hinauslief. Ihr Konsens war im Wesentlichen ein negativer. Kronzeuge für die Gefahr des »Liquidatorentums« war Paul Levi, der nach seinem Rauswurf tatsächlich in die SPD eintrat. Die Berliner Linke kritisierte den nachlässigen Umgang mit Levis Sympathisanten, fühlte sich jedoch von der Zentrale nicht ernstgenommen. Scholem schrieb, man sei »systematisch als ein Haufen von ›Krakehlern‹, 29 Ruth Fischer, Stalin und der Deutsche Kommunismus, Frankfurt am Main 1950, S.-221. 30 Werner Scholem, Feinde Ringsum, in: Der Funke, Nr. 16, 15. September 1924. 31 Der erste Entwurf zu diesem Artikel stammte von Ruth Fischer und Arkadij Maslow und ist überliefert in SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 128, Bl. 42 unter dem Titel »Skizze zu Richtlinien für die Berliner Delegation nach Moskau« vom 17. April 1923. Eine zweite Version ist überliefert als »Skizze der Berliner Delegation nach Moskau, den 21. April 1923«, mit einem Unterabschnitt über »Die Entstehung der Opposition in der KPD«, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 14, Bl. 164ff. Diese Version wurde am 18. April vom Berliner Zentralvorstand der KPD als Resolution angenommen, als Urheber zeichneten Fischer und Maslow. Unter Verwendung dieser Resolution verfasste Scholem seine »Skizze über die Entwicklung der Opposition in der KPD«, in: Die Internationale, Jg. 7, Heft 2/ 3 vom 28. März 1924. 32 Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-41. 33 Das Fiasko der Märzaktion wurde in der »Skizze« nicht weiter ausgewertet, denn damit hätte sich die drängende Frage gestellt, ob die von der Opposition stets geforderte »offensive« Linie nicht bereits gescheitert war. Allerdings hatte sich die Berliner Bezirksleitung 1921 durchaus von der Märzaktion distanziert - in einem Bericht vom Oktober 1921 wird sogar davon berichtet, dass Fischer, Maslow und Geschke den Vertreter der Komintern bereits am 17. März 1921 im Vorfeld der Ereignisse vor voreiligen Aktionen gewarnt hätten. Bericht der Berliner BL an das EKKI vom 13. Oktober 1921, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 25. <?page no="243"?> 243 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) 243 ›intellektuellen Narren‹ u.ä.« dargestellt worden. 34 Während Maslow, Fischer, Scholem und die Berliner Linke sich für die Wahrer der kommunistischen Prinzipien in einer Flut von Reformismus hielten, sah die Parteiführung in ihnen eine Horde von intellektuellen Störenfrieden. Clara Zetkin etwa brandmarkte den reinen Negativkonsens der Opposition. Sie kritisiere »nicht bloß die gegenwärtige Politik der Partei, sondern würde letzten Endes aus Sorge um die Reinheit und Selbständigkeit der Partei jede Politik überhaupt unmöglich machen und nichts übrig lassen als die Propaganda der kleinen, reinen Sekte.« 35 Die von Zetkin scharf beobachtete Tendenz zur Selbstisolation der Linken hatte jedoch reale Hintergründe in der veränderten politischen Situation. Die SPD vor 1918 hatte sich Koalitionsfragen kaum stellen müssen. Sie war die einzige Arbeiterpartei und von bürgerlichen Kräften weitgehend isoliert. Zudem agierte sie in einem autokratischen System, in dem Wahlen wenig bedeuteten. In der Weimarer Demokratie gab es jedoch zwei Arbeiterparteien und das Wahlsystem bestimmte die Regierung. Damit stieg für die Arbeiterbewegung der Druck zur Mitgestaltung, was die durch Koalitionspolitik regierungsfähige SPD begünstigte. Gerade wenn die KPD mit geschickter Einheitsfrontpolitik die SPD nach links gedrängt hätte, wäre sie umso mehr an die Sozialdemokraten gebunden gewesen. Insgesamt verleitete die Logik von Wahlen und Koalition zu Kompromissen innerhalb des Bestehenden, nicht zum revolutionären Bruch. Es ist also plausibel, dass eine starke Strömung in der KPD immer wieder vor diesen Gefahren warnte. Auch aus persönlichen Erfahrungen heraus schien Fundamentalopposition vielen als realistischer Kurs. Werner Scholem etwa war in Halle und Berlin politisch sozialisiert. Er hatte zwei Hochburgen des Arbeiterradikalismus erlebt und verallgemeinerte seine Erfahrungen dort. Es ist nicht verwunderlich, dass er einen revolutionären Kurs für massentauglich hielt, auch und gerade bei Wahlen. 36 Als Gefahr sah er nicht radikale Isolierung, sondern opportunistische »Versumpfung«, wie er sie in der SPD vor dem ersten Weltkrieg erlebt hatte. Viele hatten ähnliche Erfahrung, der linke Radikalismus war für sie nicht trotz, sondern wegen ihrer langjährigen Erfahrung in der Arbeiterbewegung plausibel. 37 Vor diesem Hintergrund missbilligte Ruth Fischer bereits auf dem Jenaer Parteitag im August 1921 die Handhabung der Einheitsfrontpolitik durch die Zentrale und forderte einen, wie Werner Angress es ausdrückte »dynamischeren Kurs«. 38 In diesem Frühstadium forderte die Linke jedoch vor allem Ergänzungen und Korrekturen zur offiziellen Politik. So entwarf etwa die Zentrale ein radikales Übergangsprogramm, mit durch »Zwangssyndizierung« der Unternehmen eine Staatsbeteiligung an Großunternehmen eingeführt sollte. 39 Die Linken kritisierten dieses Programm als unrealistisch: die »bürgerliche Klassenre- 34 Ebenda. 35 K. Tsetkin P’ismo IKKI [Brief Clara Zetkin an EKKI], 23. Februar 1923, RGASPI, F. 528, op. 2, d. 84. 36 Scholem baute darauf, dass Enttäuschung über die Kompromisse der SPD Wahlerfolge für die KPD bringen würde. Vgl. Werner Scholem, Die Wahlen in Thüringen, in: Internationale Presse-Korrespondenz, Nr. 181, 16. September 1922. 37 Auch Hermann Weber bemerkt, dass viele KPD-Linke aus der USPD kamen, was die These einer Verankerung in der Bewegung stützt. Zudem waren viele Berliner BL-Funktionäre ähnlich wie Scholem über zehn Jahre in der Bewegung organisiert, bevor sie als Oppositionelle bekannt wurden. Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.- 18; zu den Organisationszeiten vgl. die zitierten Einträge in Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten. 38 Werner T. Angress, Die Kampfzeit der KPD, S.-289. 39 Gleichzeitig sollte durch »Erfassung der Sachwerte« eine große Teilenteignung von Vermögen zur Begleichung der Reparationsen stattfinden, anstatt diese über Steuern den Arbeitenden aufzubürden. Taktisch <?page no="244"?> 244 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) gierung«, so Scholem in seinem Artikel, könne derartiges niemals umsetzen. Man müsse daher unbedingt die Forderung nach einer »Arbeiterregierung« hinzufügen. 40 Dies war noch solidarische Kritik, grundsätzlich stimmten die Linken der Einheitsfronttaktik zu. Scholem etwa lobte in einem Artikel vom April 1922 das gemeinsame Auftreten von KPD und SPD in Massendemonstrationen als »Ausgangspunkt für die Herstellung der internationalen Einheitsfront des Weltproletariats«. 41 Scholem war aufgeschlossen, denn bei Demonstrationen dominierte die KPD die Dynamik und alles spielte sich an der Basis ab: Einheitsfront von unten. Spitzenverhandlungen, die der KPD Mäßigung auferlegten, wurden jedoch energisch abgelehnt. Kritisch stand Scholem daher der Kampagne nach dem Rathenaumord im Juni 1922 gegenüber: »Die KPD ließ sich durch ein Abkommen von der SPD und Gewerkschaftsbürokratie binden und verstecke ihr ›kommunistisches Gesicht‹ vor den Massen.« 42 Dies führte laut Scholem zu einer ersten Eskalation des Parteikonflikts: »Die heftige Kritik, die nach der Rathenau-Aktion von den linken Organisationen an der Haltung der Zentrale geübt wurde […] erzeugte bei der Zentrale jene verhängnisvolle Stimmung gegen die Opposition, die seitdem die Verhältnisse innerhalb der Partei sehr vergiftet hat. Es tauchten damals die Pläne auf, die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg mit Gewalt abzusetzen, um die ›Stänker und Karakeeler‹ loszuwerden.« 43 In der Tat fasste das Polbüro der KPD schon am 11. April 1922 einen Beschluss, demzufolge die Berliner Organisation all ihre Resolutionen der Zentrale zur Genehmigung vorlegen müsse. 44 Ende Juni gab es Ärger um die Kommunistische Jugend - Werner Scholem hatte angeblich an eine der KAPD nahestehende Jugendorganisation ein Schreiben gerichtet, um sie als Bündnispartner der Opposition gegen die Zentrale in Stellung zu bringen - das Politbüro beantragte unter dem Tagesordnungspunkt »Fall Scholem« eine Aussprache und erteilte ihm eine formelle Rüge. 45 Am 1. August 1922 stellte das Politbüro der KPD schließlich fest: »Es besteht Übereinstimmung darüber, dass die augenblickliche Leitung in Groß-Berlin ihren organisatorischen Einfluss benutzt, um gegen die Linie der Gesamtpartei, insbesondere gegen die Zentrale Stimmung zu machen.« 46 Es beschloss in derselben Sitzung, Heinrich Brandler zum »Oberbezirkssekretär« für den Bezirk Berlin-Brandenburg zu ernennen. Er habe »die Aufgabe, alle Kräfte der Z[entrale] systematisch zur politischen Beeinflussung der Gross-Berliner Organisation heranzuziehen.« Deutlicher konnte die geplante Entmachtung der Opposition nicht formuliert werden. Doch das Vorhaben scheiterte. Die Disziplinierungsversuche zeigen, dass die parteiinternen Konflikte ziemlich genau im April 1922 eskalierten und sich bis zum Sommer in einen offenen Bruch verwandelt hatten. Während die Opposition anfangs noch war die Forderung darauf gemünzt, SPD und Gewerkschaften von links unter Druck zu setzen. Zu diesem Programm vgl. Florian Wilde, Ernst Meyer - Vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus, Dissertation Universität Hamburg, S.-243ff; Angress, Die Kampfzeit der KPD, S.-289. 40 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, Die Internationale, Jg. 7, Heft 2/ 3 vom 28. März 1924, S.-125. 41 Vgl. Werner Scholem, Der 20. April in Deutschland, in: Internationale Presse-Korrespondenz, Nr. 52, 22. April 1922. 42 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O. S.-125. 43 Ebenda, S.-127. 44 Sitzung des KPD-Politbüro vom 11. April 1922, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2. 45 Sitzung des KPD-Politbüro vom 29. Juni 1922, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2. 46 Sitzung des KPD-Politbüro vom 1. August 1922, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2. <?page no="245"?> 245 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) 245 konstruktive Kritik geübt hatte, fehlte nun jedes Vertrauen. Die Berliner und ihre Sympatisanten sahen sich als Opfer von Verfolgungen, die Zentrale erschien als unversöhnlicher Gegner. Entscheidend im Kampf um die Deutungshoheit über das »kommunistische Gesicht« der KPD war jedoch nicht allein die Basis, sondern auch die Kommunistische Internationale in Moskau. Kurz vor Eröffnung des IV. Weltkongresses der Komintern im November 1922 hielten die Berliner Kommunisten eine Massenversammlung mit 3000 Delegierten ab, auf der ein »Übergangsprogramm« des KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer verurteilt und Ruth Fischer als Delegierte nach Moskau gewählt wurde. 47 Die KPD sprach nun auf internationalem Parkett nicht mehr mit einer Stimme. Wie schon nach der Levi-Krise wurde die Komintern und damit vor allem die Bolschewiki als Richter und Schlichter der deutschen Angelegenheiten berufen - ein Grundmuster für die Auseinandersetzungen der nächsten Jahre. Ende 1922 war jedoch die Komintern ebenfalls in einer Krise. Weltrevolutionäre Hoffnungen hatten sich nicht bestätigt, mit der »Neuen Ökonomischen Politik (NEP)« machte die Sowjetregierung Zugeständnisse an den Kleinkapitalismus im eigenen Lande. Verkörpert wurde die pessimistische Stimmung in der Person Lenins, der geschwächt durch einen Schlaganfall nur eine kurze Eröffnungsrede auf dem Weltkongress halten konnte. 48 Obwohl es in dieser Zeit des Rückzugs keine gute Resonanz für die revolutionäre Stoßrichtung der Berliner KPD gab, konnte die Opposition sich in Moskau behaupten. Gemeinsam mit Ernst Meyer wurden die Dissidenten Ruth Fischer und Hugo Urbahns zu einer klandestinen Besprechung in einen Salon des Kreml geladen. Hier versuchten die bolschewistischen Größen Leo Trotzki, Karl Radek und Grigorij Sinowjew den deutschen Streit zu schlichten, während der kranke Lenin zunächst schweigend zuhörte - und am Ende Meyers Thesen für eine »deutsche NEP« als Übergangsprogramm verwarf. 49 Eine öffentliche Resolution zur Frage der Einheitsfront bestätigte danach zwar die Stellung von Ernst Meyer. Aber das prominent besetzte Geheimtreffen bedeutete die Aufwertung der Opposition von einem Berlin-Hamburger Lokalphänomen zur internationalen Größe. Die Opposition war damit gestärkt und die Zerrissenheit in der KPD hielt an. Dies zeigte sich auf dem Leipziger Parteitag der KPD, der vom 28. Januar bis 1. Februar 1923 tagte. 50 Die Versammlung fand in Scholems rückblickender Beschreibung »zwei scharf geschiedene Fraktionen vor, obwohl er nicht nach politischen Gesichtspunkten vorbereitet war«. 51 Angesichts erhöhter Arbeitermilitanz im Rahmen der Ruhrkrise standen zum ersten Mal programmatische Thesen von Opposition und Zentrale öffentlich gegeneinander. 52 Es 47 Werner T. Angress, Die Kampfzeit der KPD, S.-290. 48 Ebenda, S.-291. 49 Zu dieser Zusammenkunft existieren verschiedene Berichte, vgl. Ruth Fischer, Stalin und der Deutsche Kommunismus, S.-183-186, Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin, Berlin (DDR) 1957, S.-46; für eine Bewertung vgl. Angress, Kampfzeit der KPD, S.-296. 50 Zum Parteitag vgl. Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitages der KPD in Leipzig vom 28. Januar bis 1. Februar 1923, Berlin 1923 sowie Angress, Kampfzeit der KPD, S.-300ff. 51 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O, S.-129. 52 Werner Angress fasste die Entwürfe zusammen: »Während die Linke das Gewicht auf die Aktion, Organisierung, Initiative und Bewaffnung der Arbeiter legte, betonten die Thesen der Mehrheit die Verteidigung gegen die ›faschistische‹ Aggression sowie die Notwendigkeit, den Sozialdemokraten durch Zermürbungspolitik gegenüberzutreten. Sie sahen vor, dass die Machtübernahme stufenweise erfolgen und durch ständige Kämpfe die Position der Arbeiter auf der politischen Bühne verbessern sollte.« Angress, Die Kampfzeit der KPD, S.-308. <?page no="246"?> 246 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) kam zur Kampfabstimmung und einer Mehrheit für die Zentrale und ihre Einheitsfrontpolitik. Werner Scholem kommentierte diese Niederlage der Opposition mit scharfen Worten: »Die Thesen der Mehrheit in Leipzig formulierten klar den neuen kommunistischen Revisionismus, der die Diktatur des Proletariats als unmittelbares Kampfziel beseitigt und der die bürgerliche Demokratie als den ›Rahmen‹ betrachtet, innerhalb dessen die Kommunistische Partei durch die Arbeiterregierung, die auf parlamentarischem Wege zustande kommt, ihren Kampf führt.« 53 Obwohl beide Fraktionen der KPD eine sehr ähnliche Rhetorik pflegten und »Einheitsfront« und »Arbeiterregierung« als Begriffe im Munde führten, verstanden sie darunter doch etwas völlig anderes. Die einen zogen parlamentarische Bündnisse mit der SPD in Erwägung und probten diese Taktik: Im Frühjahr 1923 ermöglichte die KPD durch Tolerierung den Antritt einer SPD-Regierung in Sachsen. Der so ins Amt gekommene SPD-Ministerpräsident Erich Zeigner stand für den Versuch, mit der KPD eine revolutionäre Realpolitik zu improvisieren. In Thüringen gab es ähnliche Bestrebungen. 54 Für die Opposition war dies jedoch keine Arbeiterregierung, sondern eine »Schweinerei«. 55 Sie setzte allein auf Kontrollausschüsse und Betriebsräte. Eine Arbeiterregierung, so definierte Werner Scholem, sei keine Koalition im Parlament, sondern »die Sprengung des Rahmens der bürgerlichen Demokratie und der Beginn des Bürgerkrieges«. 56 Einheitsfront war für die Opposition nur »von unten« möglich, niemals aber als Bündnis mit der SPD-Führung. Gegen Ende des Leipziger Parteitags kam es zum offenen Bruch der zwei Strömungen, als sich auf einer Kandidatenliste für die Zentrale kein einziger Kandidat der Opposition fand. Die Opposition boykottierte nun die Abstimmung - ein unerhörter Vorgang. Im Vorfeld des Parteitages hatte die Berliner Organisation fest damit gerechnet, sie würde in der neuen Zentrale einen oder mehrere Sitze erhalten. Doch war eine solche Beteiligung an der Macht auch umstritten - in einer Sitzung der Bezirksleitung Ende Januar 1923 hatte gerade Werner Scholem sich dagegen gesprochen: »Eine Beteiligung an der Zentrale ist in dieser jetzigen Situation gefährlicher, als wenn wir nicht hineingehen. […] Ich hoffe aber stark, dass wir nicht in die Verlegenheit kommen werden […] Wenn die Genossin Ruth in die Zentrale hineingeht, dann muss sie aus der Münzstr[aße] fort, denn sie wird in der Zentrale der geistige Kopf sein.« In der Münzstraße saß die Berliner Bezirksleitung, und Scholem wollte seine Genossin Ruth Fischer dort behalten: »Die Zeit, wo Ruth von Berlin abwesend war, sollte ein abschreckendes Beispiel sein. Die Zentrale hat sofort versucht, die Leute von Berlin fortzuschicken. […] Stellt Maslow auf, auch wenn er nicht gewählt wird, dann kann Ruth hier arbeiten.« Auch sein Genosse Henning befürwortete dies: »Es wäre am besten, den Genossen Maslow in die Zentrale zu schicken, Maslow und Brandler sind zwei harte Köpfe, die können dann untereinander raufen.« 57 Hans Pfeiffer, 53 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O., S.-129. 54 Zur Person Zeigner vgl. Michael Rudloff (Hg.), Erich Zeigner. Bildungsbürger und Sozialdemokrat, Leipzig 1999. Zur KPD in Sachsen vgl. Norman H. LaPorte: The German Communist Party in Saxony, 1924- 1933: Factionalism, Fratricide and Political Failure, Oxford 2003. Zu Thüringen vgl. Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln - Weimar - Wien 2011. 55 So Ruth Fischer auf einer Sitzung der KPD-Zentrale am 4. September 1923, vgl. Harald Jentsch: Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, Rostock 2005, S.-147. 56 Ebenda, S.-130. 57 Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz am 22. Januar 1923, SAPMO-BArch, RY <?page no="247"?> 247 4.1 Die Berliner Opposition (1921 - 1923) 247 der mit Scholem wohl nie recht warm geworden war, wandte sich entschieden gegen solche Zurückhaltung: »Scholems Äußerungen beweisen, dass er die Situation nicht kennt. […] Wenn wir Genossen in der Zentrale haben, haben wir die Partei in einem halben Jahr erobert.« 58 Der Blick hinter die Kulissen zeigt, wie dominierend Fischer und Maslow in der Berliner Bezirksleitung waren. 59 Werner Scholem sah Fischers Weggang geradezu ängstlich entgegen - erst im Laufe des Jahres 1923 emanzipierte er sich von ihrem Vorbild. Ergebnis der Leipziger Wahlboykotts war die Tatsache, dass vier Vertreter der Opposition in die neue Zentrale unter dem Vorsitzenden Heinrich Brandler gewählt wurden. Doch es handelte sich nicht um die Wortführer der Opposition, sondern um handverlesene Genossen. Möglich war dies durch interne Differenzen. Sechs Oppositionelle hatten sich von Fischers Boykotterklärung distanziert, was die Machtprobe zu Fall brachte. In einer Krisensitzung der Berliner Bezirksleitung kritisierte Werner Scholem die Delegation heftig für ihr Verhalten: Die Abweichler seien der Opposition gerade dann in den Rücken gefallen, »als sie vor der Internationale beweisen wollte, dass sie politisch zusammenhalten wird.« 60 Gegenüber dem gleichfalls anwesenden Heinrich Brandler betonte Scholem jedoch: »So sehr ich unser Auftreten für falsch halte, erst als starker Mann aufzutreten und dann wieder zurückzugehen, so sage ich, Ihr werdet die Berliner Organisation bis zum letzten Mann hinter Euch finden, wenn Ihr den Kampf klar und scharf führt gegen die Bourgeoisie und gegen die SPD, wir werden Euch unterstützen, aber wir werden es uns nicht nehmen lassen, unser Meinung so klar und so scharf auch vor den Mitgliedern zu sagen« 61 Ruth Fischer betonte ebenfalls ihren Verständigungswillen: »Ich habe geglaubt, wenn die Genossen sehen, dass hier nicht nur meschuggene Studenten sind und Profitdozenten, sondern ehrliche Arbeiter, dass dann die Zentrale zur Vernunft kommen wird und unsere Hand nicht zurückweisen [wird].« 62 Mit »Profitdozent« war Privatdozent Arthur Rosenberg gemeint, Heinrich Brandler soll ihn in einer Rede mit diesem Ausdruck traktiert haben. 63 Immer wieder wurde die Berliner Opposition derart angegriffen, schon in Leipzig hatte Brandler heftige Ausfälle gegen die Intellektuellen geübt, weil diese nichts als Verwirrung in die Bewegung tragen würden. 64 Später nahm er sich etwas zurück, hegte aber weiter Vorbehalte: »Wir brauchen Intellektuelle, aber wir sollen unseren jungen Intellektuellen sagen, kommt und lernt Tatsachen kennen, aber spintisiert nicht immer und werdet nicht hysterisch.« 65 1/ I 3/ 1-2/ 16. 58 Ebenda. 59 Mario Keßler bemerkt, dass nicht nur ihr Charisma, sondern auch das Auftreten als jugendliche Radikale ihr diese Position verschaffte: »In der Berliner Parteiorganisation, die einen geringen Altersdurchschnitt auswies, war ein Typus des Politikers oder auch der Politikerin vom Schlage Ruth Fischers gefragt, keineswegs eine Parteipatriarchin wie Clara Zetkin« Vgl. Mario Keßler, Ruth Fischer - Ein Leben mit und gegen Kommunisten, S.-93, vgl. auch S.-73. 60 Sitzung der Bezirksleitung des KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz, 2. Februar 1923, SAPMO- BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 61 Ebenda. 62 Ebenda. 63 Rosenberg nahm später eine Entschuldigung Brandlers an, vgl. Mario Keßler, Arthur Rosenberg - ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen, S.-87. 64 Bericht über die Verhandlungen des 3. Parteitages der KPD, S.-325f , vgl. auch Angress, die Kampfzeit der KPD, S.-305f. 65 Sitzung des Berliner Zentralvorstandes der KPD am 3. Februar 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 14. <?page no="248"?> 248 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Da die Machtprobe fehlgeschlagen war, blieb den Strömungen der KPD nichts anderes übrig, als zusammenzuarbeiten. In der neugewählten Zentrale klappte dies sogar besser als erwartet: die Oppositionellen, darunter auch Scholems Kritiker Hans Pfeiffer, schwenkten im April 1923 auf die Linie Brandlers ein. 66 Pfeiffers Plan, die Partei im Handstreich für die Linke zu erobern, fand damit ein frühes Ende. Eine Lösung des Konflikts war diese Kooptation jedoch nicht, wie Werner Scholem resümierte: »Der Parteitag hatte die Partei nicht zusammengeschmiedet, sondern in zwei Hälften zerrissen, von denen die eine den zentralen Apparat, die andere die größten Bezirksorganisationen der Partei beherrschte. Die heftigsten Konflikte mussten daher binnen kurzem eintreten.« 67 4.2 Nationale Revolution an der Ruhr? Scholem und Schlageter im Sommer 1923 Zum Anstoß neuer Konflikte wurde der »Ruhrkampf«, in dem paradoxerweise Regierung und Unternehmer die Arbeiterschaft zu Streiks aufforderten - gegen die französische Besatzung der Reviere. Die Franzosen wollten Kohle als Reparation, die deutsche Regierung suchte die Machtprobe. Werner Scholem kritisierte rückblickend das Verhalten der KPD in dieser Situation: »Während alles nach Sachsen starrte, vernachlässigte die Führung der Partei die Ruhrfrage in sträflicher Weise. […] Die Partei leitete den Ruhrkampf falsch ein, indem sie keine klare Stellung gegen die deutsche Bourgeoisie einnahm.« 68 In der Tat versuchte die KPD, durch eine eigene »antiimperialistische« Auslegung von der Ruhrkampagne der Regierung zu profitieren. Aus Protest gegen diesen Kurs reisten Werner Scholem und Ruth Fischer im März 1923 mehrfach ins besetzte Ruhrgebiet, nahmen als Delegierte am Bezirksparteitag der KPD Rheinland-Westfalen Nord in Essen teil und brachten dort eine Resolution mit der Forderung nach Arbeiterkontrolle in der Produktion ein. 69 Dies erregte heftiges Missfallen. Scholem wurde vorgeworfen, er hätte zu Betriebsbesetzungen aufgefordert. 70 Die Zentrale sah das dies als Disziplinbruch und Vorstoß, um die Taktik der Partei »umzustoßen«. 71 Scholem wehrte sich gegen die Vorwürfe, sah sie als Angriff auf 66 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O, S.- 131. Die anderen drei waren Heinz Neumann, Arthur Ewert und Gerhart Eisler - der Bruder Ruth Fischers, vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-671. Fischer selbst erhielt von der Zentrale eine direkte Begründung für die Auswahl Pfeiffers: »Mir wurde in der Zentralesitzung gesagt: man nimmt Pfeiffer, weil er noch lange in der Bewegung sein wird, wenn Ruth und Maslow längst nicht mehr sein werden.« Vgl. Sitzung der Bezirksleitung des KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz, 2. Februar 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 67 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O, S.-130, sowie Bericht der Bezirksleitung der KPD Berlin-Brandenburg über die Arbeit der Organisation vom Januar bis September 1923. o.O., o. J. 68 Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O. 69 Scholem gab darüber am 27. März 1923 einen Bericht in der Bezirksleitung Berlin. SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. Die Resolution der Opposition forderte eine »aktive Ruhrpolitik« bei »gleichzeitiger Steigerung der Bewegung im Reich« sowie als Parole »die Frage der Übernahme der Betriebe durch die Arbeiterschaft«. Vgl. Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, a.a.O. 70 Die Versammlung fand am 12. März in Dortmund statt. Vgl. Sitzung des Berliner Zentralvorstandes vom 4. April 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 14. 71 Edwin Hoernle an EKKI, 23. April 1923, RY 1 / I 2/ 3/ 62a, Bl. 132, hier zit. nach: Mario Keßler, Arthur <?page no="249"?> 249 4.2 Nationale Revolution an der Ruhr? Scholem und Schlageter im Sommer 1923 249 die Parteilinke: »Ich denke aber nicht daran, es denjenigen, die uns herauswerfen wollen, so leicht zu machen. Wir werden uns bemühen, uns keine Blöße zu geben, wir werden vorgehen, wie die Opposition im Bauarbeiterverband vorgeht (lebhafte Zwischenrufe). Diese ganze Entrüstung die hier gemacht wird, ist nur zu verstehen, wenn man weiß, was hier vorgeht, nämlich, das ein Teil der Genossen sich von uns trennt.« 72 Dies markierte einen Bruch - erstmals war offen ausgesprochen, dass Scholem die Zentrale der eigenen Partei als politischen Gegner betrachtete. Heinrich Brandler intervenierte und forderte die Opposition auf, Scholem und Fischer »in die richtige Bahn zu lenken«nur so sei die angestrebte Verständigung möglich. Andernfalls, so Brandler »kann uns nichts retten, als das Vorgehen auch mit organisatorischen Mitteln, dann auch mit dem Ausschluss aus der Partei.« 73 Dies war das erste, aber keineswegs das letzte mal, dass Scholem mit dem Ausschluss aus der KPD gedroht wurde. Scholem und Fischer wehrten sich mit ihrer Ruhrpolitik gegen den »Schlageter-Kurs«, einer Episode aus dem Sommer 1923, als die KPD versuchte, mit nationalen Parolen vom Ruhrkampf zu profitieren. 74 Auch Anbiederung an rechte und faschistische Rhetorik kam dabei vor, denn die KPD wollte die völkische Radikalisierung ins eigene Lager umlenken - ein Spiel mit dem Feuer. Die bisherige Literatur ging davon aus, dass die linke Opposition der KPD vorbehaltlos auf diesen Kurs eingeschwenkt sei. 75 Der britische Historiker Edward H. Carr berief sich dazu auf den Bolschewik Karl Radek. Der hatte erklärt, die neue Taktik sei »Arm in Arm« mit der Oppositionellen Ruth Fischer ausgeführt worden. 76 Ein weiterer Beleg ist eine Rede Ruth Fischers vor Berliner Studenten, in dem sie die Hetze der Antisemiten gegen »Judenkapitalisten« mit den Worten konterte: »Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß.« 77 Ruth Fischer, selbst aus jüdischer Familie stammend, wollte die Angriffe gegen das »Judenkapital« auch auf Stinnes und Klöckner, also das »deutsche« Kapital bezogen wissen, schien also beim Schlageter-Kurs voll dabei zu sein. Heinrich Brandler als Verantwortlicher für die neue Linie berichtete jedoch über Widerstand gerade von Fischer. In einem bisher unveröffentlichten Brief nach Moskau beschwer- Rosenberg - ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen, S.-90. 72 Scholems Vergleich mit der KPD-Fraktionspolitik in den Gewerkschaften erregte heftigste Kritik, noch tagelang wurde ihm diese Aussage in verschiedenen Sitzungen vorgeworfen. Vgl. Sitzung der Bezirksleitung des KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg, 3. April 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 73 Sitzung des Berliner Zentralvorstandes vom 4. April 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 14. 74 Der Kurs war benannt nach Leo Schlageter, einem Freikorpskämpfer und Mitglied der »Großdeutschen Arbeiterpartei«, der am 26. Mai 1926 wegen Sabotageakten von der französischen Besatzungsmacht hingerichtet worden war. Radek hatte Schlageter in einer Rede als »Kämpfer« gewürdigt, jedoch gleichzeitig als »Wanderer ins Nichts« bezeichnet und damit seine völkische Gesinnung verurteilt. Ziel war, Teile der völkischen Besatzungsgegner ins Lager der KPD zu ziehen. Vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, Rostock 2005. 75 So schreibt etwa Angress »weil der Schlageter-Kurs eine Frage der Taktik und keine Doktrin war, wurde sie von der gesamten Partei, einschließlich sogar der linken Opposition, unterstützt.« Angress, Kampfzeit der KPD, S.-384. 76 Karl Radek, Die Lehren der Deutschen Ereignisse, Hamburg 1924, S.- 18, hier zitiert nach E. H. Carr, A History of Soviet Russia - The interregnum 1923 - 1924, London - New York 1954, S.- 185. Auch Carr schätzte den Schlageter-Kurs als rein taktisches Manöver ein, weshalb er als Vorstufe eines geplanten Kommunistischen Aufstandes den Linken sogar mehr zusagen mochte als den Pragmatikern in der KPD. 77 »Hängt die Judenkapitalisten. Ruth Fischer als Antisemitin«, in: »Vorwärts«, 22. August 1923. Der Artikel wurde einen Monat nach der Rede Fischers veröffentlicht - der Wortlaut ist also ungewiss, wurde aber von der KPD nicht dementiert. <?page no="250"?> 250 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) te er sich nur wenige Tage vor Fischers Auftritt über deren mangelnde Unterstützung der neuen Taktik: »Bauchkrümmen hat sie bei Ruth, sowie bei einer ganzen Reihe rechter und linker führender Genossen erzeugt.« 78 Fischer und Maslow würden den Schlageterkurs geradezu sabotieren, indem sie ihn auf Versammlungen offen lächerlich machten: sie spotteten, es seien durch die neue Politik ganze 12 Faschisten neutralisiert, bedauerlicherweise jedoch 3000 Arbeiter zu den Faschisten gestoßen worden. Als Beleg für die Kritik der Opposition an den national-revolutionären Versuchen der KPD kann auch die Tatsache gelten, dass die Berliner KPD für den 29. Juli 1923 einen »Antifaschistentag« mit großen Demonstrationen geplant hatte. 79 Als das preußische Innenministerium ein Demonstrationsverbot verhängte, rückte die Parteiführung vom Vorhaben ab. Die Berliner Linke hingegen wollte am Antifaschistentag festhalten. Die Angelegenheit wurde bis nach Moskau getragen und von der Komintern diskutiert, wo wiederum Radek den Antifaschistentag energisch zu verhindern suchte. 80 Eine weitere kritische Stimme zu den nationalrevolutionären Experimenten kam von Werner Scholem. Er wandte sich im Frühjahr 1923 im Landtag gegen den nationalen Rummel und klagte an, dass vom französischen Militär getötete Deutsche öffentlich betrauert würden, während andere Morde ignoriert wurden: »Es besteht kein Unterschied zwischen den Opfern […] in einem Falle sind Essener Arbeiter vom französischen Imperialismus und seinen Schergen mit blauen Bohnen bepflastert worden, in Mühlheim sind deutsche Arbeitslose von deutschen Faschisten und deutschen Polizeibeamten […] ermordet worden.« 81 Scholem wandte sich damit auch gegen den Rechtsterror, der den Widerstand gegen die französische Besatzung begleitete. Während Karl Radek und später auch Ruth Fischer sich rhetorisch auf die Rechten zubewegten, um deren Radikalismus in einem taktischen Manöver nach links zu drehen, schien Scholem dieses Spiel zu heiß. Er bestand darauf, dass Hetze und Terror von rechts auch im Ruhrkampf kein Widerstand seien, von dem die KPD irgendwie profitieren könne. Stattdessen forderte er von seiner Bezirksleitung die Verbindung von sozialem und antifaschistischem Kampf: »Es muss außerhalb des Ruhrgebiets jetzt ein verschärfter Kampf gegen die Faszisten und um Lohnforderungen geführt werden. Diese Kritik ist notwendig. Die politische Linie der Roten Fahne war falsch, sie bedeutet, daß wir in Einheitsfront mit der Cunoregierung abrücken von den Ruhrarbeitern.« 82 Scholem erklärte, die Ruhrarbeiterschaft könne nur dann wirksam gegen den Imperialismus kämpfen, »wenn sie es versteht, die Produktion im Ruhrgebiet der Herrschaft aller Kapitalisten zu entziehen, ganz gleich, wie sie sich national anstreichen.« 83 78 Polbüro der KPD an Karl Radek, Moskau (EKKI) 12. und 18. Juli 1923 - das Kürzel »Bra« verweist auf Brandler als Autor. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 208b, Bl. 436ff und Bl. 448f. 79 Schon E.H. Carr stellte in seiner Bewertung der Ereignisse vom Sommer 1923 fest, dass der Schlageter- Kurs als Manöver zur Spaltung der faschistischen Organisationen antifaschistische Kampagnen nicht ausschloss. - E.H. Carr, Interregnum, S.-181. So waren etwa die zur Abwehr des Rechtsterrorismus gegründeten proletarischen Hundertschaften zentraler Teil des Revolutionsplans vom Sommer 1923. 80 E.H. Carr, Interregnum, S.-187. 81 Protokolle des Preußischen Landtags, 232. Sitzung am 20. April 1923. 82 Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz, 23. Mai 23, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1- 2/ 16. 83 Protokolle des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode 1921-1924, 259. Sitzung am 20. Juni 1923. Ein Resolutionsentwurf Scholems für die Bezirksleitung Berlin formulierte bereits am 28. Mai 1923 Kritik an der Zurückhaltung der KPD: »Die ›Rote Fahne‹ hielt es für ihre Hauptaufgabe, den Arbeitern sowohl an der Ruhr wie im übrigen Deutschland Passivität zu predigen. Die Art, wie in der Roten Fahne die <?page no="251"?> 251 4.3 Vom Ruhrkampf zum »deutschen Oktober« 1923 - Neue Konflikte in der KPD 251 Vergleicht man diese Aussagen zum Ruhrkonflikt, so erkennt man im Frühjahr 1923 eine deutlich antinationale Kritik der Opposition an der antifranzösischen Ruhrkampagne, durchbrochen von einer plötzlichen Wende Ruth Fischers im Juli 1923. Dahinter stand wahrscheinlich Druck aus Moskau. 84 Auch bei späteren Gelegenheiten schwenkte Ruth Fischer aus taktischen Erwägungen auf eine Parteilinie ein, die sie vorher kritisiert hatte - ein Verhalten, das Scholem irritierte und zu Verwerfungen führte. Öffentlich kommuniziert wurden diese Konflikte freilich nicht. Ruth Fischers Auftritt vor völkischen Studenten blieb in der Erinnerung haften, die Nationalismuskritik von Scholem in den Protokollen verborgen. Erst später sollten die Konflikte zwischen Opposition und Parteizentrale öffentlich ausgetragen werden. 4.3 Vom Ruhrkampf zum »deutschen Oktober« 1923 - Neue Konflikte in der KPD Weil der Konflikt über die Ruhrfrage die Spannungen zwischen Opposition und Zentrale eskalieren ließ, fand vom 27. April bis 23. Mai 1923 eine Verständigungskonferenz in Moskau statt. 85 Heinrich Brandler bekam zwar Unterstützung für die bisherige Einheitsfrontpolitik, wurde jedoch gezwungen, Ruth Fischer und drei weitere Vertreter der Opposition in die Parteiführung aufzunehmen. 86 Dennoch war die Berliner Opposition nicht zufrieden mit dem Ergebnis - Fischer berichtete nach der Rückkehr aus Moskau der Bezirksleitung: »Wir erblicken in der Erweiterung der Zentrale nur eine Belastung und Schwerfälligmachung der Gesamtarbeit, und zweitens ist die Erweiterung bei der Mitgliedschaft eine unverständliche Lösung, drittens ist es nicht der erstrebenswerte Zustand, wenn die Opposition von oben hineingequetscht wird in die Zentrale.« 87 Auch von Werner Scholem wurde das Ergebnis der Konferenz kritisiert. Fischer hätte sich entschiedener gegen die Einheitsfrontpolitik wehren sollen: »Man muss erklärten, dass man sie für falsch hält und daher nicht für sie eintreten kann, dass man diese Resolution aber als disziplinierter Kommunist vertreten wird. Das ist der einzig mögliche Standpunkt.« 88 Weil Fischer keine inhaltlichen Einwände erhoben hatte, erklärte Scholem gar »dass die Opposition Ruhrabeiter vor einem Kampf gegen die Faszisten gewarnt werden, kommt einem politischen Abrücken von der Bewegung der Ruhrarbeiter vollkommen gleich.« SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16, Bl. 222. Eine Resolution der Berliner Bezirksleitung vom 22. Juni 1923 forderte als Gegenprogramm eine räterepublikanische Stoßrichtung in: Rote Fahne Nr. 145, 27. Juni 23; Kopie in SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 84 Vgl. dazu den folgenden Abschnitt. 85 Vertreten waren dort Ruth Fischer und Ernst Thälmann, Arkadij Maslow sowie Gerhart Eisler, ein Bruder Ruth Fischers. Für die Zentrale reisten Heinrich Brandler und Paul Böttcher an. Vgl. Harald Jentsch, die KPD und der deutsche Oktober, S.-88f. 86 Am 17. Mai 1923 wurden Ruth Fischer, Ernst Thälmann, Ottomar Geschke und Arthur König in die Zentrale gewählt, vgl. ebenda. Zum inhaltlichen Kompromiss vgl. »Zur Liquidation der Parteidifferenzen, in: »Rote Fahne« Nr. 107, 13. Mai 1923. 87 Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz, 12. Mai 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 88 Ebenda. Scholems Einwände wurden von Arthur Rosenberg geteilt, das Polbüro der KPD informierte umgehend die Komintern über die Differenzen in der Opposition, vgl. Polbüro an Komintern vom 19. Mai 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 208b, Bl. 428. <?page no="252"?> 252 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) erledigt ist, dass wir politisch der andren Richtung recht gegeben haben. Man könnte damit schließen, die Opposition hat aufgehört, und die Minderheit hat der Mehrheit recht gegeben.« 89 Scholem erschien dies »blamabel« und er führte weiter aus: »so haben wir nicht mehr die Möglichkeit, wirklich unsern Genossen die Geschichte auseinanderzusetzen. In der Funktionärsversammlung können wir nicht mehr so reden, wie jetzt.« 90 Er verwies damit auf einen entscheidenden Punkt: die Oppositionsvertreter in der Zentrale mussten öffentlich die Linie Brandlers mittragen. 91 Diese undankbare Position zwischen Baum und Borke fiel nun Ruth Fischer zu. Sie pendelte zwischen KPD-Zentrale in der Rosenthaler Straße 38 und der Berliner Bezirksleitung in der Münzstraße 24. Dort angekommen musste sie den Berliner Genossen die aktuelle Politik erklären - heftigster Widerspruch kam dabei von Werner Scholem. Schon in der Frage des Schlageter-Kurses hatte er Fischers Schwenk nicht mitgemacht. Der Blick auf die innerparteiliche Lage zeigt, dass dahinter ein grundsätzlicher Dissens stand. Scholem rechnete ab: »Dieses ›weicht den Kämpfen aus! ‹ das ist die neue Politik. Die SPD-Presse hat darauf auch schon reagiert. Heute abend schon wirft sich der ›Vorwärts‹ als Verteidiger der Kommunisten auf, er erklärt, die Kommunistische Partei macht eine gute Politik, das heißt natürlich, dass sie keine andere Politik macht als die SPD. Ich muss schon sagen, in der Berliner Mitgliedschaft herrscht eine solche Mißstimmung über diese Politik, dass sie gar nicht verglichen werden kann mit der Unzufriedenheit, die früher einmal gewesen ist.« 92 Im Mittelpunkt stand hier jedoch nicht die Ruhrpolitik, sondern die Tolerierung der SPD-Regierung in Sachsen durch die KPD. Als Anfang Juni in Leipzig bei einer Arbeitslosendemonstration die sächsische Polizei mit Waffengewalt vorging und neun Demonstranten den Tod fanden, forderten Arthur Rosenberg und Werner Scholem den Bruch. 93 Die Tolerierungspolitik solle beendet und die Regierung Zeigner durch die KPD gestürzt werden. Fischer jedoch wandte sich gegen offene Kritik: »Die Zentrale wird unter keinen Umständen mit der Zeignerregierung brechen. Die SPD hat überall auf dem rechten Flügel Erfolge. Jeder politische Mensch muss sehen, was in Sachsen los ist, aber es ist zwecklos, in der Bezirksleitung weiter damit zu kommen.« 94 Scholem widersprach: »Ich muss sagen, die Logik der Genossin Ruth in der Frage Sachsen verstehe ich nicht. Früher hat sie es besser verstanden. […] wir nehmen dazu Stellung, wie wir auch früher zu solchen Fragen Stellung genommen haben. […] Ich bin nicht der Meinung, dass wir den Mund halten müssen.« 95 Scholem, der noch im April die Opposition für erledigt erklärt hatte, blies nun 89 Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz, 12. Mai 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 90 Ebenda. 91 Scholem beschrieb die Konferenz später als »mißglückter Versuch, die tiefbegründeten Differenzen durch ein organisatorisches Kompromiß zu überbrücken.« Vgl. Werner Scholem, Skizze über die Entstehung der Opposition in der KPD, Die Internationale, Jg. Jg. 7, Heft 2/ 3 vom 28. März 1924, S.-131. 92 Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz, 28. Mai 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 93 Unterstützt von Arthur Rosenberg hatte Scholem schon zuvor eine Resolution vorbereitet, die sich gegen den Kurs der Zentrale in Sachsen und an der Ruhr wandte, vgl. Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin- Brandenburg-Lausitz, 4. Juni 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 94 Sitzung der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz, 11. Juni 1923, SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. 95 Ebenda. <?page no="253"?> 253 4.3 Vom Ruhrkampf zum »deutschen Oktober« 1923 - Neue Konflikte in der KPD 253 zum Angriff gegen die Zentrale - und setzte sich durch. Am 22. Juni 1923 erschien in der »Roten Fahne« eine Resolution der Berliner Bezirksleitung, die das Ende der Tolerierungspolitik in Sachsen forderte. 96 Der Parteikonflikt war damit wieder offen ausgebrochen. Während jedoch Ruth Fischer zeitweise der Zentrale zuneigte und mit Radek den Schlageterkurs organisierte, machten Werner Scholem und Arthur Rosenberg sich zu Sprechern der Radikalen, die einen Konfrontationskurs mit der SPD wollten. Die Linke formulierte in der Resolution auch, was sie unter »Arbeiterregierung« verstand: Eine Regierung, »die sich stützt auf die Betriebsräte und die bewaffnete Arbeiterschaft.« Sie forderte eine Nationalisierungspolitik, die jedoch nur dann ein Schritt zum Sozialismus sei, »wenn die Schritte der Arbeiterregierung parallel gehen mit der schärfsten Arbeiterkontrolle von unten, durch die Betriebsräte, die orts- und bezirksweise zusammen zu fassen sind.« 97 Der von beiden Richtungen der KPD benutzte Begriff »Arbeiterregierung« wurde durch die Opposition rätedemokratisch besetzt, was auf den Einfluss der alten Revolutionären Obleute in der Berliner Bezirksleitung verweisen mag. Der Parteizentrale gefiel die Kritik natürlich nicht. Brandler wandte sich schon vor Veröffentlichung der Resolution an die Komintern und forderte, die lästige Opposition solle endlich »eins aufs Maul bekommen«. 98 Obwohl Fischer eingelenkt hatte, ging dank Scholem und Rosenberg der Krach in der Partei weiter. Erst die geschilderte Eskalation der Inflationskrise im August 1923 führte dazu, dass beide Strömungen der KPD wieder an einem Strang zogen. Die Partei war insgesamt im Aufwind. 99 Sie gewann Sympathie, was sich jedoch nicht an Wahlergebnissen festmachen ließ, da außer im kleinen Ländchen Mecklenburg-Strelitz keine Wahlen anstanden. 100 Belegt ist allerdings das starke Anwachsen der Kommunisten in den Gewerkschaften. Hatte die KPD mit der Märzaktion von 1921 ihren Einfluss dort gründlich rui- 96 Resolution der Bezirksleitung vom 22. Juni 1923, in: Rote Fahne Nr. 145, 27. Juni 1923. 97 Ebenda. 98 Brief Heinrich Brandler an dt. Delegation beim EKKI, 16. Juni 1923, SAPMO-BArch RY 5/ I 2/ 3/ 203, Bl. 109, Vgl. auch Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-105. 99 Arthur Rosenberg schrieb dazu: »Vor allem die Freien Gewerkschaften, die stets die Hauptstütze des sozialdemokratischen Einflusses gewesen waren, befanden sich in voller Auflösung. Die Inflation vernichtete den Wert der Verbandsbeiträge. Die Gewerkschaften konnten ihre Angestellten nicht mehr besolden und den Mitgliedern keine Unterstützungen mehr leisten Die Tarifverträge […] wurden gegenstandslos, wenn die Geldentwertung schon acht Tage später die ausgehandelten Löhne über den Hafen warf.« Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S.-136. Lothar Wentzel bestätigt diese durch empirische Beispiele aus der Metallindustrie, vgl. ders., Inflation und Arbeitslosigkeit, S.-153-161. Während Rosenberg von einer »Zersetzung der Gewerkschaften« und einer »Lahmlegung der SPD« spricht, betont Heinrich August Winkler, dass es KPD nicht gelungen sei, die Führung der Ausstände zu übernehmen und ihren Verlauf zu kontrollieren. Vgl. ders., Von der Revolution zur Stabilisierung, S.-594. Laut Wentzel waren die Streiks zu großen Teilen wilde politische Streiks, jedoch habe die KPD nur im Cunostreik im August 1923 wirklichen Einfluss ausüben können. Vgl. Wenzel, Inflation und Arbeitslosigkeit, S.-157. 100 Arthur Rosenberg hielt dies nicht für einen Zufall: »Die bürgerlichen Mehrheiten der Parlamente zusammen mit der Verwaltungsbürokratie sorgten dafür, daß keine Wahlen stattfanden, denn radikale Wahlsiege hätten auf die Massen weiter anfeuernd gewirkt. […] Wie anders war der Gang der deutschen Politik nach 1930, als es sich darum handelte, durch eine Folge nationalsozialistischer Siege die deutsche Republik sturmreif zu machen. Da sorgten die maßgebenden Stellen dafür, daß ununterbrochen gewählt wurde, damit die Republikaner gar nicht zur Besinnung kamen.« Vgl. ders., Geschichte der Weimarer Republik, S.-136f. In Mecklenburg-Strelitz bekam die KPD 11.000 Stimmen und erreichte damit fast das Ergebnis der SPD, die 12.000 Wählerinnen und Wähler mobilisieren konnte. Vgl. ders. S.- 137 sowie Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, S.-90. <?page no="254"?> 254 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) niert, so erhielten im Juli 1923 mit ihr sympathisierende Vertreter ein Drittel der Mandate beim Verbandstag der Metallarbeitergewerkschaft DMV. Die Zahl der kommunistischen Gewerkschaftsgruppen steig allein zwischen Juli und Ende Oktober 1923 von 4000 auf 6000 an, auch die Zahl der KPD-Betriebsräte steigerte sich rapide. 101 Die KPD schien auf dem Weg, die SPD als Vertretung der Arbeiterklasse abzulösen. Als am 5. und 6. August in Berlin der Zentralausschuss der KPD tagte, blieb daher der übliche Streit zwischen Opposition und Zentrale aus. Beide Seiten gingen von einer revolutionären Situation aus und diagnostizierten eine Rechtsentwicklung der Zeigner- Regierung in Sachsen. 102 Auch in Moskau reagierte man auf die Radikalisierung. Im August 1923 rief das Politbüro der russischen Kommunistischen Partei unter Vorsitz von Josef Stalin alle Mitglieder der Führung aus dem Urlaub. Angesetzt war eine Sondersitzung zur Lage in Deutschland. Stalin stellte dort ultimativ fest, welche Bedeutung die Ereignisse für den Fortbestand der Sowjetunion hatten: »Entweder scheitert die Revolution in Deutschland und erschlägt uns, oder die Revolution gelingt dort, alles läuft gut und unsere Lage ist abgesichert. Eine andere Wahl gibt es nicht.« 103 Höher konnten die Erwartungen kaum gesetzt werden. Doch die Ansprüche waren nicht allein eine russische Projektion - sie deckten sich mit optimistischen Berichten aus Berlin, auch Heinrich Brandler sah Deutschland bereits »mitten im Bürgerkrieg«. 104 Die Führer der KPD wurden zum Entwurf eines detaillieren Revolutionsplans nach Moskau einbestellt. 105 Doch schon kurz vor Abreise der Delegationen brach der Parteikonflikt wieder aus. Während Brandler eine Radikalisierung der SPD-Basis erwartete und eine Arbeiterregierung aus SPD und KPD als Zwischenstadium der Revolution für möglich hielt, sah Ruth Fischer hierin nichts anderes als einen »Versuch, dem Bürgerkrieg auszuweichen und eine Zeignerschweinerei im Reichsmaßstab zu machen«. 106 Daraufhin warf die Zentrale der Berliner Bezirksleitung vor, die Atmosphäre in der Partei systematisch zu vergiften. In einer turbulenten Zentralesitzung forderte sogar Ruth Fischers Bruder Gerhart Eisler den Rücktritt seiner Schwester. Am Ende stand jedoch gegen die Stimmen von Fischer und Geschke »nur« ein Maulkorberlass für die Opposition: Das EKKI in Moskau sollte die politische Arbeit der Zentrale überprüfen. Bis dahin galt ein Verbot, den Konflikt öffentlich zu thematisieren. 107 Als im September 1923 die führenden Köpfe der KPD nach Moskau reisten, taten sie dies also nicht nur, um mit der Komintern einen Aufstandsplan zu entwerfen - wieder einmal sollte der unlösbar scheinende Parteistreit an höherer Stelle entschieden werden. 101 Ossip K. Flechtheim, die KPD in der Weimarer Republik, S.-91. 102 An der Sitzung nahmen Vertreter der Zentrale, der Bezirke sowie Redakteure der parteieigenen Zeitungen und kommunistische Gewerkschafter teil, vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-124ff. 103 Die Sitzung tagte am 21. und 22. August 1923, vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-139-142. 104 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-127. 105 Jentsch betont in diesem Kontext, die KPD-Führung sei keineswegs Befehlsempfänger gewesen, sondern habe alle konkreten Maßnahmen selbst getroffen. Vgl. ders. Die KPD und der »Deutsche Oktober«, insbes. S.497; vgl. auch ders. »Brandlerismus« in der KPD, in: Simone Barck u. Ulla Plener (Hg.), Verrat - Die Arbeiterbewegung zwischen Trauer und Trauma, Berlin 2009, Anm. 4, S.-69. 106 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-147. 107 Ebenda, S.-149 <?page no="255"?> 255 4.3 Vom Ruhrkampf zum »deutschen Oktober« 1923 - Neue Konflikte in der KPD 255 Dabei wurde mit harten Bandagen gekämpft. Brandler erreichte in »privaten Besprechungen« mit Bucharin, Radek, Stalin und Trotzki, dass die russischen Parteiführer das Versprechen abgaben, Arkadij Maslow in Moskau zurückzuhalten. Der Berliner Opposition sollte ihr Kopf genommen werden. Zusätzlich forderte Brandler vom Politbüro der Russischen Partei die Ablösung der gesamten Berliner Führung, wobei er ausdrücklich auch Scholem und Rosenberg nannte. Seine Begründung lautete: »Wir glauben, die Verantwortung nicht übernehmen zu können, mit diesen Leuten in den Bürgerkrieg zu gehen.« 108 Doch setzte sich Brandler damit ebensowenig durch wie mit seinem Plan, auch Ruth Fischer in Moskau festzuhalten. Am 5. Oktober wurde die Moskauer Entscheidung verkündet: Die Berliner Bezirksleitung blieb an der Macht, Ruth Fischer wurde »unter Androhung energischster Maßnahmen bis hin zum Ausschluß« zur Zusammenarbeit mit der Zentrale verpflichtet. In Berlin wurde ein Revolutionsdirektorium gebildet und aus Moskau das Ende der inneren Kämpfe in der KPD erklärt. Der Komintern-Vorsitzende Sinowjew beendete die Zwangsschlichtung mit den Worten: »Damit hört jedes Parlamentieren auf, Erklärungen, Gegenerklärungen werden nicht mehr angenommen. Der Beschluss ist gefasst. Die Sitzung ist geschlossen.« 109 Arthur Rosenberg und Werner Scholem, die als Querköpfe bekannt waren, wurden durch eine gesonderte Loyalitätserklärung auf den neuen Kurs verpflichtet. 110 Diese Unterordnung hielt jedoch nicht einmal bis zur Rückkehr aller Delegierten. Ruth Fischer behauptete nach ihrer Ankunft am 15. Oktober in Berlin »dass die von ihr vertretene Auffassung in Moskau völlig gesiegt habe, was auch in den schriftlichen Formulierungen der Exekutivbeschlüsse zum Ausdruck käme« - sie konnte allerdings keine schriftliche Resolution vorweisen. 111 Daraufhin verbot die Zentrale ihr jede weitere Berichterstattung bis zum Erhalt der Beschlüsse. 112 Rosenberg, Geschke, Scholem, Wischeropp und weitere Mitglieder der Berliner Bezirksleitung solidarisierten sich nun mit Fischer gegen den »Maulkorb«. Der Kompromiss aus Moskau war damit hinfällig, bevor er überhaupt verkündet wurde. Die Berliner Linke war trotz der von ihr stets propagierten revolutionären Situation nicht gewillt, den Fraktionsstreit zurückzustellen. Noch interessanter ist, dass 108 Beratungen der Zentrale der KPD und der BL Berlin mit den russischen Mitgliedern des EKKI, SAPMO- BArch, RY 5/ I 6/ 10/ 78, Bl. 27. 109 Protokoll der 3. Sitzung der russischen Mitglieder der Exekutive mit den Delegationen der Zentrale der KPD und der Delegation der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg, 5. Oktober 1923, in: Bernhard H. Bayerlein, Leonid G. Babicenko, Frichrich I. Firsow, Alexander J. Vatlin (Hg.): Deutscher Oktober 1923 - Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, S.- 211. Vgl. auch Jentsch, die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-169f. 110 Hugo Eberlein war zuvor als Kurier nach Berlin entsandt worden und erreichte »nach einem halsbrecherischen Flug mit zwei Notlandungen auf freiem Feld« sein Ziel. Er berichtete: »In einer Bezirksleitungssitzung, die gestern abend stattfand, habe ich berichtet. Scholem und Rosenberg gaben Loyalitätserklärungen ab, dass sie in dieser Situation sich hinter die Zentrale stellen würden. Es wurde für Berlin ein Direktorium eingesetzt bis zur Entscheidung von Moskau. […] Dem haben sich alle Instanzen in Berlin unterzuordnen.« Das Direktorium bestand aus Ottomar Geschke und Hans Pfeiffer sowie einem ungenannten »dritten Genossen«. Vgl. Eberlein im Auftrag der Zentrale KPD an EKKI, 5. Oktober 1923, in Bayerlein u.a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923 - Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, S.-205. 111 Bericht über die Verhandlungen in der Berliner Bezirksleitung und im Berliner Zentralvorstand am 20. Oktober 1923; RGASPI, Briefe an G.E. Sinowjew, F. 324, op. 1, d. 555. 112 Auch Scholem beschwerte sich in einem Brief an Sinowjew vom 30. Oktober 1923, die Opposition habe 14 Tage lang »den verantwortlichen Körperschaften der Berliner Partei nicht berichten dürfen, was sich in Moskau abgespielt hatte, weil die Reichszentrale unter Androhung von Ausschluss aus der Partei die Berichterstattung verhinderte.« Vgl. SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 128, Blatt 87. <?page no="256"?> 256 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) sich in einer Krisensitzung am 20. Oktober 1923 auch über den Revolutionsplan Differenzen ergaben. Besonders Werner Scholem äußerte sich skeptisch. Obwohl er für das Ruhrgebiet Betriebsbesetzungen gefordert hatte, erschien ihm diese Taktik nun für Berlin nicht angebracht: »Der Vorschlag […] läuft auf eine Besetzung der Betriebe hinaus. Dabei müssen wir uns klar sein, ob wir den revolutionären Vorstoß zum Bürgerkrieg von Berlin aus unternehmen wollen. Er [Scholem, RH] halte das für unmöglich, nachdem die Partei in Sachsen eine Politik des krassen Rückzugs betreibe. In Sachsen hat die Regierung weniger zu sagen wie hier in Berlin. Sie hat das Verbot der proletarischen Hundertschaften hingenommen, ohne etwas zu unternehmen. Sie duldet die Wegnahme der Landespolizei und den Einmarsch der Reichswehr. Nach diesen 14 Tagen der Rückzugspolitik können wir nicht mit der Besetzung der Betriebe kommen. Wir sind nicht gewillt, in Berlin eine neue Märzaktion zu machen, wenn in Sachsen geschlafen wird.« 113 Diese Wendung ist bemerkenswert - in letzter Minute glaubte Scholem, die Revolution sei doch nicht so drängend. Die Verantwortung dafür schob er der Zentrale und ihrer Sachsenpolitik zu. Denn mit dem Eintritt der KPD in die Landesregierungen von Sachsen und Thüringen hatte im Oktober 1923 der Revolutionsplan der KPD seinen Anfang genommen. Die dort auch von der SPD unterstützten proletarischen Hundertschaften sollten als bewaffnete Vorhut der Revolution ausgebaut werden. Der Staatsapparat war jedoch keine neutrale Instanz, die sich für beliebige Ziele einsetzen ließ. Das zuständige Wehrkreiskommando der Reichswehr entzog der sächsischen Regierung schlicht die Verfügung über die Polizei. 114 Es folgte ein Gegenschlag von ganz oben: In Abstimmung mit der Reichsregierung erließ Reichspräsident Friedrich Ebert am 20. Oktober 1923 eine Notverordnung und ermächtigte das Militär, die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen abzusetzen. Dies war nichts anderes als ein Putsch, notdürftig verborgen durch das Ausnahmerecht. 115 Gleichzeitig war es ein Schlag gegen die eigene Partei: Der Sozialdemokrat Ebert mobilisierte das Militär, um mißliebige Koalitionsexperimente der eigenen Genossen vom linken Parteiflügel gewaltsam zu beenden. Werner Scholem übte genau an diesem Tag seine Kritik an Betriebsbesetzungen in Berlin - die Gegenseite schien ihm zu stark. Doch die Zentrale der KPD fühlte sich in ihren Revolutionsplänen bestätigt. Nach dem Schlag gegen die Arbeiterregierungen beschloss sie einstimmig, Aufrufe zu Generalstreik und bewaffnetem Kampf herauszugeben. Das Signal sollte ein Betriebsrätekongress am 21. Oktober 1923 in Chemnitz geben. Doch die Betriebsräte weigerten sich. 116 Heinrich Brandler hatte die Wahl politischer Arbeiterräte und den Generalstreik gefordert. Der SPD-Minister Georg Graupe drohte als Antwort, 113 Bericht über die Verhandlungen in der Berliner Bezirksleitung und im Berliner Zentralvorstand am 20. Oktober 1923; RGASPI, Briefe an G.E. Sinowjew, F. 324, op. 1, d. 555. 114 Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, S.-94. 115 Begründung waren die proletarischen Hundertschaften. Sie wurden in Sachsen durch offizielle Regierungsbeschlüsse zur Abwehr des Rechtsterrorismus eingerichtet. Trotz der Revolutionspläne der KPD betont Harald Jentsch, dass die Hundertschaften keine Gefahr für die Republik darstellten - wegen ihres Selbstverständnisses als Abwehrorganisation, aber auch wegen ihrer schlechten Bewaffnung (vgl. ders., Die KPD und der »deutsche Oktober«, S.- 99). Im preußischen Landtag erklärte der SPD-Abgeordnete Heilmann es sogar Ende November 1923 noch für legal, eine bewaffnete Hilfspolizei aufzustellen. Heilmann wollte sich damit gegen die Forderungen der KPD nach Selbstschutz absetzen, lieferte aber unabsichtlich ein Argument für eben diesen: durch eine gewählte Regierung eingesetzt, wäre er legal. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 278. Sitzung am 28. November 1923. 116 Vgl. Jentsch, die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-230ff. <?page no="257"?> 257 4.3 Vom Ruhrkampf zum »deutschen Oktober« 1923 - Neue Konflikte in der KPD 257 mit seinen Genossen die Konferenz zu verlassen. Er stand damit nicht alleine. Die Lohnkämpfe in der Inflationsphase, der Kampf ums tägliche Überleben hatten vielerorts mehr Erschöpfung als revolutionäre Euphorie erzeugt. 117 Die Gedanken der Arbeiterinnen und Arbeiter kreisten um die Frage, wie sie trotz Lohnentwertung ohne Hunger über die Runden kommen konnten. Zudem hatte die neue Regierung Stresemann bereits Ende September den Ruhrkampf beendet und damit deeskaliert. Der Antrag auf Generalstreik wurde deshalb durch die Chemnitzer Betriebsrätekonferenz an eine Unterkommission verwiesen und erhielt damit ein »Begräbnis dritter Klasse«. 118 Heinrich Brandler ließ sofort alle Revolutionspläne absagen. Die KPD hätte sich so aus der Affäre ziehen können, ohne dass ihre Pläne bekannt geworden wären. Doch unter dem Kommando des örtlichen KPD-Verantwortlichen Ernst Thälmann begannen in Hamburg Aufstandsvorbereitungen, als wäre nichts geschehen. 119 Bis heute ist unklar, wie es soweit kommen konnte. Wurde in der bisherigen Literatur oft ein fehlgeleiteter Kurier verantwortlich gemacht, so existieren mittlerweile Belege dafür, dass die Hamburger KPD sehr wohl über das negative Ergebnis der Konferenz informiert war. Wollte Thälmann als Mitglied der KPD-Opposition die Revolution wider besseres Wissen erzwingen? 120 Was auch immer der Auslöser war - die Folge war eine Katastrophe. Mehrere Hundert Hamburger Kommunisten erhoben sich, erstürmten mehr als ein Dutzend Polizeireviere, erbeuteten dort Waffen und lieferten sich anschließend Barrikadenkämpfe mit Polizei und Militär. Die Aktion endete als Fiasko. Die Kämpfer wurden überwältigt und verhaftet, die KPD am 23. November nicht nur in Hamburg, sondern im ganzen Reich verboten. 121 In dieser Situation hielt Scholem seine letzte große Rede im Preußischen Landtag. Doch sein Weckruf war nur ein trotziger Abgesang auf gescheiterte Träume. Für die Kommunisten war das Ganze ein Déjà-vu aus dem März 1921. Sie hatten die Stimmung der Massen völlig falsch eingeschätzt - trotz aller Zerfallserscheinungen gab es kaum Kampfbereitschaft. Die Fixierung auf den bewaffneten Aufstand nach russischem Muster hatte die Partei blind gemacht. 122 In den Augen der Bevölkerung war sie nun als terroristische Gruppierung vogelfrei, die verfassungswidrige Absetzung der Arbeiterregierungen war vergessen. Angesichts dieser ausgefallenen Revolution hätten alle Fraktionen der KPD Anlass gehabt, Einkehr zu halten. Es galt zu überlegen, wo ihre Verantwortung an dieser Entwicklung lag und ob nicht der Revolutionseuphorie eine falsche Wahrnehmung der Krise zugrunde lag. Doch dies geschah nicht. 117 Klaus Kinner, Der Deutsche Kommunismus - Selbstverständnis und Realität, Bd. 1, S.-61. 118 Diesen Begriff fand August Thalheimer 1931 in seiner Broschüre »August 1923: Eine verpaßte Revolution? Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923«, Berlin 1931. 119 Harald Jentsch, Der »Deutsche Oktober« 1923, S.-237ff. 120 Vgl. ebenda, S.-242f. 121 Das Verbot dauerte bis zum 1. März 1924. Vgl. Hermann Weber, die Wandlung der KPD, Bd. 1, S.-52f. 122 Klaus Kinner spricht von einer Entkoppelung von »politischer Realität« und »politischem Wollen« und konstatiert: »Eine zunächst aussichtsreiche Entwicklung, ein bemerkenswerter Zuwachs an Einfluß und Aktionsfähigkeit der KPD verführten die Träger politischer Entscheidungen zu blankem Voluntarismus.« Vgl. Klaus Kinner, Der Deutsche Kommunismus, S.-60. <?page no="258"?> 258 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) 4.4 Der Griff nach der Führung - Scholem und Genossen erobern die KPD-Zentrale Die KPD, seit langem innerlich zerrissen, fand durch den Schock der Niederlage nicht zur Einheit. Stattdessen eskalierte der Konflikt in Schuldzuweisungen, Polemiken und persönlichen Diffamierungen. Die Vergangenheit wurde nicht zur Lehre für die Zukunft, sondern zur Waffe im Kampf um die Macht in der Partei. Dieser Kampf wurde nicht nur in Berlin geführt. Auch in Moskau hatte die Niederlage einen Schock hinterlassen. Der damals außerhalb Russlands noch unbekannte Stalin hatte offen ausgesprochen, welche Hoffnungen die Komintern in die deutsche Revolution setzte - sie war eine Existenzfrage für die Sowjetunion. Wie sollte es nun weitergehen? Lenin, dessen Charisma die widerstreitenden Köpfe in der Russischen KP bisher zusammengehalten hatte, konnte zu dieser Debatte nichts mehr sagen. Er lag gelähmt von mehreren Schlaganfällen in einem Sanatorium in Gorki. Die Debatte um die Zukunft der Revolution wurde auch zum Kampf um seine Nachfolge. Sowohl in Berlin als auch in Moskau kämpften Thronanwärter um die Deutung der Vergangenheit. Einfache Erklärungen waren gefragt, Köpfe sollten rollen, Selbstkritik war gefährlich. Auf Seiten der Berliner Opposition stand der Schuldige für die Niederlage des »Deutschen Oktober« daher schnell fest: die Politik des »krassen Rückzugs« unter Heinrich Brandler. So hatte es Werner Scholem bereits einen Tag vor der Chemnitzer Konferenz formuliert. Doch mit seiner eigenen Warnung vor Betriebsbesetzungen in Berlin hatte Scholem selbst schon vor Brandlers Absage den Rückzug angedeutet. Er war damit ebenso verstrickt in die Ereignisse wie sein Oppositionskollege Ernst Thälmann, der das Hamburger Fiasko zu verantworten hatte. Dennoch tat die Opposition im Folgenden, als ob sie völlig unbeteiligt gewesen wäre. Heinrich Brandler dagegen übernahm die persönliche Verantwortung für die Absage des Revolutionsplans. 123 Die Opposition hatte wenig Bedenken, seine Ehrlichkeit auszunutzen. Ruth Fischer forderte bereits am 29. Oktober die Ablösung der Brandler-Zentrale. 124 Sie eröffnete damit die letzte Runde im Machtkampf, den Werner Scholem im Frühjahr 1923 erstmals offen erklärt hatte. Um dafür besser aufgestellt zu sein, musste die Linke zunächst ihren Mitstreiter Arkadij Maslow aus dem Moskauer Zwangsexil zurückholen. Diese Aufgabe fiel Scholem zu. Am 30. Oktober 1923 wandte er sich in einem Brief direkt an Grigorij Sinowjew als Vorsitzenden der Komintern und forderte energisch die Rückkehr Maslows. Gegen diesen bestand mittlerweile der Vorwurf, er habe nach einer Verhaftung 1922 Geheimnisse verraten, sei vielleicht sogar ein Spitzel. Maslow hatte beim Polizeiverhör und später vor Gericht versucht, sich als Gesandter im Auftrag der Sowjetunion zu inszenieren, um der Strafverfolgung zu entgehen. 125 Die Richtlinien der KPD hingegen sahen im Falle einer Verhaftung striktes Schweigen vor. Auch wenn Maslows Vorgehen nichts mit Spitzelei zu tun hatte - die Tatsache, dass er seinen Fehler nicht zugab, ließ die Gerüchte nicht verstummen. 126 123 Vgl. Hermann Weber, Die Wandlung der KPD, Bd. 1, S.-51; sowie Harald Jentsch, Die KPD und der »deutsche Oktober«, S.-271f; sowie ders. »Brandlerismus« in der KPD, in: Simone Barck u. Ulla Plener (Hg.), Verrat - Die Arbeiterbewegung zwischen Trauer und Trauma, Berlin 2009. 124 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-274. 125 Ruth Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus, S.-443. 126 Schon am 2. Februar 1923 hatte Paul Weyer in einer BL-Sitzung Maslow als Spitzel verdächtigt. Vgl. <?page no="259"?> 259 4.4 Der Griff nach der Führung - Scholem und Genossen erobern die KPD-Zentrale 259 Werner Scholem schrieb nun zu seiner Rettung und betrat mit seinem Brief erstmals die Bühne der Komintern. Nachdem er Maslow gegen alle Vorwürfe verteidigt hatte, betonte Scholem die Verstrickung der russischen Führung in das Oktoberdesaster: »In einer solchen Situation ist die Mitgliedschaft geneigt, auch das Vertrauen zur Exekutive aufzugeben, weil bekannt ist, dass Genosse R[adek] die sächsische Politik geführt, Brandler, dessen Absetzung stürmisch im ganzen Reiche gefordert wird, gedeckt und die Verhinderung des Kampfes beim Einmarsch der Reichswehr in Sachsen durchgesetzt hat. Sie, Genosse Sinowjew, haben seit dem Halleschen Parteitag bei uns allen persönlich ein besonderes Vertrauen. Wir würden alle Debatten, die sich mit Naturnotwendigkeit ergeben, vielleicht überstehen, wenn der Fall Maslow dabei ausschalten könnte [sic! ]. Wir erwarten deshalb, dass Sie sich persönlich mit Ihrem ganzen Einfluss dafür einsetzen werden, dass die Sache anfang November erledigt und Maslow zurückgeschickt wird.« 127 Unausgesprochen blieb die Tatsache, dass Sinowjew als Kopf der Komintern ebenso Verantwortung für die Politik Brandlers trug. Scholem wusste von den Führungsstreitigkeiten in der russischen KP, bei dem sich auf der einen Seite Karl Radek und Leo Trotzki, auf der anderen Seite Grigorij Sinowjew und Josef Stalin gegenüberstanden. Geschickt ergriff er Partei für Sinowjew und führte als Druckmittel die wütende Basis der KPD an, die »geneigt« sei, das Vertrauen in die Internationale und ihren Vorsitzenden Sinowjew aufzugeben. Jetzt musste die Scholem nur noch dafür sorgen, dass die Basis sich tatsächlich seiner Version anschloss und »stürmisch« die Absetzung Brandlers forderte. Dazu wurde am 12. November 1923 eine Massenversammlung in Berlin organisiert, zu der die Bezirksleitung 2500 Mitglieder mobilisieren konnte. Werner Scholem hielt das Hauptreferat, griff Brandler frontal an und forderte die Einberufung eines Parteitages »zur notwendigen politischen und organisatorischen Umstellung der Partei«. 128 Scholems Rede riss die Massen mit - als Fritz Heckert die Zentrale verteidigte, wurde er minutenlang durch große Unruhe unterbrochen, konnte kaum ausreden und bekam am Ende nur zehn Gegenstimmen zusammen. Die Opposition ließ von nun an keine Gelegenheit aus, um den Druck zu erhöhen. 129 Rückendeckung bekam sie dabei von Sinowjew, der in einem »geschlossenen Brief« heftige Kritik an der Zentrale übte. 130 Scholems Manöver war aufgegangen. Obwohl die in Berlin anwesenden Bolschewiki Radek und Pjatkow in ihren Berichten die Berliner KPD kritisierten, schlug das Pendel mehr und mehr zugunsten der Opposition aus. Es kam keine einheitliche Antwort der KPD auf den »geschlossenen Brief« zustande, und daher nutzte auch Ruth Fischer die Zeit, um durch weitere Appelle an Sinowjew die Moskauer Führung auf ihre Seite zu ziehen. Hier kam es nun zur bereits erwähnten Panne, dass Fischers Briefe bei einer Durchsuchung der KPD-Parteizentrale konfisziert und im Landtag öffentlich verlesen wurden. Öffentlich wurde dabei auch Kritik von Karl Radek aus dem Exekutivko- SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 16. Harald Jentsch berichtet schon für 1921 von Spitzelgerüchten, Vgl. ders. die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-310f. 127 SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 128, Blatt 87. Vgl. auch Harald Jentsch, »Deutscher Oktober« 1923 und ders. »Brandlerismus« in der KPD, a.a.O., S.-83. Scholem bekam jedoch zunächst keine Antwort.d 128 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-279. 129 Zur Kampagne gegen Brandler vgl. Jens Becker, Heinrich Brandler - eine politische Biographie, S.-241- 252 sowie Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923 und ders., »Brandlerismus« in der KPD, a.a.O. 130 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-279, S.-280ff. <?page no="260"?> 260 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) mitee der Komintern an der Berliner KPD. 131 Die Berliner wurden für ihre Tatenlosigkeit gerügt: sie hätten zwar die Zentrale zwar kritisiert, weil sie im Oktober »dem bewaffneten Kampfe ausgewichen« sei, aber selbst in keiner Weise mobilisiert. Erinnert man sich an Scholems Bedenken im Oktober 1923, kam diese Version der Wahrheit ziemlich nahe. Die Opposition forderte Revolution, hatte aber im entscheidenden Moment selbst Bedenken. Dies leugneten Scholem und Genossen jedoch schlicht. Ihr Aufstieg gründete sich auf die Legende vom zögernden Brandler - das eigene Zögern wurde verdrängt. Als Werner Scholem am 28. November 1923 seine letzte große Rede im Landtag hielt, beschwor er offensiv die Einheit der KPD. Doch dies geschah dies wider besseres Wissen für die Bühne des Parlaments. 132 Denn hinter den Kulissen tobten die Grabenkämpfe. Anfang Dezember spaltete sich neben der Brandlerführung und den Linken eine dritte Richtung ab - die sogenannte »Mittelgruppe«. Sie positionierte sich sich zwischen Opposition und Zentrale, was Brandler und seine Getreuen weiter isolierte. Die politische Arbeit blieb indessen liegen. Werner Scholem beschrieb die Situation Ende 1923 in einem weiteren Brief an Sinowjew als »gänzlich unerträglich«. 133 Die Partei habe »überhaupt keine Politik und überhaupt keine Linie mehr«, der Parteiapparat laufe »vollkommen leer«, zu aktuellen politischen Fragen gäbe es keine Stellungnahme. Die Sitzungen der Zentrale seien von einer »ungeheuren Unfruchtbarkeit«, einziges Streben der Leitung sei die Frage: »Wie kann man die Opposition aus der Partei herausschmeißen.« Weil die Opposition mittlerweile jedoch in den Bezirken und an der Basis längst eine Mehrheit habe, liefen diese »brutalsten Gewaltmaßnahmen« auf eine Spaltung der KPD hinaus - wenn die Komintern nicht Einhalt gebiete. Scholem erhöhte damit noch einmal den Druck: wenn Sinowjew die KPD retten wolle, müsse er die Linke unterstützen. Die Mehrheit in den Bezirken hatte Scholem in zahlreichen Veranstaltungen organisiert. Von einem Anhänger der Zentrale wurde er etwa auf einer Oppositionskonferenz in Hannover gesichtet, »wo er auf das schofelste und blödeste Parteitaktik machte.« Ein gewisser »Joseph«, der dies in einem Brief an Clara Zetkin berichtete, nahm Scholems Auftritt als Anlass zum Gegenschlag: »Wir gehen jetzt zur organisierten Fraktionsarbeit in Berlin über. […] Wenn jetzt Sinowjew nicht mit der Opposition ganz offen bricht und neue Kompromisse versucht, dann bedeutet das die Spaltung der Partei.« 134 Zur Abwendung dieser Drohung wurden wieder einmal Spitzengespräche beim großen Bruder angesetzt. Die Beratungen zwischen der Komintern und den mittlerweile drei Richtungen in der KPD fanden vom 8. bis 21. Januar 1924 statt. Erstmals reiste auch Werner Scholem 131 Brief vom 19. November 1923, vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 278. Sitzung am 28. November 1923. Zur Auseinandersetzung zwischen Ruth Fischer und der Komintern im November 1923 vgl. auch Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-287f. Zur Echtheit des Briefes siehe unten. 132 Eine wenig erfolgreiche Inszenierung - der SPD-Abgeordnete Heilmann wies mit offener Genugtuung darauf hin, dass Scholems Vorredner Ernst Meyer wohl »nicht zur Richtung der Frau Ruth Fischer« gehöre und legte damit den Finger in die Wunde der zerrissenen Partei. Vgl. Protokolle des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1924, 278. Sitzung am 28. November 1923. 133 Scholem und andere an das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, 10. Dezember 1923, RY 1/ I2/ 3/ 208b, Bl. 528f. Neben Scholem als Erstunterzeichner unterschrieben auch Arthur Rosenberg, Oskar Wischeropp, Anton Grylewicz, Max Hesse und andere Berliner KPD-Funktionäre. 134 Iozef. P’ismo K Tsetkin [Brief »Josef« an Clara Zetkin]. 01. Dezember 1923, RGASPI, F. 528, op. 1, d. 2359. <?page no="261"?> 261 4.4 Der Griff nach der Führung - Scholem und Genossen erobern die KPD-Zentrale 261 als Vertreter der Opposition nach Moskau. 135 Seine energische Briefdiplomatie hatte ihn bekannt gemacht, was auch von den Gegnern anerkannt wurde. Clara Zetkin sprach in ihren wenig schmeichelhaften Briefen von der Opposition nur noch als »Fischer-Maslow- Scholem Clique«. 136 Dieses Trio sollte die Geschichte der KPD einschneidend prägen. Es war jedoch nur eingeschränkt handlungsfähig, solange gegen Maslow der Spitzelvorwurf schwebte. Die Moskauer »Maslow-Kommission« zur Überprüfung der Spitzelvorwürfe war daher mehr als ein Nebenschauplatz, und Werner Scholem setzte sich hier mit größter Energie für seinen Genossen ein. 137 Maslow selbst revanchierte sich später in wenig schmeichelhafter Weise für die Rettungsaktion. Zwölf Jahre nach dem Geschehen verfasste er im Pariser Exil seinen Roman »Die Tochter des Generals«, zu dessen Helden er einen gewissen »Gerhard Alkan« erhob - ein kaum verhülltes Pseudonym für Werner Scholem. 138 Der literarische Scholem des Romans hat seinen ersten Auftritt bei genau jener Moskauer Konferenz im Januar 1924. 139 Interessanterweise erwähnt Maslow seine eigene peinliche Lage mit keinem Wort, sondern widmet sich ganz der Zeit zwischen dem Verhandlungsgeschehen. Gerhard Alkan alias Werner Scholem erscheint als der »leichtfüßige, schlackerohrige und sitzungsfreie Liebhaber« und wird »von den blonden Stenotypistinnen meist mit Wohlwollen behandelt.« Von seinem proletarischen Zimmergenossen Paule, in dem man leicht Max Hesse wiedererkennt, wird er deswegen als »Lümmel« geschmäht - was aber nicht viel hilft. Denn der Scholem des Romans hat in Liebesdingen mithilfe eines Notizbuch voller Damen geradezu außerordentlichen Erfolg. Er zieht eine junge Genossin in seinen Bann, zeugt mit ihr heißblütig ein Kind und schafft es nebenbei noch, die deutsche Delegation zur Disziplin anzuhalten: »Natürlich versäumte Alkan auch während dieser kurzen Musterehe keine Sitzung. Er forderte nur, dass auch Thälmann gefälligst ebenso pünktlich erscheinen solle. Das war Thälmann nicht anzugewöhnen, und der Notizbuchmensch brüllte den Hamburger deshalb immer wieder heftig an. Gegen diese ›Schnauze‹ kam Thälmann einfach nicht an, außerdem war er im Unrecht, und daher kuschte er jedesmal wie ein großer ungelenker Köter vor dem kleinen, dürren Alkan, der in solchen Augenblicken, trotz seiner abstehenden Ohren und seines ewigen Notizbuchs ganz und gar nicht komisch wirkte.« 140 Für die Rekonstruktion des eigentlichen Konferenzgeschehens verläßt uns Maslows literarisches Genie, und wir sind auf die etwas trockeneren Protokolle angewiesen. Doch auch die Sitzungen hatten ihre ganz eigene Dramatik, historisch vielleicht folgenreicher als Scholems Wirkung auf das weibliche Geschlecht. 135 Mit ihm traten Ruth Fischer, Ernst Thälmann, Arthur König und Max Hesse als deutsche Delegation auf, ebenso Maslow, der sich bereits in Moskau befand - vgl. Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923, Dokument 98, S.- 429. Scholem reiste bereits am 15. Januar 1924 ab, vgl. Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, S.-309. 136 Vgl. Tsetkin P’ismo G. E. Zinov’evu [Brief Clara Zetkin an G. E. Sinowjew], 26. Februar 1924, RGASPI, Komintern, F. 528, op. 2, d. 58. Zetkin führte intensiven Briefwechsel mit Sinowjew und unterstützte Brandler. 137 Vgl. Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, S.-307f und S.-310ff. 138 Arkadij Maslow, Die Tochter des Generals, herausgegeben von Berit Balzer, Berlin 2011 [geschrieben in Paris 1935]. Die Biographien Scholems und des Protagonisten Gerhard Alkan sind nahezu deckungsgleich, bis hin zur Namensgleichheit von Kinden und Ehefrau, die im Roman »Elly« heißt. Jedoch sind Handlung und Figuren dramatisiert und verfremdet. 139 Maslow, die Tochter des Generals, S.-26-32. 140 Arkadij Maslow, Die Tochter des Generals, S.-31. <?page no="262"?> 262 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Zum Richter über Arkadij Maslow war ein aufstrebendes Mitglied des russischen Zentralkomitees namens Josef Stalin bestellt. Stalin hatte einen sicheren Machtinstinkt und betrieb seinen Aufstieg langsam, indem er den Parteiapparat mit Günstlingen besetzte - während sein Gegner Trotzki als Volkstribun auf das eigene revolutionäre Charisma vertraute. 141 Zur Verteidigung Maslows trat Scholem auf, sekundiert von Max Hesse, der in Sitzungen genauso gut schimpfen konnte wie sein alter ego Paule im Roman: Auf einer früheren Moskaureise hatte er er mit den Worten »Scholem ist ein Verbrecher« die Absetzung seines Genossen gefordert. 142 Der literarische Streit zwischen beiden schien reale Grundlagen zu haben. Doch was ein Desaster hätte geben können, endete in trauter Harmonie. Nicht nur Scholem und Hesse arbeiteten zusammen. Auch Stalin der, der noch Wochen zuvor Maslow und die deutsche Opposition heftig kritisiert hatte, entdeckte seine Sympathie für die Linke. 143 Er konnte mit kräftiger Unterstützung Scholems die Kommission von der Unschuld Maslows überzeugen. 144 Das Urteil war mit drei zu vier Stimmen denkbar knapp und die Begründung nicht ehrenvoll - Maslow wurde vom Spitzelvorwurf freigesprochen, obwohl sein Verhalten der Polizei gegenüber »feige und leichtsinnig« gewesen sei. 145 Stalin kommentierte sein Umschwenken jovial: »Es ist gar nichts beschämendes, wenn man einmal die Meinung ändert, nachdem man das Material, die Leute, die Tatsachen kennen gelernt hat. Deswegen brauchen wir uns als Revolutionäre gar nicht zu schämen.« 146 Geschämt zu haben scheint sich einzig Maslow, der die Episode in seinem Roman stillschweigend überging. Maslows Freispruch zeigte, dass die Linke das Bündnis um Stalin und Sinowjew für sich gewonnen hatte. Gemeinsam mit Kamenew bildeten die beiden ein »Triumvirat« um den Einfluss des charismatischen Leo Trotzki zurückzudrängen. Trotzki wiederum wurde vom Deutschlandexperten Karl Radek unterstützt. Auf einer Tagung des Zentralkomitees der Russischen Kommunisten griff Stalin nun den Rivalen Radek für dessen »Unterschätzung der Linken in Deutschland« an. Lauthals lobte Stalin die Opposition und nannte dabei an erster Stelle seinen neuen Bekannten Werner Scholem: »Die Linke in Deutschland, das sind Leute wie die Genossen Scholem, Hesse, Ruth Fischer u.a. (Ich beziehe mich nicht auf 141 Vgl. Isaak Deutscher, Stalin - eine politische Biographie, Berlin 1990. 142 Beratungen der Zentrale der KPD und der BL Berlin mit den russischen Mitgliedern des EKKI, SAPMO- BArch, RY 5/ I 6/ 10/ 78, Bl. 77. 143 Laut Ruth Fischer war Stalin Drahtzieher hinter der Kommission. Erst nachdem er sich von Brandler enttäuscht sah, änderte er seinen Kurs und »gab sich als der Führer, der kein angetanes Unrecht sehen kann, ohne gleich selbst einzugreifen.« Ruth Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus, S.-443. 144 Scholem gab Ruth Fischer und Hans Neumann als Zeugen dafür an, dass Brandler, Hans Pfeiffer, Arthur Ewert und Heinz Neumann in privaten Sitzungen über eine Instrumentalisierung des Fall Maslow im Parteistreit diskutiert hätten. Vgl. Brief Wilhelm Pieck an die Zentrale der KPD vom 1. Januar 1924, in: Bernhard H. Bayerlein, Leonid G. Babicenko, Frichrich I. Firsow, Alexander J. Vatlin (Hg.): Deutscher Oktober 1923 - Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, Dokument Nr. 93, S.-416ff, hier S.-420. 145 Zur Verteidigung muss gesagt werden, dass Maslows Gegner den Vorwurf gezielt lanciert hatten. Ein Vertrauter namens »Josef« drohte im Dezember 1923 in einem Brief an Clara Zetkin, Maslows Aussagen zu veröffentlichen: »Wenn, wie es hier verlautet, Maslow rüber geschickt wird, ein Gerücht behauptet, dass er schon unterwegs sei, dann veröffentliche ich sein Protokoll von 1a und nehme den Kampf auf der ganzen Linie auch mit Sinowjew auf.« - »1a« war das Kürzel für die politische Abteilung der Berliner Polizei. Vgl. Iozef. P’ismo K Tsetkin [Brief »Josef« an Clara Zetkin]. 1. Dezember 1923, RGASPI, F. 528, op. 1, d. 2359. 146 Zit. nach Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, S.-313. Der Beschluss findet sich in in: Bernhard H. Bayerlein u.a.(Hg.), Deutscher Oktober 1923, Dokument Nr. 96, S.-426. <?page no="263"?> 263 4.4 Der Griff nach der Führung - Scholem und Genossen erobern die KPD-Zentrale 263 den Führer der Linken, Genossen Maslow). Theoretisch sind sie vielleicht wenig geschult, als Praktiker und Agitatoren jedoch, als mit den revolutionären Massen verbundene Leute sind sie tolle Burschen. Sie erinnern mich sehr an unseren Rosal in Kronstadt, an unsern Sluckij in Petrograd und Bagdadev in Petrograd.« 147 Werner Scholem war damit in einem Atemzug genannt mit den Helden des Roten Oktober 1917. Er hatte für die Opposition potente Unterstützung gewonnen und Maslow, dem bisherigen spiritus rector der Linken, den Hals gerettet. Von nun an gab es Rückenwind aus Moskau. Stalin hatte schon am am 2. Januar vorgeschlagen, für die KPD eine neue Führung aus Vertretern der Mittelgruppe und der Linken zu bilden. 148 Auch Sinowjew hatte sich nach Einzelgesprächen der Linken angenähert und ihre Version vom Scheitern des Oktoberaufstandes übernommen. Die Verhandlungen gingen über mehrere Tage, Scholem und die Linke pokerten hoch, drohten zwischenzeitlich sogar mit vorzeitiger Abreise und waren am Ende erfolgreich. 149 In der Abschlussresolution wurde die Oktoberniederlage zum Ergebnis von opportunistischen Führungsfehlern erklärt. Über die neue KPD-Führung solle ein Parteitag in der zweiten Märzhälfte entscheiden, die starke Rolle der Linken war bereits ausgemacht. 150 Die Verhandlungen endeten am 21. Januar 1924, ein glatter Sieg für Scholem und die Linke. Für die Revolutionäre der Welt blieb dieser Tag jedoch in trauriger Erinnerung. Am 21. Januar 1924 verstarb in Gorki bei Moskau Wladimir Iljitsch Lenin, Gründer der Bolsche- 147 Josef Stalin, Die deutsche Revolution und die Fehler des Genossen Radek, Aus dem Bricht auf dem Plenum des Zentralkomitees der RKP (B), 15. Januar 1924, in: Bernhard H. Bayerlein u.a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923, S.-449. 148 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-306. 149 Die deutsche Oppositionsdelegation hatte Sinowjews Thesen am 6. Januar 1924 zunächst abgelehnt und um Aussprache gebeten. Nur unter »größter Selbstüberwindung« erklärte sie sich schließlich bereit zu weiteren Verhandlungen. Vgl. Bernhard H. Bayerlein u.a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923 - Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Dokument Nr. 96, S.-426 und Dokument Nr. 98, S.-429. 150 Ein Wermutstropfen war lediglich die Tatsache, dass Einheitsfront und Mitarbeit der KPD in den ADGB- Gewerkschaften festgeschrieben wurde. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-333- 344. »Moskauer Konferenz, Januar 1924 - Arthur König, [Karl] Jannack, [Werner Scholem], Ernst Thälmann, Arkadij Maslow, Max Hesse, Ruth Fischer, [? ], Pfeiffer-Ruhrgebiet (Emigrant von 1923, in Rotarmisten- Uniform)« (Beschriftung von Werner Scholem selbst, Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="264"?> 264 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) wiki und treibende Figur der Russischen Revolution. Mit den Beratungen, die an seinem Todestag ihr Ende fanden, begann eine neue Ära in der Kommunistischen Internationale. Eine Ära, in der die Russische Partei die uneingeschränkte Führung der Komintern übernahm, weil sie das Vertrauen in eine Revolution in Westeuropa verloren hatte. 151 Werner Scholem hatte dieses Vertrauen nicht verloren. Er und seine Genossen hatten durch unermüdliche Opposition daran mitgewirkt, dass die KPD immer abhängiger wurde von Moskauer Interventionen. Geltungsdrang und der Wille zur Macht spielten dabei ihre eigene Rolle. Doch die Protokolle zeigen ebenso, dass gerade Scholem stets im Glauben handelte, die KPD vor Opportunismus und Versumpfung zu retten - für die Weltrevolution. Nach der Rückkehr der Delegationen aus Moskau führten Scholem und Genossen den Machtkampf weiter. Zwar hatte die Komintern Brandler fallenlassen, aber nach wie vor favorisierte auch Sinowjew als Vorsitzender der Komintern eine Zentrale unter Einbindung oder gar Führung der Mittelgruppe. Allerdings war die Komintern Anfang 1924 weder theoretisch noch faktisch in der Lage, der KPD einfach per Beschluss eine neue Führung zu geben. Nicht nur nach den Statuten von Komintern und KPD bedurfte es dazu eines Parteitages, sondern ganz real lag die Entscheidung bei den Bezirken und der Mitgliedschaft. Die Geschichte der Berliner Opposition zeigt, dass auch im Rahmen der »21 Bedingungen« organisierte Opposition möglich war, wobei das Gewicht der Opposition auf Bezirksparteitagen und Versammlungen durch demokratische Abstimmungen festgestellt wurde. Obwohl es bereits in der Levi-Krise politische Ausschlüsse gegeben hatte, fehlte der KPD-Zentrale in den Jahren 1921-1924 die Macht, Oppositionskräfte durch reine Disziplinarmaßnahmen zu zerschlagen. Es gab eine also noch parteiinterne Demokratie in der KPD, die Erfolge der Linken resultierten gerade aus einer Mobilisierung der Basis. Auch Scholems Bündnis mit Sinowjew und Stalin war nur möglich aufgrund der linken Hausmacht in Berlin und Hamburg, wogegen Moskau noch keine eigene Hausmacht in der KPD hatte. Scholem sollte diese liefern - erwies sich jedoch schnell als Kopf mit eigenen Ideen. Die Linke Opposition mobilisierte Anfang 1924 kräftig weiter, um sich auf dem angekündigten Parteitag möglichst viel Einfluss zu sichern. Nachdem im Februar 1924 die alte Zentrale abgesetzt worden war, bereitete die Linke mit Angriffen auf die Mittelgruppe ihren weiteren Durchmarsch vor. Sie tat dies so offensiv, dass der neue Partner Sinowjew sich in einem Brief über die Verletzung der Moskauer Beschlüsse beschwerte. 152 Insbesondere Werner Scholem war ihm ein Dorn im Auge. Auf einer Sitzung der Exekutive der Komintern am 14. März bezeichnete er Scholem als Verleumder, weil er in Berlin verkünde, die Komintern habe die Einheitsfront abgelehnt. Zudem lehne Scholem jede Teilforderung ab und agitiere gegen eine Arbeit in den ADGB-Gewerkschaften. Ein solcher Kurswechsel ohne Konsultation der Internationale sei nicht nur politisch falsch, sondern eine Illoyalität, die die Existenz der Komintern in Frage stelle. Die Opposition solle daher zum Rapport in Moskau erscheinen. 153 Die Linke gab jedoch wenig auf Sinowjews Appelle. Scholem und Genossen verweigerten die Reise nach Moskau und verwiesen selbstbewusst auf ihren Rückhalt in der Mitgliedschaft. Werner Scholem erstellte eigens eine Statistik, der zufolge 151 Ebenda, S.-344. 152 G.E. Sinowjew an Thälmann, Maslow und Fischer vom 7. März 1924, zit. nach Harald Jentsch, Die KPD und der deutsche Oktober, S.-378. 153 Harald Jentsch, Die KPD und der deutsche Oktober, S.-382. <?page no="265"?> 265 4.4 Der Griff nach der Führung - Scholem und Genossen erobern die KPD-Zentrale 265 die Mittelgruppe der KPD auf den jüngsten Bezirksparteitagen in nur sechs von 23 Bezirken eine Mehrheit errungen hatte. 154 Und selbst diese seien nur zustande gekommen, weil kein Redebeitrag der Linken zugelassen wurde. Überall wo die Linke auftrat, habe sie auch eine Mehrheit errungen. Scholem schickte seine Aufstellung direkt an Sinowjew. Er wollte notfalls auch gegen den Willen Moskaus die Zentrale der KPD übernehmen. Sinowjew musste dies zähneknirschend akzeptieren. Er verzichtete auf ein erneutes Erscheinen der Linken in Moskau, forderte aber deren Zusage, sich in der neuen Zentrale mit einer Zweidrittelmehrheit zu begnügen. Gleichzeitig wollte er die Zentrale durch »10-15 neue Mitglieder aus den Reihen der Arbeiter« ergänzen - womit der Einfluss der Linken entscheidend verwässert worden wäre. 155 Der Vorschlag war nicht annehmbar für Scholem. Er forderte von Sinowjew: »Da sich herausgestellt hat, daß die KPD hinter uns steht, verlangen wir nun aber, daß dem Willen der Partei Rechnung getragen wird und daß keine Manöver gemacht werden, um diesen klaren Willen zu verschleiern.« 156 Scholem zitierte in seinem Brief eine Resolution der KPD-Neukölln, welche sich gegen »dunkle Machenschaften« der Mittelgruppe wandte und an die Komintern appellierte. Die Formulierung zeigt eine Tendenz der Opposition, sich in Konflikten als Opfer von Verschwörungen oder Schiebungen hinzustellen. Sie bezeugt aber auch, wie geschickt man die Basis durch selbst entworfene Resolutionen hinter sich formierte. Bei der Orchestrierung solcher Manöver spielte Werner Scholem eine entscheidende Rolle. Er nutzte seinen wachsenden persönlichen Einfluss jedoch nicht vorbehaltlos zur Unterstützung von Fischer oder Maslow. Wie schon im Jahr zuvor kritisierte er auch jetzt noch Fischers politische Taktik als »opportunistisch«, denn sie habe in Moskau zu viele inhaltliche Zugeständnisse gemacht. 157 Scholem und Rosenberg spielten eine Sonderrolle in der Berliner Opposition, sie agierten als »Maximalisten« und Gegenpol zu Fischer und Maslow. Dies zeigte sich etwa am 25. März 1924 auf einer »Reichskonferenz der Linken« zu der Werner Scholem im Auftrag der Opposition eingeladen hatte. Obwohl die Stellung der Linken noch nicht gesichert war, hielt Arthur Rosenberg hier ein regelrechtes Koreferat gegen Maslow. 158 Bemerkenswert ist, das Rosenberg dabei auch einen »Opportunismus« der russischen Kommunisten kritisierte und die Unabhängigkeit der KPD von der Komintern forderte. In der russischen Partei sah er zwar Trotzkis Richtung als eigentliche »Rechte«, bezeichnete aber auch Sinowjew und Stalin als opportunistisch - allein im Kampf gegen die Rechte sei ein Bündnis mit dieser Fraktion zulässig gewesen. 159 Da Rosenberg nicht in Moskau gewesen war, musste sein Wissen über die dortigen Vorgänge von Werner Scholem stammen. Früher als andere waren Rosenberg und Scholem skeptisch gegenüber der russi- 154 Ebenda, S.-380. 155 Ebenda, S.-385f. 156 Werner Scholem an Grigorij Sinowjew vom 18. März 1924, zit. nach Harald Jentsch, Die KPD und der deutsche Oktober, S.-387, S.-469 (Fußnote 54). 157 Scholem war am 15. Januar, also vor Abschluss der Verhandlungen am 21. Januar, abgereist. Heinrich Brandler schrieb am 14. Februar 1924 an Clara Zetkin: »In Berlin verschreien die Scholem und Rosenberg den Maslow und Ruth als Opportunisten, weil sie mit den ›sonderbaren Linken‹ Koenen und Stoecker Kompromisse machen. Koenen und Stoecker ›beweisen‹ nun, dass sie schon immer ›Linke‹ waren, nur ich habe sie verführt. Wenn es nicht so traurig wäre, es wäre zum totlachen.« Zit. nach Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-387. 158 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-387-388. 159 Ebenda, S.-389. <?page no="266"?> 266 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) schen Führung. Sie holten sich die Rückendeckung der Komintern für ihre Politik, waren jedoch keinesfalls geblendet vom Glanz des roten Moskau. Walter Stoecker bezeichnete das Duo Rosenberg-Scholem als »Gruppe der Ultralinken (Luxemburgianer).« 160 Nur der erstere, weniger schmeichelhafte Teil der Bezeichnung sollte in den folgenden Jahren zum Etikett für Scholem werden, blieb aber auch an Maslow und Fischer kleben. Denn Scholem und Rosenberg brachen im März 1924 trotz aller Kritik nicht mit ihren bisherigen Bündnisgenossen. Beide wussten zu gut, dass nur ein geschlossener Auftritt der KPD eine linke Führung sichern würde. 161 Die Entscheidung fiel im April 1924 und ging als »Frankfurter Parteitag« in die Geschichte der KPD ein. Wegen das nach wie vor geltenden Verbots tagte man streng geheim an verschiedenen Versammlungsorten, nicht einmal das Protokoll verzeichnete die Namen der Rednerinnen und Redner. 162 Der Parteitag vom 7.-10. April war vorläufiger Schlusspunkt der langen Auseinandersetzung zwischen Zentrale und Opposition in den Jahren 1921-1924. Er endete schlicht und ergreifend damit, dass die Opposition zur Mehrheit wurde und ihre Forderungen durchsetzte. Sie erreichte dies anfangs mit, später gegen die Moskauer Internationale, die bis zuletzt eine stärkere Berücksichtigung der Mittelgruppe forderte. Noch auf dem Parteitag trat eine Delegation der Komintern auf, um die Delegierten zum Einlenken zu bewegen. 163 Doch Scholems Verweise auf den Druck der Basis waren nicht aus der Luft gegriffen: Die Bezirksparteitage hatten linke Delegierte geschickt und die ehemalige Opposition konnte sich gegen die allerletzten Zügelungsversuche durchsetzen. 164 Es wurde keine erweiterte Zentrale gewählt, sondern nur ein 15-köpfiges Gremium, in dem die Linken das Sagen hatten. Angeführt wurde die neue Zentrale von Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Werner Scholem. Als einziges Zugeständnis wurden vier Vertreter der Mittelgruppe aufgenommen. 165 Auf dem Parteitag wurde auch die Kandidatenliste der KPD für die im Mai 1924 anstehenden Reichstagswahlen beschlossen. Trotz heftiger Proteste änderte man bestehende Nominierungen der Bezirke zugunsten der Linken. 166 Mit diesem Handstreich war die 160 Ebenda, S.-387. 161 Sinowjew kritisierte die Anschauungen Scholems und Rosenbergs am 31. März in einem Brief an Thälmann und Paul Schlecht. Er versicherte jedoch, die Linke als neue Führung zu akzeptieren. Da er ähnliche Schreiben auch an Maslow und Fischer sandte, vermutet Weber ein Manöver, um Spaltungen auszunutzen. Dies scheiterte jedoch. Vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.- 389 sowie S.-470 (Fußnote 60); Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-64. 162 Bericht über die Verhandlungen des 9. Parteitages der KPD, Abgehalten in Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924, Berlin 1924. Der Parteitag tagte teilweise auch in Offenbach, vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-1077. Eine Rekonstruktion der Redeliste versucht Jentsch, ihm zufolge nahm Scholem als Delegierter Berlins teil, vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-474, Anm. 80. Vgl. auch Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-65-73. 163 Vgl. Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-62f. 164 Hermann Weber bemerkt, dass vor allem der Mitgliederverlust nach dem Oktober 1923 der Linken zugute kam: pragmatisch-reformorientierte Mitglieder kehrten der Partei den Rücken, die verbliebenen radikalisierten sich. Hermann Weber, Einleitung, in: Bayerlein u.a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923, S.-29. 165 Der Zentrale gehörten an: Hugo Eberlein, Ruth Fischer, Wilhelm Florin, Ottomar Geschke, Iwan Katz, Arthur König, Arkadij Maslow, Wilhelm Pieck, Hermann Remmele, Arthur Rosenberg, Ernst Schneller, Paul Schlecht, Werner Scholem, Max Schütz, Ernst Thälmann; vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-1077. Die Namen wurden jedoch aus konspirativen Gründen geheimgehalten. Den Mitgliedern war nur das Führungstrio bekannt, dessen Einfluss so noch zunahm. Vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-477, Anm. 97. 166 Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-419f. <?page no="267"?> 267 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 267 zukünftige Reichstagsfraktion links besetzt, auch Scholem wurde als Kandidat bestätigt. Die Opposition hatte ihrem 1921 begonnenen Marsch durch die Partei mit einem vollständigen Sieg beendet. Möglich geworden war dieser Stimmungsumschwung allein durch das Fiasko von 1923. Der ausgefallene »Deutsche Oktober« hatte das Vertrauen der Mitgliedschaft in die alte Garde radikal erschüttert. Stalin hatte das schon im Januar 1924 erkannt und seinem Gegner Radek einen Sieg der Linken vorausgesagt: »Es bildet sich eine solche Lage heraus, in der die Arbeiter neue Führer suchen, sie sind bereit, sich Leute wie Scholem, Hesse, Ruth Fischer zu nehmen und glauben nicht den Leuten mit langwährender Parteimitgliedschaft, weil die Fehler dieser Genossen trotz ihres hohen Ausbildungsstandes die Arbeiter von ihnen weggestoßen haben. Genosse Radek versteht das nicht. […] Er hält sie für Buben, für unseriöse Leute, die zu nichts Ernsthaftem fähig sind.« Weiter prophezeite Stalin, »daß diese ›unseriösen Leute‹ vor sich die Zukunft haben, daß sie ganze Bezirke in den Händen halten und aus ihnen die ›seriösen‹ Leute […] hinausjagen.« 167 Drei Monate später war Stalins Voraussage eingetroffen. Die »unseriöse« Opposition, in der Werner Scholem und Arthur Rosenberg die Maximalforderungen stellten, war nun an der Macht - doch würde sie die KPD auch führen können? 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD In der neu gewählten Zentrale der KPD bildeten Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Werner Scholem das Sekretariat des Politbüros und damit die Führung der Partei. 168 Hinter dem berühmten Duo Fischer-Maslow stand Scholem zunächst an dritter Stelle, rückte jedoch durch einen dramatischen Zufall nach vorne: am 20. Mai 1924 wurde Maslow von der Berliner Polizei verhaftet. In Berlins größtem Rummelplatz, dem »Lunapark« in Halensee, war er beim Flanieren zwischen Zuckerwatte, Wasserrutsche und Gebirgsbahn in eine Polizeikontrolle geraten. Die Razzia galt nicht dem Gespenst des Kommunismus, sondern einem Handtaschendieb. Als die politische Polizei jedoch merkte, wen sie da eigentlich aufgegriffen hatte, dehnte man die Sache gnadenlos aus. Es folgten Ermittlungen und Untersuchungshaft, Maslow verschwand für ganze zwei Jahre im Gefängnis. Durch auf abenteuerlichen Wegen geschmuggelte Briefe konnte er aus seiner Zelle noch erstaunlich viel Einfluss auf die Parteipolitik nehmen - aber die Tagesaufgaben mussten andere bewältigen. 169 167 Josef Stalin, Die deutsche Revolution und die Fehler des Genossen Radek, Aus dem Bricht auf dem Plenum des Zentralkomitees der RKP (B), 15. Januar 1924, in: Bernhard H. Bayerlein u.a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923, Dok. Nr. 100, hier S.-449. 168 Fischer war Vorsitzende des politischen Sekretariats, auch Polleiterin genannt und damit faktisch Parteivorsitzende. Arthur Rosenberg war für Außenpolitik zuständig und gemeinsam mit Karl Korsch als neuem Chefredakteur der »Internationale« auch für die »ideologische Linie«. Zur Arbeitsteilung vgl. Jentsch, Die KPD und der deutsche Oktober, S.- 423 und S.- 477, Anm. 101; Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-74f. 169 Auch Paul Schlecht und Anton Grylewicz gerieten in die Fahndung, ihnen wurde gemeinsam mit Maslow der Prozess gemacht - vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.-580. Den Einfluss Maslows auf die Führung der Opposition belegt ein konspirativer Brief von Geschke, Schneller und Scholem an Piatnitzki in Moskau vom 11. Juni 1925, in dem geheimer Briefverkehr mit Maslow über über seine Rechtsanwälte <?page no="268"?> 268 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Damit wurde Werner Scholem im Alter von 28 Jahren zur zweiten Führungsfigur der KPD. Während Ruth Fischer die Partei nach außen repräsentierte, leitete Scholem das Organisationsbüro der Zentrale und war, wie es Hermann Weber formuliert, »fast uneingeschränkter Herrscher über den Parteiapparat«. 170 Er trat seine Aufgabe als »Orgleiter« mit größtem Selbstvertrauen an. Bereits eine Woche vor dem Parteitag hatte Scholem in der Berliner KPD-Funktionärszeitung »Der Funke« den Sieg der Linken ausgerufen. »Aus der Opposition ist die Mehrheit geworden« schrieb er, warnte jedoch vor den kommenden Aufgaben: »Die Linke in der KPD betritt eine neue Gefahrenzone. Wenn sie die Gefahren, die ihr drohen, nicht genau erkennt, […], so wird sie Schiffbruch erleiden, und mit ihr die gesamte Partei.« 171 Scholem formulierte eine ganze Reihe von Risiken. Unbehagen bereitete ihm etwa das Drängen seiner linken Genossen zur Schaffung von kommunistischen Parallelgewerkschaften: »Gerade die Rechtsströmungen, die in der KPD vorhanden sind, würden in einem auf diese Weise entstehenden Roten Gewerkschaftsbund zusammen mit syndikalistischen und parteifeindlichen Elementen einen Salat anrühren, den keine Parteiführung aufessen könnte.« Die Linke müsse einen Weg finden, Austritte und Proteste gegen den Gewerkschaftsbund ADGB zu bündeln, ohne am Ende als »Spalter« dazustehen. 172 Scholem warnte angesichts dieser Schwierigkeiten vor der Illusion, dass die neue Führung »in wenigen Wochen die Welt aus den Angeln hebeln wird«. Man werde »an keinerlei Kampf denken, der künstlich erzeugt und als ›Aktion‹ ausgegeben werden soll.« Stattdessen müsse man die Partei erziehen, damit sie in bestehende Massenkämpfe eingreifen und aus ihnen eine »revolutionäre Front« entwickeln könne. Erst dann wollte Scholem »auf einem bestimmten Höhepunkt die Frage der Machtergreifung praktisch aufrollen«. 173 Das größte Hindernis auf dem Weg zur Revolution sah Scholem paradoxerweise in der eigenen Partei. Sie war unreif, unfähig, unfertig und musste erst für die Revolution erzogen werden. »Die ›Linkheit‹ ist jetzt Mode in der Partei« schrieb er und warnte, dass der neue Kurs nur oberflächlich Fuß gefasst habe. Im Weg standen vor allem die Anhänger der alten Führung: in der Gewerkschaftsfrage fürchtete Scholem interessanterweise nicht das Scheitern der eigentlichen Politik, sondern die Ausnutzung eventueller Rückschritte durch »Opportunisten« und »Rechte«. Diese hatten für ihn noch viel zu viel Einfluss im Parteigetriebe: »Man braucht nicht von Sabotage zu sprechen, um zu begreifen, daß ein solcher Parteiapparat in den Händen einer linken Zentrale kein geeignetes Instrument sein kann« stellte Scholem fest und verlangte: »der alte Apparat muss umgestellt werden.« Dabei dürfe die Linke jedoch unter keinen Umständen die Fühlung mit der Mitgliedschaft verlieren. Denn nur mit der Basis könne sie das werden, »was in der deutschen Partei noch nicht da sein konnte: der bolschewistische Kern.« Noch bevor das Wort zur offiziellen Parole wurde, forderte Werner Scholem eine »Bolschewisierung« der KPD. Den historischen Kontext zu dieser dehnbaren Losung lieferte er in einem Artikel zum siebten Jahrestag der Oktoberreoffengelegt wurde. Der Brief war eine Verteidigung Maslows, der von Iwan Katz erneut der Zusammenarbeit mit der Polizei verdächtigt wurde. Vgl. RY 5/ I 6/ 10/ 80, Bl. 87ff. 170 Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-105. 171 Werner Scholem, Die Gefahrenzone der Opposition, Der Funke, Nr. 2, 1. April 1924. Ich danke Mario Keßler für den Hinweis auf diesen Artikel. 172 Ebenda. 173 Ebenda. <?page no="269"?> 269 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 269 volution: dort verwarf er die Ideen der von ihm einst verehrten Rosa Luxemburg. Es ging um die Organisationsfrage und ihren Ruf nach spontanen Massenaktionen. Luxemburgs Konzepte, so Scholem, hätten in Deutschland viel zu lange nachgewirkt und müssten nun durch die »Lehre Lenins von der Rolle der Partei« ersetzt werden. 174 In Scholems neuer Losung lag auch ein versteckter Bezug auf die russischen Parteikämpfe. Die KPD hatte unter Mitwirkung von Ruth Fischer bereits im Februar 1924 eine Resolution verfasst, in der es hieß: »Nicht Entbolschewisierung der R[ussischen] KP, sondern Bolschewisierung der europäischen Parteien.« 175 Die Resolution richtete sich gegen die als »kleinbürgerlich« diffamierte russische Opposition und ergriff damit Partei für Stalin. Scholem zitierte dies mit seiner Forderung nach einem »Bolschewistischen Kern« nicht nur sinngemäß, sondern wörtlich. Als Organisationsleiter hatte er nun alle Vollmachten, um seine Ideen umzusetzen. 176 Die ausführlichste Quelle über seine Arbeit als Organisator der KPD ist eine parteiinterne Rede vom September 1924 sowie ein Bericht aus eigener Feder, den er im Monat darauf als Bilanz nach Moskau sandte. 177 Scholem beschrieb den Zustand der KPD mit drastischen Worten: »Wir haben nach dem Frankfurter Parteitag die Partei in einem organisatorischen Zustand übernommen, der einen Hund jammern konnte.« 178 Später hieß es dann konkreter: »Seit dem Oktober 1923 war eine wirklich politisch-organisatorische 174 Scholem setzte Spontaneismus und Reformismus gleich: »Es sind die, die revolutionär sind, wenn der nahe Sieg bevorsteht. Es sind die Anhänger der spontanen Massenaktionen, bei denen die Partei sich von der unorganisierten Masse eigentlich durch nichts unterscheidet und bei denen man sich fragen muss, durch welche Grundsätze sie eigentlich von den Ansichten der zweiten Internationale getrennt sind.« Werner Scholem, Die historische Lehre des 7. November: Die Rolle der Kommunistischen Partei, in: Rote Fahne Nr. 151, 7. November 1924. 175 Der komplette Resolutionstext lautet: »Die Kommunistische Partei Deutschlands hat mit dem größten Interesse den Kampf der bolschewistischen Leitung und der überwiegenden proletarischen Mehrheit der russischen Partei gegen die der Tendenz nach kleinbürgerliche nichtbolschewistische Opposition verfolgt. Die kommunistische Partei Deutschlands hat klar verstanden, dass in den anwachsenden Schwierigkeiten des noch allein stehenden proletarischen Staates nicht alle Teile der Partei nach dem Tode Lenins im gleichen Tempo, mit gleicher Festigkeit die Angriffe und Rückzüge des gigantischen Kampfes des russischen Proletariats durchmachen können. Nur die erprobte bolschewistische Leitung kann die Partei zusammenhalten und zu weiteren Siegen führen. Nicht Entbolschewisierung der RKP, sondern Bolschewisierung der europäischen Parteien, damit sie die Massen siegreich im Kampfe führen können, muss die Parole der Kommunistischen Internationale sein. In dem Kampfe gegen die liquidatorische Richtung, die bei langsamen Anwachsen der revolutionären Welle die grösste Gefahr für die Komintern ist, werden die Kommunistischen Parteien Europas, ohne in Kinderkrankheiten des Radikalismus zu verfallen, den bolschewistischen Kern der Parteien herausbilden. Das Zentralkomitee der RKP kann in seinem Kampfe gegen jede auftauchende revisionistische Gefahr auf die volle Unterstützung der Kommunistischen Partei Deutschlands rechnen.« - Sitzungsprotokolle der Zentrale der KPD, Sitzung 8. Februar 1924, SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16. Auffällig ist, dass der Begriff Bolschewismus nicht definiert wurde - Otto Langels sah seinen Reiz als Platzhalter, mit dem in deutschen wie russischen Fraktionskämpfen sehr verschiedene Inhalte durchgesetzt werden konnten. Otto Langels, die Ultralinke Opposition der KPD in der Weimarer Republik, S.-37. 176 Sitzungsprotokolle der Zentrale der KPD, Sitzung 10. April 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16. 177 Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro der Zentrale der KPD für die Zeit vom 10. April bis 1. Oktober 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 24, im folgenden zitiert als »Tätigkeitsbericht des Orbüro«. Dem Bericht bei liegt ein Referat Scholems auf einer »Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924«, auch in SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. Scholem beschwerte sich später, dass er auf den Bericht keine Antwort erhielt und vermutete, er sei unterschlagen worden. Die Komintern dementierte dies, vgl. »Gegen die falschen Behauptungen des Genossen Scholem«, in: »Rote Fahne« Nr. 239, 16. Oktober 1925. 178 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. <?page no="270"?> 270 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Arbeit innerhalb der Partei nicht mehr geleistet worden. […] Dazu kamen die Folgen der mehrmonatigen illegalen Periode, welche erst am 1. März ihr Ende erreicht und welche in den einzelnen Bezirken ein organisatorisches Trümmerfeld hinterlassen hatte. Die monatelange Parteidiskussion, welche schließlich zu einer vollkommenen Revolution innerhalb der Partei führte, fand erst auf dem Frankfurter Parteitag ihren Abschluss.« 179 Das von Scholem beschriebene »Trümmerfeld« erstreckte sich selbst auf Grundsätzliches wie die Mitgliederliste: »Jedenfalls ist die Partei aus der illegalen Periode derart gerupft hervorgegangen, dass es im ganzen Reiche höchstens drei bis vier Bezirke gab, die einen auch nur schattenhaften Begriff über ihre Mitgliederzahl hatten.« 180 Die ganze Organisation lag am Boden: »Der alte zentrale Apparat war zusammengebrochen. 90% der Parteiangestellten hatte bis zum Frankfurter Parteitag politisch und organisatorisch den Kampf gegen die Richtung geführt, welche nunmehr die Führung der Partei übernahm. Das Orbüro der Zentrale musste daher zuerst als Voraussetzung für jede andere Arbeit sich eine Grundlage im eigenen zentralen Apparat schaffen.« Interessant ist, wie sehr Scholem auch hier die innerparteilichen Gegner hervorhebt. Den Wiederaufbau der Parteistrukturen konnte er nicht strömungsübergreifend denken - die Reorganisation war für ihn aufs engste verzahnt mit dem Führungsanspruch seiner Fraktion, deren Machtübernahme er als »Parteirevolution« glorifizierte. 181 Scholem begann seine Umstellung bei den Angestellten der Zentrale. Geschickt verknüpfte er Sachzwänge von Personalabbau und Kostendruck mit der Auslese von »zuverlässigen« Leuten. 182 Der Apparat der Zentrale wurde verkleinert auf neun Abteilungen, die Scholem im schneidigen KPD-Sprech aufzählte: »Polbüro, Orbüro, Sekretariat, Gewerkschaftsabteilung, Agitprop, Kasse, Druckereiabteilung, Rote Hilfe und Juristische Zentralstelle, M und N«. Die Liste gibt ein Bild von seinem breiten Verantwortungsbereich. Scholem unterstanden nicht nur die Verwaltung der Organisation und ihrer Funktionäre im »Orbüro«, sondern auch die Kontrolle der Finanzen, die gesamte Parteipresse, politische Kampagnenarbeit in Form von »Agitation und Propaganda« sowie die Apparate »M« und »N«, womit der illegale Militärapparat zur Aufstandsplanung und der parteieigene Nachrichtendienst gemeint waren. 183 Da in den offiziellen Protokollen über diese konspirativen Abteilungen nie mehr als die ominösen zwei Buchstaben zu finden sind, haben sie trotz der offenen Archive bis heute etwas Geheimnisumwittertes. Spätere Gerüchte 179 Vgl. Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro. 180 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. 181 Konferenz der Pol-Sekretäre und Redakteure der KPD am 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. 182 Scholem amtierte als gemeinsam mit Thälmann und Hugo Eberlein in einer eigens gegründeten »Abbaukommission«, vgl. Zentrale der KPD, 10. und 25. April 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16. 183 Die in der Quelle genannten Abteilungen waren de facto Teil eines einzigen Apparates zur Aufstandsplanung, Zersetzung von Militär und Polizei und Informationsbeschaffung. Dieser Apparat war jedoch im Laufe der Parteigeschichte regelmäßigen Häutungen unterworfen. Dazu vgl. Bernhard Kaufmann, Eckhard Reisener, Dieter Schwips, Henri Walther: Der Nachrichtendienst der KPD 1919−1937, Berlin 1993; für die spätere Phase Franz Feuchtwanger, Der militärpolitische Apparat der KPD in den Jahren 1928-1935. Erinnerungen, in: Internationale Wissenschaftliche Konferenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Nr. 4/ 1981, S.-485-533; sowie Matthias Pfeiffer, Organisationsprobleme des KPD-Nachrichtendienst 1928-1932, Magisterarbeit Humboldt Universität zu Berlin 2008. Mit dem BB- Resort verfügte die KPD zudem über eine Abteilung für Industriespionage zugunsten der Sowjetunion - Vgl. Siegfried Grundmann. Der Geheimapparat der KPD im Visier der Gestapo: Das BB-Ressort: Funktionäre, Beamte, Spitzel, Spione; Berlin, 2008. <?page no="271"?> 271 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 271 über Scholem als Akteur eines KPD-Spionagerings mögen hier ihren Ursprung haben. 184 Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass die illegalen Ressorts der KPD Anfang 1924 kaum in besserem Zustand waren als die Mitgliederliste. Beim M-Apparat dürfte das »Trümmerfeld« sogar größer gewesen sein, da die Polizei hier gezielt und erfolgreich zuschlug, wie Minister Severings parlamentarische Waffenschau im November 1923 gezeigt hatte. All diese Apparate und Abteilungen liefen zusammen in einem Hinterhof der Rosenthaler Straße 38 am Rande des Berliner Scheunenviertel. Die Gegend gehörte nicht zu den besten Adressen der Reichshauptstadt. Enge Gassen, alte Bausubstanz, Verfall und Gedrängel, eine geplante Stadtsanierung war im Weltkrieg steckengeblieben. Arbeiter der nahegelegenen Borsigwerke konnten sich hier in überfüllten Wohnungen stundenweise einen Schlafplatz mieten, mittellose ostjüdische Einwanderer fanden im Scheunenviertel ihre erste Bleibe, neben Kaftan und Schläfenlocken prägten Prostitution und Kleinkriminalität das Straßenbild. Mittendrin residierte die Zentrale der KPD in der Werner Scholem seine »Parteirevolution« vorantrieb. 185 Auch der Kommunistische Jugendverband (KJVD) hatte 1924 sein Büro in der Rosenthaler Straße. Scholem widmete ihm besondere Aufmerksamkeit und reiste im Mai 1924 eigens zum KJVD-Reichskongress nach Leipzig. Er wollte die Jugend mit einer schmissigen Rede auf die neue Linie einstimmen. Scholem, der seine Karriere in sozialistischen Bildungszirkeln begonnen hatte, gab dem Nachwuchs jetzt andere Aufgaben: »Jeder Funktionär muß wissen, daß er ein politischer Funktionär ist, […] daß seine Aufgabe nicht in erster Linie irgendwelche Bildungsarbeit, irgendwelcher Kulturquatsch usw. ist, sondern daß seine Aufgabe die Organisierung der jugendlichen Arbeiter im Betrieb für den Kampf um die Revolution ist.« 186 Scholems Alltag war in dieser Zeit ein Vollzeitjob aus Sitzungen, Briefwechseln und öffentlichen Auftritten; seinen Terminkalender im Wahlkampf verwaltete die Sekretärin Cläre Casper, eine alte Kämpferin der Rätebewegung von 1918. 187 Quasi nebenbei erledigte Scholem noch die Arbeit eines Reichstagsabgeordneten und die Agitation auf Versammlungen - etwa zum 1. Mai 1924 in seinem Wahlkreis Potsdam. Selbst der proletarische Kampftag war für Werner ein »Tag der Arbeit«. Er sagte eine Ansprache am Nachmittag ab, weil er noch in der Zentrale seine Aufgaben erledigen musste. 188 184 Siehe dazu das Kapitel »Werner Scholem als Geheimagent? Ein Exkurs über Romane und Realitäten«. 185 Erst 1926 konnte sich die KPD mit dem »Karl-Liebknecht-Haus« am damaligen Bülowplatz ein repräsentatives Quartier leisten, vgl. Ronald Friedmann, Die Zentrale - Die Geschichte des Berliner Karl- Liebknecht-Hauses, Berlin 2011. 186 KJVD - 8. Reichskongress vom 10-12. Mai 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 4/ 1/ 4, Blatt 7. Zu den Widersprüchen in der Bildungsarbeit der KPD vgl. Carsten Krinn, Zwischen Emanzipation und Edukationismus. Anspruch und Wirklichkeit der Schulungsarbeit der Weimarer KPD, Essen 2007. 187 Cläre Casper (in Protokollen manchmal auch Kläre Kasper oder Claire Kasper) wurde in die Leitung des Januarstreiks 1918 gewählt und war danach erste Frau im Kreis der Revolutionären Obleute. Anders als ihre männlichen Kollegen wurde sie danach jedoch nur für »Organisatorisches« herangezogen. Bereits im Vollzugsrat der Arbeiter und Soldatenräte war sie als Sekretärin beschäftigt, danach in der Zentrale der KPD. Dass sie Scholem assistierte ergibt sich aus einem Brief Scholems an einen »Genossen Bauer« vom 16. April 1924, in: Korrespondenz des Orbüro mit Bezirken, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 60. Zu Caspers Vorgeschichte bei den Obleuten vgl. Ralf Hoffrogge, Richard Müller - der Mann hinter der Novemberrevolution, S.-31-32, 53, S.-66, S.-106. 188 Vgl. Werner Scholem an Albert Hesse vom 16. April 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 60. <?page no="272"?> 272 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Ein im Archiv komplett erhaltener Stoß von Korrespondenzen erlaubt uns einen Blick auf Scholems Schreibtisch um 1924. 189 Liest man die zahlreichen Briefe, die er in die ganze Republik versandte und erhielt, so fällt nicht nur seine Geschäftigkeit, sondern vor allem die enorme Machtfülle des neuen Postens auf. Unzählige Stellenbewerbungen sind dabei, mitunter auch Skurriles: ein Diplom-Kaufmann aus Berlin-Schöneberg bot sich an, Scholem bei der Säuberung und Neuorganisation der Partei »im militärischen Sinne« zu assistieren. 190 Werner war zentraler Ansprechpartner, er entschied über Posten von der Stenotypistin bis zur Chefredaktion. Dementsprechend begehrt war seine Zeit, neben unzähligen Bittschriften um eine Berücksichtigung für diese oder jene Stelle erhielt er ständig Anfragen um persönliche Gespräche, die halbironisch als »Audienzen« bezeichnet wurden. Auch private Verbindungen wurden gezogen: Die Bewerbung einer gewissen Amalie Esser enthielt neben den üblichen Angaben über Qualifikation und Vorbeschäftigung ein mit dickem Vermerk als »Privat« gekennzeichnetes Anschreiben an den »Lieben Genossen Scholem«. Darin wurde Werner an die »gemeinsamen Ferientage 1923 in Rothenburg« erinnert. Da sie augenblicklich mit ihrem Kredit zu Ende sei, wollte die junge Frau aus Dahlem nun eine Stelle als Sekretärin bei der KPD antreten. Ganz nonchalant forderte sie Scholem auf: »Wenn du, wie ich hörte, dazu mitzubestimmen hast, befürworte bitte einen Posten, der mich nicht von früh bis in die Nacht hinein anspannt! « 191 Wollte hier eine ehemalige Liebschaft Ansprüche stellen? Eine Antwort ist leider nicht überliefert. 192 Die KPD war als Arbeitgeber verzweifelt begehrt, denn in der Weimarer Republik gab es auch in Konjunkturzeiten keine Vollbeschäftigung. Erst ab 1927 existierte eine bescheidene Arbeitslosenversicherung, die jedoch das Existenzminimum nicht abdeckte. Oft offenbarten die Bittbriefe daher traurige Schicksale. Kommunisten, die für ihre Überzeugung jahrelang im Gefängnis gesessen hatten und nun keine Anstellung fanden, hofften verzweifelt auf einen Arbeitsplatz, vom Staatsanwalt verfolgte Aktivisten baten dringendst um Berücksichtigung für irgendein Landtagsmandat in der Provinz. Solche Bitten lagen keineswegs außerhalb Scholems Macht. Die Zentrale der Partei verwaltete nicht nur die von den Parteitagen aufgestellten Wahllisten, sie konnte auch Parlamentariern den »Parteibefehl« zum Verzicht auf ihr Mandat erteilen, womit dann Nachrücker zum Zuge kamen. Scholem entschied also nicht nur über Sekretäre und Funktionärinnen, sondern im Zweifelsfall auch über Reichstagsmandate. 193 189 Personal und Kaderfragen 1920-1929, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 35; sowie Korrespondenz des Orbüro mit Bezirken, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 60. 190 In der Bewerbung von Diplom-Kaufmann Kurt Scheel aus Schöneberg vom 17. Dezember 1924 hieß es: »Es handelt sich darum, unsere Partei, nachdem deren Säuberung von indifferenten Leuten und Mitläufern durch die Wahl vom 7. Dez. klargestellt worden ist, besser organisiert und straffer diszipliniert zusammenzufassen, nicht zuletzt auch in militärischem Sinne, als es bisher geschehen ist. Danach sei dann auf dieser selben Grundbasis weiter auszubauen. Für eines dieser umfangreichen Tätigkeitsgebiete fühle ich mich, gestützt auf meine Neigung, Befähigung und praktische bisher angewandte Tätigkeit berufen.« SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 35. 191 Brief Amalie Esser an Werner Scholem vom 20. November 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 35. 192 Eine erneute Bewerbung aus dem Jahr 1927 deutet jedoch daraufhin, dass aus der Anstellung nichts wurde. Amalie Esser an Orbüro der KPD, 8. September 1927, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 35. 193 Der Abgeordnete Hans Stetter z.B. warf Scholem vor, die Reichstagsauflösung im Oktober 1924 benutzt zu haben, um ihn durch die Justiz »politisch und persönlich zu erledigen«. Gegen Stetter schwebten nach eigenen Angaben 22 Strafverfahren, die Verweigerung einer Kandidatur beendete seine Immunität als Abgeordneter. Vgl. Hans Stetter, Der Kommunistische Sumpf - Mein Ausschluß aus der KPD, Stuttgart 1926, S.-11. Für den Hinweis auf diese Broschüre danke ich dem Kollegen Uwe Fuhrmann. <?page no="273"?> 273 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 273 Sein Arm reichte also weit über den Hinterhof in der Rosenthaler Straße hinaus. Doch Scholem wollte mehr. Nachdem die Zentrale in seinem Sinne reorganisiert war, befasste er sich mit den Bezirksleitungen der KPD. In seinem Bericht schrieb er, wie sehr die Linkswende der Partei dort bereits Fakten geschaffen hatte: »Sämtliche anderen Bezirksleitungen wurden im Laufe der Debatte vor dem Frankfurter Parteitag vollkommen durch die Parteirevolution umgeändert. Keine einzige Bezirksleitung blieb in ihrem Personalbestand aufrecht.« 194 Scholem vertraute aber nicht auf diesen revolutionären Selbstlauf. Sein Ziel war die »Schaffung politisch zuverlässiger und organisatorisch starker Bezirksleitungen im Reich und Stärkung von deren Autorität«. Er griff mit Versetzungen und Abberufungen durch, um alle Bezirke in seinem Sinne umzubilden. Aufgrund der Parteidisziplin durften Angestellte der KPD den Ruf zu einer neuen Aufgabe nicht ablehnen, auch wenn dies einen Umzug zur Folge hatte. Da die meisten Funktionäre von der Partei finanziell abhängig waren, stand Scholem mit der Aufgabenverteilung ein mächtiges Druckmittel zur Verfügung. Er gab jedoch im Bericht nach Moskau an, diese Befugnisse nur behutsam einzusetzen: »Wir hielten uns von personellen Eingriffen so weit wie möglich fern, betrieben gegenüber denjenigen Sekretären, welche trotz ihrer früheren politischen Anschauungen bei den neuen Bezirksleitungen übernommen waren, eine Politik des Vertrauens und der Verantwortung, nahmen abgebaute Sekretäre, um die sich leicht in den Bezirken ein Kreis von Missvergnügen bildet, so weit wie möglich aus den Bezirken weg, um den neuen Bezirksleitungen den Beginn ihrer Arbeit zu erleichtern. Rücksichtslos unterstützten wir die Bezirksleitungen, wenn es galt, gegen KAPistische und antibonzistische Stimmungen aus der Mitgliedschaft aufzutreten.« 195 Deutlich ist das Bemühen zu erkennen, gegenüber dem Komintern-Vorsitzenden Sinowjew seriös dazustehen und sich von linksradikalem Voluntarismus abzugrenzen. 196 Die von Scholem nur nebenbei erwähnte »Antibonzenstimmung« verweist jedoch darauf, dass seine Maßnahmen keineswegs widerspruchslos hingenommen wurden. Dennoch erreichte er für die linke Führung nach eigenen Aussagen bis zum Oktober die komplette »Umstellung« von 22 der insgesamt 27 Bezirksleitungen. 197 Die Leitung des größten Bezirks Berlin-Brandenburg, so Scholem, »behielten prominente Mitglieder der Zentrale persönlich in der Hand, obwohl die dadurch verursachte Doppelarbeit starke Arbeitsüberlastungen für einzelne Personen mit sich brachte«. 198 Eins dieser »prominenten Mitglieder« war zweifellos Scholem selbst. Er sorgte dafür, dass ihm in Berlin keine neue Opposition heranwuchs. Sein Ziel für die Bezirke war die »Schaffung eines bolschewistischen Funktionärskörpers«, als dessen zentrale Eigenschaft 194 Vgl. Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro. In der Tat hatte die Linke bei den Bezirksparteitagen im Februar und März 1924 Mehrheiten errungen - vgl. dazu Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-60ff. 195 Ebenda. 196 Das Verhältnis zu Sinowjew war aufgrund des Alleingangs der Linken gespannt - nach dem Frankfurter Parteitag hatte es vier Wochen keinerlei Kontakt zwischen Zentrale und Komintern gegeben, Vgl. Harald Jentsch, die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-423f. 197 Vgl. Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro. Jedoch zeigte schon der Zentralausschuss der KPD am 20. Juli 1924, auf dem alle Resolutionen einstimmig gefällt wurden, dass der Widerstand gegen die neue Führung gebrochen war. Vgl. Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-77. 198 Vgl. Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro. Auch zur Tätigkeit im Bezirk Berlin-Brandenburg veröffentlichte existiert ein Rechenschaftsbericht: Bericht der Bezirksleitung der KPD Berlin-Brandenburg über die Arbeit der Organisation vom Oktober 1924 bis 1. Mai 1925, Berlin, o. J. <?page no="274"?> 274 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) er »Körperschaftsdisziplin« benannte. Diese von ihm als »Grundsatz des Bolschewismus« bezeichnete Tugend wollte Scholem »bis in die untersten Parteizellen den Genossen zur zweiten Natur […] machen.« 199 Jedoch wusste er, dass in einer politischen Bewegung Disziplin nur durch Überzeugung herzustellen war. Deshalb sollten in den Bezirken eigene Funktionärszeitungen nach dem Vorbild des Berliner Blattes »Der Funke« geschaffen werden. Scholem schrieb dazu: »Der besondere Ton des ›Funken‹ besteht in der Mischung von rücksichtslosem Aussprechen einzelner Schäden, politisch guter Aufklärung und pädagogisch-organisatorischer Erziehungsartikel, die im besten leninistischen Stil gehalten sind.« 200 Scholem, der selbst für den »Funken« schrieb, war nie um ein freundliches Eigenlob verlegen. Doch die geforderte Erziehungsarbeit wollte er nicht allein pädagogischen Artikeln überlassen: »Zur Durchführung einer genauen Kontrolle über die Tätigkeit in den einzelnen Bezirken setze die Zentrale einen besonderen Kontrolleur ein, dessen Aufgabe es ist, fortlaufend den organisatorischen Zustand der Bezirke zu überprüfen. […] Die Durchführung dieser Kontrolle hat sich als durchaus notwendig erwiesen und gab der Zentrale Gelegenheit, an schwachen Stellen im Organisationskörper helfend einzugreifen.« 201 Auch finanziell wollte Scholem das Verhältnis zwischen Bezirken und Zentrale neu ausrichten. Bei seinem Amtsantritt lebten alle Bezirke »auf Kosten der Zentrale«, die das Gehalt der lokalen Funktionäre zahlte, dafür aber wenig Gegenleistungen erhielt. 202 Scholem stellte fest: »Abrechnung und Abführung von Pflichtbeiträgen waren den Bezirken eine unbekannte Sache.« Dies sollte sich nun ändern. Nach Inflation und Illegalität wollte er die Partei daran gewöhnen, »unter den jetzigen Verhältnissen auch wieder zu einer geregelten Kassenführung, Abrechnung und Balancierung von Einnahmen und Ausgaben zurückzukehren.« Dazu gehörte auch die Sanierung der parteieigenen Unternehmen, die bisher als Zuschussgeschäfte betrieben wurden. Die Wirtschaftskraft der KPD war nicht unerheblich - ihr gehörten nicht nur Zeitungen, sondern auch Druckereien, Verlage und Buchhandlungen. Dem neuen Organisationsleiter schwebte für dieses Firmengeflecht ein neues Konzept vor: »Die Zuschüsse mussten beseitigt und aus den kapitalfressenden Unternehmungen allmählich gewinnabwerfende Unternehmungen gemacht werden.« Werner Scholem wurde also im Parteiauftrag doch noch zum Unternehmer. Von seinem Vater erhielt er für diese späte Wendung leider keine Anerkennung. In der ganzen KPD war Mitte der 20er Jahre bekannt, das Arthur seinen Sohn nicht nur mied, sondern sogar aktiv verleumdete. Zur Mutter hatte Werner hingegen ein gutes Verhältnis. Er schien ihr durch seinen Aufstieg sogar zu imponieren, insbesondere durch die Moskaureise. Betty zufolge erzählte Werner »wirklich riesig interessant von dieser völlig asiatischen Stadt mit ihrem Völkergemisch von 100 Stämmen. Ich fand, daß er doch etwas weniger Blödsinn quasselte als vordem, er scheint sich also zu entwickeln.« 203 199 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. 200 Der Funke war die Eindeutschung der russischen »Iskra«, einer einst von Lenin gegründeten Parteizeitschrift. Auch die Namen anderer Funktionärsblätter verwiesen auf Lenins Avantgarde-Philosophie: »Der Rote Organisator« in Pommern, »Organisator der Revolution« in Ostpreußen, »Der Bolschewistische Kurs« in Halle, »Der Bolschewist« für Thüringen, »Der Leninist« für Wasserkante, »Der Revolutionär« für Niederrhein und Mittelrhein. Vgl. Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro. 201 Ebenda. 202 Die Beiträge der KPD wurden mithilfe von Kassierern eingenommen, die den Mitgliedern Beitragsmarken für die Parteibücher verkauften. Die Bezirke hatten die Beiträge dann an die Zentrale weiterzuleiten, welche somit auf die Kooperation der Bezirke angewiesen war. 203 Betty an Gerhard Scholem, 8. April 1924, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-102f. <?page no="275"?> 275 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 275 Werners Entwicklung zum kommunistischen Manager war jedoch kein spät erblühter Zug Scholemschen Unternehmergeistes. Der betriebswirtschaftliche Ehrgeiz hatte handfeste politische Hintergründe: die erwähnten »Zuschüsse« für die KPD kamen samt und sonders aus Moskau. Je erfolgreicher Scholem bei der Optimierung der KPD-Finanzen war, desto unabhängiger konnte die neue Führung handeln. Die Bilanz vom Oktober zeigte dabei durchaus Erfolge: die Anzahl der beitragszahlenden Mitglieder stieg von etwa 88.000 auf 120.000. 204 Scholem hatte die Mitgliederwerbung forciert und sich gegen eine in der Illegalität erblühte Tendenz zur konspirativen Abschottung gewandt. Diese hatte sich zu einer regelrechten »Ausschlußseuche« ausgewachsen, was Scholem einfach nur »meschugge« fand. Entschieden forderte er auf, alte und neue Mitglieder in die Reihen der Partei zu führen. 205 Seiner Meinung nach war die KPD auch mit Hunderttausend Anhängern »kaum noch eine Massenpartei« - er gab als Ziel 300.000 Mitglieder an. Auch wenn er diese Zahl weit verfehlte, war eine Konsolidierung nicht zu leugnen. Es wurden nicht nur mehr, sondern auch deutlich regelmäßiger Beiträge abgerechnet, nur die ländlichen Bezirke mussten weiterhin von der Zentrale subventioniert werden. Als zweite große Einnahmequelle konnte Scholem auf die KPD-Presse verweisen, deren Gesamtauflage im September 1924 stolze 266.000 Exemplare betrug. 206 Auch dies wollte Scholem noch steigern und verlangte von den KPD-Redakteuren massentaugliche Inhalte. »Wenn man die Blätter langweilig macht, kauft sie niemand« stellte er lapidar fest. Scholem lobte die Niedersächsische Arbeiterzeitung (NAZ) als Vorbild, weil sie ihre Auflage in einem Spitzenmonat auf 35.000 Exemplare verfünffacht hatte. Dass dies hauptsächlich auf Enthüllungsjournalismus zum Fall des pädophilen Serienmörders Fritz Haarmann zurückging, störte den Organisationsleiter nicht. 207 Die NAZ hatte energisch und auflagenstark das Versagen der Polizei in diesem Fall offengelegt, und dafür lobte Scholem sie in den höchsten Tönen: »Das war der Haarmann-Monat. Die NAZ, die jetzt trotz Verbot von einem halben Monat über 7000 Auflage hat, hat die Haarmann-Kampagne so geführt, wie wir wünschten, dass die anderen sie auch führen würden. Die völlig unberechtigte Scheu, solche Dinge […] für unsere Presse auszunutzen, wohnt den Redakteuren noch inne. Sie sind zu hochnäsige Politiker und glauben, dass sie eine solche Mordsache nicht ausnutzen dürfen. Man soll so etwas politisch ausnutzen. […] Ich bin der festen Überzeugung, bei 204 Laut Scholems Eigenangaben im »Tätigkeitsbericht des Orbüro«. 205 Wörtlich mahnte er: »Die Genossen denken nicht daran, neue Mitglieder zu werben, sie sind am liebsten unter sich. Die Ausschluß-Seuche ist in der gesamten Partei immer noch furchtbar groß. […] Wir haben derartig viel an Mitgliedern durch diese Ausschluß-Seuche verloren, dass es meiner Ansicht nach gegen die Zehntausende geht. […] Wir haben nachgeprüft, unter welchen Bedingungen die Ausschlüsse vorgenommen wurden und da stellten sich die merkwürdigsten Begründungen heraus: ›Erschien einmal nicht auf dem Zahlabend‹, oder ›Faul! ‹ oder ›Quatscht viel und tut wenig‹ usw. Das ist ja nun sehr schön, aber ich bin der Meinung, dass die Bezirksleitungen alle Ursache haben, gegen diese Stimmung aufzutreten. Es ist doch nicht der Fall, dass die Partei dadurch gebessert wird, eine Massenpartei muss doch selbstverständlich ein Reservoir haben.« Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. Vgl. auch Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-433. 206 Zahlen nach Scholems Angaben aus dem Tätigkeitsbericht des Orbüro. 207 Haarmann hatte in Hannover mindestens 24 Jungen und Männer getötet und ihre Leichen zerstückelt. Da er auch als Fleischhändler tätig war, wurde vermutet, dass er die Leichenteile an Restaurants verkauft hatte. Der Prozess erregte 1924 großes Aufsehen, Haarmann wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vgl. Matthias Blazek, Haarmann und Grans. Der Fall, die Beteiligten und die Presseberichterstattung, Stuttgart 2009. <?page no="276"?> 276 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Reichstagswahlen hätte uns Haarmann in Hannover zu einem Riesenerfolg verholfen.« 208 Der Massenmörder Haarmann als Wahlhelfer der KPD? Verständlich wird dies nur, wenn man den Kern des Skandals kennt: Der Sexualstraftäter, Serienmörder und mutmaßliche Kannibale Fritz Haarmann stand als V-Mann auf der Gehaltsliste der Polizei. Er konnte nur unentdeckt bleiben, weil jahrelang in andere Richtungen ermittelt wurde. 209 Erst durch die KPD-Presse wurde die Polizeiführung für das Treiben ihres »Vertrauensmannes« zur Rechenschaft gezogen. Doch nicht alle publizistischen Erfolge der KPD verdankten sich derart trüben Anlässen. In zahlreichen Kampagnen setzte die Partei erstmals seit Monaten auch eigene Themen, konnte dadurch alte Mitglieder mobilisieren und neue gewinnen. Die erste erfolgreiche Massenbewegung war zweifellos die Reichstagswahl am 4. Mai 1924. Scholem hatte die Kampagne seit seinem ersten Tag in der Zentrale leitend geführt und war dafür von der SPD gleich mit einer wenig schmeichelhaften Karikatur bedacht worden. Sein Gesicht war nun in der ganzen Republik bekannt. Betty Scholem hielt die Zeichnung für »großartig« und fand ihren Sohn vor allem »in seinen charakteristischen Ohren u. dem Ausdruck ausgezeichnet erfasst« Sie war »beinah stolz und befand, »es gehört doch zum Politiker, karikirt zu werden! « 210 Ihre Stimme gab sie dennoch nicht Werners Partei, sondern den Demokraten von der DDP. 211 Die Wahl war dennoch ein Erfolg für die KPD. Trotz der bis März andauernden Illegalität und der vorangegangenen Demoralisierung konnte sie 12,6% der Stimmen gewinnen und zog mit 62 Abgeordneten in den Reichstag ein. Die Kommunisten hatten damit erfolgreich das Erbe der USPD angetreten, die 1920 noch als stärkste Linkskraft neben der SPD vertreten war, nun jedoch mit 0,8% kein einziges Mandat mehr erhielt. Neben dem Wahlkampf organisierte Scholem auch eine Kampagne zum 1. Mai 1924, eine Antikriegskampagne zum 10. Jahrestag des August 1914, einen Arbeiterkongress sowie die innere Mobilisierung für die Umstellung der Partei auf Betriebszellen statt Wohnortorganisationen. 212 Während die letzten beiden Kampagnen eher mittelmäßig liefen, wirkte eine gleichzeitig vorangetriebene antifaschistische Aktion enorm mobilisierend. 213 Anlass war ein für den 11. Mai 1924 in Halle geplanter »Deutscher Tag« als Großaufmarsch der völkischen und faschistischen Bewegung. Scholem wollte dies nicht zulassen: »Die Zentrale der KPD entschloss sich, eine Gegenkundgebung zu organisieren, […] obwohl von vornherein feststand, dass es uns nicht gelingen würde, gegen das Bündnis der bewaffneten Faschisten, der Reichswehr, der Schupo und aller Regierungsbehörden die Faschisten vollkommen zu 208 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. 209 Durch Ausschluss der Öffentlichkeit vom Prozess etc. wurde lange versucht, diese Tatsache herunterzuspielen - was die kommunistische Presse heftig kritisierte. Vgl. etwa W. Zink, Die politische Seite des Haarmann Prozesses, in: Internationale Presse-Korrespondenz, Nr 166, 22. Dezember 1924. 210 Betty an Gerhard Scholem, 8. April 1924, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-102. 211 Betty an Gerhard Scholem, 5. Mai 1924, in: Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.-106. 212 Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro, a.a.O. Eine Liste aller KPD-Kampagnen des Jahres 1924 findet sich auch in SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 706/ 14. Den Betriebszellen maß Scholem eine wichtige Funktion im Wahlkampf zu, vgl. Werner Scholem, Die letzten Aufgaben der Betriebszellen im Wahlkampf, Rote Fahne Nr. 170, 1. Beilage, 20. November 1924. 213 Der Arbeiterkongress wurde von der Polizei gesprengt. Vgl. Harald Jentsch, Die KDP und der »Deutsche Oktober«. <?page no="277"?> 277 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 277 schlagen und aus Halle zu vertreiben. […] Wir durften nicht zulassen, dass Halle ohne eine Gegenkundgebung der Arbeiterschaft durchgeführt wurde, weil sonst sicher zu erwarten war, dass die Faschisten immer frecher werden und die staatlichen Behörden immer hemmungsloser ihnen nachgeben würden.« 214 Nicht nur Werner Scholem, sondern auch die bürgerliche »Frankfurter Zeitung« kritisierte staatliche Unterstützung für den völkischen Aufmarsch: »Das Ergebnis ist dann, daß sich die Reaktion unter dem Schutz der preußischen Polizei breit machen darf und ihre Gegner die volle Schärfe der staatlichen Gewalt trifft, weil nur so noch größeres Unrecht verhindert werden kann. Sehr merkwürdig berührt es auch, daß die Reichswehr der Republik sich durch die Stellung einer Traditionskompanie an den Feierlichkeiten in Halle beteiligt hat, […] und daß es offenbar den völkischen Verbänden möglich war, mit Extrazügen nach Halle zu gelangen, während die Eisenbahn bei den Gegendemonstranten ähnliches Entgegenkommen vermissen ließ.« 215 Durch politischen Druck war es den Kommunisten dennoch gelungen, für den 11. Mai eine Gegenveranstaltung unter dem Titel »Deutscher Arbeitertag« durchzusetzen und Tausende Anhänger weit über die Region hinaus zu mobilisieren. Scholem verbuchte dies in seinem Bericht als riesigen Erfolg - verschwieg aber die tragischen Folgen der Aktion: Bei einer Schießerei zwischen Arbeitern und Schutzpolizei hatte es zahlreiche Verletzte und mehrere Todesopfer gegeben. In Pressepolemiken und Gerichtsverhandlungen wurde noch lange gestritten über die Verantwortung dafür. Scholem sagte nichts dazu, zeigte weder schlechtes Gewissen noch Zweifel. Für ihn zählte allein das Ergebnis: in Halle hatte die 214 Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 4/ 24. 215 »Die Ereignisse in Halle«, Frankfurter Zeitung, 13. Mai 1924. »Baby Werner Scholem bezieht seine geistige Nahrung an der Brust von Mütterchen Moskau«, Vorwärts, 5. April 1924. Werner Scholem beim Antikriegstag 1925 (Privatarchiv Renee Goddard) <?page no="278"?> 278 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) KPD endlich wieder Stärke gezeigt. Auch in anderen Städten organisierte die Partei nun Gegendemonstrationen bei völkischen Aufmärschen. 216 Die Provokationen der Rechten, aber auch die Gründung eines sozialdemokratischen »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« zur Verteidigung der Republik schufen in der KPD das Bedürfnis nach einer eigenen Kampforganisation. Erste Initiativen dazu entstanden spontan, wurden jedoch schnell von der Zentrale kanalisiert. Scholem erklärte: »Die Zentrale sorgte für eine Zusammenfassung der in den einzelnen Bezirken spontan entstehenden Ortsgruppen, für Schaffung eines einheitlichen Statuts, eines Abzeichens, einer einheitlichen Tracht und für die Schaffung eines besonderen Organs.« 217 Die neue Organisation wurde »Roter Frontkämpferbund« (RFB) getauft, war jedoch trotz des militärischen Namens nicht bewaffnet, um ein Verbot zu vermeiden. 218 Umso wichtiger war das kämpferische Auftreten. Scholem kümmerte sich auch hier und versicherte: »Wir werden uns bemühen, so rasch wie möglich alle Forderungen auf Abzeichen, Mützen, Windjacken und ähnliche revolutionäre Requisiten zu erfüllen.« 219 Zwar verlief die Integration von Resten der bewaffneten Hundertschaften und anderer militärischer Zirkel der KPD in den neuen, eher als Paradeorganisation konzipierten Verband nur schleppend. Dennoch setzte sich das Modell durch, und als im April 1925 Ernst Thälmann zur Frontfigur des Bundes ernannt wurde, brachte ihm die Aufgabe einiges an Prestige ein. Die KPD schien unter der Leitung von Ruth Fischer und Werner Scholem also im Aufwind. Unter der Oberfläche gärten jedoch alte und neue Widersprüche. Im Inneren der Partei war dies die Umstellung auf am Arbeitsplatz verortete »Betriebszellen«, welche die alten Ortsgruppen komplett ersetzen sollten. Diese von der Komintern geforderte Änderung konnte die neue Führung nicht im geplanten Tempo umsetzen, wie Scholem später selbstkritisch zugab. 220 Ein noch größeres Problem war die Gewerkschaftsarbeit: gerade im linken Flügel der KPD gab es stets entschiedenen Widerspruch gegen die reformistische Politik der Großgewerkschaften. 221 Jedoch hatte der 5. Weltkongress der Kommunisti- 216 Scholem erwähnt in seinem »Tätigkeitsbericht des Orbüro« antifaschistische Kundgebungen in Limbach und Fürstenwalde, im Juni 1924 hätten die Aktivitäten der Völkischen dann nachgelassen. Als sie im Folgejahr wieder aufflammten, mobilisierte auch die KPD. Auf einer Reichsparteikonferenz der KPD am 31. Oktober 1925 wurde verkündet: »In Chemnitz sollte heute Hitler sprechen. Der Druck der Arbeiterschaft hat den sozialdemokratischen Innenminister Sachsens gezwungen, Hitler das Reden zu verbieten. Den Völkischen ist die Abhaltung der Versammlung aber erlaubt worden. Die kommunistische Partei hat zur Gegenkundgebung aufgerufen. Sie hat im Zuge 5000 Arbeiter gehabt, auf dem Demonstrationsplatz waren es mehr als 10000. Die Faschisten vereinigten 650 Uniformierte. Die Zivilbevölkerung schloss sich unserer Demonstration an, die ein voller Erfolg für die KPD war.« Auch wenn die Zahlenangaben nicht nachprüfbar sind, belegen die Aktivitäten wachsendes Bewusstsein der KPD über die Gefahr der NS- Bewegung. Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 1/ 2/ 4. 217 Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro, a.a.O. 218 Zum RFB vgl. Kurt G. P. Schuster: Der rote Frontkämpferbund 1924-1929 - Beiträge zur Geschichte und Organisationsstruktur eines politischen Kampfbundes, Düsseldorf 1975; sowie Carsten Voigt: Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924-1933, Köln-Weimar-Wien 2009. 219 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. 220 Scholem stellte Mitte 1925 fest, dass die Betriebsgruppen stagnierten, während man aus Angst vor Mitgliederschwund nicht wagte, die Wohnortgruppen aufzulösen. Vgl. Werner Scholem, Einige noch ungelöste organisatorische Fragen, in: Die Internationale, Jg. 8, Sonderheft zum Reichsparteitag, 12. Juli 1925. Ein halbes Jahr zuvor hatte er die Betriebszellen noch optimistisch beurteilt: Werner Scholem, Die letzten Aufgaben der Betriebszellen im Wahlkampf, Rote Fahne Nr. 170, 1. Beilage, 20. November 1924. 221 Brandlerianer und Mittelgruppe orientierten sich auf politische Arbeit in den ADGB-Gewerkschaften, <?page no="279"?> 279 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 279 schen Internationale im Sommer 1924 die Partei dazu verpflichtet, genau hier mitzuarbeiten. 222 Alle bestehenden »Unionen« und Linksgewerkschaften sollten aufgelöst werden, jedes Mitglied wurde verpflichtet, sich in den ADGB-Gewerkschaften kommunistisch zu engagieren. Auch der Gewerkschaftskritiker Scholem unterstützte diesen Beschluss - und stand damit im Konflikt zu genau jenen linksradikalen Kräften, die ihn an die Macht gebracht hatten. 223 Der Organisationsleiter hielt das Problem im Oktober 1924 jedoch für größtenteils gelöst: »Es gelang aber, durch intensive Bearbeitung er einzelnen Bezirke, Gruppen und Abteilungen die Mehrzahl der tätigen Mitlieder von der Notwendigkeit der Gewerkschaftslinie innerlich zu überzeugen und einen anderen Teil wenigstens disziplinarisch festzulegen.« 224 Ohne Reibungen ging dies jedoch nicht ab: Paul Weyer, langjähriges Mitglied der Berliner Bezirksleitung, wurde wegen seines Widerstandes gegen die neue Gewerkschaftspolitik aus der KPD ausgeschlossen und nahm zahlreiche Mitglieder mit. 225 Auch wo es nicht zur Spaltung kam, verweigerten KPD-Mitglieder den Gewerkschaftseintritt oder konnten wegen vorheriger Ausschlüsse nicht eintreten. 226 Ironischerweise musste auch Scholem erst durch seine Ortsgruppe an den Beschluss erinnert werden: während er andere disziplinarisch festlegte, war er selbst keiner Gewerkschaft beigetreten. 227 Für noch mehr Unruhe als die Spaltung in der Gewerkschaftsfrage sorgte jedoch der alte Streit mit den »Rechten« und der Mittelgruppe. Scholem sah seine Hauptaufgabe darin, die alten Gegner von verantwortlichen Funktionen in der KPD fernzuhalten. 228 Doch viele dieser Leute waren erfahrende Redner und Organisatoren, konnten nicht über Nacht er- Scholem hatte daher die Gewerkschaftsabteilung der Zentrale verkleinert, weil dort die meisten Anhänger Brandlers zu finden waren. Vgl. Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-75. 222 Der V. Weltkongress brachte zudem eine Aussöhnung zwischen KPD und Komintern - vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-439-465; Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-81ff. Zur Gewerkschaftsdebatte auch Otto Langels, Die ultralinke Opposition der KPD, S.-24ff. 223 Scholem bezeichnete die Gewerkschaftsmitarbeit als »eine Entscheidung von der grössten Tragweite für die Gesamtpartei, eine Entscheidung, die vielleicht wichtiger ist als alle Entscheidungen, die seit dem Frankfurter Parteitag im Zentralausschuss getroffen wurden.« Er unterstützte damit einen Vorschlag von Fritz Heckert zur Terminierung der Verpflichtung ab dem 1. Dezember 1924 für Funktionäre und ab dem 1. Februar 1925 für einfache Mitglieder. Vgl. 3. Tagung des Zentralausschusses der KPD 18.-19. Oktober 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 23. 224 Werner Scholem, Tätigkeitsbericht des Orbüro, a.a.O. 225 Ebenso ausgeschlossen wurden Wilhelm Schumacher und Paul Kaiser. Weyer leitete im Folgenden die Linksgewerkschaft »Deutscher Industrieverband« und bildete mit Kaiser und Schumacher ein Kartell Linkskommunistischer Gewerkschaften. Vgl. Weber/ Herbst, Deutsche Kommunisten, S.- 1019 sowie Otto Langels, Die Revolutionären Industrieverbände, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 10, Gießen 1989. 226 Scholem lehnte auch für Ausgeschlossene die Gründung von Linksgewerkschaften ab, vgl. W.S.-(= Werner Scholem), »Der zweite Reichskongreß des Verbandes der ausgeschlossenen Bauarbeiter«, Rote Fahne Nr. 109, 19. September 1924. 227 In einem von der Polizei beschlagnahmten Rundschreiben der BL Berlin vom 25. Juli 1925 wird Scholem in einer Liste von Mitgliedern ohne Gewerkschaftszugehörigkeit zur Mahnung vorgemerkt, vgl. Akten des Oberreichsanwalt gegen Fuchs und Genossen, BArch, R 3003, 14 a J 296/ 25, Band 2. Ruth Fischer hingegen war ordnungsgemäß im Verband der Konfektionsarbeiterinnen organisiert. 228 Auf einer Berliner Funktionärsversammlung am 16. Juni 1924 beschwerte sich Scholem über »unverantwortliche ehemalige Parteiführer«, die es wegen ihrer Zersetzungsarbeit »abzusägen« gälte. Vgl. Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-78. <?page no="280"?> 280 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) setzt werden. 229 Fehlbesetzungen und Unmut waren die Folge. 230 Beinahe grotesk wurde es, wenn Scholem sogar die Entlassung einer Stenotypistin aus der niedersächsischen Provinz forderte, weil sie politisch verdächtig sei. Die Genossen vor Ort antworteten ihrem Orgleiter ironisch: »Wenn sie wirklich Fraktionsarbeit machen würde, dann hätte sie gerade bei uns die wenigste Gelegenheit dazu.« 231 Der wachsenden Kritik an seinen Maßnahmen war sich Werner Scholem bewusst. Offen gab er zu: »Innerhalb der Parteiorganisation sind zwei Auffassungen verbreitet über die Politik, die die Zentrale zur Herausbildung fester Bezirksleitungen betrieben hat. Die eine Auffassung sagt, dass in der Zentrale blutige Henker sitzen, welche nach dem glorreichen Beispiel des Eulogius Schneider mit einer Guillotine durch das Land ziehen und Köpfe absäbeln. Diese Genossen erklären von Zeit zu Zeit, wenn sie mal sozusagen offen mit uns reden, dass doch jetzt endlich die Zeit gekommen sein müsse, wo die Zentrale überhaupt nicht danach frage, wie die politische Vergangenheit eines Genossen ist, dem sie eine verantwortliche Parteifunktion überträgt.« 232 Doch Scholem wollte von seinem Kurs nicht abweichen und sah sich durch Zuspruch von anderer Seite bestätigt: »Andererseits gibt es viele Genossen, welche ganz im Gegenteil zu der eben beschriebenen Auffassung dem Orbüro der Zentrale vorwerfen, dass es zu weich sei und dass es zuviel Nachsicht gegenüber verschiedenen Genossen übe, welche politisch vor dem Frankfurter Parteitag nicht den Standpunkt der Linken vertreten haben.« Er gab zwar zu: »Mit dem Absägen allein ist es nicht getan«, wandte sich aber gegen »Kompromissnaturen« im Organisationsbüro. 233 Sein Führungsstil führte auch innerhalb der Zentrale zu Kontroversen - als Scholem im Zuge seiner Reform der Parteifinanzen den Hauptkassierer Arthur König wegen Unfähigkeit absetzen wollte, gab es heftigen Streit. Scholem wurde von Thälmann und anderen beschuldigt, er wolle die Arbeiter aus der Parteileitung verdrängen. 234 Die gute Zusammenarbeit zwischen Arbeiterfunktionären und Intellektuellen in der KPD-Linken stand erstmals auf der Kippe. Scholem konnte sich nicht durchsetzen, obwohl er letztlich recht behielt: Königs riskante Anlagemethoden hatten der Partei einen Verlust von 100.000 Reichsmark beschert. Im Jahr darauf musste der Kassierer seinen Posten räumen. 235 Scholem war ein mehr als talentierter Organisator und verlangte auch von seiner Umgebung Höchstleistungen. Er brachte mit seinen energischen Eingriffen die am Boden lie- 229 August Thalheimer sprach vom Austausch des »gesamten mittleren und unteren Führerstabs« und einem Bruch mit der revolutionären Tradition der Partei. Wilhelm Pieck hingegen ordnete sich der neuen Zentrale unter, obwohl er nie mit Brandler brach. Vgl. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-431f. 230 Am 2. April 1925 beschwerte sich etwa Rosi Wolffstein in einem Brief an Sinowjew, dass die Kaltstellung erfahrener Genossen die Partei lähmte. Vgl. RGASPI, F. 324, op. 1, d. 555, Bl 45. 231 Am 8. September 1924 beschwerte sich die Bezirksleitung Niedersachsen mit diesen Worten über Scholems Verlangen, die Stenotypistin Lotte Bachofen zu entfernen, vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 14/ 27. 232 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. Eulogius Schneider (1756-1794) war Franziskanerpater und Prediger, schloss sich 1791 in Straßburg der Französischen Revolution an. Er verhängte als Vorsitzender eines Revolutionstribunals zahlreiche Todesurteile, die durch die Guillotine vollstreckt wurden, bis er schließlich 1794 selbst hingerichtet wurde. Das Wort vom »Henker« Scholem scheint ein stehender Begriff gewesen zu sein. Hans Stetter z.B. sprach vom »Parteihenker Scholem«. Vgl. Hans Stetter, Der Kommunistische Sumpf - Mein Ausschluß aus der KPD, Stuttgart 1926, S.-11. 233 Konferenz pol. u. org. Sekretäre, Chefredakteure« vom 4. September 1924, SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 4. 234 Hermann Weber, Wandlung des deutschen Kommunismus, S.-105. 235 Weber/ Herbst: Deutsche Kommunisten, S.-471. <?page no="281"?> 281 4.5 Die Macht des Apparates: Werner Scholem organisiert die KPD 281 gende KPD wieder auf die Beine, war dann aber unfähig, sie im Konsens zu führen. Seine neue Machtposition hätte ihm durchaus Raum für Zugeständnisse gelassen: das Einlenken der Linken in der Gewerkschaftsfrage bot zumindest Ansätze für eine Verständigung mit den Pragmatikern der alten Führung. Scholems Stil war jedoch die Polemik, nicht der Kompromiss. Selbst bei einer Delegationsreise nach Prag hatte er wenig Hemmungen, in seinem Abschlussbericht die führenden Köpfe der tschechoslowakischen Bruderpartei als »verkappte Rechte« mit »schweinischem Benehmen« und »Schlafmützen ersten Ranges« einzuordnen. Scholem forderte die Entsendung einer Delegation der Komintern, um Ordnung zu schaffen. Am liebsten hätte er diese Aufgabe gleich selbst übernommen, konnte aber als Deutscher in Prag nicht »autoritativ« genug auftreten. 236 Scholem war von seinem Kurs absolut überzeugt. Die große Mehrheit des Frankfurter Parteitags schuf in ihm die Illusion, auf Gegenkräfte keinerlei Rücksicht nehmen zu müssen, weder in der Sache und erst recht nicht in der Form. In seinem Führungsstil bekräftigt wurde er durch eine weitere Besonderheit der KPD, die ebenfalls in Frankfurt beschlossen worden war: das Fraktionsverbot. Es untersagte, dass Mitglieder der Partei sich formell oder faktisch als Opposition organisierten. Abweichende Meinungen durften einzeln in Diskussionen vertreten, aber nicht als Gruppe zusammengeführt werden. Die Russische KP hatte dieses Fraktionsverbot schon 1921 eingeführt, im Rahmen der Bolschewisierung sollte es nun auf die KPD übertragen werden. 237 Die Delegation der Komintern verstand das Verbot auch als Appell an die Linke, im Namen der Einheit die Drangsalierung der Brandlerianer einzustellen. Doch die Linke sah dies anders. Ruth Fischer hatte es auf dem Frankfurter Parteitag offen ausgesprochen: »Wir sind gegen Fraktionismus in jeder Form, nachdem wir die Mehrheit haben. Wir werden versuchen, aus der Partei eine einheitliche zu machen.« 238 Werner Scholem setzte Fischers Ausspruch um. In einem Artikel zum Jahrestag der Novemberrevolution schrieb er: »Die berühmte ›Meinungsfreiheit‹, das heißt, die Freiheit, mit dem Bürgertum zu techtelmechteln und die Freiheit, reformistische Politik zu betreiben, existiert in dieser Partei nicht.« 239 Die unduldsame Linie wurde durch Scholems misstrauische Natur noch verstärkt. In einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel »Feinde Ringsum« warnte er: »Die Rechte aber lebt noch, wenngleich nicht als Fraktion organisiert, und kann wieder gefährlich werden, sobald sie spürt, daß die jetzige Führung der Partei schwach wird […].« 240 Sozialdemokratie, Polizei, abtrünnige Linksradikale und alte Brandlerianer - Scholem sah sich überall von Gegnern umgeben und forderte seine Berliner Hausmacht zur Geschlossenheit auf. Pathetisch rief er ihnen zu: »Viel Feind, viel Ehr! wenn die Berliner Organisation die Maulwürfe töten wird, so wird sie der Bourgeoisie, der Sozialdemokraten und der neuen Syndikalisten Herr werden.« 241 236 Werner Schoolem, Auszug aus einem Bericht des Vertreters der KPD in Prag, RGASPI, F. 495, op. 18, d. 350. 237 Der Zentralvorstand der KPD erklärte das auf dem Frankfurter Parteitag diskutierte Fraktionsverbot am 11. Mai 1924 für verbindlich. 238 Zit. nach Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober«, S.-389. 239 Werner Scholem, Die historische Lehre des 7. November: Die Rolle der Kommunistischen Partei, in: »Rote Fahne« Nr. 151, 7. November 1924. 240 Werner Scholem, Feinde Ringsum, in: »Der Funke«, Jg. 2, Nr. 16 vom 15. September 1924. Danke auch hier an Mario Keßler für den Hinweis. 241 Ebenda. <?page no="282"?> 282 4. Der Kommunismus - Utopien und Apparate (1921 - 1926) Scholems Lieblingsfeinde blieben jedoch »Rechte« und »Opportunisten« in den eigenen Reihen. Im Oktober 1924 verkündete er auf einer Sitzung mit entlarvendem Gestus das Auffliegen einer Oppositionsgruppe, die im Widerspruch zum Fraktionsverbot eigene Rundschreiben verschickt hatte. 242 Über den Umweg von Resolutionen zur Steuerpolitik solle eine politische Plattform für »Rechte« und Mittelgruppe geschaffen werden, gab Scholem an. Er hielt diese Versuche für äußerst ungeschickt und bezeichnete das ganze als Drache, »welchem schon die Zunge zum Maule heraushängt«. Dennoch nahm