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Revolution als Realpolitik

Ernst Meyer (1887–1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden

0514
2018
978-3-7398-0628-0
978-3-8676-4773-1
UVK Verlag 
Florian Wilde

Ernst Meyer war ein führender Akteur der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Weimarer Republik. Schüler Rosa Luxemburgs, Gründungsmitglied des Spartakusbundes und aktiv in der Novemberrevolution, gehörte er nach dem Ersten Weltkrieg der KPD-Zentrale an und war 1921/22 Parteivorsitzender. Als Anhänger einer revolutionären Realpolitik hatte Meyer wesentlichen Anteil an der Entwicklung der kommunistischen Einheitsfrontstrategie. Gegenüber der Ruth Fischer-Führung und später dem Thälmann-Zentralkomitee verteidigte er leidenschaftlich die Notwendigkeit innerparteilicher Demokratie. 1927 noch einmal mit an der Spitze der Partei stehend, wurde er bald darauf an den Rand gedrängt. Als Kritiker Stalins stritt er weiter gegen die verhängnisvolle These vom "Sozialfaschismus" und für die Diskussionsfreiheit. Erstmals zeichnet nun ein Historiker auf breit fundierter Quellenbasis das politische und private Leben und Wirken Ernst Meyers nach. Dabei werden insbesondere die strategischen Debatten innerhalb der KPD und die in der Entwicklung der Partei angelegten Alternativen zu ihrer Stalinisierung herausgearbeitet. >>Dank der hervorragenden Biographie von Florian Wilde ist Ernst Meyer der Vergessenheit entrissen. Sie verbindet eine Lebensgeschichte mit der allgemeinen Zeitgeschichte.<< Hermann Weber, Historiker >>Der frühe deutsche Parteikommunismus fand in Ernst Meyer eine zentrale Führungsfigur. Florian Wilde beschreibt erstmals ausführlich Werk und Wirken dieses Kampfgefährten Rosa Luxemburgs.<< Klaus Kinner, Historiker >>Ein unverzichtbarer Beitrag zur Erforschung der Geschichte der KPD in der Weimarer Republik.<< Frank Deppe, Politologe >>Eine spannende Lektüre für alle, die den Wandel des Kommunismus von einer emanzipatorischen Bewegung in ein autoritäres Projekt verstehen wollen.<< Oliver Nachtwey, Soziologe

<?page no="0"?> Ernst Meyer (1887--1930) - Biographie eines KPD-Vorsitzenden Florian Wilde Florian Wilde Revolution als Realpolitik Revolution als Realpolitik Ernst Meyer war ein führender Akteur der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Weimarer Republik. Schüler Rosa Luxemburgs, Gründungsmitglied des Spartakusbundes und aktiv in der Novemberrevolution, gehörte er nach dem Ersten Weltkrieg der KPD-Zentrale an und war 1921/ 22 Parteivorsitzender. Als Anhänger einer revolutionären Realpolitik hatte Meyer wesentlichen Anteil an der Entwicklung der kommunistischen Einheitsfrontstrategie. Gegenüber der Ruth Fischer- Führung und später dem Thälmann-Zentralkomitee verteidigte er leidenschaftlich die Notwendigkeit innerparteilicher Demokratie. 1927 noch einmal mit an der Spitze der Partei stehend, wurde er bald darauf an den Rand gedrängt. Als Kritiker Stalins stritt er weiter gegen die verhängnisvolle These vom »Sozialfaschismus« und für die Diskussionsfreiheit. Erstmals zeichnet nun ein Historiker auf breit fundierter Quellenbasis das politische und private Leben und Wirken Ernst Meyers nach. Dabei werden insbesondere die strategischen Debatten innerhalb der KPD und die in der Entwicklung der Partei angelegten Alternativen zu ihrer Stalinisierung herausgearbeitet. »Dank der hervorragenden Biographie von Florian Wilde ist Ernst Meyer der Vergessenheit entrissen. Sie verbindet eine Lebensgeschichte mit der allgemeinen Zeitgeschichte.« Hermann Weber, Historiker »Der frühe deutsche Parteikommunismus fand in Ernst Meyer eine zentrale Führungsfigur. Florian Wilde beschreibt erstmals ausführlich Werk und Wirken dieses Kampfgefährten Rosa Luxemburgs.« Klaus Kinner, Historiker »Ein unverzichtbarer Beitrag zur Erforschung der Geschichte der KPD in der Weimarer Republik.« Frank Deppe, Politologe »Eine spannende Lektüre für alle, die den Wandel des Kommunismus von einer emanzipatorischen Bewegung in ein autoritäres Projekt verstehen wollen.« Oliver Nachtwey, Soziologe ISBN 978-3-86764-773-1 www.uvk.de <?page no="1"?> Florian Wilde Revolution als Realpolitik <?page no="2"?> Gewidmet Hermann Weber (1928 - 2014) Kommunismusforscher und demokratischer Sozialist <?page no="3"?> Florian Wilde Revolution als Realpolitik Ernst Meyer (1887 - 1930) Biographie eines KPD-Vorsitzenden Mit einem Vorwort von Hermann Weber UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz <?page no="4"?> Florian Wilde, Dr. phil. (geb. 1977) ist Historiker und arbeitet als wissenschaftlicher Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Gewerkschaftspolitik. U.a. Mitherausgeber von „Politische Streiks im Europa der Krise“, Hamburg 2012 (mit Alexander Gallas und Jörg Nowak). Er betreibt das Online-Archiv http: / / wildetexte.blogsport.de/ mit Texten zu linker Politik und Geschichte. Gedruckt mit freundlicher Förderung der Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-86764-773-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2018 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Foto auf Einbandvorderseite: © Privatarchiv Jörg Meyer Lektorat: Dr. Marcel Bois, Hamburg / Uta Preimesser, Konstanz Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort von Hermann Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Kindheit, Jugend, Studium und Eintritt in die Sozialdemokratie . . . . . . . . . . 25 2.2 Die SPD der Vorkriegsjahre und die Entstehung des linksradikalen Flügels . . 29 2.3 In Steglitz bei den Radikalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4 Eine Kneipenrunde als Keimzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.5 Redakteur beim Vorwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.6 Verurteilt wegen Majestätsbeleidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1 4. August 1914: Entsetzen, Verzweiflung und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.2 Die Gruppe Internationale zwischen Kooperation und Abgrenzung . . . . . . . . 46 3.3 International gegen den Krieg I: Auf der Zimmerwalder Konferenz 1915 . . . . 49 3.4 Gründung der Spartakusgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .52 3.5 International gegen den Krieg II: Auf der Kienthaler Konferenz 1916 . . . . . . .59 3.6 Entlassung beim Vorwärts und Beitrags-Boykott-Kampagne . . . . . . . . . . . . . . 62 3.7 Im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.8 Gründung der USPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.9 Vorübergehender Rückzug aus der Spartakus-Führung 1917 . . . . . . . . . . . . . 77 3.10 Oktoberrevolution und Debatten über die Politik der Bolschewiki . . . . . . . . . 80 3.11 Auf dem Weg zur Revolution: Leiter der Spartakusgruppe 1918 . . . . . . . . . . . 82 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1 Auf dem Gründungsparteitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 4.2 Der unglückliche Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .104 4.3 Mord an den Freunden: Die Enthauptung der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . .106 4.4 Neun Monate in Schutzhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .109 4.5 Heidelberger Parteitag und Spaltung der KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111 <?page no="6"?> 6 Inhalt 4.6 Widerstand gegen den Kapp-Putsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .114 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.1 „Revolutionäre Offensive“ statt „antiputschistischer Kretinismus“. . . . . . . . . .121 5.2 Auf dem II. Weltkongress der Komintern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124 5.3 Endlich Massenpartei: Die Vereinigung mit der USPD. . . . . . . . . . . . . . . . . .131 5.4 Chefredakteur der „Roten Fahne des Ostens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .134 5.5 Fraktionsvorsitzender der KPD im Preußischen Landtag 1921-1924 . . . . . . .136 5.6 Zurück in der Zentrale, hinein in den Aufstand: Märzaktion 1921 . . . . . . . . .140 5.7 Parteikrise und Abrücken von der Offensivtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .143 5.8 Die Wende zur Einheitsfrontpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) . . . . . . 151 6.1 Abkehr vom linken Flügel: Beim Jenaer Parteitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151 6.2 Von der Arbeit getrieben: Aufgaben eines Parteivorsitzenden . . . . . . . . . . . . .153 6.3 Ehescheidung und neue Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .160 6.4.1 Der Erzberger-Mord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.4.2 „Abwälzung aller Lasten auf die Besitzenden“: Kommunistische Steuerpolitik . . . . . . 162 6.4.3 Arbeiterregierung als strategische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.4.4 Einheitsfrontpolitik im Eisenbahnerstreik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6.4.5 Rathenau-Mord: Einheitsfront gegen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6.4.6 Meyer und die Einheitsfront: eine Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .176 6.5.1 Im Konflikt mit der rechten Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6.5.2 Im Konflikt mit der linken Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 6.5.3 Meyers Verständnis von innerparteilicher Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern . . . . . . . . . . . . . .189 6.7 Erfolgreiche Konsolidierung der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .198 6.8 Der Sturz Meyers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) . . . . . . . . . . . . 207 7.1 „Einmal heraus aus dem deutschen Parteikrakeel“: Für die KPD in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 7.2 Leiter des Oberbezirks Südwest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.3.1 Der Weg zum Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.3.2 „Mittel zur Steigerung des Kampfes“: Perspektiven einer Arbeiterregierung . . . . . . . 218 7.3.3 Der kampflose Rückzug der KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 <?page no="7"?> 7 Inhalt 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 7.4.1 „Katastrophal für die gesamte Bewegung“: Früher Kritiker der Oktoberniederlage. . . 222 7.4.2 Spaltung der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 7.4.3 Herausbildung der Mittelgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 7.4.4 Der Sieg des linken Flügels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 8.1 Ernst, Rosa und die Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 8.2 Der linke Flügel übernimmt die Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 8.3.1 Verhinderte Wiederwahl in den Landtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 8.3.2 Chefredakteur der „Welt am Abend“, Leiter des Pressedienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 8.3.3 Verteidiger der Tradition Rosa Luxemburgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 8.4 Völlig isoliert: Auf dem 10. Parteitag der KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) . . . . . . . . . . . . . 265 9.1 „Eingeschlagen wie eine unerwartete Bombe“: Die Komintern greift ein . . . 265 9.2 In Fraktionskämpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 9.3 Im Aufwind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 9.4 Einheitsfront beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung . . . . . . . . . . . . . . 276 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ . . . . . . . . . . . 283 9.5.1 Vorerst kein Bündnis mit Thälmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 9.5.2 Zusammenprall in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 9.5.3 Versuche zur Spaltung der Meyer-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 9.5.4 Überlastung, psychische Probleme und Beziehungskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 9.5.5 Gegner der linken Opposition in Deutschland und Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 9.6 „Ein Drama, das Ernst kaputt machte“: Meyers Moskauer Erklärung . . . . . . 298 9.7 Die Spaltung der Meyer-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 9.8 „Fast bereue ich meine Gewissenhaftigkeit“: Selbstzweifel und Integrität . . . 307 10 Parteiführer neben Thälmann (1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 10.1 „Keine akut revolutionäre Situation“: Einschätzung der politischen Lage . . . 311 10.2 Essener Parteitag: Rückkehr an die Spitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 10.3 Im Ringen um die Einheitsfront: Umkämpfte Einschätzung zur SPD-Linken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 10.4 Debatten über parteiinterne Demokratie und ein Aktionsprogramm . . . . . . 327 <?page no="8"?> 8 Inhalt 10.5 Kampf gegen Kriegsgefahr, Kampagne „10-Jahre Sowjetunion“ und geschichtspolitische Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 10.6 Bilanz der Arbeit Meyers in den Spitzengremien der KPD 1927 . . . . . . . . . . 338 10.7 Krank und ausgebrannt ins Sanatorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 11 Mit letzter Kraft gegen die Stalinisierung (1928-30) . . . . . . . . . . . . . . 345 11.1 Stalin und die ultralinke Wende der Komintern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 11.1.1 Februar-Plenum des EKKI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 11.1.2 VI. Weltkongress der Komintern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 11.1.3 Thälmann-Skandal und Eingreifen Stalins in die KPD. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 11.1.4 Erste Reaktionen Meyers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 11.1.5 Aus dem Sanatorium zur Kominternexekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 11.2 Zwischen den Fronten im Dezember 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 11.2.1 Mit offenen Wunden zurück in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 11.2.2 „Gegen diesen innerparteilichen Ton werde ich den schärfsten Kampf führen“. Auf dem Plenum des ZK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 11.2.3 „Weshalb nicht eine gewisse Diskussionsfreiheit? “ Gegen den Ausschluss realpolitischer Genossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 11.2.4 Ein herber Verlust: Die Abspaltung der KPD-Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 11.3 Mit dem Rücken zur Wand gegen die Stalinisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 11.3.1 Auf verlorenem Posten im Zentralkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 11.3.2 Die Plattform der Versöhnler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 11.3.3 Gegen eine Spaltung der Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 11.3.4 „Sozialfaschistisch“? Über den Charakter der SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 11.3.5 Geschichtspolitische Abwehrgefechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 11.4 Meyers letzter Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 11.4.1 Wachsender Druck auf die Versöhnler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 11.4.2 Bleich und zittrig: Beim 12. Parteitag der KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 11.4.3 „Sie haben mich alle verlassen“: Die Kapitulation der Versöhnler. . . . . . . . . . . . . . . . 395 11.5 Krankheit, Tod, Begräbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 11.6 Der Weg der Hinterbliebenen: Widerstand und Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 12 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Anhang Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 <?page no="9"?> 9 Vorbemerkung Das vorliegende Buch ist eine gekürzte, ergänzte und überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2011 online veröffentlichten Dissertationsschrift „Ernst Meyer (1887-1930) - vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Eine politische Biographie“. 1 Um Ernst Meyer einer breiteren Leserinnen- und Leserschaft zugänglich zu machen, habe ich mich für eine deutliche Kürzung der Dissertationsschrift entschieden. Ihr Umfang von 666 Seiten, aber auch der Stil und das Format einer akademischen Abschlussarbeit können außerhalb der recht kleinen Welt wissenschaftlich Interessierter schnell abschreckend wirken. Ernst Meyer und die politischen Fragen, die sich mit seiner Biographie verbinden, haben aber breiteres Interesse verdient. Daher wurde die Dissertation für das vorliegende Buch gestrafft und sprachlich geglättet, in der Hoffnung, dadurch ein größeres Lesevergnügen zu bieten. Während die Dissertation als eine rein politische Biographie geschrieben wurde, finden in der Buchveröffentlichung die persönlichen Seiten Meyers stärkere Berücksichtigung, um dem Protagonisten mehr Farbe und Tiefe zu verleihen. Dafür wurden die Liebesbriefe zwischen ihm und seiner Frau neu ausgewertet, außerdem die unveröffentlichten Erinnerungen seines Sohnes Heinz Meyer. Stark gekürzt wurden dagegen insbesondere die Auseinandersetzung mit Forschungskontroversen und der umfangreiche Anmerkungsapparat. Wer bestimmte Aspekte vertiefen, sich stärker mit der zugrundeliegenden Literatur und den Quellen auseinandersetzen oder sich weitere Details aus Meyers Leben erschließen möchte, sollte einfach online einen Blick in die entsprechenden Kapitel der Dissertation werfen, deren 2.343 Fußnoten Interessierten reichlich Material bieten werden. Das vorliegende Buch reicht aber für eine umfassende Auseinandersetzung mit Ernst Meyer, seinen Aktivitäten im Spartakusbund und in der KPD sowie den politischen und strategischen Grundfragen seines Wirkens - insbesondere Fragen der Demokratie in der kommunistischen Bewegung und der Methode der Einheitsfront - völlig aus. Nach der Veröffentlichung meiner Dissertation nahm Ernst Meyers Enkel Jörg Meyer Kontakt zu mir auf und überließ mir die Erinnerungen seines Vaters Heinz Meyer. 2 Diese sind in das vorliegende Buch eingeflossen, ebenso ausgewählte Publikationen der letzten Jahre, darunter insbesondere Marcel Bois’ Studie über die linke Opposition in der Weimarer KPD, Ralf Hoffrogges Biographie des kommunistischen Politikers und Kontrahenten Meyers, Werner Scholem (eine ebenfalls bei UVK erschienene, gekürzte Dissertations- 1 Florian Wilde: Ernst Meyer (1887-1930) - vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Eine politische Biographie, Hamburg 2011. Online veröffentlicht unter http: / / ediss.sub.uni-hamburg.de/ volltexte/ 2013/ 6009/ pdf/ Dissertation.pdf. Die Arbeit ist auch mit den einschlägigen Internet-Suchmaschinen leicht zu finden. 2 Heinz Meyer: Kraft ist die Parole des Lebens. Ein Leben im Widerstand. Autobiographische Notizen, unveröffentl. Manuskript, 1981. <?page no="10"?> 10 Vorbemerkung schrift), und die von Reiner Tosstorff herausgegebenen Erinnerungen von Meyers langjährigem Weggefährten und Trauzeugen, Paul Frölich 3 . Zu großem Dank verpflichtet bin ich dem im Dezember 2014 verstorbenen Nestor der westdeutschen Kommunismusforschung und langjährigem Mitglied der Historischen Kommission der SPD, Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Weber, der noch kurz vor seinem Tod das Vorwort für dieses Buch beisteuerte. Wie kein anderer in Westdeutschland hatte er das Wirken Ernst Meyers gewürdigt, und die Abfassung meiner Dissertation und ihre Veröffentlichung sehr unterstützt. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Ebenfalls Dank schulde ich dem langjährigen Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN und zuvor der PDS, Prof. Dr. Klaus Kinner, der wie kein anderer in der ostdeutschen Kommunismusforschung das Wirken Meyers gewürdigt hatte und mich bei der Bewerbung für ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung stark unterstützte, welches mir das Abfassen der Dissertation überhaupt ermöglichte. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung -- in deren Institut für Gesellschaftsanalyse ich gegenwärtig als wissenschaftlicher Referent zu dem Thema Gewerkschaftspolitik arbeite - hat diese Buchveröffentlichung ebenfalls finanziell gefördert. Auch dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Großer Dank gilt auch Prof. Dr. Klaus Saul, der bis zu seinem erkrankungsbedingten Ausscheiden meine Dissertation an der Universität Hamburg als Erstgutachter betreute, Prof. Dr. Norbert Angermann, der als vorheriger Zweitgutachter dann an dessen Stelle trat, und Prof. Dr. Reiner Tosstorff, der sich daraufhin als Zweitgutachter zur Verfügung stellte. Danken möchte ich weiterhin meiner Lektorin Uta Preimesser vom UVK-Verlag für die intensive Betreeuung dieser Veröffentlichung, sowie Dr. Marcel Bois. Nicht nur entstand meine Dissertation in einem engen und befruchtendem Forschungsaustausch mit ihm, sondern er übernahm und meisterte auch eine Aufgabe, an der ich gescheitert war: das Kürzen der Dissertation auf den nun vorliegenden Buchumfang. Florian Wilde Hamburg, Januar 2018 3 Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die Linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen 2014; Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895-1940), Konstanz und München, 2014; Paul Frölich: Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890-1921. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Reiner Tosstorff, Berlin 2013. Außerdem berücksichtigt wurden weitere Neuerscheinungen wie Elisabeth Benz: Ein halbes Leben für die Revolution. Fritz Rück (1895-1959). Eine politische Biographie, Essen 2014; Ronald Friedmann: Arthur Ewert. Revolutionär auf drei Kontinenten, Berlin 2015; Mario Kessler: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Köln/ Weimar/ Wien 2013 und insbesondere Hermann Weber, Jakov Drabkin, Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Deutschland, Russland, Komintern. II. Dokumente (1918-1943). Nach der Archivrevolution: Neuerschlossene Quellen zu der Geschichte der KPD und den deutsch-russischen Beziehungen, 2 Bände, Berlin/ New York, 2015. <?page no="11"?> 11 Vorwort von Hermann Weber Über die Entwicklung, die Politik und die Strukturen der Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD, liegen inzwischen unzählige Werke mit recht gegensätzlichen Einschätzungen vor. Auch Kurzbiographien des Funktionärskorps sowie meist umfangreiche Untersuchungen aller Parteiführer zwischen 1919 und 1933 sind erschienen, sei es von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht, ihrer Nachfolger Paul Levi, Heinrich Brandler, Ruth Fischer und insbesondere Ernst Thälmann. Bisher fehlte nur eine wissenschaftliche Arbeit über Leben und Wirken von Ernst Meyer, der die KPD 1921/ 22 leitete. Nun liegt mit diesem Buch von Florian Wilde (die gekürzte Fassung seiner umfangreichen Dissertation) endlich eine angemessene Beschreibung vom Werdegang eines der bedeutendsten Führungspersönlichkeiten der KPD vor. Darin wird Meyers Lebenslauf anhand aller Materialien, insbesondere auch der erst jetzt zugänglichen umfangreichen Archivalien, exakt und einfühlsam dargestellt. Auch die politischen Umstände, die Meyers Haltung bestimmten, werden genau und meist differenziert beschrieben. Wildes Untersuchung der KPD ist gerade deshalb sehr beachtlich, weil sie nicht nur den neuesten Stand der Forschung, sondern ebenso die eigenen Bewertungen des Autors zeigen. Dabei wird in dieser Biographie sowohl die Wandlung, die Stalinisierung der deutschen Organisation, klar herausgearbeitet, als auch die Rolle Ernst Meyers gegen diesen Prozess als Führer der „Versöhnler“ einleuchtend beschrieben. Der Autor geht chronologisch vor und kann damit das Leben Meyers von der Geburt 1887 bis zum frühen Tod 1930 ausführlich nachzeichnen und in diesem gut lesbaren Band zahlreiche neue Einzelheiten zu den bekannten Fakten bringen: Ernst Meyer wurde in einem streng religiösen Arbeiterhaushalt in Ostpreußen erzogen, als Student Marxist, trat er 1908 der SPD bei. Nach der Promotion 1910 in Königsberg wurde er Anfang 1913 Redakteur des SPD-Zentralorgans „Vorwärts“ in Berlin. Er gehörte zum linken Flügel der SPD, war Kriegsgegner und wurde im Spätsommer 1915 beim „Vorwärts“ entlassen. Von Januar bis August 1916 war Meyer Mitherausgeber der „Spartakusbriefe“ und kam 1915 und 1916 wegen seiner Aktivitäten für die illegale „Spartakusgruppe” einige Monate in „Schutzhaft“; 1918 war er zeitweilig beim sowjetischen Nachrichtenbüro „ROSTA“ in Berlin angestellt. Bei Ausbruch der Revolution lag die Führung der Spartakusgruppe - da außer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auch Leo Jogiches in Haft war - in den Händen von Meyer. Der Berliner Gründungsparteitag der KPD an der Jahreswende 1918/ 19 wählte Meyer in die Zentrale der neuen Partei und er gehörte diesem Leitungsgremium in den ersten Jahren fast ununterbrochen an. Nach den Kämpfen in Berlin im Januar 1919 wurde er verhaftet und kam erst im Herbst desselben Jahres wieder frei. Vom II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) 1920 in das Exekutivkomitee gewählt, übernahm er 1921 als Vorsitzender des Polbüros (Politisches Büro) die Führung der KPD. In dieser Stellung trat Meyer für die gemäßigte Politik der „Einheitsfront“ ein, wurde aber <?page no="12"?> 12 Vorwort von Hermann Weber im August 1922 auf Betreiben der Moskauer Komintern-Zentrale von Heinrich Brandler abgelöst. 1921 bis 1924 und von 1928 bis zu seinem Tode war Meyer Abgeordneter des Preußischen Landtages. Als die Linken unter Ruth Fischer 1924 an die Spitze der KPD kamen, zählte Meyer zu deren schärfsten innerparteilichen Kritikern. Nach der Absetzung der Fischer/ Maslow-Führung 1925 wurde ihm die Leitung des Pressedienstes der KPD übertragen. 1926 kam es zu einem „Abkommen“ zwischen Meyer und dem KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann. Meyer akzeptierte die Parteilinie und übernahm Führungsaufgaben. Ins Zentralkomitee (ZK) und ins Polbüro aufgenommen, war er neben Thälmann faktisch Führer der KPD. Seit dem XI. Parteitag im März 1927 bestimmte er die Politik der deutschen Partei. Doch schon im Oktober 1927 erkrankte Meyer schwer und musste seine politische Tätigkeit in Deutschland unterbrechen. Erst im Dezember 1928 kehrte er nach Berlin zurück. Inzwischen waren Meyers Anhänger (A. Ewert, H. Eberlein, G. Eisler), die eine gemäßigte Politik verlangten und vom ZK als „Versöhnler“ bezeichnet wurden, ausgeschaltet worden. Der todkranke Meyer, der versuchte, diese Gruppe zusammenzuhalten, wurde in den Hintergrund gedrängt. Auf dem XII. Parteitag der KPD im Juni 1929 trat er nochmals gegen die neue ultralinke Politik auf. Ende Juli 1929 musste Meyer wegen seines verschlimmerten Gesundheitszustandes ins Sanatorium, als zu seiner Tuberkulose eine Lungenentzündung hinzukam. Ernst Meyer starb nach einer Operation am 2. Februar 1930. Diese dürren Fakten hat Florian Wilde mit umfangreichen Einzelheiten sowie die Einbettung des Lebens in die jeweilige politische Situation plastisch ausgebaut. Der chronologisch gegliederte Band lässt schon in manchen Kapitelüberschriften wichtige Aussagen erkennen, z. B.: „Ernst Meyer in der Vorkriegs-SPD“; „Meyer als „Exponent des linken Flügels [der KPD]: Offensivtheorie und Märzaktion (1920/ 21)“; Meyers „vorsichtiges Abrücken von der Offensivtheorie“; Aktivitäten im „Krisenjahr 1923“; die „Entstehung der Mittelgruppe“; „Parteiführer neben Thälmann“; „Verteidiger der Tradition Rosa Luxemburgs gegen ,Luxemburgismus‘-Vorwurf“; „Zwischen den Fronten: Meyer und die Versöhnler 1928“; „Mit dem Rücken zur Wand: gegen die Stalinisierung der Partei 1929“. Solche Überschriften zeigen, dass der Autor Ernst Meyer nicht nur an den Brennpunkten seines Lebens und des Wirkens in der KPD vorbildlich darstellt. Hinzuweisen ist auf eine sehr gute Bibliographie und insbesondere auf das nach den entsprechenden Zeitschriften gegliederte Verzeichnis der Schriften Ernst Meyers. Ein nicht erwähnter Artikel der KPD-Zeitschrift „Die Internationale“, der Leitartikel vom Juli 1921 - „Aufgaben der Partei“ - gezeichnet mit den Initialen „e. m.“ stammt sehr wahrscheinlich von Meyer. Auf Einzelheiten des Werks von Wilde kann und braucht in diesem Vorwort nicht eingegangen werden. Insgesamt bietet Wildes Arbeit von Ernst Meyer das Bild eines Parteiführers, der aus den üblichen Schablonen kommunistischer Funktionäre herausfällt. Als intellektueller und zurückhaltender Mensch war er fast ein Außenseiter in der sich wandelnden KPD, die von der wachsenden Abhängigkeit von Moskau gekennzeichnet war. Der Verlust der Autonomie, das Verschwinden innerparteilicher Demokratie führten zur strikt durchgesetzten Generallinie der Partei. Noch deutlicher als die Eingriffe in die Strukturen und die von Stalin befohlene Politik belegen solche Biographien wie die des herausragenden KPD-Führers Ernst Meyer, wie sich der Kommunismus in Deutschland drastisch veränderte. Das reflektiert die Wandlung des deutschen Kommunismus vom radikalen Flügel <?page no="13"?> 13 Vorwort von Hermann Weber der Emanzipationsbewegung deutscher Arbeiter zu einer Organisation, die sich politisch und personell der Komintern und der Politik Stalins unterordnete. Der Einfluss Moskaus war für Meyer ebenso verderblich, wie vorher schon für Paul Levi. Der eigenständige KPD-Führer Paul Levi, der Nachfolger von Luxemburg und Liebknecht, wurde wegen seiner oppositionellen Anstrengungen schon Anfang 1921 von der Komintern, besonders durch gezielte Machenschaften des sowjetischen Vertreters Karl Radek, 1 bedrängt und dann aus der KPD ausgeschlossen. Ähnlich ging dieser gegen Ernst Meyer vor. Das geht z. B. aus Dokumenten hervor, die demnächst - im Band Hermann Weber, Jakow Drabkin, Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Die Komintern und Deutschland - Deutschland und die Komintern - veröffentlicht werden. Beispielsweise diffamierte Radek in einem Brief vom 20. Januar 1922 an den Komintern-Vorsitzenden Sinowjew [„Kopie an Lenin, Trotzki, Stalin, Bucharin“] den damaligen KPD-Chef Meyer „mit seinen unsäglichen Schwankungen“ und behauptete „ein Führer der Partei [KPD] ist nicht vorhanden“. Abgesetzt wurde Meyer erst am Ende dieses Jahres 1922. Wilde führt unterschiedliche Thesen zum Sturz Meyers an. Radeks Verhalten zeigt, dass Rosa Meyer-Leviné völlig Recht hatte, wenn sie in ihren Erinnerungen 2 zu ihrem Mann feststellte, „Ernsts Schicksal als Führer der Partei wurde in Moskaus entschieden“. Trotz seiner völligen Anpassung an die Komintern erfuhr Meyer das gleiche Schicksal wie Levi, wurde jedoch - wegen seiner fast unterwürfigen Haltung gegenüber Sowjetrussland - nicht ausgeschlossen. Diszipliniertes Verhalten prägte sein politisches Leben, selbst als dann Stalin die KPdSU wie die Komintern schrittweise „eroberte“ und beherrschte. Nachdem Meyer 1928/ 29 als „Versöhnler“ erneut verdrängt wurde, hinderte ihn seine Krankheit am radikalen Widerstand gegen den herrschenden Parteiapparat. Dessen bald führender Vertreter Walter Ulbricht, einst Anhänger von Ernst Meyers Mittelgruppe, dirigierte nun den rüden Ton gegen Oppositionelle. Als Meyer nach einer Sitzung in Moskau wegen seiner Krankheit sofort nach Berlin zurückfahren wollte, teilte er dies der Deutschen Kommission beim EKKI mit. Daraufhin schrieb Ulbricht am 1. Dezember 1928: „1. Nachdem Du und der Genosse Humbert-Droz in der letzten Sitzung des Politsekretariats als Korreferenten aufgetreten seid, und versucht habt, eine Plattform gegen die Linie der Komintern und des ZK zu entwickeln, ist es unbedingt notwendig, dass Du in der nächsten Sitzung des Politsekretariats die Stellungnahme der Mitglieder des Sekretariats anhörst und auch meine Antwort zur Kenntnis nimmst. 2. Ich glaube, wenn Du gesundheitlich in der Lage warst, ein 1¼-stündiges Korreferat zu halten, so bist Du sicher auch gesundheitlich in der Lage, die Antwort anzuhören.“ Auf diese abgeschmackten Angriffe erwiderte Meyer sarkastisch am 3. Dezember: „Ohne die hohen politischen Qualitäten des Genossen Ulbricht anzuzweifeln, der gleich scharfsinnig entdeckt hat, dass meine Verteidigung der Thesen des VI. Weltkongresses gegenüber den Verfälschungen durch die Mehrheit des ZK ,eine Plattform gegen die Linie der Komintern‘ ist, habe ich doch nicht das genügende Vertrauen zu Ulbrichts medizinischem Urteil, um meine schon lange notwendig gewordene Abreise hinauszuschieben. Im Übrigen konnte ich auch heute nicht erfahren, wann die Fortsetzung der Politsekretariatssitzung endgültig stattfinden wird. Mit 1 Vgl. die neue Biographie von Wolf-Dietrich Gutjahr: Revolution muss sein, Köln 2012. Allerdings wird darin die Haltung gegenüber Ernst Meyer kaum thematisiert, Archivalien wurden nicht herangezogen. 2 Rosa Meyer-Leviné: Im inneren Kreis. Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland 1920 -1933, Köln 1979, Tb. Frankfurt/ M. 1982. <?page no="14"?> 14 Vorwort von Hermann Weber kommunistischem Gruß.“ 3 Ein Beispiel für die intelligente Überlegenheit Meyers, die ihm in der KPD aber wenig genutzt hatte. Florian Wilde hat nicht nur eine ausgezeichnete Biographie des spannenden politischen Lebens von Ernst Meyer geschrieben, sondern erfreulicherweise - soweit möglich - persönliche Seiten dieser bemerkenswerten Führungspersönlichkeit des deutschen Kommunismus erforscht und auch über dessen Jugend und Familie kurz berichtet. Bei Arbeiten über Ernst Meyer in der KPD waren gerade manche familiären Tatsachen unklar geblieben. Nun erst hat Wildes erfolgreiche Forschung bisher unbekannte Details ans Licht gebracht, so beispielsweise über Meyers erste Ehe mit Elsa Ehlert. Noch 1994 war es mir in meiner Skizzierung von Meyers Leben in der „Neuen Deutschen Biographie“ nicht möglich, Daten seiner ersten Ehefrau herauszubringen, nicht einmal deren Namen, stattdessen musste ich „N.N.“ schreiben. Nun gelang es Wilde erstmals Genaueres zu berichten. 1922 hatten dann Ernst Meyer und Rosa Leviné geheiratet. Sie war die Witwe des 1919 in München hingerichteten Führers der kurzlebigen Bayerischen Räterepublik, Eugen Leviné. Von Rosa Meyer-Leviné bin ich seit 1957 gewissermaßen ein Zeitzeuge ihres späteren Lebens und sie wurde für mich eine wichtige „Quelle“ zu Meyer und zur KPD. Sie hatte mir im Juni 1957 geschrieben und mir eine Zusammenarbeit angeboten: „Susanne [Leonhard] hat Sie mir als ein Genie an Kenntnissen und Gedächtnis geschildert. […] Vielleicht können wir zusammen etwas ausrichten.“ Von da an standen wir in Verbindung, in den sechziger Jahren betreute Gerda sie in Heidelberg und wir waren bald eng befreundet. 4 Nach und nach habe ich von ihr viel Unbekanntes über Ernst Meyer, die große Liebe ihres Lebens, erfahren und ebenso mancherlei Hintergründe der KPD-Geschichte. So konnte ich 1979 endlich ihre Erinnerungen in Deutschland herausbringen, 5 die jetzt auch für Wilde eine wichtige Quelle wurden. In der Einleitung von 1979 hatte ich geschrieben: „In der Tat war Rosa Meyer-Leviné, als ich sie vor über 20 Jahren kennenlernte, für mich zunächst eine wichtige Geschichtsquelle. […] Im Laufe unserer langen Freundschaft drängte ich sie ebenso wie andere, ihre Erfahrungen zu Papier zu bringen.“ Schließlich kannte sie alle Größen des Kommunismus näher, auch Trotzki und Lenin. Schon 1963 hatte ich in der von mir herausgegebenen ersten westdeutschen Lenin-Ausgabe (Lenin. Ausgewählte Schriften, München) festgehalten: „Für wertvolle Hinweise und Anregungen bei der Bearbeitung und Einleitung dieser Lenin-Auswahl bin ich meinen Freunden Susanne Leonhard, Rosa Meyer-Leviné und Helmut Fleischer zu großem Dank verpflichtet.“ Über Rosa Meyer-Leviné lernten wir auch die Söhne Meyers aus erster Ehe kennen, die von ihr erzogen worden waren. Rudi (1914-1976) war zuletzt als Fachmann für Holzfragen bei der UN beschäftigt, Heinz (1912-1982) politisch-literarisch aktiv. Vor allem 3 Vgl. die Hinweise bei Wilde. Beide Briefe sind abgedruckt in Rosa Meyers Erinnerungen von 1979. Allerdings konnte ich diese Briefe vollständig bereits im Mai 1963 im „SBZ-Archiv“ veröffentlichen, dann nochmals 1964 in meiner Streitschrift „Ulbricht fälscht Geschichte“. Die Quelle konnte ich damals nicht nennen. Sie stammte aus dem Privatarchiv Rosa Meyer-Levinés (jetzt im Bundesarchiv Koblenz). Sie erlaubte mir den Abdruck, wollte aber damals ihr Archiv noch nicht bekannt machen. In „Die Wandlung des deutschen Kommunismus“ konnte ich dann 1969 ausführliche Dokumente - mit Quellen - abdrucken, die damals unbekannte wichtige Details über Meyer und die KPD-Führung öffentlich machten. 4 Vgl. zu Einzelheiten Hermann und Gerda Weber: Leben nach dem „Prinzip links“. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 2006, S. 279 ff. 5 Vgl. Meyer-Leviné, Im inneren Kreis (Anm. 2). <?page no="15"?> 15 Vorwort von Hermann Weber aber bekamen wir Verbindung mit Rosas Sohn Eugen Leviné, 6 der Vater war der legendäre Kommunist Eugen Leviné („Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub“). Gerda und ich trafen den Sohn und seine Frau öfters, wir blieben ihm bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden. Rosa Meyer-Leviné war es schließlich, die mir Einblicke in ihr wichtiges Privatarchiv gab, in dem sich Dokumente und Briefe von Ernst Meyer befanden, die neue Einblicke in die KPD-Geschichte ermöglichten. Und das zu einer Zeit, da solche Dokumente meist unzugänglich waren. Auch jetzt sind ihre Materialien im Bundesarchiv Koblenz noch von großer Bedeutung, wie aus dem Buch Florian Wilde leicht zu ersehen ist. Nachdem ich bereits 1963/ 64 (s. o.) und dann 1968 in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ Dokumente veröffentlichte, konnte ich 1969 in „Die Wandlung des deutschen Kommunismus“ fast 60 Druckseiten mit Dokumenten aus ihrem Archiv abdrucken, das war eine kleine Sensation. Darunter waren zwölf Seiten Privatbriefe von Ernst Meyer aus den Jahren 1925 bis 1927 sowie von Rosa Meyer aus dem Jahr 1925. Sie hatte diese 1933 in die Emigration gerettet, befürchtete dann aber 1940 in London, dass die Hitler-Truppen auch nach England kommen könnten. Daher hatte sie Briefe von manchen politischen Aussagen „gereinigt“, doch viele wichtige Fragmente sind übrig geblieben und bis heute von Interesse. Übrigens hatte sie noch vor ihrer Flucht 1933 auch ein Manuskript von Ernst Meyer in die sowjetische Botschaft in Berlin gebracht, das aber leider seither verschwunden ist. Heinz Meyer hat in den siebziger Jahren einen energischen Kampf mit dem KPdSU- und dem SED-Archiv geführt, um die Suche nach dem Manuskript und dessen Herausgabe zu erreichen - ohne Erfolg. Solche Erfahrungen mit dem familiären Umfeld hat mein Interesse an der Person Ernst Meyers gefördert und daher bin ich besonders froh, dass Florian Wilde nun diese Biographie vorgelegt hat. Die Einschätzung von Meyers Persönlichkeit fällt so leichter. Mit zwei maßgeblichen KPD-Führern der Weimarer Republik (neben zahlreichen führenden Funktionären) hatte ich noch persönliche Kontakte, mit Heinrich Brandler und Ruth Fischer. 7 Mir war schon lange klar, dass es „den“ Typus des KPD-Funktionärs und erst recht seiner Führer nicht gibt, aber natürlich bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen bei allen vorhanden waren oder „anerzogen“ wurden. Dazu gehörte die völlige Akzeptanz des Vorbilds Sowjetunion und faktisch die Unterordnung unter deren Führung. Bis 1929/ 30 existierten verschiedene Richtungen in der Strategie und Taktik, die die Partei verfolgen sollte. Bei den Spitzenkadern führte dies zu Konflikten mit der Komintern. Das betraf als ersten Paul Levi, ausgeschlossen kehrte er zur SPD zurück und entlarvte die Politik der „Kommunisten“ und dann vor allem die Diktatur Stalins als antisozialistisch. Ähnliches gilt für linke Oppositionelle wie Ruth Fischer mit ihren Genossen Maslow, Urbahns usw., die insgesamt zunehmend die Politik Stalins als barbarisch enthüllten. (Noch kritischer waren vor allem die Ultralinken unter Korsch, Scholem, Schwarz usw.) Die „rechten“ Kommunisten wie Brandler (und seine Mitkämpfer Thalheimer, Walcher usw.) verurteilten zwar die Politik 6 Vgl. Friedrich P. Kahlenberg (Boppard) und Hermann Weber (Mannheim): Abschied von Eugen Leviné (1916-2005), in Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Berlin 2006, S. 11 f. 7 Vgl. dazu Weber, Prinzip links (Anm. 4). Vgl. auch Jens Becker: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001. Mario Kessler: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten, Köln/ Weimar 2013. <?page no="16"?> 16 Vorwort von Hermann Weber Stalins in der Komintern, hielten aber vielfach die barbarischen Methoden in der UdSSR für „historisch gerechtfertigt“. 8 Dass Thälmann dann von Stalin abhängig war und diesen in der KPD stützte, ist bekannt und belegt. 9 Ernst Meyer und die Versöhnler vertraten eigenständige Positionen. Im Gegensatz zu Levi, Brandler, Ruth Fischer, die im Kampf auch ihren Ausschluss riskierten und dann sogar eigene feste Gruppen außerhalb der KPD bildeten, handelten die Versöhnler. Sie setzten sich zur Wehr gegen die ultralinke Politik, die von Stalin befohlen wurde und schließlich mit zu deren Untergang führte. Aber sie wagten nicht, die Grundübel, die völlige Abhängigkeit der Komintern von der Sowjetunion und Stalin offen zu attackieren. Und sie waren zu allen Kompromissen bereit, um nur nicht aus „der Partei“ ausgeschlossen zu werden. Diese Positionen vertrat auch Ernst Meyer, wobei nicht klar ist, ob er diese konsequent durchgehalten hätte, wäre er nicht bereits 1930 gestorben. Aber als ein „hochintelligenter, feinfühliger und sensibler Mensch“, wie ihn Wilde treffend charakterisiert, passte er nicht in das Schema eines KPD-Führers von Stalins Gnaden. Seine Absetzung 1922 und seine Ersetzung durch Brandler machten das bereits zu Lenins Zeit deutlich, erst recht seine Verdrängung durch Thälmann 1928. Meyer agierte als überzeugter Kommunist, der nicht nur Rosa Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki zurückwies, da er Lenin - anders als Levi - uneingeschränkt verehrte. Doch auch er erkannte Fehlentwicklungen der Bolschewiki. Wie etwa Clara Zetkin stand er zwischen „kritischen und bürokratischen Kommunismus“. 10 So bleibt das Bild von Ernst Meyer als einem hochachtbaren Mann, überzeugten Kommunisten, aber doch Außenseiter dieser Bewegung. Dank der hervorragenden Biographie von Florian Wilde ist Ernst Meyer der Vergessenheit entrissen. Sie verbindet eine Lebensgeschichte mit der allgemeinen Zeitgeschichte. Es ist zu wünschen, dass das Buch viele Leser findet. Das hat Florian Wildes Biographie von Ernst Meyer verdient. Hermann Weber (1928 - 2014) 8 Vgl. Hermann Weber (Hrsg.): Unabhängige Kommunisten. Der Briefwechsel zwischen Hinrich Brandler und Isaac Deutscher, Berlin 1981 (darin auch Brandlers Briefe an mich), S. 252. 9 Vgl. Hermann Weber, Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Der Thälmann-Skandal. Geheime Korrespondenzen mit Stalin, Berlin 2003. 10 Vgl. Hermann Weber: Zwischen kritischen und bürokratischen Kommunismus. Unbekannte Briefe von Clara Zetkin, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. XI, 1971, S. 417 ff. <?page no="17"?> 17 1 Einleitung Ernst Meyer gehört zu den vergessenen und verdrängten Spitzenrepräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung. Obwohl ein bedeutendes Führungsmitglied der Spartakusgruppe und später der KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands, sagt sein Name nur noch wenigen etwas. Dabei hat er beide Organisationen nicht nur mitgegründet, sondern auch mitgeprägt. Im Ersten Weltkrieg war er ein wesentlicher Organisator der konspirativen Untergrundarbeit der Spartakusgruppe. An der Novemberrevolution 1918 beteiligt, entging er in den Januartagen 1919 nur knapp dem Schicksal seiner damals ermordeten politischen Lehrerin und Freundin, Rosa Luxemburg. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik fast ununterbrochen in der Führung der KPD, hatte er insbesondere als deren Parteivorsitzender 1921/ 22 die Gelegenheit, auf Luxemburg zurückgehende Vorstellungen einer revolutionären Realpolitik umzusetzen. Dies gilt vor allem für die Taktik der Einheitsfront, die er maßgeblich entwickelte. Seine Zeit an der Spitze der KPD liefert auch ein anschauliches Beispiel für das Ausmaß der internen Demokratie in einer kommunistischen Partei vor dem Aufkommen des Stalinismus. Zwischenzeitlich an den Rand gedrängt, wurde er 1927 noch einmal der eigentliche Parteiführer. Der Durchsetzung des Stalinismus in der KPD stemmte er sich entgegen, verteidigte engagiert das Erbe Luxemburgs, die innerparteiliche Demokratie und die Einheitsfrontpolitik. Ohne Erfolg: An der bürokratischen und autoritären Degeneration der kommunistischen Weltbewegung verzweifelnd, starb er 1930 im Alter von nur 42 Jahren. Der Historiker Hermann Weber, dem ich das Geleitwort zu diesem Buch zu danken habe, würdigte Meyer wiederholt als einen der „bemerkenswertesten“ und „bedeutendsten“ Führer des deutschen Kommunismus. Er musste aber auch schon 1968 feststellen, dass Meyers Rolle in der KPD „fast unbekannt“ geblieben sei. 1 Meyers zweite Frau, Rosa Meyer-Leviné, beklagt derweil in ihrer Autobiographie: „Es ist bezeichnend, dass kaum ein Chronist des deutschen Kommunismus ihn erwähnt oder auch nur zur Kenntnis nimmt, dass Ernst [Meyer] vom Februar 1921 bis zum Leipziger Parteitag im Januar 1923 Vorsitzender des Politischen Büros (damals Polbüro genannt) war - und damit nach heutigem Verständnis der Parteivorsitzende“. 2 Mittlerweile wird seine führende Rolle in der Partei zur Kenntnis genommen, doch eine Biographie wurde bislang nicht verfasst. So bleibt er bis heute die vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Dieses Buch soll diese wohl wichtigste biographische Forschungslücke der KPD-Geschichte schließen. In seinem Zentrum steht der Politiker Meyer und sein politisches Denken 1 Hermann Weber: Zu den Beziehungen zwischen der KPD und der Kommunistischen Internationale, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 16. Jg., 1968, H. 2, S. 177-208, hier S. 180. 2 Rosa Meyer-Leviné: Im inneren Kreis. Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland 1920-1933, mit einer Einleitung von Hermann Weber, Köln 1982, S. 29. <?page no="18"?> 18 1 Einleitung und Handeln. 3 Das bisherige Fehlen einer ausführlichen biographischen Studie macht dabei eine detaillierte Darstellung seines politischen Lebensweges erforderlich. Dies gilt insbesondere für die Zeit vor 1921. Während das Wirken Meyers in den darauffolgenden Jahren vor allem durch die Autobiographie seiner Frau, aber auch durch die Arbeiten Hermann Webers zumindest in seinen Grundzügen bekannt ist, musste für die vorherigen Jahre weitgehend biographisches Neuland betreten werden. Fehlende Quellen erschwerten die Rekonstruktion von Meyers Kindheit und Jugend und seiner ersten Jahre in der SPD. Dies ändert sich für die Zeit ab dem Ersten Weltkrieg. Meyers Werdegang zwischen 1914 und 1930 lässt sich durch eine Vielzahl aussagekräftiger Quellen nachvollziehen. Meyers politischer Werdegang steht exemplarisch für den Weg zahlreicher linker Sozialdemokraten, die als Gegner der SPD-Politik im Ersten Weltkrieg mit ihrer Partei brachen und sich der KPD anschlossen. Später, in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, wurden sie häufig zu Gegnern der Stalinisierung des deutschen Kommunismus und verteidigten die emanzipatorische Tradition des revolutionären Marxismus gegen das zusehends bürokratisch-autoritäre Parteiregime. Manche Weggefährten passten sich im Laufe dieses Prozesses an, andere wurden wegen ihrer kritischen Positionen ausgeschlossen. Diesem Schicksal entging Meyer wohl nur durch seinen frühen Tod. Im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz erfuhr die KPD eine dramatische und fundamentale Wandlung. Ursprünglich war sie eine lebendige, diskussionsfreudige und demokratische Partei, deren Mitglieder in freien Debatten nach einem adäquaten Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft suchten. Analog zur Durchsetzung der Herrschaft Stalins in Russland, verstärkt durch die russische Dominanz in der Kommunistischen Internationale, bedingt aber auch durch interne Faktoren wandelte sich die KPD bis zum Ende der 1920er Jahre in eine ideologisch erstarrte, von Moskau abhängige und vom Parteiapparat bürokratisch beherrschte entdemokratisierte Partei. Hermann Weber bezeichnete diesen Prozess als Stalinisierung und zeigte, dass ein in der Anfangsphase der Partei noch dominierender „demokratischer Kommunismus“ Luxemburgischer Prägung in der Auseinandersetzung mit einem „diktatorisch-bürokratischen Kommunismus“ unterlag und dessen Entwicklungspotential verschüttet wurde. 4 Die Folgen waren fatal: Die stalinisierte KPD erwies sich nach 1930 selbst im Angesicht des Aufstiegs der NSDAP als unfähig, ihre von Moskau vorgegebene Linie des Hauptstoßes gegen die Sozialdemokratie zu korrigieren und eine Einheitsfront der Arbeiterorganisationen gegen die tödliche Gefahr herzustellen, die durch den Faschismus drohte. Diese Wandlung der KPD ist aber, wie Weber betonte, „schwerlich als notwendiger und unumgänglicher, ja wohl nicht einmal als folgerichtiger Werdegang des deutschen Kommunismus zu begreifen“. 5 Die vorliegende politische Biographie Ernst Meyers verortet sich in der Tradition der Weber’schen Wandlungsthese, die sie kritisch prüfen will. 3 Hier folge ich methodischen Überlegungen, die Jens Becker in seiner Brandler-Biographie anstellte. Vgl. Jens Becker: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001, S. 19 f. 4 Vgl. Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, hg. und eingeleitet von Hermann Weber, Frankfurt/ M. 1969, S. 47 f. 5 Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik. Mit einer Einleitung von Hermann Weber, Frankfurt/ M. 1976, S. 52. <?page no="19"?> 19 1 Einleitung Ernst Meyer beteiligte sich über Jahre hinweg führend an den Debatten in der KPD und war einer der prominentesten Gegner dieses Prozesses. Er trat für eine relative Autonomie der deutschen Partei innerhalb der Komintern ein, verteidigte die Notwendigkeit innerparteilicher Demokratie und Diskussionsfreiheit in der KPD und kämpfte konsequent für eine kommunistische Einheitsfrontpolitik mit der SPD. Anhand seiner Person sollen die Möglichkeiten und Grenzen einer Alternative zur Stalinisierung des deutschen Kommunismus in den Blick genommen werden. In einem besonderen Fokus stehen die Zeiten, in denen er an der Spitze der KPD stand: 1921/ 22 und 1927. Hier konnte er in starkem Maße den Kurs der KPD prägen und seine Vorstellungen einer „revolutionären Realpolitik“ (Rosa Luxemburg) 6 umsetzen, also eine massenwirksame revolutionäre Politik in einem nichtrevolutionären Umfeld. Besondere Beachtung erfährt in diesem Buch die Entwicklung und Anwendung der Einheitsfrontpolitik, eine Methode zur Verbindung von Kämpfen für konkrete Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus mit dem Ziel seiner revolutionären Überwindung. Dieser Ansatz einer revolutionären Realpolitik ist Meyers originellster Beitrag zur kommunistischen Theorie und Praxis. Er sollte bis zu seinem Tod seine dominierende strategische Perspektive bleiben, die er immer wieder in den Debatten der KPD vertrat. Meyers Anteil an ihrer Erarbeitung soll daher viel Raum eingeräumt werden, ebenso wie seinen zwei weiteren Kernanliegen: der vehementen Verteidigung von innerparteilicher Demokratie und relativer Autonomie der deutschen Partei gegenüber Moskau. Mit ihnen stand er ebenfalls in der Tradition Rosa Luxemburgs, und auch sie sollten für ihn bis zu seinem Tod Gültigkeit behalten. Ein „roter Faden“ dieses Buches ist Meyers Haltung zu diesen drei Grundfragen in den unterschiedlichen Phasen der KPD-Geschichte. Eine politische Biographie Ernst Meyers gestattet auch eine Annäherung an eine Strömung innerhalb der KPD, deren systematische Erforschung noch aussteht: an die sogenannte Mittelgruppe, häufig auch als „Versöhnler“ oder zeitgenössisch als „Meyer-Gruppe“ bezeichnet. Obwohl sie in den für die Stalinisierung der KPD entscheidenden Jahren 1924 bis 1929 eine der wichtigsten Oppositionsgruppen innerhalb der Partei war, liegen bisher kaum eigenständige Arbeiten über sie vor. 7 Zu Recht merken Bayerlein und Weber an: „Auch was die ‚Versöhnler‘ angeht, ist die KPD-Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben.“ 8 Daher werden die Positionen und die Rolle Meyers als führendem Kopf der Mittelgruppe / Versöhnler und die Fraktionskämpfe um den Kurs der KPD einigen Raum einnehmen. 9 6 „Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und in vollstem Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist“, so Luxemburg zum 20. Todestag von Karl Marx. Zitiert nach Michael Brie (Hg.): Radikale Realpolitik. Plädoyer für eine andere Politik, Berlin 2009. Siehe ebenda für aktuelle Auseinandersetzungen mit dem Konzept. 7 Eine der wenigen Ausnahmen ist Bernhard H. Bayerlein: Die unbekannte Geschichte der „Versöhnler“ in der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Partei Deutschlands. Kein Randproblem der historischen Kommunismusforschung, in: The crisis of the social ideas. A Festschrift for Marjan Britovsek, hg. von Avgust Lesnik, Ljubljana 1996, S. 321-340. 8 Bernhard H. Bayerlein, Hermann Weber (Hg.): Der Thälmann-Skandal. Geheime Korrespondenzen mit Stalin, Berlin 2003, S. 64. 9 Ein spezifisches methodisches Problem der Historischen Kommunismusforschung ist der Umgang mit dem innerkommunistischen fraktionellen Kampfvokabular der 1920er Jahre. Die KPD war, obwohl selbst auf dem äußeren linken Flügel des Weimarer Parteienspektrums stehend, von ihrer Gründung bis zum Abschluss der Stalinisierung in den späten 20er Jahren intern in verschiedene Strömungen entlang eines <?page no="20"?> 20 1 Einleitung Das bislang wichtigste Werk zu Ernst Meyer ist die Autobiographie seiner Frau Rosa Meyer-Leviné, durch die auch ich auf ihn aufmerksam wurde. 10 Ihre Erinnerungen ergänzte sie durch zahlreiche, zum Teil erstmals veröffentlichte Dokumente, von denen viele aus ihrem Briefwechsel mit Meyer stammen. Trotzdem bleiben ihre Memoiren notwendigerweise stark subjektiv gefärbt, spiegeln ihre eigene politische Einstellung wider und sind von dem Versuch geprägt, Meyers Rolle in der KPD herauszustreichen und positiv zu interpretieren. Auch hatte die in London lebende Meyer-Leviné auf viele aufschlussreiche Dokumente keinen Zugriff. Zu nennen sind hier vor allem jene, die sich damals im nicht zugänglichen KPD-Archiv jenseits des „Eisernen Vorhangs“ befanden. Zudem setzt Meyer-Levinés Autobiographie erst 1920/ 21 ein. Dementsprechend klammerte sie die Rolle ihres Mannes in der Vorkriegssozialdemokratie, in der Gruppe Internationale und der Spartakusgruppe sowie in der Novemberrevolution und den ersten beiden Jahren der KPD aus. Erstmals haben sich Historiker der 1960er Jahre mit Ernst Meyer beschäftigt. Zu nennen sind hier Kurt Wrobel (1967) und Hermann Weber (1968), die jeweils einen Aufsatz über den ehemaligen KPD-Vorsitzenden verfassten. 11 In der Folgezeit wurde er vor allem durch Einträge in verschiedene biographische Handbücher gewürdigt. 12 In den letzten Jahren habe zudem ich einige Aufsätze und meine Dissertationsschrift über Meyer veröffentlicht. 13 Hinweise auf sein Wirken und die Bedeutung seiner Person finden sich außerdem sehr ausgeprägten „Links-rechts-Schemas“ aufgefächert. Das Spektrum der innerparteilich verwendeten Bezeichnungen reicht von „Ultralinken“ und „Linken“ über die „Mittelgruppe“ bzw. „Versöhnler“ bis hin zu den „Rechten“ in der Partei, wobei generell alles „Linke“ in der kommunistischen Bewegung tendenziell positiv, alles „Rechte“ negativ konnotiert war. Teils waren diese Bezeichnungen diffamierende Etikettierung, die manchmal notgedrungen dennoch von den Betroffenen übernommen wurden, teils (vor allem auf dem „linken“ Flügel) aber auch stolze Selbstbezeichnung. Eine Verwendung der problematischen Begrifflichkeiten im vollen Bewusstsein ihrer Willkürlichkeit, Ungenauigkeit und Beschränktheit erscheint vertretbar, finden sie sich doch nicht nur in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen, sondern bis in die Gegenwart hinein in der Forschungsliteratur und haben sich im Wissenschaftsbetrieb sprachlich längst eingebürgert. Sie sollen daher aus rein pragmatischen Gründen auch in dieser Arbeit - der Lesbarkeit wegen in der Regel sogar ohne Anführungszeichen - verwendet werden. Dies impliziert keinesfalls eine inhaltliche Identifikation des Verfassers mit ihrer Verwendung, sondern dient nur zur wertfreien Kennzeichnung der jeweiligen Strömung mit dem für sie gebräuchlichen Vokabular. 10 Meyer-Leviné: Erinnerungen. Erstmals veröffentlicht wurden diese 1977 in London unter dem Titel „Inside German Communism“. 11 Kurt Wrobel: „… in diesem Kampf keine Neutralität“. Ernst Meyer, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 9. Jg., 1967, H. 5, S. 880-885; Weber: Beziehungen. 12 Vgl. u.a. Hermann Weber/ Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, überarbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 2008, S. 598-600; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1970, S. 328 f.; Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte. Von den Anfängen bis 1945, Berlin (Ost) 1970, S. 469 f.; Altpreußische Biographie, Bd. 3, Marburg/ Lahn 1975, S. 1020; Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von Walter Killy und Rudolf Vierhaus, München 1998, S. 100 f.; Joachim Lilla: Der Preußische Staatsrat 1921-1933. Ein biographisches Handbuch. Mit einer Dokumentation der im „Dritten Reich“ berufenen Staatsräte, Düsseldorf 2005, S. 107. Während die genannten ostdeutschen Kurzbiographien von Kurt Wrobel verfasst wurden, stützen sich die westdeutschen auf die Vorlagen Hermann Webers. 13 Florian Wilde: „Diskussionsfreiheit ist innerhalb unserer Partei absolut notwendig“ - Das Verhältnis des KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer zur innerparteilichen Demokratie 1921/ 22, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2006, S. 168-184; ders.: Ernst Meyer vor und während der Novemberrevolution, in: Ulla Plener (Hg.): Die Novemberrevolution 1918/ 1919 in Deutschland. Für bürgerliche und sozialistische Demokratie. Allgemeine, regionale und biographische Aspekte, Berlin 2009, S. 210-231; <?page no="21"?> 21 1 Einleitung in einigen Werkern der Standardliteratur zur KPD - etwa in Werner T. Angress’ „Die Kampfzeit der KPD 1921-23“, dessen Übersetzung ins Deutsche Meyers Sohn Heinz besorgte. 14 Da Meyer ein innerparteilicher Gegner Ernst Thälmanns war, ignorierte ihn die ostdeutsche Geschichtsschreibung zunächst, zum Teil verfemte sie ihn sogar als angeblichen Parteifeind. In den frühen 1950er Jahren wurde sein Name aus Reprints der „Roten Fahne“ herausgeätzt, sein Foto bei Nachdrucken von Portraits der KPD-Gründer weggelassen. Das in Folge des XX. Parteitages der KPdSU 1956 einsetzende „Tauwetter“ erfasste auch die DDR-Geschichtsschreibung. Die willkürliche Fälschung von Dokumenten hörte auf, es wurde angestrebt, im Umgang mit Quellen wissenschaftliche Editionsmethoden anzuwenden. 15 Im Jahr 1958 erschien ein Nachdruck der von Meyer herausgegebenen Spartakusbriefe. 16 In einer im selben Jahr verlegten Geschichte der sozialdemokratischen Linken des Ersten Weltkriegs tauchte Meyers Name faktengerecht häufig auf. 17 Auch in den folgenden Jahren wurde er genannt, seine Erwähnung in der 1966 erschienenen achtbändigen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ gab der Beschäftigung mit ihm endgültig den offiziellen Segen. Meyer wurde in einigen Aufsätzen thematisiert, seine herausragende Rolle in der KPD aber weiter ignoriert, zumindest heruntergespielt. Eine Ausnahme bildete lediglich Arnold Reisbergs im Jahr 1971 - als Manuskriptdruck - erschienenes Werk „An den Quellen der Einheitsfrontpolitik“. 18 Anlässlich des anstehenden 60. Gründungstages der KPD wurde dann Ende 1977 eine von Gerhard Stauf gestaltete Briefmarke mit Meyers Konterfei gedruckt. 19 ders.: Ernst Meyer - Weggefährte Rosa Luxemburgs in der Weltkriegszeit und sein Kampf um ihr Erbe in der KPD, in: Rosa Luxemburg. Ökonomische und historisch-politische Aspekte ihres Werkes, Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Tokio, April 2007, und Berlin, Januar 2009, Berlin 2010, S.-181-190; ders.: Ernst Meyer (1887-1930) - vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Eine politische Biographie, Hamburg 2011. Online veröffentlicht unter http: / / ediss.sub.uni-hamburg.de/ volltexte/ 2013/ 6009/ pdf/ Dissertation.pdf, künftig zitiert als Wilde: Meyer (online Dissertation). 14 Werner T. Angress: Die Kampfzeit der KPD 1921-1923, Düsseldorf 1973. 15 Zur DDR-Geschichtsschreibung besonders der 1950er und 1960er Jahre vgl. Siegfried Lokatis: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln, Weimar, Wien 2003. 16 Ernst Meyer (Hg.): Spartakusbriefe, Bd. 1, Berlin 1926 (Reprint Berlin [Ost] 1958). 17 Walter Bartel: Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg, Berlin (Ost) 1958. 18 Arnold Reisberg: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921-1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe W. I. Lenins und der Komintern für die KPD, 2 Bde., Berlin (Ost) 1971. 19 In meiner Dissertation hatte ich irrtümlich geschrieben, diese Briefmarke sei zu Meyers 100. Geburtstag 1987 erschienen. Tatsächlich wurde sie am 18.10.77 in einer Auflage von 12 Mio. Exemplaren herausgegeben. Von Gerhard Stauf gestaltete Briefmarke (1977) <?page no="22"?> 22 1 Einleitung Erst in den 1980er Jahren nahm die DDR-Geschichtswissenschaft Meyer endgültig in den Kanon der gedenkwürdigen Gründerväter des deutschen Kommunismus auf. Klaus Kinner arbeitete 1982 in seinem Werk „Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft 1917-1933“ Meyers Bedeutung als Parteihistoriker detailliert heraus. 20 Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ hingegen ignorierte den fünfzigsten Todestag im Jahr 1980 und veröffentlichte auch anlässlich des einhundertsten Geburtstags lediglich eine biographische Kurznotiz. Erst im August 1988 erschien erstmals ein ganzer Artikel über Meyer. 21 Ende des Jahres 1988 veröffentlichte das Zentralkomitee der SED Thesen anlässlich des 70. Jahrestages der KPD-Gründung. Hier erwähnte es zum ersten Mal, dass Meyer gemeinsam mit Ernst Thälmann in der Parteiführung tätig war. Dennoch blieben die Hinweise auf Meyer vereinzelt und weit entfernt von einer Gesamtdarstellung seines Lebensweges. Eine wissenschaftliche Untersuchung auf breiter Quellenbasis zu seinem politischen Wirken und seiner Bedeutung als Führungsfigur des linken Flügels der deutschen Arbeiterbewegung stand weiterhin aus. Von unschätzbarem Wert für ein solches Unterfangen erwies sich das ehemalige KPD- Archiv, das heute zum Bestand Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) im Bundesarchiv in Berlin gehört. 22 Der Nachlass Meyers, der sich zum Teil in der SAPMO und zum größten Teil im Bundesarchiv in Koblenz befindet, wurde ebenfalls ausgewertet. Als weitere archivalische Quellen wurden der Bestand des Reichskommissars zur Überwachung der öffentlichen Ordnung im Bundesarchiv herangezogen sowie die relevanten Bestände im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem und im Landesarchiv Berlin, dort vor allem die Meyer betreffenden Gerichtsakten. Einige aussagekräftige Quellen liegen in gedruckter Form vor. Hierbei handelt es sich zumeist um Protokolle von Gremien, in denen Meyer tätig war, sowie von Konferenzen und Parteitagen. Als wertvoll erwiesen sich auch verschiedene Quelleneditionen. Ein generelles Problem stellt die Schwierigkeit dar, Meyers Rezeption zeitgenössischer Debatten von jenen Gedanken zu trennen, die originär er entwickelt hat. Besonders da, wo er die KPD repräsentierte, ist es schwierig einzuschätzen, ob die öffentlich vertretenen Positionen sich mit seinen eigenen Ansichten deckten oder ob er als Anhänger des demokratischen Zentralismus eine mehrheitlich beschlossene Position vertrat, die er selbst ablehnte und parteiintern sogar kritisierte. Daher werden Quellen, die die parteiinternen Debatten erhellen - etwa die Protokolle der Sitzungen führender Parteigremien oder private Briefe, in denen Meyers Positionen relativ ungefiltert zum Ausdruck kommen, sowie von ihm stammende Diskussionsbeiträge in kommunistischen Publikationen -, gegenüber solchen bevorzugt, in denen er in der Öffentlichkeit kommunistische Positionen - etwa in seinen Reden im Preußischen Landtag - zu vertreten hatte. Artikel aus der Feder des journalistisch sehr aktiven Meyers sowie Hinweise auf seine politische Tätigkeit finden sich verstreut über zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften. Überprüft wurden die wichtigsten kommunistischen Presseerzeugnisse, vor allem „Die 20 Klaus Kinner: Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft 1917-1933. Geschichte und Politik im Kampf der KPD, Berlin (Ost) 1982. 21 Neues Deutschland, 04./ 05.07.1987, S. 13, und 20./ 21.08.1988, S. 9. 22 Auf einen Anmerkungsapparat wird in diesem Abschnitt aus Gründen der Lesbarkeit weitgehend verzichtet. Die verwendeten Quellen sind im Quellenverzeichnis am Ende des Buches aufgeführt. <?page no="23"?> 23 1 Einleitung Rote Fahne“, die „Internationale Pressekorrespondenz“, „Die Internationale“ und „Die Kommunistische Internationale“. Außerdem wurden mit der nur in wenigen Exemplaren erhaltenen „Roten Fahne des Ostens“ und der „Welt am Abend“ Zeitungen ausgewertet, deren Chefredakteur Meyer zeitweise war, darüber hinaus weitere Zeitschriften wie die von der KPD-Opposition herausgegebene „Gegen den Strom“. Außerdem wurden die sozialdemokratischen Zeitungen „Vorwärts“ der Jahre 1913 bis 1916, die „Sozialistische Auslandspolitik“ und „Die Neue Zeit“ sowie außerdem die „Vossische Zeitung“ des Jahres 1916 auf Artikel Meyers und Hinweise auf ihn durchgesehen. Herangezogen wurden auch veröffentlichte Memoiren von Zeitgenossen Meyers. Eine Befragung von Zeitzeugen war aus naheliegenden Gründen nicht mehr möglich. 23 Einige wertvolle Hinweise verdanke ich Marion Ehlert, einer Enkelin von Meyers erster Frau. Nach Fertigstellung meiner Dissertation nahm der Enkel Jörg Meyer zu mir Kontakt auf und überließ mir die aufschlussreichen Erinnerungen seines Vaters, Heinz Meyer. Diese sind in die vorliegende Buchveröffentlichung eingeflossen. Nicht zuletzt wurde für diese Arbeit die umfangreiche Sekundärliteratur zur Geschichte des Spartakusbundes, der KPD und der Komintern ausgewertet. Eine vollständige Aufstellung findet sich im angehängten Quellen- und Literaturverzeichnis. 24 „Über die SpitzenrepräsentantInnen der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen gibt es im Allgemeinen eine reichhaltige Literatur aus unterschiedlichen bis gegensätzlichen Positionen“, schrieb der Politikwissenschaftler Klaus Fritzsche einst über die Gedenkkultur der deutschen Arbeiterbewegung. „Viel schlechter steht es mit solchen AkteurInnen, die irgendwann zwischen die Mühlsteine fraktioneller Auseinandersetzungen gerieten und aus der sozialdemokratischen oder der kommunistischen ‚Großkirche‘ austraten oder ausgeschlossen wurden. Oft zahlten sie dafür nicht nur mit Isolierung, Verfemung und Verfolgung, sondern wurden auch noch nach ihrem Tod mit Vergessen, Verdrängung oder polemischen Verzerrungen ihrer Geschichte bestraft.“ 25 Diesem Vergessen möchte ich Ernst Meyer mit diesem Buch entreißen. 23 Die einzige Ausnahme bildet ein Gespräch, das ich am 20. September 2003 (gemeinsam mit Marcel Bois) in Hamburg mit dem mittlerweile verstorbenen ehemaligen KPO-Mitglied Joseph Bergmann führen konnte, der neben einem der Söhne Meyers auf der Schulbank saß und Meyer noch persönlich erlebt hat. Eine Aufzeichnung dieser Unterhaltung befindet sich im Besitz von Marcel Bois. 24 Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Kontroversen der KPD-Forschung und den Herausforderungen der Biographik wurde für die Buchfassung allerdings verzichtet. Sie kann in Wilde: Meyer (online Dissertation), S. 20 f. (Biographik) sowie S. 284-287 u. 300-305 (Forschungskontroversen) nachvollzogen werden. 25 Klaus Fritzsche: Ein widerständiges Leben in der Arbeiterbewegung. Vorbemerkungen zu einer überfälligen Untersuchung, in: Jens Becker: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001, S.-9-12, hier S. 9. <?page no="25"?> 25 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) 2.1 Kindheit, Jugend, Studium und Eintritt in die Sozialdemokratie Ernst Erich Walter Meyer kam am 10. Juli 1887 im Prostken (heute Prostki) im ostpreußischen Landkreis Lyck zur Welt. Seine Eltern waren Eduard Meyer und dessen Frau Bertha, geborene Link. Über Meyers Kindheit ist fast nichts bekannt; aufgrund des Verlustes der Gemeindeakten Prostkens im Zweiten Weltkrieg können auch kaum Daten über seine Familie ermittelt werden. So ist unklar, wann Eltern und Geschwister geboren wurden, wann die Familie nach Prostken zog und wie lange sie dort lebte. Vermutlich zog sie nach dem Anschluss des kleinen Grenzortes 1871 an das Eisenbahnnetz nach Prostken, denn Vater Eduard war Lokomotivführer. Über die soziale Lage der Familie ist ansonsten kaum etwas bekannt. Lokomotivführer zählten damals keineswegs zu den Spitzenverdienern, doch lag ihr Lohn über dem vieler anderer Berufsgruppen. Möglicherweise dramatisierte die kommunistische Presse später Meyers Kindheit etwas. Er hätte „alle Bitternisse des Proletarierlebens am eigenen Leib verspüren“ müssen, hieß es beispielsweise in einem Nachruf in der „Berlin am Morgen“ aus dem Münzenberg-Konzern. 1 In der „Roten Fahne“ schrieb Wilhelm Pieck: „Von Jugend auf hat [Meyer] die Not des Proletarierlebens kennengelernt. […] Das niedrige Einkommen seines Vaters als Lokomotivführer reichte zum Unterhalt der sechsköpfigen Familie nicht aus. Schon frühzeitig mussten sich daher die Kinder etwas mitverdienen.“ 2 Ernst Meyer hatte eine Schwester und drei Brüder. Die Schwester wurde Lehrerin, ein Bruder fiel im Weltkrieg, einer beging Selbstmord - ihn hatte die Inflation ruiniert -, der dritte Bruder wanderte nach Chile aus und wurde angeblich vermögend. Von den letzten beiden hieß einer Erich und war in den 1920ern Anhänger der Deutschnationalen. Während Meyers Kontakt zur Mutter eng blieb, scheint er zu den Geschwistern lockerer gewesen zu sein. Zumindest finden sich in späteren Briefen an seine Mutter kaum Hinweise auf sie. Da unbekannt ist, bis wann die Familie in Prostken lebte, ist auch unklar, ob Meyer die Volksschule in der Kreisstadt Lyck, dem nächsten größeren Ort, oder in Königsberg besuchte. Trotz aller Germanisierungsmaßnahmen blieb Polnisch im Kreis Lyck die dominierende Sprache, die Meyer aber offensichtlich nicht verstand. Aus den Komintern-Archiven geht nur seine Kenntnis des Französischen hervor. Gesichert ist, dass Meyer die Vorstädtischen Realschule Königsbergs und anschließend die Oberrealschule auf der Burg in Königsberg besuchte. Hier machte er im Jahr 1906 sein Abitur. Er muss ein guter und fleißiger Schüler gewesen sein, denn „sein Lerneifer in der 1 Ernst Meyers letzter Weg, in: Berlin am Morgen, 07.02.1930. 2 Nachruf auf Ernst Meyer in: Rote Fahne, 04.02.1930. Dieser nicht namentlich gekennzeichnete Artikel stammt von Wilhelm Pieck, in dessen Nachlass sich die entsprechenden Entwürfe finden, vgl. SAPMO- BArch, NY 4063/ 396, Bl. 31-40. <?page no="26"?> 26 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) Schule“ verschaffte ihm „die Möglichkeit eines auf Schulgelderlass und Stipendien beruhenden Besuches der Oberrealschule und der Universität in Königsberg“, wusste Wilhelm Pieck später zu berichten. 3 Trotz der Stipendien musste Meyer jedoch neben dem Studium arbeiten, unter anderem indem er Nachhilfestunden gab. Die Region, in der Meyer geboren wurde, war stark vom Protestantismus und von konservativ-nationalen Ideen geprägt. Er wurde streng protestantisch und antisozialistisch erzogen, seine Mutter war fanatische Anhängerin einer Sekte. Insgesamt war das Klima in Ostpreußen zu Beginn des 20. Jahrhunderts „restaurativ, nationalistisch, antisemitisch“, schreibt der Historiker Andreas Kossert. 4 In diesem geistigen Umfeld studierte Meyer von 1906 bis 1910 Philosophie, Nationalökonomie und Psychologie. Manche Quellen nennen auch noch die Studienfächer Geschichte und Theologie. 5 Seine zweite Frau, Rosa Meyer-Leviné, berichtet, aufgrund seiner großen Intelligenz sei Meyer auf der Universität häufig für einen Juden gehalten worden. Im Jahr 1910 promovierte er in Königsberg zum Dr. phil. mit einer Dissertation „Über die Gesetze der simultanen Assoziation“, also über ein psychologisches Thema. 6 3 Entwurf eines Nachrufes auf Ernst Meyer von Wilhelm Pieck, in: SAPMO-BArch, NY 4036/ 396, Bl. 31. 4 Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos, München 2007, S.-159. 5 Vgl. Weber/ Herbst: Kommunisten, S.- 598; Neue Deutsche Biographie, hg. von der historischen Kommission bei der bayrischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1994, S.-322; . Altpreußische Biographie, Bd. 3, S.-1020. 6 Ernst Meyer: Über die Gesetze der simultanen Assoziation, Leipzig 1910. Die Eltern von Ernst: Eduard und Bertha Meyer (geb. Link) , o.J. <?page no="27"?> 27 2.1 Kindheit, Jugend, Studium und Eintritt in die Sozialdemokratie Um diese Zeit dürften Meyer und seine erste Frau, Elsa Ehlert (geb. 31. Oktober 1887 in Königsberg, gest. 23. Juni 1946 in Berlin), eine Lehrerin, geheiratet haben. Sie war die Tochter eines königlich-preußischen Polizeibeamten und hatte noch zwei ältere Schwestern. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Heinz Ludwig, (geb. 2. Juli 1911 in Steglitz, gest. 29. Januar 1982 in Frankfurt/ M.), und Rudolf Karl, genannt Rudi (geb. 22. Oktober 1914 in Steglitz, gest. 2. Mai 1976). Heinz notierte später in seinen Erinnerungen: „Meine Mutter war keine ‚höhere Tochter‘, doch sie spielte Klavier, konnte Singen, hatte in Königsberg häufig Theater und Opern besucht [...] Das ländliche, das bäuerliche Element schlug durch in guter Hausfrauenkunst, im Einmachen von roten Rüben, von Kürbis und dergleichen, im Bereiten von gutem Schmalz.“ 7 Die Ehe mit Elsa wurde 1921 geschieden. Die Beziehung, die von Meyers Mutter abgelehnt wurde, scheint „keine sehr glückliche“ gewesen sein, man erzählte sich, „dass sie jedenfalls nicht zusammenpassten“, erinnert sich seine zweite Frau, Rosa Meyer-Leviné. 8 An diese schrieb Meyer später: „Gestern sehnte ich mich nach meinen Kindern. Auch quälte es mich, dass ich Elsa eigentlich jahrelang schlecht behandelt habe. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass ich auch nur einen Tag mit ihr zusammen sein konnte. Aber es belastet mich, dass ich ihr so viel Freude genommen habe.“ 9 Elsa Meyer war nach der Scheidung einige Jahre mit dem ebenfalls aus Königsberg stammenden Strafverteidiger Gerhard Obuch (1884-1960) liiert, der ab 1922 kommunistischer Landtagsabgeordneter in Preußen war und auch Ernst Meyer gut kannte. Mit Obuch hatte sie eine Tochter, Eva Ehlert (geb. 4. Juli 1924). 10 Die Königsberger Albertus-Universität, die sogenannten Albertina, war als die östlichste Hochschule des Deutschen Reiches keineswegs eine Provinzuniversität. Zahlreiche namhafte Wissenschaftler hatte sie hervorgebracht, es herrschte eine halbwegs liberale Atmosphäre. Hier begann der junge Meyer, sich in der Politik zu engagieren, zuerst auf der bürgerlichen Seite. Rasch wurde er an der Universität als Anti-Sozialist bekannt; im Jahr 1907 sollte er bei einer Veranstaltung sozialdemokratischer Studierender das Gegenreferat zu Hugo Haase halten, dem späteren SPD-Vorsitzenden. Meyer bereitete sich als ernst- 7 Heinz Meyer: Kraft, Bl. 14. 8 Interview [Hermann Weber] mit Rosa Meyer-Leviné, o. D., in: BArch Koblenz, N 1246/ 34, Bl. 42. 9 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o. O., o. D., in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 18. 10 Schriftliche Auskunft von Marion Ehlert, 31.05.2011. Elsa Ehlert als Kind, o.J. <?page no="28"?> 28 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) hafter, gewissenhafter und um Objektivität ringender Wissenschaftler intensiv vor und studierte die sozialistische Literatur. Schließlich musste er das Korreferat absagen: Seine Studien hatten ihn von der Richtigkeit sozialistischer Vorstellungen als „beste[n] Ausweg, den die Menschheit sich wählen konnte“, überzeugt. Auf der Veranstaltung hielt er schließlich statt des Korreferats gegen Haase einen flammenden Redebeitrag für den Sozialismus. 11 Im Jahr 1908 trat der damals 21-Jährige der SPD bei und begann, sich unter den Studierenden agitatorisch zu betätigen. Vor allem Hugo Haase zeigte an Meyers politischer Entwicklung großes Interesse. Seit 1897 hatte der jüdische Rechtsanwalt immer wieder das Königsberger Reichstagsmandat für die SPD gewonnen, was die Stadt zu einer „roten Hochburg“ inmitten des konservativ-reaktionären Ostpreußens machte, wo die Partei sonst kaum Fuß fassen konnte. Innerhalb der Gesamtpartei stand die ostpreußische Sozialdemokratie - auch aufgrund des Einflusses von Haase - auf dem linken Flügel. Nachdem Haase 1911 auf dem Jenaer Parteitag neben August Bebel zum Vorsitzenden der SPD gewählt wurde, zog er im selben Jahr - und damit etwa zeitgleich mit Meyer - nach Berlin. Obwohl Ostpreußen an der äußersten Peripherie der wilhelminischen Arbeiterbewegung lag, stammten von hier doch einige bekannte Führungspersönlichkeiten der sozialistischen Bewegung, darunter neben Haase der spätere Reichskanzler Gustav Bauer und der spätere Vorsitzende des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Otto Hörsing. Zu nennen sind des Weiteren der langjährige preußische Ministerpräsident Otto Braun, der spätere USPD- und dann SPD-Vorsitzende Arthur Crispien und eben auch Meyer. Mit seinem Beitritt zur SPD versperrte sich der junge Akademiker zahlreiche mögliche Berufsfelder, galten im Kaiserreich doch in vielen Bereichen faktisch Berufsverbote, die Sozialdemokraten jede Beamtenlaufbahn verwehrten und eine Möglichkeit auf eine Karriere an der Universität sehr einschränkten. Letztlich standen sozialdemokratischen Intellektuellen nur die freien, also nicht-staatlichen Berufe offen, unter ihnen vor allem der des Journalisten. Nach einem kurzen Intermezzo als Statistiker ging auch Meyer diesen Weg. 11 Interview [Hermann Weber] mit Rosa Meyer-Leviné, o. D., in: BArch Koblenz, N 1246/ 34, Bl. 41 u. 64-f. Ernst Meyer als Student, ca. 1905 <?page no="29"?> 29 2.2 Die SPD der Vorkriegsjahre und die Entstehung des linksradikalen Flügels 2.2 Die SPD der Vorkriegsjahre und die Entstehung des linksradikalen Flügels Als Meyer 1908 in die SPD eintrat, konnte die Partei bereits auf ein mehrere Jahrzehnte andauerndes Wachstum zurückblicken. Waren auf die Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen 1871 lediglich 124.000 Stimmen (3,3 %; 2 Sitze) entfallen, erhielten sie im Jahr 1890 bereits 1,4 Millionen Stimmen (19,7 %, 35 Sitze). Von einem Einbruch im Jahr 1907 abgesehen, konnte die SPD ihre Ergebnisse bei den folgenden Reichstagswahlen kontinuierlich steigern und erhielt 1912 schließlich 34,8 % (4,25 Millionen Stimmen). Mit 110 Abgeordneten stellte sie die größte Fraktion im Reichstag - die nächstgrößte, das katholische Zentrum, brachte es auf 91 Abgeordnete und halb so viele Stimmen. Auch die Mitgliederzahl der SPD schnellte in die Höhe: von 284.000 im Jahre 1906 auf über eine Million im Sommer 1914. Sie war damit eine moderne Massenpartei. Ihr Wachstum war auch in der Sozialistischen Internationale ohne Beispiel und machte sie zur „organisatorisch mächtigsten Säule der internationalen Arbeiterbewegung.“ 12 Auch die eng mit der SPD verbundenen freien Gewerkschaften verzeichneten einen massiven Anstieg der Mitgliederzahlen - von 500.000 im Jahr 1899 auf 2,5 Millionen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Um diese beiden „Säulen der Arbeiterbewegung“ herum entstanden Konsumgenossenschaften, denen 1913 bereits 1,3 Mio. Menschen angehörten, und eine Vielzahl kultureller Organisationen: Gesangs- und Theatervereine, Skat- und Schachklubs, die Naturfreunde, Arbeitersportvereine, Bibliotheken und Schulungszentren. Zugleich wurden in fast allen deutschen Großstädten sozialdemokratische Tageszeitungen gegründet, die die Vorstellungen der Partei in der Arbeiterschaft trugen. So entwickelte sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein festes proletarisches Milieu, eine „Parallelgesellschaft“ im kaiserlichen Deutschland. Wer sich wie Meyer der SPD anschloss, wählte, so der Historiker Joseph Rovan, „bewusst eine von allen anderen getrennte Gemeinschaft, um die herum sich dann sein ganzes Leben und das seiner Familie aufbaute, in Erwartung einer von ihr zu schaffenden völlig anderen Zukunft, von der man - in Mitten der zweideutigen Wirklichkeit von heute - ständig träumen konnte: gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Konsumgenossenschaften und den unzähligen angeschlossenen Arbeitervereinen bot die Partei ihren Mitgliedern die Möglichkeit, an einer großen revolutionären Aufgabe mitzuwirken, und dabei gleichzeitig für konkrete Verbesserungen zu kämpfen.“ 13 In den Jahren vor dem Krieg war die deutsche Sozialdemokratie, so schreibt der Luxemburg-Biograph Peter Nettl, „viel mehr als eine politische Partei; sie war eine Gesinnung, ein ideologischer Protest gegen die Gesellschaft, eine eigene Welt“. 14 Die Sozialdemokratie des Kaiserreiches bildete eine Art Staat neben dem Staat. 15 12 Dieter Fricke: Die Entwicklung und Ausbreitung der Parteiorganisationen der deutschen Sozialdemokratie 1875-1914. Probleme ihrer weiteren Erforschung und Darstellung, in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreiches, München 1990, S.-145-160, Zitat 145 f. 13 Joseph Rovan: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/ M 1980, S.-57. 14 Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Berlin, Köln 1968, S.-445. 15 Arno Klönne: Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte - Ziele - Wirkungen, 2. Aufl., Köln 1981, S.-116. <?page no="30"?> 30 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) Dieses linksproletarische Milieu überstand den Ersten Weltkrieg und lebte als alltagsweltliches Beziehungsgeflecht auch in der Weimarer Republik weiter. Auch die KPD blieb stark in diesem Milieu verwurzelt, und so wurde es seit seinem Eintritt in die sozialistische Bewegung auch für Ernst Meyer die Welt, in der sich ein großer Teil seines Lebens abspielen sollte. Das rasante Wachstum der SPD des Kaiserreichs verdeckte die großen Schwierigkeiten, die sich gerade aus diesem Wachstum speisten. Ihrem Programm und Selbstverständnis nach handelte es sich bei der SPD um eine revolutionäre Partei. Durch die Erfahrung jahrelanger Unterdrückung während des Sozialistengesetzes (1878-1890) radikalisiert, war sie zu einer „unverhüllt republikanisch-demokratischen wie klassenkämpferischen Partei mit marxistischem Denken geworden“. 16 Auf ihrem Erfurter Parteitag von 1891 hatte sie sich ein stark vom Marx’schen Gedankengut inspiriertes Programm gegeben. Die politische Alltagspraxis der SPD kreiste allerdings vor allem um Wahlkämpfe, Parteiversammlungen und den stetigen Auf- und Ausbau der Organisationen. Im Zuge dessen wuchs ein Apparat heran, dessen Vertreter zunehmend befürchteten, durch revolutionäre Politik die Existenz der Organisationen und damit auch ihre eigene materielle Existenz aufs Spiel zu setzen. Innerhalb einer auf radikale Veränderung zielenden Bewegung bildete sich so ein strukturkonservatives Element mit wachsendem Einfluss. Zugleich machten die Mitglieder der SPD und der Gewerkschaften die Erfahrung, dass sich - im Kaiserreich auf ökonomischen Gebiet stärker als auf politischem - allmähliche Verbesserungen auch innerhalb des Bestehenden durchsetzen ließen. Diese Erfahrung bildete einen wichtigen Nährboden für das Erstarken „reformistischer“ Vorstellungen in der Partei. Verdeckt durch „die offizielle Ächtung der Sozialdemokratie durch die herrschenden Klassen und durch die eigene verbale Ablehnung des herrschenden Systems“, vollzog sich so ein allmählicher „Integrationsprozess in die bürgerliche Gesellschaft“, schreibt Manfred Scharrer. 17 Dieser Prozess ist von Dieter Groh treffend auf den Begriff der „negativen Integration“ gebracht worden. Diese war „gekennzeichnet durch zunehmende ökonomische Besserstellung und Tendenzen zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung einerseits bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verweigerung der Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft und Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits“. 18 Die kontinuierlich steigenden Stimmenzahlen gaben vielen Parteimitgliedern das Gefühl, dass sie nur abwarten müssten, bis ihre Partei über die absolute Mehrheit im Reichstag verfüge. Denn das erschien ihnen gleichbedeutend mit der Eroberung der politischen Macht. Obwohl sich diese parlamentarische und reformerische Orientierung in der Realität immer mehr durchsetzte, verzichtete die SPD-Parteiführung darauf, ihren revolutionären Anspruch aufzugeben - wenngleich es durchaus Versuche gab: Eduard Bernstein beispielsweise argumentierte, die Ausrichtung der Partei auf die Überwindung des Kapitalismus sei überholt. Doch im leidenschaftlich geführten „Revisionismusstreit“ konnten er und seine Anhänger sich nicht durchsetzen. Auf den Dresdener Parteitag von 1903 erlitten sie eine klare Niederlage. 16 Wolfgang Abendroth: Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis 1933, Heilbronn 1997, S.-121. 17 Manfred Scharrer: Arbeiterbewegung und Obrigkeitsstaat. SPD und Gewerkschaft nach dem Sozialistengesetz, Berlin 1976, S.-38. 18 Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/ M., Berlin, Wien 1959, S.-36. <?page no="31"?> 31 2.2 Die SPD der Vorkriegsjahre und die Entstehung des linksradikalen Flügels In den Auseinandersetzungen mit dem Revisionismus auf der einen und mit linksradikalen Positionen auf der anderen Seite bildete sich ein „marxistisches Zentrum“ heraus, das die Parteiführung stellte und dementsprechend die Politik der SPD bestimmte. Es vertrat in der Theorie einen orthodox anmutenden Marxismus. Doch in der Praxis entwickelte es keine damit korrespondierende Politik. Vor radikalen Maßnahmen schreckte der Vorstand in den Jahren vor 1914 immer wieder zurück. Beispielsweise kämpfte die SPD für die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts; schließlich setzte dieses Wahlrecht der Strategie der Machteroberung durch parlamentarische Mehrheiten im mit Abstand wichtigsten deutschen Teilstaat enge Grenzen. Doch zu radikalen außerparlamentarischen Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, konnte der Vorstand sich nicht durchringen. Ähnlich ambivalent verhielt es sich mit der Frage des Militarismus und der sich immer deutlicher abzeichnenden Kriegsgefahr. Während sowohl auf den Parteitagen der SPD als auch auf den Kongressen der Sozialistischen Internationale wortgewaltige Erklärungen gegen einen möglichen Krieg verabschiedet wurden, entwickelte die internationale sozialistische Bewegung keine Strategie, wie dieser Krieg im Ernstfalle aufzuhalten sei. Die von englischen und französischen Sozialisten geforderte Festlegung der Mitgliedsparteien der Internationale auf einen präventiven Massenstreik im Falle eines akut drohenden Krieges lehnte die SPD mehrfach ab. Karl Kautsky definierte die Sozialdemokratie als eine revolutionäre, die Revolution aber nicht machende, also nicht aktiv auf einen Umsturz hinarbeitende, Partei. Das beschrieb sehr treffend die Situation der SPD in den Jahren vor 1914. Zum Kennzeichen ihrer Politik wurde eine passive, abwartende Haltung. Das resultierte auch aus einem Geschichtsverständnis, in dem die Emanzipation des Proletariats gleichsam als ein naturgeschichtlich unumgänglicher Prozess erschien. Der Aufstieg der SPD schien die „Naturnotwendigkeit“ ihres künftigen Sieges zu bestätigen. Doch vor dem Hintergrund des Unvermögens der Parteiführung, die wachsende Größe der SPD in politischen Einfluss umzumünzen, stellte sich immer mehr die Frage nach neuen Wegen. Mit dem Revisionisten entstand auf dem rechten Flügel der Partei eine Strömung, die theoretische Konsequenzen aus der praktischen Politik der Partei einforderte. Auf dem linken Parteiflügel hingegen bildete sich eine Strömung, die praktische Konsequenzen aus dem ständig proklamierten revolutionären Anspruch verlangte. Sie argumentierte mit dem von Luxemburg entwickelten Konzept einer „revolutionären Realpolitik“ für eine Einheit von Kämpfen um konkrete Reformen mit dem Ziel einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Erst allmählich löste sich dieser linksradikale Flügel im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vom „marxistischen Zentrum.“ Seine wichtigsten Persönlichkeiten waren Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin, bald auch Karl Liebknecht. Im Revisionismusstreit hatten sie noch gemeinsam mit Kautsky und Bebel gegen Bernstein gekämpft. Aber gegenüber der passiven Politik des Parteivorstandes drängten sie auf eine aktive Politik, durch die die Massen in Siegen wie in Niederlagen Erfahrungen sammeln und ein Bewusstsein der eigenen Stärke sowie einen Willen zur Macht entwickeln sollten. In dieser Auseinandersetzung, so erinnerte sich Meyer später, habe die linke Opposition erst ihre „eigentliche Färbung“ erhalten. Er sah zwei wesentliche Momente, die zu ihrer Entstehung führten: „Das Verlangen nach Aufrechterhaltung der revolutionären Traditio- <?page no="32"?> 32 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) nen der Sozialdemokratie […] und die Bemühungen, den neuen Erscheinungen des Imperialismus durch neue Formen des Klassenkampfes gerecht zu werden.“ 19 Dies drückte sich in der seit 1905 geführten Massenstreikdebatte aus. Inspiriert von den Ereignissen der russischen Revolution jenes Jahres, aber auch von zunehmenden Arbeitskämpfen und politischen Bewegungen in Deutschland drängten die SPD-Linken darauf, politische Massenstreiks als Waffe in das Arsenal der Partei aufzunehmen. Zur leidenschaftlichsten Verfechterin dieser Position wurde Rosa Luxemburg, nicht zuletzt mit ihrer berühmten Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“. Der Parteitag in Jena hatte 1905 den Massenstreik als politisches Kampfmittel zumindest zur Abwehr von Wahlrechtsverschlechterungen anerkannt. Doch schon ein Jahr später wurde dieser Beschluss durch einen Kompromiss des SPD-Vorstandes mit den Gewerkschaften abgeschwächt. Demnach durfte die Partei nur noch gemeinsam mit den Gewerkschaften über einen Generalstreik entscheiden. Eine Entfremdung der Radikalen von der Parteivorstandsmehrheit war die Folge. Der sich zu dieser Zeit auf dem linken Zentrumsflügel der Partei herauskristallisierende und dann allmählich von ihm lösende radikale Flügel stützte sich auf Intellektuelle, zu denen bald auch der junge Ernst Meyer stieß, aber auch auf eine Strömung radikaler Industriearbeiter. Folge der zunehmenden Konflikte der Linken mit der Parteimehrheit war ihre allmähliche Verdrängung aus den Redaktionen linker Zeitungen in den Jahren vor 1914. Als Reaktion darauf gründeten Luxemburg, Mehring und der aus Polen emigrierte Sozialist Julian Marchlewski (Karski) im Dezember 1913 die dreimal wöchentlich in 150 Exemplaren erscheinende „Sozialdemokratische Korrespondenz“, deren Wirkung freilich sehr beschränkt blieb. Doch damit war der Kreis entstanden, aus dem nach Kriegsbeginn die Spartakusgruppe und nach den Stürmen des Ersten Weltkrieges der deutsche Kommunismus erwachsen sollte. Gerade diese Traditionslinie strich Meyer in seinen späteren historischen Arbeiten immer wieder heraus. Er bestritt dabei, dass eine Abspaltung der Linksradikalen von der SPD vor 1914 möglich und sinnvoll gewesen wäre. Das Versäumnis der Linken habe vielmehr im Verzicht auf den Aufbau einer eigenen, handlungsfähigen Fraktion innerhalb der Partei gelegen. Er schrieb hierzu im Jahr 1927: „Die Frage der Spaltung wurde in der Vorkriegszeit niemals gestellt. Erst spät, kurz vor dem Kriege, entschloss sie [Rosa Luxemburg, FW] sich zur Bildung einer Fraktion, deren organisatorischer Zusammenhang aber sehr lose war.“ Gegen eine Trennung von der SPD habe die in der sozialdemokratischen Mitgliederschaft tief verwurzelte Auffassung gesprochen, eine Spaltung wäre ein Verrat an der Arbeiterklasse: „Auch nur den Gedanken der Spaltung in der Vorkriegszeit aufwerfen, hätte damals in der Tat geheißen, selbst von den radikaler gestimmten Parteimitgliedern als Verräter an der Arbeiterklasse verlassen zu werden.“ Es habe aber noch einen weiteren Grund gegeben: Die Gruppe um Luxemburg habe eine Zusammenarbeit mit dem marxistischen Zentrum innerhalb einer gemeinsamen Partei lange für sinnvoll und tragbar gehalten. „Dieser Mangel an Einsicht, insbesondere in die notwendige weitere Entwicklung der Mehrheit und ihre[r] Auffassungen führte die Opposition dazu, selbst von einer festen Fraktionsbildung 19 Ernst Meyer: Zur Vorgeschichte der KPD, in: Die Internationale, 10. Jg., 1927, H. 4, S.-102-107, hier S.-103. <?page no="33"?> 33 2.3 In Steglitz bei den Radikalen Abstand zu nehmen und bei der Schärfe der Kritik doch immer auf die Einheit der Partei Rücksicht zu nehmen. Die Tiefe der Scheidung war noch nicht erkannt, die Scheidung selbst organisatorisch auch nicht vorbereitend in Angriff genommen. Das sollte sich bei Kriegsausbruch schwer rächen.“ 20 2.3 In Steglitz bei den Radikalen Wann Meyer nach Berlin zog, ließ sich nicht ermitteln. Möglicherweise verbrachte er schon als Student ein oder mehrere Semester in der Hauptstadt. Der endgültige Umzug erfolgte - anders als häufig angegeben - bereits vor 1912, da sein erster Sohn Heinz im Sommer 1911 im Berliner Vorort Steglitz geboren wurde. Auch das amtliche Dokument zum Kirchenaustritt Meyers am 22. September 1911 nennt Steglitz als Wohnort. Meyer fand 1912 zunächst eine Anstellung beim Kaiserlichen Statistischen Amt in Charlottenburg als Mitarbeiter von Ernst Wagemann, bei dem er vermutlich bis zum Frühjahr 1913 arbeitete. In Steglitz wohnte Meyer mit seiner Familie zunächst in der Arndtstr. 16, dann in der Ahornstr. 26. In Steglitz und Umgebung lebten vor dem Krieg viele radikale Linke. Rosa Luxemburg, die bald zu Meyers politischer Freundin und Lehrerin werden sollte, wohnte zunächst im nahegelegenen Friedenau in der Cranachstr. 58, später dann im Steglitzer Ortsteil Südende, in der Lindenstr. 2. Gleich um die Ecke von Ernst Meyer, in der Albrechtstraße, befand sich die Wohnung von Franz Mehring, mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verband. In der Schadenrute 2 wohnte seit 1910 die Familie Pieck. Im Jahr 1912 zogen Käte und Hermann Duncker in die Rothenburger Str. 5. In Friedenau wohnte auch Gertrud Alexander, später die erste Feuilletonredakteurin der „Roten Fahne“. „Häufig besuchten wir den Feuerkopf Georg Ledebour [...] Ich lernte auch Erich Mühsam, den Anarchisten, kennen, [Julian] Karski-Machlewski, Herta Sturm, Georg Schumann und manchen anderen mehr“, erinnerte sich Meyers Sohn Heinz später an die Zeit in Steglitz. Wie eng der private Kontakt zu Rosa Luxemburg war, verdeutlicht, dass Heinz eine Stoffpuppe von ihr geschenkt bekam. 21 Auch die ab Dezember 1913 von Luxemburg, Mehring und Marchlewski herausgegebene „Sozialdemokratische Korrespondenz“ wurde in dem Vorort erstellt. Der SPD-Wahlverein Steglitz stand innerhalb der Sozialdemokratie klar auf dem linken Flügel, sein 2. Vorsitzender war Wilhelm Pieck. Ob Meyers Kontakte zu dem Kreis um Luxemburg und Mehring schon um 1911 so eng waren, dass er vorsätzlich in ihre Nähe zog, oder ob dies eher zufällig geschah, wissen wir nicht. Für die spätere illegale Tätigkeit während des Krieges erwies sich der Umstand, dass die meisten führenden Köpfe der späteren Spartakusgruppe so nahe bei einander wohnten, jedoch als überaus vorteilhaft. 20 Ebenda, S.106 f. 21 Vgl. Heinz Meyer: Kraft, Bl. 6. <?page no="34"?> 34 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) 2.4 Eine Kneipenrunde als Keimzelle Eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der radikalen linken Strömung in der SPD spielten gesellige Zusammenkünfte, deren Charakter halb privat, halb politisch war. Ihren Anfang scheinen diese informellen Treffen im Herbst 1913 nach dem Jenaer Parteitag genommen zu haben. Hierbei musste durchaus vorsichtig vorgegangen werden, da in der Sozialdemokratie fraktionelle Sonderkonferenzen verboten waren. Einem solchem Zirkel um Franz Mehring - der nach den bei diesen Zusammenkünften im Winter bevorzugten scharfen Grog „Eisbrecher-Runde“ genannt wurde - gehörte auch Ernst Meyer an. Im Nachlass von Rudolf Franz findet sich eine lebendige Schilderung dieser Zusammenkünfte: „Häufig waren wir dann 1914/ 15 in Berlin zusammen, und zwar in dem Kreise, der sich um den Genossen Franz Mehring zu scharen pflegte. In Steglitz, wo M[ehring] wohnte, pflegten wir schon vor dem Kriege, ganz besonders aber in dem ersten Jahre des Krieges, freitags in diesem oder jenem Lokal vorbeizukommen, und aus der verhältnismäßig harmlosen, wenn auch damals schon mit parteipolitischer Erörterung angefüllten Unterhaltung der Vorkriegstage entwickelte sich dann allmählich eine kleine Zentrale für die Opposition gegen die Politik des Parteivorstandes. Außer einigen Teilnehmern, wie Karl Korn, dem Redakteur der ‚Arbeiterjugend‘, die sich im Laufe des ersten Kriegsjahres den Regierungssozialisten zuwandten, sah man hier regelmäßig Eduard Fuchs, den bekannten marxistischen Kunsthistoriker, ferner Hermann Duncker, […] Ernst Meyer und einige andere. Die Sitzungen dehnten sich gerne bis zur Polizeistunde aus, die allerdings im Laufe des ersten Kriegsjahres immer früher eintrat, und der lebhafte Austausch von Nachrichten und Meinungen bot der gerade erst im Entstehen begriffenen Opposition mancherlei Anregungen. In der Folgezeit, wo neben anderen auch Wilhelm Pieck und ich selber beim Militär waren, wurde die Tradition der Freitagabende getreulich aufrechterhalten. Die Regierungssozialisten waren sich sehr wohl bewusst, dass sie es hier mit einem nicht zu unterschätzenden Herde der Kriegsgegnerschaft zu tun hatten, und die Freitagabende waren bei manchen von ihnen sprichwörtlich als Verschwörer- Zusammenkünfte bekannt. In der Tat entwickelte sich hier auch jener Nachrichtendienst, der vor allem wohl von Ernst Meyer gespeist wurde und in der Form der Spartakusbriefe internationalen Ruf erhalten hat.“ 22 Später traf sich die „Eisbrecher-Runde“ mit einem anderen Zirkel linker Sozialdemokraten um Adolph Hoffmann und Georg Ledebour. Erst fanden die gemeinsamen Zusammenkünfte bei Bernhard Düwell in Charlottenburg statt, dann wegen wachsender Teilnehmerzahl im Restaurant „Patzenhofer“ in der Potsdamer Straße. Nach Piecks Erinnerung kam bei diesen gemeinsamen Treffen allerdings „wenig positives heraus“. Zu groß waren die Unterschiede zwischen dem auf sehr vorsichtiges und behutsames Agieren bedachten Kreis um Ledebour und Hoffmann und den radikaleren Steglitzern. Meyer scheint auch an diesen Treffen teilgenommen zu haben. Der vor dem Krieg noch nicht eingemeindete Berliner Vorort Steglitz gehörte zu dem Reichstagswahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg (im Folgenden: Kreis Tel- 22 BArch-SAPMO, NY 4020/ 4 (Rudolf Franz), Bl. 8. <?page no="35"?> 35 2.5 Redakteur beim Vorwärts tow), einer sozialdemokratischen Hochburg. Im Jahr 1912 zählte die SPD hier an die 30.000 Mitglieder, sie konnte die Gründung des 50. Wahlvereins im Kreise feiern und über die Verteilung von 1,2 Mio. Flugblättern berichten. Der Wahlkreis umfasste neben oft konservativ eingestellten kleineren Dörfern auch industrielle Randbezirke Berlins, vor allem die rote Hochburg Rixdorf (ab 1912: Neukölln). Nirgendwo sonst war die die SPD benachteiligende, ungerechte Einteilung der Reichstagswahlkreise so deutlich zu spüren wie hier, im größten Wahlkreis des Reiches, wo im Jahr 1912 339.256 Stimmberechtigte einen Abgeordneten wählten, während es in vielen ländlichen, konservativ geprägten Wahlkreisen weit weniger waren. Eine besondere Bastion der Linken im Kreis Teltow war die Bildungsarbeit, die seit 1912 von Pieck geleitet wurde. Im Jahr 1914 eröffnete in Steglitz ein Arbeiterjugendheim, in dem zahlreiche Veranstaltungen der linken Bildungsarbeit stattfanden. Zu den Referenten gehörte auch Ernst Meyer. Überhaupt scheint sich Meyer rasch in der politischen Arbeit vor Ort engagiert zu haben. Erste öffentliche Auftritte lassen sich für den März 1913 nachweisen. Anlässlich des Internationalen Frauentags rief der „Vorwärts“ regelmäßig zur Teilnahme an Frauenversammlungen im Raum Berlin auf, etwa unter der Parole: „Frauen heraus! Auf zum Kampf für eure Staatsbürgerrechte! “ Neben prominenten Sozialdemokraten wie Ernst Däumig, Adolph Hoffmann, Georg Ledebour, Rosi Wolfstein und Luise Zietz gehörte auch Meyer zu jenen Referenten, mit deren Namen für die Veranstaltungen geworben wurde. Über eine solche Veranstaltungen in Bohnsdorf (Kreis Teltow) berichtete der „Vorwärts“: „In einer gut besuchten Versammlung in ‚Villa Kahl‘ referierte Genosse Dr. Ernst Meyer (Steglitz) vor einer andächtigen Zuhörerschar. Der Referent fand am Ende seiner Ausführungen reichen Beifall. Nach einem kräftigen Schlusswort von Frau Mohr wurde die Versammlung mit einem Hoch auf das allgemeine Wahlrecht geschlossen.“ 23 Wenige Tage später, am 12. März, referierte Meyer erneut, diesmal in Steglitz, anlässlich des hundertsten Jahrestages der Befreiungskriege zu dem historischen Thema „Aus dem Jahre 1813“. Auch im März 1914 befand sich Meyer wieder unter den Referenten der Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag. 24 2.5 Redakteur beim Vorwärts Vermutlich Anfang 1913 wechselte Meyer vom Kaiserlichen Statistischen Amt zum Journalismus: Er wurde Redakteur beim „Vorwärts“ in Berlin. Denkbar, dass er diese Anstellung auf Vermittlung des ihm gut bekannten neuen SPD-Vorsitzenden Hugo Haase erhielt. Der „Vorwärts“ erfüllte eine Doppelfunktion: Er war Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Tageszeitung der Groß-Berliner SPD. Dies führte immer wieder zu Spannungen zwischen dem Parteivorstand und der Pressekommission der Berliner Partei. Die tägliche Auflage des „Vorwärts“ hatte nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 bei 25.000 Stück gelegen, bis Kriegsbeginn stieg sie auf 161.000 an. An der Spitze der Zeitung stand anstelle eines Chefredakteurs eine Kollegialredaktion, über 23 Vorwärts, 04.03.1913, Nr. 53, Beilage „Berliner Vorwärts“. 24 Vgl. Vorwärts, 06.03.1914, Nr. 64. <?page no="36"?> 36 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) das Erscheinen umstrittener Artikel wurde per Mehrheitsbeschluss entschieden. Innerparteilich stand der „Vorwärts“ damals mehrheitlich auf der Position des linken Flügels des marxistischen Zentrums, dessen publizistische Basis er bildete. Schriftleiter war seit etwa 1910 Rudolf Hilferding. Weitere namhafte linke Redakteure waren Heinrich Ströbel, Hans Block, Arthur Stadthagen, Georg Davidsohn und Arthur Schöttler. Zu ihnen stieß als jüngster - und wie sich bald herausstellen sollte: als radikalster - Ernst Meyer, der sich während des Krieges als einziger „Vorwärts“-Redakteur offen zur Spartakus-Gruppe bekannte. Für den jungen Meyer muss es eine Ehre gewesen sein, für das sozialdemokratische Zentralorgan zu arbeiten. In dem Nachruf auf Ernst Meyer in der „Roten Fahne“ und - offenbar darauf aufbauend in vielen Kurzbiographien - heißt es, Meyer habe im „Vorwärts“ als politischer Redakteur gearbeitet. Diese Angabe ist jedoch falsch. Aus zeitgenössischen Quellen geht hervor, dass er als Redakteur des Ressorts Handel, Industrie und Frauen tätig war. 25 Welche Artikel er verfasst hat, lässt sich nicht feststellen. Namentlich gezeichnet wurden aus Furcht vor Repressionen in der Regel nur die Artikel von Abgeordneten, da diese durch ihre Immunität geschützt waren. Einzig die wirtschaftlichen Wochenberichte in der Sonntagsausgabe des „Vorwärts“ lassen sich Meyer zuordnen. 2.6 Verurteilt wegen Majestätsbeleidigung Zwischen August 1913 und Mai 1914 zeichnete Meyer gelegentlich als verantwortlicher Redakteur des „Vorwärts“, meist für die Montagsausgabe. Daher traf auch ihn das Schicksal vieler sozialdemokratischer Redakteure, die im Kaiserreich presserechtliche Verantwortung übernahmen. Die sogenannten Sitzredakteure hatten immer wieder vor Gericht zu erscheinen, wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt und mussten anschließend „einsitzen“. Gerade in der Zeit vor Beginn des Krieges stand der „Vorwärts“ unter massivem juristischen Druck. Nie zuvor seien auf die Zeitung „Pressprozesse in so großer Zahl und schneller Aufeinanderfolge herabgeregnet“ wie zu dieser Zeit, berichtete die SPD-Pressekommission. 26 Erstmals musste sich Meyer am 7. März 1914 vor dem Landgericht I in Berlin verantworten. Er war wegen Majestätsbeleidigung angeklagt. 27 Anlass war ein satirischer Text im „Vorwärts“ vom 26. Januar 1914, für den Meyer verantwortlich gezeichnet hatte. Unter dem Titel „Abschied vom Regiment“ war eine Persiflage des „Regimentsbefehl des Kronprinzen“, mit dem dieser sich von seinem Husarenregiment verabschiedet hatte, gedruckt worden. Die Anklage lautete, der Artikel würde den Regimentsbefehl und den Kronprinzen ins Lächerliche ziehen. Meyers Verteidiger, Dr. Hugo Heinemann, argumentierte hingegen, sein Mandant habe den fraglichen Artikel nicht geschrieben und ihn aufgrund der Arbeitsbelastung in der 25 Vgl. Gerichtsakten zum Prozess gegen Meyer am 26.1.14, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 358-01 2037. Auch im Nachruf in der Zeitschrift „Gegen den Strom“ heißt es, Meyer kam als Wirtschaftsredakteur zum „Vorwärts“, vgl. Ernst Meyer tot, in: Gegen den Strom, 3. Jg., Nr. 6, 08.02.1930, S.-88 f. Vgl. auch Curt Schoen: Der Vorwärts und die Kriegserklärung. Vom Fürstenmord in Sarajewo bis zur Marneschlacht, Berlin 1929, S.-9. 26 Die Preßkommission, März 1916, in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 38, Bl.13 f. 27 Urteil in: LAB, A Pr. Br. Rep. 358-01 2037. <?page no="37"?> 37 2.6 Verurteilt wegen Majestätsbeleidigung Redaktion auch nicht lesen können. Daher sei er nicht verantwortlich zu machen. Das Gericht ließ diese Argumentation nur insoweit gelten, als sie bei der Bemessung des Strafmaßes berücksichtigt wurde. An der presserechtlichen Verantwortung Meyers ändere sie nichts. Auch weil Meyer bisher unbestraft war, wurde er zu „nur“ drei Monaten Gefängnis verurteilt. Außerdem mussten sämtliche Exemplare des betreffenden „Vorwärts“ und dessen Druckplatten unbrauchbar gemacht werden. Nur zwei Tage nach der Verurteilung erschien in der Parteizeitung ein Artikel mit dem Titel „Verächtlichmachung einer Staatseinrichtung“, für den sich Meyer erneut vor Gericht verantworten musste. Bei diesem Prozess, der am 3. August 1914 wieder vor dem Landgericht Berlin I stattfand, verteidigte ihn Dr. Kurt Rosenfeld. Meyer wurde vorgeworfen, verantwortlich für die verleumderische Beleidigung verschiedener Amtsrichter zu sein. Er argumentierte, er habe geglaubt, dass der ihm als angesehener und gewissenhafter Schriftsteller bekannte Verfasser mehrere Ereignisse zu einem fiktiven Artikel zusammengefasst habe. Erst nach Erhebung der Anklage habe er erfahren, dass die Ereignisse sich tatsächlich so zugetragen hätten. Trotz mehrfachem Drängen des Richters weigerte sich Meyer, den Namen des Autors zu nennen. Der Staatsanwalt forderte, die von Meyer zu verantwortende „unerhörte Schmähung der Richter“ mit drei Monaten Gefängnis zu ahnden. Rosenfeld argumentierte dagegen, einerseits habe Meyer den Artikel für fiktiv gehalten, andererseits seien ihm selbst aus seiner Praxis als Anwalt zahlreiche Fälle wie die in den Artikeln geschilderten bekannt. Die übertriebene Höhe des beantragten Strafmaßes lasse sich nur daraus erklären, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Sozialdemokraten handelt. Meyer wurde schließlich zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt. Der Ausbruch des Krieges bewahrte ihn jedoch vor dem Vollzug beider Urteile: Sie wurden im Zuge einer kaiserlichen Amnestie erlassen. Zudem wurden zwei weitere laufende presserechtliche Verfahren gegen ihn eingestellt. 28 28 Zu sämtlichen presserechtlichen Verfahren gegen Meyer siehe: Die Preßkommission, März 1916, in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 38. <?page no="38"?> 38 2 Radikalisierung in der Vorkriegs-SPD (1908-1914) Ernst Meyer mit seinen Söhnen Rudi (li.) und Heinz, o.O. Elsa Meyer mit Sohn Heinz und ihrer Mutter Helene Ehlert, o.O. Karte von Elsa an Ernst Meyer, Postkartenfoto und -rückseite, Sommer 1914, Ostseestrand von Henkenhagen bei Kolberg (Pommern). V.l.n.r. Dienstmädchen, Ernst, Rudolf, Heinz und Elsa Meyer <?page no="39"?> 39 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) 3.1 4. August 1914: Entsetzen, Verzweiflung und Widerstand Am 4. August 1914 stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den kaiserlichen Kriegskrediten zu. Sie verstieß damit gegen die feierlichen Schwüre der Internationalen Sozialistischen Kongresse von 1907, 1910 und 1912, gab ihre jahrelang proklamierte antimilitaristische Haltung auf und unterstützte fortan die Kriegspolitik der Regierung. Jener 4. August stellt eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung dar. Mit der Zustimmung zu den Krediten und der darauffolgenden Politik des „Burgfriedens“ gab die Mehrheit der SPD „den Anspruch auf, grundsätzlich in Opposition gegenüber Regierung, Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu stehen.“ 1 Viele der Spaltungslinien der deutschen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert lassen sich auf dieses Ereignis zurückführen. Zeitgenossen erschien diese vermeintlich so plötzliche Wandlung der SPD geradezu unglaublich. In der bürgerlichen Öffentlichkeit galt sie als das „größte aller Wunder“, das der „Zauberkünstler und Wundertäter Krieg“ vollbracht habe. 2 Lenin hielt die Nachricht von der Zustimmung zu den Kriegskrediten zuerst für eine gezielte Falschmeldung und das Organ der niederländischen Sozialdemokratie titelte mit dem Wort: „Unglaublich! “. Vorausgegangen waren stürmische Wochen. In Folge des Attentats von Sarajewo auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 zeichnete sich die Kriegsgefahr immer deutlicher ab. Ihr versuchte die Sozialdemokratie noch in der letzten Juliwoche durch eine starke antimilitaristische Mobilisierung zu begegnen, die großen Widerhall an der Basis fand. Die Möglichkeit, daraus eine nachhaltige Massenbewegung zu entwickeln und der wachsenden Kriegsbegeisterung in Teilen der Gesellschaft entgegenzutreten, ließ die SPD- Führung jedoch ungenutzt. Auch auf einen Generalstreik gegen den drohenden Krieg drängte sie nicht. Dem linken Flügel der Partei gelang es ebenfalls nicht, konkret für eine Ausweitung und Radikalisierung der Antikriegsmaßnahmen einzutreten. Am 29. Juli wendete sich das Blatt: Nun forderte der Parteivorstand die sozialdemokratische Presse zu einer Abschwächung ihrer Antikriegspositionen auf. Nach der Verhängung des Belagerungszustandes am 31. Juli verstummte die sozialdemokratische Kritik am Kriegskurs zusehends. Der „Vorwärts“ hatte in den letzten Juliwochen an der Spitze der Antikriegsagitation gestanden. Er titelte mit Schlagzeilen wie „Immer wieder gegen den Krieg“ und brachte Aufrufe zu Massenversammlungen gegen die Kriegsgefahr. Nach Ansicht der Redaktion hatten die breit getragenen Proteste den „absurden Schwindel, dass das Volk in seiner 1 Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Bonn 1974, S.-9. 2 Tägliche Rundschau, 05.08.1914, zit. nach Wolfgang Kruse: Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914-15, Essen 1993, S.-9. <?page no="40"?> 40 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Mehrheit von Kriegsbegeisterung befallen sei, […] gründlichst zuschanden gemacht.“ 3 Auch als der Parteivorstand die Abschwächung der Antikriegshaltung verlangte, blieb die Redaktion kritisch. Leider lässt sich aufgrund des Fehlens interner Dokumente der Anteil Ernst Meyers an der Haltung des „Vorwärts“ nicht rekonstruieren. Aber die Vermutung liegt nahe, dass er zu den Redakteuren gehörte, die am entschiedensten auf einen Antikriegskurs drängten. Am 2. August gelangte der Parteivorstand schließlich zu der Überzeugung, die Reichstagsfraktion müsse den Kriegskrediten zustimmen. Auch in der Fraktion fand diese Position eine Mehrheit: Bei einer internen Abstimmung votierten 78 Abgeordnete dafür, 14 dagegen. Am 4. August beugte sich dann die Minderheit der Fraktionsdisziplin, die Fraktion stimmte den Krediten geschlossen zu - und ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende Hugo Haase, einer der Wortführer der internen Opposition, begründete im Plenarsaal die Zustimmung zu den Krediten. Die prominenten Wortführer der Linken verzichteten sogar darauf, bei der Abstimmung zumindest den Saal zu verlassen, wie es alter sozialdemokratischer Brauch war, um Dissens auszudrücken, ohne die Disziplin zu verletzen. Verschiedene Gründe trugen zum Gesinnungswandel der SPD-Führung in der Kriegsfrage bei: Zum einen befürchtete sie, eine Ablehnung der Kredite könne ein Verbot von Partei und Gewerkschaften nach sich ziehen und damit die Zerstörung der so mühevoll aufgebauten Organisationen der Arbeiterbewegung. Hier spielte die Angst vor einer Marginalisierung der SPD eine große Rolle. Zum anderen argumentierte die Reichsregierung, der Krieg diene der „Landesverteidigung“, und konnte damit an einem in Teilen der Partei vorhandenen Patriotismus anknüpfen. Zudem gelang es ihr, berechtigte sozialdemokratische Vorbehalte gegenüber dem russischen Zarismus zu instrumentalisieren. Nicht zuletzt spielten die Nachrichten aus Frankreich eine große Rolle: Dort befürworteten die Sozialisten ihrerseits die „Vaterlandsverteidigung“. Wesentliche Ursache für die Zustimmung zu den Kriegskrediten und der auf sie folgenden Burgfriedenspolitik aber war, dass sich der SPD dadurch eine Möglichkeit zu einer Auflösung der durch ihre „negative Integration“ ins Kaiserreich hervorgerufenen Widersprüche bot. Ihr Gesinnungswandel schien die Voraussetzung „für eine positive, auf gesellschaftspolitischer Gleichberechtigung basierende nationale Integration“ 4 zu sein. Allerdings war der Preis dafür, viele bisherige Positionen und - zumindest für die Kriegsdauer - auch die Möglichkeiten einer eigenständigen Politik aufzugeben. Aber am 4. August 1914 trug sich nicht nur die alte, in harter Opposition zu Staat und bürgerlicher Gesellschaft stehende Sozialdemokratie zu Grabe. Dieser Tag war zugleich, wie Meyer später wiederholt betonte, die eigentliche Geburtsstunde des Spartakusbundes und der KPD. Noch am Abend trafen sich in der Wohnung Rosa Luxemburgs ihre engsten Freunde und Mitstreiter zu einer ersten Beratung, darunter auch Meyer. Die Stimmung war verzweifelt und niedergeschlagen. Der damalige Feuilleton-Redakteur des „Vorwärts“, Rudolf Franz, notierte in seinem Tagebuch: „Die Luxemburg nach dem Versagen der Frak- 3 Zit. nach Kruse: Krieg, S.-38. 4 Ebenda, S.-76. <?page no="41"?> 41 3.1 4. August 1914: Entsetzen, Verzweiflung und Widerstand tion ganz zusammengebrochen. Bei Mehring: Weinkrampf.“ 5 Ähnlich erinnerte sich auch Hugo Eberlein an das Treffen: „Am 4. August trat dann die furchtbare Katastrophe ein. Die Sozialdemokratie stimmte für die Kriegskredite. […]. Gleich, nachdem die Entscheidung im Reichstag gefallen war, eilte ich zu Rosa. Sie war fassungslos vor Empörung. Keiner empfand die Schmach des Verrats so tief wie sie. Was war zu tun? Rosa sprach zuerst von Selbstmord, als sichtbarsten Protest gegen den Verrat der Partei, als sichtbarstes Warnungssignal an die Massen des Proletariats. Wir redeten ihr mit aller Energie solche Absichten aus. […] Dann holte ich noch am Abend die besten und bekannten Genossen zu einer Besprechung zusammen. Der alte Franz Mehring kam, tobte und schimpfte, wie nur Franz Mehring schimpfen konnte. Es kam unser alter russischer Freund Marchlewski (Karski), es kam Hermann Duncker, Wilhelm Pieck und Ernst Meyer […].“ 6 Der damals 27-jährige Meyer war der mit Abstand Jüngste in der Runde - der nächstältere, Wilhelm Pieck, war 38, alle anderen über 40 Jahre alt. Franz Mehring ging bereits auf die 70 zu. Kaum einer von ihnen hatte mit solch einem Ausgang der Abstimmung im Reichstag gerechnet, zumindest eine Enthaltung der Fraktion war erwartet worden. Meyer schrieb später, der 4. August war „selbst für den gegenüber der offiziellen Politik der SPD kritisch eingestellten linken Flügel eine furchtbare Enttäuschung.“ 7 Und an anderer Stelle: „Für den radikalen, linken Flügel in der SPD [kam] der ungeheure Verrat der Kreditbewilligung am 4. August 1914 ebenso unerwartet wie für die übrigen, auf dem linken Flügel kämpfenden Mitglieder der 2. Internationale […].“ 8 Auch für ihn müssen die Ereignisse jener Tage einen schweren Schlag bedeutet haben. Noch am 3. August hatte er sich vor Gericht für ein Pressevergehen verantworten müssen und war zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt worden. Am folgenden Tag nahm er an einer hitzigen Redaktionskonferenz des „Vorwärts“ teil: Wie sollte sich die innerhalb der Partei links stehende Redaktion des Zentralorgans, das sich bis zuletzt um eine kritische Berichterstattung bemüht und anders als viele andere sozialdemokratische Blätter nicht in den allgemeinen chauvinistischen Chor eingestimmt hatte, verhalten? Schließlich verfasste sie eine Stellungnahme gegen die Haltung der Fraktion. Meyer drängte darauf, das Papier zu veröffentlichen, um auf diese Weise den Dissens zu verdeutlichen, der in Teilen der Partei bestand und lediglich durch das einstimmige Votum der Reichstagsfraktion verdeckt worden war. Doch die Mehrheit der Redakteure sprach sich gegen eine Veröffentlichung aus, nur Meyer und Däumig stimmten dafür. Auf dem Treffen in Luxemburgs Wohnung wurde vereinbart, 300 Telegramme an bekannte linke Sozialdemokraten zu verschicken mit der Bitte, Stellung zum Verhalten der Reichstagsfraktion zu beziehen und zu einer baldigen Besprechung zusammenzukommen. „Das Resultat war katastrophal“, erinnert sich Eberlein. „Klara Zetkin war die einzige, die 5 SAPMO-BArch, NY 4020 (Rudolf Franz), Bl. 5 (Tagebucheintrag vom 07.08.1914). 6 [Hugo Eberlein]: Die ersten Schritte, in: Die Revolution, Nr. 2 (Gedächtnisnummer zum 10. Jahrestag der Gründung des Spartakusbundes), August 1924, S.-2. 7 Ernst Meyer: Kommunismus, in: Volk und Reich der Deutschen. Vorlesungen, hg. von Bernhard Harms, Bd. 2, Berlin 1929, S.-142-188, hier S.-143. 8 Ernst Meyer (Hg.): Spartakus im Kriege. Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege, Berlin 1927, Einleitung, S.-5. <?page no="42"?> 42 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) sofort und uneingeschränkt ihre Zustimmung sandte. Die anderen, die überhaupt antworteten, antworteten in dummen und faulen Ausreden.“ 9 Weiterhin verfasste die Gruppe um Luxemburg eine Erklärung, für die auf die Schnelle Unterschriften gesammelt werden sollten und die dann am nächsten Tag im „Vorwärts“ erscheinen sollte. Doch kaum jemand war bereit, zu unterschreiben. So scheiterte der erste Versuch, die Opposition zum Kriegskurs der Partei öffentlich sichtbar zu machen. Dennoch wurde bereits an diesem Abend eine für die kommende Zeit zentrale Grundsatzentscheidung gefällt: Die Linken beschlossen, in der Partei zu bleiben, um „den Kampf gegen den Krieg in der Organisation zu führen und zu organisieren.“ 10 Der Vorschlag eines demonstrativen Austrittes aus der SPD wurde hingegen rasch verworfen. Rosa Luxemburg schrieb dazu wenig später an Kostja Zetkin: „Willst Du vielleicht aus der Menschheit auch ‚austreten‘? Über geschichtliche Erscheinungen von diesem Maßstab vergeht einem jeder Ärger, und es bleibt nur Platz für kühle Überlegung und hartnäckiges Handeln.“ 11 Das Treffen bei Luxemburg offenbarte zunächst einmal mit aller Deutlichkeit die Schwächen der Linksradikalen: Weder waren sie auf die - von ihnen von Anfang an als „Verrat“ empfundene - Zustimmung zu den Kriegskrediten vorbereitet, noch besaßen sie auch nur in Ansätzen eine organisatorische Struktur, um sofort darauf reagieren zu können. Diese aufzubauen war die zentrale Herausforderung, vor der sie in den nächsten Jahren standen. Und dennoch war das Treffen dieses „ganz kleine[n] Häuflein[s] von aufrechten Genossen“ 12 (Meyer) von historischer Bedeutung. Hier formierte sich unter der Wucht der Ereignisse der Kern, der in den nächsten Jahren den Spartakusbund und später auch die KPD führen und entscheidend prägen sollte - oder wie Meyer später schrieb: „Die Geburtsstunde der KPD ist eigentlich die erste Sitzung der linken Fraktion innerhalb der SPD um Rosa Luxemburg im August 1914.“ 13 Außerdem: „Diese Opposition war selbst wieder die unmittelbare Fortsetzung jenes radikalen Flügels, der schon in der Vorkriegszeit gegen den Bernstein’schen Revisionismus und Kautskys Opportunismus kämpfte.“ 14 Als drängendste Aufgabe ergab sich für den Kreis um Rosa Luxemburg, die Opposition gegen den Krieg überhaupt sichtbar zu machen. In der ersten Zeit nach dem 4. August war das Ziel, wie Meyer später schrieb, die SPD-Mitglieder „über den imperialistischen Charakter des Krieges und den Verrat der SPD an den Grundsätzen des Sozialismus wie an den feierlichen Beschlüssen der internationalen Sozialistenkongresse und der sozialdemokratischen Parteitage Deutschlands aufzuklären.“ 15 Dabei galt es, die „doppelte Zensur durch Militärbehörden und sozialdemokratischen Parteivorstand“ zu umgehen. 16 Denn 9 [Eberlein]: Schritte, S.-2 f. 10 Ebenda. 11 Zit. nach Heinz Wohlgemuth: Die Entstehung der Kommunistischen Partei Deutschlands, Frankfurt/ M. 1978, S.-57. 12 Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-5. 13 Meyer: Vorgeschichte. 14 Ernst Meyer: Zur Geschichte der KPD (Zum Jahrestag der Gründung der KPD am 30. Dezember 1918), in: Die Kommunistische Internationale, 7. Jg., 1926, H. 15 (24), S.-674-680, hier S.-675. 15 Ernst Meyer: (Einleitung zu) R[osa] Luxemburg: Entweder - oder! In: Die Kommunistische Internationale, 6. Jg., 1925, H. 9, S.-944-958, hier S.-944. 16 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-675. <?page no="43"?> 43 3.1 4. August 1914: Entsetzen, Verzweiflung und Widerstand die Parteiführung unternahm - im Interesse der Wahrung der nationalen Einheit - alles in ihrer Macht stehende, um den Burgfrieden in die eigene Partei hinein zu verlängern. Die Kriegsgegner in der SPD hatten sich zunächst selbst geschwächt: Mit der Wahrung der Fraktionsdisziplin bei der Abstimmung über die Kriegskredite verzichtete die Parteilinke im Reichstag darauf, kritischen Parteimitgliedern eine Orientierung anzubieten. Auch die Versuche der Linksradikalen außerhalb des Parlaments, am 4. August und den darauffolgenden Tagen öffentlich gegen die Haltung der Parteiführung zu protestieren, waren gescheitert. So sollte es bis zum 30. Oktober 1914 dauern, bis eine erste, von Luxemburg, Liebknecht, Mehring und Zetkin unterzeichnete Erklärung erschien, die eine Opposition zum Kurs der Parteimehrheit öffentlich machte. Symptomatisch für die Schwäche der deutschen Linksradikalen war, dass die Erklärung bereits am 10. September entstanden war, aber erst sechs Wochen später erscheinen konnte - und zwar in der Schweiz, in der „Berner Tagwacht“. Die Linken hatten in Deutschland keine einzige Zeitung, die ihre Ideen verbreitete. Insgesamt setzte die Organisierung der Parteiopposition nach Kriegsbeginn also nur zögerlich ein. Erst als Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 die Fraktionsdisziplin brach und im Reichstag als erster Abgeordneter gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite stimmte, wurde die Existenz einer Opposition gegen den Kriegskurs der SPD-Mehrheit weithin - auch im Ausland - sichtbar. Mit diesem Schritt erfuhr, so Meyer, „der Kampf der Opposition gegen den Krieg […] eine gewaltige Steigerung.“ 17 Dass die radikale Linke in der SPD zu Kriegsbeginn derart schlecht aufgestellt war, lag auch daran, dass ihre wichtigsten Akteure in den Jahren zuvor aus relevanten Stellen der Partei, vor allem den Redaktionen, hinausgedrängt worden waren. Neben dem Reichstagsabgeordneten Liebknecht war Ernst Meyer einer der wenigen aus der Kerngruppe des künftigen Spartakusbundes, der als „Vorwärts“-Redakteur noch in einer zentralen Position arbeitete. Diese Tatsache trug sicherlich dazu bei, dass Meyer trotz seiner jungen Jahre bald eine führende Stellung unter den deutschen Linksradikalen einnahm - ebenso wie der Umstand, dass er aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung als kriegsuntauglich ausgemustert wurde und damit anders als viele seiner engsten Genossen (wie Pieck, Duncker und bald sogar Liebknecht) nicht befürchten musste, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. In der „Vorwärts“-Redaktion war die Mehrheit der Redakteure weiterhin kriegskritisch eingestellt und stand auf den Positionen des linken Flügels des alten marxistischen Zentrums der SPD. Heinrich Ströbel, der den größten Einfluss in der Redaktion hatte und die meisten Leitartikel verfasste, näherte sich sogar den linksradikalen Positionen von Meyer an und galt als Sympathisant des Kreises um Luxemburg, an dessen Treffen er zeitweilig teilnahm. Dementsprechend blieb die Berichterstattung des „Vorwärts“ kriegskritisch, so dass Konflikte mit den Militärbehörden, aber auch mit dem Parteivorstand vorprogrammiert waren. Am 19. September 1914 notierte beispielsweise Meyers Redaktionskollege Rudolf Franz: „Die Gewerkschaften hetzen gegen den ‚Vorwärts‘, der Parteivorstand hat gleichfalls ein Interesse daran, mehr Kriegsbegeisterung zu entfachen.“ 18 Zugleich verboten die staatlichen Stellen den „Vorwärts“ am 21. September 1914 erstmals für drei Tage. Sie begründeten das Verbot mit der klassenkämpferischen Haltung des Blattes. 17 Meyer: Vorwort Spartakusbriefe, S.-XXXV. 18 SAPMO-BArch, NY 4020/ 3, Bl.14 (Nachlass Rudolf Franz, Tagebucheintrag vom 19.09.1914). <?page no="44"?> 44 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Nach außen stellte sich die Parteiführung zwar hinter die Redaktion, intern aber übte sie harsche Kritik. Am 22. September mussten sich die Redakteure in einer 14-stündigen Sitzung mit dem Parteivorstand, der Pressekommission und anderen rechtfertigen. Bemängelt wurde vor allem, dass sie die Zustimmung zu den Kriegskrediten nicht verteidigen würden. Im Namen der Gewerkschaftsführung kritisierte Robert Schmidt, der „Vorwärts“ lasse es auf allen Ebenen der Berichterstattung „an Verständnis für die nationalen Interessen des Deutschen Reiches fehlen“. 19 Nach erneuten Verboten konnte das Parteiorgan erst wieder erscheinen, nachdem die SPD-Führung der Reichsregierung offiziell versichert hatte, dass die Themen Klassenkampf und Klassenhass während des Krieges keine Rolle mehr spielen würden. Mit Hermann Müller stellte der Parteivorstand der Redaktion nun einen faktischen Zensor zur Seite. Meyer, der wie alle Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen von der kriegsbedingten Kürzung seiner Bezüge betroffen war, vertrat schon früh eine defätistische Position. Er befürwortete also die Niederlage Deutschlands. Entsetzt notierte das Parteivorstandsmitglied Otto Braun nach einem Gespräch mit Meyer und Hilferding im September 1914: „Sie stehen eben auf dem Standpunkt, dass es im Interesse einer freiheitlichen Entwicklung Deutschlands liegt, wenn es im Krieg unterliegt.“ 20 Leider lassen fehlende Quellen keine genaue Rekonstruktion der Debatten in der Redaktion zu. Meyers wichtige Stellung im „Vorwärts“ konnte eine der zentralen Schwächen der Linksradikalen keineswegs ausgleichen: Das Fehlen eines eigenen Presseorgans. Die „Sozialdemokratische Korrespondenz“ konnte diese Lücke nicht füllen, ihre Verbreitung war zu gering und schon bald musste sie unter dem Druck der Zensur ihr Erscheinen einstellen. Bereits im August 1914 hatte Luxemburg sich mit der Frage beschäftigt, wie eine breitere publizistische Tribüne für die revolutionäre Linke geschaffen werden könne. Einen ersten Schritt zur Verbreitung linksradikaler Positionen stellte das „Niederbarnimer Referentenmaterial“ dar, das in hektographierter Form in fünf Ausgaben Ende Oktober 1914 bis ins Frühjahr 1915 erschien. Ernst Meyer erinnert sich hieran: „Da die von der doppelten Zensur der Militärbehörden und des Parteivorstandes geknebelte sozialdemokratische Presse für freie Kritik an der SPD-Politik nicht offenstand, suchte die Opposition nach anderen Mitteln der Information. Otto Gäbel, der im Bildungsausschuss des Sozialdemokratischen Wahlvereins für Niederbarnim tätig war, übernahm es, Referentenmaterial an alle oppositionellen Vertrauensleute zu schicken. An diesem Referentenmaterial arbeiteten insbesondere Liebknecht, Karski, Hermann Duncker, Fritz Ausländer und Ernst Meyer mit. Da die Parteiinstanzen die Versendung dieses Materials durch legale Parteiinstitutionen verboten, schuf sich die Opposition einen völlig illegalen Verbreitungsapparat. Diese Rundschreiben erschienen gewöhnlich unter der Überschrift ‚Zur Information‘. Die technische Herstellung lag in den Händen von Wilhelm Pieck (bis zu seiner Verhaftung am 28. Mai 1915), Hugo Eberlein (bis zu seiner militärischen Einziehung im Frühjahr 1916) und Ernst Meyer.“ 21 19 Zit. nach Kruse: Krieg, S.-146. 20 Tagebuchnotiz Otto Braun, 15.09.1914, zit. nach ebenda, S.-196. 21 Meyer: Vorwort Spartakusbriefe, S.-XXXIV f. <?page no="45"?> 45 3.1 4. August 1914: Entsetzen, Verzweiflung und Widerstand Die Verbreitung dieser Materialien sei auch wichtig gewesen, um die in der deutschen Presse weitgehend totgeschwiegene „burgfriedensfeindliche parlamentarische Tätigkeit Liebknechts“ publik zu machen, schreibt Meyer weiter. 22 Neben dem Einwirken auf die innerparteiliche Diskussion betrachtete die Gruppe um Luxemburg von Anfang an die Agitation unter den Massen als ihre Aufgabe. Zu diesem Zweck dienten ihre bald immer zahlreicher werdenden Flugblätter. Die ab 1915 zunehmenden Aktivitäten der linken Opposition in der SPD korrespondierten mit einer wachsenden Ablehnung des Krieges an der Parteibasis. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr erwiesen sich die Hoffnungen der SPD-Führung als Illusionen: Statt Kriegssozialismus nahmen Ausbeutung und Verelendung der Arbeiter zu; statt dem gemeinsamen Aufgehen in einer künftig demokratischen Nation erlebte man eine faktische Militärdiktatur. Angesichts dieser Entwicklungen verbanden sich, so schreibt Kruse, „Verelendung und Ausbeutung in der Kriegsgesellschaft […] schnell mit einer wachsenden Friedenssehnsucht zu klassengesellschaftlichen Interpretationen des Krieges, die sich zunehmend auch gegen die sozialdemokratische Burgfriedenspolitik richteten.“ 23 Soziale Träger der Opposition waren vor allem Vertrauensleute in Betrieben, untere, nicht-hauptamtliche SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre, die Arbeiterjugend und die proletarische Frauenbewegung. Seit dem Frühjahr 1915 forderten große Teile der SPD-Basis eine Rückkehr zur oppositionellen, kriegsgegnerischen Politik. An der Basis nahmen radikale Stimmungen zu. So berichtete der Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine über eine Parteiversammlung im Juni 1915 in Neukölln, er habe sich mit Zwischenrufen konfrontiert gesehen wie: „Wir sind vaterlandslose Gesellen und wollen es bleiben! - Unser Vaterland ist die Menschheit! - Wer sagt Ihnen denn, dass wir siegen wollen? - Unsere Soldaten sollen das Gewehr gegen die Tyrannen kehren! “ 24 Dieser wachsenden Antikriegsstimmung versuchte der Kreis um Rosa Luxemburg politischen Ausdruck zu verleihen und sich gleichzeitig enger zusammenzuschließen und zu organisieren. Ein wichtiger Schritt dabei war die Herausgabe einer illegalen Zeitschrift mit dem Titel „Die Internationale. Eine Monatsschrift für Praxis und Theorie des Marxismus“. Ihre erste und einzige Ausgabe erschien am 14. April 1915 in einer Auflage von 9.000 Stück, danach wurde die Zeitschrift verboten. Hier fanden sich Artikel von Mehring, Zetkin, Käte Duncker, Ströbel und auch Luxemburg, die seit dem 18. März im Gefängnis saß. Ernst Meyer zählte nicht zu den Autoren. Alleine am 14. April konnten rund 5.000 Exemplare bei den Zahlabenden Berliner Wahlvereine verkauft werden. Clara Zetkin berichtete kurz darauf in einem Brief an Robert Grimm: „In keinem Ort haben die bezogenen Exemplare ausgereicht. Überall Nachbestellungen.“ 25 Der über die Versendung des Niederbarnimer Referentenmaterials aufgebaute illegale Apparat funktionierte offensichtlich. Mit der Herausgabe der „Internationale“ gelang es dem Kreis um Luxemburg erstmals, als eigenständige Strömung in der Parteiöffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Sie wurde dementsprechend bald als „Gruppe Internationale“ (GI) bezeichnet. Zugleich fungierte die Zeitschrift für die Linken als eine Art Organisator. So berichtete Wilhelm Pieck: „Die Organisation des Vertriebs der Zeitschrift hatte uns in Berlin dazu geführt, ständige Zu- 22 Ebenda, S.-XXXV. 23 Kruse: Krieg, S.-157. 24 Zit. nach ebenda. 25 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-97. <?page no="46"?> 46 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) sammenkünfte mit den Genossen von der Opposition abzuhalten, wobei allerdings immer die Gefahr vorhanden war, dass die Zusammenkünfte von den Kriminalbeamten ausgekundschaftet und die Teilnehmer verhaftet würden.“ 26 Bald folgten weitere Aktivitäten der Gruppe, etwa die Verbreitung des von Karl Liebknecht verfassten Flugblatts „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, das am 28. Mai in Betrieben und auf einer als Spaziergang getarnten Frauendemonstration gegen den Krieg mit 2.000 Teilnehmerinnen verteilt wurde. Meyer schrieb später, die Gruppe habe im Frühjahr 1915 bereits „tiefe Wurzeln gefasst“ 27 . Nach Angaben Hugo Eberleins gelang es bis zum Sommer 1915, Verbindungen mit Kontaktpersonen in 300 Städten herzustellen. 3.2 Die Gruppe Internationale zwischen Kooperation und Abgrenzung Meyer betonte später immer wieder die Kontinuität zwischen der radikalen Linken der Vorkriegs-SPD und der sich ab dem 4. August formierenden linksradikalen Strömung, aus der sich die Gruppe Internationale und später die KPD bildete. In einem Artikel über die Vorgeschichte der KPD schrieb er beispielsweise: „Die Kommunistische Partei Deutschlands hatte schon eine mehr als vierjährige Geschichte hinter sich, als sie in den letzten Dezembertagen 1918 ihren Gründungsparteitag abhielt. Die Geburtsstunde der KPD ist eigentlich die erste Sitzung der linken Fraktion innerhalb der SPD um Rosa Luxemburg im August 1914. Aber diese vier Jahre Tätigkeit gegen SPD und Militärgewalt im Feuer des Weltkrieges waren nur möglich, weil bereits vor dem Kriege die Basis für eine revolutionäre Gruppe innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung geschaffen worden war“. 28 Im Krieg hätten sich, so ergänzt er an anderer Stelle, „die Gegensätze zwischen den drei schon in der Vorkriegszeit bestehenden Gruppierungen (Revisionisten, Zentrum und Radikale)“ noch verschärft. 29 Die ältere Forschung teilt diese Einschätzung Meyers von einer weitgehenden Kontinuität von den Flügeln der Vorkriegs-SPD zu den innerparteilichen Fraktionen nach 1914. Die neuere Forschung fordert jedoch eine differenziertere Betrachtung. So argumentiert Kruse, dass „die Ursachen für die sich zunehmend abzeichnende Spaltung der SPD nicht primär in der bereits vor dem Krieg erfolgten Ausbildung von Parteiflügeln zu suchen sind.“ Vielmehr lägen sie „in den politischen Entwicklungen und Konflikten der Kriegszeit“, welche „die bisherigen innerparteilichen Fronten verschoben und mit großer Folgerichtigkeit zur organisatorischen Spaltung führten.“ 30 Er verweist dabei auf die Positionswechsel einiger führender Linker, die nun zu entschiedenen Kriegsbefürwortern wurden, so Paul Lensch, Konrad Haenisch und Max Grunwald. Gleichzeitig standen ehemals führende Reformisten wie Bernstein aufgrund ihrer pazifistischen Haltung nun in linker Opposition zum Parteivorstand. Tatsächlich waren auch die Grenzen zwischen der Kern- 26 Zit. nach ebenda. 27 Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-8. 28 Meyer: Vorgeschichte. 29 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-675. 30 Kruse: Krieg, S.-152. <?page no="47"?> 47 3.2 Die Gruppe Internationale zwischen Kooperation und Abgrenzung gruppe des späteren Spartakusbundes und dem linken Zentrum in der Anfangszeit des Krieges relativ fließend. Meyer selbst berichtete später, in den ersten Wochen des Krieges sei „noch keine klare Trennung zwischen dem linken Flügel der [späteren, FW] USP und uns zu spüren“ gewesen. 31 Dementsprechend ergaben sich 1914 und im Laufe des Jahres 1915 verschiedene Formen der flügelübergreifenden Zusammenarbeit, die GI betätigte sich anfangs als Teil der Gesamtopposition in der Partei. Häufig wurden gemeinsame Besprechungen abgehalten, und trotz vieler gegensätzlicher Auffassungen waren die persönlichen Beziehungen zwischen beiden Kreisen oft freundschaftlicher Natur. Gerade Meyer zählte dabei zu den Genossen aus dem Kreis um Luxemburg, die verschiedentlich und eng mit Vertretern der gemäßigten Opposition zusammenarbeiteten. Dies mag auch durch seine Tätigkeit in der Redaktion des „Vorwärts“ bedingt sein, die ihn tagtäglich zu einer engen Zusammenarbeit mit Vertretern dieser Strömung zwang. Im Juni 1915 wurden die Annexionsabsichten der Reichsregierung immer deutlicher. Liebknecht, Meyer, Ströbel, Karski und Duncker beschlossen daher, eine Unterschriftenaktion gegen diese Politik und deren faktische Unterstützung durch die SPD- und Gewerkschaftsführung zu organisieren. Sie verfassten ein Papier, in dem vom „Versagen der Partei in einem unvergleichlichen geschichtlichen Augenblick“ ebenso die Rede ist wie von einer „immer schroffere[n] Abkehr von ihren bisherigen Grundsätzen“. Der Charakter des Krieges als imperialistischer Eroberungskrieg trete immer deutlicher zutage, immer unverhohlener würde über Annexionen gesprochen. „Treibt die Leitung der Sozialdemokratie jetzt weiter im Kielwasser der Eroberungspolitik, rettet sie sich nicht jetzt endlich auf den Boden des internationalen proletarischen Kampfes gegen den Krieg und die imperialistischen Raubgelüste zurück, so versäumt sie die letzte Gelegenheit, sich von der vollen Mitschuld daran zu entlasten, dass dieser Krieg als erbarmungsloser Vernichtungskrieg bis zum Weißbluten der Völker fortgesetzt und der auf ihn folgende Frieden nur die Vorbereitung eines neuen Weltkriegs sein wird.“ Fraktion und Parteivorstand werden aufgefordert, „endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt [zu] tun, den Burgfrieden auf[zu]sagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach den Grundsätzen des Programms und der Parteibeschlüsse, den sozialistischen Kampf für den Frieden [zu] eröffnen.“ 32 Das als „Unterschriftenflugblatt“ oder „Protestschreiben vom 9. Juni“ bekannt gewordene Papier markierte den ersten Versuch der Opposition, ihre Anhänger im ganzen Reich zu mobilisieren. Die Linken versandten tausende Exemplare, 729 Unterschriften kamen schließlich für diesen an Parteivorstand und den Vorstand der Reichstagsfraktion gerichteten Aufruf zusammen. Obwohl mit Meyer und Ströbel zwei „Vorwärts“-Redakteure zu den 31 Einleitungsreferat auf dem Gründungsparteitag der KPD, in: Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, hg. und eingeleitet von Hermann Weber, Frankfurt (M.) 1969, S.-51. 32 Zit. nach Eugen Prager: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 2. Aufl., Glashütten im Taunus 1970, S.-69-72. <?page no="48"?> 48 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Verfassern des Aufrufs zählten, veröffentlichte ihn keine Parteizeitung. Stattdessen druckten und verbreiteten ihn die Oppositionellen als Flugblatt in einer Auflage von 100.000 Stück. Der vom Parteivorstand als „Vorwärts“-Zensor eingesetzte Hermann Müller sprach empört von „Treibereien, wie sie annähernd schamlos in der Parteigeschichte nie da waren“. 33 Vor allem aber bedeutete die Erstellung des „Unterschriftenflugblattes“ eine neue Qualität im Verhältnis zwischen radikaler und gemäßigter Opposition. Zwar verweigerten führende Köpfe des Zentrums wie Bernstein, Haase und Kautsky ihre Unterschrift - aber viele ihrer Anhänger unterzeichneten das Papier. So gelang es der GI, die gemäßigte Opposition unter Druck zu setzen und zu einer ersten eigenen öffentlichen Aktion zu zwingen. Deren führende Vertreter veröffentlichten zehn Tage später einen Aufruf mit dem Titel „Das Gebot der Stunde“, der als Antwort auf das „Unterschriftenflugblatt“ verstanden werden kann. In Inhalt und Rhetorik fiel er deutlich gemäßigter aus. Doch beide Aufrufe zielten in eine ähnliche Richtung: Sie forderten eine Aufkündigung des Burgfriedens und eine Abkehr der SPD von der Politik des 4. August. Der Parteivorstand sah sich daraufhin zu der Veröffentlichung einer eigenen Erklärung („Sozialdemokratie und Frieden“) genötigt, die in Absprache mit der Reichsregierung herausgegeben wurde. Seit dem Frühsommer 1915 kam es in Berlin zu regelmäßigen Zusammenkünften führender linker Zentristen wie Joseph Herzfeld, Adolph Hoffmann und Georg Ledebour mit den Parteilinken Karl Liebknecht, Franz Mehring, Hermann Duncker, Ernst Meyer und Fritz Ohlhoff, um prinzipielle und taktische Fragen zu beraten. Wahrscheinlich knüpften diese Treffen an die Zusammenkünfte der Vorkriegszeit im Restaurant „Patzenhofer“ in der Potsdamer Straße an, an denen bereits Meyer, Ledebour und Hoffmann teilgenommen hatten. Später schrieb Meyer, dass bei diesen Treffen „immer stärker die Gegensätze zwischen den Anhängern Liebknechts, der offen im Plenum des Reichstags gegen die Kriegskredite stimmte, und den Anhängern Haases und Ledebours, die nur im Fraktionszimmer dagegen stimmten“, aufrissen. 34 Ein anderer Ort, an dem sozialdemokratische Kriegsgegner der verschiedenen Strömungen - vom linksradikalen Meyer über den Zentristen Ewald Vogtherr bis zum Revisionisten Eduard Bernstein - zusammentrafen, waren Organisationen der bürgerlichen Friedensbewegung. Meyer arbeitete unter anderem im „Bund Neues Vaterland“ (BNV) mit. Gegründet im November 1914 versuchte diese hauptsächlich von pazifistischen linksbürgerlichen Intellektuellen getragene Organisation, für einen demokratischen Frieden zu wirken. Im Herbst 1915 hatte sie über 100 feste Mitglieder. Es fanden häufig Treffen in den Salons wohlhabender Mitglieder statt, an denen auch Spartakisten beteiligt waren. Spendensammlungen im Kreis des BNV spielten eine wichtige Rolle für die Finanzierung der illegalen Spartakuspropaganda. Meyer stand beispielsweise mit dem sozialistischen Kunstsammler und Publizisten Eduard Fuchs, ebenfalls ein Mitglied des BNV, in enger Verbindung. Enge Kontakte hielt Meyer auch zu Franz Pfemferts Zeitschrift „Die Aktion“, die die Gruppe Internationale und später den Spartakusbund bei der illegalen Arbeit unterstützte und, in den Spalten des Blattes raffiniert getarnt, gelegentliche Hinweise auf politische 33 Zit. nach Miller: Burgfrieden, S.-110. 34 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-676. <?page no="49"?> 49 3.3 International gegen den Krieg I: Auf der Zimmerwalder Konferenz 1915 Ereignisse und Aktionen gab. Häufig war Meyer in der Aktion-Buchhandlung am Rankeplatz in Wilmersdorf anzutreffen, die schon während des Krieges und auch später in der Revolutionszeit eine Anlaufstelle für linke Künstler und Intellektuelle (wie Ludwig Rubiner, Johannes R. Becher, Oskar Kanehl, Gottfried Benn und Walter Hasenclever) war. 3.3 International gegen den Krieg I: Auf der Zimmerwalder Konferenz 1915 Eine zentrale Rolle bei der Herausbildung einer internationalen sozialistischen Opposition gegen den Krieg spielten die Konferenzen von Zimmerwald (5.-8. September 1915) und Kienthal (24.-30. April 1916), die zugleich auch einen wichtigen Einfluss auf die Ausdifferenzierung der deutschen Opposition hatten. Die bei Kriegsbeginn zerrissenen Beziehungen zwischen einer Reihe kriegsgegnerischer Parteien und Parteiströmungen wurden hier neu geknüpft und der Grundstein der späteren Kommunistischen Internationale gelegt. „Die organisatorische Seite der Sache oblag dem Berner sozialistischen Führer Grimm“, erinnerte sich Leo Trotzki an die erste der beiden Konferenzen. „Er hatte für die Konferenz einen Platz zehn Kilometer von Bern vorbereitet, in einem kleinen Dörfchen Zimmerwald, hoch in den Bergen. Wir drängten uns in vier Wagen zusammen und fuhren ins Gebirge. Die Vorübergehenden blickten neugierig auf diese seltsame Karawane. Die Delegierten scherzten selbst darüber, dass es ein halbes Jahrhundert nach der Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen. Aber dieses Scherzen war kein Skeptizismus. Der historische Faden zerreißt oft. Dann muss man einen neuen Knoten binden. Das eben taten wir in Zimmerwald.“ 35 An beiden Konferenzen nahm Meyer zusammen mit Berta Thalheimer als Delegierter der Gruppe Internationale bzw. der Spartakusgruppe teil. In Zimmerwald traf er zum ersten Mal auf Lenin, Trotzki, Radek und Sinowjew, die künftigen Führer der russischen Revolution. Außerdem lernte er wichtige Vertreter der russischen Menschewiki wie Julius Martow und Pawel Axelrod sowie weitere Führungsfiguren der internationalen sozialistischen Bewegung wie Angelica Balabanoff und Giacinto Serrati aus Italien, den französischen Gewerkschafter Arthur Merrheim und den schwedischen Sozialisten Zeth Höglund kennen. Aus Deutschland waren unter anderem die Abgeordneten Joseph Herzfeld, Ewald Vogtherr und Georg Ledebour sowie Adolph Hoffmann vertreten, die Meyer aus Zusammenkünften der verschiedenen deutschen Oppositionsgruppen bereits bekannt waren. Als Vertreter der kleinen Gruppierung „Internationale Sozialisten Deutschlands“ (ISD; nach ihrer Zeitschrift auch „Lichtstahlen“-Gruppe genannt) nahm Julian Borchardt an der Zimmerwalder Konferenz teil. Karl Liebknecht hatte ein Grußwort verfasst, das zu Beginn der Konferenz verlesen wurde. Als Sprecher der deutschen Delegation traten Ledebour und Hoffmann auf, die sich am intensivsten an den Debatten beteiligten und die beiden 35 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin (Ost) 1990, S.-225. <?page no="50"?> 50 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) wichtigsten Dokumente der Konferenz unterzeichneten. Insgesamt nahmen an der Zimmerwalder Konferenz 37 Delegierte aus 12 Ländern teil. Unterschiedliche Strömungen des internationalen Sozialismus trafen hier zusammen, geeint durch die Gegnerschaft zum Krieg. Umstritten war, welche Konsequenzen aus der Antikriegshaltung gezogen werden sollten. Meyer und Thalheimer waren aus Deutschland gewohnt, auf dem äußersten linken Flügel der Arbeiterbewegung zu stehen. In Zimmerwald trafen sie mit den Vertretern der Bolschewiki auf Sozialisten, die - vor allem in Bezug auf die Notwendigkeit einer neuen Internationale - noch radikalere Positionen vertraten. Lenin und Radek legten der Konferenz eine Resolution vor, in der der Krieg als imperialistisch bezeichnet wurde. Die Antwort darauf könne nur eine sozialistische sein. Die meisten Führer der alten Internationale hätten „vom Opportunismus zerfressen […] das Proletariat dem Imperialismus ausgeliefert.“ Der Sozialimperialismus, wie ihn neben den offiziellen Führern auch Teile der Opposition (namentlich wird für Deutschland Kautsky genannt) vertreten würden, sei ein gefährlicher Feind, da er die Arbeiterschaft in die Irre führen könne. Gegen ihn könne es nur einen „rücksichtslosen Kampf“ geben. Aufgabe der sozialistischen Parteien und der sozialistischen Opposition sei es, die Arbeitermassen zum „revolutionären Kampfe gegen die kapitalistischen Regierungen um die Eroberung der politischen Macht, zwecks sozialistischer Organisation der Gesellschaft“ zu führen. „Burgkrieg, nicht Burgfriede ist die Losung“. Nur die soziale Revolution könne den Frieden und die Befreiung der Menschheit verwirklichen. Explizit forderten Lenin und Radek die Verweigerung künftiger Kriegskredite, zudem schlugen sie konkrete Maßnahmen für die Antikriegsbewegung vor. 36 Um diese Resolution formierte sich die „Zimmerwalder Linke“. Meyer schrieb später, gerade über die Frage der formellen Verpflichtung auf eine Ablehnung der Kriegskredite sei es zu starken Spannungen innerhalb der deutschen Delegation gekommen, denn Ledebour und Hoffmann weigerten sich entschieden, dem zuzustimmen. Überhaupt wehrten sie sich gegen alle Versuche, sich auf Positionen festlegen zu lassen, die sie unausweichlich in einen Gegensatz zur deutschen Parteimehrheit bringen könnten. So wandte sich Ledebour auch gegen die Gründung einer dritten Internationale. Mit Lenin stieß er mehrfach zusammen. Aber auch Meyer und Thalheimer stellten sich nicht auf den Boden der Zimmerwalder Linken und stimmten der leninschen Resolution nicht zu, die schließlich mit 12: 19 Stimmen abgelehnt wurde. Meyer begründete seine Haltung später mit dem Bolschewikikritischen Einfluss Rosa Luxemburgs auf die deutschen Delegierten. Gleichzeitig habe sich aber „in der Propaganda eine Annäherung an den Hauptpunkt der bolschewistischen Forderung ‚Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg‘“ ergeben. 37 Auf der Konferenz selbst unterstützte Meyer einen von Ledebour vorgelegten Resolutionsentwurf, allerdings unter dem Vorbehalt, seine eigenen Auffassungen darlegen zu dürfen. Das Versagen der SPD erklärte er damit, dass in der Vergangenheit der „Strich zwischen bürgerlicher und proletarischer Gesellschaft“ nicht scharf genug gezogen wurde, die Massen nicht effektiv zum Sozialismus erzogen wurden. Bürgerliche Anschauungen seien hier weiter verbreitet, als man vor dem Kriege angenommen habe. Auf die Zimmerwal- 36 Resolutionsentwurf, in: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz, The Hague und Paris, 1967, Bd.1: Protokolle, S.-117-125. 37 Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-9. <?page no="51"?> 51 3.3 International gegen den Krieg I: Auf der Zimmerwalder Konferenz 1915 der Debatte bezogen erklärte er: „Man sagt: wir gehen revolutionären Kämpfen entgegen, aber Ledebour und Lenin verstehen nicht dasselbe unter revolutionären Kämpfen. Wir in Deutschland sind nicht an diesen Ausdruck gewohnt, wir sprechen von sozialen Kämpfen. Ledebour hat recht: der Prozess der geistigen Aufklärung wird infolge des Krieges ein rascheres Tempo annehmen, jedoch im heutigen Augenblick ist noch kein nennenswerter Bruchteil des deutschen Proletariats für solche Aktionen zu haben, wie das leninsche Manifest sie aufzählt.“ Meyers Vorschläge, wie man zu einer Bereitschaft des Proletariats zu entschiedeneren Aktionen kommen könne, blieben allerdings äußerst vage: Das internationale Zusammengehen müsse künftig stärker hervorgehoben werden. 38 Darauf entgegnete Trotzki, er sei über Meyers Ansichten nicht überrascht, denn: „Der linke Flügel der Partei ist desorientiert.“ In Deutschland habe es reichlich sozialistische Erziehung und Aufklärung gegeben, auf die zurückgegriffen werden könne. Die Frage sei vielmehr die der angemessenen Kampfesmittel in der revolutionären Epoche, in die man jetzt eintrete. 39 Trotzki, der zu dieser Zeit den Bolschewiki noch nicht angehörte, legte der Konferenz einen eigenen Resolutionsentwurf vor. Schließlich zogen Lenin und Genossen ihr Papier zurück und unterstützten trotz Bedenken das von Trotzki entworfene Manifest, weil es ein Aufruf zum Kampfe sei und sie diesen Kampf gemeinsam mit den anderen Kriegsgegnern führen wollten. Auch die Passage der Resolution, in der die Anwesenden auf eine Ablehnung der Kredite festgelegt werden sollten, wurde gestrichen, da - wie Meyer später betonte - die „strikte Ablehnung“ der Kredite sich von selbst „aus dem übrigen Inhalt der Resolution“ ergebe. 40 So wurde das Papier schließlich gemeinschaftlich verabschiedet und für die deutsche Delegation von Hoffmann und Ledebour unterzeichnet. Die von Meyer später behaupteten scharfen Spannungen innerhalb der deutschen Delegation lassen sich dem Konferenzprotokoll so nicht entnehmen. Vielmehr traten beide Strömungen der deutschen Opposition versöhnlich miteinander auf: Meyer unterstützte zunächst einen Resolutionsentwurf Ledebours und die beiden Vertreter der GI bestanden nicht darauf, das Zimmerwalder Manifest namentlich zu unterschreiben, was nach außen hin den Eindruck einer von Ledebour und Hoffmann geführten einheitlichen Opposition erwecken musste. Eine Streitfrage war, ob es überhaupt - wie von Berta Thalheimer behauptet - eine eigenständige „Opposition Liebknecht“ in Deutschland gäbe. Hoffmann, Herzfeld und Vogtherr bestritten dies. Die Unterschiede seien rein taktischer Natur. Der SPD-Parteivorstand polemisierte anschließend heftig gegen die Zimmerwalder Konferenz, die an den Parteileitungen vorbei organisiert worden und deswegen bedeutungslos sei. In einer Entgegnung schrieb Meyer, die Konferenz habe praktisch das Argument der Parteiführung widerlegt, mit den französischen Sozialisten sei keine Zusammenarbeit möglich. Zugleich betonte er, es sei keine neue Internationale gegründet worden. Eine Internationale Sozialistische Kommission (ISK) sei „nur für die Zeit mit Funktionen betraut worden, in der das (Haager) Internationale Bureau seine Aufgaben nicht erfüllt.“ 41 38 Lademacher: Bewegung, Bd. 1, S.-131 f. 39 Ebenda, S.-133. 40 Meyer: Spartakusbriefe, S.-81. 41 Ernst Meyer: Zur Zimmerwalder Konferenz, in: Sozialistische Auslandspolitik. Korrespondenz, Berlin, 1. Jg., Nr. 25, 28.10.1915, S.-5 f. <?page no="52"?> 52 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Insgesamt bewertet Meyers die Tagung positiv: „Für den Augenblick bringt sie die tröstliche Gewissheit, dass eine Verständigung zwischen den Arbeitern aller Länder auch während der Kriegszeit möglich ist, sobald die Arbeiterschaft sich nicht auf den Boden der Solidarität mit seinen Antipoden aus den Friedenszeiten begibt, sondern an der Solidarität mit den Angehörigen der gleichen sozialen Schicht festhält.“ 42 Ganz anders fiel Rosa Luxemburgs Bewertung des Zimmerwalder Manifestes aus: „Diese zerquetschte Schwergeburt, die wie die Franzosen sagen, n’a ni tete ni queue [weder Kopf noch Schwanz] hat (namentlich keinen Kopf! ) und unter der Ägide des großen Ledebours in die Welt tritt, mit der Versicherung, niemanden weh tun zu wollen - sie konnte uns wirklich gestohlen bleiben.“ 43 Ob Meyer für sein Verhalten in Zimmerwald intern kritisiert und angegriffen wurde, lässt sich den Quellen nicht entnehmen, liegt aber angesichts der Schärfe der luxemburgschen Kritik an den „halbherzigen“ Zimmerwalder Ergebnissen nahe. Luxemburg selbst orientierte - auch von den Zimmerwalder Erfahrungen ausgehend - in der Folgezeit auf einen Bruch der Linksradikalen mit der gemäßigteren Opposition in der SPD. 3.4 Gründung der Spartakusgruppe Am 14. September 1915 - also kurz nach seiner Rückkehr aus Zimmerwald - wurde Ernst Meyer verhaftet und bis zum 5. Oktober 1915 in Untersuchungshaft gehalten. 44 Mit ihm zusammen wurden Hugo Eberlein und Richard Wiegand festgenommen und angeklagt. Allen dreien wurde die Verbreitung der Flugblätter „Wer hat die Schuld am Kriege“, „Krieg und Proletariat“ und „Der Annexionswahnsinn“ vorgeworfen. Für letzteres wurde fälschlicherweise Meyer als Autor identifiziert, es stammte eigentlich von Hermann Duncker. Meyer hingegen hatte „Wer hat die Schuld am Kriege“ und „Der Annexionswahnsinn“ bei der Druckerei in Auftrag gegeben, der Druckerei eine Liste mit Versandadressen überreicht und die Flugschriften zur Irreführung der Polizei mit dem Pressvermerk „Schweizerische Sozietätsdruckerei“ versehen lassen. Bei Hausdurchsuchungen wurden allein 12.000 Exemplare des Flugblattes „Krieg und Proletariat“ beschlagnahmt. Während der Verhandlung lehnte Meyer jede Äußerung zur Sache ab. Seine Verurteilung erfolgte am 9. März 1916 - allerdings ist unklar, welche Strafe er erhielt. Am 20. März legte er gegen das Urteil Revision ein, die der Zweite Senat des Reichsgerichts jedoch am 20. Juni 1916 verwarf. 45 Verhaftung und Anklage belegen die zentrale Rolle, die Meyer mittlerweile im illegalen Apparat der GI spielte: Er war derjenige, der die Verbreitung von Flugschriften hauptsächlich organisierte. Die Festnahmen scheinen die Gruppe Internationale vorübergehend so sehr geschwächt zu haben, dass die kleine Gruppe „Internationale Sozialisten Deutsch- 42 Ernst Meyer: Die Zimmerwalder Konferenz, in: Die neue Zeit, 34. Jg., 29.10.1915, S.- 133-137, hier S.-137. 43 Zit. nach Ottokar Luban: Die „innere Notwendigkeit, mithelfen zu dürfen“. Zur Rolle Mathilde Jacobs als Assistentin der Spartakusführung bzw. der KPD-Zentrale, in: IWK, Jg. 29 (1993), H. 4, S.421-470. 44 Abschrift der auf den 6. November 1916 datierten Anklageschrift gegen Ernst Meyer in: SAPMO-BArch, NY 4131/ 12, Bl. 195-201. 45 SAPMO-BArch, NY 4131, Bl. 138-145. <?page no="53"?> 53 3.4 Gründung der Spartakusgruppe lands“ von sich behauptete, die einzige revolutionäre Opposition in Deutschland zu sein. In einem Schreiben vom 29. November 1915, das die Unterschriften von Meyer, Mehring, Johannes Kämpfer (das ist Julian Marchlewski), Paul Lange und Käte Duncker trug, wies die GI diese Behauptung jedoch scharf zurück. Dennoch verweist der Vorgang auf die Lücke, die Meyers Verhaftung in die personell ohnehin schwache Struktur der GI riss. Paul Frölich erinnert sich an diese schwierige Zeit: „Eine Organisation über das Reich hinweg besteht noch nicht. Die Verhaftung Rosa Luxemburgs, die Einziehung Karl Liebknechts zum Militärdienst und dann die Verhaftungen anderer Spartakusführer, wie Ernst Meyer und Wilhelm Pieck, lähmt die Aktivität der Spitze. Aber doch geht in den Parteiorganisationen der Entwicklungsprozess weiter.“ 46 Auch auf der Februar-Sitzung der Internationalen Sozialistischen Kommission wurde berichtet, dass die Agitation im Sinne der Zimmerwalder Beschlüsse in Deutschland aufgrund der Verhaftung Meyers nicht sofort habe beginnen können. 47 Tatsächlich wurde das Zimmerwalder Manifest sehr spät verbreitet und die Berichterstattung in der sozialdemokratischen Presse über die Konferenz war überwiegend negativ. Erst am 29. Oktober veröffentlichte Meyer in der „Neuen Zeit“ einen Artikel darüber. 48 Trotz der nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft für ihn fortbestehenden Gefahr setzte Meyer seine illegale Tätigkeit fort. Beispielsweise hielt er über Georg Schumann Kontakt nach Leipzig und koordinierte Anfang 1916 die Versendung der von Rosa Luxemburg unter dem Pseudonym „Junius“ geschriebene Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie“. 49 Für seine illegale Tätigkeit benutzte Meyer verschiedene Decknamen und -adressen sowie die Codeworte der Gruppe (beispielsweise „Verwandte“ für Genossen oder „Geschäft“ für die Organisation). Sehr schön illustriert der Briefwechsel des Ehepaars Duncker diese „Geheimsprache“. Am 5. Dezember 1915 schrieb Käte an ihren Mann: „Für Donnerstag [9.12.15] ist ein Familienausflug geplant [gemeint: Treffen Gruppe Internationale, FW], Pieck hat Urlaub [ist eingezogen].“ Zugleich berichtete sie, dass die Differenzen zwischen radikalen und gemäßigten Linken in der SPD beständig wuchsen. „Eben war E[rnst] M[eyer] bei mir“, schrieb Duncker weiter, „und klagte mir wieder die Misere von Georg [Ledebour] und Joseph [Herzfeld]. Ich fürchte doch, dass wir mit ihnen brechen müssen. Sie sind die Hemmschuhe für jede, aber auch jede Tätigkeit […]“. 50 In einem weiteren Schreiben vom 8. und 9. Dezember bekräftigte Käte Duncker diese Einschätzung noch einmal: „Was Meyer mir mitteilte, ist nicht besonders erfreulich. Es wird schließlich darauf hinauskommen, dass wir ohne die Gruppe Georg [Ledebour] und Joseph [Herzfeld] und so weiter weiterarbeiten müssen, wollen wir nicht zur Ohnmacht verdammt werden.“ 51 Ein Grund für die Ausdifferenzierung war eine Abstimmung im Reichstag über neue Kriegskredite am 21. Dezember 1915. Neben Liebknecht und Otto Rühle votierten erstmals auch 18 Vertreter der zentristischen Richtung in der SPD gegen die Kredite, 22 weite- 46 Frölich: Lager, S.-113. 47 Vgl. Lademacher: Bewegung, Bd. 1, S.-235 f. 48 Vgl. Ernst Meyer: Die Zimmerwalder Konferenz, in: Die neue Zeit, 34. Jg., 29.10.1915, S.-133-137. 49 Vgl. Brief Ernst Meyer an [Georg] Schumann, 21.2.16, in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 6, Bl. 109. 50 Brief Käte Duncker an Hermann Duncker, 05.12.1915, in: Heinz Deutschland (Hg.): „Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten“. Briefwechsel zwischen Käte und Hermann Duncker 1915-1917, Bonn 2005, S.-37. 51 Brief Käte Duncker an Hermann Duncker, 08./ 09.12.1915, in: ebenda, S.-38. <?page no="54"?> 54 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) re Abgeordnete enthielten sich. Doch die Gruppe Internationale warf den Gemäßigten vor, ihre Ablehnung mit der nun erreichten Sicherung der deutschen Grenzen zu begründen und damit keineswegs die Politik des 4. August grundsätzlich in Frage zu stellen. Auch würden sie den Krieg nicht als imperialistisch charakterisieren. Hinzu kam, dass der Sekretär der Zimmerwalder Bewegung, Robert Grimm, auf die Benennung deutscher Delegierter für eine ständige Zimmerwalder Kommission drängte. Wollte die GI hier eigene Delegierte stellen, erforderte auch das eine stärkere Herauskristallisierung als eigenständige Strömung. Davon war man bislang weit entfernt: Im Herbst 1915 musste die Führung der Gruppe das Problem zur Kenntnis nehmen, dass die radikale Linke in den meisten Regionen weiterhin unkoordiniert, vereinzelt und ohne einheitliche Positionen arbeitete. Meyer schrieb hierzu im November 1915: „In Deutschland liegen die Verhältnisse noch vollständig ungeklärt. Das Chaos muss erst feste Gestalt gewinnen.“ 52 Gegen Ende 1915 begannen in der Gruppe Internationale die Vorbereitungen zu einer Reichskonferenz, die den Zusammenhalt in der radikalen Opposition stärken und sie zu einer stärker wahrnehmbaren Kraft machen sollte. Dabei ging es auch um eine Trennung von den zentristischen Kräften. Aus dem Gefängnis schrieb Rosa Luxemburg, auf der Konferenz müsse mit „unerbittlicher Schärfe und Konsequenz gehandelt werden“, es könne nicht darum gehen, „etwa die ganze Opposition unter einen Hut zu bringen, sondern umgekehrt aus diesem Brei den kleinen, festen und aktionsfähigen Kern herauszuschälen, den wir um unsere Plattform gruppieren können.“ 53 Dabei ging es Luxemburg keineswegs um die Bildung einer ideologisch einheitlichen Sekte am Rande der Arbeiterbewegung. Im Gegenteil: Gerade durch klar formulierte radikale Positionen hoffte sie auf Anklang bei den sozialdemokratischen Massen: „Die Arbeiter werden sicher der radikalsten Stellungnahme folgen, namentlich auch die Berliner, die mit ihrem Ledebour und Stadthagen selbst unzufrieden sind, und überhaupt folgen die Unentschiedenen immer den Entschiedenen. Also Rücksichten auf die Massen sprechen gerade für Rücksichtslosigkeit gegenüber der Opposition [um Haase und Ledebour].“ 54 Die Reichskonferenz, die schließlich am 1. Januar 1916 zusammentrat und an deren Vorbereitung Meyer wesentlich beteiligt war, wurde konspirativ in der Wohnung Liebknechts durchgeführt. An ihr nahmen Vertreter der GI aus zahlreichen deutschen Städten sowie Abgesandte der Bremer und Hamburger Linksradikalen teil. Die gemäßigte Opposition wurde nicht eingeladen. Die Teilnehmer der Konferenz diskutierten über die Erfahrungen mit verschiedenen Formen der Antikriegsarbeit in den einzelnen Städten. Zudem beschlossen sie die Herausgabe eines eigenen Mitteilungsblattes. Unterzeichnet mit „Spartacus“ wurde es bald als „Spartakusbriefe“ bekannt und „Spartakusgruppe“ zum gängigen Namen der GI. Der Begriff geht auf einen Vorschlag Meyers zurück. Er wurde auf einer Sitzung Mitte Januar 1916 festgelegt: 52 Zit. nach Ottokar Luban: Rosa Luxemburg, Spartakus und die Massen. Vier Beispiele zur Taktik der Spartakusgruppe bzw. des Spartakusbundes, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 1997, H. 5, S.-11-27, hier S.-12. 53 Zit. nach Dieter Fricke: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2-Bde., Berlin (Ost) 1987, Bd. 2, S.-385. 54 Zit. nach Luban: Luxemburg, S.-13. <?page no="55"?> 55 3.4 Gründung der Spartakusgruppe „Diese Sitzung beschäftigte sich mit der Festlegung der politischen Richtlinien für unsere Arbeit und mit der Herausgabe eines neuen Informations-Materials. Dabei wurde auch die Frage nach einem Kriegsnamen zur Unterscheidung unserer Publikationen von denen der Ledebour-Gruppe aufgeworfen. Da ich mit der Zusammenstellung und technischen Verbreitung unseres Informationsmaterials beauftragt wurde, überließ man mir auch die Wahl des Kriegsnamens. Mit fiel der Name Spartakus ein, der Name des römischen Sklavenbefreiers. Nach kurzer Rücksprache mit Karl Liebknecht nannte ich unsere Korrespondenz ‚Spartakus‘. Bei der nächsten Zusammenkunft der ‚Zentrale‘ gab es einiges Hallo: niemand war mit dem Namen zufrieden. Aber vergeblich bemühten wir uns dann, an der Stelle dieses Namens, der mit erstaunlicher Schnelligkeit populär wurde, die Bezeichnung ‚Gruppe Internationale‘ […] einzuführen. Spartakus war sofort zum Symbol der revolutionären Elemente Deutschlands geworden, und das Wort ‚Spartakist‘ galt von nun an als Schreckenstitel für jeden Bourgeois und Sozialdemokraten und als Ehrenname für jeden Revolutionär.“ 55 Bis zu seiner erneuten Verhaftung im August 1916 war Meyer für die Zusammenstellung und Herausgabe der „Spartakusbriefe“ verantwortlich. Diese unterschieden sich deutlich von den bisherigen Materialien der Gruppe Internationale. Bislang hatte sie sich hauptsächlich mit parteipolitischen Fragen beschäftigten und an Mitglieder der SPD gerichtet. Adressat der „Spartakusbriefe“ wurde nun die gesamte Arbeiterschaft, die man auch mit einer verstärkten Betonung der mit dem Krieg verbundenen wirtschaftlichen Nöte zu erreichen versuchte. Großen Raum auf der Januarkonferenz nahm die Debatte über den Entwurf für die „Leitsätze“ der Gruppe ein, den Rosa Luxemburg vorgelegt hatte. Die endgültige Formulierung wurde einer Redaktionsgruppe übertragen, bestehend aus Käte Duncker, Julian Marchlewski, Karl Liebknecht, Franz Mehring und Ernst Meyer. Die „Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“ erschienen schließlich am 3. Februar 1916 im zweiten „Spartakusbrief“. Hier finden sich die wichtigsten Grundannahmen der Gruppe wieder: Der Krieg wird als eindeutig imperialistischer Krieg definiert. Die offiziellen Führer der sozialistischen Parteien hätten mit ihrer Unterstützung der nationalen Regierungen „einen Verrat an den elementarsten Grundsätzen des internationalen Sozialismus“ geübt und dem eigenen Imperialismus den Rücken gestärkt. Demgegenüber gälte es für das internationale Proletariat, den Kampf gegen den Imperialismus unter der Losung „Krieg dem Kriege“ aufzunehmen. Lebensnotwendig für den Sozialismus sei die Schaffung einer neuen Arbeiter-Internationale, einer „starke[n] internationale[n] Organisation mit einheitlicher Auffassung“, einheitlicher Taktik und politischer Aktionsfähigkeit. Weiter heißt es: „In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats. […] Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran.“ 56 Die „Leitsätze“ trugen wesentlich zu einer Klärung der Fronten innerhalb der Gesamtopposition in der SPD bei. Für die Strömung um Kautsky waren sie mit ihrer antiimperia- 55 Ernst Meyer: Spartakus, in: Die Revolution, Nr. 2 (Gedächtnisnummer zum 10. Jahrestag der Gründung des Spartakusbundes), August 1924, S.-4 f. 56 Politische Briefe vom 3. Februar 1916, in: Meyer: Spartakusbriefe, S.110-117, die Leitsätze dort S.-113- 117. <?page no="56"?> 56 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) listischen Ausrichtung von vornherein unannehmbar, aber auch die links davon stehenden Anhänger Ledebours stießen sich an ihrer strengen Verpflichtung auf die internationale Disziplin. Meyer dazu später: „Die Fragen des Zentralismus, die bei der Erörterung der 21 Bedingungen der Kommunistischen Internationale später so eine große Rolle spielten, wurden schon im Februar 1916 zum Schnittpunkt einer wirklich revolutionären und einer kleinbürgerlich-pazifistischen Opposition“. 57 Fortan wurden die umstrittenen Passagen der Leitsätze zur Internationalen einer jeden Ausgabe der „Spartakusbriefe“ vorangestellt. Die vorher noch recht engen Verbindungen zwischen beiden oppositionellen Lagern verschlechterten sich in der Folge rasch. Meyer erinnert sich später, dass die Anhänger Ledebours die Januar-Konferenz und die Herausgabe der Leitsätze als Anlass nahmen, „jede organisatorische Beziehung zur Spartakusgruppe zu lösen.“ Endgültig zu Ende ging die von ihm als „Zeit der gemeinsamen Besprechungen“ bezeichnete Phase der Kooperation der oppositionellen Flügel am 15. Februar 1916. 58 An diesem Tag beschlossen die linken Zentristen, die Zusammenarbeit mit der Spartakusgruppe abzubrechen und deren Anhänger künftig von ihren Treffen auszuschließen. Offenbar bemühte sich aber zumindest Emil Eichhorn darum, Meyer für eine weitere Teilnahme an den Zusammenkünften der gemäßigten Opposition zu gewinnen. Der Umworbene antwortete: „Ich habe bereits mündlich darauf erwidert, dass der am 15. d.-M. gefasste Ausschluss-Beschluss sich ja von vornherein auch gegen mich richtete, und die Antwort sich daher erübrige.“ 59 An anderer Stelle wurde er noch deutlicher. So mitunterzeichnete er einen Brief von Franz Mehring an den linken Zentristen Josef Herzfeld. Mehring schrieb dort, er halte „die von Ihnen beschlossene Trennung nicht nur für eine Notwendigkeit, sondern auch für einen Gewinn der Sache.“ 60 Am 19. März veranstalteten beide Strömungen voneinander getrennte reichsweite Treffen. An der Reichskonferenz der Spartakusgruppe nahmen 44 Delegierte teil. Meyer gehörte zu den Einladenden und hielt den einleitenden „Bericht über die Vorgänge, die zur Trennung innerhalb der Opposition in Groß-Berlin führten“ - ein weiterer Hinweis auf die wichtige Rolle, die er zunächst bei der Zusammenarbeit mit und schließlich bei der Trennung von den linken Zentristen spielte. Vertreter aus verschiedenen Städten berichteten anschließend über die Arbeit vor Ort und die Zunahme von oppositionellen Stimmungen. Im Mittelpunkt der Konferenz stand ein Referat Liebknechts. Er betonte noch einmal die in der Spartakusgruppe dominierende Position zur Zusammenarbeit mit den gemäßigten Oppositionellen: Klarheit vor Einheit als Voraussetzung zur Gewinnung der Massen. „Wir haben uns zunächst klarzumachen, dass die Aktionsfähigkeit einer Partei nicht in irgendeiner Weise von der Zahlengröße ihrer Anhänger abhängig ist, sondern dass sie im Verhältnis steht zu dem Maß an Übereinstimmung der Gedanken, der prinzipiellen Auffassung, der taktischen Bestrebungen […].“ Erneut skizzierte er die Grundhaltung der Spartakusgruppe zur Kriegsfrage: „Den Krieg und die durch ihn geschaffenen Verhältnisse 57 Meyer: Einleitung Spartakusbriefe, S.-XL. 58 Meyer: Zur Geschichte der KPD, beide Zitate S.-676. 59 Brief Meyer an „Werte Genossen“, Berlin, 24.02.1916, in: SAPMO-BArch, NY 4131/ 17, Bl. 5. 60 Brief F[ranz] Mehring an Herzfeld, 19.02.1916, in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hg. vom IML (künftig zitiert als DuM), Reihe II, Band 1 (Juli 1914 bis Oktober 1917), Berlin(Ost) 1958 Bd.II/ 1, S.- 312. Zur Mitunterzeichnung durch Meyer siehe ebenda, S.-314, Anm. 1. <?page no="57"?> 57 3.4 Gründung der Spartakusgruppe zur Aufrüttelung der Massen benutzen, um so den Frieden zu erzwingen und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu beschleunigen ist - entsprechend dem Beschluss des Stuttgarter Kongresses - die Aufgabe der sozialistischen Bewegung während des Weltkrieges, nachdem sie ihn nicht verhindert hat.“ 61 Mit dieser Reichskonferenz konstituierte sich die Spartakusgruppe endgültig als eigenständige Strömung in der deutschen Arbeiterbewegung. Erstmals in der Geschichte der SPD schufen sich die radikalen Linken eine eigenständige organisatorische Struktur und gaben sich eine gemeinsame ideologische Plattform, von der aus sie die Mehrheit der (sozialdemokratischen) Massen für ihre radikale Politik zu gewinnen hofften. Sie beschlossen daher auch, „auf der ganzen Linie zum Angriff überzugehen. […] Die Regungen der politischen und sozialen Unzufriedenheiten und Empörung sind mit allen Mitteln der Agitation und Demonstration zu verstärken. Das Ziel der gesamten Propaganda muss sein, die Voraussetzungen für revolutionäre Massenaktionen großen Stils zu entwickeln, Massenaktionen, wo sie entstehen, mit politischem Inhalt und Ziel zu erfüllen, voranzutreiben und zu bewussten Auseinandersetzungen mit dem Krieg und der kapitalistischen Klassenherrschaft zu gestalten.“ 62 Dementsprechend nahmen in den folgenden Monaten die illegalen öffentlichen Aktivitäten der „kleine[n] aber rührige[n] revolutionäre[n] Gruppe“ 63 (Meyer) zu - und bald auch wieder die Verhaftungen ihrer führenden Köpfe. Die Spartakusgruppe war keine Mitgliederorganisation. Jeder, der sich zu ihren Auffassungen bekannte, konnte sich als ihr Anhänger betrachten, auch wenn er an der illegalen Arbeit der Gruppe nicht direkt beteiligt war. Ottokar Luban geht - dabei die Auflage der Spartakusbriefe zugrunde legend - davon aus, dass die Zahl der Anhänger 10.000 nie überschritten habe. Die Tatsache, dass sich die Spartakusgruppe als eigenständige Kraft formiert hatte, übte Druck auf die gemäßigte Opposition aus, radikaler aufzutreten. Daraufhin verstärkten sich die Spannungen zwischen ihr und der Parteimehrheit. Als bei einer Abstimmung im Reichstag am 24. März erneut 18 Dissidenten gegen den Kriegsetat stimmten, wurden sie - wie vorher bereits Karl Liebknecht - aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen. Haase trat daraufhin als Parteivorsitzender zurück. Am 30. März konstituierten sich die Ausgeschlossenen als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG). Wie die Spartakisten betrachteten auch sie sich vorerst weiter als Mitglieder der SPD. So vollzog sich im März 1916 endgültig die Spaltung der sozialdemokratischen Opposition in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel. Den Anlass gaben Differenzen in verschiedenen Fragen (Verhalten im Reichstag, neue Internationale, Vaterlandsverteidigung, Imperialismus etc.). Ihnen lag jedoch etwas Tieferes zu Grunde: Die sich als SAG formierende Strömung strebte letztlich eine Rückkehr zur sozialdemokratischen Politik der Vorkriegszeit an. Mit deren Attentismus zu brechen, war aber ein wesentliches politisches Ziel der Spartakisten, die einen Zusammenhang zwischen der Politik der SPD vor und 61 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-140 f. 62 Spartakusbrief vom 30.03.1916, in: Meyer: Spartakusbriefe, S.-141. 63 Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-10 f. <?page no="58"?> 58 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) nach 1914 sahen. Ihr Ziel war eine auf die aktive Erkämpfung einer sozialistischen Gesellschaft ausgerichtete Politik. Allerdings kam es trotz aller Ausdifferenzierung weiterhin auch zu Versuchen, gemeinsame Aktionen beider Strömungen durchzuführen, und trotz aller Differenzen lud Meyer persönlich Haase, Ledebour und Kautsky ein, an der zweiten Zimmerwalder Konferenz teilzunehmen. Zudem reiste Meyer Anfang 1916 in verschiedene Städte, darunter Leipzig und Bremen, um für die Positionen der Spartakusgruppe zu werben. Während vielen Leipzigern seine Positionen als zu radikal erschienen, waren sie den Bremer Linksradikalen nicht radikal genug, die für die sofortige Neugründung einer revolutionären Partei eintraten. Meyer selbst machte in den zwanzig Monaten, die zwischen dem ersten Treffen der Linksradikalen am 4. August 1914 und der endgültigen Konstituierung der Spartakusgruppe im März 1916 lagen, eine beachtliche Entwicklung durch. Noch im Oktober 1914 konnte er eine gewisse Skepsis gegenüber dem Kreis um Rosa Luxemburg nicht verhehlen. So schrieb er damals an Kautsky: „Mir ist nicht sehr behaglich bei dem Gedanken, dass die von Ihnen in den früheren Parteidebatten bekämpften Parteigenossen die alleinige theoretische Führung in der sich neu konsolidierenden ‚Linken‘ haben wollen.“ 64 Lange Zeit bemühte er sich intensiv um eine Zusammenarbeit mit den linken Zentristen. Angesichts deren Zögerns und Schwankens gehörte er aber dann zu denjenigen, die im Frühjahr 1916 den Bruch forcierten und vollzogen. Zu Meyers Bindung an seine linksradikalen Genossen wird auch ihr enges soziales Verhältnis beigetragen haben. Die bereits vor dem Krieg bestehende „Eisbrecher“-Kneipenrunde am Freitagabend wurde fortgesetzt, auch wenn einige Teilnehmer durch ihren Kriegsdienst nicht mehr teilnehmen konnten. So kam Meyer regelmäßig mit seinen engsten Genossen in einem privat-politischen Rahmen zusammen. Die Runde liefert ein interessantes Beispiel für die Bedeutung, die informelle Strukturen und persönliche Freundschaften für die politische Arbeit haben. Ihr sozial-politischer Rahmen trug zur Entwicklung des für die illegale Antikriegsarbeit der Gruppe notwendigen Vertrauens untereinander bei. In gewisser Weise kann man daher sagen, dass der deutsche Kommunismus als eigenständige politische Strömung aus einer Kneipenrunde hervorgegangen ist. Auch Hermann Duncker erinnert sich: „Wir, die späteren Mitglieder des Spartakusbundes, hatten persönliche Beziehungen zu einander, ohne dass Organisationsform dafür bestand.“ 65 Ottokar Luban bezeichnet die Spartakusführung als „politisch-privaten Freundeskreis.“ 66 Wichtig für diese persönlichen Beziehungen und zugleich eine Voraussetzung für die illegale Arbeit blieb der Umstand, dass viele der Spartakus-Führer in relativer Nähe zueinander im Berliner Süden wohnten. Aus den Briefen Käte Dunckers an ihren Mann geht hervor, wie häufig Meyer bei ihr zu Besuch war. Eine besonders enge Freundschaft entwickelte Meyer zu dem rund 40 Jahre älteren Franz Mehring, der während Luxemburgs Gefängnisaufenthalt (1915/ 16) zum führenden Kopf der Gruppe Internationale wurde. Diese Freundschaft sollte später noch durch eine gemeinsame Zeit im Gefängnis vertieft werden. Rosa Meyer-Leviné erinnerte sich, dass Mehring Meyer als eine Art Sohn betrach- 64 Zit. nach Weber/ Herbst: Kommunisten, S.-598 f. 65 SAPMO-BArch, SgY30/ 0168 (Erinnerungsmappe Hermann Duncker), Bl. 24. 66 Luban: Notwendigkeit, S.-450. <?page no="59"?> 59 3.5 International gegen den Krieg II: Auf der Kienthaler Konferenz 1916 tete. 67 Meyer selbst war kurz nach Kriegsausbruch, am 22. Oktober 1914, mit der Geburt seines Sohnes Rudolf ein zweites Mal Vater geworden. Obwohl er der Jüngste in der Berliner Spartakus-Kerngruppe war, wurde Meyer rasch zu einem ihrer zentralen Akteure. Dies zeigt sich beispielsweise an der Rolle, die er bei der Zusammenarbeit mit linkszentristischen Sozialdemokraten und bürgerlichen Pazifisten spielte. Auch seine Entsendung zu den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal verdeutlicht seine Wichtigkeit für die Gruppe. Nicht zuletzt wird sie durch seine zentrale Rolle im illegalen Apparat illustriert, für den er erst bei der Erstellung und Versendung des „Niederbarnimer Referentenmaterials“ und dann als Herausgeber der „Spartakusbriefe“ wesentliche Verantwortung trug. Von einer ihrer führenden sollte Meyer bald auch zu einer ihrer prominentesten Figuren werden: Seine Entlassung beim „Vorwärts“ machte ihn im Frühjahr 1916 - zumindest in sozialdemokratischen Kreisen -reichsweit bekannt. Und durch seine Teilnahme an den Anti-Kriegskonferenzen von Zimmerwald und Kienthal wurde er auch in der internationalen Linken wahrgenommen. 3.5 International gegen den Krieg II: Auf der Kienthaler Konferenz 1916 Auch auf der zweiten Zimmerwalder Konferenz, die vom 24. bis 30. April 1916 in dem Dorf Kienthal bei Bern tagte, vertraten Ernst Meyer und Berta Thalheimer die Spartakusgruppe. Aus Deutschland nahmen zudem vier Vertreter der gemäßigten Opposition sowie Paul Frölich für die Bremer Linksradikalen teil. Robert Grimm stellte bei der Begrüßung der Konferenz fest, dass Zimmerwald innerhalb eines halben Jahres international „zum Symbol geworden ist, um welches sich die proletarischen Kräfte scharen.“ 68 Anders als bei der Vorgängerkonferenz traten die beiden Flügel der SPD-Opposition nun als eigenständige Strömungen auf. An den Debatten beteiligte sich Meyer dieses Mal sehr rege und arbeitete in verschiedenen Kommissionen mit, unter anderem wurde er in die Erweiterte Kommission der ISK gewählt. Bereits auf der II. Reichskonferenz der Gruppe Internationale, die Mitte März stattfand, hatte Rosa Luxemburg die Kienthal-Delegierten beauftragt, ihre prinzipiellen Standpunkte in schärfster und klarster Weise zum Ausdruck zu bringen: „Die Aufgabe für unsere Delegation: anzumelden, dass eine wirkliche Opposition in Deutschland steht.“ 69 Dementsprechend berichtete Meyer in Kienthal über die Entwicklung in Deutschland: Die Radikalisierung der Arbeiter habe in den letzten Monaten in einer Weise zugenommen, „die auch für uns geradezu erstaunlich war.“ Trotz der Trennung von der gemäßigten Opposition arbeite die Gruppe Internationale weiter in der SPD. Aber im Gegensatz zur gemäßigten Opposition versuche sie „von dieser Gruppe aus die Aufgabe zu lösen, die die ganze Partei lösen sollte: Agitation in der Masse.“ Für sie würden etwa 500 Personen wirken. 67 Vgl. Interview [Hermann Weber] mit Rosa Meyer-Leviné, o.D., in: BArch Koblenz, N 1246/ 34, Bl. 41. 68 Lademacher: Bewegung, Bd. 1, S.-269. 69 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-140. <?page no="60"?> 60 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Weiter äußerte sich Meyer zu der Frage einer neuen Internationale: „Man hat uns den Vorwurf gemacht, wir wollten eine neue Internationale gründen. Nichts liegt uns ferner; denn sie kann nicht gegründet werden, - sie muss entstehen. Vielleicht wird es möglich sein, wenn sie als Bestreben vorhanden ist, dann auch die nötige Organisation zu schaffen. Wir wollen die geistige Grundlage der neuen Internationale schaffen, aber nicht organisatorisch uns festlegen, wo noch alle Dinge im Fluss sind.“ Die von der II. Reichskonferenz der Gruppe Internationale beschlossenen Thesen zitierend, erklärte er weiter: „Im Unterschied zu der am 4. August 1914 aufgelösten Internationalen […] muss die neue Internationale, um eine wirkliche politische Macht zu sein, in der Gesinnung, der Aktionsfähigkeit und der täglichen Praxis der breitesten proletarischen Massen wurzeln.“ Von der Kienthaler Konferenz erwarte man weitere Impulse, „um die Geburt der Internationalen aus dem tatkräftigen Willen der proletarischen Massen zu beschleunigen.“ Über die SPD berichtet Meyer, sie müsse „eine völlige innere Umwandlung erfahren, wenn sie befähigt werden soll, die proletarische Masse in ihrer geschichtlichen Mission zu leiten. Ihre Entwicklung zu einer aktionsfähigen revolutionären Macht kann […] nur durch Ausbreitung lebendigen Klassenbewusstseins und entschlossener Initiative in den Massen [erreicht werden]. Voraussetzung dafür ist die Umgestaltung des bürokratischen Systems der Partei- und Gewerkschaftsorganisation, das die Entschlusskraft der Massen im Wust der Instanzen erstickt, in ein demokratisches System, wo die Funktionäre Werkzeuge der Massen sind. […]“ 70 Auch wenn er sich weiterhin gegen die verfrühte Gründung einer III. Internationale aussprach, hatte sich Meyer inhaltlich den Positionen der Zimmerwalder Linken um Lenin deutlich angenähert, beispielsweise in Bezug auf die „Vaterlandsverteidigung“, zu der er erklärte: „Wir nehmen nicht die mindeste Rücksicht auf die militärische Situation, mag die militärische Lage Deutschlands noch so günstig oder noch so ungünstig sein.“ 71 Dennoch unterzeichneten Meyer und Thalheimer eine Erklärung der Zimmerwalder Linken nicht, die gegen die Opposition innerhalb der französischen Sozialistischen Partei gerichtet war. Lenin und Genossen warfen den Franzosen vor, sich - ähnlich wie die deutsche Opposition im Vorjahr in Zimmerwald - nicht auf die Ablehnung der Kriegskredite festzulegen. Aber auch in dieser Frage standen Meyer und Thalheimer den Bolschewiki deutlich näher als den Vertretern der gemäßigten SPD-Opposition. Lenin konstatierte daher, in den wichtigsten Fragen hätten sich die deutschen Spartakisten der Zimmerwalder Linken angeschlossen. Als Meyer über die Arbeit der Kommission berichtete, die eine Resolution über die „Stellung des Proletariats zu den Friedensfragen“ ausarbeiten sollte, stellte er sich entschieden gegen pazifistische Positionen: „Die pazifistischen Phrasen sind geeignet, die Arbeiter von ihrem Kampf gegen den Imperialismus abzuwenden. Als einziges Mittel zur Sicherung des Weltfriedens betrachten wir den Klassenkampf.“ 72 Der entsprechenden Resolution stimmten - wenn auch unter Vorbehalten - auch die Vertreter der Zimmerwalder Linken 70 Bericht Meyers auf der Kienthaler Konferenz in: Lademacher: Bewegung, Bd. 1, S.-287-295. 71 Lademacher: Bewegung, Bd. 1, S.-307 f. 72 Ebenda, S.-378. <?page no="61"?> 61 3.5 International gegen den Krieg II: Auf der Kienthaler Konferenz 1916 zu. Das von Meyer mitausgearbeitete Manifest von Kienthal wurde bei einer Gegenstimme angenommen. Die auf frühere Auseinandersetzungen zwischen Lenin und Luxemburg zurückgehenden Vorbehalte der Spartakisten gegenüber den Bolschewiki erschwerten auf der Konferenz noch ein einheitliches Auftreten der beiden Strömungen, erinnert sich Frölich. „Selbst der sehr geschickte Ernst Meyer konnte mit dieser Aufgabe nicht fertig werden, und der Spartakusbund spielte auf der Konferenz durchaus nicht die Rolle, die ihm zukam.“ 73 In den „Politischen Briefen“ der Spartakusgruppe wird die Kienthaler Konferenz insgesamt eher kritisch bewertet. Sie sei chaotischer und weniger befriedigend verlaufen als die Zimmerwalder Konferenz. Aufgrund der unterschiedlichen Strömungen hafte den Erklärungen „eine gewisse Flachheit und Halbheit“ an. 74 An der zögerlichen Haltung der Ledebour- Hoffmann-Gruppe und vor allem ihrer Weigerung, die französischen Delegierten auf eine Kreditablehnung festzulegen, wurde harsche Kritik geübt. Dies kann auch als Kritik am Auftreten der eigenen Delegierten gelesen werden, hatten doch Meyer und Thalheimer die entsprechende Resolution ebenfalls nicht unterzeichnet. Bedauernd wurde festgestellt, dass die von der Spartakusgruppe vorgelegten „Leitsätze“ weder zur Behandlung noch zur Abstimmung kamen. Eine Folge der Kienthaler Konferenz war, dass erstmals auch in Frankreich drei sozialistische Abgeordnete die Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigerten, wie Meyer in einem Artikel für die von Rudolf Breitscheid herausgegebene „Sozialistische Auslandspolitik“ darstellte. Ganz auf der Linie der GI betonte er dabei, dass wichtiger als alle internationalen Konferenzen die Auseinandersetzungen vor Ort seien. So sei „der letzte Anstoß und Entschluss zu der Ablehnung auf jener internationalen Konferenz gegeben worden“, die Ursache für die Entscheidung habe aber „letzten Endes in der Stimmung der Massen Frankreichs“ gelegen. 75 In einem weiteren Artikel betonte er, eine neue Internationale müsse vor allem aus den Kämpfen der Massen entstehen: „Aber wenn es auch kein Zimmerwald gäbe, die Internationale lebt und wächst trotzdem in dem Bewusstsein der Massen. […] Die Aufgabe der international denkenden Arbeiter aller Länder kann es daher nicht sein, unter allen Umständen die alte Form zu hüten und ihre Brüche zu verkleistern, noch auch in dem allgemeinen Gärungsprozess voreilig eine neue endgültige Form schaffen zu wollen. Was uns vorerst fehlt, ist vielmehr die stärkere Betätigung im Sinne der Stuttgarter Beschlüsse [der II. Internationale 1907, FW].“ 76 In den Fraktionskämpfen in der KPD am Ende der 1920er Jahre wurde Meyer oft zum Vorwurf gemacht, dass er sich auf der Konferenz nicht vorbehaltslos Lenin und der Zimmerwalder Linken angeschlossen hatte. Teilweise wurde ihm unterstellt, sich mit „Sozialpazifisten“ und „Zentristen“ gegen die Bolschewiki gestellt zu haben. Meyer musste sich in 73 Frölich: Lager, S.-121. 74 Zur Zimmerwalder Konferenz, Politische Briefe Nr. 21, 25.05.1916, in: Meyer: Spartakusbriefe, S.-178- 180. 75 Ernst Meyer: Die französische Minderheit, in: Sozialistische Auslandspolitik. Korrespondenz, Berlin, 2. Jg., Nr. 26, 05.07.1916, S.-1-5. 76 Ernst Meyer: Haag und Zimmerwald, in: Sozialistische Auslandspolitik. Korrespondenz, Berlin, 2. Jg., Nr. 18, 10.05.1916, S.-3 f. <?page no="62"?> 62 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) zahlreichen Artikeln und Briefen gegen den Vorwurf wenden, er habe sich an einem Block gegen die Bolschewiki beteiligt. Das empfand er als Verleumdung nicht nur gegenüber sich, sondern gegenüber der gesamten Tradition Rosa Luxemburgs. Zugleich schrieb er aber auch durchaus selbstkritisch: „So sehr der Spartakusbund in der Kritik der Arbeitsgemeinschaft [der SAG, FW] recht hatte - fehlte es ihm doch in entscheidenden organisatorischen und politischen Fragen an der notwendigen Festigkeit und Klarheit. Das äußerte sich u.a. darin, dass der Spartakusbund der von Lenin gebildeten Fraktion der ‚Zimmerwalder Linken‘ fernblieb, ja gelegentlich gegen sie polemisierte, und in der Frage der Spaltung von der SPD eine zu zögernde Haltung einnahm.“ 77 3.6 Entlassung beim Vorwärts und Beitrags-Boykott-Kampagne Als direkte Folge der Spannungen innerhalb der SPD brach auch der alte Streit um den „Vorwärts“ wieder aus. Erneut entsprang er dem Doppelcharakter des Blattes als reichsweitem sozialdemokratischen Zentralorgan und gleichzeitigem Organ der oppositionellen Groß-Berliner SPD. Im Zentrum des vielbeachteten Konfliktes stand Ernst Meyer. Am 31. März veröffentlichte die „Vorwärts“-Redaktion das Gründungsmanifest der SAG auf seiner Titelseite, während die Erklärung der Fraktionsmehrheit erst im hinteren Teil der Zeitung erschien. Das war eine eindeutige Parteinahme der Redaktion und damit ein klarer Affront gegenüber dem Parteivorstand. Dieser protestierte umgehend und forderte die Redaktion am folgenden Tag schriftlich auf, aus den Spalten des Blatts „alles fernzuhalten, was geeignet ist, die Parteizerrüttung zu fördern“. 78 Gemeinsam mit dem Geschäftsführer der „Vorwärts“-Druckerei, Richard Fischer, versuchte die SPD-Führung nun, verstärkt Einfluss auf den Inhalt des Blattes zu nehmen. Dagegen verabschiedete die mehrheitlich oppositionelle Berliner Pressekommission eine Resolution, in der sie darauf hinwies, dass der Parteivorstand laut Satzung nur mit ihr gemeinsam beim „Vorwärts“ intervenieren dürfe. Doch die SPD-Führung gab die Versuche, das Zentralorgan unter Kontrolle zu bekommen, keineswegs auf. Ihr nächster Schlag richtete sich gegen den radikalsten der „Vorwärts“-Redakteure: Am 15. April wurde Ernst Meyer entlassen. Bereits Ende März hatte dessen Tätigkeit für die Spartakusgruppe den Anlass geboten, ihn von der Sitzung des Parteiausschusses fernzuhalten und gleichzeitig festzulegen, künftig überhaupt keine „Vorwärts“-Redakteure mehr zu diesen Sitzungen einzuladen. Auslöser von Meyers Kündigung war seine Mitarbeit an dem von Rosa Luxemburg verfassten Flugblatt „Die Lehren des 24. März.“ Darin riefen die Spartakisten unter anderem zur Rückeroberung der SPD auf: 77 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-677. 78 Brief Parteivorstand SPD an die Redaktion des „Vorwärts“, Berlin, 01.04.1916, in: SAPMO-BArch, NY 4131/ 17, Bl. 30. <?page no="63"?> 63 3.6 Entlassung beim Vorwärts und Beitrags-Boykott-Kampagne „Die Partei, das sind nicht die Funktionäre, Abgeordnete oder Redakteure, die Partei, das sind die Massen der organisierten Proletarier, das ist der Geist des sozialistischen Klassenkampfes. Die Partei seid ihr! Drum frisch ans Werk, um die Partei zurückzuerobern, die von einem Klüngel von Verrätern in hohen Ämtern zum Anhängsel des bürgerlichen Imperialismus gemacht worden ist. […]. Erklärt laut, dass ihr die Fraktionsmehrheit […] nicht mehr als sozialdemokratische Vertretung anerkennt […].“ Dann folgte eine Passage, welche die Parteiführung am meisten erboste und den formalen Anlass für Meyers Entlassung bot. Hier forderten die Linken die Parteimitglieder zum Boykott ihrer Beiträge auf: „Hört auf, eure Parteigelder an diesen Parteivorstand abführen zu lassen, denn er gebraucht eure sauer verdienten Groschen zur Förderung einer Politik, zur Herausgabe von Schriften, die euch zum geduldigen Kanonenfutter des Imperialismus machen wollen, die zur Verlängerung des Völkermordes dienen.“ Das Flugblatt schloss mit den Forderungen: „Zurückeroberung der Partei für den grundsätzlichen Klassenkampf! Beendigung des Völkermords durch Wiederherstellung der proletarischen Internationale! “ 79 Mit der Forderung nach einem Boykott der Mitgliedsbeiträge versuchte die Spartakusgruppe umzusetzen, was sie in ihrer Märzkonferenz beschlossen hatte: Auf ganzer Linie zum Angriff überzugehen. Sie war zugleich Ausdruck der Hoffnung der Gruppe, gerade durch radikale Positionen Mehrheiten an der SPD-Basis gewinnen zu können, und wurde zu einem Schwerpunkt der Spartakusagitation in den folgenden Monaten. Über die Hintergründe seiner Entlassung berichtet Meyer in einem Brief an Georg Schumann: „Der Parteivorstand ist dahinter gekommen, dass ich mit der ‚Lehre vom 24.-März‘ in Verbindung stehe. Angeblich hat er es direkt vom Drucker. “ Allerdings sei die Kündigung noch nicht endgültig: „Der Parteivorstand hat nun in Duisburg bei der Preßkommission eine Entlassung beantragt, ist aber gestern einstimmig abgewiesen worden. Die Sache geht wahrscheinlich weiter an die Kontrollkommission, und wie die entscheidet, ist unsicher. Angeblich ist die Parole Beitragssperre parteizerrüttend.“ 80 Da sich Vorstand und Pressekommission nicht einig waren, setzte Meyer seine Tätigkeit in der Redaktion vorerst fort (er war allerdings vom 24. April bis 2. Mai anlässlich der Kienthaler Konferenz in der Schweiz) und der Fall kam vor die Kontrollkommission der Partei. Diese verhandelte ihn am 4. Mai im Beisein Meyers. In der abschließenden Abstimmung über die Entlassung kam es zu einem Patt - was beide Seiten als Bestätigung ihrer Position ansahen, obwohl es nach Ansicht des Vorsitzenden der Kontrollkommission eine Ablehnung der beantragten Entlassung darstellte. Die Pressekommission forderte Meyer daraufhin am 9. Mai einstimmig auf, „trotz der öffentlichen Erklärung des Parteivorstandes auf seinem Posten auszuharren“ und erklärte: „Die dem Genossen Meyer von 79 Die Lehren des 24. März in: Meyer: Spartakus, S.-112-116. 80 Brief Meyer an Schumann, Abschrift, o.D., in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 6, Bl. 133. <?page no="64"?> 64 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) dem Geschäftsführer Fischer übersandte Kündigung ist nach dem Organisationsstatut der Partei rechtsungültig.“ 81 Daraufhin eskalierte der Fall. Am 11. Mai schrieb der „Vorwärts“-Geschäftsführer Fischer an Meyer: „Wir ziehen hiermit das Ihnen gemachte Angebot, Ihnen bis zum Ablauf der Kündigungsfrist das Gehalt wie bisher auszuzahlen, zurück und verwandeln die Kündigung in eine sofortige Entlassung mit der Maßgabe, dass Ihnen vom heutigen Tag an weiteres Gehalt nicht mehr bezahlt wird. […] Sie fordern öffentlich auf, dem Parteivorstand die Gelder zu sperren, schädigen damit als Angestellter des ‚Vorwärts‘ das Unternehmen des ‚Vorwärts‘. Wir sind also zu ihrer sofortigen Entlassung berechtigt. Wir fordern Sie daher erneut auf, Ihre Tätigkeit am ‚Vorwärts‘ sofort einzustellen und untersagen Ihnen den ferneren Aufenthalt in den Redaktionsräumen.“ 82 In einem weiteren Schreiben forderte Fischer die Redaktion auf, keine Artikel mehr von Meyer anzunehmen, was die Redaktion entschieden ablehnte: Weder Fischer noch der Parteivorstand hätten das Recht, eigenmächtig in die Angelegenheiten der Redaktion einzugreifen. Die Pressekomission ermutigte Meyer im Gegenzug, seine Tätigkeit fortzusetzen, und beantragte beim Vorstand der SPD Groß-Berlin, Meyers Gehalt „aus der Kasse des Verbandes der Wahlvereine Groß-Berlin zu zahlen und die hierfür aufgewendeten Beträge auf die an den Parteivorstand zu zahlenden Pflichtbeiträge anzurechnen“, wie die bürgerliche „Vossische Zeitung“ berichtete. 83 Auch Meyer dachte nicht daran, die Kündigung zu akzeptieren. Am 14. Mai berichtete er an Georg Schumann von der „Leipziger Volkszeitung“: „Vorläufig können Sie mir noch ins Büro schreiben. Der PV hat zwar die Kündigung in sofortige Entlassung ohne irgendwelche Gehaltszahlung verwandelt, und Richard Fischer hat mir gar das Betreten der Redaktionsräume untersagt. Aber gestützt auf das Votum der Preßkommission, übe ich trotzdem meine Tätigkeit weiter aus. Nur wird das insofern gehindert, als [dass] das technische Personal Beiträge mit meiner Handschrift nicht mehr setzt. Ich muss also alles diktieren und von einem Kollegen mit dem redaktionellen Vermerk (Schriftart etc.) versehen lassen. Das ist ein unwürdiger Zustand, den ich nur bis zur nächsten Press.-Kom.-Sitzung (am Mittwoch) dulde. Der PV geht augenblicklich aufs Ganze, und seine Maßnahmen richten sich weniger gegen mich, als die ganze Redaktion und die Presse-Kommission. Er will den Konflikt mit beiden, um beide über Bord werfen zu können. Bei seiner Energie wird es ihm so gut wie sicher gelingen. Vielleicht kann eine energische Haltung der Minderheitspresse diese Entwicklung verhindern oder wenigstens ihre Ausnutzung in unserem Sinne fördern. Es war ein fatales Zusammentreffen, dass Ihr Blatt gerade nicht erschien. Die unselbstständigen Hühner in der Provinz warten stets, wie ein Hahn irgendwo energisch kräht.“ 84 An die weitere Eskalation des Konfliktes erinnert sich Friedel Gräf, damalige Stenotypistin beim „Vorwärts“: „Dem Parteivorstand ging die verstärkte Tätigkeit der Genossen der Linken auf die Nerven, und er warf sie aus ihren Parteistellungen hinaus. So sollte auch unser Genosse Dr. Ernst Meyer, ein enger Mitarbeiter von Karl Liebknecht und Rosa Lu- 81 Vossische Zeitung, Nr. 239, 10.05.1916. 82 Brief Fischer an Meyer, Berlin, 11.05.1916, Abschrift, in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 38, Bl. 45. 83 Vossische Zeitung, Nr. 245, 18.05.1916. 84 Brief E[rnst Meyer] an [Georg] Sch[umann], B[erlin], 14.05.1916, in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 6, Bl. 152 f. <?page no="65"?> 65 3.6 Entlassung beim Vorwärts und Beitrags-Boykott-Kampagne xemburg, aus der Redaktion des ‚Vorwärts‘ verdrängt werden. Ernst Meyer ließ sich aber nicht einschüchtern und ging nach wie vor in sein Redaktionszimmer. Er sagte, der Parteivorstand habe kein Recht, ihn abzuberufen, da er von der Pressekommission eingesetzt worden sei, und nur diese habe ein Recht, ihn von seinem Posten zu entfernen. Daraufhin ließ der Parteivorstand das Arbeitszimmer von Ernst Meyer verschließen, aber Ernst Meyer holte einen Schlosser und ließ die Tür öffnen. Am nächsten Tag aber hatte der Parteivorstand dafür gesorgt, dass Ernst Meyer nicht mehr in sein Büro konnte. Ein Polizist stand davor.“ 85 Damit fand die Auseinandersetzung um Meyers Entlassung schließlich ihr unrühmliches Ende. Meyer Entfernung aus der „Vorwärts“-Redaktion stieß auf ein breites Medienecho. Nicht zuletzt deshalb wurde er zumindest in sozialdemokratischen Kreisen zu einem reichsweit bekannten Spartakus-Führer. Viele Basisgliederungen, vor allem in Berlin, diskutierten ausführlich über den Fall. Die Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlin und Umgebung verabschiedete beispielsweise am 25. Juni mit großer Mehrheit verschiedene Resolutionen, die sich mit der Haltung der „Vorwärts“-Redaktion solidarisierten, Meyers Entlassung verurteilten und die Fortzahlung seines Gehalts aus der Verbandskasse forderten. Die radikale „Bremer Bürgerzeitung“ verglich Meyers Aufforderung zur Beitragssperre gar mit Karl Marx’ Aufruf aus dem Revolutionsjahr 1848, der reaktionären preußischen Regierung die Steuern zu verweigern, und Meyers Entlassung mit dem Prozess gegen Marx im Februar 1849 in Köln: „Wie das Ministerium Manteuffel gegen Marx, so ist der Parteivorstand gegen den Genossen Meyer eingeschritten, weil dieser zur Sperrung der Beiträge aufgefordert hatte, solange der Parteivorstand das Statut der Partei missachte; nur dass der Parteivorstand nicht erst ein Schiedsgericht bemühte, sondern in seiner einfachen und schlichten Weise den Genossen Meyer par ordre de mufti vor die Tür gesetzt hat. Wie aber Karl Marx durch die Geschworenen freigesprochen wurde, so wird jetzt der Genosse Meyer höchst dankenswerterweise durch die Berliner Parteiinstanzen gedeckt, und so weit es für ihren Zweck nötig ist, haben diese Instanzen sich für die Beitragssperre wider ihre Absicht und ihren Willen entscheiden müssen und tatsächlich entschieden.“ 86 Anfang Juni berichteten die „Chemnitzer Volksstimme“, die „Leipziger Volkszeitung“, die „Vossischen Zeitung“, der „Braunschweiger Volksfreund“ und das „Hamburger Echo“, Meyer habe in Braunschweig die Spaltung der dortigen Jugendbewegung und die Gründung einer neuen, radikalen Jugend-Zeitung, der „Freien Arbeiter-Jugend“, betrieben und würde als künftiger Redakteur der neuen Zeitung gehandelt. Meyer dementierte. Es handele sich um eine Denunziation, die vermutlich „wie die Mehrzahl der bisherigen Denunziationen aus einem Büro des Berliner Hauses Lindenstraße 3 [Sitz der ‚Vorwärts‘-Redaktion, des SPD-Vorstands und anderer Gremien der Partei, FW]“ stamme. 87 Tatsächlich wurde Meyer nach seiner Entlassung nicht Redakteur in Braunschweig, sondern fand vermutlich vorübergehend Arbeit bei der „Reichsstelle für Gemüse und Obst“ in Berlin, bei der mehrere Spartakisten unterkamen. 85 SAPMO-BArch, SgY30/ 0297 (Erinnerungsmappe Friedel Gräf ), Bl. 34. 86 Zit. nach Marx und Meyer, in: Vossische Zeitung, Nr. 303, 15.06.1916. 87 Zit. nach Vossische Zeitung, Nr. 336, 03.07.1916. <?page no="66"?> 66 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Meyers Entlassung war nur der Auftakt zum als „Vorwärts-Raub“ bekannt gewordenen Rausschmiss aller linken Redakteure im Herbst 1916. Er führte zu massivem Unmut, vor allem an der Berliner Parteibasis und war ein wichtiges Ereignis, das zur Bildung der USPD und damit zur endgültigen Spaltung der Sozialdemokratie führte. So warnte Karl Kautsky anlässlich der Entlassung Meyers: „Nicht die Spaltung der Fraktion, sondern der ‚Vorwärts‘-Konflikt birgt die schlimmsten Gefahren für den organisatorischen Zusammenschluss der Partei in sich.“ 88 Ein wichtiges Thema der Spartakusgruppe blieb im Frühjahr 1916 die Kampagne für einen Boykott der Mitgliedsbeiträge. Die Oppositionellen griffen damit eine Forderung auf, die an der Basis der linken SPD-Kreisverbände Teltow und Duisburg aufgekommen war. Durch die Beitragssperre sollten dem gegen die Grundsätze der Partei verstoßenden Vorstand die Mittel entzogen und stattdessen dafür eingesetzt werden, Arbeit im Sinne sozialdemokratischer Prinzipien durchzuführen. Dieses Ziel und die parteijuristischen Komplikationen der Beitragssperre wurden in den „Spartakusbriefen“ ausführlich erörtert. Die Auseinandersetzung wurde besonders heftig im Kreis Teltow geführt, in dem auch Meyer wohnte und in dessen Ortsverein Steglitz er aktiv war. Wie bereits geschildert stand der Kreisverband schon vor 1914 auf dem linken Flügel der SPD. Während des Krieges wurde er dann zu einer Hochburg der Spartakusgruppe. Der Teltower SPD-Reichstagsabgeordnete Karl-Friedrich Zubeil stimmte im Dezember 1915 erstmals gegen die Kriegskredite. Doch die sozialdemokratische Vorständekonferenz des Wahlkreises (in der etwa der Ortsverein Sputendorf mit seinen fünf Mitgliedern ebenso stark vertreten war wie Steglitz mit 860, Charlottenburg mit 2.800 oder Neukölln mit 14.000 Mitgliedern) stellte sich mehrheitlich auf die Seite der Parteiführung. Das führte zu einer Rebellion an der Basis: Zahlreiche Ortsvereine des Wahlkreises (wie Steglitz, Treptow, Charlottenburg oder Neukölln) verabschiedeten Resolutionen, die den Kurs der Opposition unterstützten. Von diesen Erfolgen ausgehend versuchten die Spartakisten, den riesigen Wahlkreis für sich zu erobern. In einer Broschüre des Kreisvorstands hieß es, Meyer („einer der bekanntesten, dort wohnhaften Oppositionsführer“) habe bei einer Versammlung in Groß-Lichterfelde argumentiert: „Der jetzt bestehende Kreisvorstand müsse auf der bevorstehenden Kreisgeneralversammlung ‚überrumpelt‘ und unter allen Umständen beseitigt werden. Die Hauptsache sei und bleibe es, ‚Geld in die Hände zu bekommen‘. Der ‚Vorwärts‘ müsse so bald wie möglich […] unter die Kontrolle der Berliner gestellt werden.“ 89 Auch wenn einige Wahlkreisversammlungen tatsächlich eine Beitragssperre beschlossen oder zumindest ernsthaft diskutierten, lief die Kampagne insgesamt nicht besonders erfolgreich. Das geht aus einem Schreiben Meyers an Georg Schumann von Mitte Mai 1916 hervor: „Die ganze Parteientwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Da der größere Teil der Opposition unserer Parole der Beitragssperre nicht folgte, fehlt es zur Zeit an einer allgemeinen zugkräftigen Losung. In Berlin laufen uns fortgesetzt Scharen der wichtigsten Mitglieder weg, weil sie die Sache satt haben und keinen Ausweg sehen. Die Vertröstung auf den nächsten Parteitag lockt hier keinen Hund mehr vom Ofen.“ 90 Meyer, der 88 Karl Kautsky: Zur Geschichte des Zentralorgans der Partei, in: Vorwärts, 24. u. 25.06.1916. 89 Wider die „Lichtstrahlen“-Freunde im Dunkeln, in: Vossische Zeitung, Nr. 346, 08.07.1916. Meyer wird in dem Bericht nicht namentlich erwähnt, ist aber eindeutig gemeint. 90 Brief E[rnst Meyer] an Sch[umann], B[erlin], 14.05.1916, in: SAPMO-BArch, RY 20/ II 145/ 6, Bl. 152-f. <?page no="67"?> 67 3.6 Entlassung beim Vorwärts und Beitrags-Boykott-Kampagne ja aufgrund dieser Forderung eben erst seinen Job verloren hatte, fürchtete, dass eine verfrüht durchgeführte, nur von der radikalen Minderheit getragene Beitragssperre den Parteirechten die formale Möglichkeit zum Ausschluss radikaler Ortsvereine geben würde. Das gefährde auch das Projekt, den Kreisvorstand von Teltow zu erobern. Er vollzog daher einen taktischen Schwenk und drängte nun beispielsweise Anfang Juni bei einer Mitgliederversammlung in Lichtenberg darauf, einen im Vormonat gefassten Beschluss zur Beitragssperre abzumildern. Doch Meyers Antrag wurde abgelehnt, der von Julian Borchardt verfolgte Kurs einer unbedingten Beitragssperre setzte sich durch. Der Konflikt eskalierte auf der Kreisgeneralversammlung am 18. Juni. Spartakus wagte dort offen die Kraftprobe. Die von Meyer befürchtete Situation war nämlich eingetreten: Auf Betreiben des Kreisvorstandes sollte den Wahlvereinen Lichterfelde und Neukölln wegen der von ihnen beschlossenen Beitragssperre die Delegierten aberkannt werden. Die Kreisgeneralversammlung widersprach aber dem Vorstoß des Vorstands und erkannte die strittigen Mandate an. Daraufhin erklärte die Kreisleitung die Versammlung für statutenwidrig und geschlossen. Die Mehrheit der Delegierten setzte sie aber kurzerhand ohne den Vorstand fort. Die Spartakus-Anhänger legten eine eigene Vorschlagsliste für alle zu besetzenden Ämter vor und ein neuer, provisorischer Vorstand wurde gewählt. Damit stand derKonfliktim KreisTeltow im „Mittelpunkt der Berliner Parteiverhältnisse“. 91 Die Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlin und Umgebung beschloss am 25. Juni, die Mandate der Delegierten aus Neukölln und Groß- Lichterfelde anzuerkennen. Sie verabschiedete auch eine Resolution, die die Kündigung und Entlassung Meyers beim „Vorwärts“ verurteilte. Einstimmig angenommen wurde weiterhin eine Sympathieerklärung für Karl Liebknecht. Doch eine von Rosa Luxemburg, Ernst Meyer und anderen vorgelegte Resolution gegen die Politik der SPD-Führung, mit der die Spartakusleute indirekt zur Beitragssperre aufriefen, lehnten die Anwesenden mit großer Mehrheit ab. Luxemburg erzielte zudem bei den Wahlen für den Berliner Sitz im Parteiausschuss ein sehr schlechtes Ergebnis. Diese beiden Abstimmungsniederlagen verdeutlichten, dass es der Spartakusgruppe noch nicht gelang, die Massen in der SPD zu gewinnen, wenn sie zwar klare, radikale und konfrontative Positionen formulierte, aber nicht mit den gemäßigten Oppositionellen zusammenwirkte. Auch im linken Groß-Berlin blieb die Gruppe damit in einer Minderheitenposition. Zwar konnte sie bei Konflikten mit dem Parteivorstand auf die Solidarität der linken Basis hoffen. Von einer positiven Zustimmung zu ihrem Programm (und ihrem Personal) war sie vorerst aber noch weit entfernt. In der Folge stellte die Spartakusgruppe die Forderung nach einer Beitragssperre zurück, ohne sie fallen zu lassen. Stattdessen orientierte sie wieder auf eine stärkere Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften. Zur Klärung der weiterhin verworrenen Verhältnisse im Kreis Teltow wurde für den 9. Juli eine erneute Kreisgeneralversammlung einberufen, die der alte Vorstand jedoch boykottierte. Die Versammlung bestätigte den zuvor gewählten linksradikalen Vorstand provisorisch im Amt. Der Spartakist Hugo Eberlein wurde zum Kreisvorsitzenden und 91 Brief Alfred Wielepp an Rudolf Franz, Berlin, 28.07.1916, in: SAPMO-BArch, NY 4020/ 21 (Rudolf Franz), Bl. 18 f. <?page no="68"?> 68 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Ernst Meyer zum Schriftführer und als Vertreter für den Groß-Berliner Aktionsausschuss gewählt. Der alte Kreisvorstand erkannte den neuen weiterhin nicht an und wurde dabei - wenig überraschend - vom Parteivorstand unterstützt. Die SPD- Führung verwehrte der neuen Teltower Leitung beispielweise die Möglichkeit, im „Vorwärts“ zu publizieren. Umgekehrt wurde dem Blatt aber eine Broschüre über den Konflikt beigelegt, die der gestürzte Kreisvorstand herausgegeben hatte. Nicht zuletzt deswegen hatte Meyer der Kreisgeneralversammlung vom 9. Juli einen Resolutionsentwurf vorgelegt, in dem es hieß: „Die Kreisgeneralversammlung beauftragt den provisorischen Vorstand, solange den Genossen von Teltow-Beeskow der redaktionelle und Inseraten-Teil des Vorwärts gesperrt bleibt, zur Information der Genossen ein eigenes, nach Bedarf erscheinendes Mitteilungsblatt herauszugeben.“ 92 Nur zwei Wochen später, am 23. Juli, fand eine weitere Kreisgeneralversammlung statt. Sie wurde vom geschäftsführenden Ausschuss der Bezirksorganisation Groß-Berlin einberufen - und erneut vom alten Vorstand boykottiert. Die einhundert Delegierten wählten nun einen endgültigen Vorstand unter dem Vorsitz Eberleins (der jedoch zuvor zum Militär eingezogen worden war). Zudem bestätigten sie Ernst Meyer als Schriftführer im Vorstand und als Mitglied des Groß-Berliner Aktionsausschusses. Die Teilnehmer der Konferenz kritisierten die Zensur des „Vorwärts“ gegenüber dem neuen Kreisvorstand sowie die Entlassung Meyers aus der Redaktion. Nach seiner Entlassung beim „Vorwärts“ reichsweit bekannt geworden, übernahm Meyer nun also auch Parteifunktionen auf Bezirksebene. Zugleich hatte die Verhaftung von Liebknecht und anderen den Aufbau einer neuen Führung der Spartakusgruppe notwendig gemacht. Meyer spielte hier eine immer wichtigere Rolle, wie sich auch Rosa Luxemburgs Sekretärin Mathilde Jacob erinnert: „Nach der Verhaftung Karl Liebknechts am 1. Mai 1916 hatte der von ihm zur illegalen Arbeit herangezogene Vorwärtsredakteur Dr. Ernst Meyer die Leitung des Spartakusbundes übernommen.“ 93 Bei einem am 4. Juni 1916 in 92 SAPMO-BArch, RY 20/ II, 145/ 6, Bl. 157. 93 Mathilde Jacob: Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914-1919. Hg. und eingeleitet von Sibylle Quack und Rüdiger Zimmermann, in: IWK, 24. Jg., 1988, H. 4, S.-435-515, hier S.-447. Der junge Ernst Meyer <?page no="69"?> 69 3.7 Im Gefängnis Berlin stattfindenden Treffen wurde Meyer zusammen mit Mehring, Käte Duncker und anderen in einen fünfköpfigen Aktionsausschuss der Spartakusgruppe gewählt. Wohlgemuth schreibt, es müsse im Sommer 1916 „eine straffe konspirative Leitung“ der Gruppe gegeben haben, die wohl bei Meyer gelegen habe. 94 Die neue Führung wurde allerdings rasch durch die Polizei zerschlagen: Am 3. August wurde Ernst Meyer und kurz darauf auch Franz Mehring verhaftet, Käte Duncker erhielt ein Redeverbot. Meyers Rolle im illegalen Apparat übernahm nun Leo Jogiches, der „Verschwörer in Reinkultur“. 95 Unter seiner Leitung erschienen die bisher hektographiert gedruckten „Spartakusbriefe“ nun als gedruckte Zeitschrift. 3.7 Im Gefängnis Am 3. August 1916 wurde Meyer erneut verhaftet. Diesmal musste er fünf Monate in Schutzhaft verbringen. Erst war er in der Stadtvogtei am Berliner Alexanderplatz inhaftiert, dann ab dem 13. September in der Krankenstation des Untersuchungsgefängnisses Alt- Moabit. Seine Festnahme war Teil einer größeren Verhaftungswelle gegen die Führung der Spartakusgruppe und weitere Betriebsaktivisten. Bereits am 10. Juli war Rosa Luxemburg erneut in Gewahrsam genommen worden. Am 15. August traf es Franz Mehring, der trotz Erkrankung bis zum 24. Dezember in Schutzhaft blieb. Auch Julian Marchlewski musste ins Gefängnis. Im August-Brief der Spartakusgruppe hieß es dazu sarkastisch: „Auch in Deutschland kommen wir allmählich in Zeiten, wo der geziemendste Ort für anständige Leute hinter Gefängnisgittern ist.“ 96 Mit den Festnahmen reagierten die Repressionsorgane auf die ersten Massenstreiks des Krieges, die im Juni 1916 stattgefunden und an denen sich 75.000 Beschäftigte beteiligt hatten. Anlass war der Prozess gegen den auf einer Anti- Kriegskundgebung am 1. Mai verhafteten Karl Liebknecht. Meyer beklagte später, ein Grund für seine und Mehrings Schutzhaft sei die „häufige Denunziation durch die von Noske und Heilmann geleitete ‚Chemnitzer Volksstimme‘“ gewesen. Anwaltlich vertreten wurde er von Hugo Haase und war zunächst optimistisch, aufgrund seiner Krankheit rasch entlassen zu werden. Tatsächlich beantragte der Gefängnisarzt wegen Meyers Lungenleidens Haftentlassung, ebenso für Mehring wegen dessen hohen Alters (er war bereits über 70 Jahre alt). Doch General Gustav von Kessel, der die Exekutivgewalt über Berlin hatte, lehnte beide Anliegen ab. Nach der Novemberrevolution berichtete Mehring in einer Fortsetzungsgeschichte in der „Roten Fahne“ über die Situation der Gefangenen in der Stadtvogtei. „Hunderte enger Zellen“ habe es dort gegeben, „von einem Rauminhalt, der zwischen 13 und 18 Kubikmetern schwankt“. Die Luft- und Lichtverhältnisse seien katastrophal gewesen: „wer in einem der beiden oberen Stockwerke zu ‚liegen‘ kam, konnte noch von Glück sagen; in den drei unteren Stockwerken herrschte Kerkerluft und war selbst an sonnigen Tagen das Lesen schwer.“ Nur spärlich seien die Zellen ausgestattet gewesen: 94 Wohlgemuth: KPD, S.-159. 95 Jacob: Luxemburg, S.-446 f. 96 Politische Briefe Nr. 22, 12.08.1916, in: Meyer: Spartakusbriefe, S.-192-205, Zitat S.-194. <?page no="70"?> 70 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) „Ein an die Wand geschnalltes Bett und ihm gegenüber eine kleine, an die Wand geschnallte Holzplatte, die herabgelassen einen Tisch vorstellen sollte, ein hölzerner Schemel ohne Lehne, ein irdener Wasserkrug und ein Waschbecken aus Email, in einer Ecke Handbesen, Scheuerlappen und Schippe, in einer anderen ein paar Bretter, auf denen in trauriger Harmonie ein Neues Testament, ein Gesangbuch, ein Kamm, eine Bürste und ein Salzfass standen, das war alles oder beinahe alles.“ Über die sanitären Verhältnisse berichtete Mehring: „Die geringe Minderzahl der größeren Zellen hatte wenigstens Wasserspülung; die große Mehrzahl der kleinen Käfige schmückte sich mit dem Kübel, der eine ehrwürdige Ahnenreihe bis in die Kerker des alten Rom verfolgen darf. Wenn morgens die Zellen aufgeschlossen wurden, sah man die Gefangenen in langen Reihen durch die Korridore wallen, in andächtiger Stille, die Opferschale sorgsam in beiden Händen tragend.“ In diese „elenden Löcher, in die selbst die preußische Gefängnisverwaltung zur Friedenszeit sogar die kräftigsten Strolche nur für wenige Tage zu sperren wagte, wurden die ausländischen Zivilisten und die deutschen Schutzgefangenen, untermischt mit einer Elite von Taschendieben und Zuhältern, für Wochen, für Monate und für Jahre gesteckt.“ 97 In der Stadtvogtei gelang es Mehring und Meyer anfangs, sich in der Freistunde zu sehen und zu unterhalten. Meyer berichtete später, dass der Gefängnisarzt schließlich veranlasst habe, die nebeneinanderliegenden Zellen der beiden auch nachts offen zu lassen, damit Mehring jederzeit um Hilfe rufen und von Meyer versorgt werden konnte. Überhaupt war das Haftreglement zunächst noch recht locker, viele Spartakisten konnten sich in ihren Zellen gegenseitig besuchen. Im August 1916 berichtete Käte Duncker ihrem Mann: „Vetter Julius [Julian Marchlewski] darf schon im Krankenhaus [Gefängnis] von Zimmer zu Zimmer wandeln. Da kann er Großvater [Franz Mehring] und Ernst [Meyer] besuchen.“ 98 Der ebenfalls inhaftierte Paul Blumenthal erinnert sich: „Es war gewissermaßen ein ‚fideles Gefängnis‘; unsere militärischen Wärter waren zum Teil Genossen, die es gestatteten, dass wir Häftlinge uns gegenseitig in den Zellen besuchten. Es waren unvergessliche Stunden …, wobei wir die politische Arbeit nicht vergaßen.“ 99 Unter Meyers Anleitung wurde Marx studiert, wobei eine „freudige revolutionäre Stimmung“ herrschte, wie ein Geschichtsbuch aus der DDR anmerkt. 100 Irgendwann aber verschärften sich, so Mehring, die Haftbedingungen: „In irgendeinem Polizeischädel rumorte die Idee, dass Meyer und ich besonders gefährliche Verschwörer seien, deren vereintem Wirken es am Ende doch gelingen könne, das deutsche Reich aus den Angeln zu heben. Nun sind Meyer und ich gewiss sehr gute Freunde und gute Kampfgenossen, aber gerade den Orest und Pylades des Umsturzes zu spielen, sind wir schon durch unseren Altersunterschied verhindert, der reichlich vierzig Jahre beträgt.“ Sie durften nur noch getrennt in den Gefängnishof, und um Zurufe zwischen ihnen zu unterbinden, wurde Meyer in eine andere Etage verlegt. Am 4. September wurde er gar „für 23 Stunden des Tages in ein dumpfes Loch gesperrt, wo jeder Atemzug für ihn das reine Gift war.“ 101 97 Franz Mehring: Militärische Schutzhaft. Eine Gefängnisarbeit, 3. Teil, in: Die Rote Fahne, 23.11.1918. 98 Brief Käte Duncker an Hermann Duncker, 24.08.1916, in: Deutschland: Briefwechsel, S.-86. 99 SAPMO-BArch, SgY30/ 0079 (Erinnerungsmappe Paul Blumenthal), Bl. 3. 100 Annemarie Lange: Das Wilhelminische Berlin. Zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution, Berlin (Ost) 1988, S.-726. 101 Mehring: Militärische Schutzhaft. <?page no="71"?> 71 3.7 Im Gefängnis Meyer erkrankte darauf schwer und wurde am 13. September in die Krankenstation des Untersuchungsgefängnisses Berlin-Moabit verlegt, in die wenig später auch Mehring eingeliefert wurde. Es dauerte aber bis zum 22. Oktober, bis die beiden die Erlaubnis erhielten, sich zu sehen. Mit der Versorgungslage in der Krankenstation waren sie keineswegs zufrieden: Ein ständiges Ärgernis bildeten hier verspätet oder gar nicht zugestellte Zeitungen. Auch an Kognakkirschen mangelte es. So baten Mehring und Meyer im November 1916 die gemeinsame Freundin Marta Rosenbaum um die Zusendung selbiger. Scherzhaft dichteten sie: „Als Karolus ward begraben in des Kerkers tiefen Grauen Sandt ihm Kognakkirschen wohl die edelste der Frauen. Da wir nun schon brummen achtzig oder gar schon zwanzig Wochen, haben wir an jedem Tage uns die gleiche Huld versprochen. Doch an jedem Tag vergebens harrten wir der süßen Spende denn die edelste der Frauen schloss für uns die Feenhände. Unsere legitimen Frauen sandten uns hausbackne Gaben, doch an Kognakkirschen konnte nie sich unser Herz erlaben. ‚Butter hab ich, Brot und Pudding, und dazu noch frische Eier, aber keine Kognakkirschen‘, also klagt Genosse Meyer. ‚Ich auch speise Fleisch vom Rinde oder Fisch vom sauren Hering, aber keine Kognakkirschen‘, also seufzt Genosse Mehring. Dieses große Elend ohne großes Mitleid anzuschauen, nimmer glauben wir so arges von der edelsten der Frauen. Unsre flehentliche Bitte wird ihr gutes Herz erweichen Und mit holdem Lächeln wird sie uns die Kognakkirschen reichen.“ Offensichtlich hatten sie mit ihrer Bitte Erfolg, wie eine „untertänige Dankeshymne“ an Marta Rosenbaum illustriert: „Nun spielen wir die Leier, Franz Mehring und Ernst Meyer. Im gläubigen Vertrauen zur edelsten der Frauen Denn wir gestehen ehrlich: die Kirschen waren herrlich. Wie sollen wir ihr danken Als das wir ohne wanken Zu ihrer Fahne schwenken Und unser Herz ihr schenken. - soweit es uns gestatten die legitimen Gatten. - Nun wünschen wir das Beste ihr zu dem Weihnachtsfeste, in dessen lichtem Scheine wir bitten um das Eine: dass sie im neuen Jahre die alte Huld uns wahre! “ <?page no="72"?> 72 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Auch Rosa Luxemburg, der die Verse gezeigt worden waren, schrieb den beiden daraufhin ein Scherzgedicht, in dem sie darauf insistierte, statt von Kognakkirschen doch bitte von Kognakbohnen zu sprechen. 102 Wie auch immer: im kommenden Jahr sollte sich Meyer wieder selbst mit schnapshaltigen Leckereien versorgen können. Am 30. Dezember wurde er aus der Haft entlassen. Schon bald vermisste er - trotz aller Entbehrungen - geradezu die Ruhe des Gefängnislebens. Käte Duncker, die ihn am Tag nach seiner Entlassung besuchte, berichtete an ihren Mann: „Die Schutzhaft wäre hier beinahe eine Erlösung. […] Ernst [Meyer] sehnt sich schon wieder zurück - wie er es das letzte Mal auch schon tat.“ 103 Meyer selbst schrieb im Juni 1917 an Rudolf Franz, „im Kittchen“ schaue es „übriges viel ruhiger, schöner und menschenfreundlicher aus […] als draußen.“ 104 In solchen Äußerungen schwingt wohl auch eine gehörige Portion Sarkasmus mit. Denn gesundheitlich verschärfte die Haft im feuchten Kerker Meyers Lungenleiden, das ihn auch die kommenden Jahre begleiten und schließlich mit zu seinem frühen Tod 1930 führen sollte. Nach der Haftentlassung war Meyer „schärfster Bespitzelung durch Polizeischergen“ ausgesetzt, wie sich sein Genosse Karl Schulz erinnert. 105 Ein geheimer Polizeibericht vom 5. Juli 1917 vermerkt über die Spartakusgruppe geradezu anerkennend, dass sie in den vergangenen Jahren „fast allein die ungeheure Last der Agitation und der Polemik gegen die offizielle Partei im ganzen deutschen Reiche trug. Ihr Organ ist ‚Die Internationale‘, die Propaganda geschah hauptsächlich durch eine sehr große Anzahl von Flugblättern, zuerst großen, später kleineren Formats, dieselben wurden gedruckt in verschiedenen kleinen Druckereien Berlins und seiner Vororte, sowie durch die Vermittlung des Abg. Rühle in Sachsen […]. Die leitenden Köpfe der Spartakusgruppe sind sämtlich in Groß-Berlin […]. Das radikale Groß-Berlinertum hängt mit unzerstörbarer Anhänglichkeit an seinen Führern, deckt, versteckt, verteidigt sie, verbreitet musterhaft die Flugblätter und bereitet der Berliner Polizei mit Freuden jegliche Schwierigkeit.“ 106 Ein weiterer Polizeibericht vom 4. Juni 1918 vermerkt über Meyer: „Er hat z. Zt. den Schriftführerposten im linksradikalen Ortswahlverein Steglitz noch inne und befindet sich gegenwärtig, wie durch vertrauliche Nachfrage bei seiner Ehefrau einwandfrei festgestellt werden konnte, mit dem ebenfalls hier bekannten radikalen Genossen und 1. Vorsitzenden des vorerwähnten Ortswahlvereins Hugo Eberlein, in Süddeutschland, wo sie beide nach 102 „Ach, der Mensch ist nie zufrieden, / Wenn’s ihm geht zu gut hienieden. / Im Besitz zwo züchtiger Frauen / Die sich Müh’n vom Morgengrauen / Um jedwedes essbar gut Ding, / Fleisch und Eier, Fisch und Pudding,- / Nicht befriedigt, still und ehrlich, / sondern noch nach mehr begehrlich, / stürmt verwegen in die Leier / so der Mehring wie der Meyer! / Doch nicht darum hat uns Kessel / Hingesetzt in die Nessel, / um der Fleischeslust zu frohnen / und zu schlucken Kognakbohnen./ Denkt wie mancher Zeitgenosse, / Nicht verhätschelt so vom Lose, / hat nicht Frau noch Speck noch Hering, / als wie Meyer und wie Mehring, / Und vom Kognak keinen Nebel, / und im Munde nur den Knebel, / all dieweil jetzt herrscht der Säbel. / Bei so großen Volkesleiden / Lernt euch züchtiglich bescheiden / Und auch Dinge unterscheiden, / denn das merkt euch: seit Aeonen / spricht man nicht von Kognakkirschen / sondern nur von Kognakbohnen.“ In: SAPMO-BArch, NY 4131/ 17, Bl. 195f. Später veröffentlicht als Ernst Meyer: Die Kognakkirschen, in: Der Rote Stern. Illustrierte Arbeiterzeitung, 1. Jg., Nr. 6, 20.08.1924, S.-1. 103 Brief Käte Duncker an Hermann Duncker, 05.01.1917, in: Deutschland: Briefwechsel, S.-106. 104 Brief Ernst Meyer an Rudolf Franz, 23.06.1917, in: SAPMO-BArch, NY 4020/ 15, Bl. 10. 105 Karl Schulz: Ernst Meyer gestorben, in: Welt am Abend, 03.02.1930. 106 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, 15779, Bl. 126-128. <?page no="73"?> 73 3.8 Gründung der USPD Angabe der Ehefrau Meyer im Sinne der USPD beziehungsweise Spartakusleute werberisch tätig sind.“ 107 Elsa Meyer gab offensichtlich blauäugig wichtige Informationen an die Polizei weiter, was eine weitere Belastung der zunehmend unglücklichen Ehe bedeutet haben muss. 3.8 Gründung der USPD Als Meyer am 30. Dezember 1916 aus der Haft entlassen wurde, steckte Deutschland schon in seinem dritten Kriegswinter. Wegen der schlechten Versorgungslage sollte er als „Kohlrübenwinter“ in die Geschichte eingehen. Sie traf auch die Familie: „Im Kriege werden wir aus dem Kindergarten von der Mutter abgeholt und fragen: ‚Was gibt es zu Essen? ‘- ‚Graupen‘. Und gleich fangen wir an zu weinen“, erinnert sich Sohn Heinz. 108 Materielle Not und wachsende Kriegsmüdigkeit führten 1917 aber auch zu zunehmenden Protesten und Streiks. Unmittelbar nach seiner Haftentlassung stürzte sich Meyer erneut in die illegale Arbeit. So nahm er am 7. Januar 1917 an einer gemeinsamen Konferenz von SAG und Spartakusgruppe teil, die der SAG-Vorstand einberufen hatte. Zu der Versammlung im Berliner Reichstagsgebäude kamen 157 Delegierte, die 72 Reichstagswahlkreise vertraten. Dass 35 Teilnehmer der Spartakusgruppe angehörten, drückte eine strategische Umorientierung der Gruppe aus: Im ersten Halbjahr 1916 hatte sie die Zusammenarbeit mit der gemäßigten Opposition in der Hoffnung abgebrochen, durch radikale Positionen die Massen gewinnen zu können. Dieser Kurs war gescheitert, was vor allem in der Debatte über die Beitragssperre deutlich wurde. Daher waren die Spartakisten nun erneut zur Zusammenarbeit bereit. Bereits im September 1916 hatte Käte Duncker auf einer SPD-Reichskonferenz den neuen Kurs angedeutet, als sie für die Gesamtopposition folgende Haltung vorschlug: „Getrennt marschieren, aber […] gemeinsame Gegner vereint schlagen.“ 109 Auf der gemeinsamen Konferenz mit der SAG trat Meyer als Wortführer der Spartakusgruppe auf. Das verdeutlicht auch die Tagesordnung: „1. Die Lage der Partei unter Berücksichtigung der Taktik der oppositionellen Reichstagsabgeordneten (Referent Haase); 2. Organisationsfragen (Referent Lipinski). 3. Zu beiden Punkten Korreferat Ernst Meyer.“ 110 In seinem Referat nannte Meyer drei Punkte, die seine Gruppe von der SAG trennen würden. Dies sei erstens die Stellung zur Internationalen. Zweitens gäbe es Differenzen in der Frage der Landesverteidigung. Für die SAG hänge das Verhältnis zur Landesverteidigung von der Kriegslage ab, für die Gruppe Internationale gälte hingegen: „Wir verneinen die Landesverteidigung im Zeitalter imperialistischer Kriege ohne weiteres, weil alle diese Kriege mit Eroberungsabsichten unternommen werden.“ Der dritte Streitpunkt betreffe die Friedensfrage. Meyer argumentierte, dass Frieden nicht durch Verhandlungen zustande 107 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, 15872, Bl. 227 f. 108 Heinz Meyer: Kraft, Bl. 16 109 Zit. nach Luban: Luxemburg, S.-15. 110 Protokoll über die Verhandlungen des Gründungsparteitages der USPD vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha. Mit Anhang: Bericht über die gemeinsame Konferenz der Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusgruppe vom 7. Januar 1917 in Berlin, hg. von Emil Eichhorn, Berlin 1921, Anhang, S.-85. <?page no="74"?> 74 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) käme, sondern „durch die selbstständige Aktion der Völker in den verschiedenen Ländern, unter dem Selbstbewusstsein der zur Aktion bereiten Massen.“ In der Organisationsfrage plädierte Meyer nicht eindeutig für eine Abspaltung von der SPD, aber für die schärfste und rücksichtslose Auseinandersetzung mit der Parteiführung und jenen Teilen der Sozialdemokratie, die „der Regierung und dem Imperialismus“ dienten: „Der Klassenkampf muss in erster Linie gegen den Parteivorstand geführt werden. Da irgendwelche Rücksichten zu nehmen, geht nicht an. Wir lehnen es ab, den Parteivorstand auch nur indirekt zu unterstützen, sondern wir treten ihm entgegen, wo es möglich ist.“ Von der Möglichkeit, dies zu tun, hänge letztendlich die organisatorische Entwicklung der Opposition ab: „In dem Augenblick, wo wir darin gehemmt werden, wollen wir in der Partei nicht bleiben. Umgekehrt treten wir auch nicht für eine Spaltung ein. Es kann ein Moment kommen, wo man sagt, dass die Spaltung zu einem Moment werden kann, den Klassenkampf zu verschärfen.“ Die Möglichkeit einer Spaltung sei also durchaus gegeben, denn es sei „unmöglich, dass fortdauernd zwei Strömungen nebeneinander bestehen, von denen eine sozialistische, die andere imperialistische Interessen verfolgt.“ Dementsprechend trat Meyer für eine organisatorische Stärkung und einen festeren Zusammenschluss der Opposition in der Partei ein. Als Kampfmittel gegen den Vorstand empfahl Meyer erneut die Beitragssperre. Sie sei wichtig, um den zahlreichen Genossen, „die infolge Verekelung der Partei den Rücken kehren“, eine Perspektive zu bieten. Der Orientierung von Haase und Lipinski auf eine Rückkehr zur SPD vor dem 4. August 1914 trat Meyer entgegen: „Dann können wir aber nicht sagen: Wir wollen zu dem zurück, was vor dem Kriege war; denn gerade das, was war, hat ja in den 4. August hineingeführt.“ Gegen den Attentismus der Vorkriegszeit argumentierte Meyer für eine auf die Selbstaktivität der Massen abzielende Strategie. Im Namen der Spartakusgruppe legte er der Versammlung eine Resolution vor, in der noch einmal betont wurde: „Die Opposition bleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu durchkreuzen und zu bekämpfen […] und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen, antimilitaristischen Klassenkampf zu benutzen.“ Dafür sei ein „offenes Schutz- und Trutzbündnis […] aller zu einem entschlossenen Kampf gegen die Politik der Parteiinstanzen bereiten Parteiorganisationen und Parteiminderheiten mit eigener Zentralbehörde und Finanzen“ notwendig. Ein solches Bündnis dürfe die „selbstständige Existenz der einzelnen Oppositionsrichtungen als Organisationen wie ihre Aktionsfreiheit, eigene Presse und Freiheit der Kritik“ in keiner Weise beeinträchtigen. In der anschließenden Diskussion wurde Meyer von verschiedenen Rednern kritisiert. Beispielsweise hieß es, er überbetone die Bedeutung, die die Frage der Landesverteidigung habe. Auch gab es einige Einwände gegen die Beitragssperre. Doch Meyer war sich seiner Sache sehr sicher. In seinem Schlusswort sagte er: „Ich bin der Überzeugung, dass, ganz gleich, was Sie heute beschließen, Sie in einigen Monaten alle dem zustimmen werden, was wir heute vorgeschlagen haben.“ 111 Trotzdem entfielen nur 34 Stimmen auf seine Resolution. Für das Papier des gemäßigten Richard Lipinski stimmten hingegen 111 Delegierte. Meyers Versuch, die Opposition auf einer gemeinsamen, kämpferischen Grundlage fester zusammenzuschließen und darin 111 Referat, Resolution und Schlusswort Meyers in: ebenda, Anhang, S.-93 ff. <?page no="75"?> 75 3.8 Gründung der USPD jede Möglichkeit zur Propagierung der Spartakus-Positionen offenzuhalten, war also vorerst gescheitert. Allerdings sollte die SAG innerhalb von nur drei Monaten zu dem gezwungen werden, was sie auf der Januarkonferenz zu verhindern suchte: sich als eigenständige Partei zu konstituieren und die Spartakisten als eigenständige Strömung in ihrer Partei zu akzeptieren. Wie von Meyer schon während der Konferenz vorausgesagt, brauchte der SPD-Vorstand nämlich keinen Beschluss der Oppositionellen zur Beitragssperre oder zum Aufbau eigener Strukturen, um diese aus der Partei zu drängen - allein die Tatsache, dass sie die Konferenz abgehalten hatte, war ausreichend. Am 18. Januar 1917 musste die Opposition die SPD verlassen. Alle Zurückhaltung der SAG war also umsonst gewesen. Diese neue Situation warf für die Spartakusgruppe nun die Frage auf, ob - wie es in einem von Leo Jogiches verfassten Zirkular hieß - „unsere Richtung sich in einer eigenen gesonderten Partei offen und offiziell organisieren oder einer neu zu gründenden gemeinsamen Partei der gesamten Opposition beitreten soll und - in letzterem Fall - an welche Bedingungen unsere Zugehörigkeit zu dieser neuen Partei zu knüpfen wäre.“ 112 Darüber entbrannten heftige Debatten sowohl unter den Spartakus-Anhängern als auch zwischen Spartakisten und anderen Linksradikalen. Die Bremer befürworteten weiterhin die Gründung einer eigenständigen linksradikalen Partei, die Spartakusgruppe entschied sich schließlich für die Mitarbeit in der Partei, die aus der SAG hervorgehen würde. Ein wichtiges Argument dabei war, wie Meyer später schrieb, „dass die Spartakusgruppe ein notdürftiges Schutzdach gegenüber den Verfolgungen der Militärdiktatur brauche, und dass eine organisatorische Trennung von zahlreichen Anhängern der Arbeitsgemeinschaft auch ideologisch ungerechtfertigt sei, da diese, in der Entwicklung begriffen, sich bald mit dem Fortschreiten der revolutionären Bewegung zu den Grundsätzen des Spartakusbundes bekennen würden.“ 113 Als die Führung der SAG für den 6. bis 8. April 1917 zu einer Konferenz nach Gotha lud, agierte sie ein weiteres Mal unsicher und uneinheitlich. Bis zur Eröffnung war den 124 Delegierten nicht klar, ob es hier um die Neugründung einer Partei gehen würde. Letztendlich ging es genau darum: Die Anwesenden hoben die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) aus der Taufe. Meyer hatte selbst kein Mandat zur Hauptkonferenz erhalten, nahm aber als Vertreter der Spartakusführung an der Vorbesprechung teil, verfolgte die Konferenz von der Galerie aus und kandidierte als Vertreter der Spartakusgruppe für das USPD-Zentralkomitee. 114 Für Spartakus galt es in Gotha durchzusetzen, was Meyer bereits am 7. Januar versucht hatte: Der Aufbau einer handlungsfähigen Struktur der Gesamtopposition, innerhalb derer die Linken frei agieren und für ihre Positionen werben konnte. Diesmal traten Fritz Rück und Fritz Heckert als Korreferenten für die Spartakusgruppe auf. Heckert stand eigentlich den Bremer Linksradikalen nahe. Erst kurz vor der Konferenz hatte ihn Meyer von der Position der Spartakusgruppe überzeugt, in der neuen Partei zu wirken. 112 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-172. 113 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-678. 114 Vgl. Benz: Rück, S.-83 u. 86. <?page no="76"?> 76 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Rück benannte ähnliche Differenzen zur SAG wie Meyer es im Januar getan hatte (beispielsweise zur Landesverteidigung oder Massenaktion statt parlamentarischer Aktion). Trotzdem stimmten die Spartakus-Anhänger einem „Aktionsprogramm“ zu, das Forderungen enthielt, die sie eigentlich ablehnten, etwa die nach internationalen Schiedsgerichten. Aber zugleich errangen sie, so die Historikerin Susanne Miller, bei der Verabschiedung des Parteistatuts „den entscheidenden Erfolg“. Dieses ließ ihnen nämlich volle Freiheit, „die Grundsätze des ‚Aktionsprogramms‘ und des ‚Manifests‘ als verbindlich zu betrachten oder nicht.“ 115 Zudem konnten sie eine Stärkung der Bezirke gegenüber der Zentrale der neuen Partei durchzusetzen. Bei den Wahlen zum Zentralkomitee erlitt die Spartakusgruppe jedoch eine Niederlage: Ihr Kandidat Ernst Meyer fiel durch. Mit der Gründung der USPD war die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung auch organisatorisch vollzogen, ihre politische Ausdifferenzierung sollte in den nächsten Jahren weitergehen. Die USPD verzeichnete im Herbst 1917 nach eigenen Angaben 120.000 Mitglieder. Das immense Vertrauen der kriegsmüden Arbeiterschaft in die neue Partei zeigte sich bei der bedeutenden Rolle, die sie in den Streiks im Frühjahr 1917 und im Januar 1918 und dann in der Novemberrevolution spielte. Dabei wurden aber auch ihre Schwächen unübersehbar: Ihre Heterogenität, ihre verschwommenen Zielvorstellungen und ihre schwache Führung. Innerhalb der Spartakusgruppe war der Beitritt zur USPD 1917 durchaus umstritten. Schließlich setzten sich aber Liebknecht, Luxemburg und Meyer mit dem Argument durch, die USPD bilde einen legalen Rahmen, in dem die Spartakisten ihre Auffassungen propagieren könnten. Meyer schrieb dazu später: „Ohne dass die USPD der Spartakusgruppe die geforderte Selbstständigkeit und Aktionsfreiheit formell zugestand, duldete sie doch faktisch, dass die Spartakusgruppe nach wie vor ihre Spartakusbriefe und zahllosen illegalen Flugschriften herausgab und auch weiter selbstständig Demonstrationen und Streiks organisierte.“ 116 Trotzdem traten viele Spartakus-Ortsgruppen der neuen Partei nur widerwillig bei, einige blieben ihr sogar fern. Erstaunlicherweise spielte in den Debatten des USPD-Gründungsparteitages das für die weitere Entwicklung zentrale Ereignis des Frühjahrs 1917 kaum eine Rolle: Die russische Februarrevolution. Nur Fritz Heckert ging in seinem Referat ausführlich darauf ein. Für die Spartakusgruppe waren die Ereignisse in Russland wichtiger Ansporn und Bestätigung, zeigten sie doch, was die Gruppe schon lange verkündet hatte: Nur die revolutionäre Aktion des Proletariats bot einen Ausweg aus der Sackgasse des Weltkrieges. Rosa Luxemburg schrieb euphorisch über die Ereignisse in Russland: „Ich bin felsenfest überzeugt, dass eine neue Epoche jetzt beginnt und dass der Krieg nicht mehr lange dauern kann.“ 117 115 Miller: Burgfrieden, S.-166. 116 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-678. 117 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-170. <?page no="77"?> 77 3.9 Vorübergehender Rückzug aus der Spartakus-Führung 1917 3.9 Vorübergehender Rückzug aus der Spartakus-Führung 1917 Bereits vor seiner Verhaftung hatte Meyer zum engsten Führungszirkel der Spartakusgruppe gehört. In diesen kehrte er nach seiner Haftentlassung umgehend zurück, wie seine herausragende Rolle bei der gemeinsamen Konferenz von SAG und Spartakusgruppe im Januar 1917 und seine Kandidatur als einziger Spartakist für das USPD-Zentralkomitee im April 1917 belegen. Insgesamt sah sich die Spartakusgruppe zu dieser Zeit jedoch mit einer gravierenden, bis Kriegsende nicht mehr abreißenden Personalknappheit infolge von Verhaftungen und Einberufungen konfrontiert. Die Politische Polizei Berlins schätzte im Februar 1917, durch ihr Eingreifen die radikalen Strömungen entscheidend geschwächt zu haben. Tatsächlich legten die Verhaftungen die Spartakusgruppe zeitweise weitgehend lahm und erschwerten die Agitation für ihre Ziele immens - eine Tatsache, die die Geschichtsschreibung bislang „stark vernachlässigt und unterschätzt“ habe, kritisiert Ottokar Luban. 118 Doch auch politische Gründe spielten eine Rolle für die Krise der Linken. In der Anfangszeit des Krieges waren Mitglieder der SPD Hauptadressat der Spartakus- Agitation gewesen. Die Publikationen der Gruppe beschäftigten sich häufig mit parteipolitischen Fragen und ihre Mitglieder agitierten vor allem im Rahmen der SPD-Wahlvereine. Mit der Dauer des Krieges änderte sich dies jedoch. Immer mehr rückte die Agitation in den Betrieben in den Vordergrund. Diese Entwicklung schilderte Meyer später in einem Artikel in der Zeitschrift „Die Internationale“: Zwischen 1914 und dem Herbst 1916 sei die Mitgliederzahl der SPD von über einer Million auf 395.000 gefallen, ihr internes Leben immer mehr zum Erliegen gekommen. „Wollte man größere Arbeitermassen erfassen, so musste man sich unmittelbar an die Arbeiterschaft wenden“, nicht zuletzt weil sich viele Arbeiter durch die Kriegserfahrung radikalisiert hätten. Hauptgrund für die Konzentration der Spartakusgruppe auf die Betriebe sei aber das Ziel gewesen, „durch Massenaktionen den Frieden zu erzwingen und […] die durch den Krieg geschaffene Krise zur Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu benutzen.“ Bereits im Sommer 1916 seien die Demonstrationsstreiks gegen Liebknechts Verurteilung von einem Netz von oppositionellen Vertrauensleuten in den Betrieben organisiert worden, aus dem später die Revolutionären Obleute in Berlin hervorgingen. Gerade dass diese unter dem Einfluss der USPD standen, sei für Spartakus ein Ansporn gewesen, „das Hauptgewicht seiner Tätigkeit in die Betriebe zu verlegen.“ 119 Im April 1917 kam es zu einem großen mehrtätigen Streik in der Rüstungsindustrie, an dem sich über eine halbe Million Arbeiter beteiligten. Schwerpunkt der Streikwelle war Berlin, aber sie erfasste auch Städte wie Leipzig, Kiel und Magdeburg. Die Spartakusgruppe intervenierte in die Bewegung mit einem Aufruf zur Bildung von Arbeiterräten, um den Kampf effektiver führen zu können. Der Einfluss der russischen Februarrevolution war dabei unverkennbar. Die betriebliche Agitation war allerdings beschwerlich und trug 118 Luban: Notwendigkeit, S.-72. 119 Ernst Meyer: Betriebszellen-Organisation im Spartakusbund, in: Die Internationale, 8. Jg., 1925, H. 12, S.-763-765. <?page no="78"?> 78 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) nicht sofort Früchte. Es sollte der Gruppe bis Kriegsende nicht gelingen, eine organisierte Massenbasis in den Betrieben aufzubauen. Auch scheiterten die Versuche der Spartakusgruppe, mit Hilfe einer intensiven Flugblattagitation eine weitere Streikwelle zum 1. Mai 1917 zu initiieren. Die durch die Bewegung vom April geweckte Hoffnung, den Krieg rasch durch Massenaktionen beenden zu können, wurde in den folgenden Monaten enttäuscht: Zwischen Mai und November stockte die Flugblattagitation der Spartakusgruppe. Die agitatorische Initiative für Massenaktionen ging in dieser Zeit an die radikale Leipziger USPD und die Bremer Linksradikalen verloren, in der Spartakusgruppe hielten interne Auseinandersetzungen über den Anschluss an die USPD, der vielerorts sehr kritisch gesehen wurde, an. In dieser Situation scheint sich auch Meyer für mehrere Monate aus der Spartakusführung zurückgezogen zu haben. Ein Grund hierfür war seine Lungentuberkulose, die sich in Folge des Gefängnisaufenthaltes wieder verstärkt bemerkbar machte. Ein anderer Grund war Meyers Suche nach Erwerbsarbeit. Seiner Anstellung beim „Vorwärts“ verlustig gegangen und gerade aus der Haft entlassen, musste er sich in der ersten Jahreshälfte um eine neue Anstellung bemühen - auch um der Zivildienstpflicht zu entgehen. Für kurze Zeit zog er daher nach Nürnberg, um in der „Prüfstelle für Ersatzglieder“ experimentelle psychologische Studien an Kriegsversehrten durchzuführen. Bald darauf fand er eine Arbeit in Berlin, „sozusagen als Archivar“ in einem „langweiligen Büro“. „Bezahlung leidlich, Tätigkeit verdummend“, schrieb er Ende Juni an seinen Freund Rudolf Franz. 120 Doch der entscheidende Grund für Meyers Rückzug aus der Spartakusführung war eine tiefe politische Frustration, ausgelöst durch das Ausbleiben weiterer Massenkämpfe im Sommer und Herbst 1917. Mathilde Jacob erinnert sich: „Meyer war lungenleidend, seine körperlichen Kräfte waren den Strapazen des illegalen Arbeitens auf die Dauer nicht gewachsen, und verzweifelt über die Haltung des deutschen Proletariats, hatte er sich von der illegalen Arbeit zurückgezogen.“ 121 Diese Verzweiflung geht aus seinem Brief an Rudolf Franz vom 23. Juni 1917 deutlich hervor: „Politisch ist alles tot. Die USP ist nichts als Neuauflage der alten Partei und die Gruppe ‚Int[ernationale]‘ zu ohnmächtiger Opposition verurteilt. Auch als selbstständige Partei, wie die Bremer sie wollen, wäre die ‚Int[ernationale]‘ genauso hoffnungslos isoliert und winzig wie die Bremer Gruppe. Die Verblödung der Arbeiterklasse ist viel, viel schlimmer als wir je gedacht. Neuester Beweis Russland, wo die Regierungssozialisten in 2 Monaten bis zu dem Stadium versumpfen, das unsere Mehrheit erst in 50 Jahren erreicht hat. Honolulu? Ich wäre dabei, aber können Sie garantieren, dass ich dort keine Mehrheit und Minderheit treffe? “ 122 120 Brief Ernst Meyer an Rudolf Franz, Berlin-Steglitz, 23.06.1917, in: SAPMO-BArch, NY 4131/ 15, Bl.-10-f. 121 Jacob: Luxemburg, S.-486. 122 Brief Ernst Meyer an [Rudolf ] Franz, Berlin-Steglitz, 23.06.1917, in: SAPMO-BArch, NY 4020/ 15, Bl.-10. <?page no="79"?> 79 3.9 Vorübergehender Rückzug aus der Spartakus-Führung 1917 In einem weiteren Brief vom 19. Juli schrieb Meyer: „Wie viel Illusionen über die gegenwärtige Leistung der Arbeiterschaft stecken noch darin. Ich bin völlig resigniert und zweifle, dass überhaupt noch etwas aus diesem verlotterten Geschlechte wird.“ 123 Offenbar war Meyer auch seiner Genossen (der „Minderheit“) überdrüssig. Der Führungskreis der Spartakusgruppe war von Anfang an auch ein politisch-sozialer Freundeskreis gewesen. Politische und persönliche Entfremdung waren daher eng mit einander verbunden und gingen ineinander über. Aus dieser Zeit finden sich Dokumente, die Meyers Entfremdung von seinen politischen Freunden belegen. Sich auf einen nicht erhaltenen Brief beziehend antwortete ihm sein Freund Fritz Ausländer: „Du hast ganz recht, wenn du bemerkst, dass man mit dem Berliner Kreis [Spartakusführung] doch fast nur Äußerliches gemeinsam hatte. (Von Mehring hielt und halte ich allerdings sehr viel, der ist Fundament, trotz alledem).“ 124 Im Oktober 1917 erkrankte Meyer erneut schwer und hielt sich deshalb in der Vereinsheilstätte Belzig auf, etwa 70 Kilometer von Berlin entfernt. Auch jetzt war er nicht in der Lage, seinen Aufgaben in der Spartakusgruppe angemessen nachzukommen, zumal er von wichtigen Informationen abgeschnitten war: „Eine merkbare Besserung meiner Lungen ist noch nicht eingetreten. Aber das ist auch kein Wunder bei so schlechten lückenhaften Nachrichten aus Berlin, wobei die Lückenhaftigkeit noch schlimmer wirkt als die Schlechtigkeit.“ 125 Doch wenige Monate später nahm Meyer die politische Arbeit wieder auf und kehrte in die Leitung der Gruppe zurück. Es lässt sich aus den Quellen nicht genau klären, wann und in welchem Umfang dies geschah. Mathilde Jacob schrieb, Meyer habe erst nach der Verhaftung von Leo Jogiches im März 1918 „sich zur Verfügung“ gestellt und „wieder die Herausgabe der ‚Spartakus-Briefe‘“ übernommen. 126 Die Erinnerungen von Karl Schulz, der 1918 zur Spartakusführung gehörte, legen hingegen nahe, dass Meyer bereits Ende 1917 wieder intensive Agitation unter Soldaten betrieb. 127 In jedem Fall wird die Oktoberrevolution in Russland auf Meyer einen überaus motivierenden Effekt gehabt haben. Sie dürfte schlagartig seine vorübergehende Skepsis gegenüber den Fähigkeiten des Proletariats beseitigt und ihm als Beweis dafür gedient haben, wie richtig und notwendig der Aufbau einer inhaltlich klaren und organisatorisch schlagkräf- 123 Brief Ernst Meyer an [Rudolf Franz], Berlin-Steglitz, 19.07.1917, in: SAPMO-BArch, NY 4020/ 15, Bl.-12. 124 Brief Fritz Ausländer an Ernst Meyer, Königsberg, 01.06.1917, in: SAPMO-BArch, NY 4131/ 17, Bl. 326-328. 125 Brief Ernst Meyer an Rudolf Franz, Vereinsheilstätte Belzig, 11.10.1917, in: SAPMO-BArch, NY 4020/ 15, Bl. 7. 126 Jacob: Luxemburg, S.-486. 127 Karl Schulz: Ernst Meyer gestorben, in: Welt am Abend, 03.02.1930. <?page no="80"?> 80 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) tigen Organisation von Revolutionären ist. Der Erfolg der Bolschewiki musste die Spartakisten in ihrer Arbeit bestätigen und ungeheuer beflügeln. 3.10 Oktoberrevolution und Debatten über die Politik der Bolschewiki Die Spartakisten interpretierten den russischen Oktober als Beleg dafür, dass eine sozialistische Revolution auf der Tagesordnung stand. Zugleich sahen sie in dem Sieg der Bolschewiki ihre Auffassung bestätigt, dass der Krieg nur revolutionär beendet werden könne. Rosa Luxemburg jubelte: Die Oktoberrevolution sei „eine weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird. Ich erwarte noch viel Großes in den nächsten Jahren.“ 128 Gegenüber der Kritik, die SPD und USPD äußerten, nahmen die führenden Spartakisten - allen voran Mehring und Zetkin - die Bolschewiki leidenschaftlich in Schutz. Gleichzeitig war die Politik der russischen Genossen innerhalb der Spartakusführung keineswegs unumstritten. Vor allem Rosa Luxemburg nahm eine durchaus kritische Position ein. Im „Spartakusbrief“ vom September 1918 erschien ihr Aufsatz „Die russische Tragödie“, den sie im Gefängnis verfasst hatte. Sie teilte die Prämissen der Politik der Bolschewiki: die Macht in Russland zu behalten und von ihr ausgehend die europäische Revolution als einzige mögliche Rettung der Russischen Revolution zu befördern. Gleichzeitig kritisierte sie Lenin scharf für den Friedensschluss von Brest-Litovsk, den er mit den Mittelmächten vereinbart hatte: Dieser habe den deutschen Imperialismus gestärkt und damit die Revolution in Deutschland erschwert. Luxemburg befürchtete gar ein Bündnis zwischen Sowjetrussland und Deutschland gegen alliierte Interventionen. Meyer veröffentlichte Luxemburgs Artikel, versah ihn aber mit einem Kommentar: „Der Artikel spricht Befürchtungen aus, die auch in unseren Kreisen vielfach vorhanden sind - Befürchtungen, die aus der objektiven Lage der Bolschewiki, nicht aus ihrem subjektiven Verhalten entspringen. Wir bringen den Artikel vornehmlich wegen seiner Schlussfolgerung: ohne die deutsche Revolution keine Rettung der russischen Revolution, keine Hoffnung für den Sozialismus in diesem Weltkriege. Es bleibt nur die eine Lösung: der Massenaufstand des deutschen Proletariats.“ 129 Offensichtlich sah sich Meyer zu einer einschränkenden Bemerkung gezwungen, da ihm der Artikel zu Bolschewiki-kritisch erschien. In einem Brief beschwerte Luxemburg sich nun „lebhaft“ über die redaktionelle Notiz und sandte Meyer gleich einen weiteren Artikel, der sich noch schärfer mit der Politik der Bolschewiki auseinandersetzte. Meyer hielt diesen Artikel - auch nach einer Rücksprache mit Eugen Leviné - für „ungeeignet zur Veröffentlichung“ und bat ihren Anwalt Paul Levi, Luxemburg die Gründe dafür mündlich mitzuteilen. Luxemburg war mit der Nichtveröffentlichung einverstanden, kündigte aber an, eine ausführlichere Kritik an der Politik der Bolschewiki verfassen zu wollen. Die dabei 128 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-190. 129 Meyer: Spartakusbriefe, S.-453, Anm. 1. Siehe auch Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-17. <?page no="81"?> 81 3.10 Oktoberrevolution und Debatten über die Politik der Bolschewiki entstandenen Notizen Luxemburgs veröffentlichte dann im Jahr 1922 Paul Levi. Sie gelten seitdem als Paradebeispiel einer grundsätzlichen Differenz zwischen Luxemburg und Lenin, zwischen „Luxemburgismus“ und „Leninismus.“ Meyer betonte später, Luxemburg selbst habe diesen Entwurf nie zur Veröffentlichung vorgesehen. 130 In dem anlässlich ihres dritten Todestags erschienenen Artikel „Rosa Luxemburgs Kritik der Bolschewiki“ argumentiert er, Luxemburg habe sich zum einen in der Schutzhaft nur sehr unzureichend über die Ereignisse in Russland informieren können. Zum anderen habe sich ihre eigene Einstellung zu wichtigen Fragen in den folgenden Monaten stark gewandelt. Meyer benennt Luxemburgs Kritik an der Auflösung der konstituierenden Versammlung, an der sowjetischen Agrarpolitik, dem „roten Terror“, dem Friedensvertrag von Brest-Litovsk und damit verbunden der bolschewistischen Nationalitätenpolitik - und verteidigt in allen Punkten die Bolschewiki. In der Agrarfrage widerspricht er beispielsweise dem Argument, die Aufteilung des Bodens an die Bauern anstelle einer sofortigen Kollektivierung sei ein Hemmschuh für die sozialistische Entwicklung, mit dem Hinweis auf die damalige politische Lage: Die Bolschewiki hätten die Bauern nur so für ihre Politik gewinnen können. Für einen sofortigen Übergang zu einer kollektivierten Landwirtschaft hätten im rückständigen Russland schlichtweg die Voraussetzungen gefehlt. Bezüglich des Friedens von Brest-Litovsk zeichnet Meyer die zeitgenössische Debatte in Russland nach. Innerhalb der Bolschewiki hätte es eine starke Opposition gegen Lenins Haltung gegeben. Doch deren Protagonisten hätten im Nachhinein alle die Richtigkeit der leninschen Politik anerkannt, Luxemburgs Kritik sei als Teil der damaligen lebendigen Debatte innerhalb der revolutionär-sozialistischen Bewegung zu deuten. In der Nationalitätenfrage sei es „unbegreiflich“, wie Luxemburg zu der Annahme kommen konnte, die bolschewistische Politik führe zu einem Erstarken des Nationalismus. Vielmehr habe im Zentrum der bolschewistischen Propaganda immer die Stärkung des internationalen Gedankens gestanden. Die von Luxemburg in ihren „Leitsätzen“ geforderte neue Internationale sei gerade von den Bolschewiki verwirklicht worden. Bezüglich der Auflösung der Konstituante stellt Meyer den Formulierungen Luxemburgs Äußerungen entgegen, die sie nur kurze Zeit später tat. Im Spartakusprogramm beispielsweise habe sie gegen die Einberufung einer Nationalversammlung in Deutschland und stattdessen für die Räterepublik argumentiert. Meyer kommt daher zu dem Schluss: „Zwingender noch als das Beispiel Sowjetrusslands mussten die Erfahrungen der deutschen revolutionären Bewegung seit den ersten Novembertagen sie zu einer Änderung ihrer Auffassung führen.“ 131 Die Auseinandersetzung zwischen Luxemburg und Meyer um die Einschätzung der Russischen Revolution ist ein interessanter Beleg für die offene Diskussionskultur innerhalb der Spartakusgruppe. Die Möglichkeit zur - auch öffentlichen - Äußerung von Kritik war eine Selbstverständlichkeit, weder zögerte Rosa Luxemburg, die Bolschewiki da zu kritisieren, wo sie es für notwendig hielt, noch war es ein Problem für den jungen Meyer, Rosa Luxemburg - die unumstrittene Führungsfigur der Gruppe - zu widersprechen, 130 Ernst Meyer: Rosa Luxemburgs Kritik der Bolschewiki, in: Die Rote Fahne, 15.01.1922, Beilage. Meyer tat dies wahrscheinlich in gutem Glauben, ebenso wie Clara Zetkin, die Gleiches behauptete. Neue Forschungen belegen indes, dass Rosa Luxemburg sehr wohl eine Veröffentlichung ihrer ausführlichen Kritik plante, vgl. Feliks Tych: Drei unbekannte Briefe Rosa Luxemburgs über die Oktoberrevolution, in: IWK, 27. Jg., 1991, H. 3, S.-357-366, bes. S.-358. 131 Ebenda. <?page no="82"?> 82 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) auch wenn Luxemburg ihm dafür, wie seine spätere Frau Rosa Meyer-Leviné berichtete, „den Kopf wusch“. 132 Dies bestätigt die von Ottokar Luban getroffene Feststellung, dass es in der Spartakusführung eine „Zusammenarbeit von gleichberechtigten Partnern [gab], wobei allerdings das Wort der Prominenten wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ein starkes Gewicht bei den übrigen Mitarbeitern hatte.“ Dennoch konstatiert er eine „Haltung der völligen Gleichberechtigung in jeder Meinungsäußerung“ in der Gruppe. 133 3.11 Auf dem Weg zur Revolution: Leiter der Spartakusgruppe 1918 Auf die deutsche Arbeiter- und Antikriegsbewegung hatte die Russische Revolution auf jeden Fall eine belebende Wirkung. Unter dem Eindruck der Ereignisse in Russland und der auf die sowjetische Friedensinitiative hin zustande gekommenen Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk kam es in Deutschland ab dem 28. Januar 1918 zum größten Streik während des Krieges. Die zwischen Mai und November 1917 ins Stocken geratene Flugblattagitation nahmen die Spartakisten nach der Oktoberrevolution wieder auf. Durch die verstärkte Zusammenarbeit mit oppositionellen Berliner Metallarbeitern, den Revolutionären Obleuten, und über die Spartakusanhänger im erweiterten USPD-Vorstand versuchte die Gruppe, Druck auf die USPD-Führung zur Organisierung von Massenstreiks auszuüben. Darüber hinaus verfasste sie selbst ein Flugblatt mit dem Titel „Hoch der Massenstreik! Auf zum Kampf! “, in dem es hieß: „Es ist keine Hoffnung und es gibt keine Mittel, von dieser Regierung und den sie stützenden imperialistischen Klassen den Friedensschluss zu erzwingen. Nur der Sturz dieser Regierung, nur die Zerschmetterung der Macht der Bourgeoisie, mit anderen Worten: nur die Volksrevolution und die Volksrepublik in Deutschland würden im Stande sein, den allgemeinen Frieden in kürzester Frist herbeizuführen.“ 134 An der einwöchigen Streikbewegung, die sich gegen eine Weiterführung des Krieges und die Annexionsbestrebungen gegenüber Sowjetrussland richtete, beteiligten sich nach Spartakusberichten allein in Berlin 500.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Hier konstituierte sich ein „Arbeiterrat Groß-Berlin“, dessen Leitung ein Aktionsausschuss aus Mitgliedern der Revolutionären Obleute übernahm. Er zog Mitglieder des ZK der USPD (Wilhelm Dittmann, Hugo Haase und Georg Ledebour) und des SPD-Parteivorstandes (Otto Braun, Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert) hinzu. Ebert erklärte später, er sei in den Aktionsausschuss eingetreten, um zu verhindern, „dass durch den Streik die Interessen des Landes geschädigt würden, und durch Verhandlungen mit der Regierung zu versuchen, ihn möglichst schnell zum Abschluss zu bringen.“ 135 Spartakus drängte demgegenüber auf eine Ausweitung und Radikalisierung der Bewegung: „Arbeiter! Genossen! Wir müssen mit der Reaktion ‚russisch‘ reden! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! Hoch 132 Vgl. Brief Meyer-Leviné an [Ernst] Fischer, London, 7.9.69, in: BArch Koblenz, N 1246/ 12, Bl. 104-110, Zitat Bl. 106. 133 Ottokar Luban: Zwei Schreiben der Spartakuszentrale an Rosa Luxemburg (Juni 1917; 5. November 1918), in: Archiv für Sozialgeschichte, 9. Jg., 1971, S.-225-240, hier S.-230. 134 Zit. nach Wohlgemuth: KPD, S.-194. 135 Zit. nach ebenda, S.-200f. <?page no="83"?> 83 3.11 Auf dem Weg zur Revolution: Leiter der Spartakusgruppe 1918 der Kampf um Frieden, Freiheit und Brot! “ 136 Noch aber gelang es der SPD-Führung, eine solche Radikalisierung zu verhindern. Ab dem 4. Februar kehrten die meisten Streikenden wieder an die Arbeit zurück. Wie bereits die Aprilstreiks 1917 unterstützte Spartakus nun auch die Januarstreiks 1918 nach Kräften. Insgesamt konnte die Spartakusgruppe aber keinen entscheidenden Einfluss auf sie ausüben. Immerhin funktionierte ihr illegaler Apparat im Januar 1918 hervorragend, die Gruppe war in der Lage, mit acht verschiedenen Publikationen in die Bewegung zu intervenieren, die Auflagen zwischen 25.000 und 100.000 Exemplaren hatten. Wie Meyer später bemerkte, zeigte sich hier „die illegale Leistungsfähigkeit des Spartakusbundes auf seiner ganzen Höhe.“ 137 Und an anderer Stelle schrieb er über den Spartakusbund dieser Zeit: „Trotzdem fast alle seine Führer im Zuchthaus oder Gefängnis saßen, verfügte er über einen so gut funktionierenden illegalen Apparat, dass seine Flugschriften in Hunderttausenden von Exemplaren in ganz Deutschland verbreitet wurden.“ 138 Dieser Apparat wurde aber bereits am 24. März durch eine erneute Verhaftungswelle weitgehend zerschlagen. In diesem Zusammenhang wurde auch Leo Jogiches verhaftet, der nach Meyers Inhaftierung im August 1916 die Herausgabe der Spartakusbriefe und die Leitung des illegalen Verbreitungsapparates der Gruppe übernommen hatte. In der Folge lagen die Leitung der Spartakusgruppe und die Herausgabe ihrer illegalen Materialien wieder ganz in den Händen Meyers. Dieser erinnerte sich später: „Die Verbreitung geschah durch Hunderte von Freiwilligen, die mit beispiellosem Opfermut und freudiger Hingabe die Briefe in Tausenden von Exemplaren in die Betriebe, in die Arbeiterorganisationen und sogar in die Schützengräben brachten. Besonders viel leisteten dabei die Jugendlichen und die Frauen. Es wurde so kräftig zugepackt, dass die von uns vorgesehenen Auflagen häufig nicht ausreichten […].“ 139 Die Spartakusführung musste dabei vielfältige logistische Aufgaben bewältigen, etwa die Herausgabe der Spartakusschriften „unter den Bedingungen der Illegalität von der Artikelbeschaffung, der redaktionellen Gestaltung bis zu den damit zusammenhängenden technisch-organisatorischen Aspekten (Gewinnen eines Druckers, Papierankauf, Finanzierung des Drucks, Versand)“, wie Luban schreibt. Des Weiteren musste sie über Einnahmen und Ausgaben Buch führen, Helferinnen und Helfer gewinnen und einteilen, und nicht zuletzt den Informationsaustausch zwischen der Spartakusführung in Berlin und den regionalen und lokalen Gruppen organisieren. 140 Dem in der Zeit der losen Mitarbeit in der USPD weiter ausgebauten illegalen Organisationsapparat, mit dessen Hilfe die Spartakusgruppe während der Januarstreiks Zehntausende von Flugblättern verteilen konnte, hatte die Repressionswelle vom März 1918 einen empfindlichen Schlag zugefügt. Neben Jogiches wurden acht weitere Aktivisten der Gruppe verhaftet und kurze Zeit später flog auch ihre illegale Druckerei auf. Bis es Meyer 136 Zit. nach ebenda, S.-201. 137 Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-18. 138 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-679. 139 Meyer: Spartakus. 140 Ottokar Luban: Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Mathilde Jacob und Leo Jogiches (1915-1918), in: IWK, 1995, H. 3, S.-307-333, S.-319 f., Anm. 61. <?page no="84"?> 84 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) gelang, eine neue illegale Struktur zu etablieren, konnten eine Zeit lang kaum Flugblätter und Zeitungen herausgebracht werden, was die illegale Arbeit spürbar hemmte. Erst im Juni 1918 konnte, nach viermonatiger Unterbrechung, wieder ein Spartakusbrief erscheinen. Doch zufällig entdeckte die Polizei die Druckerei und beschlagnahmte 6.000 Exemplare. Es dauerte einen weiteren Monat, bis die Gruppe den Brief neu drucken konnte. Erst ab Juli 1918 verbreitete sie wieder regelmäßig Flugblätter. Trotz aller Rückschläge und obwohl sie vollständig illegal geschehen musste, war die Flugblattagitation der Spartakusgruppe die „bei weitem umfangreichste der Linken“. 141 Im Sommer des Jahres 1918 befand sich die Spartakusgruppe also auf einem Tiefpunkt. Viele ihrer Genossen waren verhaftet. Rosa Luxemburg saß weiter im Gefängnis, ihr Einfluss auf die Gruppe ging zurück und die Spartakusbriefe verloren ohne ihre Artikel an Attraktivität. Auch Leo Jogiches hatte bis Juli 1918 keine Möglichkeit, halbwegs unzensierte Schreiben mit der Spartakusführung auszutauschen. Ottokar Luban schreibt gar, zwischen April und September 1918 habe die Spartakusgruppe als agitationsfähige Organisation zumindest in Berlin nur für wenige Wochen existiert. In dieser schwierigen Lage leitete Meyer die Organisation. Die Last auf seinen Schultern muss enorm gewesen sein. Sein engster Mitarbeiter wurde in dieser Zeit Luxemburgs Anwalt Paul Levi. Zur Rumpfleitung der Spartakusgruppe gehörten außerdem Hermann und Käte Duncker (mit durch Familie, Berufstätigkeit und zweitweise schlechtem Gesundheitszustand bedingten Einschränkungen), Franz Mehring (ebenfalls mit gesundheitsbedingten starken Einschränkungen), die spätere Publizistin Susanne Leonhard und der von seinem Truppenteil desertierte Karl Schulz, der - bis zu seiner Verhaftung am 15. August - den Versand und wahrscheinlich auch den Druck der Spartakusschriften organisierte. Auch Luxemburgs Sekretärin Mathilde Jacob muss in dieser Zeit zur Spartakusführung gerechnet werden, für die sie einen großen Teil der logistischen Aufgaben übernahm. Ottokar Luban, der ein einfühlsames Portrait dieser lange nur wenig beachteten Aktivistin verfasst hat, beschreibt ihre „vollständige Überlastung“ ab Ende März 1918 und ihren „Einsatz bis an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Kräfte“. 142 Für den gesundheitlich ohnehin stark angeschlagenen Meyer dürfte Ähnliches gegolten haben. Während des gesamten Krieges war die Arbeit in der Führung der Spartakusgruppe - den konspirativen Anforderungen ihrer illegalen Tätigkeit entsprechend - nicht nach einem bestimmten Schema hierarchisch organisiert. Stattdessen nahm, so Luban, „jeder die Aufgaben wahr, für die er Zeit und Befähigung und vor allem das Vertrauen des Freundeskreises hatte. Nach diesen Gesichtspunkten teilten sich die führenden Mitglieder der Gruppe ‚Internationale‘ (Spartakusgruppe) die agitatorischen Aufgaben und logistischen Arbeiten bereits seit ihren ersten Aktionen nach Kriegsausbruch im August 1914 untereinander auf […]“. 143 Eine der wichtigsten Herausforderungen, vor denen die Zentrale stand, war es, den Kontakt zu Anhängern im ganzen Reich aufrecht zu erhalten. Zu diesem Zweck besuchte Meyer unter anderem im Mai 1918 Clara Zetkin in Stuttgart und war im Juni erneut in Süddeutschland unterwegs. 141 Luban: Luxemburg, S.-17. 142 Luban: Notwendigkeit; S.-444. 143 Ebenda, S.-449. <?page no="85"?> 85 3.11 Auf dem Weg zur Revolution: Leiter der Spartakusgruppe 1918 Zudem war Meyer zeitweilig wohl auch als Kassierer für die Spartakusgruppe tätig und somit für die Verteilung von Geldern an die Ortsgruppen verantwortlich. Für ihre illegale Arbeit standen der Spartakuszentrale jedoch nur geringe Geldmittel zur Verfügung, Meyer nennt Summen von 3.000 bis 5.000 Mark, im Winter 1917/ 18 auch deutlich weniger. Die Gelder brachten die Spartakisten durch Spendensammlungen unter Arbeitern und Sympathisanten auf. Ab dem Frühjahr 1918 kam eine - allerdings ebenfalls geringe - finanzielle Unterstützung durch die Bolschewiki hinzu. Weitere Zuwendungen erhielten sie von dem Kunstsammler Eduard Fuchs, dem Druckereibesitzer Julius Gerson und aus dem Umfeld des „Bund Neues Vaterland“ um den Bankdirektor Richard Witting, der enge Kontakte zu ihnen hielt. Immer wieder wurden die Aktivitäten der Gruppe im Sommer 1918 durch staatliche Eingriffe gestört. Am 15. August zerschlug die Polizei die Struktur für den Spartakusflugschriftenversand und führte im Anschluss eine weitere Verhaftungswelle durch. Darüber hinaus sahen sich die Spartakisten innerhalb der Linken zunehmend isoliert: Die Revolutionären Obleute, die wichtigste radikale Struktur in der Berliner Industriearbeiterschaft, brachen im Sommer 1918 alle Kontakte zu ihnen ab. Denn aufgrund der permanenten polizeilichen Überwachung und des Einsatzes von Spitzeln in der Spartakusgruppe betrachteten sie diese als eine Gefahr für ihre eigene Organisation. Auch auf diese Art schränkte die polizeiliche Repression also die politischen Handlungsmöglichkeiten der Spartakisten massiv ein. Trotz ihrer repressionsbedingten personellen Schwächung orientierte die Spartakusgruppe im letzten Kriegsjahr immer eindeutiger auf eine Revolution zur „Herbeiführung eines sofortigen Friedens sowie den Sturz der bestehenden Gesellschaftsordnung“. Im März 1918 veröffentlichte sie ihre Vorschläge hierzu: 1. „Einen Arbeiter- und Soldatenrat zu schaffen, der sich aus revolutionären Klassenkämpfern zusammensetzt. Zu diesem Zweck müssen Vertrauensleute aus den Betrieben und Kasernen, die Einfluss auf ihre Mitarbeiter und Kameraden haben, zu gewinnen gesucht werden. […] 2. Der A.- und S.-Rat hat die Pflicht, die Massen zur Revolution aufzurufen, ferner sich der Regierungsgewalt zu bemächtigen und die deutsche Volksrepublik auszurufen. 3. Wir empfehlen daher Bildungen von Gruppen, die es sich zur Pflicht machen, einen Teil der Arbeiter mit Waffen und Munition zu versorgen. […] Vor allem ist es die erste Pflicht, der Polizeigewalt entgegenzutreten. […] 4. Sämtliche parlamentarischen Körperschaften sind ohne weiteres aufzulösen und durch eine auf Grund des freien Wahlrechts gewählten Konstituante zu ersetzen. 5. An die Stelle der ausführenden Regierungsorgane sind Volkskommissare zu setzen.“ 144 Diesem Programm entsprechend erlangte für die Spartakusgruppe die Agitation unter Soldaten zunehmende Bedeutung. Bereits Anfang 1917 hatte Otto Richter, ein wegen Verwundung aus dem Kriegsdienst entlassenes USPD-Mitglied, Meyer erzählt, dass er an seine Kameraden an der Front portofreie Feldpostbriefe mit antimilitaristischem Inhalt verschickte. Seine Frau habe beim Schlange stehen für Lebensmittel die Feldadressen wei- 144 Aufruf der Spartakusgruppe vom März 1918, in: DuM, Bd. II/ 2, S.-137 f. <?page no="86"?> 86 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) terer Soldaten gesammelt. Meyer griff dies begeistert auf. Er nahm Richter mit zu Franz Mehring, gemeinsam verfassten sie weitere Brieftexte, die sie zu mehreren Tausend an die Front sandten. Der spätere preußische KPD-Landtagsabgeordnete Karl Schulz erinnerte sich nach Meyers Tod ebenfalls an dessen Engagement in der Soldatenagitation: „Ich lernte Ernst Meyer Ende 1917 kennen. Mit einem kleinen Kreis revolutionärer Soldaten trieben wir unter den denkbar schwersten Umständen revolutionäre Soldatenpropaganda. […] Es fehlte uns an Propagandamitteln, an politischem Rat und - da wir unterirdisch lebten - auch an Futter. Die Spartakusgruppe half in allem und einer der selbstlosesten Helfer war Ernst Meyer. Er scheute vor keiner noch so gefährlichen Minierarbeit zurück.“ 145 Neben der Agitation unter Soldaten spielte auch die Beschaffung von Waffen für die Gruppe eine zunehmend wichtige Rolle. Meyer erinnerte sich später: „Die Zuspitzung der Verhältnisse im Jahre 1918 veranlasste den Spartakusbund, die Bewaffnung der Arbeiterschaft in Angriff zu nehmen. Die Geld- und Waffenbeschaffung behielt er zum größten Teil selbst in den Händen. Die Verteilung der Waffen übertrug er den ‚revolutionären Obleuten‘, der unter dem Einfluss der USPD stehenden losen Organisation von Betriebs- und Vertrauensleuten in Groß-Berlin.“ 146 Zu Meyers Rückkehr in das Zentrum der politischen Arbeit der Spartakusgruppe im Lauf des Jahres 1918 dürfte auch eine deutliche Verbesserung seiner materiellen Situation beigetragen haben: Im Frühjahr 1918 wurde er Leiter der Presseabteilung der Botschaft der Sowjetrepublik in Deutschland, und von Juni 1918 bis Januar 1919 leitete er das Berliner Büro der Petrograder Telegraphenagentur (PTA), die im November 1918 in Russische Telegraphenagentur (ROSTA) umbenannt wurde (später dann, im Jahr 1925, wurde daraus die Nachrichtenagentur TASS). Über Meyers dortige Tätigkeit gibt ein späterer Brief von ihm an die Zentrale der KPD Aufschluss. 147 Darin heißt es, der russische Botschafter Adolf Abramowitsch Joffe habe sich im Juni 1918 mit der Bitte an ihn gewandt, die Leitung der PTA zu übernehmen. Meyer mietete daraufhin die Büroräume für die Agentur in der Friedrichstraße an, engagierte die Angestellten, darunter die ihm bereits aus dem „Vorwärts“ bekannte Stenotypistin Friedel Gräf, organisierte die Berichterstattung und schaffte Satzmaterial und eine Druckmaschine an. Die PTA wurde in eine deutsche und eine russische Abteilung gegliedert. Neben der allgemeinen Leitung kümmerte sich Meyer speziell um die deutsche Abteilung, während Eugen Leviné Leiter der russischen Abteilung wurde. An die Bedeutung der sowjetischen Botschaft für die deutsche radikale Linke erinnert sich Mathilde Jacob: „Im März 1918, etwa 6 Monate nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Russland, kamen die Volksbeauftragten der Russischen Föderativen Sowjetrepubliken als diplomatische Vertreter nach Berlin und suchten hier mit den deutschen oppositionellen Sozialdemokraten sogleich Fühlung. […] Die in die Berliner russische Botschaft entsandten Volksbeauftragten waren keine geistigen Größen, doch beseelte sie Opferfreudigkeit und Hingabe an die Revolution. […] Eine fieberhafte Zusammenarbeit der russischen und der deutschen Genossen setzte ein.“ 148 Meyer schrieb später: „Seit der 145 Karl Schulz: Ernst Meyer gestorben, in: Welt am Abend, 03.02.1930. 146 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-679. 147 Brief Ernst Meyer an die Zentrale der KPD, 01.08.1925, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 334-f. 148 Jacob: Luxemburg, S.-486. <?page no="87"?> 87 3.11 Auf dem Weg zur Revolution: Leiter der Spartakusgruppe 1918 Anwesenheit der russischen Botschaft in Berlin drangen jetzt auch Schriften Lenins, Trotzkis und Bucharins in deutscher Sprache nach Deutschland und wurden in den Spartakuskreisen eifrig verbreitet.“ 149 In wieweit die Mitarbeit der deutschen Revolutionäre in sowjetischer Botschaft und Nachrichtenagentur tatsächlich die logistischen und agitatorischen Möglichkeiten der Spartakusgruppe verbesserte, ist unklar. Rosa Luxemburg kritisierte beispielsweise, dass für diese Tätigkeiten Kräfte aus der aktiven Arbeit der Spartakusgruppe abgezogen wurden. So schrieb sie Ende September 1918 an Julian Marchlewski: „Bei uns hier ist die Arbeit seit L[eo Jogiches] Krankheit [gemeint: seiner Verhaftung] vor die Hunde gegangen. Es sind alles Waschlappen und dazu haben sie noch keine ‚Zeit‘, vor allem wenn die Arbeit sich nicht bar bezahlt macht. Für die ‚Arbeit‘ in der [sowjetischen] Botschaft - reine Albernheit, nichts weiter - haben sie Zeit, denn da zahlt man schwer. Aber das Blatt [Spartakusbriefe] und die Zettel [Flugblätter], nach denen jetzt eine stürmische Nachfrage besteht, hat einzig und allein Maciej Rózga [Deckname Rosa Luxemburgs] zu schreiben, kein anderer will einen Finger rühren. Und auch dafür, um Maciej [ein paar] leidliche Informationen über die Lage zu schreiben, dafür ist auch keine Zeit […].“ 150 Für Meyer hatte die Präsens der sowjetischen Botschaft aber auch noch eine ganz besondere persönliche Note. Denn hier arbeitete er mit seiner künftigen Frau Rosa Leviné zusammen, damals noch mit Eugen Leviné verheiratet. Den ersten Eindruck, den sie von Ernst hatte, schilderte sie später. Er sei „stets gepflegt“ gewesen, „mit adrettem Haarschnitt, manikürten Händen - er sah kaum wie ein Revolutionär aus. Aber er war ein Mann von hoher Integrität. Freiwillig kürzte er sein Gehalt bei Rosta um die Hälfte mit der Begründung, dass er ja auch nur die Hälfte seiner Zeit mit der Arbeit für Rosta zubringe.“ 151 Die andere Hälfte der Zeit setzte er weiterhin für die Leitung der Spartakusgruppe ein, die auch sonst von den engen Kontakten Meyers zur russischen Botschaft profitiert haben dürfte. So traf er sich regelmäßig mit Botschafter Joffe. Dabei besprach er unter anderem die Herausgabe von sowjetischen Dekreten und von Broschüren Lenins und Trotzkis in deutscher Sprache sowie einer Neuausgabe von Luxemburgs Junius-Broschüre. Über den Ernst Meyer dieser Zeit schreibt der Stuttgarter Spartakist Fritz Rück, der ihn Anfang Oktober 1918 in seinem Büro in der Friedrichstraße besuchte: „Er sieht etwas übermüdet 149 Meyer: Spartakus, Einleitung, S.-20. 150 Brief R[osa Luxemburg] an [Julian Marchlewski], [Gefängnis Breslau], 30.09.[1918], in: Tych: Briefe, S.-363-366. 151 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-19. Rosa und Eugen Leviné mit Sohn Genja, 1916 <?page no="88"?> 88 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) aus, er ist ja auch nicht gesund und doch belebt ein frischer Zug von Energie das blasse Gelehrtengesicht.“ 152 Am 5. September schickte Meyer einen Brief an Lenin, um ihm nach einem Attentat baldige Genesung zu wünschen. Aus diesem Schreiben geht ein weiteres Mal die schwierige Situation hervor, in der die Gruppe im Sommer 1918 steckte. Doch Meyer wurde langsam wieder ein bisschen optimistischer: „Sie werden ebenso ungeduldig wie wir selbst auf die Zeichen revolutionärer Bewegungen in Deutschland gewartet haben und noch warten. Erfreulicherweise sind alle meine Freunde wesentlich optimistischer geworden. Leider können wir von größeren Aktionen in der Gegenwart und in der nächsten Zeit nicht berichten. Aber noch für den Winter ist mehr geplant, und die gesamten Verhältnisse in Deutschland stützen unsere Arbeit. […] Die Vorgänge in Russland haben ein lehrreiches, für niemanden übersehbares Beispiel aufgerichtet. Da die Mehrzahl meiner Freunde noch immer im Zuchthaus oder in Schutzhaft sitzt und Genosse Mehring zur Erholung im Harz weilt, unterzeichne ich diesen Brief allein mit nochmaligen herzlichen Wünschen für ihre baldige Wiederherstellung.“ 153 Dem Schreiben Meyers ist keinesfalls zu entnehmen, dass er damit rechnete, in Deutschland könne es binnen zwei Monaten zur Revolution kommen. Innerhalb der Spartakusführung stand Meyer mit seiner Skepsis keineswegs alleine da: Leo Jogiches und Clara Zetkin waren ebenso zurückhaltend, und Hermann Duncker ging im Sommer 1918 davon aus, dass es bis zum Ausbruch einer Revolution in Deutschland noch zwei Jahre dauern würde. Im Oktober begann Meyer, die Lage wieder deutlich hoffnungsvoller zu beurteilen, zumindest, wenn seine Erinnerungen hier zutreffend sind: „So hatte ich im Oktober einen sehr lebhaften Briefwechsel mit der Genossin Luxemburg, weil sie in ihren Beiträgen für die Spartakusbriefe und in Flugblattentwürfen die Situation als keineswegs reif für einen nahen Umsturz beurteilte und daher Vorschläge machte, die viel zu zurückhaltend waren. Vergeblich teilte ich der Genossin Luxemburg eindringlich mit, dass wir in allernächster Zeit große revolutionäre Bewegungen in Deutschland zu erwarten hätten; ich verlangte daher die Aufforderung zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, die Aufforderung zur Revolution. Genossin Luxemburg beurteilte die Situation viel skeptischer und ihre Flugblätter und Artikel liefen auf Forderungen hinaus, die durch die Situation schon überholt waren. Wir standen noch im lebhaftesten Briefwechsel über meine angeblich übereilte Beurteilung und überstürzten Vorschläge, als der 9. November auch der Genossin Luxemburg die Freiheit und damit die Möglichkeit einer vollständigen Prüfung der Situation in Deutschland und in Russland ermöglichte.“ 154 Doch zuvor trafen sich die radikalen Linken noch einmal zu einer illegalen Reichskonferenz. Diese tagte am 12./ 13. Oktober 1918 in Berlin. Anlaufpunkt war Meyers Büro 152 Benz: Rück, S.-104. 153 Brief Meyer an Lenin, 04.09.1918, in: DuM Bd.II/ 2, S.-195. 154 Ernst Meyer: Rosa Luxemburg und die Bolschewiki, in: Die Rote Fahne, 15.01.1922, Beilage. <?page no="89"?> 89 3.11 Auf dem Weg zur Revolution: Leiter der Spartakusgruppe 1918 in der sowjetischen Nachrichtenagentur ROSTA in der zentral gelegenen Friedrichstrasse. Die etwa 30 Teilnehmer vereinbarten den Zusammenschluss der Spartakusgruppe mit den norddeutschen Linksradikalen, ohne das letztere sich ebenfalls der USPD anschließen mussten. Meyer scheint einigen Anteil an der Vorbereitung dieses Zusammenschlusses gehabt zu haben. Auf dem Treffen wurde die bisherige Arbeit in der USPD sehr kritisch eingeschätzt: „Günstige Erfahrungen sind in keinem Ort mit der USP gemacht worden. Nur in den Orten, wo sich die Organisationen der USP völlig in den Händen von Spartakusanhängern befinden, sind die Genossen mit dem in Gotha vollzogenen Zusammenschluss zufrieden.“ 155 Zudem verabschiedeten die Teilnehmer einen Aufruf an die Bevölkerung, der eine Reihe von Forderungen enthielt (Freilassung aller politischen Gefangenen, Aufhebung des Belagerungszustandes, Sozialisierung von Banken und Schwerindustrie, Mindestlöhne, Abschaffung der Einzelstaaten und Dynastien), aber nicht auf eine sozialistische Räterepublik orientierte. Luban urteilt, dass der Aufruf insgesamt „einen langatmigen zerfaserten Eindruck“ machte. 156 Dennoch bezeichnet die Historikerin Susanne Miller die Konferenz als „die wichtigste Initiative der Spartakisten in den Wochen vor der Revolution“. 157 Die Schlagkraft der Gruppe blieb aber eingeschränkt, auch wenn sich die personelle Situation langsam wieder bessern sollte. Der russische Wirtschaftsexperte Wladimir P. Miljutin berichtete Mitte Oktober an Lenin: „Die Spartakisten machen keinen sehr starken Eindruck. Sie hatten eine Konferenz. Haben Verbindungen zur Provinz und zur Armee. Besitzen zwei legale Zeitungen (Die eine hat eine Auflage von 4.000 Exemplaren, die andere 1.500 [‚Der Sozialdemokrat‘, Stuttgart, und die ‚Arbeiterpolitik‘, Bremen], unsere ‚Prawda‘ hatte 1917 stets eine Auflage von 50.000 bis 60.000 Exemplaren. Sie haben noch keine einzige Demonstration durchgeführt, von mehr gar nicht zu reden.“ 158 Weitgehend unabhängig von der weiterhin relativ schwach aufgestellten Spartakusgruppe gerieten aber die lange Zeit erstarrt wirkenden politischen Verhältnisse in Deutschland im Spätsommer 1918 in Bewegung. Die deutsche Sommeroffensive an der Westfront war gescheitert. Im Angesicht der sich nun deutlich abzeichnenden militärischen Niederlage drängte die Oberste Heeresleitung den Kaiser, eine parlamentarische Regierung unter Einschluss der Sozialdemokraten zu akzeptieren. Diese sollte einen Waffenstillstand aushandeln, auch damit man ihr die Verantwortung für die Niederlage zuschieben konnte. Am 5. Oktober wurde der liberal eingestellte Prinz Max von Baden zum Reichskanzler eines Kabinetts ernannt, in dem neben dem Zentrum und der Fortschrittspartei auch die SPD vertreten war. Es folgten Reformen, die Deutschland gleichsam über Nacht in eine parlamentarische Monarchie verwandelten. Die Unruhe in der Masse der kriegsmüden Bevölkerung nahm aber weiter zu und konnte auch mit Maßnahmen wie der Freilassung Liebknechts am 23. Oktober nicht gedämpft werden. Im Gegenteil: Bis zu 20.000 Menschen empfingen ihn bei seiner Ankunft in Berlin. Meyer hatte Liebknechts Frau Sophie von der bevorstehenden Entlassung ihres 155 Meyer: Spartakusbriefe, S.-470. 156 Ottokar Luban: Neue Forschungsergebnisse über die Spartakuskonferenz im Oktober 1918, in: Ulla Plener (Hg.): Die Novemberrevolution 1918/ 19 in Deutschland. Für bürgerliche und sozialistische Demokratie. Allgemeine, regionale und biographische Aspekte, Berlin 2009, S.-68-78, hier S.-69. 157 Zit. nach ebenda, S.-68. 158 Zit. nach ebenda, S.-75. <?page no="90"?> 90 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) Mannes informiert und war mit ihr und ihrem Sohn Robert nach Luckau gefahren, um Liebknecht aus dem Zuchthaus abzuholen. Nach einigen Verzögerungen erreichten sie gemeinsam den Anhalter Bahnhof in Berlin, wo Liebknecht triumphal empfangen wurde. Für die kommenden, stürmischen Wochen sollte Meyer zu Liebknechts engstem Vertrauten und Mitarbeiter werden. 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution Mit der Haftentlassung Liebknechts, der Rückkehr Piecks von der Front und dann der Entlassung Luxemburgs aus dem Gefängnis rückte Meyer - der zuvor monatelang die zentrale Figur im illegalen Apparat der Spartakusgruppe gewesen war - wieder stärker in den Hintergrund, übernahm aber weiterhin wichtige Leitungsaufgaben. Auch in die unmittelbare Vorbereitung der Revolution war Meyer intensiv involviert. Bereits am 26. Oktober 1918 war er - zusammen mit Liebknecht und Pieck - in den Vollzugsausschuss der Berliner Revolutionären Obleute eingetreten, in dem Vertreter der Spartakusgruppe und der USPD mit den Führern der Obleute zusammenkamen. In den kommenden zwei Wochen war der Vollzugsausschuss das zentrale Gremium zur Vorbereitung der Revolution in Berlin. Die Zusammenarbeit mit den Obleuten hatte für die Spartakusgruppe höchste strategische Priorität, gerade auch in Anbetracht ihrer eigenen Schwäche. Noch am 5. November schrieb Levi an Luxemburg, dass „uns ja augenblicklich jeder Mechanismus fehlt, der selbstständig Massen in Bewegung setzen könnte.“ 159 Eben einen solchen Mechanismus boten die in den Betrieben stark verankerten Obleute, die während des Krieges zwei Massenstreiks in Berlin angestoßen hatten. Sie waren für die Spartakisten der notwendige Hebel, um eine revolutionäre Entwicklung in der Hauptstadt in Gang setzen zu können. Die traditionell konfliktträchtige Beziehung zwischen Spartakisten und Obleuten blieb allerdings gespannt. Richard Müller, einer der führenden Obleute, erinnerte sich: „Nach der Meinung Liebknechts und der anderen Spartakusleute musste die Arbeiterschaft ständig in Aktionen, ständig in Kampfhandlungen gehalten werden. Demonstrationen, Streiks, Zusammenstöße mit der Polizei, sollten den revolutionären Elan der Masse anfachen und bis zur Revolution steigern. [...] Die Erfahrungen der russischen Revolution wurden zur Begründung herangezogen.“ 160 Den Obleuten erschien diese Taktik gefährlich und voluntaristisch. Sie wollten den richtigen Augenblick abwarten und keinesfalls zu früh losschlagen. Außerdem hielten sie die bisherige Bewaffnung der Arbeiter für unzureichend. Am Vormittag des 2. November diskutierten Obleute und Spartakisten schließlich in einer Neuköllner Gastwirtschaft den Aufstandsplan für die Hauptstadt: Von den Großbetrieben am Stadtrand aus sollten bewaffnete Demonstrationszüge zu den Kasernen ziehen und von dort aus - gemeinsam mit überlaufenden Soldaten und mit weiteren Waffen ausgestattet - die Machtzentren in der Innenstadt besetzen. Als Termin des Aufstandes legten sie den 4. November fest. 159 Zit. nach ebenda, S.-77. 160 Zit. nach Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008, S.-64. <?page no="91"?> 91 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution Noch am Abend desselben Tages traf sich der Vollzugsausschuss in der Arbeiterbildungsschule der USPD in der Schicklerstraße. Liebknecht, Meyer und Pieck kämpften dafür, an dem Beschluss des Vormittags festzuhalten, am 4. November mit den Aktionen zu beginnen. Denn einigen Obleuten, hauptsächlich aus den kleineren Betrieben, waren Bedenken über die tatsächliche Revolutionsbereitschaft der Massen gekommen. Nach endlosen Debatten wurde morgens um 3 Uhr mit knapper Mehrheit der geplante Aufstandstermin auf den 11. November verschoben. Während in Berlin die beiden wichtigsten Formationen der revolutionären Linken - Spartakusgruppe und Revolutionäre Obleute - noch um den Revolutionstermin rangen, brach die Revolution in anderen Teilen des Reiches einfach aus. Ausgangspunkt war eine zunächst niedergeschlagene Meuterei auf einigen Schiffen der Hochseeflotte am 29. und 30. Oktober. Die Revolte griff schnell auf andere Schiffe über. Am 4. November bemächtigten sich aufständische Matrosen der Stadt Kiel, verbrüderten sich mit den Werftarbeitern und bildeten einen Arbeiter- und Soldatenrat. Von der Ostseestadt aus erfasste die Revolution in den folgenden Tagen erst ganz Norddeutschland, um dann auf immer mehr Teile des Reiches überzugreifen. Am 7. November begann, unabhängig davon, auch in München der Aufstand. Nur in Berlin blieb es merkwürdig ruhig, die alten Autoritäten fühlten sich sogar stark genug, noch an jenem 7. November eine Feier zum Jahrestag der Russischen Revolution zu sprengen. Starke Militärpräsenz prägte das Straßenbild am folgenden Tag. Hinter den Kulissen drängten die Spartakus-Vertreter in den jetzt fast täglich stattfindenden Geheimsitzungen mit den Obleuten darauf, den Aufstandstermin vorzuverlegen. Liebknecht notierte: „Allen Forderungen auf Beschleunigung der Aktion wird seit dem 3. November von Däumig, Barth, Müller usw. stereotyp entgegnet: Jetzt sei alles auf den 11. November vorbereitet, es sei technisch unmöglich, die Revolution früher zu machen! Alle Proteste L.[iebknecht]s gegen diese grob-mechanische Auffassung prallten ab, bis die objektiven Verhältnisse die superklugen Revolutionsfabrikanten überrannten.“ 161 Erst als sich die Revolution bereits im ganzen Reich ausgebreitet hatte, gaben die Obleute dem Drängen nach. Am 8. November fand im Reichstag eine gemeinsame Sitzung des Vollzugsausschusses der Obleute mit dem USPD-Vorstand statt, an der Meyer, nicht aber Liebknecht, teilnahm. In diese Sitzung platzte die Nachricht, dass der führende Obmann Ernst Däumig, der die Aufstandspläne bei sich trug, festgenommen worden sei. Da mit einer umfassenden Verhaftungswelle zu rechnen war, musste nun augenblicklich gehandelt werden. Einstimmig beschlossen die Anwesenden, die Berliner Arbeiterschaft für den Morgen des 9. November zum Losschlagen aufzufordern. Der Vollzugsrat verabschiedete einen kurzen Aufruf, der „die sozialistische Republik mit allen ihren Konsequenzen“ forderte, ohne allerdings weitere Schritte zu benennen. Aus den Reihen des Spartakusbundes erschien am selben Tag ebenfalls ein Aufruf: „Arbeiter und Soldaten! Nun ist eure Stunde gekommen. Nun seid ihr nach langem Dulden und stillen Tagen zur Tat geschritten. Es ist nicht zuviel gesagt: In diesen Stunden blickt die Welt auf euch und haltet ihr das Schicksal der Welt in euren Händen. […] Jetzt, da die Stunde des Handelns gekommen ist, darf es kein Zurück mehr geben. Die gleichen ‚Sozialisten‘, die vier Jahre lang der Regierung Zuhälterdienste geleistet haben […] setzen jetzt 161 Zit. nach ebenda, S.-69. <?page no="92"?> 92 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) alles daran, um euren Kampf zu schwächen, um die Bewegung abzuwiegeln. […] Von der Zähigkeit und dem Erfolg eures Kampfes […] hängt der Erfolg des Proletariats der ganzen Welt ab. Soldaten! Handelt wie eure Kameraden von der Flotte, vereinigt euch mit euren Brüdern im Arbeitskittel. Lasst euch nicht gegen eure Brüder gebrauchen, folgt nicht den Befehlen der Offiziere, schießt nicht auf die Freiheitskämpfer.“ Sechs Forderungen waren in dem Papier formuliert: „1. Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen. 2. Aufhebung aller Einzelstaaten und Beseitigung aller Dynastien. 3. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten […]. 4. Sofortige Aufnahme der Beziehungen zu den übrigen deutschen Arbeiter- und Soldatenräten. 5. Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte. 6. Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, insbesondere mit der russischen Arbeiterrepublik.“ Die Erklärung schloss mit den Worten: „Hoch die sozialistische Republik! Es lebe die Internationale! “ 162 Anders als im Aufruf des Vollzugsrates wurden hier konkrete Forderungen genannt. Besonders wichtig waren dabei die, die eine auf Arbeiter- und Soldatenräte gestützte Regierung abzielten. Das Papier trug lediglich zwei Unterschriften: die Liebknechts und die Meyers. Das unterstreicht, wie bekannt der ehemalige „Vorwärts“-Redakteur Meyer zumindest in der Berliner Arbeiterschaft mittlerweile war. Wahrscheinlich ist der Aufruf sogar nur von Meyer verfasst und von ihm in Liebknechts Namen unterschrieben worden, was dieser nachträglich billigte. 163 Am Morgen des 9. November erreichte die Revolution endlich auch Berlin: Riesige, teilweise bewaffnete Demonstrationszüge unter roten Fahnen zogen aus den Außenvierteln ins Stadtzentrum. Aus den meisten Kasernen, an denen sie vorbeikamen, schlossen sich ihnen Soldaten an. Nur vereinzelt kam es zu Blutvergießen. Mittags erreichten die immer weiter anschwellenden Demonstrationen das Zentrum. Um 12 Uhr mittags ließ Reichskanzler Prinz Max von Baden - ohne eine entsprechende Vollmacht abzuwarten - den Rücktritt Wilhelms II. vom kaiserlichen und königlich preußischen Throne verkünden. Kurz darauf übertrug von Baden das Reichskanzleramt an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Auch die SPD rief jetzt - als die Bewegung auf der Straße längst Fakten geschaffen hatte - zum Generalstreik für die „soziale Republik“ auf. Währenddessen wurde das Polizeipräsidium gestürmt und die Polizisten entwaffnet. In den frühen Nachmittagsstunden brach der Widerstand einzelner Offiziere, die sich in der Universität und in der Staatsbibliothek verschanzt hatten, zusammen. Fast zeitgleich proklamierten Phillip Scheidemann die „Republik Deutschland“ und Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Ernst Meyer war an diesem 9. November unermüdlich im Einsatz und an den verschiedensten Schauplätzen präsent. Bereits am frühen Morgen nahm er in der Mühlenstraße in Schöneberg an einer Besprechung des Vollzugsausschusses teil. Von dort aus eilte er mit Liebknecht und Hermann Duncker in die Innenstadt, wo sie von Autodächern aus zu 162 DuM Bd.II/ 2, S.-324 f. 163 Vgl. Kommunistische Partei Deutschlands (Hg.): Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929, Reprint Frankfurt(M) 1970, S.-204. <?page no="93"?> 93 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution den Massen sprachen. Gemeinsam mit Paul Levi und Käte Duncker beteiligte sich Meyer dann gegen 13 Uhr an der Befreiung von inhaftierten politischen Gefangenen aus dem Gefängnis Berlin-Moabit. Unter ihnen befand sich auch Leo Jogiches. Anschließend eröffnete er die nach der Ausweisung des russischen Botschafters am 5. November geschlossene ROSTA neu. Über diesen Vorgang schrieb er später: „Am 9. November ging ich nachmittags […] in das Polizeibüro in der Wilhelmstrasse, wo die Schlüssel zur Rosta aufbewahrt wurden. Ich entfernte die noch vorhandenen Polizeisiegel an den Türen der Rosta und begann sofort wieder die Übermittlung von Nachrichten an die Presse. Eines der ersten Dokumente war der deutsch-japanische Geheimvertrag, den mir Joffe am Tage vor seiner Ausweisung zwecks Publikation übergeben hatte.“ 164 Währenddessen wurde unter der Leitung Hermann Dunckers der „Berliner Lokal-Anzeiger“, ein zum Hugenberg-Konzern gehörendes, politisch weit rechts stehendes Blatt, von einem Trupp revolutionärer Arbeiter und Soldaten besetzt. Duncker erinnerte sich: „Ich hatte von der Druckerei aus sofort mir telefonisch erreichbare Freunde aus der Spartakusleitung herbeigerufen. Dr. Ernst Meyer kam als erster und übernahm die Redaktion.“ 165 Erstmals seit seiner Entlassung als Redakteur des „Vorwärts“ konnte Meyer nun wieder legal in diesem Beruf arbeiten. Die neue Zeitung trug den Namen „Rote Fahne“ und erschien am Sonntag, den 10. November, in einer Auflage von 15.000 Stück. Sie wurde auch an alle Abonnenten des „Lokal-Anzeigers“, darunter verschiedene Frontgarnisonen, verschickt. Die Titelseite schmückte ein Aufruf des Vollzugsrates zur Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, die sich am kommenden Tag im Zirkus Busch zur Konstituierung einer provisorischen Regierung versammeln sollten. Weiterhin brachte die Zeitung auf der Titelseite die Notiz, dass der bisherige „Lokal-Anzeiger“ „von uns erst in später Abendstunde übernommen wurde“ und daher eine Reihe bereits gesetzter Artikel enthalte, die nicht die Meinung der neuen Redaktion wiedergäben. Außerdem findet sich ein redaktioneller Beitrag auf der Titelseite, der die Ausrichtung der Spartakusgruppe unterstrich: „Diese Revolution muss nicht nur hinwegschwemmen alle Reste und Ruinen des Feudalismus, sie muss nicht nur brechen alle Zwingburgen des Junkertums, […] ihre Losung heißt nicht nur Republik, sondern sozialistische Republik! […] Aus den Trümmern und dem Schutt des Weltkrieges muss das revolutionäre, siegreiche Proletariat die neue Wirtschaft errichten. Dazu bedarf es der politischen Macht und der wirtschaftlichen Kräfte. […] Arbeiter und Soldaten! Organisiert euch, befestigt eure Macht! Behaltet eure Waffen! “ An verschiedenen Stellen warnte die neue Zeitung ihre Leser, sich nicht vorschnell des Sieges zu freuen, und rief sie auf, wachsam und misstrauisch zu sein: „Arbeiter, Soldaten, bleibt auf der Hut! “ Weitere Artikel zählten die nächsten notwendigen Schritte zur Befestigung der Rätemacht auf oder griffen die SPD scharf an: „Vier lange Jahre lang haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse ‚das Vaterland‘ verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte: jetzt, wo der deutsche Imperialismus zusammen- 164 Brief Ernst Meyer an die Zentrale der KPD, 01.08.1925, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 334f, hier Bl. 335. Meyer behielt die Leitung der ROSTA bis zu ihrer endgültigen Schließung während des Januar-Aufstandes Anfang 1919. 165 Eine Episode aus den Novembertagen. Erinnerungen von Hermann Duncker an den 9. November 1918, in: SAPMO-BArch, NY 4445/ 30, Bl. 16. <?page no="94"?> 94 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) gebrochen ist, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist und suchen, die revolutionären Energien der Massen zu ersticken.“ 166 Die von Kiel ausgehende revolutionäre Bewegung hatte mit dem 9. November nicht nur den Sturz des Kaisers und in direkter Folge davon am 11. November den Abschluss eines Waffenstillstandes gebracht. Sie erkämpfte auch das vorläufige Ende des alten Staatsapparates und der bisherigen Gesellschaftsordnung. Überall im Reich lag die Staatsgewalt nun in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten, die davon in ganz unterschiedlicher Form Gebrauch machten. Organisierte Revolutionäre stellten allerdings innerhalb der revolutionären Bewegung eine kleine Minderheit dar. In Berlin verfügten sie, vor allem durch die Revolutionären Obleute, immerhin über den Ansatz einer Massenbasis. Die Spartakisten waren zwar fast überall am Umsturz beteiligt, hatten aber weiterhin keine Struktur und keine ausreichende Verankerung, um die Bewegung real anleiten und führen zu können. Die USPD spielte lange eine schwankende, gerade in Berlin auch eher bremsende Rolle, verfügte aber reichsweit über eine Massenbasis und vertrat eine sozialistische Orientierung. Sie strebte in den folgenden Monaten eine Kombination aus Rätemacht und Nationalversammlung an. Die SPD war erst unter dem Druck der Ereignisse auf den längst rollenden Zug der Revolution aufgesprungen. Ihre weiterhin auf Integration in die bestehende Gesellschaft und deren prinzipiellen Erhalt ausgerichtete Perspektive gab sie selbst im Augenblick des Zusammenbruchs des kaiserlichen Regimes nicht auf. Sie strebte eine auf den Parlamentarismus gestützte demokratische Republik an - ihre Führungsfiguren hassten die Revolution „wie die Sünde“, wie Ebert für sich später freimütig bekannte. Als sie den Umsturz nicht mehr verhindern konnte, versuchte die SPD, sich an dessen Spitze zu stellen, rief zum Generalstreik auf und proklamierte die Republik. Von Anfang an lag ihre Perspektive aber nicht auf einer radikalen sozialen Demokratisierung der Gesellschaft, was eine konsequente Entfernung von Monarchisten aus dem Staatsapparat und eine Sozialisierung zumindest der Schlüsselindustrien erfordert hätte. Dafür wäre ein Bündnis mit den radikaleren Kräften notwendig gewesen. Stattdessen versuchte sie, im Bündnis mit den alten Mächten die Radikalen zurückzudrängen und eine das Privateigentum nicht infrage stellende bürgerliche Republik mit sozialer Gesetzgebung durchzusetzen. Dieser Kurs sollte die künftige Weimarer Republik von Anfang an mit der hohen Hypothek eines antirepublikanischen Beamten-, Justiz- und Militärwesens belasten. Ausdruck dessen war der gegen eine Radikalisierung der Revolution gerichtete Ebert-Groener-Pakt zwischen SPD-Parteivorstand und der Obersten Heeresleitung am 10. November, sekundiert vom Stinnes-Legien-Pakt zwischen Industriekapitänen und Gewerkschaften. Welchen Weg Deutschland künftig gehen würde, war aber in den Wochen nach dem 9. November offen. Ob sich eine bürgerliche „Republik Deutschland“ oder die „freie sozialistische Republik“ durchsetzen würden, war noch nicht eindeutig absehbar. Bereits am 10. November, einem Sonntag, trat um 17 Uhr eine Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch zusammen. Die Delegierten waren in den Morgenstunden desselben Tages in den Betrieben und Kasernen gewählt worden. Pathetisch titelte der „Vorwärts“ an diesem Tag: „Kein Bruderkampf! “. Diese Parole traf die Stimmung der Massen. Doch sie sollte - im Namen der „Einheit“ - auch jede Kritik 166 Rote Fahne, Jg. 1, Nr. 2, 10.11.1918. <?page no="95"?> 95 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution an der Politik der SPD in den vergangenen vier Jahren abwehren und somit radikaler Agitation entgegengenwirken. Während die SPD ihren Apparat in Bewegung setzte, um in den Betrieben und den Kasernen die Wahl von ihren Kandidaten (und Kandidatinnen, denn auch Frauen wurden mit dem 9. November endlich wahlberechtigt und wählbar) zu gewährleisten, verteilten Spartakus-Anhänger ein Flugblatt mit der klaren Aufforderung: „Es darf keine Stimme den Regierungssozialisten gegeben werden. Sie haben vier Jahre lang die Revolution verraten und werden es weiter tun.“ Spartakus stellte aber nur wenige der knapp 3.000 Delegierten, weder Rosa Luxemburg noch Karl Liebknecht hatten ein Mandat erhalten. Ernst Meyer nahm an der Versammlung teil, wahrscheinlich aber auch nur als Beobachter. Die Vollversammlung beschloss, die Regierungsgewalt einem „Rat der Volksbeauftragten“ zu übertragen, der aus je drei SPD- und drei USPD-Mitgliedern bestand. Ihm zur Seite wurde ein provisorischer Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte gestellt. Die Spartakusgruppe weigerte sich, mit den Rechtssozialisten zusammenzuarbeiten und in den Vollzugsrat einzutreten. Weiterhin erklärte die Vollversammlung Deutschland zur sozialistischen Republik, in der die Arbeiter- und Soldatenräte die Träger der politischen Macht waren. Noch am Abend desselben Tages kam die Spartakusführung (einschließlich der endlich aus dem Gefängnis entlassenen Rosa Luxemburg, die gegen 22 Uhr Berlin erreichte) in den Räumen des besetzten „Berliner Lokal-Anzeigers“ zusammen. Trotz der Freude, dass sie nun endlich wieder alle beisammen waren, herrschte eine sehr nachdenkliche Stimmung. Auch wenn die Revolution vorerst erfolgreich gewesen war: Sie fürchteten, dass sich die Konterrevolution erheben würde. Ihnen war bewusst, dass der Spartakusgruppe die Massenorganisation fehlte, „mit der sie nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Reich ihre Aufgabe hätte erfüllen können“. 167 Am folgenden Tag hielt die Spartakusgruppe die erste legale Konferenz ihrer Geschichte im Hotel Excelsior am Anhalter Bahnhof ab, in dem Luxemburg, Liebknecht, Levi und Meyer vorübergehend Quartier genommen hatten. Tatsächlich war die lange Zeit völlig hoffnungslos erscheinende Perspektive, der sich Meyer und die Spartakusgruppe verschrieben hatten, Wirklichkeit geworden: eine Arbeiter- und Soldatenrevolution hatte den Krieg beendet, den Kaiser gestürzt und die Frage nach einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt. Die Aussichten einer solchen Umgestaltung waren aber erkennbar prekär, und entsprechend wenig Zeit blieb den Versammelten, die erzielten Erfolge gebührend zu feiern. Zu groß, zu drängend waren die Aufgaben, vor denen sie nun standen. Die Konferenzteilnehmer beschlossen, die Gruppe fester zu organisieren und in „Spartakusbund“ umzubenennen. Eine Mehrheit der Anwesenden sprach sich dafür aus, vorerst weiter in den Reihen der USPD zu wirken, um die sich an ihr orientierenden Arbeitermassen besser erreichen zu können. Der Spartakusbund solle aber in der USPD als geschlossene Propagandavereinigung auftreten und auch eigene Mitgliedskarten ausgeben. Als nächste Aufgaben wurden die Herausgabe einer Tageszeitung, einer wissenschaftlichen Wochenzeitung, einer Jugendzeitung, einer Frauenzeitung und eines Blattes für Soldaten 167 Wilhelm Pieck: Erinnerungen an die Novemberrevolution in Berlin. Nach Tagebuchaufzeichnungen 1920, in: Pieck, Wilhelm: Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 1: August 1904 bis Januar 1919, hg. vom IML, Berlin (Ost) 1959, S.-412-482, hier S.-455. <?page no="96"?> 96 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) festgelegt. Es sollte ein Zentralbüro mit verschiedenen Sekretariaten aufgebaut und ein „Roter Soldatenbund“ geschaffen werden. Der Spartakusbund wählte sich eine dreizehnköpfige Zentrale, der Willi Budich, Hermann und Käte Duncker, Hugo Eberlein, Leo Jogiches, Paul Lange, Paul Levi, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Wilhelm Pieck, August Thalheimer und Ernst Meyer angehörten. Luxemburg und Liebknecht sollten künftig die Redaktion der „Roten Fahne“ leiten, Meyer ihr Stellvertreter werden. Allerdings kam dem Spartakusbund am Tage seiner Gründung sein Zentralorgan vorerst wieder abhanden, wie sich Lotte Pulewka erinnert: „An diesem Tag bemerkte ich, dass das Gebäude des Lokal-Anzeigers nicht wie sonst von Soldaten des Arbeiter- und Soldatenrates bewacht war. Ich ging eine alte Wendeltreppe hinauf über einen Korridor, machte vorsichtig die Tür zum Konferenzsaal auf, und schon hatte mich jemand von innen bei der Hand gepackt und in den Saal gezerrt. Dieser Konferenzsaal war fast völlig von einem großen ovalen Tisch und den dazugehörigen Stühlen ausgefüllt. […] Im Saal war ein furchtbarer Lärm, alle Anwesenden schrien durcheinander. Ich sah auch unsere Genossen bei einander stehen: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht (er war blass, hager, übermüdet), Käte und Hermann Duncker, Dr. Ernst Meyer, Lotte Haenschel und andere. Außer ihnen waren im Saal einige vornehm gekleidete, gut genährte Herren und unsere Wache, die völlig betrunken war. Mit Hilfe von Ernst Meyer stieg eine kleine, zarte Frau auf den Tisch, sie hatte ein liebes, kluges Gesicht. Ich war erschüttert: Zum ersten Mal sah ich Rosa Luxemburg. […] Sie sagte: ‚[…] Ich empfehle, dass wir eine Kommission bilden, der ein Mitglied der alten Redaktion, eins der neuen und ein Mann von der Wache angehören. Sie sollen zum Reichstag gehen, dort Klarheit schaffen und dann Bericht erstatten.‘ Einer der Soldaten ergriff die Initiative, stimmte Rosa Luxemburg zu und sagte zu Ernst Meyer: ‚Du fährst mit und die anderen Genossen von der Roten Fahne werden so lange eingesperrt und bewacht.‘“ 168 Diese Episode wirft ein bezeichnendes Bild auf die Deutsche Revolution und auf die Schwäche des Spartakusbundes: Am Tag drei der Revolution kann ein politisch rechtsstehender Verleger mit Hilfe eigentlich „revolutionärer“ Soldaten die bekanntesten radikalen Revolutionäre kurzerhand festsetzen und ihnen das requirierte Haus wieder abnehmen. Der Vollzugsrat der Berliner Räte stellte sich zwar auf die Seite der Spartakisten und beschloss am 12. November: „Dem Scherl-Verlag wird vom Vollzugsrat des A.-u. S.-Rates die Verpflichtung auferlegt, die täglich erscheinende Zeitung ‚Die Rote Fahne‘ unter der Redaktion von Frau R. Luxemburg (Vertreter Meyer) zu drucken und die für die Herstellung und Verbreitung erforderlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.“ 169 Der Verlag weigerte sich aber, der Anordnung Folge zu leisten. Die „Vereinigung Großstädtischer Zeitungsverleger“, der der Scherl-Verlag angehörte, wandte sich protestierend an Ebert und drohte, die Verlage würden ihr Vertrauen in die neue Regierung verlieren, wenn diese nicht sofort in ihrem Interesse handele. Darauf wurde der Beschluss des Vollzugsrates zurückgezogen - ebenfalls ein bezeichnender Vorgang. Es sollte eine Woche vergehen, bis der Spartakusbund endlich eine regelmäßige Tageszeitung herausbringen konnte. Vor welchen Schwierigkeiten die Redaktion stand, illustriert 168 SAPMO-BArch, SgY30/ 0738 (Erinnerungsmappe Lotte Pulewka), Bl. 7 f. 169 Gerhard Engel, Bärbel Holtz, Ingo Materna: Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/ 19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongress, Berlin 1993, Dok. 23, S.-40. <?page no="97"?> 97 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution die Antwort Rosa Luxemburgs an Wolfgang Fernbach auf dessen Angebot zur Mitarbeit an der Zeitung: „Was aber sehr nötig und nützlich, sind Notizen, kurze Entrefilets aktueller Natur. Darüber müsste man sich von Fall zu Fall verständigen. Aus allen diesen Gründen wäre es nötig, dass Sie nächstens mal auf die Redaktion kommen und mit uns, namentlich mit Genosse Meyer, der Sekretär der Redaktion ist, sprechen oder mit Genosse Levi, der dieses Ressort meist selbst bearbeitet, Rücksprache nehmen. Freilich haben wir vorläufig nicht einmal Redaktionsräume, das soll alles noch beschafft und geordnet werden. Doch ich hoffe, bald wird alles klappen.“ 170 Die Redaktion fand schließlich Unterschlupf in den Räumen des Zentralbüros des Spartakusbundes, einer siebenräumigen Etage in der Wilhelmstraße 114. Diese erwies sich jedoch bald als zu klein, weswegen das Zentralbüro in die Friedrichstraße 217, den von Meyer angemieteten früheren Sitz der ROSTA, verlegt wurde. Die Redaktion blieb in der Wilhelmstraße, außerdem wurden für sie zusätzlich Räume im Hotel „Askanischer Hof“ in der Anhalter Straße gemietet. Die vielfältigen Tätigkeiten des Spartakusbundes in den Wochen nach der Novemberrevolution fasste Meyer später folgendermaßen zusammen: „Der Sturz der Monarchie in Deutschland gab dem Spartakusbund die breitesten Entfaltungsmöglichkeiten. Er setzte der bereits am 9. November von Ebert ausgegebenen Aufforderung der Ablieferung der Waffen die Parole der Bewaffnung des Proletariats und der Entwaffnung der Bourgeoisie entgegen. Er kritisierte auf Schritt und Tritt die Unzulänglichkeiten der deutschen Revolution, die Schwankungen der Unabhängigen und das immer deutlicher werdende Bündnis zwischen der SPD und der bewaffneten Gegenrevolution. Er begann gleichzeitig einen eigenen legalen Parteiapparat aufzubauen und arbeitete unermüdlich an der ideologischen Aufklärung der Arbeiter, besonders durch die anfangs im von revolutionären Arbeitern besetzten Berliner ‚Lokalanzeiger‘ herausgegebene ‚Rote Fahne‘. Gleichzeitig entstand in der Provinz eine Reihe von kommunistischen Tageszeitungen, ebenfalls meist in gewaltsam besetzten bürgerlichen Druckereien. Aber dem starken Einfluss des Spartakusbundes in den Kämpfen des Wintern 1918/ 19 entsprach nicht sein schwacher organisatorischer Apparat.“ 171 Im Dezember kam es zu massiven Spannungen zwischen Spartakus-Anhängern, die unter der Parole „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ auf eine Fortführung der Revolution drängten, und der sich immer enger mit dem alten Militär verbündenden SPD. Wiederholt schlug dieser Konflikt in gewalttätige Zusammenstöße um. Am 6. Dezember griffen rechtsgerichtete Soldaten eine Demonstration des „Roten Soldatenbundes“ (RSB) an, 14 Teilnehmer kamen ums Leben. In den folgenden zwei Tagen mobilisierte der Spartakusbund erfolgreich zu seinen ersten Massenprotesten. Nach eigenen Angaben nahmen am 8. Oktober 150.000 Menschen an einer Kundgebung im Treptower Park mit anschließender Demonstration teil. Tags darauf durchsuchte die Polizei die Redaktion der „Roten Fahne“ nach Waffen. Einen vorläufigen Höhepunkt der Auseinandersetzungen in Berlin bildete am 24. Dezember der Angriff von Regierungstruppen gegen die Volksmarinedivision, die ihren Abzug aus der Hauptstadt verweigert und den Sozialdemokraten Otto Wels 170 Brief Rosa Luxemburg an Wolfgang Fernbach, [Berlin], 18.11.1918, in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5, 2. Aufl., Berlin 1987, S.-416. 171 Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-679. <?page no="98"?> 98 3 Mit Spartakus gegen den Krieg (1914-1918) verhaftet hatte. Erst nach dem Eintreffen großer Arbeiterdemonstrationen, die sich mit der Volksmarinedivision solidarisierten, gaben die Regierungstruppen auf und ein Kompromiss wurde gefunden. Spartakusbund und Revolutionäre Obleute mobilisierten zu einer großen Protestkundgebung am 25. Dezember, in deren Folge radikale Arbeiter die Redaktion des „Vorwärts“ vorübergehend besetzten. Ernst Meyer dürfte an den meisten der hier genannten Demonstrationen teilgenommen, auf einigen gesprochen und viele von ihnen in der Spartakuszentrale mit geplant haben. Eine genaue Rekonstruktion seines Anteils lassen fehlende Quellen allerdings nicht zu. In den Wochen nach der Novemberrevolution hatte er zudem die Herausgabe von Lenins Standardwerk „Staat und Revolution“ verantwortet. Weiterhin war er als Beauftragter der Zentrale für den Pressedienst an den Versuchen beteiligt, kommunistische Zeitungen in der Provinz aufzubauen. Mitte Dezember versammelten sich die Vertreter der lokalen Räte aus ganz Deutschland in Berlin zum ersten Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte. Die wichtigste Frage war die nach der künftigen Staatsform: Sollte eine verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt werden oder sollte alle Macht bei den Arbeiter- und Soldatenräten liegen? Der Spartakusbund versuchte, den Kongress durch Massendemonstrationen für folgende Forderungen zu beeinflussen: „1. Deutschland einige sozialistische Republik. 2. Die ganze Macht den A.- und S.-Räten. 3. Der vom Zentralrat gewählte Vollzugsrat der A.- und S.-Räte als höchstes Organ der Gesetzgebung und Regierungsgewalt 4. Beseitigung des Ebertschen Rats der Volksbeauftragten 5. […] Entwaffnung der Konterrevolution. Bewaffnung des Proletariats […] 8. Sofortiger Aufruf des Zentralrats an die Proletarier aller Länder zur Bildung von A.- und S.-Räten zwecks Durchführung der Aufgaben der sozialistischen Weltrevolution.“ 172 Nach Angaben der „Roten Fahne“ beteiligten sich eine Viertelmillion Demonstranten. Aber die Konferenz war sozialdemokratisch dominiert, eindeutig zur revolutionären Linken zählten lediglich 21 der 499 Delegierten. Die Versammlung beschloss ihre faktische Selbstentmachtung und votierte für die Abhaltung von Wahlen zu einer Nationalversammlung. Für die Gruppe um Rosa Luxemburg bedeutete dies eine große Niederlage: Selbst die Vertreter der Räte vertraten mehrheitlich nicht die Perspektive der Rätemacht, sondern die einer parlamentarischen Republik. Die „Rote Fahne“ titelte am 20. Dezember: „Selbstmord des Rätekongresses“ und beschimpfte die Delegierten als „Eberts Mamelucken“. Ein weiteres Mal hatte sich die schwache Verankerung des Spartakusbundes offenbart, der nur wenige Delegierte stellte und den Kongress nicht in seinem Sinne beeinflussen konnte. Diese Erfahrung verlieh den Diskussionen Auftrieb, ob die Gruppe nicht organisatorisch mit der USPD brechen und sich als eigenständige Partei konstituieren sollte. Schon am 14. Dezember hatte Rosa Luxemburg in der „Roten Fahne“ einen zuvor in der Führung diskutierten und gebilligten Programmentwurf des Spartakusbundes veröffentlicht, der die bisher in der Revolution vertretenen Positionen der Gruppe zusammenfasste. Er endete mit den Worten: „Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewussteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium 172 Die Rote Fahne, 16.12.1918. <?page no="99"?> 99 3.12 Wichtiger Akteur der Novemberrevolution der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.“ Am 22. Dezember beschloss die Zentrale des Spartakusbundes, eine Reichskonferenz für den 30. Dezember einzuberufen. Hier sollten die Krise der USPD, die eigene Stellung zur Nationalversammlung und andere Fragen diskutiert werden. Gleichzeitig richtete sie einen Brief an die USPD-Führung, in der sie die Einberufung eines Parteitages zur Klärung der strittigen Fragen, vor allem über die Beteiligung der Unabhängigen an der Reichsregierung, forderte. Doch die USPD lehnte ab. Darauf beschloss die Spartakuszentrale, die Reichskonferenz um einen Tag auf den 29. Dezember vorzuverlegen und dort bereits über die Gründung einer eigenen Partei zu diskutieren. Die Voraussetzung für eine solche Konferenz hatte Leo Jogiches bereits seit einigen Wochen durch verstärkte Kontakte zu den Gruppen in den verschiedenen Teilen des Reiches zu schaffen versucht. Auch Meyer besuchte im Dezember Spartakus-Gruppen außerhalb Berlins, referierte in Danzig und agitierte vermutlich auch in Ostpreußen. Am 24. Dezember beschlossen die sich jetzt Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD) nennenden Linksradikalen aus Bremen, Hamburg und anderen Städten ihren Anschluss an den Spartakusbund. Die nun tagende Reichskonferenz sollte eine vierjährige Entwicklung zum Abschluss bringen, an deren Anfang eine Besprechung in Luxemburgs Wohnung gestanden hatte und in deren Verlauf sich aus den Linksradikalen der Vorkriegs-SPD eine eigenständige kommunistische Strömung herausbildete. Es war eine Entwicklung, an der Ernst Meyer einen wichtigen Anteil hatte und auch künftig haben sollte. <?page no="101"?> 101 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) 4.1 Auf dem Gründungsparteitag Vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919 kamen 127 Delegierte aus 56 Orten im Preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin zusammen und gründeten eine neue Partei: die Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). „Der Gründungskongress der KPD war“, sollte Ernst Meyer rückblickend schreiben, „infolge der stürmischen Tagesereignisse so gut wie gar nicht vorbereitet. Die meisten Delegierten waren Vertrauensleute kleiner lokaler Gruppen. Eine feste, einheitliche Ideologie fehlte vollkommen“. 1 Auf der Versammlung war aber, wie sich Hermann Duncker erinnert, „großer Enthusiasmus“ zu verspüren. „Es herrschte die Freude, dass alle zusammen waren, die sich lange nicht gesehen hatten.“ 2 Meyer eröffnete den Parteitag und gab einen Überblick über die Entwicklung des Spartakusbundes seit dem August 1914. Diese hatte bis zum November 1918 weitgehend in der Illegalität stattgefunden und dürfte daher vielen Anwesenden bislang nur in Ausschnitten bekannt gewesen sein. Erstmals trat Meyer hier als Historiker der von ihm mitgeprägten Gruppe auf, deren Dokumente er in den folgenden Jahren veröffentlichen und deren Legitimität und Erbe er später in zahlreichen Artikeln verteidigen sollte. Auf dem Parteitag zeigte sich mit aller Deutlichkeit, wie unterschiedlich die politischen Positionen in der neu entstehenden Organisation waren. „Utopisten, Anarcho-Syndikalisten, vom beispiellosen Sieg der Bolschewiki Berauschte, Ultraradikale, die ‚in der Aktion, durch die Aktion und wegen der Aktion‘ (Levi) zu Spartakus gestoßen waren, standen gegen die Kerngruppe von revolutionären, humanistischen Marxisten, deren Ziel die sozialistische Demokratie anstelle der bürgerlichen war“, schreibt die Levi-Biographin Charlotte Beradt. 3 Zur erstgenannten Strömung zählte sicherlich auch die Mehrheit der Internationalen Kommunisten Deutschlands, die auf dem Parteitag ihren Zusammenschluss mit dem Spartakusbund vollzog und von Meyer im Namen der Spartakus-Zentrale begrüßt wurde. Luxemburg und Levi versuchten in ihren Referaten, eine längerfristige Perspektive der Revolution zu entwickeln, den utopischen Radikalismus vieler Delegierter zu dämpfen und ihn in realistischere und zugleich auf die Gewinnung der Massen ausgerichtete Bahnen zu lenken. Dementsprechend trat der von Luxemburg vorgelegte Entwurf für das Parteiprogramm putschistischen Tendenzen entschieden entgegen. „Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes“, hieß es dort. 1 Ernst Meyer: Zur Geschichte der KPD, S.-679. 2 SAPMO-BArch, SgY30/ 0168 (Erinnerungsmappe Hermann Duncker), Bl. 79. 3 Beradt, Charlotte: Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik, Frankfurt (M.) 1969, S.-25. <?page no="102"?> 102 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) „Der Sieg des Spartakusbundes steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution. Er ist identisch mit dem Sieg der großen Millionenmassen des sozialistischen Proletariats.“ 4 Luxemburg wurde mit stürmischem Beifall begrüßt und ihr Programmentwurf fand die Zustimmung der Parteitagsmehrheit. Doch wie sehr die Ansichten in der jungen Partei auseinandergingen, zeigte sich schlagartig in den Debatten über die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung und über das Verhältnis zu den Gewerkschaften. Luxemburg und andere Spartakusführer wollten trotz ihres grundsätzlichen Bekenntnisses zur Rätedemokratie an den Wahlen teilnehmen. Damit vertraten sie eine Minderheitenposition und unterlagen in der entsprechenden Abstimmung. Meyer positionierte sich in dieser Debatte auf der Seite Luxemburgs und argumentierte, die Beteiligung an den Wahlen sei notwendig, „um auch die Kreise, die uns jetzt noch fern stehen, in absehbarer Zeit an uns heranzuziehen“, gerade aus den weniger industrialisierten Gegenden. Denn es müsse um eine Gewinnung von (zumindest proletarischen) Mehrheiten für den Kommunismus gehen: „Man hat uns seit den ersten Tagen der Revolution an vorgeworfen, dass wir die Diktatur einer Minderheit verlangen. Nichts ist falscher als diese Auffassung. Im Gegenteil und mit aller Schärfe muss gesagt werden, was wir wollen: wir wollen eine Herrschaft der Mehrheit, eine Diktatur der Mehrheit.“ In seinem Redebeitrag brachte Meyer auch sein Verhältnis zur innerparteilichen Demokratie deutlich zum Ausdruck: „Es war unsere Stärke bis zum heutigen Tage - und ich hoffe, dass es unsere Stärke erst recht in der Zukunft sein wird -, dass wir nicht in kleinen Konventikeln solche Fragen vorher erledigen, sondern in aller Öffentlichkeit die Angelegenheiten diskutieren. Gerade unsere Partei, die sich an die Aktivität der Masse wendet, kennt keine Fragen, die nicht in den Massen selbst diskutiert werden sollen, bis die Einheitlichkeit der Auffassungen über die Einheitlichkeit der Aktion erzielt worden ist. Gerade das ist unsere Stärke, dass wir das, womit wir an die Öffentlichkeit treten, vor der Öffentlichkeit ohne jeden Rückhalt verhandeln.“ 5 Zuvor hatte er sich entschieden gegen einen Antrag eines Delegierten ausgesprochen, keine Debatte über das Parteiprogramm zu führen und sie an eine Kommission zu verweisen. Meyer erwiderte, die Zentrale lege Wert darauf, die unterschiedlichen Meinungen über den Programmentwurf zu hören. Bereits jetzt nahm er also zu jenen beiden Themen Stellung, die sich bis zu seinem Tod wie ein roter Faden durch seine Tätigkeit in der KPD ziehen sollten: Der Notwendigkeit, die Massen für den Kommunismus zu gewinnen, und der Frage nach Demokratie und Diskussionsfreiheit in einer kommunistischen Partei. Derweil zeigten sich auch in der Debatte über die Gewerkschaften starke Differenzen in der jungen Organisation. Erneut wurde die „ultralinke“ Tendenz vieler Delegierter deutlich. Paul Frölich stieß beispielsweise auf viel Zustimmung, als er ausrief: „Für uns kann es nur eine Parole geben: Heraus aus den Gewerkschaften! “ 6 - und das in einer Zeit, in der die Mitgliedszahlen der Freien Gewerkschaften explodierten. Hatten sie im Jahr 1916 noch knapp unter einer Million Mitglieder, waren es nun fast fünfeinhalb Millionen. Mit solchen Positionen drohte sich die junge Partei von Millionen Arbeitern zu isolieren, die gerade in die Freien Gewerkschaften strömten. Auch vergab sie die Möglichkeit, ihren 4 [Rosa Luxemburg]: Das will der Spartakusbund, in: Protokoll Gründungsparteitag KPD, Anhang, S.-300 f., hier S.-301. 5 Protokoll Gründungsparteitag KPD, S.-213. 6 Protokoll Gründungsparteitag KPD, S.-154. <?page no="103"?> 103 4.1 Auf dem Gründungsparteitag Bekanntheitsgrad im anstehenden Wahlkampf zu steigern und die Nationalversammlung als Bühne zur Propagierung ihrer Ideen zu nutzen. Schon während des Parteitages zeigten sich die, so der Historiker Arthur Rosenberg, „verhängnisvollen Konsequenzen“ 7 dieser Beschlüsse. Denn am Rande fanden Verhandlungen mit Vertretern der Revolutionären Obleute statt, die an einem Beitritt zur neuen Partei interessierten waren. Für die KPD nahmen hieran Liebknecht, Pieck und Meyer teil, die bereits seit dem Oktober 1918 eng mit den Obleuten zusammengearbeitet hatten. Doch es konnte keine Einigung erzielt werden. Die Obleute stellten fünf Bedingungen für ihren Beitritt, unter anderem den Verzicht auf „putschistische Taktiken“. Außerdem verlangten sie, den Beschluss zum Wahlboykott zurückzunehmen und den Zusatz „Spartakusbund“ aus dem Namen der neuen Partei zu streichen. Die Vertreter des Spartakusbundes waren jedoch nicht bereit, auf diese Bedingungen einzugehen und auch nicht auf die geforderte paritätische Besetzung aller Führungsposten. Die Chance, über die Obleute massenhaften Einfluss in der Industriearbeiterschaft Berlins zu erlangen und ein auf dem linken Flügel von SPD und Gewerkschaften geschultes Gegengewicht zu den frisch radikalisierten und häufig „ultralinks“ eingestellten Teilen der Partei zu schaffen, wurde so vertan. In die Zentrale der neuen Partei wählten die Delegierten Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Paul Levi, Ernst Meyer, Hermann und Käte Duncker, Paul Lange, Hugo Eberlein, August Thalheimer und Paul Frölich. Fast alle von ihnen hatten bereits der Spartakusführung angehört, einzig Frölich entstammte den IKD. Damit stand die Führung der jungen KPD in stärkerem Maße als viele der Delegierten des Gründungsparteitages in Kontinuität zum linksradikalen Flügel der Vorkriegs-SPD. Meyer, der den Parteitag eröffnet hatte, hielt auch das Schlusswort: „Die Beschlüsse des Parteitages sind von außerordentlicher Wichtigkeit. Allerdings legen wir […] nicht besonderen Wert auf die Organisation als solche und auf die Form der Organisation, sondern das Wichtigste ist, dass jetzt unter neuen Verhältnissen diese neu geschaffene Organisation alles das in verstärktem, in erweitertem, in verbessertem Maße leistet, was wir bisher innerhalb der USPD oder der andern Organisation haben leisten müssen. Unsere Aufgabe ist […] die Revolution vorwärts zu treiben, sie zu einer wirklich sozialen Revolution zu machen; und wir haben unsere Tagung begonnen und beschließen sie mit dem Gelöbnis, was in unseren Kräften steht, dazu beizutragen, um dieses Ziel zu erreichen: die soziale Revolution in Deutschland und das Aufgehen der sozialen Revolution in der Weltrevolution, die uns den Sieg für immer bringen wird.“ 8 Das ist ein bemerkenswertes Zitat für den Führer einer sich schon bald vollständig dem Leninismus verschreibenden Partei. Schließlich legte Lenin doch immer „besonderen Wert auf die Organisation als solche“ und spaltete bekanntlich 1902 die russische Sozialdemokratie eben über die Frage der „Form der Organisation“. Offensichtlich war Meyer noch stark von Luxemburgs Vorstellungen geprägt, in denen das Verhältnis von Organisation und Spontanität der Massen anders als bei Lenin gedacht wurde. 7 Arthur Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1961, S.-52. 8 Protokoll Gründungsparteitag KPD, S.-291 f. <?page no="104"?> 104 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) Der Gründungsparteitag der KPD verdeutlichte, dass in der Anfangsphase des deutschen Kommunismus verschiedene, zum Teil sogar gegensätzliche Strömungen vorhanden waren. Das belegt, dass in der jungen Partei unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten angelegt waren. Gleichzeitig wurden auf dem Parteitag Fragen aufgeworfen und Tendenzen deutlich, die die Entwicklung der KPD in den folgenden Jahren entscheidend prägen sollten. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften (und anderen reformistischen Massenorganisationen) beschäftigte sie während der gesamten Weimarer Republik. Dabei schwankte sie zwischen den Extremen „Heraus aus den Gewerkschaften“ (vor allem während der „ultralinken“ Phasen 1924/ 25 und ab 1929) und „Heran an die Massen, hinein in die Gewerkschaften“ (etwa in den Zeiten der „Einheitsfrontpolitik“ 1921-23 und 1926/ 27). Besonders in den Anfangsjahren der Partei herrschte ein starkes putschistisches Element unter den Mitgliedern vor, das sich bald auch in der Politik der Partei niederschlug. Der auf dem Gründungsparteitag klar zutage tretende Mangel an geschulten revolutionären Kadern blieb ein Problem der KPD. Umgekehrt sollte die ideologische Heterogenität in den folgenden Jahren ein wesentliches Merkmal der Partei bleiben. Seinen eigenständigen Standort zwischen der alten Sozialdemokratie und dem neu aufkommenden Syndikalismus musste der deutsche Kommunismus erst finden. 4.2 Der unglückliche Aufstand Der jungen Partei war keine politische Atempause zur Konsolidierung gegönnt. In den beiden auf den Gründungsparteitag folgenden Wochen erschütterten heftige Unruhen Berlin, die fälschlicherweise unter dem Begriff „Spartakusaufstand“ in die Geschichte eingegangenen sind. Die revolutionäre Ungeduld vieler KPD-Mitglieder und ihr weit verbreiteter Hang zu sofortigen Aktionen, der bereits bei der Gründung sichtbar wurde, wirkten bis in die Führung hinein und trugen zur unglücklichen Politik der Organisation in diesen Ereignissen bei. Anlass der Kämpfe war die Absetzung des auf dem linken Flügel der USPD stehenden Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn durch den (seit der Jahreswende ausschließlich sozialdemokratisch besetzten) Rat der Volksbeauftragten. USPD, Obleute und KPD riefen daraufhin zu einer Demonstration am 5. Januar im Tiergarten auf. Es kamen Hunderttausende, was die Erwartungen der Veranstalter bei Weitem übertraf. Im Anschluss an die Demonstration besetzten aufgebrachte Arbeiter spontan die Gebäude verschiedener Zeitungen, darunter auch des „Vorwärts“. Diese erneute Besetzung des sozialdemokratischen Zentralorgans verdeutlicht, wie gut die Berliner Arbeiterschaft den „Vorwärts-Raub“ von 1916 noch im Gedächtnis hatte und wie sehr sie das Blatt weiterhin als „ihre“ Zeitung betrachtete, die es der SPD zu entreißen gälte. Vor Gericht drückte Meyer es später wie folgt aus: „[…] die Arbeiterschaft wollte, dass ihr Blatt, das sie mit eigenen Mitteln in vielen Jahren mühevoller Arbeit großgemacht hatte, auch ihre Ansichten vertritt.“ 9 Am Abend des 5. Januar trafen sich Mitglieder der USPD, der Obleute und der KPD- 9 Der Ledebour-Prozeß. Gesamtdarstellung des Prozesses gegen Ledebour wegen Aufruhr etc. vor dem Geschworenengericht Berlin-Mitte vom 19. Mai bis 23. Juni 1919, aufgrund des amtlichen Stenogramms bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Georg Ledebour, Berlin 1919, S.-518. <?page no="105"?> 105 4.2 Der unglückliche Aufstand Zentrale (Liebknecht und Pieck) zu einer Besprechung. Ihr Treffen stand noch unter dem Eindruck der Massendemonstration. Zudem waren sie falsch über die militärischen Kräfteverhältnisse unterrichtet. Sie beschlossen, den Kampf bis zum Sturz der Regierung fortzuführen und einen „Revolutionsausschuss“ unter dem Vorsitz von Ledebour (USPD), Liebknecht (KPD) und Paul Scholze (Revolutionäre Obleute) einzusetzen. 200.000 Demonstranten folgten am folgenden Montag ihrem Demonstrationsaufruf. Der Revolutionsausschuss erklärte daraufhin noch am selben Tag, die Regierungsgewalt zu übernehmen. Eine klare Führung der Massen unterblieb aber, eine Besetzung der Regierungsgebäude scheiterte und die erhoffte Unterstützung durch in Berlin stationierte Truppen blieb aus. Von der USPD daraufhin angeregte Verhandlungen mit der Regierung blieben ebenfalls ohne Ergebnis. Stattdessen gingen unter dem Kommando des Sozialdemokraten Gustav Noske regierungstreue Truppen zum Gegenangriff über, eroberten sämtliche besetzten Zeitungsgebäude und schließlich auch das Polizeipräsidium. Am 12. Januar war der Aufstand faktisch niedergeschlagen. Die KPD-Zentrale stand der Aufstandsbewegung anfangs skeptisch gegenüber: Zu jung und zu schwach aufgestellt erschien ihr die Partei, um bereits das Wagnis einer derartigen Kraftprobe eingehen zu können. Am Samstag, den 4. Januar, traf sich der illegal in Berlin aufhaltenden Emissär der russischen Regierung, Radek, mit Luxemburg, Meyer, Levi und Thalheimer in den Redaktionsräumen der „Roten Fahne“. Man kam gemeinsam zu dem Schluss, dass zwar die Gelegenheit zu weiteren Angriffen auf die mehrheitssozialdemokratische Reichsregierung genutzt, aber zugleich verfrühte Aktionen vermieden werden sollten. So notierte auch Meyer später in seinen „Erinnerungen an den Januar 1919“: „Die Zentrale beschloss gleichzeitig, die Besetzung von Zeitungsgebäuden und bewaffnete Kämpfe zu vermeiden.“ 10 Da Meyer sich am folgenden Tag krank fühlte, beteiligte er sich nicht an der erwähnten Großdemonstration. Stattdessen unternahm er einen Spaziergang und traf dabei seinen ehemaligen Kollegen aus der „Vorwärts“-Redaktion, Heinrich Ströbel (USPD). Ihm sicherte er zu: „Wir sind natürlich dabei, Eichhorn im Amt zu halten, und dazu ist heute die Demonstration. Aber ich wüsste nicht, was man viel dagegen machen wollte.“ 11 Ganz offensichtlich orientierte die KPD-Führung zu diesem Zeitpunkt nicht darauf, einen Aufstand auszulösen. Aber unter dem Eindruck der überraschend großen Demonstration drängten dann vor allem Pieck und Liebknecht auf den sofortigen Sturz der Regierung und versuchten, diese Forderung im „Revolutionsausschuss“ umzusetzen. Auch Meyer, der dann am Montag an der Massendemonstration teilnahm, war beeindruckt von der wütenden Stimmung unter vielen Arbeitern. Doch schon am Mittwoch, den 8. Januar, war ein Scheitern des Aufstandsversuches nicht mehr zu übersehen. In der Sitzung der KPD-Zentrale kam es zu einer scharfen Auseinandersetzung. Luxemburg und Jogiches drängten, unterstützt von Meyer, auf einen Rückzug der KPD aus dem Aufstand. Liebknecht und Pieck lehnten das ab. Nach einigen 10 Ernst Meyer: Erinnerungen an den Januar 1919 (Fragment, verfasst zw. 1924-27), in: SAPMO-BArch, NY 4137/ 6, Bl. 12-14, hier Bl. 12. 11 Der Ledebour-Prozeß, S.-518. <?page no="106"?> 106 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) Schwankungen zog sich die KPD dann am 10. Januar aus der Aufstandsleitung zurück, da die Bewegung offensichtlich nicht mehr von der Mehrheit der Berliner Arbeiterschaft getragen wurde. Zurecht argumentiert Luban, dass es sich bei der Januar-Bewegung um keinen Putsch-Versuch gehandelt habe, da - zumindest in den ersten Tagen - eine eindeutige Mehrheit der Berliner Arbeiterschaft hinter der revolutionären Linken gestanden hatte. Erst mit dem Abbröckeln der Bewegung ab dem 8. Januar könne von einem Putsch gesprochen werden, woraus die KPD-Führung auch rasch die Konsequenzen zog. Meyers Aussagen im Ledebour-Prozess verdeutlichen, dass die Bewegung keineswegs von der KPD initiiert wurde, sondern sie im Gegenteil erst unter dem Druck der Massen sich an ihrer Führung beteiligte. In den Januarkämpfen zeigten sich mit aller Dramatik die Schwächen der jungen KPD: Ihre führenden Mitglieder verfolgten keinen einheitlichen Kurs, die Partei war nicht in der Lage, eine Führung der Bewegung zu übernehmen - was auch beinhaltet hätte, sie rechtzeitig abzubrechen. Meyer analysierte später: „Die objektive Situation war im Winter 1918/ 19 für Deutschland akut revolutionär. Alles, was der Meister des Aufstandes, Lenin, als notwendige Voraussetzungen für eine siegreiche Revolution bezeichnet hat, war vorhanden: die Zersetzung und Spaltung des Bürgertums, starke Sympathien des Kleinbürgertums mit dem Proletariat, spontane Massenbewegungen usw. Aber was in Deutschland fehlte, war eine in sich gefestigte, starke kommunistische Partei, die die revolutionäre Gärung der Massen zur planmäßigen Vorbereitung des Aufstandes ausnutzte.“ 12 Die wichtigste Lehre für ihn war daher „die, dass es vor allem notwendig ist, eine starke, straff zentralisierte und mit den Massen eng verbundene Parteiorganisation aufzubauen.“ 13 Die verbleibenden elf Jahre seines Lebens sollte Meyer diesem Ziel widmen. 4.3 Mord an den Freunden: Die Enthauptung der Partei Dem gescheiterten Aufstand folgte eine Welle brutaler Repression in der Hauptstadt, über die Meyer rückblickend schrieb: „Die Bourgeoisie Frankreichs ging nicht wütender und brutaler gegen die Pariser Kommune vor als es die Sozialdemokratie im Auftrag des deutschen Bürgertums gegen Spartakus tat.“ 14 Meyer selbst wurde bereits am Freitag, den 10. Januar, gegen 23: 30 Uhr, von mehreren bewaffneten Soldaten aus seiner Steglitzer Wohnung geholt. Sein Sohn erinnert sich: „Wir schlafenden Brüder werden durch eindringende Freikorpsleute mit Stahlhelmen geweckt, die nach meinem Vater und nach ‚Waffen‘ suchen. Meine Mutter ruft höhnisch: ‚Ja, legen Sie nur irgendwo eine Pistole hin, dann werden Sie sie schon finden! ‘“ 15 Ein Haftbefehl lag nicht vor. Gemeinsam mit dem ebenfalls von Soldaten verschleppten Ledebour wurde er in die Kommandantur Unter den Linden gebracht. Vor Gericht sagte Ledebour im Mai 1919 dazu aus: 12 Ernst Meyer: Zum 15. Januar, in: Inprekorr, Jg. 7, Nr. 6, 14.01.27, S.-113f. 13 Ernst Meyer: Erinnerungen an den Januar 1919, Bl. 14. 14 Ernst Meyer: Der Kampf um den Sozialismus. Zur Erinnerung an den 15. Januar 1919, in: Die Rote Fahne, 15.01.26 15 Heinz Meyer: Kraft, Bl. 9. <?page no="107"?> 107 4.3 Mord an den Freunden: Die Enthauptung der Partei „Wir wurden […] ungefähr ½ Stunde auf dem Hof im Auto festgehalten. Die Transporteure verhandelten unterdes. Es wurden Verhandlungen darüber geführt, ob wir ermordet werden sollten oder nicht. Dann wurden wir in ein Zimmer geführt, von dort wieder in das Auto gebracht, und dann erst wurden wir auf unser energisches Vorhalten zu dem Stadtkommandanten, Herrn Klawunde, geführt. […] Herr Klawunde gab jedoch zu, dass er kein Recht hatte, uns festzuhalten. Er erklärte sich bereit, uns in dem Auto, das uns hergebracht hatte, wieder zurückbringen zu lassen.“ Die zugesagte Begleitmannschaft verschwand allerdings vor der Abfahrt des Autos, und ein Offizier forderte die beiden auf, nun loszufahren. „Dr. Meyer und mir war es in dem Augenblick vollkommen klar, dass wir nicht weit gekommen wären. Entweder wären wir […] von irgendeinem anderen Kommando angehalten worden, oder wir wären auf die bekannte Methode ums Leben gebracht worden. Nachher hätte man dann ein sehr schönes Märchen von einem Fluchtversuch in die Öffentlichkeit gebracht.“ 16 Die beiden verweigerten daher die Abfahrt und kehrten in das Büro des Stadtkommandanten zurück. Von dort aus wurden sie kurze Zeit später in das nahegelegene ehemalige Kronprinzenpalais gebracht und dort als Geiseln festgehalten. Auf dem Weg dahin bedrohten Soldaten sie, wie Meyer später vor Gericht aussagte, mit dem Tode. Nach vier Tagen ging es weiter in die Stadtvogtei und anschließend ins Untersuchungsgefängnis in Alt-Moabit. Meyer wurde am 16. Januar vernommen und schließlich am Mittag des 18. Januar entlassen. Wie sehr er in diesen Tagen in Lebensgefahr schwebte, belegt die Aussage des Jägers Otto Runge: Der ebenfalls verhaftete Wilhelm Pieck sollte erschossen werden, da man ihn mit dem Redakteur der „Roten Fahne“, Meyer, verwechselte. Pieck gelang es aber, deutlich zu machen, dass er nicht Ernst Meyer sei, was ihm das Leben rettete. 17 Andere hatten nicht so viel Glück: Am 15. Januar besetzten auf Noskes Anordnung Freikorpstruppen unter dem Kommando von General Walther von Lüttwitz die Hauptstadt. Sie richteten ein Blutbad unter den Revolutionären an, dem unter anderem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Opfer fielen. Der Verlust traf Meyer persönlich und politisch schwer. Sein Sohn Heinz notiert in seinen Erinnerungen: „Meine Mutter erzählte mir, dass mein Vater, den ich nie weinen sah, nach der Ermordung von Karl und Rosa bitterliche Tränen vergoss.“ 18 Die Mörder wurden später freigesprochen oder kamen mit geringen Strafen davon. Dieser Ausgang der Januarkämpfe „bedeutete für die junge Kommunistische Partei eine Katastrophe“, wie Frölich rückblickend wertete. 19 Die KPD verlor ihre bekanntesten Führungsgestalten und mit Rosa Luxemburg ihren unbestrittenen theoretischen Kopf, ein Verlust für die Partei, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und dem in den kommenden Wochen und Monaten weitere, schmerzliche Verluste folgen sollten. Am 29. Januar verstarb Franz Mehring. Nicht von ungefähr hielt sein Freund und Schüler Meyer im großen Saal des Restaurants Schlosspark in Steglitz die Trauerrede. Beide waren vor allem seit den gemeinsamen Monaten in Schutzhaft 1916 eng befreundet gewesen. 16 Der Ledebour-Prozeß, S.-69 f. 17 Das Geständnis des Jägers Runge ist dokumentiert in: KPD: Illustrierte Geschichte, S.-298-303. 18 Heinz Meyer: Kraft, Bl. 10 19 Paul Frölich: Offensive, in: Die Internationale, Jg. 3, H. 3 (1921). <?page no="108"?> 108 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) Meyer hielt Mehrings Andenken Zeit seines Lebens hoch, würdigte ihn in seinen Arbeiten über die Geschichte des Spartakusbundes und veröffentlichte posthum dessen Artikel aus der Weltkriegszeit, die damals von der Zensur verboten worden waren. Meyer selbst wurde nach seinem Tod an der Seite des inzwischen umgebetteten Mehrings am Revolutionsdenkmal in Berlin-Friedrichsfelde beerdigt. 20 Der nächste führende Kopf, den die KPD verlor, war Leo Jogiches. Der engste politische Mitarbeiter Rosa Luxemburgs und nach ihrem Tod kurzzeitig Vorsitzender der KPD wurde am 10. März im Gefängnis Moabit ermordet. Schließlich starb am 6. Juni Eugen Leviné, führende Figur der KPD in den Auseinandersetzungen um die Münchener Räterepublik. Er wurde standrechtlich hingerichtet und hinterließ Frau und Kind. Seine Witwe Rosa sollte wenige Jahre später Ernst Meyer heiraten. Bereits wenige Wochen nach ihrer Gründung war die junge Partei also sprichwörtlich enthauptet. Der Verlust ihrer besten und erfahrensten Köpfe schwächte sie langfristig. Eine Folge war das unsichere, oft auch ungeschickte Verhalten der KPD in den kommenden Jahren, aus dem weitere Rückschläge resultieren sollten. Diese verunsicherten die Parteiführung aufs Neue, was letztendlich zum wachsenden Einfluss der russischen auf die deutsche Parteiführung beitrug. Der KPD fehlten Führungsfiguren vom Format einer Rosa Luxemburg, die in der Lage gewesen wären, wo nötig, Moskauer Interventionen entschieden zu begegnen. Flechtheim ist unbedingt zuzustimmen, wenn er schreibt, dass „Rosa 20 Vgl. Ernst Meyers letzter Weg, in: Berlin am Morgen, 07.02.1930. Beisetzung von Rosa Luxemburg am 13. Juni 1919 <?page no="109"?> 109 4.4 Neun Monate in Schutzhaft Luxemburgs Tod von den Mörderhänden der deutschen Freikorps eine Tragödie war, nicht nur für die deutsche, sondern für die internationale Arbeiterbewegung.“ 21 Dass der zum Zeitpunkt von Luxemburgs Ermordung 31-jährige Ernst Meyer in den folgenden Jahren eine derart wichtige Rolle in der Führung der KPD spielten konnte, hängt stark mit dieser Enthauptung der Partei im Frühjahr 1919 zusammen. Während des Krieges musste er nur kurzzeitig die Lücke füllen, die nach der Verhaftung von Luxemburg, Liebknecht oder Jogiches entstanden war. Doch nun, nach ihrem Tod, musste er versuchen, langfristig ihren Platz einzunehmen. Denn, wie Hermann Duncker schrieb: „Nach dem Tode von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gehörte Meyer zu den politisch weitblickendsten und kenntnisreichsten Führern der jungen Kommunistischen Partei.“ 22 Würde Meyer dieser Aufgabe gewachsen sein? Er war ein sehr guter Journalist und Historiker, fest in der marxistischen Theorie verwurzelt, zweifellos auch ein hervorragender Organisator, ein Mensch, der auch in der zweiten Reihe einer Parteiführung hervorragend hätte wirken können. Doch die Ereignisse spülten ihn immer wieder in die erste Reihe einer (durch Verhaftungen, Ermordungen oder bald auch Ausschlüssen) geschwächten Organisation, schließlich sogar an ihre Spitze. Zunächst aber brachte ihn sein politisches Engagement erneut für längere Zeit ins Gefängnis. 4.4 Neun Monate in Schutzhaft Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 entfiel die Mehrheit der Stimmen auf bürgerliche Parteien. Die SPD erhielt 37,9 % und die USPD 7,6 %. Die Wahlbeteiligung blieb prozentual etwa auf dem Niveau von 1912, die absolute Zahl der abgegebenen Stimmen war aufgrund des nun erkämpften Frauenwahlrechts deutlich gestiegen. Der Boykottaufruf der KPD scheint also keine große Wirkung entfaltet zu haben. „Als politisch radikalisiert konnte im Januar 1919 erst eine kleine Minderheit der Arbeiterschaft bezeichnet werden“, resümiert Winkler. 23 Das änderte sich im Frühjahr: Breitere Schichten der Arbeiterschaft radikalisierten sich, was sich in großen Streikbewegungen im Ruhrgebiet, Oberschlesien und Mitteldeutschland, in den Kämpfen um die Räterepubliken in Bayern und Bremen sowie einem Generalstreik in Berlin ausdrückte. Viele dieser Bewegungen ließ die SPD-geführte Reichsregierung durch die Reichswehr oder Freikorpstruppen niedergeschlagen, allein in Berlin gab es dabei 1.200 Tote. Diese „zweite Welle der Revolution verlief ungleich blutiger als der eigentliche Novemberumsturz“, schreibt Winkler. Vor allem führte sie zu einer weiteren Entfremdung vieler SPD-Anhänger von ihrer Partei, wovon in erster Linie die USPD profitierte. 24 Auch für die Mitglieder der KPD stellten die blutigen Revolutionskämpfe der ersten Jahreshälfte 1919 eine psychologisch lange nachwirkende Urerfahrung dar. Etliche entwickelten einen derart tiefsitzenden Hass auf die Sozialdemokratie, dass sie künftig jeder auch 21 Flechtheim: KPD, S.-131. 22 Hermann Duncker: Ernst Meyer tot, in: Berlin am Morgen, 04.02.1930. 23 Heinrich-August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/ Bonn 1985, S.-138. 24 Ebenda, S.-182. <?page no="110"?> 110 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) nur taktisch gemeinten Zusammenarbeit der Arbeiterparteien skeptisch bis feindselig gegenüberstanden. Die Historikerin Sigrid Koch-Baumgarten beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: „In dieser Gründungsphase der KPD kristallisierte sich ein spezifischer Radikalismus der Mitgliedschaft heraus, der u.a. die Grundlage der späteren ‚linken‘ Strömungen bildete: Gegnerschaft zu SPD und Gewerkschaften; Ablehnung einer längerfristigen Revolutionsperspektive; ein spezifischer Maximalismus, der jeder Reformtätigkeit, Forderungen an Staat und Kapital, also dem Versuch der tagespolitischen Interessenvertretung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, waren seine Kennzeichen.“ 25 Dieser Politikansatz blieb in Teilen der Partei während der gesamten Weimarer Republik präsent. Meyer sollte später zu einem der schärfsten Kritiker dieses Ansatzes werden. Zeitweilig war er aber auch einer seiner Protagonisten. In Berlin war derweil als Reaktion auf den Generalstreik vom 3. März der Ausnahmezustand ausgerufen worden, was Reichswehrminister Gustav Noske zum Inhaber der ausführenden Gewalt machte. Auf Grundlage des Belagerungszustandes nahm die berüchtigte „Brigade Erhardt“ Meyer am 4. März in Schutzhaft. Dies geschah widerrechtlich, stellte ein Militärgericht später fest - um trotzdem gleichzeitig die Fortdauer der Schutzhaft anzuordnen. Deren mehrfache Verlängerung wurde damit begründet, dass Meyer „Mitglied der kommunistischen Partei Deutschlands ist und zu den führenden Persönlichkeiten dieser Partei gehört.“ Meyer, so das Militärgericht, sei „ein überzeugter Anhänger der kommunistischen Partei, durchdrungen von dem Willen, deren politische Ziele in die Tat umzusetzen, und in diesem Sinne sich auch betätigt hat.“ Die Mitgliedschaft in der KPD alleine rechtfertige eine Schutzhaft zwar nicht, diese sei aber „in der Gefährlichkeit des Dr. Meyer für die Reichssicherheit“ begründet. „Da er vermöge seiner geistigen Veranlagung und seiner angesehenen Stellung in der Partei einen wesentlichen Einfluss auf die Mitglieder der Partei und deren weiteren Tätigkeit im Sinne solchen gewaltsamen Vorgehens haben kann, droht von ihm in der jetzigen Zeit politischer Gärung und Hochspannung für die Reichssicherheit eine Gefahr, deren Abwendung die verhängte Schutzhaft bis auf weiteres erforderlich macht.“ Die Beschwerden, die Meyer und sein Verteidiger Theodor Liebknecht wiederholt einreichten, wurden alle verworfen, ebenso die Versuche, Haftverschonung mit Hinweis auf seinen schlechten Gesundheitszustand zu erwirken: „Diese von ihm ausgehende Gefahr wird auch nicht durch seinen ungünstigen Gesundheitszustand beseitigt. Denn, wie er selbst in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, fühlt er sich nach wie vor zum mindesten in der Lage, schriftlich und namentlich schriftstellerisch im Namen seiner Partei zu wirken, er hat auch zugegeben, dies tun zu wollen.“ 26 Meyer verbrachte neun Monate in Schutzhaft und wurde erst am 5. Dezember entlassen, als der Belagerungszustand aufgehoben wurde. Während seiner Inhaftierung wurde Meyer auf dem 2. Parteitag der KPD im Oktober erneut in die Zentrale gewählt. Die Partei, in deren Führung er nach Ende der Schutzhaft weiterarbeitete, war allerdings nicht mehr dieselbe wie davor: Sie war im Herbst 1919 in einen Spaltungsprozess eingetreten, in dessen Verlauf sie fast die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren sollte. 25 Sigrid Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921, Frankfurt(M)/ New York 1986, S.-53. 26 Beschluss des II. Senats des Reichsmilitärgerichts vom 6. Juni 1919, Abschrift, in: SAPMO-BArch, NY 4131/ 27, Zitate von Bl. 145-152. <?page no="111"?> 111 4.5 Heidelberger Parteitag und Spaltung der KPD 4.5 Heidelberger Parteitag und Spaltung der KPD Während Meyer in Untersuchungshaft saß, wurde Leo Jogiches ermordet. Daraufhin übernahm der Rechtsanwalt Paul Levi, ein Schüler und langjähriger enger Mitarbeiter Luxemburgs, im März 1919 die Führung der KPD. Wie sehr Meyer in der ausgebluteten Parteileitung fehlte, geht aus einem Brief Mathilde Jacobs an Clara Zetkin hervor, in dem sie auch auf eine weitestmögliche Hinzuziehung Meyers drängt: „Wissen Sie, ob sich Frau Dichter [C. Zetkin] mit Paula [Paul Levi] ins Einvernehmen gesetzt hat? Wie die geschäftlichen Dinge [die Politik der KPD] von den Inhabern [der Zentrale der KPD] geleitet werden, erscheint mir nicht immer zweckmäßig. Natürlich gibt es fast unüberwindliche Schwierigkeiten, aber ich finde, man müsste stets Frau Dichters Rat einholen und auch den von Ernst [Meyer]. Das ist bisher nicht geschehen. Er ist aber nicht so krank, dass man ihn nicht befragen könnte [mit dem inhaftierten Ernst Meyer wäre ohne weiteres ein konspirativer Informationsaustausch möglich gewesen], und er kennt doch das Geschäft seit der Begründung. Ich wäre so froh, wenn er wieder gesund würde [aus dem Gefängnis entlassen wird], damit er selbst mitarbeiten kann.“ 27 Ob und wenn in welchem Maße es gelang, den sich in Schutzhaft befindlichen Meyer in die Führung der Partei einzubinden, ließ sich nicht klären. Die Dramatik der politischen Ereignisse des Jahres 1919 hätte eine zum geschlossenen Handeln fähige Kommunistische Partei erfordert. Doch die KPD war ideologisch extrem heterogen. Das war eine Erblast ihrer verspäteten Entstehung und dann überstürzten Gründung und wurde noch verschärft durch den Verlust ihrer hervorragendsten Führungs- und Integrationsfiguren. Die Folge waren heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen, da die schon auf dem Gründungsparteitag existierenden Differenzen - etwa zur Beteiligung an Wahlen oder zum Verhältnis zu den Gewerkschaften - wieder aufbrachen. In der zweiten Jahreshälfte 1919 und im Frühjahr 1920 legten sie die Partei, deren öffentliches Agieren ohnehin durch häufige Verbote eingeschränkt war, teilweise lahm. Letztendlich führten sie zu ihrer Spaltung. Auf dem illegal tagenden Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 gelang es der Levi- Zentrale, die Partei auf einige einheitliche Positionen festzulegen: So wurde beschlossen, sich künftig an Wahlen zu beteiligen. Außerdem entschied der Parteitag, Revolutionäre hätten, wenn möglich, innerhalb der freien Gewerkschaften zu arbeiten und müssten versuchen, diese für den Kommunismus erobern. Die von der Zentrale vorgelegten Leitsätze enthielten weiterhin den Passus, dass Mitglieder, die nicht bereit waren, sich an diese Beschlüsse zu halten, aus der Partei auszuscheiden hätten. Viele Delegierte fühlten sich durch die für sie überraschende Vorlage der Leitsätze überrumpelt und lehnten deren Konsequenz - den Ausschluss der Opponenten - ab. Schon damals wurde der bis heute in der Literatur immer wieder erhobene Vorwurf laut, die Levi-Zentrale sei auf dem Parteitag undemokratisch vorgegangen. Das wiederum wurde in der Literatur gelegentlich als Beleg für massive Demokratie-Defizite in der KPD schon vor dem Einsetzen ihrer Stalinisierung herangezogen. Dieser Einschätzung widersprachen Marcel Bois und ich in einer neueren Studie. Denn vor allem nach dem Parteitag hatte die Zentrale eine breite Debatte über die inhaltlichen Punkte der Leitsätze 27 Brief Mathilde Jacob an Clara Zetkin, 20.03.1919, in: Luban: Notwendigkeit, S.-459. <?page no="112"?> 112 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) in der Partei und ihrer Presse (soweit diese damals erscheinen konnte) forciert, die sich bis zum 3. Parteitag im Februar 1920 hinzog. Die Parteiführung beharrte dabei keineswegs auf einer sofortigen administrativen Durchsetzung der Ausschlüsse. Stattdessen versuchte sie verschiedentlich, ihren Gegnern Brücken zum Verbleib in der Partei zu bauen. Wir kamen daher zu dem Schluss: „[…] aus den Geschehnissen um den Heidelberger Parteitag ein frühzeitiges Ende der parteiinternen Demokratie abzuleiten, […] bleibt […] nicht nachvollziehbar.“ 28 Als Meyer im Dezember 1919 aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, konnte auch die KPD nach Monaten der faktischen Illegalität endlich wieder offener auftreten. In Berlin ging sie im Dezember mit einer Reihe von „Volksversammlungen“ zum Thema „Die politische Lage und die KPD“ an die Öffentlichkeit. Auch Meyer gehörte zu den Referenten. Zu dieser Frage sprach er auch auf dem 3. Parteitag, der am 25. und 26. Februar 1920 bei Karlsruhe zusammentrat, bis die Polizei die Versammlung sprengte. Die Teilnehmer wurden verhaftet und nach Feststellung ihrer Personalien aus Baden ausgewiesen. Meyer führte aus, es sei die „dringendste Aufgabe, unsere Kritik an der USP zu verschärfen und durch diese Kritik die Revolutionierung der Arbeiter in der USP zu beschleunigen. Für unsere eigene Partei bestehen die besten Aussichten. Wir werden immer mehr alle revolutionären Elemente der jetzigen Arbeiterschaft an uns fesseln, wenn nicht organisatorisch, so doch in ihrer politischen Haltung. Allerdings ist es dazu notwendig, dass die Partei einheitlich in Grundsätzen und Taktik auftritt.“ Er ging auch auf die noch immer anhaltenden parteiinternen Auseinandersetzungen ein, unterstrich den umfangreichen Raum für innerparteiliche Diskussionen, aber auch die Notwendigkeit, nach einjähriger Diskussion bestimmte Genossen auszuschließen: „Deshalb mussten wir uns in den letzten Monaten dazu entschließen, diejenigen Elemente abzustoßen, die sich trotz längerer Diskussion nicht mit den Heidelberger Leitsätzen einverstanden erklären wollten. Die Zentrale hat mit Bewilligung des Zentralausschusses den Ausschluss der Gegner des Heidelberger Parteitages aufgeschoben und immer wieder den Versuch gemacht, durch eingehende Diskussion der Heidelberger Leitsätze den Prozess der Klärung in den Oppositionsbezirken zu fördern. Diese Taktik der Zentrale ist von Erfolg gewesen. […] Heute ist es indessen notwendig, dass diejenigen ausgeschlossen werden, die sich trotz einhalbjähriger Diskussion noch immer nicht entschließen können, wenigstens die Grundgedanken der Heidelberger Leitsätze anzuerkennen.“ 29 Tatsächlich schloss der Parteitag nach längerer Diskussion gegen nur drei Stimmen die Bezirke Nord, Nordwest, Niedersachsen, Groß- Berlin und Dresden aus, die sich weiter gegen die Heidelberger Leitsätze stellten. Damit wurde das Ausscheiden der Gegner einer taktischen Mitarbeit in Parlamenten und Gewerkschaften besiegelt. Vielen Delegierten war aber Meyers Einschätzung zu optimistisch, dass gegenwärtig „beste Aussichten“ für die KPD bestünden. So rief Heinrich Brandler aus: „Wir haben überhaupt noch keine Partei“ und fuhr in Bezug auf den Westen Deutschlands fort: „Dort besteht eine kommunistische Bewegung nicht. Was in Rheinland-Westfalen besteht, ist 28 Florian Wilde und Marcel Bois: „Modell für den künftigen Umgang mit innerparteilicher Diskussion“? Der Heidelberger Parteitag der KPD 1919, in: JBzG, 6. Jg., 2007, H. 2, S.-33-46., Zit. S.-44. 29 Bericht über den 3. Parteitag der kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 25. und 26. Februar 1920, o.O. o.J [Berlin 1920], S.-13. <?page no="113"?> 113 4.5 Heidelberger Parteitag und Spaltung der KPD schlimmer, als wenn wir gar nichts hätten. Und es wird in nächster Zeit nicht möglich sein, die kommunistische Partei auf die Beine zu bringen.“ 30 Auch der von August Thalheimer vorgetragene Geschäftsbericht der Zentrale zeichnet ein desolates Bild: In Berlin hatte die KPD nach der Spaltung nur noch 800 Mitglieder, in vielen Bezirken lag die Organisation am Boden. Sie verfügte kaum über Zeitungen und von der Zentrale verschickte Materialien wurden oft nicht verteilt. Meyer muss diese Situation gekannt haben, schließlich war er nach eigenen Angaben bei vielen Bezirkskonferenzen gewesen, auf denen er oft entsetzt feststellen musste, dass keine einzige Frau unter den Anwesenden war. War es also reiner Zweckoptimismus, den er als Mitglied der Zentrale meinte, verbreiten zu müssen? Wohl nicht nur: Meyer ging in seinen Analysen von einer weiterhin tiefen Krise der kapitalistischen Wirtschaft aus, aus der er ein baldiges Wiederaufleben der Revolution ableitete. So rief er den Delegierten in seinem Schlusswort zu: „Die augenblickliche Müdigkeit in der Arbeiterschaft wird überwunden werden, und wir dürfen uns auf keinen Fall von dieser vorübergehenden Müdigkeitsstimmung anstecken lassen. […] Die objektive Situation (wirtschaftliche Krisen, politische Krisen) wird indessen diese Stimmung bald zerstreuen.“ 31 Tatsächlich sollten nur wenige Wochen vergehen, bis die dramatische politische Zuspitzung durch den Kapp-Putsch Meyer Recht geben sollte. Auf dem Parteitag wurde Meyer erneut und mit einem guten Ergebnis in die siebenköpfige Zentrale gewählt. Levi hingegen befand sich in Bremen im Gefängnis und war nicht angetreten. Insgesamt brachte der Parteitag einen „organisatorischen Abschluss der Parteidifferenzen“ 32 und beendete die monatelangen Konflikte in der KPD. Der Preis, den die Partei für diese wohl notwendige Klärung und Vereinheitlichung ihrer Positionen zahlte, war aber - vor allem aufgrund des übereilten Vorgehens der Zentrale - äußerst hoch: Etwa die Hälfte der immerhin 107.000 Mitglieder verließ die Partei. Die Mehrzahl von ihnen schloss sich der im April 1920 gegründeten Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) an, die dem „utopisch-ultralinks denkenden Teil“ der deutschen Arbeiterbewegung eine politische Heimat bot. 33 Vorübergehend konnte diese in so wichtigen Regionen wie Berlin, Hamburg, dem Ruhrgebiet und Ostsachsen die Mehrheit der Kommunisten für sich gewinnen. Die Auseinandersetzung mit ihr beschäftigte die KPD noch eine ganze Weile. Dennoch war die Spaltung zweifellos eine „notwendige Bedingung für den Zusammenschluss mit dem linken Flügel der USPD“ 34 im folgenden Jahr - und somit für das Entstehen einer kommunistischen Massenpartei in Deutschland. Als Meyer im Jahr 1925 gemeinsam mit Paul Frölich und Karl Albin Becker einen „Brief an den Parteitag der KPD“ schrieb, bewerteten sie die Parteientwicklung zur Zeit des Heidelberger Parteitags rückblickend folgendermaßen: „Aber eine wichtige Lehre, die auch heute nicht vergessen werden darf, brachte die Spaltung. Die Spaltung wurde übereilt durchgeführt. Bis zum Heidelberger Parteitag wurde der Kampf nur in den führenden 30 Ebenda, S.-16. 31 Ebenda, S.-32. 32 Die Rote Fahne, 02.03.1920, Titel. 33 Abendroth: Einführung, S.- 197. Die KAPD spielte auch dank der ihr nahestehenden Arbeiterunionen anfangs durchaus eine Rolle in der Arbeiterbewegung, verlor aber nach der Märzaktion 1921 stark an Einfluss und zerfiel bis Ende 1922 in mehrere miteinander verfeindete Kleingruppen. 34 Duncan Hallas: Die Komintern, Hannover (o.J.), S.-33. <?page no="114"?> 114 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) Funktionärskreisen geführt. Erst nach Heidelberg, als die Spaltung schon vollzogen war, wurde die Auseinandersetzung in die Mitgliedschaft getragen. Die Folge davon war, dass viele revolutionäre Arbeiter für lange Zeit verlorengingen, dass die Partei gerade in wichtigen Gebieten von den Betrieben losgelöst und dass in einer bedeutungsvollen Periode die Partei von inneren Kämpfen erschüttert wurde. Die Fehler beim Kapp-Putsch wurden hauptsächlich dadurch verursacht.“ 35 4.6 Widerstand gegen den Kapp-Putsch Die Partei, in deren Führung Meyer nach seiner Entlassung aus der Schutzhaft zurückgekehrt war, war zahlenmäßig und organisatorisch stark geschwächt und befand sich in einer desolaten Verfassung. Ausgerechnet jetzt sah sie sich mit ihrer bisher größten Herausforderung konfrontiert: Dem von Teilen des Militärs, Freikorps und nationalen Kreisen getragenen „Kapp-Putsch“. In der Nacht zum 13. März 1920, einem Samstag, marschierte die rechtsgerichtete „Brigade Erhardt“ (die ein Jahr zuvor Meyers illegale Verhaftung vorgenommen hatte) in Berlin ein. Einige Freikorps-Soldaten trugen dabei das Hakenkreuz am Helm. Die Reichsregierung verließ die Stadt und floh über Dresden nach Stuttgart. Sie stand dem Putsch zunächst ohnmächtig gegenüber: Der Militärapparat, auf den sie sich im Kampf gegen links gestützt hatte, versagte ihr im Kampf gegen rechts die Gefolgschaft. „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“, lautete die lapidare Antwort des Oberkommandierenden General Hans von Seekt auf die Bitte der Regierung um Unterstützung. Als Reaktion auf den Putsch kam es zu einer in dieser Form in der ganzen Weimarer Geschichte einzigartigen, alle politischen Spaltungen und sozialen Differenzierungen kurzfristig überbrückenden Abwehraktion der gesamten Arbeiterschaft. Diese kulminierte im größten Generalstreik der deutschen Geschichte mit etwa zwölf Millionen Beteiligten. Von den Freien Gewerkschaften unter Vorsitz Carl Legiens, der SPD und der USPD ausgerufen, griff er in Windeseile von Berlin auf das Reich über und legte erst die Hauptstadt und bald das ganze Land lahm. Der Streik zielte dabei, so Koch-Baumgarten, nicht allein „auf die Widerherstellung des status quo ante […], vielmehr kristallisierte sich als hauptsächliches Ziel der Streikbewegung heraus, durch radikale Eingriffe in Verwaltung, Militär und Wirtschaft Garantien gegen restaurative Tendenzen zu verwirklichen“. 36 Es entwickelte sich eine radikalisierende Dynamik, die letztendlich in bewaffneten Aufständen der Arbeiter mündete, etwa in Mittel- und Norddeutschland und vor allem im Ruhrgebiet. Ähnlich wie 1918/ 19 entstanden lokale Räte. Arbeiter bewaffneten sich, griffen monarchistische Armeeeinheiten an und bildeten eine „Rote Armee“, die bald weite Teile des Ruhrgebiets kontrollierte. Unter der Wucht des Generalstreiks brach der Putsch nach wenigen Tagen zusammen, die Kapp-„Regierung“ trat am 17. März zurück. Gleichzeitig hob die Erfahrung des erfolgreichen Massenstreiks das Selbstbewusstsein der Gewerkschaftsführung. So schlug Legien 35 Ernst Meyer, Paul Frölich, Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD. Beilagen, Teil II: Einige Lehren aus der Geschichte der KPD; Die politische Lage und die politischen Aufgaben der Partei, in: Die Internationale, Jg. 8, H. 10 (15.10.1925), S.-640-646, hier S.-640 f. 36 Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-64. <?page no="115"?> 115 4.6 Widerstand gegen den Kapp-Putsch Aufruf zum Generalstreik, 13. März 1920 <?page no="116"?> 116 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) der USPD eine auf die Gewerkschaften gestützte Arbeiterregierung mit der SPD vor, die allerdings nicht zustande kam. Zudem führten die Gewerkschaften den Generalstreik nach dem Ende des Putsches fort. Erst als die Regierung Zugeständnisse versprach (darunter den Rücktritt des Reichswehrministers Noske, die Öffnung der bürgerlichen „Einwohnerwehren“ für Arbeiter und die Garantie, bewaffneten Arbeiter nicht anzugreifen), beendeten sie am 20. März den Streik. USPD-Linke, KPD und Berliner Streikleitung versuchten zunächst, den Ausstand fortzusetzen, aber schließlich flaute die Bewegung ab. Die angestrebte grundlegende Umgestaltung der Weimarer Republik und vor allem eine Demokratisierung von Militär und Beamtenschaft wurden letztendlich nicht erreicht. Das war „von entscheidender Bedeutung für die gesamte darauffolgende Geschichte der Weimarer Republik“, urteilt Harman. „Die Regierungsparteien, an ihrer Spitze die Sozialdemokraten, hatten die Gelegenheit, ein für alle Mal die Vorherrschaft der extremen Rechten in der Führung der Reichswehr zu zerschlagen. Sie nahmen sie nicht wahr.“ 37 Stattdessen brachen sie ihr Versprechen und setzten Anfang April die dem Pusch überwiegend positiv gegenübergestandene Reichswehr zur Eroberung des Ruhrgebietes und zur Niederschlagung der „Roten Ruhrarmee“ ein. Eine neue Zeit des „weißen Schreckens“ folgte. Die KPD hatte schon länger mit einem rechten Putsch gerechnet. Bereits Anfang Januar hatte die Zentrale diese Gefahr in einem Rundschreiben betont und für den Fall eines Putsches „aktive Parolen“ und eine Zusammenarbeit mit dem linken Flügel der USPD angekündigt. Als es dann aber tatsächlich zu einem Staatsstreich kam, lehnte sie zunächst die Unterstützung des Generalstreiks und die Verteidigung der Republik gegen rechts ab. In einer ersten Erklärung verkündete die KPD-Führung: „Das revolutionäre Proletariat weiß, dass es gegen die Militärdiktatur kämpfen wird. Aber es wird keinen Finger rühren für die in Schmach und Schande untergegangene Regierung der Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Es wird keinen Finger rühren für die demokratische Republik, die nur eine dürftige Maske der Diktatur der Bourgeoisie war. [...] Es gilt vielmehr mit aller Macht den Kampf aufzunehmen, um die proletarische Diktatur, um die Räterepublik. [...] Militärdiktatur oder Proletarierdiktatur? So ist die Frage jetzt unausweichlich gestellt“. Weiterhin hieß es, die Arbeiterklasse sei zum jetzigen Zeitpunkt „nicht aktionsfähig. Wir halten es für unsere Pflicht, das klar auszusprechen.“ 38 Mit diesem Beschluss stellte sich die KPD vorerst abseits einer riesigen Streikbewegung. Als die Zentrale ihn fasste, war nur ein Teil ihrer Mitglieder in Berlin. An der entscheidenden Sitzung nahmen von den sieben Mitgliedern nur zwei (August Thalheimer und Wilhelm Pieck) und von den sieben Ersatzmitgliedern ebenfalls nur zwei (Jacob Walcher und Ernst Friesland, d.i. Ernst Reuter 39 ) teil. Ernst Meyer hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Hamburg auf, wo er an bewaffneten Kämpfen teilgenommen haben soll. 40 37 Chris Harman: Die verlorene Revolution. Deutschland 1918-1923, Frankfurt (M.) 1998, S.-231. 38 Die Rote Fahne, 14.03.20, in: Weber, Hermann (Hg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente, Köln/ Berlin 1964 2 , S.-138 ff. 39 Ernst Reuter, der spätere SPD-Oberbürgermeister von Berlin, trat in der KPD unter seinem Decknamen Friesland auf, der auch in dieser Arbeit für ihn verwendet werden soll, da er ihn erst nach seinem Ausschluss aus der KPD wieder ablegte. 40 Vgl. Geheimer Bericht Ernst Meyers an das EKKI, Kopenhagen, 2.6.20, in: Weber/ Drabkin/ Bayerlein: Komintern, Bd. II/ 1, Dok. 22 und Diskussionsbeitrag Karl Radek auf der Sitzung des EKKI am 18.6.20, in: Ebenda, Dok. 24. <?page no="117"?> 117 4.6 Widerstand gegen den Kapp-Putsch Entsetzt reagierte Levi vom Gefängnis aus mit einem Brief an die Zentrale. Mit ihrer Haltung drohe der KPD ein „moralischer und politischer Bankrott. […] Wisst ihr, was das heißt? Das ist der größten Aktion des deutschen Proletariats in den Rücken gefallen! “ Es gelte, konkrete, sich steigernde Forderungen zu stellen: „Räterepublik kommt zuletzt und nicht zuerst.“ Die Aktionen müssten „gemeinschaftlich - auch mit der SPD“ durchgeführt werden, um die Sozialdemokratie von Kompromissen mit den Putschisten abzuhalten. 41 Meyer erklärte die anfänglich passive Haltung der Zentrale später mit den „Zufallsmehrheiten“ 42 , die sich aus der Abwesenheit verschiedener Genossen ergeben hätten. Ein weiterer Grund sei die Schwäche der Berliner KPD infolge der Abspaltung der KAPD gewesen. In der Hauptstadt war die Partei in den Betrieben so schwach verwurzelt, dass ihre Mitglieder der Zentrale kein realistisches Bild von der Stimmung der Arbeiter vermitteln konnten. Erst unter der Wucht des Generalstreikes und aufgrund der wachsenden Kritik aus den eigenen Reihen vollzog die Zentrale eine Kehrtwende. Am zweiten Tag des Generalstreiks rief sie nun ebenfalls zum Ausstand und zur Aktionseinheit mit sozialdemokratischen und unabhängigen Arbeitern auf. Allerdings zögerte sie noch einige Tage, die Forderung nach Bewaffnung der Arbeiterschaft aufzustellen, obwohl diese vielerorts bereits stattfand. So rief sie noch am dritten Tag des Generalstreiks die Arbeiter auf, nicht auf die Straße zu gehen und sich nicht provozieren zu lassen - während vielerorts lokale „Vollzugsausschüsse“ der Arbeiterschaft die Macht übernahmen. Die anfänglich passive Haltung der KPD- Führung erschwerte es ihr, erfolgreich auf eine Fortsetzung des Generalstreiks zu drängen, als Reichsregierung und SPD ihn zu beenden versuchten. Während alle Beteiligte die Haltung zu Beginn des Putsches später als Fehler ansahen, entbrannte bald ein heftiger Streit über eine andere Frage: Wie sollte sich die Partei zu der von Legien vorgeschlagenen „Arbeiterregierung“ verhalten? Die KPD erfuhr von diesem Vorschlag erstmals auf der Sitzung der Berliner Streikleitung am 21. März. Ihre Delegierten Walcher, Pieck und Thalheimer lehnten einen Einritt in eine solche Regierung aus Gewerkschaften und Arbeiterparteien zwar spontan ab, sagten für den Fall ihres Zusammenkommens aber eine loyale Opposition zu und übten Druck auf den linken Flügel der USPD aus, seinen Widerstand gegen die Bildung einer „rein sozialistischen Regierung“ aufzugeben. Voraussetzung sei, dass die Regierung die Konterrevolution entschlossen bekämpfe und die Organisationen der Arbeiterklasse nicht behindere. Im Gegenzug versprach die KPD, „keine Vorbereitung zum gewaltsamen Umsturz, bei selbstverständlicher Freiheit der politischen Agitation der Partei für ihre Ziele und Losungen.“ Winkler wertet diese Haltung der Zentrale als einen „Durchbruch der Realpolitik“, welcher der Partei einen doppelten Vorteil versprach: Einerseits hätte sie durch einen Schutz vor erneuter Illegalisierung beträchtliche Handlungsspielräume gewinnen können. Andererseits hätte die USPD in der Regierung ihren Charakter als proletarische Protestpartei rasch eingebüßt, was deren Anhänger zur KPD getrieben hätte. 43 Meyer hingegen kritisierte den Kurs der KPD scharf: sie hätte zu früh auf einen Ab- 41 Paul Levi: Brief an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands, in: Die Kommunistische Internationale, Jg. 2 (1920), H. 12, S.147-150, Zitate S.-147 f. 42 Bericht über den 4. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 14. und 15. April 1920, S.-41. 43 Winkler: Revolution, S.-314 f. <?page no="118"?> 118 4 In der Führung der KPD (1919/ 20) bruch der Streiks orientiert. Durch deren Abbruch fehlte aber die gesellschaftliche Basis einer Arbeiterregierung. An die Komintern schrieb er rückblickend in einem geheimen Brief: „Gerade die Erörterung der Regierungsfrage durch die Zentrale der K.P.D. lenkte die Arbeiterschaft ab von der Hauptaufgabe: den Kampf weiterzuführen. In der Zentralstreikleitung erklärten die U.S.P.-Leute am Anfang der 2-ten Streikwoche auf die Vorschläge von Meyer und Friesland zur Intensivierung des Kampfs, erst wollen wir die Verhandlungen der U.S.P.-Zentrale mit Gewerkschaften über Regierungsbildung abwarten, dann über Meyers Vorschläge entscheiden! [...] Es war nicht Aufgabe der K.P.D., vor Beendigung des Kampfs die Arbeiter abzulenken vom realen Kampfziel / Bewaffnung der Arbeiterschaft, Entwaffnung der Bourgeoisie/ und sie durch Hinweis auf den Ueberbau des Kräfteverhältnisses / Regierungsbildung/ in der Aktion durch Erwartung einer neuen Regierung zu lähmen. Bei der Zuspitzung der Klassenkämpfe in Deutschland ist es unwahrscheinlich, dass ein Mittelding zwischen Diktatur des Proletariats und Diktatur der Bourgeoisie in Form der rein-sozialistischen Regierung überhaupt gebildet werden und existenzfähig sein kann.“ 44 Tatsächlich vollzog nur wenige Wochen später der 4. Parteitag der KPD (14./ 15. April 1920) eine scharfe Wendung im Sinne Meyers: Die Position der Zentrale zur „loyalen Opposition“ wurde scharf verurteilt, da sie von der Bildung von Arbeiterräten und der Bewaffnung der Arbeiterschaft ablenken würde. Eigentlich lehnte die KPD die Weimarer Republik ab. Doch der Kapp-Putsch hatte die Partei vor die Frage gestellt, wie sie sich verhalten sollte, wenn die Republik von rechts bedroht wurde. Es war eine Frage, vor die sie sich in den kommenden Jahren immer wieder gestellt sehen sollte. Mit der Art, wie sie diese im März 1920 anfangs beantwortete - „keinen Finger rühren“ für die Republik - schnitt sich die KPD von einer der größten Massenbewegungen der Weimarer Republik ab. Dies trug sicher auch zum schlechten Wahlergebnis bei der Reichstagswahl am 6. Juni 1920 bei. Die KPD erhielt nur 589.000 Stimmen, das entsprach einem Anteil von 1,7 %. „Ihr Wähleranteil war, wie ihre Mitgliederzahlen, für eine revolutionäre Partei nach einer Periode mit Massenstreiks und lokalen Aufständen erbärmlich“, urteilt Chris Harman. 45 Die Wahl verdeutlichte zwei wichtige Entwicklungen: Einerseits gingen die Stimmen für die Arbeiterparteien zurück und die für die rechten Parteien (DVP und DNVP) stiegen an. Andererseits gab es eine Linksverschiebung innerhalb der sozialistischen Arbeiterschaft. So konnte die USPD ihr Ergebnis gegenüber der Wahl vom Januar 1919 mehr als verdoppeln: Ihr Stimmenanteil stieg von 7,6 auf 18,6 %. Fast fünf Millionen Menschen votierten für sie. Das geschah vor allem auf Kosten der SPD, die nur noch 21,6 % (gegenüber 37,9 %) erzielte. Die „Weimarer Koalition“ aus SPD, DDP und Zentrum, die seit 1919 die Regierung stellte, verlor - für immer - ihre parlamentarische Mehrheit. Nun kam eine von Konstantin Fehrenbach (Zentrum) geführte Minderheitsregierung ohne die SPD an die Macht. Mit Clara Zetkin und Paul Levi stellte die KPD erstmals zwei Reichstagsabgeordnete. Ernst Meyer hatte auf Platz sieben der kommunistischen Reichswahlliste kandidiert. Zu- 44 Siehe auch Geheimer Bericht Ernst Meyers an das EKKI, Kopenhagen, 2.6.20, in: Weber/ Drabkin/ Bayerlein: Komintern, Bd. II/ 1, Dok. 22. 45 Harman: Revolution, S.-240. <?page no="119"?> 119 4.6 Widerstand gegen den Kapp-Putsch dem trat er in 9 von 17 Wahlkreisverbänden auf der KPD-Liste an. Seine Partei führte einen sehr aktiven Wahlkampf mit über 3.000 Wahlveranstaltungen. Allein die Angehörigen der Führung referierten auf etwa 300 Wahlveranstaltungen im ganzen Reich. Das bedeutete, dass jedes Mitglied der Zentrale - also auch Meyer - durchschnittlich bei mehr als 40 Veranstaltungen auftrat. Während die Mitgliederzahlen der KPD auf geringem Niveau stagnierten, strömten massenhaft Arbeiter in die USPD. Sie waren von der SPD enttäuscht und hatten sich durch die Kämpfe um die Räterepubliken in der ersten Jahreshälfte 1919 und durch den Generalstreik gegen den Kapp-Putsch radikalisiert. Die Mitgliederzahl der USPD wuchs so von 300.000 (Anfang 1919) auf 800.000 (Herbst 1920). Mit dem starken Zustrom radikalisierter Arbeiter veränderten sich die Kräfteverhältnisse zugunsten des linken Parteiflügels. Dieser konnte auf dem Parteitag im Dezember 1919 durchsetzen, dass die USPD Verhandlungen mit der Kommunistischen Internationale (Komintern, KI oder III. Internationale) über einen möglichen Beitritt und damit einen Zusammenschluss mit der KPD aufnahm. Dies wurde zur entscheidenden Streitfrage in der USPD, über die sie sich schließlich spalten sollte. <?page no="120"?> Zeichnung vom 28.11.1920, Zeichner unbekannt <?page no="121"?> 121 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) 5.1 „Revolutionäre Offensive“ statt „antiputschistischer Kretinismus“ Auf den Kapp-Putsch folgten hitzige Debatten in der KPD. Meyer gehörte zu denen, die am schärfsten die Position der „loyalen Opposition“ gegenüber einer Arbeiterregierung angriffen und den Kurswechsel weg von dieser Position durchsetzten. In diesen Auseinandersetzungen bildete sich ein neuer, linker Flügel in der Partei heraus, zu dessen führenden Köpfen nun Meyer zählte. Zur Frage der „loyalen Opposition“ verfasste er einen Offenen Brief an das EKKI, der in der Zeitschrift „Kommunistische Internationale“ abgedruckt wurde. Darin argumentierte er, dass es nach Putschende durchaus möglich gewesen wäre, den Streik in Berlin fortzusetzen und ihn in der Provinz wiederaufzunehmen, aber „die Erörterung der Regierungsfrage durch die Zentrale“ habe die Arbeiterschaft von dieser „Hauptaufgabe“ abgelenkt. Der Abbruch des Streiks habe das Kräfteverhältnis zuungunsten der Arbeiter verschoben und ihre umfassende Bewaffnung verhindert. Gerade diese wäre aber die Grundlage einer wirklichen, „rein-sozialistischen“ Regierung gewesen. Meyer griff einige Zentrale-Genossen scharf dafür an, dass sie durch die Loyalitätserklärung Druck auf den linken Flügel der Unabhängigen ausgeübt hatten, sich für eine Arbeiterregierung auszusprechen. Damit hätten sie einer Spaltung der USPD entgegengewirkt und nur den rechten Flügel gestärkt. Die zugespitzten Klassenverhältnisse in Deutschland machen es sehr unwahrscheinlich, dass „ein Mittelding zwischen Diktatur des Proletariats und Diktatur der Bourgeoisie in Form einer rein-sozialistischen Regierung überhaupt gebildet werden und existenzfähig sein kann“. Es sei zwar zulässig für die KPD, Etappenparolen aufzustellen, diese dürfen aber nicht „den Prinzipien des Kommunismus widersprechen (etwa rein-sozialistischer Regierung gegenüber Rätediktatur. Zulässig sind dagegen Parolen wie: Freiheit für revolutionäre Presse; Bewaffnung der Arbeiterschaft; Auflösung aller konterrevolutionären Formationen der Bourgeoisie; Frieden mit Sowjetrussland und dergl.).“ 1 Beim 4. Parteitag der KPD, der im April 1920 in Berlin tagte, prallte Meyer in dieser Frage mit August Thalheimer und Wilhelm Pieck aneinander. Bemerkenswert sind seine hier geäußerten Vorstellungen zum Umgang mit dem linken Flügel der Unabhängigen: „Die linke USP ist zu Aktionen nur zu treiben durch Fußtritte. Das ist der einzige Weg, wie man mit der USP verhandelt und Einfluss auf sie ausüben kann.“ 2 Paul Levi stellte sich gegen Meyer. Auf dem Parteitag erklärte er, von Meyer unterscheide ihn grundsätzlich die Einsicht, dass Kompromisse in bestimmten Situationen notwendig seien: „In dem Augenblick, wo man sieht, dass eine Aktion nicht mehr zu steigern ist, muss man sich auch auf Verhandlungen einlassen.“ Zu Meyers Fußtritt-These gegenüber 1 Ernst Meyer: Über die „Loyalitätsdeklaration“ der Kommunistischen Partei. Offenes Schreiben an das Exekutivkomitee der III. Internationale, in: Die Kommunistische Internationale, Jg.2 (1920), H. 12, S.-151-154. 2 Bericht 4. Parteitag, S.-42 f. <?page no="122"?> 122 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) dem linken USPD-Flügel sagte er, es habe keinen Sinn, „auf diese Massen der USP und damit auf die Massen der Arbeiter einzuschlagen. […] Die Massen der USP, die den linken Flügel darstellen, sind von Geist und Blut die unseren, und es hat keinen Zweck, gegen unser eigen Fleisch und Blut zu wüten, sondern es heißt sie aufzuklären […] aber den Kampf müssen wir gegen den rechten Flügel ausschließlich führen.“ 3 Die Strömung um Levi, der auch Walcher und Pieck angehörten, verteidigte nicht nur den Kurs der Loyalitätsdeklaration, sie entwickelte daraus auch eine Linie, die wichtige Elemente der späteren Einheitsfrontpolitik der KPD vorwegnahm: Die KPD dürfe in einer Situation, in der die Mehrheit der Arbeiterschaft ihr nicht folge, ihre Parolen nicht stur und möglichst radikal propagieren, sondern müsse positive Forderungen entwickeln, für die es sich zu kämpfen lohne - und die notwendigerweise weniger radikal als das KPD- Programm ausfallen würden. So sagte Levi: „Wenn es auch unsere erste Aufgabe ist, unsere Parolen zu vertreten und nicht Kompromisse, so müssen wir sie doch, wenn sie historisch notwendig oder wahrscheinlich werden, selbst vorschlagen. Darin unterscheide ich mich grundsätzlich von Meyer.“ 4 Levis Schlusswort des Parteitags liest sich wie eine Vorwegnahme der Grundannahmen aus Lenins in jenen Tagen geschriebenen, aber noch nicht veröffentlichten Schrift „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Beide vertraten in Bezug auf die Notwenigkeit von Kompromissen, auf den Umgang von Kommunisten mit Verhandlungen und auf die Notwendigkeit eines taktischen, flexiblen Verhältnisses zu den anderen Arbeiterparteien sehr ähnliche Positionen. Diesem taktischen Verständnis entsprang auch Levis Bereitschaft zur kritischen Unterstützung der Arbeiterregierung bei Wahrung der eigenen Agitationsfreiheit. Eine weitere, minoritäre Strömung um Brandler, Thalheimer und Zetkin stimmte zwar der Orientierung Levis grundsätzlich zu, hielt diese aber am konkreten Beispiel der Arbeiterregierung für taktisch falsch. Die Strömung um Meyer, Frölich, Eberlein und Friesland argumentierte hingegen in eine ganz andere Richtung. Sie hielt die Zustimmung zur Arbeiterregierung für grundsätzlich falsch. Solche taktischen Manöver würden die Klasse nur ablenken. Aufgabe der KPD sei es, ihre radikalen Parolen zu propagieren und Kämpfe entlang dieser Parolen zu führen. Dies gelte auch für die anstehenden Wahlen: Meyer gelang es auf dem Parteitag, gegen die Zentrale-Mehrheit einen Wahlaufruf durchzusetzen, der durchdrungen war von abstrakt-radikalen Parolen. Die Erfahrung mit der Passivität der Zentrale während des Kapp-Putsches und ein wesentlich anderes Verständnis kommunistischer Taktik, als es etwa Levi vertrat, ließ Meyer zu einem der Wortführer der radikalsten Strömungen in der Partei werden. Als solcher erhielt er bei den Wahlen zur Zentrale - gemeinsam mit Clara Zetkin - die meisten Stimmen. Das illustrierte, dass beide Politikansätze jeweils starke Unterstützung in der Partei fanden. Den radikalen Positionen von Meyer und Frölich schlossen sich bald auch andere führende Kommunisten wie Brandler und Thalheimer an. Auch an der Parteibasis stießen sie auf großen Widerhall. Zwar waren nach dem Heidelberger Parteitag Teile der radikalen Basisströmung aus der KPD gedrängt worden. Doch viele in Opposition zu den Heidelberger „Leitsätzen“ stehende, aktionistisch ausgerichtete und alle Kompromisse taktischer Politik prinzipiell ablehnende Mitglieder waren in der Partei geblieben, ohne ihre grund- 3 Ebenda, S.-49-52. 4 Ebenda, S.-49. <?page no="123"?> 123 5.1 „Revolutionäre Offensive“ statt „antiputschistischer Kretinismus“ sätzlichen Vorstellungen aufzugeben. Sie verarbeiteten die „militärische Niederschlagung der Revolution“, so Koch-Baumgarten, „zu einem ‚militärischen‘ Revolutionskonzept: Klassenauseinandersetzungen wurden reduziert auf bewaffnete Kämpfe, ihre Auslösung und Durchführung wurde als Ziel und Inhalt radikaler, revolutionärer Politik und Praxis gesehen.“ Dies münde schließlich in folgendem Revolutionskonzept: „Das Vorantreiben der Revolution müsse durch entschlossenes und kompromissloses Vorgehen bewaffneter Minderheiten erfolgen, durch lokale Machtergreifung und anschließende Ausweitung der Bewegung.“ 5 Vor allem Paul Frölich zog aus der Erfahrung des Massenstreiks als Folge eines rechten Putsches die Konsequenz, dass man zukünftig die Rechte zum Angriff zwingen müsse, um revolutionäre Massenaktionen auszulösen. Begünstigt wurde die radikale Stimmung innerhalb der KPD auch durch die Gründung der KAPD im April 1920, die fortan von linksaußen Druck auf die Partei ausübte. Zudem schlug sich die Linie des II. Weltkongresses der Komintern, sich stärker um eine Einbindung linkskommunistischer Elemente zu bemühen, in einer Auffassung nieder, die vor allem Meyer vertrat: Es sei eine wichtige Aufgabe der KPD, „durch enge Fühlungnahme mit den breiten Massen, durch taktvolles Zusammenarbeiten und Eingehen auf die Wünsche der KAPD diese guten Elemente wieder an uns zu fesseln“. 6 Das ließ sich durchaus im Sinne von Zugeständnissen an ihren Aktionismus interpretieren. Der Drang vieler Kommunisten nach einer aktionistischeren und radikaleren Ausrichtung wurde durch ihre Einschätzung der politischen Verhältnisse verstärkt. So brachte Meyer auf den Punkt, was viele dachten, als er beim 5. Parteitag im November 1920 erklärte, man befände sich in einer „akuten revolutionären Situation“. 7 Die Protagonisten des linken Flügels gingen davon aus, dass sich die tiefe Krise des Kapitalismus der vergangenen Jahre fortsetzen würde und notwendigerweise zu dessen Zusammenbruch führen müsse („Zusammenbruchstheorie“). Dies schaffe einen objektiven Rahmen dafür, dass eine Kommunistische Partei durch entschlossenes, offensives Vorgehen selbst neue revolutionäre Situationen auslösen könne. So erklärte etwa Paul Frölich: „Wir sind so stark, und die Situation ist so verhängnisschwanger, dass wir daran gehen müssen, das Geschick der Partei und der Revolution selbst zu zwingen [...]. Wir haben jetzt von der Partei wegen die Offensive zu übernehmen, zu sagen, wir warten nicht, bis man an uns herankommt, bis wir vor Tatsachen stehen; wir wollen [...] diese Tatsachen schaffen“. 8 Die beiden Grundmerkmale ultralinker Politikvorstellungen im deutschen Kommunismus trafen auf diese „Offensivtheorie“ zu, wie das Konzept von Meyer und Frölich bald genannt wurde: aktionistische Ungeduld und ein Subjektivismus, der von eigenen Empfindungen und Bedürfnissen ausging - anstatt von einer intensiven Analyse der politischen Situation und Kräfteverhältnisse. 5 Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-51. 6 Bericht über den 5. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale) vom 1. bis 3. November 1920 in Berlin, Berlin 1921, S.-125 f. 7 Ebenda, S.116, ähnlich S.-118. 8 Zit. nach Paul Levi: Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt/ M. 1969, S.-65. <?page no="124"?> 124 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) Bestärkt und unterstützt wurde Meyer in seinem radikalen Kurs durch Teile des Komintern-Apparates. Namentlich Radek stellte sich in einem Beitrag für die „Kommunistische Internationale“ klar auf Meyers Seite. Er warf Teilen der Zentrale „antiputschistischen Kretinismus“ vor, der zum „Quietismus“ geführt habe. Aus der Unfähigkeit, im Jahr 1919 die Macht zu ergreifen, habe die KPD „im März des Jahres 1920 den Schluss gezogen von der Unmöglichkeit der Aktion überhaupt, einen Schluss […] [der] objektiv die größte Schädigung der revolutionären Bewegung darstellt.“ „Doktrinäre antiputschistische Propaganda“ sei nun „zu einem Hindernis für die revolutionäre Bewegung“ geworden, die Loyalitätserklärung ein schwerer Fehler gewesen. „Die possibilistische Gefahr muss liquidiert werden, indem die Partei sich bewusst wird, dass sich die Klassengegensätze immer mehr verschärfen […], dass die Weltlage sich zuspitzt, dass der Kampf Sowjetrusslands mit Polen neue Perspektiven eröffnet, dass es aus diesem Grunde die Pflicht der Partei ist, immer mehr an ihre Aktions- und nicht an ihre Bremsfunktionen zu denken.“ 9 In diesem Artikel finden sich bereits alle Elemente des aktionistischen, sogar zu Putschen bereiten Kurses von Teilen der KI, der nur ein Jahr später zum Desaster der KPD in der Märzaktion führen sollte. In den folgenden Monaten setzten Radek und gleichgesinnte Mitglieder des EKKI bei der Forcierung dieses Kurses verstärkt auf Meyer und versuchten, ihn gegen den als „rechte Strömung“ angesehenen Levi-Flügel zu stärken. Der II. Weltkongress der Komintern gab ihnen die Möglichkeit, sich ausführlich mit Meyer zu beraten, der als Delegierter der KPD daran teilnahm. 5.2 Auf dem II. Weltkongress der Komintern Anfang Juli 1920 fand in einer Steglitzer Privatwohnung eine Sitzung der Zentrale statt, bei der die Delegierten der KPD für den II. Weltkongress der Komintern nominiert wurden, darunter auch Meyer. Er und Walcher fuhren zusammen mit Levi, Willi Münzenberg und vier Reichstagsabgeordneten der USPD mit dem Schiff von Stettin nach Reval (Tallinn), um von dort nach Russland zu gelangen. Die Schifffahrt war abenteuerlich: Da die Einreise über Estland illegal erfolgen musste, wurden die Delegierten von Mitgliedern einer radikalen Matrosengewerkschaft geschmuggelt. Bei einer Durchsuchung des Schiffes mussten die Delegierten in einem Kleiderspind versteckt werden. Vom vor Reval liegenden Schiff aus schrieb Meyer an seine neue Freundin Rosa Leviné, mit der er kurz vor der Abreise eine Beziehung begonnen hatte: „Liebe, mit Fieber und Halsentzündung, die mich schon am letzten Abend störte, langte ich am Hafen an. Die Kur bestand in zweitägigen Versteck im engsten, hitz- und floherfüllten Raum, in dem ich selbst am Abend vor Schweiß troff.“ Er schloss mit den Worten: „Ich bin nichts als ruhige Erwartung der kommenden Eindrücke.“ 10 Von der estnischen Grenzstadt Narwa aus ging die Reise in einem Zug mit holzbefeuerter Lokomotive nach Petrograd. Münzenberg erinnert sich: „Wir waren berauscht, nach 9 K[arl] Radek: Die Kommunistische Partei Deutschlands während des Kapp-Putsches, in: Kommunistische Internationale, Jg. 2 (1920), H. 12, S.162-175, Zitate S.-164, 166 u. 173. 10 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Auf See vor Reval, 06.07.1920, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 3. <?page no="125"?> 125 5.2 Auf dem II. Weltkongress der Komintern all den Schwierigkeiten und Gefahren endlich auf dem Boden der russischen Sowjetunion zu stehen.“ 11 Der II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale wurde am 19. Juli 1920 in Petrograd eröffnet und vom 23. Juli bis zum 7. August in Moskau fortgeführt. Hier versammelten sich 217 Delegierte von 67 Organisationen aus 37 Ländern, um über die Perspektiven der Weltrevolution zu diskutieren. Der Kongress drückte ein immenses Wachstum der jungen Internationale aus. Sie stand nun, wie Sinowjew es formulierte, vor der Herausforderung, von einer „Propagandagesellschaft“ zu einer „Kampforganisation des internationalen Proletariats“ zu werden. Erst ein Jahr zuvor, im März 1919, war die Kommunistische Internationale (KI, Komintern oder III. Internationale) auf Initiative der Bolschewiki in Moskau gegründet worden. Während des Weltkrieges hatte Meyers Gruppe Internationale stets die Notwendigkeit einer handlungsfähigen internationalen Organisierung betont. Dem konkreten Vorgehen der Bolschewiki stand die Spartakusführung Anfang 1919 aber zunächst skeptisch gegenüber, ihr Vertreter Eberlein enthielt sich bei der Abstimmung des ersten Weltkongresses über die Gründung der Komintern. Meyer erklärte später, die Zentrale hätte Eberlein sogar Weisung gegeben, gegen die Gründung zu stimmen, „weil wir eben wussten, dass dieser Kongress nicht Repräsentant der revolutionären Arbeiterorganisation sein konnte.“ Ein weiterer Beweggrund sei gewesen, „dass es überhaupt nicht zweckmäßig sei, diesem historischen Zufallsgebilde der russischen Sowjetrepublik die Führung bei der Bildung der I[nternationale] zu überlassen, sondern man meinte […], dass eine Internationale erst dann wirklich eine I[nternationale] sein könne, wenn diese I[nternationale] gleichmäßig geschaffen wäre von den wichtigsten Arbeiterorganisationen in den verschiedenen Staaten.“ 12 Das verdeutlicht, wie groß das Selbstbewusstsein der noch stark von den Vorstellungen Luxemburgs und Jogiches geprägten jungen KPD gegenüber den Bolschewiki war. Auf dem II. Weltkongress hielten die Russen den deutschen Delegierten ihre skeptische Haltung mehrfach vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte die KPD-Führung aber ihre Meinung längst geändert. So sagte Meyer im Oktober 1920: „Die Gründung der dritten Internationale, die im vergangenen Jahre in Moskau vollzogen wurde, war ein notwendiger Akt, um das Werk, das die erste und die zweite Internationale begonnen hatte, fortzusetzen und zu vollenden.“ 13 Wesentlicher Grund für diesen Sinneswandel war das rasante Wachstum der KI in den ersten Monaten nach ihrer Gründung. Dadurch war sie dem Anspruch der KPD-Führung an eine neue Internationale, nämlich tatsächlich proletarische Massenorganisationen zu vertreten und aus dem Bedürfnis der Massen heraus zu entstehen, deutlich näher gekommen. Auch konnte die Sowjetunion nicht mehr länger als „Zufallsgebilde“ betrachtet werden. Zwar waren viele europäische Länder von der revolutionären Welle der Jahre 1917 bis 1920 erfasst worden, aber außerhalb Sowjetrusslands wurden letztendlich alle Räterepubli- 11 Zit. nach Barbette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Leipzig 1991, S.-159. 12 [Ernst] Meyer: Entwicklung und Aufgaben der III. Internationale, Vorlesung, 26.Okt. 1920, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 87, Bl. 127 f. 13 [Ernst] Meyer: Entwicklung und Aufgaben der III. Internationale, Vorlesung, 26.Okt.1920, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 87, Bl. 115. <?page no="126"?> 126 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) ken niedergeschlagen. Weitere sozialistische Revolutionen blieben aus. Notwendigerweise wuchs damit das politische Gewicht der Russischen Kommunistischen Partei (RKP[B]) (ab 1925 KPdSU[B]) innerhalb der KI, die sie als einzige Staatspartei auch finanziell und organisatorisch dominierte. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Revolution in den anderen Ländern stiegen zudem die Autorität der russischen Partei und die Attraktivität ihres Organisationsmodells. Gleichzeitig rückten die internationalen Probleme und Aufgaben nach der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges stärker in den Fokus der RKP(B). Allerdings ist die Komintern bis 1923/ 24 keineswegs mit der vollständig von Moskau abhängigen, zu einem Instrument der russischen Außenpolitik degenerierten und in sich undemokratisch organisierten Internationale der späten 1920er und 1930er Jahre vergleichbar: Sie war noch in erster Linie ein Instrument zur Ausbreitung der Weltrevolution. Die Akzeptanz der Autorität der russischen Partei basierte auf realen Erfahrungen und deren Ansichten wurden keineswegs widerspruchslos übernommen. Gerade die ersten Kongresse der Komintern waren von offenen und hitzigen Debatten über Strategie und Taktik der kommunistischen Weltbewegung gekennzeichnet. „In jenen Jahren sahen die Bolschewiki das Heil ihrer eigenen Revolution hauptsächlich im Sieg der europäischen Revolution, und sie waren ehrlich bemüht, die Interessen Russlands denen des Weltproletariats unterzuordnen - so, wie sie diese verstanden“, schreibt Flechtheim. 14 Ähnlich drückte es Meyer auf dem 5. Parteitag der KPD aus: „Es ist nicht so, dass die Kommunistische Internationale ein Hilfsorgan für Sowjetrussland ist […]. Die Kommunistische Internationale ist nicht geschaffen worden nach dem Diktat von Moskau und befindet sich nicht unter der Diktatur von Moskau, sondern sie ist der freiwillige Zusammenschluss aller revolutionären Elemente in der ganzen Welt, die selbstverständlich die Erfahrungen von Moskau mit berücksichtigen und für den eigenen Kampf zu eigen machen.“ 15 Die KPD hatte 1920 ein großes Interesse daran, die Komintern in Deutschland stärker sichtbar zu machen und hoffte in zwei zentralen Fragen auf ein Eingreifen der Internationale: Zum einen im Konflikt mit der KAPD, zum anderen, um den linken Flügel der USPD für einen Zusammenschluss zu gewinnen. Gegen den Widerstand der KPD hatte die Führung der Komintern auch die KAPD dazu eingeladen, am Kongress teilzunehmen - wenn auch nur mit beratender Stimme. Diese hatte daraufhin zwei Delegierte entsandt, denen die KI schließlich sogar das Stimmrecht gewähren wollte. Das führte beinahe zum Eklat. Walcher berichtet, Meyer habe ihn im Moskauer Hotel Lux mit den Worten empfangen: „Es ist besser, wenn du dich hier gar nicht erst einquartierst, denn es ist möglich, dass unsere Delegation gleich heute noch abreist.“ 16 Mit ihrer Abreise wollte die KPD-Delegation gegen die Zulassung der KAPD protestieren. Vor allem Levi forderte eine harte Linie gegenüber den Linkskommunisten, und wurde darin offenbar von Meyer unterstützt. Letztlich wurde der Eklat vermieden, denn die KAPDler lehnten die Aufnahmebedingungen aus politischen Gründen ab. Außerdem waren sie ihrerseits verärgert, dass ihnen die Teilnahme zuerst nur mit beratender Stimme ermöglicht werden sollte. Nun reisten sie aus Protest ab. 14 Flechtheim: KPD, S.-141. 15 Bericht 5. Parteitag, S.-119. 16 Jacob Walcher: Zum II. KI-Kongreß delegiert. Juli-Aug[ust] 1920, in: SAPMO-BArch, NY 4087/ 11, hier Bl. 8. <?page no="127"?> 127 5.2 Auf dem II. Weltkongress der Komintern Dieser Vorgang verweist auf das starke Selbstbewusstsein der jungen KPD und ihrer Konfliktbereitschaft gegenüber den Bolschewiki. Zu einer einfachen Unterordnung war man noch keineswegs bereit. Auch sonst war die Stimmung zwischen den führenden russischen Kommunisten und der deutschen Delegation durchaus gespannt. Meyer berichtete später auf der geschlossenen Sitzung des 5. Parteitages über fünf Vorwürfe, die sie häufig zu hören bekamen: 1. Die früheren Differenzen zwischen Luxemburg und Jogiches auf der einen und Lenin auf der anderen Seite würden in der KPD noch immer fortwirken (was Meyer und Levi entschieden bestritten). 2. Die KPD habe der Gründung der KI nicht zustimmen wollen. 3. Die Abreise-Drohung der Zentrale in der KAPD-Frage sei ein Fehler gewesen. 4. Der Partei fehle die Verbindung mit den Massen. 5. In der KPD habe sich ein aktionsfeindlicher, übertriebener Antiputschismus breitgemacht. Auch deshalb, so Meyer, drängten die Russen auf eine Wiedervereinigung mit der KAPD: Auf diese Weise sollte mehr „revolutionärer Elan“ in die Partei kommen. Zugleich hätten die Linkskommunisten in einer vereinigten Partei ein radikales Gegengewicht zu den linken USPDlern bilden können, die pauschal unter dem Verdacht des Opportunismus standen. 17 Generell versuchten die Bolschewiki auf dem Kongress, die syndikalistischen, anarchistischen und linkskommunistischen Strömungen an die KI heranzuziehen, die Diskussion mit ihnen zu suchen und sie bei aller Kritik als Revolutionäre ernst zu nehmen. Als Meyer später über den Kongress berichtete, nahm die Frage des Verhältnisses zur KAPD und anderen ultralinken Gruppierungen einen großen Raum ein - überproportional zu der insgesamt doch eher geringen Rolle, die diese Auseinandersetzung dort spielte. Sein Bericht drückte aus, dass sich die KPD weiter stark damit beschäftigte, wie sie mit den ausgeschlossenen Linkskommunisten umzugehen habe. Meyers Haltung dazu war: Das Herangehen der Bolschewiki an solche Strömungen ist generell richtig, da sich in ihren Reihen wichtige Kerne künftiger Kommunistischer Parteien fänden. Nur in Deutschland gelte dies nicht, denn hier bestehe schon eine starke KPD und eine Anerkennung der KAPD als Mitgliedspartei durch die Komintern würde diese schwächen. Eine für die Zukunft des deutschen Kommunismus weit wichtigere Frage spielte auf dem Kongress ebenfalls eine Rolle, nämlich die nach dem Verhältnis zur USPD und vor allem zu deren rechten Flügel. Die weltweite Radikalisierung der Arbeiterschaft und das wachsende Prestige der Russischen Revolution brachten zahlreiche Parteien dazu, sich um eine Aufnahme in die KI zu bemühen. Darunter befanden sich viele, die kaum als revolutionäre oder kommunistische Kräfte bezeichnet werden konnten. Innerhalb der Komintern herrschte die Auffassung vor, dass der Opportunismus und die Autonomie der Mitgliedsorganisationen der II. Internationale zu deren Versagen bei Kriegsausbruch geführt hät- 17 Bericht 5. Parteitag, S.-27-29. <?page no="128"?> 128 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) ten. Daher sollten nun Mechanismen gefunden werden, um das Aufkommen ähnlicher Erscheinungen in der III. Internationale von Anfang an zu verhindern. Die allgemeine Zustimmung zur „Diktatur des Proletariats“ und zur Revolution, die der erste Weltkongress formuliert hatte, schien dafür nicht genügend Sicherheit zu bieten. Oft handelte es sich hierbei nur um Lippenbekenntnisse der entsprechenden Parteien. Die Flut von Aufnahmeanträgen stellte den Kongress also vor große Probleme. Wie sollte beispielsweise mit der USPD verfahren werden, die - ganz anders als die KPD - über einen wirklichen Massenanhang in der Arbeiterschaft verfügte? Ihr folgten hunderttausende revolutionär eingestellte Arbeiter, aber ihre Führung verhielt sich sowohl während des Krieges als auch in der Revolution überaus schwankend und keineswegs eindeutig revolutionär. Wie sollte man umgehen mit Leuten wie Kautsky, der wie kein anderer für die Verbindung von revolutionärer Rhetorik mit passiver Praxis stand? Er verkörperte einen Attentismus, der in der Wahrnehmung der Kommunisten zum Untergang der II. Internationale geführt hatte. Das Problem sollte dadurch gelöst werden, dass die Komintern harte Bedingungen zur Aufnahme stellte. Den „Zentristen“ und „Opportunisten“ sollte der Zugang zur Internationale so schwerfallen wie dem Kamel der Gang durchs Nadelöhr, formulierte Sinowjew. Meyer beteiligte sich als Vertreter der KPD an der Kommission des Kongresses, in der die Aufnahmebedingungen diskutiert wurden. Ergebnis der Debatte waren die berühmtberüchtigten „21 Bedingungen“ zum Beitritt zur Komintern. Sie besagten, dass beitrittswillige Parteien mit dem Reformismus und ihren reformistischen Führern (Hilferding und Kautsky wurden sogar namentlich genannt) brechen und ihren Föderalismus zugunsten einer zentralisierten Parteistruktur aufgeben müssten. In den Debatten in der Kommission vertrat Meyer - gemeinsam mit den Vertretern der Bolschewiki - die Linie harter Aufnahmebedingungen. Zur Besetzung verantwortlicher Positionen in den Mitgliedsparteien forderte er: „Jede Organisation, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen will, muss regelrecht und planmäßig […] die Reformisten und Zentralisten entfernen und sie durch bewährte Kommunisten ersetzen, ohne sich daran zu stoßen, dass sie besonders am Anfang an die Stelle von Leuten mit großer Erfahrung Arbeiter bringt, die der Masse entstammen.“ 18 Zentral an den 21 Bedingungen war in seinen Augen aber etwas anderes: „Die gesamte Propaganda und Agitation müssen einen wirklich kommunistischen Charakter tragen und dem Programm und den Beschlüssen der Kommunistischen Internationale entsprechen. Alles übrige, was in diesem 21 Punkten gesagt ist, ist nichts anderes als eine konkrete Ausführung zu diesem Hauptsatz.“ 19 Die Stimmung auf dem Kongress war euphorisch und wurde noch angeheizt durch Berichte über große Streikbewegungen in Italien, England und anderen Ländern, vor allem aber durch den Vormarsch der Roten Armee im Krieg gegen Polen. Nach Jahren des Bürgerkrieges gegen die „weiße“, gegenrevolutionäre russische Armee und gegen vierzehn ausländische Interventionsarmeen hatte sich das junge Sowjetregime Anfang 1920 militärisch stabilisieren können. Im April griff dann Polen Sowjetrussland an. Die Polen gerieten nach kurzer Zeit in die Defensive, die Rote Armee stieß tief auf polnisches Gebiet vor und 18 Notizen über die Verhandlungen betreffs der Bedingungen zur Aufnahme in die 3. Internationale, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 23-29, Zitat Bl. 26. 19 Bericht 5. Parteitag, S.-114. <?page no="129"?> 129 5.2 Auf dem II. Weltkongress der Komintern stand im August vor den Toren Warschaus. Später wendete sich das Kriegsglück erneut, die Rote Armee wurde zurückgedrängt und im September schließlich ein Waffenstillstand vereinbart. Während des Kongresses war diese erneute Wende jedoch nicht absehbar, im Gegenteil: Die Rote Armee marschierte zu diesem Zeitpunkt von Erfolg zu Erfolg und die Ausdehnung Sowjetrusslands bis an die deutsche Grenze schien möglich. Lenin erkundigte sich bei Meyer, wie sich der Aufstand der ostpreußischen Landarbeiter abspielen würde, wenn die Rote Armee die deutsche Grenze erreiche. Meyer war irritiert: „Genosse Lenin, erwarten Sie wirklich allen Ernstes, dass sich die ostpreußische Bevölkerung beim Herannahen der Roten Armee erhebe? “ Lenin beendete daraufhin die Unterhaltung mit den Worten: „Jedenfalls müssen Sie sich im Klaren darüber sein, dass wir im Zentralkomitee ganz anderer Auffassung sind als Sie.“ 20 Die Erfolge gegen Polen bestärkten die Bolschewiki darin, im internationalen Maßstab eine Taktik der revolutionären Offensive zu forcieren, wie sie auch Meyer und seine Genossen in der deutschen Partei vertraten. Dementsprechend sprach Meyer nach seiner Rückkehr nach Deutschland auch von dem „Beginn der Offensivtaktik, die auf dem zweiten Kongress eingeleitet wurde.“ 21 Zugleich entfachten diese Erfolge in der Internationale eine Debatte über die Möglichkeit eines militärischen Revolutionsexports. Meyer befürwortete eine solche Politik. So wie in der Epoche der Französischen Revolution Frankreich „zum Träger der revolutionären Bewegung in ganz Europa“ geworden sei „und planmäßig eine revolutionäre Offensive unternahm gegen die feudalen Staaten“, so „besteht für mich persönlich kein Zweifel, dass Russland in der gegenwärtigen Epoche die selbe Rolle spielen wird, die damals Frankreich gespielt hat. […] Praktisch ist ja der Versuch bereits in diesem Jahr durch die Offensive in Polen gemacht worden. Diese Versuche werden und müssen sich wiederholen.“ Russland habe sich in die Bresche geworfen für die Proletarier aller Länder. Dementsprechend sei es „selbstverständlich, dass die Proletarier außerhalb Russlands sich in einer bestimmten Situation vielleicht ganz planmäßig in eine Bresche werfen, sich selbst opfern müssen, genauso wie bei einem militärischen Kampf planmäßig ein Bataillon oder vielleicht ganze Regimenter geopfert werden. Die Förderung der Weltrevolution ist von so großer Bedeutung, dass unter Umständen die besonderen Verhältnisse eines einzelnen Landes dabei in den Hintergrund treten müssen.“ Und, noch drastischer: „[…] wenn wir diese Verhältnisse in Europa uns überlegen […] kann gar kein Zweifel bestehen, dass einzelne Parteien, einzelne Länder sozusagen - übertrieben gesprochen - geopfert werden müssen, um dadurch größere, weitere Ziele zu erreichen.“ 22 Das Desaster der Märzaktion 1921 ist in solchen Äußerungen bereits deutlich angelegt. Die (irrige) Vorstellung einer akut weltrevolutionären Situation führte bei Meyer zu apokalyptisch anmutenden Phantasien von einer letzten Schlacht, in der die revolutionäre Führung Proletariermassen und ganzen Parteien wie Regimenter in imperialistischen Kriegen opfern dürfe und müsse. Es sind dies die maximalsten Entfernungen von einem durch Luxemburg inspirierten humanistischen und emanzipatorischen Marxismus, die 20 Diese Episode findet sich in: Margarete Buber-Neumann: Kriegsschauplätze der Weltrevolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern 1919-1943, Stuttgart 1967, S.-24. Die Besprechung mit Lenin fand nach Ende des II. Weltkongresses statt. 21 [Ernst] Meyer: Entwicklung und Aufgaben der III. Internationale, Vorlesung, 26. Okt. 1920, in: SAP- MO-BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 87, Bl. 147. 22 Ebenda, S.-118 f. <?page no="130"?> 130 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) sich bei Meyer nachweisen lassen. Aber die Erfahrung mit den verheerenden Folgen dieser blutrünstigen Revolutionsvorstellungen ließen ihn im folgenden Jahr davon bald wieder - endgültig - Abstand nehmen. Teile der russischen Parteiführung, namentlich Sinowjew, Radek und Bucharin, bestärkten Meyer noch in seinem radikalen Aktionismus (Lenin hielt sich, ähnlich wie Trotzki, im Jahr 1920 aus den internationalen Angelegenheiten eher heraus). Sie bauten ihn systematisch als linken Gegenpool zu Levi auf - eine Tatsache, die zu schweren Verstimmungen in der deutschen Delegation führte. So berichtet Curt Geyer (USPD-Linke), nach der Rückkehr der Delegierten vom Weltkongress habe er ein „sehr langes Gespräch mit Paul Levi“ gehabt. Dieser habe erfahren, dass besagte Bolschewiki an Meyer herangetreten seien „mit der Anregung, in der Führung der Partei und in den Parteikörperschaften eine linke Oppositionsgruppe gegen Paul Levis Führung zu bilden.“ Dass sie gerade auf Meyer kamen, erstaunte Geyer: „Noch stärker als Paul Levi selbst war Ernst Meyer der Typ eines Überintellektuellen, keineswegs ein Aktivist, und Paul Levi wusste eben so gut wie ich, dass Karl Radek von Ernst Meyer nie anders zu reden pflegte als ‚der jugendliche Greis‘. Aber wir standen vor der Tatsache, dass von Moskau aus eine linke Oppositionsgruppe gebildet werden sollte gegen die offizielle Führung der der Komintern angeschlossenen KPD wie gegen die bisherige Führung der linken USPD. […] Paul Levi wusste um die Komintern-Bemühungen, ihn durch eine von Ernst Meyer geführte Oppositionsgruppe in der KPD als Führer zu stürzen, und wir wussten es durch ihn.“ 23 Ob die Kominternführung tatsächlich auf einen Sturz Levis durch Meyer setzte oder ob sie nur ein „linkeres“ Gegengewicht zu bestimmten Positionen schaffen wollte, lässt sich nicht mehr klären. 24 Belege für einen aggressiven Fraktionskampf Meyers gegen Levi finden sich nicht in den Quellen, ihr Umgang miteinander erscheint bei allen politischen Differenzen weiterhin solidarisch und kollegial. Es spricht für die offenen Diskussions- und Umgangsformen in der Partei, dass der Konflikt sowohl in den zentralen Führungsgremien zur Sprache kam, als auch den Delegierten des Parteitages zur Kenntnisnahme geschildert wurde. Im Anschluss an den Kongress hatten die Führungen von Bolschewiki und Komintern einige Gelegenheit, Meyer weiter zu beeinflussen. Denn dieser war dort in das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) gewählt worden. Hier war er einen Monat lang als KPD-Vertreter tätig und wurde sogar in das „Kleine Büro“, die politische Führung des EKKI, gewählt, wo er sich bei Diskussionen um die Verteilung von Komintern-Geldern dafür einsetzte, auch das kommunistische Publikationswesen zu fördern. 25 Er traf sich mit führenden russischen Politikern, darunter Lenin, nahm an Sitzungen des ZK der RKP(B) teil und sprach auf der russischen Parteikonferenz im September. Am 9. 23 Curt Geyer: Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD, Stuttgart 1976, S.-207 u. 228. 24 Siehe hierzu auch Wilde: Meyer (online Dissertation), S.-202 f. 25 Vgl. Protokoll der 2. Sitzung des EKKI, Moskau 8.8.20, in: Weber/ Drabkin/ Bayerlein: Komintern, Bd. II/ 1, Dok. 28. <?page no="131"?> 131 5.3 Endlich Massenpartei: Die Vereinigung mit der USPD September 1920 berief ihn die KPD-Zentrale nach Deutschland zurück. Insgesamt war Meyer begeistert von seinem Russland-Besuch, wie aus einem Brief an seine Freundin Rosa Leviné hervorgeht. Noch während des Weltkongresses schrieb er: „Es ist ein Taumel aus Arbeit und Freude, in dem ich hier lebe. Ein Land des Kampfes und der Arbeit, das nicht drückt, sondern nur anspornt, erhebt, ermutigt. Man wird gleich angesteckt von dieser Selbstverständlichkeit, immer mehr und wieder mehr von sich zu verlangen u. zu erreichen. So tief waren seit Jahren Erlebnisse und Eindrücke nicht. […] Vorläufig Arbeit über Arbeit: Plenum, drei Kommissionen, ein Referat, dauernd Besprechungen und einige Erholung, die auch Zeit und Kraft raubt.“ 26 5.3 Endlich Massenpartei: Die Vereinigung mit der USPD Der II. Weltkongress zog tatsächlich eine Spaltung der USPD nach sich. Ihr linker Flügel sprach sich für die Annahme der 21 Bedingungen und den Anschluss an die KI aus, der rechte lehnte dies ab. Um diese Frage zu entscheiden, trat im Oktober 1920 in Halle ein Sonderparteitag der Unabhängigen zusammen. Hier konnte sich der linke Flügel durchsetzen: 237 Delegierte stimmten für, 156 gegen den Anschluss an die Komintern. Es folgte die offizielle Spaltung der USPD: Während der rechte Flügel die Partei unter ihrem alten Namen fortführte, bereitete sich der linke auf die Vereinigung mit der KPD vor. Eine provisorische gemeinsame Zentrale wurde gebildet, der auch Meyer angehörte. Um den Zusammenschluss beider Parteien vorzubereiten, trat vom 1. bis 3. November 1920 in Berlin der 5. Parteitag der KPD zusammen. Es war der erste legale Parteitag seit der Gründung. Erstmals konnten die Kommunisten auf eine mehrmonatige Phase legaler Tätigkeit zurückblicken, in der ihre Partei von 66.323 (Juli) auf 78.715 Mitglieder (Oktober) angewachsen war. Damit stand sie zwar noch immer schwächer da als ein Jahr zuvor. Doch die Atmosphäre innerhalb der Partei hatte sich gebessert, das Vertrauen in die Führung war zurückgekehrt. Meyer trat auf diesem Parteitag noch vorhandenen Bedenken bezüglich einer Vereinigung mit der USPD-Linken entgegen und betonte die Notwendigkeit einer schnellen Verschmelzung. Dieser Prozess bedeute eine „Vereinigung aller revolutionären und kommunistischen Elemente zu einer starken Massenorganisation […] Die Verschmelzung ist, auch wenn sie sich nicht ganz glatt und reibungslos vollziehen wird, von ungeheurer politischer Wichtigkeit, und sie ist, von unserem Standpunkt aus, vollkommen gefahrlos; denn sie geschieht auf dem Boden der Beschlüsse des Moskauer Kongresses.“ Daher bestehe auch keine Gefahr des Opportunismus. Hier schlucke nicht eine Partei die andere, sondern es handele sich um eine Vereinigung der zum Kommunismus drängenden Arbeiter. Gleichzeitig müsse man weiterhin versuchen, auch an die „vernünftigeren Elemente innerhalb der KAPD heranzukommen.“ 27 Die 101 Delegierten des Parteitages votierten schließlich einstimmig für die Vereinigung mit der USPD-Linken. Meyer wurde in die gemeinsame Kommission gewählt, die das Programm der neuen Partei ausarbeiten sollte. Auf eine Neuwahl der Zentrale verzichteten 26 Brief Meyer an Meyer-Leviné, M[oskau], 29.7.20, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 4. 27 Bericht 5. Parteitag, S.-25 <?page no="132"?> 132 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) die Delegierten, die alte - bestehend aus Zetkin, Levi, Thalheimer, Meyer, Pieck, Eberlein, Brandler - wurde für die kurze Zeit bis zum Vereinigungsparteitag Anfang Dezember im Amt bestätigt. Inhaltlich stimmte der Parteitag der von Moskau aus forcierten und von Meyers Strömung vorangetriebenen Orientierung auf eine revolutionäre Offensive zu. Oberste Aufgabe der Partei sei es, „die aus der innenwie außenpolitischen Situation sich ergebenden Krisen zu revolutionären Aktionen auszunützen […]“ 28 Meyer war in die Vorbereitung der Vereinigung stark involviert und wurde in das Komitee entsandt, das die organisatorischen Fragen der Verschmelzung zu klären hatte. Außerdem wurde er zum Vertreter der KPD in der Redaktion des USPD(Linke)-Zentralorgans „Internationale“ bestimmt und beauftragt, eine große Druckerei für das künftige Zentralorgan der vereinigten Partei zu finden. Vollzogen wurde die Verschmelzung von USPD-Linken und KPD schließlich auf einem Vereinigungsparteitag, der vom 4. bis 7. Dezember 1920 in Berlin tagte. Es entstand die „Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands“ (VKPD). Die neue Partei zählte nach Schätzungen der Bezirke vom 1. Januar 1921 nun 448.500 Mitglieder. 29 Von den 81 Reichstagsabgeordneten der USPD wechselten 22 zur VKPD, die nun über 24 Abgeordnete verfügte und damit den Fraktionsstatus erhielt. Formal stand die USPD „rechts“ von der KPD. Doch viele ihrer Mitglieder hatten sich in den Auseinandersetzungen der vergangenen zwei Jahren radikalisiert und waren sehr weit nach links gerückt, einige sogar in die Nähe jener ultralinken Positionen derer, die nach dem Heidelberger Parteitag die KPD verlassen hatten. Ihre Erwartungen an die neue Partei waren hoch, wie Harman schreibt: „Sie brachen mit der alten Führung, weil sie jetzt von der Notwendigkeit einer mächtigen revolutionären Partei, die auf revolutionärem Handeln gründete, überzeugt waren. Sie hatten das Gefühl, dass eine halbe Million in einer vereinigten kommunistischen Partei in der Lage sein sollte, das zu erreichen, was die doppelte Anzahl in einer halbherzigen Partei nicht erreichen konnte“. 30 Sie hatten eine starke Neigung zur unmittelbaren revolutionären Aktion und sie waren oft sogar noch ungeduldiger als die aus der KPD stammenden Mitglieder. Vielen Kommunisten kamen die vergangenen zwei Jahre wie eine Verkettung verpasster Möglichkeiten vor. In der Novemberrevolution, im „Spartakusaufstand“, in den Kämpfen um die Räterepubliken im ersten Halbjahr 1919 und im Generalstreik gegen den Kapp- Putsch und den folgenden bewaffneten Aufständen im Ruhrgebiet - überall schien die Möglichkeit größerer Erfolge, sogar einer sozialistischen Umwälzung angelegt gewesen zu sein. Doch stets war die KPD zu klein, um dem Verlauf der Ereignisse entscheidende Wendungen geben zu können. Zudem hatte sie sich in den Augen vieler Mitglieder in einer entscheidenden Situation, dem Kapp-Putsch, viel zu zögerlich verhalten. Nun war endlich eine kommunistische Massenpartei entstanden. Dementsprechend meinten viele Mitglieder an der Basis und in der Führung, die Partei dürfe nie wieder zögerlich agieren. Vielmehr müsse sie jede sich bietende Gelegenheit zu Aktionen, zu einer 28 Ebenda, S.-176 f. 29 Die tatsächliche Höhe der Mitgliederzahl nach der Vereinigung ist in der Forschung umstritten. Die Angaben schwanken zwischen 350.000 und 500.00. 30 Harman: Revolution, S.-257. <?page no="133"?> 133 5.3 Endlich Massenpartei: Die Vereinigung mit der USPD Offensive der Arbeiterklasse und zu einer Revolutionierung der Verhältnisse in Deutschland ergreifen. Dieser Stimmung verlieh Meyer in seinem einzigen Redebeitrag auf dem Vereinigungsparteitag Ausdruck, als er sagte: „Unser Vereinigungsparteitag soll ein Parteitag sein, der den Weg der Tat zeigt, den die VKPD beschreiten will. Die VKPD beginnt ihre Arbeit in einem Moment, wo die Situation zu solcher Tat drängt. Darüber hinaus gibt die zahlenmäßige Stärke, die Vereinigung der bisher getrennten kommunistischen Flügel, den Kommunisten in Deutschland das psychologische Bewusstsein der Stärke. Sie von der USP, wir von der KPD haben oft in Momenten gezögert, wo wir vorwärts schreiten sollten. Sie waren gelähmt durch Ihren rechten Flügel, wir von der KPD waren gehemmt durch das Bewusstsein unserer zahlenmäßigen Schwäche, so dass wir nicht das unmittelbar in die Tat umsetzen konnten, was wir wollten. Diese Hemmnisse sind geschwunden.“ 31 Meyer machte sich so zum Sprecher einer weit verbreiteten Stimmung revolutionärer Ungeduld in der nun vereinigten Partei, indem er auf eine „Politik der Tat“ und der „revolutionären Offensive“ orientierte. In die gleiche Richtung wie sein Redebeitrag wies auch das von Radek verfasste Vereinigungsmanifest. Die Delegierten des Vereinigungsparteitags (349 stammten aus der USPD, nur 136 aus der KPD) wählten Paul Levi und Ernst Däumig zu gleichberechtigten Vorsitzenden der VKPD. Als Sekretäre wurden Clara Zetkin, Heinrich Brandler, Wilhelm Pieck (ex-KPD) sowie Wilhelm Koenen, Walter Stoecker, Otto Brass und Hermann Remmele (ex-USPD) in die Zentrale gewählt. Zunehmende Differenzen zwischen den Flügeln der KPD dürften der Grund dafür sein, dass Meyer erstmals nicht der Führung angehörte. Koch-Baumgarten vermutet, Levi habe es zur Bedingung seiner erneuten Kandidatur gemacht, dass mit Meyer und Frölich die beiden führenden Vertreter der KPD-Linken nicht mehr in der Zentrale vertreten seien. 32 Zu Meyers Ausbootung dürften auch atmosphärische Spannungen in der alten Zentrale beigetragen haben. Meyer scheint in dieser Zeit intern einen harten und für seine Genossen auch anstrengenden Oppositionskurs verfolgt zu haben. Zumindest legt dies ein Brief von ihm an Brandler nahe, in dem er schreibt, dass er - „fälschlicherweise“, wie er betont - „in dem Geruch stehe, nur um der Opposition willen Opposition zu machen, einer positiven Mitarbeit aber aus dem Weg gehe“. 33 Tatsächlich geriet Meyer durch seinen radikalen Kurs schnell in Gegensatz zur Politik der beiden neuen Vorsitzenden. Auch deren Flügel war durch die Vereinigung gestärkt worden. Denn neben frisch radikalisierten, sozialrebellischen Arbeitern kamen aus der USPD auch zahlreiche Aktivisten in die VKPD, die seit vielen Jahren in Gewerkschaften und Sozialdemokratie verankert gewesen waren, darunter auch viele ehemalige Revolutionäre Obleute. Ihnen schwebte eine gänzlich andere, realpolitisch orientiertere strategische Ausrichtung der VKPD vor, als sie Meyer damals noch vertrat. 31 Redebeitrag Meyers auf dem Vereinigungsparteitag, in: Bericht über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitages der USPD (Linke) und der KPD (Spartakusbund). Abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, mit Anhang: Bericht über die 1. Frauen-Reichskonferenz am 8. Dezember 1920 in Berlin, Berlin 1921, S.-54-56, Zitat S.-54. 32 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-92. 33 Brief Meyer an Brandler, Königsberg, 8.2.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 318. <?page no="134"?> 134 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) Dies kam beispielsweise in der Politik des „Offenen Briefes“ zum Ausdruck: Am 8. Januar 1921 veröffentlichte die „Rote Fahne“ ein an die Spitzen der anderen großen Arbeiterorganisationen (SPD, Rest-USPD, KAPD, ADGB, AfA-Bund und Arbeiterunionen) gerichtetes Schreiben. Die KPD-Führung schlug hier gemeinsame Abwehrmaßnahmen der gesamten sozialistischen Arbeiterschaft gegen verschiedene Angriffe der Unternehmerseite vor. Kinner bezeichnet den „Offenen Brief“ als „einen wichtigen Schritt in die Richtung einer an den Tagesaufgaben und Tagesnöten der Werktätigen orientierten Politik, die gleichzeitig ihren revolutionären, antikapitalistischen Anspruch nicht preisgab“. 34 Auch wenn die Führungen der angesprochenen Organisationen meist ablehnend reagierten, so kamen von deren Basen durchaus positive Reaktionen. Levi nahm mit dem „Offenen Brief“ die später auf dem III. Weltkongress der Komintern ausgearbeitete Einheitsfronttaktik vorweg. Um allerdings eine Mehrheit der deutschen Partei und der Komintern - sowie auch Ernst Meyer - von der Richtigkeit dieser Politik als einer grundlegenden Strategie und nicht nur als punktueller Taktik zu überzeugen, bedurfte es der verheerenden Erfahrung mit den praktischen Auswirkungen der „Offensivtheorie“ in der Märzaktion. 5.4 Chefredakteur der „Roten Fahne des Ostens“ Von Mitte Dezember 1920 bis Ende Februar 1921 hielt Meyer sich in Ostpreußen auf. Seine Ankunft dort wirkte in seinem Umfeld, wie er seiner Freundin Rosa schrieb, als „Sensation“: Alte Studienkameraden besuchten ihn, seine Mutter buk für ihn zu Weihnachten Pfefferkuchen und Marzipan. Frisch verliebt flehte er Rosa an, zu ihm nach Königsberg zu kommen, denn: „Ohne Dich kann ich nicht leben.“ 35 Der Grund für Meyers Übersiedlung war natürlich politischer Natur: Er wurde Chefredakteur einer neuen Tageszeitung der VKPD in Ostpreußen, der in Königsberg erscheinenden „Roten Fahne des Ostens“ (RFdO), und sollte bei den anstehenden preußischen Landtagswahlen in Ostpreußen kandidieren. Ostpreußen war nach dem russisch-polnischen Krieg stärker in den Fokus der KPD-Zentrale gerückt, da bis zu 30.000 Rotarmisten auf ihrem Rückzug zeitweise die ostpreußische Grenze übertraten. Eine effektive Unterstützung der Roten Armee war aufgrund der Schwäche der lokalen KPD (insbesondere im masurischen Grenzgebiet, dem Meyer entstammte) aber nicht möglich gewesen. Deshalb entsandte die Zentrale vier Parteisekretäre in den Süden Ostpreußens, um den Aufbau lokaler Strukturen voranzutreiben. Außerdem beschloss sie den Aufbau einer Tageszeitung, zumal die Zahl der ostpreußischen VKPD-Mitglieder nach dem Vereinigungsparteitag auf etwa 12.000 angestiegen war. Ihre Delegierten nominierten Meyer am 19. Dezember für den Spitzenplatz der ostpreußischen Landesliste. Über Meyers Tätigkeit als Redakteur der „Roten Fahne des Ostens“ berichtet der ostpreußische KPD-Aktivist Leo Barteck: „Die Zentrale der KPD verlangte, die Tageszeitung schleunigst zu schaffen und besetzte die Redaktion mit einem der besten Köpfe der Partei, 34 Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität. Band 1: Die Weimarer Zeit, Berlin 1999, S.-36f. 35 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Königsberg, 19.12.20, in: BArch Koblenz, N 1246/ 4, Bl. 7. <?page no="135"?> 135 5.4 Chefredakteur der „Roten Fahne des Ostens“ Genossen Ernst Meyer […].“ Barteck selbst wurde Leiter des Verlags und der dazugehörigen Buchhandlung. „Ich erhielt von der Bezirksleitung 20.000 Mark und den Auftrag, den Druck der Zeitung zu organisieren. Genosse Ernst Meyer stand mir mit seinen Kenntnissen, Ratschlägen und Verbindungen zur Seite und hatte wesentlichen Anteil, dass die Zeitung schließlich erscheinen konnte.“ Die erste Ausgabe der RFdO kam am 25. Dezember 1920 heraus. Sie wurde in der Druckerei der sozialdemokratischen „Königsberger Volkszeitung“ in einer Auflage von täglich 5.000 Exemplaren produziert. „Aber als wir im Vertrag eine Auflage von 5000 festlegten, begann erst die Arbeit, für diese Auflage den Absatz zu sichern. Die Verteilung erfolgte in Königsberg und einigen anderen Städten durch eigene Botenfrauen, in den anderen Orten durch die Parteiortsgruppen oder Stützpunktleiter oder durch Postzustellung.“ Während die Postzustellung in Königsberg recht gut klappte, gab es „in der Provinz viel Sabotage durch reaktionäre Postbeamte.“ Weiter berichtet Barteck: „Als Genosse Ernst Meyer die Zeitung redigierte, trat er mit zahlreichen Redaktionen von Arbeiter- und linksgerichteten Zeitungen in Verbindung. Er kannte die Repräsentanten vieler Arbeiter- und anderer demokratischer Organisationen und deren Presse persönlich und war hoch angesehen. Der dadurch eingeleitete Informationsaustausch ermöglichte es uns, gute Informationen über die Arbeiterbewegung in aller Welt zu bringen. Zu dieser Zeit hatte die ‚Rote Fahne des Ostens‘ ein hohes Niveau und eine über Ostpreußen hinausgehende politische Bedeutung.“ Barteck erinnert sich, dass die Zeitung „eine große mobilisierende Wirkung“ durch Kampagnen gegen monarchistische Organisationen und besonders gegen die rechtsextreme paramilitärische Organisation Escherich (Orgesch) entfaltet habe. „Diese Kampagne war 1921. Ernst Meyer war es durch seine Verbindungen gelungen, den Stützpunkt- und Aufmarschplan der Orgesch zu erhalten. Die Enthüllung dieser Pläne in der ‚Roten Fahne des Ostens‘ erregte in Ostpreußen und ganz Deutschland großes Aufsehen und die Auflage schnellte in die Höhe.“ 36 Dringend bat Meyer die Zentrale, ihm einen erfahrenen Redakteur zur Seite zu stellen, der ihn „wenigstens an einzelnen Tagen vertreten kann“, zumal die besonderen Verhältnisse in Ostpreußen es erfordern würden, dass man „hier mehr als anderswo eigene Arbeit“ leiste. 37 Die von reaktionären Beamten dominierte ostpreußische Justiz rächte sich an Meyer für dessen kommunistische Agitation und für die Enthüllung der Aufmarschpläne der Orgesch auf ihre Weise: Sie überzog ihn als verantwortlichen Redakteur mit einer ganzen Flut von presserechtlichen Strafverfahren (mindestens zwölf binnen zwei Monaten), die immer die gleichen Vorwürfe enthielten: Artikel in der RFdO würden auf den „gewaltsamen Umsturz der Verfassung“ abzielen und die „zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergriffene behördliche Maßnahmen in einer Art herab[setzen], die geeignet ist, aufreizend zu wirken“. 38 Kurz darauf wurde Meyer in den preußischen Landtag gewählt. Das bewirkte eine Aufschiebung der Verfahren für die Dauer der Legislaturperiode. Sie 36 SAPMO-BArch, SgY30/ 1300 (Erinnerungsmappe Leo Barteck), Bl. 9 f. 37 Brief Meyer an Thalheimer, Königsberg, 18.1.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 317. 38 Die Anklagen finden sich in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 711/ 41, Bl. 1-24, Zitat Bl. 1 f. <?page no="136"?> 136 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) wurden im Jahr 1925 wieder aufgerollt: In einigen Fällen sprach das Gericht Meyer frei, in anderen verurteilte es ihn zu Geldstrafen. Die im August und November 1925 erlassenen Verordnungen über die Gewährung von Straffreiheit in Preußen bewirkten dann allerdings die Einstellung sämtlicher Verfahren. Auch wenn ihm die Arbeit in der RFdO durchaus reizte, wie er seiner Freundin schrieb, war Meyers Zeit in Königsberg durch die sich schon abzeichnende Wahl in den preußischen Landtag, die seine Rückkehr nach Berlin erforderlich machen würde, doch begrenzt. Dann aber überschlugen sich die Ereignisse. Telegraphisch wurde ihm mitgeteilt, dass sich die Kräfte in der Zentrale der VKPD dramatisch nach links verschoben hatten: Levi und seine Anhänger waren von ihren Ämtern zurückgetreten und Meyer vom ZA erneut in das führende Gremium der Partei gewählt worden. Am 26. Februar legte er seinen Posten als leitender Redakteur der RFdO nieder und kehrte zwei Tage später nach Berlin zurück. 5.5 Fraktionsvorsitzender der KPD im Preußischen Landtag 1921-1924 Neben seiner Redaktionstätigkeit war Meyer Anfang des Jahres 1921 mit Wahlkampf beschäftigt. Er kandidierte für den Preußischen Landtag. Am 19. Dezember 1920 hatten ihn seine Genossen für Platz eins der ostpreußischen Landesliste bestimmt. Bei der Wahl, die am 20. Februar 1921 stattfand, erzielte die VKPD 7,2 %, das entsprach 1,2 Millionen Stimmen. Damit wurde Meyer Parlamentarier. Und nicht nur das: Am 9. März 1921 wählten ihn die 31 kommunistischen Abgeordneten zusammen mit Adolf Hoffmann und Oskar Rusch zum Vorsitzenden der VKPD-Fraktion. Seine Kollegen und Kolleginnen als Fraktionsvorsitzende wechselten in den folgenden Jahren häufiger. Meyer bekleidete dieses Amt bis zur Neuwahl des Landtages am 6. Dezember 1924 ununterbrochen. In seiner neuen Funktion als Parlamentarier hatte Meyer Anspruch auf eine Freifahrkarte für ganz Preußen, zudem übernahm der Landtag auch die Fahrtkosten in abgetrennte Gebiete wie Ostpreußen. Meyer konnte seine Agitationsfahrten in die preußischen Provinzen also künftig auf Staatskosten betreiben. Die KPD verfügte als neugegründete Partei über keine eigene parlamentarische Erfahrung. Zudem stand sie vor der Herausforderung, in einer Institution zu arbeiten, die sie ablehnte und deren Überwindung sie propagierte. Meyer erwies sich dennoch als überaus aktiver Landtagsabgeordneter: Kein anderer ergriff nur annähernd so oft das Wort wie er. Von den 360 Sitzungen der ersten Wahlperiode sind für 135, also mehr als jede dritte, Wortbeiträge Meyers verzeichnet. Oft meldete er sich sogar mehrfach pro Sitzung zu Wort. Er war auch Mitglied des Ältestenrates, eines der wichtigsten parlamentarischen Gremien, in dem die Tagesordnungen der nächsten Sitzung festgelegt wurden. Seine rege parlamentarische Tätigkeit stand für Meyer keineswegs im Widerspruch zu seiner Ablehnung des Parlamentarismus. Seine Auffassung hierzu legte er im Mai 1922 in einem Artikel für die „Internationale“ dar. In Anlehnung an die Thesen des II. Weltkongresses der Komintern zur Parlamentsarbeit schrieb er, diese müsse „ständig in engster <?page no="137"?> 137 5.5 Fraktionsvorsitzender der KPD im Preußischen Landtag 1921-1924 Verbindung mit der außerparlamentarischen Arbeit der Partei stehen. Große Massenbewegungen müssen ihren Niederschlag und ihren Wiederhall in dem Auftreten der Kommunisten in den Parlamenten finden. Zu erwartende oder sich ankündigende Bewegungen der Arbeiterschaft sind im Parlament durch Erörterung ihrer Ursachen vorzubereiten. Die Notlage des Proletariats in allen ihren Formen ist jederzeit kritisch zur Sprache zu bringen. In Anträgen und Gesetzentwürfen sind die Wege zur Besserung der Lebenslage des Proletariats aufzuweisen, wobei der Inhalt der Anträge häufig insofern einen ‚demonstrativen‘ Charakter tragen wird, als eben eine wirkliche Beseitigung der Nöte des Proletariats innerhalb der bürgerlichen Demokratie unmöglich ist. Aber auch die Aufstellung noch erfüllbarer Forderungen ist notwendig, weil die Bourgeoisie mit allen Mitteln jede Verringerung ihrer Profitmöglichkeiten und jede Erweiterung proletarischer Machtpositionen abwehrt.“ Insgesamt sei es Aufgabe der Kommunisten, „die Widersprüche und die Wirkungen des kapitalistischen Systems aufzudecken und die Arbeiterverrätereien der reformistischen Parteien zu brandmarken.“ Um diese Aufgaben erfüllen zu können, sollte der kommunistische Parlamentarier „eng mit dem Proletariat und insbesondere mit der Partei seines Wahl- oder Wohnbezirks“ verwachsen sein. Wichtig sei auch eine fundierte Sachkenntnis der Themen, die ein Parlamentarier bearbeitete. Dafür sei die Verbindung „mit Betriebsräte- und Gewerkschaftsfraktionen, Elternbeiräten, Berufsverbänden je nach dem Inhalt der von ihm bearbeiteten Spezialfrage“ notwendig. Durch ihre enge Verbindung zu Verwaltungsapparat und Gewerkschaften verfüge die SPD oft über eine hohe Sachkompetenz. „Unsere kommunistischen Parlamentarier werden danach streben müssen, sich eine gleiche bis ins einzelne gehende Sachkenntnis zu erwerben. Je größer diese Kenntnis, umso wirkungsvoller wird auch für die außerparlamentarische Öffentlichkeit die Kritik ausfallen.“ Innerhalb des parlamentarischen Betriebes setzte Meyer sich für ein seriöses Auftreten der Kommunisten ein: „Die Schärfe der Kritik ist natürlich nicht abhängig von der Häufung von Schimpfworten, so sehr die Verrätereien unserer Gegner auch dazu Anlass geben mögen; sondern die geschickte Zusammenstellung des Stoffes, die klare Herausarbeitung der Ursachen und Wirkungen und die einfache Darlegung der politischen Schuld unserer Gegner wird außerhalb des Parlaments den stärksten Wiederhall wecken und die Arbeiter für unsere Überzeugung gewinnen.“ Damit trat Meyer Auffassungen auf dem linken Flügel seiner Partei entgegen, die ablehnende Haltung der Kommunisten zum Parlamentarismus müsse sich in turbulenten Szenen, Sitzungssprengungen oder dem Einsatz von Trillerpfeifen ausdrücken. Er verwies auf Liebknechts Arbeit im Reichstag während der Kriegszeit, die gänzlich ohne derartige Mittel ausgekommen sei, und auf Rosa Luxemburgs Kritik an unpassenden Obstruktionen im Parlament. Solche Mittel seien zwar prinzipiell zulässig, müssten aber in einem Verhältnis zum behandelten Gegenstand stehen. Ihre inflationäre Verwendung würde sie nur stumpf werden lassen. 39 Tatsächlich nutze Meyer seine Position als Abgeordneter, um die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten, rätedemokratische Alternativen zum Parlamentarismus zu propagieren und von innen die Unzulänglichkeit des Parlamentarismus aufzuzeigen. Um die Miss- 39 Ernst Meyer: Über unsere parlamentarische Arbeit, in: Die Internationale, Jg. 4 (28.5.22), H. 23, S.-517- 520. <?page no="138"?> 138 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) achtung des Parlaments durch die Preußische Regierung hervorzuheben, verglich Meyer beispielsweise die Schuldebatte im Landtag mit einer Debatte über das gleiche Thema im Allrussischen Sowjetkongress, der er ein Jahr zuvor beigewohnt hatte: Dort sei die gesamte Regierung anwesend gewesen und sogar der Ministerpräsident habe in die Debatte eingegriffen. Die preußische Regierung hingegen habe nur einen Vertreter des Ministeriums entsandt. In Haushaltsdebatten versuchte Meyer, Preußens Charakter als „Klassenstaat“ offenzulegen. Die Ausgaben im Sozial- und Kulturbereich seien viel zu gering, allein für das Polizeiwesen werde mehr ausgegeben als für Kultur und Volkswohlfahrt. Das sei „typisch“: „denn dieser Staat sieht seine Aufgabe darin, die Minderbemittelten, die Arbeiter noch mehr zu unterdrücken und schonungslos auszubeuten, die sozial Schwachen achtlos beiseite liegen zu lassen und selbst die Kranken und Hilflosen und die Kriegsbeschädigten, die doch angeblich für das Vaterland, d.h. in Wirklichkeit für die Geldinteressen der Besitzenden, gekämpft haben, hungern und verderben zu lassen! “ 40 Auch wenn er sich generell um ein seriöses Auftreten bemühte, machte Meyer aus seiner Feindschaft zu den Abgeordneten der rechten Parteien keinen Hehl: „Wir sind gewiss, dass die proletarischen Massen […] mit uns für die deutsche Räterepublik kämpfen werden. Ich hoffe, dass es recht bald geschehen wird! Und so, wie die russischen Konterrevolutionäre und Dumaabgeordneten in Paris und Reichenhall tagen müssen, so wünschen wir, dass die preußischen Landtagsabgeordneten und die Reichstagsabgeordneten, soweit sie Konterrevolutionäre sind, recht bald in Honolulu tagen möchten, um von dort aus die preußischen und deutschen Verhältnisse zu lenken.“ 41 Ein anderes Thema, zu dem Meyer immer wieder das Wort ergriff, war die staatliche Repression gegen Kommunisten. Wiederholt brachte er Anträge ein, Verbote kommunistischer Zeitungen aufzuheben, proletarische Häftlinge freizulassen oder Strafverfahren gegen kommunistische Abgeordnete einzustellen. Fast immer wurden solche Anträge abgelehnt. Vehement trat Meyer nationalistischen Äußerungen entgegen und verwies immer wieder auf die Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg. Dafür musste er sich von rechten Parlamentariern die Frage gefallen lassen, ob er eigentlich ein deutscher oder ein polnischer Abgeordneter sei. Meyer entgegnete: Die Rechte würde nicht verstehen können, dass die Kommunisten die Interessen des Proletariats aller Nationen vertreten. Meyer kritisierte zwar den Vertrag von Versailles. Doch prangerte er stets im selben Atemzug die Völkerrechtsverletzungen an, die Deutschland während des Weltkriegs begangen hatte. Die Klagen der Rechten über die angebliche Vertreibung von 20.000 Deutschen aus den Polen zugeschlagenen Gebieten versuchte er als Heuchelei zu entlarven. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass allein zwischen 1871 und 1910 knapp 700.000 Menschen aufgrund der erbärmlichen Lebensbedingungen aus Ostpreußen auswandern mussten. Sie seien also gewissermaßen durch die deutschen Junker vertrieben worden. In Polen seien die Verhältnisse zwar auch nicht besser. „Aber wir wenden uns in erster Linie, weil uns das Hemd näher ist als der Rock, gegen die Brutalitäten der deutschen Junker und 40 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 25. Sitzung, 6.6.21, Sp. 1554. 41 Ebenda, Sp. 1536 f. <?page no="139"?> 139 5.5 Fraktionsvorsitzender der KPD im Preußischen Landtag 1921-1924 überlassen es den Parteifreunden in Polen, gegen den Chauvinismus und Imperialismus in ihrem eigenen Lande aufzutreten.“ 42 Auch zum Thema Bildung ergriff Meyer häufig das Wort. Hierbei setzte er sich gegen den Religionsunterricht, für die Einheitsschule und gegen Privatschulen ein, die nur deshalb bestehen könnten, weil das staatliche Schulwesen unterfinanziert und inhaltlich schlecht sei. Unermüdlich stellte Meyer kleine und große Anfragen an die Regierung, um diese bloßzustellen. Gleichzeitig brachte er immer wieder propagandistische Anträge mit dem offensichtlichen Ziel ein, kommunistische Positionen in die Öffentlichkeit zu tragen und die SPD als Verräterin von Arbeiterinteressen zu entlarven, wenn sie ihnen nicht zustimmte. Solche propagandistischen Anträge betrafen etwa die Forderung nach Hilfe für Hungerleidende in Sowjetrussland, finanziert durch Kürzungen im Spitzelwesen, oder Hilfe für Opfer einer Naturkatastrophe, finanziert durch Kürzungen bei der Polizei. Die regelmäßige Ablehnung dieser Anträge war dabei durchaus einkalkuliert. Meyer und Genossen orientierten sich dabei am Vorgehen der Vorkriegssozialdemokratie und versuchten die SPD in eine Situation zu bringen, in der sie sich so verhielt wie früher ihre Gegner. Die Erinnerung an das Kaiserreich war noch frisch, Meyers Vorgehen dürfte die SPD durchaus getroffen haben. Überhaupt hatten die anderen Parteien zunächst ihre liebe Not, sich der kommunistischen Versuche zu erwehren, das Parlament als Tribüne zur Propagierung revolutionärer Politik zu nutzen. Unter anderem versuchten sie die Kommunisten durch eine restriktivere Auslegung der Geschäftsordnung des Hauses einzuschränken. Das sei parteiisch und gegen die Kommunisten gerichtet, warf Meyer ein ums andere Male dem sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten Robert Leinert vor. Meyer vertrat aber auch die konkreten Interessen seiner proletarischen Wähler in Ostpreußen, etwa wenn er sich für die Freilassung inhaftierter Arbeiter einsetzte oder wenn er Hilfsmaßnahmen für von einer Krankheitswelle betroffene ostpreußische Fischer beantragte. Vor allem sein unermüdlicher Einsatz für gefangene Arbeiter verschaffte ihm viel Anerkennung. Eine seiner Reden hierzu wurde sogar als Broschüre gedruckt. 43 Insgesamt ging es Meyer also nicht um eine rein negative und ausschließlich propagandistische Nutzung des Parlamentes. Wo möglich, sollten dessen (in seinen Augen sehr begrenzten) Möglichkeiten durchaus auch für positive Maßnahmen im Interesse der Arbeiterschaft genutzt werden. Anfang 1923 erklärte er im Landtag, die Kommunisten würden „jede Verschlechterung dieser Verfassung“ abweisen, auch wenn ihnen die Verfassung „keineswegs genügt“ und sie diese „durch eine Räteverfassung ersetzen wollen“: „Wir sind keine Anarchisten, so dass uns die Vorgänge innerhalb der bürgerlichen Demokratie völlig kalt lassen, sondern wir werden entsprechend unserer Auffassung und unseren Zielen in diese Auseinandersetzung zwischen den bürgerlichen Parteien und der bürgerlichen Demokratie eingreifen und nach der Richtung stoßen, die uns notwendig erscheint im Interesse der arbeitenden Massen. Jedesmal, wenn die bürgerliche Demokratie und die bürgerliche Republik angegriffen worden ist […] waren es die Arbeiter, die Kommunisten, 42 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 124. Sitzung, 31.3.22, Sp. 8824. 43 Vgl. Der Schrei aus den ostpreußischen Kerkern. Die Praktiken der ostpreußischen Justiz. Rede des Landtagsabgeordneten Dr. Ernst Meyer (Ostpreußen), Berlin o. J. [1924]. <?page no="140"?> 140 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) die sehr wohl wussten, dass gegenüber solchen Vorstößen, die letzten Endes auch sie selbst treffen würden, eine entsprechende Haltung der Abwehr einzusetzen habe.“ 44 Dementsprechend nutzte Meyer das Parlament phasenweise auch für erstgemeinte Bündnisangebote an die SPD im Sinne der Einheitsfrontpolitik. So brachte er realpolitische Anträge ein, denen die Sozialdemokratie durchaus zustimmen konnte. Zugleich versuchte Meyer einen Keil in die Reihen der SPD zu treiben. Sein Anliegen war es dabei, den linken Flügel nach links zu ziehen. Denn gerade hier gab es starke Vorbehalte gegen die seit November 1921 in Preußen regierende Koalition der SPD mit der DVP. Meyer war als Fraktionsvorsitzender der KPD im Landtag des mit Abstand größten und bedeutendsten Landes einer der wichtigsten und zweifelsohne profiliertesten kommunistischen Parlamentarier seiner Zeit. Geschickt und mit großem Arbeitsaufwand versuchte er, die sich in dieser Institution bietenden Spielräume im Sinne seiner Partei und seiner vom klassischen Marxismus geprägten Vorstellung revolutionärer Parlamentsarbeit zu nutzen. Doch letztendlich blieb für ihn die parlamentarische Tätigkeit immer dem außerparlamentarischen Kampf untergeordnet - und dieser trieb im März 1921 auf eine neue Zuspitzung zu. 5.6 Zurück in der Zentrale, hinein in den Aufstand: Märzaktion 1921 Auf der Sitzung des Zentralausschusses der VKPD (22.-24. Februar 1921) kam es zu einem Eklat: Paul Levi hatte im Januar an dem Kongress der italienischen Sozialistischen Partei teilgenommen und dort - anders als die anwesenden Kominterndelegierten, aber in Übereinstimmung mit der Beschlusslage der deutschen Zentrale - gegen eine Abspaltung von deren linken Flügel gestimmt und damit gegen die Gründung einer eigenständigen Kommunistischen Partei Italiens. Nun entzog der Zentralausschuss der Levi-Zentrale in dieser Frage mit 28: 22 Stimmen das Vertrauen. Daraufhin legten die Parteivorsitzenden Levi und Däumig und die ihnen nahestehenden Zentrale-Mitglieder Zetkin, Brass und Hoffmann überraschend ihre Funktionen nieder. Heinrich August Winkler bezeichnet den Rücktritt Levis und seiner Anhänger als „ein Ergebnis kombinierten inneren und äußeren Drucks“. 45 Dieser ging einerseits vom wachsenden linken Flügel innerhalb der VKPD aus, anderseits von Levis Gegnern im EKKI. Letztere bevorzugten, so Angress, „die aktivistische Gruppe um Ernst Reuter-Friesland, Paul Frölich, Ernst Meyer usw. gegenüber der ‚opportunistischen‘ Levi-Däumig-Richtung“ und strebten schon längere Zeit einen Wechsel in der Führung der VKPD an. 46 Zu neuen Parteivorsitzenden wählte der ZA nun Heinrich Brandler und Walter Stoecker. Außerdem wurden die führenden Köpfe des linken Flügels der Partei, Meyer und Frölich, wieder in die Zentrale zurückgeholt. Damit verschob sich „das innerparteiliche Kräfteverhältnis […] entschieden nach links“, schreibt Koch-Baumgarten. Denn Frölich, Meyer und Thalheimer waren „nicht nur die führenden intellektuellen Köpfe der neuen Parteiführung, son- 44 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 214. Sitzung, 28.2.23, Sp. 15230 ff. 45 Winkler: Revolution, S.-511. 46 Angress: Kampfzeit, S.-133, Anm. 43. <?page no="141"?> 141 5.6 Zurück in der Zentrale, hinein in den Aufstand: Märzaktion 1921 dern auch diejenigen, die Ende 1920 den Offensivkurs in der KPD begründet hatten“. 47 Auch der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, eine Art Verfassungsschutz der Weimarer Republik, registrierte die Linksverschiebung: „Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die VKPD durch die stattgefundene Veränderung eine radikalere und brutalere Führung erhalten hat.“ 48 In den folgenden Wochen gelang es Frölich und Meyer, der Politik der Partei deutlich ihren Stempel aufzudrücken. Die neue Führung sah als Hebel zur Aktion die Forderung nach dem Sturz der Regierung, die „zum Mittelpunkt einer in bisher unbekanntem Maße demagogischen und maximalistischen Propaganda der Partei wurde“. 49 Unter tatkräftiger Hilfe der EKKI-Emissäre Béla Kun, Samuel Guralski (August Kleine) und Josef Pogany, die sich zur Unterstützung der VKPD in Deutschland aufhielten, verwandelte sich das oberste Leitungsgremium zusehends in ein „Zwei-Klassen-Organ“, schreibt der Brandler- Biograph Becker: „Hier die KI-Troika mit Bela Kun an der Spitze mit den teilweise gewendeten linken Zentrale-Mitgliedern Brandler, Frölich, Meyer, Pieck und Thalheimer, dort der nur unzureichend informierte Rest der Zentrale“. 50 Die neuen Mitglieder der Parteiführung brannten darauf, ihr Konzept von sich steigernden Aktionen hin zu einer revolutionären Offensive in die Tat umzusetzen. Bei der Zentrale-Sitzung am 15. März sagte der neue Vorsitzende Brandler, man müsse versuchen, die Dinge weiterzutreiben und eine „ernsthafte Aktion“ unter den Parolen „Bündnis mit Sowjetrussland“ und „Sturz der Regierung“ beginnen. „Nach Ostern [27./ 28. März, FW] wollen wir zum Angriff übergehen. Wir rechnen damit, dass wir eineinhalb bis zwei Millionen Menschen auf die Beine bringen werden.“ 51 Meyer erklärte sich explizit mit Brandlers Vorschlägen einverstanden und behauptete, ein größerer Streik der Landarbeiter in Ostpreußen stünde bevor. Eine Möglichkeit, in die Offensive zu kommen, schien sich durch eine Verschärfung regionaler Auseinandersetzungen in Mitteldeutschland zu ergeben. Die Region Halle-Merseburg war seit dem Kapp-Putsch ein proletarischer Unruheherd geblieben. „Wilde Streiks, Plünderungen und Raubüberfälle waren an der Tagesordnung“, viele Arbeiter verfügten hier noch über Waffen aus den Revolutionskämpfen und die VKPD war besonders stark verankert. 52 Diesen Zustand wollte die preußische Regierung im März 1921 beenden. Sie entsandte Polizeikräfte in das Gebiet, um die Arbeiter zu entwaffnen und Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, wobei sie auf teilweise erbitterten, auch bewaffneten Widerstand der dortigen Arbeiterschaft traf. Allerdings blieben die Auseinandersetzungen auf die betroffene Region beschränkt. Die Nachricht von der Zuspitzung der Situation in Mitteldeutschland platzte am 17. März in die Sitzung des Zentralausschusses. Brandler erklärte daraufhin, die für nach Ostern geplante Aktion müsse vorgezogen werden. In geradezu erschreckender Weise verzichtete er auf eine Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, leichtfertig fasste er auch die Gefahr eines Misserfolgs ins Auge: „[…] das sage ich, dass man auch auf die Gefahr 47 Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-109. 48 Lagebericht des RKO Nr.33 vom 1.3.21, in: BArch R1507/ R134, 6/ 143. 49 Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-110. 50 Becker: Brandler, S.-132. 51 Protokoll der Sitzung der VKPD-Zentrale am 15.3.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 128 f. 52 Winkler: Revolution, S.-515. <?page no="142"?> 142 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) einer empfindlichen Niederlage hin den Kampf aufnehmen muss. Eine solche Niederlage wäre eher zu ertragen, als dass wir dieser Situation als VKPD weiter passiv gegenüberstehen. Wenn ich die Stimmung in der Partei kenne, so fragen sich bei passivem Verhalten die unabhängigen Arbeiter, die zu uns gestoßen sind: Wozu haben wir die VKPD, die macht das selbe, was wir früher gemacht haben. […] Alles philosophieren vorher, was dabei herauskommen wird, kann unsere Kampfkraft nur schwächen. Kein Mensch weiß, was wir in der Aktion zu leisten imstande sind.“ 53 Meyer unterstützte diesen abenteuerlichen Kurs: Ein Bündnis mit Sowjetrussland müsse geschaffen werden „durch die Aktion des deutschen Proletariats. Dadurch ergibt sich, dass mit der bisherigen Einstellung der Partei gebrochen werden muss, die dahin ging, Teilaktionen zu vermeiden und [keine] Parolen herauszugeben, die danach aussehen könnten, als fordern wir den Endkampf.“ 54 Die Parteiführung versuchte, die Polizeiaktionen in Mitteldeutschland als einen entscheidenden Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse darzustellen und rief am 24. März zum Generalstreik und zur Bewaffnung der Arbeiter auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei den Widerstand in Mitteldeutschland allerdings schon weitgehend niedergeschlagen. Die Aufrufe der VKPD wurden kaum befolgt. Ernst Meyer beispielsweise wurde am selben Tag ins Rheinland entsandt, um dort einen Aufstand voranzutreiben. Dabei hatte er wenig Erfolg: Der Versuch einer Besetzung der Krupp-Betriebe in Essen scheiterte, und die Bezirksleitung Mittelrhein der VKPD sprach sich in Meyers Anwesenheit einstimmig gegen einen Aufruf zu einem lokalen Generalstreik auf. Lediglich in Hamburg kam es zu einem isolierten Aufstand, der jedoch rasch niedergeschlagen wurde. Vermutlich beteiligten sich insgesamt weniger Menschen am „Generalstreik“, als die VKPD Mitglieder hatte. Die Kommunisten hatten ihren Aufruf zum Ausstand also keineswegs aus einer ehrlichen Analyse der Stimmungen im Proletariat hergeleitet. Aber nicht nur das: Sie versuchten außerdem, ihn gegen die Mehrheit der Arbeiterklasse durchzusetzen. In einigen Betrieben etwa verwehrten kommunistische Arbeiter und Arbeitslose den Beschäftigten gewaltsam den Zutritt, was zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Je offensichtlicher wurde, dass die ganze Aktion ein Fehlschlag war, desto heftiger beschimpfte die kommunistische Presse jene Arbeiter, die sich nicht an ihr beteiligten (also die übergroße Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft). Koch-Baumgarten beschreibt, dass die Offensivpolitik nicht von der gesamten Zentrale forciert wurde. Vielmehr habe eine Fraktion um Meyer, Frölich und Eberlein diesen Kurs in enger informeller Zusammenarbeit mit den Emissären der Internationale zum Teil auch gegen den Willen der Zentrale-Mehrheit durchgesetzt. Meyer als Presseverantwortlicher habe gemeinsam mit Frölich eine regelrechte Kampagne in den Parteimedien lanciert, um Druck auf die zurückhaltenden Mitglieder der Führung aufzubauen. 55 Obwohl ein Scheitern des Aufstandsversuches bereits am 24. März absehbar war, dauerte es bis zum 1. April, dass die Zentrale die Niederlage eingestand und die Aktion abbrach - immer noch die Schuld nicht bei sich selbst, sondern bei den anderen Arbeiterparteien suchend. Die „Rote Fahne“ schrieb: „Der Frontalangriff gegen die offene und versteckte 53 Protokoll der Sitzung des ZA der VKPD am 17.3.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 6, Bl. 11 f. 54 Ebenda, Bl. 29. 55 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-215-223. <?page no="143"?> 143 5.7 Parteikrise und Abrücken von der Offensivtheorie Gegenrevolution wurde [...] durch den Flankenstoß der SPD und USPD an der Entfaltung gehindert“. 56 Ernst Meyer scheint zu denen in der Zentrale gehört zu haben, die bis zuletzt an der Aktion festhielten. Am 27. März hatte ihn die Parteiführung in seine Heimatprovinz Ostpreußen gesandt, wo er bis zum Schluss vergeblich auf den Ausbruch eines Aufstands hoffte. 5.7 Parteikrise und Abrücken von der Offensivtheorie Mit etwas zeitlichem Abstand äußerte sich Ernst Meyer sehr kritisch über die Märzaktion und beschrieb sie als einen Ausdruck „ultralinke[r] Kinderkrankheiten in der KPD“. 57 Im Jahr 1925 benannte er gemeinsam mit Paul Frölich vier wesentliche Fehler, die die Führung damals begangen habe. Diese hätten „1. in der Täuschung über den Wirkungskreis der Parteiparolen“ gelegen, „2. in der Unfähigkeit, die geeigneten Methoden anzuwenden, um den Einfluss der Sozialverräter auf die Massen zu brechen, die Massen zu mobilisieren. Die Propaganda beschränkte sich fast ganz auf die Sympathie mit den Kämpfenden. Es gelang nicht, jene allgemeinen Parolen zu finden, die dem augenblicklichen Gesamtinteresse des Proletariats entsprachen. Die Einheitsfronttaktik wurde nicht angewandt und damit kein Versuch unternommen, den Gegner zu zersetzen. 3.-in der Unterschätzung der Vorbedingungen für den bewaffneten Aufstand, 4. in der Selbsttäuschung über den Charakter des Kampfes, der reine Defensive, keine Offensive war, und in einer Unterschätzung der Vorbedingungen für entscheidende Kämpfe, wie sie in der sogenannten Offensivtheorie in Erscheinung trat und deren Wesen in der Auffassung bestand, die Vorhut könne die ganze Last des Entscheidungskampfes allein auf sich nehmen.“ 58 Tatsächlich waren die Folgen der „Märzaktion“, dem „sinnlosesten, blutigsten Putsch in der Geschichte der KPD“, 59 katastrophal für die Partei. Hunderte Kommunisten wurden getötet, etwa 6000 verhaftet und 4000 verurteilt, unter ihnen auch der Vorsitzende Heinrich Brandler, an dessen Stelle Ernst Meyer - vorerst kommissarisch - die Parteiführung übernahm. Die Mitgliederzahl brach dramatisch ein. Es kam zu einem wahren Exodus. Im Januar 1923 gab die KPD die Zahl ihrer Mitglieder für die Zeit des Jenaer Parteitages (August 1921) mit nur noch 180.443 an. Das dürfte - auch aufgrund des zeitlichen Abstandes zu den Märzereignissen - einigermaßen realistisch sein. Geht man von den 448.500 Mitgliedern aus, die die VKPD laut Zentrale im Januar 1921 hatte, hätte sie innerhalb weniger Monate fast zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren. Aber auch wenn man die später verwendete (und vermutlich zu gering veranschlagte) Zahl von 350.000 Mitgliedern nach der Vereinigung zugrunde legt, würde dies immer noch einen Verlust von fast der Hälfte der 56 Rote Fahne, 02.04.1921, zit. nach ebenda, S.-311. 57 Ernst Meyer: Münchener Lehren, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H. 10, S.-638-640, hier S.-639. 58 Ernst Meyer, Paul Frölich, Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD. Beilagen, Teil II: Einige Lehren aus der Geschichte der KPD; Die politische Lage und die politischen Aufgaben der Partei, in: Die Internationale, Jg. 8, H. 10 (15.10.1925), S.-640-646, hier S.-641. 59 Willy Brandt, Richard Löwenthal: Ernst Reuter. Eine politische Biographie, München 1957, S.-153. <?page no="144"?> 144 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) Mitgliedschaft bedeuten. Zahlreiche lokale Parteiorganisationen brachen zusammen, oft lag die Arbeit monatelang am Boden. Darüber hinaus hatte die Märzaktion äußerst negative Auswirkungen auf die Stellung der Partei in der Arbeiterbewegung. Das bisher von USPD und SPD gehegte Vorurteil gegenüber der KPD, sie sei eine unberechenbare, von der Komintern gesteuerte putschistische Partei, die ihre Parteiinteressen vor die Interessen der Arbeiterklasse stelle, schien sich bestätigt zu haben. Die spätere Wiederaufnahme der Taktik des „Offenen Briefes“ stieß dementsprechend auf massive Skepsis seitens der anderen Arbeiterorganisationen. Die Hoffnung, binnen kurzer Zeit eine große Zahl jener ehemaliger USPD-Mitglieder zu gewinnen, die seit der Spaltung der Partei keiner Organisation mehr angehörten, mussten die Kommunisten vorerst begraben. Doch damit nicht genug: Eine weitere Folge der Märzaktion war eine sich über Monate hinwegziehende Führungs- und Parteikrise mit heftigen internen Debatten, Parteiausschlüssen und -austritten. Die Zentrale versuchte zunächst, die Märzaktion schönzureden. In ihrem Rundbrief vom 15. April 1921 rief Thalheimer dazu auf, „an der Linie der revolutionären Offensive, die der Märzaktion zugrunde liegt“, festzuhalten. Die Offensive müsse zum „Grundgesetz des Handelns“ der VKPD gemacht werden. 60 Doch schon bald wurden erste kritische Stimmen innerhalb der Partei laut. Während Brandler sich auf der Sitzung des ZA am 7./ 8. April 1921 zum leidenschaftlichen Verteidiger der Märzaktion aufschwang, kritisierte Clara Zetkin in ihrem Koreferat die Haltung der Zentrale scharf. Die von ihr vorgelegte Resolution wurde aber in namentlicher Abstimmung mit 43: 6 Stimmen (bei drei Enthaltungen) abgelehnt, von der Zentrale vorgelegte Leitsätze, die die Märzaktion rechtfertigten, hingegen mit 26: 14 Stimmen angenommen. Das verdeutlichte, dass es für den von Meyer und anderen forcierten Offensivkurs noch eine beachtliche Unterstützung in der Partei gab. Zum Wortführer der Kritiker wurde bald Paul Levi. Am 12. April veröffentlichte er in einer Art Verzweiflungstat eine Broschüre mit einer vernichtenden Kritik an der Politik der Partei und ihrer Führung vor und während der Märzaktion, die er als „größten Bakuninisten-Putsch der bisherigen Geschichte“ bezeichnete und in der er die Rolle der Komintern-Emissäre öffentlich anprangerte. 61 Die SPD griff die Broschüre begeistert auf und nutzte sie sofort, um den Kommunisten deren Verantwortung an den Märzkämpfen nachzuweisen. Levi wurde daraufhin am 15. April „wegen groben Vertrauensbruch und schwerer Parteischädigung“ aus der Partei ausgeschlossen. Zahlreiche Mitglieder, darunter auch führende Genossen wie Zetkin, Braß, Däuming, Hoffmann und Geyer, solidarisierten sich allerdings mit ihm. Diese als „Leviten“ bezeichnete „rechte“ Oppositionsströmung begann nun einen heftigen Konflikt mit der Zentrale. Sie verlangte von der Parteiführung die Verurteilung der Märzaktion und eine selbstständigere Politik gegenüber der Komintern. Zudem stand sie für das eher „luxemburgische“ Konzept einer kommunistischen Massenpartei gegenüber dem eher „leninistischen“ Konzept einer Kaderpartei, wie es die Zentrale vertrat. 60 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-329-332, Thalheimer zitiert nach ebenda, S.-330. 61 Vgl. Paul Levi: Unser Weg. Wider den Putschismus, in: Levi: Spartakus, S.-44-95. <?page no="145"?> 145 5.7 Parteikrise und Abrücken von der Offensivtheorie Die Zentrale ging mit sehr restriktiven Maßnahmen gegen die Opponenten vor. Trotzdem durften diese auf verschiedenen Bezirkskonferenzen und der ZA-Sitzung (3.-5. Mai 1921) ihre Positionen ausführlich vertreten. Selbst der ausgeschlossene Levi konnte hier mit einem eigenen Referat seinen Standpunkt verteidigen, sein Ausschluss wurde aber anschließend mit 37: 8 Stimmen bestätigt. Acht Delegierte - darunter Zetkin, Däumig, Brass und Hoffmann - solidarisierten sich daraufhin noch während der Sitzung mit Levi und erneuerten ihre Kritik an der Märzaktion. Dafür erhielten sie eine Rüge und wurden ihrer Parteifunktionen enthoben. Meyer, der bereits im April eine scharfe Offensive gegen den rechten Flügel der Partei gefordert hatte, wandte sich hier in mehreren Redebeiträgen - mit viel „Pathos“, wie Brass bemerkte - gegen die Opposition. Den acht, die sich mit Levi solidarisierten, warf er mehrfach „feiges Verhalten“, „feiges Auftreten“ und Disziplinbruch vor: „Die einzige prinzipielle Stellungnahme, die ich in der Erklärung der acht entdecken kann, ist die Ankündigung des Disziplinbruchs, der fortgesetzten Negierung der Beschlüsse der Partei, einschließlich des Parteitages […] Noch nie ist mit einer Partei so Schindluder getrieben worden, wie von den Unterzeichnern der Solidaritätserklärung.“ Dementsprechend forderte er „schärfste organisatorische Maßnahmen“ gegen die Opposition und rief in Hinblick auf künftige Aktionen dazu auf, dass „von vornherein energisch die beseitigt [werden], die abseits stehen, die aktiv oder passiv Sabotage treiben.“ Trotzdem betonte er auch hier seine Auffassung, dass freie und offene Diskussionen in der Partei notwendig seien. Besonders erboste ihn, dass von den acht niemand das Wort ergriffen habe, um seine Position darzulegen. Daher forderte Meyer eine „offene klare Aussprache der Gegensätze“ ein, damit „die Parteigenossen endlich unterrichtet würden über das, was in der Partei vorgeht, welche Gegensätze in der Partei vorhanden sind“: „Zu einer Festigung der Partei gehören nicht nur Aktionen, sondern auch Aussprache über sie und über die Lehren, die man aus der Aktion ziehen muss. Und es ist falsch, wenn Genossen der Zentrale vorwerfen, dass wir diese Diskussion unterbinden wollen.“ 62 Der Mitgliederexodus entzog den „Leviten“ den innerparteilichen Boden, hatten doch gerade die ihnen nahestehenden Genossen die Partei verlassen. Entsprechend unterlag die Levi-Strömung in den innerparteilichen Auseinandersetzungen. Ihre Tragik liegt darin, dass viele ihrer Anhänger in dem Moment die KPD verließen oder auch verlassen mussten, als sich die gesamte kommunistische Bewegung in vielen Punkten ihren Inhalten anzunähern begann. Auch Meyer selbst sollte bald viele ihrer Positionen vertreten, und hätte in Levis Anhängern vermutlich künftig wichtige innerparteiliche Verbündete gefunden. Voraussetzung dafür wäre eine stärkere Bereitschaft der KPD gewesen, strategische Differenzen innerhalb der eigenen Partei länger auszuhalten und noch stärker zuzulassen, anstatt sie voreilig zu grundlegenden Differenzen zu erklären und mit Ausschlüssen derartige organisatorische Konsequenzen zu ziehen, dass eine organisatorische Wiedervereinigung selbst auf der Grundlage sich annähender Inhalte nicht mehr möglich war. Obwohl Lenin und Teile der Komintern bald Druck auf die KPD-Mehrheit ausübten, Levi und seine Anhänger zu reintegrieren, war diese nicht im Stande, über ihren Schatten zu springen und Levi seinen Disziplinbruch zu verzeihen. Zu einem demütigen Eingeständnis des eigenen Fehl- 62 Protokoll der Sitzung des ZA der VKPD, 3.-5.5.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 8. Redebeiträge Meyers: Bl. 67-69, 231-233, 347-352, 357, 364 f., 385-390, 409. <?page no="146"?> 146 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) verhaltens, das vielleicht noch eine Wiederaufnahme in die Partei ermöglicht hätte, waren die „Leviten“ ihrerseits nicht mehr bereit. Im September 1921 gründeten einige der aus der KPD Ausgeschiedenen die Kommunistische Arbeitsgemeinschaft (KAG). Ihr weiterer Weg führte über die Rest-USPD zurück zur Sozialdemokratie, der sie sich im September 1922 anschlossen. Dort sollten sie einen der Kerne der künftigen Linksopposition bilden. In einer Abwehrreaktion gegen die harsche Kritik Levis verteidigte die Zentrale zunächst stur Märzaktion und Offensivtheorie und gab dazu sogar eine Broschüre heraus („Taktik und Organisation der revolutionären Offensive - Die Lehren der Märzaktion“), in der es unbeeindruckt hieß: „Die Parole der Partei kann also nichts anderes sein als Offensive, Offensive um jeden Preis, mit allen Mitteln, in jeder Situation, in der sich ernste Möglichkeiten zum Erfolg bieten“. 63 Während des Mai-ZA waren von Thalheimer jedoch auch schon selbstkritische Töne zu hören, gewisse Fehler in der Märzaktion gab er zu. Meyer unterstrich dort erneut in der Diktion der Offensivtheorie die Richtigkeit der Parole „Sturz der Regierung“, die bedeute: „Zuspitzung aller Konfliktstoffe, Verschärfung aller Situationen, Teilaktionen überall da, wo es geht“. Gleichzeitig vertrat er aber nun Positionen, die deutlich an der Politik des „Offenen Briefes“ anknüpften. So argumentierte er dafür, sich mit konkreten Vorschlägen an die Vorstände der anderen Arbeiterparteien zu wenden mit dem Ziel, „die Einheit des Proletariats herzustellen.“ 64 Die Zentrale der VKPD, in der Meyer nach Brandlers Verhaftung die leitende Rolle spielte, verfolgte in den folgenden Monaten eine Politik, die bereits Elemente der künftigen Einheitsfrontstrategie enthielt. So wurde Meyer damit beauftragt, einen Aufruf an SPD- und USPD-Arbeiter mit dem Ziel der Bildung gemeinsamer Aktionskomitees sowie einen Aufruf zur Steuerfrage zu schreiben. Am 19. Juli schlug er dem Polbüro vor, „eine Kampagne gegen die Sonderjustiz zu unternehmen und zwar auch wieder in Form eines offenen Briefes.“ 65 Das Polbüro stimmte dem Vorschlag zu. Meyer mühte sich auch um eine Professionalisierung der Arbeit der Zentrale. Im Juni wurden auf seine Anregung hin tägliche Sitzungen vereinbart. Wer unentschuldigt mehr als 15 Minuten zu spät kam, musste nun zehn Mark an die Rote Hilfe spenden. Meyer nahm im Sommer 1921 an zahlreichen Bezirkskonferenzen (darunter Ostpreußen, Pfalz und Rheinland-Westfahlen) sowie Mitte Mai am Parteitag der KPTsch in Prag teil. Im preußischen Landtag vertrat er die KPD in einem auf Antrag von DVP und DNVP eingesetzten Untersuchungsausschuss zur Märzaktion. Meyer und seinen Genossen gelang es dort, sowohl die Verantwortlichkeit Hörsings für die Schutzpolizei-Aktion zu benennen als auch eine Reihe von Mordtaten der Schupo zu thematisieren. Hinter den Phänomenen Märzaktion und Offensivtheorie steckte, wie Willy Brandt und Richard Löwenthal zu Recht argumentieren, „die Ungeduld der Mitglieder einer im Namen der herannahenden Revolution gegründeten Massenpartei, die sich im Augenblick ihres größten zahlenmäßigen Anwachsens einer niedergehenden revolutionären Welle gegenüber sah“. 66 Die aus dieser Ungeduld resultierende Politik der Offensive hatte in eine 63 Zit. nach Brandt/ Löwenthal: Reuter, S.-163. 64 Protokoll der Sitzung des ZA der VKPD, 3.-5.5.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 8, Bl. 69 und 389. 65 Vgl. Protokoll der Sitzung des Polbüros der VKPD am 19.7.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I2/ 2/ 13, Bl. 233. 66 Brandt/ Löwenthal: Reuter, S.-163. <?page no="147"?> 147 5.8 Die Wende zur Einheitsfrontpolitik Niederlage geführt, die viele aktionistisch eingestellte Kommunisten schwer frustrierte und viele pragmatischer eingestellte Mitglieder von der Partei abstieß. Die Aufgaben kommunistischer Parteien in einem zusehends nichtrevolutionären Umfeld zu definieren war die Herausforderung, vor der im Sommer 1921 der III. Weltkongress der Komintern stand; die Ergebnisse dieser Neudefinition in der Praxis umzusetzen, war in der Folgezeit die Aufgabe der deutschen Parteiführung, nun unter dem Vorsitz Ernst Meyers. 5.8 Die Wende zur Einheitsfrontpolitik Die ersten beiden Kominternkongresse hatten noch ganz im Zeichen des Aufschwunges revolutionärer Kämpfe in Folge des Krieges gestanden. Die Teilnehmer erwarteten einen baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus und ein schnelles Übergreifen der Revolution auf die Länder Westeuropas. Nicht von ungefähr formulierte Sinowjew als Vorsitzender der Internationale auf dem II. Weltkongress seine Hoffnung, bereits bald einen „Weltkongress der Sowjetrepubliken“ abhalten zu können. Ganz anders war die Stimmung auf dem III. Weltkongress, der vom 22. Juni bis 12. Juli 1921 in Moskau zusammentrat. Vor allem Lenin und Trotzki gingen nun von einer vorübergehenden Stabilisierung des Kapitalismus aus. Trotzki erklärte: „Erst jetzt sehen und fühlen wir, dass wir nicht so unmittelbar nahe dem Endziel, der Eroberung der Macht, der Weltrevolution stehen. Wir haben damals im Jahre 1919 uns gesagt: es ist die Frage von Monaten, und jetzt sagen wir, es ist die Frage vielleicht von Jahren“. 67 Mit seinem Referat versuchte Trotzki, die in der KPD und anderen kommunistischen Parteien vorherrschende Ansicht zu erschüttern, dass sich die Krisen automatisch verschärfen und zwangsläufig zu revolutionären Situationen führen würden. Damit schuf er eine der wesentlichen theoretischen Prämissen für die Wende zur Einheitsfrontpolitik. Aus dieser veränderten Einschätzung resultierte die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung der Komintern. Denn die ersten beiden Kongresse hatten sich vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sich kommunistische Parteien in Situationen verhalten sollten, die sie als revolutionär oder zumindest vorrevolutionär einschätzten. Nun stellte sich in aller Dringlichkeit die Frage nach einer Arbeitsweise in nichtrevolutionären Zeiten - zumal die Antwort, die etwa die deutsche Parteileitung (mit tatkräftiger Hilfe eines Teils des Kominternapparates) gefunden hatte, offensichtlich und dramatisch in der Märzaktion gescheitert war: nämlich eine revolutionäre Situation durch eigene Aktionen, durch eine Offensive der eigenen Partei auslösen zu wollen. Dementsprechend spielte die Auseinandersetzung mit der KPD auf dem Kongress eine wichtige Rolle, zumal die deutsche Delegation sowohl aus Verteidigern als auch Kritikern der Märzaktion bestand. Die meisten Mitglieder der Parteiführung waren nach Moskau gekommen - einzig die oberste Spitze blieb in Deutschland: der zu Festungshaft verurteilte Brandler, sein Mitvorsitzender Stoecker und der politische Leiter Meyer. Letzterer hatte den Schmuggel der Kongressdokumente organisiert. Sie wurden von Moskau über Eydtkuhnen nach Königsberg geschafft. Von dort transportierte der durch seine parlamentari- 67 Trotzki zit. nach Angress: Kampfzeit, S.-224. <?page no="148"?> 148 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) sche Immunität geschützte Meyer sie nach Berlin, wo er sie vorübergehend als Reisegepäck im Bahnhof Friedrichstrasse deponierte, bis ein KPD-Kurier sie dort abholte. Auch wenn Meyer selbst nicht beim Kominternkongress anwesend war, soll dem Kongress im Folgenden ein gewisser Raum eingeräumt werden. Denn hier wurde mit der Einheitsfrontpolitik jener Ansatz begründet, an dem Meyer bis zu seinem Lebensende festhalten sollte und an dessen Weiterentwicklung und konkreten Anwendung in Deutschland er wesentlichen Anteil hatte. In den Debatten auf dem Kongress griff vor allem Trotzki die Politik der deutschen Zentrale scharf an: „Man gewinnt aus alledem den Eindruck, dass die Mitglieder der deutschen Delegation die Sache noch immer so ansehen, dass man sie um jeden Preis verteidigen muss, nicht untersuchen, nicht analysieren [...] Wir sind verpflichtet, der deutschen Arbeiterschaft klipp und klar zu sagen, dass wir diese Offensivphilosophie als die größte Gefahr und in der praktischen Anwendung als das größte politische Verbrechen auffassen“. 68 Doch die Einschätzungen Lenins und Trotzkis stießen auf heftigen Widerstand des stark vertretenen linken Flügels der Komintern. Hinzu kam die Angst von Teilen des Kominternapparates, durch eine zu scharfe Verurteilung der Märzaktion diskreditiert zu werden, da sie in diesen Putschversuch verstrickt waren. Das zusammengenommen führte zu einem unglücklichen Kompromiss, nämlich zu einer Resolution zur Märzaktion, die recht zweideutig war und Interpretationsspielräume in alle Richtungen offenließ. Der Kongress bestätigte Levis Ausschluss aus der VKPD wegen seines Disziplinbruches. Gleichzeitig gaben die Delegierten seiner Kritik inhaltlich in vielen Punkten Recht. 69 Vor allem die von Lenin und Trotzki vorangetriebene strategische Neuausrichtung der Komintern, wie sie in den vom Kongress verabschiedeten „Thesen über die Taktik“ zum Ausdruck kam, knüpfte an der Politik des „Offenen Briefes“ an, welche die KPD unter Levi erprobte hatte. Lenin forderte, diese müsse künftig für alle kommunistischen Parteien als verbindlich gelten. In den „Thesen über die Taktik“ heißt es, Ziel kommunistischer Politik in nichtrevolutionären Zeiten müsse „die Eroberung des ausschlaggebenden Einflusses auf die Mehrheit der Arbeiterklasse, das Hineinführen ihrer entscheidenden Teile in den Kampf“ sein. Dieses könne nur durch ihre unbedingte Teilnahme an allen Kämpfen des Proletariats, auch an Teilkämpfen, die für sich genommen keineswegs auf die Überwindung des Kapitalismus abzielen, geschehen: „Nicht darauf kommt es an, dem Proletariat nur die Endziele zuzurufen, sondern den praktischen Kampf zu steigern, der allein in der Lage ist, das Proletariat zum Kampfe um die Endziele zu führen“. Weiter heißt es: „Nur indem die Kommunisten sich an die Spitze der praktischen Kämpfe des Proletariats zu stellen verstehen, nur indem sie diesen Kampf fördern, können sie in Wirklichkeit große Massen des Proletariats [...] gewinnen“. 70 Zentrale Bedeutung komme dabei der Steigerung des kommunistischen Einflusses in den Gewerkschaften zu, wie es auch in den „Leitsätzen über die Kommunistische 68 Zit. nach Angress: Kampfzeit, S.-225. 69 Lenin sagte während des Kongresses zu Klara Zetkin: Levis „Verurteilung wird nur wegen Disziplinbruchs erfolgen, nicht wegen seines grundsätzlichen politischen Standpunktes. Wie wäre das auch möglich in dem Augenblick, wo dieser Standpunkt als richtig anerkannt wird“. Zit. nach ebenda, S.-214. 70 Thesen über die Taktik, in: Thesen und Resolutionen des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Moskau, 22. Juni bis 12. Juli 1921), Hamburg 1921, S.-32-63, Zitate S.-35, 48 und 45. <?page no="149"?> 149 5.8 Die Wende zur Einheitsfrontpolitik Internationale und die Rote Gewerkschaftsinternationale“ formuliert wurde: „Die Hauptaufgabe der nächsten Epoche für alle Kommunisten besteht darin, ausdauernd, energisch, hartnäckig daran zu arbeiten, die Mehrheit der Arbeiter in allen Gewerkschaften zu gewinnen, [... um] durch die regste Teilnahme an den Alltagskämpfen die Gewerkschaften trotz allen Widerstandes für den Kommunismus doch zu gewinnen. Der beste Maßstab der Stärke jeder kommunistischen Partei ist der wirkliche Einfluss, den sie auf die Massen der Arbeiterschaft in den Gewerkschaften ausübt“. 71 „Zu den Massen“ lautete daher die Parole des III. Weltkongresses, der im Vergleich zur vorherigen Periode eine scharfe Wendung der Komintern auslöste. Aus dieser strategischen Neuausrichtung ergab sich für die Kommunisten eine Veränderung in ihrem Herangehen an die anderen Arbeiterorganisationen. Bislang hatten sie diese vor allem als Gegner begriffen und frontal bekämpft. Doch künftig mussten sie Formen einer Zusammenarbeit mit ihnen finden, wenn sie tatsächlich an den Teilkämpfen der Arbeiterschaft teilnehmen wollten. Die neue Strategie stellte somit, wie Hallas zusammenfasst, den Versuch dar, „die Führungen der reformistischen und zentristischen Organisationen zu einer begrenzten Zusammenarbeit in konkreten Fragen zu zwingen, indem man ihre Anhänger für die Einheit in der Aktion gewinnt, und nicht bloß den Versuch, diese Anhänger in Aktionen hinter den Kommunistischen Parteien reinzuziehen“. 72 Allerdings blieb die neue strategische Ausrichtung der Komintern auf dem III. Weltkongress insgesamt noch recht schemenhaft. Die Bezeichnung „Einheitsfront“, wie die neue Taktik bald genannt wurde, tauchte in den Beschlüssen des Kongresses noch nicht auf. Was sie genau für die politische Praxis der Komintern und der ihr angeschlossenen Parteien bedeuten würde, wurde im Detail noch nicht festgelegt. Dieses geschah erst in der Folgezeit, vor allem auf der Sitzung der erweiterten Exekutive im Februar 1922 und dann auf dem IV. Weltkongress. Eine sehr wichtige Rolle hierfür spielten die Erfahrungen der KPD, die sich unter ihrem Vorsitzenden Ernst Meyer bald tatkräftig um die Anwendung der neuen Politik bemühte. Auf Druck und unter Vermittlung Lenins wurde am Rande des III. Weltkongresses ein „Friedensvertrag“ zwischen den verschiedenen Strömungen der KPD ausgehandelt, der die seit der Märzaktion schwelenden Konflikte beenden sollte. Der Kompromiss beinhaltete, dass die rechte Opposition alle Fraktionstätigkeit und jede Form der Mitarbeit an Levis Zeitschrift „Sowjet“ einstellen müsse. Im Gegenzug sicherte ihr die Zentrale zu, das Recht auf freie Kritik und den Zugang zur Parteipresse zu garantieren. Für die Opposition solle Zetkin in die Zentrale und Heinrich Malzahn in den Zentralausschuss kooptiert werden. Die Folge des Friedensvertrages war eine Spaltung der rechten Opposition. Deren gemäßigten Mitglieder waren zur Mitarbeit mit der Parteiführung bereit. Gemeinsam mit der Mehrheit der Zentrale und jenen Teilen des sich nun ebenfalls aufspaltenden linken Flügels, die den Friedensvertrages und die Beschlüsse des Weltkongresses akzeptierten, bildeten sie nun eine Art neuer Zentrumsströmung in der Partei. Dieser gehörten auch mehrere 71 Leitsätze über die Kommunistische Internationale und die Rote Gewerkschaftsinternationale, in: Ebenda, S.-69-86, hier S.-75. 72 Hallas: Komintern, S.-55. <?page no="150"?> 150 5 Exponent des linken Flügels (1920/ 21) der ehemaligen Protagonisten der „Offensivtheorie“ an, neben Thalheimer, Frölich und Walcher als zentrale Figur Ernst Meyer. Diese Zentrumsströmung sah sich vor allem einer weiterhin starken linken Opposition gegenüber, die den Friedensvertrag und die Beschlüsse des Kongresses mehr oder weniger offen ablehnte. Deren wichtigsten Exponenten waren Ernst Friesland, Ruth Fischer und Arkadij Maslow. Um die Konsequenzen des III. Weltkongresses für die VKPD zu diskutieren und den kommenden Parteitag vorzubereiten, trat am 2. und 3. August 1921 der Zentralausschuss zusammen. Die Situation der Zentrale war überaus schwierig: Sie wurde von links wie rechts immer wieder scharf angegriffen, viele Delegierte waren nicht bereit, ihren Vorschlägen zu folgen. Meyers Redebeitrag in der Debatte über den Weltkongress verdeutlicht, wie schwer er sich zunächst mit der neuen Linie tat. Vor allem Trotzki und dessen Einschätzung einer neuen Stabilisierung des Kapitalismus griff er scharf an: „Sowohl was die Methode wie das Ergebnis der Trotzkischen Methode anbetrifft, so kann ich mich damit nicht einverstanden erklären. […] Wir haben ein gutes Recht an den Trotzkischen Thesen zu sagen, was uns nicht gefällt, nämlich, dass innerhalb des Kapitalismus ein solcher Zerfall stattfindet und gleichzeitig eine Verschärfung des Kampfes entstehen muss.“ 73 Meyer versuchte zwar, Offensivtheorie und Märzaktion weiter zu verteidigen, zugleich aber die neue Linie zu unterstützen. So erklärte er, auf dem Boden der Beschlüsse des Kongresses zu stehen; namentlich unterstützte er die Politik, an den Tageskämpfen der Klasse anzuknüpfen. Bezüglich der Kritik an der Offensivpolitik der Zentrale äußerte er, diese habe nur umgesetzt, was der ZA im März beschlossen habe: „Wir haben angesichts der Inaktivität und Passivität verlangt bis zur letzten Minute Umstellung der Partei, Umstellung zur Offensive. Und in diesem Sinne stehen wir heute noch auf diesem Standpunkt.“ 74 In Bezug auf den Friedensvertrag versuchte Meyer seiner Rolle als Leiter der Zentrale gerecht zu werden und die verschiedenen Strömungen der Partei durch Kooptionen ihrer Vertreter in die Zentrale zu integrieren. Die ökonomischen Prämissen der Einheitsfrontpolitik sollte Meyer noch eine Weile in Frage stellen, ihre politischen Konsequenzen aber bald engagiert umsetzen; auch sein Bemühen um eine Integration des rechten Flügels setzte Meyer in der Folge eifrig fort, damit immer mehr in einen Gegensatz zur Parteilinken geratend. 73 Protokoll der Sitzung des ZA der VKPD am 2./ 3.8.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 9, Bl. 124f. 74 Ebenda, Bl. 126. <?page no="151"?> 151 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) 6.1 Abkehr vom linken Flügel: Beim Jenaer Parteitag Vom 22. bis 26. August 1921 trat in Jena der siebte Parteitag der KPD zusammen. 1 Meyer, der bereits nach Brandlers Verhaftung im April dessen Funktion als Leiter des Polbüros und damit faktisch die Parteiführung übernommen hatte, hielt hier den einleitenden politischen Bericht der Zentrale. Dieser war zugleich die Grundlage für seine erneute Kandidatur für das oberste Parteigremium. Meyer hatte die Aufgabe, die politische Arbeit der KPD seit dem Vereinigungsparteitag auf eine Weise zusammenzufassen, die es der Partei ermöglichte, die internen Auseinandersetzungen im Sinne des Moskauer Friedensvertrages zum Abschluss zu bringen und gleichzeitig die Weichen für eine Wende zur Einheitsfrontpolitik zu stellen. Dementsprechend musste sein Referat verschiedenen Ansprüchen genügen: Er musste eine Darstellungsweise von Märzaktion und Offensivtheorie finden, die einerseits der Kritik des rechten Flügels der Partei Rechnung trug, ohne aber den (auf dem Parteitag stark vertretenen) linken Flügel zu stark vor den Kopf zu stoßen. Er durfte also die damaligen Protagonisten der Märzereignisse (und damit sich selbst) nicht desavouieren und musste ihnen eine Brücke bauen, sich ohne Gesichtsverlust auf den Boden der Beschlüsse des III. Weltkongresses stellen zu können. Im Referat und vor allem in seinem Schlusswort teilte Meyer kritische Bemerkungen gleichermaßen nach links und rechts aus, versuchte dabei aber, eine politische Linie zu entwickeln, der die gesamte Partei folgen konnte. In Bezug auf die Märzaktion schlug Meyer einige (selbst-)kritische Töne an. Aber im Wesentlichen rechtfertigte er die Aktion, die er als „Verteidigungskampf“ darstellte und aus dem „Drang nach Aktionen“ im Anschluss an die Vereinigung von KPD und USPD- Linker erklärte. In der KPD habe es vor der Vereinigung eine „spezifisch antiputschistische Stimmung“ gegeben, eine Tendenz, „jedem Kampf und jeder Aktion auszuweichen“, wie es unter anderem in der zögerlichen Reaktion der KPD-Zentrale auf den Kapp-Putsch zum Ausdruck gekommen sei. Nach der Vereinigung hingegen, „unter dem Druck der vorwärtstreibenden und drängenden Massen, insbesondere aus der USP“ sei diese Einstellung „etwas in das Gegenteil“ umgeschlagen, was zu einer „Überschätzung des [...] spezifisch revolutionären Mittels“ geführt habe. Sowohl zeitgenössische Kritiker als auch die heutige Forschung bewerten die Märzaktion als Desaster für die KPD. Davon war bei Meyer keine Rede. Dennoch kündigte sich in seinem Referat deutlich die Wende zur Einheitsfrontpolitik an. Er ging noch einmal auf den „Offenen Brief“ vom Januar ein. Ihm habe ein richtiger Gedanke zugrunde gelegen, 1 Die Bezeichnung VKPD wurde auf diesem Parteitag fallengelassen. Die Parteitage wurden nun einerseits seit dem Vereinigungsparteitag, andererseits seit dem Gründungsparteitag der KPD gezählt. Der Jenaer war also der siebte Parteitag seit der Gründung und der zweite seit der Vereinigung. Die Zählung ab dem Gründungsparteitag setzte sich bald durch und wird auch hier verwendet. <?page no="152"?> 152 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) nämlich der Versuch, „die gesamte Arbeiterschaft zum Kampfe zusammenzuschließen, um bestimmte Forderungen durchzusetzen, die so einleuchtend waren und deren Verwirklichung für die Arbeiterschaft so notwendig war, dass es keinen Arbeiter geben kann, der nicht diesen Forderungen zustimmte und seine Bereitschaft zum Kampfe für die Durchsetzung dieser Forderungen erklärte“. In der KPD sei das teilweise als ein Minimalprogramm missverstanden worden. Doch diese Forderungen „sind für uns nur Mittel zum Zweck und nicht Zweck selbst - Mittel zum Zweck der Sammlung des Proletariats zum Kampfe“. Die Zentrale empfehle der Partei nun, die Taktik des „Offenen Briefes“ wieder aufzunehmen, und zwar in der Form, dass sich die Kommunisten auf lokaler oder Bezirksebene an die Vorstände der anderen Arbeiterorganisationen wenden sollten, um „gemeinsam [...] bestimmte Forderungen der gesamten Arbeiterschaft durchzusetzen“ - sofern es sich nicht um den Kampf für Ministersessel, sondern gegen die Bourgeoisie und die Regierung handele. Die Aufgabe der Partei sei „in dem begonnenen und sich steigernden Abwehrkampf die Massen zu sammeln und die Kämpfe in einem Geiste zu führen, der über die Abwehr einer unmittelbaren Verschlechterung der [...] Lage des Proletariats hinaus die Errichtung der Diktatur des Proletariats zum Ziel hat“. Wenn die KPD es verstehe, die Abwehrkämpfe richtig zu führen, werden die Massen „erkennen, dass nicht Reformen, nicht Verbesserungen, nicht bloße Abwehr des Schlimmsten sondern allein der Kommunismus die Befreiung für die Arbeiterschaft bringen kann“. 2 In den wesentlichen inhaltlichen Punkten folgte der Parteitag der von Meyer vertretenen Linie und stellte sich auf den Boden der Beschlüsse des III. Weltkongresses. Auch wenn in den Debatten der Standpunkt des linken Parteiflügels stark zur Geltung kam, so bedeutete die Annahme der Einheitsfrontpolitik doch einen klaren Sieg des neuen Zentrums der Partei um Meyer, der sich auch in den Wahlen zur Zentrale ausdrückte. Hier entfielen auf ihn mit 253 von 279 die meisten Delegiertenstimmen. Meyer muss also mit seinem Referat den Nerv der Delegierten getroffen haben. In die Zentrale wurden zudem Paul Böttcher, Berta Braunthal, Hugo Eberlein, Ernst Friesland, Fritz Heckert, Edwin Hoernle, Wilhelm Pieck, Hermann Remmele, Felix Schmidt, August Thalheimer, Jacob Walcher, Rosi Wolfstein und Clara Zetkin gewählt. Das einzige Zentrale-Mitglied, das sich eindeutig der Parteilinken zurechnen ließ, war Friesland. Doch auch dieser löste sich bald - von den Beschlüssen des III. Weltkongresses überzeugt - von diesem Flügel. Das prominenteste Mitglied der alten Parteirechten in der neuen Zentrale war Clara Zetkin. Ihrer Strömung waren außerdem Böttcher und Walcher zuzurechnen. Den Zeitgenossen war der „gewisse Ruck nach rechts“, 3 den der Jenaer Parteitag bedeutete, nicht sofort klar, vor allem, weil sie Meyer noch mit seinen früheren linken Positionen identifizierten, die er in Jena ja auch verteidigt hatte. Der Hamburger KAPD-Aktivist Johann Ahlers wertete den Parteitag beispielsweise im September 1921 wie folgt: „Die wichtigste Rede war der politische Bericht der Zentrale, gegeben von Ernst Meyer, der offen gegen die Russen Stellung nahm und sich für die Märzaktion aussprach […]. Meyer 2 Bericht über die Verhandlungen des 2. [7.] Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten in Jena vom 22. bis 26. August 1921, hg. von der Zentrale der KPD, Berlin 1922, Referat Meyer, S.-213-225 u. 281-284. 3 Winkler: Revolution, S.-529. <?page no="153"?> 153 6.2 Von der Arbeit getrieben: Aufgaben eines Parteivorsitzenden ist der am weitesten links stehende Mann der VKP, die ihren Willen dahin Ausdruck gab, dass sie bei der Neuwahl der Zentrale ausgerechnet diesen Dr. Ernst Meyer an die Spitze der Parteileitung stellte […].“ 4 Die politische Polizei ergänzte in ihrem Bericht über Ahlers Ausführungen, dass Meyer „vielleicht der radikalste Mann in der KPD“ sei: „Er stand seit der Gründung der VKPD, bei der er entschieden jedes politische Amt von Bedeutung ablehnte und nur den stillen Beobachter spielte, zu Dr. Paul Levi in dauernder Opposition, den er stets offen als Opportunisten bezeichnete.“ 5 Doch das war Vergangenheit: Die Zeiten, in denen Meyer die radikalsten Strömungen in der KPD repräsentierte, waren mit dem Jenaer Parteitag endgültig vorbei. 6.2 Von der Arbeit getrieben: Aufgaben eines Parteivorsitzenden Auf dem Jenaer Parteitag hatte Meyer (gemeinsam mit Pieck) bei der Wahl zur Zentrale die meisten Stimmen erhalten. Als die neugewählte Parteiführung am 31. August 1921 zum ersten Mal tagte, wurde er zum Vorsitzenden des Polbüros gewählt. Damit stand er gerade 34-jährig an der Spitze der KPD, war faktisch ihr Parteivorsitzender - auch wenn es diese Funktion offiziell nicht mehr gab. Formal bestand die Zentrale seit dem Jenaer Parteitag aus gleichberechtigten Mitgliedern, die zuvor bestehende Doppelspitze der Partei mit zwei Vorsitzenden war abgeschafft worden. Dass Meyer in weiten Teilen der Literatur dennoch als Parteivorsitzender bezeichnet wird, ist durchaus legitim, übernahm er doch die traditionelle Aufgabe eines solchen: Sowohl bei den Sitzungen der Zentrale als auch des Polbüros referierte er fast immer zur politischen Lage, ebenso auf den meisten ZA-Sitzungen. Auch beim 8. Parteitag im Januar 1923 gab er den „Politischen Bericht der Zentrale“. Meyers Arbeitsbelastung in der neuen Funktion war extrem hoch, allein das Pensum an Sitzungen der Zentrale war gewaltig: Zwischen dem Jenaer und Leipziger Parteitag hielt diese 118 Vollsitzungen ab, das Polbüro trat 116- und das Orgbüro 102-mal zusammen. Darüber hinaus hatte Meyer als Mitglied der Zentrale an einer Reihe von Bezirksparteitagen teilzunehmen, musste immer wieder in verschiedenen Ortsgruppen referieren und war unter anderem für die Betreuung des KPD-Oberbezirks West zuständig. In seinen Zuständigkeitsbereich fielen zudem die Bereiche Pressekontrolle und Pressedienst. Passend hierzu war er vom 31. September bis zum 1. Dezember 1921 Chefredakteur der „Roten Fahne“. Auch sonst beschäftigte sich Meyer viel mit Medienfragen und referierte unter anderem auf einer Redakteurskonferenz am 27. Mai 1922 über die Aufgaben der kommunistischen Presse im Rahmen der Einheitsfrontkampagne. Außerdem veröffentlichte Meyer 1921/ 22 eine Reihe von Artikeln in der kommunistischen Presse, vor allem in der „Roten Fahne“, der „Internationale“ (sechs Artikel zwischen Januar und September 1922) und der „Internationalen Pressekorrespondenz“ (19 Artikel zwischen September 1921 und September 1922). 4 Lagebericht des RKO Nr. 55, 13.9.21, Anlage 2, in: BArch Lichterfelde, R1507/ R134, 15/ 50 f. 5 Lagebericht des RKO Nr. 55, 13.9.21, in: BArch Lichterfelde, R1507/ R134, 15/ 8 f. <?page no="154"?> 154 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Ein weiteres Aufgabenfeld, das Meyer in der Zentrale zu bestellen hatte, waren die internationalen Beziehungen. Zwar lehnte er aufgrund seiner hohen Arbeitsbelastung eine Entsendung als KPD-Delegierter zur Plenarsitzung des erweiterten EKKI in Moskau vom 21. Februar bis zum 4. März 1922 ab, war dann aber Anfang August für zwei Wochen in der russischen Hauptstadt. Dort nahm er an einer Sitzung des EKKI und als Beobachter an einem Prozess gegen die russischen Sozialrevolutionäre teil. Von Ende August bis Ende November 1922 hielt er sich erneut als Vertreter der KPD beim EKKI in Moskau auf und nahm dort auch am IV. Weltkongress der Komintern teil. Bereits am 19. Januar 1922 hatte er die KPD auf einer gemeinsamen Konferenz mit den kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs in Berlin vertreten, nahm am 24. August an einer deutsch-französischen kommunistischen „Reparationskonferenz“ in Köln teil und vertrat die KPD Anfang Januar 1923 bei einer Konferenz der kommunistischen Parteien Westeuropas in Essen. Neben seinen Aufgaben in der Zentrale blieb Meyer zudem Fraktionsvorsitzender im Preußischen Landtag und musste daher regelmäßig an den Parlamentssitzungen teilnehmen, in denen er häufig Anträge seiner Fraktion vorstellte und begründete, und in seinem ostpreußischen Wahlkreis Präsenz zeigen. Die immense Arbeitsbelastung ist auch aus Meyers Briefen an seine künftige Frau zu entnehmen. Am 20. Mai 1922 etwa schrieb er: „Liebste! Tolle Arbeit hindert mich wieder Dir zu schreiben. [...] morgen in Magdeburg, Montag Parlamentskonferenz, Dienstag Neunerkommission für Arbeiterweltkongress, Mittwoch Z[entrale].-Sitzung, Donnerstag Sekretärkonferenz, Sonntag Berliner Bezirksparteitag [...] (In der ganzen Woche noch Parlament: Genua, Hilfe für Russland u.a.). [...] Gestern kam ich erst sehr spät nach Hause, bin recht müde und nervös, muss heute Abend noch um 10 nach Magdeburg. Montag gleich morgens Fortsetzung der Justizdebatte, wo ich unbedingt dabei sein muss. Auch einen Artikel muss ich heute noch schreiben. Zum Ausruhen oder lesen komme ich noch immer nicht. In Breslau war ich nicht, da ich im Landtag reden musste“. 6 Urlaub scheint er zwischen September 1921 und September 1922 nur zweimal genommen zu haben: 14 Tage zum Jahreswechsel 1921/ 22 und wenige Tage im Mai 1922. Ein anschauliches Portrait des Ernst Meyer dieser Zeit stammt von dem Kommunisten Karl Retzlaw: „Ich habe ihn gut gekannt, er war ein hochintelligenter, gebildeter Mann, seine Referate zeugten von seinem ungewöhnlichen Wissen, doch sie waren ohne jede Wärme, und er hat weder in Volksversammlungen noch in Versammlungen der eigenen Partei die Überzeugungskraft ausgestrahlt, ohne die nun mal ein Führer einer revolutionären Partei nicht denkbar ist. Er war damals auch schon von der Tuberkulose gekennzeichnet, an der er dann sterben sollte. […] Ernst Meyer war gewiss nicht feige, aber dass Levi mit seiner Kritik recht hatte, gab er nur im engeren Genossenkreis zu.“ 7 6 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-32. 7 Retzlaw, Karl: Spartacus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt (M.) <?page no="155"?> 155 6.3 Ehescheidung und neue Liebe Auch andere Schilderungen bestätigen das Bild von Meyer als einen eher kühlen, nüchternen Redner - was die Bezirksleitung Ostpreußen aber nicht davon abhielt, in einem Brief an die Zentrale um die Entsendung einer „große(n) Kanone“ wie Meyer für eine Reihe öffentlicher Versammlungen zu bitten. Als nüchterner, intellektueller Redner dürfte er seine Zuhörer eher über den Kopf als ihre Emotionen angesprochen haben - eine Eigenschaft, die für einen Parteiführer sicher nicht nur von Vorteil war. Meyer war sich dieses Mankos durchaus bewusst, etwa wenn er eingestand, nicht über ähnlich flammende Worte wie Ruth Fischer zu verfügen. Gleichzeitig wird Meyer verschiedentlich als hochintelligenter, feinfühliger, sensibler, um sauberes Aussehen und korrektes Auftreten bemühter Mann mit vegetarischer Ernährung beschrieben. Seine neue Frau Rosa nennt seine vielseitigen Interessen, seinen hohen Grad an Bildung und seine große Belesenheit als seine besonderen Charakteristika. In ihrem Briefwechsel erscheint Meyer zudem als sehr sensibler und zugleich sehr verliebter Mann. Es war diese neue Liebe, die ihn zur Trennung von seiner ersten Frau und zur Heirat mit Rosa Leviné führen sollte. 6.3 Ehescheidung und neue Liebe Die Ehe zwischen Ernst und Elsa Meyer geriet trotz der Geburt der beiden Söhne über die Weltkriegszeit in eine Krise. Die beiden hatten sich noch in Königsberg kennengelernt: Elsa, die angehende Lehrerin, eine bildungsbeflissene, aber auch den bäuerlichen Traditionen ihrer Familie verhaftete Tochter eines preußischen Wachtmeisters - und Ernst, der ernsthafte, sich bald dem Marxismus verschreibende Intellektuelle mit guten Manieren. Beider kleinbürgerlich-proletarischer Familienhintergrund scheint auch ihre Beziehung und Umgangsformen zunächst stark geprägt zu haben. Dann aber kam der Epochenbruch des Weltkrieges, und „mit dem Ersten Weltkrieg ging die Kleinbürgerperiode und ihre Behaglichkeit zu Ende“, analysiert Sohn Heinz später. 8 Aus Ernst Meyer, dem sozialdemokratischen Intellektuellen mit guten Berufsaussichten und Karrieremöglichkeiten wurde der Berufsrevolutionär, der Verschwörer, der Verfolgte. Der Druck der gesellschaftlichen 1976 4 , S.-200 f. 8 Vgl. zu diesem Kapitel insbesondere Heinz Meyer: Kraft, Bl. 12 f, 31, 59 u. 97. Ernst Meyer, o.J <?page no="156"?> 156 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Entwicklungen und seine politische Arbeit im Kriege veränderten ihn, machten ihn fast zu einem Besessenen, bereit, alles den Anforderungen einer revolutionären Beendigung des Krieges und dann des Aufbaus einer kommunistischen Partei unterzuordnen: Sich selbst, seine Freiheit, seine Gesundheit, seine Beziehung. Wir wissen nicht, wie politisch Elsa damals wirklich schon war, wissen nur, dass sie zeitlebens eine Linke blieb und im Nationalsozialismus wegen ihrer politischen Einstellungen nicht mehr als Lehrerin arbeiten durfte. 9 Vermutlich war sie bereits Teil des politisch-sozialen Freundeskreises der radikalen Steglitzer Linken vor 1914 gewesen. Den Strafverteidiger und späteren kommunistischen Landtagsabgeordneten Gerhard Obuch, mit dem sie später kurzzeitig liiert war und eine Tochter, Eva, hatte, lernte sie zeitgleich mit Meyer in Königsberg kennen - ein Hinweis, dass sie auch dort schon zur Szene der radikalen Linken gehörte. Während des Krieges gab sie einmal blauäugig Informationen an Polizisten weiter, die Ernst Meyer suchten. Andererseits begegnete sie in den Januartagen 1919 der Polizei bei der Festnahme Meyers sehr resolut. Vermutlich stand sie den Aktivitäten ihres Mannes grundsätzlich mit Sympa- 9 Schriftliche Information über Elsa Meyer von ihrer Enkelin, Marion Ehlert. Elsa Meyer mit Söhnen Heinz (re.) und Rudi, 1918 Heinz (li.) und Rudi Meyer 1920 <?page no="157"?> 157 6.3 Ehescheidung und neue Liebe thie gegenüber. Dennoch entfremdeten sich die beiden: „Das gewohnte kleinbürgerliche Idyll zerbrach, und zwar gründlich. So wurde auch wohl meiner Mutter der Boden unter den Füßen weggezogen; dazu die Konkurrenz anderer, brillanterer, intellektuell überlegenen Frauen“, erinnerte sich Heinz Meyer. Ernst Meyer, der über sich selbst in Bezug auf Frauen gesagt haben soll: „Ich bin ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt“, lernte bei seinen Untergrundaktivitäten tatsächlich faszinierende Frauen kennen, so 1917 bei Sonja Liebknecht die drei Jahre jüngere, aus einer russisch-jüdischen Rabbiner-Familie stammende Rosa Leviné (geb. Broido, 1890-1979). Im Jahr 1918 arbeiteten beide bei der russischen Telegraphenagentur ROSTA in Berlin. Rosas Mann, Eugen Leviné, wurde 1919 als Kopf der Münchener Räterepublik standrechtlich erschossen. 10 Als Meyer Rosa Leviné 1920 wiedertraf, war sie die geachtete Witwe eines bedeutenden Märtyrers der kommunistischen Bewegung. Sie erinnert sich: „Als ich nach Berlin zurückkehrte, riet man mir, bei der Kontaktaufnahme mit der Partei zu versuchen, Ernst Meyer anzusprechen, er sei der sympathischste und aufgeschlossenste der Spitzenfunktionäre. Wir trafen uns einige Male, doch das Eis zwischen uns brach erst am Vorabend seiner Abreise nach Sowjetrussland im Juli 1920. Zum ersten Mal tauschten wir ein paar persönliche Worte aus, und wir merkten, wie gut wir uns in Wirklichkeit verstanden. Wir schieden mit einem einsamen Abschiedskuss, aber wir wussten beide, dass wir von nun an zu einander gehörten.“ Im Dezember 1920 ging Meyer als Chefredakteur der „Roten Fahne des Ostens“ nach Königberg. „Mir versprach er eine Russland-Seite, aber es war gar kein Köder nötig: Ich wäre unter allen Umständen mit ihm gegangen. Mit meinem fünfjährigen Sohn folgte ich ihm.“ 11 Bereits bei ihrem ersten Besuch in Königsberg wohnte sie bei Meyers Mutter, 12 obwohl dieser noch mit Elsa verheiratet war. 10 Sie setzte ihm später mit ihren Erinnerungen an die gemeinsame Zeit ein literarisches Denkmal, vgl. Rosa Meyer-Leviné: Leviné: Leben und Tod eines Revolutionärs, München 1972. 11 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-19 ff. 12 Vgl. BArch Koblenz, NY 1246/ 4, Bl. 2. Rosa Meyer-Leviné mit ihrem Sohn Genja, 1921 <?page no="158"?> 158 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Rosa Leviné muss eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein: asketisch lebend, schlank, von dunkler Schönheit, gebildet, intellektuell und bis zum Ende ihres Lebens eine überzeugte Revolutionärin. Als „echter Startyp“ und sehr dominant beschreibt sie Heinz Meyer. Der „Übergang meines Vaters von meiner Mutter zur Rosa Leviné [...] war ‚unvermeidlich‘, zweifellos.“ Gerade den ältesten Sohn belastete die ganze Situation stark. „Krieg und Revolution nahmen mir auch den Vater als leitende Kraft, die ich zweifellos sehr benötigt hätte. Ernst Meyer war im Gefängnis oder mit konspirativer Arbeit befasst […] Und dann ging die Ehe meiner Eltern 1921 kaputt, sie wurde geschieden. Ich wuchs als vaterloser Junge auf; übrig blieb nur das bewunderte politische Leitbild.“ Nach der Scheidung gingen die beiden Söhne zu Elsa, mit der sie in recht bescheidenen Verhältnissen lebten. Den Unterhalt zahlenden Vater sahen sie eher selten, bis sie 1926 plötzlich wieder in seine Wohnung zogen: die Beziehung der Mutter mit dem offensichtlich bisexuellen Obuch zerbrach, weil dieser sie zeitgleich mit der jungen Haushälterin und seinem Liebhaber betrogen haben soll. In einer schweren Nervenkrise verließ sie fluchtartig für mehrere Jahre Berlin. Sie ging mit ihrer kleinen Tochter Richtung Süddeutschland, ließ aber die Söhne zurück. Meyer mutmaßte in dieser Zeit - ohne jede moralische Wertung - Elsa sei lesbisch geworden. 13 Das kleinbürgerliche Familienidyll der Vorkriegszeit war wirklich gründlich zerbrochen. Am 22. August 1922 heirateten vor dem Standesamt Berlin-Charlottenburg Ernst Meyer und Rosa Leviné, die künftig den Doppelnamen Rosa Meyer-Leviné führte. Einer der Trauzeugen war Paul Frölich. Sie brachte ihren Sohn Eugen (genannt Genja) aus ihrer ersten Ehe mit. Rosa sollte Ernsts große Liebe werden, und auch für sie war er die Liebe ihres Lebens, wie Hermann Weber - der später mit ihr eng befreundet war - im Vorwort dieses Buches zu berichten weiß. Zeugnis über die Intensität dieser Liebe gibt der teilweise erhaltene Briefwechsel, aus dem hier nur einzelne Beispiele zitiert werden sollen. Im Mai 1922 schrieb Rosa an Ernst: „[Ich] dachte an Dich, Deine Stille, Deine Besonnenheit, und Du erschienst mir so geheimnisvoll und seltsam. Mich überkam eine solche Sehnsucht, Dich zu erfassen, zu verstehen, Dein Wesen zu kennen.“ 14 Und im Juli in Hinblick auf die anstehende Hochzeit: „Ich bin so froh, dass alle Leute finden, wir passen so zusammen. […] Hast du denn schon alle Papiere zusammen? [...] Kann denn uns Elsa irgendwelche Schwierigkeiten machen? […] Du hast mir noch nicht geschrieben, ob ich bei Dir wohnen kann? […] Süßer Geliebter, ich will alles tun, um Dich froh zu machen, ich bin voller Hoffnung auf unsere Zukunft.“ 15 In einem nicht datierten Brief von 1923 heißt es: „Du machst mich so glücklich, bist so schön, so voll Zauber.“ 16 Ähnlich verliebt klingen auch seine Briefe an sie, wie ausgewählte Beispiele aus dem Frühjahr 1921 belegen sollen: „Ich sehne mich nach Deinen Küssen, Deinen Liebkosungen. Nach Dir kann ich keine Frau mehr lieben. Ich streichle und küsse Dich, Dein Kuck.“ Und: „Geliebte, Süße, ich bin so froh. Es muss alles heiter zwischen uns sein. Ich denke fort und fort an Dich. Ich werde es tun, bis ich wieder bei Dir bin. Du hast mir zwar einiges böses getan, aber Deine liebe 13 BArch Koblenz, NY 1246/ 5, Bl. 157. 14 BArch Koblenz, NY 1246/ 4, Bl. 17. 15 BArch Koblenz, NY 1246/ 4, Bl. 26. 16 BArch Koblenz, NY 1246/ 4, Bl. 33. <?page no="159"?> 159 6.3 Ehescheidung und neue Liebe Verständigkeit und Dein süßer Körper überstrahlt alles. Selbst in dem Bösen bewundere ich Deine Klugheit. Ich küsse Dich tausendmal auf Deinen ganzen Körper, denke lieb und fröhlich an Deinen Ernst.“ In diesem Brief klingen aber auch Hinweise auf Spannungen zwischen den beiden an, die in ihrem Briefwechsel immer wieder auftauchen. Sie dürften ihren Grund - neben der Eifersucht Rosas aus Angst vor weiteren „Schmetterlingsflügen“ ihres Mannes und dem erneuten Verlust eines Partners - auch in psychischen Erkrankungen Rosas gehabt haben, die wir heute wohl mit Begriffen wie Depressionen und Essstörungen beschreiben würden. „Manchmal glaube ich fast, du brauchtest Unruhe, Schmerz, Zweifel, immer wieder Kampf“, schrieb er ihr 1921. Und in einem weiteren: „So lerne ich bei Dir zum ersten Mal, dass Liebe zugleich mit Traurigkeit und Schmerz verbunden sein kann.“ Mehrfach war sie in Behandlung, so 1923 wegen „Herzchen und Köpfchen“. „Ich träume fast jede Nacht von Dir, wachend tue ich es immer“, heißt es in dieser Zeit in einem der vielen liebevollen Briefe an sie. Häufige Quelle von Konflikten war sein von ihr als Zurückweisung empfundenes Bedürfnis, alleine zu sein, das er ihr schon 1921 schilderte: „Ich bin geneigt, wenn ich traurig, verstimmt, mit mir unzufrieden bin, mich abzuschließen, allein zu sein, allein fertig zu werden. Du hast das Bedürfnis, es gemeinsam zu überwinden. Das ist menschlicher, richtiger. Mein Schweigen sieht wie eine Abwehr aus, ist es aber nicht. Ebenso sind meine Äußerungen ruhiger, ‚temperamentloser‘. Um mein Gleichgewicht zu halten, Arbeits- und Lebensfähig zu bleiben, brauche ich eine gewisse Stetigkeit. […] Schließlich habe ich ein objektives Bedürfnis nach Alleinsein. Teilweise hängt es mit meiner Überlastung zusammen; es ist aber wohl noch mehr als das. […] Ich liebe Deinen Körper so schmerzlich stark, liebe Dein Wesen, Deine Erlebnisse, will Dir helfen, mit Dir teilen.“ Allerdings scheint in der Beziehung bei ihm eine Entwicklung stattgefunden zu haben, wie er ihr 1926 aus Moskau schrieb: „Mir fehlt eigentlich nichts als Du. Ich bin ganz halb ohne Dich. Von dem Alleinsein bin ich gründlich kuriert. Hol der Teufel das Alleinsein, in der Arbeit und im Urlaub. Sogar wenn Du krank und etwas nervös-ungeduldig bist, ist es lauter Freude und Glück, mit Dir zusammen zu sein.“ 17 Als sie Anfang 1927 eigentlich zur Behandlung von Knieproblemen monatelang in einem Sanatorium in der Schweiz weilte, brachen ihre psychischen Symptome deutlich hervor. In verzweifelten Briefen an Meyer, der aufgrund seiner politischen Aufgaben nur wenig Zeit für Besuche bei ihr hatte - worunter beide stark litten - berichtete sie von Zusammenbrüchen, lauten Geräuschen in den Ohren und stundenlangem Weinen sowie immer wieder über „Anfälle von furchtbarer Müdigkeit, Schwäche, Minderwertigkeit und Angst“, an anderer Stelle „Totengedanken“. „Ich muss wohl in eine richtige Nervenklinik. [...] Ich bitte Dich doch zu kommen, liebster Kuks, vielleicht genügen auch schon 1-2 Tage.“ Tatsächlich besuchte er sie daraufhin. Sie schrieb ihm anschließend, ihr Zustand habe sich deutlich gebessert und sie denke an „deine liebe Fröhlichkeit, […] all die dummsüßen Witzchen.“ 18 17 BArch Koblenz, NY 1246/ 5, Bl. 13-16, 19, 64, 66 u. 120. 18 BArch Koblenz, NY 1246/ 4, Bl. 118-135. <?page no="160"?> 160 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Der vermeintlich immer so nüchterne und ausschließlich der kommunistischen Sache ergebene Meyer erscheint in Briefen aus dieser Zeit plötzlich in einem ganz anderen Licht: „Geliebte! Ehe dein Brief heute kam, dachte ich ähnlich wie du: wie man um den anderen zittert und alle Erlebnisse um den Geliebten sich ordnen. Ich frage mich dabei, was mir eigentlich wichtiger ist: Deine Liebe oder erfolgreiche Arbeit. Du weißt, Schulte sagte mir einmal: Arbeit auch in der Politik macht man nur wegen des Erfolgs bei Frauen. Du stimmtest, als ich es dir erzählte, zu. Bei mir ist es so: Die Arbeit reizt mich, beschäftigt, erfüllt mich ganz. Tue ich die Arbeit nur Deiner Anerkennung wegen? Nein! Aber deine Anerkennung ist mir eine besondere Freude, und deine Kritik schmerzt mich besonders. Ich zittere jedesmal ein bisschen, wenn ich Dir etwas berichte, wie Du es beurteilen wirst. Und ich tue manches auch besonders gerne, um Deinen Beifall zu erringen.“ 19 Die beiden meisterten aber ihre Beziehungskrisen und fanden immer wieder zu einander. Dazu beigetragen haben dürfte, dass er in ihr seine engste politische Vertraute fand. Sie sollte ihm nun zunächst in seiner neuen Rolle als Parteivorsitzender eng zur Seite stehen. 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik Mit dem Beschluss des Jenaer Parteitags, die Einheitsfronttaktik anzuwenden, wurde die KPD „die erste kommunistische Partei, die den unbestimmten Direktiven des III. Weltkongresses Form und Inhalt gab“. 20 Keine andere KP hatte sich die neue Politik „sichtbarer auf ihre Fahnen geschrieben als die deutsche“. 21 Meyer hatte anfangs starke Zweifel an den ökonomischen Prämissen der Einheitsfront, nämlich der Annahme, dass es zu einer längerfristigen Stabilisierung des Kapitalismus kommen würde. Er tat sich zunächst auch schwer damit, die von ihm mitgeprägte Offensivtaktik zugunsten ihres Gegenteils, der Einheitsfrontpolitik, aufzugeben. Seine Zurückhaltung und seine Bedenken schwanden jedoch bald. Er wurde rasch und nachhaltig zu einem der energischsten Verfechter der neuen Linie, vor allem unter dem Eindruck der positiven praktischen Erfahrungen, die die Kommunisten mit ihr machten. Eine exakte Datierung dieses Positionswechsels lässt sich nicht vornehmen, vielmehr handelte es sich dabei um einen Prozess. Meyers Frau schreibt dazu, dass er bis zum Spätherbst 1922 „durch seine praktische Arbeit vollkommen über seine Fehler hinausgewachsen“ sei. 22 Bereits im März 1922 hatte er an sie geschrieben, dass er die Erfahrungen der Märzaktion zwar nicht missen möchte, sie in seiner Erinnerung aber liegen „wie ein Alp.“ 23 Neben den Beschlüssen des III. Weltkongresses sowie den Briefen Lenins und des EKKI an den Jenaer Parteitag scheint auch Lenins Werk „Der linke Radikalismus - die Kinderkrankheit im Kommunismus“ eine wichtige Rolle für Meyers Positionswandel gespielt zu 19 Brief Ernst Meyer an Rosa, Berlin, 13.01.27, zit. nach Heinz Meyer: Kraft, Bl. 59. Der Sohn kritisiert diese „unkommunistischen“ Äußerungen beider in seinen Erinnerungen scharf. 20 Angress: Kampfzeit, S.-259. 21 Winkler: Revolution, S.-537. 22 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-28. 23 Zit. nach ebenda, S.-28. <?page no="161"?> 161 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik haben. So schrieb Rosa Meyer-Leviné 1974 an Rudi Dutschke: „Ernst Meyer wiederholte immer wieder, dass er alles den Bolschewiki verdankte. Er verwies besonders auf Lenins ‚Kinderkrankheiten‘ - ‚es steht alles drin, ein Kind könnte jetzt die Partei führen‘.“ 24 Wie die neue Taktik konkret aussehen sollte, musste die KPD in der politischen Praxis der nächsten Monate entwickeln. Im Folgenden soll anhand der wichtigsten Einheitsfrontprojekte der KPD 1921/ 22 dargestellt und untersucht werden, was die Umsetzung der neuen Taktik in der politischen Praxis bedeutete - und welchen Anteil Ernst Meyer als Parteivorsitzender an der Entwicklung und Anwendung dieses Ansatzes einer revolutionären Realpolitik hatte. 6.4.1 Der Erzberger-Mord Eine erste Möglichkeit zur Anwendung der neuen Taktik bot sich der Partei direkt im Anschluss an den Jenaer Parteitag: Am 26. August 1921 wurde der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger von nationalistischen Attentätern ermordet. Dieser Anschlag löste besonders in der Arbeiterschaft eine Welle der Entrüstung aus, die in reichsweiten Massendemonstrationen am 31. August kulminierte. Die KPD unterstützte die Proteste und rief zum „Zusammenschluss des gesamten arbeitenden Volkes“ und zur Bildung einer „proletarischen Einheitsfront“ auf, um die „restlose Entwaffnung der reaktionären Formationen“, die „Entfernung aller offenen und verkappten Monarchisten aus der Reichswehr, Verwaltung und Justiz“ und die „Freilassung aller proletarischen Gefangenen“ zu erkämpfen. 25 In der Folgezeit versandete die Bewegung jedoch rasch wieder. Rückblickend erklärte Meyer dies damit, dass sich SPD und USPD einerseits „ängstlich [...] hüteten, [...] die Erregung [...] in Aktionen der gesamten Arbeiterschaft um- und auszumünzen, die das Ziel der Entwaffnung der Bourgeoisie und der Bewaffnung der Arbeiterschaft wirklich hätten erreichen können“, und andererseits versuchten, die KPD zu isolieren und „auszuschalten“. Vor allem in der Provinz sei es aber trotzdem möglich gewesen, gemeinsame Demonstrationen durchzuführen. Mit erneuten Isolierungsversuchen der anderen Arbeiterparteien sah sich die KPD konfrontiert, als sie versuchte gemeinsame Demonstrationen und Aktionen anlässlich der „Republikfeiern“ am 9. November anzustoßen. Dennoch ist dieser Versuch erwähnenswert, war er doch Ausdruck der Neuorientierung der KPD. Bislang hatte sie eine Beteiligung an den „Republikfeiern“ stets verweigert. Der linke Parteiflügel hingegen kritisierte nun, die KPD würde ihre eigenen Anschauungen nicht genügend scharf vertreten und den anderen Parteien hinterherlaufen. Vor allem stießen sich seine Vertreter an den Worten „Schutz der Republik“ in den Aufrufen anlässlich des Erzbergermordes. Meyer verteidigte den neuen Kurs: Die KPD müsse „gemäß den Beschlüssen des Moskauer Kongresses und auch des Jenaer Kongresses und aufgrund der Notwendigkeiten, die in dieser Situation eben bestehen, den Versuch machen, sich an allen großen Bewegungen der Arbeiterschaft zu beteiligen [...] und sie muss dann nur innerhalb dieser Bewegung ihre Kritik einsetzen, wenn die Bewegung zu versanden droht, 24 Brief Meyer-Leviné an Rudi Dutschke, London, 21.1.74, in: BArch Koblenz, N 1246/ 12, Bl. 69. 25 „Die Rote Fahne“ vom 29.8.21, zit. nach DuM Bd. 7/ 1, S.-565 f. <?page no="162"?> 162 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) wenn sie einen Weg einschlägt, der nicht eine Stärkung der Aktionskraft der Arbeiterschaft bedeutet“. In beiden Bewegungen habe die KPD „sehr rasch und sofort mit ihrer Kritik eingesetzt, als klar wurde, dass das, was von der USP und der SPD vorgeschlagen wurde, nur ein Versuch war, die Bewegung abzuwürgen und versanden zu lassen“. 26 6.4.2 „Abwälzung aller Lasten auf die Besitzenden“: Kommunistische Steuerpolitik Im Herbst des Jahres 1921 stand die Steuerpolitik im Zentrum der kommunistischen Bemühungen um eine Einheitsfront. Die KPD ging davon aus, dass der deutsche Staat die Reparationen, die ihm die Entente-Mächte auferlegt hatten, mittels immer höherer Steuern einseitig auf die Arbeiterschaft abwälzen würde. Daher rechnete die Parteiführung damit, dass die Steuerfrage in den bevorstehenden Klassenauseinandersetzungen eine entscheidende Rolle spielen würde. Dementsprechend hatte die Zentrale Meyer bereits Anfang Juni damit beauftragt, einen Aufruf hierzu zu verfassen. Seit Anfang August arbeitete er zudem in einer Kommission der Zentrale zum Thema Steuern mit. Am 19. August 1921 erschien in der „Roten Fahne“ ein Artikel Meyers mit dem Titel „Steuerfragen“. Darin hieß es, der kommunistische Leitgedanke in der Steuerpolitik sei die „Abwehr der Verschlechterung der Lebenslage der breiten Massen“ und die „Abwälzung aller Lasten auf die Besitzenden“. Daher werde die KPD in den Parlamenten „alle die Lebenshaltung des Proletariats verschlechternden Steuern ablehnen“, vor allem aber und im Gegensatz zu den anderen Parteien versuchen, „mit allen außerparlamentarischen Mitteln einen Druck auf die Regierung und das Bürgertum zur Abwehr der Steuern“ auszuüben. Falls sie trotzdem nicht zu verhindern seien, müsse der Kampf gegen neue Steuern „in der Form von Kämpfen um die Erhöhung der Löhne“ fortgesetzt werden. Notwendig sei „das geschlossene Auftreten der gesamten Arbeiterschaft“. Die Hauptaufgabe der KPD bestünde darin, „alle Kräfte des Proletariats für diesen außerparlamentarischen Kampf zu sammeln“. 27 Für Meyer war der Kampf für die „Teilziele“ in der Steuerpolitik keineswegs vom Kampf um die kommunistischen „Endziele“ getrennt. „Wir führen Steuerkämpfe, um die Machtverhältnisse zu ändern“, erklärte er im November 1921. 28 Um einer höheren Besteuerung der Arbeiter entgegenzuwirken, forderte die KPD im Herbst 1921 eine „Erfassung der Sachwerte“, womit die anteilige Übernahme von Aktien, Anleihen, Grundbesitz, Fabriken oder Bergwerken durch den Staat gemeint war. Dadurch sollten die Reparationen abbezahlt sowie höhere Löhne und eine aktive Sozialpolitik finanziert werden. Hierbei handelte es sich um den Versuch, über konkrete, an den Tagesnöten der Arbeiterschaft anknüpfende Forderungen gemeinsame Aktionen der Arbeiter zu erreichen - zumal auch Gewerkschaften und SPD im Herbst 1921 die Forderung nach einer Erfassung der Sach- und Goldwerte aufgestellt hatten. Die KPD griff dies nun auf und wandte sich an die Vorstände der anderen Arbeiterorganisationen mit dem Vorschlag, für die Durchsetzung gemeinsamer steuerpolitischer Forderungen zu mobilisieren. Gemeint 26 Referat Meyers zur politischen Lage auf der Sitzung des ZA der KPD am 16. und 17.11.1921, in: SAP- MO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 10, Bl. 5 f. 27 Ernst Meyer: Steuerfragen, in: Die Rote Fahne, 19.8.21 (M). 28 „Die Tagung des ZA der KPD“ in: Die Rote Fahne, 20.11.21. <?page no="163"?> 163 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik waren solche, wie sie auch Meyer mehrfach im Landtag erhob: etwa nach einer Vermögenssteuer, einer Konfiskation dynastischer Vermögen und einer Streichung der Polizei- und Militärausgaben. Die KPD-Zentrale betonte in ihrem „Politischen Rundschreiben“ vom 28. Oktober 1921, die Goldwerteerfassung sei „eine revolutionäre Teilforderung im Sinne der Thesen des 3. [Komintern-]Kongresses - ein Hebel, um revolutionäre Teilkämpfe zu entfesseln und diese Kämpfe über das bloße Gebiet des Steuerkampfes zu einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie hinauszutreiben“. 29 Solch eine Erklärung war auch deswegen notwendig, weil die Kampagne innerhalb der Partei keineswegs unumstritten war: Der linke Flügel hielt sie für unzureichend und reformistisch. Ernst Meyer erwiderte in einem Artikel für die „Inprekorr“, dass die aufgestellten Forderungen tatsächlich „keine rein kommunistischen oder an sich revolutionären“ seien. Aber sie durchzusetzen, bedeute die „Aufnahme des verschärften Klassenkampfes gegen alle bürgerlichen Parteien, die sich mit allen Machtmitteln der Verwirklichung dieser Forderungen entgegensetzen werden. Die Durchsetzung dieser Forderungen kann daher nicht auf rein parlamentarischem Gebiet vor sich gehen, sondern muss auch außerparlamentarisch durch die Einsetzung aller Machtmittel des Proletariats erzwungen werden. Schon der Versuch ihrer Durchsetzung bedeutet Ablehnung jeder Koalition mit den Bürgerlichen und in weiterer Konsequenz den Versuch, eine bürgerlich-parlamentarische Regierung durch eine rein-sozialistische zu ersetzen.“ 30 Meyers Herangehen an die Einheitsfrontpolitik wird hier sehr deutlich: Es gelte für die Kommunisten, Forderungen zu erheben, wie sie im Prinzip auch von den anderen Arbeiterorganisationen gestellt werden. Zu deren Durchsetzung wären aber Maßnahmen nötig, die über den Rahmen der aufs Parlament orientierten Politik der Sozialdemokratie hinausweisen. Gleichzeitig erforderte ihre Durchsetzung ein Ende der bisherigen sozialdemokratischen Politik der Koalitionen mit bürgerlichen Parteien. Damit stellte sich unweigerlich die Frage nach Alternativen. Die KPD musste sich nun mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sogenannte „Arbeiterregierungen“, also Koalitionen aus SPD und USPD fordern, gegebenenfalls unterstützen und eventuell gar in sie eintreten sollte. Meyer hatte das noch im Frühjahr 1920 vehement verneint. Vor dem Hintergrund der in den vergangenen Monaten gemachten Erfahrungen änderte er aber nun seine Position vollständig. 6.4.3 Arbeiterregierung als strategische Perspektive Die Forderung nach „rein sozialistischen“ oder „Arbeiterregierungen“ (dieser Begriff setzte sich bald durch, da man so vermeiden konnte, die SPD als sozialistisch zu bezeichnen) spielte ab dem Winter 1921 eine wichtige Rolle in der Propaganda der KPD. Die Kommunisten diskutierten darüber, ob sie SPD/ USPD-Koalitionen in den Ländern oder auch im Reich parlamentarisch unterstützen oder sich sogar daran beteiligen sollten. Eine Partei wie die KPD, die das parlamentarische System durch eine auf Räte gestützte „Diktatur des Proletariats“ ersetzen wollte, stellte das vor immense ideologische Probleme. Meyer 29 Politisches Rundschreiben der Zentrale vom 28.10.21, in: DuM Bd.7/ 1, S.-600. 30 Ernst Meyer: Zur Regierungsbildung in Deutschland, in: Inprekorr, Jg.1, Nr. 15 (27.10.21), S.-122. <?page no="164"?> 164 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) bezeichnete die Diskussion über Arbeiterregierungen daher auf dem IV. Weltkongress der Komintern (November/ Dezember 1922) als die „schwierigste Frage, die wir bei der Taktik der Einheitsfront zu erledigen hatten und vielleicht noch nicht überwunden haben“. 31 Sowohl KPD als auch Komintern taten sich äußerst schwer, hier eine kohärente Position zu entwickeln. Erstmals hatte sich die Frage nach einer Arbeiterregierung in Anschluss an dem Kapp- Putsch gestellt. Meyer gehörte damals zu denen, die eine Unterstützung durch die Kommunisten grundsätzlich ablehnten. Im Spätsommer 1921 änderte er seine Meinung. Nun argumentierte er, eine „loyale Opposition“ sei grundsätzlich legitim, doch solle und dürfe sie nur dazu dienen, um eine solche Regierung „besser entlarven zu können“. 32 Konkret wurde die Diskussion durch die thüringische Landtagswahl vom 11. September 1921, die eine rechnerische Mehrheit für die drei Arbeiterparteien ergab. Die KPD- Zentrale lehnte zwar einen Eintritt in eine Regierung aus SPD und USPD „selbstverständlich“ und „ganz entschieden“ ab, erklärte sich aber bereit, sie mit zu wählen und so lange zu tolerieren, wie sie „energisch die Interessen der werktätigen Bevölkerung vertritt“. 33 Tatsächlich wurde der Sozialdemokrat August Frölich dann am 7. Oktober mit den Stimmen der thüringischen Kommunisten zum Chef einer SPD/ USPD-Koalition gewählt. Nur zwei Wochen später stellte sich die Frage nach einer Arbeiterregierung auch auf Reichsebene, nachdem das Kabinett Wirth zugetreten war. Zusätzliche Brisanz erhielt die Angelegenheit durch die Beschlüsse des Görlitzer Parteitages der SPD vom September 1921, der sich prinzipiell für die Möglichkeit einer Großen Koalition mit der DVP des Großindustriellen Hugo Stinnes ausgesprochen hatte. Damit drohte eine generelle Rechtsverschiebung der Weimarer Politik. Die Losung einer Arbeiterregierung erschien demgegenüber geeignet, die Opposition innerhalb der SPD gegen diese Beschlüsse zu stärken. Die KPD erklärte sich genau wie in Thüringen bereit, eine rein sozialistische Regierung zu tolerieren, aber keinesfalls in sie einzutreten. Daraufhin brachen SPD und USPD die Verhandlungen ab. Die Debatte in der KPD über ihr Verhältnis zu sozialistischen Koalitionsregierungen ging hingegen weiter. In seiner November-Sitzung verabschiedete der Zentralausschuss eine Resolution, in der es einerseits hieß, die Partei würde eine Arbeiterregierung „bei jedem Schritt wirklich proletarischer Politik mit allen Mitteln unterstützen“. Andererseits wurden sozialistische Koalitionen weiterhin vor allem als ein Mittel bezeichnet, die Illusionen der Arbeiter in solche Regierungen zu entlarven. 34 Ähnlich argumentierte auch Meyer auf dieser Sitzung: Aufgabe der Kommunisten sei es, derartige Illusionen „dadurch zu zerstören, dass man diese rein sozialistischen Regierungen arbeiten lässt, aber diese Arbeit ständig mit einer Kritik begleitet, die dazu geeignet ist, die Arbeiterschaft darüber aufzuklären, dass unter bürgerlich-demokratischen Formen im bürgerlichen Parlament eine wirkliche Vertretung der Arbeiterinteressen gar nicht möglich ist“. Zugleich warnte er davor, „die Forderung der rein sozialistischen Regierung zu der Kampfparole der nächsten Zeit zu machen“. Denn so würde man selbst Illusionen schüren, solche Regierungen 31 Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd-Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923 [künftig zit. als Protokoll IV. Weltkongress], S.-75. 32 In: Die Rote Fahne, 6.8.21 (M). 33 Zit. nach Reisberg: Quellen, S.-239. 34 Resolution zur politischen Lage und zur Politik der KPD, in: DuM Bd.7/ 1, S.-618-619, hier S.-619. <?page no="165"?> 165 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik könnten die Forderungen der Arbeiter erfüllen. Einen Eintritt in eine Arbeiterregierung hielt Meyer nur in einer Situation, in der „bewaffnete Kämpfe stattfinden oder unmittelbar bevorstehen“ für denkbar; momentan sei es „vollkommen falsch und für die Partei verderblich [...], wenn irgendwo bei diesen Diskussionen jetzt die Antwort gegeben würde, wir seien bereit, in eine sozialistische Regierung einzutreten“. 35 Binnen weniger Wochen änderte sich allerdings die Haltung der Zentrale. „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiterregierung finden, die den [bürgerlichen, FW] Koalitionsregierungen entgegenzustellen ist“, hieß es nun in ihrem Rundschreiben vom 8. Dezember. „Die KPD muss den Arbeitern sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiterregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, auch in eine solche Regierung einzutreten, wenn sie [...] im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiterschaft vertreten [...] wird“. Dieses gelte auch für die Reichsregierung. 36 Entsprechend des Kurswechsels erklärte Meyer auch im Preußischen Landtag: „Wenn sich die rechtssozialistische Partei zusammen mit den Unabhängigen gegen jede bürgerliche und Koalitionsregierung begeben wird, wenn sie außerparlamentarisch durch einen Appell an die breiten Massen […] diese Voraussetzungen schaffen wird, wird meine Partei eine Antwort geben können, die nicht rein negativ ist.“ 37 Anfang 1922 verabschiedete der Zentralausschuss fast einstimmig eine Resolution, die diese Positionen bestätigte und erweiterte: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiterregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnesregierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet [...] ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiterregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten“. Abhängig gemacht wurde dieser Eintritt einerseits vom „Kampfwillen der Arbeitermassen“, andererseits von den realen Möglichkeiten, die Arbeitermacht zu festigen und auszudehnen. 38 Mit diesen Beschlüssen wurde die monatelange Diskussion in der KPD über die Frage der Arbeiterregierung zum (vorläufigen) Abschluss gebracht. Nun konnte die Partei die Losung „Arbeiterregierung“ propagandistisch verwenden und auch Meyer selbst erhob sie in den folgenden Monaten immer wieder. Sein Positionswechsel in dieser Frage veranschaulicht, dass er nicht starr an einmal von ihm vertretenen Auffassungen festhielt, sondern war bereit, diese unter sich wandelnden Bedingungen zu überprüfen und zu ändern. Bereits im Frühjahr 1922 gab es erneut eine leichte Akzentverschiebung im Umgang mit der Frage der Arbeiterregierung. Nun betonte die KPD wieder stärker die damit verbundenen Gefahren und die an sie geknüpften Bedingungen. Erstere wurden als so hoch eingeschätzt, dass der ZA im Mai beschloss, dass nur er als höchstes Parteigremium zwischen den Parteitagen darüber beschließen könne. Auch in der Folgezeit wiesen Vertreter der 35 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 16. und 17.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 11-12, S.-20 ff. 36 Politisches Rundschreiben der Zentrale der KPD vom 8.12.21, in: DuM Bd.7/ 1, S.- 627-633, Zitat S.-630. 37 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 84. Sitzung, 15.12.21, Sp. 6070 ff. 38 Resolution zur politischen Lage und zu den nächsten Aufgaben der Partei, in: DuM Bd.7/ 2, S.- 11-19, Zitat S.15 f. <?page no="166"?> 166 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Partei verstärkt auf die Bedingungen für einen Regierungseintritt hin. Auch in Meyers Ausführungen zur Frage der Arbeiterregierung beim IV. Weltkongress der Komintern waren sie ein wichtiges Element. Er argumentierte, eine Arbeiterregierung, wie sie die KPD anstrebe, unterscheide sich wesentlich von den bereits in Sachsen und Thüringen bestehenden linken Koalitionsregierungen, welch die KPD unterstützte. Eine Arbeiterregierung müsste aber „wirklich sozialistisch-kommunistische Politik betreiben“ und ihre Basis dürfte nicht in erster Linie eine parlamentarische sein. Vielmehr müsse sie von den Massen getragen werden. Scharf widersprach Meyer Sinowjew, der „Arbeiterregierung“ als „für die einfachen Arbeiter [...] bequemer(es)“ Pseudonym für „Sowjetregierung“ verstanden wissen wollte. Diese Auffassung sei „nicht richtig“: „Die Arbeiterregierung ist nicht die Diktatur des Proletariats“, sondern es handele sich um „eine Losung, die wir aufstellen, um die Arbeiter zu gewinnen und davon zu überzeugen, dass sich die proletarische Klasse im gemeinsamen Kampfe gegen die bürgerliche Klasse organisieren muss“. Wenn die Mehrheit der Arbeiterschaft den Kampf für diese Losung aufnähme, würde sich sehr bald herausstellen, „dass der Versuch der Verwirklichung dieser Arbeiterregierung [...] entweder unmittelbar zur Diktatur des Proletariats führen wird, oder zu längeren Phasen von ganz verschärften Klassenkämpfen, also zum ausgesprochenen Bürgerkriege in allen seinen Formen. Insofern betrachten wir die Arbeiterregierung als eine notwendige und nützliche Parole zur Gewinnung der Massen, deren Verwirklichung führen wird zu einer Phase verschärfter Klassenkämpfe, aus denen dann letzten Endes die proletarische Diktatur hervorgehen wird.“ 39 6.4.4 Einheitsfrontpolitik im Eisenbahnerstreik Eine bedeutende Gelegenheit, die Einheitsfrontpolitik in der Praxis zu erproben, bot ein großer Eisenbahner-Streik, der vom 1. bis 7. Februar 1922 stattfand. Wie alle staatlich angestellten Arbeiter und Beamten waren die Eisenbahner hart von der der desolaten finanziellen Situation des Staates betroffen, der seinen Beschäftigten keine der Inflation entsprechenden Lohn- und Gehaltserhöhungen zugestehen wollte. Die Regierung Wirth weigerte sich, den Lohnforderungen der Eisenbahner nachzugeben und versuchte stattdessen, Arbeitszeitverlängerungen durchzusetzen und 20.000 Beschäftigte zu entlassen. Die nicht im ADGB vertretene Reichsgewerkschaft deutscher Eisenbahnbeamter und Angestellter rief daher auf, am 1. Februar 1922 in den Streik zu treten. In der traditionell konservativen Gewerkschaft waren 270.000 Eisenbahner organisiert, vor allem untere und mittlere Beamte. Der freigewerkschaftliche DEV (Deutsche Eisenbahner-Verband) unterstützte den Streik hingegen nicht, da deren sozialdemokratische Führung die Reichsregierung nicht schwächen wollte. Trotzdem begann nun der erste bedeutende Beamtenstreik in Deutschland. Schnell wuchs er sich zum bisher größten Streik im Verkehrswesen mit 800.000 Beteiligten aus. Reichspräsident Ebert verbot umgehend den Ausstand und auch jede Agitation für ihn. Derweil drohte die Regierung mit disziplinarischen Maßnahmen und ließ Mitglieder der Streikleitung verhaften. Die KPD hingegen stellte sich uneingeschränkt hinter die Forde- 39 Protokoll IV. Weltkongress, S.-75 f. <?page no="167"?> 167 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik rungen der Streikenden. Sie forderte die Führungen von DEV, ADGB, SPD und USPD auf, gemeinsame Maßnahmen zur Unterstützung des Arbeitskampfs und vor allem zur Verteidigung des Streikrechts der Beamten zu beraten. Doch diese lehnten ab, SPD-Führung und ADGB-Spitze positionierten sich deutlich gegen den Streik. Davon unbeeindruckt forderte die KPD in einem Aufruf „An die gesamte werktätige Bevölkerung“ vom 5. Februar 1922: „Solidarität mit den Kämpfenden! [...] Die Niederlage der Beamten und Arbeiter in diesem Streik ist [...] die Niederlage des Sozialismus, ist die Zerrüttung der Gewerkschaften, ist der Sieg von Stinnes. Die mächtige Einheitsfront aller Arbeiter, Beamten und Angestellten muss diesen Anschlag zunichte machen! “ 40 Mit ihren Einheitsfrontbemühungen konnte die KPD zumindest auf lokaler Ebene gewisse Erfolge erzielen. In einigen Orten erreichten Kommunisten, dass freigewerkschaftliche Arbeiter Solidaritätserklärungen abgaben und sich sogar an den Streiks beteiligten. In Rheinland-Westfalen gab es einen gemeinsamen Aufruf von KPD und USPD zur Unterstützung der Streikenden. Die Kommunisten waren jedoch die einzigen, die den Eisenbahnerstreik bis zu seinem ergebnislosen Abbruch vorbehaltlos unterstützten. Die KPD verzichtete hierbei auf eigene Forderungen, wie Meyer auch im Landtag unterstrich: „Sie werden nicht eine Äußerung zitieren können, aus der hervorgeht, dass wir in dieser Bewegung etwas anderes gewollt haben als die tatkräftige Unterstützung der Arbeiter und Beamten, die im Streik standen.“ 41 Gleichwohl propagierte die Partei aber eigene, weiterführende Ziele. Beispielsweise verlangte sie die Rentabilität der Eisenbahnen durch eine „Übernahme der Kohlen- und Eisenerzwerke durch den Staat unter Kontrolle der Arbeiter, Angestellten und Beamten“ zu erreichen. Außerdem forderte sie, die Verteidigung des Streikrechtes müsse „durch den schärfsten Kampf gegen die Regierung“ erfolgen, „durch den Sturz der Regierung und die Aufrichtung einer Arbeiterregierung“. 42 Zudem versuchte die KPD, die Eisenbahner über den notwendigerweise politischen Charakter ihrer Auseinandersetzung aufzuklären, denn „ein Kampf zwischen Regierung und Beamtenschaft [...] ist niemals ein rein wirtschaftlicher Kampf, sondern zugleich ein politischer Machtkampf“. 43 Letztendlich sei ein Generalstreik notwendig, um die Eisenbahner zu unterstützen. Ihre Unterstützung des Streikes machte die KPD allerdings nie davon abhängig, dass die Streikenden ihre Forderungen übernahmen. Auch versuchte sie nicht, den kämpfenden Eisenbahnern ihre Forderungen aufzudrängen, sondern legte sich große Zurückhaltung auf. Trotz der Niederlage der Streikenden stellte der Ausstand einen Erfolg für die KPD dar. „Der Eisenbahnerstreik hat vielen Beamten die Augen über die Politik der Kommunisten geöffnet und der KPD zahlreiche Anhänger unter den Beamten und Angestellten neu gewonnen“, schrieb Meyer in einem Artikel für die „Inprekorr“. 44 In der Zentrale-Sitzung am 15. Februar resümierte er: „Die Isolierung, in der wir uns zum Teil von der Arbeiterschaft befanden, ist beseitigt worden. Unser Einfluss bei den Beamten und deren Vertrauen zu 40 Aufruf der Zentrale der KPD „An die gesamte werktätige Bevölkerung“ in: DuM Bd. 7/ 2, S.-31-33, Zitat S.-33 41 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 101. Sitzung, 18.2.22, Sp. 7107. 42 Zit. nach Reisberg: Quellen, S.-378. 43 Politisches Rundschreiben der Zentrale der KPD vom 11.2.22 in: DuM Bd. 7/ 2, S.-33-36, hier S.-34. 44 Ernst Meyer: Politik und Eisenbahnerstreik, in: Inprekorr Jg.2, Nr. 16/ 17 (11.2.22), S.-125. <?page no="168"?> 168 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) uns ist gerade durch die Streikbewegung außerordentlich gesteigert worden.“ 45 Noch auf dem IV. Weltkongress der Komintern im Herbst 1922 pries Sinowjew die Politik der KPD während des Eisenbahnerstreiks als ein „klassisches Beispiel für die richtige Anwendung der Taktik der Einheitsfront“. 46 Die politische Konsequenz Meyers aus dem Eisenbahnerstreik war, dass die KPD die Forderung nach einer Arbeiterregierung noch viel lauter erheben müsse. Äußerst optimistisch schrieb er, der Regierung sei letztlich nichts anderes übrig geblieben, als entweder den Forderungen nachzugeben „und damit ihre bisherige Politik aufzugeben, d.h. ihren Rücktritt zu vollziehen, oder den Streik mit allen, auch militärischen Machtmitteln zu unterdrücken“. In dieser Situation sei der Streik daran gescheitert, dass „die USPD und die SPD nicht den Mut fanden, mit der Regierung Wirth zu brechen und selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen. [...] Da aber die streikenden Arbeiter sich fürchteten, ohne die USPD und SPD einen Kampf fortzuführen, dessen Ziel bereits die Eroberung der Regierungsgewalt bildete, [...] brachen sie [...] ihren Kampf ab. [...] Schon beim nächsten Streik der Eisenbahner wird daher die Forderung der Arbeiterregierung nicht am Ende, sondern am Anfang stehen: denn nur eine Arbeiterregierung ist wirklich in der Lage, die berechtigten wirtschaftlichen Forderungen der Beamten und Angestellten zu erfüllen.“ 47 6.4.5 Rathenau-Mord: Einheitsfront gegen Rechts Am 24. Juni 1922 ermordeten rechtradikale Fanatiker Außenminister Walther Rathenau. Nun bot sich der KPD eine Gelegenheit zur Anwendung der Einheitsfronttaktik in einer bedeutenden politischen Frage. Im republikanischen Lager und in der Arbeiterschaft löste der Mord eine Welle der Wut und Empörung aus. „Der Feind [...] steht rechts! “, rief auch Reichskanzler Wirth im Reichstag aus. 48 In den Tagen nach der Tat kam es zu spontanen Protestdemonstrationen und -streiks. Wolfgang Abendroth schrieb, diese Demonstrationen waren „wahrscheinlich die größten, die es bis dahin in der deutschen Geschichte gegeben hatte“, da neben den Arbeiterorganisationen auch bürgerliche Demokraten dazu aufgerufen hatten. 49 Für den 27. Juni riefen die Gewerkschaften zu einem halbtägigen Generalstreik im ganzen Reich auf. Begleitet wurde dieser von riesigen Demonstrationen, an denen sich in Berlin 800.000 Menschen, in Leipzig 200.000 und in Kiel 80.000 Menschen beteiligt haben sollen. Der Rathenau-Mord eröffnete der KPD, wie Meyer schrieb, „zum ersten Mal [...] die Möglichkeit, diese [Einheitsfront-]Taktik im großem Maßstab über das ganze Reich zu erproben“. 50 Wenige Stunden nach der Ermordung des Außenministers, ergriff die KPD die Initiative und forderte SPD und USPD zu einer gemeinsamen Konferenz auf, um 45 Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 15.2.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 84. 46 Protokoll IV. Weltkongress, S.-35. 47 Ernst Meyer: Politik und Eisenbahnerstreik, S.-125. 48 Zit. nach Winkler: Revolution, S.-427. 49 Abendroth: Einführung, S.-209. 50 Ernst Meyer: Zur Praxis der Einheitsfronttaktik, in: Die Internationale, Jg. 5, H. 3, (01.8.1922), S.-54-56, hier S.-54. <?page no="169"?> 169 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik dort Abwehrmaßnahmen gegen den rechten Terror zu beraten. Als Verhandlungsgrundlage benannten die Kommunisten unter anderem die Ergreifung drastischer Maßnahmen gegen die extreme Rechte, die Säuberung des Beamtenapparates von Monarchisten und Reaktionären, eine Amnestie für inhaftierte Arbeiter, die Bewaffnung der Arbeiterschaft, die Einrichtung proletarischer Kontrollausschüsse und die Ausrufung eines Generalstreiks. Damit griffen die Kommunisten Forderungen auf, die auch die SPD nach dem Kapp- Putsch aufgestellt hatte. Die Sozialdemokratie verhielt sich den kommunistischen Einheitsfrontbemühungen gegenüber zunächst ablehnend, sah sich dann aber - unter dem Druck ihrer Basis stehend, endlich entschiedene Maßnahmen gegen die extreme Rechte zu ergreifen - veranlasst, doch Verhandlungen aufzunehmen. Allerdings machte sie von Beginn an klar, dass sie nicht bereit wäre, auf die meisten der kommunistischen Forderungen einzugehen. Außerdem sollten die Verhandlungen nichtöffentlich stattfinden. Am 26. Juni kam es zu einer ersten Übereinkunft der verschiedenen Arbeiterorganisationen. Bei diesem wie den folgenden Treffen auf Führungsebene wurde die KPD unter anderem von Meyer vertreten. Die wichtigste Übereinkunft, die ADGB, AfA-Bund, SPD, USPD und KPD auf nationaler Ebene trafen, war das Berliner Abkommen vom 27. Juni. Gemeinsam forderten die Organisationen ein Gesetz zum Schutz der Republik, das unter anderem ein „sofortiges Verbot und strenge Bestrafung jeder monarchistischen und antirepublikanischen Agitation“ umfassen sollte, ferner das „Verbot und sofortige Auflösung aller monarchistischen oder antirepublikanischen Verbindungen“ sowie ein „Verbot der monarchistischen Farben und Fahnen“. Außerdem solle es der Schaffung einer Reichskriminalpolizei dienen und eine Amnestie inhaftierter Arbeiter enthalten. 51 Für die KPD unterzeichneten Meyer und Wilhelm Koenen das Abkommen, auch wenn viele ihrer Forderungen wie nach einem weiteren Generalstreik, nach Bewaffnung der Arbeiter und Einrichtung proletarischer Kontrollausschüsse nicht übernommen wurden und ein Republikschutzgesetz, angewendet von einer reaktionären Justiz, schnell zu einer Waffe gegen sie selbst werden konnte. Die „Rote Fahne“ betonte daher am folgenden Tag, dass die Durchführung der Beschlüsse nur durch die „außerparlamentarische Aktion der Arbeiter“ garantiert werden könnte. 52 Nicht nur auf nationaler, sondern auch auf regionaler und lokaler Ebene fanden nach dem Rathenau-Mord zahlreiche Treffen der verschiedenen Arbeiterorganisationen statt. Am 4. Juli kam es erneut zu Arbeitsniederlegungen und Massendemonstrationen im gesamten Reich, zu denen die Unterzeichner des Berliner Abkommens aufgerufen hatten. Geradezu enthusiastisch klingen die Briefe Meyers an seine Frau aus diesen Tagen: „Abends eine Auflage von 80.000 gehabt, morgen früh von 120.000. Hurrah! ! Die Situation ist glänzend für uns; die beiden Abkommen und Dienstag-Demonstrationen gemeinsam, aber freie Kritik gegenüber SPD und USP. Die Gewerkschaften haben großen Respekt vor uns“. 53 Und in einem vermutlich am 8. Juli 1922 verfassten Brief heißt es: „Zwickau in den Händen der Arbeiter. Überall spontane Ausbrüche. Situation unserer Partei gut. Isolierungsversuche der SPD abgeschlagen. Morgen trotz schärfster öffentlicher Kritik durch uns Verhandlungen mit allen Organisationen! “ 54 51 Das „Berliner Abkommen“ in: DuM Bd. 7/ 2, S.-103-105. 52 Zit. nach Reisberg: Quellen, S.-509. 53 Brief Meyer an Meyer-Leviné, 30.6.1922, in: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-36 f. 54 Zit. nach Brief Meyer an Meyer-Leviné, 30.6.1922, in: ebenda, S.-36. <?page no="170"?> 170 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Allerdings hatten bereits im Vorfeld des 4. Juli Spannungen unter den Trägern des Berliner Abkommens zugenommen. Denn während die KPD auf die Intensivierung der außerparlamentarischen Maßnahmen, einen weiteren Generalstreik, Neuwahlen und die Aufstellung einer Arbeiterregierung orientierte, versuchten die Führungen von SPD, USPD und Gewerkschaften, die Bewegung in parlamentarische Bahnen zu lenken und setzten vor allem auf die Verabschiedung eines „Gesetzes zum Schutz der Republik“. Immer wieder appellierte die SPD auch an die rechten Parteien DVP und DNVP, dieses Gesetz mitzutragen, anstatt an ihre Basis, das Berliner Abkommen durchzusetzen. Meyer warf der Sozialdemokratie daher vor, dass sie „nicht an die Maßnahmen denkt, die die Arbeiterschaft selbst treffen kann, um einen Druck auf die Parlamente auszuüben, sondern dass sie von vornherein nur die parlamentarischen Machtverhältnisse in Rechnung zieht. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen der sozialdemokratischen und der kommunistischen Taktik und Politik.“ 55 Die Führungen von SPD und Gewerkschaften suchten folgerichtig nach Möglichkeiten, die Einheitsfront mit der KPD beenden zu können. Immer wieder stellten sie den Kommunisten kaum annehmbare Forderungen, in der Hoffnung, sie so zum Abbruch der Aktionseinheit zu zwingen. Die KPD zeigte eine recht weitgehende Bereitschaft, auf die anderen Organisationen zuzugehen, um so die Möglichkeit einer gemeinsamen Mobilisierung aufrechtzuerhalten. Aber am 8. Juli kam es zum Bruch zwischen den Unterzeichnern des Berliner Abkommens. Der KPD wurde mitgeteilt, sie habe durch ihre militanten Aktivitäten das Recht verwirkt, weiterhin Teil dieser gerade erst eine Woche alten Aktionsgemeinschaft zu sein. Am 18. Juli verabschiedete der Reichstag das Republikschutzgesetz gegen die Stimmen der KPD (und der extrem rechten Parteien). In der KPD waren sowohl die Ergebnisse der Rathenau-Kampagne als auch das Auftreten der Partei bei den Verhandlungen mit den anderen Spitzenorganisationen sehr umstritten. Diese Frage führte zu heftigen Zusammenstößen zwischen dem linken Flügel um Ruth Fischer, August Kleine 56 (beide nahmen regelmäßig an den Zentralesitzungen teil) und Arkadij Maslow auf der einen und der Zentrale-Mehrheit um Ernst Meyer auf der anderen Seite. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von der „Rathenaukrise“ der KPD gesprochen. Sie trug schließlich wesentlich zu Ernst Meyers Ablösung als Parteivorsitzenden bei. Während der Kampagne hatte der linke Flügel immer wieder gefordert, die KPD müsse in den Verhandlungen mit den anderen Arbeiterorganisationen darauf drängen, wesentlich schärfere Forderungen aufzustellen. Würden sich die anderen Organisationen nicht darauf einlassen, müsste die Zentrale die Verhandlungen möglichst rasch abbrechen. Diese massive Kritik schränkte den Handlungsspielraum der Zentrale während der Kampagne erheblich ein. Winkler urteilt daher: „Ohne die innerparteilichen Widerstände hätte die Parteiführung um Ernst Meyer die Aktionseinheit mit Sozialdemokraten und Gewerkschaften vermutlich länger durchgehalten“. 57 Auch nach Abschluss der Kampagne kritisierten die Linken den Kurs der Zentrale. Sie 55 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, hier 162. Sitzung, 7.7.22, Sp. 11782. 56 August Kleine oder auch Klein war das Pseudonym für Samuel Guralski, dem Vertreter der Komintern bei der Zentrale der KPD. Vgl. Weber/ Herbst: Kommunisten, S.-453-455. 57 Winkler: Revolution, S.-543. Siehe auch Becker: Brandler, S.-170, der Winkler hierin folgt. <?page no="171"?> 171 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik warfen ihr grundsätzliche Fehler in der Haltung zur Einheitsfront, übertriebene Nachgiebigkeit und Rechtsabweichungen vor. In einem Artikel für „Die Internationale“ griff Kleine explizit Meyer als prominentesten Vertreter des Zentrale-Kurses an. Er warf ihm „Pessimismus“, „Verkennung der politischen Situation“, übertriebene Vorsicht, „Opportunismus“ und „Zentrismus“ vor. Dies seien Haltungen, die „das größte Hemmnis für das Wachstum und die Festigung unserer Partei bilden“. Die Zentrale habe nicht „die Taktik der Einheitsfront, sondern die Taktik der Unsicherheit und der Schwankungen unserer Partei“ durchgeführt. 58 Die Unterzeichnung des Berliner Abkommens durch die KPD sei richtig gewesen, erwiderte Meyer, auch wenn es der Partei in vielem nicht weit genug ging und auch wenn es vielleicht sogar schädliche Forderungen enthielt, denn: „Nicht ein paar Forderungen mehr oder weniger entscheiden heute über die Stärke der Bewegung. Viel wichtiger ist es, dass selbst die bescheidensten Forderungen durch die eigene Aktion der Arbeiterschaft [...] durchgesetzt werden.“ 59 Da das Berliner Abkommen die klare Ankündigung enthielt, die Arbeiterschaft bis zu seiner Durchsetzung zu immer weiteren Aktionen aufzurufen, habe die KPD es unterzeichnen müssen - nach dem Motto: „Jawohl, wir sind bereit, für eure Mindestforderungen zu kämpfen, aber dieser Kampf muss wirklich geführt werden! “ 60 Ebenso verteidigte Meyer die prinzipielle Bereitschaft zu Verhandlungen mit den anderen Spitzenkörperschaften, bei denen es darum gehe, „den Boden dafür zu gewinnen, gemeinsam mit der gesamten Arbeiterschaft den Kampf zu führen“. Erst durch solche Verhandlungen habe die Partei auch auf Bezirks- und Ortsebene die Möglichkeit erhalten, an die Mitglieder der anderen Arbeiterparteien und der Gewerkschaften heranzukommen, vor ihnen zu reden und mit ihnen gemeinsam in Aktionen zu treten. Dadurch würde die Loslösung dieser Arbeiter von der reformistischen Bürokratie erleichtert, was der einzige Zweck solcher Verhandlungen sei. 61 Allerdings verdeutlichte Meyer auch, dass es für die KPD eine Schmerzgrenze gab: Hätten die anderen Organisationen weiter, wie es zunächst der Fall war, darauf bestanden, in dem Berliner Abkommen eine Unterstützung der Regierung Wirth festzuschreiben und wären sie nicht bereit gewesen, schriftlich zu fixieren, dass das geforderte Republikschutzgesetz sich ausschließlich gegen die Monarchisten richten dürfe, hätte die KPD die Verhandlungen abbrechen müssen. Meyer rechtfertigte auch die Haltung der Zentrale, zur Verteidigung der Republik aufzurufen. Er räumte ein, dass die Arbeiterklasse kein Interesse an dieser Republik und dieser Regierung habe und nach dem Rathenau-Mord nicht für die bürgerliche Demokratie auf die Straße gegangen sei, sondern gegen die monarchistische Konterrevolution. Auch sei der KPD von Beginn an klar gewesen, dass „der Kampf für die Republik nur geführt werden könne im Kampf gegen alle bürgerlichen Republikaner, und dass jede wirkliche Sicherung der Republik durch selbstständige Maßnahmen der Arbeiterschaft umschlagen müsse in eine Sicherung der von den Arbeitern zu schaffenden Kontroll- und Kampforgane gegen 58 A[ugust] Klein: Nochmals zur Taktik der Einheitsfront, in: Die Internationale Jg. 5, H. 4 (18.8.22), S.- 85 ff. Auch Ruth Fischer griff Meyer persönlich an, vgl. Fischer, Ruth: Einige Ergänzungen zu dem Bericht vom Zentralausschuss, in: Taktik und Organisation, Jg. 1, Nr. 27 (Beilage der „Roten Fahne“ vom 29.7.1922). 59 Ernst Meyer: Der Kessel ist zum Platzen voll, in: Inprekorr Jg. 2, Nr. 135 (18.7.22), S.-858. 60 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 14, Bl. 16. 61 Vgl. Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 14, Bl. 22, 28 u. 168; Zitat Bl. 19. <?page no="172"?> 172 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) die bürgerliche Republik“. Diesen Punkt habe die Zentrale nicht immer deutlich genug hervorgehoben. 62 Doch es gäbe keinen Zweifel daran, dass deutliche Unterschiede zwischen demokratischen und diktatorischen Formen bürgerlicher Herrschaft existierten. Daher hätten Kommunisten die Aufgabe, die Demokratie unbedingt gegen rechts zu verteidigen. So sagte er in der Juli-Sitzung des Zentralausschusses: „Wenn Genosse Maslow heute theoretisch ausführte, es gäbe nie eine Situation, wo wir für die Forderung der sogenannten Demokratie auftreten werden, so hoffe ich, dass es nicht ein Horty-Deutschland geben wird. Aber wenn wir ein Horty-Deutschland haben, dann würden wir für viel näherliegende und viel weniger kommunistische Forderungen alle Kraft und alle Aktionsfähigkeit [...] einsetzen“. 63 Mehrfach verwies Meyer darauf, dass die Rathenau-Kampagne die KPD vor eine kompliziertere Situation gestellt habe als bisherige Einheitsfrontprojekte, war es doch das erste Mal, dass sie für längere Zeit gemeinsam mit den anderen Arbeiterorganisationen operierte und mit deren Spitzen verhandelte. Es habe schlicht die Erfahrung gefehlt, wie weit man in diesen Verhandlungen gehen konnte, ohne einen Abbruch zu riskieren. Zwei Gefahren habe die Partei begegnen müssen: Einerseits musste sie vermeiden, den anderen Organisationen durch Unsicherheit, übertriebene Forderungen oder zu scharfe Kritik das Argument in die Hände zu spielen, die KPD würde nicht ernsthaft eine Einheitsfront anstreben. Dies hätte dann einen Vorwand für einen vorzeitigen Abbruch der Verhandlungen geliefert, der zur erneuten Isolierung der KPD geführt hätte. Andererseits musste die Partei sich „vor der noch größeren Gefahr hüten, aus dem Wunsch nach Fühlungnahme mit den übrigen Organisationen heraus auf die Darstellung des eigenen kommunistischen Standpunktes auch nur teilweise zu verzichten“. 64 Meyer gab zu, dass die Partei dabei einige Fehler gemacht habe und mit ihrer Kritik an den anderen Organisationen vielleicht zu zurückhaltend gewesen sei. Doch Vorwürfe von links, er habe sich opportunistisch und nachgiebig verhalten, wies er weit von sich. Bei den Verhandlungen habe er zweimal erfolgreich mit einem Abbruch gedroht: Beispielsweise habe er so bewirkt, dass schriftlich festgehalten wurde, der gemeinsame Kampf der Arbeiterorganisationen habe sich ausschließlich gegen die rechte Gefahr zu richten. Von seinen Zentrale-Genossen sei er damals wegen seiner Unnachgiebigkeit und Härte und keinesfalls wegen Opportunismus kritisiert worden. 65 Insgesamt bewertete Meyer den Ausgang der Rathenau-Kampagne für die KPD äußerst positiv. Es habe hinterher ein gesteigertes Vertrauen der Arbeiterschaft zu den Kommunisten gegeben und der „offene Bruch des Berliner Abkommens durch USP, SPD und ADGB hat der KPD eine stärkere Position verschafft als je zuvor“. 66 Den Vertretern des linken Flügels warf er derweil vor, bei ihnen habe sich die Taktik der Einheitsfront noch nicht gefestigt. 67 62 Ernst Meyer: Die deutsche Partei während der Rathenaukampagne, in: Die Kommunistische Internationale Jg. 4, Nr. 22 (13.9.22), S.-28. 63 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 14, Bl. 164 f. Miklós Horthy führte die damalige Rechtsdiktatur in Ungarn an. 64 Ernst Meyer: Zur Praxis der Einheitsfronttaktik, in: Die Internationale Jg. 5, H. 3 (1.8.22), S.5 4. Siehe auch Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 14, Bl. 19 u. 28. 65 Protokoll der 2. geschlossenen Sitzung des Leipziger Parteitages, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 1-6. 66 Ernst Meyer: Zur Praxis der Einheitsfronttaktik, in: Die Internationale Jg. 5, H 3 (1.8.22), S.-56. 67 Vgl. Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 14, Bl. 31. <?page no="173"?> 173 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik 6.4.6 Meyer und die Einheitsfront: Eine Zwischenbilanz Meyers Verständnis der Einheitsfronttaktik war 1921/ 22 nicht statisch, sondern wandelte sich zwischen dem Jenaer und Leipziger Parteitag entsprechend den praktischen Erfahrungen, welche die KPD bei der Anwendung dieser Taktik machte. Die Einheitsfront galt ihm und anderen Kommunisten zunächst als eine temporäre Taktik, die vor allem zur schnellen Entlarvung reformistischer Führungen dienen sollte. Doch schon bald wurde aus ihr eine innenpolitische Gesamtstrategie der KPD. Meyer löste sich schrittweise von einem eher „taktischen“ Verhältnis und betrachtete die Einheitsfrontpolitik zunehmend als die adäquate Methode zur Ablösung der sozialdemokratischen Anhänger von ihren Organisationen in nichtrevolutionären Zeiten. Auf dem IV. Weltkongress der Komintern im November 1922 betonte er daher, die Einheitsfrontpolitik dürfe „nicht als Episode, sondern als eine Periode der kommunistischen Taktik betrachtet werden“. 68 Ein zu dieser Zeit konstant bleibendes und zugleich wesentliches Element von Meyers Einheitsfrontpolitik ist sein Umgang mit sogenannten Teil- oder Übergangsforderungen. Dieser resultierte aus den Erfahrungen während der Märzaktion: Die Ereignisse im Frühjahr 1921 hatten ihn gelehrt, dass Kämpfe für Maximalforderungen schnell in die Isolation führen konnten. Daher galt ihm nicht mehr die Radikalität einer Forderung als entscheidendes Kriterium, sondern vielmehr das radikalisierende Potenzial, das eine eigentlich reformistische Teil- oder Übergangsforderung barg, wenn zu deren Durchsetzung Massenkämpfe gegen Bürgertum und Regierung nötig waren. Die solchen Kämpfen innewohnende radikalisierende Dynamik müsste notwendigerweise über den Rahmen reformistisch-parlamentarischer Politik hinausweisen. Hieraus folgte, dass Meyer stets die Bedeutung von Reformforderungen als Ausgangspunkt gemeinsamer Kämpfe der Arbeiterschaft hervorhob. Immer wieder kam diese Haltung zum Ausdruck, beispielsweise wenn er sich bezüglich der Sachwerteerfassung bereiterklärte, auch Forderungen zu unterstützen, die in den Augen der KPD ungenügend waren, wenn diese „Anlass zur Einleitung von Kämpfen geben und dadurch die Bildung der Einheitsfront des gesamten Proletariats gegenüber den Kapitalisten beschleunigen“. 69 Deutlich wurde diese Haltung auch, als er anlässlich des Berliner Abkommens nach dem Rathenaumord sagte, „nicht ein paar Forderungen mehr oder weniger entscheiden heute über die Stärke der Bewegung. Viel wichtiger ist es, dass selbst die bescheidensten Forderungen durch die eigene Aktion der Arbeiterschaft [...] durchgesetzt werden“. 70 Teilforderungen standen für Meyer keineswegs im Gegensatz zum kommunistischen Endziel. Vielmehr war er der Meinung, dass die Möglichkeiten, dieses Ziel zu erlangen, durch Kämpfe für solche Teilforderungen sogar noch wuchsen, wenn diese „wirklich durchgekämpft, unmittelbar umschlagen [...] in Kämpfe um die Erringung des letzten Zieles“. Es ging ihm dabei mehr um die Dynamik, die der Kampf für die Durchsetzung solcher Forderungen entfalten könnte, als um deren Durchsetzung: „Die Aufstellung von solchen Forderungen bedeutet nicht, dass alle diese Forderungen in der genannten Form tatsächlich werden erreicht werden, sondern nur, dass diese Forderungen Sammelpunkte 68 Protokoll IV. Weltkongress, S.-73. 69 Ernst Meyer: Steuerfragen, in: Die Rote Fahne, 19.8.21 (M). 70 Meyer: Kessel, S.-858. <?page no="174"?> 174 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) für den Kampf der breiten Massen werden müssen. Der Kampf um eine dieser Forderungen kann bereits die ganze Front des Klassenkampfes aufrollen und zur Verwirklichung der Rätediktatur führen“. Mit der Einheitsfrontpolitik gab Meyer also die Ziele Revolution und Kommunismus nicht auf. Er verstand sie als Ausdruck einer revolutionären Realpolitik. Dementsprechend darf sie keinesfalls als ein Synonym für reformistische Politik missverstanden werden, für ein sich einrichten in und sich abfinden mit den kapitalistischen Verhältnissen. Sondern die Einheitsfrontpolitik war für ihn letztlich eine Antwort auf die Frage, „mit welchen Mitteln und unter welchen Losungen die Kommunisten aller Länder am raschesten und am erfolgreichsten zum Ziele der Verwirklichung des Kommunismus gelangen“. In diesem Sinne waren die von der KPD aufgestellten Teil- oder Übergangsforderungen auch keine rein reformistischen Forderungen. Überhaupt lehnte Meyer die strikte Trennung zwischen einem Kampf für Reformen und einem Kampf für die Revolution ab. Auch Reformforderungen würden sich am ehesten mit den „revolutionären“ Mitteln des außerparlamentarischen Kampfes durchsetzen lassen: „Reformarbeit ist nur dann erfolgreich, wenn sie in revolutionärem Geiste geleistet wird und wenn sie unmittelbar zu revolutionären Kämpfen führt“. 71 Bemerkenswert ist Meyers Positionierung zu jener Frage, die während der gesamten Weimarer Republik innerhalb der KPD umstritten war: Wie verhalten sich Kommunisten zur Republik? Für ihn stand außer Frage, dass die KPD sie gegen Angriffe von rechts unbedingt verteidigen müsste. Gleichwohl wich er keinen Zentimeter von der Ansicht ab, dass die Republik letztendlich überwunden und durch eine auf Räte gestützte „Diktatur des Proletariats“ ersetzt werden müsse. Ähnlich wie Reformforderungen waren für Meyer auch Spitzenverhandlungen mit den anderen Arbeiterorganisationen vor allem ein Mittel, um gemeinsame außerparlamentarische Kämpf der gesamten Arbeiterschaft zu erreichen. „Die Taktik der Einheitsfront“, formulierte er im Mai 1922, „besteht doch eben darin, dass wir über den Umweg der losen Besprechung mit den Zentralkomitees der anderen Arbeiterorganisationen hinweg die Möglichkeit gewinnen wollen, mit der Arbeiterschaft und mit den Mitgliedern dieser anderen Parteien zusammen zu treten. Wir wissen wohl, dass diese Besprechungen nicht Selbstzweck sein sollen. Sie sind für uns nur ein Mittel. Aber diese Besprechungen abzulehnen bedeutet, die Taktik der Einheitsfront überhaupt nicht vollkommen durchzuführen“. 72 An anderer Stelle erklärte er, die Verhandlungen der Spitzenkörperschaften hätten keinen anderen Zweck, als „die gemeinsame Operation der Arbeiter herbeizuführen“. 73 Wenn die anderen Organisationen Spitzenverhandlungen über gemeinsame Aktivitäten ablehnten, konnte die KPD veranschaulichen, dass diese gar nicht gewillt seien, tatsächlich für die Interessen ihrer Anhänger zu kämpfen. Gingen sie aber darauf ein, hoffte die KPD, in gemeinsamen Aktionen beweisen zu können, dass sich die Kommunisten am entschiedensten für die Belange der Arbeiter einsetzten. Die Aufforderung zu gemeinsamen Aktionen dürfe sich aber niemals allein an die Spitzen richten, sondern immer an die gesamte Organisation, also auch die Basis. Wenn es dann zu Verhandlungen käme, müssten diese öffentlich und somit für die Arbeiterschaft nachvollziehbar geführt werden. 74 71 Ernst Meyer: Die Aufgaben des 4.Weltkongresses, in: Inprekorr Jg. 2, Nr. 196, S.-1316. 72 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 14. und 15.5.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 13, Bl. 167. 73 Protokoll IV. Weltkongress, S.-74. 74 Vgl. Bericht über die Verhandlungen des 3.[8.] Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands <?page no="175"?> 175 6.4 Einheitsfront als revolutionäre Realpolitik Als größte Gefahr der Einheitsfrontpolitik machte Meyer den Opportunismus aus. Er fürchtete, dass die Kommunisten bei gemeinsamen Aktionen und bei Spitzenverhandlungen ihr „eigenes Gesicht“ nicht ausreichend wahren könnten; dass sie sich aus Rücksicht auf ihre Bündnispartner mit der „genügend scharfe(n) und vollständige(n) Kritik“ zu sehr zurückhalten könnten. 75 Deswegen sah er „die theoretische Vertiefung des Wissens aller Mitglieder, organisatorische Festigung der Partei und straffe Disziplin“ als die „unumgänglichen Voraussetzungen einer erfolgreichen Anwendung dieser Taktik“ an. 76 Da weder der III. Weltkongress der Komintern noch der Jenaer Parteitag der KPD konkrete Vorgaben für die Umsetzung der neuen Linie gemacht hatten, musste die Partei die genaue Ausformung der Einheitsfrontpolitik in der Praxis erst entwickeln. Meyer hatte darauf großen Einfluss. Die Politik der KPD in den Jahren 1921 und 1922 stimmte im Wesentlichen mit seinem Verständnis von Einheitsfronttaktik überein, auch wenn diese auf die Opposition des linken Flügels stieß. Insgesamt lässt sich in der Politik der KPD nach Jena und vor allem der Umgang mit Teil- oder Übergangsforderungen als zentrales Element der Meyer’schen Einheitsfronttaktik feststellen. Die Erfahrungen, welche die KPD bei den verschiedenen Einheitsfrontinitiativen machte, waren unterschiedlich: Während ihre Anwendung in ökonomischen Auseinandersetzungen (vor allem im Eisenbahnerstreik) als eindeutig positiv bewertet wurde, stellte gerade die Einheitsfrontpolitik in einer politischen Kampagne wie nach dem Rathenaumord die KPD vor eine Reihe von Problemen. Diese resultierten teilweise aus der Unerfahrenheit der Partei mit Spitzenverhandlungen, teilweise aus dem parteiinternen Druck des linken Flügels. Es fiel der KPD-Führung nicht immer leicht, einen angemessenen Weg zwischen opportunistischer Anpassung und sektiererischer Selbstisolation zu finden. Die hohe Zahl an gemeinsamen Treffen der Arbeiterorganisationen, die Entstehung überparteilicher proletarischer Kontrollausschüsse und paramilitärischer proletarischer Hundertschaften im Zuge der Rathenau-Kampagne sowie das allgemeine Wachstum der KPD in dieser Zeit deuten aber darauf hin, dass sie in dieser Frage keineswegs erfolglos operierte. Entsprechend widersprach Meyer auf dem IV. Weltkongress der Position, die Einheitsfront dürfe nur auf ökonomischen, nicht aber politischem Terrain angewandt werden: „Die Erfahrung, die auch bei uns gemacht worden ist, lehrt, dass in der gegenwärtigen Situation eine solche Trennung überhaupt unmöglich ist.“ 77 Erwiesen sich Übereinkünfte mit der SPD auf nationaler Ebene nach dem Erzberger- Mord noch als unmöglich, konnte sich die Sozialdemokratie nach dem Mord an Rathenau nicht mehr verschließen. Dies ist ein Beleg dafür, wie es der KPD durch die Einheitsfronttaktik gelang, ihre Isolation in der Arbeiterbewegung schrittweise zu überwinden, in die sie insbesondere nach der Märzaktion geraten war. Mit der Einheitsfrontpolitik entwickelte sie eine Methode, die es ermöglichte, das Anknüpfen an den unmittelbaren Interessen der Arbeiterschaft mit dem Vorantreiben und einer Verallgemeinerung des Kampfes ebenso zu verbinden wie mit einer systemüberwindenden Perspektive. Bei der Entwicklung dieser (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten in Leipzig vom 28. Januar bis 1. Februar 1923, hg. von der Zentrale der KPD, Berlin 1923, S.-210 f. 75 Ebenda, S.-212. 76 Meyer: Rathenau-Kampagne, S.-29. 77 Protokoll IV. Weltkongress, S.-74. <?page no="176"?> 176 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Form „kommunistischer Realpolitik“ (Kinner) 78 hatte Ernst Meyer als KPD-Vorsitzender entscheidenden Anteil, auch wenn sich dieser aufgrund der Quellenlage nicht immer genau quantifizieren lässt. Bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik erwies er sich durchaus als flexibler Politiker. Immer wieder war er bereit, einmal bezogene Positionen im Lichte sich wandelnder praktischer Erfahrungen zu verändern, ohne allerdings das Ziel kommunistischer Politik, den Sturz des Kapitalismus und die Machteroberung durch die Arbeiterklasse, aus den Augen zu verlieren. Fraglos war Meyer einer der Protagonisten der Einheitsfrontpolitik der KPD, die zumindest für die Zeit 1921/ 22 untrennbar mit seinem Namen verbunden sein sollte. Zeit seines Lebens sollte er dafür eintreten, dass die KPD ihr treu blieb. 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit 6.5.1 Im Konflikt mit der rechten Opposition Die erste Hälfte der Zeit, in der Meyer an der Spitze der KPD stand, war geprägt von internen Auseinandersetzungen mit den Parteirechten. Der Konflikt mit dieser Strömung, die Paul Levis KAG politisch nahestand und häufig mit ihr informell zusammenarbeitete, bestand bereits seit der Märzaktion. Eigentlich hatte er durch einen „Friedensvertrag“ zwischen den Strömungen der KPD beigelegt werden, der unter Vermittlung und auf Druck Lenins auf dem III. Weltkongress der Komintern in Moskau im Sommer 1921 zustande gekommenen war. Doch er schwelte weiter, brach Ende November erneut offen aus, kulminierte um die Jahreswende 1921/ 22 in der „Friesland-Krise“ und wurde schließlich mit der Sitzung des Zentralausschusses im Januar 1922, in welcher Friesland und einige seiner Anhänger ausgeschlossen wurden, beendet. So wie Meyer nach dem III. Weltkongress zu den eifrigsten Verfechtern der neuen Einheitsfrontpolitik zählte, bemühte er sich auch um die Umsetzung des Friedensvertrages. Die „Roten Fahne“ berichtete Anfang August 1921 über die Sitzung des Zentralausschusses: „Genosse Meyer stellt den Antrag, auch der Opposition einen Korreferenten aus dem Kreise der Delegierten zuzubilligen, ferner den Antrag, den Genossen von der Mehrheit und den Genossen von der Opposition abwechselnd das Wort zu erteilen. Beide Anträge werden angenommen. [...]“ 79 Meyer trug während der Sitzung den politischen Bericht der Zentrale vor, in dem er nochmals deren Haltung verteidigte, keine weiteren disziplinarischen Maßnahmen gegen die Opposition ergriffen und sie - soweit sie von den Bezirken durchgeführt worden waren - sogar zurückgenommen zu haben. 80 Seinen Antrag, statt des (noch) Parteilinken Friesland Clara Zetkin in die Zentrale zu kooptieren, wurde allerdings mit 19: 21 Stimmen abgelehnt. Dies veranschaulicht: Anders als später in den stalinisierten Parteien wurden in der KPD dieser Zeit Beschlüsse keineswegs einstimmig gefasst. Vorschläge der Führung konnten durchaus mehrheitlich abgelehnt werden, ohne dass dies sonderliches Aufsehen erregte. Gleichzeitig ist das Abstimmungsergebnis ein deutliches Zeichen für die 78 Kinner: Kommunismus, S.-49. 79 Die Rote Fahne 5.8.21 (M). 80 vgl. Die Rote Fahne, 5.8.21 (A). Diese Haltung verteidigte Meyer auch auf dem Jenaer Parteitag, Vgl. Bericht 7. Parteitag, S.-223. <?page no="177"?> 177 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit damalige Stärke des linken Flügels in der Partei - und ein interessantes Indiz für die Bereitschaft vieler Mitglieder, sich über in Moskau gefasste Beschlüsse hinwegzusetzen. In der Zentrale, die der Jenaer Parteitag Ende August 1921 gewählt hatte, waren kompromissbereite ehemalige Mitglieder sowohl des rechten (Zetkin und Hoernle) als auch des linken Flügels (Friesland) vertreten. Dominiert wurde sie von einer neuen Zentrumsströmung um Ernst Meyer, die sich vor allem aus „gewendeten Linken“ zusammensetzte, die noch vor kurzem die Märzaktion verteidigt hatten. 81 Innerparteilich war die Stellung der neuen Zentrale anfangs jedoch noch keineswegs gefestigt: „Weder die ‚Rechte‘ noch die ‚Linke‘“, schreibt Koch-Baumgarten, „konnte für ihre Positionen eine ausreichende Mehrheit finden, so dass die Zentrale ihre - wenn auch schwache - Stellung behaupten konnte: Sie nahm die Position einer bonapartistischen Gruppe ein, die ihre Herrschaft über die Partei aufgrund der Pattsituation behaupten konnte“. 82 Angesichts dieser Haltung bezeichnet auch Utz die Meyer-Zentrale als „Parteiführung der Mitte“. 83 Sie selbst verortete sich als Zentrum zwischen der „rechten Linie“ und der „linken Abschweifung“. Zum Umgang mit diesen oppositionellen Strömungen meinten alle Zentrale-Mitglieder, „dass es absolut notwendig ist, mit starker Hand in das politische Leben der Partei einzugreifen, aber nicht durch organisatorische Maßnahmen, sondern durch politische Betrachtung des Objekts“. 84 Im Rundschreiben der Zentrale vom 30. Oktober 1921 heißt es: „Insbesondere ersuchen wir die Genossen aus den Bezirken, in keiner Weise [...] zu Repressalien gegen rechtsstehende Parteigenossen vorzugehen, sondern noch mehr als bisher die Genossen zu tätiger Mitarbeit heranzuziehen“. 85 Das Bestreben, innerparteiliche Konflikte in erster Linie politisch und nicht organisatorisch, also etwa durch Maßregelungen oder Ausschlüsse zu lösen, war zu dieser Zeit kennzeichnend für die Haltung der gesamten Zentrale, vor allem aber von Meyer selbst. In der November-Sitzung des Zentralausschusses setzte er sich auffallend sachlich mit den Auffassungen der KAG auseinander. Er bezeichnete zwar ihr „Vorgehen [...] und ihre Existenz überhaupt als ein Verbrechen an der Arbeiterschaft“, da sie „diejenigen Elemente aus der USP und SPD fernhält, die bereit sind, zu unserer Partei zu kommen“, aber aufgrund der Kritik der KAG glaubten, „dass auch unsere Partei absolut nichts tauge“. Doch trat er dafür ein, unbedingt eine politische Auseinandersetzung mit dieser Gruppe zu suchen, deren Mitglieder er immer noch als „Genossen“ bezeichnete. Die KPD habe die Auffassungen der KAG „politisch zu diskutieren und in der Diskussion zu widerlegen, und unsere Parteipresse wird [...] kurz, sachlich und nüchtern die arbeitsgemeinschaftlichen Auffassungen widerlegen müssen. Organisatorisch gegen die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft vorzugehen, ist nur dann nötig, wenn die Arbeitsgemeinschaft [...] anfängt, sich zu einer Partei auszubilden und organisatorisch uns Schwierigkeiten zu machen. Dann werden wir dem organisatorischen Vorgehen, das über eine rein publizistische Vertretung ihrer Interessen und falschen Auffassungen hinübergeht, auch organisatorisch antworten müssen“. 86 81 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-390-396. 82 Ebenda, S.-390. 83 Hans Utz: Die Einheitsfrontpolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands 1921-23, Bern (Diss.) 1974, S.-172. 84 Protokoll der Sitzung der Zentrale am 19.10.1921 in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 339. 85 Rundschreiben Nr. 47, 30.10.1921 in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 43, Bl. 317 (Fehler im Org.). 86 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 16. und 17.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 11-12, S.-30. <?page no="178"?> 178 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Am 25. November 1921 veröffentlichte der „Vorwärts“ bisher unbekannte, kompromittierende Materialien über die Rolle der KPD-Zentrale in der Märzaktion. Vor allem Eberlein wurde hier schwer belastet. Er sei mitverantwortlich für die Planung von Bombenanschlägen, die der Reaktion in die Schuhe geschoben werden sollten, um so künstlich die fehlende Kampfbereitschaft der Arbeiter anzustacheln. Die Veröffentlichungen drohten für ihn ein juristisches Nachspiel zu haben, vor dem er allerdings vorerst durch seine Immunität als Landtagsabgeordneter geschützt war. Infolge dieser Enthüllungen brach in der KPD ein erneuter Konflikt mit dem rechten Parteiflügel aus. Dieser forderte - sekundiert von der stagnierenden KAG, die in den Ereignissen die Chance sah, sich doch noch mit ihren Positionen in der KPD durchsetzen zu können - den sofortigen Rücktritt Eberleins und weiterer, in die Märzereignisse verstrickter Genossen der Zentrale. Auf der Zentrale-Sitzung am 26. November wurde diese Rücktrittsforderung von Friesland unterstützt. 87 Und als die Zentrale am Morgen des 28. November erneut zusammentrat, schloss sich Meyer dieser Meinung an. Er argumentierte, die Partei könne aus der unangenehmen Lage nur dann herauskommen, wenn Eberlein einen Prozess provoziert. Denn: „Die einzige politische Möglichkeit besteht für uns darin, indem wir den Spieß umdrehen und der Regierung gegenüber in die Offensive eintreten“. Dafür allerdings müsse Eberlein „sowohl aus der Zentrale ausscheide[n] als auch sein Landtagsmandat niederlege[n]“. Doch die Mehrheit der Zentrale-Mitglieder lehnte dies ab, denn „man könne nicht einen einzelnen Genossen preisgeben, denn die Verantwortung für das im März Geschehene fällt auf die ganze Zentrale, und dann müssten eigentlich die gesamten Mitglieder der alten Zentrale zurücktreten, was der Partei politisch schaden würde“. 88 Als die Parteiführung am Abend erneut zusammentrat, ging Meyer noch einen Schritt weiter. Da die Möglichkeit weiterer, auch gegen ihn gerichteter Veröffentlichungen bestehe, schlug er vor, sowohl von seinem Amt in der Zentrale zurückzutreten als auch sein Landtagsmandat niederzulegen. Eberlein forderte er erneut auf, dasselbe zu tun. Auch dieser Vorstoß wurde mehrheitlich zurückgewiesen, denn man dürfe „das Kampffeld der Zentrale nicht in einer so schweren Situation verlassen“. 89 Erneut wurde die Frage bei der Sitzung am 30. November 1921 diskutiert. Diesmal forderten führende (auf dem rechten Parteiflügel stehende) Genossen aus der Reichsgewerkschaftszentrale (RGZ) der KPD, darunter Heinrich Malzahn und Paul Neumann, den Rücktritt der betreffenden Genossen und eine Annäherung an die KAG. Sollte die Zentrale ihnen nicht folgen, drohten sie, ihre Ämter niederzulegen. Doch auch das half nicht: Bei der folgenden Abstimmung wurde ein Rücktritt Meyers und Eberleins mit 11: 2 Stimmen bei einer Enthaltung abgelehnt. 90 Meyers Bereitschaft, sofort seine Ämter zur Verfügung zu stellen, um so Schaden von der Partei abzuwenden, kann als Ausdruck hoher persönlicher Integrität gedeutet werden, zumal er auf dem Jenaer Parteitag die Gerüchte über Bombenattentate der KPD während der Märzaktion als „Unwahrheiten und Verleumdungen“ bezeichnet hatte, 91 und nun, als die Wahrheit ans Licht kam, sofort bereit war, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Diese 87 Vgl. Protokoll der Sitzung der Zentrale am 26.11.1921, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 368. 88 Protokoll der Sitzung der Zentrale am 28.11.1921 morgens, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 370-f. 89 Protokoll der Sitzung der Zentrale am 28.11.1921 abends, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 372. 90 Vgl. Protokoll der Sitzung der Zentrale am 30.11.192, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 378 ff. 91 Bericht 7. Parteitag, S.217. <?page no="179"?> 179 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit Haltung kann ihm aber auch als Schwäche ausgelegt werden, wie es Brandler von Moskau aus tat. Meyers (und Frieslands) Schwanken bedeute in diesem „kritischen Augenblick, wo die Partei unter schwerstem Druck steht, eine schwere Gefahr. [...] Nachgeben, Umgruppierungen kann man niemals während des heftigsten [...] Sturmangriffs des Gegners machen. Das ist doch das ABC jeder Strategie. [...] Jede andere Haltung desorganisiert nur die eigenen Reihen und stärkt den Gegner“. 92 Aus der Krise, die durch „Vorwärts“-Enthüllungen angestoßen worden war, entwickelte sich im Anschluss die „Friesland-Krise“. Nun erreichte der Konflikt zwischen Zentrale und rechter Opposition seinen Höhepunkt und Abschluss. Friesland, ursprünglich auf dem äußersten linken Flügel der Partei stehend, hatte sich seit dem Jenaer Parteitag immer mehr den Positionen der KAG angenähert. Bei ihrer Reichskonferenz am 20. November 1921 beschloss die KAG die Annahme von „Leitsätzen“, die auch fünf Forderungen an die KPD enthielten (und die als Voraussetzung für einen Wiedereintritt in die KPD gemeint waren). 93 Die ersten drei Forderungen betrafen das Verhältnis der KPD zur Komintern, die letzten beiden verlangten die programmatische Festschreibung der Einheitsfrontpolitik und eine Gewerkschaftspolitik, welche die Einheit der Gewerkschaften nicht gefährden sollte. Diese Leitsätze wurden, da nach Redaktionsschluss eingegangen, im KPD-Organ „Die Internationale“ unkommentiert abgedruckt mit dem Verweis, in der nächsten Ausgabe näher auf sie einzugehen. Interessant ist dieser Vorgang insofern, als sich an ihm einerseits die hohe Bereitschaft der KPD zur Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen in der Arbeiterbewegung ablesen lässt, denen kurzerhand Raum in den eigenen Publikationen eingeräumt wurde, andererseits die hohe Meinung, die die KPD-Führung von den Mitgliedern ihrer Partei hatte. Offensichtlich traute man der Mitgliederschaft durchaus zu, sich eigenständig eine Meinung über die Leitsätze bilden zu können. Trotz bereits zuvor bestehender Differenzen kam es für die Mitglieder der Zentrale sehr überraschend, dass sich KPD-Generalsekretär Ernst Friesland bei der Sitzung des Polbüros am 12. Dezember und erneut bei der Zentrale-Sitzung am 14. Dezember plötzlich zu den Forderungen der KAG bekannte. 94 An ihnen sei nur schlecht, „dass sie von der KAG und nicht von der KPD selber gestellt sind“. 95 Das Polbüro beschloss daraufhin noch am 12. Dezember mit 5: 3 Stimmen, das Amt des Generalsekretärs abzuschaffen und damit Friesland dieses Postens zu entheben (neben Friesland scheinen Zetkin und Meyer, der persönlich ein gutes Verhältnis zu Friesland hatte, dagegen gestimmt zu haben). 96 Einige Zentrale-Mitglieder forderten auch Frieslands Ausschluss aus der Zentrale. Meyer, offensichtlich seinem Ansatz, politische Konflikte politisch und nicht organisatorisch zu lösen, treu bleibend, sprach sich dagegen aus. 97 92 Brief Brandler „An die Zentrale der KPD“ vom 7.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 201, Bl. 255 ff. 93 Die KAG-Leitsätze in: Die Internationale Jg.3, H 17 (01.12.21), S.-616. 94 Vgl. Protokoll der Polbüro-Sitzung 12.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 1, Bl. 66-72 und Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 14.12.21 in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 13, Bl. 412-420. 95 Ebenda, Bl. 67. 96 Vgl. ebenda, Bl. 72. Vgl. zu den Gegenstimmen auch Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-428. Zu Meyers Verhältnis zu Friesland siehe Brandt/ Löwenthal: Reuter, S.-131. 97 Vgl. ebenda, Bl.72. <?page no="180"?> 180 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Doch bei der Sitzung am 27. Dezember beschlossen die Zentralemitglieder (in Abwesenheit Meyers) einstimmig, Friesland bis zur nächsten Zentralausschusssitzung von seinen Funktionen in der Zentrale und die mit ihm sympathisierenden Brass und Malzahn von ihren Funktionen in der RGZ zu suspendieren. 98 Meyer stimmte nachträglich der Suspendierung Frieslands zu, hielt die Maßnahmen gegen Brass und Malzahn aber für verfehlt. 99 Anlass für die Suspendierung der betreffenden Genossen war, dass sie am 20. Dezember einen gemeinsamen Aufruf an die Mitglieder der KPD veröffentlicht hatten, in dem sie sich gegen die Eingriffe des EKKI in die deutsche Partei wandten und erneut den Rücktritt der durch die „Vorwärts“-Enthüllungen belasteten Genossen forderten. Am gleichen Tag veröffentlichte Friesland eine Broschüre „Zur Krise unserer Partei“, die sich mit denselben Themen beschäftigte. Am 22. Dezember legten Friesland, Malzahn und Brass der Zentrale eine von 128 Genossen, darunter fünf Mitglieder der Reichstagsfraktion, unterzeichnete Erklärung vor, in der erneut der Rücktritt der belasteten Zentrale-Mitglieder und die Einrichtung eines internen Untersuchungsausschusses zur Märzaktion gefordert wurde. Anfang Januar erschien ein weiterer von 28 prominenten Oppositionellen unterzeichneter Aufruf. Die unter zunehmenden Druck geratene Zentrale hatte bereits am 17. Dezember in ihrem „Politischen Rundschreiben“ folgenden Beschluss zum Umgang mit der KAG veröffentlicht: „Die Stellung der KPD wie aller ihrer Mitglieder zur KAG kann [...] nur die des schärfsten Kampfes sein. Jede direkte oder indirekte Unterstützung der Bestrebungen der KAG in den Reihen der KPD ist unvereinbar mit den Pflichten eines Parteimitglieds“. Weiter unten heißt es dann aber in dem Rundschreiben gleich einschränkend, es sei „streng zu unterscheiden zwischen der ideologischen Auffassung von Genossen, die mit der KAG sympathisieren, und zwischen Handlungen, die [...] einen Bruch der Parteidisziplin bedeuten. Anschauungen werden natürlich nicht durch disziplinarische Maßregeln widerlegt, sondern sie können nur durch Aufklärung liquidiert werden“. Aber selbst bei Verstößen gegen die Parteidisziplin ersuchte die Zentrale die Ortsgruppen und Bezirke, dass „der ernste Versuch gemacht wird, die Genossen von der Schädlichkeit ihres Vorgehens zu überzeugen, und dass erst, wenn solche Versuche sich als völlig aussichtslos erweisen, disziplinarisch vorgegangen und in den ärgsten Fällen ein Ausschlussverfahren eingeleitet wird“. 100 Obwohl das EKKI die „zu schwache“ und „zu tolerante“ Haltung der deutschen Parteispitze scharf kritisierte, 101 blieb die Zentrale bei ihrem Herangehen. Im Januar 1922 betonte Meyer erneut: „Unsere Partei wird [...] die politischen Fragen politisch beantworten und nur dann organisatorisch einschreiten, wenn grobe organisatorische Verstöße es absolut erfordern“. 102 Tatsächlich suchte die Zentrale die politische Auseinandersetzung und räumte der Opposition relativ breiten Raum zur Darstellung ihrer Positionen ein, obwohl die Differenzen „in einer so zugespitzten Form [...] nur in der Zentrale, nicht im gan- 98 Vgl. Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 27.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 13, Bl. 464. 99 Vgl. Brief der Zentrale „An die Gen. Remmele und Brandler“ vom 31.12.21, in: SAPMO-BArch, RY1/ I 2/ 3/ 201, Bl. 361. 100 Politisches Rundschreiben Nr.13, 17.12.1921, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 44, Bl. 108. 101 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S.435. 102 Die Internationale, Jg. 4, H 3 (08.1.1922), S.-49. <?page no="181"?> 181 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit zen Lande zum Vorschein“ 103 kamen. Der Aufruf von Friesland, Brass und Malzahn, die Erklärung der 128 und der Aufruf der 28 wurden in der „Roten Fahne“ veröffentlicht, 104 Friesland konnte auf KPD-Veranstaltungen in zahlreichen Städten 105 , in Berlin beispielsweise auf einer Versammlung von 2000 Funktionären 106 , seine Standpunkte vertreten und referierte auf der Sitzung des Zentralausschusses am 22. Januar 1922. Auf dieser Sitzung gab Meyer den „Bericht der Zentrale“ ab. Ausführlich beschäftigte er sich mit der KAG, der Friesland-Krise und mit dem Umgang mit der rechten Opposition. Er führte aus: „Die Genossen von der Opposition können sich nicht beschweren, dass nicht genügend Diskussionsfreiheit bestanden hat. Nach Jena ist von unserer Partei überhaupt kein Kampf gegen die KAG geführt worden. Wir haben die Finger vor die Augen gehalten, um nicht zu sehen, dass stets Sonderkonferenzen stattfanden, an denen sogar besondere Vertrauensleute unserer Zentrale [...] teilnahmen. Erst als die KAG immer schärfer gegen uns vorging und mehr und mehr ein Programm entwickelte, das die absolute Unvereinbarkeit mit kommunistischen Grundsätzen verriet, mussten wir zum politischen Kampf schreiten. Haben die Genossen in den letzten Monaten nicht Gelegenheit gehabt, innerhalb der Organisation alles zu sagen, was sie sagen wollten? Artikel über Artikel sind publiziert worden und Versammlungen über Versammlungen haben stattgefunden, wo die Genossen die breiteste Diskussionsfreiheit gehabt haben. [...] Gerade auf die politischen Angriffe der KAG ist politisch geantwortet worden, und auf die politische Frage der Opposition ist politisch geantwortet worden. Als aber die Genossen organisatorisch gegen uns vorgingen, blieb der Zentrale nichts anderes übrig, als organisatorische Maßnahmen zu ergreifen. Die Zentrale ist zum Teil angegriffen worden, dass sie zu spät eingegriffen hätte [...] Wir halten diese Vorwürfe für fasch, und zwar aus folgenden Gründen: jede organisatorische Maßnahme wurde und ist selbst jetzt noch behandelt als eine Maßregelung, als ein Zeichen der Unfähigkeit, politisch zu antworten. Deshalb mussten wir diesen Kampf zuerst politisch führen“. 107 Anschließend beantragte Meyer im Namen der Zentrale, der Zentralausschuss solle Friesland, Brass, Malzahn und die 28 Unterzeichner des Aufrufs aus der Partei ausschließen. Dies sei „die notwendige Folge ihres politischen und organisatorischen Auftretens“, notwendig auch deshalb, weil die Auseinandersetzung mit der Opposition die Partei hindere, sich überhaupt noch mit aktuellen Fragen zu beschäftigen. 108 Der Zentralausschuss 103 Anette Neumann: Grundzüge der Gewerkschaftspolitik der KPD von Aug. 1921 bis Dez. 1922, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 38, 1989, S.-201-234, hier S.-215. 104 Der „Aufruf der 128“ in: Die Rote Fahne, 24.12.21 (M), der „Aufruf der 28“ in: Die Rote Fahne, 7.1.1922 (M). Letzterer in Gänze abgedruckt, aber versehen mit einem bissigen Kommentar der Redaktion. 105 Vgl. Reisberg: Quellen, S.-291. 106 Ein interessantes Detail zur damaligen Diskussionskultur in der KPD ist, dass selbst in Berlin, Hochburg des linken Flügels, die Versammelten, obwohl sie „sehr erregt über Frieslands Umfall waren“ und auch böse Worte fielen, „ohne Störung das fünfviertelstündige Referat Frieslands“ anhörten. Vgl. Brief der Zentrale „An die Gen. Remmele und Brandler“ vom 31.12.21, in: SAPMO-BArch, RY1/ I 2/ 3/ 201, Bl.-361. 107 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 22. und 23.1.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 12, Bl. 256-f. 108 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 22. und 23.1.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 12, Bl. 257. <?page no="182"?> 182 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) stimmte dem Antrag der Zentrale mit 41: 4 Stimmen zu. 109 Mit dem Ausschluss Frieslands und der ihm nahestehenden Genossen, denen noch einige weitere Austritte von mit ihnen sympathisierenden Mitgliedern und Funktionären folgten, kam der Konflikt mit der rechten Opposition zu seinem Abschluss. Auch wenn Meyer formal zu den Gewinnern in der Auseinandersetzung zählte, dürfte ihr Ausgang seine Stellung in der KPD langfristig eher geschwächt haben. Die Zahl derer, die die KPD verließen, mag gering gewesen sein. Viele von ihnen waren aber langjährige und erfahrene Aktivisten und Funktionäre der Arbeiterbewegung und in ihrem Denken unabhängige Sozialisten. Sie waren weit mehr einer revolutionären Realpolitik im Sinne Meyers zugeneigt als einem revolutionaristischen Kurs, ultralinken Abenteuern und blinder Ergebenheit gegenüber Moskau, für die die späteren Parteiführungen um Ruth Fischer und dann vor allem Ernst Thälmann standen. Die später wichtigsten Oppositionsströmungen gegen einen ultralinken Kurs und gegen die Stalinisierung der KPD, die von Meyer geführten „Versöhnler“ und die „Rechten“ um Brandler, speisten sich soziologisch aus denselben Milieus und standen inhaltlich den Positionen derer nahe, die sie 1922 aus der Partei zu drängen geholfen hatten. Während Meyer im Frühsommer 1921 noch zu den Scharfmachern gegenüber Levi gehört hatte, versuchte er nun zunächst, die Ausschlüsse der Opponenten zu verhindern und hoffte, sie in der Partei halten zu können, indem er breite Diskussionen gewährte. Doch die Levi- und die Friesland-Krise offenbarten die schon 1921/ 22 engen Grenzen eines kommunistischen Pluralismus. Die geringe Fähigkeit der KPD, Differenzen zuzulassen und auszuhalten, erwies sich bald als eines der größten Handicaps der kommunistischen Bewegung und eine der Ursachen ihres Scheiterns. 6.5.2 Im Konflikt mit der linken Opposition Die linke Opposition war zahlenmäßig weitaus stärker als die rechte, ihre Hochburgen in der Partei waren die mitgliederstarken Bezirke Berlin-Brandenburg (Wirkungsstätte der führenden Köpfe dieses Flügels, Ruth Fischer und Arkadij Maslow) und Wasserkante (wo ihre wichtigsten Akteure Hugo Urbahns und Ernst Thälmann waren). Diese linke Opposition war eine Fortsetzung einer seit Gründung der KPD in der Partei präsenten, subjektivistisch ausgerichteten und gegenüber den strategischen Prämissen kommunistischer Politik in Gewerkschaften und Parlamenten sehr kritisch eingestellten Strömung. Sie speiste sich aus Arbeitern, die sich in den Revolutionskämpfen radikalisiert hatten. Deren Verhältnis zur SPD, aber auch den sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften war durch die Erfahrung mit der aktiven Beteiligung der SPD bei der blutigen Niederschlagung der Rätebewegung geprägt und dem entsprechend feindselig. Zu ihr stießen radikalisierte Intellektuelle wie Ruth Fischer oder Arthur Rosenberg, die ihre theoretische Führung stellten. 109 Vgl. Angress: Kampfzeit, S.- 255. Die Ausgeschlossenen gingen mehrheitlich zur KAG, schlossen sich dann mit dieser wenig später der USPD an und vollzogen mit dieser im September 1922 die Wiedervereinigung mit der SPD, in der v.a. Friesland, jetzt wieder unter seinem richtigen Namen Ernst Reuter, Karriere machen sollte und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Regierenden Bürgermeister West-Berlins wurde. <?page no="183"?> 183 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit Teile dieser Strömung hatte Levi nach dem Heidelberger Parteitag aus der Partei ausschließen können. Aber das aktionistisch ausgerichtete, oft wenig marxistisch geschulte ultraradikale Milieu in der Arbeiterschaft, das den lebensweltlichen Hintergrund dieser Strömung bildete, bestand fort und bildete sich immer wieder auch in der KPD politisch ab. Die linke oder auch ultralinke Strömung im deutschen Kommunismus war dabei keineswegs einheitlich, wie Jacob Walcher feststellt: „‚Die Linke‘ […] hat es in der Partei tatsächlich niemals gegeben. […] Linke Bezirke wie der von der Wasserkante und dem Ruhrgebiet, haben nie auf demselben grundsätzlichen Boden gestanden wie die von Maslow und Fischer geleitete Berliner Opposition. Deren prinzipielle Gegnerschaft gegen Einheitsfront, Übergangslosungen und Arbeiterregierung hat es bei den führenden oppositionellen Genossen außerhalb Berlins entweder überhaupt nicht oder in sehr abgeschwächter Form gegeben.“ 110 Dennoch lassen sich gewisse politische Gemeinsamkeiten feststellen, die für die verschiedenen Strömungen der Parteilinken während der Weimarer Republik Gültigkeit hatten. Otto Langels fasst sie wie folgt zusammen: „Die ultralinke KPD-Opposition lässt sich als eine politische Richtung charakterisieren, die auf dem radikal linken Flügel der KPD angesiedelt war, die Aktualität der Revolution propagierte, Übergangsforderungen kommunistischer Parteipolitik weitgehend ablehnte und die Zusammenarbeit mit nichtkommunistischen Organisationen nur als Einheitsfront an der Basis und nicht als Vereinbarung leitender Gremien gelten lassen wollte. […] die Ultralinken […] hielten an der Utopie der sozialen Revolution fest und bewahrten revolutionäre Prinzipientreue. Das, was sie unter Marxismus verstanden, zu verteidigen, war ihnen wichtiger als die Gewinnung von Macht und Einfluss.“ 111 In Zeiten der Offensivtheorie hatte Meyer - wie viele andere Spartakusführer auch - diesem Radikalismus vorübergehend theoretischen und politischen Ausdruck verliehen. Das Desaster der Märzaktion und die Erfahrungen bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik nach dem III. Weltkongress führten jedoch zu einer nachhaltigen Trennung von den ultralinken Strömungen in der KPD. Bis zu seinem Lebensende sollte Meyer nun - in der Tradition Rosa Luxemburgs als Vertreter einer auf die Gewinnung der Mehrheit der Arbeiterklasse ausgerichteten marxistischen Politik - ein Gegner dieser Strömung bleiben. Auf dem Jenaer Parteitag war „der Standpunkt der Linken stark zur Geltung“ gekommen, schreibt Angress. Dennoch habe die Annahme der Einheitsfrontpolitik einen „entscheidenden Sieg der rechten und gemäßigten Richtungen in der KPD über den militanten linken Flügel“ bedeutet. 112 Während letzterer in permanenter Opposition zur Auslegung der Einheitsfrontpolitik der Zentrale stand, versuchte diese, ihn zu integrieren. Dabei stellte sie ihm sogar das Zentralorgan zur Darstellung seiner Positionen zur Verfügung. Im November 1921 beantragte der Bezirk Berlin-Brandenburg, in der „Roten Fahne“ eine regelmäßig erscheinende Beilage mit dem Titel „Taktik und Organisation“ erscheinen zu lassen und ihm die Redaktion der Beilage zu übertragen. Die Zentrale beschloss, die Beilage herauszugeben, sie zwar von der Redaktion der „Roten Fahne“ redigieren zu lassen, 110 Jacob Walcher: 1923 - zur Politik der KPD, o.O., 1959, in: SAPMO-BArch, NY 4087, Bl. 404. 111 Otto Langels: Die ultralinke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Zur Geschichte und Theorie der KPD-Opposition (Linke KPD), der Entschiedenen Linken, der Gruppe „Kommunistische Politik“ und des Deutschen Industrie-Verbandes in den Jahren 1924 bis 1928, Frankfurt u.a. 1984, S.-2 f. 112 Angress: Kampfzeit, S.-240 u. 242. <?page no="184"?> 184 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) den Berlinern aber „ein weites Mitspracherecht“ zuzugestehen. 113 Faktisch wurde sie aber bald zu einem Fraktionsorgan des linken Flügels und schließlich auf den Druck Lenins hin zum Januar 1923 eingestellt. Ähnliche Beispiele für den Raum, den die Zentrale den Linken gab, sind die zahlreichen Artikel führender Oppositioneller in der „Internationale“, die Hinzuziehung Ruth Fischers, der ärgsten innerparteilichen Widersacherin Meyers, zu den Zentrale-Sitzungen im Sommer 1922 oder auch der große Anteil der Linken an der KPD-Delegation zum IV. Weltkongress der Komintern. Die ganze Zeit, in der Meyer an der Spitze der KPD stand, schwelte der Konflikt mit dem linken Flügel und trat in Debatten über die Arbeiterregierung, die Sachwerteerfassung oder zur Einschätzung über den Zustand der kapitalistischen Gesellschaft immer wieder offen zu Tage. In voller Heftigkeit brach der Konflikt zwischen der Zentrale-Mehrheit um Meyer und den Linken während der und im Anschluss an die Rathenau-Kampagne aus. Dem linken Flügel stand während dieser Auseinandersetzungen die kommunistische Presse offen, was er wiederholt zu heftigen Angriffen auf die Parteiführung und Meyer selbst nutzte. In der Juli-Sitzung des Zentralausschusses konnte Kleine als Vertreter der Linken das Korreferat zu Meyer halten. 114 Nun zeigte sich, in welch „peinliche“ und „blamable“ Situationen (so das Zentrale-Mitglied Wilhelm Pieck) 115 die Integrationsbemühungen der Zentrale führen konnten. Meyer und Koenen hatten im Auftrag der Zentrale eine Resolution für den ZA vorbereitet. 116 Bei einem Treffen am Abend vor der Sitzung stimmten einige Zentrale-Mitglieder dem Wunsch der Linken auf eine Überarbeitung der Resolution zu. Eine Redaktionskommission arbeitete einen Kompromissvorschlag aus, in welchem der Kritik an den Fehlern der Partei während der Rathenau-Kampagne ausreichend Raum eingeräumt wurde. Am nächsten Tag wurde dieses Kompromisspapier dem Zentralausschuss als Zentrale-Resolution vorgelegt. Während der Sitzung erhoben aber Zentrale-Mitglieder, die am Treffen des Abends zuvor nicht teilgenommen hatten, ebenso heftigen Protest wie viele Delegierte gegen diese Resolution. So kam es zu der skurrilen Situation, dass einerseits die Mehrheit der Zentrale-Mitglieder gegen die Zentrale-Resolution argumentierte, anderseits die sonst der Zentrale gegenüber kritischen Linken die Resolution verteidigten. Sie wurde schließlich erneut umgearbeitet und dann einstimmig angenommen. Doch das Ansehen der Parteiführung litt nachhaltig unter diesen Vorgängen. Insgesamt war der Integrationskurs der Zentrale gegenüber der linken Opposition, deren Einbindung in die Praxis der Partei etwa als Bezirksleitung der stärksten KPD-Bezirke und die „sehr tolerante Parteidisziplin“ 117 recht erfolgreich. Die Eskalation von Konflikten einschließlich Ausschlüssen und ähnlichen Maßnahmen konnte vermieden werden, auch wenn der linke Flügel, so Angress, langfristig „der Partei mehr Schwierigkeiten bereiten sollte, als das Levi und seine Fraktion jemals getan hatten“. 118 Meyer scheint die von diesem Flügel für die Partei ausgehenden Gefahren unterschätzt zu haben. So berichtete er im Dezember 1922 dem Zentralausschuss vom IV. Weltkongress der KI: „Und da eine starke 113 Vgl. Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 11.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 13, Bl. 356. 114 Vgl. Reisberg: Quellen, S.-546. 115 Brief Pieck „An die Deutsche Delegation, Moskau“ vom 26.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 202 Bd.2, Bl. 78 ff. 116 Resolutionsentwurf Meyer/ Koenen, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 297 f. 117 Utz: Einheitsfrontpolitik, S.147. 118 Angress: Kampfzeit, S.-242. <?page no="185"?> 185 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit linke Strömung weder in Deutschland noch sonst wo in der Internationale besteht und aus der Haltung dieser Linken in Zukunft keine wesentlichen Gefahren entstehen werden, brauchte man sich auf diesem Kongress nicht so ausgiebig damit zu beschäftigen.“ 119 Brandler bezeichnete später seine Unterschätzung dieses Flügels als einen seiner schweren Fehler 120 - und auch Meyer dürfte bald ähnlich gedacht haben. Denn als dieser Flügel 1924/ 25 die Führung der Partei stellte, bemühte er sich keineswegs um eine Integration Meyers als seinem führenden innerparteilichen Opponenten, sondern tat alles dafür, ihn an den Rand zu drängen. Auch die unter Thälmann vorangetriebene Stalinisierung der KPD, die Meyer bis zu seinem Tod verzweifelt bekämpfte, fand ihre innerparteiliche Basis in Teilen dieses Flügels. 6.5.3 Meyers Verständnis von innerparteilicher Demokratie Diskussionsfreiheit in der kommunistischen Partei und Offenheit der kommunistischen Presse für oppositionelle Ansichten verteidigte Meyer auch in seiner Zeit als KPD-Vorsitzender als unbedingt notwendig. „Wir können feststellen“, sagte er bei einer Zentralausschusssitzung, „dass gelegentlich rechts und links Auffassungen vorhanden sind, die nicht der Auffassung der Parteimehrheit entsprechen [...] Es muss selbstverständlich Aufgabe unserer Partei sein, alle solche Abweichungen [...] sachlich zu diskutieren und politisch zurückzuweisen. Diskussionsfreiheit ist innerhalb unserer Partei absolut notwendig, eine Freiheit, die auch dadurch gestärkt werden muss, dass unsere Organe, insbesondere unsere Zentralzeitschriften, ‚Die Internationale‘ und [...] die ‚Rote Fahne‘ sachlich taktischen Auseinandersetzungen Raum gewähren. Wir denken nicht daran, [...] nach dieser oder jener Seite hin die Fragen personell oder organisatorisch zu lösen und abzuschneiden, sondern: Unsere Partei hat Raum und muss Raum haben für die sachliche Diskussion der verschiedenen politischen Auffassungen. [...] Wenn also bei einzelnen Genossen die Befürchtung bestehen sollte, dass Ausschlüsse oder Versetzungen oder ähnliche schreckliche Dinge geplant seien, so können wir die Genossen von vornherein beruhigen. Das ist nicht die Absicht der Zentrale, durch personelle Erledigung politische Fragen zu lösen, sondern wir betrachten es als Aufgabe der Partei, politische Fragen politisch zu lösen.“ 121 Diese Offenheit der Diskussionen in der kommunistischen Partei pries Meyer als Vorzug der KPD gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Dort „vertuscht man die Gegensätze“, sagte er auf dem Jenaer Parteitag, „während wir das, was ist, klar aussprechen, und wir wissen, dass wir [...] [dadurch] nicht unserer Partei und der kommunistischen Bewegung schaden, sondern dass sie dadurch gewinnen, zunehmen und fortschreiten wird. Wir begrüßen daher theoretische Diskussionen“. 122 119 Protokoll des ZA der KPD vom 13.-14.12.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 16, Bl. 93. 120 Vgl. Brief Brandler an „Lieber Bruno“, Moskau, 13.11.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 67, Bl. 17-22. 121 Protokoll der Tagung des ZA der KPD 16./ 17.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 11-12, Bl. 31. 122 Bericht 7. Parteitag, S.-216. <?page no="186"?> 186 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Ähnlich äußerte Meyer auf dem Leipziger Parteitag im Januar 1923: Die dortigen Diskussionen seien nicht sonderlich fruchtbar gewesen, da alle Fragen bereits im Vorfeld „so eingehend in den Mitgliedschaften diskutiert worden sind, dass eigentlich alle Genossen vollkommen über die Argumente [...] unterrichtet sind. Eben dadurch unterscheidet sich unser Parteitag vom dem der Sozialdemokratie, dass er tatsächlich vorbereitet ist durch eine eingehende Diskussion aller Fragen. Unsere Partei fürchtet nicht die Kritik, prüft mit aller Schärfe nach jeder Aktion, was falsch gewesen ist, und so kann der Parteitag nur das abschließende Urteil geben. Die Partei braucht Kritik, denn das ist das Zeichen der Gesundheit“. Interessant ist die Einschränkung, die Meyer dann zu diesem Punkt macht: „Was wir aber vermeiden müssen, ist die Übertreibung der Kritik, aus der leicht eine Schädigung der Werbekraft unserer Partei entstehen kann“. 123 Freiheit der Kritik scheint für Meyer kein reiner Selbstzweck gewesen zu sein, sondern ein unbedingt notwendiges Element zur Entwicklung der richtigen Politik und damit der Stärkung des kommunistischen Einflusses. Sie war daran gekoppelt und diesem Ziel letztlich untergeordnet. „Die Wirkung der Kritik muss doch sein, die Organisation schlagkräftiger zu machen, sie innerlich zu festigen und nach außen ihre Position zu erleichtern“. 124 Zwar stärkten der von Meyer nicht verhinderte Ausschluss einiger Oppositionellen und die damit einhergehende Beruhigung der internen Friktionen kurzfristig die Handlungsfähigkeit der Partei. Doch dafür musste Meyer eine längerfristige Schwächung des auf eine revolutionäre Realpolitik ausgerichteten Lagers und damit der KPD insgesamt in Kauf nehmen. In der historischen Rückschau erscheinen daher die von Meyer in den Jahren 1921/ 22 gezogenen Grenzen eines kommunistischen Pluralismus als immer noch zu eng und zu ausschließend. Die Freiheit der internen Diskussion fand für Meyer in dem Moment ihre Grenzen, wenn aufgrund dieser Diskussionen Mehrheitsbeschlüsse gefasst wurden, aus denen Aktionen nach außen folgten: „Das, was die Partei verlangt, ist nur, dass in der Zeit der Aktion alle verschiedenen Auffassungen zugunsten der Aktion schweigen oder zurücktreten, die von der gesamten Partei oder ihren Organen beschlossen ist“. 125 Es müsse hervorgehoben werden, „dass viele Kritiker, die nachher die Märzaktion kritisiert haben, damals erfreulicherweise revolutionäre Kampfdisziplin geübt haben und mit uns in den Reihen der Kämpfenden standen. Wir können nur die Kritik begrüßen, die vom Boden des Kampfes aus geübt worden ist, und wir lehnen von vornherein jede Kritik ab, die abseits der Kämpfenden steht und an dem herumnörgelt, was blutende Proletarier getan haben oder tun“. 126 Der Umgang Meyers (und der von ihm geleiteten Zentrale) an oppositionelle Strömungen war geprägt von dem Bestreben, politische Konflikte zunächst politisch und nicht gleich organisatorisch zu lösen. Er selbst scheint geradezu einen Widerwillen gegen Maßnahmen wie Ausschlüsse gehabt zu haben, die er als „schreckliche Dinge“ und als „ein Zeichen der Unfähigkeit, politisch zu antworten“, bezeichnete. Seine Frau schreibt, er habe in internen Auseinandersetzungen „mit politischen Argumenten in bester Tradition de- 123 Bericht 8. Parteitag, S.-251. 124 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 14, Bl. 157. 125 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 16. und 17.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 11-12, Bl.-31. 126 Bericht 7. Parteitag, S.-216. Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle „lebhafte Zustimmung“ der Delegierten. <?page no="187"?> 187 6.5 Innerparteiliche Demokratie als Notwendigkeit mokratischer Spielregeln“ gekämpft, „die alleine das Funktionieren einer gesunden Partei auf die Dauer sicherstellen können. [...] Mit unfairen Methoden zu kämpfen, war Ernsts Stärke nicht“. 127 Folgerichtig sprach er sich anfänglich gegen die Suspendierung Frieslands, später gegen die von Malzahn und Brass aus. Generell versuchte die Meyer-Zentrale, die Opposition möglichst zu integrieren. Sie habe sich selbst „als Integrationsorgan für die verschiedenen Organisationen und Strömungen innerhalb der Partei“ begriffen, schreib Utz über die Parteiführung jener Zeit. 128 Der Opposition stand die Parteipresse weitgehend offen, ihre Erklärungen wurden selbstverständlich abgedruckt, auf Parteitagen und bei Sitzungen des Zentralausschusses konnte sie ihre Positionen in Korreferaten offen vertreten. Das Parteimodell, das Meyer vertrat, ging nicht von einer monolithischen Partei aus, über die eine immer Recht habende Führung herrschte. Vielmehr vertrat er das Konzept einer offenen, in sich demokratischen kommunistischen Partei, die in freier Diskussion den adäquaten Weg zum Sozialismus zu finden sucht. Die Notwendigkeit von Diskussionsfreiheit und Freiheit der Kritik können somit als Grundelemente von Meyers Verständnisses von Demokratie in einer kommunistischen Partei gewertet werden. Sie behielten für ihn auch über 1921/ 22 hinaus Gültigkeit. Ihre Grenzen fand die innerparteiliche Demokratie allerdings in dem Moment, in dem die Partei nach außen ging. Dann hätten „die verschiedenen Auffassungen zu Gunsten der Aktion [zu] schweigen“. Auch die Minderheit müsste sich an Aktionen beteiligen, die von der Mehrheit beschlossene worden seien, wenn sie diese später kritisieren wollte: „Wir können nur die Kritik begrüßen, die vom Boden des Kampfes aus geübt worden ist“. Meyer erscheint daher als Verfechter eines im leninschen Sinne demokratischen Zentralismus: Freiheit der Diskussion nach innen, Einheit in der Aktion nach außen, und bei der Aktion Unterordnung der Minderheit unter die Beschlüsse der Mehrheit. Dabei betont er sehr die demokratische Seite des demokratischen Zentralismus. Dieser unterschied sich deutlich von dem, was später in den stalinisierten Parteien unter demselben Namen zu einem bürokratischen Zentralismus verkümmerte und bei dem die Freiheit der Kritik und Debatte immer mehr abgewürgt und gegen abweichende Meinungen sofort organisatorisch vorgegangen wurde. Ernst Meyer stand als KPD-Vorsitzender also für den Versuch, ein an die Bolschewiki angelehntes Parteimodell für Deutschland zu entwickeln. Aber im Gegensatz zur späteren „Bolschewisierung“ der KPD stand die Notwendigkeit von parteiinterner Demokratie und Diskussionsfreiheit bei Meyer noch außer Frage. Er lässt sich somit schwerlich als ein Wegbereiter der Stalinisierung werten. Die hier vorgenommene Analyse von Ernst Meyers Verhältnis zur internen Demokratie lässt eine Positionierung zu gegenwärtigen Kontroversen in der KPD-Forschung zu. 129 Wenn Klaus-Michael Mallmann versucht, anhand von Beispielen aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren einen „grassierende[n] Führer-Begriff“ und ein „in den Bahnen von Befehl und Gehorsam erstarrende[s] Denken“ als generelle Merkmale der KPD 127 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-40. 128 Utz: Einheitsfrontpolitik, S.-175. 129 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Forschungskontroversen siehe Wilde: Meyer (online Dissertation), S.-284-287 und 304 f sowie Bois/ Wilde: Heidelberger Parteitag. <?page no="188"?> 188 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) nachzuweisen, 130 dann zeigt sich vor allem, wie seine Zurückweisung der auf Hermann Weber zurückgehenden Stalinisierungs-These den Blick auf die sich in den 1920er Jahren grundlegend veränderten Realitäten in der KPD verstellt. Denn was auf die späte KPD fraglos zutrifft, muss in der Frühphase noch keineswegs Gültigkeit haben: In der gesamten Zeit, in der Ernst Meyer an der Spitze der Partei stand, findet sich nicht ein Hinweis auf einen Führer-Begriff, der sich an seiner Person oder an der von ihm geleiteten Zentrale manifestierte. Auch lässt sich in den untersuchten Quellen keinerlei Verbindung von Meyers Namen mit dem Begriff „Führer“ oder ähnlichen Attributen nachweisen. 131 Auch falsch liegt Mallmann, wenn er - erneut ausgehend von Beispielen aus der Zeit ab Mitte der 1920er Jahre - für die gesamte Geschichte der KPD verallgemeinert: „Kollegialität musste unter diesen Umständen selbst auf der Führungsebene ein Fremdwort bleiben“. 132 Die Protokolle der Sitzungen der Meyer-Zentrale ergeben (vor allem nach dem Ausscheiden Frieslands) ein ganz anderes Bild: Vieles weist auf eine kollegial zusammenarbeitende Zentrale hin, deren Atmosphäre Pieck in verschiedenen Briefen vom Frühjahr und Sommer 1922 als „sehr harmonisch“ beschrieb. 133 Auch Utz bezeichnet die Kollegialität als eines der Merkmale der Meyer-Zentrale. 134 Nicht nachweisen lässt sich hingegen eine „Korporalsform der Macht“, „Kasernenhofdenken“ oder eine „Kommandosprache“. 135 In der Summe muss Mallmann also widersprochen werden, wenn er von einem „lange vor Stalin angelegten Prozess hin zur Apparatherrschaft“ schreibt. 136 Tendenzen zur Zentralisierung und ideologischen Homogenisierung der Partei waren zwar in der Tat - in Anbetracht der extremen ideologischen Heterogenität der KPD bei ihrer Gründung wohl auch notwendige - Eigenprodukte der Entwicklung des deutschen Kommunismus, an die im Verlauf der Stalinisierung angeknüpft werden konnte. Das aus diesen Tendenzen eine Apparatherrschaft erwachsen konnte, ist aber ohne den Funktionswandel des deutschen Kommunismus (und damit auch seiner Führung) im Zuge der Stalinisierung nicht erklärbar. Somit muss auch die These einer frühen Bolschewisierung der KPD, die sowohl Andreas Wirsching als auch Sigrid Koch-Baumgarten vertreten, relativiert werden: Sie ergibt nur dann Sinn, wenn diese Bolschewisierung als qualitativ verschieden von der (ja anfangs auch unter der Bezeichnung „Bolschewisierung“ laufenden) Stalinisierung ab Mitte der 1920er Jahre gewertet wird. Denn ohne eine erst nach 1922 einsetzende grundlegende Wandlung des deutschen Kommunismus sind die eklatanten Unterschiede zwischen dem oben skizzierten Ausmaß parteiinterner Demokratie und dem vollständig entdemokratisierten Zustand der KPD der späten Weimarer Republik nicht erklärbar. 130 Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S.-145. 131 Wenn überhaupt wurde in der KPD nur die 1921 bereits 64-jährige Klara Zetkin als Führungsfigur verehrt, vgl. Utz: Einheitsfrontpolitik, S.-174 und 182. 132 Mallmann: Kommunisten, S.-145. 133 Brief Pieck an Brandler vom 12.4.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 202, Bd.1, Bl. 92. Vgl. auch Brief Pieck „An die deutsche Delegation, Moskau“ vom 26.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 202, Bd.2, Bl. 78. 134 Utz: Einheitsfrontpolitik, S.-175. 135 Mallmann: Kommunisten, S.-144 u. 149. 136 Mallmann: Kommunisten, S.-147. <?page no="189"?> 189 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern Meyer hielt sich seit dem Spätsommer 1922 zusammen mit Eberlein als Delegierter der KPD beim EKKI in Moskau auf. Wie schon nach dem II. Weltkongress wurde er erneut in dessen „kleines Büro“ gewählt, das nun „Präsidium“ hieß. Einen Einblick in Meyers Tätigkeit in Moskau erlauben seine Briefe an die KPD-Zentrale. 137 Hier berichtete er regelmäßig über relevante Ereignisse und seine eigenen Aktivitäten. Aus dieser Korrespondenz geht hervor, dass er neben den zahlreichen Sitzungen der Kominternexekutive auch an den Treffen der deutschen Sprachgruppe der Komintern teilnahm, die ihn zu ihrem Vorsitzenden wählte. Außerdem besuchte er den russischen Gewerkschaftskongress, eine Distriktkonferenz der RKP(B) in Petrograd und den russischen Textilarbeiterkongress. Die Arbeit im EKKI brachte ihn in regelmäßigen und engen Kontakt zu führenden Figuren der kommunistischen Weltbewegung wie Sinowjew, Bucharin, Radek, Solomon Losowski und Otto Kuusinen. Zudem musste er sich mit Fragen kommunistischer Politik in zahlreichen Ländern befassen, darunter Italien, den Balkan-Staaten, den skandinavischen Ländern, England und Frankreich. Von besonderem Interesse waren für ihn alle Fragen, die die Anwendung der Einheitsfrontstrategie in diesen Ländern betrafen. Meyer vertrat seine Partei auch auf dem IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, der vom 5. November bis zum 5. Dezember 1922 in Moskau und Petrograd zusammentrat. Die enthusiastische Atmosphäre des Aufbruchs, die Meyer beim II. Kongress erlebt hatte, war gewichen. Nüchtern wurde nun versucht, fünf Jahre nach der Oktoberrevolution Bilanz zu ziehen und die seit dem III. Kongress mit der Einheitsfronttaktik gemachten Erfahrungen auszuwerten. Wie schon auf dem letzten Kongress wurde die KPD von einer gespaltenen Delegation vertreten, der als Meyers schärfste Widersacherin Ruth Fischer angehörte. Die Konflikte wurden aber kaum in den Plena des Kongresses ausgetragen, sondern zumeist hinter den Kulissen - etwa in einer Besprechung mit führenden Vertretern der russischen Partei. An den Kongressdebatten beteiligte sich Meyer vor allem durch einen engagierten Beitrag zur Verteidigung der Einheitsfrontpolitik der KPD und der Internationale, wobei er in der Frage der Arbeiterregierung heftig mit dem KI-Vorsitzenden der Sinowjew zusammenstieß. Insgesamt aber wurden die Erfolge der KPD bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik anerkannt. Am Rande des Kongresses kam es am 16. November zu einem Treffen der deutschen Delegation mit sowjetischen Vertretern des EKKI (Bucharin, Radek, Sinowjew, Trotzki) und dem schwer erkrankten Lenin. Meyer berichtete später, Lenin habe (vermutlich aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit, FW) darauf gedrängt, die Fragen der deutschen Partei in aller Kürze zu behandeln. Meyer habe daher „all das kurz zusammengefasst, was die Zentrale gegenüber den Fraktionsbildungen der Berliner Genossen zu sagen hat.“ 138 An den Ablauf des Treffens erinnert sich auch Albert Schreiner, einer der KPD-Delegierten des Kongresses: 137 Die Briefe finden sich in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 202. 138 Vgl. Protokoll der 2. geschlossenen Sitzung des Leipziger Parteitages, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl.-5. <?page no="190"?> 190 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) „Es sprach zuerst Ernst Meyer, die personifizierte Nüchternheit. Er war damals der politische Hauptverantwortliche für die Führung der Partei. Er legte die unter seiner Leitung geführte Politik dar und verteidigte sie gegen die Ultralinken. Der Hauptdifferenzpunkt zwischen dieser Gruppe und der Zentrale war die Frage der Anwendung der Einheitsfronttaktik seit dem III. Weltkongress durch die KPD. […] Lenin hörte den Darlegungen der beiden Hauptredner sehr aufmerksam zu. Offensichtlich war es ihm leichter, Ernst Meyer zu folgen, der wie gesagt langsam und abgewogen sprach, aber kalt ließ. Bei Ruth Fischers Phrasenkaskaden hatte es Lenin infolge seines Gesundheitszustandes offenbar schwerer zu folgen […]“ 139 Die Kommunistische Internationale durchlief in den ersten zehn Jahren ihrer Existenz einen grundlegenden Transformationsprozess, in dessen Verlauf sie sich „from an idealistic, relatively pluralist body of enthusiastic revolutionarys into a stifingly bureaucratised mouthpice of the sowjet state“ 140 wandelte, so die Autoren einer neueren Studie. Schon früh wurde die in Moskau ansässige Komintern von den Bolschewiki dominiert. „Unter den Parteien der Komintern überragte die russische alle übrigen um ein Vielfaches, sowohl an politischer Erfahrung und geistiger Potenz (man denke an Köpfe wie Lenin und Trotzki) als auch an handfester Macht und materiellen Hilfsquellen“, schreibt Hermann Weber. 139 SAPMO-BArch, SgY30/ 0850 (Erinnerungsmappe Albert Schreiner), Bl. 22 f. 140 Kevin McDermott and Jeremy Agnew: The Comintern. A History of International Communism from Lenin to Stalin, London u.a. 1996, S.-213 f. Delegation der KPD mit russischen Delegierten beim IV. Weltkongress der Komintern, Moskau 1922. 2. Reihe Mitte Ernst Meyer, neben ihm links Ruth Fischer, rechts Karl Radek, hinter ihm Leo Trotzki <?page no="191"?> 191 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern „Vor allem aber galt Sowjetrussland den kommunistischen Parteien als unantastbares Vorbild. Diese Faktoren bedingten es, dass der ideologische, personelle und materielle Einfluss der russischen Kommunisten in der Komintern unaufhaltsam wuchs“. 141 Trotz dieses wachsenden russischen Einflusses unterschied sich die Komintern der frühen 1920er Jahre noch wesentlich von der stalinisierten Internationale der späten 1920er. Im Gegensatz zu den späteren Kongressen waren der III. und IV. Weltkongress (1921 und 1922) noch von offenen, oft auch hitzigen Debatten gekennzeichnet. Die Komintern war in dieser Zeit noch in erster Linie ein Instrument zum Vorantreiben der Weltrevolution und nicht eines zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen der Sowjetunion. Die KPD war daher 1922, so Weber, „noch keineswegs in volle Abhängigkeit von Moskau geraten“. 142 McDermott und Agnew bezeichnen die ersten Jahre der Komintern noch als Phase einer „universilation of Bolshevism“. In deren Verlauf sei aufgrund der Isolation des Sowjetstaats und des Scheiterns der Revolutionen im Westen der Einfluss der Bolschewiki in der Komintern kontinuierlich gestiegen. Nun zentralisierte sich die Internationale zusehends und versuchte, das bolschewistische Parteimodell in andere Länder zu übertragen. „Between 1920 and 1922, an organisational structure emerged that undoubtedly facilitated the subsequent degeneration of the Stalinist Comintern.“ Allerdings betonen die beiden Autoren, dass damit nur die Möglichkeit einer „Russifizierung“ angelegt wurde. Diese interpretieren sie keineswegs als unvermeidliches Ergebnis dieses Prozesses, sondern als Resultat eines komplexen Beziehungsgeflechtes objektiver und subjektiver Faktoren, als deren wichtigste sie das Scheitern der Revolution im Westen und den Sieg Stalins in den russischen Fraktionskämpfen betrachten. Auch sie schreiben, dass sich die Komintern zu Lenins Zeiten durch ein „degree of pluralism and open debate rarely duplicated after his death“ ausgezeichnet habe. 143 Wenn man diese Analyse auf die KPD der Jahre 1921/ 22 bezieht, folgt daraus, dass sie unter Meyers Vorsitz eingeflochten war in eine übergeordnete internationale Struktur, die selbst einem intensiven, aber noch ergebnisoffenen Wandlungsprozess unterworfen war, dessen Hauptmerkmal der wachsende Einfluss der russischen Sektion bildete. Im Folgenden soll daher untersucht werden, wie sich das Verhältnis der KPD zur Komintern in dieser Phase gestaltete. Welche Rolle spielte Meyer selbst und welche Positionen vertrat er gegenüber der Komintern? Leisteten er und die KPD-Zentrale den zu ihrer Zeit aufkommenden Tendenzen, welche die spätere Stalinisierung erleichterten, ungewollt Vorschub oder versuchten sie, ihnen entgegenzuwirken? Oder waren sie ihnen gar nicht bewusst? Es liegt eine kurze Untersuchung Hermann Webers aus dem Jahre 1968 „Zu den Beziehungen zwischen der KPD und der Kommunistischen Internationale“ vor, in der er auch auf das Verhältnis Meyers zur Komintern einging. Der Mannheimer Historiker kam zu dem Ergebnis, dass „noch Ende 1922 Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Komintern-Vorsitzenden Sinowjew und dem KPD-Vorsitzenden Meyer in der Sprache von Partnern geführt“ wurden und Meyer darin als „überlegene[r], aber loyale[r] Partner der russischen Führer“ erschienen sei. 144 Auch diese Thesen sollen im Folgenden kritisch geprüft werden. 141 Weber: Kommunismus, S.-50. 142 Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt(M) 1969, Bd.1, S.-32. 143 McDermott/ Agnew: Comintern, S.-14 f. 144 Weber: Beziehungen, S.-179 u. 181. <?page no="192"?> 192 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Wenn man das Verhältnis von KPD und Komintern in den frühen 1920er Jahren betrachtet, muss beachtet werden, dass die Idee einer straff zentralisierten, den nationalen Sektionen übergeordneten Weltpartei den deutschen Kommunisten nicht von außen aufgezwungen wurde und auch nicht werden musste, sondern ihnen als notwendige Konsequenz aus dem Scheitern der locker organisierten II. Internationale im Ersten Weltkrieg erschien. Meyer schrieb rückblickend: „Es war daher selbstverständlich, dass die Kommunistische Partei Deutschlands der III. Internationale sofort beitrat und sich für die straffste Disziplin erklärte, weil ja gerade die Selbstständigkeit der nationalen Sozialdemokratie in der II. Internationale zum Zusammenbruch dieser Internationale und zum Chauvinismus auch in der Arbeiterbewegung geführt hatte“. 145 Die vom II. Weltkongress im Jahr 1920 angenommenen und von Ernst Meyer mit ausgearbeiteten „21 Bedingungen“ für die Aufnahme in die Komintern legten ein an die Bolschewiki angelehntes Parteimodell als verpflichtend fest. Viele Forscher sehen daher in den „21 Bedingungen“ den Wendepunkt in der Geschichte der Komintern, weg vom „kommunistischen Pluralismus“ der Anfangszeit hin zu russischer Hegemonie und Entdemokratisierung der Komintern. 146 Aber auch dieses Modell musste den Parteien anderer Länder oft keineswegs aufgezwungen werden. Die Mehrheitsströmung der USPD entschied sich aufgrund eigener Erfahrungen mit anderen Parteimodellen in einem breiten demokratischen Diskussionsprozess für den Beitritt zur Kommunistischen Internationale und damit für die Zustimmung zu den 21 Bedingungen - ein deutliches Zeichen für die starke Sympathie, die radikalisierte deutsche Arbeiter für die russische Revolution und die Komintern empfanden, aber auch dafür, wie sehr ihnen eine zentralisierte Weltpartei als notwendig erschien. Mallmann schreibt, beim linken Flügel der USPD habe „die Vorstellung, einem ‚kommandierenden Generalstab der internationalen proletarischen Armee‘ zu unterstehen, [...] mehrheitlich keine Horrorvisionen aus[gelöst], sondern wurde geradezu als Voraussetzung eines Sieges der Weltrevolution begriffen“. 147 Diese weit verbreiteten Stimmungen sowie die negativen Erfahrungen mit einer lose strukturierten Internationale bilden die Rahmenbedingungen, innerhalb derer das Verhältnis von KPD und Komintern analysiert werden muss. Die Frage des Umgangs mit der Komintern war innerhalb der KPD und ihrer Führung keineswegs unumstritten. Vor allem 1921 lieferte sie den Hintergrund heftiger interner Auseinandersetzungen erst mit Paul Levi und der KAG, später auch mit Ernst Friesland. Levi formulierte, ausgehend von der Rolle der Komintern-Emissäre während der Märzaktion, eine grundlegende Kritik an der Exekutive, der er Unfähigkeit, eine falsche politische Ausrichtung und den Versuch zur Gleichschaltung der Internationale vorwarf. 148 Auch für die KAG spielte die Auseinandersetzung mit der KI eine wichtige Rolle. In ihren Leitsätzen vom November 1921 betrafen die ersten drei von insgesamt fünf Forderungen an die KPD deren Verhältnis zur Internationale. Hier wurde unter anderem die „völlige materielle Unabhängigkeit von der Kommunistischen Internationale“, die „Unterstellung 145 Meyer: Kommunismus, S.-153. 146 Diese Ansicht vertreten etwa Richard Löwenthal: Russland und die Bolschewisierung der deutschen Kommunisten, in: Werner Markert: Deutsch-Russische Beziehungen von Bismarck bis zur Gegenwart, Stuttgart 1964, S.-104 ff; Wirsching: Stalinisierung, S.464; in etwas abgeschwächter Form auch McDermott/ Agnew: Comintern, S.-17 ff. 147 Mallmann: Kommunisten, S.-66. 148 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S.-342. <?page no="193"?> 193 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern aller von auswärtigen kommunistischen Organisationen erscheinenden Literatur [...] unter die Mitkontrolle der deutschen Parteileitung“ und die Sicherung „gegen alle offenen oder verdeckten organisatorischen Eingriffe“ des EKKI gefordert. 149 Friesland veröffentlichte derweil einen Aufruf, in dem er das EKKI „der Tendenzenriecherei, der Beschnüffelung, der unkontrollierten Nebeneinflüsse und des unkontrollierten Eingreifens in die Angelegenheiten der deutschen Partei“ bezichtigte. 150 Wie bereits dargestellt wurde er kurze Zeit später erst vom Posten des Generalsekretärs enthoben und dann - wie auch einige seiner Anhänger - aus der Partei ausgeschlossen. Teile der KPD-Führung sahen im Jahr 1921 also durchaus die Gefahren, die mit einer zunehmenden russischen Dominanz in der Komintern, der finanziellen Abhängigkeit der KPD und der Bevormundung durch das EKKI einhergingen. Diese Defizite im gleichberechtigten Miteinander thematisierten sie öffentlich. In der historischen Rückschau erscheinen ihre Warnungen als geradezu prophetisch. Ernst Meyer und mit ihm die Mehrheit der KPD-Führung stellte sich jedoch gegen Levi und dann Friesland. Meyer schien deren Kritik auf eine Liquidation der Komintern hinauszulaufen. Im Dezember 1921 benannte er sein Problem mit der KAG: „Sie ist gegen eine Kommunistische Partei und auch gegen die Kommunistische Internationale“. 151 In der Sitzung des Zentralausschuss im Januar 1922 wiederholte er diese Ansichten. Die Forderungen Frieslands und der KAG liefen auf „den Versuch der Loslösung von der dritten Internationale überhaupt“, zumindest aber auf stärkere Autonomie der nationalen Sektionen hinaus. Demgegenüber, so Meyer, „verlangen wir gerade engere Beziehungen, regeren Gedankenaustausch zwischen dem Exekutivkomitee und unserer Partei“. 152 Entschieden lehnte er es ab, zum Zustand der Zweiten Internationale zurückzukehren. Für Meyer durfte die Notwendigkeit der Komintern als einer zentralisierten Weltpartei nicht in Frage gestellt werden. Die Anerkennung dieser Notwendigkeit steckte den Rahmen für Kritik an der Komintern ab. Unter diesen Voraussetzungen sei sie dann aber auch unbedingt notwendig, „da in vielen Dingen bisher nicht so gearbeitet worden ist, wie es hätte sein müssen“, hieß es in einer Zentrale-Sitzung. 153 Einen Kampf gegen die Exekutive zu führen, wie es die KAG anstrebe, sei allerdings „absolut unannehmbar. Die Exekutive könne wohl Fehler machen, unser Trachten müsse aber dahin gehen, der Exekutive zu helfen, solche Fehler zu vermeiden. Die Schwäche der Komintern besteht darin, dass die ihr angeschlossenen Komm. Parteien schwach sind; nur dann kann die Tätigkeit der Komintern besser werden, wenn die komm. Parteien stark sind. [...] Und nur dann wird die KPD die Komintern stützen und führen können, wenn sie selbst zu einer starken komm. Partei geworden ist“. 154 Diese Aussage verdeutlicht, dass die Meyer-Zentrale die führende Rolle der Bolschewiki in der Komintern nicht als eine unumstößliche, auf ewig angelegte Tatsache ansah, sondern diese führende Rolle durchaus für sich selbst in Anspruch zu nehmen gewillt war, sobald die eigene Partei eine entsprechende Bedeutung erreicht. 149 Die Internationale Jg. 3, H. 17 (01.12.21), S.-616. 150 Zit. nach Angress: Kampfzeit, S.-252. 151 Protokoll der Polbüro-Sitzung 12.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 1, Bl. 69. 152 Protokoll der Tagung des ZA der KPD vom 22. und 23.1.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 12, Bl. 255. 153 Protokoll der Zentrale-Sitzung 26.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 368. 154 Protokoll der Zentrale-Sitzung 7.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 394. <?page no="194"?> 194 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Dem liegt eine Haltung zu Grunde, nach der die einzelnen der Komintern angeschlossenen Parteien gleichberechtigte Organisationen sind und sein müssen. Ebenso wie alle anderen auch habe sich auch die russische Partei den international gefassten Beschlüssen unterzuordnen, betonte Meyer mehrfach. Beispielsweise schrieb er im Februar 1922: „Sodann wird die Sitzung der erweiterten Exekutive festzustellen haben, ob die Politik Sowjetrusslands [...] in ihren weiteren Konsequenzen die Billigung der Kommunistischen Internationale findet. [...] So falsch es ist, die Taktik der Kommunistischen Internationale als ein Werkzeug der auswärtigen Politik Sowjetrusslands zu begreifen, so notwendig und berechtigt ist es, dass umgekehrt die Innen- und Außenpolitik Sowjetrusslands fortgesetzt unter der Kontrolle der gesamten Kommunistischen Internationale steht“. Allerdings schränkte er schon im nächsten Satz ein: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Politik Sowjetrusslands, deren Charakter durch die Verzögerung der Weltrevolution und das Versagen des Proletariats in Mittel- und Westeuropa mitbestimmt wird, auch jetzt auf der erweiterten Exekutivsitzung Verständnis und Zustimmung der kommunistischen Parteien finden wird“. 155 Auch wenn es Meyer zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht um eine Kritik an konkreten Entwicklungen in Russland ging, so wollte er die Option auf solche Kritik offenhalten und indirekt Stellung beziehen gegen eine einseitige Dominanz der Russen in der Komintern, wenn er deren Unterordnung unter die internationalen Beschlüsse anmahnte. Meyer war dieser Punkt offensichtlich wichtig, denn erneut schrieb er im Herbst 1922 in einem Artikel „Zu den Ergebnissen des IV. Weltkongresses“: „Es war selbstverständlich, dass der IV. Weltkongreß von neuem nachprüfte, ob der von Sowjetrussland betriebene Kurs, besonders auf ökonomischem Gebiete, mit den Prinzipien der Internationale vereinbar ist“. 156 In mindestens einem Falle intervenierte Meyer in die internen Angelegenheiten Sowjetrusslands - und konnte sich gegen die russische Parteiführung sogar durchsetzen: Im Sommer 1922 wurde in Moskau ein aufsehenerregender Prozess gegen führende Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei geführt, denen terroristische Aktivitäten gegen den Sowjetstaat vorgeworfen wurden. Anfang August wurden 14 Todesurteile verhängt. Die russische Führung entschied, die Urteile vorerst auszusetzen, die Verurteilten aber als Geiseln zu behalten und im Falle weiterer Anschläge hinzurichten. Meyer, der zu diesem Zeitpunkt in Moskau war, trat gemeinsam mit Clara Zetkin entschieden gegen die Geiselnahme und gegen die Todesurteile auf und verlangte deren Umwandlung in Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. 157 Tatsächlich wurden die Todesurteile auch aufgrund des Drucks von Meyer und Zetkin schließlich in Haftstrafen umgewandelt. Die KAG hatte in ihren Leitsätzen die Frage nach finanzieller Unabhängigkeit der KPD und nach der Kontrolle der KPD über Komintern-Publikationen in Deutschland aufgeworfen. Zudem hatte sie eine deutliche Ablehnung von organisatorischen Eingriffen des EKKI formuliert. Diese Probleme waren den Mitgliedern der Meyer-Zentrale sehr wohl 155 Ernst Meyer: Die Aufgaben der erweiterten Exekutivsitzung, in: Inprekorr, Jg. 2, Nr. 18 (14.2.1922), S.-139. 156 Ernst Meyer: Die Ergebnisse des IV. Weltkongresses, in: Inprekorr, Jg. 2, Nr. 238 (16.12.22), S.-1783 ff. 157 Vgl. Brief Eberlein „An die Zentrale der KPD“, 7.8.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 202, Bd. 2, Bl. 106 ff., hier Bl. 110. <?page no="195"?> 195 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern bewusst, auch wenn sie dies nicht nach außen kommunizierte, um nicht indirekt die Positionen der KAG zu stärken. So beschloss die Zentrale in ihrer Sitzung am 1. Dezember 1921, die Komintern zu veranlassen, „die Herausgabe ihrer Druckschriften in Deutschland genau zu fixieren“. 158 Kurz darauf beantragen Meyer und Friesland im Polbüro gemeinsam, das EKKI aufzufordern, der deutschen Partei ein Mitbestimmungsrecht für alle deutschsprachigen Komintern-Publikationen (mit Ausnahme des offiziellen Organs, der Kongressbeschlüsse oder Manifeste) einzuräumen und deren Veröffentlichung vorher mit der Zentrale abzusprechen. Dieser Antrag wurde mit 2: 6 Stimmen abgelehnt, allerdings erklärten Pieck, Thalheimer, Walcher, Heckert und Zetkin, inhaltlich mit der Resolution übereinzustimmen, den Zeitpunkt aber (wohl wegen der beginnenden Friesland-Krise) für falsch zu halten. 159 Dennoch billigte Radek wenige Wochen später im Namen der Exekutive der deutschen Partei ein Mitspracherecht für alle nichtoffiziellen deutschsprachigen Kominternpublikationen zu. Über die Interventionen des EKKI in die deutsche Partei (vor allem durch Offene Briefe zu den Zentralausschuss-Sitzungen) kam es immer wieder zu Spannungen zwischen Berlin und Moskau. Einem Brief der Moskauer KPD-Delegierten Pieck und Heckert vom September 1921 ist zu entnehmen, dass die KPD-Zentrale die Exekutive aufforderte, dass sie „künftig weniger mit Aufrufen, sondern mehr mit instruktiven Anweisungen an die Sektionen arbeiten solle und auch in den Aufrufen gegen außerhalb der KI stehende Körperschaften mehr sachliche Kritik denn ‚Beschimpfungen‘“ üben möge. Ebenso solle die Exekutive nicht gleich mit offiziellen Erklärungen in die internen Auseinandersetzungen der KPD eingreifen, zumal sie auch mit ihrem Brief an den Jenaer Parteitag „keine glückliche Hand gehabt habe“. 160 Gleichwohl scheinen aber die Auswirkungen solcher Aufforderungen begrenzt gewesen zu sein. Angress schreibt, das EKKI habe „sich über die deutschen Wünsche hinweg“ gesetzt. 161 Eine andere Quelle von Konflikten zwischen KPD-Zentrale und EKKI waren die Veröffentlichungen von Komintern-Aufrufen in Deutschland. Im Dezember 1921 bezeichnete es Sinowjew als einen „ganz unhaltbare(n) und unmögliche(n) Zustand“, dass ein Aufruf der Exekutive zur polnischen Frage von der deutschen Partei nicht nur nicht veröffentlicht wurde, sondern auf Beschluss des Polbüros hin nicht einmal der Zentrale vorgelegt worden war. 162 Dieser Zustand hielt aber an: So beschloss die Zentrale am 26. Juni 1922, einen Aufruf der Exekutive zum Jahrestag des Versailler Friedens nicht zu publizieren, da „die Veröffentlichung nicht in die jetzige Situation“ passe. 163 Weitere Beispiele dieser Art ließen sich aufführen. Etwas anders gelagert war die Frage nach der finanziellen Unabhängigkeit der KPD. Bereits der Jenaer Parteitag hatte beschlossen, dass die Partei es anstreben müsse, künftig finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, was vom EKKI begrüßt wurde. 164 Meyer hielt 158 Protokoll der Zentrale-Sitzung 1.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 350. Der Antrag war von Friesland gestellt worden. 159 Protokoll der Polbüro-Sitzung 12.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 1, Bl. 68 f. 160 Brief Heckert/ Pieck „An die Zentrale der KPD“ vom 21.9.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 201, Bl. -105. 161 Angress: Kampfzeit, S.-245 f. 162 Brief Remmele „An die Zentrale der KPD“, 31.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 201, Bl. 354. 163 Protokoll der Zentrale-Sitzung 26.6.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 242. 164 Vgl. Brief Pieck/ Heckert „An die Zentrale der KPD“ vom 21.9.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I <?page no="196"?> 196 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) die finanzielle Unabhängigkeit für erstrebenswert, weil sie einen Ausdruck einer gesunden Partei darstellte. 165 Anders als etwa Friesland befürchtete er aber nicht, dass aus der finanziellen eine politische oder ideologische Abhängigkeit erwachsen könnte. Im Gegenteil: Er verteidigte die bisherige Abhängigkeit von Moskau als eine Abhängigkeit von der revolutionären Tradition der Bolschewiki - unabhängig aller finanziellen Zuwendungen: „Die geistige Abhängigkeit muss bestehen und würde bestehen, auch wenn wir keinen Pfennig Geld bekommen hätten. Sie besteht, weil in Russland eine Kommunistische Partei ist, die über zwanzigjährige Erfahrungen verfügt, während die deutsche Kommunistische Partei erst zwei Jahre besteht“. 166 Dennoch kam es auch zwischen Meyer und dem EKKI zu Differenzen. Auf einer Sitzung der Zentrale führte er aus, „dass er sich gewandt habe gegen die scharfe Kampagne über die polnische Lage, die von der Exekutive verlangt worden war. [...] Er verurteilte auch die zu vielen Artikel Radeks und hat sich dagegen gewandt, dass der letzte Artikel vor dem Zentralausschuss erscheinen sollte“. Darin „sei er einen Schritt mit dem Genossen Friesland mitgegangen“. 167 Umgekehrt wurde Meyers Haltung zur Einheitsfrontpolitik und zur Arbeiterregierung um die Jahreswende 1921/ 22 in Moskau heftig kritisiert: Er würde die Einheitsfrontpolitik vor allem als „die Herstellung guter diplomatischer Beziehungen zwischen den Parteien auffassen“ und zu wenig Gewicht darauf legen, die anderen Arbeiterparteien „als konterrevolutionär zu entlarven“. Außerdem würde Meyer die Frage der Arbeiterregierung „als eine rein parlamentarische Frage“ betrachten. Dies beweise, „dass er das Wesen des Einheitsfrontgedankens vollkommen verkenne und er einem üblen Opportunismus verfallen ist“. Gleichzeitig lobten die Russen die grundsätzliche Politik der deutschen Partei in den betreffenden Fragen ausdrücklich. 168 Wegen Meyers „Differenzen“ und „Unklarheiten“ gegenüber der Komintern sprach sich Pieck dafür aus, dass Meyer zur Sitzung der Erweiterten Exekutive im Frühjahr 1922 nach Moskau fahren solle, um diese Differenzen persönlich regeln zu können. 169 Auch wenn Meyer konkrete Maßnahmen der Exekutive kritisierte, stellte er zu keinem Zeitpunkt die Existenz der Komintern als zentralisierte Weltpartei in Frage. Koch-Baumgarten ist zuzustimmen, wenn sie argumentiert: „Trotz aller Kritik und Unzufriedenheit mit der KI gab es nur in den seltensten Fällen eine wirkliche Konfliktbereitschaft in der KPD, die aber die Voraussetzung gewesen wäre, um die Hegemonialbestrebungen der Bolschewiki in der KI zurückzuweisen“. 170 Dieser Mangel an wirklicher Konfliktbereitschaft resultierte aus den Niederlagen und Misserfolgen der deutschen Partei seit ihrer Gründung (Kämpfe um die Räterepubliken 1919, anfängliche Abstinenz beim Kapp-Putsch 2/ 3/ 201, Bl. 104. 165 Protokoll der Tagung des ZA der KPD, 22./ 23.1.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 12, Bl. 254 f. 166 Protokoll der Polbüro-Sitzung 12.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 1, Bl. 69. 167 Protokoll der Zentrale-Sitzung 14.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 419. 168 Brief Remmele „An die Zentrale der KPD“ vom 28.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 201, Bl.-335-f. 169 Protokoll der Zentrale-Sitzung 25.1.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 42 f. Piecks Vorschlag wurde abgelehnt und Meyer auf eigenen Wunsch nicht nach Moskau delegiert. Meyer meinte, gerade nach dem ZA sei es wichtig, alle Kräfte in Deutschland zu verwenden und seine Arbeit im Polbüro lasse seine Abwesenheit nicht zu. 170 Koch-Baumgarten: Einleitung, S.-34. <?page no="197"?> 197 6.6 Auf Augenhöhe mit Moskau? Meyer, KPD und Komintern 1920, verheerende Überkompensation dieser Abstinenz durch die Märzaktion 1921) und der damit verbundenen Unsicherheit über die Effizienz ihrer eigenen Konzeptionen, die das Selbstbewusstsein der deutschen Parteileitung im Auftreten gegenüber den siegreichen Führern der russischen Revolution senken musste. Die Erfolge bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik in Deutschland hoben das Selbstbewusstsein nun aber wieder an. Sehr wohl war sich die KPD darüber bewusst, dass sie mit dem „Offenen Brief“ im Januar 1921 die Einheitsfronttaktik gleichsam „entdeckt“ hatte. Und es war der Jenaer Parteitag, der den Terminus „Einheitsfront“ überhaupt erst offiziell einführte (die Komintern folgte der KPD erst nach der Sitzung der erweiterten Exekutive im Dezember 1921). So führte Meyer im Mai 1922 stolz aus: „Auf der Sitzung der erweiterten Exekutive im Frühjahr [...] wurde ein Beschluss gefasst, der sich wesentlich schon auf die Erfahrungen der deutschen Komm. Partei in der Sammlung von Massen stützen konnte“. 171 War die KPD auf dem III. Weltkongress noch das Sorgenkind der Komintern gewesen, so wusste Eberlein im Juni 1922 aus Moskau zu berichten, die KPD gelte beim EKKI nun als „Musterpartei und in allen Debatten werden wir als gutes Beispiel den anderen vorgeführt. Nach den jahrelangen Prügeln, die wir bekommen haben, ist das für uns eine ungewohnte Situation“. 172 Auf dem IV. Weltkongress der Komintern im Herbst 1922 bezeichnete Sinowjew die KPD als „eine der gefestigtsten und bestorganisierten [...] und [...] politisch klarsten Parteien“ der gesamten Internationale. 173 Dieses aus den eigenen Erfolgen erwachsene Selbstbewusstsein ist auch bei Ernst Meyer zu spüren, wie verschiedene Beispiele veranschaulichen. Lenin hatte im April 1922 einen Artikel mit dem Titel „Wir haben zu teuer bezahlt“ veröffentlicht. Darin hatte er das Auftreten der Komintern-Delegierten auf einer Konferenz der drei Internationalen in Berlin scharf kritisiert. 174 Dem widersprach Meyer explizit und brachte seine Zustimmung zur Arbeit der Delegation zum Ausdruck: „[Wir] glauben [...] nicht, dass die Beschlüsse der Berliner Konferenz zu teuer bezahlt sind“. Die gemachten Zugeständnisse seien notwendig gewesen. 175 Diese Haltung unterstützte der Zentralausschuss mit großer Mehrheit, woraufhin Meyer sie in zwei Artikeln für die kommunistische Presse gegenüber der Öffentlichkeit vertrat. 176 Noch entschiedener als gegen Lenin trat Meyer gegenüber dem Komintern-Vorsitzenden Sinowjew auf - etwa beim IV. Weltkongress der Komintern, wo er sich in der Diskussion über Arbeiterregierungen durchsetzen konnte. Derweil warf er dem Kominternvorsitzenden während des 8. Parteitags der KPD vor, die Situation in Deutschland nach dem Mord an Rathenau überschätzt zu haben. 177 Diese oft kritische und unabhängige Haltung gegenüber der Komintern führte allerdings 171 Protokoll der Tagung des ZA der KPD, 14./ 15.5.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 13, Bl. 10. 172 „Bericht Nr. 16 an die Zentrale der KPD“ von Eberlein, 10.6.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 201, Bd.1, Bl. 243. 173 Protokoll IV. Weltkongress, S.-34. 174 Vgl. Lenin: Wir haben zu teuer bezahlt, in: Inprekorr Jg. 2, Nr. 55 (27.4.1922), S.-438. Zu dieser Konferenz und ihrer Bedeutung für die Einheitsfrontpolitik siehe Wilde: Meyer (online Dissertation), S.-265- 268. 175 Protokoll der Tagung des ZA der KPD, 14./ 15.5.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 13, Bl.10-13, Zitat Bl. 13. 176 Vgl. Ernst Meyer: Der Zentralausschuss der KPD zur Einheitsfront, in: Inprekorr Jg. 2, Nr. 68 (16.5.1922), S.528f und Ernst Meyer: Die Arbeiten des ZA der KPD, in: Die Internationale Jg. 4, H. 22 (21.5.1922), S.-493-496, hier S.-493 ff. 177 Bericht 8. Parteitag, S.-211. <?page no="198"?> 198 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) auch dazu, dass Teile des Kominternapparates auf Meyers Ablösung durch den für sie leichter zu handhabenden Brandler drängten. Letztendlich sollte dies wesentlich zu seinem Sturz beitragen. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Meyer und die deutsche Parteiführung trugen aktiv die „Universalisation of Bolshewism“ mit, die zu dieser Zeit die Komintern prägte. Eine zentralisierte Weltpartei erschien ihnen als notwendige und erstrebenswerte Konsequenz der eigenen Erfahrungen. So wie sie aber für die KPD innere Demokratie und Diskussionsfreiheit verteidigten, forderten sie auch für die Komintern die Möglichkeit von Kritik ein. Das für die erfolgreiche Verteidigung ihrer Vorstellungen notwendige Maß an Konfliktbereitschaft gegenüber der russischen und der Komintern-Führung war aufgrund der Fehler und Schwächen der vergangenen Jahren nicht immer vorhanden, nahm aber vor dem Hintergrund eigener Erfolge in der Einheitsfrontpolitik 1922 zu - gerade bei Meyer, der die Komintern-Führung mutig kritisierte und die russische Partei zur Unterordnung unter internationale Beschlüsse aufforderte. Webers These, diese Meinungsverschiedenheiten seien „in der Sprache von Partnern geführt worden“ und Meyer erscheine dabei als „überlegene(r), aber loyale(r) Partner der russischen Führer“, 178 ist zuzustimmen. Die in diesen Jahren aufkommenden negativen Tendenzen in der Komintern, die die spätere Stalinisierung erleichterten, wurden von Meyer und der deutschen Führung jedoch nicht als solche erkannt. Ihr Widerstand galt einzelnen Erscheinungen, nicht jedoch der Entwicklung als solcher. Allerdings waren deren Konsequenzen auch noch nicht abzusehen, die Entwicklung der Komintern und des Weltkommunismus war in den Jahren 1921/ 22 noch offen. Der KPD-Vorsitzende Meyer kann daher auch in seiner Haltung zur Komintern keineswegs als Wegbereiter der Stalinisierung bezeichnet werden. Vielmehr war er Vertreter eines authentischen revolutionären Kommunismus, dem eine zentralisierte Weltpartei ebenso als Notwendigkeit erschien wie ein an die Erfahrungen der Bolschewiki angelehntes Parteimodell. 6.7 Erfolgreiche Konsolidierung der Partei Unter Meyers Leitung gelang es der KPD, sich allmählich von den schweren Rückschlägen nach der Märzaktion zu erholen. Sie konnte sich konsolidieren, ihren Einfluss ausweiten und neue Genossen gewinnen. Hatte die Mitgliederzahl im September 1921 noch bei 180.443 gelegen, war sie ein Jahr später um fast 44.000 auf 224.389 Mitglieder angestiegen. Diese Zunahme, so vermerkt der Bericht des 8. Parteitages vom Januar 1923, „spiegelt freilich in keiner Weise den gestiegenen Einfluss wieder, den die KPD durch ihre Arbeit bei den Arbeitermassen im Laufe der Berichtszeit erlangt hat“, zumal die Gewinnung neuer Mitglieder durch die (inflationsbedingte) fortwährende Erhöhung der Beiträge erschwert worden sei, die deutlich höher als etwa bei der SPD lagen. Einen weiteren Grund für das dem realen Anstieg des kommunistischen Einflusses nicht entsprechende Wachstum der Mitgliederzahlen führte Meyer in seinem Referat auf dem Parteitag an: In vielen KPD- Gliederungen gäbe es eine gewisse Furcht, dass die Aufnahme neuer Mitglieder zu einer 178 Weber: Beziehungen, S.-179 u. 181. <?page no="199"?> 199 6.7 Erfolgreiche Konsolidierung der Partei ideologischen Verwässerung der Partei führen könnte. Demgegenüber sprach sich Meyer für eine weitere Öffnung der Partei, gepaart mit einer verstärkten Bildungs- und Schulungsarbeit aus. Insgesamt wertete aber auch er die organisatorische Entwicklung als erfolgreich, vor allem aufgrund der Einheitsfronttaktik, die der Partei „von Monat zu Monat größere Erfolge“ gebracht habe. 179 Beispielsweise führte die insgesamt erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik zu einem messbaren Anstieg des kommunistischen Einflusses in den Gewerkschaften. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Eisenbahnergewerkschaft in der Zeit nach dem Eisenbahnerstreik verdeutlichen. Im Jahr 1922 übernahmen die Kommunisten die Führung des DEV in Berlin und Leipzig und stellten auf dessen Gewerkschaftstag ein Fünftel der Delegierten. Zudem übernahmen sie die Führung der Bauarbeitergewerkschaft in Berlin und Düsseldorf und der Metallarbeitergewerkschaft in Stuttgart. Beim ADGB-Kongress im Juni 1922 war jeder achte Delegierte ein Kommunist, ebenso auf dem Gewerkschaftstag der kommunalen Arbeiter. Beim Gewerkschaftstag der Transportarbeitergewerkschaft stellte die KPD immerhin ein Zehntel der Delegierten. Zum 8. Parteitag gab die Partei an, in den gewerkschaftlichen Bezirken über insgesamt 997 Fraktionen zu verfügen und in 60 Ortsausschüssen des ADGB eine Mehrheit zu haben. Den Delegiertenwahlen zu Gewerkschaftstagen kommt nur eine bedingte Aussagekraft über den realen Einfluss der Kommunisten in den Gewerkschaften zu, weil zum einen das Wahlreglement in verschiedenen Verbänden die Kommunisten benachteiligte, zum anderen die Kommunisten in der Regel stärker sein mussten als die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen, um ihre Delegierten durchzubringen. Der reale Einfluss der KPD in den Gewerkschaften dürfte also noch stärker gewesen sein, als es in den oben angeführten Zahlen zum Ausdruck kommt. Offensichtlich konnte die Einheitsfrontpolitik die Erwartung erfüllen, zur Steigerung des kommunistischen Einflusses in der organisierten Arbeiterschaft beizutragen. Die KPD konnte auch bei verschiedenen Betriebsratswahlen Stimmen gewinnen und stellte in einigen Großbetrieben die Mehrheit im Betriebsrat. Auch bei den in dieser Zeit stattfindenden Parlamentswahlen konnten die Kommunisten einige Erfolge verbuchen und erhielten „fast durchweg einen beträchtlichen Zuwachs an Stimmen“. 180 Anfang 1923 regierten die Kommunisten in über 80 Gemeinden allein, in weiteren 170 waren sie stärkste Partei, in vielen hundert Gemeinden hatten sie zusammen mit der SPD eine absolute Mehrheit. Über 6.000 Kommunisten waren in Gemeindevertretungen und -verwaltungen tätig. Dementsprechend expandierte auch der Apparat der Partei: So verfügte die KPD nun über 34 (oft regionale) Tageszeitungen und sieben Zeitschriften. Darüber hinaus entstanden im Jahr 1922 Frauen-, Jugend- und Kinderabteilungen der Partei, Arbeitsgruppen für Bauern und Landarbeiter und Rechtsberatungen für politisch Verfolgte. Die KPD eröffnete Parteischulen und veröffentlichte verstärkt Literatur. Unter Leitung Meyers, dessen Stärke laut Angress vor allem darin lag, „mit seiner ruhigen, aber bestimmten Art in der Partei ausgleichend zu wirken“, kam es zu keiner großen Abspaltung. Im Zuge der „Friesland-Krise“ verließen zwar einige Funktionäre die KPD, aber insgesamt nur eine relativ kleine Anzahl von Mitgliedern. Eine Eskalation des Konfliktes mit der linken Opposition konnte Meyer vermeiden und, so Angress weiter, „bis zu 179 Bericht 8. Parteitag, S.-63 u. 204. 180 Ebenda, S.-39. <?page no="200"?> 200 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) einem gewissen Grad die ideologische Einheitlichkeit der KPD wiederherstellen“. 181 Im Vergleich zu den heftigen, von massiven Abspaltungen begleiteten internen Auseinandersetzungen in den ersten zweieinhalb Jahren ihrer Geschichte kam die Partei unter Meyer geradezu zur Ruhe. Auch das damalige KPD-Mitglied Karl Retzlaw resümiert in seinen Erinnerungen: „Obwohl das Jahr 1922 ein Jahr der schwersten innen- und außenpolitischen Spannungen war, hatte die KPD unter der Führung von Ernst Meyer das relativ ruhigste Jahr der bisherigen Parteigeschichte“. 182 Auch in der Literatur wird 1922 als ein Jahr erfolgreicher Konsolidierung bewertet. Hermann Weber schreibt: „Unter Führung Ernst Meyers gewann die Partei 1922 wieder erheblichen Einfluss“. 183 Derweil weist Chris Harman darauf hin, dass im Verlauf des Jahres „die schlimmsten Wunden“ heilten, „die aus der Märzaktion und dem Verlust so vieler führender Persönlichkeiten herrührten“. Es könne „kaum Zweifel daran geben, dass diese [Einheitsfront-]Politik die Partei, nachdem sie 1921 beinahe zerstört gewesen war, 1922 wieder aufgebaut hatte“. 184 Ähnlich liest sich das Urteil von Angress: „Ende 1922 hatte die KPD in vieler Hinsicht den Rückschlag wettgemacht, den sie während der Märzaktion erlitten hatte“. 185 Auch Ossip K. Flechtheim betont, dass die Einheitsfrontpolitik „alles andere als einen reinen Mißerfolg darstellte“. 186 Meyer erscheint als eine integrere, den Zielen eines emanzipatorischen Kommunismus verpflichtete und der Partei als entscheidendem Mittel zur Erlangung dieser Ziele ergebene Persönlichkeit. In keiner Weise missbrauchte er die Partei zur eigenen Selbstdarstellung. Ebenso wenig gab es irgendeine Art von Führungskult um ihn. Diese Zurücknahme seiner Person und der kollektive Führungsstil der KPD in dieser Zeit erschwert es dem Historiker allerdings auch, Meyers Rolle als politische Führungsfigur exakt herauszuarbeiten. Auch wenn aufgrund dieser Zurückhaltung und der generell stiefmütterlichen Behandlung Meyers in der Geschichtsschreibung diese Erfolge oft nicht mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden und sie auch nicht nur auf seine Verdienste zurückzuführen sind, so sind sie doch von seiner Person auch nicht zu trennen. Für die Bewertung eines Parteivorsitzenden ist die organisatorische Entwicklung der Partei ein wichtiger Indikator - und unter diesem Gesichtspunkt muss Meyers Rolle für die KPD als sehr positiv bewertet werden. Unter seiner Leitung konsolidierte sich die KPD nach ihren turbulenten Anfangsjahren als Massenpartei, die sie bis zum Ende der Weimarer Republik bleiben sollte, entwickelte eine entsprechende Identität und politische Praxis. Entsprechend fiel auch Sinowjews Lob für die KPD auf dem IV. Weltkongress aus: „Niemand wird bestreiten, daß unsere deutsche Bruderpartei ihren Einfluss ganz wesentlich verstärkt hat“. Sie habe „einen riesigen Schritt vorwärts getan. Wenn nicht alle Merkmale trügen, führt der Weg der proletarischen Revolution von Russland durch Deutschland“. 187 Tatsächlich sollte sich die KPD im Oktober 1923 noch einmal in der Lage sehen, ernsthaft den Griff zur Macht ins Auge zu fassen. 181 Angress: Kampfzeit, S.-241. 182 Retzlaw: Spartacus, S.-222. 183 Weber: Einleitung zu Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-9. 184 Harman: Revolution, S.-293 u. 297. 185 Angress: Kampfzeit, S.-286. 186 Flechtheim: KPD, S.-167. 187 Protokoll IV. Weltkongress, S.-36 f. <?page no="201"?> 201 6.8 Der Sturz Meyers 6.8 Der Sturz Meyers Trotz aller Erfolge, welche die KPD unter seiner Leitung zu verzeichnen hatte, wurde Ernst Meyer irgendwann zwischen dem Spätsommer 1922 und dem Leipziger Parteitag (28. Januar bis 1. Februar 1923) von Heinrich Brandler an der Spitze der KPD abgelöst, dem durch die Amnestie nach dem Rathenau-Mord die Rückkehr aus seinem Moskauer Exil ermöglicht wurde. Meyer selbst ging Anfang September nach Moskau, um dort als Vertreter der KPD beim EKKI tätig zu sein und am IV. Weltkongress der Komintern teilzunehmen. Erst im Dezember 1922 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er erneut führend in der Zentrale mitarbeitete. Auf dem Leipziger Parteitag wurde er jedoch nicht wieder in die Zentrale gewählt. Die genauen Hintergründe dieser Vorgänge liegen im Dunkeln, die Angaben in der Literatur hierzu sind teilweise widersprüchlich, vor allem die Datierung der Entmachtung Meyers ist umstritten und unklar. Während ein Teil der Literatur 188 sie mit der Rückkehr Brandlers im August 1922 ansiedelt, geht ein anderer Teil 189 von einer Entmachtung Meyers erst zum Leipziger Parteitag aus. Zu diesen widersprüchlichen Angaben dürfte beigetragen haben, dass die KPD seit dem Jenaer Parteitag nur einen faktischen, nicht aber einen formalen Vorsitz kannte. Brandlers Wahl zum Sekretär des Polbüros am 9. August 1922 machte ihn jedenfalls noch nicht automatisch zur „neuen Nummer eins in der Parteihierarchie“, keineswegs hatte er damit zwangsläufig den „Status des Parteivorsitzenden“, wie Jens Becker behauptet. 190 Brandlers Biographen muss in dieser Frage widersprochen werden: Sekretär des Polbüros und Vorsitzender des Polbüros waren zwei verschiedene Ämter. 191 Das Verhältnis zwischen dem Chemnitzer Arbeiterführer Brandler und dem Königsberger Intellektuellen Meyer war sicherlich gespannt, vor allem da Meyer seinen Vorgänger als Parteivorsitzenden auf dem 7. Parteitag wegen dessen Prozessführung öffentlich desa- 188 Vgl. Angress: Kampfzeit, S.- 137, Anm. 52, S.- 241 u. 310; Reisberg: Quellen, S.- 556; Utz: Einheitsfrontpolitik, S.-81; Weber: Kommunismus S.-90; Weber: Beziehungen, S.-181; Becker: Brandler, S.-171. Angress schreibt, Meyer sei von Brandler nach dessen Rückkehr aus Moskau im August 1922 mit Unterstützung der Komintern „ausgeschaltet“ worden. Bei Reisberg heißt es lapidar, Brandler habe an Stelle Meyers die Führung der Partei übernommen, ohne weiter auf die Hintergründe einzugehen. Utz meint hingegen, Meyer sei nach Moskau „abgeschoben“ worden. 189 Vgl. Winkler: Revolution, S.- 548 f; das Kapitel „Ernst Meyers Entmachtung 1922“ in: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-54-63. Vgl. auch Fischer: Stalin, S.-274 f. 190 Becker: Brandler, S.- 171 u. 183. Becker widerspricht sich übrigens selbst, wenn er auf S.- 171 schreibt, Brandler sei am 9.8.22 zum Sekretär des Polbüros gewählt worden, auf S.- 183 aber schreibt, er sei 1. Sekretär der Zentrale geworden. Zutreffend ist ersteres, vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 317 und SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2, Bl. 134. 191 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 304. Brandler löste Käthe Pohl als Sekretärin des Polbüros ab; in der Literatur ist bisher niemand auf die Idee gekommen, sie wegen dieses Amtes (das sie seit dem Jenaer Parteitag bekleidete) als faktische Parteivorsitzende zu bezeichnen. Siehe SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2, Bl. 129 zur Ablösung Pohls durch Brandler (auf Vorschlag Meyers). Ähnlich irrt auch Harald Jentsch, wenn er über die Rathenau-Kampagne schreibt: „Der etwas glücklos und unsicher wirkende Meyer verlor offenbar infolge der Aktion den Parteivorsitz, den der aus Moskau zurückgekehrte, erfahrenere Brandler auf der Sitzung der Zentrale der KPD am 9. August 1922 übernahm.“ In: Jentsch, Harald: Die KPD und der „Deutsche Oktober“ 1923, Rostock 2005, S.-81. Zu fragen wäre auch, weshalb Brandler erfahrener als Meyer, einem langjährigen Führungsmitglied erst der Spartakusgruppe und dann der KPD, gewesen sein soll. <?page no="202"?> 202 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) vouiert hatte. 192 Rosa Meyer-Leviné bezeichnet Brandler als „Ernsts erbittertster Rivale“. 193 Allerdings war es Meyer selbst, der auf der Sitzung des Polbüros am 24. Juli 1922 den Vorschlag gemacht hatte, Brandler zum Sekretär des Polbüros zu ernennen. 194 Gegen die (etwa von Utz vertretene) Annahme, Meyer sei nach Moskau zum EKKI abgeschoben oder weggelobt worden, spricht, dass Meyer selbst vorgeschlagen hatte, an Stelle Böttchers (der als Kandidat für die Wahlen zum sächsischen Landtag in Deutschland bleiben sollte) als Vertreter der KPD beim EKKI in die sowjetische Hauptstadt zu gehen. 195 Seit seiner Rückkehr aus Moskau im August 1922 scheint Brandler aber tatsächlich „als Sekretär des Polbüros weitgehend die Parteidirektiven bestimmt“ und die Führung der KPD übernommen zu haben. 196 Hierauf deutet auch hin, dass er während Meyers Aufenthalt in Moskau im Polbüro regelmäßig den Bericht zur politischen Lage und in der Zentrale den Bericht des Polbüros hielt - Aufgaben, die Meyer zuvor immer übernommen hatte, nach seiner Rückkehr aus Moskau im Dezember 1922 allerdings auch erneut übernahm. 197 Dieses deutet wiederum darauf hin, dass Brandler gleichsam Stellvertreter Meyers während dessen Abwesenheit war, womit die endgültige Entmachtung Meyers auf den Leipziger Parteitag und nicht bereits auf den August 1922 datiert werden müsste, zumal auch seine Frau schreibt, Meyer sei bis zum Leipziger Parteitag offiziell Vorsitzender des Polbüros gewesen. 198 Allerdings scheint Brandler bereits seit dem August 1922 entscheidenden Einfluss auf die Politik der KPD genommen zu haben, auch wenn er formal erst nach dem Leipziger Parteitag an der Spitze der Partei stand. Pieck formulierte 1923 in Bezug auf die Lage in der Führung der KPD 1922: Die Opposition um Fischer und Maslow habe „die Zeit bis zum Leipziger Parteitag zu starken fraktionellen Vorstößen gegen das ZK [benutzt], dessen leitender Kopf Ernst Meyer [war] und dessen politischer Sekretär Brandler wurde, als er im Herbst 1922 nach Deutschland zurückkehrte.“ 199 192 Vgl. Bericht 7. Parteitag, S.- 222. Hierzu auch Becker: Brandler, S.- 141 f. Brandler wurde im Sommer 1921 wegen seiner Rolle in der Märzaktion des Hochverrates angeklagt. Meyer warf Brandler auf dem 7.Parteitag vor, vor Gericht eine zu defensive Haltung eingenommen und Positionen vertreten zu haben, die „nicht der Auffassung der Kommunistischen Partei entsprechen“. Becker sieht hierin den „eigentlichen Grund für ihr späteres Zerwürfnis“. Nach Brandlers Flucht nach Moskau im Spätsommer 1921 verweigerte die Zentrale ihm wegen seiner Prozessführung bis in den April 1922 die offizielle Anerkennung als Vertreter der KPD beim EKKI. Siehe hierzu Becker: Brandler, S.143-148. Siehe außerdem Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 21.12.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 13, Bl. 449. 193 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.40. Auch Utz bezeichnet Meyer und Brandler als Rivalen (vgl. Utz: Einheitsfrontpolitik, S.77), während Becker diese Behauptung hinterfragt, vgl. Becker: Brandler, S.171. 194 SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2, Bl. 129. 195 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 322. 196 Angress: Kampfzeit, S.-310. Siehe auch Weber/ Herbst: Kommunisten, S.-140 sowie den Brief Brandlers an „Lieber Bruno“, Moskau, 13.11.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 67, Bl. 19 f. Darin bezeichnet es Brandler als schweren Fehler, dass er sich dem Beschluss der Zentrale, die Leitung des Polbüros zu übernehmen, fügte, anstatt nach seiner Rückkehr aus Moskau zunächst an der Basis der Partei tätig zu sein, woraus seine Fehleinschätzung des linken Flügels mitresultierte. 197 Zu den Zentrale-Sitzungen Ende 1922 vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 14, Bl. 444-ff., 450-ff., 464-ff.; zu den Polbürositzungen SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 2, Bl. 237-ff. Zu den Zentrale-Sitzungen Anfang 1923 vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 15, Bl. 1-28; zu den Polbüro-Sitzungen SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 3, Bl. 1-24. 198 Vgl. Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-44 u. 60. 199 W[ilhelm] Pieck: Die Partei- und Führungskrisen in der KPD, in: Kommunistische Internationale, Jg. 6, H. 11 (Nov. 1925), S.-1196-1206. <?page no="203"?> 203 6.8 Der Sturz Meyers Übereinstimmend argumentieren Winkler, Meyer-Leviné und Becker, Meyer sei über seine Haltung in der Rathenau-Kampagne gestürzt - und wegen des Drucks, den die Kominternführung anschließend ausübte. So schreibt Winkler: „Seit der ‚Rathenaukrise‘ vom Sommer 1922 verhielt sich das EKKI der ‚Meyer-Zentrale‘ gegenüber nicht viel anders als eineinhalb Jahre zuvor gegenüber der ‚Levi-Zentrale‘. Die deutsche Parteileitung wurde als zu ‚rechts‘ angesehen, weil sie sich nach dem Geschmack Radeks und vor allem Sinowjews zu vorbehaltlos auf jene ‚Einheitsfront von oben‘ eingelassen hatte [...] Gegen Ernst Meyer wurde Heinrich Brandler als Nachfolger ins Spiel gebracht: Der frühere Parteiführer [...] schien den maßgebenden Kräften in der Exekutive ein gefügigerer und darum besser geeigneter Vorsitzender der KPD zu sein als der derzeitige Leiter der Zentrale. Bis zum Leipziger Parteitag waren die Vorbereitungen für den Machtwechsel so weit gediehen, dass der Kandidat der Komintern sein Amt antreten konnte“. 200 Auch Meyer-Leviné schreibt: „Ernsts Schicksal als Führer der Partei wurde in Moskau entschieden“. 201 Sie deutet an, welche Gründe hinter der Haltung der Kominternführung gestanden haben könnten: Politische Differenzen zwischen Meyer und Sinowjew über die Einheitsfrontpolitik und speziell über die Frage der Arbeiterregierung - und generell das Gefühl, Brandler leichter handhaben zu können als Meyer. Ähnlich urteilt Winkler: Brandler sei „in höherem Maß als sein Vorgänger Ernst Meyer ein Mann der Komintern“ gewesen. 202 Auch die Briefe seiner linken 200 Winkler: Revolution, S.-548 f. 201 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-58. 202 Winkler: Revolution, S.-563. Sitzung des Zentralausschusses der KPD im Festsaal des preußischen Abgeordnetenhauses, Berlin, Dezember 1922 <?page no="204"?> 204 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) Gegenspieler aus Deutschland nach Moskau während der Rathenaukampagne dürften zur seiner Diskreditierung beigetragen haben. 203 Neu zugängliche Dokumente belegen allerdings, dass Meyer auch mächtige Unterstützer in Moskau hatte. In einem Brief Lenins an Trotzki klingt Lenins Verärgerung darüber an, das Sinowjew und dessen Leute Meyer aus der Parteiführung „herauskegeln“ wollen und deswegen gegen den Ausschluss der - von Lenin in Anführungszeichen gesetzten - „Linken“ aus der Führung anschreien würden. Lenin schlug vor, einen Vertreter der Linken in die Zenrale aufzunehmen, und auf dem nächsten KPD-Parteitag gleichzeitig einen Beschluss „gegen Fraktionen und Stänkereien“ zu verabschieden. 204 Die Auseinandersetzungen um seine Zukunft an der Parteispitze gingen auch nach Meyers Rückkehr aus Moskau weiter. Rosa Meyer-Leviné schreibt, Brandler habe versucht, im Vorfeld des Leipziger Parteitages eine erneute Nominierung Meyers für die Zentrale zu verhindern. 205 Ihm sei dabei entgegengekommen, dass Meyer selbst wenig Wert auf Posten, Funktionen und persönliche Anerkennung legte: „Ohne Schwierigkeiten konnte Brandler seinen persönlichen Ehrgeiz befriedigen und den großen Führer spielen - hauptsächlich, weil Ernst Meyer Rang und Würden gleichgültig waren. […] Ernst hat nie um Anerkennung gebuhlt. Das war ihm nicht nur wesensfremd, sondern wäre auch unvereinbar gewesen mit seiner Vorstellung von der Partei als der großen Gebenden, der er, der Nutznießer, tief verpflichtet war.“ 206 Vor dem Parteitag war Meyer guten Mutes und optimistisch: Die Gefahr eines faschistischen Putsches in Deutschland sei zwar groß, die KPD habe aber insgesamt viel bessere Chancen. „In solchen Situationen macht die Politik Spaß, und die peinlichen persönlichen Geschichten fallen fort oder berühren nicht. Die Stimmung hier ist gut, auch nicht das Durcheinander wie Jena 1921“, schrieb er an seine Frau. 207 Offensichtlich schätzte Meyer die Situation in Bezug auf seine Person falsch ein, denn er wurde - für ihn überraschend - nicht in den Wahlvorschlag der Zentrale aufgenommen. Dazu schrieb er noch am Abend des 31. Januar an Rosa: „Die Z. ist natürlich umgefallen, zumal Clara ebenfalls aus parteipolitischen Gründen für meinen Rücktritt eintrat. Sie behaupten alle, dass meine Kandidatur die Liste der Z. gefährde u. die Wahl Ruths herbeiführen werde. Ich vertrat meinen Standpunkt, verlangte Beschluss, der mit 4: 6 gefällt wurde, bei meiner Stimmenthaltung. Heute wird in der geschlossenen Sitzung die Erörterung der Gründe erfolgen. Immerhin sind die Schiebungen der Koenen usw. sehr deutlich geworden, und meine moralisch-politische Situation ist auf jeden Fall sehr gut. Ich werde die angeblich politischen Gründe zerpflücken u. nur sagen, dass die Mehrheit der Partei entscheiden muss, ob meine Wahl politisch notwendig sei … Da Karl R[adek] hierher kommt, um Ruth zu retten, kann es aber auch noch andere Überraschungen geben, und der Ausgang bezüglich meiner Person ist ebenfalls noch unsicher.“ 208 203 Vgl. Brief Ruth Fischer an Willy Budich vom 25.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 202, Bd. 2, Bl. 68 ff.; Brief Becker an Radek vom 25.7.22 in: Ebenda, Bl. 71 ff, sowie Brief Meyer an Meyer-Leviné, Fragment o.O., o.D. (Ende Juni 1922), in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 34. 204 Brief Lenin an Trotzki, Moskau, 18.1.22, in: Weber/ Drabkin/ Bayerlein: Komintern, Bd. II/ 1, Dok. 75b. 205 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-60. Becker: Brandler, S.-171 hinterfragt auch diese Behauptung. 206 Ebenda, S.-58 u. 60. 207 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Leipzig, 28.1.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 78. 208 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Leipzig, 31.1.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 71. <?page no="205"?> 205 6.8 Der Sturz Meyers Tatsächlich versuchte er auf der geschlossenen Sitzung des Parteitages, die gegen ihn angeführten Gründe zu zerpflücken: „Gen. Brandler hat vorhin mitgeteilt, dass die Zentrale der Meinung ist, dass es der Partei schaden würde, wenn die Zentrale meine Kandidatur aufrecht erhalten oder fordern würde. […] ich muss festhalten, […] dass in den 16 Monaten, in denen die alte Zentrale gearbeitet hat, keine wesentlichen politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Zentrale und mir als Mitglied und Vorsitzenden des politischen Büros bestanden haben. […] Es ist unerhört in der Geschichte einer Komm. Partei, dass große Delegationen starke Bedenken gegen ein Mitglied der Zentrale haben und diese Bedenken nicht da äußern, wo sie sie äußern müssen, nämlich in der Parteimitgliedschaft und in der Parteiöffentlichkeit.“ Meyer nennt drei Vorwürfe, die gegen ihn erhoben würden: seine Haltung nach den „Vorwärts“-Enthüllungen und in der KAG-Krise, sein angeblicher Opportunismus in der Rathenau-Kampagne und sein zu scharfer Kampf gegen den linken Flügel auf dem IV. Weltkongress. Nacheinander versuchte er, diese Vorwürfe zu entkräften: So sei gerade er in die Bezirke entsandt worden, die der KAG am nächsten standen, weil „die Zentrale der Meinung war, dass ich den KAG-Leuten am zweckmäßigsten entgegentreten könnte.“ Gegen den Vorwurf des Opportunismus erwiderte er, dass er während der Rathenau-Kampagne mehrfach von anderen Zentrale-Mitgliedern für sein zu hartes und entschiedenes Auftreten gegenüber SPD und ADGB kritisiert worden sei. Und wenn er in Moskau zu scharf gegen die Linke aufgetreten sei, so lasse er sich dafür gerne kritisieren, allerdings „aus einer ungeschickten Diskussionsrede von 15 oder 20 Minuten herzuleiten, dass ich ein besonderer Exponent des Opportunismus sei, das ist keine Politik, sondern eine persönliche Fragestellung.“ Meyer schloss: „Wenn jetzt die Genossen aus den Delegationen, die den Kampf gegen die Linke führen wollen, meinen, dass ich im Augenblick für diesen Kampf gegen die Linke nicht brauchbar sei, Genossen, ich bin der letzte, der seine Person in den Vordergrund stellen will und ich sage ganz offen: die Freunde, die mit dem Gedanken einer Sonderkandidatur spielen, bitte ich, davon Abstand zu nehmen. Die Klärung in der Partei ist wichtiger, als ob jemand in die Zentrale kommt.“ 209 Meyers Argumentation nutzte nichts: Er wurde nicht in den Wahlvorschlag der Zentrale aufgenommen. Daraufhin nominierten ihn - trotz seines Einspruchs - seine ostpreußischen Freunde. Doch die Kandidatur war vergeblich. Zwar erstattete Meyer zu Beginn des Parteitags den politischen Bericht der Zentrale, der „traditionsgemäß dem Vorsitzenden der Partei zukam“. 210 Bei der Wahl zur Zentrale jedoch fiel er mit einem miserablen Ergebnis durch. 211 Die Stimmungsmache gegen ihn, die er in einem Brief an seine Frau als 209 Protokoll der 2. geschlossenen Sitzung des Leipziger Parteitages, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 1-6. 210 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-60. 211 Alle 21 von der Zentrale nominierten Kandidaten (die Zentrale war zuvor auf 21 Mitglieder erweitert worden) wurden gewählt, wobei beispielsweise auf Brandler 166 Stimmen entfielen. Alle von der Linken vorgeschlagenen Kandidaten fielen durch (so erhielt etwa Ruth Fischer 84 Stimmen), ebenso wie der Einzelkandidat Meyer, der von allen 26 Kandidierenden mit nur 61 Stimmen das schlechteste Ergebnis <?page no="206"?> 206 6 Parteivorsitzender und Protagonist der Einheitsfront (1921/ 22) „systematische Hetze“ bezeichnete, 212 verhinderten seine Wiederwahl. Waren es auf dem Vereinigungsparteitag im Dezember 1920 noch „Linksabweichungen“ gewesen, die zu seiner kurzzeitigen Entfernung aus der Zentrale führten, scheiterte Meyer dieses Mal, weil er vermeintlich „rechte“ Positionen vertrat. Tatsächlich wurde die Zentrale - vor allem auf Radeks Druck hin - nach links erweitert, vier gemäßigte Vertreter des linken Flügels aufgenommen, die allerdings rasch mit der Opposition brachen. Brandler scheint hinter den Kulissen fleißig am Sturz Meyers mitgewirkt zu haben. Walcher erinnert sich, Meyer sei auf dem Leipziger Parteitag in „nicht gerade fairer Weise“ von Brandler „ausgebootet“ worden. 213 Meyer schrieb später in einem Brief: „Ich habe mich einmal - in Leipzig - von Brandler betrügen lassen“, allerdings ohne dies näher zu erläutern. 214 Zu den Spannungen dürfte auch beigetragen haben, dass Meyer Brandler zuvor an der Spitze der Partei abgelöst hatte, als dieser wegen der Märzaktion verhaftet worden war. Möglicherweise sah sich Brandler weiterhin als eigentlichen Parteivorsitzenden, dem nach seiner Amnestierung und Rückkehr nach Deutschland wieder sein altes Amt zustehen müsse und der deshalb versuchte, den Ko-Anwärter auf die Parteiführung aus dem Weg zu räumen. In diesen Zwistigkeiten dürfte ein wesentlicher Grund für das auch künftig ziemlich zerrüttete Verhältnis zwischen den beiden liegen, die sich politisch eigentlich ziemlich nahestanden. 215 So verteidigte Brandler die von Meyer vertretene Einheitsfrontpolitik - gerade auch in Bezug auf die Rathenau-Kampagne -, setzte diese nach dem Parteitag fort und blieb somit, wie Becker urteilt, „gegenüber Meyer, was die Generallinie betrifft, loyal“. 216 erzielte. Vgl. Die Rote Fahne, 2.2.23. 212 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Hamburg, 13.1.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 76 213 Walcher, Jacob: 1923 - zur Politik der KPD. Unveröffentl. Manuskript von 1959, in: SAPMO-BArch, NY 4087/ 8, hier S.-403. 214 Brief Meyer an Gen. Fischer (nicht Ruth Fischer) vom 5.1.25, in: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.- 98- 100, hier S.-100. 215 Allerdings blieb der Ton in Briefen Brandlers an Meyer in den folgenden Monaten durchaus kollegial bis geradezu freundschaftlich, vgl. verschiedene Briefe Brandlers an Meyer in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 212. 216 Becker: Brandler, S.-171 f. <?page no="207"?> 207 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Die tiefe Krise, in der sich Deutschland seit dem Ende des Weltkrieges befunden hatte, erreichte 1923 ihren letzten Höhepunkt und Abschluss. Noch einmal wurden alle Hoffnungen der KPD auf eine baldige proletarische Revolution genährt, noch einmal ein Aufstand zur Ergreifung der Macht vorbereitet. Doch es kam anders: Der „Deutsche Oktober“ fiel aus. Die kommunistischen Revolutionshoffnungen erlitten damit einen schweren Rückschlag mit - wie sich bald zeigen sollte - gravierenden Auswirkungen nicht nur auf die deutsche, sondern auch auf die internationale kommunistische Bewegung. Eingeleitet wurde das Krisenjahr am 11. Januar mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Truppen, um ausstehende Reparationsleistungen einzutreiben. Dagegen regte sich bald ein - oft auch nationalistisch gefärbter - „passiver Widerstand“, den die Reichsregierung unterstützte. Zugleich beschleunigte sich die Geldentwertung: Lag der Wechselkurs von Dollar zu Mark im April noch bei 1: 21.000, stieg er bis Mitte August auf 1: 3.000.000. Arbeiterschaft und Mittelschicht wurden von dieser Hyperinflation hart getroffen. Bei den einen konnten die Lohnerhöhungen nicht mit der Entwertung Schritt halten, bei den anderen vernichtete die Inflation die Ersparnisse. Die sozialen Konflikte nahmen zu: Mitte des Jahres erschütterte eine Welle von Unruhen und Streiks das Reich. Kommunisten spielten oft eine führende Rolle in diesen Bewegungen. Selbst bürgerliche Politiker wie Gustav Stresemann sahen einen Aufruhr nahen: „Wir tanzen auf einem Vulkan, und wir stehen vor einer Revolution, wenn wir nicht durch eine ebenso entschlossene wie kluge Politik die Gegensätze versöhnen können.“ 1 Die KPD, deren neugewählte Führung um Heinrich Brandler an der Einheitsfrontpolitik festhielt, konnte von der Situation profitieren. Ihr Einfluss in den Gewerkschaften wuchs weiterhin spürbar. Bei den Wahlen zum Berliner Verbandstag des DMV konnte sie mehr als doppelt so viele Stimmen auf sich vereinen wie die SPD. Auch bei den (wenigen) Parlamentswahlen des Jahres 1923 nahmen ihre Stimmenanteile deutlich zu. Zwischen September 1922 und September 1923 stieg die Zahl der Mitglieder von 224.689 auf 294.230, die der Ortsgruppen von 2481 auf 3321. Die Partei schien auf dem besten Wege, die Mehrheit der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen, und als die gesellschaftliche Krise im August 1923 weiter eskalierte, schien die Revolution vielen Kommunisten endlich in Reichweite. In dieser Situation war Meyer, der seit der Zeit der Spartakusgruppe fast ununterbrochen (mit Ausnahme der kurzen Zeit von Dezember 1920 bis Februar 1921) der Führung des deutschen Kommunismus angehört hatte, nicht mehr in der Zentrale der KPD vertreten. Wie weit er persönlich darunter litt oder ob seine Frau tatsächlich recht hat, wenn sie schreibt, dass Meyer „Rang und Würden gleichgültig waren“ 2 , bleibt offen. Einen Hinweis 1 Zit. nach Otto Wenzel: 1923. Die gescheiterte Deutsche Oktoberrevolution, Münster 2003, S.-150. 2 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-58. <?page no="208"?> 208 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) darauf, dass seine Demission ihn doch belastete, liefert ein Brief an Rosa Meyer-Leviné vom 17. Februar 1923: „Ich führe überhaupt ein seltsames Leben: ich lese rasch die Zeitungen, informiere mich bei den Parteifreunden, rede in den Versammlungen (was keiner Vorbereitung mehr bedarf, ich mache mir nicht einmal Notizen), lese in der Bahn Briefe an Rahel 3 und - denke allererst und allermeist an Dich. Die Ruhrbesetzung beschäftigt mich innerlich nicht mehr als die Geisteswelt und das Empfindungsleben Rahels und ihrer Freunde und Verehrer. Ich bin wohl doch ein schlechter Politiker.“ 4 Über seine Rolle in der Partei im Jahr 1923 finden sich in der Literatur wenige Hinweise, auch seine Frau schweigt in ihrer Autobiographie über die Monate bis zum Herbst 1923. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Quellen, die Meyer betreffen, ist deutlich geringer als aus den Jahren zuvor, die Quellenlage durch die meist klandestin stattfindenden und daher nicht dokumentierten Vorbereitungen des Deutschen Oktobers und das anschließende Verbot der KPD auch insgesamt schlechter. Gesichert ist, dass Meyer mit seinem Ausscheiden aus der Zentrale nicht aufhörte, eine wichtige Rolle in der Partei zu spielen. Zunächst war er verantwortlich für den Kontakt der KPD zur Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), dann wurde er Leiter des Oberbezirks Südwest und nahm nun wieder häufig an Sitzungen der zentralen Führungsgremien der Partei teil. Auch an der Vorbereitung des Aufstandsversuchs im Oktober 1923 war er beteiligt. 7.1 „Einmal heraus aus dem deutschen Parteikrakeel“: Für die KPD in Frankreich Die Zusammenarbeit mit den französischen Kommunisten hatte für die KPD 1923 eine große Bedeutung. Durch die Ruhrbesetzung schien die Gefahr eines erneuten Kriegs real. Angesichts dessen sollte durch eine forcierte Kooperation mit den Bruderparteien der umliegenden Länder, vor allen Dingen Frankreichs, eine Spaltung der Arbeiterbewegung entlang nationaler Linien wie 1914 verhindert und einer „Burgfriedenspolitik“ von Anfang an eine Absage erteilt werden. Für diese Zusammenarbeit war unter anderem Meyer zuständig. Er sprach französisch und hatte sich bereits während des Weltkrieges und später auch im Rahmen seiner Tätigkeit im EKKI speziell mit der Situation in Frankreich auseinandergesetzt. Zudem war er in den Jahren 1921/ 22 in der Zentrale gemeinsam mit Clara Zetkin für die internationalen Beziehungen zuständig gewesen und hatte in dieser Funktion an einer deutsch-französischen kommunistischen „Reparationskonferenz“ im August 1922 in Köln teilgenommen. Unmittelbar vor der Besetzung des Ruhrgebietes fand am 6./ 7. Januar 1923 eine Konferenz führender Vertreter der kommunistischen Parteien Deutschlands und seiner Nachbarländer in der Ruhrgebietsstadt Essen statt. Meyer wurde neben Clara Zetkin und dem Franzosen Marcel Cachin zum Vorsitzenden der Konferenz gewählt. 5 Der symbolische 3 Gemeint ist der Briefwechsel der jüdischen Autorin Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833). 4 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Bochum, 17.2.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 57. 5 Zur Konferenz und Meyer als ihrem Vorsitzenden siehe Die Internationale Konferenz in Essen. Internationaler Kampf des revolutionären Proletariats gegen den Versailler Vertrag, in: Inprekorr, Jg. 3, Nr. 5, <?page no="209"?> 209 7.1 „Einmal heraus aus dem deutschen Parteikrakeel“: Für die KPD in Frankreich Gehalt der Versammlung war groß: Auf dem Höhepunkt des deutsch-französischen Reparationskonfliktes trafen Kommunisten aus beiden Ländern zusammen, um gemeinsame Widerstandsaktivitäten zu beraten. Zur Koordinierung wurde ein Aktionskomitee mit Vertretern der verschiedenen Parteien gewählt, in das für die deutsche Partei Heckert, Meyer und Thalheimer delegiert wurden. Bei der Zentrale-Sitzung am 10. Januar 1923 berichtete Meyer von der Konferenz. Sie habe gezeigt, dass außer der deutschen keine der vertretenen Parteien zu schlagkräftigen Aktionen gegen den Versailler Vertrag in der Lage sei. An seiner Gegnerschaft gegen den Vertrag ließ Meyer keine Zweifel, betonte aber immer wieder die Notwendigkeit des Kampfes gegen Berlin. So drängte er darauf, zu beachten, „dass bei aller Polemik gegen den französischen Imperialismus auch gegen die deutsche Regierung und gegen den deutschen Kapitalismus Stellung genommen wird.“ Der Kampf sei „zuerst gegen den Feind im eigenen Land zu führen.“ Dafür müsse bald ein konkretes Programm zu den Themen Steuern und Zwangsanleihen mit der Perspektive einer Arbeiterregierung geschaffen werden. Ferner müsse dem nationalistischen Taumel entgegengetreten und der Kampf gegen die Nationalsozialisten verstärkt werden. 6 In einem Artikel fasste er zusammen: „Die Essener Konferenz kommunistischer Parteien war der Beginn einer solchen internationalen Aktion gegen Versailles. Nur wenn das Proletariat aller Länder den Mahnungen ihrer gemeuchelten Vorkämpfer folgt, wenn es im eigenen Lande die Bourgeoisie und ihre Regierungen mit allen Mitteln bekämpft, wird der Schein-Friedensvertrag von Versailles abgelöst werden durch einen wirklichen Frieden, geschlossen von der siegreichen Arbeiterschaft.“ 7 Tatsächlich bemühte sich die KPD sehr, ihre Agitation nicht nur gegen die französische Besatzung, sondern in gleichem Maße gegen die eigene Regierung zu führen. Dieser Kurs kam beispielsweise in einem Aufruf vom 23. Januar zum Ausdruck: „Schlagt Poincaré und Cuno an der Ruhr und an der Spree“. 8 Als Meyer Ende Januar aus der KPD-Zentrale ausschied, blieb er für den Kontakt zur KPF zuständig, die mit ihren 52.000 Mitgliedern deutlich kleiner war als die KPD. Bis zum Juli 1923 hielt er sich mehrfach länger im westlichen Nachbarland auf. An seine Frau schrieb er: „Ich freue mich auf Frankreich! Einmal heraus aus dem deutschen Parteikrakeel.“ 9 Als Spitzenfunktionär der KPD sollte er den Informationsaustausch der beiden Parteien sicherstellen und im „Aktionskomitee gegen die Ruhrbesetzung“ und im Comité Directeur, der Führung der KPF, mitarbeiten. Möglicherweise tat er dies auch im Auftrag der Komintern-Exekutive, hatten doch die Schwierigkeiten der französischen Partei gerade in der Anwendung der Einheitsfrontpolitik einen großen Raum in den Verhandlungen des IV. Weltkongresses eingenommen. Vor diesem Hintergrund ergab es natürlich Sinn, mit Meyer einen profilierten Vertreter dieser Politik nach Frankreich zu schicken. Darüber hinaus sollte er dabei helfen, Kontakte zwischen den Belegschaften deutscher und französischer Großbetriebe herzustellen. Weiterhin sollte Meyer Artikel für die deutsche 8.1.23, S.-33-36; Protokoll der Essener Konferenz in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 187, Bl. 1-16. 6 Protokoll der Sitzung der Zentrale der KPD am 10.1.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 15, Bl. 15 f. 7 Ernst Meyer: Rosa Luxemburg gegen Versailles, in: Inprekorr Jg. 3, Nr. 6, 9.1.23, S.-42 f.-In die gleiche Richtung wies auch sein Redebeitrag auf der Essener Konferenz, vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 187, Bl. 13 f.-(Beitrag Meyer). 8 Die Rote Fahne, 23.1.23. 9 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Hamburg, 13.1.23, in: BArch Koblenz, NY 1246/ 5, Bl. 76. <?page no="210"?> 210 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Presse über Frankreich und für die französische KP-Presse über Deutschland schreiben. Der deutschen Parteiführung berichtete er in verschiedenen Briefen und bei Besuchen in Berlin über die Lage in Frankreich, Belgien und Luxemburg. Die vorliegenden deutschsprachigen Quellen geben leider keinen exakten Aufschluss über Meyers Tätigkeit in Frankreich. Bei den Briefen , die er seiner Frau aus Frankreich schrieb, handelt es sich vorrangig um Liebesbriefe. Aber aus ihnen geht zumindest hervor, dass er regelmäßig auf Parteiveranstaltungen in Paris und in der Provinz teilnahm und sich an den Debatten beteiligte. Daneben blieb ihm Zeit für ausgiebige Theater- und Ausstellungsbesuche. 10 Für seinen Lebensunterhalt zahlte die KPD ihm monatlich 1000 Francs. 11 Als Deutscher in Frankreich politische Arbeit gegen die französische Regierung und die Ruhrbesetzung zu machen, war alles andere als ungefährlich. Dies verdeutlichte die Verhaftung des kommunistischen Reichstagsabgeordneten Emil Höllein im März 1923, der in Frankreich im Auftrag der KPD tätig gewesen war. Für seine Freilassung wurde eine Kampagne organisiert, über die Meyer in der „Inprekorr“ berichtete. 12 Oftmals frustrierte Meyer die Passivität der französischen Partei. Anfang Juni 1923 berichtete er nach Berlin, die KPF sei „noch nicht in den Massen verwurzelt“. Es könne „auch nicht von einem eigentlichen Parteileben gesprochen werden“. Überhaupt mangele es ihr daran, positive Forderungen aufzustellen. Zumindest diese Leerstelle solle in der nächsten Zeit unter anderem durch ein Steuerprogramm behoben werden. 13 Schon deutlich positiver fiel Meyers Bericht über die Lange in Frankreich bei der Sitzung des Zentralausschusses am 5. und 6. August 1923 aus. Die deutschen Reparationszahlungen kämen in erster Linie der französischen Schwer- und Großindustrie zugute, keineswegs aber den Arbeitern, Kleinbauern und Angestellten. Ähnlich wie die deutschen würden auch die französischen Kommunisten nun argumentieren, dass die Ruhrbesetzung „auch den Zweck hat, das wichtigste revolutionäre Zentrum in Deutschland unter den Einfluss ausländischer Bajonette zu bringen, weil weder das deutsche noch das französische Kapital Vertrauen dazu haben, dass man ohne die Hilfe des Militärs revolutionäre Bewegungen im Ruhrgebiet, eine revolutionäre Bewegung in Deutschland wird niederschlagen können.“ Insgesamt habe er den Eindruck, dass die KPF große Fortschritte gemacht habe und mittlerweile in der Lage sei, bei einer weiteren Zuspitzung der Klassenkämpfe in Deutschland aktive Unterstützung zu leisten. 14 Dass Meyer unmittelbar nach seinem Sturz als Parteivorsitzender für mehrere Monate nach Frankreich geschickt wurde, kann durchaus als Versuch gewertet werden, den um- 10 Siehe verschiedene Briefe Meyer an Meyer-Leviné aus dem ersten Halbjahr 1923, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 59-67. Vorübergehend hatte Meyer in Paris mit einer starken körperlichen Erschöpfung und Depressionen zu kämpfen, vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Charlottenburg, 17.10.26, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 152. 11 Vgl. Brief der Kassenabteilung der KPD an Meyer, Berlin, 31.5.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 704/ 8, Bl. 16. 12 Ernst Meyer: Zur Verhaftung Hölleins. Hölleins „Verbrechen“, in: Inprekorr Jg.3, Nr.53, (23.3.23), S.-428. 13 SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 15, Bl. 155 f. 14 Protokoll der Sitzung des ZA der KPD am 5./ 6.8.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 18, Bl. 105-126 (Rede Meyers), Zitat Bl. 125. Eine gekürzte Fassung von Meyers Referat auf dem ZA wurde in der „Internationale“ abgedruckt, vgl. Ernst Meyer: Das französische Proletariat seit der Ruhrbesetzung. Teil 1, in: Die Internationale, Jg. 6, H 16 (15.8.23), S.-453-457 und ders.: Das französische Proletariat seit der Ruhrbesetzung. Teil 2, in: Die Internationale, Jg. 6, H 17 (15.9.23), S.-491-497. <?page no="211"?> 211 7.2 Leiter des Oberbezirks Südwest strittenen Protagonisten der Einheitsfrontpolitik von der deutschen Partei fernzuhalten und so weiteren Angriffen des linken Flügels vorzubeugen - vor allem weil im Mai auf Vermittlung Moskaus vier oppositionelle Mitglieder in die Zentrale aufgenommen worden waren, darunter Fischer und Thälmann. Hierfür spricht auch der von Hugo Eberlein übermittelte Vorschlag, Meyer zum Leiter der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) zu machen. Der schrieb daraufhin an seine Frau: „Meine Leute sind empört. Ich denke natürlich nicht daran, mich abschieben zu lassen. Dahinter steckt der Kleine [gemeint: August Kleine, FW] und seine Bande.“ 15 Tatsächlich ließ sich Meyer nicht länger wegloben. Ende Juli 1923 übernahm er wieder eine wichtige Aufgabe in der deutschen Partei. 7.2 Leiter des Oberbezirks Südwest Am 17. Juli ernannte das Polbüro Ernst Meyer zum Leiter des Oberbezirks Südwest. Zwei Wochen später nahm dieser die neue Tätigkeit auf. Zunächst war die Frage nach dem künftigen Wohnsitz zu klären. Die Entscheidung fiel schließlich auf Frankfurt, wo sich auch sein Büro befand. 16 In der Mainmetropole gehörten bald eine Reihe illustrer Personen zum Freundeskreis von Ernst und Rosa, darunter der Millionär und Gründer des Instituts für Sozialforschung Felix Weil, Gräfin Hermynia zur Mühlen, Wolfgang Abendroth sowie der spätere „Meisterspion“ Richard Sorge und dessen Frau Christiane, in deren Wohnung die Meyers an einigen Trinkgelagen teilnahmen. Neben privaten Vergnügungen musste Meyer sich in den ersten Wochen aber vor allem politisch orientieren und die einzelnen Bezirke seines Wirkungskreises besuchen. Südwest umfasste seit der Neueinteilung durch den 6. Parteitag die Bezirke Hessen-Waldeck (oder auch: Hessen-Kassel), Hessen-Frankfurt, Pfalz und Baden. Auch Württemberg gehörte zu Meyers Oberbezirk. Infolge einer erneuten Umstrukturierung im Januar 1924 fiel die Pfalz (evtl. bereits im November) aus dem Oberbezirk Südwest heraus, dafür wurden ihm nun Nord- und Südbayern zugeschlagen. Für diese Bezirke nennt das Protokoll des 9. Parteitages folgende Mitgliederzahlen (Stand: September 1923): Hessen-Waldeck: 2.007, Hessen-Frankfurt 10.909, Pfalz 3.611, Baden 9.550, Württemberg 12.800, Nordbayern 7.900 und Südbayern 3.994 Mitglieder. 17 Legt man diese Angaben zugrunde, war Meyer im Herbst 1923 für insgesamt fast 39.000 Mitglieder verantwortlich, im Januar 1924 sogar für 47.000. Laut den „Richtlinien für Oberbezirksleiter“ hatte er „im Auftrag der Zentrale die politisch-organisatorische Führung des Oberbezirks“ zu übernehmen, entsprechend unterstanden ihm die Leitungen der einzelnen Bezirke. Seine Aufgabe war es, die „von den Parteiinstanzen bestimmte politische Linie einheitlich im Oberbezirk durchzuführen.“ Als 15 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., 2.4.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 62. 16 Die Wohnsituation in Frankfurt blieb aber problematisch und letztlich nur provisorisch, vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Königsberg, 26.1.24, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 82. 17 Bericht über die Verhandlungen des IX. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten in Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924, hg. von der Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands, Berlin 1924, S.-58. Alle Zahlen für „angegebene Mitglieder“. Die Zahl der im 3. Quartal 1923 „abgerechneten Mitglieder“ variieren z.T. erheblich nach oben und unten. <?page no="212"?> 212 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) politischer Oberbezirksleiter musste sich Meyer regelmäßig mit den Bezirksleitungen, lokalen Redaktionen und den Agitatoren der Partei treffen sowie an den Konferenzen und Parteitagen der verschiedenen Bezirke teilnehmen. Der Oberbezirksleitung oblag „die gesamte Kontrolle über die Tätigkeit der Parteigenossen in den Bezirken sowie die Heranbildung und Schulung der in den Bezirken notwendigen Parteiarbeiten.“ Durch dieses Konstrukt sollte ihre Unabhängigkeit von den Bezirken ebenso gewährleistet werden wie die enge Zusammenarbeit mit der Zentrale, der sie regelmäßig Bericht zu erstatten und oft an deren Sitzungen teilzunehmen hatten. 18 Da Meyer weiterhin Fraktionsvorsitzender der KPD im preußischen Landtag war und sich daher häufiger in Berlin aufhalten musste, ließ sich seine enge Anbindung an die Zentrale und an das Polbüro gut gewährleisten. Zu dieser Zeit kann Meyer faktisch wieder zur Führung der KPD gezählt werden. Er nahm nicht nur an den Sitzungen der Zentrale und des Polbüros teil, sondern übernahm über die Leitung seines Oberbezirkes hinaus eine Reihe verantwortlicher Aufgaben. So erarbeitete er zusammen mit Ruth Fischer einen Programmentwurf für die KPD in Mecklenburg-Strelitz, schrieb einen Artikel über „Koalitionsregierung und Außenpolitik“, entwickelte Vorschläge zur Umorganisierung des Pressedienstes und der „Roten Fahne“ und entwarf eine Resolution gegen die Unterdrückung der bulgarischen Kommunisten. Außerdem hatte er Mitte August 1923 eine Unterredung mit dem preußischen Innenminister Severing über das Verbot der „Proletarischen Hundertschaften“ durch die Preußische Landesregierung. Weiterhin nahm er an den Debatten über die strategische Ausrichtung der KPD teil. Auf dem Leipziger Parteitag war Meyer nicht wieder in die Zentrale gewählt worden, um dem linken Parteiflügel keine Angriffsfläche zu bieten. Auch hinter seiner Entsendung nach Frankreich steckte vermutlich die Intention, ihn aus der deutschen Partei herauszuhalten, um weitere Konflikte zu vermeiden. Nachdem aber exponierte Vertreter der Parteilinken in die Führung kooptiert wurden und dort immer wieder mit der Parteimehrheit um Brandler aneinandergerieten, schien es keinen Grund mehr zu solcher Zurückhaltung zu geben, im Gegenteil: Meyer konnte aus Sicht der Parteimehrheit wieder ein sinnvolles Korrektiv zu den Positionen der Linken darstellen. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum er im Südwesten eingesetzt wurde. Schließlich wurden zumindest zwei Bezirke (Hessen-Frankfurt und die Pfalz) von den Linken dominiert. Einer der beiden befand sich zudem in einer sehr speziellen Situation: Die Pfalz war von Frankreich besetzt und es gab eine starke separatistische Bewegung. Die KPD war hier scharfen Repressionen seitens der Besatzungsmacht und Angriffen der Separatisten ausgesetzt. Seit Mai waren sämtliche politische Veranstaltungen und Mitgliederversammlungen der Partei verboten. Anfang November versuchten die Separatisten, die Pfalz regelrecht zu erobern. Meyer berichtete der Zentrale: „Aktiven Widerstand leisteten nur die Arbeiter unter kommunistischer Führung.“ Dabei habe man folgende Taktik festgelegt: „Angriff auf die separatistischen Banden, besonders ehe sie sich in Gebäuden festgesetzt haben, Überfälle und ständiger Kleinkrieg, Ausweichen vor dem Kampf mit den Franzosen.“ Diese Taktik habe bereits zu einigen Erfolgen geführt. 19 18 Richtlinien für die Oberbezirksleiter, in: SAPMO-BArch, RY 1/ 1 2/ 2/ 37, Bl. 3 f.-Das Dokument ist undatiert, ein erster Entwurf zu den Richtlinien stammt vom 24.6.21, vgl. ebenda, Bl. 1 f. 19 Brief Meyer an die Zentrale, Frankfurt(M), 16.11.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41. <?page no="213"?> 213 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ Der schwächste Bezirk in Meyers Einflussbereich war derweil Baden. Er bildete schon länger ein Sorgenkind der KPD. Auf der Sitzung der Zentrale am 28. März war beispielweise berichtet worden: „Im Bezirk Baden sieht es sehr trübe aus. Die Ortsgruppen lösen sich auf, weil sich niemand um sie bekümmert. Die Genossen laufen aus den Gewerkschaften hinaus.“ 20 Meyer, der im Ausland noch geringere Aktivitäten kennengelernt hatte, war weniger skeptisch. Zu einer Bezirkskonferenz merkte er an: „Aber die Konferenz steht weit höher als irgendeine in Frankreich. Wir sind unvergleichlich weiter als dort.“ 21 Die Umstrukturierung seines Oberbezirkes im Januar 1924 muss für Meyer eine weitere Zunahme seiner ohnehin schon starken Arbeitsbelastung bedeutet haben. Denn nun musste er nicht nur ein noch größeres Gebiet politisch leiten, sondern sich auch noch in die sehr speziellen Verhältnisse der von langanhaltender und harter Repression betroffenen KPD Bayerns einarbeiten. Aufgrund der Unterdrückung wich die Bezirksleitung Nordbayerns nach Frankfurt aus, wurde aber auch dort regelmäßig von bayrischen Polizisten überwacht. Mit Nürnberg, dem industriellen Zentrum des Bezirkes, konnte dennoch gut Kontakt gehalten werden, die (illegale) Einreise erfolgte über Probstzella, da es dort keine Passkontrollen gab, oder über Hof, wo wenig kontrolliert wurde. Auch Meyer dürfte für seine Besuche in Bayern diese Routen genommen haben. 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ 7.3.1 Der Weg zum Aufstand Im Sommer 1923 spitzen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse weiter zu. Durch die Inflation erreichte der Kurs der Mark astronomische Ausmaße: Mitte August musste man bereits bei 2,87 Millionen Mark für einen Dollar bezahlen, Anfang Oktober 444,9 Millionen Mark und Anfang November unfassbare 4,2 Billionen Mark. Streiks, Erwerbslosendemonstrationen und spontane Plünderungen von Lebensmittelläden waren an der Tagesordnung. Für die Kommunisten war dies eine Zeit „ungewöhnliche[r] Chancen“. 22 Gegen die im Zeichen der Krise ebenfalls anwachsende extreme Rechte mobilisierte die KPD zu einem reichsweiten „Antifaschistentag“ am 29. Juli, wobei es ihr gelang, auch lokale Gewerkschaftsgliederungen einzubinden. In den meisten Ländern wurden jedoch für diesen Tag Straßendemonstrationen untersagt, Kundgebungen mussten in geschlossenen Räumlichkeiten stattfinden. Trotzdem beteiligten sich Hunderttausende an den antifaschistischen Protesten. Meyer hatte seine Genossen zwei Tage zuvor in der „Inprekorr“ zur Besonnenheit aufgerufen: Die KPD „würde nur den Faschisten mit und ohne Uniform einen Gefallen tun, wenn sie sich durch das Verbot zu Straßenkämpfen hinreißen ließe. Nein, die Kommunistische Partei sagt offen, dass sie dieser Provokation ausweicht“. Gleichzeitig griff er die Parteilichkeit der Reichsregierung an: „Die gleiche Regierung, die bisher fast ohne jede Ausnahme die bewaffneten Demonstrationen der faschistischen Verbände geduldet hat, verbietet die friedlichen, unbewaffneten Straßendemonstrationen der 20 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 15, Bl. 102. 21 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Karlsruhe, 22.7.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 63. 22 Winkler: Revolution, S.-593. <?page no="214"?> 214 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Arbeiter.“ Scharf griff er auch die sozialdemokratische Presse an, die „dumm und verlogen genug“ sei, das Demonstrationsverbot zu unterstützen, weil es dem kommunistischen Ruf nach einem Umsturz ein Ende setze: „Dabei weiß diese Presse ganz genau, dass die Kommunisten im gegenwärtigen Moment nicht die unmittelbare Verwirklichung der Diktatur […] erwarten, sondern dass die Kommunistische Partei Deutschlands die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung zusammen mit den Sozialdemokraten verlangt.“ 23 Offensichtlich hielt Meyer den Zeitpunkt für eine Kraftprobe noch nicht für gekommen. Er setzte weiterhin auf die Ausweitung des kommunistischen Einflusses mittels der Einheitsfrontpolitik und appellierte an die SPD-Führung für einen gemeinsamen Kampf gegen die Faschisten, um so der sozialdemokratischen Basis zu demonstrieren, dass ihre Führung dazu nicht bereit ist. Zugleich versuchte er mit der Forderung nach einer Arbeiterregierung einen positiven Ausweg aus der Krise aufzuzeigen. Nur knapp zwei Wochen später zwang ein stark von der KPD beeinflusster Berliner Generalstreik die Reichsregierung Cuno zum Rücktritt. Zugleich stellten Betriebsräteversammlungen radikale Forderungen wie die nach einer Arbeiter- und Bauernregierung auf. Um eine weitere Radikalisierung der Streikbewegung und ihre von den Kommunisten angestrebte Ausdehnung über Berlin hinaus zu verhindern, machten Regierung und Arbeitgeber massive Zugeständnisse. Gleichzeitig wurde die „Rote Fahne“ beschlagnahmt und ihre Auslieferung aus der Hauptstadt zu verhindern gesucht. Dennoch gelang es den Kommunisten, in verschiedenen Orten größere Streiks auszulösen. Möglicherweise bestanden in dieser Situation, in der die neue Regierung unter Gustav Stresemann noch nicht gefestigt war, ungleich günstigere Chancen für einen Aufstand als etwa beim vorherigen Aufstandsversuch im März 1921. Arthur Rosenberg schreibt gar: „Es hat nie in der neueren deutschen Geschichte einen Zeitabschnitt gegeben, der für eine sozialistische Revolution so günstig gewesen wäre wie der Sommer 1923.“ 24 Doch die KPD- Führung orientierte zu diesem Zeitpunkt nicht darauf, die Bewegungen bis zum Umsturz weiterzuführen. Brandler schreckte nach den Erfahrungen der Märzaktion vor den Konsequenzen eines nicht exakt geplanten und unter Umständen verfrühten Aufstands zurück. Ein weiteres Mal zeigte sich die Schwäche der KPD-Führung: Aus dem Versuch einer Kompensation ihrer Passivität im Kapp-Putsch heraus in der Märzaktion in die Offensive gegangen und damit dramatisch gescheitert, wurde dieser Aktionismus nun erneut durch eine zögerliche Politik kompensiert. Gleichzeitig förderte das geringe Selbstvertrauen der KPD-Führung die Bereitschaft, sich Vorstellungen aus Moskau unterzuordnen. Von dort aus wurde nun tatsächlich die Orientierung auf einen baldigen Aufstand ausgegeben. Aufgrund des Sturzes der Regierung durch einen kommunistisch geführten Generalstreik schien der Komintern-Führung eine Revolution in Deutschland zum Greifen nahe. Sie hätte den Ausbruch aus der jahrelangen Isolation Russlands bedeutet. Diese Revolution vorzubereiten, war man in Moskau nun fest entschlossen. Anstatt die gesellschaftliche Dynamik des August 1923 auszunutzen, zuzuspitzen und dann eine Revolution aus realen gesellschaftlichen Kämpfen heraus zu entwickeln, setzte sie nun gemeinsam mit der Führung des deutschen Kommunismus auf einen minutiös vorbereiteten Aufstand im Herbst des Jahres. 23 Ernst Meyer: Der Antifaschistentag in Deutschland, in: Inprekorr Jg.3, Nr.124, 27.7.23, S.-1081 f. 24 Rosenberg: Geschichte, S.-135. Diese Einschätzung ist in der Forschung aber umstritten. <?page no="215"?> 215 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ Ernst Meyer sollte später das Versäumnis, die Aktionen zum richtigen Zeitpunkt zu steigern, als einen wesentlichen Grund für das Scheitern des Deutschen Oktober analysieren. „Ernst argumentierte, man könne revolutionäre Glut nicht im luftleeren Raum aufbewahren oder auf Eis legen“, erinnerte sich seine Frau. „Man müsse sie am Leben erhalten und ständig nähren, indem Tag für Tag auch für mindere Teilziele gekämpft werde. Die Arbeiterschaft würde bei der ‚letzten Schlacht‘ nicht alles einsetzen, wenn sie nicht zuvor in einer Serie kleinerer Gefechte, die dieser Schlacht vorausgingen, ihre eigene Kraft wie auch die Fähigkeit ihrer Führer erprobt hätte. […] Brandler mit seinem ‚Drang zur Sparsamkeit‘ hat es nicht nur versäumt, derartige Aktivität zu fördern, sondern er ging im Gegenteil so weit, verschiedentlich bereits laufende Aktionen wieder abzublasen.“ 25 Auch die spätere Mittelgruppe in der KPD, in der Meyer eine herausragende Rolle spielen sollte, verwies in ihrer Kritik am gescheiterten Oktoberaufstand immer wieder auf die versäumte Steigerung der Bewegung im Sommer 1923. Soweit sich das aus den Quellen herauslesen lässt, vertrat Meyer diese Position auch schon im Sommer 1923. Symptomatisch hierfür ist das Protokoll der Sitzung des Polbüros vom 14. August. Dort schätzte Brandler die zum Sturz der Regierung Cuno führende Streikbewegung folgendermaßen ein: „Die Bewegung war lediglich eine kraftlose, spontane Rebellion, ausgelöst durch die allgemeine Teuerung, verschärft durch die Zahlungsmittelknappheit. Wir müssen offiziell sagen, dass der Sturz Cunos eine Folge dieser Berliner Bewegung war, obwohl es nicht stimmt. […] Die Bewegung ist als Generalstreiksbewegung verkracht in ihrem politischen Ausgangspunkt und technischen Durchführung“. Derweil kritisierte Meyer die KPD-Führung für ihre zu langsame Information der Bezirke und warf als einziger der Anwesenden die Frage auf, „ob wir aus der Bewegung nicht mehr hätten herausholen können.“ 26 Brandler hingegen verteidigte seinen zögerlichen Kurs: Die Zentrale der KPD habe „eine sehr vorsichtige und bedächtige Taktik eingeschlagen. Wir haben bewusst gesagt, wir wollen bei Beginn der Bewegung nicht von uns aus versuchen, die Bewegung zu forcieren und vorwärtszutreiben […], wir wollen nicht von vornherein das treibende Element sein.“ 27 Die konkreten Revolutionsvorbereitungen in Moskau und dann in Deutschland, die kurz nach dieser Sitzung einsetzen, sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden 28 , so dass hier einige Stichworte ausreichen sollten: In Moskau wurde eine hochkarätige Kommission zur Vorbereitung der deutschen Revolution, bestehend aus Trotzki, Radek, Sinowjew, Stalin und dem Außenkommissar Tschitscherin, gebildet. Die Rote Armee wurde in Alarmbereitschaft versetzt, große Geldsummen bereitgestellt, Militärspezialisten nach Deutschland entsandt und Parteiführer aus Deutschland (darunter Brandler) und den Nachbarländern nach Moskau gerufen, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Der 9. November wurde als Aufstandstermin anvisiert, die endgültige Terminierung aber der deutschen Parteiführung überlassen. Eine Beilegung der scharfen Differenzen zwischen der Zentrale-Mehrheit um Brandler und ihren Opponenten um Ruth Fischer gelang in Moskau allerdings nicht; die Führung der KPD ging tief gespalten in den Deutschen Oktober. 25 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-64. 26 SAPMO-BArch, RY I/ 1, 2/ 3/ 3, Bl. 231 f. 27 Protokoll der Konferenz der Zentrale der KPD mit den Bezirkssekretären und Redakteuren, Leipzig, 24.8.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 3, Bl. 237 f. Meyer war auf der Konferenz anwesend, vgl. ebenda, Bl. 235. 28 Vgl. Wenzel: 1923, S.-179-194; Jentsch: 1923, S.-150-174. <?page no="216"?> 216 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Intensiv wurden die klandestinen Aufstandsvorbereitungen nun vorangetrieben. Die Proletarischen Hundertschaften, die im Herbst auf ca. 133.000 Mann angewachsen waren, wurden militärisch strukturiert und die Versuche, Waffen aufzutreiben, intensiviert. Die KPD teilte das Land in militärisch-politische Befehlseinheiten auf und bereitete die Übernahme aller Bereiche des öffentlichen Lebens vor. Wenzel urteilt, dass „die kommunistischen Aufstandsvorbereitungen mit aller Ernsthaftigkeit betrieben wurden und eine Vielseitigkeit annahmen, wie sie bis dahin in Deutschland unbekannt war.“ 29 Verfrühte Aktionen sollten besser vermieden werden, um nicht unnötig die Aufmerksamkeit der Polizei zu wecken und verfrüht in Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Aber Mitte September brachen in Oberbaden, das zu Meyers Oberbezirk Südwest gehörte, spontane Unruhen und Streiks aus, die schließlich mit Hilfe der Schutzpolizei niedergeschlagen wurden. In einem Schreiben vom 21. September berichtete Meyer der Zentrale über die Bewegung. Die Einheitsfronttaktik habe „den Ausgangspunkt der Bewegung“ gebildet, auf lokaler Ebene hätten SPD und KPD eng zusammengearbeitet und auch gegenüber der Schutzpolizei zusammengestanden, während auf Landesebene die Führung von SPD und Gewerkschaften sich gegen die Kommunisten stellten. Dies habe die reformistischen Führungen demaskiert und die Kommunisten gestärkt: „Die Situation unserer Partei gegenüber der SPD und ADGB ist sehr günstig. […] So tritt die Kluft zwischen reformistischen Führern und sozialdemokratischen Arbeitern offen zu Tage. […] Die jetzige Bewegung hat eine ungeheure Empörung unter den Arbeitern gegen SPD und Gewerkschaftsbonzen ausgelöst. Das ist der größte Gewinn für unsere Partei.“ Ein weiterer Gewinn sei die Stärkung der Betriebsrätebewegung, für welche die Partei in der Bewegung eine effektive Propaganda betrieben habe. „Die Aussichten für einen badischen und süddeutschen Betriebsrätekongress sind jetzt bessere.“ Die KPD verzichtete auf eine Steigerung der Bewegung um jeden Preis und rief - da sich die Proteste spontan nicht in die industriellen Zentren im nördlichen Baden ausweiteten - auch nicht zu einem landesweiten Generalstreik auf: „Die Parteileitung beschränkte sich zweckmäßigerweise auf die Forderung: ‚Unterstützung der bereits Streikenden durch Vorbereitung des Generalstreiks.‘ An vielen Orten löste das Solidaritäts- und befristete Proteststreiks aus.“ Nach Überschreiten des Höhepunktes der Bewegung setzte die KPD auf einen geordneten Rückzug, „der keineswegs als Niederlage empfunden werden wird.“ 30 Offensichtlich leitete die regionale Partei hier ihren Kurs aus den Entwicklungen und Erfordernissen der Bewegung ab und versuchte nicht, sie als verfrüht abzuwürgen, um so die technische Vorbereitung des Aufstandes nicht zu gefährden. Meyers individueller Anteil an dieser Ausrichtung in Baden ist allerdings schwer zu ermitteln. Zumindest belegt ein Dokument aus diesen Tagen, dass Meyer - im Gegensatz zu vielen anderen KPD-Spitzenfunktionären - auch im direkten Vorlauf zum geplanten Aufstand die Bedeutung von kleineren Kämpfen betonte und auf eine stärkere Beteiligung der KPD drängte. So schrieb er am 24. September an die Bezirksleitungen im Südwesten: „Alle Parteimitglieder müssen auf die Möglichkeit rascher Entwicklungen eingestellt sein. Im Tageskampf selbst muss aber an das Verständnis der Massen auch in der Aufstellung der Forderungen angeknüpft werden. Die Partei darf nie einen Schritt zurück, sondern muss immer einen Schritt den 29 Wenzel: 1923, S.-225. 30 Brief Meyer an Polbüro, Mannheim, 21.9.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41, Bl. 33 f. <?page no="217"?> 217 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ Massen voraus sein. Dieses Vorwärts darf aber nicht hundert Schritte bedeuten, so dass wir ohne Fühlung mit den Massen sind.“ Meyer versuchte also, neben den militärischen Aspekten der Aufstandsvorbereitung die politischen nicht zu kurz kommen zu lassen. Wesentlich blieb ihm Einheitsfronttaktik: „Die Hauptaufgabe unserer Partei in dieser Situation ist, die Massen der Arbeiter, insbesondere die der SPD für uns zu gewinnen.“ Daher müsse die Partei konkrete ökonomische Forderungen stellen, die zu gipfeln hätten in der „Forderung der Arbeiter- und Bauernregierung, als einer Koalitionsregierung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten mit Beteiligung von Bauern.“ 31 Im Oberbezirk Südwest wurde zur Vorbereitung des Aufstandes ein Revolutionskomitee gebildet, dem Meyer als Polleiter angehörte. 32 Eine Aufgabe der dortigen KPD war, sich auf einen Einmarsch der französischen Armee vorzubereiten, der möglicherweise auf einen erfolgreichen kommunistischen Aufstand folgen würde. Von den konkreten Aufstandsplanungen im Oberbezirk ist wenig bekannt. Überhaupt ist die Quellenlage schlecht. Die ohnehin nur spärlichen Aufzeichnungen der illegalen Vorbereitungen wurden während des folgenden KPD-Verbots in der Regel vernichtet, um sie nicht den Repressionsorganen in die Hände fallen zu lassen. Privat bereiteten sich Meyer und seine Frau auf dramatische Zeiten vor. „Ernst hatte große Bedenken“, erinnerte sie sich, „aber keiner hegte den geringsten Zweifel daran, dass der Entscheidungskampf nahe war. Als der Zeitpunkt heranrückte, begann Ernst, seine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen, bestrebt, mich in Reichweite zu wissen, damit wir nicht bei ausbrechenden Unruhen durch die Einstellung des Eisenbahnverkehrs oder andere Misslichkeiten getrennt würden. Er schickte mich nach Berlin, wo ich unsere Wohnung vermieten sollte, um der Gefahr ihrer Verwüstung vorzubeugen, vor allen Dingen um unsere wertvolle Bibliothek zu retten für den Fall, dass die Konterrevolution siegen sollte - eine Möglichkeit, die man schließlich auch in Erwägung ziehen sollte.“ 33 Meyer versuchte, für alle Notfälle Geld aufzutreiben, wie er seiner Frau schrieb: „Ich sandte Dir gestern 4 Milliarden, sie sind geliehen. Vom Landtag gab es nur 2,4 Milliarden, also sehr wenig. Von der Z. nur die 4 Dollar.“ Aus dem Brief geht auch hervor, wie dramatisch er diese Tage im Oktober empfand: „Zeitungen unserer Partei erscheinen nirgends mehr. […] Die Situation ist sehr zugespitzt. Alles ungewiss. Auch die Möglichkeit von Verzögerungen.“ 34 Für Meyer galt also, was Harald Jentsch für die gesamte Führungselite der KPD im Herbst 1923 feststellte: „Die handelnden Personen befanden sich in einer permanenten Ausnahmesituation - zum einen wegen der internen Differenzen und dem Kampf um die Parteiführung, zum andern wegen der selbstgestellten welthistorischen Aufgabe, eine Revolution zu organisieren und durchzuführen.“ 35 Nicht von ungefähr hatte Brandler bereits im August auf einer Konferenz der Zentrale mit den Bezirkssekretären und Redakteuren Übermüdung sowie physischen und seelischen Verschleiß aller verantwortlichen Funktio- 31 Brief Meyer an die Bezirksleitungen Hessen-Frankfurt, Hessen-Kassel, Baden, Württemberg, Pfalz, Frankfurt a.M., 24.9.23 (Kopie für die Zentrale), in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41, Bl. 35 f. 32 Bericht des RKO vom 5.6.23, in: BArch Lichterfelde, R1507/ R134, 56/ 79, Bl. 78 f.- 33 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-65. 34 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Berlin, 11.10.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 70. 35 Jentsch: 1923, S.-44 f. <?page no="218"?> 218 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) näre konstatieren müssen. Lapidar schrieb Rosa etwas später ihrem Mann: „Du schreibst wieder von Ferien, als ob ich so was noch ernst nehme! “ 36 Die auf die Regierung Cuno folgende Große Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann mit Rudolf Hilferding (SPD) als Finanzminister ergriff verschiedene Maßnahmen, um eine Stabilisierung der Verhältnisse in Deutschland einzuleiten. Allerdings führten diese Maßnahmen nicht sofort zu einer Linderung der ökonomischen Krise. Auch die politische Krise durch Angriffe der Unternehmer auf den Achtstundentag und die Verhängung des Ausnahmezustandes in Bayern blieb weiter virulent. Zumindest in der Rückschau lässt sich aber mit Jentsch feststellen, dass „die Radikalisierung der deutschen Arbeiterschaft ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte“ als die kommunistischen Aufstandsplanungen konkret wurden. 37 Die Führungen von KPD und KI legten sich über die veränderte Situation aber keine Rechenschaft ab. Bei ihnen entkoppelten sich stattdessen, wie Kinner urteilt, „zunehmend politische Realität und politisches Wollen. Eine zunächst aussichtsreiche Entwicklung, ein bemerkenswerter Zuwachs an Einfluss und Aktionsfähigkeit der KPD verführten die Träger politischer Entscheidungen zu blankem Voluntarismus. Der übermächtige Glaube an die Weltrevolution, die verzweifelte Hoffnung auf einen Entsatz der russischen durch die deutsche Revolution betäubten nüchternes Kalkül und Realitätssinn.“ 38 Meyer hatte bereits bei der Zentrale-Sitzung am 4. September einen leichten Rückgang der revolutionären Stimmung festgestellt: „Der Zufluss der sozialdemokratischen Arbeiter zu unserer Partei hat in letzter Zeit etwas gestoppt. Die SPD hat sich in der Provinz unter Führung der linken Sozialdemokraten konsolidiert.“ Diese Analyse war in der Zentrale überaus umstritten, Fischer etwa ging von einer tiefen Krise der SPD aus und rechnete mit ihrer baldigen Spaltung. 39 Meyer bestritt dies und forderte, die Parole nach einer Arbeiter- und Bauernregierung zu forcieren. Tatsächlich wurde das Konzept einer Arbeiterregierung zum Dreh- und -Angelpunkt der kommunistischen Revolutionsplanungen für den Herbst 1923. 7.3.2 „Mittel zur Steigerung des Kampfes“: Perspektiven einer Arbeiterregierung Zur Vorbereitung des Aufstandes sollten erstmals Kommunisten in Landesregierungen eintreten, und zwar in die von Sachsen und Thüringen. In beiden Ländern amtierten bereits seit einigen Monaten sozialistische Minderheitskabinette, welche die KPD tolerierte. Aus der Regierung heraus wollten die Kommunisten die Proletarischen Hundertschaften bewaffnen und einen mitteldeutschen „roten Block“ zur Abwehr der von Bayern ausgehenden faschistischen Gefahr bilden. Die angestrebte Arbeiterregierung sollte sich von Anfang an auf überparteiliche außerparlamentarische proletarische Einheitsfrontorgane wie die Hundertschaften, Betriebsräte, Kontroll- und Aktionsausschüsse stützen und so über den Rahmen einer rein parlamentarischen Herrschaftsform hinausweisen. Gleichzeitig sollte ein reichsweiter Betriebsrätekongress vorbereitet werden. Dessen Aufgabe wäre es gewesen 36 Brief Meyer-Leviné an Meyer, Frankfurt, 7.12.23, in: BArch Koblenz, N 1246/ 4, Bl. 37. 37 Jentsch: 1923, S.-172. 38 Kinner: Kommunismus, S.-60. 39 Protokoll der Sitzung der Zentrale am 4.9.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 5/ 15, Bl. 219 ff. <?page no="219"?> 219 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ einen bewaffneten Aufstand zu proklamieren, welcher von Sachsen und Thüringen aus auf das ganze Reich (vorerst mit Ausnahme Bayerns) übergreifen sollte. Tatsächlich wurde am 10. Oktober in Sachsen eine sozialdemokratisch-kommunistische Regierung gebildet, Thüringen folgte am 16. Oktober. Damit schien erstmals das von Meyer forcierte Konzept einer auf Betriebsräte gestützte Arbeiterregierung (oder Arbeiter- und Bauernregierung, wie die offizielle Parole der KI seit dem Sommer 1923 lautete) Realität werden zu können. Er selbst hatte sich 1921 langsam und mühevoll an die Forderung nach einer Arbeiterregierung herangearbeitet; 1922 war er einer ihrer entschiedensten Verfechter in der KPD geworden, und auch 1923 betonte er immer wieder deren Notwendigkeit als nächste Kampfetappe. In seinem Verständnis war sie weiterhin - anders als für Sinowjew, mit dem er in dieser Frage auf dem IV. Weltkongress der KI zusammengestoßen war - eben kein Synonym für die Diktatur des Proletariats, sondern erst einmal eine Losung, um die sich breite Arbeitermassen zum gemeinsamen Kampf sammeln ließen. Sie ergab sich logisch aus seiner Einheitsfront-Konzeption: Die Appelle an die SPD, proletarische Interessen entschlossen zu vertreten, mussten auch die letzte Konsequenz einschließen: die gemeinsame Regierungsbildung. Weigerte sich die SPD-Führung, diesen Schritt zu gehen, würde sie sich vor ihren proletarischen Anhängern demaskieren. Ging sie jedoch darauf ein, wäre eine Radikalisierung der SPD-Basis über die Horizonte parlamentarischer Politik hinaus die Folge. Denn einmal verwirklicht, werde die Arbeiterregierung - nicht zuletzt durch Angriffe und Sabotagemaßnahmen von Seiten der Bourgeoise - zu einer massiven Verschärfung der Klassenkämpfe führen. Ein Bürgerkrieg wäre die Folge und schließlich die Diktatur des Proletariats. Eine derart verstandene Arbeiterregierung hat nichts mit den aus der Gegenwart bekannten Diskussionen um Regierungsbeteiligungen kommunistischer Parteien zu tun. Es ging Meyer nicht darum, durch eine Arbeiterregierung die Tagesinteressen des Proletariats im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft effektiver zu vertreten und gewisse Verbesserungen zu erreichen. In seiner Konzeption war sie nichts Anderes als eine unter bestimmten Bedingungen notwendige, unter Umständen auch länger andauernde Übergangsetappe auf dem Weg zu einer Diktatur des Proletariats - jedoch keineswegs eine Alternative dazu. Im Februar 1923 gab es in der Zentrale scharfe Kritik an Meyers Auffassung, die Arbeiterregierung könne durchaus auch ein Übergangsstadium von längerer Dauer sein. Diese Auffassung korrigierte Meyer später, hielt aber an seinen Grundannahmen fest, wie ein Papier von 1925 belegt, dessen Mitautor er war: „In Zeiten zugespitzen Klassenkampfes, wenn die Machtfrage gestellt ist, die Bourgeoisie wie die SPD in Zersetzung sind, kann die Arbeiterregierung ein bedeutungsvolles Mittel zur Steigerung des Kampfes sein. Arbeiterregierung als einer längerdauernden Etappe musste zur Versumpfung führen. Sie hat revolutionären Wert nur als Sprungbrett zur Diktatur.“ 40 Meyers Zugang zur Arbeiterregierung war in der kommunistischen Bewegung stets umstritten, ebenso wie seine Einheitsfront-Konzeption. Vor allem die Vertreter des linken Flügels bekämpften sie, da sie ihrer exklusiven Orientierung auf den Endkampf diametral entgegenstand. In der Sitzung der Zentral am 12. September 1923 griff Fischer Meyers 40 Ernst Meyer/ Paul Frölich/ Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD. Beilagen, Teil II: Einige Lehren aus der Geschichte der KPD; Die politische Lage und die politischen Aufgaben der Partei, in: Die Internationale, Jg. 8, H. 10 (15.10.1925), S.-640-646, Zitat S.-644. <?page no="220"?> 220 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Position massiv an. Seit zwei Jahren gäbe es zwei politische Strömungen, die um die Vorherrschaft in der Partei ringen: ihre eigene und „die Richtung, die in einem Abschleifen der kommunistischen Auffassung, in der Bildung einer Arbeiterregierung innerhalb der Demokratie zum Ausdruck kommt […]“. Meyer gehöre zu den wichtigsten Exponenten „dieser reformistischen Einstellung, die in unseren Funktionären drinsteckt“. Dies käme auch in seinen Bemühungen zum Ausdruck, der SPD gegenüber eine sachlichere Sprache zu benutzen. 41 Meyer ließ sich aber nicht beirren. Bei der Sitzung der Zentrale am 19. September erklärte er, die Partei sei vor allem auf das politische Ziel einer Arbeiter- und Bauernregierung zu konzentrieren und müsse außerdem die Betriebsrätebewegung stärken und daher in den einzelnen Bezirken Betriebsrätekongresse organisieren. Diese Linie wurde in Meyers Oberbezirk auch umgesetzt. So forderte eine illegale Betriebsrätekonferenz in Baden noch am 28. Oktober den Kampf gegen den Belagerungszustand, für eine Kontrolle der Betriebsräte über die Wirtschaft und für die Errichtung einer „proletarischen Regierung, gestützt auf ihre Klassenorgane in Baden und im Reiche.“ 42 7.3.3 Der kampflose Rückzug der KPD Zwei Tage nach Bildung der sächsischen Koalitionsregierung erschien in der „Inprekorr“ ein Leitartikel Meyers mit dem Titel: „Der Aufmarsch der Arbeiterklasse Deutschlands gegen die Konterrevolution.“ Mit Bildung der Regierung Stresemanns würden die Eliten noch einmal versuchen, die Krise durch die Einbindung der SPD zu lösen. Dieser Versuch sei aber zum Scheitern verurteilt: „Die außenpolitische Lage ist derart verfahren, der Hunger und das Elend der Massen so groß, die Finanzen sind derart zerrüttet, dass im Rahmen des bürgerlichen Staates eine Entwirrung und Besserung nicht mehr möglich ist.“ Vor diesem Hintergrund werde die „große Bedeutung der Versuche zur Bildung einer Arbeiterregierung in Mitteldeutschland verständlich“, so Meyer weiter. „Die Kommunistische Partei Deutschlands hat durch ihren Entschluss, Mitteldeutschland zum Sammel- und Ausgangspunkt der revolutionären Kämpfe in Deutschland zu machen, eine große Verantwortung auf sich geladen. Neue Enttäuschungen kann das Proletariat nicht mehr ertragen. Aber wir haben die Gewissheit, dass Sachsen und Thüringen im Gegenteil Belebung und Kräftigung der revolutionären Energien bringen werden.“ Das Proletariat werde „dem sächsischen und thüringischen Beispiel folgen und in zähem Kampfe nicht nur Mitteldeutschland sichern, sondern sich ganz Deutschland erobern.“ 43 In einer bemerkenswerten Landtagsrede betonte Meyer am 10. Oktober: „Deshalb rufen wir die gesamte Arbeiterschaft zur Vorbereitung dieser Kämpfe auf, die sich in erster Linie gegen den Belagerungszustand und gegen die Große Koalition im Reiche und in Preußen richten, die die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung zum Ziel haben. Dieser Befreiungskampf der proletarischen Klasse wird kommen, er wird von großen Schichten der Arbeiterschaft begrüßt und wird auch die Angehörigen des Klein- und Mittelbürgertums von den Schwierigkeiten befreien, die 41 Protokoll der Sitzung der Zentrale am 12.9.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 15, Bl. 227-237, hier Bl. 227 f. 42 DuM Bd.7/ 2, S.-468 f. 43 Ernst Meyer: Der Aufmarsch der Arbeiterklasse Deutschlands gegen die Konterrevolution, in: Inprekorr Jg. 3, Nr. 160, 12.10.23, S.-1363 f. <?page no="221"?> 221 7.3 Meyer im „Deutschen Oktober“ sie unter dem gegenwärtigen System erleiden müssen. […] Je eher die Arbeiterschaft sich aufrafft, je rascher sie diesen Kampf führt, je entscheidender sie den Klassenfeind schlägt, um so eher, um so leichter wird sie den Sieg erringen.“ 44 Die sich nun überschlagenden Ereignisse sollten aber rasch verdeutlichen, wie falsch Meyers Erwartungen waren. Denn die kommunistischen Aufstandspläne gerieten durch das entschlossene Vorgehen der Reichsregierung erheblich durcheinander. Am 16. Oktober unterstellte Berlin die sächsische Polizei der Reichswehr. Der sächsischen Landesregierung war damit ein wichtiges Machtinstrument entzogen. Die Bewaffnung der Proletarischen Hundertschaften und damit ein Kernelement des Aufstandsplanes wurde unmöglich. Eine Reichsexekution gegen den mitteldeutschen „roten Block“ und damit eine militärische Besetzung Sachsens zeichnete sich immer deutlicher ab, die Aufstandsplanungen mussten daher drastisch beschleunigt werden. Am Abend des 20 Oktober beschloss die KPD-Zentrale einstimmig einen Aufruf zum Generalstreik zur Abwehr der Reichsexekution, der als Ausgangspunkt eines bewaffneten Aufstandes dienen sollte. Allerdings sollte vor seiner Veröffentlichung das Ergebnis einer zum 21. Oktober nach Chemnitz einberufenen Betriebsrätekonferenz abgewartet werden. Zur Überraschung der Kommunisten lehnten die dort anwesenden linken Sozialdemokraten einen Generalstreikaufruf aber vehement ab. Die KPD-Zentrale sagte daraufhin in Absprache mit den anwesenden KI-Emissären den Aufstand ab, noch in der Hoffnung, schon bald einen neuen Anlauf wagen zu können. Nur in Hamburg kam es zu einem isolierten kommunistischen Aufstandsversuch, der rasch niedergeschlagen, später aber im Rahmen der stalinistischen Thälmann-Hagiographie zu einem Mythos aufgebauscht wurde. Am 22. Oktober begann der Einmarsch der Reichswehr in Sachsen, die dabei vereinzelt auf massiven, aber insgesamt unkoordinierten Arbeiterwiderstand stieß. Am 30. Oktober musste der sächsische Ministerpräsident Erich Zeigner seinen Rücktritt und damit den der sozialdemokratisch-kommunistischen Regierung erklären. Ernst Meyer besuchte mit seiner Frau am Abend des entscheidenden 21. Oktober eine Versammlung in Frankfurt. „Der Saal war berstend voll, die Erregung groß. Wir harrten des Signals, das den Generalstreik ausrief“, erinnerte sie sich. „Während wir fiebernd auf das ‚Signal‘ warteten, tagte [in Chemnitz, FW] ein Kongress der Betriebsräte. Einen Aktionsplan diskutierte er nicht. Zu jener späten Stunde fand der Kongress nur den Mut, seine tragische Unfähigkeit zu entdecken und einzugestehen - und zum Rückzug zu blasen.“ 45 Ihren rund 50 Jahre nach den Ereignissen geschriebenen Memoiren merkt man noch immer Rosas Meyer-Levinés Verbitterung über den Ausfall des Deutschen Oktobers an, den sie vor allem dem zögerlichen Kurs des Parteivorsitzenden Brandler anlastete: „[…] nie zuvor fand ein so großes Versprechen ein so klägliches Ende. […] Mag sein, dass der Rückzug unvermeidlich war. Nicht aber ein so katastrophaler, ein so kampfloser Rückzug. 44 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 273. Sitzung, 10.10.23, Sp. 15927-40. 45 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-65-67. <?page no="222"?> 222 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Nirgends war es den Arbeitern möglich gewesen, durch eigene Erfahrung herauszufinden, ob die Revolution nun ‚verraten‘ worden war oder ob sie den Kampf in offener Feldschlacht verloren hatten, weil sie noch nicht stark genug waren, ihr Ziel zu erreichen. Sie fühlten sich gedemütigt und geprellt.“ 46 Ähnlich war auch die Haltung Ernst Meyers. Es dauerte noch eine Weile, bis den deutschen Kommunisten bewusst wurde, dass der ausgefallene Deutsche Oktober für lange Zeit den letzten Versuch der Machteroberung darstellte. Vorerst liefen die militärischen Aufstandsvorbereitungen weiter, flauten erst im Dezember ab und wurden im Frühjahr 1924 schließlich ganz eingestellt. Für den Oberbezirk Südwest lassen sich noch für den Dezember Versuche der Waffenbeschaffung nachweisen, und selbst im März 1924 fand eine Sitzung der Militärpolitischen Oberleitung des Bezirks statt. Auch Meyer rechnete zunächst mit einer weiteren Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Tatsächlich trat aber eine allmähliche Stabilisierung der Lage ein. Der weitgehend stille und relativ unblutige Ausfall des Deutschen Oktobers bildete, so wertet Ernest Mandel, „den großen Wendepunkt der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts.“ 47 Denn erst auf Grundlage der Tatsache, dass die Sowjetunion auf viele Jahre isoliert bleiben würde, konnte Stalin seine Ideologie vom „Sozialismus in einem Land“ durchsetzen und sich die vollständige Umgestaltung der kommunistischen Weltbewegung weg von der radikalhumanistischen Tradition des revolutionären Marxismus hin zum Stalinismus mit all ihren Begleiterscheinungen vollziehen: Nun wurde die Komintern in ein reines Instrument russischer Außenpolitik umgewandelt und die Abhängigkeit der kommunistischen Parteien von Moskau wuchs ins Unermessliche, während zugleich die innerparteiliche Demokratie unterdrückt wurde und Bürokratisierung, Führerkult sowie Terror Einzug in die kommunistische Bewegung hielten. Die KPD stürzten die Ereignisse des Oktobers in eine tiefe Krise. Meyer wurde durch diese vermutlich kurzfristig wieder in die Führung der KPD gespült, um dann - nach dem Sieg der Linken auf dem Frankfurter Parteitag im April 1924 - in die Rolle eines innerparteilichen Oppositionsführers am Rande des Parteiapparates gedrängt zu werden. 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei 7.4.1 „Katastrophal für die gesamte Bewegung“: Früher Kritiker der Oktoberniederlage Schärfste Kritik am Kurs der Brandler-Zentrale im Oktober 1923 sollte bald zu einem Allgemeingut in der KPD werden, vor allem nachdem deutlich geworden war, dass Brandler jeden Rückhalt in Partei und Komintern verloren hatte. Meyer gehörte zu den ersten, die eine solche ausformulierten. Vier Tage nach dem Beginn des Einmarsches der Reichswehr in Sachsen schrieb er empört an die Zentrale: Seit 14 Tagen sei die Partei darauf eingestellt 46 Ebenda, S.-68 u. 71. 47 Zit. nach Jentsch: 1923, S.-503. <?page no="223"?> 223 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei worden, dass das Einrücken der Reichswehr „mit dem Generalstreik und dem Aufstande beantwortet würde“. Nun sei der Einmarsch erfolgt, „aber es fand sich keine proletarische Organisation, die zu dem aufforderte, was als notwendige Folge des Einmarsches betrachtet und gewollt wurde.“ Er bilanzierte: „Die Wirkung dieser Niederlage ist katastrophal für die KPD und die gesamte revolutionäre Bewegung.“ Bitter beklagte er die Versäumnisse der Zentrale. Es sei ein „verhängnisvolle[r] politische[r] Fehler, dass die Partei nicht rechtzeitig die Bezirke über die Haltung der linken SPD orientiert und auf die Möglichkeit einer anderen Entwicklung vorbereitet hat.“ Seit zwei Wochen hätten die Bezirke keine neuen politischen Anweisungen erhalten. Gerade in so erregten Zeiten würden die Massen eine „klare, zielbewusste Führung“ verlangen. „Die Partei ist diese Führung nicht.“ Folgende Notwendigkeiten habe die KPD-Führung unterlassen: „Rechtzeitige und scharfe Kritik an der linken SPD. Intensive Propaganda der kommunistischen Minister in Sachsen und Thüringen. Verbreitung der Ministerreden im ganzen Reich. Herausgabe der verbotenen Blätter, trotz des Verbots […]. Tägliche Berichterstattung an die Bezirke und rechtzeitige Information über Änderungen in der Perspektive der Partei […]“. 48 In noch bittereren Worten wandte er sich drei Tage später an die Zentrale. Bis zur Stunde habe weder er als Oberleiter noch die Bezirksleitungen irgendeine Mitteilung der Partei über die Haltung zum Ultimatum gegen Sachsen erhalten. Auf Anrufe bei der Partei in Berlin, bei der Fraktion und der BL in Chemnitz sei ihm mitgeteilt worden, dass auch dort „über die Absicht der Z[entrale] nicht das Mindeste bekannt sei. […] Die bloße Feststellung dieser Tatsachen ist eine Kritik, die durch das schärfste Schimpfwort nicht überboten werden kann. Es ist noch niemals in weit weniger kritischen Situationen vorgekommen, dass die Zentrale die Bezirke nicht informiert [hat] und offenbar selbst noch immer nicht weiß, was sie will.“ In dieser Situation war Meyer fest entschlossen, eigenständig zu handeln, falls weitere Direktiven ausblieben: „Falls bis heute Nachmittag nicht irgendeine zentrale Anweisung vorliegt, werde ich völlig auf eigene Verantwortung hin handeln. Selbst mögliche Versehen werden verschwinden gegenüber dem Verbrechen der Zentrale der Unterlassung jeglicher Information der Bezirke.“ 49 Wut und Verzweiflung des sonst eher für seine nüchterne und sachliche Art bekannten Meyer über das Versagen der Parteiführung kamen in diesen Briefen deutlich zum Ausdruck. Auch ein Papier der Oberbezirksleitung Südwest, der Meyer vorstand und das vermutlich aus seiner Feder stammt, mit dem Titel „Die militärpolitische Lage und die Haltung der Partei“ vom 4. November 1923 griff die Zentrale scharf an: „Die völlige Direktionslosigkeit der politischen und militärischen Leitung der KPD, das hilflose Hin- und Hertaumeln zwischen der Angst vor dem bewaffneten Aufstand und dem Grauen vor der kampflosen Niederwerfung durch die bewaffnete Konterrevolution rückt die entscheidende Katastrophe des deutschen Proletariats im Verlauf der jetzigen schweren wirtschaftlichen und politischen Krise in greifbare Nähe. Das starke, kraftbewusste ‚jetzt oder nie‘ Heinrich Brandlers in Moskau ist in die hilflose, ohnmachtsbewusste Frage ‚sollen wir’s wagen oder sollen wir’s nicht wagen? ‘ umgeschlagen. Nicht die Tatsache, dass sich die Zentrale 48 Brief Meyer an die Zentrale und Rev[olutions].-Kom[itee], Frankfurt (M.), 26.10.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41, Bl. 38 f.-Meyer schreibt weiterhin, dass er aufgrund einer zu späten Einladung nicht persönlich an der Sitzung der Zentrale teilnehmen könne. 49 [Ernst] Meyer an die Zentrale, Frankfurt(M), 29.10.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41, Bl. 44. <?page no="224"?> 224 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) beim Einmarsch der Reichswehr in Sachsen nicht für den bewaffneten Aufstand entschloss, ist verhängnisvoll, sondern die Tatsache, dass sie ‚von des Gedankens Blässe‘ angekränkelt, nicht den Mut fand, überhaupt einen Entschluss zu fassen.“ Die Hoffnung der Zentrale, dass Zentralinstanzen von SPD und ADGB mit den Kommunisten zum Generalstreik aufrufen würden, wurde als „Naivität“ bezeichnet, der Kurs der Führung mit Worten wie „Verbrechen“ und „Versagen“ gebrandmarkt. 50 Meyers Kritik am Kurs der Parteiführung im Deutschen Oktober, nur wenige Tage nach den Ereignissen formuliert, unterstreicht seine Eigenschaften als selbstständig denkenden und eigenständig handelnden Spitzenfunktionär der KPD. Während viele auch führende Funktionäre erst einmal die weitere Entwicklung abwarteten und sich erst von Brandler abwandten, als die Kominternspitze ihn fallen ließ, formulierte Meyer sofort eine Kritik, die vieles von dem vorweg nahm, was später die Position der sich herausbildenden „Mittelgruppe“ sein sollte. Die Auseinandersetzung über Oktoberniederlage beschäftigte die Partei noch lange. Auch Meyer sollte immer wieder darauf zurückkommen. Am kondensiertesten fassen die Beilagen zum „Brief der Genossen Frölich, Meyer und Becker an den 10. Parteitag“ (1925) seine Kritik zusammen. „Als die Partei endlich das Nahen der revolutionären Situation bemerkte, machte sie eine Reihe verhängnisvoller Fehler, sie bereitete sich auf den Aufstand vor, sie unterließ es aber, die Massen vorzubereiten“, heißt es dort. „So stoppte sie z.B. alle Teilkämpfe ab, um ‚die Kräfte für später zu sparen‘. Die Anlage des Kampfes - alles auf die sächsische Karte zu setzen - war ebenfalls ein verhängnisvoller Fehler. Die Partei trat in die Regierung ein, ohne vorher die Massen, die Betriebsräte mobilisiert zu haben. Die Kommunisten in der Regierung hatten keine außerparlamentarische Basis, auf die gestützt sie die Massen von den linken sozialdemokratischen Führern trennen konnten. […] Statt die linken Sozialdemokratischen Führer durch die Mobilisierung der Massen vorwärtszutreiben oder zu entlarven (taktische Möglichkeiten, die durchaus zulässig sind), vernachlässigte die Partei die Mobilisierung der Massen und ließ sich dadurch an die linke SPD binden. […] Als die Lage sich infolge des Einmarsches der Reichswehr verschärfte, zog die Partei sich kampflos zurück. Dieser schwere Fehler entstand daraus, dass die Partei die Kräfteverhältnisse nicht kannte. Aber statt die Massen zum Generalstreik aufzurufen, von der Tiefe und Breite des Streiks die weiteren Schritte abhängig zu machen, kapitulierte sie kampflos.“ Gleichzeitig erkannten die Autoren an: „Es scheint heute ziemlich sicher, dass der Generalstreik gezeigt hätte, dass der Einfluss der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie auf die Arbeitermassen noch zu stark war, als das es der Partei gelungen wäre, den Generalstreik zum bewaffneten Aufstand auszudehnen.“ 51 Ein schwerer Fehler sei es gewesen, die sächsische Regierungsbeteiligung nicht von einem Rätekongress abhängig zu machen: „Er musste die 50 O[ber] Bez[irk] Süd-West: Die militär-politische Lage in Deutschland und die Haltung der Partei, o.O., 4.11.23, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41, Bl. 54-61, Zitat Bl. 54. Für eine weitere frühe, vermutlich noch von 1923 stammende Einschätzung Meyers siehe Notizen Meyers zum Oktober 1923, o.O., o.D., in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 38-40. 51 Ernst Meyer, Paul Frölich u. Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD. Beilagen. Teil 1: Zur Politik und Taktik der Partei, in: Die Internationale, Jg. 8, H. 9 (Sept. 1925), S.-575-583, Zitat S.-576 f. <?page no="225"?> 225 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei Regierung legitimieren und damit schon der ‚reinen Demokratie‘ den Krieg erklären. Er musste die Regierung kontrollieren, den ganzen Druck der Massenstimmung unmittelbar auf die Regierung […] ausüben, das Forum bilden, von dem aus die Streitfragen in der Regierung vor der ganzen Arbeiterschaft verhandelt und von dem sie entschieden werden, das Medium sein, das alle Impulse von den Parteileitungen wiederum auf die Massen überträgt.“ Grundfehler sei aber „die Einstellung der Partei auf das ‚alles oder nichts‘“ gewesen. „Sie wurde zur entscheidenden Ursache aller Halbheiten, sie verschlimmerte die Schwächen, die tatsächlich in der Führung vorhanden waren.“ 52 Meyers Kritik am Kurs der Parteiführung 1923 mutet sympathischer an als die Kritik etwa einer Ruth Fischer, die als Mitglied der Zentrale die Politik der Partei mitverantwortete und sowohl dem Eintritt in die sächsische Regierung als auch die Entscheidung, den Aufstand nach der Chemnitzer Konferenz abzusagen, mittrug. Trotzdem prangert sie später geradezu hysterisch den angeblichen Opportunismus der Führung an, ohne ihre eigene Rolle darin öffentlich zu reflektieren. Aber Meyers Haltung war auch aufrichtiger als die wendehälsisch wirkende Haltung vieler (zeitweiliger) Parteigänger der späteren Mittelgruppe, die sich lange schwer damit taten, sich von Brandler zu distanzieren, ihn dann aber fallenließen als es die KI-Spitze auch tat. Meyers Position wirkt deutlich kohärenter. Er scheint - soweit sich das anhand der Quellen nachweisen lässt - tatsächlich bereits vor dem Oktober einen Kurs vertreten zu haben, der sich im Wesentlichen mit seiner späteren Kritik deckt. So stellte er sofort die Frage, ob sich aus den Cuno-Streiks nicht mehr hätte herausholen lassen und verlangte die Stärkung von Teilkämpfen anstatt sie zugunsten einer effektiveren technischen Aufstandsplanung auszusetzen. Als in Baden im September eine spontane Bewegung ausbrach, versuchte Meyer keineswegs sie abzuwürgen, sondern plädierte erst nach Überschreiten ihres Höhepunktes für einen geordneten Rückzug, der sich also organisch aus dem Verlauf der Bewegung ergab und nicht aus dem Zeitplan der Partei. Die Betriebsrätekongresse, die seiner Ansicht nach die sächsische Regierung hätten legitimieren müssen, fanden in seinem Oberbezirk tatsächlich statt. Meyer wartete nach dem abgeblasenen Aufstand weder Moskauer Entscheidungen noch eine Klärung der innerparteilichen Lage ab, um seine Meinung öffentlich zu sagen, sondern er äußerte sich sofort mit einer harten Kritik an der Führung. Bei wohl keinem anderen führendem KPD-Politiker lässt sich für den Herbst 1923 eine ähnliche Konvergenz zwischen eigenem Handeln, sofortiger Kritik und nachträglicher Reflexion nachweisen wie bei Ernst Meyer. Angesichts dessen drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Kominternführung Anfang 1923 mit dem Sturz Meyers und seiner Ersetzung durch Brandler wahrlich keinen Gefallen getan hatte. Hätte im Herbst tatsächlich eine realistische Chance für einen kommunistischen Aufstand bestanden, so scheint Meyer weit mehr als Brandler und andere Führungspersönlichkeiten der KPD für eine entschlossene und zugleich auch realisierbare, aus der Einheitsfronttaktik abgeleitete Aufstandsperspektive gestanden zu haben. Somit ist ein anderer Ausgang der Ereignisse 1923 mit einer KPD unter Führung Meyers zumindest denkbar. Einmal mehr zeigte sich mit dramatischen Folgen, dass zu eigenständigem und kritischen Denken und Handeln fähige Funktionäre für die kommunistische Bewegung von weit höherem Wert sind als getreue Umsetzer anderswo beschlossener politischer Linien. 52 Ernst Meyer, Paul Frölich u. Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD. Beilagen, Teil II: Einige Lehren aus der Geschichte der KPD; Die politische Lage und die politischen Aufgaben der Partei, in: Die Internationale, Jg. 8, H. 10 (15.10.1925), S.-640-646, Zitate S.-643 f. <?page no="226"?> 226 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) 7.4.2 Spaltung der Führung Einen ersten offiziellen Erklärungsversuch für die Oktoberniederlage legten Radek und Brandler dem Zentralausschuss am 3. November vor - auch, um damit eine Deutungshoheit über die Ereignisse zu erlangen. Das Dokument trug den bezeichnenden Titel „Der Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik und die Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands“ und wurde nach hitzigen Debatten mit 40: 16 Stimmen angenommen. Es besiegelte den Abschied der KPD von der Einheitsfrontpolitik. Die SPD wurde darin als „Helfershelferin des Faschismus“ bezeichnet, mit ihrer Führung gäbe es nur noch „einen Kampf auf Leben und Tod.“ 53 Meyer scheint zu denen gehört zu haben, die sich gegen diese Resolution wandten. Derweil musste es die Partei vor immense Probleme stellen, zu erklären, warum Hitler nur sechs Tage später gegen den vermeintlich bereits herrschenden Faschismus putschte - und warum dieser „Faschismus“ den Hitler-Putsch niederschlagen ließ. Allerdings war die KPD in der Zeit nach dem gescheiterten Aufstand tatsächlich von scharfen Repressionen betroffen. Auch Meyer sah Deutschland auf dem Weg in eine von der SPD unterstützte Militärdiktatur, gegen die er die Arbeiter vom Landtag aus zum bewaffneten Kampf aufforderte: „Augenblicklich existiert eine bürgerlich-demokratische Regierung überhaupt nicht mehr. Die Demokratie ist völlig zertreten worden, nicht von den Kommunisten, sondern von den bürgerlichen Parteien, von den faschistischen Organisationen […]. Die Militärbehörden zerfetzen die Verfassung. Das zeigt das Vorgehen in Sachsen und in Thüringen und im ganzen Reiche. Diese Militärbehörden pfeifen auf die Verfassung. Sie pfeifen auf die Immunität. Sie sind aber mit Hilfe der Sozialdemokratie in den Sattel gehoben worden.“ Auf die Niederschlagung der ungarischen Räterepublik anspielend erklärte er weiter: „Sollen wir dulden, dass, wie in Ungarn, die faschistischen Organisationen von Tag zu Tag frecher werden und die Arbeiterschaft abwürgen, nicht nur politisch, sondern auch physisch gesprochen! Selbstverständlich rufen wir das Proletariat jeden Tag dazu auf, sich zu bewaffnen. Gerade in dieser Stunde […] erheben wir stärker den Ruf: Alle Proletarier müssen sich bewaffnen, um dieser Schandherrschaft ein Ende zu machen! “ 54 Diese Rede Meyers verfolgte vor allem das Ziel, die Politik der KPD nach außen hin offensiv zu rechtfertigen. Sie ordnete sich zugleich in die verbale Kraftmeierei der Kommunisten in diesen Wochen ein und drückte die in der Führung fortbestehende Hoffnung auf eine sich bald neu entwickelnde revolutionäre Situation aus. Trotzdem unterschied sich Meyer analytisch deutlich von Radek und Brandler. Auf eine Zuordnung der SPD zum faschistischen Lager verzichtete er. Denn diese öffnete, so der Historiker Vatlin, „Tür und Tor für 53 Vgl. Winkler: Revolution, S.- 701; Jentsch: 1923, S.- 276-278. Zum ZA siehe Protokoll der Sitzung des ZA der KPD am 3.11.23, in: RY 1/ I 2/ 1/ 19. Von Meyer ist kein Redebeitrag überliefert, er nahm aber in seiner Funktion als Oberbezirksleiter Südwest teil, vgl. ebenda, Bl. 37. Die Thesen in: DuM Bd. 7/ 2, S.-471-484. 54 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 278. Sitzung, 28.11.23, Sp. 19827-35. <?page no="227"?> 227 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei die sektiererischen Einstellungen, die in den folgenden Jahren Verbreitung fanden und in die Theorie vom ‚Sozial-Faschismus‘ mündeten.“ 55 Die Erklärung Brandlers und Radeks deutete bereits die in den kommenden Monaten immer wieder zu Tage tretende Bereitschaft von großen Teilen der Parteiführung an, sich dem Druck der linken Opposition zu beugen und von der Einheitsfrontpolitik abzurücken. Auch in der historischen Rückschau irritiert, mit welcher Schnelligkeit Brandler dieses Grundelement seiner bisherigen Politik zeitweilig fallenließ. In Folge der Ereignisse spaltete sich jener Block, der seit dem Jenaer Parteitag von 1921 die Partei führte. Hierzu trug auch ein Positionswechsel Sinowjews bei: Hatte er noch im November den Oktoberrückzug gebilligt, signalisierte nun ein „geschlossener Brief“ des EKKI eine deutliche Abkehr vom deutschen Parteivorsitzenden, dem - auch um von der Rolle der Exekutive bei der Vorbereitung des Deutschen Oktobers abzulenken - die Hauptverantwortung für die Niederlage angelastet wurde. Um Remmele, Eberlein, Koenen, Stoecker und Kleine (der weiterhin als Vertreter Sinowjews in der Zentrale mitwirkte) bildete sich daraufhin eine neue Mittelgruppe. Nunmehr war die Partei also in drei Richtungen gespalten: Linke, Rechte und Mittelgruppe. Der linke Flügel versuchte sich zum Wortführer des Unmutes über das „Versagen“ der Brandler-Führung zu machen und mit dieser gleich die Einheitsfronttaktik als solche zu entsorgen. Er erklärte diese Taktik zur wesentlichen Ursache des Scheiterns im Oktober und forderte eine klare Abkehr von Teilforderungen, Arbeiterregierungen und dergleichen. Die Niederlage erkläre sich im Wesentlichen aus subjektiven Faktoren, nämlich einer mutlosen Führung (Brandler) und einer falschen Politik (Einheitsfront). Objektiv habe hingegen im Oktober eine revolutionäre Situation bestanden. Die Lösung, welche die Linken anboten, war dementsprechend die noch entschiedenere Propagierung der proletarischen Diktatur. Demgegenüber erklärten „Rechte“ wie Brandler, Thalheimer und Walcher das Scheitern im Oktober vor allem aus den objektiven Umständen. Sie gestanden zwar eigene Fehler ein, betonten aber, es habe keine revolutionäre Situation gegeben, die mit den militärisch-technischen Aufstandsvorbereitungen des EKKI korrespondiert hätte. Daher hätte der Aufstand abgesagt werden müssen. Dementsprechend kehrte Brandler bald wieder zur Einheitsfrontpolitik zurück. 7.4.3 Herausbildung der Mittelgruppe Zwischen diesen Positionen stand die Mittelgruppe, die im Winter 1923/ 24 vorübergehend die Führung der KPD übernahm. Als zeitweilige Mehrheitsströmung verantwortete sie auch den „Politischen Bericht“ der Zentrale an den Frankfurter Parteitag der KPD, der weitgehend ihre Positionen abbildet. Scharf wurde Brandler dafür angegriffen, durch die Arbeiterregierung versucht zu haben, im Rahmen des Kapitalismus Arbeiterpolitik zu betreiben und die SPD vom linken Flügel der Bourgeoisie auf den rechten Flügel der Arbeiterregierung herüberzuziehen. Das abgeschwächte Auftreten beim Antifa-Tag nach 55 Alexander Vatlin: Die Komintern. Gründung, Programmatik, Akteure, Berlin 2009, S.-240. <?page no="228"?> 228 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) dem Verbot der Demonstrationen sei ein schwerer Fehler gewesen, ebenso das Versäumnis, die zum Sturze der Regierung Cuno führende Streikbewegung weiter zu aufzubauen. Der größte Fehler aber sei das orientierungslose, kampflose Ausweichen im Oktober gewesen. Zusammenfassend heißt es in dem Bericht: „Die Brandlergruppe vertrat den Standpunkt, dass die objektiven Ursachen den Hauptgrund der Niederlage des Proletariats im Oktober bildeten und dass der ganze Plan des Endkampfes falsch war. Die sich demgegenüber herausbildende neue Mehrheitsgruppe der Zentrale unterstrich in erster Linie die Notwendigkeit des Kampfes und die subjektiven Fehler der Partei als Ursache des Versagens, ohne jedoch wie die Opposition die ganze bisherige taktische Linie der Partei, die Einheitsfronttaktik als Grundursache hinzustellen und abzulehnen.“ 56 Ein Großteil der leitenden Parteifunktionäre schlossen sich der Mittelgruppe an, darunter Eberlein, Becker und Gerhart Eisler und sogar erklärte Anhänger Brandlers wie Frölich, Pieck und Enderle. Einige andere tendierten bereits zur Linken, der sie sich im Sommer 1924 (wieder) anschließen sollten, etwa Remmele, Schneller und Koenen. Andere hielten trotz gewisser Kritik an einzelnen Punkten am grundsätzlichen Kurs der Brandler-Zentrale fest. Die Mittelgruppe bildete im Winter 1923/ 24 also alles andere als eine ideologisch homogene Fraktion. Tjaden unterstellt vielen ihrer Parteigänger, sie hätten sich ihr vor allem angeschlossen, um ihre Führungsposition - „sei es aus persönlichem, sei es im Interesse einer der alten Parteilinie angenäherten Politik“ - zu erhalten. 57 Meyer war sich der schwankenden und unsicheren Haltung vieler Mittelgruppenanhänger durchaus bewusst. Er interpretierte sie als ängstliches Zurückweichen vor dem Druck, der aus Moskau kam und der von der Linken ausgeübt wurde, und legte sie als Führungsschwäche aus, wie er an Clara Zetkin schrieb: „Leider ist der Zustand der Partei sehr ernst; hauptsächlich infolge des Mangels an Verantwortlichkeitsgefühl Seitens der ‚leitenden‘ Genossen. Kaum einer wagt hier zu stehen bei dem, was er getan hat. Alles weicht vor jedem Druck, mag er von Ruth [Fischer] oder von Vertretern der Exekutive kommen. Wir werden erst dann eine wirkliche Führung haben, wenn die ‚leitenden‘ Genossen sich Rückgrat angenehmen und nicht jede politische Krise durch Personalverschiebungen zu ‚lösen‘ suchen.“ 58 Meyer selbst lieferte sich in dieser Zeit heftige schriftliche Auseinandersetzungen mit Fischer. 59 Ab dem Sommer 1924 war Meyer die unbestrittene Führungsfigur der Mittelgruppe. Aber gehörte er ihr bereits im Winter 1923/ 24 an? Tjaden legt nahe, er habe zu den KPD- Funktionären gehört, die sich „der Widersprüchlichkeit und Unklarheit der ‚Mittelgruppe‘- 56 Bericht 9. Parteitag, S.18-23, Zitat S.-23. 57 Tjaden, Karl Hermann: Struktur und Funktion der KPD-Opposition (KPO). Eine organisationssoziologische Untersuchung zur Rechtsopposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik, Hannover 1983, S.40 und S.42. Zur Mittelgruppe siehe auch Weber: Wandlung, S.-58-60. 58 Brief Meyer an Zetkin, Berlin, 15.12.23, in: SAPMO-BArch, NY 4005, Bl. 35. 59 Vgl. Weber: Wandlung, S.- 60, Anm. 37. Siehe auch Brief Ruth Fischer an Meyer, Berlin, 1.3.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 41, Bl. 155; Brief Meyer an Ruth Fischer, o.O., 7.3.24, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 49. <?page no="229"?> 229 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei Position […]“ bewusst gewesen sein und sich daher zunächst abwartend verhielten. 60 Weber hingegen bezeichnet Meyer als einen „Führer der Mittelgruppe“. 61 Ähnlich sieht es Meyer-Leviné. Laut einem Redebeitrag auf dem Frankfurter Parteitag, den sie zititert, hat Meyer sich dort selbst zum „Grundkern der Mittelgruppe“ gezählt. 62 Doch Meyers Rolle bei der Herausbildung der Mittelgruppe bleibt im Dunkeln. Ein Beleg für die von Meyer-Leviné überlieferte Rolle als Kopf der Gruppe vor dem Frankfurter Parteitag ließ sich nicht finden, die von ihr zitierte Rede taucht im Protokoll des Parteitages nicht auf. Protokolle von Treffen dieser Fraktion, die Aufschluss über seine Rolle geben könnten, existieren nicht, ihre Struktur und Arbeitsweise ist unbekannt. Somit lässt sich nicht einmal Meyers Zugehörigkeit zur Mittelgruppe während des Winters 1923/ 24 aus den Quellen eindeutig nachweisen. Die schlechte Quellenlage erschwert die Klärung. Die KPD war am 23. November verboten worden und blieb es bis zum Frühjahr 1924. Soweit es aus dieser Zeit überhaupt Protokolle aus den Führungsgremien der Partei gibt, wurden in der Regel Decknamen verwendet, die Teilnahme Meyers ist daher schwer nachzuweisen. Im Protokoll der Zentrale- Sitzung vom 8. Februar 1924, in dem ausnahmsweise Klarnamen verwendet wurden, heißt es: „Anwesend: Alle Mitglieder der Z[entrale] außer Meyer, Schulz und Eberlein, erstere beide entschuldigt wegen auswärtiger Parteiarbeit.“ 63 Dieses Protokoll legt nahe, dass Meyer Anfang 1924 tatsächlich wieder zur regulären Zentrale der KPD gehörte - eine endgültige Klärung ist aus den ausgewerteten Quellen aber nicht möglich. Sicher ist hingegen, dass Meyer als OBL Südwest auch in dieser Zeit ein Spitzenfunktionär mit enger Anbindung an die oberste Führungsetage war. Und auch wenn seine Funktion in der Herausbildungsphase der Mittelgruppe unklar bleibt: politisch ist er ihr eindeutig zuzurechnen. 7.4.4 Der Sieg des linken Flügels Abgesandte der drei KPD-Strömungen verhandelten bis weit in den Januar hinein in Moskau mit der Komintern-Exekutive. Ziel der Exekutive war eine Einigung von Linken und Mittelgruppe, um aus diesen beiden Strömungen die künftige Führung des deutschen Kommunismus zu bilden. Gegen den Widerstand einiger Anhänger der Mittelgruppe wurde schließlich eine Resolution über die Lehren der deutschen Ereignisse angenommen, die einen Kompromiss zwischen beiden Strömungen darstellte. Diese bedeutete eine einschneidende Abkehr von der alten, strategisch-flexibel handhabbaren Einheitsfronttaktik, nun als „Einheitsfront von oben“ geschmäht, hin zu einer rein appellativen „Einheitsfront von unten“. Erklärt wurde der Kurswechsel mit einem Rollenwechsel der Sozialdemokratie: Sie sei „ein faschistischer Flügel geworden“. 64 Hier wurde erstmals die Theorie vom „Sozialfaschismus“ vertreten, die in der Endphase der Weimarer Republik bei der Niederlage der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Faschismus eine so verhängnisvolle Rolle spielen sollte. 60 Tjaden: KPO, S.-42 f. 61 Weber: Wandlung, S.-60, Anm. 37. 62 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-74. 63 SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16, Bl. 13. 64 Zit. nach Kinner: Kommunismus, S.-72. <?page no="230"?> 230 7 Zwischen Revolutionshoffnung und Niederlage (1923) Die Bereitschaft der Mehrheit der Mittelgruppe, die alte Einheitsfrontkonzeption aufzugeben, kann nur als Opportunismus nach links sowie gegenüber der Komintern- Führung gewertet werden. Er spielte der Linken in die Hände und verstärkte die Abhängigkeit der KPD von Moskau. Wie stark die Mittelgruppe zur Aufgabe früherer Positionen bereit war, zeigt sich an ihrer Einschätzung zur Rolle der SPD. So heißt es im Entwurf eines Papiers der Mittelgruppe für den 9. Parteitag, die Sozialdemokratie sei formal zum Faschismus übergeschwenkt und habe sich so gründlich entlarvt, „dass ein auch nur vorübergehendes Zusammengehen der Kommunistischen Partei mit den sozialdemokratischen Führern und Spitzenorganisationen nicht in Frage kommt. Es ist eine Lebensnotwendigkeit für die revolutionäre Bewegung, dass diese gefährlichste konterrevolutionäre Partei vernichtet werden muss.“ 65 Ob Meyer an diesem Entwurf mitgearbeitet hat, ihn inhaltlich mittrug oder kritisierte, ist nicht bekannt, eine sehr kritische Haltung Meyers gegenüber solchen Positionen ist aber naheliegend. Den Moskauer Beschlüssen gemäß wurde als Übergangsführung ein neues „Direktorium“, bestehend aus fünf Vertretern der Mittelgruppe und zwei Linken, gebildet. Die Parteirechte war damit aus der Führung ausgeschaltet. Vorsitzender wurde Hermann Remmele, Stellvertreter Ernst Thälmann. Meyer scheint die Öffnung der Führung nach links grundsätzlich befürwortet zu haben. Seine Frau erinnert sich: „Trotz aller Irrtümer der Linken vergaß er nie, was sie als starkes Gegengewicht zu den starken reformistischen Tendenzen in der deutschen Bewegung leisteten. Er war davon überzeugt, dass die Linken aus der Erfahrung lernen und zu aller Nutzen in der Führungsspitze bleiben würden. Wiederholt erklärte er: ‚Ich würde selbstverständlich viel lieber mit der Linken zusammenarbeiten als mit der Rechten‘ - eine Ansicht, die er bis an das Ende seiner Tage beibehielt.“ 66 Die Frustration an der KPD-Basis über die Oktoberniederlage hatte allerdings Ausmaße angenommen, die weit über den Moskauer Kompromiss hinausgingen. Sie drückte sich in einer drastischen Abkehr von Brandler aus, die von der oft schwankend und uneinheitlich agierenden Mittelgruppe nicht aufgefangen werden konnte und der radikalen linken Strömung der KPD zugutekam. Meyer-Leviné erinnert sich: „Der Linksruck war die energische und eigentlich gesunde Abkehr von einer gefährlich rechten Politik - und von Brandler. Bei dieser Massenflucht stampfte die Partei alle ihre Traditionen und teuer erkauften 65 Zit. nach Flechtheim: KPD, S.-200. 66 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-75. Ernst Meyer, ca. 1924 <?page no="231"?> 231 7.4 Nach dem Rückzug: Die Krise der Partei Erfahrungen in den Boden.“ 67 Auch in seinem Oberbezirk wurde Meyer massiv mit dieser linken Stimmung an der Basis konfrontiert und verlor verschiedene Abstimmungen. Die Komintern-Führung strebte weiterhin eine gemeinsame Führung aus Linken und Mittelgruppe an. Das Ausmaß des Linksschwenks an der Basis der KPD machte die Moskauer Pläne aber zunichte. Dies zeigte sich auf dem Frankfurter Parteitag, der vom 7. bis zum 10. April 1924 tagte. Er führte zugleich noch einmal eindrucksvoll das Maß an Autonomie vor Augen, das die deutsche Partei sich gegenüber der Kominternführung bisher zu bewahren gewusst hatte - trotz aller Bewunderung für die russische Revolution und trotz aller Moskauer Interventionen in die deutschen Parteiangelegenheiten. Denn die Delegierten warfen die Pläne der KI-Führung für die Zusammensetzung der KPD-Zentrale radikal über den Haufen. Die Abstimmungen über die Resolutionen der drei Strömungen drückten die Mehrheitsverhältnisse deutlich aus: Nicht eine einzige Stimme entfiel auf den Vorschlag Brandlers, 34 auf den der Mittelgruppe, 92 auf den der Linken. Diese Kräfteverhältnisse spiegelten sich auch in der Zusammensetzung der neuen Zentrale wieder, die den Moskauer Vorstellungen eines Blocks aus Linken und Mittelgruppe unter leichter Dominanz der Mittelgruppe zuwiderlief: Elf Mitglieder zählten zur Linken, nur vier zur Mittelgruppe. Ein Brief Sinowjews „Zur Lage der KPD“ läutete zwei neue Entwicklungen ein: Nun begann zum einen die scharfe, bald auch diffamierende Kritik an der Tradition Rosa Luxemburgs und zum anderen fand eine gründliche Abkehr von der Einheitsfronttaktik statt. Über letztere schrieb Sinowjew: „In Deutschland sind wir voll und ganz zur Notwendigkeit der Anwendung der Einheitsfronttaktik nur von unten gelangt, d.h. zum Verzicht von offiziellen Verhandlungen mit den Führern der Sozialdemokratie.“ 68 Meyer sollte bald zum wichtigsten Opponenten des sich hier abzeichnenden Kurses und der neuen Parteiführung werden. 67 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-72. 68 Brief Sinowjews an den 9. Parteitag der KPD, in: Bericht 9. Parteitag, S.-78-85, Zitat S.-81. <?page no="233"?> 233 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) 8.1 Ernst, Rosa und die Kinder Im Jahr 1924 zog Meyer mit seiner Frau und deren Sohn Eugen in die bürgerliche Hardenbergstraße in der Nähe des Berliner Bahnhofs Zoo. In die Wohnung mit der Hausnummer 13 kamen häufig Freunde zu Besuch: KPD-Funktionäre wie Hugo Eberlein und Karl Frank, „rote Professoren“ aus der Sowjetunion wie Anna Pankratowa, aber auch der sozialdemokratische Baustadtrat Martin Wagner, ein alter Freund Meyers aus Studienzeiten. Sein Stiefsohn Eugen (Genja) Leviné, mittlerweile acht Jahre alt, konnte endlich eingeschult werden. 1 Bisher hatten die Eltern in Erwartung einer baldigen revolutionären Situation und der eventuellen Notwendigkeit einer Flucht auf die Einschulung verzichtet. Dies veranschaulicht, wie sehr führende KPD-Funktionäre 1923 mit einer revolutionären Entwicklung gerechnet hatten und ihren Alltag danach ausrichteten. Derweil schlug sich die Stabilisierung des Kapitalismus nun vorübergehend in Form eines geordneteren Alltags der Funktionärsfamilien nieder. Eugen erinnert sich an diese Zeit: „Ernst Meyer war sehr korrekt, immer sehr sauber gekleidet und sorgfältig. Er hatte einen großen Sinn für Humor und wenn er nach Hause kam, er war ja oft weg, auf Reisen, dann wurden kindliche Spiele gespielt und er jagte die Rosa in der Wohnung rum und versuchte, ihr das Gesicht mit einem Streichholz anzumalen, und Kissenkämpfe haben wir gemacht. […] Er war mir eigentlich der richtige Vater. Ich liebte ihn sehr.“ Als Meyer starb, wünschte sich der dann 13-jährige, dass lieber die Mutter als der geliebte Stiefvater gestorben wäre. 2 Im Herbst 1926 zogen auch Meyers Söhne aus erster Ehe, Heinz und Rudolf, zu ihm. Zuvor war die Beziehung von Meyers erster Frau Elsa zu ihrem neuen Partner, dem kommunistischen Strafverteidiger und Landtagsabgeordneten Gerhard Obuch, zerbrochen und sie ging, nervlich stark angegriffen, für mehrere Jahre mit ihrer kleinen Tochter nach Süddeutschland. Erst ab etwa 1931 hatte sie wieder Kontakt zu Heinz und Rudolf. Die Erziehung seiner Söhne, nach fünfjähriger Trennung dem Vater entfremdet, lag nun ganz bei Ernst, da Rosa ab Sommer 1926 für fast ein Jahr in einem Sanatorium in der Schweiz war. Das Verhältnis Meyers zu seinen eigenen Söhnen scheint weniger innig gewesen zu sein, als zu seinem Stiefsohn Genja: „Gestern Nachmittag war ich ein paar Stunden mit den Kindern zusammen. Sie sind so stumpf, dass es eine wirkliche Anstrengung ist. Neben dem 1 Eugen wurde aufs Schiller-Realgymnasium geschickt und ging später aufs Köllnische Gymnasium und dann auf die Karl-Marx-Schule in Neukölln, vgl. Südwestfunk-Interview mit Eugen Leviné (1985), Typoskript, in: BArch Koblenz, N 1246/ 61, Bl. 7. 2 Ebenda, Bl. 3 f. <?page no="234"?> 234 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) klugen, beweglichen Genja fällt das doppelt auf.“ 3 : „Ich habe meinen Vater bewundert, aber nicht lieben können“, schreibt derweil Heinz Meyer in seinen Erinnerungen. „Er war nicht zärtlich zu mir [...] sondern eben ein ‚Ernst‘, ein ernster, mahnender Mann. [...] Im Grunde bin ich als vaterloser Junge aufgewachsen.“ Die Gelegenheit, nun in einer gemeinsamen Wohnung eine engere Beziehung zu den eigenen Söhnen aufzubauen, nutzte Meyer zumindest in Bezug auf den Älteren nicht. Auf eigenen Wunsch und mit Zustimmung des Vaters ging Heinz nach der Obersekundareife vom Humanistischen Gymnasium Hesestraße ab, um etwas Praktisches zu erlernen. Daher verließ er bereits im April 1927 den gemeinsamen Haushalt wieder und ging, auf Vermittlung des Vaters, nach Mannheim, um eine Lehre in einem kommunistischen Peuvag-Druckereibetrieb zu beginnen. Eine fachlich vermutlich sinnvolle Entscheidung, wie auch Heinz rückblickend schreibt, die zugleich Platz in der beengten Wohnung schuf und der Familie die Versorgung eines weiteren „Kostgängers“ ersparte. Aber das Gefühl der Vaterlosigkeit musste sich bei dem knapp 16-jährigen durch die erneute Trennung vom Vater weiter verstärken. 1929 zog Heinz dann nach Leipzig. Gelegentlich kam er zu Wochenendbesuchen nach Berlin und wurde auch von seinem Vater besucht. In seinen Erinnerungen schildert er, dass sich sein Vater - der ja über eine psychologische Ausbildung verfügte - bei diesen Besuchen gegenüber dem eigenen Sohn nicht immer besonders feinfühlig verhielt, sondern ihm zweimal eine „zerschmetternde Standpauke“ gehalten habe, einmal wegen des unabgesprochenen Kaufs eines Fahrrades, und einmal wegen einer angeblich antisemitischen Bemerkung über den Halbbruder Eugen, die Ernst Meyer zu Unrecht in Rage versetzt habe. 4 3 Brief Ernst Meyer an Rosa Meyer-Leviné, Charlottenburg, 16.11.26, BArch Koblenz, NY 1246/ 5, Bl. 165. 4 Vgl. Heinz Meyer: Kraft, Bl. 31-58, Zitate Bl. 58 u. 295-f. Rosa Meyer-Leviné (2. v li.), daneben Erich Mühsam, vorne Eugen (Genja) Leviné mit roter Fahne, Ernst Meyer (2. v. re.), 1924 <?page no="235"?> 235 8.2 Der linke Flügel übernimmt die Partei Einige Diskussionen hatte Meyer mit Heinz und Rudolf, die sich - nachdem zumindest Heinz zuvor den Kommunistischen Kindergruppen und dem Jungspartakusbund angehört hatte - um das Jahr 1925 den bürgerlichen Wandervögeln angeschlossen hatten. Beide traten später (wieder) in die kommunistische Jugendbewegung ein. Als Lieblingsstiefsohn von Rosa hatte Rudolf es wohl einfacher als sein Bruder. Sehnlichst wünschte sich Ernst Meyer eine gemeinsame Tochter mit Rosa: „Und frage auch den Arzt, ob du ein kleines Kucksa-Mädchen haben darfst. Es muss bald sein. Unsere Ehe wird erst dann ganz vollkommen sein.“ 5 Dieser Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. 8.2 Der linke Flügel übernimmt die Partei Weniger stabil als sein Privatleben mit Rosa und Eugen sollte Mitte der 1920er Jahre Meyers politische Karriere sein: Auf dem Frankfurter Parteitag hatte der linke Flügel der KPD einen überwältigenden Sieg errungen - und damit eine Strömung, die oftmals völlig andere Positionen als Meyer vertrat. Deren Basis bildeten neben Intellektuellen, die sich in den Revolutionsjahren radikalisiert hatten, linksradikale Arbeiter aus Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet. Die neue Führung um Ruth Fischer, Arkadij Maslow, Werner Scholem und Ernst Thälmann stand „gegen einen Kurs der flexiblen Einheitsfrontpolitik und für einen undifferenzierten Konfrontationskurs mit der Sozialdemokratie.“ 6 Sie ignorierte die Stabilisierung der Verhältnisse in Deutschland und betrachtete als ihre Hauptaufgabe die „Organisation der Revolution“. 7 Noch bis zum Januar 1925 ging sie von einer akut revolutionären Situation in Deutschland aus. Durch die Propagierung von Endlosungen (wie der Diktatur des Proletariats) sollten die Arbeiter um die KPD gesammelt werden. Die kommunistische Identität sollte in möglichst reiner Form bewahrt werden, um bei der in Bälde erwarteten revolutionären Krise handlungsfähig zu sein. Den „opportunistischen“ Tendenzen, die vermeintlich in die Oktoberniederlage geführt hätten, wollte die neue Führung keinen Raum gewähren. Auch die Einheitsfrontpolitik gab sie auf. „Die an demokratische Institutionen anknüpfenden Übergangslosungen werden fallen gelassen, die völlige Liquidation der SPD wird als zentrale Aufgabe erkannt“, hieß es hierzu. 8 Das überaus gute Ergebnis bei der Reichstagswahl im Mai 1924 schien den Kurs der linken Zentrale zu bestätigen, die identitäre Konzentration auf radikale Endlosungen sich als richtiger Weg zu erweisen. Die KPD erzielte 3,69 Millionen Stimmen, was 12,6 Prozent entsprach. Allerdings dürften eher die Nachwirkungen der Radikalisierung der Arbeiterschaft im Krisenjahr 1923 als der aktuelle Kurs der KPD zu diesem Ergebnis geführt 5 BArch Koblenz, NY 1246/ 5, Bl. 146. 6 Kinner: Kommunismus, S.-75. Am längsten von ihnen kannte er Werner Scholem, der ihn 1916 besucht und von ihm einige Exemplare der verbotenen Spartacus-Briefe erhalten, die, so Hoffrogge, Scholems „Herz zu Rosa Luxemburg gezogen“ hätten. Scholem war auch Fraktionskollege Meyers im Preußischen Landtag, vgl. Hoffrogge: Scholem, Zitat S.-195. 7 Bericht 9. Parteitag, S.-121. 8 Jahrbuch für Wirtschaft, Politik und Arbeiterbewegung 1925/ 26, zit. nach Flechtheim: KPD, S.-196. <?page no="236"?> 236 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) haben. 9 Meyer warnte auf der Sitzung des Zentralausschusses im Juli vor einer zu optimistischen Bewertung des Wahlergebnisses. 10 Der V. Weltkongress der Komintern, der vom 17. Juni bis 8. Juli 1924 stattfand, unterstützte den neuen Kurs der KPD. Auch hier wurde von einer „Fortdauer der Krisenperiode“ und dem Bevorstehen einer neuen revolutionären Welle ausgegangen und die Stabilisierung des Kapitalismus ignoriert. 11 Der Kongress bestätigte zudem die Abkehr von der Einheitsfront und forderte eine verschärfte Frontstellung gegenüber der Sozialdemokratie. Stalin äußerte, dass Sozialdemokratie und Faschismus „keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder“ seien. 12 Die noch auf dem 9. Parteitag bestehenden starken Spannungen zwischen der KPD- Linken und der Komintern-Führung konnten in den Wochen bis zum Weltkongress weitgehend eingeebnet werden. Dort wurde die KPD durch eine sehr große Delegation vertreten, der aber nur Parteilinke angehörten. Während zur Zeit der Meyer-Zentrale die damalige linke Opposition bei den Moskauer Konferenzen stets vertreten war, war die Linke, nachdem sie die Führung übernommen hatte, nicht bereit, oppositionellen Strömungen die Möglichkeit zur Vertretung ihrer Positionen einzuräumen. Sie konnte so unwidersprochen die These von einer in Deutschland weiterhin bestehenden „revolutionären Situation“ vertreten. Die Führung der Internationale unterstützte die KPD-Zentrale in ihrem Kampf gegen die Parteirechte und die Mittelgruppe. Im Gegenzug verzichtete diese auf Kritik an der Kominternführung und trat (noch allerdings rein verbal) gegen ultralinke Strömungen auf. 13 Auch wenn Meyer persönlich nicht anwesend war, spielte er in den Debatten des Kongresses durchaus eine Rolle. Dreimal kam Sinowjew in seinen Reden auf die Auseinandersetzung zurück, die er auf dem IV. Weltkongress 1922 mit Meyer über die Frage einer Arbeiterregierung gehabt hatte. Nun rechnete er scharf mit seinem damaligen Kritiker ab, dem er eine „opportunistische Auslegung“ der Arbeiterregierung und ein reformistisches Verständnis der Einheitsfrontpolitik vorwarf. 14 Klaus Kinner meint, nach 1923 sei „die Frage nach den Möglichkeiten und Perspektiven revolutionärer Politik in nichtrevolutionären Zeiten“ zu einer existenziellen Herausforderung für den internationalen wie den deutschen Kommunismus geworden. 15 Die kommunistische Bewegung war in einem Umfeld entstanden, in dem die sozialistische Revolution auf der Tagesordnung zu stehen schien. Entsprechend kurzfristig angelegt waren ihre politischen Perspektiven. Die Wende zur Einheitsfrontpolitik ab 1921 basierte auf dem Eingeständnis, dass diese Perspektive gescheitert war. Das Krisenjahr 1923 schien erneut die unmittelbare Aktualität der Revolution zu bestätigen. Aber ab 1924 trat die kapitalistische Weltwirtschaft in die nächste Phase vorübergehender Erholung ein. Eine 9 Vgl. Winkler: Revolution, S.-178-188. Auch die extreme Rechte konnte zulegen, die DNVP erhielt fast 20% der Stimmen und wurde damit fast so stark wie die SPD. So spiegelte die Wahl in beide Richtungen die Polarisierung des vergangenen Jahres wieder. 10 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZA der KPD vom 19.-20.7.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 22, Bl. 1-f. 11 Zit. nach Kinner: Kommunismus, S.-79; vgl. auch Flechtheim: KPD, S.-215. 12 Zit. nach Kinner: Kommunismus, S.-77 13 Vgl. Weber: Wandlung, S.-81-85 14 Protokoll des Fünften Kongresses der Kommunistischen Internationale. Moskau vom 17. Juni bis 8. Juli 1924, Bd.1, Hamburg 1924, Reprint Mailand 1967, S.79 (Zitat), 91 u. 483. 15 Kinner: Kommunismus, S.-84. <?page no="237"?> 237 8.2 Der linke Flügel übernimmt die Partei Fortsetzung der Einheitsfrontpolitik hätte wohl die besten Aussichten geboten, den kommunistischen Einfluss zu erhalten, möglicherweise sogar auszubauen. Die Orientierung des V. Weltkongresses und der KPD-Führung war aber eine ganz andere: Ausgehend von der Annahme einer fortbestehenden unmittelbaren Aktualität der Revolution erteilten sie der klassischen Einheitsfrontpolitik, die immer auch die Option auf Vereinbarungen mit den Spitzen reformistischer Arbeiterorganisationen beinhaltet hatte, eine klare Absage und orientierten stattdessen auf die „Einheitsfront nur von unten“. Die dringende Frage nach den Perspektiven kommunistischer Politik in einem nichtrevolutionären Umfeld wurde nicht einmal gestellt. So blieben denn auch die „Orientierungen des V. Weltkongresses im Vergleich zu den vorangegangenen Kongressen von einer bemerkenswerten analytischen Unschärfe“, urteilt Kinner. 16 Die Annahme des Dawes-Planes leitete in Deutschland eine wirtschaftliche Konjunktur ein, die Industrieproduktion wuchs 1924 um 50 Prozent, die Zahl der Arbeitslosen ging stark zurück und die Löhne stiegen. Die KPD-Führung ignorierte diese Entwicklung und beharrte auf einem sektiererischen Kurs gegenüber SPD und ADGB, was bald zu einem drastischen Niedergang der Partei führte. Ihre Mitgliederzahl brach von fast 300.000 im September 1923 auf unter 100.000 im Sommer 1924 ein. Der kommunistische Einfluss in den Gewerkschaften schwand dramatisch. Gab es auf dem ADGB-Kongress 1922 noch 88 kommunistische Delegierte, waren es 1925 nur noch drei. Bei den Wahlen zum Kongress des DMV hatte die KPD 1924 noch 44 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können, 1925 nur noch 23 Prozent. Der Konfrontationskurs gegenüber der SPD nahm derweil groteske Züge an. So wurde Kommunisten verboten, Sozialdemokraten zu grüßen oder ihnen die Hand zu geben. Entsprechend nahm die Isolation der KPD in der Arbeiterschaft zu. Viele Ortsgruppen brachen zusammen, in den Industriegebieten war nur noch ein Stamm von 20-30 Prozent der Mitglieder aktiv. Die zunehmende wirtschaftliche Stabilisierung und politische Entradikalisierung drückte sich schließlich bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 aus: Die KPD stürzte auf 9 Prozent (2,7 Millionen Stimmen) ab und verlor damit innerhalb eines halben Jahres etwa eine Million Wählerinnen und Wähler. 17 Nach dem Tod Friedrich Eberts fanden im März 1925 Reichspräsidentenwahlen statt. Die KPD stellte im ersten Wahlgang Ernst Thälmann auf und verlor gegenüber der Reichstagswahl vom Dezember erneut fast eine Million Stimmen. Thälmann erhielt 1,9 Millionen Stimmen (7,0 Prozent), während auf den SPD-Kandidaten Otto Braun 7,8 Mio. Stimmen (29,0 Prozent) entfielen. Anstatt im zweiten Wahlgang, der im Mai stattfand, einen republikanischen Kandidaten zu unterstützen (die SPD zog schließlich Braun zurück und rief zur Wahl des Zentrums-Politikers Marx auf ), um so den drohenden Sieg des Monarchisten und Militaristen Paul von Hindenburg zu verhindern, hielt die KPD an der Kandidatur Thälmanns fest. Die Parteiführung erklärte: „Es ist nicht Aufgabe des Proletariats, den geschicktesten Vertreter der Bourgeoisieinteressen auszusuchen, zwischen dem Zivildiktator Marx und dem Militärdiktator Hindenburg das kleinere Übel zu wählen.“ 18 16 Kinner: Kommunismus, S.-76. 17 Die SPD profitierte von der Stabilisierung und konnte sich mit 26% der Stimmen deutlich verbessern, vgl. Heinrich August Winkler: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/ Bonn 1988 2 , S.-216-222. 18 Zit. nach Kinner: Kommunismus, S.-82. <?page no="238"?> 238 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) Tatsächlich fehlten dem republikanischen Lager am Ende die kommunistischen Stimmen zum Sieg: Auf Thälmann entfielen 1,9 Millionen Stimmen (6,4 Prozent) und auf Marx 13,8 Millionen (45,3 Prozent). Hindenburg hingegen hatte 14,7 Millionen Stimmen (48,3 Prozent) erhalten. Verbittert titelte der sozialdemokratische „Vorwärts“ am folgenden Tag: „Hindenburg von Thälmanns Gnaden! “. 19 Weber urteilt: „In der deutschen Arbeiterschaft, vor allem unter den sozialdemokratischen Arbeitern, entfachte das Wahlergebnis einen Sturm der Entrüstung gegen die KPD.“ 20 Parallel zum zunehmenden Niedergang der KPD veränderte die linke Führung unter dem Schlagwort der „Bolschewisierung“ radikal das Innenleben der Partei. Diese hatte Sinowjew auf dem V. Weltkongress zur Hauptaufgabe der kommunistischen Bewegung erklärt. Die Losung von der „Bolschewisierung“ der KPD war bereits nach der Oktoberniederlage aufgetaucht. Anfangs hatte die Mittelgruppe sie besonders vehement vertreten, die darunter vor allem die Umstellung auf Betriebszellen und die Anerkennung der Führungsrolle der Sowjetunion verstand. Bald übernahmen die Linken die Parole, die darunter aber etwas anderes verstanden, nämlich, wie Weber beschreibt, „die Vereinheitlichung der Partei, die Ausschaltung aller Fraktionen und Richtungen, die innerparteiliche Gleichschaltung in ihrem Sinne“. 21 Im Januar 1925 beschloss der Zentralausschuss, die Partei müsse „ihre ideologische Einheitlichkeit absolut sicherstellen, irgendwelche Fraktionsbildung, Herausbildung von Flügeln, Gruppierungen […] dürfen unter keinen Umständen geduldet werden.“ 22 Mit der „Bolschewisierung“ leitete die Parteiführung den Abschied von der lebendigen innerparteilichen Demokratie ein, welche die KPD in ihren Anfangsjahren so stark geprägt hatte. Die Notwendigkeit von Freiheit der Kritik, die unter anderem Meyer vehement betont hatte, wurde nun als menschewistisch diffamiert, eine massive Zentralisierung der Partei vorangetrieben. 23 Die Führungen um Meyer und Brandler hatten sich immer um eine Integration der Opposition bemüht, sie an der Führung der Partei beteiligt und dafür gesorgt, dass ihr die Parteipresse offenstand, und sich mit ihren Positionen meist sachlich auseinandergesetzt. Derweil setzte die neue Führung ganz auf die politische Eliminierung ihrer Gegner. Die nun forcierte Umstellung auf Betriebszellen anstelle der bisherigen Ortsvereinsorganisation bedeutete in der Praxis oft die Beseitigung der innerparteilichen Demokratie auch auf lokaler Ebene. Unter dem Vorzeichen der „Bolschewisierung“ begann die linke Zentrale mit einer bis dato einmaligen Säuberung der Partei von ihren innerparteilichen Gegnern. Nach dem Frankfurter Parteitag wurden Anhänger der Rechten und der Mittelgruppe - soweit sie sich nicht der Linken anschlossen - systematisch aus dem Apparat entfernt. In den bisherigen Hochburgen der Mittelgruppe (den Bezirken Nordwest, Halle-Merseburg und Erzgebirge-Vogtland) gab es zunächst einigen Widerstand dagegen, aber bald wurden auch diese Bezirke von der Linken übernommen. Weber urteilt: „Mit der Eroberung des Parteiapparates hatte die linke Zentrale einen wichtigen Erfolg errungen: Der erste Schritt zur Gleichschaltung der Partei war geglückt.“ 24 Meyer-Leviné erinnert sich: 19 Zur Reichspräsidentenwahl siehe Winkler: Normalität, S.-229-245, Zitat S.-243. 20 Weber: Wandlung, S.-107. 21 Ebenda, S.-86. 22 Zit. nach ebenda, S.-87. 23 Vgl. ebenda, S.-88. 24 Ebenda, S.-77. <?page no="239"?> 239 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung „[Die Linke] errichtete ein Regime der Einschüchterung und der Maßregelungen, sie war den Russen um Jahre voraus, was die Einführung bestimmter Praktiken betraf, etwa die totale Kaltstellung in Ungnade gefallener Genossen. […] Als die Sowjetführung abweichende Meinungen und Kritik noch duldete, schaffte die Linke in Deutschland rapide jegliche innerparteiliche Demokratie ab. Unter dem Vorwand, Geld sparen und den Parteiapparat einschränken zu müssen, säuberte sie ihn von nahezu allen ‚Unerwünschten‘.“ 25 Ihr Biograph Marion Kessler urteilt: „Ruth Fischer hatte den entscheidenden persönlichen Anteil daran, die KPD so zuzurichten, dass sie sowohl in ihrer Binnenstruktur sich den freiheitlichen Traditionen der Arbeiterbewegung entfremdete als auch ein Werkzeug in den Händen der jeweils Mächtigen in Moskau wurde.“ 26 Nachdem sie den Apparat von ihren Gegnern gereinigt hatte, begann die Zentrale, auch in der Mitgliedschaft durchzugreifen: Im Juli 1924 setzten die Ausschlüsse gegen Anhänger der Rechten ein. Brandler und Thalheimer wurden wegen bestehenden Kontakten zu ihren Anhängern verwarnt und stellten daraufhin ihre Versuche ein, in organisierter Form fraktionell zu arbeiten. Als die Zentrale nach der Wahlniederlage im Dezember ein neues Aufleben der Opposition befürchtete, wurden die Ausschlüsse gegen die Rechten weiter verstärkt. Brandler und Thalheimer forderten in einer Erklärung vom 23. März 1925 die Wiederaufnahme von über 50 ausgeschlossenen Mitbegründern der KPD, während Meyers alter Freund Georg Schumann sich beim EKKI über eine „Politik der Schikane und der Maßregelungen der deutschen Zentrale“ beschwerte. Viele hundert Genossen würden „statt sie zur Arbeit heranzuziehen […] in der kleinlichsten Weise aus der Arbeit ausgeschaltet.“ 27 Weber schreibt: „Insgesamt wurde 1924/ 25 nicht nur der gesamte Apparat von den Linken beherrscht, auch innerhalb der Partei war die Opposition an die Wand gedrängt. Die KPD bot das Bild einer erstaunlichen Einheitlichkeit. Während ihr Einfluss weiter zurückging, schien ihre Geschlossenheit größer denn je.“ 28 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung Trotz der nach außen demonstrierten Einheitlichkeit der KPD gab es weiterhin oppositionelle Strömungen, deren wichtigste 1924/ 25 die (oft weiter als Mittelgruppe bezeichnete) Gruppe um Ernst Meyer, Paul Frölich und andere war. Die ursprüngliche Mittelgruppe in der Form, wie sie nach dem Oktober 1923 entstanden war und eine Zeit lang die Führung der KPD dominiert hatte, zerfiel nach dem 9. Parteitag rasch. Viele ihrer maßgeblichen Akteure wie Koenen, Remmele, Pieck, Heckert und Eberlein schlossen sich der Linken 25 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-84. 26 Keßler: Fischer, S.-244. 27 Brief Schumann an das EKKI, Berlin, 26.6.25, zit. nach Kinner: Kommunismus, S.81. 28 Weber: Wandlung, S.81. <?page no="240"?> 240 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) an. Anders Meyer: Er blieb seinen alten Positionen treu und wurde bald der „eigentliche Führer der Opposition gegen die Ruth Fischer-Führung“. 29 Gleich als einen der ersten hatten ihn die Säuberungen des Parteiapparates getroffen: Sofort nach ihrer Wahl löste die neue Führung sämtliche Oberbezirke kurzerhand auf und setzte ihre Leiter ab. Der Hintergrund dieser Maßnahme geht aus einem Brief Remmeles an Sinowjew vom 15. April 1924 hervor: „Die Auflösung der Oberbezirke hat darin ihren Grund, dass die zur Herrschaft gelangten Linken keine geeigneten Persönlichkeiten an die Stelle der bisherigen Oberbezirksleiter setzen konnten, die Oberbezirksleiter aber restlos der Mittelgruppe angehörten.“ 30 Meyer blieb aber vorerst Abgeordneter im Preußischen Landtag, bis die Zentrale seine erneute Nominierung für die Landtagswahl im Dezember 1924 verhindern konnte. Von der Zentrale wurde er nur noch gelegentlich für verantwortliche Aufgaben vor allem im journalistischen Bereich eingesetzt, so etwa als politischer Redakteur der „Roten Fahne“ während des Wahlkampfes für die Reichstagswahl im Mai. Auch durfte er in der - personell von der Linken dominierten - Programmkommission mitarbeiten. Für den Wahlkampf anlässlich der Reichtags- und preußischen Landtagswahl Ende 1924 wurde er zur Agitation freigestellt, machte eine Veranstaltungstour durch den Bezirk Rhein-Saar und das Ruhrgebiet und musste sich ansonsten der Berliner Bezirksleitung zur Verfügung halten. Seine Frau erinnert sich an diese schwierige Zeit, in der sogar sein Ausschluss aufgrund seines „opportunistischen“ Festhaltens an der Einheitsfrontpolitik gefordert wurde: „Ernst war Zielscheibe Nummer eins für die Angriffe. Er wurde nicht in die neue Zentrale gewählt, seine Kritik und seine Vorschläge wurden mit Schmähungen beantwortet, er wurde als ‚Rechter‘ abgestempelt und stand tatsächlich vor dem Parteiausschluss.“ 31 Teil der Maßregelungen war, dass die Parteipresse Beiträge, die er einsandte, „ablehnt oder sie mit wochenlanger Verspätung druckt“, wie er im Juli 1925 frustriert an Sinowjew schrieb. 32 Selbst Arbeiten Rosa Luxemburgs, die Meyer publizieren wollte, wurden zurückgehalten. Immer wieder wandte er sich mit der Forderung nach einem Abdruck seiner Artikel an die Zentrale und an die Redaktionen kommunistischer Zeitungen. Nicht zuletzt musste er sogar um die Übernahme der Fahrt- und Prozesskosten für die presserechtlichen Verfahren gegen ihn aufgrund seiner Tätigkeit als leitender Redakteur der „Roten Fahne des Ostens“ im Jahr 1921 kämpfen. Diese Verfahren wurden nun, da er nicht mehr durch parlamentarische Immunität geschützt war, wiederaufgenommen. Im Januar 1925 wurde Meyer dann von der linken Zentrale als Chefredakteur der kommunistischen „Welt am Abend“ eingesetzt - oder auf diesen Posten „abgeschoben“, wie seine Frau es ausdrückte. 33 Seit 1914 hatte er fast ununterbrochen zur engeren Führung des Spartakusbundes und der KPD gezählt. Auch nach seinem Ausscheiden aus der Zentrale 29 Ebenda, S.-76. 30 Zit. nach Friedmann: Ewert, S.-66. 31 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-86. 32 Brief Meyer an das Präsidium der Komintern, z.H. des Genossen Sinowjew, Berlin, 10.7.1925, in: SAP- MO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 148, Bl. 55. Für weitere Beschwerdebriefe Meyers über den Nichtabdruck seiner Artikel siehe Brief Meyer an die Redaktion der Bremer „Arbeiterzeitung“, Charlottenburg, 5.6.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 325; Brief Meyer an das Polbüro der Zentrale der KPD, Berlin, 3.7.25, in: Ebenda, Bl. 329; Brief Meyer an die Redaktion der „Internationale“, Berlin, 3.7.25, in: Ebenda, Bl. 330. 33 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-86. <?page no="241"?> 241 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung im Januar 1923 hatte er wichtige Aufgaben in der Partei übernommen und wurde regelmäßig zu den Sitzungen der zentralen Führungsgremien der Partei hinzugezogen. Doch nun war er an den Rand der KPD gedrängt, wurde teilweise wie ein Paria behandelt. Dabei schreckte die Parteiführung auch mit Schmähungen und Verleumdungen nicht zurück. Im Mai 1924 rückte Maslow ihn in die Nähe der USPD: „Ich sage nicht, Meier (sic! ) ist ein USPD-Mann, nur die Konsequenz seiner Politik, bis zu Ende gedacht und zu Ende geführt, ist die Politik der USPD. […] die brandlersche Politik musste zur SPD führen und Meiers zur USPD, das sage ich.“ 34 Die verschiedenen Maßregelungen belasteten Meyer nicht nur materiell, etwa durch den Verlust seines Abgeordnetenmandates, sie müssen ihn auch moralisch hart getroffen haben. Seit zehn Jahren hatte er sein Leben ganz in den Dienst der Revolution gestellt, dafür mehrere Gefängnisaufenthalte in Kauf genommen und hätte seinen Einsatz sogar fast mit dem Leben bezahlt. Seine eh schon angegriffene Gesundheit litt unter den Belastungen durch seine politische Tätigkeit, eine Ehe war darüber zerbrochen, für die andere blieb, wie wir aus dem Briefwechsel mit Rosa Meyer-Leviné wissen, oft nur wenig Zeit, ebenso wie für seine Söhne. Als Dank für diese Aufopferung musste er nun erleben, wie seine Person und seine Positionen systematisch diffamiert wurden. Besonders muss den damals 37-jährigen Meyer gekränkt haben, dass diese Maßnahmen von Leuten ergriffen wurden, die jünger als er waren (Ruth Fischer, die „eigentliche Parteiführerin“ 35 dieser Zeit, war 1924 erst 29 Jahre alt), meist deutlich kürzer in der Arbeiterbewegung aktiv waren und über viel weniger theoretische Bildung und praktische Erfahrung verfügten. Er sei „manchmal ganz aus der Fassung“ angesichts Ruth Fischers „politischer Ignoranz“ gewesen, berichtet Meyer-Leviné. „Er behauptete, sie hätte nicht einmal das kommunistische Manifest je gelesen, ganz zu schweigen von sonstiger theoretischer Literatur.“ 36 Gleichzeitig musste er mit ansehen, wie die KPD, immerhin so etwas wie sein Lebenswerk, unter dem Kurs der linken Zentrale immer tiefer in die Krise geriet, dramatisch an Einfluss und Mitgliedern verlor. Seiner Frau berichtete er im November 1924 über den schlechten Zustand der Partei und die sinkenden Auflagen der kommunistischen Presse. „Ursachen: wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen, Rücktritte zur SPD, und offenbar auch organisator[ische] Unfähigkeit. Der Hauptgrund für alles: ungenügende Politik. Ich fühle immer mehr, wie notwendig meine Kritik war und ist. Viele alte Spartakusleute stehen abseits, sind ausgetreten.“ 37 Meyer wich in dieser Situation nicht zurück, sondern kämpfte. Nicht nur hielt er an seinen politischen Überzeugungen fest, er vertrat sie trotz des Gegenwinds weiterhin parteiöffentlich und opponierte gegen den Kurs der linken Zentrale, besonders gegen deren Missachtung der innerparteilichen Demokratie und die Aufgabe der Einheitsfrontpolitik. Vehement kritisierte er, dass die KPD nun darauf verzichtete, konkrete und positive Forderungen zu stellen, um die die Massen für Kämpfe zu sammeln und die Eroberung der Macht perspektivisch wieder in Angriff zu nehmen. Diese Auseinandersetzung spitzte sich in den Diskussionen um den Dawes-Plan zu. In der KPD trat die Frage auf, wer die 34 Protokoll der Sitzung des ZA der KPD am 11.5.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 21, Bl. 33. 35 Sie wurde dabei stark von Arkadij Maslow (auch er 4 Jahre jünger als Meyer) beeinflusst, vgl. Kinner: Kommunismus, S.-82 (Zitat). Ähnlich: Weber: Wandlung, S.-74 f.-Maslow war seit dem 20.5.24 in Haft. 36 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-82. 37 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Duisburg, 22.11.24, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 93. <?page no="242"?> 242 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) Kosten für die darin festgelegten, bis 1928 jährlich steigenden Reparationszahlungen zu tragen habe. Während die Parteilinken Steuerforderungen als eine indirekte Anerkennung des bürgerlichen Staates ablehnten, sah Meyer sie als einen Hebel, die Massen gegen den Staat zu mobilisieren und entlang gemeinsamer proletarischer Forderungen Klassenkämpfe zu initiieren. Seine Position fasste Meyer in einem „Zusatzantrag zu II. Unsere Aufgaben“ zusammen, den er dem Zentralausschuss im Mai 1925 vorlegte. Dieser steht exemplarisch für seine generelle Kritik am abstrakt-revolutionaristischen Kurs der Führung: „Alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen stehen heute in engstem Zusammenhang mit der Durchführung des Dawes-Paktes. Je größer im Laufe der nächsten Jahre die Reparationszahlungen werden, desto brennender wird für die Partei eine Taktik, um die Massen einschließlich der Kleinbauern, Kleinrentner etc. zu mobilisieren. Diese Taktik darf nicht opportunistisch sein: durch eine auch noch so verschleierte Anerkennung des Dawesplanes. Sie darf nicht abstrakt und daher wirkungslos sein: durch das bloße Aussprechen der Formel ‚Verwerfung des Dawes-Planes! ‘. Die Partei muss die Frage: was soll die Arbeiterschaft heute und morgen konkret gegen die Lasten des Dawesgutachtens tun? konkret revolutionär beantworten. Die Antwort muss sein: Abwälzung aller Lasten auf die Bourgeoisie! Diese Losung muss zur Sammellosung aller werktätigen Schichten gegen die Bourgeoisie werden. Auf diesem Boden kann der Schwindel von der gerechten Lastenverteilung zerstört und die SPD praktisch entlarvt werden.“ Die KPD, so Meyer weiter, sage aber nicht, wer die Lasten tragen solle. Sie „verwies die Massen auf die Diktatur des Proletariats, welche sie meist abstrakt-mechanisch den einzelnen Teilforderungen, soweit sie überhaupt welche aufstellte, anhängte. Und sie erleichterte damit dem Menschewismus die Gewinnung der Massen, welcher den Arbeitern konkrete Lösungen durch die gerechte Lastenverteilung versprach. Führt die Partei den Kampf gegen das Dawesgutachten unter der Sammellosung: Abwälzung aller Lasten auf die Bourgeoisie, verbindet sie alle Teilforderungen mit der Forderung der Sozialisierung, dann ist mit dieser Sammellosung auch die Machtfrage gestellt. […] Die Propaganda der Diktatur des Proletariats lässt sich so lebendig mit der konkreten Mobilisierung der Massen zur Abwälzung aller Lasten auf die Bourgeoisie verbinden.“ 38 Auch im Oktober 1924 verteidigte Meyer seine Position bei einer Sitzung des Zentralausschusses. Er kritisierte die Weigerung der Zentrale, überhaupt politische und Steuerforderungen (etwa nach einer Konfiskation der dynastischen Vermögen) aufzustellen. Er verwies auf das „Kommunistische Manifest“, auf Lenin 1917 und die Steuerdiskussion in der KPD seit dem Jenaer Parteitag, um zu verdeutlichen, dass positive Steuerforderungen keineswegs ein Ausdruck des Reformismus seien. Im Gegenteil sei die von der Zentrale vorgenommene Unterscheidung zwischen agitatorischen und anderen Forderungen, zwischen solchen, die in Parlamenten erhoben werden und solchen zur Aufrüttelung der Massen, „menschewistisch und sozialdemokratisch“. 38 Zusatzantrag zu II. Unsere Aufgaben, Anhang 2 zu Brief Meyer an die Exekutive der Komintern, Moskau, Berlin, den 29.5.25, in: SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 148, Bl. 50-54. Der Antrag wurde von der Redaktionskommission des ZA abgelehnt und dem Plenum des ZA nicht unterbreitet; aufgrund einer geänderten Rednerliste konnte Meyer ihn überhaupt nicht vorstellen, vgl. ebenda, Bl. 50. <?page no="243"?> 243 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung In einem Brief an das EKKI schrieb er, der Dawesplan und die Stabilisierung der Mark hätten bei vielen Arbeitern Illusionen geweckt. Gleichzeitig seien die Löhne weiter niedrig, die Preise stiegen wieder und die „brutale Klassenjustiz“ gehe unvermindert weiter. In dieser Situation halte er „die Beschränkung der Partei auf eine rein agitatorische Tätigkeit für grundfalsch.“ Dies habe sich auch in der Wahlniederlage der KPD im Dezember 1924 niedergeschlagen. Der Partei sei es nicht gelungen, „eine Massenaktion gegen den Dawesplan hervorzurufen […] War es wirklich so schwer, die Parteimitglieder und die Sympathisierenden (der Maiwahlen) in Verbindung mit dem Justizterror vor Illusionen zu bewahren und wenigstens zu einem Protest bei den Dezemberwahlen zu bewegen? Die Partei und ihre Leitung hätte nur rechtzeitig und konkret das ganze Reparationsproblem und unsere Lösungen aufzeigen müssen. […] Da sie keine konkreten revolutionären Forderungen aufstellte, konnte sie auch keinen Kampf gegen den Dawesplan auslösen.“ Ebenso sei es in der Steuerfrage gewesen: „Ich verlangte auf der Parlamentskonferenz und im Zentralausschuss, dass die Forderung nach Abschaffung der Lohn- und Mietssteuer ergänzt wird durch folgende: Konfiskation aller Erbschaften, Konfiskation aller dynastischen Vermögen und progressive Vermögenssteuer bis zur Konfiskation der großen Vermögen.“ 39 Der Streit um die Steuerpolitik setzte sich auch im Mai 1925 mit einem Schlagabtausch zwischen Meyer und Joseph Winternitz vom linken Flügel fort. Meyer betonte dabei, Ziel bei der Aufstellung von Steuerforderungen dürfe keineswegs nur die Entlarvung der SPD sein, sondern es gehe dabei um das klassische Ziel der Einheitsfrontpolitik - die Radikalisierung in gemeinsamen Aktionen: „Die Aufstellung jeder Teilforderung hat den Zweck, die Massen aufzuklären, zu sammeln, zu mobilisieren, wenn möglich zu Aktionen zu führen.“ 40 Meyer vertrat bei verschiedenen Gelegenheiten mutig seine Positionen, was etwa bei den fast ausschließlich von Anhängern der Linken besuchten Tagungen des Zentralausschusses keineswegs einfach gewesen sein dürfte. Als er beispielsweise im Oktober 1924 dort auftrat, wurde er aus dem Bezirk Berlin scharf angegriffen. Auf ihn gemünzt hieß es: „Heute reden diejenigen, die nicht offen erklären, dass sie Rechte sind […].“ Gegen ihn wurde der Vorwurf erhoben, „wieder die Einheitsfront, wieder das Zusammengehen mit den sozialdemokratischen Führern herbeizuführen.“ Die Berliner Organisation forderte daher von der Zentrale, dass sie „nunmehr mit aller Entschiedenheit gegen diejenigen vorgeht, die diese Maulwurfsarbeit leisten. […] Es ist Zeit, das auch in den wichtigsten Personalfragen vorgegangen wird, dass den Leuten das Handwerk gelegt wird im Interesse der Partei […].“ 41 Aber führte Meyer bereits 1924 einen organisierten fraktionellen Kampf gegen die linke Zentrale? Die alte Mittelgruppe war weitgehend auseinandergebrochen. Versuchte er, ihre Reste zusammenzuhalten und neu zu organisieren? Weber schreibt, nach der Niederlage bei den Dezemberwahlen sei es zu einer Annäherung zwischen Teilen der Rechten und der Mittelgruppe gekommen, „die sich Anfang 1925 um Ernst Meyer, Jacob Walcher und Paul 39 Brief Meyer an das EKKI, Berlin, 18.12.24, in: SAPMO-BArch, NY 4137/ 6, Bl. 2-8. 40 Ernst Meyer: Macht endlich Schluss! , in: Die Internationale, Jg. 8 (Mai 1925), H. 5a, S.-309-313, Zit. S.- 311; siehe auch Lenz: Fangt endlich an! Eine Entgegnung auf den Artikel des Genossen Meyer, in: ebenda, S.-313-316. 41 Protokoll der Sitzung des ZA der KPD vom 18./ 19.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 23, Bl. 230- 232. <?page no="244"?> 244 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) Frölich zu einer festen Fraktion verbanden.“ Allerdings hätten sie im eigentlichen Parteiapparat nicht Fuß fassen können. 42 Tjaden schreibt: „Die Fraktion, deren Politik durch Klara Zetkin offen unterstützt wurde, wurde vor allem durch Ernst Meyer, Paul Frölich und Karl Becker […] geleitet. […] Die ‚rechts‘ von der Fischer-Maslow-Führung stehende Flügelgruppe des Jahres 1925 arbeitete, im Gegensatz zur gleichzeitigen Gruppe der erklärten ‚Rechten‘, durchaus in organisierter und gezielter Form. Hierzu gehörten fraktionelle Absprachen ihrer Vertreter in der Zentrale und im Zentralausschuss, aus denen - durch die Initiative Ernst Meyers vor allem - eine Reihe von Vorschlägen resultierte, welche besonders - als Reaktion auf die Annahme des Dawesplanes - die Einstellung der KPD in der Steuerpolitik zu beeinflussen suchten.“ 43 In wieweit eine solche organisierte Fraktionstätigkeit von Meyer und seinen Freunden bereits 1924 stattfand, lässt sich aus den Quellen nicht rekonstruieren. Auf der Oktober- Sitzung des Zentralausschusses wurde berichtet, die Parteirechte habe Fraktionsmaterialien versendet. Meyer sah sich gezwungen zu erklären, dass er erstens mit dem Material nichts zu tun habe und über dessen Versendung nicht im Vorfeld informiert wurde. Zweitens bringe er alles, was er für notwendig erachtete, bei den dafür vorgesehenen Parteikörperschaften vor und bedaure es, dass einzelne Genossen außerhalb des regulären Parteirahmens Materialien versandten. Drittens sei sein Standpunkt etwa in der Steuerfrage seit Jahren bekannt. Daher sei er nicht auf die Nutzung „bestimmter Kanäle“ angewiesen, zumal er seit dem Frankfurter Parteitag jede Gelegenheit genutzt habe, um eigenständig seine Kritik vorzubringen. 44 Legt man diese Äußerungen zugrunde, dann betrieb Meyer im Herbst 1924 keine organisierte Fraktionstätigkeit. Vermutlich konnte und wollte er eine solche aber nur nicht zugeben. Denn es ist anzunehmen, dass er sich sehr wohl mit politischen Freunden abstimmte und versuchte, in abgestimmter Form in der Partei für seine Positionen zu kämpfen. Diese Tätigkeit scheint aber 1924 vor allem informeller Natur gewesen zu sein und ist daher schwer zu fassen - zumal die Bedingungen für eine fraktionelle Tätigkeit unter dem vollständig von der Linken dominierten Apparat überaus schwierig waren, nicht zuletzt in Anbetracht der weitgehenden Abschaffung der innerparteilichen Demokratie und der durch Maßregelungen und Ausschlüssen geschaffenen Atmosphäre der Angst und Einschüchterung. Hinzu kam, dass die Existenz von Fraktionen dem Selbstbild der sich „bolschewisierenden“ KPD widersprochen und ihre Aufdeckung weitere Repressionen nach sich gezogen hätte. Wie repressiv das Klima in der KPD in diesem Punkt war, verdeutlicht die Resolution des Zentralausschusses vom Januar 1925, in der es hieß, die KPD müsse ihre „ideologische Einheitlichkeit absolut sicherstellen“, die Entstehung von Flügeln, Fraktionen, Gruppierungen dürfe „unter keinen Umständen geduldet werden.“ Die Partei müsse „unbarmherzig alle ‚Versöhnler‘ aus ihren Reihen ausmerzen“, die für einen moderateren Umgang mit der SPD eintraten. 45 Von einer solchen „Ausmerzung“ aus den Reihen der KPD bedroht, legte Meyer großen Wert darauf, seinen Kampf gegen die Führung im statuarischen Rahmen der Partei zu führen. Seinem Verständnis des demokratischen Zentralismus nach war es zwar legitim, um 42 Weber: Wandlung, S.80 u. 137. 43 Tjaden: KPO, S.-51 f. 44 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZA der KPD vom 18.-19.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 23, Bl. 329. 45 Resolution des ZA der KPD vom 10. und 11.1.25, in: Die Rote Fahne, 13.1.25. <?page no="245"?> 245 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung Mehrheiten für bestimmte Positionen zu kämpfen. Zugleich war er bereit sich unter mehrheitlich gefasste Beschlüsse unterzuordnen, selbst wenn er sie ablehnte. Eine Änderung des Kurses der KPD von innen her durchzusetzen war aber unter den von der linken Zentrale geschaffenen repressiven Bedingungen (im Gegensatz zu den von innerparteilicher Demokratie geprägten Anfangsjahren der KPD) überaus schwierig. Der Einfluss der Opposition auf die Gesamtpartei blieb vorerst gering, auch wenn sie sich in einigen traditionell rechten Bezirken wie Württemberg Anfang 1925 wieder zu sammeln begann. Unter diesen Bedingungen setzte Meyer auf die Komintern, um die Situation zu ändern. In verschiedenen Schreiben nach Moskau versuchte er, die Kominternexektutive von der Notwendigkeit einer Kursänderung in Deutschland zu überzeugen. Anfang 1925 schrieb er beispielsweise an einen unbekannten „Genossen Fischer“ in Moskau. Dieser Brief belegt zugleich, dass Meyer sich um die Jahreswende 1924/ 25 verstärkt darum bemühte, eine Opposition aufzubauen: „Die Grundlage aller Verständigung ist folgende: wie erklärst Du Dir, dass die Mitglieder in freier Diskussion im Winter Brandler verwarfen? Weiter: weshalb ist es auch im Anfang v[origen] J[ahres], als es noch nicht Ausschlüsse gab, weder der ‚Rechten‘ noch dem ‚Zentrum‘ gelungen, einige Bezirke zu halten oder zu gewinnen? Wer in diesen Tatsachen nicht die z.T. ganz berechtigte, z.T. erklärliche Reaktion gegen die Oktoberpolitik sieht, beurteilt auch die zukünftige Entwicklung falsch. Zweitens: ohne Exekutive wird sich in absehbarer Zeit eine wirkliche bolschewistische Opposition nicht bilden können, es sei denn, dass die jetzige Parteiführung in einer konkreten Kampfsituation glatt versagt. Ich fühle mich zu verantwortlich für die Partei, um in Schadenfreude den Zusammenbruch kommen zu sehen und mitzuerleben. […] Selbstverständlich gilt es daneben, eine homogene bolschewistische Opposition im Rahmen der Partei zu schaffen. Die Erklärungen Brandlers und Thalheimers sowie das […] ‚rechte‘ Fraktionsmaterial stimmen mich indessen skeptisch. Ich habe mich einmal - in Leipzig - ohne Widerspruch von Brandler betrügen lassen. Es liegt auch nicht im Interesse der Partei, dass ich eine zweite Erfahrung dieser Art mache. Eine Einigung mit mir gibt es nur auf meiner Plattform. Im übrigen hat man mich seit Frankfurt immer im Stich gelassen. Wer von den ‚Rechten‘ hat scharf im ZA, auf den Redakteuru. Sekretär-Konferenzen Stellung genommen oder mich auch nur unterstützt? “ 46 Offensichtlich hatte es Versuche einer Annäherung der Rechten an die Mittelgruppe gegeben. Meyer blieb aber auch aufgrund der negativen Erfahrungen der (jüngeren) Vergangenheit skeptisch gegenüber Brandler. Dass er eine Einigung nur auf Grundlage seiner Positionen für möglich hielt, lag auch an seiner Einschätzung der Gründe für den Durchmarsch der Linken: Sie lagen in der Oktoberniederlage, und wer - wie in seinen Augen Brandler - nicht zu einer ausreichenden Selbstkritik in Bezug auf die Fehler im Oktober in der Lage war, würde nicht im Stande sein, die KPD-Mitglieder von den Linken abzulösen. Meyer macht deutlich, dass er keine möglichst breite, sondern eine möglichst homogene Opposition anstrebte, so, wie es auch der Spartakusbund im Weltkrieg getan hatte. Und eine solche Opposition müsste bolschewistisch sein in dem Sinne, wie Meyer den Bolsche- 46 Brief Meyer an Fischer, Berlin, 5.1.25, in: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-98-100. <?page no="246"?> 246 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) wismus verstand: Unter Wahrung der innerparteilichen Demokratie mittels der Einheitsfront um die Gewinnung der Massen als Vorbedingung für die sozialistische Revolution und die Rätedemokratie zu kämpfen. Ohne die Hilfe der Komintern würde sich eine solche Opposition aber nicht in größerem Rahmen bilden, geschweige denn die Führung der KPD erobern können. Die Leitung der Internationale von der Notwendigkeit einer Kursänderung der KPD zu überzeugen, blieb daher sein strategisches Hauptziel in den ersten Monaten des Jahres 1925. Es ist beachtlich, wie sehr Meyer trotz der Vielzahl an negativen Erfahrungen mit Kominterninternventionen in Deutschland weiterhin auf Moskau setzte. Aber vermutlich ließen ihm die weitgehende Abschaffung der innerparteilichen Demokratie und die Schwäche seiner Gruppierung gar keinen anderen Weg. Daher richtete Meyer in der Folgezeit immer verzweifeltere Briefe an die Exekutive, um sie zu einem Eingreifen in Deutschland zu bewegen. So schrieb er am 3. Januar 1925 (vermutlich an den Vertreter der Komintern in Deutschland, Dimitrij Manuilski): „Die unerhörte Passivität der Partei veranlasst mich, Ihnen folgendes zu unterbreiten: Fast die gesamte Zentrale ist ins Ausland gegangen und lässt die Partei völlig direktionslos. Die Partei lebt überhaupt nur noch von den Skandalen, die im Sumpfe der SPD und des Bürgertums entstehen.“ Über die aktuelle Regierungskrise habe die Partei geschwiegen, die Parole der Arbeiter- und Bauernregierung sei weiterhin verpönt. Auch zu den neuen Steuer- und Zollvorlagen der Regierung würde die KPD schweigen. Nur ein einziges Mal habe die „Rote Fahne“ in der Steuerpolitik seine Forderungen (etwa nach der Konfiskation aller dynastischen Vermögen) aufgegriffen. Aber dies sei eine „Oase in der Wüste“ geblieben. Auch in Bezug auf die Betriebsrätewahlen gelinge es der Partei nicht, praktische Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zu den SPD-Arbeitern in den Betrieben zu geben, die Partei scheitere in der Beeinflussung der aktuellen Lohnbewegungen. Meyer schloss: „Solange nicht die politische und ökonomische Einheitsfront-Kampagne wirklich durchgeführt wird, bleibt auch die Kampagne für die gewerkschaftliche Einheitsfront Papier. […] Ich bitte Sie, mit allen Mitteln auf Abstellung dieser Verhältnisse zu wirken.“ 47 In einem weiteren Schreiben an die Exekutive betonte Meyer: „Die Partei gewinnt nur deshalb nicht an Einfluss unter den Massen, weil sie auf die wirkliche Durchführung der Taktik der Einheitsfront verzichtet“, was sich aktuell besonders bei den Betriebsrätewahlen zeige. Weiterhin warf er der Zentrale die „Erstickung jeden gesunden Lebens“ vor und schrieb: „Die Passivität der Partei bestimmt auch das Leben der Partei im engeren Sinne des Wortes. Die Parteiführung betreibt engste Fraktionspolitik. Sie negiert die Einheitsfront auf politischem Gebiet. Sie verfolgt eine fraktionelle Personalpolitik. Sie sucht ihre innerparteilichen Gegner aus der Partei zu drängen, wie die Ausschlüsse und Ausschlussanträge zeigen, und verfolgt auf diese Weise eine reine Spaltungspolitik. Sie zerstört systematisch die revolutionäre Tradition in der deutschen Arbeiterschaft, wie sie in der Geschichte des Spartakusbundes trotz 47 Brief Meyer an den Genossen Robert, Berlin, 3.1.25, in: SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 148, Bl. 37, auch dokumentiert bei Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.- 92-94 und Weber: Beziehungen, S.- 199. Siehe dort auch zum vermutlichen Adressaten Manuilski. <?page no="247"?> 247 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung aller Mängel aufgespeichert ist, weil sie keine Tradition auf diesem Gebiet aufzuweisen hat. Die Partei wehrt sich gegen jede Kritik.“ 48 Auch wenn Meyer dringend auf die Hilfe der Komintern angewiesen war, um eine grundlegende Änderung des KPD-Kurses erreichen, verhielt er sich gegenüber deren Apparat alles andere als servil. Empört beschwerte er sich beim Stalin-Vertauten Manuilski, der damals nach Sinowjew und Bucharin der wichtigste Mann in der Komintern war, über einen Artikel, den dieser in der „Internationale“ veröffentlicht hatte. Dort hatte er einerseits behauptet, die KPD-Zentrale würde die Notwendigkeit eines Steuerprogrammes keineswegs verneinen. Andererseits hatte er geschrieben, dass „der rechte Flügel der KPD den Versuch macht, das Steuerprogramm dem Kampf um die Diktatur des Proletariats entgegenzustellen.“ Meyer konterte: „Beide Behauptungen sind, wie Sie selbst am besten wissen, unwahr. […] Sie wissen weiter, dass von mir niemals das geforderte Steuerprogramm der Diktatur [des Proletariats, F.W.] entgegengesetzt, sondern stets als Vorbereitung der Kämpfe um die Diktatur und in Verbindung mit dem Ziel der Diktatur propagiert wurde. […] Gerade die Zentrale zerreißt durch die rein parlamentarische Begrenzung der Steuerforderungen die Verbindung von Teilforderungen und Diktatur. Diese meine Auffassungen haben Sie in privater Unterhaltung Anfang dieses Jahres in allen Punkten geteilt. Wenn Sie jetzt etwas anderes schreiben, so grenzt das an politische Korruption.“ 49 Dieser Brief drückt ein beachtliches Maß an Konfliktbereitschaft Meyers gegenüber einem führenden Vertreter der zunehmend hierarchischen strukturierten Komintern aus. Auch innerhalb der deutschen Partei trat Meyer weiterhin im Sinne der Einheitsfront und der innerparteilichen Demokratie gegen die Zentrale auf. Bei einer Reichskonferenz der Redakteure mit der Zentrale sagte er, die Parteipresse spiegele „die vorhandene Unklarheit der gesamten Partei in der Steuerfrage wieder.“ Diese Unsicherheit sei „eine Folge der Unterdrückung der Diskussion“, denn die Redakteure trauten sich nicht mehr, eine eigene Meinung zu haben. Meyer kritisierte auch den servilen Unterton eines Interviews mit Stalin in der „Roten Fahne“, das, mit einer „kindlichen Vorbemerkung“ versehen, fast von der gesamten Parteipresse nachgedruckt wurde und dessen „Fragen […] zum Teil schon Antworten des Genossen Stalin“ darstellten. 50 48 Brief Meyer an die Exekutive der Komintern, Berlin, 11.2.25, in: SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 148, Bl. 38-f. 49 Brief Meyer an Manuilski, Berlin, 16.3.25, in: Weber: Beziehungen, S.- 203 f.- Meyer bezieht sich auf Manuilski: Zur Frage der Bolschewisierung der Parteien, in: Die Kommunistische Internationale, H 2 (1925), S.-137-156. 50 Protokoll über die Sitzung der Zentrale mit den Redakteuren aus dem Reich am 8.3.25, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 116, Bl. 119 ff. (Beitrag Meyer Bl. 126). Zur Konferenz und Meyer Auftritt dort siehe auch Brief Polbüro „An die deutsche Delegation, zu Händen der Genossen Iwan Katz und Heinz Neumann“, Berlin, 10.3.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 204, Bl. 168. <?page no="248"?> 248 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) 8.3.1 Verhinderte Wiederwahl in den Landtag Die einzig relevante politische Funktion, die Meyer noch innehatte, nachdem die Linke die Führung der KPD übernommen hatte, war die des Fraktionsvorsitzenden im Preußischen Landtag. 51 Auch nach dem Frankfurter Parteitag trat er hier als Wortführer der Kommunisten in Erscheinung. Inhaltlich ordnete er sich jedoch der neuen Linie der Partei unter. Anders als früher machte er nun auch satirische Redebeiträge. Das starke Interesse der Polizei an den Kommunisten konstatierend, schlug er beispielsweise vor, doch in den Polizeischulen das „Kommunistische Manifest“ auf den Lehrplan zu setzen und die für die Anschaffung nötigen Mittel bereit zu stellen. Im Gegenzug würde die KPD gerne geeignetes Lehrpersonal stellen. Seine Haltung zur SPD war nun stark konfrontativ, etwa wenn er versuchte, „die heuchlerische, arbeiterfeindliche Politik der SPD“ zu kennzeichnen und ihr den „bewussten Verrat proletarischer Interessen durch die Sozialdemokratie im Bündnis mit dem Bürgertum“ attestierte. Zwar machte er auch weiterhin Vorschläge, die als realpolitisch betrachtet werden können, etwa wenn er höhere Steuern für Besitzende und eine Beschlagnahmung des Hohenzollern-Vermögens forderte. Doch seine Parlamentspolitik stand nun nicht mehr im Zeichen der Einheitsfront. Meyer erwies sich auch in diesem Punkt als redlicher Anhänger der Prinzipien des demokratischen Zentralismus: Durch die Mehrheitsentscheidung des Parteitages gebunden, vertrat er in seiner Funktion als Fraktionsvorsitzender nach außen insgesamt die Linie der Partei, obwohl er sie falsch fand und sie innerparteilich bekämpfte. Im Oktober 1924 brachten KPD, DVP, DNVP, Zentrum und andere gemeinsam einen Antrag auf Auflösung des Landtages ein, den Meyer für die KPD begründete und der mehrheitlich angenommen wurde. 52 Für den 7. Dezember 1924 standen daher parallel zur Reichstagswahl Neuwahlen in Preußen an. „Niemand erwartete, dass die Linken Ernst Meyer […] als Kandidaten aufstellen würden“, schreibt seine Frau. 53 Tatsächlich beschloss die Zentrale, der Partei in Meyers bisherigen Wahlkreis Ostpreußen die Aufstellung ihrer Anhänger Max Heydemann oder Franz Möricke zu empfehlen. Obwohl sich der Bezirk mehrheitlich für die Linke ausgesprochen hatte und Meyer beim vorherigen Bezirksparteitag im Mai 1924 mit seinen Positionen auf Ablehnung gestoßen war, blieb die Zentrale aufgrund Meyers hohen Ansehens in der ostpreußischen Partei vorsichtig und entsandte Ernst Schneller als ihren Vertreter zum Bezirksparteitag am 25./ 26. Oktober 1924. Zugleich verabredeten die Mitglieder der Zentrale, keinen Einspruch zu erheben, sollte der Bezirksparteitag Meyer dennoch als Landtagskandidaten nominieren. 54 Tatsächlich spürte Meyer während des Parteitags zunächst einigen Gegenwind. Verschiedene Delegierte warfen ihm vor, mit seiner Position in der Steuerfrage einer „neuen Brandler-Politik“ den Boden zu bereiten und einen „reformistischen Standpunkt [zu] vertreten.“ Dann aber kippte die Stimmung: Die Zentrale hatte sich kurzfristig entschieden, 51 Diese Funktion übte Meyer 1924 gemeinsam mit Rosi Wolfstein auch nach dem Frankfurter Parteitag bis zur Auflösung des Landtags am 6.12.24 aus, vgl. Die Verzeichnisse der Mitglieder des Landtages 1919-28, in: GStA PK, I.HA Rep. 169d, I, Nr. 8 Bd. 1 (10.9.24 u. 6.12.24). 52 Zur Tätigkeit Meyers im Landtag 1924 siehe Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode. Zitat 359. Sitzung, 32.10.24, Sp. 25085 ff. 53 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-96. 54 Vgl. Protokoll der Sitzung der Zentrale der KPD, 22.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16, Bl. 213- 215. <?page no="249"?> 249 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung statt dem bisherigen Mandatsinhaber Heydemann Edwin Hoernle als ostpreußischen Kandidaten für die Reichstagswahl nominieren zu lassen. Während Heydemann seit langem in Königsberg wohnte, stammte Hoernle aus Württemberg. Gegen dessen Nominierung rebellierten die Unterbezirke, die einen Kandidaten aus ihrer Provinz wünschten. Sie lieferten sich heftige Auseinandersetzungen mit dem Zentrale-Vertreter Schneller. Schließlich wurde Hoernle dennoch mit 33: 22 Stimmen gewählt. Viele Delegierte sahen darin wie auch in dem Versuch, Meyer abzusägen, eine „Vergewaltigung“. 55 Sie waren nun umso weniger bereit, sich auch ihren Landtagswahlkandidaten aus Berlin vorschreiben zu lassen. In dieser Situation machte Schneller zudem einen fatalen Fehler: Er griff Meyer vor allem persönlich an, warf ihm vor, seinen Urlaub überschritten und Krankheiten vorgetäuscht zu haben, um nicht zu arbeiten. Berlow (oder Barlow), der als Vertrauensmann Ruth Fischers nach Ostpreußen gereist war, schrieb hierzu: „Diese Dinge tat Meyer als kluger Mensch äußerst vornehm ab, sie sind die Hauptgründe seiner Wahl. Er sieht aus wie der Tod und man konnte ihm keinen größeren Dienst erweisen, als ihm statt politisch persönlich zu kommen.“ 56 Die Wahl des Kandidaten wurde schließlich, wie Meyer seiner Frau schrieb, ein „großer moralischer Erfolg“: Am Ende eines turbulenten Parteitages - der zunächst den Listenvorschlag der Zentrale, dann auch den Vorschlag Meyers verwarf und sich schließlich für eine Kompromissliste mit Meyer an der Spitze und Möricke als zweitem Kandidaten aussprach - wurde Meyer gegen nur vier Stimmen als Spitzenkandidat gewählt. 57 Berlow, der aus seiner politischen Ablehnung Meyers keinen Hehl machte, benutzte in seinem Schreiben an Ruth Fischer dreimal anerkennend die Formulierung, Meyer sei „ein kluger Kopf“, und schrieb weiter, er sei der einzige von „all den schwankenden Gestalten“ (gemeint: der Mittelgruppe), der „in der Lage ist, eigene Gedanken zu haben (und die sind natürlich reformistisch).“ Berlow glaubte aber, dass man Meyers „Kaltstellung erreichen kann, wenn man in seinem Bezirk Säuberungen des Funktionärskörpers durchführt und die politische Linie der Partei rücksichtslos vertritt.“ Als erstes wollte Berlow einen Genossen Stefan, der als stärkster Unterstützer Meyers aufgetreten war, „gänzlich kalt stellen.“ 58 Entgegen ihrer Zusage akzeptierte die Zentrale nun aber doch nicht die Entscheidung des Bezirksparteitags, Meyer als Landtagskandidaten zu nominieren. Zunächst versuchte sie vergeblich, die Bezirksleitung davon zu überzeugen, das Ergebnis des Parteitags aufzuheben, und annullierte es dann schließlich selbst. Ruth Fischer gab gegenüber Meyer zur Begründung an: „Dein Name ist ein Programm. Wir können es uns nicht leisten, dir eine prominente Position zu geben.“ Ihm wurden weitere Reisen nach Ostpreußen verboten, bereits geplante Veranstaltungen mit ihm wurden abgesagt. An die Exekutive schrieb er: „Die Maßregelung erfolgt ausschließlich deshalb, weil ich notwendige Einzelkritik im Rahmen der vorgesehenen Parteiinstanzen geübt habe. Die Verhinderung meiner Parlamentstätigkeit, trotzdem auch die Zentrale anerkennen muss, dass sie für die Partei nur förderlich war, bedeutet meine völlige Ausschaltung aus der Parteitätigkeit, die vom Stand- 55 Bericht über den Bezirksparteitag der KPD Ostpreußen vom 25./ 26.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 4/ 2, bes. Bl. 36 u. 38 f. 56 Brief Berlow (? ) an Ruth Fischer, Berlin, 29.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 4/ 17, Bl. 152-155. 57 Brief Meyer an Meyer-Leviné, [Königsberg], 26.10.24, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 88. Ähnlich in: Brief Meyer an die Exekutive der Komintern, Berlin, 5.11.24, in: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-97 f.- [auch abgedruckt bei Weber: Beziehungen, S.199]. Siehe auch Bericht über den Bezirksparteitag der KPD Ostpreußen vom 25./ 26.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 4/ 2, Bl. 39. 58 Brief Berlow (? ) an Ruth Fischer, Berlin, 29.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 4/ 17, Bl. 152-155. <?page no="250"?> 250 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) punkt der Zentrale weniger ‚gefährlich‘ wäre.“ 59 Die Nicht-Aufstellung des profilierten und erfahrenen Meyer war ein Skandal, der sogar die Komintern beschäftigte. Aufgestellt wurden schließlich Möricke und Heydemann (mit dessen Nominierung die Zentrale, nachdem sie seine Aufstellung für die Reichstagswahl verhindert hatte, wohl verlorenen Boden in Ostpreußen gutmachen wollte) und dann auch in den Landtag gewählt. Der von der Zentrale gegen Meyer durchgesetzte Heydemann verließ allerdings bereits im April 1925 die KPD, nachdem die Partei alle Abgeordneten aufgefordert hatte, aus der Kirche auszutreten, und wechselte mit seinem Mandat zur SPD. Für das Ansehen der Zentrale in der ostpreußischen KPD war dies sicherlich ein peinlicher Rückschlag. Der Anhang Meyers in seiner Heimat blieb trotz der von Berlow angekündigten Säuberungen und Kaltstellungen stark. Auch im folgenden Jahr kam es zu „ziemlich heftigen Zusammenstößen zwischen Anhängern der Strömung Meyer und Anhängern der Ultralinken.“ 60 8.3.2 Chefredakteur der „Welt am Abend“, Leiter des Pressedienstes Nach dem Frankfurter Parteitag als Oberbezirksleiter Südwest entlassen und innerparteilich zunehmend kaltgestellt, wurde Meyer von der Zentrale vor allem mit journalistischen Aufgaben betraut. Der Personalmangel war wohl in diesem Bereich zu groß, um ihn nicht zur Arbeit heranzuziehen. Im April 1924 wurde er der „Roten Fahne“ für den Reichstagswahlkampf als politischer Redakteur zur Verfügung gestellt und sollte - zusammen mit Karl Becker - täglich eine Seite für den Pressedienst der KPD schreiben. 61 Seit Anfang Mai arbeitete er dann wieder fest im Pressedienst. In verschiedenen Briefen an die Leitungsgremien der KPD protestierte Meyer gegen die dort vorhandene personelle Unterbesetzung, die er als „Skandal“ bezeichnete. 62 Während er das Ziel einer Ersetzung der bürgerlichen Telegrafenbüros durch den Pressedienst als „zu weit gesteckt“ betrachtete, setzte er sich für den Ausbau des Telefondienstes ein, um eingehende Meldungen telefonisch entgegennehmen und so effektiver arbeiten zu können. 63 Vermutlich diente der Konflikt um seine Landtagskandidatur in Ostpreußen als Anlass, um ihm im Herbst 1924 aus dem Pressedienst zu entfernen. 64 Im Dezember 1924 beschloss die Zentrale, Meyer als Chefredakteur der formal parteiunabhängigen, der KPD aber nahestehenden Tageszeitung „Welt am Abend“ (WaA) 59 Brief Meyer an die Exekutive der Komintern, Berlin, 5.11.24, in: Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-97-f. Fischer-Zitat in: Ebenda, S.-97. 60 Politischer Bericht des Bezirks Ostpreußen für die Monate Oktober und November, Königsberg, 19. Nov. 1925, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 4/ 15, Bl. 67. 61 Vgl. die Protokolle verschiedener Sitzungen der Zentrale der KPD 1924, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16. 62 Brief Meyer an das Org- und Polbüro, Berlin, 16.6.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 172, Bl. 244. Siehe auch Brief Meyer an das Polbüro der Zentrale, Berlin, 2.8.24, in: ebenda, Bl. 247; Brief Meyer an die Zentrale der KPD und an das Polbüro, Berlin, 27.5.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 172, Bl. 242. 63 Brief Meyer an die Zentrale der KPD, Berlin, 23.6.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 172, Bl. 245. 64 Vgl. Brief Meyer „An das Exekutivkomitee der Komintern“, Berlin, den 10.12.1924, in: SAPMO-BArch, NY 4137/ 6, Bl. 2-8. Die Zentrale warf Meyer vor, dass er sich ohne ihre Genehmigung von seiner Arbeit im Pressedienst entfernt habe, um Wahlkampfveranstaltungen in Ostpreußen zu besuchen; Meyer widersprach dieser Sichtweise, vgl. Brief Polbüro „An den Pressedienst“, 21.10.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 172, Bl. 271; Brief Meyer „An die Zentrale, Polbüro“, Berlin, 24.10.24, in: ebenda, Bl. 273; Brief Meyer „An die Zentrale, Polbüro“, Berlin, 24.10.24, in: ebenda, Bl. 274 (es handelt sich bei den auf den 24.10. datierten Briefen um zwei unterschiedliche Schreiben). <?page no="251"?> 251 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung einzusetzen. 65 Er behielt diese Stellung bis zum November 1925. Bei der WaA handelte es sich um eine ehemalige USPD-Zeitung, ihr Mitbesitzer Emil Rabold war ein heimatloser Linker und Anhänger Georg Ledebours. Sie war zeitweise zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Trotz aller Feindschaft zu Meyer sah sich die Zentrale offensichtlich verpflichtet, ihm als Veteranen des Spartakusbundes nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem preußischen Landtag ein neues Auskommen zu verschaffen. Als Chefredakteur der WaA konnte er seine jahrelange journalistische Erfahrung in eine zwar parteinahe, formal aber unabhängige Zeitung einbringen, gleichzeitig aus Sicht der Zentrale hier aber auch weniger „Schaden“ anrichten als bei einem offiziellen Parteiblatt. Im Jahre 1925 erschien die WaA als achtseitige Zeitung nachmittags um 16 Uhr und kostete zehn Pfennig. Die Zeitung umfasste einen Politik-Teil, eine Berlin-Beilage, eine ausführliche Sportseite und ein umfangreiches Feuilleton mit täglichen Fortsetzungsromanen sowie manchmal eine „Die Welt im Film“-Seite oder Berichte über Rundfunksendungen. Die kommunistische Orientierung dieser linken Boulevard-Zeitung, die sich gerne mit Themen wie Kokain-Prozessen, Brandstiftungen oder auch Reisereportagen befasste, war erst bei genauerem Hinsehen erkennbar. Gerne stellten die Autoren beispielsweise offensichtlichen Missständen in der kapitalistischen Gesellschaft die Errungenschaften in der Sowjetunion gegenüber. Kampagnen der KPD räumte die Redaktion viel Raum ein. Mit Zeitungen wie der WaA versuchte die KPD, Anhänger und Sympathisanten, die die eigentlichen Parteiblätter (noch) nicht lasen, zu erreichen und ihnen eine Alternative zu den bürgerlichen Massenmedien zu bieten. Deren Redaktionen verbanden dabei Merkmale der Mainstreampresse mit den Zielen der revolutionären Arbeiterbewegung. Im Unterschied zu den Parteizeitungen trat die politische Kommentierung zugunsten der reinen Information und Unterhaltung zurück. Den Journalisten wurde eine gewisse Unabhängigkeit bei der Gestaltung der Zeitung eingeräumt. Artikel der WaA-Redaktion waren in der Regel nicht namentlich gekennzeichnet, eine Zuordnung einzelner Artikel zu Meyer ist daher schwierig. Meyer trat die Stellung des Chefredakteurs der WaA Mitte Januar 1925 an. 66 Während die Zeitung zunächst über sieben Redakteure verfügte, beschloss das Orgbüro im März eine Kürzung der Mittel und strebte die Streichung von drei Redakteursstellen an, obwohl unter Meyers Leitung eine Steigerung der Abonnentenzahl erfolgt war. Meyer protestierte energisch: „Wir verfügen, im Gegensatz zu den Parteiblättern, über keinerlei politische Korrespondenzen. Wir können weder den kommunistischen Pressedienst, noch den Rhein-Ruhr-Pressedienst benutzen. Der Etat für Mitarbeiter-Honorare […] ist so gering, dass das Blatt vollständig von der Redaktion selbst geschrieben werden muss. […] Die Erkrankung auch nur eines Redakteurs, ja, nur die Abwesenheit eines Redakteurs für ein paar Stunden zu Vernehmungen […] stellt sofort das Erscheinen des Blattes für den betreffenden Tag in Frage.“ Wenn die Zentrale nicht bereit sei, höhere Mittel zur Verfügung zu stellen, sähe er keinen anderen Weg als die Einstellung des Blattes. 67 Daraufhin scheint die Zahl der Redakteure zunächst nur auf fünf reduziert worden zu sein, doch schon einen Monat später musste sich Meyer erneut gegen eine geplante Stellenstreichung zur Wehr 65 Vgl. Protokoll der Sitzung der Zentrale vom 11.12.24, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 16, Bl. 244-249. Siehe auch das Protokoll der Sitzung am 9.1.25, in: ebenda, Bl. 257 ff. 66 Vgl. Brief Meyer an Ruth Fischer, Berlin, 11.5.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 320-322. 67 Brief Meyer an Ruth Fischer, Berlin, 11.5.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 320-322. <?page no="252"?> 252 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) setzen. 68 Redaktion und Geschäftsführung entwickelten deshalb Vorschläge zur Reorganisation der WaA. Einerseits sollten die finanziellen Zuschüsse durch die Zentrale erhöht werden, andererseits durch vielfältige Maßnahmen der Verkauf gesteigert werden, etwa durch Verkäufe vor und in Betrieben oder den systematischen Vertrieb der Zeitung in den Berliner Außenvierteln, in Wirts- und Kaffeehäusern. „Als Käufer kämen hier die indifferenten Arbeiter in Frage, die für ein Abonnement oder den Kauf der ‚Roten Fahne‘ nicht zu gewinnen sind.“ Die gedruckte wöchentliche Auflage der Zeitung belief sich im Februar auf 74.650 Exemplare, die der verkauften auf 50.800. Ein fester Abonnentenstamm bestand damals nicht. 69 Einige dieser Vorschläge wurden von der Zentrale akzeptiert und Umstellungen vorgenommen. Meyer blieb alleiniger politischer Redakteur der Zeitung. 70 Im September diskutierten die Mitglieder des Pol-Büros darüber, die WaA aus finanziellen Gründen zum 1. Oktober 1925 einzustellen. Meyer protestierte, die Herausgabe der WaA sei eine „politische Notwendigkeit, da die Zeitung zu 75% von nichtkommunistischen Arbeitern gelesen wird“. Der Geschäftsführer der Zeitung Fritz Weigl verwies auf eine „ungeheure“ Steigerung der Auflage in den letzten Monaten. Daraufhin beschloss das Pol-Büro, die Entscheidung zu vertagen. Bereits ausgesprochene Kündigungen wurden zurückgenommen und die Zeitung erschien weiter. Neben diesen ständigen Konflikten mit der Zentrale um eine ausreichende Finanzierung des Blattes litt die Atmosphäre in Redaktion und Verlag auch unter internen Konflikten. Während der Geschäftsführer sich über Unpünktlichkeit, unentschuldigtes Fehlen und Nichterfüllung von Aufgaben erregte, beschwerten sich zwei Angestellte in einem Schreiben an das Orgbüro über unerträgliche Arbeitsbedingungen und „unausgesetzte Schikanen der Geschäftsleitung.“ 71 Obwohl die Zeitung formal unabhängig von der KPD war, bestimmte die Zentrale ihre politische Ausrichtung mit. Meyer konnte also als Chefredakteur nicht einfach seine Vorstellungen propagieren. Die WaA war kein Zentralorgan seiner Strömung in der KPD. Vielmehr gab es immer wieder Konflikte um die inhaltliche Ausrichtung. Beispielsweise kritisierte das Polbüro in einem Schreiben an Meyer, dass die WaA im Präsidentenwahlkampf eine „sozialdemokratische“ Haltung eingenommen habe, als sie die Unterschiede zwischen den außenpolitischen Vorstellungen Stresemanns und Hindenburgs dargestellt habe. 72 Tatsächlich lässt sich zumindest in einigen Artikeln der WaA feststellen, dass die Akzentuierung nicht ganz der Parteilinie entsprach - etwa im Umgang mit der Sozialdemokratie. Beispielsweise erschien am 4. September 1925 ein Leitartikel, in dem die SPD zwar hart, aber nicht - wie sonst in der kommunistischen Presse dieser Zeit üblich - sektiererisch-schreierisch für ihre Mitverantwortung an einer sich abzeichnenden Erhöhung der Brotpreise kritisiert wurde: „Die preußische Regierung teilt die Verantwortung für die kommende Verteuerung des Brotes mit dem Kabinett der Luther und Kanitz. Und dabei 68 Brief Meyer „An das Orgbüro der KPD“, Berlin, 11.6.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 326-f. 69 Vorschlag zur Reorganisation der „Welt am Abend“, von Fritz Weigl, 5.3.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 139, Bl. 17-20. 70 Siehe Vereinbarung Fritz Weigl (Geschäftsführer WaA) mit der Zentrale, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 139, Bl. 21 sowie Vereinbarung zwischen Zentrale, Welt am Abend und Peuvag, 12.3.25, in: ebenda, Bl. 22. 71 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 139, Bl. 23 ff. und Bl. 31. 72 Brief Lenz (im Auftrag des Polbüros) an Meyer, Berlin, 24.4.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 172, Bl. 450. <?page no="253"?> 253 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung sind in Preußen Sozialdemokraten an entscheidender Stelle in der Regierung! Wie wird die sozialdemokratische Partei das vor ihren Anhängern rechtfertigen können? “ 73 Aus solchen Artikeln lässt sich zweifellos auch die Haltung des Chefredakteurs herauslesen, die sich von der der linken Zentrale klar unterschied. Doch Meyer reizte die Möglichkeiten der WaA zur Propagierung seiner Positionen nicht aus. Seine Frau schreibt, er habe beispielsweise seiner Rede vom 10. Parteitag in der WaA keinen prominenten Platz eingeräumt, sondern darüber nur kurz von einem drittklassigen Journalisten in einem „strohtrocken[en] und wirr[en]“ Artikel berichten lassen. „Ernst konnte das richtige Programm ausarbeiten, er konnte lobenswerte Reden halten, aber es ist ihm nie eingefallen, dass er das, was er tat, auf die richtige Werbewirkung abstellen müsste. Dieser Fehler entsprang seiner tiefen Anständigkeit, aber es war ein Fehler, der seiner Karriere und der Partei schadete.“ 74 Meyer scheint seine Aufgabe als Chefredakteur schließlich zum 1. November 1925 abgegeben zu haben. Im folgenden Jahr wurde die WaA vom Münzenberg-Konzern übernommen und entwickelte sich zu einer der auflagenstärksten Abendzeitungen Deutschlands. 75 Meyer wurde derweil wieder mit verantwortlichen Aufgaben im engeren Parteiapparat betraut und im Oktober oder Anfang November zum Leiter des „Kommunistischen Pressedienstes“ ernannt. 76 Den Hintergrund hierfür lieferte der „Offene Brief“ des EKKI an die KPD im August 1925. Dieser hatte eine Wende der deutschen Partei zu einer stärkeren Rückbesinnung auf die Einheitsfrontpolitik, zur Abgrenzung von den Ultralinken und zu einer Öffnung gegenüber der Gruppe um Meyer eingeleitet. Auch räumlich rückte Meyer damit wieder näher an das Zentrum des Geschehens heran, lagen die Büros des Pressedienstes doch im selben Haus wie die der KPD-Zentrale, nämlich in der Rosenthaler Straße 38. Alexander Abusch erinnert sich an die Zusammenarbeit mit Meyer: „Als ich in Berlin ankam, meldete ich mich in der Rosenthaler Straße bei der Zentrale der Partei. Auch Ernst Meyer, nunmehr Chefredakteur des ‚Kommunistischen Pressedienstes‘, einstiger Kampfgefährte Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs in der Spartakusgruppe, war mir längst kein Unbekannter mehr. [...] Im ‚Kommunistischen Pressedienst‘ entwickelte sich meine Zusammenarbeit vom ersten Tag an freundlich, obwohl er in den vorangegangenen innerparteilichen Auseinandersetzungen zur ‚Mittelgruppe‘ gezählt hatte. Er war ein hagerer, kränklich aussehender Mann mit ungemein höflichen Umgangsformen, befreundet mit einer Frau von feinem Reiz, der Witwe Eugene Levinés, die sich dann mit ihm verheiratete. Von den drei ständigen Redakteuren stützte Meyer sich in der innenpolitischen Arbeit hauptsächlich auf mich. Die normale Arbeitszeit dauerte offiziell von morgens acht bis nachmittags siebzehn Uhr, mit einer Stunde Mittagspause. […] Ernst Meyer schrieb von Zeit zu Zeit unter 73 Welt am Abend, 4.9.25. 74 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-103 f. 75 Sie wurde 1926 ein wichtiges Organ zur Propagierung der Einheitsfront im Rahmen der Kampagne zur Fürstenenteignung. Ihre Auflage konnte sie auf bis zu 174.000 Exemplare steigern. Ihre Verbreitung blieb aber im Wesentlichen auf Berlin beschränkt. Zum Münzenberg-Konzern siehe Rolf Surmann: Die Münzenberg-Legende. Zur Publizistik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1921-1933, Köln 1983; zur „Welt am Abend“ ebenda, S.-120-125. 76 Vgl. Protokolle der Sitzungen des Polbüros am 6.10.25, 5.11.25 und 6.11.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 5, Bl. 116 f, 163 und 167. Bereits im September hatte Meyer der Zentrale geschrieben, dass er - noch mit dem baldigen Eingehen der WaA rechnend - sich „nach einer richtigen Parteistellung umsehen möchte.“ In: Brief Meyer an Zentrale, Charlottenburg, 28.9.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 337. <?page no="254"?> 254 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) vollem Namen einen Leitartikel. Zur Außenpolitik kamen die meisten Beiträge von Mitarbeitern, zu speziellen Sachthemen von führenden Funktionären oder Abgeordneten der Partei.“ 77 8.3.3 Verteidiger der Tradition Rosa Luxemburgs Die „Bolschewisierung“ der KPD hatte 1924/ 25 auch eine ideologische Komponente. Sie ging mit einem Angriff der Parteiführung auf die eigenständige Tradition des deutschen Kommunismus einher, die nun als „Luxemburgismus“ geschmäht wurde. Dabei wirkten sich auch die Entwicklungen in der RKP(B) aus. Je mehr Stalin in den russischen Fraktionsauseinandersetzungen die Oberhand gewann, desto mehr wurden die Ideen Lenins zu dem dogmatisch erstarrten System des „Leninismus“ zusammengepresst, dem andere, vermeintlich falsche Systeme wie der „Trotzkismus“ und der „Luxemburgismus“ entgegengestellt wurden. Als Fehler des Luxemburgismus galten unter anderem die Spontanitätstheorie Luxemburgs, ihre Theorie der Akkumulation des Kapitals, eine falsche Haltung zur nationalen und zur Bauernfrage, die Unterschätzung der Rolle der Partei und der konkreten Vorbereitung des Aufstandes. Dieser Einschätzung folgte auch die damalige KPD-Führung. „Luxemburgismus und Trotzkismus hatten als geistige Strömungen des Kommunismus einen stark antihierarchischen und letztlich demokratischen Grundtenor“, schreibt Hermann Weber. „Die KPD, die sich immer drastischer zu einer Apparatpartei stalinschen Typus entwickelte, war nicht mehr in der Lage, solche kritischen Gedanken zu assimilieren. Eine ‚geistige Einheitlichkeit‘, die sich bald als geistige Uniformierung erweisen sollte, war die Voraussetzung der straffen Zentralisierung der KPD.“ 78 Und Peter Nettl meint: „Was für Stalin in Russland der Trotzkismus war, war für die Stalinisten und Bolschewisierer in Deutschland der Luxemburgismus: die örtliche Version der trotzkistischen Disziplinlosigkeit und Fehlerhaftigkeit.“ 79 Mit einem Brief an den 9. Parteitag der KPD hatte Sinowjew die Diffamierung der Tradition Luxemburgs eingeläutet. 80 Bald darauf begann die Fischer-Maslow- Zentrale, einen, so Nettl, „Frontalangriff gegen das gesamte Erbe Rosa Luxemburgs“ zu führen. 81 Fischer verglich Luxemburgs Ideen beispielsweise mit einem Syphilis-Bazillus. 82 Auf dem 10. Parteitag führte sie aus, Luxemburg und Liebknecht hätten „[…] schwere Irrtümer hinterlassen, die wir beseitigen müssen.“ 83 Maslow schrieb 1925, man könne mit absoluter Gewissheit sagen, dass „die Erfahrung, das Leben selbst in allen Fällen die Richtigkeit der Leninschen, die Unrichtigkeit der Luxemburgischen Anschauungen“ erwiesen habe, bei denen sich häufig menschewistische Reste finden würden. 84 Ein Jahr später erklärte Heinz Neumann, der „unversöhnliche Gegensatz“ zwischen Luxemburg und Lenin verlange die „rücksichtslose“ Überwindung des Luxemburgismus. Aber nicht nur Luxemburg selbst, sondern auch die Tradition des Spartakusbundes wurde nun diffamiert. So ver- 77 Abusch, Alexander: Der Deckname, Berlin (Ost) 1981, S.-166 f. 78 Weber: Wandlung, S.-97. 79 Nettl: Luxemburg, S.-764. 80 Vgl. Bericht 9. Parteitag, S.-78-85, bes. S.-79. 81 Nettl: Luxemburg, S.-763. 82 Vgl. Weber: Wandlung, S.-90. 83 Zit. nach Nettl: Luxemburg, S.-765. 84 Zit. nach Weber: Wandlung, S.-93. <?page no="255"?> 255 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung suchte Ernst Schneller 1925, die Anfänge der kommunistischen Bewegung in Deutschland als „Abart des Menschewismus“ darzustellen, die es auf dem „Weg zur leninistischen, zur bolschewistischen Partei“ zu überwinden gelte. 85 Mit dieser Kampagne gegen den Luxemburgismus und die Spartakus-Tradition verfolgte die linke Zentrale verschiedene Ziele: Die sich an der Person und im Denken Luxemburgs kristallisierende revolutionär-demokratische Tradition des deutschen Kommunismus, die sich auch im diskussionsfreudigen und demokratischen Innenleben der frühen KPD niederschlug, sollte auf den Weg zur angeblich wahrhaft bolschewistischen und daher monolithisch-zentralistischen Partei eingeebnet werden. Die Rezeption des „Leninismus“ durch die Zentrale legitimierte zugleich die Überbetonung des subjektiven Faktors durch die linke Fraktion. Im Gegensatz zum luxemburgschen Verständnis der Partei als dem fortschrittlichsten und bewusstesten Teil der Klasse, dessen Aufgabe die organisierte Förderung der Selbstemanzipation des Proletariats sei, verstand die linke Zentrale die Partei als Avantgarde der Klasse, deren Aufgabe in der „Organisation der Revolution“ lag. 86 Weiterhin erlaubte die Kampagne gegen die Spartakus-Tradition die Diskreditierung der wichtigsten innerparteilichen Gegner der Linken. Denn die profiliertesten Führungsfiguren der Rechten wie der Mittelgruppe waren überwiegend alte Spartakisten. So sollte die „neue, in der politischen Theorie unsichere und in der Praxis leichtfertige, wenn auch zielstrebige Führungsschicht gegen jede Kritik der - wenige Jahre nur - älteren Funktionärsgruppe a priori“ abgesichert werden. 87 Weber fasst zusammen: „Unter der Devise des Kampfes gegen den Luxemburgismus und Trotzkismus wurden vor allem die Auseinandersetzungen mit der eigenen Tradition geführt“, wobei die KPD „eindeutig und endgültig die Position eines angeblichen Leninismus bezog, der sich bald endgültig als Stalinismus erweisen sollte.“ 88 Meyer war entsetzt über die Angriffe auf die Ideen seiner politischen Lehrerin, Genossin und Freundin Rosa Luxemburg und die Tradition des Spartakusbundes, auf die die junge KPD doch einst so stolz gewesen war. Er selbst hatte einst den Gründungsparteitag mit einem Rückblick auf die Geschichte des Spartakusbundes eröffnet. Nun wurde diese Tradition herabgewürdigt, womit auch er persönlich wie politisch getroffen wurde. Doch Meyer nahm auch diesen Fehdehandschuh auf. Eine Reihe von Artikeln, die er in dieser Zeit verfasste, machten ihn, wie Kinner zu Recht schreibt, zu einem der „entschiedensten Verteidiger der Traditionen der deutschen Linken und insbesondere Rosa Luxemburgs gegen die sektiererischen Attacken, die im ‚Luxemburgismus‘ die Quelle aller opportunistischen Abweichungen sahen.“ 89 Der Parteiführung um Fischer und Maslow warf er dabei unverhohlen eine „Fälschung der Geschichte unserer Partei“ vor. 90 In einem Brief an das EKKI schrieb er, die Zentrale zerstöre „systematisch die revolutionäre Tradition in der deutschen Arbeiterschaft, wie sie in der Geschichte des Spartakusbundes trotz aller Mängel aufgespeichert ist, weil sie keine Tradition auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.“ 91 85 Zit. nach ebenda, S.-97. 86 Bericht 9. Parteitag, S.-121. 87 Tjaden: KPO, S.-47. 88 Weber: Wandlung, S.-97. 89 Kinner: Kommunismus, S.-92. 90 Ernst Meyer: Münchener Lehren, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H 10, S.-638-640, Zit. S.-638. 91 Brief Meyer an die Exekutive der Komintern, Berlin, 11.2.25, in: SAPMO-BArch, RY 5/ I 6/ 3/ 148, Bl. 38-f. <?page no="256"?> 256 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) Bereits in den Jahren zuvor hatte Meyer einzelne Artikel über Luxemburg und den Spartakusbund veröffentlicht. Dabei war er keineswegs als ein dogmatischer Verteidiger aller ihrer Positionen aufgetreten. Im Gegenteil: Fern von jeder Hagiographie schrieb er beispielsweise den Artikel „Rosa Luxemburgs Kritik der Bolschewiki“. Hier setzte er sich mit den kritischen Notizen zur Politik der Bolschewiki auseinander, die Luxemburg im Gefängnis verfasst und die Paul Levi 1922 posthum veröffentlicht hatte. Dabei verteidigte er die russischen Genossinnen und Genossen in fast allen Punkten. Aber im Unterschied zur nun aufkommenden Hetze gegen den „Luxemburgismus“ hatte er hier eine solidarische Kritik formuliert, die bestimmte Positionen Luxemburgs aus ihrem historischen Kontext erklärte. Weder als Theoretikerin, noch als Politikerin setzte er sie darin herab, sondern setzte sich in der Tradition offener Debatten unter Marxisten mit ihr kritisch auseinander. Nun aber hatte sich die parteiinterne Auseinandersetzung mit der Spartakustradition gänzlich gewandelt. Wenn Meyer ihre Legitimität, Bedeutung und Errungenschaften verteidigen wollte, musste er in erster Linie ihre Geschichte in der Partei bekannt machen. Denn er stellte entsetzt fest, dass „viele der jetzigen Kritiker des Spartakusbundes keinerlei Kenntnisse der Parteigeschichte“ hätten. „Auch geschichtliche Fragen haben natürlich ihre aktuelle politische Bedeutung. Es ist daher für die gegenwärtige und zukünftige Arbeit der Partei nicht gleichgültig, wie man die Vergangenheit der Partei bewertet. Die Voraussetzung der Beurteilung einer politischen Situation sollte allerdings ihre Kenntnis sein.“ 92 Die Geschichte des Spartakusbundes zu popularisieren und ihre revolutionäre Legitimität zu verteidigen wurde eine von Meyers vordringlichsten Aufgaben in diesen für ihn politisch so schwierigen Jahren 1924/ 25 (eine Aufgabe, an der er auch festhielt, als sich der innerparteiliche Wind vorübergehend wieder zu seinen Gunsten drehte). Dabei erkannte er die hinter den Angriffen auf Luxemburg und den Spartakusbund stehende „Absicht, unter allen Umständen die seit Frankfurt herrschende Parteigruppe durch Schmähung der Vergangenheit der Partei herauszustreichen.“ 93 Meyer publizierte ab dem Sommer 1924 sowohl Artikel zur Parteigeschichte als auch bislang unveröffentlichte Dokumente aus der Frühzeit des deutschen Kommunismus: Am zehnten Jahrestag des 4. August 1914 erschien beispielsweise sein Beitrag zur Gründung des Spartakusbundes in einer Gedächtnisnummer der Illustrierten „Die Revolution“. 94 Kurz darauf veröffentlichte er das Gedicht „Die Kognakkirschen“, das er mit Mehring im Gefängnis geschrieben hatte, und die ebenfalls in Versform verfasste Antwort Luxemburgs. 95 1925 erschienen zudem ein Portrait Marchlewskis, Artikel über Leviné und die Münchener Räterepublik, eine kurze Studie zur Betriebszellenarbeit des Spartakusbundes sowie eine von Meyer eingeleitete Dokumentationen einzelner Briefe und Schriften Luxemburgs und Liebknechts. 96 92 Ernst Meyer: Münchener Lehren, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H 10, S.-638-640, Zit. S.-638. Er beklagte dort auch den generellen „Mangel an marxistischer Bildung in unserer Partei.“ 93 Ebenda, S.-639. 94 Ernst Meyer: Spartakus, in: Die Revolution, 1924, Nr. 2 (Gedächtnisnummer zum 10. Jahrestag der Gründung des Spartakusbundes). 95 Ernst Meyer: Die Kognakkirschen, in: Der Rote Stern. Illustrierte Arbeiterzeitung, Jg. 1, Nr. 6 (20.8.24), S.-1. 96 Ernst Meyer: Marchlewskis Bedeutung für das revolutionäre Proletariat Deutschlands, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H 5, S.-251-253; Ernst Meyer: Betriebszellen-Organisation im Spartakusbund, in: <?page no="257"?> 257 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung Meyers Artikel hatten dabei selbst eine „aktuelle politische Bedeutung“. Tjaden schreibt, es sei nicht nur um eine „adäquate Beurteilung der historischen Rolle der deutschen radikalen Linken und des Spartakusbundes im Weltkrieg“ gegangen, sondern auch „um die Rettung jener Züge des politischen Denkens Rosa Luxemburgs für die deutsche Arbeiterbewegung, die - wie die Bestimmung des Verhältnisses von revolutionärer Partei zur Arbeiterklasse - zur Bolschewisierungsideologie der Internationale im Widerspruch standen.“ 97 Meyer agierte mit seinen Veröffentlichungen zugleich als Historiker und Politiker, seine historischen Bezüge dienten ihm auch zur Legitimierung seiner aktuellen politischen Linie. Im Gegensatz zu vielen seiner Gegner war er dabei allerdings sichtlich um eine ehrliche und objektive Darstellung der Fakten bemüht, aus denen er dann seine politischen Schlüsse zog. Ein Beispiel dafür ist sein Artikel „München 1919“. In einer Situation, in der die Parteiführung Rosa Luxemburg ständig ihre angeblichen „Fehler“ vorhielt, schrieb er: „Sind damals gar keine Fehler gemacht worden? Was sind überhaupt ‚Fehler‘? Jeder Revolutionär weiß, dass er aus jeder revolutionären Bewegung zehnmal klüger herauskommt als er in sie hineingegangen. In diesem Sinne gibt es überhaupt keine fehlerfreien Revolutionen und Personen…“. Indirekt hinterfragte Meyer hier die sich in der kommunistischen Bewegung allmählich ausbreitende, ahistorische Sicht, wonach die leninsche Führung in allen Fragen stets richtig gelegen habe. Weiter versuchte er zu zeigen, dass die junge KPD in der bayerischen Rätebewegung bereits eine Politik vertreten habe, die nun als „Leninismus“ bezeichnet werde. Sie sei durch drei Grundsätze geprägt gewesen: Der erste habe Lenins Staatstheorie entsprochen, der zweite die „Erkenntnis der Rolle der Partei“ ausgedrückt, der dritte die Notwendigkeit der „Organisation der Revolution durch die Kommunistische Partei, in engster Verbindung mit den Massen“. Die prinzipielle Gegenüberstellung Lenins mit dem Spartakusbund musste also verkehrt sein. Meyer wurde in Bezug auf aktuelle Auseinandersetzungen sogar noch deutlicher: Der damalige Kampf der Münchener KPD „gegen stimmungsmäßige revolutionäre Ungeduld führte nicht zum Opportunismus, nicht zur Passivität, sondern zu gesteigerter revolutionärer Aktivität.“ Der Gedanke liegt nahe, dass Meyer seinen eigenen Kampf gegen die „stimmungsmäßige revolutionäre Ungeduld“ des linken Flügels zu erläutern und legitimieren suchte. 98 Ebenfalls auf die aktuelle Politik der KPD gemünzt war sein Artikel über die Betriebszellenorganisation des Spartakusbundes. Die Umstellung auf Betriebszellen war eines der wichtigsten Projekte der linken Zentrale im Rahmen der Bolschewisierung der Partei. Auch in dieser Frage konnte Meyer anhand von Dokumenten nachweisen, dass es keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Luxemburgs Spartakusbund und Lenins Bolschewiki gab, denn auch der Spartakusbund und die frühe KPD hätten stark auf die Betriebe Die Internationale, Jg. 8 (1925), H 12, S.- 763-765; Ernst Meyer: (Einleitung zu) R[osa] Luxemburg: Entweder - oder! , in: Die Kommunistische Internationale, Jg. 6, H 9, September 1925, S.-944-958; Ernst Meyer: Zur Entstehungsgeschichte der Junius-Thesen. Unveröffentlichte Briefe von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, in: Unter dem Banner des Marxismus, Jg. 1 (1925), H 2, S .416-425; Ernst Meyer: Einleitung zu Liebknecht und die 3. Internationale. Ein unveröffentlichter Brief Liebknechts an die Zimmerwalder Konferenz, in: Die Rote Fahne, 15.1.25. 97 Tjaden: KPO, S.-52. 98 Ernst Meyer: München 1919. Zum 5. Juni, dem Todestage Levinés, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H. 6, S.-369-371. <?page no="258"?> 258 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) und dort auf den Aufbau kommunistischer Zellen orientiert. Erst nach der Abspaltung der KAP wurde dieser Ansatz fallengelassen. 99 Meyer verteidigte das Erbe Luxemburgs nicht, um es gegen Lenin und den Bolschewismus in Stellung zu bringen. Explizit widersprach er beispielsweise der Ansicht, die der Parteirechte Reinhold Schönlank vertrat, Luxemburgs Auffassung von der künftigen Internationale sei derjenigen Lenins überlegen gewesen. In dem Artikel „Lenin oder Luxemburg? “, der im Halleschen „Klassenkampf“ erschien, wies er auf einzelne Fehler in Luxemburgs in Junius-Broschüre hin, tat dies aber wie üblich in einer aus dem historischen Kontext erklärenden, solidarischen Weise. Weder könne man von den Erfahrungen von 1925 ausgehend die Politik Luxemburgs grundsätzlich herabsetzen, wie es die Linke täte, noch die naturgemäß begrenzten Erfahrungen des Spartakusbundes von 1915 zur Leitlinie für 1925 erklären, wie es Schönlank tue. Keinen Zweifel ließ Meyer daran, dass Luxemburgs Thesen damals einen „außerordentlichen Fortschritt“ darstellten und einen „revolutionären Geist“ atmeten. Sie sei „eine in der Richtung des Bolschewismus wirkende linke Sozialdemokratin“ gewesen. 100 Dementsprechend gehörten für ihn Luxemburg und Lenin der gleichen Traditionslinie revolutionärer Marxisten an. Die KPD solle das Erbe Luxemburgs und des Spartakusbundes gleichberechtigt neben dem Erbe Lenins anerkennen. Schließlich sei sie „an der Hand ihrer eigenen Erfahrungen, an der Hand der Lehren Lenins und der Praxis der russischen Revolution zur Vorhut der proletarischen Revolution in Deutschland geworden.“ 101 Meyer maß der innerparteilichen Auseinandersetzung um geschichtspolitische Fragen einen hohen Stellenwert bei. Dies zeigt die prominente Rolle, welche diese Fragen in dem Brief an den 10. Parteitag 1925 spielten, den er zusammen mit Frölich und Becker verfasste. Der Brief bietet die erste alternative Plattform zur Politik der Parteiführung, die nach dem Frankfurter Parteitag vorgelegt und innerparteilich wahrgenommen wurde. Schon einleitend betonen die Autoren, die Ursachen für die Krise der KPD lägen „besonders im Überbordwerfen der taktischen Erfahrungen, die die Partei seit ihrem Bestehen gemacht hat.“ Statt sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen, habe die Führung „Geschichtslegenden [geschaffen], um die Geburtsstunde der Partei sozusagen auf den Frankfurter Parteitag zu verlegen.“ 102 Doch insgesamt war die Haltung der linken Zentrale gegenüber Luxemburg durchaus ambivalent: Bei aller scharfen Polemik gegen den „Luxemburgismus“ wurde sie selbst als Märtyrerin weiterhin verehrt. Diese Ambivalenz drückte sich auch im Umgang mit Meyer aus: Einerseits wurden er und seine politischen Vorstellungen bekämpft und seine historischen Arbeiten behindert, andererseits kam die Führung nicht umhin, ihn als versierten Kenner der Parteigeschichte in die Gedenkarbeit punktuell einzubeziehen. 103 99 Vgl. Ernst Meyer: Betriebszellen-Organisation im Spartakusbund, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H. 12, S.-763-765. 100 Ernst Meyer: Lenin oder Luxemburg? Eine Auseinandersetzung mit dem Genossen Schönlank, in: Klassenkampf, Jg. 5, Nr. 210, 24.9.25. Nachgedruckt in: Arbeiterzeitung. Organ der KPD Bezirk Nordwest, Jg. 5, Nr. 216, 28.9.25. Schönlank wurde aufgrund seines Artikels am 20.10.25 aus der KPD ausgeschlossen, vgl. Weber/ Herbst: Kommunisten, S.-819. 101 Ernst Meyer: Der Kampf um den Sozialismus. Zur Erinnerung an den 15. Januar 1919, in: Die Rote Fahne, 15.1.26. 102 Ernst Meyer/ Paul Frölich/ Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD, in: Die Internationale, Jg. 8 (1925), H 8, S.-505-507. 103 Zur Publikation seiner Arbeit über Marchlewski wurde Meyer sogar explizit aufgefordert, vgl. Brief Re- <?page no="259"?> 259 8.3 „Wahnwitzige Parteidebatten, ekelhafte persönliche Differenzen“: Opponent der Fischer-Maslow-Führung Meyers Oppositionsarbeit auf dem Gebiet der Parteigeschichte und der Rehabilitierung Luxemburgs muss insgesamt als erfolgreich gewertet werden. Mit dem im August 1925 eingeleiteten Sturz der Fischer-Maslow-Zentrale endete schließlich die Periode der Diffamierung Luxemburgs und der Spartakustradition. Die innerparteiliche Diskussionsfreiheit wurde vorübergehend wieder gestärkt, die Publikationsmöglichkeiten für Meyer verbesserten sich massiv. Er war nun ein anerkannter Parteihistoriker. Zum Jahrestag der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht erschien in der „Rote Fahne“ vom 15. Januar 1926 ein großer Leitartikel von ihm. Auch der Gedenkartikel in der „Inprekorr“ am selben Tag stammte aus seiner Feder. 104 Etwa zu dieser Zeit gab er gemeinsam mit Hermann Duncker ein „Kursleitermaterial für den Elementarkurs der Parteischule“ heraus. Es stützte sich auf Werke Lenins, umfasste eine Darstellung der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung seit der Jahrhundertwende und eine Auseinandersetzung mit Luxemburgs Spontanitätstheorie. Dabei traten Meyer und Duncker der von den Ultralinken betriebenen entstellenden Darstellung der Spontanitätstheorie Luxemburgs entgegen. 105 Die Zeit seit dem Frankfurter Parteitag hatte Meyer gelehrt, wie wichtig eine Verbesserung der Kenntnisse der Parteigeschichte und überhaupt die geschichtspolitische Arbeit der KPD waren. Daher arbeitete er im Sommer/ Herbst 1925 mit Hochdruck an weiteren Texten zu historischen Themen. Im Oktober konnte er folgende Arbeiten vorweisen: - Eine Geschichte des Spartakusbundes bis zur Verschmelzung mit der USPD 1920 mit einem dokumentarischen Anhang; - Einen Neudruck sämtlicher Spartakusbriefe mit einer historischen Einleitung; - Eine Neuausgabe von Luxemburgs Junius-Broschüre sowie der Thesen der Spartakusgruppe mit einer Einleitung zur Entstehungsgeschichte und dem Briefwechsel zwischen Luxemburg und Liebknecht zur ersten Fassung der Thesen. - Die Flugblätter des Spartakusbundes aus der Kriegszeit mit einer historischen Einleitung - Sämtliche Werke Karl Liebknechts (mit deren Herausgabe Meyer im Sommer 1924 von der Zentrale beauftragt worden war) mit einer umfangreichen Biographie Liebknechts und Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln. 106 daktion „Die Internationale“ an Meyer, Berlin, 3.4.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 125, Bl. 11. Für die Luxemburg-Liebknecht-Kundgebungen im Januar 1925 wurde Meyer in Berlin-Wilmersdorf als Redner eingesetzt, vgl. Die Rote Fahne, 13.1.25, und am 15.1.25 erschien sein Artikel „Liebknecht und die 3. Internationale“ auf der Titelseite der „Roten Fahne“. 104 Ernst Meyer: Der Kampf um den Sozialismus. Zur Erinnerung an den 15. Januar 1919, in: Die Rote Fahne, 15.1.26; Ernst Meyer: Zum 15. Januar, in: Inprekorr Jg. 6, Nr. 11, 15.1.26, S.-133 f.-Dieses war der erste Artikel Meyers in der Inprekorr, in der er früher häufig geschrieben hatte, seit der Übernahme der Führung durch die Linken. 105 Kursleitermaterial für den Elementarkurs, hg. vom ZK der KPD, Abteilung Agitprop, Januar 1926 (nur als Manuskript gedruckt), in: SAPMO-BArch, RY I/ 1 2/ 707/ 93. Meyer verfasste nicht nur Kursmaterialien, sondern war auch selbst als Kurslehrer tätig und an der Ausbildung neuer Kurslehrer beteiligt, vgl. ebenda, Bl. 119. Am 3.10.26 sollte Meyer in Mannheim einen Ausbildungslehrgang für Kurslehrer aus den Bezirken Frankfurt, Baden, Pfalz und Saar abhalten, vgl. Brief Abteilung Agitprop der KPD an Meyer, Berlin, 23.9.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 707/ 6, Bl. 75. 106 Vgl. Brief Meyer an unbekannt (vermutlich den VIVA-Verlag), Charlottenburg, 11.10.25, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 357. Siehe auch Brief Meyer an die Zentrale der KPD, Berlin, 28.9.25, in: Ebenda, Bl. 337. <?page no="260"?> 260 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) Von diesen bereits weitgehend fertiggestellten Arbeiten erschienen allerdings nur zwei in Buchform: die „Spartakusbriefe“ (1926) 107 und der Band „Spartakus im Kriege“ (1927). 108 Weitere Veröffentlichungen Meyers zu historischen Themen folgten. Noch bis kurz vor seinem Tod arbeitete er an der Herausgabe der Werke Liebknechts. 109 Mit seinen parteihistorischen und biographischen Veröffentlichungen schuf Meyer, wie Kinner schreibt, „wesentliche Grundlagen für eine noch zu schreibende Parteigeschichte.“ 110 An dieser Parteigeschichte arbeitete er ebenfalls bis zu seinem Tod und konnte das Manuskript noch abschließen. Da die deutsche Partei eine Veröffentlichung ablehnte, versuchte Meyer-Leviné, es in Russland herauszubringen. Im Jahr 1931 übergab sie das Manuskript an Radek, der ihr zunächst eine baldige Veröffentlichung zusicherte. Bei ihren letzten Treffen mit Radek 1933 vertröstete er sie auf eine Veröffentlichung zu einem späteren Zeitpunkt. Seitdem ist das Manuskript verschollen. 111 Den Kampf um das Erbe Luxemburgs in der KPD führte Meyer 1924/ 25 und in den folgenden Jahren aber keineswegs nur auf der Ebene historischer Ausarbeitungen. Er fand vor allem in Bezug auf die politische Ausrichtung der Partei und ihr Innenleben statt. Hier stand Meyer vor allem in zwei Fragen in der Tradition Luxemburgs: zum einen in der Einsicht, dass die sozialistische Revolution von einer Mehrheit des Proletariats getragen werden muss; zum anderen in seinem Verhältnis zur innerparteilichen Demokratie und Diskussionsfreiheit, die er vehement einforderte. In beiden Bereichen war er, wie im Folgenden gezeigt werden soll, zumindest vorübergehend durchaus erfolgreich. 8.4 Völlig isoliert: Auf dem 10. Parteitag der KPD Immer deutlicher stieß der revolutionaristische Kurs der KPD mit der durch ökonomische und soziale Stabilisierung geprägten Realität der einsetzenden „Goldenen Zwanziger“ zusammen. Der zurückgehende Einfluss der Kommunisten war nach dem Ausgang der Reichstagswahl im Dezember 1924 nicht mehr zu leugnen. Der Zentralausschuss im Januar 1925 zeigte die langsam einsetzende Bereitschaft in der KPD, diese Realitäten zu akzeptieren. Die Anwesenden proklamierten daher „den Übergang von den Methoden der akut revolutionären Situation, an denen man noch das Jahr 1924 festgehalten hatte, zu den Methoden der Übergangsetappe zwischen zwei Revolutionen.“ 112 Allerdings blieb diese Wende eine, wie Meyer, Frölich und Becker es in ihrem Brief an den 10. Parteitag der KPD ausdrückten, „traurige Halbheit“, die „hinter dem Rücken der Partei“ vorgenommen wurde. So konnte unter den Mitgliedern keine Klarheit geschaffen werden. Auch wurde nun „keine wesentlich andere Politik geführt“, wie sich bei der Wahl des Reichspräsidenten zeigte. Doch der Druck aus Moskau auf die deutsche Zentrale, ihren Kurs grundlegend zu ändern, nahm weiter zu. Sinowjews eh schon geschwächte Stellung 107 Spartakusbriefe, Bd.1, mit einer Einleitung von Ernst Meyer, Berlin 1926 2 . 108 Spartakus im Kriege. Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege, gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927. 109 Vgl. Pieck: Wilhelm: Unsere Toten. Ernst Meyer, in: Inprekorr, Jg.10, Nr. 13 (März 1930), S.-322 f. 110 Kinner: Geschichtswissenschaft, S.-251. 111 Vgl. Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.218 u. 276 sowie Anm. 43. 112 Jahrbuch Wirtschaft, Politik und Arbeiterbewegung 1924/ 25, zit. nach Flechtheim S.- 219. Vgl. auch Resolution des ZA der KPD vom 10. und 11.1.25, in: Die Rote Fahne, 13.1.25. <?page no="261"?> 261 8.4 Völlig isoliert: Auf dem 10. Parteitag der KPD in den russischen Fraktionskämpfen drohte bei einer fortgesetzten Isolation und Schwäche der KPD weiter unterminiert zu werden. Auf der Tagung der erweiterten Exekutive der Komintern im März und April musste Fischer daher einer Schwenkung ihres Kurses nach rechts, vor allem im Verhältnis zur SPD, zustimmen. Als Folge davon kehrte die KPD-Führung zur Taktik der „Offenen Briefe“ an die SPD- und Gewerkschaftsführung (vor allem im Kampf gegen zunehmende monarchistische Tendenzen) zurück. Dies führte zu einer Spaltung der KPD-Linken: Während die Zentrale-Mehrheit um Fischer zu Zugeständnissen an den von Moskau geforderten Kurs bereit war, traten einige „Ultralinke“ um Arthur Rosenberg, Werner Scholem und Iwan Katz vehement dagegen und gegen die Einflussnahme der Komintern überhaupt auf. Diese ultralinke Opposition trat erstmals auf bei der Zentralausschusssitzung im Mai 1925 in Erscheinung, blieb aber mit 15: 35 Delegierten in der Minderheit. Meyer und seine Genossen begrüßten die Ergebnisse der Sitzung der erweiterten Exekutive, bemängelten aber, dass sie in der deutschen Partei bestenfalls halbherzig umgesetzt würden. Ohne eine grundsätzliche Selbstkritik der KPD über den Kurs des letzten Jahres sei keine ehrliche Änderung ihrer Politik möglich. 113 Sollte Meyer gehofft haben, dass nach dem Plenum des EKKI die Diskussionsfreiheit in der KPD wiederhergestellt würde, so hatte er sich getäuscht: Ihm wurde im Zentralausschuss die Möglichkeit verwehrt, einen Antrag zur Steuerpolitik auch nur einzubringen. Ein Artikel von ihm über die Ergebnisse des Zentralausschusses wurde trotz anderslautender Vereinbarung nicht abgedruckt. Er beschwerte sich mehrfach bei der Zentrale über eine „Unterbindung der Diskussion vor dem Parteitage“ und die damit mangelhafte Vorbereitung der Delegierten. Das Versprechen, dass freie Diskussionen möglich seien, werde nicht eingehalten. 114 Die Mittelgruppe war 1923/ 24 daran gescheitert, dass sie, so Tjaden, über „keine theoretisch stichhaltige politische Konzeption“ verfügte und anschließend weitgehend auseinandergebrochen. 115 Die Reste dieser Fraktion sammelten sich nun um Meyer und Frölich. Gemeinsam mit Karl Becker wandten sich die beiden in einem Brief an den 10. Parteitag der KPD, der vom 12. bis 17. Juli 1925 tagte. Das Schreiben stellte den Versuch dar, eine theoretisch stichhaltige und politisch kohärente Position der „neuen“ Mittelgruppe herauszuarbeiten. Der umfangreiche Brief besteht aus einem Schreiben an den Parteitag sowie einer Reihe von Anhängen. Soweit sich diese mit der Analyse der Oktoberniederlage 1923 und mit der Geschichte der KPD befassen, sind sie bereits weiter oben behandelt worden. Im Folgenden sollen nun die Kernelemente der Kritik von Meyer, Frölich und Becker am Kurs der KPD vorgestellt werden. Der Brief beginnt mit der Erinnerung an die Hoffnungen in der Partei auf einen „festen Kurs“ und „große politische Erfolge“ nach dem Frankfurter Parteitag. Zugleich beschreibt er die starke Stellung der Parteiführung: „Keine Parteileitung hat je in so allgemeinem Maße das Vertrauen der Mitgliedschaft hinter sich gehabt, wie die gegenwärtige“, 113 Ernst Meyer/ Paul Frölich/ Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD, in: Bericht über die Verhandlungen des X. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale) in Berlin vom 12. bis 17.Juli 1925, Berlin 1926, S.-257-271, Zitat S.-260. 114 Brief Meyer an das Polbüro der Zentrale der KPD, Berlin, 3.7.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 329. Siehe auch Sitzung des Pol.-Büros mit den Redaktionen der „Roten Fahne“, der „Welt am Abend“ und dem „Pressedienst“ am 22.6.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 5, Bl. 117-119. 115 Tjaden: KPO, S.-42. <?page no="262"?> 262 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) um dann schonungslos mit der Politik dieser Führung abzurechnen. Ihre Einheitlichkeit sei „in die Brüche gegangen“, das Vertrauen in sie „gesunken“, unter den Mitgliedern würden „Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und Verwirrung“ herrschen. „In der Partei herrschen Direktionslosigkeit in der Parteipolitik, Zickzackkurs, Nachhinken hinter den Ereignissen und gefährliche Inaktivität, Verlust des Kontaktes mit den Massen, der sich im Rückgang unseres Einflusses im Betrieb und Gewerkschaften, im Rückgang der Stimmen bei Betriebs- und politischen Wahlen zeigt; völlige Unklarheit in der Mitgliedschaft über Aufgaben und Weg der Partei.“ Die Politik der Führung habe zu einem „katastrophalen Rückgang des Einflusses der Partei auf die Massen“ geführt, gar zu einer „Isolierung von den Massen“, die sich im dramatischen Rückgang der kommunistischen Stimmen bei der Reichstagswahl ausdrückte. In Streikbewegungen sei die Partei „so gut wie vollständig einflusslos“, in der Auseinandersetzung um den Dawes-Plan habe sie sich „selbst zu einer sektiererischen, einflusslosen Propaganda verurteilt“ und in den Regierungskrisen sich geweigert, die Forderung nach einer Arbeiter- und Bauernregierung zu stellen. Die Endlosungen der KPD seien abstrakt, Teilforderungen würden hingegen opportunistisch gestellt. In der Gewerkschaftsfrage habe die Partei glatt versagt. Der Hauptgrund liege nicht in den objektiven Schwierigkeiten kommunistischer Politik in Zeiten der Stabilisierung, sondern in der „falschen - starren und scheinradikalen - Politik und Taktik der Partei“ sowie in der „Verkennung der politischen Gesamtsituation“ und im „Überbordwerfen der taktischen Erfahrungen, die die Partei seit ihrem Bestehen gemacht hat.“ Notwendig sei eine „rückhaltlose Selbstkritik“, sonst werde die KPD „auch weiterhin nicht in der Lage sein, eine revolutionäre Massenbewegung zu schaffen, die Massen zu bolschewisieren, sondern die Partei wird auch weiterhin die Massen menschewisieren, d.h. entweder, wie im vergangenen Jahr, in die Arme der SPD treiben, oder es zumindest nicht verstehen, die Massen von der SPD loszulösen.“ Dieser Politik der Führung stellen die Autoren einen Gegenentwurf gegenüber, der vor allem auf eins abzielt: einer Rückkehr zur Einheitsfrontpolitik. Deren Notwendigkeit leiten sie aus der politisch-ökonomischen Gesamtsituation ab: „Zweifellos ist in Deutschland eine vorläufige wirtschaftliche und politische Stabilisierung eingetreten. […] Die Stabilisierung hemmt die Entwicklung zu einer neuen akut revolutionären Situation.“ Zwar seien weiter „Möglichkeiten tiefer politischer Erschütterungen“ gegeben, das Tempo der weiteren Entwicklung aber nicht absehbar. „Die Eroberung der Mehrheit des Proletariats steht wiederum im Vordergrund unserer Ziele. In den Mittelschichten müssen wir uns verankern. Dies ist nur zu erreichen durch eine bewusste, kraftvolle und geschmeidige Anwendung der Einheitsfronttaktik.“ Auch der V. Weltkongress habe dieses Herangehen als „richtig und notwendig“ anerkannt, die Orientierung des Kongresses auf eine Einheitsfront „nur von unten“ sei nur als temporäre Strategie zu verstehen. So lange die SPD - wie beim Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen - eine eindeutig arbeiterfeindliche Politik betrieb, gäbe es keinen Spielraum für die klassische Einheitsfrontpolitik: „Einer Partei gegenüber, die auf die Arbeiterklasse schießt, kann man kein indirektes Entlarvungsmanöver treiben. Man muss sie niederschlagen, sie entlarvt sich von selbst […].“ Die Situation habe sich aber nach Annahme des Dawes-Planes geändert. Die SPD versuche wieder, als Opposition im Kapitalismus aufzutreten. Damit gelte es, zur klassischen Einheitsfront zurückzukehren. <?page no="263"?> 263 8.4 Völlig isoliert: Auf dem 10. Parteitag der KPD Diese dürfe aber keineswegs nur „mechanisch“ angewendet werden, also „lediglich als Entlarvungstrick gegenüber den sozialdemokratischen Führern, ohne die Massen zu mobilisieren.“ Es sei ein weit verbreiteter Irrtum, dass „unsere Minimal- oder Teilforderungen nur den Zweck der Entlarvung der SPD“ hätten. Stattdessen dienen sie der „Sammlung, Mobilisierung und dem In-den-Kampf-Führen der breiten Massen […] Wirkliche Entlarvung ist auch nur durch die Auslösung und Führung von Aktionen möglich.“ Daher fordern die Meyer, Frölich und Becker den Übergang zu einer „revolutionären Einheitsfronttaktik, also zur Taktik der Eroberung der Massen unter voller Wahrung des Charakters der Partei.“ Sie skizzieren anhand verschiedener Beispiele, wie eine solche Politik konkret aussehen müsse. In der Auseinandersetzung um den Dawes-Plan müsse die Partei ein „Aktionsprogramm mit Lohn-, Arbeitszeit-, Steuer- und Mittelstands-Forderungen usw. aufstellen […], unter der Sammellosung: ‚Alle Lasten auf die Bourgeoisie! ‘“. Ein konkretes Steuerprogramm müsse „aufgestellt werden, das zur Grundlage der Aktivierung der Massen dienen könne.“ In Anbetracht von Regierungskrisen und der Bildung eines parlamentarischen Bürgerblocks müsse die Parole „Block der Werktätigen in Stadt und Land“ mit der Zuspitzung auf eine Arbeiter- und Bauernregierung gestellt werden. Das Aktionsprogramm müsse „eine Plattform zur Mobilisierung der Massen zum Kampf gegen die Abwälzung der Lasten auf die werktätigen Massen und die monarchistische Reaktion“ darstellen. „Seine Sammellosungen müssen sein: Kampfblock der Werktätigen zum Kampf um die Abwälzung der Lasten auf die Kapitalisten und für die Arbeiter- und Bauernregierung.“ Mit einer solchen Ausrichtung gelte es, die sozialdemokratischen Arbeiter vom Einfluss ihrer Führer zu lösen und „zu Abwehrkämpfen gegen die kapitalistische Offensive“ zu sammeln. Als zwingende Voraussetzung zur Änderung des Kurses betrachteten die Autoren die Rückkehr zur innerparteilichen Demokratie. Gleich als erste der von ihnen als notwendig erachteten Maßnahmen fordern sie „offene Diskussionen“. Denn „nur auf dem Weg einer offenen und überzeugenden Diskussion können auch die ultralinken und opportunistischen Gefahren in der Partei überwunden und die Gefahr der Fraktionsbildungen beseitigt werden.“ Weiter fordern sie die Rückkehr zur „Wahl der Funktionäre durch die Mitglieder“. Es müsse „Schluss gemacht werden mit der Methode der Maßregelung von Funktionären, lediglich weil sie in den Diskussionen Kritik an der Politik der Partei üben.“ Ausgeschlossene Genossen müssten wieder aufgenommen werden, wenn sie auf dem Boden der Partei stehen. Für Meyer und seine Genossen war eben das eine Politik im Geiste Lenins und Luxemburgs: Eine strategische Ausrichtung auf die Gewinnung der Massen für den Kommunismus mittels der Einheitsfrontpolitik bei gleichzeitiger Garantie der innerparteilichen Demokratie und Diskussionsfreiheit. Sie sahen sich damit keinesfalls im Gegensatz zur Bolschewisierung der Partei: „Die Bolschewisierung muss aus einem Wort zur Tatsache werden. Das heißt heute ganz besonders Vertiefung der leninistischen Ideologie in der Partei, Sicherung der Selbstkritik in der Partei. […] Bolschewismus ist demokratischer Zentralismus.“ 116 Meyer und Genossen legten hier einen überzeugenden Entwurf für revolutionäre Realpolitik in nichtrevolutionären Zeiten vor. Ihnen ging es um eine Politik, die sich nicht in 116 Ernst Meyer / Paul Frölich/ Karl Becker: Brief an den Parteitag der KPD, in: Bericht 10. Parteitag, S.-257- 271. <?page no="264"?> 264 8 Im Zentrum der Opposition gegen den ultralinken Kurs (1924/ 25) die identitäre Ecke sektiererischer Selbstvergewisserung der eigenen Radikalität verabschiedet, sondern versuchte, unter Anerkennung der objektiven Rahmenbedingungen an den kommunistischen Zielen festzuhalten und dabei politikfähig zu bleiben. Doch auf dem Parteitag konnten sie mit ihren Vorschlägen nicht durchdringen. Er war dominiert von der Auseinandersetzung zwischen der linken Zentrale-Mehrheit und den Ultralinken um Katz, Scholem und Rosenberg. Die Säuberung des Apparates von den Gegnern der Linken führte dazu, dass unter den 170 Delegierten kaum Anhänger Meyers saßen, auch er selbst hatte kein Delegiertenmandat erlangen können. Umso beachtlicher war, dass er dennoch die Gelegenheit bekam, seine Position zu vertreten. Meyer-Leviné verweist darauf, dass die meisten Delegierten eher politische Neulinge waren und den „verhasstesten Mann nach Brandler“ in der Partei noch nie zuvor gesehen hatten. Sie hätten sich ihm gegenüber aber höflich und verständnisvoll verhalten. 117 Meyer ging in seinem Redebeitrag auf die veränderten Frontlinien in der innerparteilichen Auseinandersetzung ein. Seine Position verträte er seit langem, sie habe sich nicht geändert. Was sich geändert habe, sei die Position Fischers, die auf Druck der Exekutive hin nun den Kampf gegen die Ultralinken aufgenommen hatte und „jetzt schlechte, inkonsequente Mittelgruppenpolitik“ betreibe. Auch hier betonte er die Notwendigkeit der Einheitsfrontpolitik und der innerparteilichen Diskussionsfreiheit. 118 Meyers Rede fand wenig Resonanz. Fischer schlug ihm vor, sich mit Katz zusammenzuschließen. Derweil berichtete der Delegierte Müller aus dem Bezirk Erzgebirge-Voigtland, „alle Freunde des Genossen Meyer“ in seinem Bezirk seien „erledigt“. Nun würde man alle Anstrengungen machen, die Reste seiner Politik „auszurotten“ (worauf der Parteitag mit Bravo-Rufen reagierte). Nur Ernst Thälmann ging inhaltlich auf Meyer ein und gab ihm in Bezug auf die Einheitsfront Recht, leugnete aber, dass sich die Zentrale auf die Positionen der alten Mittelgruppe zubewegt habe. 119 Der Brief an den Parteitag wurde verteilt und kam, wie das Parteitags-Protokoll vermerkt, „in den Debatten des Parteitages zur Sprache“ 120 . Insgesamt liefen die Vorstöße von Meyer und Genossen aufgrund der Zusammensetzung der Delegierten aber noch „völlig ins Leere“, wie Tjaden schreibt. 121 Die Forderung der russischen Kommunisten nach einer Erweiterung der Zentrale durch einige Mittelgruppen-Vertreter, darunter auch Meyer, wurde vom Parteitag zurückgewiesen. Immerhin drückte allein die Tatsache, dass Meyer seine Vorschläge auf dem Parteitag begründen konnte, eine leichte Änderung des innerparteilichen Klimas aus: Wohl vor allem auf den Druck der Exekutive hin wurde seiner Strömung die Möglichkeit zur offenen Artikulation ihrer Positionen ermöglicht. So wurde der Brief an den Parteitag denn auch in drei Fortsetzungen in der Zeitschrift „Die Internationale“ abgedruckt. Letztlich sollten sich die Dinge so entwickeln, wie Meyer es erwartet hatte: Erst die kommende, entschiedene Intervention des EKKI in die deutsche Partei sollte die Kräfteverhältnisse in der KPD ändern und seinen Positionen wieder Gehör und bald auch Einfluss verschaffen. 117 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-103. 118 Bericht 10. Parteitag, S.-594-598 (Beitrag Meyer). 119 Vgl. Bericht 10. Parteitag, S.-506 (Fischer), S.-602 (Müller), S.-634 f.-(Thälmann). 120 Bericht 10. Parteitag, S.-257. 121 Tjaden: KPO, S.-52. <?page no="265"?> 265 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) 9.1 „Eingeschlagen wie eine unerwartete Bombe“: Die Komintern greift ein Aus Sicht der Komintern hatte der 10. Parteitag vor allem eines gezeigt: Die Fischer-Zentrale war weder zu einer grundsätzlichen Kursänderung noch zu einem entschlossenen Vorgehen gegen die zunehmend Komintern-feindlichen Ultralinken bereit. Zwar „amalgamisierten“ sich der linke Flügel und einige links gewendete ehemalige Anhänger der Mittelgruppe wie Remmele und Eberlein. 1 Einer Öffnung der Führung zu Anhängern Meyers, wie sie von der Internationalen gewünscht war, erteilten Linke und Ultralinke jedoch eine entschiedene Absage. Daher entschloss sich die Komintern-Führung im August 1925 Mittels eines „Offenen Briefes“ in die Entwicklung der deutschen Partei einzugreifen. Meyer war schon lange bewusst, dass es ohne einen solchen Eingriff der Exekutive keine wirkliche Änderung der Politik der KPD geben würde. Daher hatte er durch zahlreiche Schreiben versucht, auf die Komintern-Führung einzuwirken. Er versuchte sogar, die Haltung der russischen Presse zu beeinflussen. Bei der Redaktion der „Prawda“ beschwerte er sich darüber, dass sie ihn als massenfernen Intellektuellen und „Rechten“ dargestellt hatte: „Die ganze deutsche Partei weiß, dass ich zu der Richtung gehöre, die als Mittelgruppe bekannt ist.“ 2 Seine politische Linie würde sich vollkommen mit der der Exekutive decken. Offensichtlich war sich Meyer sehr genau des Einflusses bewusst, den die Komintern und damit die russische Parteiführung mittlerweile auf die verschiedenen kommunistischen Parteien hatte. Anstatt diese Dominanz aber zu problematisieren, wollte er sie sich zu Nutze machen. Die Verhältnisse in der KPD ließen ihm wohl auch keine andere Wahl: Die Erstickung der innerparteilichen Demokratie durch die linke Zentrale hatte eine Änderung des Kurses der Partei von innen her verunmöglicht. Inhaltlich deckte sich der Kurs, den die Komintern seit März/ April 1925 verfolgte, weitgehend mit seinen eigenen Positionen. Und eine grundsätzliche Opposition zur Dominanz der Komintern hätte Mitte der 1920er Jahre bereits bedeutet, sich außerhalb der kommunistischen Bewegung zu stellen, wie das Schicksal der Ultralinken bald zeigen sollte. Immerhin trat Meyer der Komintern gegenüber nicht anbiedernd auf. Er versuchte, die Auseinandersetzung politisch und auf Augenhöhe zu führen. Vor scharfer Kritik an bestimmten Positionen der Komintern schreckte er, wie sein Auftreten gegenüber Manuilski verdeutlicht hatte, keineswegs zurück. Wie weit Meyers Versuche zur Beeinflussung des KI-Kurses tatsächlich zum radikalen Schwenk der Komintern gegenüber der deutschen Zentrale ab dem Sommer 1925 beitrugen, lässt sich schwer quantifizieren. Wie so häufig reicht die Quellenlage für eine genaue 1 Tjaden: KPO, S.-50 f. 2 Brief Meyer „An die Redaktion der ‚Prawda‘, Moskau“, Berlin, 28.7.25, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 65. <?page no="266"?> 266 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) <?page no="267"?> 267 9.1 „Eingeschlagen wie eine unerwartete Bombe“: Die Komintern greift ein Beurteilung des individuellen Einflusses nicht aus. Da der „Offene Brief“ aber in vielen Punkten - teilweise fast wörtlich - die Kritik Meyers aufgreift, ist anzunehmen, dass seine Schreiben nach Moskau, aber auch sein Brief an den 10. Parteitag, durchaus Wirkung hatten. Der Schwenk der Komintern war eine Reaktion auf den abnehmenden gesellschaftlichen Einfluss der KPD und auf die zunehmend kominternfeindliche Haltung von Teilen der deutschen Parteiführung. Zugleich drückte er das sich anbahnende Bündnis zwischen Stalin und Bucharin gegen Sinowjew aus, der sich wiederum langsam Trotzki annäherte. So gesehen fungierte die Komintern 1925 auch als ein Transmissionsriemen, der die russischen Fraktionskämpfe auf die kommunistische Weltbewegung übertrug. Allerdings war die Stalinisierung der Internationalen 1925 noch keineswegs abgeschlossen, in ihrem Apparat gab es noch relevante Kräfte, für welche die weltrevolutionäre Perspektive weiterhin der entscheidende Maßstab war. Sie drängten auf eine Änderung des Kurses der KPD, deren Notwendigkeit sich geradezu zwingend aus den realen politischen Erfahrungen in Deutschland seit dem Frankfurter Parteitag ergab. Politische Notwendigkeit und russische fraktionelle Zweckmäßigkeit überlappten sich 1925 und gingen vorübergehend eine die deutsche Partei belebende und die Position Ernst Meyers fördernde Synthese ein. Der „Offene Brief“ stellte eine gnadenlose Abrechnung mit der Fischer-Maslow-Führung dar. Ihr wurden eine Reihe von „Abweichungen“ vorgeworfen, einige ihrer Repräsentanten seien „bankrott“. Welche damit gemeint waren, daran ließ der Brief keine Zweifel. Im Zentrum der Kritik stand Maslow - also Fischers engster Verbündeter. Ihm wurde ein „äußerst gefährlicher Angriff gegen die Grundlagen des Leninismus und gegen die gesamte Politik der Komintern“ vorgeworfen. Auch Fischer selbst wurde scharf angegangen. Die Änderungen, die die Komintern für die Politik der KPD anforderte, lesen sich - an vielen Stellen sogar fast wörtlich - so, als habe der Brief von Meyer, Frölich und Becker an den 10. Parteitag als Vorlage gedient. Ohne Meyer namentlich zu nennen, gab der Brief seiner Kritik aus den letzten anderthalb Jahren recht, vor allem in den Bereichen Einheitsfont und innerparteiliche Demokratie. Als „wichtigste Frage“ und „Hautaufgabe“ der KPD benannte das Papier „das Problem der Eroberung der Massen und besonders der Massen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft“. Letztere „müssen das Gefühl haben: die Kommunistische Partei ist wirklich eine Partei der Arbeiter, eine Partei, die unentwegt für unsere Interessen, unsere Teilforderungen, unsere Tagesnöte kämpft, die uns nicht nur als Agitationsobjekte, sondern als Klassenbrüder betrachtet, die ehrlich die Herstellung der proletarischen Einheitsfront im Klassenkampf will.“ In diesem Geiste seien die politischen Forderungen aufzustellen. Die immer noch stattfindenden Schlägereien zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten würden den „größten Schaden bringen“ und gehörten abgestellt. Gegenüber den Gewerkschaften wurde eine völlig andere Taktik gefordert: „Die große Bewegung für die Einheit der Gewerkschaften wird breiteste Massen erfassen und neuen Zustrom für die freien Gewerkschaften bringen, wenn die Kommunistische Partei zur treibenden Kraft für die Gewerkschaftseinheit wird.“ Nachdrücklich und mehrfach forderten die Autoren des Briefs eine „Demokratisierung des Parteilebens“. In der Vergangenheit habe es an Kontrolle der deutschen Führung sowohl von unten (durch die Basis) als auch von oben (durch die Komintern) gemangelt. Der 10. Parteitag sei überaus schlecht <?page no="268"?> 268 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) vorbereitet und auf ihm selbst die „Diskussionsfreiheit annulliert“ worden. Notwendig sei daher „innere Parteidemokratie, […] Diskussionsfreiheit, Wählbarkeit der Parteifunktionäre“ und eine Hinzuziehung „der besten Mitglieder der ehemaligen Opposition“ zur Führung. Unverhohlen versuchte die Komintern, einen Keil zwischen die verschiedenen Flügel der KPD-Führung zu treiben und sie zu spalten: Gegenüber den Intellektuellen wurden die „proletarischen Elemente“ der Linken um Thälmann in Stellung gebracht, auf die die Führung der Partei übergehen sollte. 3 Der „Offene Brief“ erreichte die KPD Ende August und wurde am 1. September in der „Roten Fahne“ veröffentlicht. Meyer berichtete, er habe eingeschlagen wie eine „unerwartete Bombe“. Denn selbst die Funktionäre ahnten vorher „nichts von irgendeiner Kritik der Komintern an der Leitung der Partei“ 4 , die ja erst vor wenigen Wochen mit übergroßer Mehrheit gewählt worden war. Nun wurde sie öffentlich demontiert. Das Ausmaß dieser Demontage wurde noch dadurch verstärkt, dass der Brief die Unterschriften der meisten Führungspersönlichkeiten der KPD trug, einschließlich Ruth Fischers. Im August waren zwei Delegationen nach Moskau gereist. Dort gelang es der Exekutive, in zähen Verhandlungen Thälmann, Dengel und andere von ihrer Haltung zu überzeugen. Besonders Bucharin, der kommende starke Mann der Internationale, tat sich mit scharfen Angriffen auf die KPD-Führung und namentlich auf Ruth Fischer hervor. Schließlich knickte auch sie ein. Einstimmig unterschrieben die KPD-Delegationen den Brief. In ihren Memoiren schreibt Fischer, sie sei in Moskau gezwungen worden, ihr „eigenes politisches Todesurteil zu unterzeichnen.“ 5 Die Art, wie diese Wende der KPD-Politik vollzogen wurde, bedeutete eine einschneidende Zäsur: Der Sturz der Brandler-Zentrale und der Sieg der Linken auf dem Frankfurter Parteitag wurden noch auf den Druck der KPD-Basis hin vollzogen. Sie symbolisierten ein beachtliches Maß an Autonomie gegenüber der Komintern, die ja eine gemeinsame Führung von Linken und Mittelgruppe präferiert hatte. Der durch den „Offenen Brief“ eingeleitete Sturz der linken Führung kam nun in allererster Linie durch den Druck Moskaus zustande. Die schon seit Jahren wachsende Abhängigkeit der KPD von der Komintern wurde hierdurch stark beschleunigt. Somit erscheint der „Offene Brief“ in der historischen Rückschau als ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Zementierung des russischen Einflusses in der Komintern und damit als Wegbereiter der Stalinisierung. Dennoch war seine Wirkung durchaus widersprüchlich. Denn er verstärke nicht nur langfristig die Abhängigkeit von Moskau, sondern führte kurzfristig zu einer Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie und Diskussionsfreiheit und belebte vorübergehend das erstarrte Parteileben. Eines leistete der Brief allerdings nicht: eine Selbstkritik der Komintern sowohl bezüglich ihrer eigenen Rolle im Deutschen Oktober als auch bezüglich ihrer anfänglichen Unterstützung der linken Führung. Zudem ließ ihr Festhalten an den „proletarischen Elementen“ der Linken um Thälmann auch für die Zukunft keine vollkommene Abkehr von der alten Politik erwarten. Laut Rosa Meyer-Leviné war ihr Mann über den Brief durchaus auch „entsetzt und enttäuscht“, habe ihn aber im Wesentlichen begrüßt. Sie zitiert ihn: 3 Offener Brief der Exekutive der Komintern an alle Organisationen und die Mitglieder der KPD, in: Weber: Dokumente, S.-218-242. 4 Brief Meyer an [Franz] Klinger, Moskau, den 3.10.25, in: Weber: Wandlung, Dok. 5, S.-412-415, hier S.-413. 5 Zit. nach Weber: Wandlung, S.-124, Anm. 13. <?page no="269"?> 269 9.2 In Fraktionskämpfen „Er wird die Klärung beschleunigen. Was für Zweideutigkeiten er auch enthält, er zeigt den richtigen Weg. Jetzt ist es unsere Aufgabe, das übrige zu tun. Es wäre dumm von uns, Thälmann unsere rückhaltlose Unterstützung zu verweigern, wenn das Zentralkomitee den neuen Kurs wirklich akzeptiert. Wir müssen der Partei helfen, die gegenwärtige Krise mit dem geringstmöglichen Schaden zu überwinden. […] Wir konnten die Zusammenarbeit nicht verweigern, denn dies war die Politik, für die wir selber lange eingetreten sind.“ Meyer-Leviné merkt an, es sei das letzte Mal gewesen, dass er „der Komintern irgend etwas zugute hielt oder ihr huldigte.“ 6 In jedem Fall wurde Meyers Position in der KPD durch den „Offenen Brief“ massiv gestärkt. Diese Situation versuchte er umgehend auszunutzen. 9.2 In Fraktionskämpfen Am Tag der Veröffentlichung des „Offenen Briefes“ in der „Roten Fahne“ tagte in Berlin eine Konferenz der politischen Sekretäre der KPD, der Chefredakteure und des ZK. Gegen die Stimmen einiger Ultralinker befürworteten die Anwesenden mit 44: 6 Stimmen das Schreiben. Mit 42: 7 stimmten sie außerdem für eine Resolution des ZK, das sich der neuen Linie anschloss. Meyer trat auf der Konferenz energisch, für seine Verhältnisse geradezu aggressiv, auf. Er warnte davor, nun Fischer und Maslow zu den alleinigen Sündenböcken zu machen. Alle Funktionäre sollten sich selbstkritisch mit ihrer Position in der jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen. Er unterstützte die Ausrichtung des „Offenen Briefes“, den er als „Voraussetzung für die Gesundung der Partei“ bezeichnete und forderte - wie schon so oft in der letzten Zeit - eine Rückkehr zur Einheitsfrontpolitik, die Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie und die Wiederaufnahme der Ausgeschlossenen, soweit sie auf dem Boden der Komintern stünden. Zusammen mit acht Genossen, darunter Böttcher und Duncker, legte Meyer eine Ergänzung zur Resolution des ZK vor, die diese Punkte noch einmal unterstrich und in der explizit auf die „Gefahr“ aufmerksam gemacht wurde, „dass gegen die antibolschewistische Gruppe Ruth Fischer-Maslow-Scholem nur ein Scheinkampf geführt wird.“ Für sein offensives Auftreten wurde Meyer scharf angegriffen, etwa von Dengel, der - von mehreren Zwischenrufen Meyers unterbrochen - vor den „rechten Gefahren“ in der KPD warnte und Meyer „Demagogie“ unterstellte. Meyers Ergänzungsantrag wurde von der von Anhängern des linken Flügels dominierten Versammlung mit 51: 5 Stimmen deutlich abgelehnt. 7 Die Konferenzteilnehmer stellten sich hinter den „Offenen Brief“, obwohl sie die darin verurteilte Fischer-Maslow-Führung erst wenige Wochen zuvor selbst gewählt hatten. Fischer und Maslow verloren sofort ihre bisher führende Stellung im ZK und schieden aus der inneren Leitung der Partei aus, auch wenn sie dem Polbüro noch bis November 1925 angehörten. Auch andere Gegner Meyers wie Lenz (Winternitz) verloren an Einfluss. Die Führung der Partei ging auf Thälmann und Dengel über, die nun zusammen mit Geschke 6 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-109. 7 Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretariat und Redaktionen, 1.9.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 6, Bl. 1-87 (Beitrag Meyer, Bl. 17 f., Ergänzungsantrag Meyer und Genossen, Bl. 19, Beitrag Dengel, Bl. 37 f., Abstimmungen, Bl. 52 f.; pers. Erklärung Meyer, Bl. 55 f.). <?page no="270"?> 270 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) das neue Sekretariat bildeten. „Die KPD trennte sich auf Drängen der Komintern von einer Führungsgruppe, ohne deren Politik grundsätzlich in Frage zu stellen“, urteilt Kinner. „Sie begab sich unter weitgehendem Ausschluss der ‚Rechten‘ in eine Auseinandersetzung mit den ‚Ultralinken‘, die sich - vor allem der Schwäche der neuen Parteiführung geschuldet - über fast zwei Jahre hinzog und die politische Kraft der KPD in starkem Maße einschränkte. Das ‚Thälmann-ZK‘, so der etwas ältere Begriff der Thälmann-Hagiographie, war keineswegs stabil, sondern von Fraktionskämpfen zerrissen. Ein wichtiger Einschnitt seit der Gründung der KPD war dieser Vorgang allenfalls deshalb, weil niemals zuvor eine Parteiführung der KPD in solchem Maße durch die Führung von Komintern und RKP(B) vorbestimmt wurde.“ 8 In den nun ausbrechenden monatelangen Fraktionskämpfen standen sich verschiedene, oft in sich stark ausdifferenzierte Strömungen gegenüber: 1.) die Ultralinken um Rosenberg, Scholem, Katz, 2.) die Linken um Urbahns, Fischer und Maslow, 3.) die das ZK dominierende Thälmann-Gruppe, die einen Block aus ehemaligen Linken und aus linksgewendeten ehemaligen Anhängern der Mittelgruppe darstellte, 4.) die Mittelgruppe - häufig als „Rechte“ bezeichnet - um Meyer, Frölich und Becker 5.) die eigentliche „Rechte“ der Anhänger Brandlers und Thalheimers. Es gelang der neuen Führung zunächst, die meisten Bezirke zu einer Zustimmung zur Linie des „Offenen Briefes“ zu bewegen. Die Linke war durch Fischers Unterschrift unter diesem Dokument vorübergehend desorientiert, auch wenn diese insgeheim eine neue Opposition zu organisieren begann. In den Hochburgen der Linken dauerte der Kampf um die Zustimmung zur neuen Linie noch eine Weile an, vor allem in Berlin. In Pommern hingegen stimmte die Bezirksleitung mit großer Mehrheit für eine Resolution der Gruppe Meyer-Frölich, die den „Offenen Brief“ mit eigenen Anmerkungen versehen hatte. Meyer und seine Genossen griffen in den Kampf um die Bezirke auch durch zwei Schreiben ein, die sie an Thälmann, Remmele, Dengel und Ewert richteten. Hier informierten sie die relevanten Köpfe der Parteiführung detailliert über die Versuche der Ultralinken, eine neue Opposition zu formieren. Es seien „starke Kräfte in der Partei am Werk“, die „unter dem Deckmantel ihrer formellen Zugehörigkeit zur führenden Gruppe der jetzigen Zentrale und der formellen Zustimmung zum Brief der Exekutive in Wirklichkeit drauf und dran sind, den von der Komintern eingeleiteten innerparteilichen Kurs und damit natürlich auch den politischen Kurs umzubiegen und die Durchführung des Briefes […] zu verhindern und zu sabotieren.“ Minutiös listeten Meyer und Genossen Beispiele auf, wie führende Parteimitglieder in den Bezirken gegen die neue Politik auftraten. Daran sei auch die Personalpolitik mitschuldig, die Geschke, der Leiter des Org.-Büros, betreibe. Dieser würde weiterhin vermeintlich rechte Genossen maßregeln, den ausgeschlossenen Rechten den Weg zurück in die Partei verbauen und im ganzen Land führende Posten der Partei mit Anhängern Fischers besetzen. In der „Roten Fahne“ würden mit wenigen Ausnahmen nur Diskussionsartikel der Linken und Ultralinken, nicht aber der Mittelgruppe veröffentlicht. Als Ursachen benannten die Mitglieder der Meyer-Gruppe „einmal die ideologisch und 8 Kinner: Kommunismus, S.-89. <?page no="271"?> 271 9.2 In Fraktionskämpfen organisatorisch sehr mangelhafte Führung der Parteidiskussion (wobei wir natürlich nicht verkennen, dass Ihr ungeheure Schwierigkeiten habt und dass alles getan werden muss, um Euch zu unterstützen)“. Eine weitere Ursache sei, „das für die Partei ungeklärte Verhältnis“ der neuen Führung „zu uns ‚Rechten‘.“ Dies könne durch ein gemeinsames Bündnis geklärt werden: „Es ist für uns keine Redensart und kein Manöver, wenn wir davon sprechen, an einer wirklichen Konzentration der Kräfte der Partei mitarbeiten zu wollen.“ Zwar werde es weiterhin Differenzen zwischen Mittelgruppe und Zentrale geben, diese würden aber einer „systematischen Zusammenarbeit“ nicht grundsätzlich im Wege stehen. 9 Am 31. Oktober und 1. November 1925 kam in Berlin die erste Reichsparteikonferenz der KPD zusammen, deren Delegierte erstmals auf der Grundlage von Betriebszellen gewählt worden waren. Hier ging der Kampf für die Linie des „Offenen Briefes“ und gegen die Ultralinken weiter, die 33 der 249 Delegierten stellten. Thälmann erklärte sie zur Hauptgefahr in der KPD. Scholem, der das Korreferat für die Ultralinken hielt, stellte nicht zu Unrecht fest, Thälmann habe mit seinem Bekenntnis zum „Offenen Brief“ die theoretischen Grundlagen der Mittelgruppe übernommen. Eine Neuwahl des ZK konnte auf der Konferenz nicht vorgenommen werden, da nur ein Parteitag das statuarische Recht dazu hatte. Die Konferenz beschloss aber, Scholem aus dem ZK auszuschließen. Unterstützung kam vom EKKI-Vertreter Manuilski, der argumentierte, der neue Kurs der innerparteilichen Demokratie dürfe weder zu einer Aushöhlung der Autorität des ZK noch zu einer Diskreditierung der Komintern führen. Auch er bezeichnete die Ultralinken als Hauptgefahr für die KPD und forderte, in der Führung müssten auch Gruppierungen, die nicht zur Linken zählten, mitarbeiten, womit offensichtlich Anhänger der Mittelgruppe gemeint waren. Thälmann war indes eifrig bemüht, sich nun selbst als die eigentliche Mitte der Partei, als ihr leninistisches Zentrum darzustellen. Daher warnte er nicht nur vor den ultralinken, sondern auch vor den rechten Gefahren. Gleichzeitig versuchte er, Meyer und seinen Anhängern eine Brücke zu bauen: Sie sollten sich nur eindeutig vom rechten Flügel distanzieren. Offensichtlich war dies eine Reaktion auf das Angebot zur Zusammenarbeit, das Meyer und Genossen kurz zuvor gemacht hatten. An Meyer richtete er fünf Fragen, darunter die, ob Meyer meine, dass überhaupt eine rechte Brandlergruppe in der Partei existiere. Dieser entgegnete: „Es besteht keine rechte, Brandleristische Fraktion. Es besteht aber eine Fraktion, die wegen ihres anderthalbjährigen Kampfes gegen den Kurs in der Partei als Rechte bezeichnet worden ist.“ Gemeint war damit seine eigene Gruppe. Brandler und Thalheimer warf er vor, dass sie die Lehren aus dem Oktober 1923 nicht gezogen hätten. „Und insofern solidarisieren wir uns nicht mit ihnen und führen den Kampf gegen die politischen Auffassungen, die von ihnen vertreten und aufrechterhalten werden.“ Weiter erklärte Meyer, dass rechte Gefahren sehr wohl in der Partei beständen, beispielsweise in Form übertriebener Reaktionen auf die ultralinke Politik. Diesen sagte er den Kampf an, was kein „Lippenbekenntnis“ sei, sondern einer „innerste Überzeugung“ folge. Zur Frage Thälmanns, ob die Meyer-Gruppe bereit sei, bedingungslos die Politik des ZK zu unterstützen, konnte Meyer sich folgende Bemerkung nicht verkneifen: „Genosse 9 Brief Karl Becker/ Paul Frölich/ Gerhart/ Ernst Meyer an Thälmann, Remmele, Dengel, Ewert, Berlin, 17.10.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 66, Bl. 11-16; Nachtrag zum Brief vom 17.10.25 von Becker/ Frölich/ Gerhart/ Meyer an Thälmann, Remmele, Dengel, Ewert, Berlin, 18.10.25, in: Ebenda, Bl. 17 f. <?page no="272"?> 272 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Thälmann oder vielmehr einzelne seiner Freunde, die bis vor kurzem ultralinke Politik mitgemacht haben, haben nicht in allen Teilen die politische freudige Zustimmung gefunden.“ Selbstverständlich würden sie aber das ZK im Kampf gegen ultralinke und rechte Gefahren unterstützen. Eine weitere Frage Thälmanns hatte gelautet, ob Meyer bereit sei, seine Fraktion aufzulösen. Diese würde seine Gruppe mit Ja beantworten, erwiderte Meyer, „und wir erwarten und hoffen, dass alle Fraktionen genau so wie wir es tun, eine Erklärung abgeben werden, dass die Fraktionen oder die fraktionellen Einstellungen und der fraktionelle Geist in der Partei verschwinden.“ Thälmann ging in seinem Schlusswort auf Meyers Antworten ein. Auch wenn er mit ihnen insgesamt nicht zufrieden war, so erklärte er doch im Namen der Zentrale, dass sie, „wenn er aber ernsthaft gemeint hat, das Zentralkomitee zu unterstützen“ bereit sei, „in der praktischen Arbeit mit ihm zusammenzugehen.“ 10 Der „Offene Brief“ führte tatsächlich zu einer deutlichen Belebung der zuvor erstarrten Parteidemokratie. Diskussionen fanden parteiöffentlich wieder statt und wuchsen sich rasch zu heftigen Fraktionskämpfen aus. Die „Rote Fahne“ dokumentierte die Erklärungen und Beschlüsse diverser Bezirke zum „Offenen Brief“. Erklärungen der unterschiedlichen Strömungen wurden in der Reihe „Um die Linie der Komintern“ abgedruckt, wobei Artikel aus den Reihen der Ultralinken gegenüber solchen der Mittelgruppe klar überwogen. Die Redaktion trat eindeutig für die neue Linie ein, öffnete ihr Blatt dabei aber für gegensätzliche Positionen. Auch für Meyer hatten sich die Möglichkeiten, seine Ansichten in der Parteipresse zu publizieren, wieder deutlich verbessert, wenn auch nicht überall: Gerade die Redaktionen in Bezirken, die vom linken Flügel dominiert wurden, weigerten sich immer noch häufig, seine Artikel abzudrucken. Auch mit der Redaktion der „Roten Fahne“ hatte er öfters Schwierigkeiten. 11 Dennoch nutzte Meyer die nun wieder vorhandenen Publikationsmöglichkeiten, um sich in die Parteidiskussion einzubringen und so die Wende der KPD zur Einheitsfrontpolitik zu forcieren. Meyer war ein wichtiger Akteur in diesen Fraktionskämpfen. Er und seine Mittelgruppe befanden sich in einer komplizierten Lage: Sie mussten einen „Zweifrontenkrieg“ gegen linke und rechte Auffassungen führen und gleichzeitig die schwankende Parteiführung unter Druck setzen, sich sowohl selbstkritisch mit der eigenen Rolle in der letzten Zeit zu beschäftigen, als auch tatsächlich zur Einheitsfrontpolitik zurückzukehren. Als innerparteiliche Hauptgegner verstand Meyer hierbei die Ultralinken. „Es wird in der nächsten Zeit ein Kampf um die Bezirke entbrennen“, schrieb er im Oktober in einem Brief, „wobei nach meiner Meinung der Hauptkampf zwischen ultralinks und der Gruppe Meyer-Frölich, die für die wirkliche Durchführung des Briefes kämpft, gehen wird.“ 12 Auch die Ultralinken stellten sich auf eine scharfe Auseinandersetzung ein. In einer gemeinsamen Erklärung warnten Rosenberg und Scholem, die Brandler-Fraktion werde den Offenen Brief nutzen, 10 Protokoll der 1.Reichsparteikonferenz der KPD in Berlin, 31.10.-1.11.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 1/ 2/ 4, Bl. 239-247 (Meyer) und Bl. 316-319 (Thälmann). Zur Reichsparteikonferenz siehe auch verschiedene Dokumentationen in der „Roten Fahne“ vom 31.10.-6.11.25. Die Fragen Thälmanns und die Antworten Meyers finden sich auch - in z.T. etwas anderen Worten, sinngemäß aber ähnlich -in: Aus der Diskussion Ernst Meyers auf der Reichskonferenz vom 1. November 1925, in: SAPMO-BArch, NY 4137/ 6, Bl. 12. 11 Zahlreiche Protestschreiben Meyers wegen des Nichtabdruckens seiner Artikel an verschiedene Redaktionen finden sich in SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 75, Bl. 337-377. 12 Brief Meyer an [Franz] Klinger, Moskau, den 3.10.25, in: Weber: Wandlung, Dok. 5, S.-412-415, hier S.-414. <?page no="273"?> 273 9.2 In Fraktionskämpfen um die Partei zurückzuerobern. Sie riefen alle Linken auf, sich zusammenzuschließen und die KPD vor dem „Ansturm der Brandler-Fraktion zu schützen.“ 13 Sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie nicht nur Brandler, sondern auch Meyer treffen wollten. Als ein explizites Beispiel für den vermeintlich rechten Kurs führten sie eine Erklärung der Bezirksleitung Pommern an, die sich hinter Meyers Linie in der Steuerfrage stellte. Angesichts dieser scharfen Frontstellung verwundert es nicht, dass Meyer bei den verschiedenen Parteikonferenzen immer wieder mit den Ultralinken zusammenstieß. Gleichzeitig musste er sich gegen den Verdacht wehren, er würde einer „rechten“ Politik in der KPD Vorschub leisten. Daher versuchte er sich an die Spitze der Auseinandersetzung mit solchen Positionen zu stellen, die er in der Tat als eine Gefahr für die Partei betrachtete. Eine Gelegenheit dazu verschaffte ihm der bereits erwähnte Artikel Reinhold Schönlanks im Halleschen „Klassenkampf“. Meyer warf Schönlank vor, auf einen Anschluss der KPD an die SPD hinzuarbeiten und daher „ein einzelner und verspäteter Nachfahre Paul Levis“ zu sein, ein „Agent der SPD innerhalb unserer eigenen Reihen“, der bekämpft gehöre. Tatsächlich wurde Schönlank bald aus der KPD ausgeschlossen, da seine Ansichten den Grundsätzen der Partei widersprächen. 14 Auf der Reichsparteikonferenz betonte Meyer, dass Schönlank auf sein Verlangen hin ausgeschlossen wurde, und erklärte: „Wir werden an erster Stelle stehen, um den Kampf gegen diese rechten Abweichungen zu führen.“ 15 An anderer Stelle lieferte er den Grund für diese scharfe Frontstellung: „Gerade die ‚rechtesten Genossen‘, wie ich und meine Freunde vielfach genannt werden, werden bei dieser notwendigen Operation genauso rücksichtslos auftreten, wie wir es bei der Liquidierung der Levi-Krise getan haben.“ 16 Gegen rechte Tendenzen war Meyer also sofort bereit aufzutreten, wenn sie die Existenz der KPD zu gefährden drohten. Dann hielt er, wie im Falle Schönlanks, auch Ausschlüsse für geboten. Dies galt in seinen Augen aber nicht für die Gruppe von Brandler und Thalheimer selbst. Dementsprechend setzte er sich mit ihnen anders auseinander - vor allem, weil sie ihm in den zentralen Auseinandersetzungen dieser Jahre (Einheitsfront, innerparteiliche Demokratie, Verhältnis zur Spartakus-Tradition) inhaltlich sehr nahestanden. Offensichtlich hatte Meyer Brandler, der weiterhin in Moskau „kominterniert“ war, sogar vorgeschlagen, eine Rückkehr nach Deutschland zu beantragen. Doch dieser lehnte ab, was Meyer mit den Worten kommentierte: „Wir halten das für einen großen Fehler. Auch wenn er nicht die Erlaubnis bekommen hätte, hätte sein Angebot hier wie drüben ausgezeichnet gewirkt.“ 17 Mit der erwähnten Reichsparteikonferenz Ende Oktober 1925 sollte die Parteidiskussion zum Abschluss gebracht werden, die Reihe „Um die Linie der Komintern“, die die Positionen der unterschiedlichen Strömungen dokumentiert hatte, wurde eingestellt. Anschließend ging die Thälmann-Dengel-Führung gegen ihre früheren, nun als Ultralinke 13 Für die Einheit der deutschen Linken. Erklärung von Rosenberg und Scholem in: Die Rote Fahne, 22.9.25. 14 Vgl. Die Rote Fahne, 25.10.25. 15 Protokoll der 1.Reichsparteikonferenz der KPD in Berlin, 31.10.-1.11.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 1/ 2/ 4, Bl. 245. 16 Ernst Meyer: Der Liquidator Schönlank, in: Die Rote Fahne, 17.10.25. Der Artikel wurde in verschiedenen KPD-Regionalzeitungen nachgedruckt, darunter am 22.10.25 in der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“ und am 27.10.25 in der „Schlesischen Arbeiterzeitung“. 17 Brief Meyer an Georg [Schumann? ], Berlin, 22.10.1925, in: Weber: Wandlung, Dok. 6, S.-415 f. <?page no="274"?> 274 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) beschimpften Verbündeten vor. Sie operierte dabei, so Weber, „mit den gleichen Methoden […] wie die linke Leitung nach dem Frankfurter Parteitag: Zunächst sollte der Apparat einheitlich auf die neue Linie ausgerichtet werden.“ Diesen Prozess charakterisiert Weber als „Säuberung“. 18 In den fraktionellen Auseinandersetzungen spaltete sich die linke Opposition in verschiedene Gruppierungen auf, die 1926/ 27 Zug um Zug aus der Partei gedrängt wurden: Erst traf es die Radikalsten der Ultralinken, die Anhänger von Iwan Katz. Dann folgten weitere bekannte Akteure wie Rosenberg, Scholem und Schwan. Anschließend waren Urbahns, Fischer und Maslow an der Reihe. 19 Vorläufiges Ergebnis der Parteidiskussion war, dass die KPD in vielen Punkten auf die von Meyer seit langem geforderten Linie einschwenkte: Sie bemühte sich nun ernsthaft um eine Rückkehr zur Einheitsfrontpolitik, und das ZK forderte die Bezirke auf, die Ausschlüsse der letzten Monate nachzuprüfen, soweit sie aus politischen Gründen erfolgten, und eine Liste der Wiederaufzunehmenden zu erstellen. 20 9.3 Im Aufwind Die KPD schwenkte nun also auf den Kurs ein, den Meyer seit langem gefordert hatte. Was hätte also nähergelegen, als ihn wieder in die Führung aufzunehmen? Die Komintern- Exekutive verzichtete allerdings darauf, ihn zu protegieren. Einerseits hätte die sofortige Rückkehr ihres alten Feindbildes Meyer in die Führung es den bisherigen Anhängern Fischer-Maslows erschwert, sich zu dem neuen Kurs zu bekennen. Anderseits bevorzugte die Exekutive eine Führung um den ihnen ergebenen, politisch nur sehr bedingt selbstständigen Thälmann. Dieser schien ihr leichter handhabbar als der eigenständige und keineswegs konfliktscheue Meyer. „Macht- und personalpolitisch hatte er“, schreib Kinner über den neuen Parteivorsitzenden Thälmann, „eine Grundhaltung verinnerlicht, die von einer unerschütterlichen Loyalität zu Komintern und Sowjetunion geprägt war. In dieser Loyalität richtete sich Thälmann an den jeweils dominierenden Autoritäten aus.“ Für die Führungsgruppe in der Komintern und der russischen Partei sei er „die optimale Besetzung für die Leitung der KPD“ gewesen, weil er und sein Führungsteam „ohne ernsthafte kritische Korrektur des ‚Linkskurses‘ der Jahre 1924/ 25 einen inkonsequenten Kompromiss zwischen der ‚Linken‘ und der Mittelgruppe“ symbolisierten. 21 Meyer schrieb im Oktober 1925 über die Gruppe um Thälmann im ZK, sie sei die einzige, die wirklich gewillt sei, die Politik des „Offenen Briefes“ durchzuführen, allerdings fehle ihr dazu die Kraft. Intellektuell sei sie immer noch von Fischer-Maslow abhängig, weswegen sie die Fraktionsarbeit der Ultralinken dulde und sich gegen eine Zusammenarbeit mit ihm und Frölich sperrten, obwohl beide zur Unterstützung bereit seien. 22 In jedem Fall war die Strömung um Meyer durch den „Offenen Brief“ gestärkt worden und ging allerorts in die Offensive. Eine Rückkehr Meyers in die Führung lag in der Luft, 18 Weber: Wandlung, S.-137. 19 Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin, S.-227-235. 20 Vgl. Die Rote Fahne, 25.10.25. 21 Kinner: Kommunismus, S.-87 f. 22 Vgl. Brief Meyer an [Franz] Klinger, Moskau, den 3.10.25, in: Weber: Wandlung, Dok. 5, S.-412-415. <?page no="275"?> 275 9.3 Im Aufwind von den einen gefürchtet, von den anderen erhofft. Bereits auf der Konferenz am 1. September warf der Delegierte Ernst Grube ihm vor, die „Krise der Partei auszunutzen (…) zum Sprungbrett, um sich der Führung zu bemächtigen.“ 23 Auch das EKKI beobachtete das Agieren der Gruppe um Meyer und Frölich genau. Diese unterstütze zwar den „Offenen Brief“, gebe aber „ihre fraktionelle Stellungnahme“ nicht auf und trete mit „einer eigenen politischen Plattform auf“. Dafür gäbe es zwei Gründe: „1. Sie hält auch die neue Führung nicht für geeignet, den neuen Kurs der Exekutive durchzuführen. 2. Sie behauptet, dass die praktischen Aufgaben der Partei nicht richtig gestellt sind und hält es für ihre Aufgabe, sie zu ergänzen.“ Die Gruppe „entfaltet jetzt eine gesteigerte Tätigkeit, sie betrachtet die jetzige innerparteiliche Konstellation als ein Übergangsstadium und hofft, bei gesteigerter Aktivität die Parteiführung in die Hände zu bekommen. Ihre Anhängerschaft ist über das ganze Reich verbreitet. Im Bezirk Pommern und im Unterbezirk Merseburg ist diese Gruppe an der Leitung.“ 24 Gleichwohl klagte Meyer selbst über Probleme bei der Umsetzung seines Vorhabens. „Man übt jeden nur denkbaren Druck aus, damit wir schweigen“, berichtete er einem Genossen im Oktober 1925. 25 Die Parteidiskussion sei „sehr unerquicklich und unpolitisch“, schrieb er derweil seiner Frau. „Man macht in der Provinz eine unerhörte Hetze gegen mich, mit viel Verleumdungen. Aber das sind die letzten Anstrengungen. Ich bin und bleibe optimistisch, wenn auch nicht für die nächste Zukunft.“ Zugleich berichtet er aber auch von Genossen, die nun darauf hofften, dass die ultralinke Phase endgültig vorbei sei und er wieder die Führung der KPD übernehme. 26 Tatsächlich erfuhr er nun immer öfter Unterstützung und Ermutigungen. Ein Genosse schrieb ihm aus Ostpreußen, „dass die Stimmung vollständig umgeschlagen ist! Die Linke hat vollkommen abgewirtschaftet; der Anschauungsunterricht hat gute Früchte getragen. Die Genossen in der Provinz verlangten teilweise in der Diskussion geradezu, dass die Leitung der Partei wieder Dir und der früheren Mittelgruppe übertragen werde. Viele hinausgefahrene Genossen berichten, dass Du persönlich eine große Sympathie in der Ostpr[eußischen] Partei genießt. Es wird deshalb sehr zweckmäßig sein, wenn wir bei der nächsten Landtagswahl wieder Dich an die Spitze der Liste stellen.“ 27 Mitte November erklärte auch die Bezirksleitung Ostpreußen, sie habe gegen Meyer als Referenten in ihrem Bezirk nichts mehr einzuwenden. 28 Seiner Frau schrieb er: „[…] heute Früh bekam ich einen netten Brief von einem Bekannten aus dem Zuchthaus. ‚Ruth und Maslow waren nur zeitweilige Führer, bedingt durch die Verhältnisse, die eine radikale Politik forderten. Seit 1924 haben sich die Verhältnisse wieder so geändert, dass wir zur Einheitsfrontpolitik zurück müssen. Nun erwarte ich jeden Tag von irgendeiner Seite die Nachricht, dass Du die Führung der Partei übernimmst.‘ Auch Grete St[illmann] begrüßte mich als künftigen Parteichef, dem sie noch immer ihre ultralinken 23 Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretariat und Redaktionen, 1.9.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 6, Bl. 40. 24 Die Krise in der K.P. Deutschlands [1925], hg. vom Sekretariat des EKKI, Leiter der Informationsabteilung des EKKI, Pepper, in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 13-18, hier Bl. 17. 25 Brief Meyer an Georg [Schumann? ], Berlin, 22.10.1925, in: Weber: Wandlung, Dok. 6, S.-415 f. 26 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., o.D. [September 1925], in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 96. Datierung nach Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-112. 27 Brief unbekannt an Meyer, o.O., o.D. [1925], in: BArch Koblenz, N 1246/ 23, Bl. 54. 28 Brief des Pol.-Büros der KPD Ostpreußen an die Zentrale der KPD, Königsberg, 14.11.25, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 3/ 4/ 17, Bl. 198. <?page no="276"?> 276 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Warnungen ausspricht. So ist die allgemeine Stimmung, und daher besonders wütende Angriffe auf mich.“ 29 Auch aus Reihen der Komintern gab es offensichtlich Bestrebungen, Meyer wieder in die Führung zurückzuholen. „Der Ex[ekutive]-Vertreter wollte mit mir und der Z. eine Sitzung machen (Gegenstand u.a. meine sofortige Wahl in die Zentrale.)“, schrieb er seiner Frau. „Wegen meiner Reise wurde sie bis Mitte der Woche verschoben.“ 30 Meyer-Leviné berichtete später, allerhand Leute, die Meyer in den vergangenen Jahren gemieden hatten, fingen nun an, sich um ihn zu scharen, so Willi Münzenberg und Heinz Neumann. 31 Auch privat hatte Meyer wieder Kontakt zum KPD-Führungszirkel. Am 3. Januar 1926 hielt er auf der Feier des ZK anlässlich des 50. Geburtstags seines langjährigen Weggefährten Wilhelm Pieck eine Rede. 32 Auch wenn es bis zur Rückkehr Meyers in die KPD-Führung noch ein ganzes Jahr dauerte: Das Politbüro kam der Forderung des „Offenen Briefes“ nach, Mittelgruppen- Vertreter zur Arbeit heranzuziehen. So übernahm Meyer wie erwähnt Ende Oktober/ Anfang November die Leitung des KPD-Pressedienstes. Dessen Räumlichkeiten befanden sich 1925/ 26 im obersten Stockwerk jenes Gebäudes in der Rosenthaler Straße, in der auch die Zentrale saß, was eine engere Anbindung an die KPD-Führung begünstigte. Ein Jahr, nachdem die Zentrale mit allen Mitteln seine Wiederwahl in den preußischen Landtag verhindert hatte, beschloss das Politbüro nun, Meyer zur politischen Mitarbeit in den Fraktionsvorstand der preußischen Landtagsfraktion zu delegieren. 33 Außerdem entsandte ihn die KPD in der Berliner Stadtverordnetenversammlung im Februar 1926 in den preußischen Staatsrat. Dort fungierte er als einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Verfassungsausschusses. Wie bereits geschildert spielte Meyer darüber hinaus eine wichtige Rolle in der Geschichtsarbeit der Partei und veröffentlichte eine Reihe von Aufsätzen und Büchern zu parteihistorischen Themen. Auch in der Bildungsarbeit wurde er eingesetzt. So konnte er dazu beitragen, dass von ihm beklagte geringe Niveau marxistischer Bildung in der KPD zu heben. Als Vertreter des Pressedienstes nahm er wieder regelmäßig, wenn auch ohne Stimmrecht, an Sitzungen der führenden Parteikörperschaften Polbüro und ZK teil und wurde sogar in die Kommission des Politbüros gewählt, der die Organisierung der Kampagne für die entschädigungslose Enteignung der Fürstenhäuser oblag. 34 Diese sollte bald zum erfolgreichsten Einheitsfrontprojekt der KPD überhaupt werden. 9.4 Einheitsfront beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung Nach dem „Offenen Brief“ des EKKI schien eine Rückkehr zur Einheitsfrontpolitik plötzlich möglich. Meyer versuchte sie nach Kräften zu befördern. Als Beispiel sei aus seinem Artikel „Wo stehen wir“ in der „Internationale“ zitiert. Zur bisherigen Parteidiskussion 29 Zit. nach Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.110. 30 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Königsberg, 27.10.25, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 103. 31 Vgl. Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-110. 32 Vgl. SAPMO-BArch, SgY30/ 0297 (Erinnerungsmappe Friedel Gräf ), Bl. 99 f. 33 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros der KPD, 1.12.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 5, Bl. 187. 34 Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 7.12.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 5, Bl. 190 ff. <?page no="277"?> 277 9.4 Einheitsfront beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung schrieb er süffisant: „Die sehr rasche Umstellung vieler Genossen, die […] noch vor vier Wochen genau das Gegenteil von dem gesagt haben, was sie heute reden und schreiben, ist zwar ein Zeichen der Disziplin gegenüber der Komintern, aber kein Beweis für ihre Fähigkeit, die aktuellen Aufgaben des Proletariats vom kommunistischen Standpunkt aus zu durchdenken.“ Eine Diskussion, die sich nur „um Fragen der Disziplin, und der Fehler einzelner Gruppen und Personen“ drehe, werde der Partei wenig nutzen. Stattdessen müsse es um eine gründliche Analyse der Situation und der Aufgaben der Kommunisten gehen. Grundlage dafür müsse die „Feststellung der relativen wirtschaftlichen Stabilisierung des Kapitalismus“ sein, die Meyer ausführlich analysierte. Daraus leitete er eine Politik ab, wie er sie bereits seit dem Frankfurter Parteitag - kondensiert im „Brief an den 10. Parteitag“ - gefordert hatte. Erneut verlangte er das Aufstellen eines „konkreten, revolutionären Steuerprogramms“ und „gründliche Massenpropaganda“ für die „Konfiskation dynastischer Vermögen“, hohe Erbschafts- und eine progressive Einkommens- und Vermögenssteuer. Meyer war überzeugt, dass sich mit Hilfe einer solchen Politik rasch Erfolge erzielen lassen würden. Gegen den Pessimismus von Linken und Ultralinken betonte er, dass die Umstände für kommunistische Politik heute günstiger seien etwa zur Vorkriegszeit. Es sei heute „verhältnismäßig leicht […] größere Arbeiterschichten von der reformistischen Führung loszulösen.“ „Wer angesichts dieser ganzen Sachlage nicht von einem fröhlichen Optimismus über die Aussichten der kommunistischen Arbeit erfüllt ist […], der verrät, dass er nichts von der Vergangenheit der Arbeiterbewegung kennt, dass ihm jede Vergleichsmöglichkeit mit früheren Zeiten fehlt, und dass ihm die Qualität für die Führung einer revolutionären Partei abgeht.“ Meyer schloss: „Die ganze Diskussion der Partei muss von dem Geiste des revolutionären Optimismus getragen werden.“ 35 Unbeirrt trat er für eine Perspektive ein, die darauf abzielte, die Mehrheit der Arbeiterklasse für den Kommunismus zu gewinnen. Aus diesem Grund lehnte er auch einen Erwerbslosenkongress der KPD ab: „Das Problem ist nicht, 4 Millionen Erwerbslose rebellisch zu machen, sondern: die 18 Millionen noch in Arbeit stehenden Arbeiter rebellisch zu machen. Wir haben 1921 bis 1923 gesehen, dass wir einen großen Fehler gemacht haben, indem wir uns mehr an die Erwerbslosen als an die in Arbeit stehenden Arbeiter gewandt haben.“ 36 Auf der Grundlage einer revolutionären Realpolitik schien ihm ein deutliches Wachstum der KPD auch in Zeiten der Stabilisierung möglich: „Wir haben zum ersten Mal seit 1918 eine Situation, wo wir wirklich eine Volkspartei im vollen Sinne des Wortes werden können. Eine Partei, die die Arbeiterschaft bis weit in die Kreise des Kleinbürgertums hinein erfassen kann.“ 37 Wie sehr die Politik, die Meyer so lange vergeblich vorgeschlagen hatte, nun in der KPD konsensfähig geworden war, zeigte sich bei der zweiten Sitzung der Politischen Kommission des Polbüros der KPD am 14. Dezember 1925. Thema der Sitzung waren die Steuerfragen, und Referent ausgerechnet der in dieser Frage früher so bekämpfte Ernst Meyer. Umfassend stellte er hier sein Konzept revolutionärer Realpolitik vor und lieferte noch einmal alle Argumente seiner Gruppe zu dieser Frage aus der vergangenen Zeit. Unter anderem führte er aus, dass die SPD vor zu radikalen Steuerforderungen zurückschrecke, weil 35 Ernst Meyer: Wo stehen wir, in: Die Internationale, Jg. 8 (01.11.25), H 11, S.-685-693. 36 Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 8.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 36, Bl. 31. 37 Protokoll der Sitzung des ZK am 26.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 37, Bl. 32. <?page no="278"?> 278 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) sie fürchtete, die Akkumulationsmöglichkeiten des Kapitals und die Funktionsfähigkeit des Staats in Frage zu stellen. Derartige Rücksichten kenne die KPD nicht, denn „wir als grundsätzliche Gegner des Staates, die wir diesen Staat stürzen wollen, werden natürlich vor einer solchen Schranke nicht Halt machen, sondern unsere Forderungen werden so gefasst sein, dass sie politisch und ökonomisch die Stellung des Kapitalismus untergraben.“ Noch einmal betonte er, dass es dabei nicht um parlamentarische Politik gehe: „Soweit wir im Parlament Forderungen stellen, so nur zu dem Zweck, die Massen aufzurütteln.“ Steuerforderungen seien Teilforderungen, und ihr Sinn liege für die KPD darin, „dass sie größere Massen in Kämpfe ziehen, weil sie glauben, dass diese Forderungen unmittelbar realisiert werden können“, und die Massen in den Kämpfen lernen, dass zur Durchsetzung und Sicherung ihrer Forderungen letztlich eine Diktatur des Proletariats notwendig sei. Die auf Meyers Referat folgende Diskussion illustriert, wie sehr sich die Stimmung in der Partei verändert hatte und die Linke in die Defensive geraten war. Rosenberg führte aus: „Es war verhängnisvoll für die Partei, dass Lenz und Ruth Fischer in der Steuerfrage nur das Problem sahen: wie schlägt man Ernst Meyer, und infolgedessen nicht ernsthaft an die Frage herangingen.“ Gerhart Eisler meinte festzustellen, dass „in dieser Frage eine Einheitsfront von Ernst Meyer bis Rosenberg hergestellt“ sei. Dengel übte sich in harter Selbstkritik: „Es ist richtig, dass wir zu 100% in unserer Auffassung in der Steuerfrage unrecht gehabt haben. Fehler, die im Gesamtrahmen unserer falschen Politik liegen.“ Thälmann lavierte ein wenig und meinte, man dürfe die Frage nicht so stellen, wer im Einzelnen Recht gehabt habe, worauf Meyer in seinem Schlusswort entgegnete: „Hinter den Versuchen, ein paar Prozent Recht zu retten, verbergen sich in Wirklichkeit noch falsche ultralinke Auffassungen.“ 38 Ihm ging es als Voraussetzung eines echten Kurswechsels um eine gründliche Generalabrechnung mit den Fehlern der Vergangenheit. Dies scheint ihm auf der Sitzung gelungen zu sein, wie ein unbekannter Briefschreiber berichtet: „[…] selbst die Linken und Ultralinken haben einen großen Rückzieher gemacht und sich kläglich verteidigt, so dass die sogenannten ‚Rechten‘ in der Steuerfrage, die ja unter der Ruth-Fischer- Zentrale eine große Rolle gespielt hat, zu 100% Recht bekamen. Was also die politische Linie der Zentrale anbelangt, so kann man im allgemeinen damit einverstanden sein. Eine andere Frage ist natürlich die praktische Durchführung dieser Politik.“ 39 Nach der Reichsparteikonferenz der KPD führte die Partei tatsächlich eine deutliche Wende hin zur Einheitsfront durch. Dies lässt sich an verschiedenen Beispielen illustrieren. Am 6. Dezember 1925 titelte die „Rote Fahne“ mit einer Parole, die Meyer seit langem vertretenen hatte: „Sofortige Hilfe für die Werktätigen! Auflösung des Reichstags - Arbeiter- und Bauernregierung! “ 40 Immer wieder brachte das Zentralorgan im Dezember Apelle, die KPD-SPD-Mehrheit im Berliner Stadtparlament für eine Politik im Interesse der Werktätigen zu nutzen, etwa in der Wohnungsfrage. Besonders deutlich wurde der neue Einheitsfrontkurs anhand der Intervention der KPD in das damals überragende innenpolitische Diskussionsthema: den Streit um die in der Novemberrevolution nur beschlagnahmten Vermögen des gestürzten deutschen Adels, der nun seine Besitztümer zurückforderte. Auch hier griff die KPD einen Vorschlag auf, den 38 Protokoll der Sitzung der Politischen Kommission des Polbüros der KPD am 14.12.25, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 30, Bl. 1-32. 39 Brief K. an unbekannt, 20.11.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 64, Bl. 81-84, hier Bl. 83. 40 Die Rote Fahne, 6.12.25. <?page no="279"?> 279 9.4 Einheitsfront beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung Meyer mehrfach formuliert hatte. Am 25. November brachte sie einen Gesetzentwurf zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten in den Reichstag ein. Deren Vermögen sollten den Kriegsgeschädigten zugutekommen, die Schlösser als kommunale Wohnungen dienen und die Ländereien an Bauern vergeben werden. Der Gesetzentwurf setzte die zunächst schwankende SPD - sie präferierte einen Vergleich, keine Enteignung - gehörig unter Druck. Wie abzusehen war, scheiterte der Entwurf an den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag. 41 Außerparlamentarische Maßnahmen waren daher notwendig. Am 4. Dezember richtete die KPD einen „Offenen Brief“ an die Vorstände von SPD, ADGB, AfA- Bund, Beamtenbund, Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund unter dem Titel „Kein Pfennig den Fürsten“, in dem sie gemeinsame Besprechungen zur Durchführung eines Volksentscheides vorschlug. 42 Auf seiner Sitzung am 7. Dezember beschloss das KPD- Politbüro, die Kampagne für einen Volksentscheid ins Zentrum seiner Arbeit zu stellen und sich für die Durchführung sowohl an die Spitzengremien anderer Organisationen der Arbeiterbewegung zu wenden, als auch auf lokaler Ebene organisationsübergreifende Komitees zur Vorbereitung des Volksentscheids aufzubauen. Die Einschätzungen über die Erfolgsaussichten gingen in der Sitzung auseinander. In jedem Fall sah man das Thema als geeignet zur Mobilisierung der Massen und dazu, den Kampf gegen monarchistische Strömungen auf eine breite Basis zu stellen. Zur Durchführung der Kampagne wurde eine achtköpfige Kommission bestimmt, der auch Meyer angehörte. 43 Er trat in diesem Kontext dafür ein, eine „wirkliche organisatorische Fühlung mit den linksgestimmten sozialdemokratisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern zu bekommen“ und so einen „linken Flügel in der Arbeiterschaft“ zu schaffen. Um dies zu erreichen, trat er für einen flexibleren und differenzierteren Umgang mit der SPD ein: Die KPD-Presse müsse viel stärker als bisher zwischen dem linken und rechten Flügel in der SPD unterscheiden und versuchen, diese gegeneinander auszuspielen. Zu dem Einwand, so würden Illusionen in die SPD-Linke geschürt, meinte er, selbstverständlich gehöre diese kritisiert und ihr wahrer Charakter aufgezeigt, aber: „So falsch es ist, zu unterlassen, die linke SPD zu kritisieren, ebenso falsch und noch schlimmer ist es, die rechte SPD nicht zu prügeln.“ 44 Nach der Rechtslage der Weimarer Republik konnte ein Volksbegehren, wenn ihm zehn Prozent der Wahlberechtigten (ca. 3,9 Millionen Personen) zustimmten, einen Volksentscheid über ein Gesetz herbeiführen. Bei dem Volksentscheid musste dann die Mehrheit aller Stimmberechtigten dem Gesetz zustimmen, um es in Kraft treten zu lassen. Die Initiatoren mussten also rund 20 Millionen Ja-Stimmen mobilisieren. Dazu hätten die Arbeiterparteien ihre Stimmenzahl im Vergleich zur letzten Reichstagswahl fast verdoppeln müssen. Zunächst lehnte die SPD-Führung eine gemeinsame Kampagne für ein Volksbegehren und einen Volksentscheid ab, wurde von der KPD aber geschickt unter Druck gesetzt. Die „Rote Fahne“ berichtete immer wieder über einstimmige Beschlüsse bei Gewerkschafts- und Betriebsversammlungen, das Volksbegehren zu unterstützen. Auch viele SPD-Unter- 41 Vgl. Die Rote Fahne, 26.11.25. 42 Vgl. Die Rote Fahne, 4.12.25. 43 Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 7.12.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 5, Bl. 190 ff. 44 Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretären und Redakteuren am 29./ 30.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 7, Bl. 161. <?page no="280"?> 280 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) organisationen sprachen sich dafür aus. Neben Appellen an die anderen Arbeiterorganisationen und dem Aufbau lokaler Einheitsfrontkomitees versuchte die KPD auch durch Straßendemonstrationen eine starke Bewegung für die Enteignung aufzubauen. In Berlin beispielsweise konnte sie - nach intensiver Agitation zur Teilnahme auch unter sozialdemokratischen Arbeitern - am 13. Dezember 1925 zwischen 60.000 und 100.000 Menschen zu einer Großkundgebung im Lustgarten mobilisieren. 45 Die Resonanz auf den kommunistischen Aufruf zu einer gemeinsamen Kampagne war so groß, dass die SPD-Führung Anfang 1926 umschwenkte und ein gemeinsames Volksbegehren unterstützte. Unter Vermittlung des ADGB einigten sich KPD und SPD daraufhin auf einen Gesetzentwurf, über den die Bevölkerung entscheiden sollte, und über die Finanzierung der Initiative. Im Sonstigen behielt jede Organisation die Freiheit zur eigenen Agitation und Propaganda. Gleichzeitig versuchten die Führungen von SPD und ADGB, die Entstehung organisationsübergreifender lokaler Aktionskomitees mit den Kommunisten einzudämmen. Das Ergebnis des Volksbegehrens, das vom 4. bis 17. März 1926 stattfand, war ein großer Erfolg für die Arbeiterbewegung: Statt der erforderlichen 3,9 Millionen trugen sich 12,5 Millionen Wahlberechtigte in die Listen des Volksbegehrens ein. Das waren zwei Millionen Stimmen mehr, als für die beiden Arbeiterparteien bei der letzten Reichstagswahl abgegeben worden waren. Daraufhin intensivierten Kirchen, Agrarier- und Unternehmerverbände sowie rechte Parteien ihre Gegenpropaganda. Sie riefen zu einem Boykott der Abstimmung auf, um das Quorum von 50 Prozent der Stimmberechtigten nicht zustande kommen zu lassen. Das Wahlgeheimnis wurde so faktisch aufgehoben, wer abstimmen ging, bezog allein dadurch Position. Gerade auf dem Land dürfte das viele Befürworter der Enteignung von einer Stimmenabgabe abgehalten haben. Dennoch gelang es beim Volksentscheid am 20. Juni 1926, das Ergebnis des Volksbegehrens noch einmal deutlich zu übertreffen: 14,5 Millionen stimmten nun mit „Ja“. Die Zahl von 19,8 Millionen, die notwendig gewesen wäre, um den Gesetzentwurf durchzusetzen, wurde damit zwar verfehlt, die Entschädigung der Fürsten weiter auf Landesebene geregelt. Aber es zeigte sich, wie sehr die Arbeiterorganisationen bei einem gemeinsamen Vorgehen in sozialen und demokratischen Fragen in der Lage waren, auch Teile der Mittelschichten und sogar konservative Wähler - vor allem des Zentrums - für ihre Ziele zu gewinnen. Bei keiner Wahl der Weimarer Republik entfielen auf die Arbeiterparteien so viele Stimmen, wie sie gemeinsam für den Volksentscheid mobilisieren konnten. Der Volksentscheid verdeutlicht das Potenzial, das eine Einheitsfrontpolitik der Arbeiterparteien im Angesicht der faschistischen Gefahr nach 1930 gehabt hätte. Zudem zeigt er, wie gut die Methode der Einheitsfront geeignet war, sozialdemokratische Arbeiter für gemeinsame Aktionen mit Kommunisten zu gewinnen und sie dabei - etwa durch die außerparlamentarische Aktivität in den lokalen Einheitsfrontausschüssen der Kampagne - potenziell zu radikalisieren. Für Meyer muss diese Kampagne eine große Bestätigung gewesen sein. An ihrer Ausgestaltung war er in zwei wichtigen Funktionen beteiligt: einerseits über seine Mitarbeit in der Kommission der KPD zur Durchführung der Kampagne, zum anderen in seiner Funktion als Leiter des Pressedienstes der Partei. Viele Artikel zur Fürstenenteignung in der „Roten Fahne“ und anderen KPD-Organen dürften aus seiner Feder stammen. Genauer 45 Vgl. Die Rote Fahne, 13. u. 15.12.25. <?page no="281"?> 281 9.4 Einheitsfront beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung Aufrufe zum Volksentscheid zur Fürstenenteignung, 1926 <?page no="282"?> 282 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) belegbar ist sein individueller Anteil an diesem großen Erfolg der Einheitsfrontpolitik aber nicht: Von den Sitzungen der Kommission sind keine Protokolle erhalten, und die Artikel des Pressedienstes waren in der Regel nicht namentlich gekennzeichnet. Während der Fürstenenteignungskampagne entstanden verschiedene lokale Einheitsfrontausschüsse. Um sie zu erhalten und für wirtschaftliche Kämpfe zu gewinnen, initiierte die KPD einen „Reichkongress der Werktätigen“, der vom 3. bis 5. Dezember 1926 in Berlin zusammentrat. Meyer war an zentraler Stelle an der Vorbereitung beteiligt: Er saß im Vorbereitungsausschuss und entwarf die politischen Richtlinien für den Kongress. 46 Etwa 2000 Delegierte nahmen teil, davon gehörten 137 der SPD und 31 sozialistischen Splittergruppen an. 690 Kongressteilnehmer waren parteilos. Die angestrebte Breitenwirkung blieb dem Kongress dennoch versagt, es gelang nicht, die in der Fürstenenteignungskampagne entstandenen Komitees zu stabilen Einheitsfrontorganen umzuwandeln. Auch waren die Großbetriebe unterrepräsentiert und die Gewerkschaften verweigerten sich der Mobilisierung. Dennoch wertete die KPD den Kongress als Erfolg: Stark wie selten zuvor sei es ihr gelungen, Mittelschichten und Kleinbauern zu erreichen, erklärte Dengel auf dem 11. Parteitag. Gleichwohl äußerten Kräfte, die auf eine entschiedene Einheitsfrontpolitik drängten, aber auch Kritik am Vorgehen der Führung. So schrieb Walcher im Mai 1927 an Bucharin, die KPD habe nach dem Erfolg der Kampagne „plötzlich vor der weiteren Durchführung der Einheitsfrontpolitik Angst bekommen“ und „ohne Ziel und Plan den Kongress der Werktätigen auf den Plan gesetzt.“ Diese „Flucht aus der Fürstenenteignungskampagne“ sei „aus Furcht vor einer weiteren Berührung mit der SPD und aus Scheu vor ultralinken Angriffen“ erfolgt. Hauptproblem bleibe, „dass die Partei es nicht versteht, ein richtiges Verhältnis zu der sozialdemokratischen Opposition herzustellen.“ 47 Der Brief verdeutlicht, wie schwankend der Grund für eine Rückkehr zur Einheitsfrontpolitik in der KPD noch war und wie halbherzig diese oft in Angriff genommen wurde. Dass die Bereitschaft, zur Einheitsfrontpolitik zurückzukehren, trotzdem insgesamt in der KPD wuchs, zeigte sich im Umgang mit einer möglichen sozialdemokratischen Minderheitsregierung in Sachsen. Gegen den Willen der Parteiführung hatte sich die dortige SPD wie schon 1923 für Koalitionen mit der KPD ausgesprochen. Unter der Voraussetzung, dass die SPD bereit sei, wenigstens einige Punkte des kommunistischen Programmes umzusetzen, erklärte sich die KPD zu einer Tolerierung bereit. Verkompliziert wurde die Situation durch die Alte Sozialdemokratische Partei Sachsens (ASP), einer Rechtsabspaltung der SPD, die nach der Landtagswahl vom 31. Oktober 1926 der Sozialdemokratie ebenfalls eine Tolerierung und sogar eine gemeinsame Minderheitsregierung anbot. Die KPD erklärte, sie sei nicht bereit, gemeinsam mit der ASP die SPD zu tolerieren. Meyer sprach sich vehement für ein Tolerierungsangebot aus, unabhängig davon, wie sich die ASP verhielt. Er sah die ASP zwar als faschistische Partei an (sie wurde - nicht zu Unrecht, wie Winkler schreibt - auch von der SPD als „national-sozialistisch“ bezeichnet), argumentierte aber, es käme im parlamentarischen Betrieb immer wieder vor, dass Kommunisten 46 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., 6.9.26, in: Weber: Wandlung, S.-449. 47 Brief Walcher an Bucharin, o.O., 26.5.27, in: Klaus Kinner / Elke Reuter / Wladislaw Hedeler / Horst Helas: Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 - Die KPD am Scheideweg. Eine kommentierte Dokumentation, Berlin 2003, S.-21-32. <?page no="283"?> 283 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ und ihre Gegner gemeinsam für oder gegen ein bestimmtes Gesetz stimmten. Dies solle die KPD nicht davon abhalten, der SPD eine Tolerierung anzubieten und gleichzeitig außerparlamentarischen Massendruck zu organisieren, um die SPD zur Übernahme bestimmter kommunistischer Forderungen zu zwingen und eine Große Koalition zu verhindern. Wieder zeigt sich hier Meyers bereits aus der Debatte um eine Arbeiterregierung bekannte Vorstellung, derartige Konstellationen in erster Linie als Hebel zur Mobilisierung der Massen und zur Stärkung außerparlamentarischer Bewegungen anzusehen. Daher plädierte er auch für die Einberufung eines sächsischen Betriebsrätekongresses, um zusätzlichen Druck auf die SPD zu organisieren und zugleich die gesellschaftliche Debatte vom Parlament in die Betriebe zu verschieben. Letztendlich blieben die kommunistischen Tolerierungspläne unerfüllt: In Sachsen bildete sich eine Koalitionsregierung aus ASP und bürgerlichen Parteien. 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ 9.5.1 Vorerst kein Bündnis mit Thälmann Im Herbst 1925 scheiterten Versuche, durch einen Zusammenschluss der ZK-Mehrheit mit der Meyer-Gruppe eine „Führung der Konzentration“ zu bilden, obwohl beide Seiten daran prinzipiell interessiert waren und ein solcher Zusammenschluss auch von Teilen des Komintern-Apparates befürwortet wurde. Der Meyer-Gruppe ging aber die Selbstkritik der alten Führung an ihren früheren Positionen und die Abkehr vom linken Kurs nicht weit genug, weswegen sie misstrauisch blieb. Andersherum grenzte sich Meyer in den Augen der Thälmann-Führung nicht entschieden genug von Brandler und Genossen ab. Sie fürchtete, durch ein Bündnis mit Meyer Teile der Parteilinken in die Arme der neuen linken Opposition zu treiben. Auch fürchtete sie, sich selbst durch das offizielle Zugeständnis, dass Meyer in den wesentlichen Fragen der vergangenen anderthalb Jahren recht gehabt hatte, zu stark zu diskreditieren. So stimmte die Thälmann-Führung der von der Meyer-Gruppe geforderten Massenpolitik zwar einerseits zu, blieb aber, so Kinner, „selbst in ihrem Politik-Stil vielen ‚ultralinken‘ Rastern verhaftet“ und wehrte sich gegen einen stärkeren Einfluss der Meyer-Gruppe auf die Führung. 48 Zwar wurden Meyer und Genossen allmählich wieder in verantwortlichen Positionen zur Parteiarbeit herangezogen, das Verhältnis blieb aber gespannt. Der Hauptkonflikt blieb die Auseinandersetzung mit den linksoppositionellen Strömungen. Hierbei war die Mittelgruppe ein natürlicher Verbündeter der Thälmann-Führung. Meyers scharfes Auftreten gegen die führenden Ultralinken lag auf der Linie der Parteiführung. 49 Wie genau sich die Strömung um Meyer, die wahlweise als Mittelgruppe, Meyer-Gruppe oder Meyer-Frölich-Becker-Gruppe bezeichnet wurde, im Jahr 1926 organisierte, ist un- 48 Kinner: Kommunismus, S.-93. 49 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 8.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 36, bes. Bl. 21 und 30 f. <?page no="284"?> 284 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) klar. Meyer hatte ja auf der Reichsparteikonferenz angekündigt, seine Fraktion aufzulösen. Als politische Strömung mit Treffen und Absprachen über gemeinsames Auftreten bestand die Gruppe aber weiter. Meyer bestritt entschieden, dass es sich dabei um eine Fraktion handele. Auch sein Gesinnungsgenosse Gerhart Eisler bezeichnete es als „lächerlich, von einer organisierten Fraktion zu sprechen.“ 50 Auf einer Konferenz des Zentralkomitees mit den Polsekretären und Redakteuren am 29. und 30. Januar 1926 machte Meyer einen erneuten Vorstoß, um eine „Konzentration der Kräfte“ in der Führung voranzutreiben. Er betonte, seine Gruppe hätte bis zur Reichsparteikonferenz Ende Oktober 1925 zwar eine oppositionelle Haltung eingenommen, seitdem würde sie aber die Grundlinie der Politik des ZK unterstützen. „Und wenn wir es für unser Recht halten, Kritik an gewissen Sachen zu üben, wenn das notwendig ist, so denken wir nicht daran, gewisse Gruppierungen entstehen zu lassen.“ Alle Versuche der Linken, „die ehemalige sogen[annte] Opposition hineinzumanövrieren in eine Stellung gegen das ZK oder die führende Gruppe im ZK auseinander zu manövrieren von dieser ehemaligen oppositionellen Gruppe, werden scheitern.“ Gleichzeitig sprach er von den Schwächen des ZK, die vor allem darin lägen, dass es keine einheitliche Führung gäbe. Die Linie der Komintern werde von den drei Genossen umgesetzt, die die politische Leitung im ZK haben. Die Mehrheit der ZK-Mitglieder verhielte sich aber passiv. Meyer erklärte das aus ihrer Angst heraus, als Umfaller zu gelten, da sie bis vor kurzem für eine völlig andere Politik eingetreten seien. Ziemlich offensichtlich wollte Meyer auf eine Erweiterung der Parteiführung um seine Strömung hinaus, was seine Gegner alarmierte. Daraufhin wurde er in einigen Redebeiträgen ob seiner Haltung in der Frieslandkrise 1921 angegriffen. 51 Auf der nächsten Sitzung des Polbüros wurden die Spannungen zwischen der Meyer- Gruppe und der ZK-Mehrheit um Thälmann deutlich. Meyer wurde aufgrund seines Auftretens auf der Sekretärs-Konferenz ein „Vorstoß […] gegen die führende Gruppe des ZK“ vorgeworfen. Meyer, entgegnete: „Wir kommen doch nie zu einer kameradschaftlichen Zusammenarbeit, wenn eine Körperschaft an der anderen nicht Kritik üben kann.“ 52 Polbüro und ZK untersagten Meyer daraufhin zunächst seine geplante Reise zur Sitzung der Kominternexekutive nach Moskau. Vermutlich war dies eine Reaktion auf seinen umstrittenen Auftritt, den auch Genossen seiner eigenen Strömung für unglücklich hielten, und den auch Meyer bald als taktischen Fehler bezeichnete. 53 Als Begründung für das Reiseverbot wurde angeführt, seine Anwesenheit in Moskau würde den Eindruck erwecken, er verträte weiterhin eine eigenständige innerparteiliche Plattform. Meyer protestierte gegen den Beschluss und kündigte an, sich an das EKKI zu wenden, um doch noch seine Reise durchzusetzen. 54 Meyers Gegner frohlockten. Leo Flieg schrieb an den sich in Moskau befindenden Heinz Neumann: „Die Sache Ernst M[eyer] ist, wie du inzwischen erfahren haben wirst, endgültig entschieden. Ich sehe auf Deinem Gesicht ein so ziemlich frech lächelndes Grinsen.“ 55 50 Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretären und Redakteuren am 25./ 26.8.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 9, Bl. 122 (Gerhart) u. 153 (Meyer). 51 Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretären und Redakteuren am 29./ 30.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 7, Bl. 161-164 (Beitrag Meyer), 210 f. u. 219 (persönliche Bemerkung Meyer). 52 Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 2.2.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 6, Bl. 23 f. 53 Vgl. Brief Reinhardt an Unbekannt, 12.2.1926, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 66, Bl. 44-53. 54 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZK am 10.2.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 39, bes. Bl. 27-30. 55 Brief Leo Fl[ieg] an Heinz [Neumann], Berlin, 12.2.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 5/ 33, Bl. 216. <?page no="285"?> 285 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ Schließlich fuhr Meyer aber doch nach Moskau. Ob dies auf eine Intervention der Komintern zurückzuführen ist, konnte nicht geklärt werden. 9.5.2 Zusammenprall in Moskau Das 6. Plenum der erweiterten Exekutive der Komintern, das vom 17. Februar bis 15. März 1926 in Moskau tagte, konnte den Eindruck erwecken, als ob die gesamte Internationale auf Positionen einschwenken würde, die Meyer seit langem vertreten hatte. Eröffnet wurde die Sitzung von Sinowjew. Dessen Stern sank bereits, bald schon sollte ihn Bucharin als Präsident der Komintern ablösen. Es war sein letzter großer Auftritt im Rahmen der Internationale. Ihm oblag es, den neuen Kurs vorzustellen. Krampfhaft versuchte er, diesen als Fortsetzung der Linie des V. Weltkongresses darzustellen. Was Meyer in Bezug auf die deutsche Führung kritisierte, galt auch für die Führung der Komintern: Eine wirkliche Selbstkritik über die Fehler der vergangenen Periode fand nicht statt. Davon abgesehen hätte Sinowjews Eröffnungsrede auch von Meyer stammen können, so sehr deckten sich plötzlich die Positionen. Als wichtigste Aufgabe bezeichnete Sinowjew „die Frage der Einheitsfront der Arbeiterklasse und die damit zusammenhängende Frage der Einheitsfronttaktik in der jetzigen historischen Periode“, für die er als Beispiel explizit die Kampagne der KPD zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten anführte. Besonders hob er die Notwendigkeit hervor, die Demokratie in den kommunistischen Parteien zu stärken. Weiter verlangte er, die Selbstständigkeit der einzelnen Sektionen von der Internationale zu stärken: „Der Einfluss der KP der Sowjetunion, d.h. der Partei, die die größte historische Erfahrung besitzt, muss auf jeden Fall solange aufrecht erhalten werden, als die proletarische Revolution nicht in anderen Ländern gesiegt hat. Aber die Formen dieses Einflusses müssen andere werden. Jede Partei hat selbstständig über ihre Fragen zu entscheiden und sich dabei auf ihre eigenen historischen Erfahrungen zu stützen. Das bezieht sich vor allem auf die Frage der Wahl der führenden Organe unserer Parteien.“ 56 Tatsächlich war der Kongress von freien Diskussionen geprägt. Die Vertreter verschiedener Strömungen der Komintern waren anwesend und kamen ausführlich zu Wort - aus Deutschland etwa Scholem, Fischer, Thälmann, Geschke, Meyer und Zetkin. Diskutiert wurde auch die Frage, ob die deutsche Parteiführung um Meyer und Genossen erweitert werden solle. Die deutschen Linken warnten wiederholt vor der Gefahr eines Rechtsschwenks ihrer Partei und griffen ausdrücklich Meyer an. Fischer warnte, dass man die Partei in seine Arme treiben würde, wenn man weiterhin den Hauptstoß gegen die Ultralinken führe. Erwartungsgemäß sprach sie sich gegen eine Erweiterung des ZK nach „rechts“ aus. Umgekehrt trat Zetkin den Linken energisch entgegen und griff vor allem Fischer scharf an. Sie warf ihr vor, die Partei an den Rand des Abgrundes geführt und ihre Geschichte gefälscht zu haben. Zudem würde sie die Politik des „Offenen Briefes“ hintertreiben. Nun aber beginne die Partei, sich allmählich „aus dem Chaos, aus dem Trümmerhaufen zu erheben, in die die Führung der Gruppe Fischer-Maslow sie verwandelt hatte.“ 56 Protokoll der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 17. Februar bis 15. März 1926, Hamburg 1926, Reprint Mailand 1967, [künftig zit. als Protokoll 6. EKKI], S.-5-10 (Eröffnungsrede Sinowjews). <?page no="286"?> 286 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Die neue Führung müsse unbedingt unterstützt, aber auch um jene Genossen erweitert werden, die bisher als „Rechte“ diffamiert worden waren. „Nachdem die Gruppe Maslow-Fischer durch eine schamlose Hetze die Genossen Thalheimer und Brandler, diese hervorragenden, tüchtigen Kräfte der Partei, verfemt und in die Isolierung getrieben hat, kann die Genossin Fischer die Genossen nicht mehr mit dem Ruf schrecken: ‚Brandler kommt! ‘ Jetzt hat sie einen neuen Popanz erfunden. Der schwarze Mann ist Ernst Meyer geworden. ‚Ernst Meyer kommt! ‘ - das ist der neue Schreckensruf. Genossen, ich kenne die Geschichte der Partei. Ernst Meyer ist ein zehnmal so guter Revolutionär, wie es Maslow ist und die Genossin Fischer selbst. Die Genossen in der Zentrale sind keine kleinen Kinder, sie lassen sich nicht durch das Geschrei schrecken: ‚Ernst Meyer vor den Toren! ‘ […] Nein, Genossen, man weiß in Deutschland ganz gut, dass man den ‚Feind‘ Ernst Meyer nicht zu fürchten hat. Es ist eine Schamlosigkeit, von Konzentration zu reden und gleichzeitig dieses Geschrei zu erheben […].“ 57 Die verschiedenen Strömungen der KPD prallten vor allem in der Deutschen Kommission des Plenums zusammen. Vorsitzender der Kommission war Stalin, der damit erstmals in der Komintern und in den Auseinandersetzungen um die deutsche Partei in den Vordergrund trat, ihr Sekretär Kuusinnen. Der Sitzungsbeginn wurde extra so lange rausgezögert, bis Meyer in Moskau eingetroffen war. Dort hatte er zunächst lange Unterhaltungen mit Sinowjew und Manuilski, die offensichtlich befürchteten, dass er Thälmann und das ZK zu hart angreifen würde. Die Kommission verabschiedete eine Resolution, die drei Hauptaufgaben der KPD benannte: die Arbeit in den Gewerkschaften, die Etablierung der Einheitsfronttaktik und das Aufstellen von Teilforderungen. Außerdem wies das Papier besonders auf ultralinke Gefahren in der KPD hin. Über diese Resolution kam es zu einer neuen Spaltung der deutschen Linken: Während Rosenberg ihr zustimmte, lehnten Scholem, Fischer, Maslow und Urbahns sie ab. In der Kommission wurde auch über die weitere Zusammenarbeit Meyers mit dem ZK diskutiert. Erneut spielte die Frage, wer sich wem genähert habe, eine wichtige Rolle. 58 Stalin warf Meyer, dessen „kluge Ausführungen“ er aufmerksam verfolgt habe, vor, er erwecke den Eindruck, das ZK habe sich ihm genähert und sei nach rechts gerückt. Doch das sei nicht richtig. Vielmehr sei das ZK im Kampfe gegen die Rechten entstanden, in deren Reihen Meyer „noch vor kurzem mitgestanden“ habe. Meyer müsse noch einige Schritte machen, ehe seine Annäherung an das ZK vollzogen sei, das Stalin als „weder ein rechtes, noch ein ultralinkes, sondern ein leninistisches ZK“ bezeichnete. 59 Die Ergebnisse der Kommission wurden anschließend im Plenum diskutiert. Urbahns erklärte, aus den Äußerungen Meyers und seiner Freunde in der deutschen Kommission sei deutlich geworden, „dass ihnen nicht die Mitarbeit im Zentralkomitee genügt, sondern, dass sie das deutsche Zentralkomitee mit Haut und Haaren fressen möchten, ohne dass 57 Ebenda, S.-247-257, bes. 252. 58 Vgl. Bericht über die deutsche Kommission, gehalten von Bucharin, in: ebenda, S .572-577. 59 Stalin: Zur deutschen Frage. Rede in der deutschen Kommission der Erweiterten Exekutive, in: Kommunistische Internationale, Jg. 7, H. 3 (März 1926), S.-284-287. <?page no="287"?> 287 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ sie ihre rechten Fehler, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, zugeben.“ 60 Meyer unterstrich in seinem Redebeitrag, dass er die Resolution vorbehaltlos unterstützen würde. Er ging auch auf die Politik der Konzentration in der Partei ein und erklärte, dass „wir für die bedingungslose Unterstützung des ZK sind auf der Linie, die die Komintern jetzt beschlossen hat.“ Er sprach sich weiterhin für eine stärkere Heranziehung seiner Strömung zur praktischen Mitarbeit aus, vor allem in den Bezirken. Wohl um dem Vorwurf vorzubeugen, es ginge ihm nur um Posten, betonte er, er und seine Genossen würden keinen so großen Wert auf eine Mitarbeit im ZK legen. Zur Aufforderung, eigene Fehler zu bekennen, verwies er auf die ausführliche Selbstkritik seiner Strömung bezüglich ihrer Haltung zum Deutschen Oktober. Weiter führte er aus: „Fehler aus der Gegenwart sollen wir bekennen? Aber wo sind die Fehler? In dem ungenügenden Kampf gegen die Rechten? […] Wir haben keinen einzigen konkreten Fall bis heute genannt bekommen, der beweist, dass wir im Kampf gegen Rechte versagt haben. […] Wenn man von uns als von ‚Rechten‘ spricht, wo wir gemeinsam mit der Zentrale arbeiten, dann nährt man nur die falsche Auffassung, dass die Partei nach rechts geht.“ 61 Sinowjew äußerte dazu: „In der deutschen Kommission meinte Genosse Meyer: ‚Warum sollten wir denn gegen das heutige ZK sein, wenn es doch unsere Politik befolgt? ‘ Mit anderen Worten: Geht Muhammed nicht zum Berge, so kommt der Berg zu Muhammed. Diese Worte genügen bereits, um die KPD zu veranlassen, auf der Hut zu sein.“ 62 Thälmann schließlich nannte Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit Meyer: „Erstens: Zusammenarbeit mit dem ZK ohne Diplomatie, zweitens: gemeinsamer offener Kampf gegen alle diejenigen Genossen, die sich heute noch mit Brandler solidarisieren. Drittens: gemeinsamer Kampf mit dem ZK gegen die rechte Gefahr und viertens: die Auflösung aller Fraktionen und die Beseitigung aller Fraktionsreminiszenzen auch im offenen Kampf gegen alle diejenigen, die nicht bereit sind, dies zu tun. Auf dieser Grundlage ist eine Zusammenarbeit mit Genosse Meyer gegeben.“ 63 Meyer schrieb seiner Frau nach der letzten Sitzung: „Gestern habe ich in der Kommission noch ein paarmal und einmal im Plenum gesprochen, wie man mir von allen Seiten sagt, mit Erfolg. […] Aber du kannst Dir nicht vorstellen, wie dick die Wand des Misstrauens ist, die zu durchbrechen war. Gestern war ich nicht mehr Hannibal vor oder in den Toren, sondern der reißende Wolf, der Teddy [Thälmann] mit Haut und Haaren verschlingen will. Dafür hat Gregor [Sinowjew] bestätigt, dass mein Steuerprogramm und mein Programm zum Dawesplan vollkommen richtig war. Na, was willst Du mehr? Ich sagte ihm darauf, seine Worte hätten einen Nutzen gehabt, wenn er sie 1 ½ Jahre früher öffentlich gesprochen hätte, worauf er schwieg.“ 64 60 Ebenda, S.586. Siehe auch Auszüge aus einer Rede Meyers in der Kommission in: Weber: Wandlung, S.-146. 61 Ebenda, S.-589-591 (Beitrag Meyer). 62 Ebenda, S.-507. 63 Ebenda, S.-636. 64 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Moskau, 15.3.26, in: Weber: Wandung, S.-447. <?page no="288"?> 288 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Das 6. Plenum des erweiterten EKKI und sollte die Streitigkeiten in der deutschen Partei beenden. Doch das gelang in keiner Hinsicht. Die Auseinandersetzung mit den Ultralinken ging weiter und verschärfte sich sogar. Auf dem Plenum hatte Thälmann noch erklärt: „Wir werden dabei um jedes einzelne Mitglied in der Partei ringen, wir werden kein einziges Parteimitglied aus der Partei werfen.“ 65 Die Realität sollte schon sehr bald eine andere sein: Die Fraktionskämpfe eskalierten, hunderte Anhänger der Linken wurden 1926/ 27 aus der KPD ausgeschlossen. Aber auch die Zusammenarbeit der Meyer-Gruppe mit der Führung wurde nicht abschließend geklärt. Das Ringen um eine Führung der Konzentration und die Auseinandersetzung um ihre Grundlage, mithin die Frage nach dem Verhältnis von Berg und Propheten, gingen bis Jahresende weiter. An der Oberfläche war das EKKI-Plenum geprägt von den Themen Einheitsfront, innerparteiliche Demokratie und Abhängigkeit der einzelnen Sektionen von Moskau. Wenig schien darauf hinzudeuten, dass die internationale kommunistische Bewegung schon so bald einer fundamentalen Wandlung weg von diesen Prinzipien unterworfen werden könnte. Unter der Oberfläche waren aber Entwicklungen im Gange, deren Ausgang diese Bewegung bald grundlegend verändern sollte. Die Freiheit der Diskussion in der sowjetischen Partei war bereits stark eingeschränkt, der Kampf gegen Trotzki und seine Anhänger bereits in vollem Gang. Bald schon sollte auch Sinowjew entmachtet werden. Die Stalin-Fraktion, welche die neue russische Staats- und Parteibürokratie repräsentierte, setzte sich immer mehr durch. Gerade diese russischen Entwicklungen wurden auf dem Plenum nicht diskutiert - ein böses Menetekel für die kommende Zeit. Was Meyer einst gefordert hatte - nämlich, dass „die Innen- und Außenpolitik Sowjetrusslands fortgesetzt unter der Kontrolle der gesamten Kommunistischen Internationalen“ zu stehen habe 66 - fand nicht statt. In Bezug auf die KPD sprach er sich deutlich dafür aus, eine Debatte über Russland zuzulassen und sie politisch zu führen, was ab dem Sommer 1926 tatsächlich passierte. 67 War Meyer die Tragweite der russischen Entwicklungen zu diesem Zeitpunkt bewusst? Wir wissen es nicht. Überliefert ist aus dieser Zeit nur, dass er zu Bucharin sagte: „Zum ersten Mal verlasse ich Russland mit dem wachsenden Gefühl, dass es nichts gibt, was ich von seinen Führern lernen könnte.“ 68 Aus einem Brief an seine Frau aus Moskau geht hervor, dass er ihr nicht alles sagen dürfe. Offensichtlich befürchtete er, der Brief könne kontrolliert werden. Dass in Russland die Meinungsfreiheit auch für Kommunisten mittlerweile eingeschränkt war, nahm er also wahr. 69 Aber Hinweise darauf, dass ihm das Ausmaß der Bürokratisierung und Apparatherrschaft in der KPdSU(B) und die dramatischen Gefahren bewusst gewesen wären, die damit für die kommunistische Weltbewegung verbunden waren, gibt es nicht. 65 Protokoll 6. EKKI, S.-636. 66 Ernst Meyer: Die Aufgaben der erweiterten Exekutivsitzung, in: Inprekorr Jg. 2, Nr. 18 (14.2.1922). 67 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 26.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 37, Bl.25; Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 9.4.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 40, Bl. 15; Vgl. Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 6.8.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 45, Bl. 66. 68 Zit. nach Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-117. 69 Vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Moskau, 15.3.26, in: Weber: Wandung, S.-447. <?page no="289"?> 289 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ 9.5.3 Versuche zur Spaltung der Meyer-Gruppe Auch nach dem 6. EKKI-Plenum ging der Streit über die Frage, wer sich wem angenähert habe - Meyer dem ZK oder das ZK Meyer - weiter. Hinter dieser auf den ersten Blick rechthaberisch wirkenden Auseinandersetzung ging es eigentlich um die politische Plattform, auf der sich eine „Konzentration der Kräfte“ herstellen ließe. Meyer fürchtete - zurecht, wie die Entwicklung zeigen sollte - dass der Kurs der Thälmann-Führung sich opportunistisch nach dem Wind aus Moskau richte und rasch wieder in eine ultralinke Richtung kippen könne. Er wollte jedoch eine ernsthafte Selbstkritik über die ultralinke Phase erzwingen, um so deren politischen Grundlagen zu überwinden. Dafür durften die Gegensätze der Vergangenheit nicht verwischt werden, sondern gehörten offen ausgetragen. Auch wenn er immer wieder erklärte, den gegenwärtigen Kurs der Führung zu unterstützen, so beharrte er darauf, dass er dies deshalb tat, weil die Führung sich der Linie angenähert habe, die er vorgeschlagen hatte. Aber auch um die Einheit seiner Gruppe zu bewahren, musste Meyer diese Auslegung vertreten. Gerade die „rechteren“ Genossen aus seinem Umfeld, die Brandler und Thalheimer nahestanden, wären für einen Konzentrationskurs nicht zu gewinnen gewesen, wenn er wie eine Kapitulation vor der Mehrheit ausgesehen hätte. Derweil verfolgte die ZK-Führung um Thälmann in den folgenden Monaten die Strategie, die Meyer-Gruppe zu spalten. Besonders deutlich wird dies im Briefwechsel zweier unbekannter Anhänger der Thälmann-Gruppe aus dem Juni 1926. „Es ist jetzt die Stunde gekommen, wo wir in der rechten Gruppe differenzieren müssen. Was wir für die Verstärkung der Parteiarbeit dringend brauchen, das sind vor allem die rechten Gewerkschaftler. Man muss die Geologie dieser Gruppe genau betrachten. Unter den Meyerleuten gibt es 1. berufsmäßige Streber, Fraktionsmacher und Intriganten (von denen manche fähig, manche zu allem fähig sind) wie Gerhardt, Meyer, 2. eine Gruppe von Gewerkschaftlern wie Enderle, Lanius, Köhler, literarisch auch Becker. Diese Gewerkschaftler müssen jetzt in unserer Partei eine große Rolle spielen“, hieß es hier. „Bisher haben wir die Illusion gehabt, wir können diese Leute nur gewinnen, wenn wir die karrieristischen Führer der Meyer-Gruppe pussieren. Jetzt ist es an der Zeit, zu selbstständiger Politik in dieser Frage überzugehen. Wo steht geschrieben, dass nur Mr. Gerhart über unsere Gewerkschaftsarbeiter mit 20-jähriger Tradition disponiert? Welches Anrecht hat Dr. Meyer, über sie zu verfügen? Wir sollen sie selbst heranziehen. Teddy [Thälmann] und ihr alle sollt mit ihnen persönlich und offiziell sprechen, ihnen die Parteilage klar machen, alle politischen Fragen mit ihnen durchsprechen, ihnen Verantwortung und das Gefühl des Vertrauens geben. Wir haben ihnen viel zu wenig direkte Aufmerksamkeit geschenkt. Wir haben sie viel zu viel als direktes Zubehör der Meyer-Leute betrachtet. Selbst an Tittel und Steffen sollte man herantreten und zu ihnen als Bolschewisten sprechen. Unser Ziel müsste sein, die ‚Spitzenkandidaten‘, die beschäftigungslosen Führergestalten wie Meyer, Frölich und Gerhart zu isolieren, die wertvollen Teile der Gruppe, bes. die Gewerkschaftler in die Arbeit, die Verantwortung und Solidarität hineinzureißen, und dann mögen sich die Führergestalten entscheiden: Kampf und Opposition in einer Reihe mit dem Block Sin[owjew], Trotz[ki], Rad[ek], Bordiga-Ruth <?page no="290"?> 290 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Fischer oder Mitarbeit, nicht ‚Verantwortung‘, d.h. Mandate ins Politbüro, sondern bescheidene und intrigenlose Mitarbeit unter fester Führung der heutigen Parteiführung.“ 70 Auch in dem Brief eines Robert - ebenfalls Anhänger der Thälmann-Gruppe - an Heinz Neumann in Moskau heißt es: „Wir sind uns völlig einig darüber, dass es notwendig ist, die Gruppe zu spalten, einzelne heranzuziehen, einzelnen einen kalten Dusch zu geben usw.“ 71 Der Druck der Parteilinken auf das ZK, entschiedener gegen Meyer zu kämpfen, nahm also zu. Im April 1926 unterzeichneten 61 Delegierte des Bezirksparteitags Erzgebirge- Vogtland, die sich besonders an Meyers Behauptung stießen, das ZK habe sich auf ihn zubewegt, eine Resolution, die das ZK zu größerer Wachsamkeit gegenüber Meyer und einem scharfen Kampf gegen rechte Tendenzen in der Partei aufforderte. Es war die Geburtsstunde der „Chemnitzer Linken“, einer linken pro-Thälmann-Strömung der Partei. 72 Meyer arbeitete indes weiterhin in den zentralen Gremien der KPD mit. Im September wies ihm das Polbüro wieder Bezirke zur Betreuung zu. Sie waren ihm noch bestens aus seiner Zeit als Oberbezirksleiter Südwest bekannt: Es handelte sich um Hessen-Waldeck und Hessen-Frankfurt. 73 Im Herbst nahm er daher an den Bezirksparteitagen in Kassel und Frankfurt am Main teil. Dies geht aus Briefen an seine von schweren Depressionen geplagten Frau hervor, die sich ab Mitte 1926 für fast ein Jahr zur Behandlung von Knieproblemen in einem Schweizer Sanatorium befand. Er berichtete ihr auch, dass er sogar als Delegierter zum Berliner Bezirksparteitag gewählt wurde - eine in der einstigen Hochburg Ruth Fischers lange undenkbare Entwicklung. 74 9.5.4 Überlastung, psychische Probleme und Beziehungskrise Seine immense Arbeitsbelastung in dieser Zeit schilderte Meyer in einem weiteren Brief an seine Frau. Dort klagte er über Unruhe und allgemeine Nervosität als „Folge ständiger Arbeit und dauernder politischer Unannehmlichkeiten“: „Meine Tagesarbeit ist jetzt so: Um 9 im Bureau, von 10 bis 11½-12 dort täglich Sitzungen mit der Z[entrale], um drei Uhr nach Hause, dann bis 6 und 7 Uhr diktieren, danach lesen, Korrekturen, Archivarbeit usw. Dabei sind noch nicht gerechnet Bakuer Artikel, Zellen-Versammlungen, Extra-Sitzungen für den Kongress der Werktätigen (in dessen Arbeitsausschuss ich sitze, und dessen politische Richtlinien ich ganz allein entworfen habe), Besprechungen mit meinen engen Freunden, manchmal auch mit Braun [d.i. Ewert] und Dengel, gelegentliche Aufsätze für Parteikalender, Berliner Organisation, Prüfung von Broschüren - Manuskripten […] usw.“ Für Unternehmungen mit den Kindern - Heinz und Rudolf lebten seit Oktober wieder im Haushalt, außerdem Rosas Sohn Genja - bleibe kaum Zeit. 75 Rosa appellierte immer wieder an ihn, nicht so viel zu arbeiten und sich zu schonen - ohne Erfolg. 70 Brief unbekannt „An den Gen. Karl“, Moskau, 6.6.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 66, Bl. 116 f. 71 Brief Robert an Heinz [Neumann], Berlin, 15.7.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 204, Bl. 348. 72 Vgl. Erinnerungsmappe Max Opitz (1890-1982) [späterer Oberbürgermeister von Leipzig], in: SAPMO- BArch, SgY30/ 0001, Bd. 1, Bl. 124 ff. 73 Vgl. Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 2.9.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 6, Bl. 179 f. 74 Vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., o.D. [1926], in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 138, und Brief Meyer an Meyer-Leviné, Charl[ottenburg], 19.10.26, in: Ebenda, Bl. 142. 75 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., 6.9.26, in: Weber: Wandlung, S.-449. <?page no="291"?> 291 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ Die Arbeitsüberlastung und die ständigen Auseinandersetzungen mit der ZK-Mehrheit und den Ultralinken setzten Meyer weiter stark zu: Im Oktober 1926 klagte er in einem Brief an seine Frau: „Geliebte, schon in Cassel war ich ganz gebrochen - eine unerklärliche Depression verbunden mit oder verursacht von körperlicher Erschöpfung.“ Er sei völlig von ihr abhängig, „Allein bin ich nichts mehr.“ 76 Und zwei Tage später schrieb er, er müsse seinen Krankenbesuch wegen einer Konferenz erneut verschieben, wolle aber endlich wieder bei ihr sein: „Ich kann nicht mehr.“ 77 Gerade in Phasen großer Anspannung scheint Meyer viel geraucht und nicht wenig Alkohol getrunken zu haben. So berichtete er am 7. September, er habe bis morgens um 7: 30 mit Egon Erwin Kisch und anderen gezecht: „Meine Stimmung war wie in Moskau, ich trank am meisten und war am nüchternsten.“ 78 Möglicherweise untersagte ihm ein Arzt das. Am 2. März 1927 schrieb ihm Rosa, ihn scheltend und zugleich auch Mut zusprechend: „Aber Liebster, du versprichst mir doch, nicht zu trinken? Du darfst es nicht tun, wie kannst Du Dein Wort brechen. […] Sei nicht traurig, Geliebter, über die Unannehmlichkeiten. Es wird doch alles gut werden, und trotz allem: Russland besteht doch.“ 79 Durch die Erkrankung und Abwesenheit seiner Frau war die Ehe zeitweise stark belastet, zumal Meyer infolge ständiger Überlastung durch seine politische Tätigkeit nicht in der Lage war, seine Frau zu pflegen oder auch nur längere Zeit zu besuchen. Aus ihren Briefen geht hervor, wie sehr beide einander brauchten und unter der langen Trennung litten. Teilweise sahen sie sich mehr als drei Monate lang nicht. Flehentlich bat sie ihn am 23. Januar um mehr Besuche und Zuwendungen: „Ach, Geliebter, du bist doch ein böser Drache! Wenn du wüsstest, wie ich mich die letzten Wochen quälte. Wenn Du die vielen Briefe gelesen hättest, die ich nicht abschickte - vorgestern habe ich 5 (! ! ! ) geschrieben. Und Du liebst mich doch, und so werde ich nicht sterben und Dich auch nicht verlassen und Du wirst nur mit einer runzligen hässlichen Frau, die ich jetzt bin, leben müssen. Das ist die Strafe, Geliebter, die wohlverdiente. […] Wenn Du nicht aufmerksamer zu mir bist, mir jetzt nicht hilfst, gehe ich zugrunde. Ach, dass Du alles so rasch vergisst, Deine Versprechungen und meine Bitten, Kucks.“ 80 Am folgenden Tag schrieb sie, lieber sterben zu wollen als noch mal so lange getrennt zu sein. Aber auch in dieser schwierigen Zeit vermittelten die Briefe den Eindruck einer sehr intensiven und liebevollen Beziehung, um die beide - letztlich erfolgreich - kämpften. 81 9.5.5 Gegner der linken Opposition in Deutschland und Russland Die Thälmann-Führung hatte auf den Versuch verzichtet, eine Affäre um ein Interview von Meyers politischen Freunden Becker und Gerhart zu einer Zerschlagung der Meyer- Gruppe zu nutzen. Dies dürfte einerseits in einer Intervention Bucharins zu Gunsten der 76 Vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Charlottenburg, 17.10.26, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 152. 77 Ebenda, Bl. 142. 78 Ebenda, Bl. 137. Hinweise dieser Art auch in anderen Briefen. 79 NY 1246/ 4, Bl. 131. 80 Ebenda, Bl. 114. Kurz darauf besuchte er sie, und ihr Zustand besserte sich wieder. 81 Zur Belastung der Ehe Meyers im Herbst 1926 und im Winter 1926/ 27 vgl. den Briefwechsel mit seiner Frau in: BArch Koblenz, N 1246/ 4 und N 1246/ 5. <?page no="292"?> 292 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Meyer-Gruppe begründet sein. 82 Anderseits spielten auch die sich verschärfenden fraktionellen Auseinandersetzungen des ZK mit der linken Opposition, die sich mit der Opposition in der Sowjetunion verband, eine Rolle. Dieses geht aus dem bereits erwähnten Schreiben eines Roberts an Heinz Neumann hervor. Darin rät der Autor, trotz aller Versuche zu einer Spaltung der Meyer-Gruppe am Kurs der Konzentration festzuhalten: „Ich wiederhole nochmals, dass die Gruppe trotz der Interviewgeschichte bei den kommenden Auseinandersetzungen, die infolge der Lage in der russischen Partei kommen werden, absolut zuverlässig ist. […] das ZK wird von der Gruppe Ernst Meyer-Gerhart bei solchen eventuellen Auseinandersetzungen auf das entschiedenste unterstützt werden. Das ist ein sehr wichtiger Faktor, den man bereits jetzt in die Rechnung einstellen muss.“ 83 Im Herbst 1926 sollte sich die Richtigkeit dieser Annahme bestätigen. Während die Ultralinken 1925 noch die stärkste und geschlossenste Opposition in der KPD darstellten, brachen sie 1926 in verschiedene, sich bekämpfende Gruppen auseinander, einige ihrer führenden Köpfe wechselten zur ZK-Mehrheit. 84 Die Gruppe Fischer- Maslow-Urbahns bekämpfte weiter den neuen Kurs des ZK und verknüpfte dies mit einer Opposition gegenüber der neuen Führung der Komintern um Bucharin und Stalin und deren These vom „Sozialismus in einem Land“. Dabei verbündete sie sich mit der Vereinigten Opposition in Russland um Trotzki, Radek, Sinowjew und Kamenew, die seit 1926 gemeinsam gegen die Stalin-Bucharin-Führung kämpfte. Auch wenn sich die deutsche Opposition lautstark über das undemokratische Vorgehen des ZK ihr gegenüber beschwerte, hatte sie 1926 doch zumindest in gewissem Umfang die Möglichkeit, ihre Ansichten in Form von Artikeln in der KPD-Presse und in Form von Korreferaten zu vertreten und bei Wahlen eigene Kandidaten aufzustellen. Sie blieb aber in den zentralen Parteigremien und den meisten Bezirken in der Minderheit und wurde Zug um Zug ausgeschlossen, Fischer und Maslow beispielsweise im August 1926. Im September konnte die Opposition einen von 700 Parteifunktionären unterzeichneten Brief vorlegen, der sich mit der Leningrader Opposition um Sinowjew solidarisierte. 85 Das ZK bezeichnete das Papier als „verbrecherischen Spaltungsversuch“ und antibolschewistisches Schanddokument. Immerhin musste es nun eine Debatte in der KPD über die Entwicklung in Russland zulassen, bei der es fast überall Mehrheiten für seine Unterstützung der KPdSU-Führung gegen die Opposition erlangen konnte. Am 5. November 1926 wurden Urbahns, Scholem und Schwan aus der KPD ausgeschlossen. Ende des Jahres war die linke Opposition in der KPD so gut wie geschlagen, wenn auch noch nicht vollständig beseitigt. 86 Meyer hatte in den vergangenen Jahren stets die Notwendigkeit parteiinterner Demokratie betont und sich gegen die organisatorische „Lösung“ von Konflikten durch Ausschlüsse ausgesprochen. Allerdings war er dabei nie ein prinzipieller Gegner von Parteiausschlüssen gewesen: Wenn die politische Diskussion geführt wurde und Personen oder Gruppen weiterhin Positionen vertraten, die sich nicht mit denen der KPD vereinbaren ließen, befürwortete Meyer sehr wohl diese Form der „Konfliktlösung“. Am deutlichsten wurde dies während der KAG/ Friesland-Krise in den Jahren 1921/ 22. Aber auch bei Levis 82 Vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Berlin, 26.8.26, in: Weber: Wandlung, S.-448. 83 Brief Robert an Heinz [Neumann], Berlin, 15.7.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 204, Bl. 348 f. 84 Vgl. Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin, S.-179-212. 85 Zum „Brief der 700“ siehe Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin, S.-212-227. 86 Ebenda, S.-235. <?page no="293"?> 293 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ Kampf gegen die Ultralinken 1919 hatte Meyer nicht prinzipiell den Ausschluss von Anhängern antiparlamentarischer und gewerkschaftsfeindlicher Positionen kritisiert, sondern nur Levis autoritäre Methode, die zu viele Arbeiter in die Arme der Ultralinken getrieben hätte. Im Jahr 1925 hatte Meyer den Ausschluss des Parteirechten Schönlank gefordert, da es für dessen Positionen in der KPD keinen Platz geben dürfe, sie würden auf eine Liquidierung der Partei hinauslaufen. Auch 1926 unterstützte er die Ausschlüsse von Katz und Scholem. Ruth Fischer unterstellte er derweil antibolschewistische Positionen und den Versuch einer Spaltung der Partei. An Urbahns gerichtet, meinte er, wenn dieser sich auf die Plattform von Korsch stelle, werde man nicht zögern, auch ihn aus der Partei auszuschließen. Sollten den ultralinken Führungsfiguren vorübergehend einige Arbeiter folgen, sei es Aufgabe der KPD, sie politisch zu überzeugen und zurückzugewinnen. 87 Meyer sah sehr wohl, dass „der Schrei nach der Parteidemokratie“ das einende Band der Opposition sei, fand es aber seltsam, wie man ausgerechnet mit Fischer und Sinowjew für mehr Demokratie kämpfen könne. Auf der Sitzung des ZK am 6. August 1926 erklärte er, „dass wir jetzt mehr Parteidemokratie haben als früher.“ Und auch in „Russland können sich die Genossen jetzt noch kritischer äußern als in früheren Jahren. Es gibt mindestens genau so viel, wenn nicht mehr Parteidemokratie als früher, wo Sinowjew den Kampf gegen die Opposition führte.“ 88 Es ist anzunehmen, dass Meyer hier durchaus ehrlich argumentierte. Ein gemeinsamer Kampf für mehr Demokratie mit Fischer und Sinowjew musste ihm absurd erscheinen, hatte er die massive Entdemokratisierung unter ihrer Ägide selbst erlebt. Im Jahr 1926 gab es noch grundsätzlich die Möglichkeit freier Diskussionen in der KPD. Diese fand nun aber ihre Grenze dort, wo es um die Verhältnisse in der Sowjetunion ging. Meyer selbst hatte einst die Notwendigkeit einer Kontrolle der russischen KP durch die Komintern betont. Jetzt schwieg er zu dieser Frage. Auch die ziemlich offensichtliche „Lösung“ des Konfliktes mit den Ultralinken durch organisatorische Maßnahmen - von Hermann Weber als „erste[n] und bedeutendste[n] Schritt zur Stalinisierung der deutschen Partei“ bezeichnet 89 - kritisierte er nicht grundsätzlich. Meyer protestierte nicht dagegen, sondern unterstützte sogar diese Entwicklung, indem er immer wieder gegen die führenden Ultralinken auftrat, wobei er allerdings die inhaltliche Auseinandersetzung suchte. Politisch waren ihm die Ultralinken so fremd und verhasst, dass er ihre Ausschlüsse mit Sicherheit begrüßte. Vielleicht schwang auch einige Genugtuung mit, wenn er - der von ihnen noch vor kurzem selbst an den Rand gedrängt und mit dem Ausschluss bedroht worden war - nun miterleben durfte, wie sich das Blatt wendete. Seine Vorstellung einer auf die Gewinnung der Massen für den Kommunismus ausgerichteten Einheitsfront war mit ihnen nicht zu haben. Psychologisch und politisch ist es daher verständlich, dass Meyer, wenn es um die Ultralinken ging, sich nicht zu einem Verteidiger innerparteilicher Demokratie aufschwang. Aber dieses Verhalten sollte sich rächen: Im Kampf des ZK gegen die Ultralinken verfestigten sich Methoden der innerparteilichen Auseinandersetzung, 87 Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 19.8.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 46, Bl. 23. 88 Protokoll der Sitzung des ZK am 6.8.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 45, Bl. 66. 89 Weber, Hermann: Die KPD und die Linke Opposition in der Sowjetunion. Zur Problematik der Verflechtung des Stalinisierungsprozesses der KPD, der Komintern und der KPdSU. In: Wolter, Ulf (Hg.): Sozialismusdebatte. Historische und aktuelle Fragen des Sozialismus, Berlin (1978), S.- 160-179, hier S.-170. <?page no="294"?> 294 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) die Weber als „ideologischer Terror“ bezeichnet hat 90 und die schon bald gegen andere Strömungen gerichtet werden sollten - auch gegen Meyer und Genossen. Es waren diese Methoden, die schließlich die Tradition eines in sich demokratischen deutschen Kommunismus endgültig zerstören sollten. Ebenso wenig wie seine Zeitgenossen konnte Meyer 1926 die Tragweite dieser später als Stalinisierung bezeichneten Entwicklung erfassen, an deren Ende die vollständige Umwandlung der KPD zu einer autoritären Apparatepartei stehen sollte. Das Politikmodell, das er Zeit seines Lebens vertrat, lief konträr zu dieser Entwicklung. Dennoch kann man ihm nicht bescheinigen, sich schon frühzeitig und weitsichtig auch dann gegen die aufkommende Stalinisierung gestemmt zu haben, wenn diese seine Opponenten traf. Dazu trug bei, dass Meyer in Bucharin seinen wichtigsten internationalen Verbündeten gefunden hatte, der den Einheitsfront-Kurs befürwortete und die Meyer-Gruppe gegenüber dem Thälmann-ZK unterstützte. Bucharin war 1926 die führende Figur der internationalen kommunistischen Bewegung. Sein Prestige stand deutlich über dem Stalins. Meyer und Bucharin standen in einem engen, wenn auch nicht konfliktfreien Austausch. 91 Im August 1926 schrieb er an Rosa: „Mit Bu[arin] sprach ich ausführlich. Er war - im Gegensatz zum März - sehr liebenswürdig, gab mir in allen politischen Fragen recht und bat nur um etwas Geduld. Er war gegenüber Teddy [Thälmann] und der Z[entrale] noch kritischer als ich. Dass ich ins ZK komme, ist sicher.“ 92 Und in einem anderen Brief: „Buch[arin] war mit meinen politischen Vorschlägen einverstanden Er sprach noch sehr abfällig über Heinz N.[eumann] und selbst Teddy. Aber drüben hat man noch nicht den Mut, mit Teddy zu brechen oder ihn auch nur einzuschüchtern. Man fürchtet, dass er auch noch einmal umfällt. Deshalb macht man weiter personelle Konzessionen an ihn. Illusionen über ihn und seine Gruppe bestehen bei Buch[arin] nicht im mindesten.“ 93 Ähnlich wie Meyer befürwortete auch Bucharin die Möglichkeit eines freien Diskurses in der kommunistischen Bewegung. Überhaupt wiesen die politischen Entwicklungswege der beiden fast gleichaltrigen einige Parallelen auf: Beide hatten 1919/ 20 vorübergehend auf dem äußeren linken Flügel des Kommunismus gestanden, sich mittlerweile aber auf Positionen zubewegt, die in der kommunistischen Bewegung als „rechts“ galten. Bei beiden spielte dabei eine veränderte Einschätzung des Kapitalismus eine wichtige Rolle: Gingen sie früher von seinem notwendig raschen Zusammenbruch aus, waren sie nun von seiner - zumindest vorübergehenden - Stabilisierung überzeugt. Beide waren zu Anhängern der in Russland betriebenen „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) geworden. Meyer unterstützte daher den Kurs der Stalin-Bucharin-Führung, am Bündnis mit der Bauernschaft festzuhalten, gegenüber der Forderung von Trotzki und Sinowjew nach einer forcierten Industrialisierung. Er bezeichnete die NÖP sogar als ein Durchgangsstadium, das in allen Ländern notwendig sei, in denen das Proletariat an die Macht kommt. 94 Er 90 Zur Methode des „ideologischen Terrors“ vgl. Weber: Wandlung, S.-312-318. 91 Vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Berlin, 5.10.26, in: Weber: Wandlung, S.-449. 92 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., 18.8.26, in: Ebenda, S.-448. 93 Brief Meyer an Meyer-Leviné, o.O., August 1926, in: Ebenda, S.-448. 94 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 26.1.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 37, Bl. 25. <?page no="295"?> 295 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ betrachtete die NÖP nicht als Gefahr für den Aufbau des Sozialismus. Die „Kommandohöhen der Wirtschaft“ befänden sich in den Händen des Staates, in der Schwerindustrie zu beispielsweise zu 90 Prozent. Der Privatbesitz in der Kleinindustrie werde zurückgedrängt, der Handel komme zusehends unter staatliche Kontrolle und in der Landwirtschaft gäbe es den zunehmenden Zusammenschluss in Genossenschaften. Da der Staat die Industrialisierung vorantreiben müsse, könne der Lebensstandard der Arbeiter nicht in dem erwarteten Maße steigen. Entscheidend sei das Gesamtinteresse des proletarischen Staates, der einzelne Arbeiter müsse daher auf höhere Löhne zugunsten des Industrieaufbaus verzichten. Umso wichtiger sei es aber, den russischen Arbeitern zu vermitteln, dass ihre Opfer dem Sozialismus zu Gute kämen. 95 Entschieden widersprach Meyer daher der Opposition, als sie im Sommer 1926 argumentierte, in Russland gäbe es aufgrund der NÖP keine Diktatur des Proletariats mehr: „[…] der Stoß der Opposition in Deutschland und in Russland führt gegen das Zentrum der proletarischen Diktatur.“ Dagegen solidarisierte er sich ausdrücklich mit der russischen Führung. 96 Der linken Opposition warf er vor, Sowjetrussland zu diskreditieren. Derweil bescheinigte er dem Land den „Aufbau des Sozialismus mit Schwierigkeiten und Fehlern, aber trotzdem Besserung der Lebenslage der Arbeiterschaft“. Durch die Berufung auf die russische Opposition werde die Position der deutschen zwar nicht besser, die der russischen aber schlechter. Er fuhr fort: „Wir sind nicht so sehr an eine Person gebunden wie Gen. Urbahns, dass wir nicht gegenüber dem Gen. Sinowjew oder auch dem Gen. Trotzki sagen: es tut uns Leid, die anderen Genossen scheinen uns die besseren Argumente zu haben.“ 97 Im März 1926 führte Meyer ein Gespräch mit Trotzki über Sinowjew, das Rosa Meyer- Leviné überliefert hat. Es zeigt, wie verbittert Meyer über Sinowjew und dessen in seinen Augen so unverantwortlichen und desaströsen Kurs der vergangenen Jahre war. Meyer sagte demnach: „Ich bin überzeugt, dass Lenin, wenn er noch lebte, ihn gehängt hätte für den Schaden, den er der deutschen Bewegung zugefügt hat. Ja, ich meine das wörtlich: physisch vernichtet.“ 98 Als Sinowjew im Oktober aus der Komintern entfernt wurde, begrüßte Meyer dies entschieden, während er den Ausschluss Trotzkis aus dem russischen Polbüro nicht weiter kommentierte. 99 Die russischen Fraktionsauseinandersetzungen wurden auch bei der 7. Erweiterten Exekutive der Komintern diskutiert, die vom 22. November bis 13. Dezember 1926 in Moskau tagte und an der Meyer für die KPD teilnahm. Anders als beim vorherigen Plenum war diese Diskussion nun explizit gewünscht. Noch ein letztes Mal hatten Trotzki, Sinowjew und Kamenew die Gelegenheit, gemeinsam vor der Komintern aufzutreten und ihre Positionen zu vertreten. Deutlich war der aufgehende Stern Stalins zu spüren, der über die Verhältnisse in der russischen Partei referierte und mit „langanhaltendem, stürmischen Beifall“ begrüßt wurde, wie das Protokoll vermerkt. 100 95 Vgl. den Bericht Meyers über die Erweiterte Exekutive auf dem BPT Magdeburg-Anhalt, 22./ 23.1.27, in: Die Situation und unsere Taktik. Bericht von der Erweiterten Exekutive auf dem Bezirksparteitag, in: Tribüne, 27.1.27, gefunden in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 12/ 2, Bl. 6. 96 Vgl. Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 6.8.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 45, Bl. 66. 97 Vgl. Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretären und Redakteuren am 25./ 26.8.26, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 9, Bl. 153-158. 98 Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-116. 99 Vgl. Brief Meyer an Meyer-Leviné, Frankfurt, 25.10.26, in: BArch Koblenz, N 1246/ 5, Bl. 143. 100 Protokoll der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 22. November - 16. <?page no="296"?> 296 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Stalin kennzeichnete den „Trotzkismus“ als „vollendetste opportunistische Strömung innerhalb unserer Partei“. Die Opposition bestehe aus Strömungen, die „entweder gegen den Leninismus seit seiner Entstehung kämpfen oder in der letzten Zeit den Kampf gegen den Leninismus aufgenommen haben.“ 101 Stalin strebte die politische Vernichtung dieser Opposition an, die wiederum - vergeblich, wie sich rasch zeigte - hoffte, signifikante Unterstützung aus der Internationalen zu erhalten. Meyer stellte sich klar auf die Seite der russischen Führung. Er verteidigte in seiner mit zahlreichen Zitaten von Lenin und Trotzki gespickten Rede die NÖP. Dass er dabei ausgerechnet Trotzki wiederholt zitierte, kann als Versuch gewertet werden, ihn trotz aller Differenzen in aktuellen Fragen vor der immer weiter um sich greifenden Diffamierung in Schutz zu nehmen. An einer Umschreibung der Geschichte der RKP(B), wie sie Stalin betrieb, wollte Meyer sich nicht beteiligen. Er war Trotzki, den er seit der Zimmerwalder Konferenz 1915 kannte, zu lange eng verbunden gewesen, um dessen herausragende Leistungen für die revolutionäre Bewegung zu leugnen. Er warf der russischen Opposition aber vor, sie würde durch ihre Kritik an der Situation in der Sowjetunion eine Schwächung der kommunistischen Bewegung provozieren: „Alle Parteien schauten bisher auf zu der russischen Partei als zu einem unerreichten Vorbild der einheitlichen Ideologie und der unerschütterlichen organisatorischen Einheit und Festigkeit. Das Auftreten der Opposition ist geeignet, in den Augen der Komintern dieses Vorbild zu zerstören. […] Wir finden, dass die russische Opposition nicht nur eine Störung des Aufbaus des Sozialismus in Sowjetrussland, sondern eine Störung des Aufbaus der kommunistischen Parteien außerhalb Russlands und somit eine Verhinderung der Weltrevolution bedeutet.“ Während er den auf der Sitzung stark präsenten Antitrotzkismus nicht mitmachte, nutzte Meyer seine Rede aber zu einer letzten, scharfen Abrechnung mit Sinowjew. Er warf ihm ein Bündnis mit den deutschen Ultralinken und eine „Politik der Zweideutigkeiten und Doppelzüngigkeiten“ vor und fuhr fort: „Genosse Sinowjew und die Ultralinken wollen angeblich den hartnäckigsten Kampf gegen die sozialdemokratischen und opportunistischen Abweichungen. Was hat aber mehr zur Stärkung der deutschen Sozialdemokratie, zur Schwächung des Kommunismus in Deutschland beigetragen, als die Politik, die von Ruth Fischer mit Unterstützung von Sinowjew getrieben worden ist und die Sinowjew heute im Block mit Ruth Fischer fortsetzen möchte? “ Sinowjews Unterschrift unter den „Offenen Brief“ sei genau so wenig Wert wie die Ruth Fischers. Auch in einem anderen Punkt ging Meyer mit Sinowjew hart ins Gericht. Er hielt ihm vor, sich zwar prinzipiell gegen rechte und linke Gefahren zu stellen, praktisch aber nur „gegen die angeblichen oder tatsächlichen rechten Fehler“ zu kämpfen. Es sei eine „politische Geschmacklosigkeit“, wenn Sinowjew „den ausgeschlossenen Renegaten Katz mit Genossen Brandler auf eine Stufe“ stelle. Meyer beendete seinen Beitrag mit den Worten: „Das Auftreten der Opposition bedeutet eine Schädigung der Sowjetunion; es ist auch ein Verbrechen an der interna- Dezember 1926, Hamburg 1926, Reprint Mailand 1967, [künftig zit. als Protokoll 7. EKKI], S.-487. 101 Ebenda, S.-439. <?page no="297"?> 297 9.5 „Geht Muhammed nicht zum Berge …“ Auf dem steinigen Weg zu einer „Führung der Konzentration“ tionalen Arbeiterbewegung.“ 102 Eindeutiger konnte eine Stellungnahme für die russische Führung um Stalin und Bucharin kaum ausfallen. Meyers Hass auf Sinowjew ist psychologisch verständlich und politisch nachvollziehbar. Seine Unterstützung der NÖP scheint aus tiefer Überzeugung erfolgt sein und reicht bis in die frühen 1920er Jahre zurück. Seine Parteinahme für Bucharin - und damit auch dessen damaligen Verbündeten Stalin - ist daher begreiflich, nicht aber seine scharfe Verdammung der russischen Opposition insgesamt. Überaus naiv scheint seine Idealvorstellung von einer KPdSU ohne Strömungen und Fraktionen. Einst hatte Meyer Demokratie und Diskussionsfreiheit innerhalb der kommunistischen Bewegung entschieden verteidigt. Wieso sollten diese Grundsätze aber nicht auch für eine Partei nach Erringung der Macht gelten? Die historische Entwicklung zeigt, in welches Desaster der Verzicht auf diese Prinzipien die kommunistische Bewegung führte. Im Moskau des Spätherbstes 1926 verzichtete Meyer darauf, das Erbe seiner Lehrerin Luxemburg, die Verteidigung der Diskussionsfreiheit und die Bereitschaft zur Kritik an den Bolschewiki, fortzuführen. Sein Hass auf Sinowjew machte ihn in den russischen Fraktionskämpfen blind. Einem Bündnis mit Trotzki, der in dieser Situation auch eine Verbindung mit Sinowjew bedeutet hätte, zog Meyer einen Block mit Bucharin vor, der in dieser Situation aber auch eine Unterstützung Stalins bedeutete. Er konnte nicht verstehen, dass die Vereinigte Opposition in Russland einen verzweifelten Kampf für seine eigenen politischen Prinzipien focht: die innerparteiliche Demokratie und den Internationalismus. Sein Verständnis musste auch dadurch erschwert werden, dass die Opposition eine eigenartige Mischung aus klaren Prinzipien und diese wieder verwischenden taktischen Manövern repräsentierte. Trotzki hatte, um seine neuen Verbündeten nicht zu desavouieren, darauf verzichtet, eine Abrechnung mit Sinowjews Kurs zur Bedingung für die Zusammenarbeit zu machen. Auch das rücksichtslose, den Anforderungen innerparteilicher Demokratie spottende Vorgehen Sinowjews gegen seine Gegner in der Komintern, aber auch gegen die Opposition um Trotzki 1923/ 24 in Russland wurde keiner kritischen Revision unterzogen. Ohne eine solche selbstkritische Abrechnung konnte Meyer aber nicht für die Sache der russischen Opposition gewonnen werden. Ihr Ruf nach mehr Demokratie musste ihm unglaubwürdig vorkommen. Bucharin hingegen erschien ihm als Garant von innerparteilicher Demokratie und einer Einheitsfront-Orientierung. Zudem war er der starke Mann der Stunde in der Komintern. Entsprechend postulierte die Sitzung des erweiterten EKKI eine Politik, die sich mit Meyers Vorstellungen deckte. Das gilt vor allem für Bucharins zentrales Referat über die Aufgaben der Komintern. Explizit erklärte dieser die weitere Gültigkeit der Einheitsfront- Parole „Heran an die Massen“ für Westeuropa. Die Erfolge der KPD und ihres neuen Einheitsfrontkurses, vor allem bei der Fürstenenteignung, hob er lobend hervor. 103 Auch die Diskussionsfreiheit innerhalb bestimmter Grenzen und mit gewissen Einschränkungen verteidigte Bucharin. Gleichwohl erklärte er: „Die Zeit, wo wir uns Fraktionen erlauben konnten, ist vorbei.“ Nötig sei die „völlige Einheit innerhalb unserer Parteien und eine ebensolche Einheit im Rahmen der kommunistischen Internationale.“ 104 102 Ebenda, S.-693-697 (Rede Meyer). 103 Vgl. ebenda, S.-34 u. 125. 104 Ebenda, S.-332 f. <?page no="298"?> 298 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Die russische Realität war längst eine andere geworden: Selbst wenn formaldemokratische Regularien in den Spitzengremien der KPdSU(B) noch eingehalten wurden, war die innerparteiliche Demokratie schon weitgehend abgestorben, hatte sich die Partei in einen stark bürokratisierten Apparat verwandelt. Die Opposition hatte dort kaum noch eine Chance, ihre Positionen an der Basis der Partei zu verbreiten. Und das Bekenntnis zur Einheitsfront drohte bereits, in ein neues Extrem zu verfallen: der Anpassung an und Unterordnung unter reformistische Organisationen. Dieser Kurs sollte bald in England und dann noch viel stärker in China desaströse Auswirkungen für die Kommunisten haben. Auf dem 7. Erweiterten EKKI-Plenum wurden die Abgesandten der Kuomintang noch umjubelt - bald schon aber sollten sie die chinesischen Kommunisten niedermetzeln lassen, die sich ihnen auf Moskaus Rat hin angeschlossen und, um das Bündnis der Kuomintang mit der russischen Führung nicht zu gefährden, auf eine eigenständige revolutionäre Politik verzichtet hatten. In den deutschen Parteidebatten hatte Meyer immer erklärt, „rechte“ Übertreibungen der Einheitsfrontpolitik bekämpfen zu wollen. In Bezug auf die Internationale tat er dies 1926 nicht, sondern verteidigte den Anschluss der chinesischen KP an die Kuomintang, den er mit der Arbeit des Spartakusbundes in der Sozialdemokratie während der Kriegszeit verglich. 105 Es dürfte Meyers eindeutige Unterstützung der russischen Führung gewesen sein, die ihm im Dezember 1926 schließlich der lange angestrebten Rückkehr in die oberste Führung der KPD näherbrachte. Bereits seit dem „Offenen Brief“ hatte sie in der Luft gelegen, war aber an den bisherigen Schwierigkeiten, tatsächlich zu einer „Führung der Konzentration“ zu kommen, gescheitert. Nun galt es noch eine letzte Hürde zu bewältigen: Meyer wurde die Abgabe einer öffentlichen Erklärung abverlangt. Dieser letzte Schritt sollte für ihn der schmerzvollste und folgenreichste auf seinem Weg zurück an die Spitze sein. 9.6 „Ein Drama, das Ernst kaputt machte“: Meyers Moskauer Erklärung Eigentlich wollte Meyer sofort nach Ende der Tagung der Erweiterten Exekutive zurück nach Deutschland fahren und Weihnachten mit seiner kranken Frau in der Schweiz verbringen. Aber es kam anders: In immer neuen Telegrammen teilte er seiner Frau mit, dass sich seine Rückkehr verschieben würde. Tatsächlich traf er erst am 27. Dezember wieder in Berlin ein. 106 An den Weihnachtstagen spielte sich in Moskau ein „Drama ab, das Ernst kaputt machte und das in hohem Maße dafür verantwortlich war, dass er später krank wur- 105 Vgl. den Bericht Meyers über die Erweiterte Exekutive auf dem BPT Magdeburg-Anhalt, 22./ 23.1.27, in: Die Situation und unsere Taktik. Bericht von der Erweiterten Exekutive auf dem Bezirksparteitag, in: Tribüne, 27.1.27, gefunden in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 3/ 12/ 2, Bl. 6. Meyer verteidigte den Kurs der KI in China und die Mitarbeit in der Kuomintang auch dann noch, als er deutlich in eine Niederlage geführt hatte, vgl. Protokoll der Konferenz des ZK der KPD mit Polsekretären und Redakteuren vom 17.6.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 10, Bl. 637 f. 106 Vgl. Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.132. Zum Datum seiner Rückkehr siehe Brief Sekr[etariat].d. ZK an die deutsche Vertretung beim EKKI in Moskau, Berlin, 28.12.26, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 5/ 33, Bl. 438. <?page no="299"?> 299 9.6 „Ein Drama, das Ernst kaputt machte“: Meyers Moskauer Erklärung de und starb“, schrieb seine Frau später. 107 Die letzte Etappe auf seinem Weg zurück in die Führung der KPD glich dem Gang durch einen Dornenbusch. Meyer sollte als Bedingung für seinen Wiedereinstieg in die Führung eine Erklärung abgeben, mit der seine Gegner ihr lang angestrebtes Ziel zu erreichen hofften. „Die starke Fraktion musste gespalten werden“, analysierte Meyer-Leviné, „und das beste Mittel dafür war eine offizielle Erklärung von Ernst, dass ein Teil dieser Fraktion zu bekämpfen sei. Er war ganz allgemein ein viel zu unabhängiger Geist; zusammen mit einer starken Fraktion von alterfahrenen Funktionären, darunter auch vielen Brandleristen, konnte er für den absoluten Machtanspruch der Komintern zur Bedrohung werden. Ihn musste man rechtzeitig stoppen, und das setzte sicherlich Stalin selbst ins Werk.“ 108 Es war eine noch relativ neue Sitte in der kommunistischen Bewegung, von Genossen Erklärungen über ihren politischen Standpunkt zu verlangen. Bereits auf dem 6. Erweiterten EKKI habe sich Meyer, so berichtet seine Frau, „mit Händen und Füßen gegen die Methode gewehrt.“ 109 Erst im Oktober hatte Stalin diese Methode erfolgreich gegenüber der russischen Opposition angewandt: Trotzki und Sinowjew mussten sich verpflichten, jede fraktionelle Tätigkeit einzustellen und die ZK-Beschlüsse als bindend zu betrachten, sowie sich von einigen ihrer Anhänger in Russland und im Ausland lossagen. Auch wenn sie keine inhaltlichen Zugeständnisse machten, lief diese Erklärung auf eine Spaltung und eine faktische Kapitulation der Opposition hinaus, die ihren Zusammenhang aufgeben musste und sich der Möglichkeit beraubte, an die Parteimitglieder zu appellieren. Ein ähnliches Manöver galt nun Meyer. Das Polsekretariat des EKKI wollte eine „Führung der Konzentration“ in der KPD schaffen. Diese sollte aus der bisherigen ZK-Mehrheit um Thälmann/ Dengel und der Meyer-Gruppe bestehen. Damit wäre sie ein Äquivalent zum Bündnis von Stalin und Bucharin in der Führung der KPdSU bzw. der KI gewesen, nämlich ein gegen die Linke gerichteter Block aus rechten und zentristischen Strömungen des Kommunismus. Als Bedingung hierfür verlangte das Polsekretariat des EKKI allerdings von Meyer die Abgabe einer Erklärung. Über deren Inhalt wurde zäh gerungen, drei Versionen verworfen, bis man sich schließlich auf eine vierte einigen konnte. Meyer sollte erklären, dass er sich „öffentlich von der falschen, opportunistischen Politik Brandlers und Thalheimers“ abgrenze und das ZK „unzweideutig“ und „vorbehaltlos“ unterstützte. Außerdem sollte er seine eigene Gruppierung faktisch und nicht nur formell auflösen und alle bekämpfen, die sie dennoch fortführen. Weiter sollte er sich verpflichten, „weder vor noch auf dem Parteitag gegen das ZK aufzutreten“ und eingestehen, dass die Konzentration nicht durch den Anschluss des ZK an seine Gruppe, sondern durch „die Einreihung unter die Führung des ZK“ zustande komme. Der letzte Passus lautete: „Nur unter diesen Bedingungen ist die gemeinsame Vorbereitung und Durchführung des Parteitages möglich. Genosse Meyer verpflichtet sich gegenüber seinen Anhängern, für diese Linie einzutreten.“ Eine Unterschrift unter diese Erklärung hätte eine faktische Kapitulation Meyers bedeutet: Im Tausch gegen die Mitarbeit in der Führung hätte er seine Gruppe auflösen, seine eigenen Anhänger bekämpfen und sich jeder Kritik an der Führung enthalten müssen. Es 107 Ebenda, S.132. 108 Ebenda, S.133. 109 Ebenda. <?page no="300"?> 300 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) ist interessant, dass die Komintern-Führung, die diese Version offensichtlich vorbereitet hatte, Meyer für so karrieristisch und prinzipienlos hielt. Aber sie hatte sich getäuscht. Meyer muss entschieden protestiert und seine Unterschrift verweigert haben. Die zweite Fassung enthält bereits einige Änderungen und Entschärfungen, die als Konzessionen an ihn gedeutet werden können. Aber auch diese gingen Meyer wohl nicht weit genug. Offenbar legte er dann eine eigene Version vor, in deren Präambel er verdeutlichte, wie lächerlich er den ganzen Vorgang fand: „Die wiederholte Abgabe der von mir seit eineinviertel Jahren verlangten Erklärungen hat nicht dazu geführt, die im Interesse der Partei erstrebte Zusammenarbeit zu verwirklichen. Andererseits sagt meine politische Haltung während dieser Zeit mehr, als es jede formelle Erklärung tun könnte. Um jedoch jeden Zweifel an meiner Bereitwilligkeit zu einer vorbehaltlosen Mitarbeit auf der politischen Grundlage des heutigen ZK zu unterbinden, stelle ich folgendes fest […]“. Der Großteil dessen, was nun folgte, waren Selbstverständlichkeiten: Meyer erklärte, fest zu den Beschlüssen des VI. und VII. Plenum der Erweiterten EKKI zu stehen, auch in Bezug auf Brandler und Thalheimer. Wenn er dafür eintrete, die beiden zur politischen Arbeit heranzuziehen, bedeute es nicht, ihre Fehler der Vergangenheit nachträglich zu unterstützen. Opportunistische Tendenzen müssten durchaus bekämpft werden. Seine Unterstützung der Linie von Internationale und der Politik der KPD habe er in der Praxis immer wieder bewiesen. Interessant ist, was Meyer zu seiner eigenen Gruppierung schreibt. Er betont nämlich, sie schon längst aufgelöst zu haben: „Ich habe nach der Auflösung meiner Gruppe […] stets auf die völlige Überwindung aller Fraktions-Reminiszenzen hingewirkt. Ich werde auch in Zukunft alles was an mir liegt, dazu beitragen.“ Offensichtlich entsprach das nicht der Wahrheit: Kaum aus Moskau zurückgekehrt, hielt er wieder Treffen mit seiner Strömung ab. Die Ächtung solcher Zusammenkünfte als Fraktionsarbeit musste die Funktionäre zu Lügen zwingen. Ohne Besprechungen mit Gleichgesinnten wäre keinem kommunistischen Spitzenpolitiker eine Änderung des Kurses der Partei möglich gewesen. Diese Besprechungen durften nur nicht bekannt werden. Meyers Protest in Form einer eigenen, von den vorgelegten Entwürfen abweichenden Erklärungen hatte jedenfalls Erfolg: Am 24. Dezember erschien schließlich eine vierte Version, die er und Thälmann in Moskau unterzeichneten. Diese weicht stark von den ursprünglichen Entwürfen ab und ähnelt deutlich Meyers eigener Vorlage. Offensichtlich konnte er der Komintern-Exekutive und den deutschen ZK-Vertretern starke Zugeständnisse abgewinnen. Die schließlich veröffentlichte Fassung der Erklärung lautet: „Genosse Meyer erklärt öffentlich: 1.) Er nimmt die Beschlüsse der VII. Erweiterten Exekutive bedingungslos und vorbehaltlos an und ist verpflichtet, sie aktiv durchzuführen. 2.) Indem er auf dem Boden der Beschlüsse der VII. Erweiterten Exekutive auch in der Frage Brandler-Thalheimer steht, verurteilt er - wie er das wiederholt seit Oktober 1923 getan hat - die politischen Fehler dieser Genossen und ist verpflichtet, zusammen mit dem ZK gegen diese und ähnliche Fehler zu kämpfen. 3.) Er unterordnet sich bedingungslos und vorbehaltlos der Führung des Zentralkomitees der Partei und seiner führenden Organe und ist verpflichtet, zusammen mit dem ZK <?page no="301"?> 301 9.6 „Ein Drama, das Ernst kaputt machte“: Meyers Moskauer Erklärung sowohl gegen die rechte als auch gegen die ultralinken Strömungen zu kämpfen. Diese Anerkennung schließt die Möglichkeit der Kritik innerhalb der führenden Organe nicht aus. 4.) Genosse Meyer ist verpflichtet, zusammen mit dem ZK gegen jede Fraktionstätigkeit und gegen irgendwelche Gruppierungen in der Partei zu kämpfen. 5.) Genosse Meyer wird sein Auftreten sowohl vor dem Parteitag als auch auf dem Parteitag mit den obengenannten 4 Punkten in Einklang bringen. Im Falle der Annahme dieser Punkte gibt das ZK dem Genossen Meyer volle Garantie seiner Mitarbeit mit der Parteizentrale vor, auf und nach dem Parteitag.“ 110 Diese letzte Fassung ist zumindest als Teilerfolg Meyers zu werten: Das meiste, was hier festgeschrieben wurde, waren Selbstverständlichkeiten, wie die Anerkennung der Kominternbeschlüsse und die Unterordnung unter leitende Körperschaften der Partei. Der versprochene Kampf gegen jede Fraktionsbildung war state of the art in der Komintern 1926 und kein besonderes Zugeständnis - ebenso wenig seine Verurteilung der Fehler Brandlers und Thalheimers, im Gegenteil: Meyer hatte die zutreffende Formulierung durchsetzen können, dass er ihre Politik schon seit dem Oktober 1923 kritisierte. Außerdem hatte er eine Garantie der Möglichkeit zur Kritik innerhalb der führenden Gremien erreichen können. Dass es einer solchen Garantie überhaupt bedurfte, verdeutlicht allerdings bereits den Niedergang demokratischer Gepflogenheiten in der KPD. Die letzte Version enthält so insgesamt im Vergleich zu den anfangs vorgelegten Fassungen eine Reihe von Konzessionen an Meyer. Ein starker Wermutstropfen aber blieb: die Zusage, sich bedingungslos und vorbehaltlos dem ZK unterzuordnen und Kritik nur innerhalb der führenden Organe zu üben. Um diesen dritten Punkt der Erklärung war in Moskau besonders gerungen worden, wie Meyer auf einer Sitzung des Polbüros Anfang Januar 1927 betonte. Dort brachte er auch sein grundsätzliches Unbehagen mit dem diesem Passus zu Grunde liegenden Demokratie-Verständnis zum Ausdruck: „Jedes Mitglied einer Körperschaft hat das Recht, in der Mitgliedschaft seine Auffassung zu sagen und Vorschläge zu machen. Diese Erklärung […] sagt aber mehr. Sie sagt, Kritik, Vorschläge usw. kann ich nur machen innerhalb der führenden Organe des ZK. Das ist eine besondere Stellung, die selten ein Genosse in der Partei gehabt hat.“ Die Erklärung bedeute daher einen sehr weitgehenden Verzicht auf die Rechte eines Parteimitgliedes. Sie müsse so verstanden werden, dass er auf eine „Betätigung außerhalb des ZK infolge der Möglichkeit der Kritik innerhalb des ZK“ verzichte. 111 Dieser Passus war in der Tat ein massiver Verstoß gegen die jahrelang von ihm verfochtenen Prinzipien innerparteilicher Demokratie und Diskussionsfreiheit. Kinner charakterisiert Meyers Erklärung zu Recht als „Vorgang des Aushandelns von politischen Einflussmöglichkeiten gegen politisches Wohlverhalten.“ 112 Für Meyer kann das nur erniedrigend gewesen sein. Sowohl das Polsekretariat des EKKI als auch jenes der KPD stimmten der Erklärung im Dezember zu. Vereinbarungsgemäß setzten Polbüro und ZK Meyer auf die Vorschlagsliste 110 Die vier Fassungen der Erklärung Ernst Meyers sind dokumentiert in: Weber: Wandlung, S.-420-423. Die vierte Version wurde veröffentlicht in: Die Rote Fahne, 20.1.27. 111 Zur Debatte um Meyers Erklärung siehe Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 4.1.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 7, Bl. 6-23. 112 Kinner: Kommunismus, S.-95. <?page no="302"?> 302 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) für das neue ZK der KPD, die dem Essener Parteitag im März 1927 vorgelegt wurde. 113 Mit der Moskauer Erklärung wurde also, so Weber, „für 1927 die von der Komintern angestrebte Kooperation der schwachen Thälmann-Dengel-Führung mit der Mittelgruppe unter Ernst Meyer Wirklichkeit.“ 114 Der Preis, den Meyer dafür zahlte, war allerdings überaus hoch: Mit der Unterschrift unter ein Dokument, dessen Methode er ebenso ablehnte wie Teile des Inhaltes, setzte er seine Integrität aufs Spiel. Und er löste damit eine Spaltung seiner Gruppe aus, die ihn persönlich stark belasten und politisch langfristig schwächen sollte. Dass er in Moskau so hart verhandelt hatte, lag auch daran, dass er wusste: Das Ergebnis musste er anschließend seinen Gesinnungsgenossen daheim präsentieren und als tragbar verkaufen. Jede Position, die als Kapitulation vor den verhassten Ultralinken, aber auch vor den gewendeten Linken in der KPD-Führung gedeutet werden konnte, war dafür ungeeignet. Mit dem gefundenen Kompromiss hoffte Meyer eine Linie gefunden zu haben, die seine Anhänger mittragen konnten. Nach seiner Rückkehr zeigte sich rasch, wie sehr er sich täuschte. 9.7 Die Spaltung der Meyer-Gruppe Rosa Meyer-Leviné berichtet, ihr Mann habe die Spaltungsabsichten gegenüber seiner Gruppe durchschaut, von seiner Gruppe aber mehr rationales Verhalten erwartet. 115 Doch bei seiner Rückkehr schlug ihm eine Welle der Empörung seitens einiger seiner engsten Gesinnungsgenossen entgegen. Bereits am ersten Tag in Berlin besprach er sich mit politischen Freunden, und am 2. Januar gab es ein Treffen seiner Gruppe, an dem - je nach Quelle - zehn bis zwölf oder zwanzig Personen teilnahmen. Die Mehrheit der Anwesenden, darunter August Enderle, Paul Frölich, Jakob Walcher und Rosi Wolfstein stellten sich gegen Meyer und dessen Erklärung, während Karl Becker, Gerhart Eisler, Georg Schumann und Meyers Mitarbeiter im Pressedienst, Karl Frank, sich hinter ihn stellten. Eine Spaltung der Gruppe begann sich abzuzeichnen, rechts von Meyers Anhängern schälte sich der Kern der späteren KPO heraus. Meyer litt stark unter diesem Konflikt, wie aus der Korrespondenz mit seiner Frau hervorgeht: „Ich lasse mich natürlich nicht unterkriegen, aber es ist der unangenehmste Kampf, den ich jemals durchgemacht habe. Außerdem kann man dabei leichter Fehler machen als in jeder vorangegangenen Situation. Die Frage steht jetzt so: Bruch mit einem Teil der Gruppe und völlige Verschmelzung mit der Z.[entrale], oder völliger Bruch mit der Z., wobei doch die Verstimmung eines Teils der Gruppe bleiben wird. Jakob [Walcher] wird bestimmt bei Heinz Br.[andler] und August Th.[alheimer] bleiben“, schrieb er am 6. Januar 1927. 116 Einen Tag später ergänzt er: „[…] es ist jetzt ein schweres, gefährliches Lavieren. Halb stöhne ich dar- 113 Vgl. Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 6.3.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 7, Bl. 157; Protokoll der Sitzung des ZK der KPD am 6.3.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 1/ 53, Bl. 3. 114 Weber: Wandlung, S.-168. 115 Vgl. Meyer-Leviné: Erinnerungen, S.-137. 116 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Berlin, 6.1.27, in: Weber: Wandlung, S.-450 f. <?page no="303"?> 303 9.7 Die Spaltung der Meyer-Gruppe über, halb reizt mich die verstärkte Gefahr. Über den endgültigen Sieg habe ich nicht den mindesten Zweifel. […]“ 117 Meyers Gruppe war nie wirklich homogen gewesen. Sie umfasste erklärte Anhänger Brandlers, die dem Thälmann-ZK unversöhnlich gegenüberstanden, aber auch viele Funktionäre, die ähnlich wie Meyer zu einer Versöhnung mit der Parteimehrheit bereit waren, wenn sie dabei nicht ihre Prinzipien aufgeben mussten. Oft waren die Übergänge fließend. Viele derer, die 1928/ 29 mit Brandler die Partei verließen, konnten für die Jahre 1925 bis 1927 zu Anhängern der Meyer-Gruppe gezählt werden - etwa Paul Frölich, Robert Siewert, Heinrich Galm und Erich Hausen. Trotz aller Differenzen einte sie die Feindschaft zu den linken und ultralinken Strömungen in der Partei. Lange Zeit konnten daher die Spaltungsversuche durch die Thälmann- Fraktion abgewehrt werden. Aber was war die langfristige Perspektive dieser Strömung? Die Mitglieder der KPD blieben mehrheitlich links gestimmt. Eine komplette Übernahme der Parteiführung auf demokratischen Wege war - zumal gegen den Willen der Komintern - kaum realistisch. War es nicht viel plausibler, die Zusammenarbeit mit den vernünftigen Elementen in der Zentrale auszubauen, sie da, wo sie eine richtige Politik verfolgten, zu bestärken und ihnen da, wo ihre Vorstellungen noch von der Politik der ultralinken Phase geprägt waren, bei deren Überwindung zu unterstützen? Während viele Rechte diese Perspektive nicht teilten, verfolgte Meyer sie immer eindeutiger. Hatte sich die Führung nicht in vielen Bereichen deutlich bewegt? Bewies nicht die Kampagne zur Enteignung der Fürsten, aber auch andere Ereignisse wie die Debatte in der KPD über die Möglichkeit der kommunistischen Tolerierung einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung in Sachsen, dass eine Rückkehr zur Einheitsfrontpolitik auch mit der gegenwärtigen Mehrheitsströmung durchaus möglich war? Waren innerparteiliche Demokratie und Diskussionsfreiheit in der letzten Zeit nicht insgesamt gestärkt worden? Konnten Meyer und Genossen nicht wieder überall ihre Meinung vertreten und hatte die systematische Fälschung der Geschichte der Partei nicht aufgehört? Meyer sah es so. Auch darum betonte er immer wieder, das ZK habe sich ihm genähert. Er vertrat dies auch so vehement, um seine eigenen Anhänger für eine Politik der Konzentration zu gewinnen. Letztlich scheiterten Meyers Versuche aber, seine ganze Gruppe in die Konzentration einzufügen. Eine Spaltung konnte er nicht verhindern. Denn diejenigen, die Brandler nahestanden, nahmen ihm die Verpflichtung zur Bekämpfung der rechten Strömungen ebenso übel wie seine erneute Distanzierung von Brandler und Thalheimer. Sie waren gewillt, „an ihren politisch-theoretischen Positionen ohne Konzessionen an die Thälmann-Führung festzuhalten.“ 118 Sie mussten auch den von Meyer und Gerhart mitgetragenen Beschluss des Polbüros über die weitere Verwendung von Brandler und Thalheimer missbilligen. Das erweiterte EKKI hatte die Entscheidung darüber der deutschen Parteiführung überlassen. Diese entschied daraufhin am 4. Januar 1927, es sei unzweckmäßig, die beiden nach Deutschland zurückkehren zu lassen. Immerhin konnten Meyer und Gerhart einen Passus in der Erklärung durchsetzen, der den beiden die „litera- 117 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Ch[arlottenburg], 7.1.27, in: Weber: Wandlung, S.-451. 118 Tjaden: KPO, S.-63. <?page no="304"?> 304 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) rische Mitarbeit unter der Kontrolle des ZK“ gestattete. 119 Tjaden vermutet, die Gruppe Meyer habe dabei angestrebt, Brandler und Thalheimer langfristig die Möglichkeit auf eine Rückkehr in die Führung der KPD offenzuhalten, auch wenn sich eine solche „erweitere Konzentration“ noch nicht durchsetzen ließ. 120 Den Anhängern von Brandler und Thalheimer in der Meyer-Gruppe reichte das aber nicht, der Graben vertiefte sich. Was eigentlich als Maßnahme gedacht war, den Ultralinken und ihrer Angst vor einer Rückkehr Brandlers den Wind aus den Segeln zu nehmen, erboste nun die Rechten und entpuppte sich so als weiteres Element einer Spaltung der Meyer-Gruppe. Gleichzeitig drückten sich in dem Beschluss die Grenzen einer Öffnung der KPD-Führung nach rechts aus. LaPorte wertet ihn sogar als ein erstes Anzeichen der kommenden, neuen Linkswendung der KPD. 121 Erschwert wurde die Diskussion in der Gruppe dadurch, dass ihre Zusammenkünfte als Fraktionstätigkeit aufgefasst wurden. Meyer, der zum Gefangenen seiner Moskauer Erklärung zu werden drohte, erklärte, Sinn des Treffens nach seiner Rückkehr sei die Überführung seiner Gruppe in die Konzentration und damit deren faktische Auflösung gewesen. Dem Polbüro musste Meyer das Ende solcher Treffen zusichern. 122 Intensive Aus- und Absprachen der Gruppe waren so nicht möglich. Die Widerstände einiger seiner politischen Freunde bestärkten Meyer anfangs in seiner Haltung. Zunächst war er frohen Mutes, die große Mehrheit, wenn nicht gar alle Mitglieder seiner Gruppe überzeugen und eine Spaltung doch noch verhindern zu können: „Wenn man die Mehrheit in der Partei zu erobern für möglich hält, muss man natürlich erst recht die Mehrheit im eigenen Kreise haben. Und das ist gelungen“, schrieb er seiner Frau. „Jetzt bin ich schon bei dem weiteren Ziel, alle auf meine Linie zu bringen. Die Aussichten dafür sind ebenfalls gut. Das kostet viel Arbeit. Aber ich habe bereits alle einflussreichen, in der Partei aktiv Tätigen gewonnen. Wahrscheinlich wird sich auch eine kleine Abspaltung […] verhindern lassen.“ Außerdem habe seine Erklärung eine Differenzierung im ZK bewirkt, Ewert würde nun endlich offen für ihn eintreten. 123 Aber schon am nächsten Tag berichtete Meyer, Böttcher werde wohl im Einverständnis mit Walcher auf der nächsten Konferenz der Polsekretäre gegen ihn auftreten. Damit werde die Spaltung der Gruppe öffentlich vollzogen, auch wenn die „besten und einflussreichsten Genossen aus der Provinz und Berlin“ Meyers Standpunkt teilen würden. 124 Am 12. Januar schrieb er: „Nur durch intensive Arbeit ist zu ordnen, was durch 1000 Fehler aller Seiten in Verwirrung geraten ist. Allmählich gelingt es mir, die Zügel fester in die Hand zu bekommen. Diplomatie und Drohungen, Erweichungen und Krach muss man richtig dosieren, um ZK, Gruppe und Sympathisierende dahin zu lenken, wo es richtig ist. […] morgen ist Sekretärskonferenz, und weiß der Teufel, wie das ausfällt, da auf niemand, trotz aller Verabredung, Verlass ist.“ 125 119 Zur Debatte um die Rückkehr Brandlers und Thalheimers siehe Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 4.1.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 7, Bl. 1-6. 120 Vgl. Tjaden: KPO, S.-66. 121 Vgl. Norman LaPorte: The German Communist Party in Saxony 1924-33, Bern 2003, S.-15 122 Vgl. Protokoll der Sitzung des Polbüros der KPD am 4.1.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 3/ 7, Bl. 22 f. Siehe auch Beitrag Pieck in Protokoll der Sitzung der Berliner Parteisekretäre am 18.1.27, in: SAPMO- BArch, RY 1/ I 3/ 1-2/ 19, Bl. 172 ff. 123 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Berlin, 9.1.27, in: Weber: Wandlung, S.-451. 124 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Charlottenburg, 10.1.27, in: Weber: Wandlung, S.-452. 125 Brief Meyer an Meyer-Leviné, Berlin, 12.1.27, in: Weber: Wandlung, S.-452 <?page no="305"?> 305 9.7 Die Spaltung der Meyer-Gruppe Tatsächlich kam es auf der Konferenz des ZK mit Polsekretären und Redakteuren am 13. und 14. Februar 1927 in Berlin zur öffentlichen Spaltung von der bisherigen Meyer- Gruppe. Zunächst sah sich Meyer aber wieder mit scharfen Angriffen der Ultralinken konfrontiert, die verzweifelt versuchten, den Kurs der Konzentration in der Führung der KPD aufzuhalten. Hans Weber von der Weddinger Opposition machte - nicht unzutreffend - auf den Umstand aufmerksam, dass Meyers Fraktion trotz der wiederholten Versicherungen, sie aufzulösen, fortbestehe: „Genosse Meyer erklärt nun zum so und so vielten Male, dass er seine Gruppe aufgelöst hat. Auf jeder Tagung und bei allen Anlässen kehren diese Erklärungen wieder. Überall, wo man es hören will, erklärt er, dass er jetzt seine Gruppe wirklich aufgelöst hat. […] Man hat gesagt, Genosse Meyer hat keine Fraktion mehr. Ausgerechnet am 2. Januar hält der Genosse Meyer eine Fraktionssitzung der Rechten in Deutschland ab. Er selbst wird dort durch den Kakao gezogen, weil seine Taktik der Unterwerfung nicht gebilligt wurde. Die Zentrale weiß das und sagt kein Wort dazu, obwohl sie selbst erklärte, dass sie diese Fraktionssitzung nicht billige.“ 126 Paul Schlecht legte einen Resolutionsentwurf vor, in dem das Treffen der „Ultrarechten“ vom 2. Januar verurteilt und auf den Umstand hingewiesen wurde, dass derartige Zusammenkünfte der linken Kritiker des ZK sofort mit Ausschlüssen und Funktionsenthebungen geahndet wurden. Daher seien, sollte es nun zu keinem Verfahren gegen Meyer und Genossen kommen, auch alle Verfahren gegen die Linke einzustellen. Derartige Angriffe von links war Meyer gewohnt - es hatte sie auf allen Konferenzen der letzten Jahre gegeben. Aber dieses Mal wurde er, der jahrelang das Flaggschiff der „rechten“, auf eine Einheitsfrontpolitik orientierenden Strömung gewesen war, von Böttcher kritisiert und damit von einem Genossen, mit dem er lange eng zusammengearbeitet hatte. Böttcher ging ausführlich auf Meyers Erklärung ein und stellte den Sinn derartiger Erklärungen in Frage. Bei Personen, die im Sinne parteifeindlicher Gruppen wie der Fischer-Maslow- Strömung agierten, seien sie noch zulässig. Bei Leuten wie Meyer, die nicht zu derartigen Parteifeinden zählten und die nach bestem Wissen und Gewissen für die KPD arbeiten, sei es hingegen unsinnig und würde nur die Autorität der Betroffenen schädigen. Zur Erklärung selbst sagte Böttcher, auch wenn er den Hintergrund der Erklärung Meyers - den Wunsch nach einer Führung der Konzentration - verstehe, könne er Meyers Standpunkt in der Frage der Freiheit der Kritik nicht billigen. Denn Meyer habe die Erklärung nicht nur für sich, sondern für seine ganze Gruppe abgegeben. Wenn Meyer erklärte, er würde sich vor, auf und nach dem Parteitag öffentlicher Kritik am ZK enthalten, würde das zur Konsequenz haben, dass etwa bei der Vorbereitung des Parteitages jedem Mitglied der Gruppe vorgeworfen werden könne: „Du gehörst zur Gruppe Meyer. Du hast nicht das Recht, in dieser Frage Kritik zu üben.“ Demgegenüber betonte Böttcher: „Ich bin der Meinung, Genossen, gerade die Selbstkritik vor der Partei, vor dem Parteitag ist das tägliche Brot der Partei und die Partei kann nicht im bolschewistischen Sinne arbeiten, wenn man die Selbstkritik unterbindet.“ 127 126 Protokoll der Konferenz des ZK mit Polsekretären und Redakteuren, 13./ 14.1.27, in: SAPMO-BArch, RY 1/ I 2/ 2/ 10, Bl. 70. 127 Ebenda, Bl. 104 f. <?page no="306"?> 306 9 Ringen um eine Rückkehr zur Einheitsfront (1925/ 26) Meyer verteidigte in einem Redebeitrag seine Erklärung, wobei er nicht verhehlte, dass auch er derartigen Erklärungen nicht viel abgewinnen könnte. Bezüglich der Notwendigkeit der Kritik in allen Körperschaften der Partei stimmte er Böttcher zu. Die eigentliche Differenz zwischen ihnen liege woanders: in der Beurteilung der Perspektiven der Partei. Böttcher sei da sehr skeptisch und befürchte einen baldigen Rückfall in die Fischer-Zeit. Meyer meinte hingegen, er selbst habe nach dem Erscheinen des Offenen Briefes ähnliche Zweifel gehabt und geäußert, müsse nun aber einsehen, dass sie übertrieben waren: „Man muss feststellen, dass die Partei eine Politik führt, die trotz mancher Schwankungen im Allgemeinen richtig ist.“ So praktiziere die KPD eine erfolgreiche Einheitsfrontpolitik gegenüber parteilosen und sozialdemokratischen Arbeitern bis hin zu Listenverbindungen mit der SPD und der Unterstützung sozialdemokratischer Minderheitsregierungen. „Und weil ich die Lage so einschätze, deshalb muss die Vergangenheit mit einem gewissen Ruck beseitigt werden. Deshalb habe ich die Erklärung unterschrieben und deshalb stehe ich auch zu meiner Erklärung, trotz der Bedenken, die ich im Anfang gehabt habe und trotz der Kritik, die von einigen Genossen auch heute geübt wird.“ 128 Dengel, neben Thälmann wichtigste Figur der ZK-Mehrheit und eigentlich ein alter Gegner Meyers, lobte dessen Rede als „die wohl bedeutendste Diskussionsrede, die heute hier gehalten wurde […] wir sind auf den Tagungen der Sekretäre und Redakteure nicht gewohnt, eine derartig wichtige Rede hier zu hören.“ Sie sei nicht nur für Meyer, sondern auch für die Genossen der Mehrheit eine Verpflichtung, die alten fraktionellen Vorbehalte abzubauen. „Und wenn ein Genosse wie Meyer sich so vollkommen bekennt zur Linie der Partei und so gegen einen alten politischen Freund auftritt wie Böttcher, so ist das ein ungeheurer bolschewistischer Schritt und die Verpflichtung für alle Genossen, alle Reminiszenzen zu begraben […]“. 129 Seiner Frau berichtete Meyer: „Meine Rede machte sehr starken Eindruck, ‚Aufmerksamkeit wie bei einem Minister‘ sagte Frank.“ 130 Und an anderer Stelle: „Nach meiner gestrigen Diskussionsrede, die lautlos unter großer Spannung wie bei keinem anderen Redner aufgenommen wurde, sprach Dengel sehr entgegenkommend gegen mich […] Beide Reden galten allgemein als ‚Hochzeits‘-Reden.“ 131 Er musste Rosa aber auch über die Spaltung seiner Gruppe und sich abzeichnende weitere Unannehmlichkeiten berichten: „Paul Böttcher polemisierte leider mehr gegen mich als gegen die Z. Das zwang mich, kameradschaftlich im Ton, aber scharf in der Sache gegen ihn zu polemisieren. Der Bruch ist also öffentlich vollzogen worden. Um Böttcher und Jakob [Walcher] tut es mir leid. Aber es ging nicht anders. […] Nur trage ich jetzt eine starke Mitverantwortung für die Z. Jede Schweinerei von ihr werden meine Freunde mir in die Schuhe schieben.“ 132 Und in einem anderen Brief: „Der Verlauf der Konferenz war sehr erfolgreich. […] Ein Teil der alten Freunde hatte Angst vor einer ‚Kapitulation‘. In den Zellen spricht man z.T. auf Grund meiner alten Erklärung vom ‚Kniefall‘, ‚Postenjägerei‘ etc. Das ist natürlich sehr unangene