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Fake

Interdisziplinär

0812
2019
978-3-7398-8015-0
978-3-7398-3015-5
UVK Verlag 
Ralph-Miklas Dobler
Daniel Jan Ittstein
Nicole Brandstetter
Anne Brunner
Silke Järvenpää
Simone Kaminski
Maria Begona Prieto Peral

Fake ist gegenwärtig ein negativ besetzter Begriff. Er steht für Fälschung, Lüge, Schwindel - das heißt für alles, was nicht der Realität und der Wahrheit entspricht. Im Sinn von Künstlichkeit, Virtualität, Phantasie steht Fake aber auch für Fortschritt und Entwicklung. Nicht zuletzt die Digitalisierung hat im 21. Jahrhundert dazu geführt, dass Fake zu einem hochaktuellen und umstrittenen Phänomen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geworden ist. In dem Band wird daher das, was Fake sein kann, in interdisziplinärer Weise aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: Dazu gehören die historische, literarische, interkulturelle und psychologische Perspektive ebenso wie eine politische Betrachtung.

<?page no="1"?> Ralph-Miklas Dobler, Daniel Jan Ittstein (Hg.) Fake I nterdisziplinär <?page no="3"?> Ralph-Miklas Dobler, Daniel Jan Ittstein (Hg.) Fake I nterdisziplinär UVK Verlag · München <?page no="4"?> Prof. Dr. Ralph-Miklas Dobler lehrt an der Hochschule München. Seine Fachgebiete sind Medienwissenschaft, historische Bildwissenschaft und Architekturgeschichte. Prof. Dr. Daniel Ittstein lehrt an der Hochschule München. Seine Fachgebiete sind u.a. Internationales Management, globale digitale Innovation und Geschäftsmodelle, Führung internationaler (virtueller) Teams sowie Internationales Projektmanagement. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 978-3-7398-3015-5 (Print) ISBN 978-3-7398-0505-4 (ePUB) ISBN 978-3-7398-8015-0 (ePDF) © UVK Verlag München 2019 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Einbandgestaltung: Vanessa Seitz, Tübingen Einbandmotiv: © Instants iStock Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck UVK Verlag Nymphenburger Straße 48 · 80335 München Tel. 089/ 452174-65 www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Tel. 07071/ 9797-0 www.narr.de <?page no="5"?> 1 Vorwort Fake ist im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu einem omnipräsenten Begriff geworden, der in nahezu jedem Bereich menschlichen Zusammenlebens Verwendung findet. In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist der Anglizismus Fake überwiegend negativ konnotiert und kennzeichnet etwas, das mit den Eigenschaften falsch, unecht, imitiert, gestellt, gelogen und irreal umschrieben werden kann. Obwohl Wahrheit und Lüge zumindest im westlichen Kulturkreis zu den Grundlagen der Geistesgeschichte gehören, wird Fake und Gefaktes aktuell vorwiegend als neue Bedrohung und Gefahr der Ordnungen dargestellt. Dabei kann Fake etwa im Sinn der Imitation nicht nur natürlich sein, sondern durchaus auch Nutzen stiften. Die Ursachen für das inflationäre Aufkommen von Gefaktem sind so vielfältig wie die Gründe für die derzeit eher stigmatisierende Betrachtung. Oft werden die technologische Innovation der Digitalisierung oder die Globalisierung, aber auch Werteverfall, Konstruktivismus und damit die Wissenschaftskultur angeführt. Sicher ist, dass Menschen sich inzwischen mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert sehen, da Personen oder sogar Programme Nachrichten, wissenschaftliche Erkenntnisse und Produkte faken. Grund genug, um das Thema aus verschiedenen Perspektiven interdisziplinär zu betrachten. Die Beiträge des Bandes gehen auf eine interdisziplinäre Ringvorlesung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München zurück, die von den Herausgebern im Sommersemester 2017 organisiert wurde. Dank gebührt den Kollegen, die sich mit großem Gewinn darauf eingelassen haben, das Thema aus ihrem jeweiligen Fachgebiet heraus zu untersuchen und die Ergebnisse zur Diskussion zu stellen. Ohne Christine Schrödls Einsatz wäre die Umsetzung der Veranstaltungsreihe nur schwer möglich gewesen. <?page no="6"?> 6 Vorwort Wir hoffen mit dem Buch zum Verständnis eines wichtigen Zukunfts- und Gegenwartsthemas beizutragen. Zudem hoffen wir, einen Ausgangspunkt und eine Grundlage für weitere Forschungen zu FAKE zu schaffen. München, im Juli 2019 Ralph-Miklas Dobler Daniel Jan Ittstein <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort......................................................................................................... 5 Abbildungsverzeichnis .............................................................................. 11 Ralph-Miklas Dobler 1 Fake aus einer historischen Perspektive ................................ 13 1.1 Einführung ........................................................................................................................... 15 1.2 Illusion - Immersion - Virtuelle Realität - Fake Reality ................................. 16 1.3 Simulation - Dissimulation - Verstellung - Realfakes ..................................... 23 1.4 Nachrichten - Politik - Social Media - Fake News ............................................. 30 Nicole Brandstetter 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature......................... 37 2.1 Preliminaries....................................................................................................................... 39 2.2 Truth, Verisimilitude, and Authenticity .................................................................. 40 2.3 Fiction, Lying, and Inauthenticity .............................................................................. 44 2.4 Post-truth, Post-fictional Writing, and Fake ......................................................... 50 - Simone Kaminski -- 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen ............................................................................... 55 3.1 Einführung ........................................................................................................................... 57 3.2 Wie wir uns von Fake News beeinflussen lassen ............................................... 58 3.2.1 Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) .......................................... 60 3.2.2 Der Wahrheitseffekt (Truth Effect)............................................................. 61 3.2.2 Der Sleeper-Effekt............................................................................................... 62 3.2.4 Zugehörigkeit zur Eigengruppe .................................................................... 64 3.3 Warum wir an falschen Überzeugungen festhalten .......................................... 65 3.3.1 Kognitive Dissonanz und das Bedürfnis, sie zu vermeiden.............. 65 3.3.2 Backfire-Effekt...................................................................................................... 66 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis 3.4 Wie wir Fake News aus unseren Köpfen bekommen........................................67 3.5 Zusammenfassung ............................................................................................................69 Silke Järvenpää 4 Alternative Facts and Fake News: Cultural Studies' Illegitimate Brainchildren .........................................................71 4.1 Introduction.........................................................................................................................73 4.2 Discussion.............................................................................................................................75 4.3 Conclusion ............................................................................................................................82 Daniel Jan Ittstein - 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle ......................................................................83 5.1 Einleitung..............................................................................................................................85 5.2 Geschäftsmodelle...............................................................................................................88 5.3 Digitale Geschäftsmodelle und ihre Imitation ......................................................91 5.4 Interkulturalität bei digitalen Geschäftsmodellen..............................................94 5.5 Interkulturalität bei digitaler Geschäftsmodellimitation ................................99 5.6 Fallstudie: Interkulturelle Geschäftsmodellimitation am Beispiel von Amazons Markteintritt in den jungen Versandhandelsmarkt in Indien..............................................................................................................................103 5.7 Schlussbetrachtungen ..................................................................................................121 María Begoña Prieto Peral --- 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity in times of crisis .........................................................123 6.1 Charlemagne's vision....................................................................................................128 6.2 "Limpieza de sangre” and the Christian knight.................................................131 6.3 Heretics, Lutherans and Erasmians 1517............................................................133 6.4 From the loss of Cuba in 1898 to 2018.................................................................134 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 Anne Brunner 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit: Von der Natur, einem Märchen und einer historischen Persönlichkeit...................141 7.1 FAKE: Keine Erfindung des Menschen! ................................................................ 144 7.2 Begriffe ............................................................................................................................... 148 7.2.1 Mimik und Maske............................................................................................. 148 7.2.2 Wahrheit und Täuschung ............................................................................. 152 7.3 Täuschung und Wahrheit in Geschichten ........................................................... 155 7.3.1 Märchen................................................................................................................ 155 7.3.2 Gleichnis ............................................................................................................... 157 7.4 Eine wahre Geschichte................................................................................................. 160 7.4.1 Die Person: Hintergrund............................................................................... 161 7.4.2 Auftakt................................................................................................................... 165 7.4.3 Auftritt .................................................................................................................. 166 7.4.4 Abtritt .................................................................................................................... 171 7.4.5 Encore: Noch eine Zugabe............................................................................ 176 Über die Autorinnen und Autoren ..........................................................179 <?page no="11"?> Abbildungsverzeichnis Kapitel 5 Abb. 1 Business Model Canvas ........................................................................................ 90 Abb. 2 Fähigkeiten des Copycat-Prozesses ............................................................... 93 Abb. 3 Rahmenmodell für interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI)......................................................................................................................... 101 Kapitel 7 Abb. 1a Reh ............................................................................................................................. 144 Abb. 1b Löwe .......................................................................................................................... 145 Abb. 1c Schmetterling ........................................................................................................ 145 Abb. 2a Pfauenauge ............................................................................................................. 147 Abb. 2b Kuckucksei.............................................................................................................. 147 Abb. 2c Vogel.......................................................................................................................... 147 Abb. 3 Rhesus-Äffchen - vorher, nachher............................................................... 150 Abb. 4 Maske ........................................................................................................................ 151 Abb. 5 Ent-Täuschung...................................................................................................... 155 Abb. 6 Des Kaisers neue Kleider.................................................................................. 157 Abb. 7 Der Elefant und die Blinden............................................................................ 159 Abb. 8a Vase............................................................................................................................ 160 Abb. 8b Elefant....................................................................................................................... 160 Abb. 9 Eine historische Figur........................................................................................ 161 <?page no="13"?> 1 1 Fake aus einer historischen Perspektive Ralph-Miklas Dobler <?page no="15"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 15 1.1 Einführung In der schnelllebigen und vergangenheitsvergessenen Gegenwart fehlt häufig eine historische Perspektivierung scheinbar neuer und folglich beeindruckender und verunsichernder Phänomene. Oft wird versucht, die Kontrolle zu erlangen, indem Probleme nivelliert werden, weil es sie vorgeblich schon immer gab und ihre Bedeutung folglich überschätzt wird. Oder aber scheinbar unlösbare Schwierigkeiten werden benutzt, um Ängste zu schüren und Besorgnis zu erregen. Beides führt nicht zu einem Verständnis der Wirkungszusammenhänge und damit zu den Voraussetzungen, die Zukunft in nachhaltiger Weise zu gestalten. Ein Blick in die Vergangenheit kann helfen, Ereignisse und Zustände der Gegenwart besser zu verstehen und differenziert zu beurteilen. Geschichte wiederholt sich zwar nie in identischer Weise, jedoch bieten historische Sachverhalte Orientierung und Hinweise zum Umgang mit vielen Herausforderungen der Gegenwart. Eine besondere Herausforderung im öffentlichen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs ist die Definition von Begriffen. Formale und inhaltliche Bedingungen von Worten und Ausdrücken sind oft nicht klar geklärt, das heißt, wir wissen gar nicht genau, wovon wir eigentlich sprechen. Publikumswirksame Buzzwords sind ein gängiges Beispiel hierfür. So wird von „Digitalisierung“ in verschiedensten Kontexten und Bereichen gesprochen, allerdings fällt es schwer, kurz und prägnant zu definieren, was Digitalisierung eigentlich ist, um dann mit dieser inhaltlichen Festlegung zu operieren. Auch der Begriff „Fake“ gehört in diesen Kontext. Das Wort bezeichnet eine Vielzahl von Verhältnissen, Eigenschaften und Diskursen, ohne dass genau definiert wäre, was gegenwärtig (ein) Fake ist. 1 Sicher ist, dass der Begriff und seine Verwendung immer ein Verhältnis zur Echtheit 1 Entsprechend breit ist auch die Literatur zum Thema, vgl. Manfred Geier, Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos, Literatur, Wissenschaft, Hamburg 1999; Stefan Römer, Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln 2001; Martin Doll, Fälschung und Fake, Berlin 2015; Karoline Kuhla, Fake News, Hamburg 2017. <?page no="16"?> 16 Ralph-Miklas Dobler oder zur Wahrheit implizieren. Letztere ist bereits ein kompliziertes philosophisches Thema und folglich ist ihr Gegenteil - die Lüge, die Fälschung, der Betrug, das Fake - ebenso schwierig zu bestimmen. Fake kann sowohl als Adjektiv die Eigenschaft und Qualität von Dingen bezeichnen als auch selbst ein natürliches oder virtuelles Objekt sein. „Fake News“ wurde 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Anglizismus und „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gewählt. 2017 wurden „Fake News“ in den Duden aufgenommen. Im Folgenden werden drei aktuelle Bedeutungsfelder von Fake einer historischen Perspektivierung unterzogen. Durch diese Distanznahme kann der Begriff und die von ihm bezeichneten Phänomene besser beurteilt werden. Fake steht immer in einem Bezug zur Wirklichkeit. Wird der menschliche Handlungsraum simuliert, so spricht man von Fake Reality, deren bekanntestes technologisches Beispiel gegenwärtig die virtuelle Realität ist. Bereits dieses Beispiel zeigt, dass Fake keineswegs nur negative Verhältnisse anzeigt. Fake kann auch zu Ruhm und Bewunderung führen. Problematisch wird es aber, wenn Personen ihre Identität fälschen oder verbergen. Besonders in den schwer zu kontrollierenden und anonymen Sozialen Medien ist das (be)trügerische Vorhandensein von Realfakes gang und gäbe. Keineswegs sind jedoch das Verstellen und das Simulieren eine gesellschaftliche Entwicklung des digitalen Zeitalters. Schließlich ist der Begriff des Fake aus dem Bereich der Wissens- und Informationsvermittlung, insbesondere aus dem Kontext von Nachrichten, Presse und Journalismus, nicht mehr wegzudenken. Die Fake News sind wohl das geläufigste Phänomen, mit dem das zur Diskussion stehende Wort im digital kommunizierenden 21. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird. 1.2 Illusion - Immersion - Virtuelle Realität - Fake Reality Wie so vieles beginnt die Geschichte der Illusion in der Antike. Der Geschichtsschreiber Plinius der Ältere berichtet in seiner Naturgeschichte von einem Wettstreit zwischen den Malern Parrhasios und Zeuxis, der sich <?page no="17"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 17 um 400 v. Chr. in Griechenland zu getragen habe.2 Dabei malte Zeuxis auf seine Tafel Trauben so naturgetreu, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Parrhasios hingegen zeigte seinem Rivalen ein Gemälde, das von einem Vorhang bedeckt war. Zeuxis bat ungeduldig, den Vorhang endlich zur Seite zu ziehen. Als er dies endlich selbst versuchte, bemerkte er, dass dieser nur gemalt war. Gewonnen hat den Wettstreit Parrhasios, weil es ihm gelang, den Menschen zu täuschen, der eigentlich durch seine Vernunft zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden kann. Die Geschichte steht für verschiedene Ansprüche der Malerei, die bis weit in die Neuzeit hinein wirksam waren: Zum einen die perfekte Imitation der Natur, zum anderen die Täuschung der Augen und das Überwinden der Zweidimensionalität der Malfläche. Die täuschend echte Nachahmung der Realität bis hin zum Schein der Greifbarkeit war jedoch nur der Anfang. In der Renaissance beschäftigte man sich mit den materiellen und geistigen antiken Überlieferungen und versuchte die Leistung der alten Meister zu übertreffen. Naturwissenschaften und bildende Künste waren damals noch Bestandteile desselben Wissenschaftssystems, und eine Erfindung, die bis heute im westlichen Kulturkreis die Wahrnehmung und Einschätzung von Bildern bestimmt, geht auf einen Architekten zurück: Filippo Brunelleschi revolutionierte im Florenz des 15. Jahrhunderts die malerische Darstellung von Räumen, indem er die mathematisch-geometrischen Gesetze der Zentralperspektive ergründete. 3 Das bis heute gebräuchliche Verfahren erlaubte es, auf einer Fläche dreidimensional wirkende Räume zu entwerfen, die dem menschlichen Auge maßstäblich und perspektivisch stimmig erschienen. Zweidimensionale Wände konnten folglich „geöffnet“ und der reale Raum illu- 2 Plinius Nat. hist. XXXV 65; C. Plinius Secundus, Naturkunde, Buch XXXV, hg. und übers. von Roderich König, Darmstadt 1997, S. 57-59. Vgl. Hartmut Böhme, Das reflexive Bild: Licht, Evidenz und Reflexion in der Bildkunst, in: Evidentia, hg. von Gabriele Wimböck, Karin Leonhard, Markus Friedrich, Berlin 2007, S. 358-359. 3 Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt 1984, S. 17-23. <?page no="18"?> 18 Ralph-Miklas Dobler sionistisch „erweitert“ werden. Gemälde wurden zu einer Erweiterung der Realität des Betrachters - nicht eine „augmented“, aber eine „expanded reality“ könnte man sagen. Wenn die Maßstäbe überreinstimmten, machte die Raumkontinuität den Inhalt des Gemäldes zu einem Bestandteil der Wirklichkeit. Die Illusion eines begehbaren Raumes war gelungen. Den Fortschritt beschrieb Leon Battista Alberti im Jahr 1435 in seinem Buch über Malerei, das den aktuellen Stand dieser Kunst in einer Art Lehrbuch festhielt: das Gemälde ist wie ein „offenes Fenster“, durch das man eine Geschichte erblicken kann. 4 Tatsächlich war die im Bild gezeigte Szene oft nicht die zeitgenössische Realität, sondern eine zweite Wirklichkeit, die grundsätzlich auch in der Vergangenheit oder Zukunft liegen konnte. So wird in Masaccios berühmtem Trinitäts-Fresko in Santa Maria Novella in einem gemalten Anraum des linken Seitenschiffes die Szene der Kreuzigung Christi vergegenwärtigt. 5 Das Bild gilt pauschalisierend als erstes Gemälde, das korrekt zentralperspektivisch konstruiert ist, und in der Tat konnte der Betrachter am Geschehen, das ihm außerordentlich real erscheinen musste, sehend Anteil nehmen. Ausschlaggebend hierfür war die maßstäbliche Kontinuität zwischen Realität und Fiktion. Es fällt heute schwer, die überwältigende Wirkung von damals zu verstehen. Unsere Sehgewohnheiten sind durch Fotografie und bewegten Film sowie durch die Dauerpräsenz von Bildern völlig andere. Wahrscheinlich hatte der Blick auf das Fresko eine ähnlich verunsichernde Wirkung wie heute das Eintauchen in die Virtuelle Realität. Tatsächlich erinnert die Vorstellung Albertis, das Gemälde sei ein Fenster, durch das man in eine Art zweite Wirklichkeit blickt, an die Bildschirme der digitalisierten Welt, deren Screens eine durchsichtige, zweidimensionale Grenze bilden, die 4 Leon Battista Alberti, Della Pittura, I, 19, vgl. Leon Battista Alberti, Della Pittura - Über die Malkunst, hg. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 92. 5 Masaccio’s Trinity, hg. von Rona Goffen, Cambridge 1998. <?page no="19"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 19 man zwar nicht körperlich durchschreiten, durch die man aber in andere Räume und Realitäten blicken kann. 6 Ziel vieler Gemälde seit dem 15. Jahrhunderts war es, die Distanz zwischen Wirklichkeit und Darstellung zu überwinden und dem Betrachter quasi das Gefühl zu geben, im Bild zu sein und ein Teil der bildlichen Realität zu werden. Insbesondere religiöse Geschichten konnten so glaubhaft und emotional vermittelt werden. Diese Verbindung von fiktionaler Realität und Gefühlen ist bis heute bestimmend für die Entwicklung virtueller Realität. Immersive Techniken zielen darauf ab, den Betrachter am Gezeigten zu beteiligen, „aus Rezipienten werden Partizipierende“. 7 Das lateinische Wort „immersio“ bezeichnet das physikalische Eintauchen in eine Flüssigkeit. In der Medientheorie bezeichnet der Begriff unmittelbar erfahrbare körperliche Rezeptionsprozesse, bei denen der Betrachter mental in eine Welt eintaucht, die künstlich oder weit entfernt ist. 8 Erlaubte es die Zentralperspektive seit dem 15. Jahrhundert, begrenzte Malflächen an der Wand oder auf Tafeln als Erweiterung der realen Räume zu gestalten, so war mit der sogenannten Quadratura-Malerei im 17. Jahrhundert eine neue Stufe der Fiktion erreicht. 9 Die Künstler erweiterten die Realität nicht nur hier und da durch „Fenster“, sondern die Wände und Decken von Räumen wurden mit malerischen Mitteln komplett aufgelöst. Da die geometrische Konstruktion von der auf einen Punkt ausgerichteten 6 Martin Burckhardt, Dirk Höfer, Alles und Nichts. Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung, Berlin 2015, S. 34. Wie komplex die Frage der Bildschirme in der digital vernetzten Welt ist, zeigt die Tatsache, dass Byung-Chul Han anstatt Transparenz einen Spiegel erkennt, der einen „narzisstischen Raum“ eröffnet; Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin 2013, S. 34. 7 Gerhard Paul, BilderMacht. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 200. 8 Laura Bieger, Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Washington u.a. 2007. 9 Quadratura. Geschichte, Theorie, Technik, hg. von Matthias Bleyl und Pacal Dubourg Glatigny, Berlin 2011. <?page no="20"?> 20 Ralph-Miklas Dobler Zentralperspektive ihren Ausgang nahm, konnten die Raumgrenzen von einem bestimmten Standpunkt aus nicht mehr wahrgenommen werden. Noch für heutige Betrachter ist kaum auszumachen, wo beispielsweise in der Kirche Sant’Ignazio in Rom das halbrunde Tonnengewölbe des Kirchenschiffs ansetzt und wie es verläuft, da auf den Seitenwänden scheinbar eine mehrgeschossige gemalte Architektur ansetzt, in deren Mitte der Blick in den von Engeln bevölkerten Himmel frei bleibt. Der Sinn dieser Malerei war die Überwältigung der Besucher durch Illusion und Täuschung. Der Maler, Andrea Pozzo, war Jesuit und Mathematiker. Für ihn, wie für viele andere Wissenschaftler der Frühen Neuzeit, waren Mathematik und Geometrie Disziplinen in denen sich die Perfektion und Vollendung Gottes manifestierte. Reale Raumgrenzen durch eine malerische, optische Illusion zu überwinden, blieb eine unübertroffene Leistung der Malerei. Die Qualität der Immersion war vorerst nicht zu steigern. Zugleich liegen hier hinsichtlich der Vortäuschung von Zeit und Raum die Voraussetzungen für die virtuelle Realität, die dem Betrachter bzw. Benutzer erlaubt, sich in fiktiven, dreidimensionalen Welten zu bewegen. Erst mit der digitalen Nachbildung und Erzeugung von Räumen konnte der Ausblick zu einem Eintritt in eine andere Welt werden. Allerdings sind die jahrhundertelangen Anstrengungen, aus der Fläche heraus in den Raum des Betrachters hinein zu wirken, nicht zu unterschätzen. Spätestens seit dem barocken 17. Jahrhundert wurde die Augentäuschung - der Trompe-l’oeil - zu einer weit verbreiteten Praxis. Hierbei schufen Maler keine Räume hinter dem Bildträger, sondern versuchten dezidiert die Illusion von Gegenständlichkeit vor dem Bildträger zu erwecken. 10 Beide Möglichkeiten der Täuschung, Raum hinter der Malfläche oder Räumlichkeit vor der Bildfläche wurden von den Malern Parrhasios und Zeuxis bereits in der Antike erprobt. Mit dem Film, 10 Deceptions and illusions. Five centuries of trompe l'oeil painting, hg, von Sybille Ebert-Schifferer, Aldershot 2002. <?page no="21"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 21 der bewegte Bilder auf einer Leinwand lieferte, verstärkten sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Möglichkeiten, aus einer Fläche in den Raum des Betrachters bzw. des Zuschauers hinein zu wirken. Berühmt ist das Beispiel der Brüder Lumière, die 1895 in einem Pariser Café einen Film zeigten, bei dem eine Lokomotive auf die Kamera, d.h. auf die Zuschauer, zufuhr. 11 Die Anwesenden sprangen entsetzt auf, weil sie befürchteten, überfahren zu werden. Aus der Antike über die Renaissance in den Barock bis zum Film des 20. Jahrhunderts hat ein beständiger technischer Fortschritt die Illusion, die Immersion, die Beteiligung des Betrachters an Dingen, die scheinbar hinter einer zweidimensionalen Fläche ablaufen, stetig verbessert. Hinter aber auch vor der Fläche oder der Leinwand wurden Realitäten vorgetäuscht, deren Existenz oft nur durch den Tastsinn und das Anfassen als Irreführung entlarvt werden konnten. Das Entdecken der Täuschung war von Anfang an mit eingeplant, womit zumindest der medientheoretischen Definition von Martin Doll nach ein Charakteristikum dessen vorliegt, was wir heute als Fake bezeichnen: „Fakes können nur dann ausreichend beschrieben werden, wenn man ihre Prozesshaftigkeit und damit verbundene Statuswechsel in den Blick nimmt.“ 12 In der Kunst- und Bildgeschichte führten Täuschungen und Ent-Täuschung zu Ruhm und Bewunderung. Noch heute wird bei Veröffentlichungen von Falschmeldungen deren Demaskierung eingeplant, worin eine besonders wichtige Funktion des Fake augenfällig wird: Es emotionalisiert, erregt Aufmerksamkeit und führt dazu, dass der Autor in aller Munde ist. Fake bildet für eine absehbare Zeit eine Empörungswelle. Technisch blieb bei den Bild-Illusionen über Jahrtausende hinweg die zweidimensionale Fläche als unüberwindbare Grenze erhalten. Dies änderte sich erst mit der Digitalisierung in der ihr eigenen schnellen und vor allem grundlegenden Weise. In der Videospiel-Entwicklung wurden nicht 11 Béla Balázs, Der Film. Wesen und Werden einer neuen Kunst, Wien 1976. 12 Doll (wie Anm. 1), S. 25. <?page no="22"?> 22 Ralph-Miklas Dobler nur künstlich generierte Welten erschaffen, der Spieler konnte nun auch in diesen handeln. Genau genommen handelt es sich um die „Darstellung erlebten Handelns“, bei der eine Figur im Spiel zugleich verkörpert und unbeteiligt vor dem Bildschirm betrachtet wird. 13 Das komplizierte Verhältnis von Person und Identität in der Realität und im digitalen Raum des Spieles, der Sozialen Medien, der Chats etc. kann im gegebenen Rahmen nicht erläutert werden. Die Täuschung in virtuellen Realitäten erfolgt jedoch über den Einsatz von Avataren. Digitalisiert wurde das Bild zu einem Ereignis, das beeinflusst, verändert und gestaltet werden konnte. Ein geläufiges Beispiel sind Adventure oder Egoshooter, bei denen der Betrachter die Sicht des Handelnden einnimmt und über den Controller die sichtbaren Gliedmaßen im Spiel steuert. Die Immersion in die grafische Illusion wird dermaßen verstärkt, dass ein gefühlter Übertritt in die Spielewelt hinter dem Bildschirm erfolgt. 14 Die totale Immersion in virtuellen Realitäten ist längst durchführbar. Hier ist die Distanz zwischen Wirklichkeit und künstlich konstruierter Welt weitgehend aufgehoben und der höchste Grad an Fake Reality erreicht. Das künstlich generierte Bild ist nun kein Gegenüber mehr, auf das man durch ein Fenster oder einen Bildschirm schaut. Aus dem Abbild der Welt ist eine zweite Welt geworden, in der man sich nicht nur bewegen, sondern die man auch gestalten kann. In Forschung und Entwicklung wird zunehmend versucht, alle Sinne zu aktivieren und die gefakte Welt so perfekt wie möglich zu gestaltet. Momentan reagiert der Körper oft noch mit Schwindel, Seekrankheit oder gar epileptischen Anfällen, dennoch wird das was früher ein Spiel mit Täuschung und Enttäuschung war, heute eine Möglichkeit zur Flucht aus der Realität. Die Folgen sind momentan noch nicht abzusehen. Kritiker warnen davor, dass sich die Nutzer in der Wirklichkeit 13 Jochen Venus, „Erlebtes Handeln im Computerspiel“, in: Theorie des Computerspiels. Zur Einführung, hg. von GamesCoop, Hamburg 2012, S. 104-127, hier S. 105. 14 Paul (wie Anm. 7), S. 231-234; Britta Neitzel, Involvierungsstrategien des Computerspiels, in: Theorie des Computerspiels (wie Anm. 13), S. 75-103. <?page no="23"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 23 immer schlechter zurechtfinden könnten, erst recht, wenn die Fake Reality einen durch und durch positiv gestimmten Raum anbietet, der frei von Frustration und Anstrengung ist. 15 Die Entwicklung strebt in die Richtung, die im Film „The Matrix“ (1999) bereits vor der zweiten Digitalisierungswelle des 21. Jahrhunderts als Zukunftsvision vorhergesehen wurde: Den Menschen wird eine virtuelle Realität, d.h. ein Programm, direkt in das Gehirn implantiert, wodurch ein Unterschied zwischen Realität und digitalisierter Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen werden kann. Der hier ebenfalls thematisierte Transhumanismus, der durch den Aufschwung künstlicher Intelligenz ebenfalls ein aktuelles Thema ist, hat im Film zu einem negativen Ausgang geführt, da die Programme den Menschen beherrschen und in einer virtuellen Welt nur am Leben erhalten, um ihn als Energiequelle zu benutzen. Das Leben im Sinn von sozialem Handeln, emotionaler Bindung, sinnlicher Erfahrung und Wahrnehmung findet komplett als Fake Reality nur noch im Gehirn von Personen statt, die wie im Koma auf bequemen Sesseln liegen. Im Netz bewegen sie sich ähnlich wie im Computerspiel als Avatar, dessen Übereinstimmung mit dem realen Körper unendlich weit gedehnt werden kann. Allerdings braucht man für das Vortäuschen einer anderen Identität nicht unbedingt digitale Technologien, wie der nächste Abschnitt kurz darlegt. 1.3 Simulation - Dissimulation - Verstellung - Realfakes Die Idee, sich zu verstellen und so zu tun als ob, geht bis in die antike griechische Philosophie zurück. Berühmt ist die Ironie des Sokrates, mit der die Argumente des Gegners entkräftet wurden, indem der Redner sich selbst als unwissend darstellte. In der römischen Redekunst wurden simula- 15 Zu den kritischen Stimmen gehören Bert te Wildt, Digital Junkies. Internetanhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder, München 2015; Sara Diefenbach und Daniel Ullrich, Digitale Depression. Wie neue Medien unser Glücksgefühl verändern, München 2016; Manfred Spitzer, Cyberkrank! Wie das digitale Leben unsere Gesundheit ruiniert, München 2017. <?page no="24"?> 24 Ralph-Miklas Dobler tio und dissimulatio zu wichtigen Verhaltensmustern für Philosophen, Politiker und Herrschende. Die simulatio bezeichnete dabei die absichtliche Täuschung, etwas zu wissen, zu sein, zu haben, also wie das Wort bereits vorgibt, etwas zu simulieren, wohingegen die dissimulatio das Verbergen darstellt, also etwas was man weiß, kann oder hat einfach zu verschweigen. Cicero bemerkte bereits 55 v. Chr., dass die dissimulatio, also das Verstellen im Sinn von Verbergen, „städtisch“ und damit besonders tugendvoll sei. 16 Um 70 n. Chr. erklärte der Rhetorik-Lehrer Quintilian, dass Simulation und Dissimulation in der Rede - sei es in der Politik oder vor Gericht zur Verteidigung - perfekt seien, um ein entkräftendes Lachen herbeizuführen. 17 Abermals ist die Entdeckung, die im gegebenen Fall positive Wirkung nach sich zieht, fester Bestandteil der Täuschung. Während es in der Antike jedoch eine angesehene Kunst war, sich geschickt zu verstellen, sei es, indem man etwas verbarg oder vorgab, ist das anonyme Handeln durch digitale Avatare heute ein weitreichendes Problem. Das Verstellen und die Lüge wurden bereits im zutiefst christlichreligiösen Mittelalter geächtet und verurteilt. Schon der bekannte Kirchenvater Augustinus hatte in der Spätantike ein ganzes Buch gegen das mendacium - die Unwahrheit und die Verstellung geschrieben, das als beispielhafte Schrift gegen das gottlose Laster gesehen wurde. 18 Der Wandel von einem theozentrischen - auf Gott konzentrierten - Weltbild zu einem anthropozentrischen - auf den Menschen zentrierten - Weltbild brachte es seit dem Humanismus des 15. Jahrhunderts dann aber mit sich, dass in be- 16 „Urbana etiam dissimulation est […]“, Cicero, de orat. 2 269, Cicero, De Oratore - Über den Redner, übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1997, S. 382-383. Hier wird „dissimulatio“ sinngemäß mit „Ironie“ übersetzt. 17 Quintillian, inst. VI 3, 85; vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1995, Bd. 1, S. 748-149. 18 Jörn Müller, Lüge und Wahrhaftigkeit. Eine philosophische Besichtigung vor dem Hintergrund der Sprechakttheorie, in: Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht, hg. von Jörn Müller und Hanns-Gregor Nissing, Darmstadt 2007, S. 27-55. <?page no="25"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 25 stimmten Zusammenhängen erneut die Verstellung als positiv und rechtmäßig erachtet wurde. Einen Anteil daran hatten nicht zuletzt die in der Renaissance wiederentdeckten antiken Schriften, in denen das Verhaltensmuster als durchweg positiv beschrieben wurde. Im berühmten Buch „Der Fürst“ von Niccolò Machiavelli, das 1513 geschrieben wurde und 1532 erstmals gedruckt vorlag, erfolgte eine radikale Wende, bei der nicht mehr das Abwägen zwischen gut und schlecht im Vordergrund der Überlegungen des Herrschenden stehen sollte, sondern alleine der politische Zweck. 19 Innerhalb dieses Pragmatismus war es erlaubt, das Wort zu brechen und zu lügen. Oberste Maxime war es jedoch, schlau den Wortbruch zu verschleiern und zu verdecken. Die Möglichkeit, sich zu verstellen, wurde jedoch nicht nur den Herrschern als Machtmittel nahegelegt. Im 16. Jahrhundert begann sich in Europa die höfische Repräsentationskultur zu verbreiten. Zahlreiche Personen, insbesondere Adlige, wurden in verschiedenen Positionen an den Residenzen der großen und kleineren Fürstentümer und Königshäuser beschäftigt. Um in der höfischen Gesellschaft mit ihrer Etikette, den Ritualen und Zeremonien sowie der Diplomatie, Bündnisse und Intrigen überhaupt bestehen zu können, war die Verstellung eine Überlebensstrategie. Dabei wurde die dissimulatio explizit gegen die Lüge abgesetzt da sie nicht darauf ausgerichtet war, anderen zu schaden, sondern eher darauf, selbst keinen Schaden zu nehmen. Baldesar Castiglione - Diplomat und Schriftsteller - führte die Notwendigkeit von Simulation und Dissimulation weiter aus und machte sie zu Tugenden eines jeden Hofmannes. 20 Unter dem Begriff der „sprezzatura“ lobte er in seinem Buch „Der Hofmann“ im Jahr 1528 die Fähigkeit und Eigenschaft eines jeden Höflings, alles leicht und mühelos erscheinen zu 19 „Ma è necessario questa natura saperla bene colorire, ed essere gran simulatore e dissimulatore […]“, Machiavelli, Il Principe, XVIII; vgl. Niccolò Machiavelli, Il Principe - Der Fürst, übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 136. 20 Jochen Mecke, Lüge und Literatur. Perspektivenwechsel und Wechselperspektive, in: Die Lüge (wie Anm. 18), S. 61. <?page no="26"?> 26 Ralph-Miklas Dobler lassen: was man macht und sagt, geschieht scheinbar ohne Anstrengung und quasi ohne daran zu denken, wie die antiken Autoren ihre Rede vorbereiteten, indem sie ihr eigentliches Wissen verschleierten - „dissimulando il sapere“. 21 Noch heute ist die Sprezzatura ein Begriff, der die italienische Lässigkeit und Leichtigkeit beschreibt, wobei die Mühe und Anstrengung, welche hinter dem Auftreten steht, perfekt verdeckt werden. Einen Höhepunkt erreichte die Verhaltensnorm der Verstellung im absolutistischen System des Barock. Die gesellschaftlichen Konventionen erforderten das Kontrollieren, also Dissimulieren der Gefühle und Meinungen sowie das Simulieren von bestimmten Fähigkeiten, Standpunkten oder gar materiellem Wohlstand. In Cesare Ripas „Iconologia“, die 1593 publiziert wurde und 1603 erstmals mit Illustrationen zu den versammelten figürlichen Allegorien erschien, wird die „Simulatione“ als „Frau mit einer Maske vor dem Gesicht, die zwei Mienen zeigt“ beschrieben. 22 Dies ist insofern von Bedeutung, als das Täuschen und Verstellen hier erstmals technisch mit einem Gegenstand erfolgt, nämlich der Maske. Diese dient als zweites Ich und in der Tat lautet das lateinische Wort für Maske „persona“. 23 Jemand der sich verstellt oder Dinge vortäuscht, benutzt eine Maske, wird eine andere Person und spielt eine Rolle wie im Theater. Prinzipiell bieten heute die Sozialen Medien eine Bühne, auf der jeder sich eine Maske aufsetzen und in eine Rolle schlüpfen kann. 24 Der entscheidende Unterschied ist, dass der Ort ein virtueller ist. 21 „dissimulando il sapere“, Castiglione, Corteggiano, XXVI; Baldesar Castiglione, Il libro del Cortegiano, hg. von Walter Barberis, Venedig 1998, S. 59. 22 Cesare Ripa, Iconologia, hg. von Pietro Buscaroli, Mailand 1992, S. 407. 23 Vgl. Hannah Baader, „Anonym: ‚Sua cuique persona‘. Maske, Rolle, Porträt“, in: Porträt, hg. von. Rudolf Preimesberger Hannah Baader und Nicola Suthor, Berlin 1999, S. 239-246. 24 Hanns-Georg Nissing, Zur Einführung, in: Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht, hg. von Jörn Müller und Hanns-Gregor Nissing, Darmstadt 2007, S. 14. <?page no="27"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 27 Was Täuschen und Verstellen angeht, bietet die Zeit des Barock noch mehr Parallelen zur Gegenwart. Norbert Elias hat in seinem grundlegenden Werk „Die höfische Gesellschaft“ gezeigt, dass Adlige damals nur dann als Adlige anerkannt wurden, wenn sie auch wie Adlige auftraten. 25 Wer nicht seinem Rang entsprechend ausgestattet war, verlor jeden Respekt. Symbolisches Kapital wie Prestige, Ansehen und Reputation wurden durch materielle Güter simuliert, was für viele Familien den finanziellen Ruin bedeutete. 26 Der Zwang zur Verstellung war teuer. „Individuen und Gruppen [sind] objektiv nicht nur durch ihr Sein definiert, sondern auch durch das, was sie angeblich sind, also durch wahrgenommenes Sein.“ 27 Diese Verhaltensweise hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt, denn nach wie vor werden in geradezu barocken Maßen Waren auch von weniger finanzkräftigen Teilen der Gesellschaft konsumiert und erworben, um sich mit dem Flair der High Society zu umgeben, ein Verhalten, das Bourdieu mit dem Begriff des „symbolischen oder ostentativen Konsums“ beschrieben hat. 28 Letztlich gehört in diesen Kontext des Verstellens und Simulierens auch die Produktpiraterie, denn gefakte Uhren, Taschen, Kleider simulieren für wenig Geld Status und Reichtum. Sich zu verstellen, zu simulieren und zu dissimulieren ist eine Form des sozialen Handelns, also eines Handelns, das nach Max Weber auf die Reaktion Dritter ausgerichtet ist, die dann auf die Täuschung hereinfallen. 29 Im Barock führten die Aufwertung und die Verbreitung des Sich- Verstellens allerdings auch zu moralischer Kritik. Man beanstandete einen 25 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt 1999. 26 vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt 1999, S. 205-222. 27 Bourdieu (wie Anm. 26), S. 246. 28 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt 1997, S. 42- 74. 29 Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 1984. <?page no="28"?> 28 Ralph-Miklas Dobler generellen Lügenverdacht und beklagte die Scheinhaftigkeit der Wirklichkeit. Die Welt wurde zunehmend als Theater begriffen, in der die Wahrheit keine Rolle mehr spielte. Der Begriff des „barocken Theaters“ ist nicht nur eine gängige Metapher, Calderons „Gran Teatro del mundo“ inszenierte das Leben bereits 1655 als Theaterstück. 30 Die Aufklärung, die alle Normen auf den Prüfstand der Vernunft stellte, beurteilte die Frage von Wahrheit und Unwahrheit bzw. Lüge dann erneut auf grundlegende Weise. Für Immanuel Kant war im Rahmen seines kategorischen Imperativs das Lügen ausgeschlossen und verwerflich. 31 Die Verstellung hingegen erlaubt er, wenn damit eigene Schwächen verborgen werden. Unsere heutigen Moralvorstellungen hängen noch sehr stark an diesen Normen, die in der Aufklärung etabliert wurden. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Verstellung und Verschleierung ein „universales Verhaltensmuster“ des Menschen ist. 32 Schon immer wurden Dinge verschwiegen oder Dinge vorgegeben, die nicht der Wahrheit entsprachen. 33 Die Beurteilung dessen, was wir heute wahrscheinlich mit Realfake bezeichnen würden und dessen Kennzeichen es ist, dass es in sozialen, zwischenmenschlichen Kontext zu finden ist, variiert hierbei. Allerdings bleibt auch im Kontext von persönlicher Täuschung und Verstellung zu fragen, ob mit der Digitalisierung der Kommunikation ein katego- 30 Koen Vermeir, Die Wiederherstellung von Pluto, in: Spuren der Avantgarde. Teatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, hg. von Helmar Schramm, M. Lorber, J. Lazardzig, Berlin 2017, S. 119; Melveena McKendrick, Theatre in Spain, 1490-1700, Cambridge 1989, S. 140-177. 31 „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“, Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt 2014, S. 51; Müller (wie Anm. 18), S. 43-47. 32 Irmtraud Tarr Krüger, Von der Unmöglichkeit, ohne Lüge zu leben, Zürich 1997, S. 9; Hanns-Georg Nissing, Zur Einführung, in: Die Lüge (wie Anm. 18), S. 13. 33 Judith Mair und Silke Becker, Fake for Real. Über die private und politische Taktik des So-Tun-Als-Ob, Frankfurt 2007. <?page no="29"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 29 rialer Wandel eingesetzt hat. Durch das vermeintlich basisdemokratische Internet kann jedermann sich auf Plattformen, die dem Austausch von Wissen und Informationen dienen, ein Profil anliegen. Die so geschaffene digitale Identität ist in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass negative Eigenschaften verschwiegen werden und das Positive in Übermaß bis hin zur Täuschung vorgegeben wird. Ziel der Präsenz und des Agierens innerhalb der Sozialen Medien ist die positive Rückmeldung, das sogenannte Liken, das Anklicken von roten Herzen oder erhobenen Daumen. In diesen Positivräumen ist alle Negativität so weit wie möglich zurückgedrängt und eine bejahende, wertschätzende und lobende Emotionalität fördert das Verweilen und Übermitteln von Daten. 34 Die Kommunikation ist arm an realen Blicken, Gesten, Mimik und Tönen in Echtzeit, wodurch Verstellung und Täuschung vereinfacht werden. Auf den Plattformen der Sozialen Medien kommunizieren digitale Simulakren miteinander, also Imitationen von Menschen, deren Übereinstimmung mit der wirklichen Natur nicht überprüft werden kann. Folglich kann die Anzahl der Fake-Profile kaum überblickt werden. Das traditionelle Identitätskonzept, das an die Körperlichkeit gebunden ist, kommt in der Parallel- und Gegenwelt des Digitalen an seine Grenzen. Durch die neuen Möglichkeiten kann die Verstellung, bei der eine Person so tut als sei sie anders, erstmals in der Geschichte der Menschheit zu einer veritablen Teilung werden. Der nun bereits mehrfach erwähnte Bildschirm, das Display, dient hier nicht als Grenze und Durchblick in eine andere Welt, sondern er ist ein Schutzschild, hinter dem sich die Realität versteckt. 35 Die Echtheit und Wirklichkeit als Bezugspunkt kann im Internet sogar komplett verschwinden. Max Read erklärte Ende 2018, dass im Word Wide Web der Zustand der Inversion erreicht sei, da es mehr Bots als menschliche User gebe. 36 Wenn diese Programme eigene 34 Han (wie Anm. 6), S. 35. 35 Han (wie Anm. 6), S. 43. 36 Max Read, “How much of the Internet is Fake? Turns Out, a Lot of It, Actually”, New York Magazine, 26.12.2018, http: / / nymag.com/ intelligencer/ 2018/ 12/ howmuch-of-the-internet-is-fake.html (abgerufen am 20.3.2019). <?page no="30"?> 30 Ralph-Miklas Dobler Identitäten schaffen und durch diese kommunizieren, ist ein neues Stadium von Fake erreicht, in dem nicht mehr der Mensch versucht den Menschen zu täuschen, sondern diese Aufgabe an Maschinen übergibt. Dies bringt neue Probleme und Fragen zu künstlicher Intelligenz mit sich, die im gegebenen Rahmen nicht erörtert werden können. Von wirklichen Personen geschaffene Realfakes täuschen in der Regel jedenfalls nicht, um sich zu schützen, vielmehr handelt es sich um respektloses Handeln, dem jede Form zwischenmenschlicher Rücksicht - lateinisch „respectare“ - abgeht. 37 Die entkörperlichte digitale Kommunikation führt zu einer Distanzlosigkeit, in der Privates und Intimes ohne Bedenken öffentlich ausgestellt und kommuniziert werden. Den Opfern, die sich einem anonym bleibenden Gegenüber unverhältnismäßig offenbaren, Naivität und Dummheit zu unterstellen, greift gleichwohl zu kurz. 38 Das in komplexe Technologien eingebettete Soziale Handeln ist verführerisch. Die dort entstehenden Diskurse kennzeichnet eine Irrationalität, die kaum zu kontrollieren ist. Dies zeigt sich gegenwärtig auch beim Phänomen der sogenannten Fake News. 1.4 Nachrichten - Politik - Social Media - Fake News „Fake News gab es schon immer“ hört man in letzter Zeit oft. Tatsächlich kann und soll sich der Fürst laut Machiavelli nicht immer an die Wahrheit halten und tatsächlich existiert die politische Lüge ununterbrochen. 39 Wenn man beispielsweise vom momentan bekanntesten Fall Donald Trump zurückblickt, gab es zahlreiche US-Präsidenten, die große Firmen unter Druck setzten, hinter dem Rücken der Öffentlichkeit Kriege anzettelten, Kriege ohne Genehmigung des Kongresses begannen, die Öffent- 37 Han (wie Anm. 6), S. 7-14. 38 Victoria Schwartz, Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde. Das Phänomen Realfakes, München 2015. 39 Machiavelli (wie Anm. 19), S. 136 <?page no="31"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 31 lichkeit belogen und die politischen Gegner scharf attackierten. 40 Die Lüge gehört zur Politik und sie kann als gestalterisches Element politisches Handeln durchaus positiv beeinflussen. Allerdings musste sie bislang immer gut versteckt werden, was vor allem in der Moderne immer schwieriger wurde, da seit der Aufklärung nicht nur die Falschaussage eine neue ethische Qualität erhielt, sondern vor allem die Demokratie eine stärkere Kontrolle ermöglichte. Jürgen Habermas hat ausführlich dargestellt, wie eine sich wandelnde wachsamere politische Öffentlichkeit seit der französischen Revolution daran beteiligt war. 41 Die politische Lüge wurde zudem durch das Aufkommen des Journalismus in die Schranken gewiesen. Sowohl der informative als auch der interpretative Journalismus, erst recht der investigative Journalismus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatten sich der Recherche und damit der Übermittlung von wahren Fakten verschrieben. Trotzdem muss man in der deutschen Geschichte nicht über hundert Jahre zurückgehen, um die katastrophale Wirkung von Lügen und Falschaussagen überprüfen zu können. Das gesamte nationalsozialistische Regime basierte auf gezielter Falschinformation der Bevölkerung, sei es, was vermeintliche Verschwörungen und Verbrechen des jüdischen Volkes angeht, sei es was Fragen der arischen Rasse betrifft, sei es was den Verlauf des zweiten Weltkrieges berührt. Die politische Lüge diente dem „Image- Making“, wodurch die Wirklichkeit zu einem Bild wurde, bei dem man mit den Worten von Hannah Arendt „ungestraft alles unter den Tisch fallenlassen kann, was das gerade erwünschte image eines Ereignisses, einer Nation oder einer Person zu stören geeignet ist. Denn dieses ‚Bild‘, das die politische Propaganda verfertigt, soll nicht wie ein Porträt dem Original schmeicheln, sondern es ersetzen.“ 42 40 Antonia Grunenberg, Die Lüge als System. Hannah Arendt und die Krise der Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6, 2017, S. 63. 41 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1990. 42 Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 1994, S. 352-353; Grunenberg (wie Anm. 40), S. 64. <?page no="32"?> 32 Ralph-Miklas Dobler Politische Lügen funktionieren immer dann gut, wenn die Falschinformationen auf fruchtbaren Boden fallen, das heißt, wenn sie Erfahrungen, Ängste und Unzufriedenheit der Bevölkerung ansprechen - also Gefühle - und so in einen schwer zu kontrollierenden, irrationalen Diskurs münden. Dabei ist es egal, ob das Gefühlte Tatsachen spiegelt - also etwa die Folgen der Weltwirtschaftskrise - oder ob es sich um Einbildung handelt. Der Boden wird umso fruchtbarer, je weniger die Regierungen Abhilfe schaffen können. Die instabile Regierung der Weimarer Republik vermochte es in den 20er Jahren bekanntlich nicht. Der Totalitarismus-Experte Timothy Snyder veröffentlichte am 15.11.2016 auf Facebook zwanzig Vorschläge zur Bewahrung der Freiheit in der Unfreiheit. 43 Nach einem einleitenden Hinweis auf die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts forderte er in seinem 8. Punkt auf: „Glauben Sie an die Wahrheit. Sich von der Wahrheit abwenden, heißt sich von der Freiheit abwenden. Wenn nichts wahr ist, lässt die Macht sich nicht kritisieren, weil es keine Grundlage für diese Kritik gibt. Wenn nichts wahr ist, ist alles Spektakel. Und die dickste Brieftasche bezahlt die blendendsten Scheinwerfer.“ 44 Tatsächlich gibt es im 21. Jahrhundert besorgniserregende Entwicklungen. Neu ist der offensive und systematische Charakter politischer Fake News und Halbwahrheiten. Sobald diese enttarnt werden, werden sie entweder zu alternativen Fakten erklärt, oder aber das Aufdecken der Wahrheit durch die Kritiker wird selbst als Lüge definiert. 45 Donald Trump, um bei dem berühmtesten Beispiel zu bleiben, verbreitet Unwahrheiten und bezichtigt die Presse, wenn sie dies kritisiert, der Verbreitung von Fake News. Trumps Aussagen und Versprechen treffen auf größere unzufriedene Teile in der Bevölkerung, die sich nach Veränderung sehnen, und sind 43 https: / / www.facebook.com/ timothy.david.snyder, 15.11.2016 (abgerufen am 20.3.2019). 44 Eine vollständige deutsche Version in Lettre international, 115, 2016, S. 11. 45 Grunenberg (wie Anm. 40), S. 65; Eva Schauerte, Sebastian Vehlken, Faktizitäten. Einführung in den Schwerpunkt, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften, 19, 2018, S. 10. <?page no="33"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 33 gepaart mit Angriffen gegen die etablierte Washingtoner Politik-Klasse. Fake News können ein Instrument des Populismus sein, weshalb ein ähnlicher Habitus wie in den USA auch andernorts zu finden ist. 46 Nun müsste man das nicht dramatisieren, da die Verhältnisse etwa im demokratischen Deutschland 2017 bei weitem nicht denen der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entsprechen. 47 Entscheidend ist allerdings abermals, dass die gefestigten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen heutzutage auf ganz neue Möglichkeiten zur Kommunikation, Informations- und Wissensvermittlung und damit zur Meinungsbildung treffen. Die Geschwindigkeit und die Grenzenlosigkeit digitaler Kommunikation vor allem in den Sozialen Medien, begünstigen eine zuvor unbekannte politische Unmittelbarkeit, in der langfristiges Denken sowie Abwägen und Kompromisse zugunsten der Befriedigung von situativen Bedürfnissen aufgegeben werden. Informationen, und das heißt auch falsche Informationen, erreichen heute in Sekundenbruchteilen Millionen von Menschen. Sascha Lobo hat hierfür den Begriff der „Sofortpolitik“ geprägt. 48 Dies sind natürlich noch keine Anzeichen einer drohenden Diktatur. Bei der totalitären Massenbewegung untersteht bekanntlich eine geschlossene Volksmasse einem Führer, den sie geradezu vergöttlicht und mythisiert. Dagegen bilden die im World Wide Web organisierten Menschen einen Schwarm, der aus Individuen besteht. 49 Die einzelnen Nutzer sind kaum 46 Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016; Dirk Jörke, Veith Selk, Theorien des Populismus. Eine Einführung, Hamburg 2017; Georg Seeßlen, Trump! Populismus als Politik, Berlin 2017. 47 Christopher R. Browning, Weimar in Washington. Die Totengräber der Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, 2018, S. 41-50. 48 Sascha Lobo, Trend zur Sofortpolitik. Hilfe wir vertrumpen! , in: Spiegel Online, 4.1.2017, http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ netzpolitik/ 2017-wird-das-jahr-dersofortpolitik-meint-sascha-lobo-a-1128523.html (abgerufen am 8.4.2019); Bernhard Pörksen spricht von einem „Sofort-Sendezwang“; Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018, S. 49. 49 Han (wie Anm. 6), S. 18-25. <?page no="34"?> 34 Ralph-Miklas Dobler kontrollierbar und können frei ihre Meinung äußern. Dabei erreichen sie eine Öffentlichkeit, die größer ist als die Zuschauer von Nachrichtensendungen und als die Leser von Tageszeitungen. Bei den Nutzern von Sozialen Medien entsteht folglich der Eindruck einer direkten Demokratie, bei der jeder einzelne seine politische Meinung kundtun kann. Die Kommentare unter den Beiträgen von Politikern demonstrieren eindrücklich wie dies funktioniert: Endlich scheint ein Weg gefunden, wie das Volk gegen „die da oben“ aufstehen kann. Hierbei kennzeichnet die digitale Kommunikation eine „sofortige Affektabfuhr“, da es möglich ist, in einem Erregungszustand unmittelbar seinem Ärger Luft zu machen. „Das digitale Medium ist in dieser Hinsicht ein Affektmedium.“ 50 Mit der direkten Art der Kommunikation, deren Inhalte nicht überprüft werden, können aber durch Falschmeldungen Empörungswellen produziert werden. Diese halten dem Fake entsprechend nur so lange an, bis ihr Inhalt einer Prüfung unterzogen wurde, jedoch kann diese Zeit entscheidend für Wahlen sein. Politiker, Parteien und Bewegungen überdecken durch irrationale, gefühlsbetonte Fakes den rationalen Wunsch nach Wahrheit, und verdichten den Schwarm für eine gewisse Zeit zur Masse. Emotional aktiviert und vereinheitlicht werden die User im digital vernetzten, virtuellen Raum auf ganz altertümliche Weise: Es werden Ängste, Unzufriedenheit, Sehnsüchte und Hoffnungen angesprochen. Ein Kennzeichen von Fake News ist es, im kommunikativen Raum zwischen Politikern, Populisten, Diktatoren, Demagogen etc. und den Usern von Social Media verortet zu sein. Sie dienen dazu, sich eine möglichst große Masse an digitalen Unterstützern und damit an Stimmen und Meinungen gefügig zu machen, wodurch Fake News zu einem Machtmittel werden. Verschiedene Definitionen von Macht stimmen mit dieser Sachlage übrigens überein: Max Weber zufolge bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wiederstand durchzusetzen“. Die Betonung heute muss auf „Chance“ liegen, 50 Han (wie Anm. 6), S. 10. <?page no="35"?> 1 Fake aus einer historischen Perspektive 35 denn eben diese bieten Soziale Medien. 51 Hannah Arendt hingegen sah die Macht nicht beim Individuum, sondern in der Schaffung eines Handlungsraumes, in dem dann gemeinsam agiert wird. 52 Das Internet bzw. die Plattformen der Sozialen Medien bieten einen solchen Raum. In diesem wird Wahrheit verhandelt und instrumentalisiert. Der neuartige „Propagandastil“ leugnet jede Realität und baut Gewissheiten ab. 53 Die große Gefahr von Fake News besteht darin, dass diese ein Mittel sein können, um den ungeordneten Schwarm der Nutzer von Sozialen Medien zu einer Masse zu verdichten, die politische Durchschlagskraft entwickelt. Ob mehr politische Bildung und Medienkompetenz geeignete Mittel sind, um dem entgegenzuwirken, wird sich zeigen. Die gesehenen Beispiele zeigen, dass das digitale Fake disruptiv ist und Verhaltensmuster ermöglicht und mit sich bringt, die bislang völlig unbekannt und teilweise irrational sind. Wahrheit und Lüge, Echt und Falsch, Realität und Schein, sind keine Werte mehr, deren Trennung als wichtig erachtet wird. Es wird künftig nicht damit getan sein, Programme und Verfahren zu entwickeln, die Fake News oder Fake Profile erkennen. Fake News wirken auch dann, wenn man weiß, dass sie falsch sind. Fake ist ein gesellschaftliches Problem, das weit über die neuen Technologien hinausgeht. Die Omnipräsenz von Fake in Bildräumen, zwischenmenschlichen Verhältnissen und im Wissens- und Informationsaustausch wird langfristig zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Wahrheit führen. Ästhetik und Künstlichkeit werden bestimmende Eigenschaften der Zukunft werden. Bereits jetzt ist eine größer werdende Skepsis gegenüber objektiver Realität und gültigen Unterscheidungen zwischen wahr und falsch spürbar. 54 Die Wirklichkeit, insbesondere wie sie im Internet reprä- 51 Weber (wie Anm. 29), S. 69; Grunenberg (wie Anm. 40), S. 69. 52 Grunenberg (wie Anm. 40), S. 69; 53 Bernhard Pörksen, Die neuen Wahrheitskriege, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 19, (2) 2018, S. 74. 54 Schauerte/ Vehlken (wie Anm. 45), S. 11. <?page no="36"?> 36 Ralph-Miklas Dobler sentiert wird, ist voller Widersprüche, in denen echt und falsch kaum noch unterschieden werden können. Historisch betrachtet zeigt sich, dass dieser Wandel nicht per se negativ beurteilt werden darf. Vom postfaktischen Zeitalter zu sprechen und damit die Aufgabe jedes Bezugs zur Realität in Aussicht zu stellen, ist vorerst eine Übertreibung. 55 Sicher ist, dass die Verbreitung von Information und Wissen sich mit der Digitalisierung verändert hat: sie ist schnell, grenzenlos und reaktionsfreudig, was eine bislang unbekannte Gegenwärtigkeit und Präsenz erzeugt. 56 Künftig wird es wichtig sein, trotz des Verschwimmens von Wahrheit und Fiktion das kritische Denken und die Orientierung zu behalten. Dieser Habitus muss noch gefunden werden. 55 Pörksen (wie Anm. 48), S. 39-45. 56 Pörksen (wie Anm. 48), S. 46-47; Douglas Rushkoff, Present Shock. Wenn alles jetzt passiert, Freiburg 2014. <?page no="37"?> 2 2 The Concepts of Truth and Fake in Lit erature Nicole Brandstetter <?page no="39"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 39 2.1 Preliminaries Fiction in form of narratives is omnipresent not only in the field of literature but in society in general, in economics, and in politics. Nowadays, we are confronted with the question of fake news and post-truth: politicians are questioned, stories in society and economics have to be compelling but not necessarily verifiable, and even the scientific discourse itself is prone to be challenged. This area of tension, truth - fake - lies, has entered not only public discourse but has naturally ever since been part of the arts. Yet in our era of digitisation this public discourse has gained new power. As Daniel Haas shows, in the recently released new album Tru the artist Cro, who is often called “the sincere liar” and always hides his face behind his well-known mask as proof that physiognomic traits cannot represent biographic reality any more, reacts and responds with songs like “Tru” or “Computiful” to our digital era: How can I live and exist if my life does not belong to me anymore but to platforms like Instagram, Twitter, or Snapchat? 1 This album is about realness as aesthetic and moral category, about sincerity and authenticity - a question that has also shaped the aesthetic discourse in literature from its very beginning. The novel has always tested the distinction between truth, fiction, and lie. How does literature nowadays react to the omnipresent discourse of fake, truth, and lies? To understand current aesthetic tendencies, it is indispensable to shortly trace back the debate about the concepts of truth and lies in literature. 1 Daniel Haas, Echt jetzt? Der Rapper als ehrlicher Lügner: “Tru“, das großartige neue Album von Cro, ist da, in: Die Zeit, 38, 2017, p. 53. <?page no="40"?> 40 Nicole Brandstetter 2.2 Truth, Verisimilitude, and Authenticity The conception of truth is of course a philosophical problem. 2 In an aesthetic understanding, Aristotle gave an early definition in his Metaphysics: “To say of what is that it is not, or of what is not that it is, is false, while to say of what is that it is, and of what is not that it is not, is true; […].” 3 This definition illustrates the correspondence theory approach that defines truth as a concept denoting the relationship of statements and thoughts, to objects and things: truth means accurately copying or describing what is known as objective reality in one’s thoughts. For an understanding of truth in literature, this would mean to copy the objective reality as accurately as possible, even eliminating traces that would lead to the assumption that what we read is not true. 4 Of course, autobiographies as a special non-fictional form of literature in which authors tell the story of their life, aim at copying reality as exactly as possible and therefore claim to be true. But also in fictional novels this idea of copying reality is prevalent. Some of the earliest English novels were published anonymously, such as, for example, Moll Flanders in 1722; their titles implied that they were true stories about adventures of their heroes. It took centuries to establish the conventions of fiction sufficiently to allow readers to take pleasure in novels that were explicitly untrue. Another fictional genre that pretends truthfulness is the historical novel. Often its aim is to let the reader experience and re-live ancient times or to characterise historical personalities even though the percentage of true facts that are incorporated might vary. 2 To answer that question comprehensively cannot be the issue of this article. The goal is to understand in how far aesthetic debates have been shaped by the concept of truth and not to fully grasp the philosophical implications here. 3 Aristotle, Metaphysics, book IV, part 7, Aeterna Press 2015, p. 58. 4 Cf. A. N. Prior, Correspondence Theory of Truth, in: The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 2, ed. by Paul Edwards, New York 1967, p. 223-232. <?page no="41"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 41 The 18 th and 19 th century literature in Britain and France was centred on the question of reality and realistic description. Jane Austen, who lived from 1775 to 1817, depicted personal relationships and intrigues with such a realistic and humorous style that she was characterised as “historian of the private and the individual” 5 , which implies for the reader that her novels and stories could be taken as a depiction of the truth. The literary trend of realism, especially in the Victorian Age in the first half of the 19 th century, understood the function of literature as to represent the general by illustrating it in a particular situation, thereby establishing the concept of truthfulness or verisimilitude — the reader should be convinced that what he or she reads can be true, but does not necessarily have to be true historically. 6 Up to the 20 th century, literature and authors were confronted with the question if what they tell was or could be true and if these insights would alter the process of reception. In this respect, Louis Begley analysed his own work and the literary work of other authors in his famous lecture on poetics, which he gave as visiting professor in Heidelberg in 2006: he examined the truthfulness of characters and incidents of the reviewed works, as well as the impact of these findings on the process of reception. 7 Philip 5 Cf. Ewald Standop, Edgar Mertner (eds.), Englische Literaturgeschichte, Heidelberg 1992, p. 449. 6 Cf. ibid. p. 459-468. This conception mirrors the idea of ‘vraisemblance’ of the French “doctrine classique” in the 17 th century. ‘Vraisemblance’ means that plays do not have to depict a historical or psychological truth, but an illusion of that truth (cf. Jürgen Grimm (ed.), Französische Literaturgeschichte, Stuttgart 3 1994, p. 144-145). In that respect, Charles Dickens or the Brontë Sisters, for example, described the English society in their novels, thereby criticising social injustices. Thus, realistic or mimetic writing creates its own code of an effect of reality, even though what is told is not necessarily and literally true (cf. Roland Barthes, L’effet de réel, in: Communications, 11, 1968, p. 84-89). 7 Cf. Louis Begley, Zwischen Fakten und Fiktionen (Heidelberger Poetikvorlesungen), Frankfurt am Main 2008. <?page no="42"?> 42 Nicole Brandstetter Roth illustrates in his essay “Writing American Fiction” (1961) the supremacy reality can exert on the creative process of writing when he stated […] that the American writer in the middle of the 20th century has his hands full in trying to understand, and then describe, and then make credible much of the American reality. It stupefies, it sickens, it infuriates, and finally it is even a kind of embarrassment to one’s own meagre imagination. The actuality is continually outdoing our talents, and the culture tosses up figures almost daily that are the envy of any novelist. 8 Reality is, according to Roth, stronger than and superior to an individual so that any novelist is challenged by not only fully understanding but in consequence also interpreting reality and in the end establishing verisimilitude in his or her writings. Even science fiction novels see potential for tension in the conception of truthfulness when dystopian novels like Brave New World, Nineteen Eighty-Four, or Never let me go as truthful fictions spread a realm of possibilities that might be materialised by the rapid and uncontrollable technological advancement. Verisimilitude and its implications in the 20 th century are still guiding principles for fictional writings. Besides truth and verisimilitude, the concept of authenticity has constantly influenced the literary discourse, especially in the 20 th century. In medieval times, the concept of authenticity was mainly shaped by the use of the adjective ‘authentic’ which denoted the originality of handwritings before it entered the philosophical discourse in the 18 th century. 9 As a philosophical transition from medieval moralism to modern individualism, the individual subject gained importance in comparison to religious or social obligations: 8 Philipp Roth, Writing American Fiction, in: Commentary, 1 March 1962, on https: / / www.commentarymagazine.com/ articles/ writing-american-fiction/ (accessed 23.09.2018). 9 Cf. Eleonore Kalisch, Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung, in: Inszenierung von Authentizität, ed. by Erika Fischer-Lichte, Isabel Pflug, Tübingen/ Basel 2000, p. 31-44, here p. 32ff. <?page no="43"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 43 “Defining myself means finding what is significant in my difference from others.” 10 Finally, in the 20 th century, Sartre explained authenticity as one of key concept of the existentialist philosophical theory: every single individual must be aware of his or her responsibility resulting from the absolute freedom of choice everybody has since religious determination does not exist. Applied to literature, Sartre defined the theory of the ‘literature engagée’ in which the authentic writer takes over his or her responsibility with respect to the reader: “L’écrivain ‘engagé’ sait que la parole est action: il sait que dévoiler c’est changer et qu’on ne peut dévoiler qu’en projetant de changer.” 11 Transferred to the field of aesthetics, the Sartrean concept of authenticity describes the literary text itself as a stylistic unity which has to prove its individuality and originality in contrast to modern preceding or contemporary works in the literary field. This reflection illustrates the birth of aesthetic innovation as a crucial and defining factor for modern literary creation, which Theodor W. Adorno called the authority of newness. 12 But this modern paradigm of innovation is also restrictive as aesthetic devices once introduced are thereby accepted and transformed to elements of the classical canon of banned procedures. Thus, modernity has created its new authentic writing tradition of breaking the accepted aesthetic norms with literary and stylistic innovation. 13 Well- 10 Charles Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge/ London 1991, p. 35-36. 11 Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la littérature? , Paris 1948, p. 28. 12 Cf. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 2000, p. 38. 13 Cf. ibid., p. 38. This paradigm of the modern literary field was described in detail by Bourdieu (cf. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 2 1998) and further investigated and applied to especially French literature by Jochen Mecke (cf. Jochen Mecke, Le degré moins deux de l’écriture. Zur postliterarischen Ästhetik des französischen Romans der Postmoderne, in: Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, ed. by Vittoria Borsò, Björn Goldammer, Baden-Baden 2000, p. 402-438) and Nicole Brandstetter (cf. Nicole Brandstetter, Strategien inszenierter Inauthentizität im französischen Roman der Gegenwart, München 2006). <?page no="44"?> 44 Nicole Brandstetter known examples are the withdrawal of the omniscient narrator, the empowerment and cooperation of the reader, the loss of logical time and space structure, the decrease of the anecdote or motivation, the decline of psychologically elaborated characters, or the deconstruction of classical genres. Even the literary language itself was affected as it became the focus of the narration by means of a highly elaborated style, such as in James Joyce’s fiction or by the abundant use of the mise en abyme. The resulting effect of auto-referentiality functioned as refutation of mimetic writing, of realistic referentiality. With the end of the 20 th century and the restrictive modern aesthetic paradigm of writing, the possibilities of interpreting truth, verisimilitude, and authenticity seem to have been exploited. Thus, writers attempted new aesthetic approaches that start with reflections on fictitiousness. 2.3 Fiction, Lying, and Inauthenticity Retracing all possible definitions of fiction and its implications would go far beyond the scope of this article, but generally speaking, in contrast to factual narration, fiction does not have a verifiable reference to reality and is therefore neither true nor false. 14 The most current interpretation today is that of a representation portraying an imaginary or invented universe or world. This understanding goes back to its Latin origin: “In Latin, fictio had at least two different meanings: on the one hand, it referred to the act of modelling something, of giving it a form (as in the art of the sculptor); on the other hand, it designated acts of pretending, supposing, or hypothesizing.” 15 In Western culture, the Greek understanding of mimesis defined in Plato’s Republic and later in Aristotle’s Poetics is decisive for analysing and 14 Cf. Gérard Genette, Fiction et diction, Paris 1991, p. 19-20. 15 Jean-Marie Schaeffer, Fictional vs. Factual Narration, in: Handbook of Narratology, 2 nd Edition, Volume 1, ed. by Peter Hühn, Jan Christoph Meister, John Pier, Wolf Schmid, Berlin/ Boston 2014, p. 179-196, here p. 181. <?page no="45"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 45 describing fiction. 16 For Plato, the representation of events is an imitation of appearances and thus beyond the scope of being true or false. Furthermore, concerning narration he distinguishes between (a) a pure story (haple diegesis), in which the poet speaks in his own name (as in dithyrambs) without pretending to be someone else; (b) a story by mimesis (imitation), in which the poet speaks through his characters (as in tragedy and comedy), meaning that he pretends to be someone else; (c) a mixed form combining the two previous forms (as in epic poetry, where pure narration is mixed with characters’ discourse). 17 Plato preferred the pure narration as he explained that mimesis is a form of make-believe, a simulacrum, and thus opposed to truth. 18 Aristotle’s concept of mimesis is in several points different from Plato’s understanding. For Aristotle, mimesis is an imitation or representation of the possible, therefore a form of cognition, in consequence being even superior to history “because poetry expresses the general (i.e. the verisimilar or necessary relations between events), while history only expresses the particular (that which has happened) […].” 19 Thus, he contradicts Plato’s derogative resume of literature and poetry being a lie. To sum up, it is the nature of fiction that the question of referentiality is irrelevant, whereas in non-fictional narrative contexts it is important to know whether the narrative propositions are referentially blank or not. The reader on the other side agrees with this convention with what Coleridge named the “willing suspension of disbelief for the moment” 20 . If in the 16 Cf. ibid., p. 184. 17 Ibid. 18 Cf. ibid. 19 Ibid. 20 Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria, Chapter XIV, Project Gutenberg 2004, on http: / / www.gutenberg.org/ files/ 6081/ 6081-h/ 6081-h.htm (accessed 23.09.2018). <?page no="46"?> 46 Nicole Brandstetter definition of fiction the distinction of reference and truth is irrelevant, can literature then be accused of lying, of not telling the truth? This question can be answered in two respects: on the level of the story that is told and on the level of narration. Lying is of course a topic in literature. We naturally think of The Adventures of Baron Munchausen, the story about an 18 th century baron who tells outrageous, unbelievable stories which he claims are all true. In Oscar Wilde’s The Decay of Lying, one character states “that Life imitates Art far more than Art imitates Life” 21 and later on that “[t]he final revelation is that Lying, the telling of beautiful untrue things, is the proper aim of Art.” 22 Thus, fictive worlds enter the living environment of people and become true. Lying therefore is an art and Wilde dedicated his work The Importance of Being Earnest to it. This work is full of tissues of lies of all protagonists; ironically, one of them is called “Ernest”. Wilde believes that lies do not hide reality but realise the imaginative. Another example for lying as a topic is George Orwell's dystopian novel Nineteen Eighty-Four, in which the Party's Ministry of Truth systematically re-creates all potential historical documents, in effect re-writes history, to match the often-changing state propaganda. Of course, these changes were complete and undetectable. This can only be an exemplary analysis of some of the most prominent examples. Naturally, there are numerous other examples which prove that literature deals with the topic of lying on the content level. When analysing lying on the level of the narration, the question of authenticity in its existentialist understanding has to be reconsidered. In opposition to authenticity, Sartre defined the concept of inauthenticity, the socalled ‘mauvaise foi’, as a specific form of lying, which is generally defined as the attempt to deceive somebody intentionally by telling something 21 Oscar Wilde, The Decay of Lying: An Observation, on http: / / www.onlineliterature.com/ wilde/ 1307/ (accessed 23.09.2018). 22 Ibid. <?page no="47"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 47 which the liar knows is not true. 23 Sartre sees the difference between inauthenticity and lying in the lacking duality of liar and the person who is lied to: “Seulement, ce qui change tout, c’est que, dans la mauvaise foi, c’est à moi-même que je masque la vérité. Ainsi, la dualité du trompeur et du trompé n’existe pas ici. La mauvaise foi implique au contraire par essence l’unité d’une conscience.” 24 This means that in existentialist terms inauthenticity is to lie to oneself by neglecting responsibility and freedom of choice. Consequently, an aesthetic understanding of lying can be defined as a refutation of modern authentication by innovation and at the same time, as an acceptance of modern authentication techniques as imposed relevance. 25 Postmodern authors did not realise aesthetic inauthenticity in a naïve way but stage-managed and exaggerated modern aesthetic strategies to play with consciously. Were innovative authentication strategies characterised by truthful intention and therefore a credible form of expression, the playful stylistic conversion as inauthentic aesthetic programme was truthful about an intentional conscious and thoughtful writing, but combined with an incredible stylistic elaboration, so that the result is an effect of implausibility. 26 For this phenomenon, Patricia Waugh established the term ‘metafiction’: “Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in or- 23 Cf. Steffen Dietzsch, Lüge. Umriß einer Begriffsgeschichte, in: Dichter lügen, ed. by Kurt Röttgers and Monika Schmitz-Emans, Essen 2001, p. 15-35, here p. 15, and Monika Schmitz-Emans, Im Zwischenreich: Lügen, Fälschungen, Fiktionen, Texte und Bilder. Oder: Die Macht der Paratexte, in: ibid., p. 187-212, here p. 187. 24 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, p. 87. 25 Cf. Mecke (see footnote 13), p. 411ff. and 422ff., and Nicole Brandstetter, Aesthetics of Inauthenticity in Contemporary French Literature - The Example of Marie Redonnet, in: Cultures of Lying, ed. by Jochen Mecke, Glienicke/ Berlin 2007, p. 325- 336, here p. 331-332. 26 Cf. Kristof Rouvel, Zur Unterscheidung der Begriffe Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität, in: Authentizität als Darstellung, ed. by Jan Berg, Hans-Otto Hügel, Hajo Kurzenberger, Hildesheim 1997, p. 216-226, here p. 220ff. <?page no="48"?> 48 Nicole Brandstetter der to pose questions about the relationship between fiction and reality.” 27 Thus, narrative conventions are consciously disrupted to destroy closed fictional worlds and to display their artificiality: Metafictional novels tend to be constructed on the principle of a fundamental and sustained opposition: the construction of a fictional illusion (as in traditional realism) and the laying bare of that illusion. In other words, the lowest common denominator of metafiction is simultaneously to create a fiction and to make a statement about the creation of the fiction. 28 This procedure is not new, as Waugh emphasises - just think of Miguel de Cervantes’ Don Quixote - but specifically characterises Anglo-American, French, and Italian literature of the second half of the 20 th century. This can be seen as an aesthetic post-modern reaction to the lack of avant-garde or opposition, or as a reaction to the increasing difficulty of distinguishing between truth and fiction in our living environment. 29 This was also stated by Jean Baudrillard who claimed that we are surrounded by simulacra, and considered truth to be largely simulated. 30 Some examples for Baudrillard’s understanding of simulacra are that scandals, such as Watergate, serve the purpose of giving the public a false sense of possible correction 31 or that special forms of reality TV formats create a “frisson of the real” 32 which leads to the “[p]leasure in the microscopic simulation that allows the real to pass into the hyperreal.” 33 27 Patricia Waugh, Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction, London 1984, p. 2. 28 Ibid., p. 6. 29 Cf. ibid., p. 9. 30 Cf. Jean Baudrillard, Simulacra and simulation, translated by Sheila Faria Glaser, Michigan 2017, p. 2-6. 31 Cf. ibid., p. 14-16. 32 Ibid., p. 28. 33 Ibid., p. 28. <?page no="49"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 49 In postmodern times, authors choose a third way, as the critic and author David Lodge describes: There is, however, a certain kind of contemporary avant-garde art which is said to be neither modernist nor antimodernist, but postmodernist; it continues the modernist critique of traditional mimetic art, and shares the modernist commitment of innovation, but pursues these aims by methods of its own. It tries to go beyond modernism, or around it, or underneath it, and is often as critical of modernism as it is of antimodernism. 34 In his analysis he identifies six “formal principles underlying postmodernist fiction” 35 : contradiction, permutation, discontinuity, randomness, excess, and short circuit. 36 But being also an author, he as well exemplifies those possibilities in his novels, and most prominently in his comic novel Changing Places (1975). It is a story about two professors of literature, Philip Swallow from the British University of Rummidge and Morris Zapp from the American Euphoric State University, who exchange their places — first at their respective universities and in the end in their families. Ironically, within this postmodern fiction, Morris Zapp is presented as a scholar who investigated Jean Austen’s realistic writing in order to definitely put an end to any further unprofessional analysis of the topic, and who despises “naïve theories of realism because they threatened his masterwork: obviously, if you applied an open-ended system (life) to a closed one (literature) the possible permutations were endless and the definitive commentary became an impossibility.” 37 Within the first two chapters, the narrator constantly hints at the artificiality of the story: the narrator addresses not only 34 David Lodge, The Modes of Modern Writing. Metaphor, Metonymy, and the Typology of Modern Literature, London 2015, p. 270. 35 Ibid., p. 279. 36 Cf. ibid., p. 280-300. 37 David Lodge, Changing Places, London 1975, p. 48. <?page no="50"?> 50 Nicole Brandstetter the reader but himself, too, ironically hints at his “privileged narrative altitude (higher than that of any jet)” 38 while describing the respective flights of the two protagonists, uses onomatopoetic descriptions, and changes perspectives inconsistently. In chapter 3, the story is not told by a narrator but by letters of the protagonists, which reminds the reader of that very old literary tradition of the epistolary novel. While the fourth chapter is just made up of newspaper articles to retrace the action, chapter 5 goes back to traditional storytelling. The last chapter, chapter 6, is composed as film script and the novel ends with “Philip shrugs. The camera stops, freezing him in mid-gesture. The End.” 39 This novel incorporates every aspect of metafiction and postmodern principles of writing: it draws attention to its status as artefact and it plays with all genres - fictional and factual. 2.4 Post-truth, Post-fictional Writing, and Fake In the last years, a change in designation has been broadly discussed - rather than of Postmodernism, critics and scholars speak of the ‘Post-truth Era’. Post-truth is defined by the Oxford Dictionaries as “[…] relating to or denoting circumstances in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief” 40 and was elected as word of the year in 2016. According to Oxford Dictionaries, the term ‘post-truth’ was used for the first time in 1992 in an essay by the late Serbian-American playwright Steve Tesich in the Nation magazine. Tesich, writing about the Iran-Contra scandal and the Persian Gulf War, said that “we, as a free people, have freely decided that we want to live in some 38 Ibid., p. 8. 39 Ibid., p. 251. 40 Oxford Dictionaries on https: / / www.oxforddictionaries.com/ press/ news/ 2016/ 11/ 17/ WOTY-16 (accessed 23.09.2018). <?page no="51"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 51 post-truth world”. 41 But of course, as they explain, this usage implied a chronological relation meaning ‘after the truth’ and not a relation of insignificance meaning that “[…] truth itself has become irrelevant” 42 . The president of Oxford Dictionaries, Casper Grathwohl, points out that such a post-truth world view is promoted by the rise of social media taken unquestioningly as news channels and by “[…] a growing distrust of facts offered by the establishment” 43 . This irrelevance of distinction between truth and lie in the post-truth sense can be analysed in current literary writings, thus transporting the concept of post-truth to an aesthetic, ‘post-fictional’ principle, which will be illustrated in the following by two examples. The first one is Ian McEwan’s latest novel Nutshell (2016). It is the story told by the unborn embryo acting and talking like an experienced adult and simultaneously living in his own crime novel. His mother is having an affair with her brother-in-law and kills his biological father while constantly drinking alcohol, causing the embryo to act like a wise wine expert. Regretting her murder, the mother constructs her own reality, her own perspective of what really happened, and the embryo predicts that his mother is about to believe her own lies. With this setting, McEwan, who used to incorporate moral and ethical questions of science into his work in an authentic way, deconstructs his own approach and sets up a paradox setting of an absurd science fiction novel. The second example is Salman Rushdie’s recently published novel Golden House (2017). It is a story - or not - told by a young man called René who is about to write a film script for his latest and most important project - the portrait of his neighbours Nero Golden and his family. The novel’s setting is the USA shortly before the presidential elections in 2016. In the 41 Cited from Oxford Dictionaries, ibid. 42 Ibid. 43 Ibid. <?page no="52"?> 52 Nicole Brandstetter course of the novel, the reader steadily becomes aware that he or she simultaneously reads the formation process of the film script and the film script itself: explanations and descriptions of the Golden family and problems with creating the film are interwoven with undetectable and explicit scenes of the film. To culminate, the film ends before the novel ends so that the reader is even offered some kind of final credits. Additionally, the novel is full of references to mythologies, ancient and modern literature, and film history, and at the same time clearly recognisable as a parody of the political situation shortly before and after Trump’s election. Real characters, such as Klaus Kinski and other well-known artists, as well as fictive ones invade the story. The portrayed family man Nero Golden has fled from India, which can be seen as an autobiographic hint, and shares lots of characteristics with Trump. Yet there is also the side character of the “real” Trump in the novel who is described as the “Joker” with green hair of the comic Batman with his challenger “Batwoman” representing, of course, Hillary Clinton. Finally, the characters and the narrator repeatedly address the reader directly. Above all, the characters themselves reflect upon philosophical concepts of truth and the usage of genres, when e.g. René talks to Vasilia: ‘Is that true? ’ I asked. ‘About Dostoevsky? ’ That was all she needed. She nodded earnestly, waved her cronut at me while she chewed the piece in her mouth, swallowed, and was off. ‘True is such a twentieth-century concept. The question is, can I get you to believe it, can I get it repeated enough times to make it as good as true. The question is, can I lie better than the truth. You know what Abraham Lincoln said? “There’s a lot of made-up quotes on the Internet.’ Maybe we should forget about making documentaries. Maybe mix up the genres, be a little genrequeer. Maybe the mockumentary is the art form of the day. I blame Orson Welles.’ 44 44 Salman Rushdie, The Golden House, London 2017, p. 217-218. <?page no="53"?> 2 The Concepts of Truth and Fake in Literature 53 Their conversation continues by discussing the status of fictionality and the role of elites: ‘Now the only person you think is lying to you is the expert who actually knows something. He’s the one not to believe because he’s the elite and the elites are against the people, they will do the people down. To know the truth is to be elite. If you say you saw God’s face in a watermelon, more people will believe you than if you find the Missing Link, because if you’re a scientist then you’re elite. Reality TV is fake but it’s not elite so you buy it. The news: that’s elite.’ ‘I don’t want to be elite. Am I elite? ’ ‘You need to work on it. You need to become post-factual.’ ‘Is that the same as fictional? ’ ‘Fiction’s elite. Nobody believes it. Post-factual is mass market, information age, troll generated. It's what people want.’ ‘I blame truthiness. I blame Stephen Colbert.’ 45 In the end, the complete Golden Family is extinguished, and in a selfconscious way a rather improbable ending, that is understandably contested, is presented to the reader. So, in Golden House, reference to reality seems to be re-born but in an absurd way: genres are intermingled, realities mixed, philosophical discourse offered but ridiculed, and comic features included in the ‘real’ world. Adam Kirsch explained in his article “Lie to me: Fiction in the Post-Truth Era” a new role of fiction in what he still calls the postmodern era: “But the postmodern solution is even more powerful: It is the simple shamelessness that allows us to recognize a lie as a lie but still treat it as if it were 45 Ibid., p. 218. <?page no="54"?> 54 Nicole Brandstetter a reality.” 46 He argues that now with the collapse of the distinction between truth, fiction, and lie, […] the very idea of literature may come to seem a luxury, a distraction from political struggle. But the opposite is true: No matter how irrelevant hardheaded people may believe it to be, literature continually proves itself a sensitive instrument, a leading indicator of changes that will manifest themselves in society and culture. Today as always, the imagination is our best guide to what reality has in store. 47 Still, it is not an aesthetic postmodern solution that these works offer but a post-fictional one, which can also be seen as a type of fake literature, having in mind the meaning of fake as something that is not genuine 48 or “an object that is made to look real or valuable in order to deceive people” 49 . These works ironically contribute to the phenomenon of post-truth with the aesthetic concept of post-fictional literature of fake, not with the playful deception of postmodern times but the complete deconstruction of playfulness, logic, reference, metafiction, and intertextuality, composed as a reaction to digitisation, simulation, and fake realities, as the characters in Golden House themselves analysed. 46 Adam Kirsch, Lie to Me: Fiction in the Post-Truth Era, in: New York Times, 15 January 2017, on https: / / www.nytimes.com/ 2017/ 01/ 15/ books/ lie-to-me-fiction-inthe-post-truth-era.html (accessed 23.09.2018). 47 Ibid. 48 Cf. Oxford Dictionaries on https: / / en.oxforddictionaries.com/ definition/ fake (accessed 23.09.2018). 49 https: / / dictionary.cambridge.org/ de/ worterbuch/ englisch/ fake (accessed 23.09.2018). <?page no="55"?> 3 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen Simone Kaminski <?page no="57"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 57 3.1 Einführung „Sechs muslimische Männer pinkeln aus Verachtung für unsere christliche Kultur an die Kirche.“ - 2016 verbreitet sich dieser Satz mit einem entsprechenden Foto sehr schnell im sozialen Netzwerk Facebook. Das Foto, das sechs Männer zeigt, die an einer Kirchmauer lehnen, ist authentisch. Es zeigt jedoch weder urinierende noch muslimische Männer, sondern männliche Christen aus Eritrea, die an der Wand der St.-Gertrud-Kirche in München beten, eine traditionelle Gebetspraktik, die in Eritrea, aber auch in Äthiopien gepflegt wird. Bei dieser Nachricht handelt es sich um eine bewusste Falschmeldung bzw. um sogenannte Fake News. Obwohl diese Falschmeldung kurze Zeit später als eine solche entlarvt wird, wird sie zuvor von tausenden Facebook-Nutzern unkritisch gelesen und geteilt, so auch von NPD-Politiker Udo Voigt, der das Verhalten der auf dem Foto abgebildeten Männer u.a. als „Sauerei“ und „respektlos und traurig, bin sprachlos“ kommentiert. 1 Eine allgemeingültige Definition von Fake News existiert aktuell noch nicht. Bendel definiert Fake News als „Falsch- und Fehlinformationen, die häufig über elektronische Kanäle (vor allem soziale Medien) verbreitet werden. Sie gehen von Einzelnen oder Gruppen aus, die in eigenem oder fremdem Auftrag handeln. Es gibt persönliche, politische und wirtschaftliche Motive für die Erstellung.“ 2 Der Duden und das digitale Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (DWDS) weisen ergänzend auf den manipulativen Charakter von Fake News hin. 3, 4 1 Tagesschau Faktenfinder, NPD-Politiker Voigt über Fakes. „Natürlich ist das Stimmungsmache“, 31.07.2017, http: / / archive.today/ Uqjms (abgerufen am 27.05.2019). 2 Oliver Bendel, Fake News, in: Gablers Wirtschaftslexikon, hg. von Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 19.02.2018, https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ defini tion/ fake-news-54245/ version-277295 (abgerufen am 27.05.2019). 3 Dudenredaktion, Fake News, in: Duden online, o.J., https: / / www.duden.de/ recht schreibung/ Fake_News (abgerufen am 27.05.2019). <?page no="58"?> 58 Simone Kaminski Aus psychologischer Sicht sind zwei Phänomene mit der Verbreitung von Fake News von besonderem Interesse. Erstens stellt sich die Frage, warum Nutzer Falschnachrichten scheinbar unreflektiert mit anderen Nutzern teilen. Zweitens stellt die Beständigkeit, mit der sich Fake News - auch wenn sie als Falschnachrichten entlarvt werden - in den Köpfen der Nutzer festsetzen, ein gewichtiges Problem dar. Im Folgenden wird aus psychologischer Sicht diskutiert, wie sich Menschen von Fake News beeinflussen lassen und warum sie an falschen Überzeugungen festhalten. Des Weiteren werden Möglichkeiten vorgestellt, wie Letzteres unterbunden werden kann, d.h. wie dem Einfluss von Fake News begegnet werden kann. 3.2 Wie wir uns von Fake News beeinflussen lassen Bevor konkrete Erklärungsansätze vorgestellt werden, ist es sinnvoll, zu betrachten, wie der Mensch Informationen aus seiner Umgebung aufnimmt. Im Sinne des Konstruktivismus ist der Mensch ein Konstrukteur seiner eigenen Realität, d.h. er verarbeitet die ihm dargebotenen Informationen nicht „objektiv“, sondern selektiv. Da seine Informationsverarbeitungskapazität begrenzt ist, ist der Mensch mit einem „Filter“ ausgestattet, der dafür sorgt, dass er nur bestimmte Informationen aus seiner Umwelt aufnimmt. Bei diesem Filter handelt es sich um die sogenannte Aufmerksamkeit. Welchen Informationen der Mensch Aufmerksamkeit schenkt und welche er schließlich wahrnimmt, hängt maßgeblich von seinen Interessen, Motiven, Zielen, Vorwissen, Erfahrungen und Erwartungen ab. 5 Jeder Mensch erlebt demnach „seine eigene Wahrheit“ und hat seine eigene subjektive Sicht der Dinge. George Gissing beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts dieses Phänomen sehr treffend: „It is the mind which creates 4 DWDS, Fake News, in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, o.J., https: / / www.dwds.de/ wb/ Fake News, (abgerufen am 27.05.2019). 5 Lioba Werth, Jennifer Mayer, Sozialpsychologie, Berlin/ Heidelberg 2008, S. 26-28. <?page no="59"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 59 the world around us, and even though we stand side by side in the same meadow, my eyes will never see what is beheld by yours“. 6 (Übersetzung: Die Welt um uns erschafft der Verstand; und mögen wir auch nebeneinander auf derselben Wiese stehen, so werden doch meine Augen nie das sehen, was Ihre erblicken.). 7 Zudem ist die menschliche Erinnerung kein genaues Abbild erlebter Ereignisse oder aufgenommener Informationen, sondern unterliegt vielmehr Rekonstruktions- und Schlussfolgerungsprozessen. Das Erinnerte ist ungenau und manchmal auch fehlerhaft. Fehlende Erinnerungen werden ergänzt, indem der Mensch aufgrund bereits bestehendem Wissen schlussfolgert bzw. rekonstruiert. 8 Hierbei kann es zur sogenannten Quellenverwechslung kommen, d.h. der Mensch ist bei der Wiedergabe seiner vermeintlichen Erinnerungen nicht in der Lage zu unterscheiden, welche Inhalte er tatsächlich erlebt hat und welche von ihm aufgrund vorhandenen Wissens rekonstruiert wurden. 9 Übertragen auf die Wahrnehmung und Erinnerung von Nachrichten wählt der Mensch also Informationen sehr selektiv aus, so werden beispielsweise Nachrichten und auch Fake News bevorzugt wahrgenommen, die dem eigenen Vorwissen oder Erwartungen entsprechen. Des Weiteren gelingt es dem Menschen nicht immer, Nachrichten richtig zu erinnern, gegebenenfalls werden Informationen ergänzt. Im Folgenden werden vier psychologische Effekte bzw. Theorien vorgestellt, die erklären, wie sich Menschen von Falschinformationen beeinflussen lassen und warum sie trotz Aufklärung an ihnen festhalten. 6 George Gissing, The private papers of Henry Ryecroft, London 1903. 7 Elliot Aronson, Timothy Wilson, Robin Akert, Sozialpsychologie, Hallbergmoos 2014, S. 63. 8 Werth/ Mayer (wie Anm. 5), S. 35-36. 9 Marcia K. Johnson, Memory and reality, in: American Psychologist, 61, 2006, S. 760-771. <?page no="60"?> 60 Simone Kaminski 3.2.1 Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) Im Vergleich zu Printmedien gibt es in Internetportalen und vor allem in sozialen Netzwerken in der Regel keine Redaktion oder Einrichtung, die Meldungen auf ihren Wahrheitsgehalt prüft. Viele Beiträge sind so gestaltet, dass sie Aufmerksamkeit erregen und gelesen werden, indem sie beispielsweise Überraschung bei den Lesern erzeugen. Die Nutzer müssen dabei den Wahrheitsgehalt der Beiträge selbst prüfen. Häufig fehlen hierzu die Zeit, Motivation oder Fähigkeit. D.h. wir sind nur bedingt in der Lage, im Internet Fake News von wahrheitsgemäßen Meldungen zu unterscheiden. Allesandro Bessi und Emilio Ferrara, Wissenschaftler der Universität von Southern California analysierten im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen 2016 Twitter-Nachrichten. Sie konnten zeigen, dass Tweets von Social Bots, die häufig Falschmeldungen enthalten, von den Nutzern nicht als solche identifiziert wurden und genauso häufig geteilt wurden wie Tweets realer Menschen. 10 Social Bots („Bot“ steht als Kurzform des englischen Begriffs „Robot“ für Roboter 11 ) sind Computerprogramme, die von Accounts in sozialen Medien agieren. Sie geben sich als reale Menschen aus, um Aussagen und Meinungen sichtbar zu machen oder zu verstärken. Sie werden zu Marketing-Zwecken, aber auch zunehmend für politische Propaganda eingesetzt. 12 Schätzungsweise sind 9 bis 15% der 319 Millionen Twitter-Nutzer Social Bots. 13 Anstatt den Wahrheitsgehalt einer 10 Alessandro Bessi, Emilio Ferrara, Social bots distort the 2016 U.S. Presidential election online discussion, in: First Monday, 21, 2016, http: / / firstmonday.org/ ojs/ in dex.php/ fm/ article/ view/ 7090/ 5653a#author (abgerufen am 27.05.2019). 11 Bundeszentrale für Politische Bildung, Was sind Social Bots? , 14.07.2017, http: / / www.bpb.de/ 252585/ was-sind-social-bots (abgerufen am 27.05.2019). 12 Bendel, Oliver, Social Bots, in: Gablers Wirtschaftslexikon, hg. von Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 19.02.2018, https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ defini tion/ social-bots-54247/ version-277296 (abgerufen am 27.05.2019). 13 Onur Varol, Emilio Ferrara, Clayton A. Davis, Filippo Menczer, Alessandro Flammini, Online human-bot interactions. Detection, estimation, and characterization, in: <?page no="61"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 61 Nachricht zu prüfen, reagieren Nutzer dagegen häufig auf Beiträge, die ihre eigene Einstellung bestätigen. Meldungen, die ihrer Meinung widersprechen, werden jedoch selten geteilt. Bei diesem Phänomen handelt es sich um den sogenannten Bestätigungsfehler (engl. Confirmation Bias), die Tendenz, die eigenen Annahmen bestätigende Informationen bevorzugt zu suchen bzw. wahrzunehmen und widersprechende Informationen zu vernachlässigen. 14 Wir lesen also bevorzugt Artikel, die unsere Meinung stützen, auch wenn diese Falschmeldungen enthalten. Soziale Medien begünstigen diesen Bestätigungsfehler, denn viele Beiträge, ebenso Fake News zirkulieren ausschließlich innerhalb einer eng begrenzten, homogenen Nutzergemeinschaft, d.h. sie werden fast nur zwischen gleichgesinnten Nutzer geteilt. Facebook wird daher auch als „Echokammer“ bezeichnet, in der sich die User gegenseitig in ihrer Meinung bestärken. 15 Der Bestätigungsfehler wirkt sich somit begünstigend auf die Wirkung von Falschmeldungen aus. 3.2.2 Der Wahrheitseffekt (Truth Effect) Ein weiterer psychologischer Effekt, der die Wirkung von Fake News in sozialen Medien begünstigt, ist der sogenannte Wahrheitseffekt (engl. Truth Effect, Vadility Effect). 16 Beiträge, so auch Falschmeldungen, die in sozialen Medien mehrfach geteilt werden, haben eine hohe Präsenz und werden Eleventh International AAAI Conference on Web and Social Media, 2017, https: / / arxiv.org/ abs/ 1703.03107 (abgerufen am 27.05.2019). 14 Peter Cathcart Wason, On the failure to eliminate hypotheses in conceptual task, in: Quarterly Journal of Experimental Psychology, 12, 1960, S. 129-140. 15 Michela Del Vicario, Alessandro Bessi, Fabiana Zollo, Fabio Petroni, Antonio Scala, Guido Caldarelli, H. Eugene Stanley, Walter Quattrociocchi, The spreading of misinformation online, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 113, 3, 2016, S. 554-559. 16 Catherine Hackett Renner, Validity effect, in: Cognitive illusions. A handbook on fallacies and biases in thinking, judgement and memory, hg. von Rüdiger F. Pohl, New York 2004, S. 201-213. <?page no="62"?> 62 Simone Kaminski daher auch häufiger von Nutzern gelesen. Der Wahrheitseffekt beschreibt das Phänomen, dass Aussagen oder Informationen, die zuvor bereits gehört oder gelesen wurden, ein größerer Wahrheitsgehalt zugesprochen wird als solchen, die erstmals gehört werden. 17 Die Psychologin Lisa Fazio und ihre Kollegen konnten in Studien zeigen, dass der Wahrheitseffekt auch dann auftritt, wenn die Empfänger einer Information wissen, dass diese nicht der Wahrheit entspricht. Ihre Probanden lasen wiederholt verschiedene falsche und wahrheitsgemäße Aussagen. Das wiederholte Lesen falscher Aussagen wie „Der Sari ist ein kurzer Faltenrock, den die Schotten tragen.“ erhöhte den empfundenen Wahrheitsgehalt dieser Sätze, selbst wenn dieselben Probanden mit den Aussagen verbundene Fragen wie „Wie heißt der kurze Faltenrock, den die Schotten tragen? “ zuvor richtig beantworten konnten. 18 3.2.2 Der Sleeper-Effekt Wie schon zu Beginn erläutert, ist das menschliche Erinnerungsvermögen begrenzt. Hiervon profitieren insbesondere Falschmeldungen, die von unglaubwürdigen Quellen verbreitet werden. Dies konnte schon in den 1950er, in einem klassischen Experiment von Herbert Kelman und Carl Hovland veranschaulicht werden 19 . Drei Gruppen von Probanden sahen sich jeweils eine Sendung zum Thema Strafen für Jugendkriminalität an. Variiert wurde nur die Person, die in der Sendung zu dem Thema interviewt wurde. Gruppe 1 sah ein Interview mit einem Richter (als glaubwürdige Quelle), Gruppe 2 wurde mit einer neutral wirkenden Person (mäßig glaubwürdige Quelle) als Interviewpartner konfrontiert und Gruppe 3 mit 17 Hackett Renner (wie Anm. 16). 18 Lisa K. Fazio, Nadia M. Brashier, B. Keith Payne, Elizabeth J. Marsh, Knowledge does not protect against illusory truth, in: Journal of Experimental Psychology: General, 144, 5, 2015, S. 993-102. 19 Herbert C. Kelman, Carl I. Hovland, „Reinstatement” of the communicator in delayed measurement of opinion change, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 48, 1953, S. 327-344. <?page no="63"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 63 einem unangenehm wirkenden Mann von der Straße (wenig glaubwürdige Quelle). Die geäußerten Argumente waren in allen drei Gruppen die gleichen. Im Anschluss an die Sendung wurde gemessen, inwieweit sich die Probanden in ihrer Einstellung an die Meinung des Interviewten anpassten. Je glaubwürdiger die Quelle war, desto stärker ließen sich die Probanden vom Interviewten in ihrer Meinung beeinflussen, d.h. der Richter als glaubwürdige Quelle nahm den größten Einfluss, während der Mann von der Straße als wenig glaubwürdige Quelle am geringsten beeinflusste. Drei Wochen später wurde die Einstellung der gleichen Probanden zum Thema Strafen für Jugendkriminalität abermals gemessen. Diesmal zeigte sich jedoch kein Einstellungsunterschied in den drei Gruppen. Unabhängig von ihrer Glaubwürdigkeit hatten sich die Wirkungen der drei Interviewten bzw. Quellen angeglichen. Lediglich wenn die Probanden vor der Einstellungsmessung an die Quelle im Interview erinnert wurden, wirkte sich deren Glaubwürdigkeit wieder auf die Einstellung aus. Dieses Phänomen wird als Sleeper-Effekt bezeichnet: Die negative Wirkung einer unglaubwürdigen Quelle auf die Einstellungsänderung nimmt im Laufe der Zeit ab, sie schläft quasi ein. 20 Ein Erklärungsansatz für diesen Effekt gründet in der unterschiedlichen Erinnerungsdauer von episodischen Gedächtnisinhalten (z.B. Glaubwürdigkeit des Kommunikators) und semantischen Erinnerungen (z.B. Argumente einer Botschaft). Nach einiger Zeit erinnern wir uns nur noch an die Inhalte einer Botschaft, nicht mehr jedoch an die Quelle bzw. deren Glaubwürdigkeit. 21 Bezogen auf Fake News bedeutet das, dass deren Quellen, auch wenn sie zu Beginn als unglaubwürdig eingeschätzt werden, zumindest im Nachhinein Einfluss auf die Einstellung ihrer Leser nehmen können. 20 G. Tarcan Kumkale, Dolores Albarracín, The sleeper effect in persuasion. A metaanalytic review, in: Psychological Bulletin, 130, 1, 2004, S. 143-172. 21 Werth/ Mayer (wie Anm. 5), S. 244. <?page no="64"?> 64 Simone Kaminski 3.2.4 Zugehörigkeit zur Eigengruppe Die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität von Henri Tajfel und John Turner bildet einen weiteren Ansatz zur Erklärung, warum Menschen Nachrichten Glauben schenken, selbst wenn diese nachweisbar falsch sind. Die Theorie basiert auf drei Grundannahmen: 1. Menschen streben danach, ein positives Selbstkonzept zu erreichen bzw. aufrechtzuerhalten, d.h. wir haben das grundlegende Bedürfnis, eine positive Meinung von uns selbst zu haben. 2. Das Selbstkonzept speist sich aus individuellen Merkmalen (z.B. besondere Fähigkeiten) und aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die die sogenannte soziale Identität eines Menschen bildet. 3. Die Bewertung der Gruppen, denen eine Person angehört (sogenannte Eigengruppen), ergibt sich aus dem Vergleich mit relevanten anderen Gruppen, denen die Person nicht angehört (sogenannte Fremdgruppen). 22 Basierend auf diesen Grundannahmen strebt der Mensch nach einer positiven sozialen Identität. Um dies zu erreichen, vergleicht er seine Eigengruppen (z.B. kulturelle Gruppe, politische Partei, Verein) mit relevanten Fremdgruppen. Fällt ein Vergleich für die Eigengruppe positiv aus, gewinnt die Gruppenzugehörigkeit an Wert und das Individuum profitiert mit einer positiven sozialen Identität. Des Weiteren erfüllt die Mitgliedschaft in Gruppen zentrale menschliche Bedürfnisse (z.B. Zugehörigkeit, Zugang zu wichtigen Ressourcen). 23 An dieser Stelle setzt das Erklärungsmodell der Psychologen Jay van Bavel und Andrea Pereira an. Demnach sind für manche Menschen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, z.B. einer politischen Gruppe oder Partei, und die damit verbundene soziale Identität maßgeblicher als der Wahrheitsgehalt von Aussagen, die von einem Mitglied dieser Gruppe gemacht werden. Als Beispiel lässt sich die 22 Henri Tajfel, John C. Turner, The social identity theory of intergroup behavior, in: Psychology of intergroup relations, hg. von Stephan Worchel, William G. Austin, Chicago 1986, S. 7-24. 23 Andrea Pereira, Jay J. van Bavel, The partisan brain. Why people are attracted to fake news and what to do about it, in: Crest Security Review, 2018, S. 12-13. <?page no="65"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 65 Aussage von Donald Trumps ehemaligen Sprecher Sean Spicer anführen. Dieser behauptete nach Trumps Amtsführung: „That was the largest audience to witness an inauguration, period” 24 (Übersetzung der Autorin: Das war das größte Publikum, das je einer Amtseinführung beiwohnte). Obwohl diese Aussage anhand von Fotoaufnahmen widerlegt werden konnte, waren viele republikanische Wähler dennoch von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt. Van Bavel und Pereira argumentieren, dass bei den Betroffenen die Zugehörigkeit zur Eigengruppe, hier die republikanische Partei, und die damit verbundene soziale Identität das Bedürfnis, akkurat in ihren Einschätzungen zu sein, überlagerte. 25 3.3 Warum wir an falschen Überzeugungen festhalten Auch wenn Fake News eindeutig als solche entlarvt werden, geben Empfänger die einmal geformten falschen Überzeugungen nicht ohne weiteres auf. Zwei psychologische Konzepte werden herangezogen, um diese Persistenz zu erklären: Die kognitive Dissonanz und der Backfire-Effekt. 3.3.1 Kognitive Dissonanz und das Bedürfnis, sie zu vermeiden Einmal gefestigte Überzeugungen oder Einstellungen geben Menschen nicht einfach auf. Grund für dieses manchmal auch irrationale Beharren ist das Streben nach Konsistenz. Für den Menschen ist es erstrebenswert mit seinen Einstellungen, Gedanken, Wünschen, Absichten und seinem Verhalten im Einklang zu sein. Ist dies nicht gegeben, weil eine Person beispielsweise entgegen ihrer festen Überzeugung handelt (z.B. die Person lügt jemanden an, obwohl ihr Ehrlichkeit sehr wichtig ist), gerät sie in ei- 24 Sean Spicer, Spicer, Inauguration had largest audience ever, in: CNN, 21.01.2017, https: / / www.youtube.com/ watch? v=PKzHXelQi_A (abgerufen am 27.05.2019). 25 Jay J. van Bavel, Andrea Pereira, The Partisan Brain: An identity-based model of political belief, in: Trends in Cognitive Sciences, 22, 3, 2018, S. 213-224. <?page no="66"?> 66 Simone Kaminski nen inneren Konflikt, die sogenannte kognitive Dissonanz 26 . Menschen haben das Bedürfnis, diesen unangenehmen Zustand zu minimieren oder von vornherein zu vermeiden. Um kognitiver Dissonanz zu entgehen, vermeiden oder ignorieren Menschen Informationen und Inhalte, die mit ihren Überzeugungen konfligieren, auch wenn diese auf falschen Behauptungen oder Fake News beruhen. So konnten Jeremy Frimer und Kollegen in einer ihrer Studien zeigen, dass 63% ihrer Probanden, sowohl konservativ als auch liberal eingestellte Personen, auf die Möglichkeit, Geld zu gewinnen, verzichteten, um Argumente der Gegenseite in der Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe nicht anhören zu müssen. 27 3.3.2 Backfire-Effekt Haben sich Personen erst einmal eine Meinung gebildet, kann ein Korrekturversuch in Form von Fakten und Argumenten sogar eine Verstärkung der ursprünglichen Meinung bewirken, auch wenn diese nachweislich auf falschen Annahmen beruht. Hierbei wird vom sogenannten Backfire-Effekt gesprochen. 28 In einem Experiment von Brendan Nyhan und Jason Reifler wurde 130 Probanden unterschiedlicher politischer Einstellungen ein Zitat des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush vorgelegt, das nahelegt, der ehemalige irakische Präsident Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen an terroristische Netzwerke weitergeben können (“There was a risk, a real risk, that Saddam Hussein would pass weapons or materials or information to terrorist networks, and in the world after September the 11th, that was a risk we could not afford“ 29 ). Die Hälfte der Teilnehmer las 26 Leon Festinger, A theory of cognitive dissonance, Evanston 1957. 27 Jeremy A. Frimer, Linda J. Skitka, Matt Motyl, Liberals and conservatives are similarly motivated to avoid exposure to one another’s opinions, in: Journal of Experimental Social Psychology, 72, 2017, S. 1-12. 28 Brendan Nyhan, Jason Reifler, When corrections fail. The persistence of political misperceptions, in: Political Behavior, 32, 2010, S. 302-330. 29 Dana Priest, Walter Pincus, 'Almost all wrong' on weapons, in: Washington Post, 07.10.2004, S. A1. <?page no="67"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 67 daraufhin eine Zusammenfassung des Dülfer-Reports, der dokumentiert, dass der Irak 2001 keine Massenvernichtungswaffen besessen hatte. Liberale Probanden, die mit den Aussagen des Dülfer-Reports konfrontiert wurden, waren nach dem Lesen weniger von irakischen Massenvernichtungswaffen überzeugt, als jene, die nur Bushs Zitat gelesen hatten. Bei konservativen Probanden zeigte sich der Backfire-Effekt. Das Lesen der Zusammenfassung des Reports bekräftige sie in ihrer Ansicht, der Irak hätte vor der Militärinvasion der USA die besagten Waffen besessen. Der Korrekturversuch in Form des Dülfer-Reports hatte bei dieser Personengruppe also das genaue Gegenteil bewirkt. 30 Als Erklärung für diesen Effekt kann die Theorie der psychologischen Reaktanz herangezogen werden. 31 Haben Menschen den Eindruck, man wolle sie in ihrer Einstellung beeinflussen, nehmen sie das als illegitimen Angriff auf ihre persönliche Meinungsfreiheit wahr und halten an ihrer ursprünglichen Meinung noch stärker fest, um ihre Freiheit wieder herzustellen. Ähnlich kann die Reaktion von Personen sein, die Fake News Glauben schenken. Wird bei Ihnen versucht, die Falschinformation zu korrigieren, ist sogenanntes reaktantes Verhalten möglich, das sich in einem stärkeren Festhalten der bisherigen Überzeugung äußert. 3.4 Wie wir Fake News aus unseren Köpfen bekommen Wie eine Metaanalyse von Man-pui Sally Chan und Kollegen gezeigt hat, ist es nicht ausreichend, eine Meldung als falsch zu kennzeichnen oder nur kurz zu erläutern, warum eine Aussage unwahr ist, denn dies führt in der Regel dazu, dass die Betroffenen an den falschen Überzeugungen festhalten. Die Autoren leiten drei Empfehlungen ab, um Falschaussagen effektiv zu entlarven: 1. Neue korrigierende Informationen sollten nicht versehentlich Argumente zugunsten der Fehlinformation wiederholen. 2. Betroffene 30 Nyhan/ Reifler (wie Anm. 26), S. 312-315. 31 Jack W. Brehm, A theory of psychological reactance, New York 1966. <?page no="68"?> 68 Simone Kaminski Personen sollten motiviert werden, selbst Gegenargumente für die eigene fehlerhafte Ansicht zu entwickeln, um eine wahrgenommene illegitime Beeinflussung von außen auszuschließen. 3. Es sollten neue detaillierte Informationen gegeben werden, wenn eine Aussage als falsch ausgewiesen wird. 32 Des Weiteren hat sich in der Einstellungsforschung die sogenannte Einstellungsimpfung als effektive Maßnahme gegen massive Beeinflussungsversuche von außen erwiesen. Demnach wirken mehrere kleine Angriffe auf die eigene Meinung (z.B. in Form von Einzelargumenten) wie eine Impfung, die eine „Impfreaktion“ in Form von Gegenargumentation bei dem Betroffenen auslöst und so gegen stärkere Angriffe immunisiert. Die Effektivität dieses Ansatzes verdeutlicht die Studie von van der Linden und Kollegen, die in drei Schritten vorgingen. 33 Zunächst wurde den Probanden eine Statistik präsentiert, laut derer 97% aller Klimaforscher darin übereinstimmen, dass der Klimawandel vom Menschen mitverursacht sei. Darauf wurde nur ein Teil der Probanden „geimpft“, indem sie vor möglichen Beeinflussungsversuchen von Klimawandelskeptikern, deren Argumenten und Vorgehensweisen gewarnt wurden. Im dritten Schritt lasen alle Probanden die sogenannte „Oregon Petition“, mit der Klimawandelleugner in den USA Anhänger zu rekrutieren versuchen. Im Vergleich zu den Teilnehmern, die zuvor geimpft worden waren, ließen sich die „ungeimpften“ Teilnehmer stärker von der „Oregon Petition“ beeinflussen und unterschätzten in einer anschließenden Befragung eher den Anteil der Wissenschaftler, die von einem menschengemachten Klimawandel überzeugt waren. 32 Man-pui Sally Chan, Christopher R. Jones, Kathleen Hall Jamieson, Dolores Albarracín, Debunking. A meta-analysis of the psychological efficacy of messages countering misinformation, in: Psychological Science, 28, 11, 2017, S. 1531-1546. 33 Sander van der Linden, Anthony Leiserowitz, Seth Rosenthal, Edward Maibach, Inoculating the public against misinformation about climate change, in: Global Challenges, 1, 2017, S. 1-7. <?page no="69"?> 3 Psychologie der Täuschung - Wie uns Fake News beeinflussen 69 3.5 Zusammenfassung Insbesondere die Nutzer von sozialen Medien und Internetportalen sind Falschaussagen und Fake News verstärkt ausgesetzt. Häufig werden diese Meldungen in der Community unkritisch geteilt, da sie nicht als Fake News identifiziert werden. Die menschliche Informationsverarbeitungskapazität ist begrenzt, daher verarbeitet der Mensch Informationen sehr selektiv. Fake News, die mit der eigenen Meinung und Erwartung übereinstimmen, werden bevorzugt konsumiert (Bestätigungsfehler) und in homogenen Nutzergemeinschaften auch häufiger geteilt. Beiträgen, die wiederholt gelesen werden, da sie in der eigenen Nutzergemeinschaft häufiger geteilt werden, wird ein höherer Wahrheitsgehalt zugesprochen, auch wenn es sich dabei um Falschinformationen handelt (Wahrheitseffekt). Die Zeit stellt sich als weiterer Verbündeter von Fake News dar. Denn mit der Zeit gehen Informationen über den Urheber bzw. Kommunikator einer Nachricht schneller verloren als deren semantischer Inhalt (Sleeper-Effekt). Dies kommt vor allem Meldungen aus unseriösen und unglaubwürdigen Quellen zupass. Ihr Inhalt wird behalten und womöglich weitergegeben, während das Wissen, dass die Information von einem unglaubwürdigen Urheber stammt, schon in Vergessenheit geraten ist. Schließlich kann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe das menschliche Bedürfnis, korrekte Überzeugungen zu haben, dominieren, so dass offenkundig falsche Informationen von Mitgliedern der eigenen Gruppe gar nicht als solche wahrgenommen werden (Theorie der sozialen Identität). Haben sich Individuen erst einmal eine Meinung zu einem Sachverhalt gebildet, geben sie diese nicht ohne weiteres auf, selbst wenn sie auf falschen Annahmen basiert. Informationen, die der eigenen Einstellung zuwiderlaufen, werden vermieden oder ignoriert, um einen als unangenehm empfundenen inneren Konflikt (kognitive Dissonanz) zu vermeiden. Versuche von außen, falsche Annahmen zu korrigieren, können von den Betroffenen als Angriff auf die eigene Freiheit empfunden werden, was schließlich in der Verstärkung der ursprünglichen Meinung resultiert (Backfire-Effekt). <?page no="70"?> 70 Simone Kaminski Auch wenn vor dem Hintergrund dieser psychologischen Effekte ein Entkommen vor Fake News fast ausweglos erscheint, gibt es Möglichkeiten, ihnen erfolgreich zu begegnen. Dargebotene korrigierende Informationen sollten detailliert sein und keine Argumente zugunsten der Fake News enthalten. Am besten sollten Betroffene selbst Gegenargumente für ihre eigene fehlerhafte Ansicht generieren. Schließlich können Warnungen vor Beeinflussungsversuchen und kleine Angriffe auf die eigene Meinung als „Impfung“ wirken und gegen den Einfluss von Fake News immunisieren. Obwohl die psychologische Forschung bisher einige Erkenntnisse zur Wirkung von Falschmeldungen liefern konnte, bedarf es weiterer empirischer Befunde, wie Fake News effektiv und nachhaltig begegnet werden kann. <?page no="71"?> 4 Alternative Facts and Fake News: Cul tural Studies' Illegitimate Brainchildren Silke Järvenpää <?page no="73"?> 4.1 Introduction Among the oddities of Donald Trump’s first weeks in office, the inauguration stands out. The spectator turnout was respectable, but the event attracted less of a crowd than it did in 2009, when Barack Obama was sworn in. Not only media critical of Trump delivered the images; but the photos highlighted the lack of Trump’s popularity. The U.S. National Park Service replicated the 2009 perspective when they took a picture of the inauguration literally from a bird’s eye’s (that is an aereal) view. Newspapers then juxtaposed it with the visual testimony from 2017 1 . Anyone less than supportive of Trump would be able to gloat over the stark contrast 2 . The two photos side by side went viral on the net. The Trump administration reacted promptly. Trump himself declared that from his point of view, the size of the crowd looked like “a million, million and a half people”, the “biggest audience in the history of inaugural speeches” 3 . Which it may have - and so his impression is, due to his naturally restricted point of view, fair enough. Yet Trump did not let the issue 1 Here are the photos that show Obama’s inauguration crowd was bigger than Trump’s. Washington Post. 7 March, 2017. Available online: https: / / www.washingtonpost.com/ news/ powerpost/ wp/ 2017/ 03/ 06/ here-are-thephotos-that-show-obamas-inauguration-crowd-was-bigger-than-trumps/ ? utm_term =.2e2e5c4a28e7. Photos: National Park Service; Betsy Klein. Comparing Donald Trump and Barack Obama's inaugural crowd sizes, in: CNN, 21 January, 2017 (https: / / edition.cnn.com/ 2017/ 01/ 20/ politics/ donald-trumpbarack-obamainaugurationcrowd-size/ index.html) (accessed 26.2.2018). 2 Apart from the comments sections below articles in the printing press, the inauguration's crowd size became a staple feature of comedians, from Stephen Colbert to the cast of Saturday Night Live in late January, 2017. 3 Donald Trump. President Trump's speech at the CIA Headquarters, 21 January, 2017. Available online: White House Government (https: / / www.whitehouse.gov/ ), full transcript also available online: https: / / www.cbsnews.com/ news/ trump-ciaspeechtranscript/ (accessed 26.2.2018). 4 Alternative Facts and Fake News 73 <?page no="74"?> 74 Silke Järvenpää rest. His press secretary had to issue a statement in which he tries to align the public's with Trump's perception. […] Inaccurate numbers involving crowd size were also tweeted. No one had numbers, because the National Park Service, which controls the National Mall, does not put any out. […]. This was the largest audience that ever witnessed an inauguration - period - both in person and around the globe. Even the New York Times printed a photographer… er… photograph, showing that a… a misrepresentation showing the crowd in the original tweet in their paper which showed the full extent of support […] 4 . The press was puzzled, because the contradictions within the press statement were so obvious. Consequently, they interviewed Trump’s advisor Kellyanne Conway. In NBC's Meet the Press, Chuck Todd demands to know, why the “President asked the White House Secretary to come out in front of the podium for the first time and utter a falsehood”. Conway's answer has become legend: You are saying it's a falsehood; […] our Press Secretary Sean Spicer gave alternative facts to that […] 5 . The term “alternative facts” was born (which, incidentally, was awarded un-word of the year 2017 in Germany). Lying politicians, and lying administrators, as well as lying journalists are not new phenomena. Citizens around the world have also had to put up with a wide range of excuses and prevarications by public officials in the media when the latter are confronted with their own lies. What continues to startle the public with this administration, however, is the shamelessness of Trump and his staff, as well as the self-righteous indignation when challenged by the press, even when challenged with factual evidence. 4 Spicer: Inauguration had largest audience ever, in: CNN, 21 January, 2017, https: / / www.youtube.com/ watch? v=PKzHXelQi_A (accessed 26.2.2018). 5 Conway: Press Secretary Gave ‘Alternative Facts’. Meet the Press with Chuck Todd, in: NBC, 21 January, 2017. https: / / www.nbcnews.com/ meet-the-press/ video/ con way-press-secretary-gave-alternative-facts-860142147643 (accessed 26.2.2018). <?page no="75"?> I am arguing that alternative facts (as well as fake news) are a new trend for which two developments mostly are responsible: The digital age, of course, but maybe even more so an academia where the most radical postmodernist dogmas, embedded in cultural studies, have made it into the mainstream outside the academy. And this goes particularly for the USA. 4.2 Discussion My first claim - that ideas like alternative facts and fake news come into being and thrive in the age of the internet - may be more immediately apparent. With social media, discourse in the Foucauldian sense has become both over-regulated and completely unregulated - overregulated, because, as any member of a special interest Facebook group knows, administrators will ban those who do not subscribe to the cause of the group, even in non-political groups. Pro-eating disorder and pro-suicide communities shall serve as an example here: Made up of members who celebrate their illness and encourage each other to stay that way, the groups do not allow doubts about this self-destructive mission 6 . Members or visitors who break the taboo and write “what is prohibited” (again in the Foucauldian sense) 7 are excluded from the discourse. “What is prohibited” is then very narrowly proscribed. On the other hand, the fact that such groups legally exist, and we are not even talking about sites on the Dark Net, shows that the traditional order 6 see, for instance, Stephanie Tierney, The Dangers and Draw of Online Communication: Pro-Anorexia Websites and their Implications for Users, Practitioners, and Researchers, in: Eating Disorders 14/ 3, 2006, p. 181-190. Available online: http: / / www.tandfonline.com/ doi/ abs/ 10.1080/ 10640260600638865; and David D. Luxton, Jennifer D. June, and Jonathan M. Fairall, Social Media and Suicide: A Public Health Perspective, in: American Journal of Public Health 102/ 2, 2012, p. 195-200. DOI: 10.2105 (accessed 26.2.2018). 7 Michel Foucault, The Order of Discourse, in: Michael J. Shapiro (ed.), Language and Politics, Oxford 1984, p. 108-38. 4 Alternative Facts and Fake News 7 5 <?page no="76"?> 76 Silke Järvenpää of discourse is no longer in place. Here (mental) illness, traditionally not in a position of discourse hegemony 8 , finds open channels to assert its power of “expertise” and “truth” (i.e. that staying ill or ending one’s life is a sign of strength), and thus to rule over its own definition of normalcy. Group members are able to avoid critical questioning and live in what scholars call an echo-chamber. The algorithms of social media corporations take care of the rest: Based on the browsing history and the Likes awarded, the machine will steer the user to click on like-minded sites - this has come to be known as a filter bubble. The erosion of the three exclusions that used to participate in the regulation of the discourse also holds for forums of the political, religious, or sexual fringes. This is one reason why sites like the right-wing extremist Breitbart News, the masculinist Return of the Kings, and the anti-science Vaccine Resistance Movement thrive. One could argue that neither Trump’s comments, nor Spicer’s statement, nor Conway’s defense were online activities. However, it looks like the unlimited opportunity to publish, find thousands of followers, and make critics invisible so that any narrative stays unchallenged are increasingly being taken for granted. This may also explain the irritation of new-media savvy Trump, as well as his staff when journalists question them. There is indignation at not being to control the discourse. On the web by the way, the echo-chamber still worked as usual. Parts of the internet community were willing to believe that Conway was a victim of manipulative and “fake journalists” and brave enough to tackle this “fake” journalism that is critical of Donald Trump 9 . One cannot entirely blame them. There is no news story without bias, as countless studies have demonstrated. Journalists have at times been less 8 Foucault (see footnote 7), p. 110. 9 see, for instance, the FAZ collection of Die Mutter aller alternativen Fakten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25 January, 2017. Available online: http: / / blogs.faz.net/ deus/ 2017/ 01/ 25/ die-mutter-aller-alternativen-fakten-4090/ (accessed 26.2.2018). <?page no="77"?> than ethical 10 . And in the digital age, even amateurs can photoshop images and ‘rip’ interviews. But what might have surprised the public is that Spicer and Conway did not dismiss the aerial photograph as fake. It was apparent for everyone that the image depicted fewer people at Trump’s inauguration. Moreover, fact checking has become routine. Yet, Conway defends Spicer’s press statement which claimed Trump’s crowd had been bigger, and then coins the term “alternative facts.” She does not seem to be perturbed by the journalists’ reactions. Chuck Todd, on NBC starts reasoning with her, and loses the argument; CNN’s anchor-man Anderson Cooper bursts out laughing with Conway patiently waiting and declaring that she is “bigger than that” 11 . Here Trump’s staff are not safely inside their echo chamber. But they appear to have the dogmas of critical theory and cultural studies on their side. After all, Jean Francois Lyotard called for “incredulity towards metanarratives” 12 , such as “truth” and “objectivity”. What scholars in the Humanities are starting to realise is that within the past decades Cultural anthropology, sociology, cultural studies and gender studies, for example, have succumbed almost entirely not only to moral relativity but epistemic relativity 13 . Cultural Studies of course is a discipline known for its liberalism and position on the political left. When John Stuart Hall, the last director of the 10 Noam Chomsky, Media Control: The Spectacular Achievements of Propaganda, New York 2008. 11 Anderson Cooper Can't Stop Laughing At Kellyanne Conway. Available online: https: / / www.youtube.com/ watch? v=iNp7bAKpsvw (accessed 26.2.2018). 12 Jean-François Lyotard, The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, Minneapolis/ USA, 1984, reprint 1997, p. xxiv. 13 Helen Pluckrose, How French intellectuals have ruined the West, in: aereo, 27 March, 2017. Available online: https: / / areomagazine.com/ 2017/ 03/ 27/ how-frenchintellectuals-ruined-the-west-postmodernism-and-its-impact-explained/ (accessed 26.2.2018). 4 Alternative Facts and Fake News 7 7 <?page no="78"?> 78 Silke Järvenpää Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham stated that meaning “does not inhere in things. It is constructed, produced” 14 , he meant that scholars should look at discourse and power relations in culture. Hall demanded that the signifying practices of, for instance, minorities be no longer ignored; that the marginalised be taken seriously in the assertion of their identities etc. Therefore, their narratives should be declared as equally valid as those dominating the discourse. In the USA, culture was likewise seen as containing “a number of perpetually competing stories, whose effectiveness depends not so much on an appeal to an independent standard of judgement, as upon their appeal to the communities in which they circulate” 15 . I am not saying that Conway and Spicer are on intimate footing with the theories of cultural studies, although Steve Bannon (who also was in Trump’s team) probably is. But nowhere else but in the US do the media - from the commentators of the New York Times to Hollywood to comedians on National TV - juggle so competently with terms like ‘narrative’, ‘myth’, 'framing', ‘to negotiate meaning’, and the ideas behind them. It also appears to have become commonplace to start debate from constructivism, often radical constructivism. Cultural Studies has long left the academy and settled comfortably in popular culture, a point to which I will return shortly. In order to understand why facts can have alternatives, one needs to look to the academic scene again. There, critical theory became even more radical. In 1991, the renowned journal Critical Inquiry dedicated an entire volume to the topic of constructivism in letters and science and began to question the absoluteness and universality of such ideas as “fact”, “evidence”, and “proof” 16 . Ian McEw- 14 Stuart Hall, The Work of Representation, in: Stuart Hall (ed.), Representation: Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, p. 24. 15 Pluckrose (see footnote 13). 16 Critical Inquiry 1991, 18/ 1, available online: https: / / criticalinquiry.uchicago.edu/ past_issues/ issue/ autumn_1991_v18_n1/ (accessed 26.2.2018). <?page no="79"?> an satirized the deplorable development in his novel Solar. In one chapter a feminist professor of Science Studies argues that genes are “no objective entities” but “entirely manufactured by (the scientists') hypotheses, their creativity, and by their instrumentation... Outside those networks [the gene] did not exist”. Genetics itself is dismissed as “crude objectivism by which [men] seek to maintain and advance the social dominance of the white male elite” 17 . Of course, Solar is fiction, and the parts read like satire on the excesses in academia. What is somewhat disconcerting, however, is that McEwan did not exaggerate. From Shay Akil McLean, blogger and PhD candidates in postcolonial studies to postmodern philosophers like Laurie Calhoun, research is trying to deconstruct exact science and expose it as oppressive ideology. McLean is sure that: “[T]o think there are universal truths,” […], “perpetuates a particular kind of able bodied white cisgender male logic, a world where everything is measured in comparison to them as the ideal type of human that everyone else aberrates from” 18 . Calhoun goes a step further. She redefines the building blocks of scientific methodology as a contemporary form of magical thinking. A colleague recalls a discussion: When I had occasion to ask her whether or not it was a fact that giraffes are taller than ants, she replied that it was not a fact, but rather an article of religious faith in our culture 19 . Politically, the two scholars quoted above are firmly located on the liberal left. Laurie Calhoun, for instance, is known for her research in Peace Studies where she challenges the idea of a “just war” 20 . It is not hard to see, 17 Ian McEwan, Solar, London 2011, p. 183-4. 18 Shay Akil McLean, Decolonize all the science, 2 March, 2017. Available online: https: / / decolonizeallthescience.com/ 2017/ 03/ 02/ (accessed 26.2.2018). 19 cited from Pluckrose (see footnote 13). 20 Daniel Friberg, Metapolitics from the Right, in: The Real Right returns, n.p., 2015, p. 17-25. His understanding of Metapolitics from the Right is also available on various right-wing websites, such as http: / / sigurfreyr.is/ innrasin-evropu-daniel-friberg/ - in other words Friberg has become a household name for the New Right and Identitarian movements. 4 Alternative Facts and Fake News 7 9 <?page no="80"?> 80 Silke Järvenpää however, why authoritarians and right wing populists are usurping the toolkit of such postmodernist thought. Constructivism becomes a weapon, served on a silver platter by the liberal left. The New Right, or alt-Right in the US - large parts of which are backing Trump - is discovering Cultural Studies and calling it ‘Metapolitics from the Right’. Quoting Marx, Gramsci and Foucault, they are finding that the war for domination is “about affecting and shaping people’s thoughts, worldviews, and the very concepts which they use to make sense of and define the world around them” 21 . What comes in especially handy is the erosion of rational discourse. If reality becomes so arbitrary that facts, evidence and logic should be discarded because they are merely political and ideological, then it follows that there are “alternative facts”. Sensory perception has lost any value in argument. It, too, has become an article of ideology. Seeing a larger crowd at Trump’s inauguration and negating one’s cognitive dissonance, when faced with visual evidence, turns into a sign of loyalty to Trump. Arguing on the basis of alternative facts and following the (right) fake news will naturally lead to very different “concepts which people use to make sense of the world around them” (to quote Friberg again), inside and outside the digital echochambers. What distinguishes today’s and yesterday’s use of lies and fake news, however, is less apparent. We know dictatorships that have successfully brainwashed their populations. Hitler’s and Stalin’s propaganda ministries stand out. History was rewritten, un-persons retouched out of photographs. Orwell satirized even the idea of reality as a construction of the Party in his novel 1984; so that idea must have been around in the mid-20 th century: “Reality is inside the skull. […] There is nothing that we could not do. Invisibility, levitation — anything. I could float off this floor like a soap bubble if I wish to. I do not wish to, because the Party does not wish it. You must get rid of those nineteenth-century ideas about the laws of Nature. We make the laws of Nature” 22 . 21 Friberg (cf. footnote 20), p. 17. 22 George Orwell, Nineteen-Eighty-Four, London 2013, p. 153. <?page no="81"?> Oceania’s 1984 and the world of 2017 with its “alternative facts” both share epistemological idealism in the broadest sense. However, America in 2017 is actually more absurd than Orwell’s world, or the world of 20 th century totalitarian regimes. With the internet available to all, and users themselves playing Big Brother, the dissemination of information is not controlled by any Inner Party. Users turn into pseudo-experts in all areas, doubting real expertise - ultimately this serves to delegitimize authorities and the realities they have created. As recent studies have found, people with strong opinions tend not to be swayed by facts and evidence, but instead cling to their misconceptions (the anti-vaccination movement is a case in point here) and embrace alternative facts all the more willingly 23 . Critical theory which has seeped into popular culture in a vulgarized version again serves as ammunition. Excesses in the cultural studies have indeed undermined the power of rational argument as such. If there is nothing but conflicting narratives that battle for discourse hegemony, if the irrational is as valid as the rational, if there is nothing more important than identity and the politics of identity, then each group can make use of this moral as well as epistemological relativity. In that respect, alternative news and fake news are brainchildren of cultural studies. But ultimately, I will still call alternative facts and fake news illegitimate brainchildren. It would be naïve to go back to universalism, monoperspectives and closed systems of thought in the Humanities. Cultural Studies has brought about valuable findings: the realisation that Enlightenment values have a dark side to them; that seemingly objective discourses are biased and disenfranchising communities, and that downplaying difference will hinder progress. Postcolonial cultures and women have profited immensely - with very material consequences. Feminist critique, for in- 23 Sandra Gorman, Jack Gorman, Denying to the Grave. Why We Ignore the Facts That Will Save Us, Oxford 2016. 4 Alternative Facts and Fake News 81 <?page no="82"?> 82 Silke Järvenpää stance, gave rise to a new way of looking at medicine, both from a doctor’s and from a researcher’s perspectives, with more appropriate drugs and treatment for female patients. Postcolonial thought effected a positive change in development cooperation. And as Cultural Studies is part and parcel of neighbouring disciplines, such as Media Studies, its postulates, rhetorics, and theories have successfully spread to the general public through pop-culture again. There is a certain cross-fertilisation between cultural studies and popular culture. 4.3 Conclusion I do not doubt that cultural studies will continue to yield valuable results. But it is at a crossroads. Its benefit lies in its eclecticism - the fact that it was rooted firmly in the Humanities where it refused to submit to any one ideology. The danger with the more radical protagonists of Cultural Studies is their tendency to leave the Humanities and to create ideology with orthodoxies governing. Often, the idea of radical constructivism was distorted in the first place. Whereas constructivists concede that constructs of reality cannot be arbitrary, because they are rooted in experience of the physical world and therefore based on viability 24 , scholars on the fringe of critical theory made a mockery of themselves by composing or passing papers for publication that questioned the laws of nature 25 . The meaningful study of cultures also accepted certain tried and tested methods of hermeneutics. When logic or the act of reasoning are questioned, Cultural Studies has subverted itself, because it will become faith-based. It will cater to esoterics (political or religious) and provide them with the justification for alternative facts and fake news. 24 Siegfried J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, Frankfurt 1996, p. 12-13. 25 Alan Sokal, Beyond the Hoax. Science, Philosophy, and Culture, Oxford 2009. <?page no="83"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imi tation digitaler Geschäftsmodelle Daniel Jan Ittstein <?page no="85"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 85 5.1 Einleitung Mit Fake verbindet man heutzutage vor allem Negatives - denke man nur an Fake-News, Fake-Science oder Fake-Produkte. Bei Weitung des Sichtfelds und damit des Interpretationsspielraums erkennt man, dass im wirtschaftlichen Umfeld Fake im Sinne der Nachahmung und Imitation nicht nur seit jeher eine sehr große Bedeutung hat, sondern ökonomisch sinnvoll sein kann. Eine besondere Spielart des wirtschaftlichen Fakes nennt man Copycat. Darunter wird der Prozess des Kopierens, Nachbildens oder Wiederholens einer Erfindung oder Innovation verstanden. Ziel ist es, Produkte, Prozesse oder Geschäftsmodelle zu imitieren - entweder indem man die Vorlage „eins zu eins“ nachahmt oder diese direkt mit Variationen und Anpassungen abbildet 1 . Auch wenn man den Begriff der Copycats natürlich oft mit illegalen Formen der Produktpiraterie und Fälschungen verbindet, so sollen diese nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Es geht vielmehr um die Fähigkeiten eines interkulturell adäquaten und dadurch erfolgreichen Imitierens digitaler Geschäftsmodelle mit dem Ziel ökonomischen Mehrwert zu generieren - ohne Eigentumsrechte zu verletzen. Die Beispiele erfolgreicher Copycats sind mannigfach und nicht auf digitale Geschäfte beschränkt. So hat McDonalds das Geschäftsmodell von White Castle imitiert, VISA das von Diners Club International und die graphische Benutzeroberfläche der Apple Macintoshs wurde jener des Xerox PARC entlehnt 2 . Oft sind die Copycats wirtschaftlich erfolgreicher als ihre Originale. Entsprechend kommen Untersuchungen zu der Erkenntnis, dass 97,8% der Wertschöpfung einer Innovation durch deren Imitationen erzielt werden 3 . 1 Oded Shenkar, Copycats: Gut Kopiert Ist Besser Als Teuer Erfunden, 1. Aufl., München 2011, S. 10. 2 Shenkar (wie Anm. 1), S. 8. 3 William D. Nordhaus, Schumpeterian Profits in the American Economy: Theory and Measurement, National Bureau of Economic Research, 2004. <?page no="86"?> 86 Daniel Jan Ittstein Umso erstaunlicher ist es, dass Copycats in der westlichen Hemisphäre nach wie vor in weiten Teilen der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur stigmatisiert werden. Man hält auf breiter Basis vehement an einem (veralteten) Innovationsverständnis fest, das stark vereinfacht impliziert, dass Innovation gut und Imitation schlecht ist. Dies ist vor allem im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr angemessen. Begünstigt durch ökonomische Eigenschaften digitaler Produkte wie Nichtrivalität, marginalisierte Grenzkosten oder den Netzwerkeffekt geschieht Innovation in diesem Umfeld vorwiegend durch die geschickte (neue) Kombination einzelner (digitaler) Bausteine 4 . Verbunden mit der weit verbreiteten Überzeugung, dass digitale Geschäftsmodelle keinen geographischen Limitationen unterliegen, wurden und werden international sehr viele digitale Copycats etabliert. So geht man zum Beispiel davon aus, dass einst das US-amerikanische Facebook in weiten Teilen das Geschäftsmodell des südkoreanischen cyworld übernommen hat, das deutsche StudiVZ sich wiederum stark an Facebook „orientierte“ und so weiter. Die Beispiele solcher internationalen digitalen Geschäftsmodellkopien sind zahlreich, und es haben sich sogar wahre „Copycat-Fabriken“ wie Rocket Internet entwickelt, deren übergreifendes Geschäftsmodell darauf basiert, effizient Geschäftsmodelle international zu imitieren und zu monetarisieren. Allerdings gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass das internationale Nachahmen von Geschäftsmodellen nicht funktioniert, wenn man die entscheidenden Kontextvariablen missachtet. Insbesondere die Versuche, westliche Geschäftsmodelle im asiatischen Markt nachzuahmen, waren bislang häufig erfolglos, was meist an der Missachtung der Kontextvariablen Interkulturalität liegt. Zum Einfluss der Interkulturalität auf digitale Geschäftsmodelle wurde bislang äußerst wenig geforscht. Hintergrund ist vor allem, dass man sich 4 Erik Brynjolfsson and Andrew McAfee, The Second Machine Age: Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies, New York 2016, S. 81. <?page no="87"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 87 im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs sowie in der Praxis vorwiegend auf die Universalitätsthese stützt, die stark vereinfacht postuliert, dass digitale Geschäftsmodelle keinen geographischen Limitationen unterliegen würden 5 . Es gibt einzelne Studien, die sich mit interkulturellen Herausforderungen bei der Auslandsexpansion von Geschäftsmodellen im stationären Einzelhandel und Beratungsgeschäft auseinandersetzen. Kultur wird dabei nationalstaatlich determiniert und unter Einbeziehung sogenannter Dimensionen-Modelle analysiert 6 . Man kann also durchaus feststellen, dass bei der Erforschung von Interkulturalität im Zusammenhang mit digitalen Geschäftsmodellen und digitaler Geschäftsmodellinnovation eine Forschungslücke besteht. Aufgrund einer sowohl in der Praxis als auch in der Wirtschaftswissenschaft verbreiteten Stigmatisierung von Imitationsprozessen, wurde bislang auch über Copycats kaum geforscht. So merkt Niosi an: „Imitation is understudied. In most books, articles, and even encyc lo paedias of economics and management, imitation simply does not exist” 7 . In einzelnen Arbeiten, wie die von Levitt 8 , Shenkar 9 oder auch Enkel und Gassmann 10 , wird das Thema immer wieder thematisiert. Aber eine wissenschaftlich breite und fundierte Auseinandersetzung mit der Imitation ist nicht zu erkennen. Gerade 5 Lanlan Cao, Jyoti Navare, and Zhongqi Jin, Business Model Innovation: How the International Retailers Rebuild Their Core Business Logic in a New Host Country, International Business Review, 27.3 (2018), S. 543-562. 6 Geert H. Hofstede, Gert Jan Hofstede, and Michael Minkov, Cultures and Organizations: Software of the Mind; Intercultural Cooperation and Its Importance for Survival, Rev. and expanded 3. ed., New York 2010. 7 Jorge Niosi, Innovation and Development through Imitation (In Praise of Imitation), in: Meeting of the International Schumpeter Society, Brisbane 2012, S. 3. 8 Theodore Levitt, Innovative Imitation, Harvard Business Review, 44.5 (1966), S. 63- 70. 9 Shenkar (wie Anm. 1). 10 Ellen Enkel and Oliver Gassmann, Creative Imitation: Exploring the Case of Cros s Indu stry Innovation, R&D Management, 40.3 (2010), S. 256-70. <?page no="88"?> 88 Daniel Jan Ittstein im Bereich der internationalen Imitation digitaler Geschäftsmodelle gibt es bislang keine Forschung. Dies steht im starken Kontrast zu der beobachtbaren Bedeutung der internationalen Imitation digitaler Geschäftsmodelle. Die Fragestellung des Beitrags knüpft folglich an diverse Desiderate an. Vor dem Hintergrund der Nähe einer Imitation zur Innovation wird im Folgenden das Rahmenmodell für Interkulturelle Geschäftsmodellinnovation 11 genutzt, um die Rolle der Interkulturalität bei digitaler Geschäftsmodellimitation am Beispiel von Amazons Markteintritt in den noch jungen Online-Versandhandel in Indien zu analysieren. Ziel ist es, konkrete Propositionen abzuleiten, die eine weitere Forschung in diesem Bereich unterstützen sollen. 5.2 Geschäftsmodelle Obwohl die Beschäftigung mit Geschäftsmodellen (Business Models, BM) für die unternehmerische Praxis und für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung an Relevanz gewinnt, besteht erstaunlich wenig Übereinkommen, was darunter zu verstehen ist. Geschäftsmodelle werden bezeichnet als „Erklärung“ 12 , „Repräsentation“ 13 , „Architektur“ 14 , „strukturierte Vorlage“ 15 , „Methode“ 16 , „Rahmen“ 17 , „System“ oder als „konzeptionelles 11 Daniel Jan Ittstein, Interkulturalität bei digitaler Geschaftsmodellinnovation am Beispiel von Amazons Markteintritt in Indien, in: Digitalisierung und (Inter-)Kulturalität - Formen, Wirkung und Wandel von Kultur in der digitalisierten Welt, hg. von Katharina von Helmolt and Daniel Jan Ittstein, Stuttgart 2018, S. 215-241, hier S. 222. 12 David W. Stewart and Qin Zhao, Internet Marketing, Business Models, and Public Policy, Journal of Public Policy & Marketing, 19.2 (2000), 287-296, hier S. 288. 13 Scott M. Shafer, H. Jeff Smith, and Jane C. Linder, The Power of Business Models, Business Horizons, 48.3 (2005), S. 199-207, hier S. 202. 14 Magali Dubosson-Torbay, Alexander Osterwalder, and Yves Pigneur, E-business Model Design, Classification, and Measurements, Thunderbird International Business Review, 44.1 (2002), S. 5-23, hier S. 7. 15 Raphael Amit and Christoph Zott, Value Creation in E business, Strategic Management Journal, 22.6 -7 ( 2001), 493-520, hier S. 494. <?page no="89"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 89 Werkzeug“ 18 . Ungeachtet der mannigfachen Bezeichnungen von Geschäftsmodellen geht es dabei im Kern um die Wertschöpfungsmechanik von Organisationen - also um die Logik wie man als Unternehmen Werte schafft, diese Werte an Kunden „liefert“ und wie daraus Erträge erwirtschaftet werden 19 . Für die weiteren Überlegungen und die Analyse der Copycats in diesem Artikel soll der Ansatz von Osterwalder und Pigneur verwendet werden, da dieser eine Kombination von zahlreichen Theorien darstellt und der daraus entwickelte „Business Model Canvas“ in der Praxis äußerst stark verbreitet ist. Osterwalder und Pigneur 20 definieren ein Geschäftsmodell als: „[…] a conceptual tool that contains a set of elements and their relationships and allows expressing the business logic of a specific firm. It is a description of the value a company offers to one or several segments of customers and of the architecture of the firm and its network of partners for creating, marketing, and delivering this value and relationship capital, to generate profitable and sustainable revenue streams.” 16 Amit and Zott (wie Anm. 15), S. 495. 17 Allan Afuah, Business Models: A Strategic Management Approach, Irwin 2004, S. 11. 18 Alexander Osterwalder and Yves Pigneur, Business Model Generation: A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers, 1. Aufl., Hoboken, NJ 2013, S. 15; Alexander Osterwalder, Yves Pigneur, and Christopher L. Tucci, Clarifying Business Models: Origins, Present, and Future of the Concept, Communications of the Association for Information Systems, 16.1 (2005), S. 5. 19 Oliver Gassmann, Karolin Frankenberger, and Michaela Csik, Geschäftsmodelle entwickeln: 55 Innovative Konzepte mit dem St. Galler Business Model Navigator, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2017. 20 Osterwalder, Pigneur, and Tucci (wie Anm 18), S. 5. <?page no="90"?> 90 Daniel Jan Ittstein Abbildung 1: Business Model Canvas. Eigene Darstellung in Anlehnung an Osterwalder und Pigneur 21 Osterwalder und Pigneur haben den Business Model Canvas als Rahmenmodell entwickelt, das die wesentlichen Elemente eines Geschäftsmodells enthält. Dieses konzeptionelle Werkzeug ist daher eine gute Basis für eine strukturierte Analyse und Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen. Der Business Model Canvas enthält neun Felder mit sogenannten „Schlüsselfaktoren“. Bei der Analyse oder Entwicklung eines Geschäftsmodells müssen sie iterativ mit Inhalt gefüllt und in eine sinnvolle Beziehung zueinander gebracht werden. Bei besagten Schlüsselfaktoren handelt es sich um: Schlüssel-Partner - strategische Partner, um die Leistung erbringen zu können oder auch Risiken zu verteilen; Schlüssel-Aktivitäten - Tätigkeiten, die durchgeführt werden müssen, um ein Produkt herzustellen oder eine Leistung zu erbringen; Schlüssel-Ressourcen - Ressourcen wie Räume oder Personal, die benötigt werden, um das Produkt herzustellen oder die Dienstleistung zu erbringen; Nutzen-Versprechen - Nutzen eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten Dienstleistung für den Kunden; Kunden-Beziehung - Art der Beziehung, die man mit dem Kunden auf- 21 Osterwalder and Pigneur (wie Anm. 18), S. 44. <?page no="91"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 91 baut, um das Kundenbedürfnis zu befriedigen, Marketingkanäle - Vertriebs- und Kommunikationskanäle über die der Kunde von dem Produkt oder der Leistung erfährt und diese erhält; Kunden-Arten - Zielgruppe(n) die man mit dem Produkt ansprechen möchte; Kostenstruktur - anfallende Kosten, um das Produkt oder die Dienstleistung herzustellen; Einnahmequellen: Optionen wie man im Rahmen des Geschäftsmodells Geld erwirtschaften kann 22 . 5.3 Digitale Geschäftsmodelle und ihre Imitation In der durch die Digitalisierung getriebenen Wirtschaft hat die Beschäftigung mit Geschäftsmodellen in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen 23 . Gründe dafür sind unter anderem die Reproduzierbarkeit digitaler Güter zu marginalen Grenzkosten, eine faktisch nicht vorhandene Konsumptionsrivalität digitaler Information sowie die Tatsache, dass jeder weitere Nutzer den Nutzen für die anderen Nutzer erhöht 24 . Dies eröffnet völlig neue Möglichkeiten, Werte zu schaffen, diese Werte an Kunden zu liefern und daraus Erträge zu generieren. Beispiele für diese neuen Möglichkeiten sind zahlreiche digitale Geschäftsmodelle wie Amazon, Facebook, Twitter, WeChat, Baidu, Spotify, Uber, Airbnb oder GoogleMaps. Die ökonomischen Charakteristika dieser digitalen Geschäftsmodelle sind: die hohe Kontaktdichte zwischen den Akteuren, die geringeren Wechselkosten, eine hohe Transparenz des Kunden- und Firmenverhaltens, geringere Transaktionskosten, umfangreiche und günstige Preisdifferenzierungsmöglichkeiten sowie geringe geographische Limitationen 25 . 22 Osterwalder and Pigneur (wie Anm 18), S. 17. 23 Jacques Bughin, Tanguy Catlin, and Laura LaBerge, How Digital Reinventors Are Pulling Away from the Pack, McKinsey Global Institute, 2017. 24 Brynjolfsson and McAfee (wie Anm. 4), S. 60. 25 Karl Täuscher, Business Models in the Digital Economy: An Empirical Classification of Digital Marketplaces (unveröffentlichte PhD Thesis, Fraunhofer Center for International Management and Knowledge Economy, 2016, S. 10. <?page no="92"?> 92 Daniel Jan Ittstein Gerade die geringe geographische Distanz wird häufig als eines der wesentlichen ökonomischen Charakteristika digitaler Geschäftsmodelle bezeichnet. So fassen Afuah und Tucci zusammen: „Eliminating geographic distance is the most important property of the Internet for all […] value configurations” 26 . Diese Eigenschaft des Internets und der daraus entstehenden Geschäftsmodelle bezeichnen die Autoren als „Universality“ 27 . Diese Universalitätsthese führt unter anderem dazu, dass global sehr viele digitale Geschäftsmodelle imitiert werden. Dabei sind die Spielarten der Imitation vielfältig. Teilweise wird versucht „eins zu eins“ zu kopieren, oft werden einzelne Teile der Geschäftsmodelle (wie eine gelungene Logistikleistung oder ein komfortabler Bezahlvorgang) nachgeahmt und integriert oder man orientiert sich lediglich an Kontextfaktoren (wie zum Beispiel der potentiellen Kundschaft). Oft kopieren neue Wettbewerber branchenübergreifend Ansätze bewährter Geschäftsmodelle und etablierte Marktteilnehmer orientieren sich an neuen, disruptiven Geschäftsideen, um ihren Innovationsgrad zu erhöhen. Folge dessen kann konstatiert werden, dass ein erheblicher Teil der Wertschöpfung im Rahmen der globalen Digitalwirtschaft und dabei insbesondere im Rahmen der sogenannten Plattformökonomie 28 , auf der Imitation anderer Geschäftsmodelle und derer Bestandteile basiert und im Rahmen des World Wide Web zumindest die Inspiration keine Grenzen kennt. 26 Allan Afuah and Christopher L. Tucci, Internet Business Models and Strategies, New York 2001, S. 103. 27 Afuah and Tucci (wie Anm. 26), S. 28. 28 Die Plattformökonomie ist ein umfassender Begriff für wirtschaftlich ausgerichtete, digitale Interaktion und Transaktion zwischen Marktteilnehmern. Plattformen können sein: Suchmaschinen, Marktplätze/ Handelsplattformen, Vergleichs- und Bewertungsportale, Mediendienste, Online-Spiele, Soziale Netzwerke sowie Kommunikationsdienste. <?page no="93"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 93 Abbildung 2: Fähigkeiten des Copycat-Prozesses. Eigene Darstellung in Anlehnung an Shenkar 29 Die zentralen Fähigkeiten des Copycat Prozesses umfassen das Identifizieren, Kontextualisieren und Implementieren von Nachahmungsmodellen. Diese Fähigkeiten sind alle eng miteinander verknüpft und bauen aufeinander auf. Bei der Identifikation ist es von besonderer Bedeutung, nachahmungswerte Geschäftsmodelle zu erkennen und einzelne Produkte, Prozesse, Dienstleistungen, Methoden, Ideen oder Modelle zu analysieren. Im Rahmen der Kontextualisierung werden relevante Umfeldfaktoren identifiziert, die das Geschäftsmodell und seine Bestandteile beeinflussen. Ebenso wird das interdependente Wirkungszusammenspiel der Bestandteile eines Geschäftsmodells im Rahmen eines spezifischen Kontextes untersucht. Im Rahmen der Implementierung werden die nachgeahmten Elemente bis hinunter auf die operative Ebene etabliert. Um erfolgreich imitieren zu können, müssen diese Fähigkeiten auf Basis einer professionellen „Imitations-Kultur“ eingebracht werden, die nicht nur bedingt, dass die richtigen Menschen sich ernsthaft mit dem Prozess beschäftigen und sich 29 Shenkar (wie Anm. 1), S. 94. Identifizieren Kontextualisieren Implementieren Imitations-Kultur <?page no="94"?> 94 Daniel Jan Ittstein damit identifizieren, sondern, dass diese Tätigkeit auch in der Organisation nicht nur akzeptiert, sondern geschätzt wird 30 . Im Rahmen einer erfolgreichen digitalen Geschäftsmodellimitation kommt es darauf an, dass für den Kunden oder Nutzer ein neuartiger Wert im entsprechenden Kontext entsteht. Entsprechend ist die Unterscheidung zwischen einer „echten“ Innovation und einer guten Imitation im internationalen Kontext recht schwierig, da es durchaus sein kann, dass durch die Imitation eines Geschäftsmodells und dessen „Übersetzung“ und Implementierung in einen neuen Kontext neuartige Nutzwerte für den Kunden geschaffen werden können. 5.4 Interkulturalität bei digitalen Geschäftsmodellen Auch digitale Geschäftsmodelle funktionieren immer im Rahmen eines spezifischen Kontexts. Dieser Kontext kann unter anderem als „Markt“ 31 , „Business Model Environment“ 32 oder „Influencers“ 33 bezeichnet werden. Der Kontext ist immer ein äußerst heterogenes Gebilde, welches durch juristische, politische, geographische, ökonomische oder sonstige Faktoren determiniert ist. Ein Kontextfaktor spielt für Geschäftsmodelle eine besondere Rolle: die Kultur - aufgrund ihrer struktur- und prozessbeeinflussenden Natur. In der Managementliteratur und -praxis wird über zahllose unternehmerische Fehlschläge berichtet, die letztendlich eine gemeinsame Ursache haben: die Missachtung kulturspezifischer Normen, Werte und Verhaltensweisen. Denn diese beeinflussen das Verhalten von Managern, Konsumen- 30 Shenkar (wie Anm. 1), S. 94. 31 Stefan Müller and Katja Gelbrich, Interkulturelles Marketing, 2., vollständig überarbeitete Auflage, München 2015, S. 3. 32 Osterwalder and Pigneur (wie Anm. 18), S. 200. 33 Kai Hammerich, Fish Can’t See Water: How National Culture Can Make or Break Your Corporate Strategy Chichester 2013, S. 25. <?page no="95"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 95 ten und anderen Marktakteuren nicht nur unmittelbar, sondern wirken sich auch mittelbar aus, indem sie andere Kontextfaktoren unternehmerischer Entscheidungen sowie rechtliche oder ökonomische Faktoren beeinflussen 34 . Dabei ist „Kultur“ ein mehrdeutiges Konstrukt und Gegenstand der verschiedensten, zum Teil höchst divergierenden Definitionen. Diese Differenzierungen sind fundamental und wohlbegründet, da je nachdem in welcher Epoche, mit welchem theoretischen Hintergrund (z.B. Anthropologie, Ethnologie, Kulturwissenschaften, Sozialpsychologie, Wirtschaftswissenschaft) und mit welchem Erkenntnisinteresse (z.B. verstehen vs. erklären) eine Definition formuliert wurde, unterschiedliche Facetten dieses komplexen Konstrukts im Vordergrund der Betrachtung stehen. In der Interkulturellen Managementforschung überwiegen nach wie vor vergleichend ausgerichtete Ansätze. Sie verstehen Kultur vorwiegend als ein nationales Wertesystem und analysieren dessen Einfluss auf Managementpraktiken 35 . Seit einigen Jahren etabliert sich daneben eine interpretativ ausgerichtete Forschung, in deren Mittelpunkt unterschiedliche Bedeutungssysteme und deren Einfluss auf das Management stehen. Kulturelle Unterschiedlichkeit wird demnach nicht nur nationalkulturell definiert und durch „nationale“ Kulturdimensionen erklärt. Vielmehr wird versucht, 34 Müller and Gelbrich (wie Anm. 31), S. 4. 35 Andreas Engelen and Eva Tholen, Interkulturelles Management, 1. Aufl., Stuttgart 2014; Dirk Holtbrügge and Martin K. Welge, Internationales Management: Theorien, Funktionen, Fallstudien, 6., vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart 2015; Hartmut H. Holzmüller, Prozeduale Herausforderungen in der Forschung zum Interkulturellen Management und Ansätze zu deren Handhabung, in: Internationales Management: Forschung, Lehre, Praxis, hg. von Michael-Jörg Oesterle and Stefan Schmid Stuttgart 2009; Richard D. Lewis, When Cultures Collide: Leading Across Cultures, New York, 2010; Reinhard Meckl, Internationales Management, 3., überarbeitete Auflage, München, 2014; Manfred Perlitz and Randolf Schrank, Internationales Management, 6., vollständig neu bearbeitete Auflage, Konstanz 2013; Michael Schugk, Interkulturelle Kommunikation in der Wirtschaft: Grundlagen und Interkulturelle Kompetenz für Marketing und Vertrieb, 2., aktualisierte und erw. Aufl., München 2014. <?page no="96"?> 96 Daniel Jan Ittstein vielfältige Kulturen und Identitäten zu berücksichtigen (z.B. Multiple- Culture-Ansätze) 36 . Ungeachtet des zugrundeliegenden Paradigmas herrscht unverändert eine ausgeprägte Problemorientierung in der Interkulturellen Managementforschung vor 37 . Interkulturelle Handlungen werden vorwiegend als problematisch oder zumindest als herausfordernd gesehen. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich interkulturelle Managementforschung darauf, diese Probleme zu minimieren oder deren Folgen zu beseitigen. Eine andere Perspektive ist es, Interkulturalität im Management potentiell positiv - als konstruktive Ressource - zu sehen. Durch die bewusste Wahrnehmung von interkulturellen Unterschieden kann diese Vielfalt konstruktiv synergetisch genutzt werden - zum Beispiel um innovativer zu sein, bessere Produkte zu entwickeln, die Mitarbeitermotivation zu erhöhen oder bessere Geschäftsmodelle zu entwickeln beziehungsweise Geschäftsmodelle besser zu imitieren. Natürlich heißt das nicht, dass man die Herausforderungen negiert oder nicht sehen sollte. Aber der Fokus liegt darauf, positive Synergien zu finden, die durch Interkulturalität entstehen können. In der betrieblichen Praxis von (Digital-)Unternehmen ist diese konstruktiv synergetische Sichtweise bereits deutlich stärker als in der Forschung verbreitet. Digitale Initiativen, Firmengründungen oder auch die erfolgreiche Etablierung von digitalen Copycats werden bereits seit vielen Jahren am Bedarf möglicher Kunden(gruppen) ausgerichtet 38 . Mit Methoden wie dem „Design Thinking“ wird die Perspektive im Rahmen der (digitalen) Produktentwicklung wiederholend auf den Kundennutzen von kleinen Gruppen 36 Christoph Barmeyer and Eric Davoine, Konstruktives Interkulturelles Management: Von Der Aushandlung Zur Synergie, Interculture Journal: Online-Zeitschrift Für Interkulturelle Studien, 15.26 (2016), S. 97-115, hier S. 100. 37 Barmeyer and Davoine (wie Anm. 36), S. 100. 38 Steve Blank, Why the Lean Start-up Changes Everything, Harvard Business Review, 91.5 (2013), S. 63-72; Eric Ries, The Lean Startup: How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses, London 2011. <?page no="97"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 97 oder gar Individuen gelenkt 39 . Dabei orientieren sich diese Methoden zumeist an ethnographischen Ansätzen 40 . Mittels dichter Beschreibung werden Kundenbedürfnisse evaluiert, um darauf basierend Produktfunktionalitäten zu definieren. Im Rahmen der Kundeninteraktion werden durch die digital-technischen Möglichkeiten der Akteurs-Analyse (Stichworte: Big Data, maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz) Kundenbeziehungen in einem sehr großen Ausmaß individualisiert. „Customers are identified every time they visit a website, and a great deal of information about each customer can be accumulated over time. Based on this information, firms can customize products or services for particular customers. In fact, the Internet is the ideal medium for serving the fragmented nature of today’s consumer markets, and it is becoming increasingly viable for a firm to communicate and deliver content over the Internet to small niche markets.” 41 In der Verschiedenheit der Kunden wird bei Digitalunternehmen eine Chance gesehen. Aus digitalgeschäftlicher Sicht bietet jede noch so kleine Unterschiedlichkeit eine Möglichkeit, ein spezifisches Geschäftsmodell zu entwickeln und damit ein Bedürfnis einer Kundengruppe oder gar eines Individuums zu erfüllen 42 . Wenn man sich also mit digitalen Unternehmen, deren Geschäftsmodellen und Geschäftsmodellimitation beschäftigt, macht es keinen Sinn, in nationalen Kategorien zu denken. Vielmehr sollte 39 Michael Lewrick, Patrick Link, and Larry Leifer, Das Design Thinking Playbook: Mit traditionellen, aktuellen und zukünftigen Erfolgsfaktoren, München 2017. 40 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973; Christine Hine, Ethnography for the Internet: Embedded, Embodied and Everyday, London 2015. 41 Eonsoo Kim, Dae-il Nam, and J. L. Stimpert, The Applicability of Porter’s Generic Strategies in the Digital Age: Assumptions, Conjectures, and Suggestions, Journal of Management, 30.5 (2004), S. 569-89, hier S. 576. 42 Michael Neubert, The Impact of Digitalization on the Speed of Internationalization of Lean Global Startups, Technology Innovation Management Review, 8.5 (2018). <?page no="98"?> 98 Daniel Jan Ittstein versucht werden, die Stakeholder aus einer emischen Perspektive zu verstehen und mit ihr auf dieser Basis zu interagieren, um gemeinsam Werte zu schaffen. Zu diesem interaktiven Wertentwicklungsverständnis passt im interkulturellen Kontext kein statisches Kulturmodell sondern vielmehr das dynamische Konzept der „negotiated culture“ 43 . Negotiated culture „views organizations as settings where patterns of meaning and agency arise from the ongoing interactions and exchanges of its members in particular organizational contexts.” 44 Barmeyer und Davoine (2016) spezifizieren: „Um Aufgaben in sozialen Systemen zu verrichten, werden durch laufende Aushandlungsprozesse der Akteure soziale Strukturen geschaffen, stabilisiert oder verändert. Interagieren nun Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit miteinander, so entsteht eine neue „ausgehandelte“ Kultur durch die Rekombination und Modifikation kultureller Merkmale und Bedeutungen. Ausgehandelter Kultur liegt ein anthropologisch orientierter interpretativer und sozialkonstruktivistischer Kulturbegriff zugrunde: Kultur ist demnach dynamisch und konstituiert sich durch interaktive (Re-)Produktion von Bedeutungs- und Interpretationsmustern, die von einer bestimmten, eingegrenzten Gruppe Individuen geteilt werden. Bedeutung wird nicht einfach wie in monokulturellen Kontexten ‚ üb ertragen‘, sondern sie wird (re-)vereinbart oder (re-)konstruiert.“ 45 43 Mary Yoko Brannen, Negotiated Culture in Binational Contexts: A Model of Culture Change Based on a Japanese/ American Organizational Experience, Anthropology of Work Review, 18.2 -3 (1998), S. 6-17, hier S. 9. 44 Mary Yoko Brannen, Culture in Context: New Theorizing for Today’s Complex Cultural Organizations, in: Beyond Hofstede, Hamburg 2009, S. 81-100, hier S. 90. 45 Barmeyer and Davoine (wie Anm. 36), S. 104. <?page no="99"?> 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 99 5.5 Interkulturalität bei digitaler Geschäftsmodellimitation Auch im Rahmen der Imitation eines Geschäftsmodells für einen neuen Markt entsteht eine neu ausgehandelte Kultur. Denn damit ein Geschäftsmodell in einem anderen Markt funktioniert, müssen maßgebliche Anpassungen an den kulturellen Kontext durchgeführt werden. Diese Anpassungen entstehen durch ein permanentes Aushandeln zwischen den Beteiligten (z.B. Kunden, Serviceeinheiten) und könnten als interkulturelle Geschäftsmodellinnovation bezeichnet werden soweit es sich um eine signifikante Veränderung der Wertschöpfungsmechanik handelt 46 . “[Business model innovation is] the fundamental reconceptualization of the business model and the reshaping of existing markets (by breaking the rules and changing the nature of competition) to achieve dramatic value improvements for customers and high growth for companies.” 47 46 Jaakko Aspara, Joel Hietanen, and Henrikki Tikkanen, Business Model Innovation vs Replication: Financial Performance Implications of Strategic Emphases, Journal of Strategic Marketing, 18.1 (2010), 39-56; Jaakko Aspara and others, Corporate Business Model Transformation and Inter-Organizational Cognition: The Case of Nokia, Long Range Planning, 46.6 (2013), 459-74; Benoît Demil and Xavier Lecocq, Business Model Evolution: In Search of Dynamic Consistency, Long Range Planning, 43.2 (2010), S. 227-46; Oliver Gassmann, Karolin Frankenberger und Michaela Csik, Revolutionizing the Business Model, in: Management of the Fuzzy Front End of Innovation, Springer 2014, S. 89-97; Saeed Khanagha, Henk Volberda, and Ilan Oshri, Business Model Renewal and Ambidexterity: Structural Alteration and Strategy Formation Process during Transition to a Cloud Business Model, R&D Management, 44.3 (2014), S. 322-340; Rita Gunther McGrath, Business Models: A Discovery Driven Approach, Long Range Planning, 43.2 (2010), S. 247-261; David J. Teece, Business Models, Business Strategy and Innovation, Long Range Planning, 43.2 (2010), S. 172- 94. 47 Bodo B. Schlegelmilch, Adamantios Diamantopoulos, and Peter Kreuz, Strategic Innovation: The Construct, Its Drivers and Its Strategic Outcomes, in: Journal of Strategic Marketing, 11.2 (2003), S. 117-132, hier S. 117. <?page no="100"?> 100 Daniel Jan Ittstein Nun geht man weitläufig davon aus, dass bei einer Nachahmung, der Kopie oder der Imitation eben nicht solch eine signifikante Veränderung entsteht. Es wird erwartet, dass ein Geschäftsmodell „einfach“ in einem anderen Markt umzusetzen und dies nicht „innovativ“ sei. Bei näherer Betrachtung jedoch muss man erkennen, dass die Imitation bei weitem nicht so passiv ist, wie es im Allgemeinen angenommen wird 48 . Man muss gar erkennen, dass Schumpetersches Innovationsformen durchaus einen guten Imitationsprozess beschreiben könnten: „[Innovation is] (1) The introductin of a new good - that is one with which consumers are not yet familiar - or of a new quality of a good. (2) The introduction of a new method of production, that one not yet tested by the branch of manufacturing concerned […]. (3) The opening of new market […]. (4) The conquest of a new source of supply of raw materials or halfmanufactured goods […]. (5) The carrying out of new organisation of any industry […] 49 . Das zeigt, dass die Unterschiede zwischen einer Innovation und Imitation teilweise marginal sind und die Innovation oft von einer vorgeschalteten Imitation abhängt 50 . Hintergrund ist, dass erfolgreiche Imitation nur erfolgen kann, wenn das Korrespondenzproblem auf mehreren Ebenen gelöst wird, welches aufgrund unterschiedlicher Kodierungsparameter entstehen kann. Das Korrespondenzproblem entsteht vielmals, wenn man versucht „Eins-zu-Eins“ komplette Geschäftsmodelle oder dessen Einzelteile in einem fremden (kulturellen) Kontext zu etablieren, da die Bedeutung der Leistung vom Kunden teilweise anders interpretiert wird. Ziel muss es sein, die zugrundeliegenden Bedeutungen und Ziele des Geschäftsmodells (wie zum Beispiel ein spezifisches Nutzwertversprechen oder auch eine 48 Niosi (wie Anm. 7), S. 2. 49 Joseph A. Schumpeter, The Theory of Economic Development, Cambridge, MA 1934, S. 66. 50 Niosi (wie Anm. 7), S. 3. <?page no="101"?> spezifische Art der Kundenbeziehung) aufrechtzuerhalten und falls erforderlich kontextadäquat zu interpretieren. Dies bedingt wiederum ein eingehendes Verständnis der jeweiligen Umfelder und mentalen Modelle und mündet meist in einer fundamentalen Anpassung des zu kopierenden Geschäftsmodells. In anderen Worten hat eine 100%ige „Eins-zu-Eins“- Kopie eines digitalen Geschäftsmodells in einen anderskulturellen Kontext keine Erfolgsaussichten. Bei einer erfolgreichen internationalen Geschäftsmodellimitation muss man neu denken und sein Nutzwertversprechen kontextbasiert aushandeln. Abbildung 3: Rahmenmodell für interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI) Als „Aushandlungsinstanz“ im Rahmen der kulturellen Adaption ist das gesamte Geschäftsmodell zu sehen. Dies beinhaltet sämtliche Schlüsselfaktoren des Business Model Canvas 51 und Akteure auf der Mikro-, Meso- 51 Osterwalder and Pigneur (wie Anm. 18). 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 101 <?page no="102"?> 102 Daniel Jan Ittstein und Makro-Ebene 52 . Deshalb kann das Rahmenmodell für interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI) 53 durchaus auch als Strukturierungsmodell für die Analyse der Imitation eines Geschäftsmodells für einen anderen einen Markt in einem anderen kulturellen Kontext dienen. RIGI entsteht aus der Kombination des Business Model Canvas 54 , das horizontal dargestellt ist, mit dem Passauer Drei-Ebenen-Modell 55 , welches vertikal dargestellt ist 56 .#Die reziproken Aushandlungsprozesse zwischen den Schlüsselfaktoren des Geschäftsmodells und den beteiligten Akteuren der Systeme sind stark vereinfacht durch Pfeile dargestellt. Annahme ist, dass die Geschäftsmodellimitation innerhalb eines anderskulturellen Kontexts nicht „nur“ auf einer Ebene der Schlüsselfaktoren (horizontal), sondern auch im Rahmen eines Austauschprozesses zwischen den verschiedenen kulturellen Interaktionsebenen (vertikal) abläuft. Dabei entsteht auf Basis der gegenseitigen Aushandlung ein Geschäftsmodell, welches die verschiedenen Aspekte konstruktiv und synergetisch einfließen lässt und etwas Neues schafft - im Sinne einer „negotiated culture“. Dieses Modell erlaubt es, Interkulturalität im Rahmen der Geschäftsmodellimitation zu kontextualisieren. So können anhand von Fallbeispielen systemische Zusammenhänge analysiert und illustriert werden - als Basis für die Herausbildung normativer Aussagen. In der Regel wird es sich um rein interpretative Analysen handeln, deren Aussagekraft 52 Christoph Barmeyer, Das Passauer 3-Ebenen-Modell. Von Ethnozentrismus zu Ethnorelativismus durch kontextualisierte interkulturelle Organisationsentwicklung, Interkulturelle Personal-und Organisationsentwicklung. Berlin 2010, S. 31-56. 53 Ittstein (wie Anm. 11), S. 222. 54 Osterwalder and Pigneur (wie Anm. 18). 55 Barmeyer (wie Anm. 52). 56 Als Strukturierungsmodell für die kontextualisierte Interkulturalität bietet sich das Passauer Drei-Ebenen-Modell an, das zwischen Mikro-, Meso- und Makro-Ebene unterscheidet. Auf der Mikro-Ebene werden die individuellen kulturellen Interaktionen betrachtet. Auf der Meso-Ebene die organisationalen Beziehungen zum Beispiel zwischen Unternehmen. Auf der Makro-Ebene die gesellschaftliche Interkulturalisierung. <?page no="103"?> durch den beobachteten Fall determiniert ist. Die Anwendung des Rahmenmodells für Interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI) für die internationale Imitation eines Geschäftsmodells wird im Folgenden anhand der Expansion von Amazon nach Indien illustriert. 5.6 Fallstudie: Interkulturelle Geschäftsmodellimitation am Beispiel von Amazons Markteintritt in den jungen Versandhandelsmarkt in Indien Amazon ist ein im Jahre 1994 gegründeter börsennotierter Online- Versandhandel mit Stammsitz in Seattle, USA. Neben einer großen Auswahl an Büchern, CDs und Videos können über den „Amazon- Marketplace“ Drittanbieter neue oder gebrauchte Produkte anbieten. Unter eigener Marke werden unter anderem das Lesegerät Amazon Kindle, der Tablet Computer Amazon Fire, das Spracherkennungssystem Amazon Echo oder die Streaming-Dienste Amazon Music und Amazon Video angeboten. Ergänzend offeriert Amazon zunehmend auch Dienstleistungen. Ein Beispiel hierfür ist das Mitgliederprogramm Amazon Prime, durch das die Mitglieder verschiedene Vergünstigungen und Zugang zu digitalen Inhalten erhalten. Zudem ist Amazon mit Amazon Web Services (AWS) einer der größten Cloud-Anbieter weltweit. Mit zunehmendem Erfolg verkauft Amazon Medialeistung (z.B. Werbeplätze auf seinen Websites, Search) und übernimmt für Drittanbieter des Marketplace die Logistik. Gerade die Logistik ist ein zentraler Baustein für den Erfolg von Amazon. Das sogenannte „Fulfillment by Amazon“ (FBA) wurde zum zentralen Erfolgsgaranten von Amazon. Nicht nur in den USA sondern insbesondere bei dessen internationaler Expansion des Retail-Geschäfts in westlich hoch entwickelte Staaten mit guter Infrastruktur. Auch wenn Amazon inzwischen ein äußerst differenziertes Geschäftsmodell aufweist, wird im Folgenden der Fokus auf dessen Versandhandelsgeschäft liegen. Amazon betreibt seinen Online-Versandhandel über lokalisierte Webseiten in den USA (.com), Großbritannien (.co.uk), Frankreich (.fr), Kanada (.ca), 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 10 3 <?page no="104"?> 104 Daniel Jan Ittstein Deutschland (.de), Italien (.it), Spanien (.es), Niederlande (.nl), Australien (.com.au), Brasilien (.com.br), Japan (.co.jp), China (.cn), Indien (.in) und Mexiko (.com.mx). Amazon ist entsprechend auch mit dem Versandhandel in sehr vielen Märkten rund um den Globus aktiv. Hintergrund ist, dass seit einigen Jahren ein besonderer Fokus des Unternehmens auf dessen Internationalisierungsstrategie liegt, um die eigenen Wachstumsziele erreichen zu können 57 . Von besonderem Interesse sind durch deren Größe die Märkte China und Indien. In China hat Amazon Schwierigkeiten, sich gegen die beiden größten Konkurrenten Alibaba und JD.com sowie deren Konglomerat von Versandhandelswebsites durchzusetzen 58 . Problematisch sind dabei sicherlich die teils erheblichen regulatorischen Hürden zum Schutz der chinesischen Digitalwirtschaft. Zudem hat Amazon bislang den lokalen Kontext missachtet, indem versucht wurde mit dem US-amerikanischen Geschäftsmodell Erfolg zu haben. Amazon stieg zwar bereits im Jahr 2004 durch den Kauf des Online-Buchhändlers Joyo.com in den chinesischen Markt ein, konnte sich jedoch seither nicht am Markt behaupten. Eine Anpassung an die chinesische Kundschaft erfolgte nicht in ausreichendem Maße, weswegen beispielsweise das Amazon-Prime-Programm in der derzeitigen Ausgestaltung im Vergleich zur lokalen Konkurrenz nicht attraktiv erscheint, die Website kaum an die lokalen Bedürfnisse angepasst ist und das Sortiment zu klein und nicht ausreichend an den Kundeninteressen ausgerichtet wurde 59 . Die lokalen E-Commerce-Konkurrenten - insbesondere die digi- 57 Trefis Team, Why India Is Crucial To Amazon’s Massive International Expansion Plans, Forbes, 2017 <https: / / www.forbes.com/ sites/ greatspeculations/ 2017/ 11/ 28/ why-india-is-crucial-to-amazons-massive-international-expansion-plans/ > [aufgerufen am 17.07.2018]. 58 Lisa Hegemann, Amazon dominiert den E-Commerce? Nicht in China! , t3n News, 2017 <https: / / t3n.de/ news/ amazon-china-e-commerce-798707/ > [aufgerufen am 13.07.2018]. 59 Benedikt Kaufmann, 3 Gründe, warum Amazon in China keine Chance hat, Der Aktionär, 2017 <http: / / www.deraktionaer.de/ aktie/ 3-gruende--warum-amazon-inchina-keine-chance-hat-333870.htm> [aufgerufen am 13.07.2018]; Daniel Keyes, <?page no="105"?> talen Versandhandelsunternehmen von Alibaba und JD.com - haben ein deutlich größeres Verständnis für die lokale Kundschaft und drängten den weltgrößten Versandhändler faktisch vom Markt 60 . Nach knapp zehn Jahren des erfolglosen Engagements in China änderte Amazon seine Asien-Strategie und expandierte im Jahr 2013 nach Indien. Dieser Markt wurde bis zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen von lokalen Onlinehändlern penetriert, da er bis dato für ausländische Investoren geschlossen war. Allen voran schaffte es Flipkart, die indischen Kunden für den Online-Handel zu begeistern. Gegründet wurde Flipkart im Jahr 2007 von den ehemaligen Amazon.com-Mitarbeitern Sachin Bansal und Binny Bansal in Bangalore 61 . In den ersten Jahren imitierte Flipkart faktisch das ursprüngliche Geschäftsmodell von Amazon.com, indem es sich als Online- Buchhändler auf dem indischen Markt positionierte. Das war aus mindestens drei Gründen äußerst erfolgsversprechend. Erstens konnten sie das im Jahr 2007 schon sehr detailliert analysierte Geschäftsmodell der Anfangsjahre von Amazon.com imitieren. Zweitens hatten die Gründer das richtige Timing, indem sie richtigerweise antizipierten, dass der indische Online-Markt des Jahres 2007 in einem ähnlichen Stadium wie der USamerikanische Online-Markt Ende der 90er Jahre war. Entsprechend passte das anfängliche Geschäftsmodell von Amazon.com perfekt in die indische Online-Marktreife des Jahres 2007 62 . Drittens konnte Flipkart mit Amazon is struggling to find its place China, Business Insider Deutschland, 2017 <https: / / www.businessinsider.de/ amazon-is-struggling-to-find-its-place-china-2017- 8> [aufgerufen am 13.07.2028]. 60 Mohanbir Sawhney, 7 Ways Amazon Is Winning By Acting “Glocally” In India, Forbes, 2018 <https: / / www.forbes.com/ sites/ mohanbirsawhney/ 2018/ 04/ 30/ 7-waysthat-amazon-is-winning-by-acting-glocally-in-india/ > [aufgerufen am 10.02.2019]. 61 Futureworktechnologies, Business Model of Flipkart. How Does Flipkart Make Money? , Website Design Company, 2018 <https: / / futureworktechnologies.com/ howflipkart-works-business-revenue-model> [aufgerufen am 19.02.2019]. 62 Prateek Kalia ,Tsunamic E-Commerce in India: The Third Wave, The Global Analyst, 5.7 (2016), S. 47-49, S. 48; Prateek Kalia, Navdeep Kaur, and Tejinderpal Singh, 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 10 5 <?page no="106"?> 106 Daniel Jan Ittstein dem Online-Buchhandel einen attraktiven Nischenmarkt bedienen. Denn obwohl der Bildungs- und Lesehunger der indischen Bevölkerung äußerst ausgeprägt war, gab es im Jahr 2007 noch keine adäquate Buchhandelsstruktur auf dem indischen Subkontinent. In den Folgejahren expandierte Flipkart rasant und führte faktisch den Online-Handel auf dem indischen Subkontinent ein. Zwischen den Jahren 2007 und 2013 weitete Flipkart mittels strategischer Akqusitionen (z.B. Myntra) sein Geschäftsmodell aus. Der Buchhändler entwickelte sich zu einem B2C-Marktplatz mit breiter Produktpalette, hohen Rabatten und einer eigenen Logistik 63 . In der Retrospektive ist klar erkennbar, dass Flipkart nicht nur das anfängliche Geschäftsmodell von Amazon für den indischen Markt imitierte, sondern auch dessen Evolution. Angetrieben vom Erfolg Flipkarts wurden eine Reihe anderer Online-Händler gegründet (z.B. Snapdeal) und diese lokalen Anbieter etablierten gemeinsam eine wachsende Käuferschicht für den Onlinehandel auf dem indischen Subkontinent 64 . Im Jahr 2013 schaffte die indische Regierung durch die regulatorische Lockerung der Foreign-Direct-Investment (FDI) für Online Marktplätze eine Möglichkeit für ausländische Unternehmen und Investoren in den indischen Online-Handel einzusteigen. Dies war der Impuls, den größere aus- E-Commerce in India: Evolution and Revolution of Online Retail, in: Mobile Commerce: Concepts, Methodologies, Tools, and Applications (IGI Global, 2018), S. 736- 58, S. 100. 63 Financial Express, Ecommerce in India, The Financial Express, 2016 <https: / / www.financialexpress.com/ photos/ business-gallery/ 229958/ ecommercein-india-flipkart-loss-rs-2000-cr-amazon-india-loss-rs-1723-6-cr-snapdeal-loss-rs-1328- 01-cr-discounts-fall/ > [aufgerufen am 12.05.2019]; Flipkart.com, Online Shopping Site for Mobiles, Electronics, Furniture, Grocery, Lifestyle, Books & More. Best Offers! , Flipkart.Com, 2019 <https: / / www.flipkart.com> [aufgerufen am 21.02.2019]; NDTV, Flipkart Launches Scheduled Delivery Service in Four Cities, NDTV Gadgets360.Com, 2018 <https: / / gadgets.ndtv.com/ internet/ news/ flipkart-launches-scheduled-delivery-service-in-four-cities-540780> [aufgerufen am 13.02.2019]. 64 Shrestha Saroj, Online Retailing Trend and Future Growth Opportunities in India, Journal of Economics, 6.3 (2018), S. 128. <?page no="107"?> ländische Investoren benötigten. Mit über 65% der Bevölkerung unter 35 Jahren, einem stark zunehmenden verfügbaren Einkommen der potentiellen Käufer und einer Mobiltelefonpenetration von knapp 80% der Bevölkerung, war der Markt so attraktiv, dass viele nationale und internationale Unternehmen in den Markt einstiegen. So stiegen in den folgenden Jahren unter anderem Alibaba und Softbank bei Snapdeal ein, Rocket Internet etablierte mit Jabong eine eigene Amazon-Copycat im indischen Markt und Walmart stieg im August 2018 mit 16 Milliarden US-Dollar bei Flipkart ein 65 . Heute sind deutlich mehr als 100 Online-Händler in Indien aktiv; unter anderen Flipkart, Myntra, Snapdeal, Amazon, eBay, Jabong und Rediff 66 . Die zentralen Herausforderungen, mit denen Amazon beim Markteintritt konfrontiert wurde, waren einerseits die Tatsache, dass 67% der Bevölkerung in ländlichen Regionen lebte und andererseits das Land über eine schlechte Logistik-Infrastruktur. Zudem hatten nur etwa 35% der Bevölkerung Zugang zum Internet. In der sogenannten „Indian Cash Economy“ verfügt die Mehrheit der Menschen weder über eine Kreditkarte noch über eine Bankverbindung. Durch strikte Direktinvestitionsregelungen war es ausländischen Firmen zudem untersagt Eigenprodukte direkt an Endkunden zu liefern. Diese Argumente sprachen bis 2013 eindeutig gegen einen Einstieg in den indischen Markt - schließlich schienen Grundpfeiler des eigentlichen Amazon-Geschäftsmodells nicht umsetzbar, wie zum Beispiel die optimierte Logistik, der Verkauf über die Website mittels Online- Bezahlprozessen oder insbesondere der Verkauf eigener Produkte an Endkunden. Entsprechend fiel es Amazon nicht leicht, sich in den ersten Jahren am indischen Markt zu behaupten. Die lokale E-Commerce- Konkurrenz, wie Flipkart oder Snapdeal, schafften es deutlich besser, die Kunden anzusprechen und mit dem indischen Kontext zurechtzukom- 65 Prateek Kalia, Top E-Retailers of India: Business Model and Components, Int. J. Electronic Marketing and Retailing, Vol.6.No. 4 (2015), S. 277-98; Saroj, S. 128. 66 Saroj (wie Anm. 64), S. 128. 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 10 7 <?page no="108"?> 108 Daniel Jan Ittstein men 67 . Da Amazon allerdings nicht einen weiteren asiatischen Markt verlieren wollte, musste das Unternehmen sein Geschäftsmodell fundamental an den Marktkontext anpassen und orientierte sich dabei nicht nur an den Kunden sondern auch insbesondere an den bis dahin führenden indischen Online-Versandhändlern Flipkart und Snapdeal,. In Kombination mit der eigenen Geschäftsmodellevolution resultierte daraus die Umsetzung einer sogenannten „Glocal-Strategy“, wie Sawhney 68 konkretisiert: „The key to Amazon’s strategy in India is its ability to think globally but act locally - leveraging its massive scale, logistics capabilities and balance sheet while creating customized local offerings developed ground-up for the Indian market.” Mit “ground up” ist die konsequente Neuorientierung des Geschäftsmodells an der lokalen Kundschaft gemeint. Dies geht einher mit dem Anspruch von Amazon „the worlds most customer centric company“ zu sein. Amazon-Gründer Jeff Bezos beschreibt diesen Ansatz folgendermaßen: “We see our customers as invited guests to a party, and we are the hosts. It’s our job every day to make every important aspect of the customer experience a little bit better”69. Um dieser Philosophie zu entsprechen wurde in Bangalore das zweitgrößte Forschungs- und Entwicklungszentrum der Amazon-Gruppe aufgebaut. In Bangalore hatte man nicht nur ein sehr großes Reservoir an exzellenten IT-Fachkräften, sondern man hatte natürlich auch direkten Zugang zu den ca. 10.000 Mitarbeitern des größten lokalen Konkurrenten Flipkart. Zent- 67 Bharti Wadhwa, Anubha Vashisht, and Davindar Kaur, Business Model of Amazon India - a Case Study, International Journal of Advanced Research, 5(8) (2017), S. 1426-1433, S. 1427. 68 Sawhney (wie Anm. 60). 69 Jerome Collomb, 3 Customer-Centric Lessons from Amazon, MyFeelBack: Turn Customer Feedback into Business Opportunities, 2018 <https: / / www.myfeelback. com/ en/ blog/ customer-centric-lessons-amazon> [aufgerufen am 18.07.2018]. <?page no="109"?> rale Aufgabe für Amazon.in war es, Nuancen der indischen Kunden und Wettbewerber zu verstehen 70 . Das Besondere an dieser Entwicklung ist, dass Amazon bis zu diesem Zeitpunkt noch in keinem Markt sein für den amerikanischen Markt optimiertes und erprobtes Geschäftsmodell in diesem Ausmaß angepasst hatte. Es erfolgte eine vollständige Adaption an den indischen Markt mit klarem Fokus auf eine Anpassung an die indischen kulturellen Besonderheiten. Dafür wurden bislang über fünf Milliarden US-Dollar investiert 71 . Da dieses Vorgehen in Art und Umfang bislang einzigartig ist, kann eine nähere Betrachtung dieser kulturell determinierten Geschäftsmodellimitation von großem Nutzen für die weitere erfolgreiche Expansion von Amazon oder anderen westlichen E-Commerce-Unternehmen in kulturell entfernte Märkte in der ASEAN-Region oder Märkten wie Brasilien, die arabische Region oder Ost-Europa sein 72 . Im Sinne der für den Imitationsprozess äußerst bedeutsamen Kontextualisierung wird folgend entsprechend eine Analyse des an den indischen Kontext angepassten Geschäftsmodells von Amazon in Indien durchgeführt. Strukturiert ist diese Analyse anhand des Rahmenmodells für Interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI - siehe oben). Die einzelnen Geschäftsmodell-Schlüsselfaktoren bilden die Gliederungspunkte. Je Schlüsselfaktor wird die kulturelle Adaption analysiert und eine normative Aussage in Form einer Proposition als Basis für weitere Forschungen entwickelt. Schlüsselpartner: Zum Schutz der heimischen Wirtschaft wurden vom indischen Staat sehr strenge Direktinvestitionsregeln geschaffen. Diese Re- 70 Wadhwa, Vashisht, and Kaur (wie Anm. 67), S. 1428. 71 Vijay Govindarajan and Anita Warren, How Amazon Adapted Its Business Model to India, Harvard Business Review, 2016 <https: / / hbr.org/ 2016/ 07/ how-amazonadapted-its-business-model-to-india> [aufgerufen am 03.03.2019]; Sawhney; Wadhwa, Vashisht, and Kaur (wie Anm. 60). 72 Sawhney (wie Anm. 60). 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 10 9 <?page no="110"?> 110 Daniel Jan Ittstein geln verbieten ausländischen Versandhändlern nach wie vor, eigene Produkte auf dem indischen Markt anzubieten 73 . Amazon musste sich bei der Adaption des Geschäftsmodells an den indischen Markt äußerst stark an diesen Kontextfaktor des Makro-Systems anpassen und konzentriert sich auf den Aufbau eines Online-Marktplatzes. Im Gegensatz zum USamerikanischen Geschäftsmodell war es deshalb für Amazon in Indien von Anfang an erfolgskritisch, ein umfangreiches Kooperations-Netzwerk mit lokalen Produktanbietern aufzubauen, wie dies auch Flipkart und Snapdeal taten. Nur so gelang es Amazon, ein breites und attraktives Produktsortiment auf dem Amazon-Marktplatz anbieten zu können, welches für die indischen Kunden relevant ist. Proposition 1: Um auf dem indischen Versandmarkt erfolgreich zu sein, sollten auch Digitalunternehmen sich an lokalen Anbietern orientieren und zwingend ein Netzwerk an Kooperationspartnern aufbauen, deren Produkte dann das Sortiment konstituieren. Schlüsselaktivitäten: Die wichtigste Aktivität für die Etablierung von Amazon im indischen Kontext war der eben erläuterte Aufbau eines umfangreichen Kooperationsnetzwerks. In dem stark fragmentierten indischen Handelsmarkt sah sich das Unternehmen mit der Herausforderung konfrontiert, dass viele Händler weiterhin äußerst große Ressentiments hatten, ihre Waren online zu verkaufen. Auch wenn Amazon auf der Pionierarbeit vor allem von Flipkart aufsetzen konnte, so wollte Amazon einen Schritt weiter gehen und ein noch breiteres Netzwerk aufbauen. Allerdings war es vielen kleinen und Kleinstanbietern von Produkten zu diesem Zeitpunkt zu komplex und zeitaufwändig, eine eigene Online-Präsenz aufzusetzen. Daneben mangelte es an adäquaten Online-Bezahloptionen (z.B. Überweisung, Kreditkarte) im Rahmen der „Indian Cash Economy“. 74 Diese starken makro-systemischen Einflüsse erforderten es, dass Amazon 73 Govindarajan and Warren (wie Anm. 71). 74 Govindarajan and Warren (wie Anm. 71). <?page no="111"?> stark mit potentiellen Handelspartnern in den Austausch gehen musste, um adäquate Optionen zu entwickeln, die den Vorstellungen der Partner entsprachen. „Amazon has been constantly working hard on making tools and services that cater to and solve the challenges of the large variety of sellers in India. Services […] are especially being designed to simplify the entire process of selling products online.“ 75 Um potentielle Verkäufer von den Möglichkeiten einer Partnerschaft zu überzeugen führte Amazon das „Amazon Chai Cart“ ein. Dabei handelt es sich um orangefarbene Rikschas, die durch die schmalen Straßen der Ortschaften Indiens fahren. Bei freiem Tee („Chai“) und Erfrischungsgetränken werden potentiellen Verkäufern die Vorteile des Onlinehandels mit Amazon samt der technischen Umsetzung erläutert 76 . “For many of our Indian sellers, tea or chai as we like to call it, is an important part of their lives. From looking forward to that morning cup of chai to start the day to the second cup of chai during the afternoon to refresh you and keep you active - these chai breaks are a great way to have discussions about business, personal matters or even selling online. So, innovating on behalf of our sellers and capitalising on this chai culture across India, Amazon designed an eye catching ‘Chai Cart’, which could easily move through the narrow streets of Indian markets informing Sellers about the benefits of starting an online business and helping them understand the entire process over a cup of Chai […]. In a period of four months, the team travelled 15,280 km across 75 Amazon, Seller Blog Amazon Chai Cart: Winning Sellers, Hearts and Now a GOLD Award, All over a Cup of Tea., Amazon Services, 2016 <https: / / services. amazon.in/ resources/ seller-blog/ amazon-chai-cart-won-gold.html> [aufgerufen am 19.02.2019]. 76 Wadhwa, Vashisht, and Kaur (wie Anm. 67), S. 1430. 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 1 11 <?page no="112"?> 112 Daniel Jan Ittstein 31 cities, served 37,200 cups of tea and engaged with over 10,000 sellers.” 77 Haben sich die Händler schließlich überzeugen lassen, mit Amazon in den Online-Handel einzusteigen, erfahren sie Unterstützung bei der Etablierung und Professionalisierung ihrer Online-Präsenz durch das eigens geschaffene „Amazon TATKAL“. Das „Amazon TATKAL“, was so viel wie „umgehend“ oder „sofortig“ in Hindi bedeutet, ist ein „studio on wheels“, welches eine Vielzahl sogenannter „Launch-Services“ anbietet. „Staying focused on our passion to transform the way India buys and sells, Amazon TATKAL is designed to help thousands of small and medium sized businesses adapt easily to online selling and that too within 60 minutes. It is a fully equipped truck with the following services for sellers: Trained professionals to help new sellers register their accounts on Amazon.in, Inbuilt photography studio for on-the-spot product images, Expert help in catalogue creation and product listing, Guided training in how to manage product inventory and how to use the Seller Central platform.” 78 Beide Initiativen zeigen, dass Amazon sich einerseits an die fragmentierte Marktstruktur anpassen musste und es andererseits ein zentrales Erfolgskriterium ist, kontinuierlich in den direkten persönlichen Austausch mit den Marktteilnehmern auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene zu treten. Amazon imitierte also nicht bloß die Vorgehensweise der lokalen Marktführer wie Flipkart oder Snapdeal, sondern ging basierend auf den Bedürfnissen möglicher Partner deutlich weiter, um diese in das Netzwerk einzubinden. Im Rahmen des Geschäftsmodellimitationsprozesses kam es zu mannigfachen reziproken Prozessen zwischen allen Beteiligten, aus welchem die neu ausgehandelte Kultur der „Amazon Family“ entstehen konn- 77 Amazon, Seller Blog Amazon Chai Cart (wie Anm. 75). 78 Amazon, Seller Blog|Amazon TATKAL - Your Superfast Solution to Selling Online (wie Anm. 79). <?page no="113"?> te. Diese Gemeinschaft verfolgt fortan das Ziel, den Handel in Indien zu transformieren. Durch diesen Prozess hat sich nicht nur das neue Amazon-Geschäftsmodell in Indien konstituiert. So fließen die in Indien gewonnenen Erkenntnisse bereits jetzt schon auf globaler Ebene in die Geschäftsmodelle anderer Amazon-Landesgesellschaften ein 79 . Insofern kann man durchaus von einem strategischen Paradigmenwechsel bei Amazon sprechen, welcher dazu führt, dass die Kontextualisierung in neuen Märkten (Analyse von Mitbewerbern, Kooperationspartnern und Kunden) und daraus generierte Ideen synergetisch nicht nur im Zielmarkt sondern auch in anderen Märkten genutzt werden. Proposition 2: Um auf dem indischen Markt ein stabiles Netzwerk an Kooperationspartnern aufzubauen, müssen auch digitale Unternehmen in intensivste direkte Austauschprozesse mit lokalen Marktteilnehmern auf Mikro-, Meso- und Makro-Ebene treten. Dabei ist es von zentralem Stellenwert, Schritt für Schritt eine persönliche Beziehung zu möglichen Kooperationspartnern aufzubauen und offen daran zu arbeiten eine neue, gemeinsame Art des Geschäfts zu etablieren. Schlüsselressourcen: Amazon musste sein „Fulfillment by Amazon“ (FBA)-Modell für den indischen Markt grundlegend adaptieren 80 . Im Rahmen des indischen Marktplatzmodells verkauft Amazon in Indien keine eigenen Waren und hält entsprechend auch keinen eigenen Lagerbestand vor. Der Erfolg von lokalen Konkurrenten wie Flipkart hatte gezeigt, welche Bedeutung eine an den Markt angepasste Logistik spielt und auf was es ankommt. Bis 2018 verfolgte Flipkart den Ansatz „nur“ im Umkreis von absatzstarken Gebieten mehrere Lager zu betreiben, um mög- 79 Sangeetha Chengappa, We Can Transform the Way India Buys and Sells: Amazon, @businessline, 2015 <https: / / www.thehindubusinessline.com/ info-tech/ we-can-trans form-the-way-india-buys-and-sells-amazon/ article8000924.ece> [aufgerufen am 20.07. 2018]. 80 Amazon, Fulfillment by Amazon Benefits of FBA, 2019 <https: / / services.ama zon.in/ services/ fulfilment-by-amazon/ benefits.html> [aufgerufen am 03.03.2019]. 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 1 13 <?page no="114"?> 114 Daniel Jan Ittstein lichst nah beim Kunden zu sein und schnell ausliefern zu können. Dieses Wissen machte sich Amazon zunutze, investierte Milliarden in die Logistik und hat inzwischen über 70 Großlager auf dem Subkontinent installiert, in welchen die Produkte der Händler gelagert und distribuiert werden. Daneben hat es Amazon geschafft ein landesweites Logistiknetzwerk aufzubauen, wie es zuvor auch schon Flipkart mit seinem eigenen Logistikdienstleister Ekart gemacht hatte. Amazon hat diesen Ansatz noch wesentlich verbessert und in Form des sogenannten „Easy Ship and Seller Flex“ Programmes den Verkäufern angeboten, dass Amazon die gesamte Logistik für sie übernimmt. Die Produkte werden dann direkt bei den Verkäufern von Amazon assoziierten Kurieren abgeholt und entweder direkt oder über den Distributionskanal der Kiranas (Kleinsthändler - siehe unten) unmittelbar zur Kundschaft gebracht. Da die Adressen der Kundschaft in Indien teilweise sehr schwer zu finden sind, nutzen die assoziierten Kuriere eine Applikation, die auf künstlicher Intelligenz basiert, um die Adressen schnell und zuverlässig ausfindig machen zu können 81 . Für die „letzte Meile“ werden insbesondere in ländlichen aber auch urbanen Gegenden vermehrt Amazon-Fahrräder und -Motorroller für die Zustellung genutzt, wie es zuvor auch schon von Flipkart und Snapdeal angeboten wurde. Amazon ging aber einen entscheidenden Schritt weiter: sollte nicht direkt zum Kunden geliefert werden können, mietet Amazon in der Nähe des Kunden Regalfläche bei einem seiner vielen Netzwerkpartner (Kleinsthändler) an, um so die zeitnahe Auslieferung direkt an den Endkunden zu gewährleisten 82 . Da makrosystemisch die Logisik-Infrastruktur nicht gut ausgebaut ist, läuft auch die Logistik bei Amazon in Indien im Wesentlichen über das eigens aufgebaute Kooperationsnetzwerk, welches durch den Aufbau von „Amazon Transportation Services Private Limited India“ komplettiert wurde. Dieses Netzwerk konnte nur durch sehr hohe Investitionen und intensive Kooperation mit den politischen Institutionen umgesetzt werden. 81 Sawhney (wie Anm. 60). 82 Govindarajan and Warren (wie Anm. 71). <?page no="115"?> Proposition 3: Digitalunternehmen müssen infrastrukturelle Herausforderungen in Indien durch die nahtlose Integration der Infrastruktur von Kooperationspartnern in Kombination mit dem Aufbau eigener Infrastruktur meistern. Bedingung dafür ist die intensive Kooperation mit politischen Institutionen und die Bereitschaft zu hohen eigenen Investitionen. Kundenarten: Auf dem indischen Markt leben rund 1,339 Milliarden potentielle Kunden. Dabei ist das Land von Vielfalt geprägt. In vielen Dimensionen gibt es teils erhebliche Unterschiede zwischen den Menschen: Sprache, Religion, Bildungsstand, verfügbares Einkommen oder der unterschiedliche Zugang zu digitaler Infrastruktur. Trotzdem oder gerade deshalb geht Amazon auch auf dem indischen Markt konsequent kundenorientiert vor. „We are customer obsessed. The three pillars of our customercentric strategy is to give them great selection in products, create great value for customers whether it is in price or quick delivery and convenience, which starts from being able to shop conveniently on their mobile phone, or PC or from wherever they are.” 83 Vielfalt wird von Amazon weltweit als Chance gesehen. Durch die intelligente Nutzung der (technischen) Infrastruktur in Verbindung mit einem umfangreichen Produktsortiment können viele, auch unterschiedliche Kunden angesprochen werden. Durch Kundenrezensionen erhält der Händler ungefiltertes Feedback und kann seine digitale Dienstleistung (Marketplace, FBA) sowie das Sortiment ständig anpassen. In Indien kann man insbesondere zwei „Kundenarten“ unterscheiden: die aufstrebende Mittel- und Oberschicht sowie die „digital Marginalisierten“. Die aufstrebende Mittel- und Oberschicht verfügt über ein verhältnismäßig hohes verfügbares Einkommen und eine gute bis sehr gute Digitalausstat- 83 Chengappa (wie Anm. 81). 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 1 15 <?page no="116"?> 116 Daniel Jan Ittstein tung. Diese Kunden werden inzwischen von allen Online-Versandunternehmen in Indien bedient - wobei festgestellt werden muss, dass dieses Kundensegment zwischen 2007 bis 2013 im Wesentlichen von lokalen Anbietern wie Flipkart und Snapchat entwickelt wurde. Basierend darauf geht Amazon nun in Indien einen großen Schritt weiter indem es sich auch an die sogenannten „digital Marginalisierten“ - also Menschen mit unzureichenden digitalen Zugängen und Kompetenzen - wendet. Als einziger Marktteilnehmer auf dem indischen Online-Versandhandelsmarkt investiert Amazon enorme Summen, gerade dieses Marktsegment langfristig zu entwickeln. 84 Amazon bleibt bei all seinen Vorhaben konsequent kundenorientiert und grenzt sich dadurch zunehmend von den einstigen Marktführern ab. Proposition 4: Online-Versandhändler müssen bei dem Eintritt in den indischen Markt eine langfristige Strategie verfolgen, die das Hauptziel verfolgt den Markt zu entwickeln und konsequent kundenorientiert zu handeln. Kundenbeziehungen: Für Amazon ist der Aufbau einer stabilen Kundenbeziehung auf der Mikro-Ebene unerlässlich. Deshalb musste es das Unternehmen auch in Indien schaffen die Endkunden verlässlich zu erreichen - selbst, wenn diese nicht über einen Digitalzugang verfügen. Mittler dieses Zugangs bilden die sogenannten Kiranas (Kleinstläden/ Kioske), von denen es in Indien ca. 14 Millionen gibt und über die der Großteil des indischen Handels abgewickelt wird 85 . Die Kunden leben meist fußläufig von den Ladenlokalen entfernt, werden persönlich betreut und zahlen bar. In unzähligen ethnographischen Interviews konnte Amazon lernen, dass gerade dieser persönliche Kontakt für die indische Kundschaft sehr wichtig ist. Insofern war es für Amazon ein Kerninteresse, nicht auf einen „pu- 84 Auch Alibaba hat in China einst den Online-Versandhandelsmarkt selbst entwickeln müssen indem digital Marginalisierten der Internetzugang zur Verfügung gestellt und erklärt wurde. Darauf begründet sich die heutige Marktmacht dieses Digitalunternehmens. 85 Govindarajan and Warren (wie Anm. 71). <?page no="117"?> ren“ Onlinekontakt zu vertrauen sondern soziale Interaktion bewusst in die Wertschöpfung einzubeziehen. Es wurde konsequent die „Amazon Family“ konstituiert, bei der der persönliche Kontakt eine zentrale Rolle spielt 86 . Auch in dieser Hinsicht geht Amazon einen entscheidenden Schritt weiter als die lokalen Anbieter. Proposition 5: Auch im Rahmen des Online-Versandhandels ist persönlicher Kundenkontakt zu etablieren. Marketingkanäle: Für Amazon ist es von zentraler Bedeutung, auf der Meso-Ebene die Augmentierung des Online-Handels durch die aktive Einbindung des stationären Handels zu bewerkstelligen. Dabei bilden die Kiranas das Rückgrat der stationären Distributionsstrategie - schon allein um digital marginalisierte Kunden aus Bundesstaaten wie Tamil Nadu, Rajastan und Maharashtra bedienen zu können und langfristig an das Online-Angebot heranzuführen 87 . „Amazon realized that Indian consumers are not comfortable buying online or they may lack the education to read online product reviews. So it has established kiosks in small local retail locations that set up entrepreneurs to offer an “assisted buying” service for consumers.“ 88 “In small villages and remote areas where few people have internet access, residents can go to their local store and use the owner’s internet connection to browse and select goods from Amazon.in. Store owners record their orders, alert customers when their products are delivered to the store, collect the cash payment, and pass along the money - minus a handling fee - to Amazon.” 89 86 Quora, Is Amazon India Really as Customer-Centric as Everybody Says? - Quora, 2019 <https: / / www.quora.com/ Is-Amazon-India-really-as-customer-centric-as-every body-says> [aufgerufen am 22.07.2018]. 87 Chengappa (wie Anm. 81). 88 Sawhney (wie Anm. 60). 89 Govindarajan and Warren (wie Anm. 71). 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 1 17 <?page no="118"?> 118 Daniel Jan Ittstein Neben dem „Kirana-Vertriebskanal“ ist der Vertrieb über mobile Endgeräte sehr wichtig. Der reine Online-Abverkauf wird zu 70-80% über Mobiltelefone getätigt 90 . Hintergrund für diesen äußerst hohen Anteil von Mobile Commerce ist, dass auch hier Amazon konsequent auf die Kunden eingegangen ist. Da viele Kunden in Indien einfachere Mobiltelefonmodelle nutzen, wurde spezifisch für diese Kunden eine äußerst abgespeckte Version der Amazon.in App entwickelt, die dennoch eine gute Einkaufserfahrung bietet. Initiativen von Flipkart über den von ihnen akquirierten Händler Myntra den Absatz über Mobiltelefone zu fördern sind gescheitert, da nicht konsequent auf die Kundenbedürfnisse eingegangen wurde 91 . Proposition 6: Online-Versandhändler müssen die spezifische indische Vertriebsstruktur antizipieren und einen Mehrkanalansatz fahren. Das Augmentieren mit dem stationären Einzelhandel ist deshalb zu etablieren, um Kunden langfristig an die Angebote heranzuführen. Über adäquate mobile Applikationen, welche auch auf einfacheren mobilen Endgeräten funktionieren, sollte der Großteil des Abverkaufs basieren. Kostenstruktur: Kosten entstehen im indischen Online Versandhandel vorwiegend durch die Logistik, das Netzwerkmanagement, Marketing und Provisionen für die Distribution. Branchenkenner gehen davon aus, dass Amazon einen langfristigen Investitionshorizont von ca. 20 Jahren verfolgt. Dies steht in großem Kontrast zu anderen Online-Unternehmungen, die in der Regel einen Investitionshorizont von 5-7 Jahren haben 92 . Auch der kapitalintensive Einstieg von Walmart bei Flipkart dürfte daran wenig ändern, da dies einer Private-Equity-Logik widerspricht. 90 Wadhwa, Vashisht, and Kaur (wie Anm. 67), S. 1431. 91 Futureworktechnologies (wie Anm. 61). 92 Ramesh Kumar Shah, Why Amazon Will Win the E-Commerce Race in India, VCCircle, 2017 <https: / / www.vccircle.com/ why-amazon-will-win-the-e-commercerace-in-india/ > [aufgerufen am 20.07.2018]. <?page no="119"?> Proposition 7: Auch im Digitalgeschäft in Indien muss eine langfristige Finanzstrategie verfolgt werden, die weit über die üblichen Investitionszeiträume von 5-7 Jahren hinausgeht. Einnahmequellen: Amazon generiert in Indien Einnahmen hauptsächlich über sein Fulfillment und eine Umsatzbeteiligung. Um den Online-Handel von und mit den Partnern überhaupt möglich zu machen, musste das Unternehmen in Indien sein Bezahlmodell grundlegend anpassen. Aufgrund der Tatsache, dass derzeit weniger als 12% der indischen Bevölkerung Kredit- oder Debitkarten besitzt („Indian Cash Economy“), stellte Amazon dort auf ein „Cash on Delivery“-System um und passte sich so dem Makro-System an. Diese Bezahloption konnte Amazon von Flipkart imitieren. Amazon band aber zudem noch stärker die Kiranas (stationäre Distributionspartner) ein, die den Bezahlvorgang im Auftrag von Amazon abwickeln. Vor dem Hintergrund, dass in Indien inzwischen bereits mehr Mobile-Wallets/ e-Wallets (Bezahloption mittels Mobiltelefon) als Kreditkarten existieren, wird diese Bezahlart in Zukunft sicherlich an Bedeutung gewinnen 93 . Genau davon gehen Alibaba und Snapdeal aus, die mittels der Aquisition von paytm, dem größten e-Wallet-Anbieter Indiens, den Versandhandelsmarkt erschließen wollen 94 . Aber auch Amazon arbeitet derzeit vor allem daran, „Amazon Pay“ stärker auszurollen. Proposition 8: In der indischen „Cash-Economy“ muss jeder Online- Versandhändler eine Cash-Bezahloption bereitstellen. Daneben ist der Fokus auf mobile Bezahlfunktionen zu legen, da in diesem Bereich die meisten Abverkäufe stattfinden. Nutzenversprechen: Übergreifend schafft es Amazon auf dem indischen Subkontinent, trotz seiner Größe, seiner infrastrukturellen Herausforderungen (u.a. Verkehrswege, Internet-Konnektivität), der kulturellen Diver- 93 Govindarajan and Warren (wie Anm. 71). 94 Saroj (wie Anm. 64), S. 128. 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 1 19 <?page no="120"?> 120 Daniel Jan Ittstein sität (u.a. 121 Verkehrssprachen) und anderen Herausforderungen, die Marktteilnehmer effizient zu verbinden und dadurch die Art des Ein- und Verkaufs zu transformieren. Auf der Meso-Ebene dient der Amazon-Marketplace als Möglichkeit für die Verkäufer, ihre Ware an über 1,3 Milliarden potentielle Kunden zu verkaufen. Amazon unterstützt die Händler aktiv mit Projekten wie „Amazon TATKAL“, ihre Produkte professionell online zu vertreiben. Daneben werden die makrosystemischen Infrastrukturprobleme gelöst, indem das Unternehmen stark in die Logistik investiert und diese für die Teinehmer koordiniert, die Abrechnung mit dem Kunden sicherstellt und dem Händler Amazon-Reporting-Werkzeuge zur Verfügung stellt. “Working seller backwards every step of the way, we have not only introduced Indian sellers to our globally successful offerings for sellers like Fulfilment by Amazon, but have constantly innovated specifically for Indian sellers to address their unique challenges. Right from introducing low cost fulfilment channels through innovations like Easy Ship and Seller Flex to customizing existing ecosystems […] to build online capabilities of the new digital entrepreneurs to undertaking relevant awareness programs like Chai Cart & Tatkal, we have constantly worked towards helping sellers chart their growth. 95 Auf der Meso-Ebene augmentiert Amazon seine Distribution durch die Kiranas. Neben der finanziellen Gegenleistung erhöht sich durch die Kooperation auch die Kundenfrequenz in diesen Kleinstläden und dadurch der Abverkauf. Auf der Mikro-Ebene kommt Amazon seinen Kunden entgegen, indem es für die Endkunden eine große Produktvielfalt anbietet, auf die auch äußerst erfolgreich die Amazon-Werbekampagne „Aur Dikhao“ („zeige mehr“) abzielte. Gefälschte Bewertungen werden durch einen eigens ent- 95 Amazon, Sell Online on Amazon: Amazon In the News, 2017 <https: / / ser vices.amazon.in/ resources/ amazon-in-the-news.html> [aufgerufen am 01.03.2019]. <?page no="121"?> wickelten Algorithmus ausgefiltert, so dass die Kunden eine klare Sicht auf die Produkteigenschaften haben 96 . Daneben erhalten Kunden hohe Rabatte auf die angebotenen Waren und bekommen diese nach Hause geliefert - einst ein Alleinstellungsmerkmal von Flipkart. Letzteres ist von großem Nutzen, insbesondere für die aufstrebende Mittel- und Oberschicht, die beruflich stark eingebunden ist und keine Zeit und Mühe investieren möchte, rein stationär einzukaufen. Proposition 9: Um auf dem indischen Subkontinent erfolgreich zu sein, muss das Geschäftsmodell nicht nur kundenzentriert sondern vielmehr zentriert auf die Anspruchsgruppen aufgebaut sein. Dabei ist es entscheidend, alle Anspruchsgruppen, deren Bedürfnisse, Herausforderungen und Geschäftsprozesse zu verstehen, mit ihnen in direkte persönliche Austauschprozesse zu gehen und darauf basierend das Geschäftsmodell aufzusetzen. 5.7 Schlussbetrachtungen Erfolgreiche interkulturelle Geschäftsmodellimitation hängt auch bei digitalen Angeboten in hohem Maße davon ab, wie man den kulturellen Kontext des Markts auf allen Ebenen antizipiert. Amazon ist es durch das sehr hohe Investment in die kulturelle Adaption seines Geschäftsmodells an den indischen Markt gelungen, dort erfolgreich zu sein. Basis für die profunden Anpassungen des Amazon-Geschäftsmodells war die klare Analyse der bis dato erfolgreichen Geschäftsmodelle am Markt (insb. Flipkart und Snapdeal) und die Bereitschaft, diese daraus gewonnenen Erkenntnisse nicht nur zu imitieren, sondern kundenzentriert noch deutlich weiter zu gehen. Dieses Fallbeispiel zeigt eindrücklich, wie relevant Imitationen von Geschäftsmodellen insbesondere in aufstrebenden Digitalmärkten sein können. Nicht nur, dass die ursprüngliche Imitation des Amazon-Geschäftsmodells im Jahre 2007 durch Flipkart erst einen Markt für Online- 96 Sawhney (wie Anm. 60). 5 Intercultural Copycats - innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle 1 2 1 <?page no="122"?> 122 Daniel Jan Ittstein Versandhandel etablierte. Zudem orientierte sich Amazon sechs Jahre später bei der „Rückübersetzung“ seines Modells für den indischen Markt insbesondere am einstigen Copycat Flipkart und konnte durch kreative kundenzentrierte Imitation gepaart mit massiver Investition in Infrastruktur innerhalb von gerade einmal fünf Jahren die Marktführerschaft auf diesem riesigen Markt übernehmen. Erfolgsentscheidend dabei war insbesondere, dass die Imitation bewusst nicht „Eins-zu-Eins“ durchgeführt wurde, sondern dass bei beiden Imitationsprozessen (sowohl von Flipkart als auch von Amazon) eine enorme Kontextualisierungsleistung erfolgte. Kulturelle und kontextuelle Verschiedenheit wurde entsprechend bewusst als Ressource genutzt, Ideen zu generieren und das Geschäftsmodell zu optimieren. Wadhwa u.a. stellen fest: „Amazon is the only major player to increase its market share from 14 to 21 percent. It is consistently eating up Filpkart and Snapdeal’s share […]“97. Der interkulturelle Geschäftsmodellimitationsprozess war dabei geprägt von reziproken Aushandlungssituationen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Im Sinne einer ausgehandelten Kultur ist etwas Neues entstanden: die „Amazon Family“ in Indien. In Kundenbefragungen konnte festgestellt werden, dass das Amazon-Einkaufs- Erlebnis bereits jetzt besser ist als jenes der imitierten lokalen Konkurrenten Flipkart und Snapdeal98. Auch in diesem Fall ist also die Grenze zwischen der Imitation und Innovation fließend - zumal die Innovationsleistungen sowohl von Flipkart als auch von Amazon erst möglich wurden durch die (teilweise) Imitation eines erprobten Geschäftsmodells. Im Rahmen der Fallstudienarbeit konnte festgestellt werden, dass das Rahmenmodell für Interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI) durchaus auch dabei helfen kann, die nötigen Kontextualisierungsprozesse im Imitationsprozess zu analysieren. 97 Wadhwa, Vashisht, and Kaur (wie Anm. 67), S. 1431. 98 Saroj (wie Anm. 64), S. 127. <?page no="123"?> 6 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity in times of crisis María Begoña Prieto Peral <?page no="125"?> Our most recent “Ringvorlesung” or lecture series 1 in the winter term of 2017/ 2018 about Podemos and the part that social networks played in the party's success in the European elections of 2014, elections where, despite having only come into existence three months before, the party won five seats in the European Parliament 2 and later became the third largest party in the Spanish general elections of 2015 and 2016, ended with a question from participants about my opinion on the future of Podemos. I still remember my (vague) response to a possible integration of the then populist anti-establishment party into the democratic order and I even compared it to the evolution of the Green Party in Germany, as a model for Podemos to follow in the future. What I could not have predicted then was the rise of VOX as a new force on the Spanish political scene. Founded in 2013, VOX achieved 11% of the votes in elections for the Andalusian parliament at the end of 2018, winning 12 seats. The features of this new party reveal its right-wing populist profile, one that is anti-immigration, pro-Spain and anti-Catalan independence. According to comment and analysis in the media 3 , the rise of VOX is related firstly to the use of an anti-immigration discourse as a means of creating political upheaval and secondly and thirdly, to the focus of its political discourse on maintaining the unity of Spain as a nation state, as well as harnessing unease in society about the handling of the Catalan crisis by the Popular Party (Partido Popular). According to a survey in the EL PAÍS newspaper, “41.6% of those voting for far-right parties did so because of 1 Prieto Peral, María Begoña: Revolución digital. Die Bedeutung der Sozialen Medien für den Aufstieg der spanischen Protest Partei Podemos, in: Ralph-Miklas Dobler und Daniel Jan Ittstein, Digitalisierung. Interdisziplinär, München 2018, S. 115-129. 2 https: / / elpais.com/ politica/ 2014/ 05/ 25/ actualidad/ 1401009854_060215.html (accessed 15.4.2019). 3 https: / / elpais.com/ politica/ 2018/ 12/ 08/ actualidad/ 1544290748_522216.html (accessed 15.4.2019). 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 125 <?page no="126"?> 126 María Begoña Prieto Peral immigration, while 33.7% voted in order to ‘defend the unity of Spain’ and 28% ‘to stop the separatists’”. 4 The question is how VOX managed to mobilise the electorate so quickly especially considering that although far-right parties and organisations had always existed in Spain, since the transition to democracy they had played a minor role on the Spanish political scene. 5 One explanation is the ability of the conservative Popular Party and its predecessor the Popular Alliance (Alianza Popular) to provide a home for the more conservative and extreme sections of the party. Clearly this ability has disappeared as is shown by the success of VOX and the way VOX has managed to trigger discussions about concepts that it seems still exist in the Spanish political narrative. An example of current debates about concepts relating to Spain's past is the publication on YouTube of a political campaign video where the leader of VOX, Santiago Abascal, appears on horseback accompanied by several riders in formation and which is titled: “The reconquest will begin on Andalusian soil”. 6 The video is designed to evoke the Christian Reconquista of the Muslim kingdoms of Al Andalus and can be read in several ways: the fight against immigration and for the unity of Spain by a group of brave horsemen (xenophobia, nationalism and anti-gender equality politics). This is not a new narrative. From the creation of Spain as a kingdom and later as a nation state and then a parliamentary monarchy, there has been a narrative of unity, a battle or argument against a project of diversity. This narrative of unity is a central pillar in understanding Spain as a country for a large part of the population, especially in Autonomous Communities like 4 https: / / elpais.com/ politica/ 2018/ 12/ 08/ actualidad/ 1544290748_522216.html (accessed 15.4.2019). 5 General Election data: http: / / www.congreso.es/ portal/ page/ portal/ Congreso/ Congreso/ CatPubli? _piref73_11672194_73_1339595_1339595.next_page=/ wc/ cat alogoPubli? ind_cata=28 (accessed 15.4.2019). 6 https: / / www.youtube.com/ watch? v=bIE7Xn10YU0 (accessed 15.4.2019). <?page no="127"?> Castile and León, Castilla-La Mancha, Andalusia and so on, as opposed to Autonomous Communities like Catalonia or the Basque Country. In most cases the foundations for this narrative of unity were laid long ago in the artistic and cultural imagination with myths and legends, while in the present the narrative is debated in public opinion, aided by discussions about politics on social networks like Instagram, Twitter and Facebook In our analysis of the construction of a national identity in Spain we will use the term nation in the same way as author Benedict Anderson 7 , who defines it as “imagined communities”, a construction Anderson explains with a quotation from Seton Watson, “the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion”. 8 The representation of these “imagined communities” manifests itself, according to Anderson, throughout history in a common and collective narrative that changes over time and with cultural systems (religious and dynastic community and modern perceptions of national identity). 9 In his Spanish historiography Tomás Pérez Vejo defines this vision of the nation as a reality that cannot be understood as an objective entity, but rather as an “imaginary construction” of recent origin. 10 A second concept we would like to refer to before a more in-depth discussion of the construction of a national identity in Spain is propaganda. According to the definition of “Bundeszentrale für politische Bildung” (bpb): “Progaganda ist der Versuch der gezielten Beeinflussung des Denkens, 7 Benedict Anderson, Imagined Communities, Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/ New York 2016. 8 Ibid., p. 6. 9 Ibid., p. 12. 10 Tomás Pérez Vejo, España imaginada. Historia de la invención de una nación, Barcelona 2015. 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 12 7 <?page no="128"?> 128 María Begoña Prieto Peral Handelns und Fühlens von Menschen. Wer Propaganda betreibt, verfolgt damit immer ein bestimmtes Interesse.” 11 For us, this definition is important because we use it to analyse the concepts of interpretation and perception of the truth in the context of the creation of “political fictions”, as used by Hannah Arendt, because we consider the basis for all propaganda to be political fiction. According to Arendt, all “political fiction” emerges in five stages: “Täuschung, Selbsttäuschung, Image-Pflege, Ideologisierung und Entwirklichung.” 12 The principle of all fiction is deception or manipulation, followed by self-deception, constructing the fiction in the imagination, idolising this fiction and then finally a distancing from reality or the idealisation and acceptance of the fiction as a part of the discourse that defines reality as something that cannot be questioned or put in doubt. In the Spanish context we can talk of a series of “political fictions” that have pervaded Spanish history, and which are key references or discussions in the concept of the “imagined community” that exists in Spain. The “political fiction” that has perhaps had most influence in the creation of the Spanish national identity is what we will define as “unity versus diversity” and which appears in times of economic or political crisis. In this class of our “Ringvorlesung” we will reference some key moments where the two narratives, that of unity and political fiction, meet and lead to a conflict of political interests at moments of tension and when there is a lack of dialogue. 6.1 Charlemagne's vision In the seventh century, Spain found itself in one of the most difficult moments of the Reconquista: the kingdoms of Castile and León were immersed in wars of succession; the war against Al Andalus was stalled in a 11 http: / / www.bpb.de/ gesellschaft/ medien-und-sport/ krieg-in-denmedien/ 130697/ was-ist-propaganda (accessed 15.4.2019). 12 Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, München 2016, p. 41. <?page no="129"?> “status quo”. Just at this moment an exceptional work appeared: the Historia Caroli Magni or the Historia Karoli Magni et Rotholandi, (History of the Life of Charlemagne and Roland) also known as the Pseudo-Turpin: a series of legends about Charlemagne's battle against the Muslims in Spain. This work is also known as the fifth book of the Codex Calixtinus or Liber Santi Jakobi 13 (The Book of Saint James), attributed to the Bishop of Reims, Turpin 14 , a contemporary of Charlemagne. Turpin's apparent authorship gave the book the status of a Chronicle, that is to say, it gave it authenticity. The theme of this compendium of legends is fundamental to understanding the need to demonstrate that its contents should be considered as real: the victory of Charlemagne over the Muslims and how this began with a dream Charlemagne had: “[…] he being weary through oppressive labour, resolved that he would henceforth rest and not go to battle. And then he saw a path of stars in the sky, beginning in the Frisian Sea and extending through Germany and Italy, Gaul and Aquitaine, passing directly over Gascony, Vasconia, Navarre and Spain to Galicia, where the body of Saint James lay buried and undiscovered. Looking upon this stellar path several times every night, he began to meditate its meaning.” 15 The dream continued with the appearance of Saint James the Apostle, sent by God to ensure Charlemagne liberated the lands of the Apostle from the Muslims and who instructed Charlemagne to construct the Saint James Way as well as visiting the tomb of Saint James: “The path of stars that you have contemplated in the sky is the sign indicating that you must take a great army from here to Galicia to do battle with those perfidious pa- 13 Liber Sacti Jacobi Codex Calixtinus, trans. by A. Moralejo, C. Torres, J. Feo, Xunta de Galicia 1992. 14 Ibid., p 403: (Turpin) 1. Archbishop of Reims (d.788 or 794), to whom the narrators attributed it, to make it more prestigious. 15 Ibid., p. 408. 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 12 9 <?page no="130"?> 130 María Begoña Prieto Peral gans, to free my path and my lands and to visit my basilica and my tomb”. 16 In this case the intention is clear: the Reconquista searches for legitimacy in two figures: that of the Emperor Charlemagne and Saint James the Apostle, (later described in iconography and popular culture as Santiago Matamoros, Saint James the Moor-Slayer). Robert Plötz emphasises the vision's propaganda content, where secular or dynastic power, (the Imperial Crown) and the religious power of the figure of Saint James unite in a common vision, 17 creating a first “political fiction” of the narrative of unity, in the war against the Muslims: the battle is the desire of divine power and is legitimised in the figure of the emperor as a representative of Christianity. A representation of this dream can be found in the reliquary of Charlemagne (ca. 1215) at Aachen Cathedral in Germany. Within the narrative about Saint James and the Saint James Way we find multiple discourses in the history of Spain which continue right up to the present: with time the figure of Saint James moves from the knight who fought against the Muslims, represented in the iconography as Saint James the Moor-Slayer, to the peaceful pilgrim with his habit and pumpkin, a symbol of openness, Europeanness, of an open spirituality in the European context. The recreation of the figure of the knight, Santiago Abascal, in the video 18 for the Andalusian election campaigns 19 deliberately draws on the idea of Saint James and the narrative of the Reconquista to give it legitimacy, in 16 Ibid., p. 408. 17 Robert Plötz, “De hoc quod apostolus Karolo apparuit.” Die Traumvision Karls des Großen: Eine typisch mittelalterliche Version? in: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. von Klaus Herbers, Tübingen 2003, p. 75. 18 https: / / elpais.com/ elpais/ 2019/ 02/ 01/ opinion/ 1549037625_909900.html (accessed 15.4.2019). 19 https: / / www.youtube.com/ watch? v=bIE7Xn10YU0 (accessed 15.4.2019). <?page no="131"?> the discourse of unity about national identity, and its dependence on religious belief (Christians against Muslims) at a moment of national crisis for Spain, and connects with an old medieval narrative about unity. 6.2 “Limpieza de sangre” and the Christian knight Since the conquest of Granada in 1492 the construction of Spanish national identity has involved a narrative of unity that is not only manifested in the cultural imagination on the peninsula but also in specific actions that have attempted to eradicate a discourse of diversity. By this we mean the doctrine of “limpieza de sangre”. Historian Heinz Schilling in his book 1517 Weltgeschichte des Jahres considers the “Reinheitswahn” and the “Fremdephobie” as a phenomenon affecting 16th century Europe. However, it highlights the influence of the Reconquista and the ideal of Christian unity as central elements in the danger that Jews and Muslims represent for Christian purity on the Iberian peninsula: “Auf der Iberischen Halbinsel hatte die Reconquista gegen die muslimischen Araber eine die Gesellschaft tief prägende Ideologie hervorgebracht, die unter dem Schlagwort ‘limpieza de sangre’ sich gleichermaßen der Reinheit des Blutes wie des christlichen Glaubens verschrieb”. 20 Schilling also adds that the doctrine of “limpieza de sangre” created a posture of rejection and destruction in spiritual terms, later legitimised by legislating against what was culturally or ethnically other. 21 According to Juan Goytisolo, the doctrine of “limpieza de sangre” establishes the desire to concentrate the power of old Christians and was imposed on the other territories in the Iberian peninsula, as well as more peripheral regions like “Valencia, Catalonia, the Basque Country and Galicia, places which had never been made fully Castilian and which, after Spanish 20 Heinz Schilling, 1517. Weltgeschichte eines Jahres, München 2017, p. 197. 21 Ibidem, p. 197. 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 1 31 <?page no="132"?> 132 María Begoña Prieto Peral decline in the 17th century and especially in periods of crisis, began to articulate their desire for independence”. 22 The counter to a diverse biography with Jewish or Muslim influences, that is the Jewish or Muslim converso, the new Christian; is the Christian knight or old Christian, an archetype of Spanishness who can demonstrate their nobility or Christianity down several generations and does not come from a converso family. The Christian knight becomes a “political fiction” to imitate. According to Goytisolo, for such a figure it is better to die with honour than live without honour. 23 And the characteristics that define this figure are asceticism, spirituality, austerity and a Christian spirit. Wealth and material goods are not important as an objective in life, absolute values are more important: “Die Großzügigkeit und Freigebigkeit des Spaniers, die Leichtigkeit, mit der er sich aller Habe entledigt und darauf verzichtet, sich mit der Verwaltung oder Mehrung seiner eigenen Güter zu beschäftigen, stammt aus seinem Glauben an höchste, absolute, unbedingte Werte.” 24 The counterpoint to the Spanish Christian knight, as presented by Goytisolo and its depiction in Spanish literature (Lazarillo de Tormes, Antonio de Guevera etc.) is the Christian knight of Erasmus der Rotterdam, or the “humanism of knights”, as Schilling calls it, personified by Ulrich von Hutten, a humanist knight, cultured, educated in Italy, open to science and intellectual debate. 25 A figure that in the narrative about economic crisis in the work by Enric Juliana. 26 Juliana describes a figure that represents modesty, peaceful discussion, hard work and austerity. His model is the Knight of the Green Cloak, a Cervantine figure inspired by the Christian knight Erasmus de Rotterdam, as a counter to the excesses of the crisis. Juliana 22 Juan Goytisolo, Spanien und die Spanier, Frankfurt 1986, p. 44. 23 Ibid., p. 49. 24 Ibid., p. 50-51. 25 Schilling 2017 (note 20), p. 157. 26 Enric Juliana, Modesta España. Paisaje después de la austeridad, Barcelona 2012. <?page no="133"?> attempts to link to a narrative of difference, restraint, an illuminating narrative that, according to him and to Goytisolo, has always existed in Spain, but never had the force required to create a real majority discourse. “Cervantes tries to negotiate the Counter Reformation and imagines the figure of the Knight of the Green Cloak to show a social and spiritual archetype upon which the foundations of Spanish character could have been laid.” 27 6.3 Heretics, Lutherans and Erasmians 1517 The definitive consolidation of a narrative of Christian unity as Spanish imperial identity takes place in 1517 with the Protestant Reformation. During this century groups of Lutherans also appear in Spain, in Sevilla and Valladolid 28 . In 1478 the Inquisition was re-established to fight against false converts using its repressive machinery during the reign of Philip II to repress and censure all dissent with the result that at the end of the 16th century all ideas of reform with regards to the Church had disappeared from the Spanish context. The only possible response was to create an inner exile in literature, art or spirituality. 29 During the 17th and 18th centuries and at the beginning of the 19th century, Spain defined its national identity essentially within a narrative of an empire fighting against the attempts of other powers to achieve supremacy in Europe. These are years which, according to essayist Goytisolo, are characterised by a process of slow decline. The discovery of America and the resulting expansion of Spanish interests in the world brought chimeric wealth and splendour as well as a flow of capital that flashed through Spain on its way to European cities, where Spanish monarchs paid off the debts they had run up with their wars against England and France. The expul- 27 Ibid., p. 19. 28 Otto Wolfgang, Conquista, Kultur und Ketzerwahn, Spanien im Jahrhundert seiner Weltherrschaft, Göttingen 1992, p. 65. 29 Ibid., p. 122. 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 1 33 <?page no="134"?> 134 María Begoña Prieto Peral sion of the Jews and Muslims brought about, according to Goytisolo, huge cultural, scientific and economic losses that would be central to understanding Spain's slow but ongoing decline. 30 A symbol for many of the greatness of empire, for others a symbol of its decline is the Royal Site of San Lorenzo de El Escorial (Monasterio de San Lorenzo del Escorial), built by Philip II in 1563 as a residence, monastery and royal pantheon for the Hapsburg royal family. 31 From the El Escorial a monk-king reigned in the name of a Catholic empire. Not far from El Escorial is the Valley of the Fallen (Valle de los Caídos), where until now Franco has been buried: a monument built by political prisoners and which also aims to cement the unity of the Spain “created” by Franco: Catholic and not diverse. 6.4 From the loss of Cuba in 1898 to 2018 1898 is a date that anyone who grew up in Spain will know. My generation associates it with history classes and the narrative of a nation that lost everything in 1898. Cuba, the last colony of the Spanish Empire. The end of the 19th and the beginning of the 20th centuries saw a real tragedy, a trauma that was consolidated in the intellectual discourse of the Generation of ‘98. The philosopher Miguel de Unamuno, one of the most wellknown members of that generation, advises the humiliated nation to take solace in modesty and austerity. Modesty and austerity, two words that are taken up by the members of the Generation of ‘98, Azorín, Unamuno and Machado in the landscape of the Castilian plateau: “Sie inszenieren die Landschaft Kastiliens als magischen Spiegel, durch den hindurch sie jenseits der trivialen Erscheinungen den authentischen Kern der spanischen Identität sehen und erkennen können. Die kastilische Landschaft dient den Schriftstellern aber auch als Kanal dafür, das, was sie als spanischen Ur- 30 Juan Goytisolo, Spanien und die Spanier, Frankfurt 1986, p. 37, 84. 31 Ibid., p. 118. <?page no="135"?> sprung ausgemacht haben, einem breiten Rezipientenkreis zu kommunizieren.” 32 The Castilian plateau, a huge, arid landscape, resistant to the harsh weather becomes the polar opposite towards the otherness of Europe, towards the exterior and represents an image of a return to the interior, to the centre of Spain as a strategy against the defeat and humiliation of the loss of the colonies. What starts as a proposal for intellectual regeneration leads to a political debate about the national problem in the dispute between Américo Castro and Claudio Sánchez Albornoz 33 , where they debate two different concepts of history and the essence of what is “Spanish”. According to Castro, “Spanishness” is defined by the of the experience of La Convivencia (The Coexistence) between Christians, Jews and Muslims in the past and therefore reveals a character with different traditions, while Claudio Sánchez Albornoz opts for a uniquely Spanish tradition that begins before the pre-Roman period. In this historic debate we can once again glimpse two narratives, the first describing the possibility of choosing a path of diversity which accepts the Christian, Jewish and Muslim influence on our history; that is to say a narrative of diversity in the construction of “Spanishness” and an open door to the diversity of different cultural and linguistic traditions on the peninsula, and secondly, a narrative of unity which sees “Spanishness” and therefore the Spanish nation, as an entity that existed even before Roman expansion across the peninsula. These two different ways of understanding “Spanishness” also represent, as Till Kössler explains, “a cultural battle between the representatives of a 32 Kienberger Antonia, Die Inszenierung der kastilischen Landschaft als Erlebnis- und Verhandlungsraum der spanischen Identität. Erinnerungspolitik bei Azorín, Antonio Machado und Miguel de Unamuno (Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät IV (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Universität Regensburg 2008), p. 8. 33 https: / / www.iai.spk-berlin.de/ fileadmin/ dokumentenbibliothek/ Iberoamericana/ 38-2010/ Baumeister_y_Teuber_Rev38-01.pdf (accessed 15.4.2019). 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 1 35 <?page no="136"?> 136 María Begoña Prieto Peral modernising project (Catalanists, Socialists, Communists and Anarchists) and those fighting for a united, Catholic Spain (the Church, Nationalists, Francoists)”. 34 Kössler adds that “this interpretation also involves discussion of the question of participative democracy, gender equality and a cosmopolitan and secular way of life.” 35 This first pluralistic and diverse model is imposed as a political project in the Second Republic, ending with the Civil War in opposition to the second division of the Spanish political project: the Franco dictatorship During Franco's dictatorship the narrative of unity reached its critical point. The Catalan, Gallego and Basque languages were banned. All political dissent was punished with concentration camps, prison or exile and the Catholic Church supported this unity project that lasts until Franco's death in 1975. In 1978 with the ratification of the Constitution in the same year political consensus was achieved with the estado de autonomías, Spain’s constitutional framework of autonomous regions, which attempted to bring together the two narratives, that of unity and diversity. It is a model which works in the first years of the democracy and during the consolidation of democracy and up to when Spain joins the European Union and the introduction of the Euro, but begins to show its first cracks with the economic crisis of 2008. Raul Zelik writes in his book Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien that “for a long time (the economic crisis) has not only been about unemployment and forced evictions. Inadvertently, the country has manoeuvred itself towards a huge constitutional crisis […] The 34 Till Kössler, Demokratie und Demokratieerfahrung Die spanische Zweite Republik (1931-1936/ 39) in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Themenportal Europäische Geschichte 2013, www.europa.clio-online.de/ essay/ id/ artikel-3741 (accessed 15.4.2019). 35 Ibid. <?page no="137"?> crisis also has a historical, national dimension. The Spanish state suffers from a lack of democracy and unresolved conflicts with the other nations in the state: Catalonia, the Basque country and Galicia”. 36 After many years of abundance, the construction boom, rapid growth and the euphoria of European football and the World Cup at the end of the 1990s and beginning of the 2000s, the housing crisis and later the financial crash put an end to rapid growth. In response, the government of the day focused on economic cuts, particularly to social projects, affecting the most vulnerable in society, and also on a policy of “cuts” to democratic freedoms as with the Ley Mordaza (Gag Law). During these years of crisis a large number of corruption scandals came to light involving top politicians and members of the Royal Family. In society in general there was a growing sensation of paralysis, of inactivity. The result was also a “cultural pessimism” which is reflected in the literary works published in the first 13 years of the 21st century, which painted a “dark” and “depressing” vision of a nation, one which forced its brightest and best to emigrate in search of work, a nation whose towns were dying because of an ageing population and whose corrupt politicians only considered their own advancement and well-being. Writers like Antonio Muñoz Molina and Sergio del Molino wrote works with titles such as Todo lo que alguna vez fue sólido (Everything that was once solid), Un viaje por una tierra que nunca fue (A journey through a land that never was) and gave voice to a depression shared by many: Spanish growth in the 90s was just a bubble. A bubble that burst. Also questioned is the agreed pact of pseudo-diversity in the estado de autonomías and in particular the founding myth of the Spanish transition to 36 Raul Zelik, Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien, Berlin 2015, p 10. 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 1 37 <?page no="138"?> 138 María Begoña Prieto Peral democracy of 1978 is put into doubt by parties like Podemos or some of the representatives of Catalan separatism, and with it the constitution. The cry for help from authors such as Enric Juliana, who calls for modesty, austerity, prudence and an Erasmian “knight of the green cloak” like the character from Cervantes Don Quixote, is little more than a brutal criticism of a “way of being Spanish” that continues to exist in Spain: intransigent, individualist and the enemy of dialogue. It is a call to create a new country in which modesty, manners, good governance, conflict resolution and solidarity prevail over corruption, individualism, consumerism and conflicts between the different autonomous regions. In contrast to previous crisis, like the loss of Cuba, the last colony of the Spanish Empire in 1898 which gave rise to large group of thinkers and intellectuals in Spain (the Generation of ‘98) and whose influence centred exclusively on Spain, this new crisis had an international dimension. Although the social realities and political and economic problems in Greece, the USA (the Occupy movement) and North Africa (the Arab Spring) were different from Spain's issues, they provided important inspiration for the Spanish movement which became known as 15 M after its launch on 15 May 2011. During 2012 and 2013 the effects of the crisis (high unemployment, cuts to education, health, culture etc.) created a climate of such generalised dissatisfaction that a large part of the population began to support political projects like Podemos which tried to tackle the structural problems affecting Spain from a perspective of diversity, as a clear challenge to the Parliamentary monarchy model which came into being in 1978. Despite the initial euphoria around Podemos and the springing up of many influential political groupings, so far there has not been real political change that deals with the challenges facing Spain (separatist aspirations in Catalunya, structural causes of the high level of unemployment and the focus of the Spanish economy on the tourism and construction industries.) <?page no="139"?> On the contrary, Catalan separatism has radicalised the discussion about the legitimacy of the estado de autonomías model. Positions on the political model of Spanish identity has radicalised to such an extent that at the moment we find ourselves with three narratives: two extreme nationalist narratives of unity whose political projects are diametrically opposed and a third narrative of diversity which is the great loser and is hardly heard in current discussions of identity. 6 Political fictions in the construction of Spanish national identity 1 39 <?page no="141"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit: Von der Natur, einem Märchen und einer historischen Persönlichkeit Anne Brunner <?page no="143"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 143 Digitale Medien haben ein neues Massenphänomen erzeugt: „Fake News“. Falschmeldungen verbreiten sich in Windeseile über ganze Kontinente. Inzwischen beschäftigt sich bereits die Wissenschaft mit diesem unerfreulichen Nebeneffekt. Ein renommiertes Journal bilanziert: Unwahrheiten verbreiten sich virtuell schneller als Wahrheiten. Das „Zwitschern“ via Twitter erzeugt damit eine tendenzielle Schieflage, also ein Bias: Die Wahrscheinlichkeit, dass falsche statt richtiger Inhalte kursieren, ist 70% höher. Und dies liegt nicht an Maschinen oder Robotern, sondern an den beteiligten Menschen, so die Forscher. 1 Fake bedeutet im Englischen Täuschung, Schwindel oder Imitation. Dass es dafür keine Computer braucht, melden Tageszeitungen immer wieder. Zum Beispiel die schlaue Idee eines Autofahrers, der nach langer Anreise in München parken wollte. Vor einem Luxushotel stellte er sein stolzes Fahrzeug ab und montierte auf dem Wagendach einfach ein Blaulicht. Der Verkehrsüberwachung kam das komisch vor. Der informierten Polizei gestand der Besitzer, dass er kein Kleingeld für den Parkschein hatte. Das Blaulicht war anschließend weg - und vermutlich auch der Führerschein. 2 Fakten oder Fake? Wir sind auf ganz neue Art und ständig gefordert, zu unterscheiden: Was stimmt, was stimmt nicht? Diese latente Verunsicherung kostet Zeit, Kraft, und zehrt an unseren Nerven. „Die große Gereiztheit“, so folgert ein Buchtitel. Beschrieben wird eine kollektive Nervosität, die durch 5 Krisen verursacht wird; eine davon ist die „Wahrheitskrise“. 3 1 Soroush Vosoughi, Deb Roy and Sinan Aral, The spread of true and false news online, in: Science, 369 (6380), 2018, S. 1146-51. 2 sueddeutsche.de, 04.02.2019: Falsches Blaulicht - Betrug auf dem Auto. 3 Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018. <?page no="144"?> 144 Anne Brunner 7.1 FAKE: Keine Erfindung des Menschen! Ist Täuschung eine menschliche Erfindung? Nein, keineswegs. Schon in der Natur finden sich Meister der Tarnung. Naturfotografen haben solche Szenen in prachtvollen Bildern eingefangen 4 : Ein grüner Frosch macht sich im grünen Gras unsichtbar, ein braunes Reh versteckt sich zwischen braunen Ästen, ein ockerfarbener Löwe verschwindet im trockenen Steppengras, ein Schmetterling verschmilzt optisch mit dem Blatt, auf dem er sitzt (Abb. 1 a-c). Die Bilder zeigen die perfekte Kunst, nicht gesehen zu werden. Für den Betrachter entstehen somit richtige Suchbilder, in denen sich das Auge angestrengt bemüht, das angebliche Lebewesen einzukreisen. So werden Jäger und Angreifer unsichtbar, und ebenso potentielle Beute und Opfer. Tarnung ist eine ausgeklügelte Überlebensstrategie der Natur, die sogar bei Pflanzen zu finden ist. 5 Biologen sprechen von Mimese: eine „täuschende Nachahmung der Umgebung oder eines Objekts“. Ein besonders „gemeines“ Beispiel ist ein schwimmendes Krokodil, das bis auf die herausragenden Augen unsichtbar bleibt und sich langsam dem arglos trinkenden Zebra nähert. Abb. 1a: Reh 6 4 Art Wolfe und Barbara Sleeper, Meisterhaft getarnt, München 2015. 5 Klaus Lunau, Warnen, tarnen, täuschen. Mimikry und Nachahmung bei Pflanzen, Tier und Mensch, Darmstadt 2002. 6 Alle Grafiken stammen von Klaus Brunner. Das Copyright verbleibt bei der Autorin. <?page no="145"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 145 Abb. 1b: Löwe Abb. 1c: Schmetterling Meister der Tarnung: „Mimese“ bedeutet in der Biologie, dass die Umgebung oder ein Objekt täuschend nachgeahmt wird. Beispiele sind das Reh im Wald, der Löwe im Gras oder der Schmetterling auf dem Blatt. <?page no="146"?> 146 Anne Brunner Mimese: „Erwerb eines Phänotyps, besonders hinsichtlich Gestalt und Färbung, mit dem sich Tiere ihrer Umgebung (belebten oder unbelebten Formen) anpassen.“ 7 „Täuschende Nachahmung eines belebten oder unbelebten Objekts, das für den zu täuschenden Empfänger uninteressant ist. Als Vorbilder können der Untergrund, Steine, Blüten, Blätter, Äste … dienen. Anders als im Falle der Tarnung kann der Nachahmer zwar leicht gesehen, aber nur schwer als das erkannt werden, was er in Wirklichkeit ist.“ 8 Es gibt eine noch raffiniertere Form der Täuschung: Hier werden die Signale eines anderen Lebewesens imitiert. Diese Signaltäuschung wird in der Biologie Mimikry genannt. So haben manche Schmetterlingsflügel runde Flecken, die an Augen erinnern, und den hungrigen Vogel scheinbar anstarren und erschrecken. So kann das Pfauenauge ganz in Ruhe seine Flügel ausbreiten, um den Angreifer davon zu jagen (Abb. 2a). Ein besonders „perfides“ Beispiel ist das Kuckucksei. Es wird vom Muttervogel in ein mühsam gebautes, fremdes Nest geschmuggelt, um dort von den ahnungslosen „Stiefeltern“ mit ausgebrütet zu werden. Die erste Signaltäuschung ist damit gelungen. Die zweite folgt sogleich: Nach dem Schlüpfen hat der kleine Jungvogel zeitlich die Nase vorn und offenbar nichts anderes im Sinn, als die anderen Eier mit seinen Hinterbeinen aus dem Nest zu werfen. Die Konkurrenz wird heimlich entfernt, während die sorgenden „Elternvögel“ emsig nach Futter suchen. Zurück am Nest wartet ein weit aufgerissener, knallroter Schnabel, um die Beute gierig zu verschlingen. Eine weitere Signaltäuschung ist somit geglückt. Am Ende überragt der bettelnde, nimmersatte Vielfraß die erschöpften, abgemagerten Futtersammler um ein Vielfaches (Abb. 2b, c). 7 Oswald Rottmann und Paul Höfer, Lexikon Biologie, Freising 2002. 8 Robert Huber und Hubert Ziegler, Lexikon der Biologie, Heidelberg 2002. <?page no="147"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 147 Abb. 2a: Pfauenauge Abb. 2b: Kuckucksei Abb. 2c: Vogel <?page no="148"?> 148 Anne Brunner Beispiele für Mimikry: Hier werden biologische Signale imitiert und vorgetäuscht. Die Flügel des Schmetterlings tragen scheinbar Augen, die den Angreifer anzustarren scheinen. Das Kuckucksei sendet das Signal für Brüten, der offene Schnabel für Füttern. Das funktioniert so lange, bis der Eindringling das gesamte Nest besetzt und die „Stiefeltern“ deutlich überragt. Mimikry: „Nachahmung von Signalen zweier Arten, wodurch die eine Art oder beide vor Räubern geschützt sind.“ 9 „Jede Ähnlichkeit zwischen Lebewesen, die nicht auf stammesgeschichtlicher Verwandtschaft, sondern auf einer täuschenden Nachahmung von Signalen beruht. … Der Nachahmer sendet das gleiche Signal wie sein Vorbild.“ 10 7.2 Begriffe 7.2.1 Mimik und Maske Die oben genannten biologischen Fachbegriffe erinnern an das Wort Mimik, das auf das Griechische mimikos zurückgeht und „schauspielerisch“ bedeutet. 11 Biologen definieren Mimik als „Ausdrucksverhalten mittels Gesichts- Muskulatur, Augenstellung usw. […] Eine deutliche Mimik gibt es nur bei höheren Säugern, in einfacher Form z.B. bei Katzen, Hunden, Huftieren u.a. Bei Primaten, besonders bei Menschenaffen, ist die Mimik sehr differenziert und spielt in der sozialen Kommunikation eine wesentliche Rolle. […] Das menschliche Gesicht weist die meisten Gesichtsmuskeln im gesamten Tierreich auf, was den Stellenwert der nonverbalen Kommunikation auch noch beim sprachbegabten Menschen deutlich unterstreicht. […] Zum Teil enthält der mimische Ausdruck sehr einfacher Auslöser (Schlüs- 9 Rottmann/ Höfer (wie Anm. 6). 10 Huber/ Ziegler (wie Anm. 7). 11 Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 2014. <?page no="149"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 149 selreize), die von allen Menschen, auch von kleinen Kindern, sofort verstanden werden. “ 12 Schon Neugeborene sind in der Lage, die Mimik eines Gegenübers zu imitieren. Dies wurde in einem bahnbrechenden Experiment der 1970er Jahre eindrücklich gezeigt. Wenige Tage alte Säuglinge ahmten bestimmte Grimassen nach, die sie zum ersten Mal bei einem erwachsenen Gegenüber sahen: die Zunge herausstrecken, den Mund öffnen oder die Lippen spitzen. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass diese Fähigkeit erst später ausgebildet und erlernt wird. Doch die Verhaltensforscher deckten diesen Irrtum auf: “Infants between 12 and 21 days of age can imitate both facial and manual gestures; this behavior cannot be explained in terms of either conditioning or innate releasing mechanisms. Such imitation implies that human neonates can equate their own unseen behaviors with gestures they see others perform.” 13 Biologen sprechen von Mimik-Imitation und gehen von einer angeborenen Fähigkeit aus. Diese hat das lebenswichtige Ziel, „sich bereits früh die Zuwendung des Imitierten zu sichern oder/ und eine Fütterung zu erleichtern, indem Gesichtsbewegungen der fütternden Personen nachgemacht werden.“ 14 Ist diese Fähigkeit nur bei Menschen ausgeprägt? Das hatte man lange geglaubt, was ebenfalls ein Irrtum war. Japanische Verhaltensbiologen untersuchten unsere nächsten Verwandten: neugeborene Schimpansen-Äffchen, die von der eigenen Affenmutter aufgezogen wurden. Schon nach wenigen Tagen konnten sie bestimmte Grimassen imitieren, und das, obwohl es sich um menschliche, also artfremde Gesichter handelte: “At less than 7 days of age the chimpanzees could discriminate between, 12 Huber/ Ziegler (wie Anm. 7). 13 Andrew N. Meltzoff und M. Keith Moore, Imitation of facial and manual gestures by human neonates, in: Science, 198 (4312), 1977, S. 74-78. 14 Huber/ Ziegler (wie Anm. 7). <?page no="150"?> 150 Anne Brunner and imitate, human facial gestures (tongue protrusion and mouth opening).” 15 Ist diese Fähigkeit nur auf menschliche Primaten beschränkt? Davon war man ausgegangen, bis eine spätere Studie auch diese Annahme widerlegte. Italienische Verhaltensbiologen konnten ein solches Verhalten auch bei Rhesus-Äffchen nachweisen, die evolutionär weiter von der menschlichen Linie entfernt sind. Die Kleinen waren ebenfalls in der Lage, bestimmte Grimassen zu erkennen und nachzumachen, und das sogar bei artfremden, menschlichen Gesichtern (Abb. 3). “Our findings provide a quantitative description of neonatal imitation in a nonhuman primate species and suggest that these imitative capacities, contrary to what was previously thought, are not unique to the ape and human lineage. We suggest that their evolutionary origins may be traced to affiliative gestures with communicative functions.” 16 Abb. 3: Rhesus-Äffchen - vorher, nachher Die Fähigkeit zu Mimik und ihrer Imitation ist evolutionär tief verwurzelt und nicht auf Menschen begrenzt. Auch kleine Rhesus-Äffchen können bestimmte Grimassen erkennen und nachahmen. Und das sogar bei einer anderen Art, dem menschlichen Gesicht. 15 Masako Myowa-Yamakoshi. Masaki Tomonaga, Masayuki Tanaka und Tetsuro Matsuzawa, Imitation in neonatal chimpanzees (Pan troglodytes), in: Developmental Science, 7 (4), 2004, S. 437-442. 16 Pier F. Ferrari, Elisabetta Visalberghi, Annika Paukner, Leonardo Fogassi, Angela Ruggiero, Stephen Suomi, Neonatal imitation in rhesus macaques, in: PLOS Biology, 4 (9), 2006, e302 (https: / / doi.org/ 10.1371/ journal.pbio.0040302), abgerufen am 16.5.2019. <?page no="151"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 151 Auf neurologischer Ebene scheinen hier die Spiegelzellen (mirror cells) eine Rolle zu spielen. Die Fähigkeit, Mimik zu imitieren, scheint tief in den Genen verankert zu sein, um frühe Bindungen aufzubauen: “Picking up these social gestures early in life may well facilitate the animal’s early social relations (primarily with the mother) and assimilation into the social fabric of the group, providing a mechanism for distinguishing friend from foe.” 17 Zurück zu den Begriffen. Mimen bedeutet schauspielern, so tun als ob; mimisch von Gebärden und Gesten begleitet. 18 Das Element des Schauspielers ist auch im Begriff Person enthalten. Im Lateinischen bedeutet Persona: Maske des Schauspielers; Rolle, die durch diese Maske dargestellt wird; Charakterrolle; Charakter; Mensch, Person. 19 Eine weitere sprachliche Brücke besteht zum lateinischen Per-sonare: hindurch tönen. Die Person spricht sozusagen durch die Maske hindurch und ist hinter ihr verborgen (s. Abb. 4). Abb. 4: Maske Der Begriff Person ist aus dem lateinischen Wort für Maske hergeleitet. Per-Sonare bedeutet hindurch tönen. 17 Liza Gross, Evolution of Neonatal Imitation, in: PLOS Biology, 4 (9), 2006, S. 1484-1485 (https: / / doi.org/ 10.1371/ journal.pbio.0040311), abgerufen am 16.5.2019. 18 Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 2014. 19 Ibid. <?page no="152"?> 152 Anne Brunner 7.2.2 Wahrheit und Täuschung “Was ist Wahrheit? “ Diese Frage stellte schon Pilatus vor 2000 Jahren, als er den angeklagten Jesus verhörte (Joh 18,38). Der Begriff wahr wurzelt im indogermanischen uer: Gunst, Freundlichkeit (erweisen). Verwandt ist er mit dem lateinischen vera (wahr) und dem russischen vera, das Glauben bedeutet. Ähnliche Begriffe aus dem Mittelhochdeutschen (ware) und Althochdeutschen (wara) bedeuteten Vertrag, Treue. Gemeinsame Grundlage ist das Vertrauen, so dass „wahr“ mit vertrauenswert übersetzt werden kann. 20 Unsere Alltagssprache enthält diesen Ausdruck in zahlreichen Varianten: gewähren, sich bewähren, wahrhaft, wahrhaftig, wahrlich, wahrscheinlich, wahren, währen, während, wahrnehmen, gewahr werden, Währung, Wahrzeichen. Es wird deutlich, dass es hier um bestimmte Merkmale geht: Verlässlichkeit, Stabilität und Transparenz. Die Naturwissenschaften definieren Wahrheit anders als Geistes- und Sozialwissenschaften. Die klassische Physik beschreibt Naturgesetze, die objektiv gültig sind. Und auf diese ist Verlass: die Sonne geht pünktlich auf, die Planeten kreisen auf berechenbaren Bahnen und die Schwerkraft lässt den Apfel sicher nach unten fallen. Auch die Medizin kennt viele stabile Größen. Der menschliche Körper funktioniert durch die verlässliche Funktion der Organe: Die Lungen sorgen für den Sauerstoff im Blut, das gesunde Herz pumpt es lebenslang in den Kreislauf und die Knochen stützen das Gewicht mit einer bestimmten Struktur. Etwas komplizierter wird es in der modernen Quantenphysik: Je tiefer man in die Materie eindringt, desto mehr löst sie sich auf. Und nicht nur das: Kleinste Teilchen verwandeln sich plötzlich sogar in Wellen - und wieder zurück. Kein Wunder, dass in dieser Denkwelt neue Worte erfunden werden, wie „Wirks“ und „Passierchen“. 21 Der Begriff Realität wird relativiert, 20 Ibid. 21 Hans-Peter Dürr und Raimon Panikkar, Liebe - Urquelle des Kosmos: Ein Gespräch über Naturwissenschaft und Religion, Freiburg 2008, S. 30. <?page no="153"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 153 da er Objekte und Gegenstände („res“) impliziert, die es in der Mikro-Welt nicht mehr gibt. Stattdessen wird ein anderer Ausdruck bevorzugt: Wirklichkeit. Diese wird von Wirks aus dem Nichts erzeugt. Ein kreativer Prozess, der mittels Passierchen ständig passiert. Der Kosmos ist demnach ein Produkt von Schwingungen und Resonanz. Kein Wunder, dass sich hier die Grenzen klassischer Fachdisziplinen auflösen. So beginnen Quantenphysiker, mit Philosophen über den Geist und mit Theologen über Gott und die Welt zu sinnieren. 22 Komplexer wird es auch in bestimmten Disziplinen der Heilkunst, wie z.B. der Psychosomatischen Medizin. Hier werden weitere Dimensionen wie Psyche und Umwelt einbezogen, die biologische Prozesse maßgeblich und messbar beeinflussen. Der Placebo-Effekt ist ein beeindruckendes Beispiel dafür. Der Glaube an die Wirkung ist im Idealfall so mächtig, dass er „Berge versetzen“ und die übliche Effektstärke von Medikamenten sogar noch übertreffen kann. Hier zeigen mentale Kräfte eine Wirksamkeit, von der Pharmafirmen nur träumen können. Voraussetzung ist ein tiefes Vertrauen und die positive Beziehung zu einem glaubwürdigen Arzt/ einer glaubwürdigen Ärztin. 23 Wie in der Quantenphysik, so ist auch in der Psychosomatik ein zentraler Begriff inzwischen die Resonanz: Das menschliche Gehirn ist darauf angelegt. Es blüht auf, wenn Beziehungen harmonisch klingen und auf gleicher Wellenlänge schwingen. 24 Leben braucht daher eine Atmosphäre, in der Stimmungen sowohl hindurch-tönen (per-sonare) als auch zurück-tönen (resonare), um gesund zu bleiben. 22 Ibid. 23 Matthias Breidert und Karl Hofbauer, Placebo - Missverständnisse und Vorurteile, in: Deutsches Ärzteblatt, 106 (46), 2009, S. 751-55; DOI: 10.3238/ arztebl.2009.0751. 24 Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München 2016. <?page no="154"?> 154 Anne Brunner Die Wissenschaft geht inzwischen sogar soweit, dass dieses Phänomen auch für Gene gilt. Betrachtete man diese früher als lebenslang „geschlossene Systeme“, weiß man es heute dank molekularbiologischer Forschung besser: unser Erbgut ist sehr wohl offen für äußere Einflüsse und reagiert auf Lebensstil, Verhalten und soziales Klima. Eine bahnbrechende Erkenntnis, die eine neue medizinische Fachdisziplin, die Epigenetik, begründet hat. 25 „Harte“ Naturwissenschaften haben sich daher in bestimmten Bereichen den „weichen“ Sozial- und Geisteswissenschaften angenähert. Diese beschreiben vorrangig soziale Wirklichkeiten. In solch menschengemachten Sekundärwelten geht es um subjektive Konstruktionen und relative Wahrheiten. Individuelle Geschichten und Deutungen werden zu „Narrativen“. Wer in der Hierarchie oben ist, darf die „Deutungshoheit“ für sich beanspruchen, seine „Erzählung“ zählt also mehr als die der Untergebenen. Folgerichtig zählt Redezeit als Machtsymbol: Wer einen höheren Status hat, darf messbar länger sprechen, um die Zuhörer mit der eigenen Version zu beschallen. Ein Phänomen, das bereits im Karriereteil seriöser Zeitungen besprochen wird, um den Rücken der Stillen zu stärken. 26 Dieses Spiel kann sich schlagartig ändern, wenn der Wind dreht, die Rollen wechseln und sich die Ebenen umkehren. Im Gegensatz zur Wahrheit steht der Begriff Täuschen. Er kommt aus dem mittelhochdeutschen tiuschen: unwahr reden, lügnerischen versichern; anführen, betrügen, tauschen; betrügen, übervorteilen, schachern. 27 Eine Ent-Täuschung ist so gesehen eine gute Nachricht, da eine Täuschung geplatzt ist (Abb. 5). Auch Selbst-Täuschungen sind möglich. Diese können sich recht hartnäckig halten; die Umgebung ist dann oft schlauer als die Betroffenen, die verblendet oder von Blindheit geschlagen sind. 25 Joachim Bauer, Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München 2013. 26 sueddeutsche.de, 03.02.2019: Redezeit als Statussymbol. 27 Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 2014. <?page no="155"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 155 Abb. 5: Ent-Täuschung: Hier platzt eine Täuschung, wie ein Luftballon. Diese Erfahrungen sind meist schmerzhaft und heilsam zugleich: Willkommen auf dem Boden der Wirklichkeit! 7.3 Täuschung und Wahrheit in Geschichten 7.3.1 Märchen Eine solche Selbst-Täuschung wird in dem Märchen Des Kaisers neue Kleider eindrücklich beschrieben 28 . Es handelt von einem eitlen Herrscher, der fast nur mit seiner Garderobe beschäftigt ist und all sein Geld für neue Kleider ausgibt. Eines Tages kommen zwei Betrüger in die Stadt, die sich für geniale Weber ausgeben und versprechen, die prächtigsten Kleider zu nähen. Diese würden jedoch die Besonderheit aufweisen, dass sie „für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.“ Der Kaiser ist begeistert und geht auf sämtliche Forderungen ein: viel Handgeld, neue Webstühle, feinste Seide und prächtiges Gold. Die Halunken stecken alles in die eigene Tasche und arbeiteten scheinbar emsig Tag und Nacht, und das mit leeren Händen und an leeren Tischen. Die erste Besichtigung wird mit Spannung erwartet, doch der Machthaber traut seinen Augen nicht: „Was! “ dachte der Kaiser, „ich sehe gar nichts! Das ist ja schrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das 28 Hans-Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider, in: Märchen, Stuttgart 2003, S. 111-117. <?page no="156"?> 156 Anne Brunner wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.“ Und so geht die Rechnung der Lügner auf: Der Herrscher lässt sich auf die Täuschung ein und glaubt schließlich selbst daran: „Oh, es ist sehr hübsch“, sagte er, „es hat meinen allerhöchsten Beifall! “ Und sein gesamtes Gefolge stimmt ihm zu. Nun wird ein großes Fest vorbereitet und der Kaiser vor seinen hohen Beamten eingekleidet. In der Garderobe nehmen die selbsternannten Weber seine Kleider ab, bevor sie ihm scheinbar das prächtige Gewand anlegen. Um etwaige Zweifel zu zerstreuen, reden sie auf die Zuschauer ein: „‚Es ist so leicht wie Spinnwebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei.‘ ‚Ja! ‘ sagten alle Beamten, aber sie konnte nichts sehen, denn es war nichts da.“ Nun gibt es kein Zurück mehr. Der Würdenträger schreitet feierlich, jedoch nackt durch die Straßen, und selbst das Volk sitzt in der täuschenden Falle: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt! “ Schließlich ist es ein kleines Kind, dass die Wahrheit ausruft: „Aber er hat ja gar nichts an! “ Und der Vater sagt erleichtert: „Hört die Stimme der Unschuld! “ Jetzt ist der Bann gebrochen: „Und der eine zischelte dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte.“ Die Wahrheit verbreitet sich wie ein Lauffeuer: „Aber er hat ja gar nichts an! “ rief zuletzt das ganze Volk. Und wie verhält sich der Machthaber? Er ahnt, dass er die Wahrheit hört, und versucht dennoch, Haltung zu bewahren: „Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ‚Nun muss ich aushalten.‘ Und die Kammerherren trugen die Schleppe, die gar nicht da war.“ So endet das Märchen von Hans-Christian Andersen (1805-1875). Es erzählt von dem ängstlichen Bemühen, das Gesicht zu wahren und seine Rolle möglichst stolz weiter zu spielen. Schließlich geht es um Status, Macht und Privilegien, an denen es festzuhalten gilt. <?page no="157"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 157 Abb. 6: Des Kaisers neue Kleider In dem Märchen ist es ein kleines Kind, das das Spiel durchschaut und beendet. Die Erwachsenen hatten nicht den Mut dazu. Die eigenen Pöstchen und Privilegien waren wichtiger - also lieber den Mund halten und mitspielen! 7.3.2 Gleichnis Im Buddhismus gibt es eine Geschichte, die davon handelt, wie schwierig es sein kann, die Wahrheit zu finden. 29 Einst besuchten Mönche einen Weisen („Erhabenen“) in seinem Kloster, um ihn um Rat zu fragen. Sie beklagten sich darüber, dass sich in der Stadt gerade viele heimatloser Pilger und Prediger (Brahmanen) aufhielten, um Almosen zu empfangen. Sie missionierten mit unterschiedlichen Ansichten, Glaubensrichtungen und Weltanschauungen und gerieten darüber in Streit. Die einen verkündeten, die Welt sei ewig, die anderen, diese sei endlich. Die einen, Leben und Leib seien identisch, die anderen, diese seien verschieden. Die einen, es gäbe ein Leben nach dem Tod, die anderen, dies gäbe es nicht. Jeder bestand darauf, dass er im Besitz der Wahrheit sei, und die Anderen Unsinn verkünden. So gab es ein großes Durcheinander und heftige Wortgefechte: „Das ist die Wahrheit, nicht so ist die Wahrheit“ - „Nein, das ist nicht die Wahrheit: so ist die Wahrheit! “ Der Erhabene hörte ihnen zu und antwortete mit einem Gleichnis (Abb. 7): 29 Das Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten (Udana 6,4), in: Reden des Buddha, Stuttgart 2008, S. 44-48. <?page no="158"?> 158 Anne Brunner Einst lebte ein König. Der befahl einem Diener, alle, die blind geboren waren, in der Stadt zu suchen und an einen Ort zu versammeln. Als dies geschehen war, sagte der König, der Diener solle in die Mitte einen Elefanten stellen und den Blinden vorführen. Der Diener besorgte das Tier und stellte es auf den Platz, mitten unter die Blinden. Einigen Blindgeborenen zeigte er am Elefanten den Kopf, anderen ein Ohr, anderen einen Stoßzahn, anderen den Rüssel, anderen den Rumpf, anderen einen Fuß, anderen das Hinterteil, anderen den Schwanz und anderen die Schwanzquaste. Jedes Mal sagte er zu den Blinden: “Das ist ein Elefant.“ Nachdem der Diener seine Aufgabe erfüllt hatte, kam der König selbst hinzu und fragte: „Nun sagt mir, ihr Blinden: was ist denn ein Elefant? “. Da antworteten die Blindgeborenen, die den Kopf zu fassen bekommen hatten: „Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Kessel! “ Die das Ohr zu fassen bekommen hatten, antworteten: „Ein Elefant, Majestät, ist wie eine Schaufel.“ Die einen Stoßzahn zu fassen bekommen hatten: „Ein Elefant, Majestät, ist wie der Stock eines Pfluges.“ Der den Rüssel erwischt hatte: „Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pflugbaum.“ Ein anderer, der am Rumpf stand: „Ein Elefant, Majestät, ist wie eine Vorratstonne.“ Ein weiterer, der einen Fuß berührt hatte: „Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pfosten.“ Der nächste, der das Hinterteil betastet hatte: „Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Mörser.“ Wieder einer, der an den Schwanz geraten war: „Ein Elefant, Majestät, ist wie der Stößel.“ Ein anderer, der die Schwanzquaste angefasst hatte: „Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Besen.“ Und so prügelten sie schließlich mit den Fäusten aufeinander ein und schrien: „So ist ein Elefant, nicht so! - Nein, so ist ein Elefant nicht; so ist er! “ Und der König hatte seinen Spaß. Der Erhabene beendete das Gleichnis und erklärte den Mönchen: „Daran nun eben hängen sie, … da diskutieren, streiten sie, als Menschen, die nur Teile sehen“. 30 Und in einer anderen Übersetzung heißt es: „Wahrlich, an 30 Angehörige verschiedener Schulen, in: Verse zum Aufatmen. Die Sammlung Udana und andere Strophen des Buddha, übers. von F. Schäfer, Stammbach 2009, S. 102. <?page no="159"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 159 diesen Dingen hängen einige Brahmanen und Asketen; sich entzweiend streiten sie sich, die nur einen Teil erfassen.“. 31 Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass dort nicht alle Menschen blind sind, im Gegenteil: Es geht um eine Minderheit von Einzelnen, die gesucht und versammelt werden. Die Blinden haben eine Behinderung, im Gegensatz zur Mehrheit der Gesunden: der König, seine Diener und wohl auch die Bevölkerung. In diesem Gleichnis gibt es die eine Wahrheit; sie bleibt lediglich bei einer Sehschwäche verborgen. Abb. 7: Der Elefant und die Blinden In dem buddhistischen Gleichnis stehen die Blinden auf einem je anderen Standpunkt. Jeder tastet nur einen Teil des Elefanten, der die gesamte Wahrheit verkörpert. Auch optische Täuschungen zeigen, wie schwierig es sein kann, Sein und Schein zu unterscheiden. 32 Gehen die Treppenstufen hinauf oder hinunter? Verlaufen die Linien zueinander parallel oder schräg? Handelt es sich um zwei Gesichter oder um eine Vase? Wie viele Beine hat dieser Elefant genau? Manchmal kann beides stimmen, wenn die Wirklichkeit hin und her kippt und das Auge mal das eine und mal das andere sieht. (Abb. 8 a, b) 31 Gleichnis (wie Anm. 28) S. 48. 32 Al Seckel, Unglaubliche optische Illusionen, Wien 2004. <?page no="160"?> 160 Anne Brunner Abb. 8a: Vase Abb. 8b: Elefant Optische Täuschungen führen das Auge und Gehirn an der Nase herum. Man kann sich ihnen kaum entziehen. 7.4 Eine wahre Geschichte Ein Leben zwischen Täuschung und Wahrheit: dafür gibt es auch historische Beispiele. Ein besonders markantes handelt von einer Person, die ein Problem mit Resonanzen hatte, und das auf verschiedenen Ebenen. Rückblickend hält man es nicht für möglich, dass es diese Geschichte tatsächlich gegeben hat. Sie spielt in den USA zur Zeit des 2. Weltkriegs und kam kürzlich wieder ans Licht durch einige fast zeitgleich erschienene Filme <?page no="161"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 161 und Biographien. 33 In einer aufwändigen Verfilmung verkörpert Meryl Streep diese schillernde Figur mit ihren Licht- und Schattenseiten; Hugh Grant spielt ihren Lebensgefährten St. Clair Bayfield. 34 Begleitend dazu erschien eine Biographie, die ihre Lebensgeschichte genauer beleuchtet. 35 Auf diese Quelle stützt sich in erster Linie die nachfolgende Beschreibung, bei den Zitaten werden die Seitenzahlen genannt. 7.4.1 Die Person: Hintergrund Abb. 9: Eine historische Figur „Man kann vielleicht sagen, ich kann nicht singen. Aber keiner kann sagen, ich hätte nicht gesungen! “ Die Amerikanerin Florence Foster Jenkins (1868-1944) galt als schlechteste Sängerin ihrer Zeit. Und dennoch hat sie es auf eine weltberühmte Bühne geschafft. Eine bemerkenswerte Kombination und Leistung, die ihr so schnell keiner 33 Die Florence Foster Jenkins Story. Die wahre Geschichte einer unglaublichen Karriere. Salzgeber & Co. Medien GmbH 2017. Regie: Ralf Pleger. Darryl W. Bullock: Florence! Foster! ! Jenkins! ! ! The Life of the world’s worst opera singer. The Overlook Press, New York 2017. 34 Florence Foster Jenkins. Constantin Film, 2017. Regie: Stephen Frears. Darsteller: Meryl Streep; Hugh Grant u.a. Produktion: Michael Kuhn 35 Nicholas Martin und Jasper Rees, Florence Foster Jenkins. Die wahre Geschichte der bekanntesten und zugleich untalentiertesten Sängerin aller Zeiten, München 2016. <?page no="162"?> 162 Anne Brunner nachmacht. Das Bild basiert auf einem Foto, das sie in der Rolle als Muse und „Engel der Inspiration“ zeigt und die Hülle einer ihrer Schallplatten schmückt. 36 Hauptperson ist Florence Foster Jenkins (1868-1944), eine wohlhabende Amerikanerin (Abb. 9). Schon als Kind hatte sie den Traum, Gesang zu studieren, was ihr Vater jedoch nicht zuließ. Aus Protest verließ sie das Elternhaus und stürzte sich schon mit jungen Jahren in eine Ehe. Diese zerbrach, als sie Anfang 30 war. Als Klavierlehrerin verdiente sie sich etwas hinzu, lebte jedoch überwiegend von ihrem Erbe. Daher konnte sie es sich leisten, ein Appartement in einem noblen Hotel in New York zu beziehen. Ihren Kindheitstraum hatte sie nicht vergessen: als Sängerin aufzutreten und ihre Gesangskunst einem größeren Publikum darzubieten. Das Dumme war nur: sie konnte nicht singen. Da half auch der private Gesangsunterricht nicht, den sie bei namhaften Lehrern nahm. Ihre Stimme schaffte es einfach nicht, den richtigen Ton zu treffen. Und auch nicht, den passenden Rhythmus zu finden oder zu halten. Was sie jedoch in keinster Weise bremsen konnte. Denn was nach außen wie ein schrilles, ungestimmtes Instrument tönte, klang in ihren Ohren wie eine himmlische Melodie. Hinzu kamen die charmanten und spendablen Seiten, mit denen Florence Sympathien gewann. Als gönnerhafte Geldgeberin förderte sie musikalischen Nachwuchs und organisierte Konzerte. Ja, sie liebte die Musik. Dafür boten Frauenclubs eine ideale Plattform. Eine wunderbare Gelegenheit, auch selbst im Rampenlicht zu stehen. „Schon seit den 1910er Jahren hatte sie vor ausgesuchtem Publikum gesungen, vorwiegend innerhalb der behüteten Welt der Frauenklubs, die es in New York seit der Jahrhundertwende in Hülle und Fülle gab. 1917 gründete sie ihren eigenen Zirkel. Sie nannte ihn den Verdi Club. 36 Florence Foster Jenkins, The Glory (? ? ? ? ) of the Human Voice (RCA Victrola, 1962). <?page no="163"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 163 Vor seinen Mitgliedern hielt sie dann später im Ballsaal des Ritz-Carlton ihre jährlichen Liederabende ab.“(9) Als Präsidentin konnte sie in ihrem Club schalten und walten, wie es ihr gefiel. Und sie zeigte großes organisatorisches Talent. Sie knüpfte Kontakte zur Welt der Musik, Kunst und Literatur und verschickte Einladungen. So entstanden regelmäßig unterhaltsame Programme, die in Zeitungen angekündigt wurden und in bekannten Hotels stattfanden. Als Belohnung ihrer Mühe besetzte sie immer wieder selbst die Bühne, wo sie auch ihr schauspielerisches Talent beweisen konnte. Sie schlüpfte in verschiedene Kostüme, um bestimmte Figuren zu verkörpern: Den „Engel der Inspiration“, der an Drahtseilen mit großen, weitgespannten Flügeln von der Decke herabschwebt. Oder die korpulente Walküre aus einer Wagner-Oper: Brünhild, in stolzer Pose mit wallender Perückenmähne, metallischem Panzer und langem Speer bewaffnet. Dann wieder die dunkle, rassische Carmen aus der spanischen Opernwelt. Woher diese Kostüme kamen? Wohl aus eigener Schatulle bezahlt und besorgt von ihrem Partner St. Clair. Als ihr Manager hatte er die Aufgabe, nur bestimmte Gäste einzulassen, die sich als Fans bewährt hatten und sicher klatschen würden. Reporter sollten besser draußen bleiben: „Die Presse war nicht unbedingt erwünscht, mit Ausnahme des Musical Courier, einem Fachblatt, dessen wohlwollendem Urteil man sich gewiss sein, ihm sogar mit einer diskreten Geldzuwendung nachhelfen konnte. Die Liederabende erlangten Kultstatus, und jahrelang ließ niemand öffentlich ein Wort darüber verlauten, was ganz eindeutig auf der Hand lag: dass Florence Foster Jenkins eine auffallend talentlose Sängerin war. Stattdessen spendeten, abgesehen von vereinzelten übermütigen Zwischenrufern, alle schallend Beifall und unterdrückten ihr Gelächter, indem sie sich Taschentücher in den Mund stopften.“ (9) Der Applaus war somit gesichert, wenn auch mit gewissem logistischem Aufwand im Hintergrund. So hatte sich Lady Florence eine kleine, vor al- <?page no="164"?> 164 Anne Brunner lem weibliche Fangemeinde aufgebaut, die fest zu ihr stand, loyal zu ihr hielt und vor allem: laut Beifall klatschte. Vorher, nachher und zwischendrin; komme, was wolle. Und sie zu Größerem ermutigte. Eine Weltbühne, z.B. Carnegie Hall - Why Not? Inzwischen hatte sie sogar ein Tonstudio dazu gebracht, Schallplatten von ihr aufzunehmen. Damit war ihre außergewöhnliche Stimme dokumentiert und verewigt: „Im Jahr 1941 machten die genannten Aufnahmen ihre schwache Stimme und gewagte Tonhöhe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, und die Mundpropaganda tat ein Übriges.“ (9) Da war Florence schon 73 Jahre alt. Immerhin befand man sich mitten im 2. Weltkrieg, und es gab nicht viel zu lachen. So verbreitete sich ihr zweifelhafter Ruf als „schlechteste Sängerin der Welt“ und ihre Auftritte galten als schräger Geheimtipp. Das Ziel Carnegie Hall hatte sich inzwischen in ihren Kopf gesetzt. Jetzt musste sie nur noch ihren Lebensgefährten überreden, der schließlich nachgab, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl: „‚Ich fand, eine Frau ihres Alters sollte sich eine solche Strapaze nicht mehr antun. Ein Massenpublikum hat etwas an sich, das einem Menschen die Anziehungskraft raubt. Es laugt dich aus.‘“ (236) Auch Florence war anfangs hin und hergerissen. „Aber nachdem sie sich schon so lange von den Lobliedern ihres Verdi Club hatte betören lassen, konnte sie sich gegen Falschheit gar nicht mehr zur Wehr setzen.“ (236) War es also die Sensationslust ihrer Umgebung, die sie dazu trieb, weiter nach oben zu streben? Oder hatte sie ein medizinisches Problem? Dies ist tatsächlich eine ernst zu nehmende Hypothese. Ihr früherer Gatte hatte es mit der Treue nicht so genau genommen und sie vermutlich mit Syphilis angesteckt. Diese wurde damals mit toxischer Arznei behandelt, die schwere Nebenwirkungen hatte - darunter Nervenschäden und Haarausfall. Tat- <?page no="165"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 165 sächlich war Florence offenbar glatzköpfig und trug eine Perücke. War ihr Gehör und Nervensystem ebenfalls geschädigt? Eine andere mögliche Diagnose geht in die psychiatrische Richtung: Lag hier eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung vor? Einer ihrer Vornamen war tatsächlich Narcissa, was ironischerweise einen Teil ihrer Facetten trifft. 7.4.2 Auftakt Wie dem auch sei: Gegen alle Widerstände machte sie immer weiter, um die Grenzen zu überschreiten. Und St. Clair half ihr, das Unmögliche zu ermöglichen. „In der ganzen Stadt verbreitete sich die Nachricht. Die Eingeweihten gaben denen, die noch nie etwas von Florence gehört hatten, den Tipp, dass sie sich dieses Ereignis auf keinen Fall entgehen lassen sollten.“ (237) Sogar in der New York Times wird das Ereignis angekündigt: „Die Carnegie Hall ist bis auf den letzten Platz ausverkauft für den Konzertabend, der dort morgen von Florence Foster Jenkins, Sopran, […] gegeben wird.“ (236) Am Konzertabend, dem 25. Oktober 1944, ist der Andrang so groß, dass Resttickets versteigert werden und eine lange Menschenkette wartet: „Als endlich die Türen öffneten, waren der Abendkasse längst die Tickets ausgegangen. Vor der Halle standen schätzungsweise zweitausend enttäuschte Schaulustige.“ (237) Selbst ihr Pianist und unentbehrlicher Liedbegleiter kann kaum durchdringen: „Als ich die Halle ansteuerte, wäre ich fast nicht näher herangekommen. Um hineinzukommen, musste man sich ausweisen.“ (237) <?page no="166"?> 166 Anne Brunner Unter den Gästen befinden sich einige berühmte Namen, wie der Songwriter Cole Porter oder die Sopranistin Lily Pons, „in einem Hut mit baumelnden Fransen wie ein Lampenschirm.“ (238) Ein Foto zeigt, wie voll die Halle ist, sogar Stehplätze sind knapp. Der Pianist erinnert sich: „‚Es sah aus, als würden die Leute von den Dachsparren hängen‘. Das Programmheft betont daher Anweisungen im Brandfall: ‚Schauen Sie sich jetzt um und merken Sie sich den Ausgang, der Ihrem Sitzplatz am nächsten ist.‘“ (239) Dort wird auch der Star des Abends beschrieben: „Sie ist eine souveräne Persönlichkeit mit unbeschreiblichem Charme; sie ist unvergleichlich, und ihre alljährlichen Liederabende bereiten unbändige Freude.“ (239) 7.4.3 Auftritt Dann ist es endlich soweit: Bühne frei, Spots an! Die betagte Dame hat es tatsächlich geschafft. Sie schreitet auf die Bühne, wenn auch etwas wackelig und von ihrem sichtlich jüngeren Lebensgefährten gestützt. „Die Beleuchtung der Show, für die St. Clair verantwortlich zeichnete, verfuhr gnädig mit Florence. Vom Rampenlicht aus fielen sanfte Pastelltöne auf sie. Als Madame Jenkins die Bühne betrat, wurde sie mit tosendem Applaus begrüßt. Er begleitete sie auf ihrer Via dolorosa hin zum Klavier. Inzwischen konnte man kaum mehr umhin, sie als korpulent zu bezeichnen, weshalb sie sich auch nur langsam und ein wenig unsicher bewegte. Der eine oder andere fürchtete schon, sie würde niemals ihr Ziel erreichen. Florence war in ländlichem Stil nach Art einer Schäferin herausgeputzt. Der Hirtenstab, den sie immer für den Rosenmarsch dabeihatte, half ihr nun, in der Vertikalen zu bleiben.“ (242) <?page no="167"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 167 Immerhin ist sie schon 76 Jahre alt, als sie sich im wallenden Gewand dem Klavier nähert. Dort sitzt schon ihr langjähriger Klavierbegleiter, Cosmé McMoon. Er wurde zwar immer schon gut von ihr bezahlt, doch ein solcher Auftrittsort wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Und dann nimmt die Tragödie ihren Lauf. „Begleitet von einem Pianisten, einem Flötisten und einem Streichquartett machte sie sich in einer Vielzahl von ausgefallenen Kostümen daran, eine Vielzahl von Liedern in Grund und Boden zu singen. Die dreitausend, die die Carnegie Hall bis zum Bersten füllten, wie man es dort noch nie zuvor erlebt hatte, verursachten einen solchen Tumult, dass ihr Klavierbegleiter McMoon den Abend als ‚das bemerkenswerteste Ereignis, das jemals hier stattgefunden hat‘ bewertete.“ (9-10) Die Halle ist riesengroß und ihr Stimmorgan hat ebenso große Mühe, das Raumvolumen zu füllen. „Hatte Florence schon in kleineren Konzerthallen Schwierigkeiten, ihre piepsige Fledermausstimme hörbar zu machen, war sie hier, nach Einschätzung nicht weniger, kaum zu verstehen für ein Publikum, das die abschließenden Töne eines jeden Liedes mit lautem Jubel erstickte. Andere fanden sie viel zu gut hörbar.“ (243) In den kurzen Pausen werden Kostüme und Rollen - so schnell es geht - gewechselt. „Als sie wieder herauskam, glitzerten auf ihrem Busen und an ihrem Hals Juwelen, und an ihren Fingern funkelten Ringe. In der Hand hielt sie einen stattlichen Fächer aus orangefarbenen und weißen Straußenfedern. Nachdem sie damit dem Publikum zugewinkt hatte, legte sie ihn auf das Klavier, das sie daraufhin für sich selbst als Stütze benutzte. Was als Nächstes durch das Prisma von Florence’ Kehlkopf drang, gehörte zu ihrem beliebten Standardrepertoire: Glucks ‚Ihr Götter ew'ger Nacht‘, eine brausende romantische Arie, in der Königin Alceste anbietet, aus Liebe ihr Leben hinzugeben, […] und dann das furiose Koloraturgeheul der Königin der Nacht.“ (244) <?page no="168"?> 168 Anne Brunner Mozart darf natürlich nicht fehlen. Einige seiner Arien gehören zu ihrem bewährten Stammrepertoire. Besonders angetan hat es ihr eine, die für ihre emotional aufgeladenen, extremen Spitzentöne bekannt ist: Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen. Doch sogar das hohe F kann eine Madame Jenkins nicht schrecken. Im Saal steigt die Stimmung, die Menge gerät langsam außer sich: „Das Publikum wappnete sich bereits für einen neuerlichen Anfall kollektiver Hysterie. Da einige unter ihnen ihre Zauberflöte-Aufnahmen kannten, übertönten die Zuhörer ihre Triller mit Gelächter.“ (244) Einige Zuschauer stören sich an diesem ungeheuren Lärm und stoßen die Nachbarn an. Ein Reporter berichtet: „Um mich herum hörte ich Leute sagen: ‚Pst, lachen Sie nicht so laut! Stecken Sie sich doch etwas in den Mund.‘ Wie ausgelassen die Atmosphäre war, lässt sich auch daran ersehen, dass sogar ein Bühnenarbeiter, der herauskam, um einen Stuhl zu versetzen, ebenfalls mit Applaus bedacht wurde.“ (244) Dazwischen kurze Atempausen, in denen Madame Jenkins hinter der Kulisse verschwindet, um in die nächste Rolle zu schlüpfen. Selbst dann herrscht auf der Bühne hektisches Treiben: „In der Pause schwärmten Platzanweiser und Kulissenschieber auf die Bühne und arrangierten körbeweise Blüten um das Klavier herum, sodass sich McMoon bei seiner Rückkehr wie in einem Gewächshaus vorgekommen sein muss. Ein Kritiker fühlte sich an eine exklusive Leichenhalle erinnert.“ (245) Dann folgt der nächste Auftritt, mit dem sie erneut überrascht: „Florence wurde mit Standing Ovations begrüßt, als sie wieder die Bühne betrat, um mit dem russischen Teil des Abends zu beginnen. Dazu trug sie eine slawisch angehauchte Robe mit einem hohen, juwelenbesetzten Kopfschmuck …“ (245) <?page no="169"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 169 Das Programmheft versucht, die Textinhalte zu erklären: „Eine Gruppe reitet über den Himmel, wo dichter Schnee fällt. Der Mond in Gestalt einer Koketten lächelt immer wieder einmal zwischen den Wolken hervor. Die Pferde verlieren sich in einer orientierungslosen Wüstenlandschaft …“ Doch das hilft nicht viel. Die Verwirrung ist bald perfekt: „Diese gut gemeinte Erklärung war dem Publikum auch keine Hilfe, während Florence sich in einem zweifachen Labyrinth verirrte, das ihr die Sprache Puschkins und die Musik von Bach bereitete. Dann bekam Rachmaninow zwei Gelegenheiten, sich in dem Grab […] umzudrehen, […] so verschaffte Florence mit ihrem russischen Repertoire dem Publikum weitere Einsichten in ihre beispiellosen Eigenheiten als Sängerin.“ (245) Bedeutsam sind auch die Inhalte anderer ausgewählter Liedtexte, wenn man sie denn akustisch überhaupt verstehen kann. „Die in ‚Vogel der Wildnis‘ erkundeten Höhenlagen trafen bei Florence auf eine vernichtende Stimmungslage, als sie ein letztes Mal ihre Verbundenheit mit ihren gefiederten Freunden geltend machte: ‚Lass mich doch nur in den Himmel steigen. In seine einsame Grenzenlosigkeit! Lass mich spalten seine Wolken und in seinem Sonnenlicht die Flügel ausbreiten.‘ “ (246-247) Der Pianist behält die Fassung, ist von dem Spektakel dennoch überwältigt: „ ‚Ich habe so etwas noch nie erlebt‘, erinnerte er sich, ‚nicht mal beim Stierkampf oder im Yale Bowl nach dem Gewinn eines Touchdowns.‘ Trotz allem hatte er so viel Geistesgegenwart, ein paarmal am Ende von Liedern, wenn die falschen Beifallsbekundungen noch einmal an Lautstärke zunahmen, aufzuspringen und Florence die Hand zu küssen.“ (246) <?page no="170"?> 170 Anne Brunner Doch der Höhepunkt sollte erst noch kommen. Diesmal ist die betagte Lady als spanische Verführerin verkleidet und schmettert einen temperamentvollen Klassiker. „Ausgerüstet mit einem Korb voller Rosenblüten, warf sie diese im Rhythmus mit der Musik ins Auditorium. Diese Interaktion stieß auf so viel Beifall, dass Florence schließlich, von ihrer eigenen Begeisterung übermannt, den leeren Korb seinem Inhalt hinterherschickte. Das einmütige Pfeifkonzert überzeugte sie davon, dass eine sofortige Zugabe erforderlich sei.“ (247) Der Pianist kennt diese Nummer schon, denn sie ist eine feste Größe ihrer Auftritte. Und er weiß genau, was jetzt zu tun ist: „Der dienstbeflissene McMoon kletterte, unterstützt von ein paar Platzanweisern, ins Parkett hinunter, um Korb und Blüten wieder einzusammeln. Als Florence schließlich den Faden wieder aufnahm, blieb das erste Blütenblatt gleich an ihrem Finger haften, und sie musste es mit hektischen, ruckartigen Bewegungen abschütteln.“ Das Publikum brüllt vor Lachen. Einige halten es nicht mehr aus: „McMoons Erinnerung nach musste während des ‚Clavelitos‘-Vortrags eine berühmte Schauspielerin im Zustand der Hysterie aus ihrer Loge getragen werden.“ (247) So geht ein ungewöhnliches Konzert zu Ende. Die Primadonna steht danach noch länger oben, um das letzte Rampenlicht zu genießen und sich feiern zu lassen: „Derweil kletterten Florence’ Freunde und Mitarbeiter auf die Bühne, wo sie selbst und einige Funktionärinnen des Verdi Club Hof hielten, und ließen Lobeshymnen auf sie herabregnen.“ Darunter befindet sich auch die Leiterin des Tonstudios, wo die Platten aufgenommen wurden. „Noch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff die Solistin das Wort. <?page no="171"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 171 ‚Finden Sie nicht, dass es sehr mutig von mir war, noch einmal die Königin der Nacht zu singen, nach dieser wundervollen Aufnahme, die ich davon im Studio gemacht habe? ‘“ Ja, mutig ist wohl das richtige Wort. Auf dem Weg zum Ausgang trifft ein Reporter der New York Post, Earl Wilson, auf einen Mann, den er später als persönlichen Assistenten der Sängerin bezeichnet. „‚Warum? ‘ fragte er ihn. ‚Sie liebt Musik‘, erwiderte St. Clair. ‚Wenn sie Musik liebt, warum macht sie dann so etwas? ‘ “ Eine gute Frage. St. Clair erwidert darauf entschuldigend, „dass die Einnahmen ja einem guten Zweck zugeführt würden.“ (248) 7.4.4 Abtritt „Anschließend ergoss sich ein von seinen hysterischen Anfällen ganz berauschtes Publikum in die New Yorker Nacht hinaus. Ein Zeuge fasst zusammen: ‚Am nächsten Tag hatten wir Muskelkater im Bauch, weil wir so kräftig und so lange gelacht hatten.‘“ (248) Im Gegensatz zu früheren Auftritten war der Rahmen diesmal nicht geschützt. Vielmehr saß hier eine willkürlich zusammengewürfelte Menschenmasse, darunter viele Matrosen, Offiziere und - unbestochene Journalisten. Damit wurde das Spektakel erstmals einer neutralen Betrachtung ausgesetzt, und die kannte keine Gnade. Tags darauf waren die Schlagzeilen an amerikanischen Kiosken zu lesen: „‚Mme Jenkins, falls Sie noch nichts von ihr gehört haben, was sehr wahrscheinlich ist, ist eine Dame, die Liederabende abhält, weil es dagegen kein Gesetz gibt.‘ So stand es im Milwaukee Journal. ‚Sie nimmt die Lieder, die in Lily Pons das Beste zum Vorschein bringen, und bringt damit in sich selbst das Schlimmste zum Vorschein. Und das Schlimmste in Mme Jenkins, seien Sie dessen gewiss, ist wirklich grausig.‘“ (10-11) <?page no="172"?> 172 Anne Brunner Der Reporter der New York Post produzierte die Schlagzeile: „‚He, ihr Musikfreunde! Ich habe Madame Jenkins gehört.‘“ Seine vernichtende Kritik beschreibt die Veranstaltung als „‚einen der bizarrsten Massenspäße, die New York je erlebt hat‘, weil die Solistin ‚alles trifft, nur nicht den richtigen Ton.‘“ (11) Einige Reporter drückten es etwas milder aus: „Sie fühlte sich ausgesprochen wohl bei dem, was sie tat. Schade, dass man das nur von so wenigen Künstlern sagen kann. Und wie durch Zauberhand übertrug sich diese Stimmung auf ihre Zuhörer.“ (249) Eine Reporterin zollte ihr sogar Respekt: „Sie ließ sich weder von den Intentionen der Komponisten noch von der Meinung ihrer Zuhörer beirren. Ihre Grundeinstellung war die einer Sängerin, die ihre Aufgabe so gut erledigt, wie sie es vermag.“ (249) Unverständlich blieb dieser merkwürdige Widerspruch zwischen außen und innen, zwischen fremder und eigener Wahrnehmung. „So gut wie keiner der anwesenden dreitausend Menschen wusste, wie es im Innern der Frau aussah, auf deren Erscheinen sie so gespannt warteten. Viele wussten, dass sie nicht singen konnte, es aber meinte, dass sie Buhrufe und Pfiffe für aufrichtige Würdigungen ihrer Kunst hielt. Manche hatten sie schon einmal in ihr Kostüm gepresst gesehen, das ihr ein ausgesprochen lächerliches Aussehen verlieh.“ (241) Auch der Pianist machte sich rückblickend seine Gedanken. „Damals hatte gerade Frank Sinatra seine Gesangskarriere gestartet, und bei seinen Liedern fingen die Teenager an zu kreischen und fielen in Ohnmacht. Und da dachte sie, sie würde eine ähnliche Wirkung erzeugen, und wenn dann der donnernde Applaus kam, hielt sie das für eine begeisterte Würdigung einer stimmlichen Glanzleistung. Das gefiel ihr. Dann hörte sie immer wieder mit dem Singen auf und verbeugte sich, und danach machte sie wieder weiter.“ (240) <?page no="173"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 173 Konnte sie die Reaktionen und Signale einfach nicht richtig deuten? Ihr ungerührtes Verhalten war vielen ein Rätsel: „Florence’ Habitus war, der Tribune zufolge, durchweg ‚eine elegante Mischung aus Seelenruhe und einstudierter Schlichtheit‘. Ein anderer schreibt: ‚Ich war überhaupt nicht darauf gefasst, dass es sie nicht im Mindesten zu kümmern schien, dass sich alle im Publikum vor Lachen geschüttelt haben, und es regte sie auch überhaupt nicht auf. Ich weiß nicht, wie sie damit umgegangen ist, wie sie dieses Gelächter verarbeitet hat.‘“ (244) Einige Journalisten schwankten zwischen dem Komischen und Tragischen der Situation: „Es war ‚das lustigste, traurigste aller Konzerte‘, lautete die Titelzeile des Milwaukee Journal. ‚Der ganz verzückten Matrone auf der Bühne schien überhaupt nicht bewusst zu sein, dass dreitausend Menschen über sie lachten - nicht freundschaftlich, wohlgemerkt, sondern schallend und in Orkanstärke‘, schrieb der Musikkritiker der Zeitung, Richard S. Davis. ‚Während sie Zeile um Zeile ihrer Ballade vortrug, waren ihre Lippenbewegungen der einzige Beweis dafür, dass sie überhaupt sang.‘ Earl Wilson bemerkte ‚Gekicher, Gekreische und Gewieher bei ihrem Vortag, was sie durchaus positiv deutete.‘“ (249) Eine Reporterin zeigte sich solidarisch und kritisierte vor allem das Verhalten der Menge: „‚Es war etwas Unanständiges und Barbarisches an der ganzen Angelegenheit‘. Ein anderer beschrieb das ungestüme Gelächter der Zuschauer als ‚das grausamste und unzivilisierteste Verhalten, das ich in der Carnegie Hall jemals erlebt habe. Doch Mrs Jenkins begegnete dem allen mit einem zufriedenen Lächeln.‘“ (250) Wer auch jetzt zu ihr hielt, war ihr Partner St. Clair. Als relativ erfolgloser Schauspieler war er einerseits finanziell von ihr abhängig und ihr andererseits ganz ergeben. Rückblickend zeigte er überwiegend Verständnis: <?page no="174"?> 174 Anne Brunner „Ich glaube, meine Frau wusste, dass ihre Stimme allmählich nachließ. Aber sie sang so leidenschaftlich gern, dass sie entschlossen war, damit weiterzumachen. Vielleicht hat sie ja ein bisschen zu lange daran festgehalten, aber es war eine solche Freude für sie, ihre Art, sich auszudrücken.“ (250) Und Florence, wie ging es ihr nach diesem Lebensereignis? St. Clair erinnert sich, dass sie auf dem nächtlichen Heimweg sehr bedrückt gewesen sei. Offenbar hatte sie eine gewisse Ahnung, dass sie diesmal zu weit gegangen war. Am nächsten Morgen brachte es die Presse an den Tag, nun erstmals auch für sie: „Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich, als sie miteinander die Zeitungen lasen. ‚Es erwies sich als das Debakel, das ich schon erwartet hatte. Hinterher, als wir auf dem Heimweg waren, war Florence aufgebracht - und als sie dann die Kritiken las, am Boden zerstört. Sie hatte es nicht gewusst, verstehen Sie.‘“ (251) Kann man sich die Wucht der Reaktionen heute in den sozialen Medien vorstellen? An diesen Stürmen hämischer Entrüstung sind schon manche Leben zerbrochen, auch schon in jungen Jahren. Florence hatte schon nach wenigen gedruckten Zeilen genug. Eine Bruchlandung, die ihr illusorisches Selbstbild demontierte und sie aus der Fassung brachte. Schließlich war sie so erschöpft, dass sie keine Kritiken mehr las. Und diese hörten einfach nicht auf. Eine Zeitung holte nochmal aus und bezog sich auf den Verkauf ihrer Schallplatten: „Unmusikalische Koloratursängerin beweist, dass sich schlechtes Singen auszahlt.“ Und dabei hatte sie einen Großteil der Tickets aus eigenen Mitteln bezahlt und verschenkt, auch um den bedrückenden Kriegsnachrichten etwas Kunstvolles entgegen zu setzen. Und das war der Dank? <?page no="175"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 175 Ein paar Tage später sagt sie eine Einladung zum Dinner ab und schickt stattdessen St. Clair. Der fühlt sich dort auch nicht besonders wohl, eher „ein bisschen wie eine Persona non grata.“ (252) Nach einer kurzen Erholungsphase wird Florence krank: „Auf der Rückfahrt erlitt sie einen Herzanfall, wollte aber auf keinen Fall, dass St. Clair einen Arzt rief, und ging stattdessen mit ihm zum Essen aus. Als sie ins Seymour-Hotel zurückkehrten, fiel ihm auf, dass sie ‚an der Tür Halt machte und dann nur mit Mühe weiterging‘. Am folgenden Tag diagnostizierte ein Arzt eine Überbelastung sowie Komplikationen, verschrieb ihr ein Medikament und verordnete Ruhe.“ (252) Die nächsten Tage verbringt sie liegend im Dämmerschlaf und wird abwechselnd von einer Krankenschwester, einer Angestellten und ihrem Partner versorgt. Der Arzt, Dr. Hertz, empfiehlt ihr, ins Krankenhaus zu gehen, doch sie weigert sich. „Am 26. November 1944 gab sie dem Drängen ihres Arztes nach und ließ ein Krankenbett anmieten. Am Morgen unterhielt sie sich fröhlich, am Nachmittag schlief sie dann etwas, und St. Clair war zuversichtlich genug, um […] zum Dinner auszugehen.“ Eine folgenschwere Fehleinschätzung. „Während St. Clairs Abwesenheit tat Madame Jenkins, Lady Florence, die Primadonna der Carnegie Hall, dann gegen halb acht Uhr abends ihren letzten Atemzug.“ (253) Hatte ihr dieser Schock das Herz gebrochen? St. Clair war davon überzeugt. Der Biograph resümiert: „Auf einer tieferen Ebene war es wohl eher ihr Schutzwall, der zu Bruch ging. Unparteiische Beobachter sahen keinen Sinn darin, das wirkmächtige Bild noch weiter aufzupolieren, das sie über so viele Jahre für all die Frauenklubs und ihre Vasallen im Verdi Club entworfen hatte. Also haben sie es zerstört.“ (251) <?page no="176"?> 176 Anne Brunner Ein harter Schlag, der ihr so zugesetzt hat, dass sie ihn nicht überlebte. „Florence’ Krankheit wurde entweder von dem anstrengenden Auftritt ausgelöst oder vom Trauma der schlechten Kritiken. Oder auch von beidem. Vielleicht hat sie aber auch tief drinnen im Labyrinth ihrer Psyche intuitiv gespürt, dass sie dazu bestimmt war, sich mit einem volltönenden, unwiederbringlichen Schlussakkord aus dem Leben zu verabschieden.“ (252) Diese historische Figur löst viele ambivalente Emotionen aus, weil sie so verschiedene, schillernde Facetten hat. Dazu gehören ihre spendable Großzügigkeit, ihre kindliche Freude und ihr naiver Mut. „‚Die Leute mögen ja sagen, ich konnte nicht singen, aber niemand kann behaupten, dass ich es nicht getan habe.‘ Diese Worte sind von Florence Foster Jenkins gegen Ende ihres Lebens überliefert. Auf jeden Fall passen sie zu ihr. Sie lebte für die Musik und trat leidenschaftlich gern öffentlich auf. Aus tiefster Seele - und mit Erfolg - weigerte sie sich, sich näher mit ihren Unzulänglichkeiten als Sängerin auseinanderzusetzen oder sich von denen einschüchtern zu lassen, die sich über sie lustig machten. Es könnte sogar sein, so schmerzlich das auch berühren mag, dass sie diese Unzulänglichkeiten schlicht und einfach nicht wahrnehmen konnte.“ (11) 7.4.5 Encore: Noch eine Zugabe Ein Leben war erloschen, das sich zwischen Traum und Wirklichkeit bewegte. Eine letzte Zugabe wartete posthum auf ihren Lebensgefährten. „Im letzten bedeutungsvollen Akt ihrer langen Verbindung wies Florence irgendwann auf ihre Aktenmappe. ‚Da drinnen liegt mein Testament‘, sagte sie zu St. Clair. ‚Ich vermache alles dir.‘“ (253) So hatte sie es in ihrem letzten Willen verfügt und in der geheimnisvollen Mappe dokumentiert, die sie immer im Blick hatte. Als es nun so weit war, öffnete St. Clair diese erwartungsvoll, und er sah - nichts! Es folgt eine verzweifelte Suchaktion. Ein Anwalt wurde eingeschaltet, der das Appar- <?page no="177"?> 7 Zwischen Täuschung und Wahrheit 177 tement sofort versiegeln ließ. Sämtliche Schubläden und Tresore wurden durchwühlt, die zwar bis oben vollgestopft waren, doch es half alles nichts: das Testament war - verschwunden! Zur Freude weit entfernter Verwandtschaft, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte, um ihre Rechte anzumelden. Ein letzter Spuk und rätselhafter Gruß - jenseits der Bühne. St. Clair Bayfield konnte daher nur mit Mühe sein Appartement halten, das Florence für ihn angemietet hatte. Während sie im Hotel residierte, wurde ihm so eine eigene Adresse ermöglicht. Für ihn ein wertvoller Rückzugsort, um sich in freien Momenten von den Strapazen zu erholen. Und um außerdem - ein geheimes Doppelleben zu führen. Mit einer jüngeren Geliebten, die er später heiraten sollte. Was ist Wahrheit? Ecce homo. <?page no="179"?> Über die Autorinnen und Autoren Nicole Brandstetter hat Anglistik und Romanistik an der Universität Regensburg und der Université de la Bretagne Occidentale / Brest studiert. Während ihrer Promotion hat sie sich im interdisziplinären Graduiertenkolleg mit Formen der ästhetischen Lüge beschäftigt. Anschließend war sie PR- Beraterin in einer PR-Agentur und arbeitete danach mehrere Jahre an einer privaten Bildungsinstitution in der Leitungsebene. Seit September 2015 ist sie Professorin an der Hochschule München für den Bereich Englische Philologie (insbesondere Business English and Intercultural Communication) an der Fakultät für Studium Generale und Interdisziplinäre Studien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Narrative in der digitalen Gesellschaft, Inauthentizitätsdiskurse in der Literatur, interdisziplinäre Zukunftsforschung sowie Lehr-Lernforschung. Anne Brunner vertritt das Lehrgebiet Schlüsselkompetenzen (Überfachliche Kompetenzen) an der Hochschule München. Dort können Studierende sämtlicher Studiengänge und Semester aus einem fachübergreifenden Lehrangebot Veranstaltungen wählen, die über den Horizont ihres Studienfachs hinausgehen. Die Hochschule München bietet daher ein kleines Studium Generale, um die Studierenden nicht nur auszubilden, sondern auch etwas zu bilden. Grundlage dieses Beitrags ist eine Lehrveranstaltung zu Historischen Persönlichkeiten. Anlässlich der zeitgleichen Ringvorlesung, aus der dieser Sammelband hervorging, wurde u.a. die hier vorgestellte Figur ausgewählt und behandelt. Die Autorin studierte u.a. Medizin und spezialisierte sich anschließend in Psychotherapie. Ralph-Miklas Dobler hat Kunstgeschichte, klassische Archäologie und Religionswissenschaften in Tübingen, Venedig und Berlin studiert. Seine Promotion an der FU Berlin untersuchte aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive kirchliche Stiftungstätigkeit und Memoria im nachtridentinischen Rom. Die Habilitationsschrift an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- <?page no="180"?> 180 Über die Autorinnen und Autoren Universität Bonn befasste sich in grundlegender Weise mit der fotografischen Inszenierung von Staatsbesuchen in europäischen Diktaturen. Nach langjähriger Praxis als Wissenschaftler bei der Max-Planck-Gesellschaft sowie Lehrtätigkeit an den Universitäten Tübingen, Dresden, Freiburg und Bonn erfolgte 2016 der Ruf auf die Professur für Kunst- und Medienwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München. Forschungsschwerpunkte: Visueller Diskurs, Digitale Medien, Kulturelles Erbe und Erinnerung. Daniel Jan Ittstein ist ein Wirtschafts-, Finanz- und Kulturwissenschaftler, der sich aus einer Profitwie auch Non-Profit- Perspektive, im Rahmen von kleineren wie auch sehr großen Organisationen mit Managementfragen im Schnittfeld Digitalisierung, Entrepreneurship und Internationalität beschäftigt. Auf Basis seiner praktischen Managementerfahrung in Europa, Asien, Lateinamerika und den USA sind seine fachlichen Schwerpunkte: globale digitale Innovation und Geschäftsmodelle, Global Virtual Teams, Internationales Projektmanagement, Interkulturelles Management. Sein regionaler Schwerpunkt ist Asien. Im Februar 2016 erhielt er den Ruf an die Hochschule München. Silke Järvenpää ist seit 2005 Professorin für Cultural Studies und Wirtschaftsenglisch an der Hochschule München. Sie studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik an den Universitäten Utrecht, Eugene (Oregon/ USA) und Gießen. Ihre Dissertation bei Prof. Dr. Raimund Borgmeier und Prof. Dr. Ansgar Nünning befasste sich mit einem historischen Börsencrash (und Börsenschwindel), dem South Sea Bubble. Tätigkeiten in Wissenschaft und Hochschulmanagement führten sie als Expat in die USA und mehrere asiatische Länder. Sie lehrt und forscht in den Bereichen englischsprachiges Asien, Überwachungsstudien, sowie zum Thema rationaler und irrationaler Diskurs im Zeitalter der Digitalisierung. Simone Kaminski studierte Psychologie und Betriebswirtschaftslehre an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Im Rahmen ihrer Promotion an der LMU München (Lehrstuhl für Sozialpsychologie) beschäftigte sie <?page no="181"?> Über die Autorinnen und Autoren 181 sich mit der Einstellung der deutschen Bevölkerung zur sozialen Marktwirtschaft. Nach mehrjähriger Tätigkeit in der Personalentwicklung und -auswahl eines international tätigen Facility-Management-Unternehmens kehrte sie 2012 an die LMU München zurück und leitete dort zwei Projekte, ein Mentoring-Programm für Studierende in der Studieneingangsphase und ein Multiplikatoren-Projekt zur Verbesserung der Lehre. Seit September 2015 hat sie eine Vertretungsprofessur für Psychologie an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften inne. Nebenberuflich ist sie seit 2007 als Trainerin, Dozentin und Coach vor allem im universitären Bereich tätig. María Begoña Prieto Peral ist Professorin für Spanisch und Kultur und Länderstudien der spanischsprachigen Welt an der Hochschule München. Sie koordiniert dort den Sprachbereich Spanisch und lehrt in Master für Interkulturelle Kommunikation und Kooperation und in Bachelor Internationales Projektmanagement die Module Projekt I und Kultur und Landesstudien: Spanien und Lateinamerika. Außerdem widmet sie sich insbesondere der Untersuchung kultureller Aspekte der Integration der Migrantenbevölkerung aus dem Blickwinkel der künstlerischen, digitalen und literarischen Produktion im Bereich der Kulturwissenschaften sowie der Vorbereitung und Durchführung von Projekten im Fremdsprachenbereich und untersucht deren didaktischen Auswirkungen. <?page no="182"?> Der richtige Umgang mit Menschen im Beruf und Alltag Nello Gaspardo Von harten Hunden und hyperaktiven Affen Der richtige Umgang mit Menschen im Beruf und Alltag 2017, 158 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-834-9 Jeder Mensch ist einzigartig! Das ist fraglos richtig. Dessen ungeachtet finden Sie bei Ihren Mitmenschen wiederkehrende Charaktereigenschaften, mit denen Sie im Beruf und im Alltag umgehen müssen. Denken Sie nur an den harten Hund aus der Chefetage, den cleveren Fuchs aus dem Controlling oder den zappeligen, aber vor Ideen sprühenden Affen aus der Marketingabteilung. Der Kommunikations- und Verhandlungsexperte Nello Gaspardo skizziert neun solcher Typen anhand von Tierbildern. Er zeigt deren Stärken und Schwächen auf und verrät Ihnen pointiert, was Sie im Umgang mit diesen Menschen unbedingt wissen sollten und wie Sie mit diesen Typen richtig kommunizieren. Das Buch ist ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die im Beruf und im Alltag gemeinsam mit anderen Menschen schnell und harmonisch Ziele erreichen möchten. www.uvk.de <?page no="183"?> Moderne Die Epoche der Moderne wurde inzwischen durch das digitale Zeitalter abgelöst. Nun ist es an der Zeit Bilanz zu ziehen: Wie kann die Moderne in ihrer Gesamtheit dargelegt werden? Welche Errungenschaften hat sie hervorgebracht? Sind die Werte, Ziele und Normen der Moderne im digitalen Zeitalter nun obsolet? Werner Heinrichs liefert die Antworten. Er beleuchtet alle kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Aspekte der Epoche auf spannende Weise. Damit unterscheidet sich der Ansatz dieses Buches deutlich von einschlägigen Kulturgeschichten des 20. Jahrhunderts, die die Moderne nur als eine Zeit der Entwicklung der Künste und gesellschaftspolitischer Veränderungen wahrnehmen. Es beinhaltet außerdem viele originelle und spannende Zitate berühmter Persönlichkeiten. Dieses Buch richtet sich an Studierende wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge und eignet sich ebenfalls als Nachschlagewerk für Leser mit kulturellem und geschichtlichem Interesse. Werner Heinrichs Die Moderne Bilanz einer Epoche 2017, 510 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-808-0 Bilanz einer Epoche www.uvk.de <?page no="184"?> www.uvk.de Ein Buch, das niemanden mehr ruhig schlafen lässt. Schöne neue Welt? Die Datensammelwut der Internetgiganten ist kein Geheimnis - und aufgrund dieser Datenbasis und neuer digitaler Produkte wie Haustechnik, Autoelektronik, Drohnen, digitaler Währungen etc. dringt die New Economy immer weiter in alle Systeme ein. 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