Ich und Wir im digitalen Raum
Zur Kommunikationskultur, Vergemeinschaftung und Selbstformierung im Web 2.0 am Beispiel der bildbasierten sozialen Netzwerkseite Instagram
0308
2021
978-3-7398-8050-1
978-3-7398-3050-6
UVK Verlag
Sascha Oswald
Wie wirkt sich die Nutzung der bildbasierten sozialen Netzwerkseite Instagram auf die Nutzenden aus?
Basierend auf empirischen Daten geht die Studie davon aus, dass das Verhältnis zwischen Plattform und Nutzenden keine Einbahnstraße ist: Instagram als ,digitales Ökosystem' setzt bestimmte Nutzungsrahmen. Wie und wie sehr die Plattformarchitektur die Nutzenden beeinflusst, hängt jedoch von deren Aneignungsweisen ab. Je stärker Instagram in den Alltag integriert wird und je mehr Bedeutung das soziale Netzwerk für das Selbst gewinnt, desto spezifischer sind die Effekte der Plattform. Likes begünstigen dabei u.a. die Ausbildung einer instagramtypischen Subjektform, die Bildkommunikation wiederum fördert spezifische Gemeinschaftsformen und Affektkulturen.
Die Studie leistet einen Beitrag zum Verständnis der Dynamiken sozialer Netzwerke und von Mensch-Technik-Interaktion.
Ich und Wir im digitalen Raum Zur Kommunikationskultur, Vergemeinschaftung und Selbstformierung im Web 2.0 am Beispiel der bildbasierten sozialen Netzwerkseite Instagram Sascha Oswald Ich und Wir im digitalen Raum Sascha Oswald Ich und Wir im digitalen Raum Zur Kommunikationskultur, Vergemeinschaftung und Selbstformierung im Web 2.0 am Beispiel der bildbasierten sozialen Netzwerkseite Instagram UVK Verlag · München © UVK Verlag 2021 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7398-3050-6 (Print) ISBN 978-3-7398-8050-1 (ePDF) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Danksagung Ich möchte mich bei Prof. Dr. Michael Corsten und Prof. Dr. Holger Herma bedanken. Einmal für die Möglichkeit der Mitarbeit im Projekt „Digitale Verbreitungsmedien, Kommunikationsmacht und Generation“, das die Grund‐ steine für die vorliegende Arbeit gelegt hat. Besonders aber bedanke ich mich für ihre ungemein hilfreiche Unterstützung und Betreuung bei dieser Arbeit, den immer fruchtbaren Austausch und ihre stets offenen Türen und Ohren. Auch möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim bedanken, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite standen. Besonders möchte ich mich bei Dr. Laura Maleyka und Tobias Wittchen für die Zusammenarbeit im Projekt und die anregenden Diskussionen bedanken. Ein Dank gilt natürlich auch den Studierenden der Universität Hildesheim und speziell den Teilnehmenden der Kurse, in deren Verlauf viele Interviews und Einsichten für diese Arbeit entstanden. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei meiner Familie, die mir den Weg bis hierhin überhaupt erst ermöglicht hat. Ich danke Margot, Klaus und Sarah Oswald für ihre bedingungslose Unterstützung in allen Belangen und möchte ihnen dieses Buch widmen. 1 13 1.1 13 1.2 15 1.3 18 2 25 2.1 25 2.1.1 25 2.1.2 26 2.1.3 29 3 39 3.1 39 3.1.1 40 3.1.2 45 3.1.3 48 3.1.4 51 3.1.5 55 3.2 56 3.2.1 56 3.2.2 60 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Medien - oder alter Wein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfrage - Digitale Plattformen als Räume der Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsrahmen - Digitale Kommunikation aus Sicht der Kultur- und Mediensoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsstatistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung, Digitalisierung und Visualisierung . . . . . . . Großtheorien zum digitalen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikativierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Singularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften . . . . . Gemeinschaft als analytisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . (Spät-)Moderne Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 64 3.2.4 70 3.3 74 3.3.1 74 3.3.2 78 3.3.3 84 3.3.4 88 4 91 4.1 91 4.2 94 4.3 99 4.4 104 4.4.1 104 4.4.2 107 4.4.3 109 4.4.4 110 4.5 112 4.5.1 114 4.5.2 116 4.5.3 117 4.6 119 4.6.1 119 4.6.2 124 5 139 5.1 139 5.1.1 139 5.1.2 146 Vergemeinschaftung im digitalen Raum . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Spezielle Merkmale digitaler Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Selbst in digitalen Bezugsräumen . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstpraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theatralisierung und Beziehungsmanagement . . . . . . . . . Affordanzen und mediatisierte Körperlichkeit . . . . . . . . . Zwischenfazit: Digitale Plattformen als Bezugsräume des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektivierung und Praxistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medium und Kommunikations-Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . Multimodales Bildhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildhandeln und Bildpraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multimodalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildhandlungen als Zeigehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikativer Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individueller kommunikativer Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektiver kommunikativer Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialer kommunikativer Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die synthetische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der sozialen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skopische Medien und synthetische Situationen . . . . . . . Gattungsstruktur auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie der kommunikativen Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen und Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 5.2 148 5.2.1 148 5.2.2 152 5.3 155 5.3.1 156 5.3.2 164 5.4 180 5.4.1 180 5.4.2 183 5.4.3 185 6 189 6.1 190 6.1.1 190 6.1.2 192 6.1.3 194 6.1.4 197 6.1.5 198 6.2 200 6.2.1 201 6.2.2 264 6.2.3 316 6.3 360 6.3.1 360 6.3.2 362 6.3.3 364 6.3.4 366 6.3.5 371 7 375 7.1 377 7.1.1 377 7.1.2 388 Außenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikatives Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikations(platt-)form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Binnenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rituelle und konversationelle Merkmale . . . . . . . . . . . . . . Evaluierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligungsformat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata . . . . . . . . . . . . Schlüsselkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit am Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinnwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsschema 1: Bestätigungssuche . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsschema 2: Erfolgsorientierung . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsschema 3: Beziehungspflege . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Likes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbst und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppengefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauptsemantiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plattformspezifische Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungstypus 1: Rational-unternehmerischer Typus . . . Nutzungstypus 2: Ästhetisch-rationaler Typus . . . . . . . . . Inhalt 9 7.1.3 403 7.1.4 417 7.1.5 430 7.2 442 7.2.1 448 7.2.2 454 8 467 8.1 467 8.1.1 468 8.1.2 471 8.1.3 475 8.2 480 8.2.1 482 8.2.2 487 8.2.3 492 8.2.4 495 8.3 501 8.3.1 502 8.3.2 509 8.3.3 528 8.3.4 538 9 543 9.1 543 9.1.1 543 9.1.2 544 Nutzungstypus 3: Emotional-ästhetischer Typus . . . . . . . Nutzungstypus 4: Gesellig-pragmatischer Typus . . . . . . . Nutzungstypus 5: Pragmatisch-privater Typus . . . . . . . . . Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren . . Orientierungsvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betrachtung und Diskussion statistischer Verteilungen . Theoretische Verdichtung: Mensch-Technik-Interaktion, Subjektivierungsfolien und Vergemeinschaftungsformen . Instagram als skopische Kommunikationsplattform . . . . Involvierungsgrade und -strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prototypische und falltypische synthetische Interaktionsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthetische Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plattformspezifische Subjektivierungseffekte . . . . . . . . . . Der Selbstunternehmer nach Bröckling . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Praktiken nach Reckwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ästhetische Selbstunternehmer als plattformspezifische Subjektfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertiefung: Authentizität auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . Plattformspezifische Weisen und Formen der Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Binnendifferenzierte Kommunikationsgemeinschaften . . Synthetische Geselligkeit als allgemeiner Vergemeinschaftungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sehgemeinschaft Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertiefung: Wir-Sinn und fokussierte Motive . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungsstrukturen und skopische Strukturen der SNS Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skopische Strukturen und synthetische Situationen . . . . Inhalt 10 9.2 546 9.2.1 546 9.2.2 546 9.2.3 547 9.3 548 9.3.1 548 9.3.2 549 9.3.3 549 9.4 550 9.4.1 550 9.4.2 552 9.4.3 553 9.5 553 9.5.1 554 9.5.2 555 9.6 556 9.6.1 557 9.6.2 563 575 605 607 Selbstformierung auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektivierungsweise und Subjektform . . . . . . . . . . . . . . Vergemeinschaftung auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeiner Gemeinschaftstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Vergemeinschaftungsweisen . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsamer Vergemeinschaftungsmodus . . . . . . . . . . . . Affektkultur auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebnisorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Affektkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affordanzen und Mensch-Technik-Interaktion auf Instagram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affordanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mensch-Technik-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion und Verortung allgemeiner Befunde . . . . . . . . Diskussion und Verortung der Hauptergebnisse . . . . . . . . Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 1 Von Angela Merkel stammt gar die zu einem geflügelten Wort geronnene Redewendung vom Internet als „Neuland“. 1 Einleitung Was macht die Digitalität mit dem Menschen? Seit es das Internet und digitale Technologien gibt, steht diese Frage immer wieder im Raum, ohne bislang abschließend geklärt worden zu sein. Doch ist die Frage überhaupt richtig gestellt - müsste die Frage nicht eigentlich lauten, was Menschen mit digitalen Technologien machen? Wie stark etwa verändert die Art und Weise, wie wir Smartphone und Co. zur Kommunikation einsetzen, unseren Alltag - und wie stark beeinflusst das Smartphone als technischer Zugang zur Welt, wie wir uns selbst und eben diese Welt wahrnehmen? Um diese Fragen wird es in der vorliegenden Studie gehen. Ich werde dabei anhand der Untersuchung der digitalen Kommunikationsplattform Instagram nicht nur eine Antwort hierauf geben, sondern auch zeigen, dass die beiden obigen Frageansätze um eine dritte Perspektive erweitert werden müssen. 1.1 Neue Medien - oder alter Wein? Digitale Technologien, insbesondere solche, die wechselseitige Kommuni‐ kation ermöglichen, gehören mit Sicherheit zu den jüngeren Errungen‐ schaften technischen Fortschritts. Mitunter werden digitale Medien und insbesondere Social Media-Plattformen auch synonym als „neue Medien“ 1 bezeichnet. Doch nur, weil etwas jung ist, muss es nicht zugleich neu sein. Was also ist das genuin „Neue“ der neuen Medien? Einerseits sind damit neue Infrastrukturen gemeint, die u. a. mit veränderten (öffentlichen) Reichweiten einhergehen - eher technische Aspekte also, die objektiv fest‐ stellbar sind. Diese Aspekte erhielten jedoch nicht so viel Aufmerksamkeit, würden sie in den Augen der Mehrheit nicht auch grundlegend die Art und Weise verändern, in der Menschen miteinander kommunizieren. Internet, Smartphones und Web-Applikationen werden bspw. als Verursachende tief‐ greifender Veränderungen und Einschnitte auf der sozialen, der kulturellen, der wirtschaftlichen und der politischen Ebene ausgemacht. Auf politischer Ebene verbinden sich mit dem Internet noch immer Hoffnungen auf einen demokratischeren und partizipativeren Austausch, wenngleich sich auch viel Ernüchterung ob einer vermeintlichen Verrohung des Diskurses und zunehmender Meinungsisolation eingestellt hat. Im öf‐ fentlichen Diskurs steht digitale Kommunikation wiederum seit jeher unter dem Verdacht, soziale Beziehungen zu stören oder gar zu verhindern. Galt das Internet zu Beginn noch als Raum der Entfremdung, so ist mittlerweile umgekehrt die digitale „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 1993) in den Fokus der Kritik gerückt. Insbesondere den Nutzerinnen und Nutzern von Social Network Sites wird der Vorwurf der exhibitionistischen Selbstinszenierung gemacht und ein Hang zum Narzissmus (vgl. Twenge 2013, Lubbadeh 2017) unterstellt. Daran wird deutlich, dass das Neue der Medien nicht nur in der zugrundeliegenden Technologie gesucht wird, sondern vor allem in den kommunikativen Veränderungen die sie zeitigt. Neue Medien verändern die Art und Weise, wie wir uns selbst und die Welt sehen als auch die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen - so die Annahme. Während empirische Studien zeigen, dass soziale Netzwerkseiten und Co. Einfluss auf all diese Aspekte nehmen, so bleiben viele jedoch den Nachweis schuldig, dass es sich hierbei um neue Formen bspw. der Subjektivierung oder des Weltzugangs handelt. So entgegnen bspw. Aktaş et al (2018) der Entfremdungsthese Hartmut Rosas (2016) mit dem Einwand, dass das besondere Merkmal digitaler Kommunikation nicht die Hervorbringung genuin neuer Phänomene ist, sondern vielmehr die Sichtbarmachung so‐ zialer Konstitutions- und Konstruktionsprozesse. Anders ausgedrückt: das Internet sorgt dafür, dass wir uns des konstruktiven Charakters der sozialen Welt bewusster werden - sei es die Entstehung von Identität in Praktiken der Selbstinszenierung oder die Formung von Gemeinschaften durch geteiltes Wissen. Das Neue an den Neuen Medien bestünde in diesem Fall in der metareflexiven Ebene, die sie in das soziale Miteinander einziehen. Sie erleichtern es gewissermaßen, einen reflexiven Standpunkt einzunehmen und „hinter sich“ (Plessner: 1975: 291) zu kommen. Damit führen sie jedoch nur Effekte fort, die bereits der Etablierung der Schriftsprache (vgl. Jaspers 2017) oder dem Buchdruck (McLuhan 2011) nachgesagt wurden. 1 Einleitung 14 2 Ich selbst werde in dieser Arbeit den Begriff der Spätmoderne verwenden. Den Begriff der Postmoderne werde ich nur dann um der Genauigkeit willen verwenden, wenn in der referierten Literatur darauf zurückgegriffen wird. 1.2 Forschungsfrage - Digitale Plattformen als Räume der Sozialisierung Wenngleich die Frage danach, was neu an den neuen Medien ist, also nur schwer zu beantworten ist, so sensibilisiert sie doch für die vielen unterschiedlichen Ausprägungen digitaler Kommunikation. So zeigt sich empirisch, dass digitale Technologien und v. a. soziale Netzwerkseiten das soziale Miteinander nicht völlig auf den Kopf stellen, sondern umgekehrt sehr basale soziale Funktionen wie etwa Beziehungspflege oder Identitäts‐ management (vgl. Autenrieth 2014, Baym 2015) übernehmen, die sich je nach Plattform oder Dienst aber unterschiedlich ausnehmen (vgl. u. a. Kamal et al 2014, Simanowski 2016, Reißmann 2015a, Oswald 2018/ 2019a). Die Frage nach dem Neuen konfrontiert unweigerlich auch mit der Heterogenität des Netzes. Das Internet bringt nicht die eine Vergemeinschaftungs- oder Subjektform hervor, sondern viele unterschiedliche - manche traditioneller, manche sehr spätmodern 2 (vgl. Kucklick 2014). Im Zuge dieser Beobachtun‐ gen stellt sich unweigerlich die Frage nach der Quelle dieser Heterogenität. Bilden sich im Netz milieubasierte Subkulturen und Szenen entlang der ge‐ sellschaftlichen Sozialstrukturen heraus? Während einiges für diese These spricht (vgl. DIVSI-Studie 2016), so unterschlägt sie doch einen weiteren kapitalen Faktor, nämlich die Plattformen und Dienste selbst samt und sonders ihrer kommunikativen Strukturen und ihrer Funktionselemente. Bei sozialen Netzwerkseiten handelt es sich etwa nicht um völlig frei bespielbare Kommunikationsräume, sondern um solche, die die einzelnen Möglichkeiten bspw. zum Selbstausdruck und zur Kontaktaufnahme stark beschränken. Sie beschränken aber nicht nur, sondern ermächtigen die Nutzenden auch und erleichtern bestimmte Prozesse. So setzt digitale Bild‐ kommunikation mit ihrer „assoziativen und holistischen Logik“ (Niemann & Geise 2015: 215) die Nutzenden in den Stand, „wahrnehmungsnahe Dialoge“ (Reißmann 2015) zu führen oder ermöglichen neue Zuschnitte etablierter Kulturpraktiken (so ermöglicht etwa der Aufbau der App Tinder einen spielerischen Zugang zum Dating (vgl. Oswald 2019b). Digitale Kommunikationsplattformen sind immer schon vorstrukturiert und lenken das Handeln teils explizit durch strukturelle Vorgaben (bspw. 1.2 Forschungsfrage - Digitale Plattformen als Räume der Sozialisierung 15 müssen oder sollen diese und jene Profilangaben gemacht werden, vgl. Wiedemann 2017), teils implizit durch Affordanzen. Affordanzen sind Handlungsangebote oder -reize, die von Objekten oder Strukturen in der (digitalen) Umwelt ausgehen (vgl. Gibson 1982). Spannend im Hinblick auf die Heterogenität digitaler Kommunikation erweist sich nun die Frage, in welchem Verhältnis bspw. individuell-persönliche Neigungen, soziale oder kulturelle Orientierungsmuster und Plattformstrukturen Anteil an der Herstellung dieser Heterogenität haben. Neben all den Unterschieden in der digitalen Kommunikation zwischen den digitalen Plattformen und Diensten, differenzieren sich Nutzungsmotive und -weisen nämlich auch intern aus (vgl. Hu et al 2014, Aretz 2015, Rust 2017). Der Differenzierung sind dabei aber immer auch Grenzen gesetzt, d. h. es kommt immer zu einer Begrenzung der Anzahl unterschiedlicher Aneignungen und zur Bildung von Nutzungsmustern und -typen. Doch entlang welcher Faktoren verlau‐ fen diese Differenzierungen? Die vorliegende Arbeit widmet sich diesem Problemkomplex und wird sich ihm aus unterschiedlichen Richtungen annähern. Mittels der Auswer‐ tung mehrerer qualitativer Interviews und einer Gattungsanalyse wird an einem konkreten Gegenstand, der sozialen Netzwerkseite Instagram, eruiert werden, wie sich Prozesse der Subjektformierung und der Vergemeinschaf‐ tung auf dieser Plattform gestalten. Darüber hinaus werden unterschiedliche Ausprägungen in der Nutzungsweise und -motivation untersucht und plattformspezifische Nutzungstypen aufgestellt werden. Dabei wird jeweils ein Augenmerk auf der Strukturierung der jeweiligen Prozesse durch die Plattform selbst bzw. durch ihre Elemente liegen - es wird gezeigt werden, welche Affordanzen wie und für welchen Nutzungstypus wirksam werden. Die zugrundeliegende Forschungsfrage lautet dabei: Welche Formen der Subjektivierung und Vergemeinschaftung lassen sich auf Instagram feststellen und wie hängen diese mit der Plattformstruktur zusammen? Indem sie die Prozesse der Subjektivierung und der Vergemeinschaftung einer genaueren Betrachtung unterzieht, wird diese Arbeit Aufschluss über zwei konkrete Aspekte digitaler Sozialisation liefern. Insbesondere für die soziale Netzwerkseite Facebook existieren bereits einige Studien, die entweder den einen oder den anderen Aspekt beleuchten (Wiedemann 2017, Simanowski 2016). Die Plattform Instagram allerdings wurde bislang in der Forschungslandschaft sträflich vernachlässigt - obwohl sie derzeit zu den beliebtesten sozialen Netzwerkseiten zählt, finden sich nur vereinzelte Aufsätze, die sich unterschiedlichen Aspekten wie etwa visueller Selbstdar‐ 1 Einleitung 16 stellung widmen (Schreiber & Kramer 2016). Bislang aber hat sich noch keine Monographie ausführlich mit den sozialen Dynamiken auf dieser Plattform auseinandergesetzt. Die vorliegende Arbeit möchte mit der Aufbereitung der Subjektivierungs- und Vergemeinschaftungsprozesse a) einen konkreten Beitrag zum Tiefenverständnis der Strukturen dieser überaus relevanten sozialen Netzwerkseite und der kommunikativen Vorgänge auf ihr leisten sowie b) einen allgemeinen Beitrag zur Konstitution von Subjekten und Kollektiven in digitalen Praktiken. Zu diesem Zwecke wird neben einer allgemeinen Betrachtung auch eine Differenzierung der Nutzenden entlang unterschiedlicher Arten und Weisen der Subjektivierung und Vergemeinschaftung vorgenommen. Bislang liegen zwar einige quantitative Studien vor, die sich der Ausbildung von Nut‐ zungstypen entweder allgemeiner Art oder auf einer bestimmten Plattform gewidmet haben. Diese sind jedoch allesamt eher deskriptiver Natur und fokussieren meist auf individuell-psychologische Faktoren (vgl. Schenk et al 2013). Qualitative Studien, welche die plattformspezifische Ausbildung von Nutzungstypen in der Tiefe untersuchen, liegen bislang noch nicht vor. Gleiches gilt für den Einbezug des Faktors der Affordanzen. Affordanzen wurden in empirischen Studien bislang, wenn überhaupt, implizit betrachtet und ansonsten allenfalls theoretisch behandelt. Die Arbeit schickt sich also an, diese Lücke zu schließen, indem sie einerseits a) ein differenziertes Bild der Plattform Instagram bzw. der Nutzenden dieser Plattform zeichnet und b) die Plattform als Strukturierungsgröße ernst nimmt und deren Einfluss in die Untersuchung dezidiert miteinbezieht. Da der Austausch auf Instagram überwiegend über Bilder und ikonische Zeichen wie Emojis erfolgt, wird ein Fokus dabei auf der visuellen Verfasst‐ heit der Kommunikation liegen. Ein zweiter Fokus wird auf der Einbindung evaluativer Elemente liegen. Bei beidem - der Dominanz des visuellen Zeichenmodus als auch dem Einbezug von Evaluationsfunktion - handelt es sich um allgemeine Trends in der digitalen Kommunikation. So lassen sich auf Basis dieser Studie und ihrer Erkenntnisse in diesen Bereichen nicht zuletzt allgemeine Schlüsse ziehen über den Zusammenhang von digitaler Kommunikation, ihren Wirkungen sowie den digitalen Räumen, in denen sie entsteht. 1.2 Forschungsfrage - Digitale Plattformen als Räume der Sozialisierung 17 1.3 Forschungsrahmen - Digitale Kommunikation aus Sicht der Kultur- und Mediensoziologie Die vorliegende Arbeit wird einen kultursoziologischen als auch medien- und kommunikationssoziologischen Standpunkt einnehmen und die ge‐ nannten Aspekte vor allem aus diesen Perspektiven verhandeln. Der medien- und kommunikationssoziologische Standpunkt schärft dabei den Blick für das Zusammenspiel von digitaler Technologie und Nutzenden als sozialisierten Individuen und Kollektiven. Weiterhin nimmt der medien- und kommunikationssoziologische Standpunkt digitale Technologien und digitale Kommunikation als soziale Phänomene ernst und versteht sie als soziale Produkte mit sozialen Konsequenzen. Der kultursoziologische Standpunkt wiederum schärft den Blick für Praktiken und Sinnbezüge, die im Rahmen digitaler Kommunikation auf sozialen Netzwerkseiten und anderen Plattformen entstehen und die damit einhergehenden Kommunikationskulturen. Erst mit der Kultursoziologie lassen sich digitale Räume auch als kleine soziale Lebenswelten verste‐ hen. Des weiteren ist es einem kultursoziologischen Ansatz darum getan, Einzelphänomene nicht als Idiosynkrasien handzuhaben, sondern sie vor dem Hintergrund traditionaler, zeitgenössischer oder avantgardistischer Strömungen und Tendenzen zu bewerten und damit innerhalb des größeren kulturellen und gesellschaftlichen Rahmens zu verorten. Die vorliegende Arbeit bindet sich dabei nicht an spezifische Ansätze innerhalb der Kultur- oder der Medien- und Kommunikationssoziologie. Sie folgt im Kern einem wissenssoziologischen Verständnis, bei der „das sozial generierte Wissen innerhalb einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft die zentrale Größe für das verstehende Erklären des Sozialen als Phänomen an sich darstellt“ (Kruse 2014: 33). Dabei rücken insbesondere die „Erlebens- und Erfahrungskategorien der sozialen Akteure“ in den Fokus (ebd.: 34). Die Wissenssoziologie nach Mannheim (1964), Schütz (2004) sowie Berger & Luckmann (2009) bildet aber wie gesagt nur den gröberen Rahmen dieser Untersuchung. Davon ausgehend werden Theorien, Ansätze und Konzepte eher als Werkzeuge denn als allgemeine Interpretationsfolien behandelt und kommen dort zum Einsatz, wo sie die theoretischen Befunde zu erhellen vermögen. Die Untersuchung wird daher einen dezidiert eklektizistischen Umgang mit theoretischen Versatzstücken pflegen, in der Überzeugung, dass Daten nicht an der Theorie, sondern die Theorie an den Daten ausge‐ richtet werden sollte. 1 Einleitung 18 Ausgehend von diesem Fundament wird sich die Untersuchung vor allem sechs Aspekten widmen, die einleitend im Folgenden kurz ausgeführt werden sollen, um die Marschroute der Abhandlung abzustecken: Instagram: Den Rahmen der empirischen Erhebung bildet die Plattform Instagram. Als soziales Netzwerk und digitaler Kommunikationsraum ist sie dabei aus mehreren Gründen von besonderem Interesse und besonderer Relevanz: 1. Beliebtheit: Instagram ist laut der ARD-ZDF-Online-Studie 2018 (Frees & Koch 2018) und der JIM-Studie 2018 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018, kurz: MPFS) die momentan belieb‐ teste soziale Netzwerkseite Deutschlands unter Jugendlichen und die zweitbeliebteste insgesamt nach Facebook. Weltweit rangiert sie ebenfalls auf Platz 2 und schließt zu Facebook zunehmend auf (DataReportal 2019: 81). 2. Bildbasiertheit: Die Kommunikation auf Instagram erfolgt im Gegen‐ satz zu vielen anderen Plattformen überwiegend bildbasiert. Zwar zeichnet sich ein allgemeiner Trend hin zur verstärkten visuellen Kommunikation ab, doch nur wenig andere Plattformen und erst recht keine andere soziale Netzwerkseite gründen in dem Maße darauf, wie es für Instagram der Fall ist. Eine Untersuchung der Plattform erlaubt also nicht zuletzt auch Schlüsse über Formen und Effekte bildbasierter Kommunikation im digitalen Raum. 3. Selbstthematisierung: Neben der Bildbasiertheit zeichnet die Kommu‐ nikation auf Instagram noch ein weiteres Merkmal aus: die Dominanz selbstthematisierender Beiträge. Anders als beispielsweise Seiten wie 9gag, die ebenfalls bildbasiert sind, auf denen aber überwiegend sogenannte Memes zirkulieren, die meist einen allgemeineren All‐ tagsbezug haben, zeigen die Nutzenden auf Instagram in der großen Mehrheit sich selbst. Eine genauere Betrachtung der Plattform liefert daher Erkenntnisse über Inszenierungsweisen des Selbst im digitalen Raum anhand spezifischer Bildhandlungen. 4. (Teil-)Öffentliche Bewertungskultur: Bei Instagram handelt es sich um eine (teil-)öffentliche Plattform, die many-to-many-Kommunika‐ tion erlaubt. Dabei stellt sie den Nutzenden neben textbasierten Kommentaren auch Funktionen wie Liken oder Followen zur Verfü‐ gung, die als direkte oder indirekte Modi der Evaluation verstanden werden können. In Anbetracht der selbstthematisierenden Inhalte der 1.3 Forschungsrahmen - Digitale Kommunikation aus Sicht der Kultur- und Mediensoziologie 19 meisten Beiträge, lässt sich an Instagram daher auch beobachten, wie a) das Selbst nicht nur visuell inszeniert, sondern auch in evaluativen Praktiken kollektiv verhandelt wird. Weiterhin zeigt sich daran b) fallexemplarisch die Dynamik von Bewertungskulturen im Rahmen sozialer Netzwerkseiten. Die genannten Aspekte machen Instagram nicht nur zu einem interessanten kommunikations- und kultursoziologischen Fall, sondern auch zu einem überaus relevanten Untersuchungsgegenstand hinsichtlich der Mediatisie‐ rung des Alltags. ▸ Kommunikative Gattung: Ein Fokus der Untersuchung wird darauf liegen, die kommunikativen Strukturen der Plattform genauer her‐ auszuarbeiten sowie das implizite und explizite Regelwerk, das ihnen zugrunde liegt. Dabei wird der Austausch auf Instagram als kom‐ munikative Gattung beschrieben. Bei kommunikativen Gattungen handelt es sich um verfestigte und kulturspezifische Formen des Sprechens und des Austauschs, die bestimmte soziale Funktionen übernehmen bzw. auf bestimme kommunikative Probleme antworten. Für Instagram stellt sich damit die Frage, auf welchen Strukturen und kommunikativen Konventionen der Austausch auf dieser Plattform fußt: Wer nimmt daran teil? Wie ist der spezifische Zeichengebrauch ausgeprägt? Welche kommunikativen Codes werden eingesetzt? Wel‐ chem internen Prozedere und welchen Ritualen folgen die Redezüge? Welche Redepositionen sind dabei für die Teilnehmenden vorgesehen und wie sind diese ausgestaltet? In der Beantwortung dieser Fragen soll gleichzeitig der Charakter dieser sozialen Netzwerkseite eruiert werden. Instagram gilt gemeinhin als das ‚nette Netzwerk‘ - doch was ist genau damit gemeint und auf welchen Eigenschaften beruht diese Einschätzung? Anders gefragt: auf welchen spezifischen Praktiken und Strukturen fußt jene Kommunikationskultur, die landläufig als ‚nett‘, ‚harmonisch‘ aber oft auch ‚oberflächlich‘ bezeichnet wird? Und welchen Stellenwert hat sie im kommunikativen Haushalt einer umgreifenderen digitalen Kultur? Nach Luckmann (1986) stellen Gattungen Handlungsmuster und Skripte zur Verfügung, die den Austausch im Hinblick auf bestimmte Ziele steuern. Indem die Kom‐ munikation auf Instagram als kommunikative Gattung untersucht wird, geht die Analyse schlussendlich über die Betrachtung der sozia‐ len Funktion für Einzelakteure hinaus und erhellt stattdessen auch die 1 Einleitung 20 Strukturierungs- und Koordinationsfunktion, welche die Plattform als kommunikatives Gerüst im gesellschaftlichen Miteinander einnimmt. ▸ Subjektivierung: Der Vorgang der Subjektivierung fällt unter die gerade genannten sozialen Funktionen, welche kommunikative Prak‐ tiken im digitalen Raum im Allgemeinen und auf Instagram im Spezifi‐ schen übernehmen. Bewusst ist hier nicht von Identitätsmanagement die Rede, da mit dem Begriff der Subjektivierung gerade auch jene impliziten und fremdgesteuerten Selbstformierungen erfasst werden sollen, die ein starker Identitätsbegriff ausschließt (mehr dazu in Kap. 3). In dieser Studie soll konkret betrachtet werden, wie Nutzerinnen und Nutzer sich gezielt inszenieren, wie ihr Selbstbild in Kommenta‐ ren und Likes ausgehandelt wird und wie sie sich hiervon und von anderen Plattformstrukturen ansprechen lassen. Dabei spielen also nicht nur die visuellen Codes, in die das Selbst verpackt wird, eine Rolle, sondern auch evaluative Praktiken und deren Konsequenzen auf das affektive Selbst- und Weltverhältnis. Anders ausgedrückt: Wenn hier nach Subjektivierungseffekten gefragt wird, wird auch da‐ nach gefragt, wie die Nutzenden den kommunikativen Austausch auf Instagram erleben und wie er ihren emotionalen Haushalt beeinflusst. Im Vordergrund stehen also sowohl kognitive wie auch affektive Sinn‐ bezüge, entlang derer Nutzende sich selbst als Individuum verstehen und entlang derer sie auch für außenstehende als soziale Person intel‐ ligibel, d. h. verstehbar werden. Von besonderem Interesse wird dabei die Frage sein, ob auf Instagram spezifische Selbstentwürfe entstehen, ob also mit der Plattform ein typisches Subjektivierungsprogramm verbunden ist, oder ob sich umgekehrt keine Muster finden lassen und Instagram sich stattdessen durch eine hohe Heterogenität und Individualität der Selbstentwürfe auszeichnet. ▸ Vergemeinschaftung: Neben der Subjektivierung als jeweiliger Form- oder Gestaltgebung des Selbst wird auch betrachtet werden, auf welche Art und Weise sich Kollektive auf Instagram formieren und Gestalt geben. Dabei ist einmal von Interesse, welcher oder welche Gemeinschaftstypen entstehen. Es ist anzunehmen, aber empirisch zu überprüfen, dass es sich bei den Vergemeinschaftungen auf Insta‐ gram um posttraditionale, wenig kohärente und wenig dauerhafte soziale Gebilde handelt, wie sie für das Internet im Allgemeinen kenn‐ zeichnend sind (vgl. Krotz 2008). Ein Augenmerk wird dabei, neben klassischen Faktoren wie Rollen- und Zugehörigkeitsstrukturen oder 1.3 Forschungsrahmen - Digitale Kommunikation aus Sicht der Kultur- und Mediensoziologie 21 Öffnungs- und Schließungsmechanismen, auch auf den affektiven Aspekten liegen, die mit den Prozessen der Vergemeinschaftung ein‐ hergehen. Wie stark identifizieren sich die Nutzerinnen und Nutzer bspw. mit einer Gemeinschaft oder Gruppe emotional, wie stark fühlen sie sich ihr zugehörig und wie wirkt die Gemeinschaftsbindung affektiv auf das Selbst zurück? Daneben wird auch untersucht werden, ob und wenn ja, welches kollektive Wissen auf Instagram entsteht und wie dieses in den überwiegend bildbasierten Beiträgen geteilt wird. Ein wichtiger Befund dieser Studie wird zudem den für Instagram charakteristischen Vergemeinschaftungsmodus betreffen, der nicht zuletzt eine Teilantwort auf die Frage geben wird, weshalb von Instagram als dem ‚netten Netzwerk‘ die Rede ist. Die Untersuchung der unterschiedlichen Vergemeinschaftungsprozesse ist insofern von besonderer Relevanz, als damit der Blick weg von Einzelakteuren und ihren Interessen, Neigungen und Habitus gelenkt wird und hin zum genuin sozialen Moment der Plattformen. Ebenso wichtig wie die Frage nach individuellen Nutzungsmotivationen ist die Frage nach der Art und Weise, wie Nutzerinnen und Nutzer sich auf Instagram in Verbindung zueinander setzen bzw. zueinander gesetzt werden. ▸ Affekte: Wie bereits angedeutet, ist mit den Fragen nach der Sub‐ jektivierung und der Vergemeinschaftung auch eng die Frage nach der Affektstruktur verbunden. In den meisten Abhandlungen über digitale Kommunikation kommt der leiblich-affektive Faktor zu kurz, wenn er denn überhaupt betrachtet wird (eine Ausnahme: Klemm & Staples 2018). Dabei ist es ein Fakt, dass Nutzerinnen und Nutzer beim Vorgang der digitalen Kommunikation immer auch leiblich involviert sind. Welche konkreten Affektstrukturen sich dabei ausbilden, d. h. wie Nutzerinnen und Nutzer auf Instagram erleben und fühlen, hängt ganz davon ab, wie sie dort auf sich und aufeinander Bezug nehmen und in welche Richtungen sie von der Plattformarchitektur ‚gesto‐ ßen‘ werden. Es sind vor allem „soziale Praktiken“, in denen sich Affektstrukturen konstituieren und diese „können sich in räumlicher und institutioneller Verdichtung“, wie auch Instagram eine darstellt, „zu Affektkulturen ausbilden“ (Oswald 2018: 4, vgl. auch Reckwitz 2017). Die Frage nach Affektstrukturen und der affektiv-leiblichen Involviertheit der Nutzenden ist dabei keineswegs trivial. Geht man davon aus, dass jeder Emotion, jedem qualitativen Erleben und Fühlen auch ein affektives Urteil eignet (vgl. Robinson 2013), so sind die 1 Einleitung 22 3 Die oben genannte Literatur verhandelt das Mensch-Technik-Verhältnis im digitalen Raum zumeist nur implizit oder am Rande. Der hier nicht genannte Mediatisierungs‐ Dynamiken und nicht zuletzt auch die Beliebtheit der Plattform Instagram zu nicht geringen Teilen zurückzuführen auf die affektiven Bindungen, in welche die Nutzenden gesetzt werden und auf die affektiven Effekte, die für die Einzelnen von der Nutzung ausgehen. ▸ Affordanzen: Zu guter Letzt soll in dieser Untersuchung auch eine em‐ pirisch-fundierte Teilantwort auf die Frage nach dem Mensch-Tech‐ nik-Verhältnis gegeben werden. Dabei stehen eher technikdetermi‐ nistische Ansätze und Erklärungen (vgl. Turkle 2011, Rosa 2016, Katzer 2016) eher aneignungsorientierten Erklärungen gegenüber (Miller 2011, Damm et al 2012). Gemäß den ersten Ansätzen sind es die technischen Interfaces, die menschliches Verhalten bestimmen und strukturieren, gemäß der zweiten die spezifischen Praktiken und Einstellungen der Nutzenden. Dazwischen stehen Ansätze, die Objekte und Dinge als gleichberechtigte Teilnehmende in einem um‐ fassenden Austauschverhältnis sehen (Latour 2017, Hirschauer 2004), die aber bislang nicht auf den Bereich der digitalen Kommunikation angewandt wurden. Ziel der vorliegenden Studie ist es nun nicht, einen dieser Ansätze zu bestätigen, sondern am konkreten Beispiel von Instagram das Verhältnis von menschlichen Akteuren und den Plattformstrukturen samt ihren funktionalen Elementen empirisch nachzuzeichnen. Es wird sich zeigen, dass dabei der Begriff bzw. das Konzept der Affordanzen einen heuristischen Vorteil bietet und es erlaubt, dieses Verhältnis in einem differenzierteren Lichte zu betrachten. Die Fragen nach dem Mensch-Technik-Verhältnis bzw. die Antworten darauf sind insofern höchst relevant, als sie einer‐ seits normative Implikationen für den Umgang und die Einbindung von Technik in den Alltag tragen. Andererseits sind sie auch hand‐ lungstheoretisch von immenser Bedeutung, da sie den menschlichen Akteurstatus herausfordern. Die vorliegende Arbeit wird einen Teil zu dieser Debatte beitragen, indem sie das Mensch-Technik-Verhält‐ nis in den alltäglichen, scheinbar trivialen aber umso ubiquitäreren Praktiken auf einer sozialen Netzwerkseite untersucht - ein Bereich, der innerhalb dieser Debatte bislang noch keiner differenzierten Betrachtung unterzogen wurde. 3 1.3 Forschungsrahmen - Digitale Kommunikation aus Sicht der Kultur- und Mediensoziologie 23 ansatz scheint mir ein zu allgemeiner Rahmen für die theoretische Beschreibung niedrigskalierter Fallbeispiele (vgl. Kap. 3). In der Verhandlung dieser sechs Aspekte wird die Arbeit aus kultursozio‐ logischer sowie medien- und kommunikationssoziologischer Perspektive den digitalen Raum Instagram ausleuchten und näher beschreiben und so Antworten auf spezifische Ausprägungen plattformbasierter Sozialisierung und die dabei relevanten Strukturierungsgrößen der medialen Umgebung geben. Die letzten beiden Aspekte werden dabei nicht gesondert betrachtet, sondern nur im Rahmen der vorangehenden Aspekte und ihrer jeweiligen Relevanz dafür. Gerade die Behandlung des Mensch-Technik-Verhältnisses würde andernfalls den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In der Darstellung meiner Ergebnisse und Befunde werde ich dabei wie folgt vorgehen: Zuerst wird in Kap. 2 ein kurzer Überblick über das konkrete Forschungsfeld gegeben und der digitale Raum Instagram in seiner historischen Entstehung und seiner jetzigen Form vorgestellt. Daraufhin wird das Datenmaterial und die zugrundeliegende Erhebungsmethode vor‐ gestellt und das Vorgehen bei der Analyse entlang der Auswertungsmethode skizziert. In Kap. 3 werde ich die bestehende Forschungsliteratur zu den hier genannten, für diese Arbeit relevanten theoretischen Aspekten ausführlich darstellen. Der Rahmen dieses Überblicks ist vergleichsweise weitgefasst und fokussiert auf digitale Kommunikation im Allgemeinen und soziale Netzwerkseiten im Spezifischen. Die Forschungsliteratur zur Plattform Instagram allein ist bislang sehr überschaubar und in keinster Weise umfas‐ send zu nennen, weswegen ich die wenigen vorliegenden Untersuchungen im Rahmen des allgemeineren Überblicks verhandeln werde. In Kap. 4 werde ich den gröberen theoretischen Rahmen für die empirische Betrachtung legen und einige wichtige Begrifflichkeiten klären. In Kap. 5 werde ich die bereits angesprochene kommunikative Gattungsanalyse durchführen, während in Kap. 6 und 7 die Ergebnisse der Interviewanalyse dargestellt und diskutiert werden, auf denen auch der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt. Das Datenmaterial wird in diesen beiden Kapiteln akribisch sondiert und schrittweise verdichtet werden, ehe die empirischen Befunde aus Kap. 5, 6 und 7 in Kap. 8 abschließend theoretisch verortet werden im Hinblick auf die hier formulierten Erkenntnisinteressen. Das Fazit wird die Ergebnisse zu guter Letzt noch einmal zusammenfassen und präzisieren. 1 Einleitung 24 2 Forschungsgegenstand 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram In diesem Kapitel beschreibe ich kurz das Forschungsfeld Instagram. Dabei werde ich zuerst die quantitative Relevanz der Plattform anhand einiger Nutzungsstatistiken explizieren. Anschließend werde ich einen kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte und die Intention hinter der Platt‐ form geben. Zu guter Letzt werde ich die Seite anhand ihres strukturellen Aufbaus und ihrer Nutzungsfunktionen näher darstellen. 2.1.1 Nutzungsstatistiken Zu Beginn sollen einige allgemeine Nutzungsstatistiken genannt werden, die lediglich einer Einschätzung der Relevanz der Plattform Instagram die‐ nen. Die Zahlen verändern sich jedoch täglich und gerade die spezifischeren Angaben zur Nutzung weltweit sind schwer zu eruieren und bilden eher eine Tendenz ab. Instagram kann mittlerweile über 1 Mrd. aktive Nutzende weltweit verzeichnen (DataReportal 2019: 81), in Deutschland sind es etwa 15 Mio. (Ansorge 2017) Zum Vergleich: Facebook hat Stand 2019 weltweit ca. 2,4 Mrd. Nutzende, während bspw. Twitter es nur auf ca. 330 Mio. bringt (DataReportal 2019: 81). Damit ist Instagram nach Facebook die weltweit zweitgrößte genuine soziale Netzwerkseite - Mediaplattformen wie You‐ tube oder Messenger-Dienste wie WhatsApp außen vorgelassen. Laut der deutschlandweiten JIM-Studie 2018 (MPFS 2018) lässt Instagram in puncto Beliebtheit bei den 12-19-Jährigen Facebook sogar weit hinter sich (ebd.: 35). Dass Instagram besonders bei jüngeren Nutzenden gut ankommt, zeigt auch die ARD-ZDF-Online-Studie 2018: hier erweist sich die Plattform unter den 14-19-Jährigen am beliebtesten im Vergleich mit Facebook, Snapchat, Twitter und Xing. In allen anderen Altersklassen rangiert sie nur auf Platz zwei hinter Facebook (Frees / Koch 2018: 409). Dies gilt allerdings nur für die wöchentliche Nutzung - bei der täglichen Nutzung zieht Instagram bei den 20-29-Jährigen sogar mit Facebook gleich (ebd.: 410). Altersmäßig rangiert der Großteil der Nutzenden, ca. 65 Prozent, welt‐ weit zwischen 18 und 34 Jahren. Der Anteil an Frauen und Männern ist dabei mit ca. 53 % Frauen und 47 % Männern deutschlandweit (Hutter 2015, Peeck 2016) bzw. weltweit 51 Prozent weiblichen und 49 Prozent männlichen Nutzenden fast ausgeglichen (DataReportal 2019: 108). Auch die ARD-ZDF-Onlinestudie 2018 weist ähnliche Befunde vor. So gaben 17 Prozent der befragten Frauen und mit 14 Prozent nur geringfügig weniger Männer an, auf Instagram mindestens einmal wöchentlich aktiv zu sein (Frees & Koch 2018: 409). Diese Befunde widersprechen einem landläufigen Vorurteil, dass es sich bei Instagram um eine Plattform überwiegend für Frauen handeln würde (vgl. Theißl 2016). Die JIM-Studie 2018 stellt aber zumindest bei den 12-19-Jährigen einen Geschlechtereffekt fest - so ist den weiblichen Nutzenden Instagram als App fast doppelt so wichtig wie den männlichen (MPFS 2018: 36). Dieser kurze Überblick soll an dieser Stelle genügen, um zu veranschau‐ lichen, dass es sich bei Instagram um eine Plattform handelt, der immer mehr Gewicht in der alltäglichen digitalen Kommunikation zukommt. Bislang wird sie zwar vorwiegend innerhalb der jüngeren Altersklassen genutzt, doch gerade dort erlebt sie einen starken Popularitätsgewinn sowohl bei Frauen als auch bei Männern und löst mehr und mehr die ‚klassischen‘, überwiegend textbasierten sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter und Co. ab. 2.1.2 Entstehungsgeschichte Instagram wurde von dem Amerikaner Kevin Systrom und dem Brasilianer Mike Krieger im Silicon Valley von San Francisco entwickelt und ging 2010 erstmals als kostenlose Webapplication für iOS-Endgeräte wie das I-Phone an den Start. In relativ kurzer Zeit wurde die App immer beliebter und konnte die Zahl monatlich aktiver Nutzender von 1 Mio. Ende 2010 bis auf 30 Mio. Anfang 2012 steigern. Zu diesem Zeitpunkt war die App nach wie vor nur für Endgeräte mit einem iOS-Betriebssystem verfügbar. April 2012 schließlich wurde sie auch für Endgeräte mit einem Android-Betriebssystem freigeschalten, wodurch sich die Nutzungszahlen bis Ende 2012 nochmal bis auf 100 Mio. erhöhten (Instagram 2019a). Mitte 2012 wurde Instagram von Facebook aufgekauft - der Konzern war auf den Erfolg der App aufmerksam geworden. Bis dahin wurde Instagram von einem kleinen 12-köpfigen Team betreut und konnte kein 2 Forschungsgegenstand 26 „tragendes Geschäftsmodell“ nachweisen (Financial Times Deutschland 2012). Mit dem Aufkauf wurde die Anwendung auch für das World Wide Web zugänglich gemacht, d. h. es ist seither nicht nur möglich, Profile und Bilder über ein mobiles Endgerät per App einzusehen, sondern auch über Standard-Internetbrowser als Webpage bzw. Webprofil. Diese Neuerung stellte auch optisch eine klare Annäherung an das Format dar, das von Facebook selbst bedient wurde, wenngleich die Funktionen die gleichen blieben (im Gegenteil war und ist bspw. das Hochladen von Bildern immer noch nur per App möglich). Seit dem Aufkauf durch Facebook stiegen die Nutzungszahlen kontinu‐ ierlich auf bis zu 1 Mrd. im Jahr 2018 an. Bis heute wurden einige weitere Funktionen eingeführt - bspw. Boomerang-Videos oder Vignetten, die lediglich Varianten oder Verfeinerungen bereits existierender Funktionen darstellten -, von denen allerdings nur eine von wesentlicher Bedeutung war: August 2016 wurden die sogenannten „Stories“ eingeführt, welche eine alternative Möglichkeit des Teilens und Verbreitens von Fotos und Videos sowie der Kommentierung darstellen (Instagram 2019a). Die Idee zu Instagram entstand, nachdem die beiden Gründer mit einer burbn genannten Lokalisierungs-App bereits einen ersten Dienst entwickelt und an den Start gebracht hatten. Trotz des mäßigen Gesamterfolgs erwies sich die integrierte Bilderfunktion der App als sehr beliebt (Lindner 2012). Krieger und Systrom dachten daraufhin um und richteten ihre App neu aus. Das zugrundeliegende Konzept schildert Krieger in einem Interview wie folgt: „So for us when we started, it was always, Can you make someone feel like they’re in another place with somebody else and experiencing with them? And through that, both enhance the feeling of the person who’s actually experiencing it by telling a story and bringing your friends along, and for everybody else to teleport, basically, to this other place“ (Laporte 2018). Instagram sollte also dazu dienen, gefühlt Örtlichkeiten zu transzendieren und Erlebnisse miteinander so erfahrungsnah wie möglich zu teilen. Bilder erschienen Systrom und Krieger dabei als gangbarste, weil auch technisch machbarste Methode - im Gegensatz zu Videos, denen die damalige Band‐ breite noch nicht gewachsen war (ebd.). Beide waren sich aber, so lässt sich auch dem obigen Zitat entnehmen, der Kraft visueller Inhalte bewusst und setzten gezielt auf diese Art der Kommunikation, um ihrem Ziel - gefühlte Verbundenheit zwischen den Nutzenden herzustellen - so nah wie möglich 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram 27 zu kommen. Nicht zuletzt spielte dabei auch der mobile Echtzeitcharakter eine gewisse Rolle, der schließlich auch in den Namen der App einging: „We renamed [burbn] because we felt it better captured what you were doing -an instant telegram of sorts. It also sounded camera-y“ (Yung-Hui 2012). Schnelle Kommunikation und das ‚hautnahe‘ Miterleben - oder anders ausgedrückt: das schnelle Teilen von Erlebnissen - sind aber nur zwei Grundpfeiler, auf denen Instagram aufbaut. In einem Artikel über die Diffe‐ renzen zwischen Facebook, Twitter und Instagram heißt es beispielsweise: „Instagram's simple design — just a collection of photos and videos of sunsets, faraway vacations, intimate breakfasts and baby close-ups — has allowed it to remain a favorite long after it became part of Facebook. If people go to Twitter to bicker over current events and to Facebook to see what old classmates are up to, Instagram is where they go to relax, scroll and feast their eyes“ (voanews 2018). Instagram war also von Anfang auf Einfachheit (in der Bedienung) und (äs‐ thetischen) Genuss ausgelegt. Die App sollte überschaubar, unkompliziert und zugänglich sein und es ermöglichen, ‚schöne‘ Bilder zu machen, zu teilen und zu betrachten. All dies kulminiert in dem Ansatz, mit Instagram eine soziale Netzwerkseite zu schaffen, auf der Positivität und ‚gute Laune‘ miteinander geteilt werden - oder wie Systrom es ausdrückt: „Generally people don’t come to Instagram to complain about something or make fun of someone. But I guess what you’re saying is that you come to Instagram with positive intentions. I think that’s pretty awesome“ (Parrish 2015). Zusammenfassend lassen sich die Grundintentionen, die hinter dem Konzept von Instagram stecken, in den folgenden fünf Stichpunkten kondensieren: 1. Genuss ästhetischer Bilder fördern 2. schnelle, mobile Kommunikation ermöglichen 3. Teilen und Miterleben von Ereignissen unterstützen 4. Einfachheit und Überschaubarkeit bieten 5. Positive Verbundenheitsgefühle schaffen Als nächstes soll betrachtet werden, wie die Plattform aufgebaut ist und in welchen Design-, Funktions- und Struktur-Entscheidungen sich das Konzept von Instagram niedergeschlagen und eingeschrieben hat. 2 Forschungsgegenstand 28 1 Natürlich müssen die Nutzenden hierzu erst Profile abonnieren. 2.1.3 Aufbau und Funktionen 2.1.3.1 Aufbau Im Folgenden werde ich die Oberfläche der App Instagram beschreiben, wie sie auf dem Smartphone erscheint und, wo relevant, kurz die Unterschiede zur Webpage herausstellen. Feed: Die Hauptseite, auf die man nach der Registrierung gelangt, zeigt zuallererst den Feed, in welchem gegen-chronologisch (von neu nach alt) die neusten Beiträge der abonnierten Profile angezeigt werden. 1 Mittlerweile ist in dieses System ein (oftmals, auch von den hier Befragten kritisierter) Algorithmus dazwischen geschalten worden, der bestimmte Profile priori‐ siert, bspw. solche, mit denen man viel interagiert. Auf der Webpage werden den Nutzenden zusätzlich in einem Kasten rechts davon die aktuellsten Stories der abonnierten Profile angezeigt, darunter in einem weiteren Kasten Abonnement-Vorschläge gemacht. Such-und-Entdecken-Modus: Im Such-und-Entdecken-Modus lässt sich mit Klick auf den Suchbalken ganz oben gezielt sowohl nach anderen Profilen als auch nach Hashtags suchen. Darunter werden einem von der App unterschiedliche Themen vorgeschlagen sowie unterschiedliche Beiträge anderer Profile angezeigt, denen man bislang noch nicht folgt - beides entlang der Interessen, die Instagram auf Basis der bisherigen Abos und Klicks errechnet. Beitragsmodus: Im Beitragsmodus kann man entweder Bilder oder Videos aus der Galerie auswählen und teilen oder sie per Kamerafunktion erstellen. Klickt man nach Auswahl eines Bildes oder Videos oben rechts auf weiter, wird man in den Bearbeiten-Modus weitergeleitet. Dort kann man zwischen den Optionen Filter und Bearbeiten wählen. Unter der Filter-Op‐ tion stehen den Nutzenden derzeit 40 Filter zur Verfügung, mit denen das Bild jeweils ein etwas anderes Ambiente erfährt, indem bspw. Helligkeit und Bildsättigung automatisch verändert werden. Im Bearbeiten-Modus lassen sich diese Einstellungen separat und individuell vornehmen. Insgesamt können (Stand 2019) folgende Bildeigenschaften verändert werden: Ausrich‐ tung, Helligkeit, Kontrast, Struktur, Wärme, Sättigung, Farbe, Verblassen, Hervorhebung, Schatten, Vignette, Tilt-Shift, Schärfe. 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram 29 Diese Vielzahl an Möglichkeiten verweist auf Instagrams Relevanzsetzun‐ gen. Die Seite lädt gezielt zum Spielen mit unterschiedlichen kunstvollen und eleganten Ästhetiken auf Basis dieser Bildeigenschaften ein. Damit unterscheidet sich Instagram bspw. von Snapchat, das eher zum Spielen mit unterschiedlichen comicartigen und humorvollen Bilddekorationen oder animierten Videofiltern auffordert. Hat man sich für einen Filter oder einen bzw. mehrere Bearbeitungsoptionen entschieden, kann man mit einem Klick auf den Weiter-Button das Bild schlussendlich noch kontextualisieren. Auf der neuen Seite lassen sich eine Bildbeschreibung verfassen, Hashtags setzen, Personen markieren und ein Ort angeben. Sobald der Beitrag auf das Profil hochgeladen wurde, werden alle Follower über den neuen Eintrag benachrichtigt. Abb. 1: Filteransicht, Quelle: Instagram, eig. Profil. 2 Forschungsgegenstand 30 Abb. 2: Beitragsmodus, Bearbeitungsfunktionen, Quelle: Instagram, eig. Profil. Aktivitätenmodus: Der Aktivitätenmodus ist unterteilt in die Rubriken „Abonniert“ und „Du“, wobei standardmäßig die Du-Rubrik angezeigt wird. In dieser Rubrik werden neben den aktuellsten Likes, welche die eigenen Bilder erhalten haben (sowie den Personen, von denen dieser Like stammt), auch die neuesten Follower oder im Falle von privaten Profilen die Followgesuche angezeigt, mit den Optionen, das Gesuch anzunehmen und zurückzufollowen. Diese Funktion ist insofern für diese Untersuchung von Bedeutung, als mit dieser dynamischen Ansicht die Zeitlichkeit bzw. Aktualität und gewissermaßen der ‚Fluss‘ der Follower-Aktivitäten betont wird. Zusätzlich werden hier, wie im Entdecken-Modus auf der Webpage, Abo-Vorschläge von der App unterbreitet. In der Abonniert-Rubrik werden die neuesten Aktivitäten der abonnierten Profile - also den Profilen, denen man folgt - angezeigt (d.h.: wem folgen 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram 31 sie, welche Bilder haben sie geliked usw.) und somit auch hier ein Fokus auf Aktualität gelegt. Abb. 3: Abonniert-Aktivitäten, Quelle: Instagram, eig. Profil. Profilmodus: Die Ansicht des eigenen Profils ist wie folgt aufgebaut: Links oben wird das eigene Profilbild und darüber der Profil-Name angezeigt. Der Profilname ist meist ein Pseudonym, während der Benutzername, der weiter unten angezeigt wird, dem Klarnamen entsprechen sollte. Es ist den Nutzenden jedoch freigestellt, was sie in diesen Feldern tatsächlich angeben. Neben dem Profilbild werden von links nach rechts die Anzahl der eigenen Beiträge, die Anzahl der Abonnenten bzw. Follower und die Anzahl der eigenen Abonnements, also der Profile, denen man selbst folgt, angezeigt. Darunter werden in quadratischen, gleichgroßen Kacheln die eigenen Profilbilder in gegen-chronologischer Reihenfolge von links nach rechts dargestellt. In einer Reihe befinden sich jeweils immer drei Bilder, wobei 2 Forschungsgegenstand 32 die Reihen nach unten bis zum letzten Bild fortgesetzt werden. Beitrags-, Follower- und Abo-Zahlen sind nicht optional und immer einsehbar. Optio‐ nal können noch ein kurzer, individualisierbarer Steckbrieftext hinzugefügt werden sowie Stories bzw. Story-Serien, sogenannte „Highlights“, dauerhaft ‚angepinnt‘ werden. Abb. 4: Profilansicht, Quelle: Instagram, eig. Profil. Private Nachrichten: Im Private-Nachrichten Modus können sich die Nutzenden gegenseitig Nachrichten in Text-, Bild- oder Sprachform senden und dabei auch auf Emojis zurückgreifen. Die Bilder lassen sich hier nicht in gleicher Weise wie für das Profilbild bearbeiten, wodurch die Funktionalität dieses Modus mehr an die von Messenger-Diensten wie WhatsApp erinnert. Auch dieser Modus steht in der Webpage-Version nicht zur Verfügung. Story-Modus: Der Story-Modus soll hier nur kurz angeschnitten und nicht ausführlich behandelt werden, da er zum Zeitpunkt der Datenerhe‐ 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram 33 bung gerade erst eingeführt wurde und nicht mehr systematisch in das Forschungsdesign aufgenommen werden konnte. Sehr allgemein beschrieben bietet der Story-Modus die Möglichkeit, Bilder und Videos für einen Zeitraum von 24 Stunden zu teilen, nach welchem sie automatisch wieder gelöscht werden, es sei denn man pinnt sie als Highlights an das Profil an. Die Möglichkeiten der Bearbeitung von Stories nehmen sich gänzlich anders aus als die normalen Beiträge und fokussieren weniger auf ästhetische denn auf verspielte Aspekte, ähnlich der App Snapchat. Wie gesagt kann dieser Modus hier aber nur am Rande behandelt werden, weshalb auf die einzelnen Bearbeitungsmöglichkeiten nicht weiter eingegangen wird. Abb. 5: Storymodus, Bearbeitungsfunktionen, Quelle: Instagram, eig. Profil. 2 Forschungsgegenstand 34 2.1.3.2 Funktionen In diesem Unterkapitel sollen nun vor allem die Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Nutzenden bzw. Profilen kurz behandelt werden, die auf Instagram zur Verfügung stehen. Fremde Profilansicht und Follower: Klickt man auf ein Profil, so öffnet sich eine Ansicht, die ähnlich zur eigenen Profilansicht ausfällt, d. h. auch hier sind prominent Beitrags-, Follower- und Abo-Zahlen einsehbar sowie optional eine Profilbeschreibung. Statt der Bearbeitungsfunktionen für das eigene Profil finden sich an dieser Stelle für fremde Profile die Funktionen „Abonnieren“, „Nachricht“ und „E-Mail-Adresse“. Über die letztgenannten Funktionen können die Nutzenden direkt angeschrieben werden. Über den Abonnieren-Button kann ein Profil abonniert werden bzw. ihm kann gefolgt (oder neudeutsch: ‚gefollowt‘) werden. Der Abonnier-Vorgang ist einseitig, d. h. die jeweiligen Profile verbinden sich in einem solchen Fall nicht auto‐ matisch gegenseitig, wie es z. B. bei Facebook für Freundschaftsanfragen der Fall ist. Ist ein Profil auf privat gestellt, muss erst eine Followbzw. Abo-An‐ frage an den oder die Profilinhabende gestellt und diese auch genehmigt werden. Erst dann ist auch das komplette Profil einsehbar. Bis dahin werden lediglich das Profilbild sowie die Profilkurzinformationen angezeigt - d. h. letztlich aber, dass auch bei privaten Profilen deren Beitrags-, Follower- und Abo-Zahlen sichtbar sind. Wird eine Abo-Anfrage angenommen, hat dies ebenfalls keine wechselseitige Verbindung der Profile zur Folge. Jedes Profil-Abonnement muss separat vorgenommen bzw. angefragt werden. Bilder, Kommentare und Likes: In der kompletten Ansicht eines fremden Profils werden auch die Bilder im gleichen Kachelformat wie für das eigene Profil angezeigt. Klickt man auf eines der Bilder in der Profilgalerie, öffnet sich das Bild bzw. die Galerie im Großformat. Unter jedem Bild wird in der Vollansicht die Anzahl der Likes (bzw. im Deutschen: Gefällt-Mir-Angaben) angezeigt, des weiteren eine gekürzte Vorschau der Bildunterschrift sowie die Anzahl der Kommentare und eine gekürzte Vorschau eines Kommentars, insofern der oder die Profilinhabende auf diesen Kommentar geantwortet hat. Instagram hebt also gezielt die Like- und Kommentaranzahl hervor und betont auch die Kommentare selbst, indem sie Vorschauen anzeigt. Für die Interaktion stehen, neben der privaten Nachricht, die Like- und die Kommentarfunktion zur Verfügung. Kommentare und Likes werden alle öffentlich angezeigt. Likes vergibt man mit einem Klick auf ein Herz-Symbol oder per Doppelklick auf das Bild. Ein einfacher Klick auf ein Bild zeigt die 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram 35 Profile bzw. Personen an, die vom Beitragsverfasser ‚getaggt‘, d. h. verlinkt wurden. Hashtags: In den Kommentaren können ebenso wie in der Bildbeschrei‐ bung sogenannte Hashtags gesetzt werden, d. h. thematische Verlinkungen, die zur Verschlagwortung und zur Schlagwortsuche dienen. Nach Hashtags kann über die Suchfunktion gezielt gesucht werden. Dort werden dann die jeweils aktuellsten Bilder (nicht aber Kommentare), die mit diesem Hashtag verschlagwortet wurden, dynamisch und gegen-chronologisch von oben nach unten angezeigt. So können auch Nutzende, die dem eigenen Profil noch nicht folgen, auf die eigenen Bilder stoßen - die Bilder werden durch Verschlagwortung öffentlich sichtbarer bzw. erhalten mehr ‚Reichweite‘. 2.1.3.3 Kleines Resümee Was lässt sich dieser kurzen Übersicht entnehmen? Zuerst einmal fällt auf, dass die Seite sehr einfach aufgebaut ist und die meisten Funktionen sich intuitiv erschließen - anders als komplexer strukturierte soziale Netz‐ werkseiten und Messenger-Dienste wie etwa Facebook oder Snapchat. Der Großteil der Seite ist in schlichtem Weiß gehalten, selbst viele der Funktionssymbole sind nur durch ihre schwarze Rahmung hervorgehoben. Neben Weiß und Schwarz finden sich nur hier und dort ein paar blaue Funk‐ tionselemente. Dies hat zur Folge, dass die Seite selbst nicht überfrachtet wirkt und der Fokus vor allem auf die Bildbeiträge der Nutzenden und deren Ästhetik gelenkt wird. Die Seite reduziert so gewissermaßen ästhetisches Störpotential. Daneben erweist sich die Seite aber auch als funktional entschlackt. Es gibt nur wenige Möglichkeiten zur Kommunikation. Die kurze Profilinfo, das Teilen von Bildern, das Kommentieren von Bildern, das Schicken priva‐ ter Nachrichten und neuerdings auch das Teilen von Stories. Alle Unterfunk‐ tionen sind in Reihe angeordnet und größtenteils intuitiv erschließbar. So ist es prinzipiell möglich, selbst bearbeitete Bilder schnell und unaufwändig mit fünf kurzen Klicks zu teilen. Neben der Simplizität und Übersichtlichkeit wird, wie schon angeschnit‐ ten, auch ein Fokus auf eine spezifische Bildästhetik gelegt. Die Filter im normalen Beitragsmodus sind weder ornamental noch kapriziös, zumindest im Vergleich zu den Optionen im Story-Modus oder zu Apps wie Snapchat. Stattdessen setzen sie auf unverfängliche Licht-, Kontrast- und Sättigungs‐ effekte, die den Bildern eine schlichte Eleganz, oft kombiniert mit einem leichten Retro-Charme, verleihen. Die individuellen Bearbeitungsoptionen 2 Forschungsgegenstand 36 erlauben den Nutzenden über die freie Gestaltungsmöglichkeit hinaus kaum Veränderungsmöglichkeiten, die sich substantiell von den Effekten der vorprogrammierten Filter unterscheiden. Es wird also durch die Bear‐ beitungs- und Filterfunktionen sehr gezielt eine unverfängliche, schlichte und elegante Ästhetik gefördert und damit eine bestimmte Vorstellung des Schönen genährt. Weiterhin findet sich eine deutliche Akzentsetzung auf Aktualität und Beitrags-Fluss in den dynamischen Darstellungsmodi der jeweiligen Unter‐ seiten. So wird vor allem im Feed und in der Aktivitäten-Anzeige, aber auch in der Kommentaransicht der Verlauf und damit die Aktualität der unterschiedlichen Aktivitäten betont. Nicht zuletzt lenkt die Plattform den Blick stark auf zahlenförmige Infor‐ mationen, die ebenfalls dynamisch, also veränderlich sind. Die Veränderung nach oben, also die Zunahme, gilt dabei als Idealzustand. Die plattformin‐ terne Relevanz dieser Zahlen wird durch die prominente d. h. sichtbare Platzierung betont und verschärft - wir erinnern uns: Followerzahlen sind selbst für Privatprofile einsehbar. Was bedeutet dies im Hinblick auf die konzeptuellen Grundpfeiler von Instagram? Recht eindeutig spiegelt sich die Idee der ästhetischen Bild‐ kommunikation, wenngleich in einer sehr spezifischen Weise, in den Platt‐ formstrukturen und -funktionen wieder. Zugleich wird versucht, schnelle und intuitive Kommunikation zu gewährleisten, nicht zuletzt durch ein einfaches und übersichtliches Plattformdesign. Das Teilen und Miterleben von Ereignissen wiederum soll durch die starke Gewichtung von Bildkom‐ munikation gegenüber Textkommunikation gefördert werden - zudem tragen die dynamischen Darstellungsmodi auf den einzelnen Seiten eine starke Aktualitätsorientierung in sich. Lediglich die Idee, Instagram zu einem Zirkulationsort positiver Gefühle zu machen, ist nicht direkt in die Plattformstrukturen und -funktionen eingelassen - sieht man einmal davon, dass Like-Angaben mit einem Herzsymbol dargestellt werden und keine Dislikes oder ähnliche negativen Wertungen vergeben werden kön‐ nen. Dennoch zeigt sich, dass bereits im Aufbau und den Funktionen von Instagram die Richtung für bestimmte Nutzungsweisen und -motivationen vorgebahnt ist. Auf die Beobachtungen aus diesem Kapitel wird im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder Bezug genommen werden. 2.1 Forschungsgegenstand: Das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram 37 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung, Digitalisierung und Visualisierung Digitalisierung ist ein schillernder Begriff, der weit mehr meint, als nur die zunehmenden Zugangsmöglichkeiten zum Internet durch vermehrte Bereitstellung von Breitbandverbindungen oder die Transformation des Wirtschafts- und Arbeitssektors durch digitalisierte und automatisierte Arbeitsprozesse. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Etablierung digitaler Technologien sowohl in privaten als auch in öffentlichen Räumen, für funktionale Zwecke als auch für solche der reinen Unterhaltung, Effekte gezeigt haben, die (allein in ihrer Größenordnung) neuartig sind und die über den Cyberspace hinausreichen. Kurz gesagt: Mit dem Aufkommen digitaler Medien hat sich das gesell‐ schaftliche, kulturelle und soziale Miteinander verändert und das nicht nur online, sondern auch offline. Das folgende Kapitel wird einen Überblick über den Forschungsstand zum Thema Digitalität, Selbst und Gemeinschaft bieten. Dabei werde ich die „Kultur der Digitalisierung“ (vgl. Miller 2011) von gesellschaftlichen Makrostrukturen über Prozesse und Praktiken auf der Mesoebene bis hin zu den Mikrodimensionen des interpersonalen Austauschs und der individuellen Selbstverhältnisse nachverfolgen. Zu Beginn diskutiere ich Großtheorien, die zwischen Soziologie, Medien- und Kommunikationswissenschaft angesiedelt sind und das Verhältnis von ge‐ sellschaftlichem und technologisch-digitalem Wandel beschreiben. 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel Bemerkenswert ist, dass trotz der Omnipräsenz des Begriffes Digitalisierung und seinem Einsatz als zeitdiagnostischem Terminus noch keine ausgear‐ beitete, geschweige denn einheitliche Theorie der Digitalisierung vorliegt. Digitalisierung meint daher streng definitorisch zunächst lediglich „die Umwandlung von analogen in diskrete Daten […], also in Werte innerhalb eines gestuften Wertesystems beziehungsweise -vorrats, die klar vonein‐ ander abtrennbar sind“ (Koch 2017: 7). Alltagssprachlich wiederum wird darunter eine Vielzahl sehr heterogener Prozesse und Entwicklungen ver‐ standen: „[…] die zunehmende Beteiligung von Computern an privaten und beruflichen Aktivitäten der Menschen, […] eine zunehmende Durchsetzung der Infrastruktur der Gesellschaft mit elektronischen Rechnern, […] das Wachsen von Datenspeichern mit dem Versprechen des Gewinns neuartiger Kenntnisse aus raffinierten statistischen Verfahren („Big Data“), […] die verblüffende Reduktion multimedialer Kommunikation mit Bildern, Texten, Tönen und Videos auf einen digitalen 0/ 1-Code, der diese Kommunikation überdies vielfach bearbeitbar macht, und nicht zuletzt […] die große Frage, was den Menschen noch Menschliches bleibt, wenn ihr Intellekt, ihre Wahrnehmung, ihre Kommunikation, ihr Gedächtnis in die Maschinen auswandern“ (Baecker 2017: 3). Insofern ist es nicht allzu verwunderlich, dass sozial- und geisteswis‐ senschaftliche Theorien den Begriff der Digitalisierung bislang lediglich heuristisch einsetzen und ihn in ihre übergeordneten Konzepte integrieren. Ich werde an dieser Stelle drei solcher Konzepte näher beleuchten, die sich nicht ausschließlich, aber fokussiert mit den alltagsweltlichen Transforma‐ tionen durch digitale Kommunikation auseinandersetzen: Die von Friedrich Krotz ausgehende Theorie der Mediatisierung, Andreas Reckwitz Theorie der Singularisierung und Hubert Knoblauchs Theorie der kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit. Allen drei Theorien ist gemeinsam, dass sie Veränderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unter den Bedingungen der Digitalisierung beschreiben, aber darüber hinausgehen und auch andere Großtheorien integrieren, bspw. jene der Individualisierung oder der Glo‐ balisierung. Zusätzlich werde ich den Prozess der Visualisierung beleuchten, der noch nicht als eigenständiges Konzept ausgearbeitet wurde. Er wird aber in vielen Betrachtungen als spezifisches Merkmal der Digitalisierungen ausgewiesen. 3.1.1 Mediatisierung Der Begriff der Mediatisierung hat in der Medien- und Kommunikations‐ wissenschaft bereits eine längere Tradition. Ausführlich konzeptualisiert wurde er von Friedrich Krotz und wurde durch mittlerweile zahlreiche Anschlussstudien (vgl. Hepp 2013 für die Figurationssoziologie, Gentzel 2015 für die Praxistheorie oder Grenz 2017 für die Wissenssoziologie) und in 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 40 1 Vgl. das DFG Schwerpunktprogramm 1505 „Mediatisierte Welten“: www.mediatisierte welten.de/ Projektverbünden 1 interdisziplinär etabliert. Dem Konzept der Mediatisie‐ rung liegt ein vergleichsweise allgemeines Verständnis von Kommunikation und Medium zugrunde, das Kommunikation als symbolisch-zeichenhafte Interaktion und Medien als Technologien zur Übertragung und Inszenierung von Kommunikation auffasst (vgl. Krotz 2007). Krotz zufolge untersucht der Mediatisierungsansatz „den Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft im Kontext des Wandels der Medien. Dies geschieht konzeptionell in einer Prozessperspektive“ (Krotz 2017: 14). Mit der Fokussierung auf die Prozessualität von Mediatisierung wird betont, dass es sich hierbei nicht um ein starres, ahistorisches Theoriegerüst handelt, sondern um einen theore‐ tischen Rahmen für diachron und synchron wandelbare und empirisch zu untersuchende Ausprägungen der Verbindung von Medientechnologien und Gesellschaft. Neben dieser sehr allgemeinen Definition existieren auch Versuche, Mediatisierung als Analysekonzept heuristisch zu schärfen. Winfried Schulz (2004) etwa unterscheidet vier allgemeine Vorgänge der Mediatisierung: Extension (extension), Substitution (substitution), Verschmelzung (amalga‐ mation) und Anpassung (accomodation). Unter Extension ist die Erweiterung der menschlichen Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten in zeitli‐ chen, räumlichen, aber auch semiotischen und sensorischen Dimensionen gemeint (bspw. der Anruf nach Amerika oder die digitale Schnitzeljagd mithilfe von Soundcodierungen). Substitution bezeichnet den Vorgang der Ersetzung von face-to-face-Aktivitäten durch ein medial-vermitteltes Pen‐ dant (Fussballschauen vor dem Fernseher ersetzt den Stadionbesuch, der WII-Fit-Trainer den Yoga-Kurs, die Skype-Konferenz das Meeting unter vier Augen). Verschmelzung bezieht sich wiederum auf die zunehmende Entgrenzung und Durchdringung von medial-vermittelten und nicht-me‐ dial-vermittelten Aktivitäten (bspw. Wandern mithilfe einer bestimmten App oder Google Maps, das Hören von Schallplatten oder Podcasts beim Wohnungsputz). Schließlich konstatiert Schulz mit dem Begriff der Anpas‐ sung eine zunehmende Orientierung der Gesellschaft an medialen Logiken (vgl. Schulz 2004: 89). Die Etablierung von Likes als Indikatoren für Beliebt‐ heit und Popularität oder die zunehmende Bildzentriertheit sind Beispiele für Anpassungen an digitale Kommunikationsformate. Gerade hinsichtlich des letzten Punktes scheint jedoch Vorsicht geboten. Der Begriff der Anpas‐ 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 41 sung oder auch der Medienlogik suggeriert eine einseitige und eindimensio‐ nale Wirkmächtigkeit und ignoriere Hepp (2013: 42) zufolge die „konkreten Akteure, die Sinndimension ihres Handelns wie auch viele andere Probleme der Kommunikationsmacht“. Medien und Kommunikationsformate sind in ihrem Einfluss nicht einheitlich, wie u. a. Hepp in Bezug auf Couldry (2008) und Hjarvard (2008) betont, und letztlich sind es „wir Menschen […], die in und mit Medien kommunikativ handeln“ (Hepp 2013: 41). Das heißt Menschen eignen sich Medien immer auch individuell, situativ, und dem jeweiligen sozialen oder historischen Kontext entsprechend an. Die ‚interne Logik‘ von Medien trifft also immer auf eine bestimmte ‚soziale Logik‘ (vgl. Keppler 2000: 141). Dem Mediatisierungsansatz inhärent ist die Forderung, der Kontingenz und Heterogenität medial-vermittelter Kommunikation sowie den Wechsel‐ wirkungen zwischen Technologien, Strukturen und Akteuren Beachtung zu schenken. Es kann im Grunde also keine einheitliche Mediatisierungstheo‐ rie geben, sondern nur fallbezogene Mediatisierungsanalysen, weswegen Mediatisierung von den meisten Vertretern m. E. zurecht nur als Forschungs‐ perspektive verstanden wird. Diese recht weite Konzeption ist zugleich die Schwäche wie auch die Stärke des Ansatzes. Einerseits ist es mit dem Mediatisierungskonzept nicht möglich, allgemeine Aussagen über Entwicklungen zu treffen - die Reichweite jeder Analyse ist zwangsläufig begrenzt. Andererseits lässt sich das Konzept sehr flexibel einsetzen und wirkt in seiner Differenziertheit einseitigen Verkürzungen entgegen, wie sie bspw. im Two-Step-Flow-Modell nach Lazarsfeld (vgl. Lazarsfeld et al 1968) angelegt sind, um nur eines der einflussreichsten kommunikations‐ wissenschaftlichen Modelle zu nennen. Das Mediatisierungskonzept ist in seiner Offenheit zudem auch interdisziplinär anschlussfähig, indem es das Verhältnis von Medien und Gesellschaft in ganz unterschiedlichen Dimen‐ sionen untersucht: Sinnbezüge, Machtverhältnisse und Affektstrukturen sind nur einige von vielen soziokulturellen Ebenen, die ins Blickfeld von Mediatisierungsanalysen geraten können. Verstanden als ‚Metaprozess‘ steht Mediatisierung, so Reißmann, für alle Prozesse, die im Zusammenspiel von Technik und menschlicher Aneignung entstehen. „Die einzelnen dabei beobachtbaren Entwicklungen müssen aber weder homogen in eine Richtung weisen, noch in sich widerspruchsfrei sein“ ((Reißmann 2015a: 26). Bei Hjarvard (2008) findet sich der Versuch einer Schematisierung solcher unterschiedlicher und teils widersprüchlicher Mediatisierungsschübe. Er 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 42 differenziert einerseits zwischen zentrifugalen und zentripetalen Entwick‐ lungen, also solchen, die nach außen streben („extrovert“) und solchen, die innengerichtet („introvert“) sind, und andererseits zwischen homogeni‐ sierenden und differenzierenden bzw. heterogenisierenden Entwicklungen. Dabei entstehen ganz unterschiedliche kommunikative Räume. Zentrifu‐ gale Kommunikationspraktiken und -strukturen erschließen eine oder stre‐ ben nach einer breiteren Öffentlichkeit, während die zentripetalen eine soziale Schließung oder Verdichtung nach sich ziehen. Homogenisierende Mediatisierungseffekte vereinfachen die soziale Umwelt, fokussieren den gemeinsamen Nenner und begünstigen mediale Monokulturen, während heterogenisierende Mediatisierungseffekte für eine Vervielfachung und eine Betonung der Unterschiede sorgen. Hjarvards Modell bietet einen fruchtbaren Zugang für so scheinbar widersprüchliche Phänomene wie die Herausbildung geschlossener Extre‐ mismusgruppen und Weltanschauungsenklaven auf global angelegten Netz‐ werkseiten wie Facebook. Gleichzeitig stellt es einen heuristischen Rahmen zur Beobachtung und Identifikation von allgemeinen Formen medial-ver‐ mittelter Kommunikation zur Verfügung, der den unterschiedlichen und oft gegenläufigen Entwicklungen Rechnung trägt, die sich nicht unter einer einzigen Kategorie versammeln lassen. Hjarvard macht weiterhin die wichtige Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Mediatisie‐ rung. Direkte Mediatisierung überführt eine Aktivität oder Situation in ein anderes Medium (so z. B. analoge Brettspiele in digitale Brettspiele). Indirekte Mediatisierung wiederum ergänzt Aktivitäten oder Situationen um medial-vermittelte Handlungsangebote, Sinneseindrücke oder Informa‐ tionen (z. B. Museen, die mit Infomonitoren und interaktiven Programmen auf PCs ausgestattet sind). Diese Differenzierungen sind notwendig, um die verschiedenen Grade der Transformation und Durchdringung von Kommunikationstechnologien und Alltag zu unterscheiden. Hjarvards Zugang bezieht seine Erklärkraft aus der Verbindung des offenen und flexiblen Konzepts der Mediatisierung mit heuristischer Mo‐ dellbildung. Andere Mediatisierungsstudien gehen demgegenüber stärker empirisch vor und zeigen zum Beispiel konkret, auf welchen Wegen das medial-vermittelte Hören von Musik mit dem Alltag und der Sozialisation Jugendlicher verbunden und verschränkt ist (Lepa & Guljamow 2017) oder wie die Repräsentation forensischer Praktiken im Fernsehen neue Akteure und Handlungslogiken im Arbeitsfeld der Forensik hervorbringt (Meitzler, Plewnia & Reichertz 2017). Andere Ergebnisse betreffen die Auswirkungen 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 43 des Microblogging-Diensts Twitter auf Formen der politischen Deliberation (Thimm, Anastasiadis & Einspänner-Pflock 2017) oder die Entstehung kom‐ merzieller Publikumssondierungen aus der algorithmischen und nicht-algo‐ rithmischen Verarbeitung von Daten (Wehner, Passoth & Sutter 2017). Mediatisierung als Forschungsperspektive liefert entsprechend einen theoretischen Rahmen für die Untersuchung und für das Verständnis der Art und Weise, wie medial-vermittelte Kommunikation die Dynamik, das Selbstverständnis, die Infrastrukturen und den Bedeutungshaushalt von Gesellschaften und Kulturen mitverändert. Medien werden dabei nicht deterministisch verstanden und als alleinige Bezugsgröße gesetzt, jedoch in ihrer zunehmenden und jeweils unterschiedlichen Prägekraft für menschli‐ ches Miteinander erkannt: „Die je verfügbaren und angeeigneten Medien nehmen Einfluss darauf, wie Menschen sich selbst und andere wahrnehmen und erleben (können), was und wie sie denken (können), wie sie miteinander kommunikativ in Beziehung treten (können)“ (Reißmann 2015a: 31). Auch Krotz (2007: 39) gibt zu bedenken, dass Mediatisierung in „ihrer jeweiligen Form immer auch zeit- und kulturgebunden“ ist und daher immer fallspezifisch untersucht werden muss. Derart allgemein gefasst verweist das Konzept aber in erster Linie auf einen Metaprozess, der als solcher empirisch nicht fassbar ist. Das Konzept fungiert gewissermaßen als wissenschaftliches wie auch alltägliches Narrativ, das uns eine Vorstellung davon gibt, „wonach wir in unserer Welterfahrung und empirischen For‐ schung ‚schauen‘ müssen“ (Hepp 2013: 47). Angesichts der rasanten quan‐ titativen Zunahme an vor allem digitalen Kommunikationstechnologien und Zugangsmöglichkeiten stellt sich dabei in erster Hinsicht die Frage, welche qualitativen Veränderungen der Wandel der Kommunikation mit sich bringt. Medien bzw. mediale Inhalte sind omnipräsent und durchdringen fast alle sozialen Bereiche und Beziehungen. Mediatisierungsforschung ‚schaut‘ also nach konkreten Wirkungszusammenhängen zwischen Technologien, Kommunikationsstrukturen und Gesellschaft. Sie verwehrt sich allerdings, diese Befunde unter allgemeine Theorien und Prinzipien zu stellen. 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 44 3.1.2 Kommunikativierung Nach Knoblauch (2017: 84) wird „das Soziale aus wechselseitigen Handlun‐ gen gebildet“ […], die Objektivierung erzeugen und im wechselseitigen Bezug auf die Objektivierung eine Welt teilen“. Doch nicht nur die objektive Welt wird im kommunikativen Miteinander gebildet, auch Identität und andere Formen der Subjektivierung entstehen dabei. Kommunikatives Han‐ deln ist Handeln, das intersubjektiv sinnhafte und materiale Fixierungen in Form von Wirkungen bzw. Folgen (auf die Außenwelt) und Erfahrungen (für die Innenwelt) zugleich hervorbringt. Es ist Knoblauchs Fokus auf die Reziprozität und Materialität sowie die Abkehr von der Sprachzentriertheit, die seinen Begriff kommunikativen Handelns von ähnlichen Konzepten, u. a. denen von Habermas, Berger & Luckmann und Searle, unterscheiden: „[Kommunikatives Handeln] bezeichnet das an Anderen orientierte körperliche Handeln, das im Vollzug für die Beteiligten etwas bedeutet, indem sie sich reziprok aufeinander und auf diesen Vollzug als einer Objektivierung orientieren. Das kommunikative Handeln ist also in eine Relation eingebettet und kann, einmal vollzogen, auch alleine ausgeführt und in das einsame Handeln, Denken und damit in alle Formen der Subjektivierung hineinwirken. In seiner Wieder‐ holung kann es zu Strukturen und in seinem Zusammenspiel zu Institutionen gerinnen, material objektiviert zu Gegenständen, Medien und Techniken sowie konventionalisiert zum sinnhaften Zeichen und damit zum Ausdruck von Kultur werden“ (Knoblauch 2017: 14) Für die Moderne konstatiert Knoblauch (2017: 372) eine Zunahme bzw. „Ubi‐ quität kommunikativen Handelns“, die er als Prozess der Kommunikativie‐ rung bezeichnet. Dieser kann als Erweiterung des Mediatisierungsprozesses verstanden werden (während die allgemeine Theorie des kommunikativen Konstruktivismus den Mediatisierungsbegriff wiederum miteinschließt, vgl. Knoblauch 2018). Mit dem Begriff der Kommunikativierung sollen die jüngsten Entwicklungen, genauer: die kommunikative Refiguration der Moderne erfasst werden. Die damit einhergehende Ausrufung der „Kom‐ munikationsgesellschaft“ wiederum soll nach Knoblauch aber keine neue Epoche einleiten, sondern stelle lediglich eine „Diagnose im Rahmen eines laufenden Prozesses der Umgestaltung“ dar (ebd.: 391). Die Kommunikati‐ onsgesellschaft basiere auf einer Ausweitung der Kommunikationskultur, dem „Gesamt der verschiedenen kommunikativen Formen, die in einer Ge‐ sellschaft vorherrscht“ (ebd.: 326). Mit Ausweitung ist jedoch nicht nur eine 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 45 quantitative Zunahme im engen Sinne gemeint - vielmehr habe sich mit dem Prozess der Kommunikativierung die Rolle der Kommunikation innerhalb der Gesellschaft insgesamt verschoben - sie sei nicht mehr nur Sinnlieferant, bloße ‚Drapage‘ der ‚harten‘ Strukturen materialer politischer, wirtschaft‐ licher oder wissenschaftlicher Realitäten, sondern werde zum „zentralen gesellschaftlichen Prozess“ (ebd.: 328). Den Katalysator für die zunehmende Bedeutung und Strukturierungspotenz kommunikativen Handelns sieht Knoblauch in der digitalen, interaktiven Mediatisierung. Diese docke an eine Entwicklung an, die bereits mit der Entgrenzung und Erweiterung sozialer Beziehungen im Rahmen der Globalisierung sowie der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche in der Moderne begonnen habe: die zuneh‐ mende Notwendigkeit der Vermittlung und der Explizierung von Wissen durch Kommunikation. War Wissen ehemals stark standardisiert, überwie‐ gend auf einen vergleichsweise geringen und homogenen Adressatenkreis beschränkt und implizit in Institutionen, Architekturen oder Leib-Körpern verankert, so muss das immer spezialisiertere und an diversifizierte Kreise gerichtete Wissen der Moderne nunmehr immer stärker explizit „nach außen legitimiert werden“ (ebd.: 335). Mit Einzug der digitalen Medien finde nun eine Intensivierung genau jener Entwicklungen statt. Technik bzw. Technologien basieren zuneh‐ mend auf Digitalisierung, sprich auf Zeichen in Form von Binärcodes. Technisch-vermitteltes Handeln, also Interaktion (zwischen Menschen oder Menschen und Dingen) sowie Intraaktion (zwischen Dingen) sei daher immer öfter zugleich kommunikatives Handeln und werde in zeichenhafte Objektivationen überführt. Die Intensivierung und Verstetigung des kom‐ munikativen Handelns führe dazu, dass diese Bedeutung erhält und Auswir‐ kungen hat weit über das mediale System bzw. die Massenmedien hinaus: „Durch die neue Mediatisierung kann kommunikatives Handeln erkennbar selbst Produkte erzeugen, Dienstleistungen vollziehen, Strukturen schaffen und grundlegende soziale Unterschiede und Zugehörigkeiten ausbilden“ (ebd.: 340/ 341). Kommunikation wird nach Knoblauch aber auch deshalb zunehmend be‐ deutsam und ubiquitär, weil sie Erzeuger wie auch Produkt von Transloka‐ lisierungs-Prozessen ist, also der räumlichen Entbettung von Wirkhandeln über mediatisierte Zeichen(handlungen) (vgl. ebd.: 370 f.). Vermittelte zei‐ chenhafte Objektivationen machen es möglich, die leibkörperliche Präsenz zu transzendieren (nicht zu nivellieren) und auch darüber hinaus in Kontakt bzw. reziproken kommunikativen Austausch zu treten. Auf diese Weise 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 46 werden neue gemeinsame Wirkräume geschaffen, in denen Welt bearbeitet und verarbeitet wird (in denen Einfluss genommen wird), die nicht mit dem lokalen Präsenzraum der jeweiligen Akteure zusammenfallen. Menschen knüpfen soziale Beziehungen, tauschen Waren aus, steuern oder vollziehen gemeinsam oder allein bestimmte Praktiken (Abwaschen per Fernbedie‐ nung des Geschirrspülers, Online-Vorlesungen oder Strategiespiele) ohne anwesend zu sein, indem alles „in Zeichen verwandelt“ (ebd.: 367) und digital-vermittelt einander in Echtzeit zugänglich gemacht wird. Kommunikation in Echtzeit ist für Knoblauch ein weiteres Merkmal der Kommunikativierung und verweist auf deren Folgen für die zeitlichen Strukturen kommunikativen Handelns. Die Transtemporalisierung, wie man die Veränderungen dieser Strukturen in Anlehnung an den Begriff der Translokalisierung nennen könnte, besteht unter anderem in der obenge‐ nannten medial-vermittelten Echtzeit, in neuen Formen der Synchronisie‐ rung von Handlungen (die wiederum der Echtzeit und der Vernetzung über räumliche Grenzen hinweg bedarf) sowie der zeitlichen Entbettung von Wissen, Information und Kommunikation und ihrer beschleunigten Ver‐ breitung. Die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart verliert dabei im digitalen und kommunikativen ‚Speichergedächtnis‘ zunehmend an Bedeutung. Durch seine Translokalisierung und Transtemporalisierung im Zuge der Kommunikativierung ist kommunikatives Handeln also nicht weiter „beschränkt […] auf besondere Orte und besondere Zeiten oder gar besondere Einrichtungen“ (ebd.: 372). Gegenüber dem Mediatisierungskonzept betont das Konzept der Kom‐ munikativierung vor allem drei Aspekte, die für den in dieser Arbeit untersuchten Forschungsgegenstand von Wichtigkeit sind: ▸ Die Kommunikativierungsperspektive legt einen Fokus auf die Ob‐ jektivierungsprozesse von kommunikativem Handeln, insbesondere hinsichtlich a) dessen Materialität bzw. Wirkmächtigkeit und b) der Performativität und Gestalthaftigkeit von unterschiedlichen Zeichen‐ systemen. Kommunikatives Handeln lässt Strukturen entstehen, die sich in dauerhaften Institutionen und Konventionen niederschlagen können und bringt, je nach Beschaffenheit der beteiligten Zeichen‐ konstituenten, situativ unterschiedliche Wirklichkeiten hervor. ▸ Damit einher geht die Beobachtung, dass Subjektivierung zwar nicht an die Präsenz des Körpers gebunden ist. Sie bleibt aber ein auf Performanzen und Materialisierungen basierendes und damit sinn‐ 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 47 lich-affektiv geprägtes Ergebnis intersubjektiven (oder interobjekti‐ ven) Austauschs. ▸ Die Einfassung jeglichen Handelns in Zeichensysteme durch Digi‐ talisierungsprozesse sorgt schließlich für einen neuen Stellenwert kommunikativen Handelns in der bzw. den Gesellschaften. Kommuni‐ katives Handeln erlangt den Status ubiquitärer Produktivität, sprich: Kommunikation wird aufgrund immer höherer Interdependenzen und zunehmender weltgesellschaftlicher Komplexität einerseits im‐ mer unerlässlicher, andererseits wird mittlerweile auch das Meiste in digitale Kommunikationsprozesse umgewandelt. Kommunikatives Handeln durchzieht und wirkt sich also auf alle Lebensbereiche aus, insbesondere, wenn diese digital konstituiert oder vernetzt sind. 3.1.3 Singularisierung Eine aktuelle Zeitdiagnose, die sich selbst nicht im Rahmen des Meta‐ prozesses der Mediatisierung verortet, aber durchaus einer ähnlichen Fra‐ gestellung folgt, stellt Reckwitz Singularisierungstheorie dar. Allgemein verstanden beschreibt die Singularisierungstheorie einen Kulturwandel, der sich durch die immer stärkere Akzentuierung von Besonderheit und damit einhergehend durch eine Vervielfältigung sozialer Praktiken der Besonderung auszeichnet. In diesen Praktiken wird nach Reckwitz gezielt „Einzigartig‐ keit“ hervorgebracht. Einzigartig ist dann das, was im Rahmen bestimmter sozialer Geltungslogiken als einzigartig „wahrgenommen und bewertet, fabriziert und behandelt“ wird (Reckwitz 2017: 15). Der grundlegende Wandel, den Reckwitz konstatiert, ist also jener der Kriterien sozialer Wertigkeit: orientierten sich die Menschen in der ratio‐ nalen Moderne noch an der Basisdifferenz ‚normal / unnormal‘ - wobei normal gut und unnormal schlecht war -, verlaufe die Trennlinie heute zwischen dem Sakralen bzw. dem Besonderem als positivem und dem Profa‐ nem bzw. Allgemeinen als negativem Orientierungshorizont. Einen weiteren Unterschied zwischen Moderne und Spätmoderne sieht Reckwitz darin, dass Wertigkeit nicht mehr nach Funktionalität, sondern nach empfundenem Eigenwert attestiert werde. Die Zuschreibung von Einzigartigkeit und Affektintensität stünden dabei in enger zirkulärer Wechselwirkung: was als besonders und wert‐ voll wahrgenommen werde, würde starke Gefühle hervorrufen und was starke Gefühle hervorruft, würde wiederum als besonders und wertvoll 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 48 wahrgenommen werden. Den „grundlegenden Prozess des Zuschreibens und Absprechens von Wert, in dem zertifiziert wird, was überhaupt als Einzigartigkeit und als Kultureinheit zählt“ bezeichnet Reckwitz (2017: 78) als Valorisierung. Reckwitz konstatiert dabei eine Zunahme solcher Valorisierungen, weswegen im Verlauf der Spätmoderne zunehmend mehr „herausgehobene Inseln“ (ebd.: 77) im Gesamt der Kultur entstünden - die Zunahme der Valorisierungen, d. h. der Zuschreibungen von Einzigartigkeit, bezeichnet er wiederum als Prozess der Kulturalisierung. Kulturalisierung kann als „Antwort auf Sinn- und Motivationsprobleme“ (ebd.: 86) verstanden werden - in Singularitäten bzw. den ‚herausgehobenen Inseln‘ manifestiert sich gewissermaßen das Warum des sozialen Miteinan‐ ders. Was erachten Menschen als erstrebenswert, was macht für sie ihr Leben lebenswert? Kulturalisierung als Prozess stellt also letztlich den Kulminationspunkt wie auch die Quelle dessen dar, was Charles Taylor (1986) starke Wertungen nennt oder was sich bei Rosa (2016) als individuelle moralische Landkarten niederschlägt. Interessant für die vorliegende Untersuchung im Speziellen und den Phänomenbereich digitaler Kommunikation im Allgemeinen ist nun, dass Reckwitz der Computerisierung, Digitalisierung und Vernetzung kommuni‐ kativer Prozesse einen großen Anteil an der Durchsetzung kulturalisieren‐ der bzw. singularisierender Praktiken und Strukturen in der Spätmoderne at‐ testiert: Das Netz sei ein „Generator der gesellschaftlichen Kulturalisierung und Affektintensivierung“ (Reckwitz 2017: 227). Die digitalen Technologien bildeten in der Summe eine „Kulturmaschine“ (ebd.), die eben nicht nur rein kognitiv-rationale Effekte produziere, indem sie uns mit Informationen versorge und neue Möglichkeitskorridore eröffne, sondern sorge in erster Linie für eine Bespielung der Gefühlsklaviatur der Menschen: sie befriedige ästhetische Bedürfnisse des Fühlens, Wahrnehmens und Teilhabens, so Reckwitz. Diese Erfahrungs- und Erlebnishorizonte finden nach Reckwitz wiederum innerhalb eines ganz bestimmten Rahmens statt, nämlich jenem von Per‐ formance und Publikum. Damit ist eine besondere Form des Produzierens und des Konsumierens gemeint, die sich als ostentatives Darbieten (bzw. Inszenieren) und Dargeboten-Bekommen beschreiben lassen. Das führe dazu, dass die Anzahl der Kulturprodukte zunimmt und diese sich entlang einer Steigerungslogik entwickeln, um überhaupt noch gesehen zu werden und voneinander unterscheidbar zu bleiben. 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 49 Diese Ökonomie der Aufmerksamkeit ist nach Reckwitz aber nur eines von fünf Merkmalen, welche die Kultur der digitalen Medien von den vorange‐ gangen medialen Strukturen der Moderne und Vormoderne unterscheidet. Hinzu komme eine Enthierarchisierung der Kulturformate (ebd.: 240), d. h. die Nivellierung normativ-kategorialer Unterscheidungen zwischen Hoch- und Trivialkultur (bzw. Massen- und Populärkultur). Dies ist in nicht geringem Ausmaße auf neue Techniken und Praktiken der Rekombination zurückzuführen, d. h. der Verknüpfung unterschiedlichster Inhalte, die im Netz nun in großer Zahl frei verfügbar sind. Zu einer solchen „Kultur der Rekombination“ (ebd.: 242) würde es aber gar nicht erst kommen, wenn sich nicht auch die Herstellungsprozesse grundlegend verändert hätten, die sich, wie bereits erwähnt, hin zu einer Prosumentenstruktur entdifferenziert haben. Eine solche kollaborative Arbeitsteilung habe nicht zuletzt auch den Effekt einer zunehmenden Diffusion von Zeitlichkeit: digitale Kultur und Kommunikation breiteten und weiteten sich temporal aus, sie fänden nicht mehr nur punktuell statt, sondern jederzeit. Diese Momentanisierung des Lebens führe die Nutzenden in einen „Zustand des Dauererlebens“ (ebd.: 237). Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen, aber auch dem vorange‐ stellten Befund der zunehmenden Durchdringung von digitalen Medien und Alltag, erhält die These Plausibilität, dass Technik „vom Werkzeug zur Umwelt“ (ebd.: 237) werde - Menschen nutzen Technik nicht mehr einfach nur situativ und funktional, sondern leben in bzw. mit ihr. Reckwitz‘ Theorie ist insofern nicht ganz neu, als viele der Versatzstücke sich in vorangegangenen Zeitdiagnosen wiederfinden lassen, teils mit Bezug auf digitale Medien, teils ohne. Zu nennen sind u.a. die Kultur der Performa‐ tivität (Fischer-Lichte 2004), Erleben als Orientierungsprinzip spätmodernen Handelns und Denkens (Schulze 1995, Simanowski 2016), das Aufkommen von Prosumenten-Märkten (Toffler 1981) und Aufmerksamkeitsökonomien (Franck 2007) oder die Entwicklung einer „participatory culture“ ( Jenkins 2006) im Web 2.0 (O’Reilley 2005). Das Aufkommen einer Massenkultur und ihre Auswirkungen auf den oder die Einzelne und ihr Tun beschrieb bereits Georg Simmel (1995) in ganz ähnlicher Weise. Lediglich bei der Betonung der Affektintensivierung und des Spieleri‐ schen handelt es sich um Akzentuierungen von Aspekten, die in der bis‐ herigen einschlägigen Forschungslandschaft eher unterrepräsentiert sind. Teile dessen, was Reckwitz mit seinem weiten Begriff der Ludifizierung zu fassen sucht, finden sich in Studien zur Gamification wieder (vgl. McGonigal 2012, Stampfl 2012) oder in Untersuchungen zur Einbindung 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 50 von ‚Sprachspielen‘ und Maskerade in Formen digitaler Kommunikation (vgl. Deumert 2014a, Holze & Verständig 2014). Affektkulturen im digitalen Raum sind hingegen fast gänzlich unerforscht. Zar haben sich manche Studien Fragen des romantischen Beziehungsaufbaus (Hahn 2014, Dröge 2013, Dombrowski 2011) oder der institutionell-diskursiven Produktion von Emotionalität (Karatzogianni & Kuntsman 2012) gewidmet. Im Rahmen von Sentiment-Analysen wird oft auch versucht, Hate-Speech zu identifizieren (Amarasekara & Grant 2019). Die alltägliche kommunikative Vermittlung und Herstellung von Gefühlen im digitalen Raum fand bislang aber kaum Beachtung (vgl. Barth 2016, Oswald 2018). Reckwitz‘ Theorie ist also inso‐ fern äußerst instruktiv, als sie die einzelnen Beobachtungen und Befunde bündelt und integriert, um neue Aspekte aus dem Bereich des Affektiven erweitert, und in einen Gesamtzusammenhang mit der Struktur digitaler Medien und digitaler Kommunikation stellt. 3.1.4 Visualisierung Eine vermeintlich nebensächliche Charakteristik digitaler Kultur und Kom‐ munikation erwähnt Reckwitz nur nebenbei in einem kurzen Absatz: „Bilder, vor allem in Form von Fotografien und Videos, sind ein primärer medialer Träger, der im Internet kreiert, dort zirkuliert und betrachtet wird. Die digitale Kultur ist in erheblichem Maße eine Kultur der Visualität“ (2017: 235). Bildkommunikation hat mit dem Beginn der digitalen Wende und insbe‐ sondere mit dem Web 2.0 erheblich zugenommen, so dass man, analog zur Mediatisierung, Kommunikativierung und Singularisierung von einem Prozess der Visualisierung sprechen kann (vgl. Krotz 2015). Im Gegensatz zu den ersten drei Prozessen wurde der Prozess der Visualisierung noch in keinem umfassenden Konzept ausgearbeitet. Anders gesagt: Noch hat nie‐ mand die ‚Gesellschaft der Bilder‘ ausgerufen. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Bilder immer schon Teil menschlicher Kommunikation waren, ja die Schrift im Grunde genommen erst aus Bildzeichen, der Piktographie, hervorging. Der Anteil von Bildern an menschlicher Kommunikation ist kontinuierlich gestiegen, in letzter Zeit vermutlich eher exponentiell als linear - die Geschichte der Bildkommunikation ist aber dennoch keine Geschichte großer Brüche, wie sie etwa die Konzepte der Singularisierung oder Kommunikativierung erzählen - erst recht, wenn man zur visuellen Kultur nicht nur Bilder im klassischen Sinne zählt, sondern alle kulturellen 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 51 Produkte, die den visuellen Sinn im Besonderen ansprechen, von Statuen und Architektur über das Kino bis hin zu Produktdesign und Virtual-Rea‐ lity-Technologien (vgl. Prinz 2014). Bilder werden nicht erst im 20. Jahrhundert erfunden und sind demnach auch kein Produkt soziostruktureller Umbrüche. Dennoch können der Zuwachs sowie Form- und Funktionswandel von Bildkommunikation als Reaktion auf solche Veränderungen interpretiert werden. Schon vor der digitalen Wende wurde, etwa durch erschwingliche Polaroid- und Panaso‐ nic-Kameras, die Bildkommunikation entprofessionalisiert und der breiten Masse zugänglich gemacht. Erst mit dem Aufkommen und der Verbreitung von Digitalkameras und dem Web 2.0 war es aber (ohne Folgekosten) mög‐ lich, nicht nur eine beinahe unbegrenzte Menge an Bildern zu produzieren, sondern diese auch über die Grenzen des eigenen Nahbereichs hinweg öffentlich zu verbreiten. In den Anfängen des Web 2.0 überwog jedoch noch immer die private Kommunikation bzw. die Kommunikation ohne oder mit nur sehr beschränktem Publikum. Vor allem das Aufkommen der sozialen Netzwerkseiten ließ die Nutzenden sich von der dyadischen bzw. gruppenbezogenen Kommunikation ab- und einer öffentlich-publikumsori‐ entierten Kommunikation zuwenden. Erst jetzt verloren die Massenmedien nicht nur ihr Monopol auf die Produktion von Bildern, sondern auch das an öffentlicher Sichtbarkeit. Eine weitere Veränderung betrifft Form und Inhalt von Bilderzeugnissen. Mit dem Aufkommen neuer Technologien - und in jüngster Zeit insbeson‐ dere mit Foto- und Video-Apps - sind neue Formen des Bildhandelns aufgekommen. Das Wie und die technischen Rahmen, in denen Bilder entstehen und gezeigt werden, haben sich in einem Maße erweitert, dass nur schwerlich von einer bloßen Erweiterung des bereits Dagewesenem die Rede sein kann. Unter diese formalen Innovationen des Bildhandelns fallen bspw. das Selfie in all seinen Variationen, Vines (ca. 7-sekündige Kurzclips), Memes, Gifs, Boomerang-Bilder (1-sekündige Mini-Bewegtbilder in Dauerschleife), Emojis und Piktogramme, Snapchat-Filter oder eben Instagram-Fotos, die im Fokus dieser Arbeit stehen und deren Spezifik noch eingehend dargestellt werden wird. Ganz im Gegensatz zu den formalen Innovationen scheint, je nachdem wie eng oder weit man Entwicklungszusammenhänge und Familienähnlich‐ keiten definiert, inhaltlich nichts genuin Neues hinzugekommen. Noch immer finden wir Bilderzeugnisse, die in erster Linie humorvollen und unterhaltsamen Inhalt bieten und dem Erleben, der Zerstreuung und der 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 52 2 Man kann darüber diskutieren, ob sogenannte virale Challenges (wie bspw. die Ice-Bu‐ cket-Challenge) eine genuin neue inhaltliche Schlagrichtung darstellen, die es vor dem Web 2.0 so noch nicht gab, oder ob es sich nur um eine intensivierte Form von Mutproben oder politischer Teilnahme handelt. Immersion dienen. Wir finden weiterhin politische Ikonografie, alltägliche Selbstthematisierung, Werbefotografien, Tutorials, die Darstellung von All‐ tagsbanalitäten, selbstgemachte Musikvideos, abstrakte Kunst uvm. 2 Dabei haben sich allerdings die Schwerpunkte verschoben. Während vor dem Aufkommen von Amateurfotografie und -film Werbung (sprich Wirtschaft), Politik und Unterhaltungsindustrie zumeist allgemein-relevante Inhalte und Themenschwerpunkte in den Massenmedien setzten, rückte danach insbesondere die persönliche Lebenswelt der Menschen in den Fokus. Do‐ minierten damals noch Aufzeichnungen besonderer Ereignisse, die zumeist im Rahmen einer Gruppe stattfanden - z. B. Hochzeitsfeiern, Familienaus‐ flüge, Silvesterpartys, Urlaube etc. -, so sind es mittlerweile verstärkt auch alltäglich-profane Situationen (wie etwa das Zubereiten eines Smoothies in der Küche), die Thema des Bildhandelns werden und nicht selten sind es die Akteure selbst, die sich bzw. ihre Persona (unabhängig von einer Gruppe oder eines kollektiven Ereignisses) im Netz darstellen und thematisieren (vgl. Reißmann 2015b). Dies alles sind aber in erster Linie Punkte, die in ähnlicher Weise auch auf den Wandel schriftbasierter Kommunikation zutreffen. Damit ist also erstmal noch nichts über den spezifischen Stellenwert von Bildzeichen im „kommunikativen Haushalt“ (vgl. Luckmann 2002) spätmoderner Gesell‐ schaften ausgesagt. Es lässt sich über diese allgemeinen Veränderungen hinaus aber auch eine Aufwertung bildbasierter Kommunikation feststellen. Diese liegt vor allem in einer veränderten Bildpraxis begründet: Bilder werden nicht mehr nur eingesetzt, um sie zu zeigen, zu rezipieren und zu kommentieren, sondern auch um mit ihnen in einen Dialog zu treten. Anders ausgedrückt: Das Reden über Bilder wird zunehmend vom Reden mit Bildern abgelöst - eine Art des alltäglichen kommunikativen Austauschs, die vor der Digitalisierung des Bildes nicht existierte, da sie viel zu aufwendig und zu ineffizient war. Die Rolle des Bildes wechselt gewissermaßen: vom Aufhänger, Stichwortgeber oder Redestimulus wird es zum Mittel des Austauschs (vgl. Lobinger 2015, Lobinger & Schreiber 2017). So haben sich mit Messenger-Apps wie WhatsApp Formen des wechselseitigen Dialogs 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 53 (oder der Gruppenkommunikation) etabliert, die ausschließlich auf Bilder, Gifs und / oder Emojis zurückgreifen (vgl. Pappert 2018). Bild-exklusive Kommunikation ist aber immer noch selten und auf bestimmte Kommunikations(platt-)formen begrenzt. Wesentlich prävalen‐ ter ist die Verschiebung der Zeichenrelationen im Bereich multimodaler Kommunikation. Mit Multimodalität ist die Kombination unterschiedlicher Zeichenmodalitäten gemeint, also bspw. die Verknüpfung von Bild- und Textelementen auf sozialen Netzwerkseiten oder das Zusammenspiel von Sprache, Musik und Bewegtbild in Videos (vgl. Klug & Stöckl 2016). Digitale Kommunikation ist ganz wesentlich von Multimodalität geprägt, wobei den Bildelementen dabei eine zunehmend größere Bedeutung jenseits der reinen Illustration zukommt. Die Visualisierung der digitalen Alltagskommunikation scheint insbe‐ sondere zu drei Entwicklungstendenzen beizutragen: der Affektintensivie‐ rung, der Ludifizierung, sowie der Selbstthematisierung. Nachrichten, die bspw. über den WhatsApp-Messenger geteilt werden - der derzeit am weitesten verbreiteten Messenger-App (nicht nur räumlich, sondern auch demografisch, vgl. DataReportal 2019, Frees & Koch 2018) - nehmen oft eine theatralische Form an (vgl. König & Hector 2017, Arens 2014). Mittel der Wahl hierfür sind die plattforminternen, in großer Vielfalt vorhande‐ nen Bildzeichen, von Emojis bis hin zu Piktogrammen, und die von den Nutzenden selbst aufgenommenen Fotografien (vgl. Dürscheid & Frick 2014). Lebendigkeit bzw. Expressivität und Wahrnehmungsnähe sind dabei die situativ relevanten Eigenschaften der Bildzeichen, welche primär im Dienste eines Eindrucks- und Beziehungsmanagements eingesetzt werden. Fotografien und Emojis sollen bestimmte Stimmungen zu erzeugen, die Beziehung zum Gegenüber verdeutlichen, Eigenschaften der eigenen Person in Szene setzen und ein Gefühl der Teilnahme (und damit eine bestimmte Form der Beziehung) herstellen. Nicht etwa Sinn oder Information, sondern der Affekt bzw. die Emotion fungiert hier als Transmissionsriemen der wechselseitigen Verständigung. Dadurch entstehen kommunikative Räume, die man mit Deumert (2014b) als Drittorte bezeichnen kann, in denen ein „exuberant and transgressive spirit“ (ebd.: 37) geschaffen und Außeralltäglichkeit inszeniert wird. Nicht selten nehmen die Interaktionen in diesen Räumen eine ludische Form an. Die Nutzenden spielen mit Sprache und Formaten, spielen mit virtuellen Masken und Identitäten, spielen mit Regeln, Normen und Erwartungen. Dies geschieht im Rahmen eines Austauschs, der Freiwilligkeit und Unbeschwert‐ 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 54 heit betont und positive Affekte kultiviert. Holze und Verständig sprechen daher nicht nur im Hinblick auf die Zunahme von Trends wie Gamification und die Popularität von Spielen im Internet, sondern insbesondere auch bezogen auf den kommunikativen Stil, der auf Kommunikationsplattformen wie Twitter gepflegt wird, von einer „Ludifizierung des Sozialen“ (2014: 154). Mit dem Fortschreiten halten zudem neue Formen der Selbstthematisie‐ rung Einzug in den alltäglichen kommunikativen Austausch, die in erster Linie körperzentriert und darstellend-publikumsorientiert sind. Insofern kön‐ nen sie als Fortführung dessen beschrieben werden, was Schroer schon vor mehr als 10 Jahren expressive Akte der Selbstthematisierung nannte. Die überwiegend nach innen gerichtete Praxis der Selbstreflexion weiche, so Schroer, im Übergang von der Moderne zur Postmoderne, der nach außen gerichteten Selbstdarstellung, deren Funktion es ist, die „Aufmerksamkeit der anderen zu erlangen und die anderen zur Beschäftigung mit dem eigenen Selbst zu motivieren“ (Schroer 2006: 63). Reißmann (2015) zweifelt an, dass es sich hierbei um wirklich neue Formen der Selbstthematisierung handelt. Stattdessen sei mit „der Allgegenwärtigkeit und Sedimentierung des bildlich repräsentierten Körpers in (teil-)öffentlichen Interaktionsumgebungen […] eine neue Intensität und Konstanz ästhetischer Selbstbegegnung erreicht“ (ebd.: 300). Dabei sind durchaus auch neue Formate entstanden, die es dem Selbst erlauben, sich in ganz neue mediale Rahmen zu fassen und darin zu begegnen, etwa das Selfie (Saltz 2015) oder die Ich-Figuration in digitalen Bilderreihen (Müller 2016). 3.1.5 Zwischenfazit Ziel dieses Kapitels war es, unterschiedliche Befunde zu bündeln, die den makrostrukturellen Wandel alltäglicher Kommunikation im Zuge der Digitalisierung beschreiben. Das Mediatisierungskonzept versteht das Ver‐ hältnis von Gesellschaft, Kultur und Medien als ein Durchdringungs- und Verflechtungsverhältnis und untersucht sozialen Wandel in seinen variaten Ausprägungen und Bezügen innerhalb dieses Verhältnisses. Dabei muss aber beachtet werden, dass es sich beim Mediatisierungskonzept mehr um eine Forschungsperspektive als um eine konkrete Theorie handelt und Mediatisierung als Prozess in seinen empirischen Ausprägungen immer fallspezifisch untersucht und konkretisiert werden muss. Das Konzept der Kommunikativierung knüpft an das Mediatisierungs‐ konzept an und differenziert es, indem es digital-mediatisiertes kommuni‐ 3.1 Großtheorien zum digitalen Wandel 55 katives Handeln als zentrales gesellschaftskonstituierendes Moment der Spätmoderne beschreibt. Digitalisierung wird im Rahmen des Kommunika‐ tivierungskonzepts vor allem als Zeichentransformation bzw. Übersetzung nicht-zeichenhafter Prozesse und Dinge in zeichenhafte beschrieben. Da‐ durch wird Kommunikation ubiquitär: Sie konstituiert das Gros sozialer Praktiken und leitet es an; technisch vermittelte Kommunikation eröffnet zudem neue Raum- und Zeithorizonte, indem sie Inter- und Intraaktionen räumlich und zeitlich entgrenzt. Das Konzept der Singularisierung knüpft implizit an diese Befunde an und konstatiert die Kulturalisierung bzw. Zunahme von Valorisierungen als zentrales Prinzip der Spätmoderne. Dieser Prozess ist in erster Linie auf die Verbreitung und Sichtbarmachung kultureller Einheiten durch digital-medi‐ atisierte Kommunikation angewiesen. Dabei zeitigt digitale Kommunikation einige neue Entwicklungen, etwa die Entstehung einer Ökonomie der Auf‐ merksamkeit und die Momentanisierung der Kommunikation (vgl. Reckwitz 238 ff.). Als Kulminationspunkt dieser Entwicklungen wird schließlich die soziale Geltungslogik der Einzigartigkeit veranschlagt. Auslöser aber auch Konsequenz dieser neuen Strukturen ist die Zunahme visueller Alltagskommunikation. Bilder als wahrnehmungsnahe, schnell erfassbares Zeichen, die mithilfe von Smartphonekamera und Apps leicht produziert und geteilt werden können, haben maßgeblichen Anteil an Mediatisierungs-, Kommunikativierungs- und Singularisierungsprozessen. Bildbasierte Kommunikation verändert dabei schleichend, aber merklich den Kommunikationsstil: charakteristisch für bildbasierte Kommunikation ist ihre Affektbetontheit, ihre ludische Rahmung und der Fokus auf expressiver Selbstthematisierung. Viele der hier beschriebenen Entwicklungen und Tendenzen setzen sich auch auf meso- und mikrostruktureller Ebene fort und differenzieren sich aus, wie in den folgenden Kapiteln ausgeführt werden wird. 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 3.2.1 Gemeinschaft als analytisches Konzept Unter Vergemeinschaftung kann ganz allgemein der Prozess der Entstehung von gemeinschaftlichen Strukturen oder kurz: von Gemeinschaft verstan‐ den werden (vgl. Hepp & Hitzler 2014: 39 Fn). Gemeinschaft wiederum 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 56 ist ein innerhalb der Sozialwissenschaften recht schillernder Begriff, um dessen Definition gestritten wurde und noch immer wird. Ausgangspunkt ist die Ende des 19. Jhd. von Ferdinand Tönnies geprägte Unterscheidung zwischen Gemeinschaft als „reales oder organisches Leben“ und Gesellschaft als „ideelle und mechanische Bildung“ (Tönnies 1972: 3). Für Tönnies ist Gemeinschaft geprägt durch Unmittelbarkeit, Solidarität und affektuelle Wärme. Sinnbildlich hierfür stehen die Familie und das Dorf. Gemeinschaft stellt in dieser Sicht den Gegenentwurf zur Gesellschaft dar. Gesellschaft beruht auf dem „Kürwillen“, der sich in rein formalen, egoistisch-kühlen (weil rational begründeten) Beziehungen wie dem Vertrag und dem Interes‐ senbündnis niederschlägt. Gemeinschaft hingegen werde zusammengehal‐ ten durch den „Wesenswillen“, durch das „Gewachsene, Organische und Traditionale“ (Knoblauch 2008: 76). Setzt man Tönnies Gemeinschafts-Begriff voraus, ist es vor allem das Axiom der räumlichen Nähe und Vertrautheit, welches eine Übertragung auf den digitalen Raum schwer, wenn nicht gar unmöglich macht. Können also keine zwischenmenschlichen Nahverhältnisse entstehen, wenn Menschen zwar medial vermittelt, aber räumlich distanziert zueinander in Kontakt treten? Max Webers Begriff der Gemeinschaft ist weniger spezifisch und erweist sich daher als anschlussfähiger für medial-vermittelte Sozialformen: „Vergemeinschaftung soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns - im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus - auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. […] Erst wenn [Menschen] auf Grund dieses Gefühls ihr Verhalten irgendwie aneinander orientieren, entsteht eine soziale Beziehung zwischen ihnen […] - und erst, soweit diese eine gefühlte Zusammengehörigkeit dokumentiert, ‚Gemeinschaft‘“ (Weber 2010: 29 ff., Hvh. i. O.). Im Gegensatz zu Tönnies denkt Weber den Begriff bzw. das Phänomen der Gemeinschaft unabhängig vom Kriterium der Lokalität bzw. Nähe und betont stattdessen das Zusammengehörigkeitsgefühl (vgl. Hepp 2013: 93 f). Bei Weber erscheint Gemeinschaft als Verdichtung von aneinander orientiertem Handeln, das keiner direkten Interaktion bedarf, sondern symbolisch-affektuell vermittelt ist. Räumlichkeit spielte also bei Weber keine so entscheidende Rolle mehr. Die schon von Tönnies ins Spiel gebrachten Emotionen übernehmen bei ihm eine Art Brückenfunktion. Wenn räumliche Nähe nun aber doch kein ent‐ 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 57 scheidendes Kriterium für Vergemeinschaftung ist, stellt sich umgekehrt die Frage, ob in diesem Fall kein Unterschied besteht zwischen Gemeinschaften, die unter Bedingungen der Kopräsenz gestiftet werden und solchen, die medial-vermittelt bzw. über räumliche Distanzen hinweg entstehen und aufrechterhalten werden. Hepp sieht den Unterschied im Übergang von territorialen zu deterrito‐ rialen kulturellen Verdichtungen (vgl. ebd. 2013: 100 ff.). Während erstere sich als Amalgam aus ethnischen, thematisch-popkulturellen, politischen und religiösen Sinnorientierungen zusammensetzen, sind deterritoriale Verge‐ meinschaftungen ‚eklektizistischer‘ verfasst: die eben genannten Aspekte werden getrennt voneinander kultiviert und stehen in keiner so engen Abhängigkeit mehr zueinander. Hybrid sind deterritoriale Vergemeinschaf‐ tungsprozesse auch in dem Sinne, dass sich in ihnen territoriale Identifika‐ tionen (bspw. als Bremer) mit deterritorialen (als Anhänger einer globalen Manga-Fan-Kultur) überschneiden. Kurz gesagt: Gemeinschaftliche Sinn‐ orientierungen unter den Bedingungen der Kopräsenz sind homogener und geschlossener, medial-vermittelte sind fragmentierter und offener. Für Hubert Knoblauch hingegen besteht der Unterschied primär im Wechsel von Wissenszu Kommunikationsgemeinschaften. Lokale Gemein‐ schaften konstituierten sich über einen Fundus „geteilten und weitgehend unausgesprochenen, sedimentierten, habitualisierten und routinierten Wis‐ sens“ als Wissensgemeinschaften (2008: 84). Demgegenüber stehen Kommu‐ nikationsgemeinschaften, die sich primär innerhalb immer stärker ausdiffe‐ renzierter und mediatisierter Gesellschaftsstrukturen entwickelten: „Gerade im Zusammenhang mit der mittelbaren Kommunikation erscheint der Begriff der Kommunikationsgemeinschaft sehr passend, weil hier Kommunika‐ tion sozusagen in reinster Form konstitutiv für Gemeinschaft ist: Die Zugehörig‐ keit zur Gemeinschaft wird wesentlich durch vorgängige und parallele Kommu‐ nikation geleistet - und zwar weitgehend ausschließlich durch Kommunikation und nicht durch Tradition und Wissen“ (2008: 86). Kommunikationsgemeinschaften fangen den Mangel an Tradition und ge‐ teiltem Wissen durch Verhandlung, Explizierung und Inszenierung auf. Sie sind geschwätzig (ebd.: 84) und müssen dies auch sein, da immer weniger ‚vorausgesetzt‘ und immer mehr ausgehandelt bzw. reflexiv ver‐ fügbar gemacht werden muss. Sinnfragmentierung und Kommunikationsin‐ tensivierung können, so das Kurzresümee, als sich wechselseitig bedingende Grundkonstituenten translokaler Vergemeinschaftung betrachtet werden. 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 58 3 Auch Knoblauch (2008: 86) kritisiert den Begriff des posttraditionalen hinsichtlich seiner irreführenden Assoziationen: So seien Gemeinschaften nie ‚traditionslos‘: „Phä‐ nomenologisch handeln Menschen immer vor dem Hintergrund von Selbstverständ‐ lichkeiten, die als lebensweltweltliche Typisierungen, Habitualisierungen und soziale Routinen das Grundgerüst des Handelns darstellen“. Neben der Räumlichkeit scheint auch ein zweites Charakteristikum eine Übertragung des Gemeinschaftsbegriffs auf den digitalen Raum zu erschwe‐ ren: Die Dichotomie zwischen Tradition und Moderne. Gemeinschaften sind stabile und gewachsene soziale Gebilde, die gerade in Bezug auf das Althergebrachte und Etablierte überdauern. Auch Ronald Hitzler (2008) rekurriert auf dieses Allgemeinverständnis, wenn er (post-)moderne bzw. posttraditionale Gesellungsformen über die Unterscheidung von traditiona‐ len Gemeinschaften definiert. Diese Unterscheidung ist aber irreführend. 3 Zwar haben sich in der Mo‐ derne und insbesondere der Spätmoderne Gesellungsformen herausgebildet, die sich gerade hinsichtlich ihres Entstehungsprozesses stark von vormoder‐ nen Gemeinschaften unterscheiden: so sucht man sich Gruppen heute eher aus, als dass man in sie hineingeboren wird. Zudem ist man ökonomisch und psychologisch weniger abhängig. Doch sowohl vormoderne wie moderne und spätmoderne Gemeinschaften müssen gegenüber gesellschaftlichen Strukturen als relativ unverbindliche Sozialgefüge verstanden werden. Sie alle werden über (mehr oder weniger) freiwillige Selbstverpflichtung und eine geteilte Kultur zusammengehalten. Gemeinschaften entwickeln im Gegensatz zu Gesellschaften kulturelle Codes, Rituale und Identitätsmarkie‐ rungen (vgl. auch Hitzler 2005). So sind es die kommunikative Vermittlung, das konzertierte Handeln, aber vor allem eine gemeinsame Kultur und affektive Verbundenheit, welche den Prozess der Vergemeinschaftung im Kern auszeichnen und ihn von gesellschaftlichen Strukturen unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen posttraditionalen und traditionalen Ge‐ meinschaften geht aber wie gesagt nicht ganz ins Leere. Sie verweist darauf, dass im Zuge von Entwicklungen wie der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Individualisierung neue Gemeinschaftsgefüge ent‐ standen sind, die in Form, Struktur und Dynamik so bislang nicht oder nur randständig existierten. Wie bereits in Bezug auf die zunehmende Translokalität angedeutet wurde, stellen sich mit veränderten kulturell-so‐ zialen und technologisch-medialen Bedingungen auch veränderte Verge‐ meinschaftungsformen ein. Anstatt also mit Dichotomien zu operieren, die einen fundamentalen Widerspruch bzw. Wesensunterschied zwischen 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 59 vormodernen und (post-)modernen Gemeinschaften suggerieren, gilt es, sich genauer anzusehen, wie sich Vergemeinschaftung - als Grundkatego‐ rie sozialen Miteinanders - mit den sich verändernden Bedingungen der (Post-)Moderne und Digitalisierung wandelt. 3.2.2 (Spät-)Moderne Vergemeinschaftung Einer der ersten Versuche, neue Gemeinschaftsphänomene analytisch und modellhaft greifbar zu machen, manifestierte sich im Konzept der Sub‐ kultur. Damit wird auf vornehmlich jugendkulturelle und adoleszente Kollektive verwiesen, die in einen größeren Kulturraum eingebettet sind, sich aber gewollt oder ungewollt und mal mehr, mal weniger stark davon unterscheiden. Insgesamt wird der Begriff der Subkultur in der Soziologie aber recht uneindeutig verwendet. Erstmals ins Spiel gebracht wurde er von den Soziologen der Chicagoer Schule in den 40er Jahren, vornehmlich um delinquentes Verhalten in Gruppen zu beschreiben, wie etwa das von Gangs oder Jugendbanden. Abweichendes Verhalten korreliert in diesem Verständnis zumeist mit einem problematischen Verhältnis zur Umwelt. Mit der Zeit etablierten sich jedoch neutralere Definitionen des Begriffs, die nicht mehr auf Delinquenz fokussierten, sondern mehr auf eine freiwillige Non-Konformität als Form der Rebellion gegenüber den Normen der Mehr‐ heitsgesellschaft. Rolf Schwendter gibt etwa folgende Definition: „[…] Subkultur [ist] ein Teil einer konkreten Gesellschaft, der sich in seinen Institutionen, Bräuchen, Werkzeugen, Normen, Wertordnungssystemen, Präfe‐ renzen, Bedürfnissen usw. in einem wesentlichen Ausmaß von den herrschenden Institutionen etc. der jeweiligen Gesamtgesellschaft unterscheidet.“ (Schwendter 1973: 11) Schwendter unterscheidet dabei Teil- und Gegenkulturen, wobei letztere in „entschiedene[r] Opposition zum bestehenden System“ stünden und Teil‐ kulturen ein zwar geschiedenes, aber neutrales „Eigendasein“ führten (ebd.). Schon in dieser Differenzierung offenbart sich, dass ein Subkulturbegriff, der an erklärten Protesthaltungen der Mitglieder orientiert ist, nur für die Beschreibung eines kleinen Teils (spät-)moderner Vergemeinschaftungsfor‐ men brauchbar war. Zunehmend standen im Lauf der Zeit Phänomene im Fokus, die nicht als Gegensondern als Teilkulturen im obengenannten Sinne bezeichnet werden können. Die cultural studies z.B. lenkten das Au‐ 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 60 genmerk auf die innere Dynamik und Eigenständigkeit solcher kollektiven Enklaven sowie auf die darin stattfindenden Prozesse der Herstellung von Sinn und Identität (vgl. Hall 2004). Gegenstand der Betrachtungen waren Jugendgruppierungen wie Mods, Skinheads, Punker, Rocker und Hippies. Mit dem Begriff der Subkulturen wurden hier Gruppierungen und Kollektive beschrieben, denen die Einzelnen bewusst und freiwillig beitraten und die räumlich und symbolisch relativ klar definiert und abgetrennt waren von der restlichen Umwelt. Der Begriff der Subkultur impliziert so verstanden eine übergeordnete Kultur, der sie als relativ fremde und eigenständige Symbol- und Sinnwelt gegenübersteht. Mit Berger & Luckmann (2009) lassen sich Subkulturen auch als Subsinnwelten begreifen, in denen eigene Rollengefüge und Wirklichkeitsbestimmungen entstehen. Da sie nicht losgelöst von der Gesamtgesellschaft sind, sind Subsinnwelten jedoch darauf angewiesen, ihre Eigenständigkeit immer wieder rückzubinden und zu legitimieren. Unter dem Begriff der Subkultur werden also Kollektive beschrieben, die relativ geschlossen sind und ein kohärentes und konsistentes Sozialgefüge aufweisen, in dem sich selbstständige Verhaltensweisen und Lebensstile herausbilden. Es gibt in der Regel formale Beitrittsbedingungen und -riten und Mitgliedschaft wird explizit, symbolisch oder material, ausgewiesen und angezeigt. Subkulturen sind entsprechend kleine ‚Welten für sich‘. Der Szene-Begriff weist einige Überschneidungspunkte mit dem Sub‐ kulturbegriff auf, unterscheidet sich aber auch in einigen wesentlichen Punkten. Mit ihm werden neue spätmoderne Phänomene der Vergemein‐ schaftung konzeptuell erfasst, die mit dem Subkultur-Begriff nur ungenü‐ gend beschrieben werden können. Ronald Hitzler (2005) spezifizierte und differenzierte den Begriff in seiner Untersuchung jugendlicher Szenen stark aus. Er versteht Szenen als 1) Gesinnungsgemeinschaften, 2) thematisch fokussierte Netzwerke von Gruppen sowie 3) kommunikative und interak‐ tive Teilzeit-Gesellungsformen, die a) der sozialen Verortung dienen, b) ihre eigene Kultur haben, c) dynamisch und labil sind, d) typische Treffpunkte haben, e) sich um Organisationseliten strukturieren und f) quer zu bisheri‐ gen Gesellungsformen und großen gesellschaftlichen Institutionen liegen (ebd.: 20 ff.). Von Subkulturen unterscheiden sich Szenen nun insbesondere durch ihren partiellen und fragmentarischen Charakter, d. h. dadurch, dass sie teil‐ zeitlich begrenzt sind - sich also nur zu bestimmten Events, am Wochenende oder in einem anderen zeitlichen Rahmen konkretisieren - und dass die Zugehörigkeit auf „freiwilliger Selbstbindung“ (ebd.: 23), d. h. auf dem indi‐ 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 61 viduellen Interesse am Thema beruht. Im Vergleich zu Subkulturen gestalten sich die Beziehungen der Szenegänger untereinander „auch zunehmend lockerer, situationsabhängiger und werden damit in ihrem Verpflichtungs‐ grad unverbindlicher“ (Gebhardt 2010: 336). Das meint indes nicht, dass der Zugang zur Szene bedingungslos möglich ist - die Bedingungen sind jedoch informeller, situativer und gruppendynamischer. Jede/ r kann einer Szene beitreten, der oder die sich zugehörig fühlt und bereit ist, zumindest ein Mindestmaß an Spielregeln einzuhalten. Dabei spielt der Aspekt der Ästhetisierung und Selbststilisierung eine große Rolle. Schulze betont hierfür vor allem die Bedeutung des Publikums: „Je häufiger ein Mensch zu verschiedenen Zeiten und Orten ähnliche Grundtypen von Publika erlebt, desto mehr wird er zu alltagssoziologischen Abstraktionen angeregt, zur Bildung von Kollektivbegriffen, zu Wirklich‐ keitsmodellen, die auf den Publikumserfahrungen aufbauen“ (Schulze 1995: 462 f.). Konstitutiv für Szenen ist demnach Ko-Präsenz, eine Art kollektiver Individualität, die auf dem Sehen und Gesehen-Werden in der Masse beruht. Der prototypische Ort für diese Form der Vergesellschaftung ist der Event, der konvergierende Modus das Erleben. Den Teilnehmenden geht es in der Regel darum, Spaß zu haben, intensive Erfahrungen zu genießen oder einfach nur Gemeinschaft zu erleben. Szene und Event bedingen sich dabei gegenseitig: „Ohne Szene kein Event, ohne Event keine Szene“ (Gebhardt 2010: 334). Events benötigen a) immer ein Publikum und sind b) mit meist nicht geringem Organisationsaufwand verbunden. Insofern bilden sich auch in Szenen Avantgarden oder Organisationseliten heraus, die für die Aufrechterhaltung verbindlich zeichnen und innerhalb der jeweiligen Szenen dafür Reputation und Einfluss genießen. Während sich so eine Ungleichheit und ein Machtgefälle zwischen produzierenden Eliten und rezipierenden Szenegängern herausbilden, differenziert sich das Publikum auch intern durch Distinktionsbestrebungen weiter aus. Diese starke Aus‐ differenzierung ist nach Hitzler (2005: 36) ein weiteres Kennzeichen für die Strukturiertheit von Szenen. Szenen stellen sich demnach als Geflecht äußerst heterogener Mitglieder dar, die durch Bezug auf einen konstitutiven, thematischen Kern mitein‐ ander verknüpft sind. Die große Vielfalt kommt nicht zuletzt dadurch zustande, dass dieser thematische Kern inhaltlich in der Regel weit gefasst ist und damit unbestimmt bleibt. Eine solche Unbestimmtheit erleichtert die Integration durch Identifikation - „durch das schlichte Bekenntnis, dazu ge‐ hören zu wollen, und eine gewisse äußere Anpassung“ (Gebhardt 2010: 336). 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 62 Hitzler unterscheidet zuletzt noch zwischen drei archetypischen Motivbzw. Interesselagen, nach denen Szenen charakteristisch unterschieden werden können. In den Selbstverwirklichungsszenen steht der Ausdruck eigener Originalität und Individualität im Vordergrund, während Aufklärungssze‐ nen politisch-‚weltverbesserisch‘ an der Verbreitung bestimmter Ideale orientiert sind und hedonistische Szenen Erregungsjunkies (vgl. Bauman 2002) hervorbringen, die ausschließlich den Genuss und das Erlebnis für den Moment suchen (vgl. Hitzler 2005: 24 ff.). Als eine weitere Spielform posttraditionaler Vergemeinschaftung kön‐ nen Phänomene verstanden werden, die der französische Kultursoziologie Michel Maffesoli als Neotribalismus bezeichnet (Maffesoli 1996). Damit sind Sozialformen gemeint, die sich, wie Szenen, über die freiwillige und partielle Teilnahme und Zusammenkunft ihrer Mitglieder konstituieren. Anders als Szenen sind sie aber unorganisiert, fluide und dezentralisiert. Sie sind netzwerkartig aufgebaut und nicht eventorientiert. Gerade deshalb sind neotribale Gemeinschaften auf beständige Reaktualisierung der Ge‐ meinschaft durch Interaktion und Kommunikation angewiesen. Weiterhin zeichnet neotribale Gemeinschaften aus, dass sie im Kern unpolitische und theatralisch-ästhetische Erlebnisgemeinschaften bilden: sie sind gegen‐ warts-, affekt- und lustorientiert. Für Maffesoli sind neotribale Gemeinschaften Produkte der Postmoderne. Im Rückgriff auf Durkheims Begriff der effervescance beschreibt er neo‐ tribale Sozialität als eine, in der nicht mehr die Suche nach fixer (Kollek‐ tiv-)Identität Vorrang hat, sondern das „Spiel der Sinne und Emotionen, dasjenige mit Oberflächen und Erscheinungsformen“ (Keller 2011: 255). Maffesoli betont insbesondere die Logik der affektiven Nähe, welche diesen Gemeinschaften zugrunde liegt (vgl. Maffesoli 1996: 86/ 87). Das zentrale Prinzip von Zugehörigkeit und Zusammenhalt ist das ‚Be‐ rührtwerden‘, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Die Einzelnen bilden diffuse Affinitätsgruppen, die von „Gemeinschaftserfah‐ rungen und kollektiven Erregungen“ (Keller 2011: 255) zusammengehalten werden. Die Einzelnen würden dabei die Begrenztheit ihrer Individuali‐ tät im Spektakel, in den ‚kollektiven Wallungen‘ aufzulösen suchen und neue Identität in den zwar nicht uniformen, aber kollektiven Looks und Oberflächen zu finden, die als neue Orientierungshorizonte, als Mittel der Gruppenidentifikation und der Stiftung von Gemeinschaft dienen. Von Subkulturen unterscheiden sich diese Gruppierungen durch ihre Fluidität und die Nicht-Exklusivität der Mitgliedschaft. Neotribale Gemein‐ 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 63 schaften sind im Gegensatz zu Subkulturen in ihrer Struktur nicht fixiert, sondern werden dynamisch-kommunikativ stabilisiert. Im Vergleich mit dem Szene-Konzept beschreibt der Begriff des Neotribalismus eine darun‐ terliegende, chaotischere Dimension oder metaphorisch ausgedrückt: eine flüssigere Aggregatsform der Vergemeinschaftung. Maffesoli hat den An‐ spruch, mit seinem Konzept völlig heterogene und oft kaum mehr greifbare Vergemeinschaftungsphänomene zu beschreiben, von politisch-ephemeren Gruppierungen wie Occupy Wallstreet und Pegida über Konzertgänger, Fussballfans und Online-Communities für Pflanzen-Enthusiasten bis hin zu Do-It-Yourself-Anhängern, Teilnehmerinnen von Slutwalks und Apple-Fan‐ boys. Zwar geht es hierbei immer um das, was Hitzler als Gesinnungsge‐ meinschaften beschrieben hat, doch weder weisen diese immer typische Treffpunkte auf noch gruppieren sie sich zwangsläufig um Organisationseli‐ ten herum. Und während Szenen in der Regel ein Bewusstsein von sich selbst haben, definieren sich neotribale Gemeinschaften weniger (selbst-)reflexiv als intuitiv und momenthaft. Die Identifikation mit der Gruppe entsteht „durch eine Semantik der Emotionen und Sehnsucht“ und beruht „auf einem Zustand des Geists, der Individuen, auch Fremde, in einem tribalen Moment bindet“ (Livi 2017: 370/ 371). Neotribale Phänomene zeichnen sich also dadurch aus, dass sie noch volatiler, fluider, diffuser, hierarchiefreier und affektiver konstituiert und strukturiert sind als dies für Szenen der Fall ist. So betrachtet können Subkulturen, Szenen und neotribale Gemeinschaften als idealtypische Aggregatsformen der Vergemeinschaftung verstanden werden, von eher festeren sozialen Gefügen hin zu fluiden. 3.2.3 Vergemeinschaftung im digitalen Raum Die bislang beschriebenen Konzepte gehen von Vergemeinschaftungskons‐ titution unter den Bedingungen körperlicher Kopräsenz aus, wenngleich sie sich durchaus auch auf medial vermittelte Phänomene anwenden lassen. Das Internet, genauer: das Web 2.0 als Mittel der translokalen Teilnahme und Interaktion, hat nun aber neue Vorzeichen gesetzt. Die Kollektive im Web 2.0 bestehen aus einem zahlenmäßig nicht festgelegten und schwankenden Publikum, sind einander nur selten persönlich bekannt und füreinander nur bedingt sichtbar. Zudem finden sich die Nutzenden zwar in denselben digitalen Räumen zusammen, aber zumeist zu ganz unterschiedlichen Zei‐ ten. Howard Rheingold prägte für diese Formen der Vergemeinschaftung schon 1993 den Begriff „virtual communities“. Für ihn handelt es sich dabei 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 64 um Sozialgefüge, die dauerhaft und intensiv genug sind, um persönliche Bindungen zu gewährleisten: „Virtual communities are social aggregations that emerge from the Net when enough people carry on those public discussions long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationships in cyberspace“ (Rheingold 1993). Auch Kozinets definiert Online-Communities sehr basal als große Gruppe von Menschen, „who share interaction, social ties, and a common interaction format, location or ‚space‘ - albeit, in this case, a computer-mediated or virtual ‚cyberspace‘“ und die ein gewisses Minimum an „repeat contact“ und „continuum of participation“ (Kozinets 2010: 10) aufweisen. Eine im Vergleich hierzu bereits sehr elaborierte Definition virtueller Communities findet sich bei Sebastian Deterding (2008: 129). Er versteht sie als „dynamisches Feld unterschiedlichster Vergemeinschaftungen, die aus dem Wechselspiel von webtechnischer Architektur, geteilten Interessen, sozialen Netzen, kulturellen Praxen und soziokulturellen Kontexten ihrer Mitglieder emergieren“. Gemeinsam sei ihnen die Grundstruktur einer „(1) um ein geteiltes Interesse organisierte[n] (2) anhaltende[n] Interaktion von Menschen (3) über einen oder mehrere mediale Knoten im Web, aus der (4) ein soziales Netzwerk aus Beziehungen und Identitäten mit (5) einer geteilten Kultur aus Normen, Regeln, Praxen und Wissensvorräten emergiert“ (ebd.: 118). Auch wenn Deterding (2008: 118) konstatiert, dass virtuelle bzw. On‐ line-Gemeinschaften „hoch dynamische Gebilde [sind], die binnen kürzester Zeit Konventionen ausbilden, reproduzieren, herausfordern und transfor‐ mieren“, implizieren die genannten Definitionen, dass wir es hier mit feste‐ ren Gemeinschaftsstrukturen und kohärenten Kollektiven zu tun haben, als dies für jene Phänomene der Fall ist, die Maffesoli (1996) mit dem Konzept der Neotribalität zu beschreiben suchte. Selbst gegenüber dem Szene-Begriff lassen sich Anhaltspunkte für eine Re-Konsolidierung gemeinschaftlicher Strukturen in virtuellen bzw. Online-Communities finden. Hitzler (2005) versteht Szenen bspw. noch als eventbasierte, punktuelle Vergemeinschaf‐ tungsformen, während Deterding Nachdruck auf die anhaltende Interaktion legt. Auch der Verweis auf geteilte Normen und Praxen erinnert eher an die homogenen, festen Strukturen von Subkulturen als an die ephemeren Gefüge von Szenen. Dennoch haben wir es bei virtuellen Gemeinschaften nicht einfach mit der Online-Variante von Subkulturen zu tun. 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 65 Virtuelle Communities zeichnen sich daneben nämlich, wie erwähnt, oft durch ein zahlenmäßig großes und verstreutes Publikum aus. Öffent‐ lichkeit und Anonymität sind dabei eher ein Merkmal von Szenen als von Subkulturen. Die real-räumliche und zeitliche Entbettung sorgt zudem für eine Translokalisierung der Interaktion und eine höhere Sichtbarkeit sowie Adressierbarkeit (vgl. Deterding 2008: 127). Damit einher geht eine zunehmende Affinitätsorientierung - die oder der Einzelne kann sich eine Gruppe nun gänzlich nach Interesse aussuchen und ist nicht mehr auf lokale Angebote oder bereits vorhandene persönliche Beziehungsnetzwerke angewiesen. Kozinets betont nicht zuletzt auch die Bedeutung der Selbst‐ identifikation als Zugehörigkeitskriterium (Kozinets 2010: 10). Die Netzge‐ meinschaften leisten also der Art von individueller, präferenzgeleiteter und selbstreflexiver Kollektivität Vorschub, die kennzeichnend sind für Szenen und darüber hinaus auch für neutribalistische Strukturen. Zur Beschreibung digitaler Vergemeinschaftungsformen wird immer stärker auch auf die Metapher des Netzwerks zurückgegriffen. Schon sehr früh verwendete Andreas Wittel den Begriff „network sociality“, zu Deutsch „Netzwerk-Sozialität“ oder „vernetzte Sozialität“, um Beziehungsstrukturen zu benennen, die nicht nur verschieden sind, sondern konträr zu ‚konven‐ tionellen‘ Gemeinschaftsformen verlaufen: „Community entails stability, coherence, embeddedness and belonging. It involves strong and long-lasting ties, proximity and a common history or narrative of the collective. Network sociality stands counterposed to Gemeinschaft. It does not represent belonging but integration and disintegration. […] In network sociality, social relations are not ‘narrational’ but informational; they are not based on mutual experience or common history, but primarily on an exchange of data and on ‘catching up’. Narratives are characterized by duration, whereas information is defined by ephemerality. Network sociality consists of fleeting and transient, yet iterative social relations; of ephemeral but intense encounters“ (Wittel 2001: 51) Wittel versteht vernetzte Sozialität als allgemeines Phänomen in kapitalis‐ tisch orientierten Informationsgesellschaften, das zwar durch die neuen Medien gefördert wird, aber nicht darauf basiert. Zusammengehörigkeits‐ gefühl und Dauerhaftigkeit werden zugunsten von flüchtigen, aber inten‐ siven Beziehungen und Begegnungen aufgegeben. Netzwerksozialität ist im Kern individualistisch und nicht kollektiv orientiert, im Vordergrund steht der Austausch von Informationen. Insofern vermischen sich hier auch Aspekte von „work and play“ (ebd.: 71), d. h. funktionale (professionelle) 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 66 und nicht-funktionale (spielerisch-selbstzweckhafte) Elemente. Gegenstand von Wittels eigenen ethnographischen Untersuchungen waren u. a. Busi‐ ness-Partys. Hatte Wittel damit zwar auch Phänomene unter Bedingungen physischer Kopräsenz vor Augen, so fällt es nicht schwer, die Logik des ‚catching up‘ in den gegenwärtigen Sozialen Netzwerkseiten und dem Prinzip des ‚Status Update‘ wiederzufinden. Auch hier kulminieren die Verbindungen der Nutzenden nicht in kollektiven Narrativen. Stattdessen gilt es, sich gegenseitig mit neuen Bildern oder Tweets auf dem Laufenden zu halten. Während Facebook noch immer überwiegend dazu genutzt wird, bereits bestehende Kontakte zu pflegen, dienen Plattformen wie Twitter und Instagram zunehmend der Knüpfung neuer und loserer Beziehungen. Vernetzte Sozialität ist aber nur ein Aspekt von mehreren, der unter dem Stichwort „networked“ verhandelt wird. Für Baym (2015: 100) bspw. sind Soziale Netzwerkseiten Paradebeispiel für das Phänomen des „networked individualism“, wo „each person sits at the center of his or her own commu‐ nity“. Baym betont damit die individualisierte Struktur dieser Plattformen. Diese steht im Gegensatz zur Struktur anderer virtueller Communities wie bspw. Online-Foren, wo alle Nutzenden sich auf bestimmten Ober- und Unterseiten austauschen und alles für alle sichtbar ist. Auf Foren findet die Kommunikation zentralisiert statt, während auf sozialen Netzwerksei‐ ten dezentral über die einzelnen Profile kommuniziert wird. Baym (2015: 101/ 102) konstatiert, dass diese individualisierten Beziehungsstrukturen ein Gemeinschaftsgefühl im klassischen Sinne zumindest erschweren. Boyd und Ellison (2007, 2013) definieren soziale Netzwerkseiten entspre‐ chend auch nicht über einen Gemeinschaftscharakter, sondern über die Art und Weise, wie sie die Nutzenden in Beziehungen setzen. Sie seien „ web-based services that allow individuals to (1) construct a public or semi-public profile within a bounded system, (2) articulate a list of other users with whom they share a connection, and (3) view and traverse their list of connections and those made by others within the system“ (ebd. 2007: 211). Zeigen und gezeigt bekommen erweist sich als die maßgebende Logik dieser Plattformen, weswegen Boyd (2011) dann zur näheren Beschreibung dieser Vergemeinschaftungsform von „networked publics“, d. h. vernetzten Öffentlichkeiten spricht. Charakteristisch für „networked publics“ sind nach Boyd die erhöhte Verbreitungsgeschwindigkeit und Sichtbarkeit von Inhal‐ ten, die Unsichtbarkeit des Publikums, das Verschwimmen der Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit sowie das Phänomen des „context collapse“ (ebd.: 49), d. h. das Zusammenfallen sozialer Kontexte (vgl. auch Kap. 3.3.2). 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 67 4 Simanowski bezieht sich dabei in erster Linie auf Facebook als prototypische Soziale Netzwerkseite, hat aber auch andere Vertreter wie Instagram oder Twitter im Auge. Während Baym und Boyd sich mit konkreten Einordnungen ihrer Beob‐ achtungen zurückhalten, kommt der Sozialphilosoph Roberto Simanowski (2016) zu dem Schluss, dass auf Sozialen Netzwerkseiten „Verbindungen ohne Verbindlichkeiten“ und „Gemeinschaft ohne Grund und Werk“ gebildet würden (ebd.: 151). Die Nutzenden würden sich nur noch als vernetzte Singularitäten gegenübertreten und eine Wohlfühl-Kultur der Gleich-Gül‐ tigkeit pflegen, in welcher ein „Wechsel von Bedeutsamkeit zu Beliebtheit, von Komplexität zu Kurzatmigkeit, von Text zu Bild“ (ebd.: 155) stattfände. 4 Ganz gleich, ob man dieser Kritik der Oberflächlichkeit zustimmt: Mir scheint es nicht sinnvoll, die beschriebenen Phänomene radikal vom Ge‐ meinschafts-Begriff zu trennen, wie Wittel dies vorschlägt. Zwar sind Soziale Netzwerkseiten egozentrierter, sie kommen aber gleichfalls nicht ohne ein Zugehörigkeitsgefühl (ein „sense of community“, Wittel), oder kollektiv-orientiertes Handeln aus. Ich schlage daher vor, diese Vergemein‐ schaftungsformen networked communities zu nennen. Angesichts dieser Befunde scheint es sinnvoll, bei Online-Communities nicht von einem bestimmten oder neuen Gemeinschafts-Typus auszugehen, sondern den Terminus viel eher als Sammelbegriff für eine Vielzahl unter‐ schiedlicher Vergemeinschaftungsformen zu betrachten. Die Kollektive und Gruppen, die sich in den digitalen Räumen und auf den Plattformen im Internet konstituieren, können die Form von Subkulturen, von Szenen, aber auch von neotribalen Gemeinschaften und sozialen Netzwerken annehmen. Im „Ökosystem Internet“ (Thimm 2011) bilden sich Unmengen heterogener kleiner sozialer Welten. Dabei weisen sie aber immer auch bestimmte, der digitalen Architektur geschuldete Besonderheiten auf, die sie von anderen Vergemeinschaftungen abheben. So muss man „den Blick auf die Spezifik der kommunikativen Vermittlung von Vergemeinschaftung lenken“ (Hepp 2013: 105). Oft wird beispielsweise auf die anfänglichen Hoffnungen aber auch Ängste verwiesen, die mit dem Internet verbunden waren: so glaubte man einerseits, dass die neuen Möglichkeiten der Vernetzung und Partizipation demokratische Strukturen und entsprechende Werthaltungen befördern würden. Diesen Utopien deliberativer Netzrevolution standen Bedenken hinsichtlich einer zunehmenden Anonymisierung und Isolierung gegen‐ über. Dass einige Theorien heute nicht mehr haltbar sind, liegt nicht nur 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 68 an verfehlten Prognosen - es ist auch auf den Wandel von Plattformen und Nutzungsverhalten sowie das Aufschließen bestimmter technologieskepti‐ scher Bevölkerungsteile zurückzuführen. Zu Beginn war die many-to-many-Kommunikation tatsächlich geprägt von sogenannten MUCs (multi-user-chats) und Foren. Dort traten die Nutzenden so gut wie immer unter Pseudonymen mit anderen Unbekannten in Kontakt. Mit dem Aufkommen privater Instant-Messenger (ICQ, AIM, MSN usw.), sozialer Netzwerkseiten und mobiler Kommunikation wurde die Kommunikation aber zunehmend persönlicher. Dass das Internet zu Beginn als utopischer Ort der Vernetzung und des Wandels galt, lag daran, dass die ersten Nutzendengruppen vornehmlich aus einer progressiven, technologie- und fortschrittsfreundlichen Avantgarde bestanden. Heute haben vermehrt auch konservative oder gar demokratie-ablehnende Gruppen die digitalen Räume zur Verbreitung ihrer politischen Ansichten und zur Vernetzung mit Gleichgesinnten entdeckt. Auch hat die Vernetzung zwar vielerorts zur effizienteren Organisation bspw. von Demonstrationen und Bewegungen beigetragen (vgl. Demmelhuber 2013), trägt aber nicht notwendigerweise zu einer Verstärkung tatsächlichen Diskurses im öffentlichen Raum bei (vgl. Richter 2013). Die optimistischen Analysen und Prognosen waren dabei durchaus berechtigt, viele anfänglichen Potentiale und Tendenzen verpufften aber und entfalteten sich nicht im erwarteten Ausmaß. Die Formen der Online-Vergemeinschaftung haben sich über die Zeit ge‐ wandelt. Aber auch gegenwärtig lassen sich starke Unterschiede feststellen. Andreas Reckwitz (2017) differenziert bspw. drei Typen von Internet-Com‐ munities (bzw. „drei Formen des Sozialen“, ebd.: 262): „die heterogenen Kollaborationen (darunter Netzwerke), die Singularitätsmärkte und eben die Neogemeinschaften“. Heterogene Kollaborationen können „kollaborative Netzwerke“ wie bspw. Wikipedia sein oder Plattformen „für kommunikative Assoziationen“ (ebd.). Kennzeichnend ist jeweils das gemeinsame Tun, sei es informationelle Wissensarbeit oder phatisches Emotionsmanagement. Als Beispiel für letzteres nennt Reckwitz Soziale Netzwerke. Unklar bleibt dabei, wo genau die Grenze zwischen Sozialen Netzwerken und dem zweiten Typus, den „kulturellen Singularitätsmärkten“ (ebd.), verläuft. Mit diesem Begriff beschreibt Reckwitz Plattformen, auf denen Einzelne oder Kollektive (von Bloggern über Bands bis zu Konzernen) um Aufmerksamkeit und die Gunst des Publikums buhlen. Anders als bei den kollaborativen Netzwer‐ ken dominiert hier die Handlungslogik des Wettbewerbs, welche durch den Wunsch nach individueller Besonderung und Singularisierung moti‐ 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 69 viert ist. Die Attraktivitätsmärkte sind den oben beschriebenen networked communities zuzuordnen, wenngleich auch die kollaborativen Netzwerke Elemente davon aufweisen, z. B. den informationellen Charakter der Kom‐ munikation und die Vermischung von Arbeit und Spiel. Die dritte Form, die sogenannten Neogemeinschaften (nicht zu verwechseln mit Maffesolis neotribalen Gemeinschaften), beschreibt Reckwitz als verdichtete Kommu‐ nikationsnetzwerke, die sich ostentativ nach außen abgrenzen und sich als Kollektiv singularisieren: „Nicht die Individuen oder Objekte (Bilder, Texte) beanspruchen hier Besonderheit, sondern das Kollektiv in seiner Gesamtheit“ (ebd.: 264). Die Identität der Einzelnen sei dabei zwar an die Kollektividentität gebunden, im Vergleich zu den Singularitätsmärkten aber wesentlich stabiler. Reckwitz scheint hier vor allem an politische Online-Communities oder Fan-Boards zu denken, also Gruppen die sich entlang einer gemeinsamen Gesinnung oder gemeinsamer Leidenschaften konstituieren. Ein besonderer Mehrwert von Reckwitz Idealtypisierungen besteht in der Verknüpfung der Formbeschreibung von Online-Communities mit Be‐ obachtungen zur Affektstrukturierung. Für Soziale Netzwerkseiten und Sin‐ gularitätsmärkte konstatiert er bspw. eine „Positivkultur der Affekte“ (ebd.: 270), die sich vor allem in einer Mischung aus ausgeprägter Bestätigungs‐ kommunikation und Begehrensproduktion niederschlägt. Hingegen seien in den digitalen Neogemeinschaften „intensive Affekte beiderlei Färbung im Spiel, positive und negative“ (ebd.: 265). Wenngleich die Identifizierung mit dichotomen Affektausprägungen mit Sicherheit zu schematisch ausfällt und im Einzelnen differenziert werden muss, ist Reckwitz Modell äußerst luzide und sensibilisiert für die Heterogenität, aber auch Systematik digitaler Vergemeinschaftungsformen. 3.2.4 Zwischenfazit: Spezielle Merkmale digitaler Vergemeinschaftung Empirische Studien, die sich mit der Affekt- und Kommunikationskultur auf Online-Plattformen beschäftigen liegen nur vereinzelt vor. Sie bestätigen aber die kolportierten Zusammenhänge mit der jeweiligen Gemeinschafts‐ struktur. So weist Niklas Barth (2016) in seiner Facebook-Studie darauf hin, dass der kommunikative Stil auf Facebook einem „Code der Kälte folgen würde, der Distanzen in die Kommunikation“ (ebd.: 464) einbaut. Der Begriff „Code der Kälte“ fungiert dabei als Gegenstück zur „Rhetorik der 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 70 Innerlichkeit“ (ebd.: 485), welche Albrecht Koschorke (2003) für den kom‐ munikativen Stil der bürgerlichen Briefkultur im 17. und 18. Jahrhundert veranschlagte. Eine ostentativ emphatische bis pathetische Ausdrucksweise der Empfindsamkeit diente dazu, „die Distanz zwischen dem Körper des Autors und dem seiner Leser mit einer Präsenz des Geschriebenen zu überbrücken“ (Barth 2016: 470). Die empirischen Befunde von Barth wie von Koschorke weisen deutlich darauf hin, dass räumliche Distanz nicht mit kommunikativer bzw. affekti‐ ver Distanz gleichgesetzt werden darf. Während im Fall der Briefwechsel translokale bzw. medial-vermittelte Kommunikation zur Überbrückung von Distanz und zur Herstellung von kommunikativer Nähe und Intimität diente, stehen die Facebook-User umgekehrt vor dem Problem, auf ein Zuviel an Privatheit, Nähe und (teil-öffentlicher) Sichtbarkeit reagieren zu müssen. Da insbesondere translokale Gemeinschaften wie Soziale Netz‐ werke von der ‚Geschwätzigkeit‘ ihrer Mitglieder leben, ist das Ausbleiben von Kommunikation keine Option. Stattdessen finden die Einzelnen kom‐ munikative Lösungen, um Nähe und Distanz auszutarieren bzw. zu ‚mana‐ gen‘. Es sind nach Barth insbesondere die Rhetoriken und kommunikativen „Praktiken der Coolness, der Indifferenz sowie der Ironie und Kryptizität“, welche das Distanzmanagement als „Spiel mit der Oberfläche“ prägen und auszeichnen (ebd.: 485). Elke Wagner (2014: 137) kommt zu einem ähnlichen Befund, wenn sie davon spricht, dass auf Facebook „die Grenzziehung von Öffentlichkeit und Privatheit […] eine spezifische Form [annehme], nämlich die einer unbestimmten Kommunikation“. Coolness, Unbestimmtheit und Ironie als primäre Kommunikationsmodi sind somit typisch für die Affektkultur auf Facebook. In eigenen Studien konnte ich zeigen, dass andere Plattformen andere Affektkulturen hervorbringen. So gebrauchen die Nutzenden auf der Platt‐ form 9gag humorvolle Bildwitze - sog. Memes -, um die Darstellung und Äußerung intimer, schamvoller und potentiell gesichtsbedrohender Erfahrungen abzumildern, und in ein gemeinsames lustvolles Erlebnis zu transformieren. In den rein textbasierten Kommentarspalten der ZEIT-On‐ line wird wiederum ein sachlicher bis rauer Diskussionsstil gepflegt, der nicht immer aggressiv ist, aber zumindest agonal und auf das gegenseitige Übertrumpfen ausgerichtet ist. Auch wenn es sich bei den vorgestellten Studien nur um Schlaglichter handelt, zeigen bereits diese Befunde, dass sich die Plattformen stark entlang 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 71 5 Weiterhin entwerfen Algorithmen sogenannte „Filterblasen“ auf Basis vorgängiger Netzaktivitäten und versorgen die Nutzenden nur noch mit ‚passenden‘ Informationen (vgl. Pariser 2012). ihres emotionalen Grundtenors unterscheiden. Dieser ist mitentscheidend für den jeweiligen ‚Gemeinschaftscharakter‘. Nicht zuletzt ist, wie darge‐ stellt, für spätmoderne Vergesellschaftungsformen die Art und Intensität der affektiven Bezüge entscheidend, weswegen Affektkulturen insbesondere im digitalen Raum eingehender untersucht werden müssen. So unterschiedlich sich digitale Gemeinschaften zeigen, so lassen sich auf Basis des momentanen Erkenntnisstands dennoch ein paar Hypothesen aufstellen hinsichtlich der Spezifik von Online-Gemeinschaften, die am Beispiel von Instagram im Weiteren überprüft und elaboriert werden: 1. Zunahme der (kollektiven) Selbstreferentialität: Gemeinschaften sind immer auch Interpretationsgemeinschaften. Sie strukturieren „wie die Mitglieder die Welt wahrnehmen und wie sie sich selbst und ihre Handlungsmöglichkeiten darin entwerfen können“ (Stalder 2016: 146). Im World Wide Web verstärken sich diese Tendenzen durch die zunehmenden Möglichkeiten, Gemeinschaften zu finden, die den eigenen Interessen entsprechen und die gleichen Weltbilder pflegen. Das resultiert in der Entstehung von „Echokammern“ (Quattrociocchi et al 2016). 5 Vergemeinschaftung in den weitläufigen und offenen Räumen des Internets führt paradoxerweise also oft zur Horizontver‐ engung. 2. Zunehmende Kopplung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit: Ein weiteres Merkmal, das Online-Gemeinschaften auszeichnet, ist die zunehmende „Verzahnung von persönlicher Identität und Ge‐ meinschaftlichkeit“ (Stalder 2016: 144). Online-Communities bieten Feedbackfunktionen und Bewertungsmechanismen (Sterne, Likes, Kommentare, Beitragszahl usw.), die Hierarchien einziehen und zu‐ dem dafür sorgen, dass die Einzelnen und die Gemeinschaft sich über Rückkopplungsschleifen stärker und gezielter aneinander anpassen und ausrichten. 3. Zunehmende Selbstreflexivität: Im Netz ist nur sichtbar - und damit existent -, wer aktiv an bestimmten Praktiken teilnimmt. Feedback‐ funktionen und die erhöhte öffentliche Sichtbarkeit verstärken auf Seiten der Nutzenden die Tendenz zur strategischen Selbst- und Fremdbeobachtung. Die Einzelnen gleichen das eigene Handeln mit 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 72 den Feedbackinformationen ab, interpretieren es und (neu-)orientie‐ ren sich schließlich entsprechend daran. Es wird eine Selbstreflexion in Gang getreten, die sich nicht aus Selbstbefragung, sondern erhöhter Interdependenz ergibt. Bei all diesen Merkmalen handelt es sich wie gesagt um Tendenzen. Es sind keine exklusiven Merkmale digitaler Vergemeinschaftung und sie treffen auch nicht auf alle Online-Communities im gleichen Maße zu. Zum Ende dieses Unterkapitels will ich nun noch kurz auf zwei Entwick‐ lungen eingehen, die das Potential haben, in Zukunft eine größere Rolle zu spielen. Bei all der berechtigten Betonung von Entbettung, Entgrenzung, Translokalität, und Globalisierung sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sich in jüngster Zeit ein zunehmender Trend zur Relokalisierung digitaler Praktiken feststellen lässt (vgl. Buschauer & Willis 2013, Wimmer & Hartmann 2014, Frith 2015). Es entstehen immer mehr Smartphone-Ap‐ plikationen, die es den Nutzenden per GPS-Ortung ermöglichen, einfach, schnell, lokal und aktual miteinander in Kontakt zu treten. Bei ortsbasierten sozialen Apps - also Apps, die der Herstellung sozialer Kontakte vor Ort dienen - steht der Wunsch nach dynamischer und leicht in den Alltag inte‐ grierbarer Kommunikation im Vordergrund. Über sie stellen die Nutzenden bspw. persönliche face-to-face-Kontakte in der näheren Umgebung her oder tauschen sich über lokale Themen und Probleme aus. Zu guter Letzt muss auch betont werden, dass viele Beziehungen mittlerweile immer öfter vornehmlich digital gepflegt werden, während Beziehungen, die ohne den Austausch über WhatsApp und Co. auskom‐ men, seltener werden. Familien, Freunde oder Kollegen begegnen sich nicht mehr nur face-to-face, sondern sind über soziale Netzwerkseiten und Messenger miteinander vernetzt. Eben erwähnte lokale Apps haben wiederum ihren Anteil daran, dass sich Nutzende umgekehrt erst online kennenlernen und ihre Beziehung dann zusätzlich offline fortführen. Grundsätzlich scheint die begriffliche Unterscheidung von Offline- und Online-Gemeinschaften also zunehmend obsolet zu werden. Es wird also zunehmend wichtiger, die Prozesse der Vergemeinschaftung im Blick zu behalten, da sich Gemeinschaften mittlerweile in ganz unterschiedlichen sozialen Räumen mit unterschiedlichen kommunikativen Mitteln konsti‐ tuieren. 3.2 (Spät-)Moderne und mediatisierte Gemeinschaften 73 6 Für einen kurzen Überblick zur Debatte der damaligen Zeit vgl. Döring (1994). 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 3.3.1 Selbstpraktiken Über den Einfluss des Computers auf Identität und Selbst von Menschen wurde schon recht früh spekuliert. Besonders drei Thesen bzw. Mythen prägten den frühen Internet-Diskurs und halten sich noch immer hartnä‐ ckig, obwohl sie entweder schon immer einer gesicherten Datengrundlage entbehrten, sich als zu undifferenziert herausgestellt haben oder mit dem Wandel der Technologie obsolet wurden. Schon seit den Kinderjahren des Internets wurden Verbindungen herge‐ stellt zwischen einer als Ego-Kultur (Spiegel 1994) und Ich-Gesellschaft (Hess 2000) identifizierten Entwicklung und den fortschreitenden digi‐ tal-technologischen Entwicklungen. Das Internet fördere Egozentrismus, prognostiziert Neil Postman (1992: 25) schon Anfang der Neunziger. 6 Auch in der Gegenwart ist die Debatte nicht abgeklungen - ganz im Gegenteil wurde sie durch das Web 2.0 und die Popularisierung von Sozialen Netzwerkseiten noch einmal neu befeuert. Das Thema wird dabei auf allen Ebenen heiß diskutiert: Von akademischen Schlagabtäuschen im Bereich der Persönlich‐ keitspsychologie (vgl. Twenge 2013 und Arnett 2013) über sozial-empirische Studien (Mara 2009) bis hin zu quasi-apokalyptischen Pathologisierungen in der Presse (vgl. HAZ 2017) oder belletristischen Satiren (vgl. Kling 2017). Im gesellschaftlichen Diskurs scheint die Narzissmus-These mittlerweile fest als Fakt etabliert, als wissenschaftliche Hypothese jedoch bleibt sie stark umstritten. Gleiches gilt für die These der anonymitätsbedingten Enthemmung, die sich ebenfalls nicht nur gehalten hat, sondern trotz belastbarer Gegenevi‐ denzen zur kollektiven Gewissheit geronnen ist. Die These wurde schon früh, wie hier von Collins (1992), wie folgt oder ähnlich formuliert: „In the absence of social context cues, the level of uninhibited verbal behavior in computer-mediated communication rises“. Die Annahme besagt also, dass mit zunehmender Anonymität die Wahr‐ scheinlichkeit anomischen Verhaltens steige. Diese Hypothese steckt auch in der gegenwärtigen Rede von der ‚Verrohung der Kommunikationskultur‘. 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 74 Schon Döring (1999) hält hier entgegen, dass die beschriebenen Effekte kei‐ neswegs auf den digitalen Raum beschränkt sind und sich zur Erklärung von Flaming- oder Hate-Speech auch andere Erklärungsangebote heranziehen lassen, z. B. die größere Heterogenität des Teilnehmerkreises (ebd.: 215). Auch neuere Studien (vgl. Rost et al 2016, Schünemann & Steiger 2019) konnten keine direkte Verbindung des Anonymitätsgrades mit dem Grad des Dissens oder der Aggression von Kommunikaten in Online-Gesprächen herstellen. Eng verbunden mit der Anomie-These war schon immer die Annahme, dass das Internet im besten Fall ein Experimentieren mit unterschiedlichen Facetten des Selbst oder, im schlechtesten Fall, die Vortäuschung falscher Identitäten unterstütze. Die These der „multiplen Identitäten“ (Turkle 1997) bezog sich auf damals gängige Netzpraktiken: in den frühen Chat- und Vi‐ deospielräumen wurde auf kunstvolle Spitznamen (Nicknames) und Avatare (Profilbilder) zurückgegriffen, die mit der Offline-Persona (zumindest auf den ersten Blick) nur wenig gemein hatten und auch keine Rückschlüsse auf die analoge Identität zuließen. Mit dem Aufkommen von sozialen Netzwerkseiten wie Facebook, Instagram und Co. sowie der Verbreitung von Authentizitäts-Diskursen und Debatten über Falschidentitäten (sog. ‚Scams‘) sind diese Praktiken aber stark zurückgegangen und haben an Relevanz eingebüßt. Psychologie, Geistes- und Sozialwissenschaften sehen sich also vor der Herausforderung, die Entstehung und Entwicklung von Identität und Selbst im Zusammenhang mit digitalen Medien zu beschreiben. Dabei müssen sie die Theorien den sich ständig ändernden digitalen Umwelten und Nutzungsweisen anpassen. Selbst wenn sich einige Schlüsse heute als voreilig oder überzogen erwiesen haben: Bereits die Studien zu Beginn der digitalen Ära beobachteten, dass die neuen Medien von den Nutzenden aktiv angeeignet werden, um sich mit ihrem Selbst auseinanderzusetzen. Diese aktiven Formen des Selbst- und Eindrucksmanagements rückten in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Internetforschung. Die Soziologin Hannelore Bublitz nimmt etwa in Augenschein, wie sich postmoderne Selbste in der Auseinandersetzung mit modernen Medien wie dem Fernsehen oder dem Internet konstituieren. Die Verknüpfung von Selbst und Medien umschreibt Bublitz, angelehnt an Michel Foucaults These von der „Pastoralmacht der Beichte“ (Foucault 2017), mit der Meta‐ pher vom „Beichtstuhl der Medien“ (Bublitz 2010). In diesem konstituiere „sich ein - sich bekennendes, sich sprachlich und visuell präsentierendes 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 75 - Subjekt, das sich in seiner öffentlichen Artikulation und Manifestation selbst auf die Spur kommt und sich im Spektrum von Konventionen, sozialen Codes und Normen erst bildet und formt. Seine öffentlich-mediale Selbstoffenbarung wird zum Akt, der ‚mediale Beichtstuhl‘ zum Ort der Selbsterzeugung“ (Bublitz 2010: 13). Bublitz geht davon aus, dass Überwa‐ chungsprozeduren (vgl. Foucault 1976) und Selbstgestaltungspraktiken im Sinne einer „Ästhetik der Existenz“ (vgl. Foucault 2008: 280 ff.) insbe‐ sondere auf dem persönlichen Profil digitaler Plattformen in eins fallen (Bublitz 2010: 14). Auch für Reckwitz (2017) stellt das Profil das paradig‐ matische Subjektivierungsformat digitaler Kommunikationspraktiken dar. Das Subjekt versuche im Profil die Ansprüche von Vielseitigkeit und Kohärenz miteinander zu vereinen, was zur Technik der Komposition als dominanter Selbstpraxis führe. Aus ihr gehe das Subjekt als Collage ver‐ schiedenster Eigenschaften und Merkmale hervor (2017: 249). Wie bereits in Kap. 3.1.3 dargestellt, geht Reckwitz davon aus, dass Singularisierung der bestimmende Handlungs-, Praxis und Verfahrensmodus spätmoderner Ge‐ sellschaften ist. Die individuelle Mikropraxis der ‚Profilierung‘ beschreibt er entsprechend als „kompositorische Singularität“ (Reckwitz 2017: 249). Die Subjekte singularisieren sich, d.h.: sie stellen ihre Nicht-Austausch‐ barkeit bzw. Besonderheit her, indem sie vielfältige Attribute addieren, arrangieren und zueinander in Bezug setzen. Von hoher Bedeutung ist nach Reckwitz dabei die „Permanenz der Performanz des Neuen“ (ebd.). Das Profil-Selbst ist demnach ein dynamisches, das nur solange ‚existiert‘, wie es aktuell ist (und bleibt) und sich durch Hinzufügen neuer und / oder origineller Elemente (Bilder der neuesten Reise, Link zum aktuellen Lieblingssong, Kommentar zu politischer Debatte usw.) weiter verdichtet. Couldry und Hepp (2017) stellen analog zu Reckwitz‘ These fest, dass die Mediatisierung des Selbst dazu verleitet, das digitale Ich einer ständigen Revision zu unterziehen, um nicht von einer - anhand von Geodaten oder Timeline oft konkret datierbaren - veralteten Version des Ichs digital repräsentiert zu werden. Anstatt von seinem Umfeld anhand feststehender Qualitäten identifiziert zu werden, müsse das Individuum das eigene Selbst nun fortwährend ‚managen‘ (ebd.: 146). Reckwitz (2017) betont für das digital-mediatisierte Selbst weiterhin eine radikale Orientierung an der Gegenwart: „So interessiert auf den Profilen in den sozialen Medien nicht die langfristige biografisch-narrative Entwicklung der Subjekte oder eine Selbst- und Weltreflexion in längeren Texten, sondern die Aktualität der kurzen Postings“ (ebd.: 269). Couldry und Hepp sehen ebenfalls den 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 76 Rückgang introspektiver Reflexionspraktiken zugunsten von Präsenz bzw. präsentiertem Erleben. Exemplarisch hierfür steht für sie das Selfie, das zwar immer aktuell das eigene Erleben dokumentiert und präsentiert, es aber nicht reflektiert. Die Bedeutungsgenerierung wird im (veröffentlich‐ ten) Selfie externalisiert, sprich: an das Publikum ausgelagert (Couldry & Hepp 2017: 160). Das Publikum entscheidet, ob und als wer oder was als das eigene Selbst anerkannt wird. Markus Schroer spricht hierbei von expressiver Selbstthematisierung: „Die nach innen gerichtete Selbstprüfung und Selbstbetrachtung […] weicht einer expressiven Selbstdarstellung, der keine Selbstprüfung und -erkenntnis mehr zwingend vorangehen muss. […] Nach dem Psycho-Boom der 70er und 80er Jahre […] haben wir es heute mit einem überaus expressiven Modell der Selbstdarstellung zu tun, das die Erkenntnis des eigenen Selbst dem anderen als Aufgabe aufbürdet, nach dem Motto: Erkenne doch selbst, mit wem Du es zu tun hast. Wer ich bin? Halt dich an meiner Selbstdarstellung und finde es selbst heraus. Die heutige Funktion der Selbstthematisierung ist es insofern, die Aufmerksamkeit der anderen zu erlangen und die anderen zur Beschäftigung mit dem eigenen Selbst zu motivieren.“ (Schroer 2006: 63) Die Individuen befragen sich in diesen digitalen Praktiken also nicht mehr selbst, wie Giddens es beschrieb (1991) und wie es bspw. für die Praxis des Tagebuchschreibens üblich ist (vgl. Foucault 2005b). Sie prüfen und reflektieren sich entlang der Reaktionen des Publikums auf ihre Selbstdar‐ stellungen. Damit ändert sich zwangsläufig auch die Struktur der Selbster‐ zählungen, die präsentiert werden, wie Ramon Reichert feststellt: „Mit der Aufwertung des Rezipienten als Erzähler verändert sich gleichermaßen die autobiografische Narration, die nun weniger auf die Geschlossenheit, Linea‐ rität, Homogenität ihrer Geschichte abzielt, sondern sich auf ihre Sammlung, Archivierung, Verfügbarkeit und Vernetzung beschränkt.“ (Reichert 2015: 84) Die Geschichten, die wir uns im Netz von uns selbst erzählen, sind notwendi‐ gerweise fragmentarisch und episodisch - der Fluss der Selbstdarstellungen 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 77 7 Je nach Kommunikationsraum bzw. -sorte muss hier allerdings differenziert werden. So sind gerade im Bereich des Fitness-Bloggings Fortschrittsnarrative sehr dominant (vgl. Walker Rettberg 2014: 31). 8 Rosa (2012) verwendet für diese spätmodernen Selbstentwürfe ganz allgemein den Begriff der situativen Identität: Diese sei nicht „mehr per se zeitstabil“, sondern könne sich von Situation zu Situation ändern oder auch radikalen Umbrüchen unterworfen sein (ebd.: 258). ist zwar kontinuierlich, aber nicht zusammenhängend. 7 Ein konstitutiver Kern des Selbst wird weder gesucht noch artikuliert. 8 3.3.2 Theatralisierung und Beziehungsmanagement Das ist auf die Struktur netzspezifischer Kommunikation zurückzuführen: Die Nutzenden müssen sich zur Teilhabe aktiv sichtbar machen, indem sie sich darstellen. Die großen (teil-)öffentlichen Räume im Netz erfordern eine wesentlich selbstbezogenere Kommunikation als der Austausch im kleinen Kreis von Bekannten und Freunden. Leppänen et al (2014) drücken das wie folgt aus: „We argue that in social media, identities are seldom assumed or transparent (or remain so); rather, they are performed in chains and skeins of activities and interactions.“ (ebd.: 112). Der eigene Selbstentwurf muss sich dabei durchsetzen gegen eine potentiell unendlich große Menge konkurrierender Selbstdarstellungen. Das Gut, um welches konkurriert wird, ist Aufmerksamkeit. Diese wird in der globa‐ lisierten Spätmoderne knapp. Erschwerend hinzu kommt, dass Identitäts‐ parameter zunehmend unscharf werden. Daraus resultieren nach Rosa (2012b) Artikulationsnöte und Selbstthematisierungszwänge. Diese lassen im Netz historisch neue Räume und Praktiken entstehen, die ausschließ‐ lich der Selbstdarstellung dienen, wie Misoch (2004: 135) schon für Pri‐ vat-Homepages festgestellt hat. Private Homepages in ihrer Funktion als „Selbstdarstellungsbühnen“ (ebd.) sind mittlerweile von Blogs, aber noch viel umfänglicher von den privaten Profilen auf sozialen Netzwerkseiten abgelöst worden. Ob das von Goffman (1973) so ausführlich beschriebene alltägliche Eindrucks-Management dadurch zunimmt, ist schwer zu sagen. Es wird aber selbstreflexiver und elaborierter. Das Selbst wird im Netz sehr bewusst inszeniert und theatralisiert. Annette Markham spricht gar von einer Steigerung das dramaturgischen Bewusstseins: „[D]igital media 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 78 9 So haben sich auch plattformspezifische ‚Adelstitel‘ für die jeweiligen Prominenzen und Namen für die jeweilige Form der Anerkennung entwickelt. Man spricht bspw. von Youtuberinnen und Youtubern oder davon, Instafame zu haben. heighten dramaturgical awareness because of the need to deliberately write self into being […]“ (Markham 2013: 281). Das Selbst im digitalen Raum muss aber nicht nur gekonnt in Szene gesetzt werden - die Ich-Dramaturgie muss zudem bestimmte Reizwerte liefern, die es interessant machen und Vorteile im Kampf um Aufmerksamkeit verschaffen. Mit der Öffnung und Entgrenzung des öffentlichen Raums im Zuge des Web 2.0 und der damit einhergehenden Partizipationskultur hat eine ‚Ausweitung der Kampfzone‘ stattgefunden: Der Kampf um Aufmerksamkeit, genauer: um die Gunst des Publikums ist nun nicht mehr nur einem vergleichsweise geringen und privilegierten Teil der Gesellschaft vorbehalten; in dem Moment, wo die Hegemonie und Definitionsmacht der klassischen Medien durch das Web 2.0 aufgebrochen wird und sich ein jede/ r mit relativ geringem Aufwand medial selbst vertreten kann, buhlt eine schier unüberschaubare, translokal vernetzte Anzahl von Menschen um globale, nationale oder regionale Aufmerksamkeit. Das hat dazu geführt, dass sich neben der klassischen Prominenz eine neue Gruppe sozialer Rollenträger herausgebil‐ det hat, die sogenannten micro-celebrities: Während klassische Prominenz oder Berühmtheit, ganz ähnlich dem weberschen Charisma-Begriff, durch Praktiken der Auratisierung, d. h. u. a. durch performative Unnahbarkeit, hergestellt wurde, zeichnen sich die neuen, digital-mediatisierten bzw. Social-Network-Prominenzen 9 durch die Inszenierung von Authentizität, Nahbarkeit und Intimität aus (vgl. Jerslev 2016). Musste sich der Star früher zumindest von Zeit zu Zeit rarmachen, um sich den Anstrich des Außerordentlichen zu geben, so ist Mikroprominenz auf ein neues Zeit- und Repräsentationsformat angewiesen, das „permanent uploads“ und Updates sowie die Darstellung eines „private and ordinary - yet extraordinary - self “ (ebd.: 5247) vorsieht. Die Arbeit am eigenen Image (vgl. Goffman 1973) nimmt im Rahmen dieser beschleunigten und durchökonomisierten Öffentlichkeiten zunehmend die Form eines „self-branding“ (vgl. Senft 2008, Marwick 2015) bzw. einer Selbst-Vermarktung (Wiedemann 2017) an: Das Selbst wird warenförmig, d. h. entlang einer Marken-, Angebots- und Produktlogik gestaltet. In erster Linie kann dies auf die panoptischen Strukturen der genannten und ähnlichen Plattformen zurückgeführt werden, die es erlauben und 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 79 10 Ursprünglich wurde terminologisch zwischen Interaktions- und Medientheatralität unterschieden. Diese begriffliche Unterscheidung hatte solange ihre Berechtigung, wie mit dem letzteren Begriff nur auf die Inszenierungspraktiken der one-to-many-orien‐ tierten Massenmedien abgestellt wurde. Das Internet ermöglicht, wenngleich unter anderen Vorzeichen, auch mediale Interaktion und macht eine solche Unterscheidung hinfällig. Da es sich um medial vermittelte Kommunikation bzw. Interaktion handelt, bleibt aber zumindest der Begriff der Medientheatralität brauchbar und wird hier weiterhin verwendet werden. die dazu anreizen, einander gegenseitig nicht nur instantan, sondern auch zeitversetzt zu beobachten und anhand vorgegebener Kategorien (bspw. Alter, Hobbies, Reiseziele etc.) und Indizes (Like-Anzahl, Freundes-Anzahl) einzuordnen und zu bewerten. Wiedemann (2017) spricht gar, mit Bezug auf Facebook, vom „Assessment Center des Lebens“, in dem sich die Userinnen und User wechselseitig einer „Evaluation, der Prüfung von Persönlichkeitsmerkmalen“ (ebd.: 84) unterziehen. Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung befördern sich hierbei gegenseitig. Diese Dynamik fasst Ulla Autenrieth (2014) unter dem Begriff des ‚peer-reviewing‘ und macht damit zugleich klar, dass Bewertung und Evaluation als Komponente der Alltagskommunikation nicht auf öffentlich-anonymen Austausch begrenzt ist - sie finden ebenso Einzug in den Austausch vor privaten bzw. teil-öffent‐ lichen Publika (z. B. Freundschafts-Netzwerken). Damit einher geht nach Autenrieth eine Veränderung der Handlungslogik in Form einer Theatrali‐ sierung der Bild- und Sprechakte - der entscheidende Faktor ist hierbei der des Publikums: „Eine Handlung kann dann als theatralisiert betrachtet werden, wenn sie nicht mehr nur darauf abzielt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern darüber hinaus gleichzeitig ein bestimmtes Publikum adressiert. Im Zuge dieser Außenorientie‐ rung verändert sich die Handlungslogik, denn eine theatrale Geste orientiert sich sowohl an der Erreichung eines Zieles als auch an der gekonnten Aufführung der Handlungsdarstellung […]“. (Autenrieth 2014: 239) Die starke Publikumsorientierung im Netz sorgt also nicht nur dafür, dass der Grad der Selbstreflexivität und der bewussten Selbstinszenierung steigt - die Art der Selbstdarstellung wandelt sich zusätzlich: Theatralisierung und Ästhetisierung werden zu tragenden Momenten der Darstellungen. Willems (2009) hat den ursprünglich auf Unmittelbarkeit und körperlicher Anwesenheit basierenden Theatralitätsbegriff (vgl. Fischer-Lichte 1998) für medial-vermittelte Kommunikations- und Interaktionsprozesse 10 einer 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 80 Revision unterzogen. Der fehlende Aspekt der Körperlichkeit wird bspw. durch neue Inszenierungsmöglichkeiten substituiert und reintegriert. Dar‐ unter fallen Formen konzeptueller Mündlichkeit im Schriftmodus, aber insbesondere Praktiken der Visualisierung, wie Willems betont: „Mediatisierung ist Theatralisierung wesentlich im Sinne von Visualisierung. Dabei geht es einerseits um das Bild und den Aufstieg des Bildes als Entsprechung der primären Theatralität der (Bühnen-)Anwesenheit mit dem symbolischen Körperausdruck (Korporalität) im Zentrum. […] Theatralisierung liegt hier auch in der technischen Steigerung und gesteigerten Nutzung der Möglichkeiten bildlicher Fiktionalität, die natürlich Verbindungen mit Sprache eingehen kann und regelmäßig eingeht“. (Willems 2009: 48) Theatralisierung und Ästhetisierung liegen nahe beieinander. Während der Begriff der Theatralisierung auf dynamische Kommunikations- oder Inter‐ aktionsvorgänge abzielt, bezieht sich Ästhetisierung vorwiegend auf die Herstellung bestimmter Wahrnehmungen: den Design- und Inszenierungs‐ werten. Unter ästhetischer Arbeit versteht Böhme (2016) „die Gesamtheit jener Tätigkeiten […], die darauf abzielen, Dingen und Menschen, Städten und Landschaften ein Aussehen zu geben, ihnen eine Ausstrahlung zu verleihen, sie mit einer Atmosphäre zu versehen oder in Ensembles eine Atmosphäre zu erzeugen“ (ebd.: 26). Ästhetisierungspraktiken nehmen nach Böhme zu, da sie Begehrnisse wecken. Im Gegensatz zu Bedürfnissen könnten diese nicht befriedigt, sondern nur gesteigert werden (ebd.: 28). Wer Begehrnisse weckt, weckt also dauerhafte Nachfrage. Und Begehrnisse weckt nur, wer ästhetische Arbeit leistet, d. h. wer Menschen, Umwelt und Produkte mit dem Versprechen versieht, zur „Ausstattung des Lebens“, zu „Ruhm“ und „Mobilität“ beizutragen, und nicht zuletzt: „gesehen und gehört zu werden“ (ebd.: 12). Dies birgt für die Kommunikation auf sozialen Netzwerken einen weiteren Aktualitätsaufruf: Der content muss aktuell sein, um die eigenen oder die Begehrnisse des Publikums zu bedienen. Sowohl Theatralisierung als auch Ästhetisierung setzen also ein Publikum voraus. Je relevanter spezifische Publika werden, desto reflektierter und strategischer fallen die Inszenierungen aus. Der gesteigerten Selbstreflexi‐ vität auf Seiten der Produzierenden entspricht auf der Seite der jeweils Rezipierenden eine Tendenz zur ‚Hyperinterpretation‘. Im theatralen Spiel mit der Oberfläche schauen Nutzende genauer hin und machen „more out of others‘ small cues than they might face-to-face“ (Baym 2015: 135). 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 81 Theatralisierungs- und Ästhetisierungspraktiken sind dabei immer einge‐ bettet in umfassendere Praktiken des Beziehungsmanagements. Die sozialen Medien sind keineswegs nur eine Bühne der Selbstbespiegelung, sondern Orte, an denen Nutzende Beziehungen unterhalten und pflegen. So konsta‐ tiert Zappavigna (2015) für die Plattform Twitter: „[…] people user Twitter and other microblogging services to share their experi‐ ences and enact relationships rather than to simply narrate the mundane details of their activities, as has been claimed in the popular press“ (ebd.: 14). Serafinelli und Villi (2017) betonen die Bedeutung von Reziprozität auch für Instagram und Autenrieth hält für die Bildkommunikation auf Facebook fest: „Das Prozessieren der Bilder und die daran anschließende Kommunikation offen‐ baren ein starkes Bedürfnis der Userinnen nach gemeinschaftlichem Handeln. Hierbei werden Beziehungsart und Beziehungsintensität klar differenziert und artikuliert. In diesem Sinne liegt der Fokus bildzentrierter Kommunikation häufig auf der Darstellung bzw. dem Aushandeln von Freundschaft und Gemeinschaft“ (Autenrieth 2014: 237). Userinnen und User sind auf diesen Plattformen eingebunden in lose soziale Netzwerke von schwachen („weak ties“) und starken Bindungen („strong ties“) (vgl. Granovetter 1973). In gleichem Maße wie man von networked sociality spricht (Wittel 2001), muss man also auch von einem networked self (Papacharissi 2011) sprechen, das sich über seine Einbettung und seine Position innerhalb dieser Netzwerke definiert. Wie im Offline-Leben auch bauen Personen in diesen Netzwerken Sozialkapital auf und pflegen es. Sozialkapital kann dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen: seien es emotionale Gewinne, Hilfestellung und Unterstützung, Wertorientierung oder Einfluss (vgl. Kneidinger 2010). Die neue Reichweite sozialer Netz‐ werke führen scheinbar aber auch dazu, dass Beziehungspflege im wahrsten Sinne des Wortes zum Beziehungsmanagement wird. Die einzelnen Knoten im Netzwerk nehmen zu und damit die Zahl an unterschiedlichen Personen aus ganz verschiedenen Kontexten. Diese heterogenen Beziehungen müssen koordiniert werden, damit es nicht zum context collapse kommt: „This growing diversity has contributed to cases of ‚context collapse‘, which describes the ways in which individuals that we know from different social 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 82 contexts come together in SNSs in potentially uncomfortable ways“ (Ellison/ Boyd 2013: 156). Sich gleichzeitig an mehrere, nicht zusammenpassende Personengruppen zu wenden, birgt für die Nutzenden das Erfordernis, die eigenen Beiträge auf dieses heterogene Publikum abzustimmen. Insofern es sich um (teil-)öf‐ fentliche Kommunikation handelt, muss also ganz genau abgewogen und eben gemanagt werden, wem was wann und wie gezeigt wird. Beiträge müssen daher so angelegt werden, dass der einen Gruppe (zum Beispiel den Arbeitskollegen) nicht zuviel gezeigt wird (um sich bspw. nicht zu diskreditieren) und der anderen Gruppe (z. B. den Freunden) nicht zu wenig gezeigt wird (um interessant zu bleiben). Die Nutzenden versuchen mit unterschiedlichen Strategien (vgl. Wagner 2014) im Spannungsfeld von Privatheit und (Teil-)Öffentlichkeit Anknüp‐ fungspunkte zu schaffen und Aufmerksamkeit zu generieren, ohne dabei die eigene Intimsphäre bzw. Territorien des Selbst zu gefährden (vgl. Autenrieth 2014: 159). Pscheida und Trültzsch (2010) stellten in ihrer empirischen Studie fest, dass auf der SNS StudiVZ Bilder dominierten, die „zwar einen möglichst authentischen Eindruck machen, dabei aber noch einem Mindestmaß an In-Szene-Setzung genügen“ - dass Privatheit also nicht zugunsten von Aufmerksamkeit suspendiert werde, sondern es ein „bewusstes Abwägen der Nutzer/ -innen zu geben scheint“ (ebd.: 174/ 175). Dabei ist jedoch durchaus fraglich, ob überhaupt noch auf einen allge‐ meinverbindlichen Begriff von Privatheit und Intimität zurückgegriffen werden kann. Schroer etwa stellt den Unkenrufen vom Verlust der Privatheit und der Tyrannei der Intimität (Sennett 1993) folgende Fragen entgegen: „Soll vielleicht gerade durch die extrovertierte Zurschaustellung privater und intimer Informationen von dem abgelenkt werden, was man wirklich für privat und intim hält? Wird als privat einfach längst nicht mehr das angesehen, was die Verteidiger der Privatheit als solches ausgeben? Suchen wir das Private womöglich an der falschen Stelle? Verstellt uns die tradierte Entgegensetzung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ womöglich den Blick auf die Bedeutungsverschiebungen, die diese Kategorien gegenwärtig erfahren? “ (Schroer 2013: 27) Dieser Perspektive entspricht ein relativer Begriff von Privatheit. Anders ausgedrückt: Als privat hat zu gelten, was Menschen als privat verstehen und behandeln (vgl. Maleyka 2019). 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 83 Gleiches gilt für den Begriff der Authentizität. In Anbetracht der zuneh‐ mend theatralen Inszenierungen im Netz wird immer wieder pauschale Kritik geäußert, die sich auf unwahre Selbstdarstellungen bezieht. Es stehen dabei nicht so sehr böswillige Täuschungsversuche und Vorspiegelungen falscher Identitäten im Vordergrund. Vielmehr äußert sich die Kritik im Vorwurf der Inauthentizität. Nutzenden wird also vorgeworfen, sich anders darzustellen, als sie tatsächlich sind. Dabei wird, analog zur Privatheits‐ debatte, stillschweigend ein allgemeingültiges Authentizitätsverständnis vorausgesetzt. Doch darüber, was denn nun als authentisches oder nicht-au‐ thentisches Selbstbild zu gelten habe, herrscht kein Konsens, wie u. a. Brant‐ ner und Lobinger (2015) zeigen konnten. Die Authentizitätsverständnisse als auch die Authentizitätsansprüche fallen sehr unterschiedlich aus. Aus‐ schlaggebend sind dabei nicht immer nur die Einstellungen der Nutzenden, sondern auch die Plattformen selbst. 3.3.3 Affordanzen und mediatisierte Körperlichkeit Je nach Plattform unterscheidet sich, welche individuellen Eigenschaften von Nutzenden hervorgehoben, welche Stilistiken eingesetzt und welche Inhalte angesprochen werden. Eine entscheidende Rolle spielen dabei neben den Nutzenden selbst auch die technischen Affordanzen. Darunter können Handlungsangebote oder -reize verstanden werden, die von technischen Artefakten ausgehen. McVeigh-Schultz und Baym sprechen von der Bezie‐ hung zwischen den materialen Strukturen einer Technologie und der An‐ eignung dieser Technologie durch die Nutzenden (vgl. McVeigh-Schultz und Baym 2015: 10). Im Falle von sozialen Netzwerkseiten ist mit der materialen Struktur insbesondere die Benutzeroberfläche gemeint, die sich aus viel‐ fältigen Design- und Nutzungselementen zusammensetzt. Meier (2009) be‐ schreibt etwa, wie das ausgefeilte Voting- und Ratingsystem der Seite Flickr Bild-Sharing-Praktiken hervorbringt (bzw. anreizt), die sich grundlegend von denen auf sozialen Netzwerkseiten unterscheiden. McVeigh-Schultz und Baym (2015) wiederum haben detailliert herausgearbeitet, welche Rolle verschiedene technische Elemente im Aneignungsprozess der Pärchen-App Couple spielten und dabei sieben verschiedene Affordanz-Ebenen identi‐ fiziert. Auf der medienökologischen Ebene spielen bspw. Eigenschaften eine Rolle, die Plattformen trotz ähnlicher Kommunikationsmöglichkeiten voneinander unterscheiden und unterschiedliche Nutzungsmotivationen evozieren. Im empirischen Material von McVeigh-Schultz und Baym zeigte 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 84 11 Dabei kann es sich durchaus auch um Mensch-Technik-Interaktionen handeln (vgl. Oswald 2019b), bspw. beim Self-Tracking (vgl. Krämer & Klinge 2019). 12 Vgl. auch de Certeau (1984). sich das unter anderem darin, dass die befragten Personen Couple gegenüber anderen Messengern oder Sozialen Netzwerkeseiten als angemessenste Plattform für die Kommunikation mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin einschätzten. Die Interface-Ebene wiederum verweist auf konkrete, plattfor‐ mimmanente Nutzungs- oder Darstellungselemente. So verführt z. B. der Like-Button auf Facebook zur ‚Fast-Food‘-Kommunikation, während die Gesehen-Häkchen bei WhatsApp Antwortdruck auslösen. Technologien in ihren unterschiedlichsten Facetten formen also die Selbstdarstellungen und Interaktionen in den digitalen Kommunikationsräumen. 11 Digitale Medien und soziale Netzwerkseiten fungieren auch dort als Affordanzen, wo sie als Technologien der Selbstdisziplinierung (vgl. Walker Rettberg 2014) unser Verhalten im Bewusstsein eines unsichtbaren Publi‐ kums oder aufgrund eines permanenten Feedbackstroms prägen. Feedback manifestiert sich dabei nicht ausschließlich visuell, sondern oft auch als Laut- oder Vibrationssignal (z. B. bei Push-Up-Nachrichten), auf das man körperlich (bspw. mit Griffroutinen) und mental (mit bestimmten Erwar‐ tungshaltungen oder psychischen Reaktionen) reagiert. Affordanzen sollten natürlich nicht mit Technikdeterminiertheit gleichgesetzt werden. Dort, wo Handlungsangebote bestehen, besteht auch immer die Möglichkeit, auf diese nicht oder anders einzugehen. Technologien schaffen Handlungskorridore, in denen bestimmte Handlungen fokussiert und angetragen werden, wäh‐ rend andere in der Peripherie bleiben. Technologien müssen also angeeignet werden; sie können die Art und Weise, wie sie gebraucht werden nur nahe-, aber nicht festlegen. Dort wo Technologien bewusst und gezielt (und vor allem bewusst entgegen der ursprünglichen Intention) angeeignet werden, sprechen Vainikka et al (2017) von Taktiken: „[T]actics are a creative way of negotiating situations of everyday life, often more spontaneous and opportunistic […]“ (ebd.: 110). 12 So sind die bereits angesprochenen Formen unbestimmter Kommunikation oft Taktiken, mit denen sehr bewusst auf Zumutungen wie auch Ansprüche von außen reagiert wird. Nutzende kommen eben nicht fremdgesteuert den Aufforderungen des Facebook-Eingabefelds nach („Was machst Du gerade…? “). Die Anrufung schafft zwar einen spezifischen Anreiz, doch 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 85 in letzter Instanz entscheiden die Nutzenden selbst, ob, wie und wann sie darauf reagieren. Anders verhält es sich, wenn man algorithmische Verfahren der Daten‐ akkumulation und -bearbeitung in Betracht zieht. Wenn der Algorithmus bestimmt, was wir auf Pinnwänden, Feeds und Chroniken (zuerst) zu sehen bekommen, wenn Facebook persönliche Jahresrückblicke generiert und Google-Fotos aus dem eigenen Archiv Bilderserien zusammenstellt, dann wirken digitale Plattformen im wahrsten Sinne des Wortes als technisch automatisierte Biographiegeneratoren (vgl. Hahn 1987). Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit scheint die Rede vom „Tod des Autors“ (vgl. Barthes 2005) mehr als nur eine Metapher zu sein: menschliche Autorenschaft wird durch algorithmische abgelöst (vgl. Simanowski 2016). Solche ‚top-down-Dynamiken‘ sind jedoch noch relativ selten - so hat man es bei den genannten automatisch-generierten Kompendien auch selbst in der Hand, diese zu veröffentlichen oder eben nicht. Bestimmend für Mensch-Technik-Interaktion ist derzeit immer noch das Wechselspiel von (technischer) Anrufung und Reaktion. Technologien haben im Vergleich zu früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten aber an Eigenmächtigkeit ge‐ wonnen. Insbesondere in Anbetracht von Entwicklungen wie dem Internet der Dinge und smart technologies verschiebt sich die Rolle der Nutzenden zunehmend: die Behandelnden werden zu Behandelten. Während Affordanzen in der Regel nur hinsichtlich ihrer kognitiven und handlungs-strukturierenden Effekte thematisiert werden, beschäftigen sich Embodiment- und verwandte Ansätze insbesondere mit den körperlichen und leiblich-affektiven Auswirkungen von Mensch-Technik-Interaktionen. Schon Marshall McLuhan (1964) verstand Medien als „extensions of man“. Allerdings wurden Technologien vor diesem Hintergrund oft nur als mentale Prothesen (Kucklick 2014) betrachtet, die Gedächtnis- und Intelligenz-Funktionen übernehmen (vgl. Hand 2012: 192/ 193). Insbesondere Smartphones und andere neue mobile Endgeräte prägen unsere Wahrneh‐ mung und unser Verhalten weit darüber hinaus. Sie sind mittlerweile Teil der eigenen Ich-Erzählung geworden (vgl. Frith 2015): wir schreiben Freunden, Bekannten und der Öffentlichkeit Nachrichten, schicken Bilder und teilen unseren Standort mit: Indem wir zeigen, wo wir sind und was wir machen, zeigen wir immer auch, wer wir sind (bzw. wie wir gesehen werden möch‐ ten). Insbesondere Orte werden dabei zu identitätskonstitutiven Merkmalen - paradigmatisch hierfür steht das Selfie: 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 86 „The background of a typical selfie photo identifies the place, and shows the activity and the ambience of this place. In this way, the person(s) in the selfie become part of a situation, rather being shown in isolation.“ (Tifentale & Manovich 2018: 14) Das Selfie bietet Userinnen und Usern also die Möglichkeit, sich selbst (visuell-körperlich) in Situationen und Ereignissen zu ‚verankern‘, sich unlösbar damit zu verbinden. „To type oneself into being“ (Sunden 2003) weicht hier dem Prinzip des ‚to picture oneself into being‘. Das Selbst wird digital-visuell verkörpert. Der jederzeit und allen Ortes mögliche Einsatz von Smartphones, insbe‐ sondere der Kameras, scheint darüber hinaus auch Auswirkungen auf das Raumbewusstsein und die Ortswahrnehmung zu haben. So berichten die Befragten in einer Studie von Serafinelli und Villi (2017), dass Instagram ihnen helfe, die Dinge und die Welt um sich herum ‚anders zu sehen‘ (ebd.: 179) - sie nehmen insbesondere deren Zeigewert bzw. ‚instagramability‘ wahr. Auch Couldry und Hepp betonen, dass die Dokumentationen und Darstellungen im Netz Einfluss auf das nehmen können, was dokumentiert und dargestellt werden soll: „Depending on the exact balance between expected and unexpected componentes within the audience, the expectations, even norms, of distant audiences can start to shape not just the writing, but even the life-process on which the writing was meant to report“ (Couldry & Hepp 2017: 159). So verändern digitale Technologien z. B. auch die Art und Weise, wie wir Kunst erfahren (Bruns 2016), indem sie uns neue Perspektiven ermöglichen; oder sie verändern, wiederum standortbasiert, das Gemeinschaftsgefühl, wenn mit Spielen wie Ingress oder Pokémon Go die Nahumgebung ge‐ meinsam erschlossen wird (Ganzert et al 2017). Solche „augmented-rea‐ lity“-Spiele erweitern die sinnlich erfahrbare Welt virtuell und damit auch die Art und Weise, wie wir auf sie Bezug nehmen und einwirken. Aber die Nutzung (und eben nicht nur die Rezeption) digitaler Medien verändert auch Körperwahrnehmungen, -praktiken und -routinen. So stellt Autenrieth (2014: 22) fest, dass „Nachahmung und Repetition [von Kör‐ perbildern] wesentliche Gestaltungsstrategien in den Selbstpräsentationen jugendlicher UserInnen“ darstellen. Hegemoniale Körperbilder werden aber regelmäßig auch unterlaufen. Solch subversive Bildpraktiken können als Ventil und Ausdruck leiblichen Unbehagens (vgl. Schär 2019) angesichts bestimmter Schönheitsideale und Geschlechterklischees dienen, oft sind 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 87 sie aber auch Mittel eines spielerisch widerständigen Umgangs damit (vgl. Richard et al 2010). Auch die Praxis des Selfies wird von einigen Theoretikern als Empowerment vor allem weiblicher Körperlichkeit verstanden (vgl. Tiidenberg 2014, kritisch hierzu: Schönberger 2017). Schon an diesen kurzen Beispielen zeigt sich, wie stark Technologien, Darstellungspraktiken und Emotionen zusammenhängen. Sie sind aber nur ein Teil eines größeren Trends, der zunehmend das Lustprinzip zum Dreh- und Angelpunkt digitaler Praktiken macht: Die Nutzenden suchen auch und gerade in virtuellen Welten gezielt nach leiblich-ästhetischen Erfahrungen (vgl. Simanowski 2016, Reckwitz 2017). 3.3.4 Zwischenfazit: Digitale Plattformen als Bezugsräume des Selbst Wie die vorangehenden Kapitel gezeigt haben, sind soziale Medien weit mehr als nur digitale Selbstdarstellungsbühnen. Die Einzelnen konstruieren hier zwar durchaus unter den Vorzeichen der Aufmerksamkeitsökonomie (Franck 2007) persönliche Images und (Cyber-)Identitäten, doch tun sie das nicht isoliert voneinander. Digitale Kommunikationsräume sind im‐ mer auch Beziehungsräume, in denen Menschen miteinander interagieren, aufeinander reagieren und sich so gegenseitig in ihren Selbstentwürfen beeinflussen, ob bestätigend, konkurrierend oder explizit zurückweisend. Es sind aber auch Räume diffuser Interdependenzstrukturen, in denen über direkte Interaktion und persönliche Nahbeziehungen hinaus Vergemein‐ schaftungs- und Vergesellschaftungsprozesse initiiert und etabliert werden. In einem solchen Verflechtungszusammenhang entstehen zwangsläufig auch Selbstzurechnungen, die über das eigene personale Ich hinausgehen: Gemeinschaftsgefühle, Gruppenidentifikationen und kollektive Subjekte. Nicht zuletzt sehen wir uns, wenn wir bloggen, mit anderen Menschen chatten oder Selfies hochladen, auch immer Technologien und deren Af‐ fordanzstrukturen gegenüber. Der Umgang mit dem Smartphone oder die Navigation auf einer sozialen Netzwerkseite prägen unsere Selbstbezüglich‐ keit und unser Selbstbild. So besehen erweisen sich soziale Medien als vielschichtige „Bezugsräume des Selbst“ (Herma 2019). Nach Herma konstituiert sich „das Selbst erst in Korrespondenz mit sozialen Resonanzräumen“, d. h. „in spezifischen Bezugsfeldern […], in denen es für sich überhaupt erst zum Thema werden kann, sich darin also wahrnehmen, bearbeiten und überprüfen kann“ (ebd.: 32). Die Art 3 Forschungsstand - Selbst und Gemeinschaft im Nexus von Mediatisierung … 88 13 Herma (2019) nennt in seiner Arbeit vier Formen bzw. der Selbstbezüglichkeit: das biografische Sprechen, persönliche Beziehungen, Generation sowie Popkultur. Er verweist aber darauf, dass weitere Formen existieren und sämtliche dieser Formen feld- und situationsspezifisch stets binnendifferenziert werden können (ebd.: 32/ 33). und Weise, wie ein Ich dabei auf sich Bezug nimmt, kann stark variieren - von implizit zu explizit, experimentell zu konventionell und zwischen unterschiedlichsten Zeichenmodalitäten und Beziehungskonstellationen wechselnd 13 . Soziale Netzwerkseiten stellen spätmoderne Institutionen der Selbstthematisierung dar, die einen jeweils spezifischen Horizont der Selbst‐ bezüglichkeit aufspannen (vgl. Wiedemann 2017), d. h. eine spezifische Art des Selbst- und Weltbezugs ermöglichen und Legitimationsinstanzen für die so entstehenden Selbstentwürfe bereitstellen. Für soziale Netzwerkseiten ist charakteristisch, dass sie eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Ich, seinen unterschiedlichen Facetten und Darstellungsweisen anreizen und damit eine „spezifische Reflexivität des Selbstbezugs“ (Herma 2019: 206) einfordern. Auch Instagram ist, wie noch im Detail gezeigt werden wird, ein solcher reflexiver Bezugsraum, in dem genuine Selbst- und Anerkennungs‐ praktiken entstehen. 3.3 Das Selbst in digitalen Bezugsräumen 89 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität Medien- und Kommunikationsforschung ist ein weites, über viele Fachbe‐ reiche und Disziplinen verstreutes Feld. Das folgende Kapitel dient der Verortung der Arbeit innerhalb dieses Felds. Es beschreibt die Analyse‐ perspektiven und Forschungsrichtungen, denen die Studie folgt und legt Arbeitsdefinitionen für die wichtigsten der verwendeten Begrifflichkeiten dar. Zu Beginn wird kurz der allgemeine subjektivierungs- und praxistheo‐ retische Zugang erläutert, welcher der Studie zugrunde liegt. Anschließend werden die Begriffe Kommunikation und Medium definiert. Zum Schluss werden drei Analyseperspektiven vorgestellt, die den Fokus der Untersu‐ chung bestimmten: das multimodale Bildhandeln, der Kommunikationsstil und das Konzept der synthetischen Situation. 4.1 Subjektivierung und Praxistheorie Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Selbstverhältnisse im Netz zu un‐ tersuchen. Hierfür wurde ein subjektivierungs- und praxistheoretischer Zugang gewählt. Die Subjektivierungsforschung möchte das Selbst in seiner umfänglicheren sozialen Beschaffenheit fassen, abseits eher psychologisch verfasster Identitäts- und Selbstkonzepte. Wegweisend für die Subjektivie‐ rungsforschung waren und sind die Studien Michel Foucaults, der den grundlegenden postmodernen Subjektbegriff prägte: „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhän‐ gigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.“ (Foucault 1987: 246 f.) Foucault geht also nicht mehr vom klassischen Subjekt-Begriff der Moderne aus, der auf den Prinzipien der Autonomie und Rationalität aufbaute. Radikal konträr hierzu entwirft er Subjekte als in verschiedene Machtstrukturen und Disziplinartechniken eingespannte Körper, die erst in ihrer Fremd-An‐ 1 Hirschauer (2004: 74) fasst unter diesem Begriff all „jene Entitäten […], die an Praxis teilhaben und in ihre Dynamik verwickelt sind. Menschen und andere Lebewesen, Körper und Textdokumente, Artefakte und Settings“. rufung - durch Diskurse - zur sozialen Existenz gebracht werden. Nach Reckwitz umfasst das Subjekt die gesamte „kulturelle Form, in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird“ (Reckwitz 2008: 17). Identität und Selbst versteht Reckwitz wiederum synonym als diejenigen Subjekt-Aspekte, die sich als „Selbstverstehen“ oder „Selbstinterpretation“ äußern (ebd.). Die Subjekttheorie erhebt also den Anspruch umfassender als Identität- und Selbsttheorien zu sein, die sie gleichermaßen umschließt. Maßgebend im Bereich der Subjektivierungsforschung sind derzeit ins‐ besondere die praxistheoretischen Modelle (vgl. Alkemeyer 2013, Reckwitz 2003 & 2012). Merkmale praxistheoretischer Ansätze sind der Bezug auf implizites Wissen, das Wechselspiel von Routine- und Emergenzprozessen sowie die Betonung der performativen und materiellen Dimension der Subjektivierung. Praxeologisch betrachtet ist das Subjekt das Ergebnis vieler unterschiedlicher „doings and sayings“ (vgl. Schatzki 1996), sowohl seiner eigenen als auch anderer Beteiligter. Es entsteht innerhalb eines vielschich‐ tigen Beziehungs- und Bedeutungsgeflechts, in das sowohl menschliche wie auch nicht-menschliche „Partizipanden“ (Hirschauer 2004), z. B. technische Artefakte, eingebunden sind 1 . Die Praxistheorie verfolgt also einen dezidiert anti-essentialistischen Ansatz zur Beschreibung der Entstehung von Subjekten. Anstelle von Zuständen untersucht sie Vorgänge, z. B. der Subjektivierung, Subjektformie‐ rung oder Subjektivierungsweisen. Damit wird nicht zuletzt der relationalen und veränderlichen Strukturiertheit von Subjekten Rechnung getragen. Diese Subjektwerdung vollzieht sich einerseits in aktiven und intentionalen Handlungen. Darunter sind z. B. Techniken, Praktiken und Orientierungs‐ schemata zu verstehen, die „der Einzelne ausbildet, um jener ‚Mensch‘ zu werden, den die jeweiligen gesellschaftlichen Ordnungen voraussetzen“ (Reckwitz 2008: 10). Andererseits kann Subjektivierung auch ein passiver und unintendierter Vorgang sein, in dem „Formen des Körpers und der Psyche“ (ebd.) oft sogar nur beiläufig produziert und reproduziert werden. Dabei wird das Selbstverhältnis der Akteure stärker von außen geformt und gesteuert - bspw. durch ökonomische Sachzwänge, Ratgeber, Erzie‐ hungsinstitutionen, staatliche Registrierungsprozesse, aber eben auch durch 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 92 Kommunikationsmedien. Insbesondere für die Spätmoderne ist festzustel‐ len, dass Selbst- und Fremdsteuerungsmechanismen immer stärker zusam‐ menfallen (vgl. Maasen 2011, Neckel 2005). Bührmann (2012) unterscheidet ganz ähnlich zwischen Subjektivierungsformen und Subjektivierungswei‐ sen. Subjektivierungsformen beziehen sich überwiegend auf institutiona‐ lisierte Diskurse, die - ähnlich einem „Anforderungskatalog“ (Reckwitz 2008: 140) - explizit thematisieren und ausformulieren „wie Menschen sein sollen“ (Bührmann 2012: 153) bzw. wie Menschen sind und die deren Selbstverhältnis explizit formen. In Subjektivierungsweisen wird das ‚Sein‘ von den Akteuren hingegen vorrangig ‚praktiziert‘ und das Subjekt implizit geformt. Foucault zielt auf ähnliche, wenngleich stärker selbstreflexive Prozesse der Subjektivierung ab, wenn er von Technologien des Selbst spricht. Hierbei handele es sich um Praktiken „die es den Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln, bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen.“ (Foucault 1984: 35 ff.). Einen etwas anderen Fokus auf das Selbst legt Bourdieus Habitusbegriff: Dieser betont vor allem die implizit produktiven Kräfte des Selbst. Handlungen, Wahrnehmungen und Bewertungen sind im Habitus nicht mehr Produkt von Reflexion und ästhetischer Wahl, sondern als Schemata verankerte, „inkorporierte Notwendigkeit[en]“ (Bourdieu 2013: 278). Der Habitus als Selbst- und Weltverhältnis - als „Verhaltensgrammatik“ (Krais & Gebauer 2014: 32) - ist natürlich kein angeborenes Programm oder ein Zustand ex nihilo. Als praktischer Sinn ist er sozial strukturiert, d. h. ontogenetisch geprägt, wirkt aber sozial strukturierend zurück. Die verschiedenen Theorien, Ansätze und Analyseprogramme werden hier als Werkzeuge betrachtet, die gegenstandsorientiert zum Verständnis und zur Erklärung des Datenmaterials beitragen sollen. Insofern legt sich die vorliegende Arbeit auch auf keine Terminologie fest. Es gilt stattdessen im Einzelfall zu prüfen, welchen Beitrag die unterschiedlichen Konzepte im Bereich der Identitäts- und Subjektivierungsforschung zur Erhellung des Gegenstands leisten können. 4.1 Subjektivierung und Praxistheorie 93 4.2 Kommunikation Gemeinhin wird unter Kommunikation der verbale oder nonverbale Aus‐ tausch zwischen Lebewesen verstanden. Während der Begriff heutzutage gebräuchlich ist, wurde er bis ins 19. Jahrhundert sehr eingeschränkt fast ausschließlich im religiösen Kontext gebraucht. Etymologisch leitet sich Kommunikation von koinonίa ab, was so viel wie „Anteilnahme oder Teilnahme an einer öffentlichen Sache“ (Rommerskirchen 2017: 112) bedeu‐ tet. Im Lateinischen fand Kommunikation als communicatio (Teilen) und communio (Gemeinschaft) Aufnahme in die christliche Terminologie. Am verbreitetsten im Deutschen war der Begriff wohl in den abgeleiteten Varianten Exkommunikation, womit die Verbannung bzw. Herauslösung aus der christlichen Gemeinschaft bezeichnet wurde, und Kommunion, als Bezeichnung für das Abendmahl bzw. das Aufnahmeritual in die christliche Gemeinschaft (ebd.: 113). Die semantische Nähe zu den altgriechischen Bezeichnungen für Mitteilung und Verständigung rückte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Deutschland sogar erst nach dem 2. Weltkrieg, wieder in den Fokus und wurde schließlich begrifflich reinstituiert (ebd.: 115). Der Begriff umfasst seit seiner Prägung also ein Denotatsfeld, das von Gemeinschaft über Verständigung bis hin zu Transport reicht. Entscheidend für die Kommunikationsforschung im 20. Jh. bis heute sollte Ferdinand de Saussures (2011) Modell vom Kreislauf des Sprechens werden, wenngleich der Begriff Kommunikation in seiner Abhandlung „Grundfra‐ gen der Sprachwissenschaft“ von 1916 noch nicht fällt. Das Verständnis von Kommunikation, welches sich in Saussures Kreislauf des Sprechens ausdrückt, ist das eines psycho-physischen Übertragungsprozesses von Vorstellungen und Gedanken. Saussures Kommunikationsmodell war, sei‐ nem Selbstverständnis als Linguist, interdisziplinär angelegt und vereinte naturwissenschaftliche mit philosophischen und anthropologischen Über‐ legungen. Im Zuge des Bedarfs an neuen Kriegs- und Spionagetechnologien gab es Anfang des 20. Jahrhunderts aber auch ein zusehends praktisches In‐ teresse an Theorien zur Übertragung und Verschlüsselung sprachlicher Zei‐ chen. Aus diesem Interesse gingen die naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen der Informatik und Kybernetik hervor, die den Kommunikati‐ onsbegriff vor allem in den 40er-Jahren entscheidend weiterentwickelten und schließlich auch im kulturellen Gedächtnis verankerten (vgl. Wiener 1968). Die Begrifflichkeit fasste zwar schon in den 30er-Jahren in der Psychologie (Bühler: 1982), der Soziologie (Mead 1978, Schütz 2004) und 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 94 anderen Disziplinen Fuß, für die Öffentlichkeit wurde sie aber ohne Frage am stärksten von den informationswissenschaftlichen Kommunikationsmo‐ dellen geprägt. Diese waren vorwiegend mit der Frage beschäftigt, wie Informationen technisch übermittelt werden können. Shannon und Weaver, zwei Mathematiker und Telekommunikationstechniker, entwarfen Ende der 40er Jahre ein Modell, das auf Saussures Kreislauf des Sprechens aufbaut und noch heute insbesondere das Alltagsverständnis von Kommunikation prägt. Dieses „Sender - Empfänger“-Modell (Shannon & Weaver 1976) geht, in seiner einfachsten Variante, davon aus, dass Kommunikation dann besteht, wenn Informationen von einem Sender ausgehen und, vermittelt durch einen Kanal, von einem Empfänger erhalten und interpretiert werden. Eine zweite Konjunktur und Prägephase erlebte der Begriff in den 70er-Jahren, als er von der systemischen Psychotherapie und der System‐ theorie aufgegriffen wurde. So bauen Watzlawick, Beavin und Jackson (1972) als auch Friedemann Schulz von Thun (1981) ihre kommunikationspsycho‐ logischen Modelle im Kern auf Saussure bzw. Shannon und Weaver auf, ergänzen sie jedoch um einen entscheidenden Aspekt. Kommunikation übertrage neben dem kognitiven Gehalt einer Mitteilung - der Informa‐ tion - immer auch implizit oder explizit persönliche Stellungnahmen. Jede Kommunikation enthält daher „einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt“ (Watzlawick et al 1972: 53, Hvh. i. O.). Diese Definition ist bis heute prägend für die alltagsweltliche Verwendung des Begriffs. Niklas Luhmann wiederum konzipiert Kommunikation im Rahmen der Systemtheorie, die selbst als eine Art Sozialkybernetik verstanden werden kann, kontraintuitiv als autopoeitische Operation sozialer Systeme (Luh‐ mann 1998). Diese Operation bestehe aus einer dreiteiligen Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen zwischen Ego und Alter, wobei Kommunikation tatsächlich erst mit dem Verstehen der Information und ihrer Trennung von der Mitteilung durch Alter beginne. Menschen im eigentlichen Sinne tauchen in diesem Modell nicht auf, nur ‚psychische Systeme‘ - Bewusstsein - das auf Basis von Gedanken operiert. Kommuni‐ kationsverläufe geben sich, in einer Art Selbstsimplifizierung, immer nur „als Handlungen aus, indem sie Personen zugerechnet werden“ (Wevelsiep 2000: 28). Solchen kybernetisch bzw. informationstheoretisch geprägten Modellen von Alltagskommunikation wirft Hubert Knoblauch vor, eine mentalistischbzw. kognitivistisch-verengte Sicht auf kommunikative Ereignisse anzulegen: 4.2 Kommunikation 95 „Weil sie übersehen, dass Kommunikation ein Handeln ist, verlieren sie die Handelnden aus dem Blick; erst so gerät ihnen jeder Ausdruck des Subjektiven sofort zur absichtslosen Kommunikation“ (Knoblauch 2018: 176). Mit dieser Kritik steht Knoblauch in einer Linie mit Autoren wie John Searle oder Michael Tomasello. Für beide ist Kommunikation eng mit Absichten und Handeln verknüpft. Nach Searle besteht Kommunikation aus Sprechakten. Sprechakte sind Äußerungen, die zugleich Handlungen vollziehen, bspw. Warnungen, Behauptungen oder Bekundungen. Zeichen oder Laute werden erst in diesen Akten sozial relevant. Nach Searle stellen Sprechakte die Grundlage sozialer Wirklichkeiten dar, da durch sie Status‐ funktionen zugeschrieben sowie konstitutive Regeln aufgestellt werden, die durch fortwährende Anerkennung oder Akzeptanz zu Institutionen bzw. institutionellen Tatsachen gerinnen. Neben der Statuszuschreibung und der Regelimplementierung basiert die Konstitution sozialer Wirklichkeit nach Searle aber noch auf einer dritten Prämisse, nämlich der Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität (vgl. Searle 2006: 16). Kollektive Intentionalität kann nach Searle nicht aus einem ‚Kollektivgeist‘ bestehen, ist zugleich aber auch mehr als nur die Summe individueller Intentionen (ebd. 2002: 91). Sie setzt sich zusammen aus gemeinsamen Absichten, die durch jeweils indivi‐ duelle Handlungen erreicht werden sollen, an die wechselseitige implizite oder explizite Verpflichtungen und Erwartungshaltungen geknüpft sind. Es reicht also nicht, wenn eine Gruppe von Personen die gleichen Absichten hat - sie müssen miteinander gemeinsame Absichten, eine Wir-Intention teilen. Erst hieraus kann Kooperation und kollektive Anerkennung erwachsen. Die Fähigkeit zu kollektiver Intentionalität ist für Searle die Voraussetzung für Kommunikation, während Kommunikation in Form von Sprechakten wie‐ derum der Generator von Regeln und Statusfunktionen ist. Kommunikation ist demnach nicht bloße Informationsvermittlung, sondern realitätsstiften‐ des, wirkmächtiges (Sprach-)Handeln, dem kollektive Absichten zugrunde liegen. Der Anthropologe Michael Tomasello schließt an diese Gedanken in seinen experimentellen Studien an, verwendet aber den leicht abgewan‐ delten Begriff der geteilten Intentionen („joint intentionality“). Hierunter versteht er „ganz allgemein die Fähigkeit, mit anderen in kooperativen Unternehmungen gemeinsame Absichten zu verfolgen und Verpflichtun‐ gen einzugehen“, die wiederum „durch gemeinsame Aufmerksamkeit und wechselseitiges Wissen geformt werden“ (Tomasello: 2010: 11/ 12) Diese 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 96 Fähigkeiten bilden nach Tomasello die Grundlage der Sprache, müssen aber durch kommunikative Akte erst entfaltet werden, deren phylogenetischer Ursprung natürliche Gesten sind (ebd.: 2009: 20). Tomasello geht davon aus, dass „konventionelle Kommunikation, wie sie in menschlicher Sprache verkörpert ist“ (Tomasello 2009: 22), auf gestischer Kommunikation mit referentieller Intention aufbaut, die vom eigentlichen Gegenstand abstrahiert und ein kooperatives Motiv hat. Paradigmatisch hierfür steht die Zeigegeste, welche indirekt, indem sie die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes lenkt (referentielle Intention), ein Wollen (soziale Inten‐ tion) ausdrückt: „Der Kommunizierende will, daß der Empfänger auf bestimmte Weise handelt - wir können das seine soziale Intention nennen“. (ebd.: 41) Das Wollen muss dann von der Gegenseite auf Basis des Kontextes bzw. des gemeinsamen Hintergrunds erschlossen werden - auch von der Gegenseite müssen also die Fähigkeit und die Motivation zum Schlussfolgern bzw. ‚Gedankenlesen‘ (vgl. theory of mind) mitgebracht werden ebenso wie die Bereitschaft zur potentiellen Kooperation. Menschliche Kommunikation weist damit die Eigenheit auf, nicht nur der Koordination individueller Ziele verschiedener Ichs zu dienen, sondern auch der Signalisierung, Abstimmung und Umsetzung von Intentionen auf Basis einer geteilten Wir-Einstellung - ganz im Sinne Searles. Mit Searle und Tomasello lässt sich also anführen, dass menschliche Kommunikation eine kooperative Grundtendenz aufweist und darauf zielt, etwas zu bewirken. Was aber heißt bewirken? Zweifelsohne zieht nicht jeder sprachliche Akt eine physische Reaktion bzw. Handlung nach sich oder führt zu Regeln, gar zu Institutionen. Doch Wirkung kann sich auch in der Beeinflussung des Denkens oder der Gefühle zeigen: Wer kommuniziert, tut dies mit der Intention, auf die (Um-)Welt und bestehende Zustände einzuwirken. Nach Reichertz ist der „Ausgangspunkt von Kom‐ munikation […] die Handlungsbeeinflussung und nicht die Semantisierung von Welt“ (Reichertz 2009: 198). Mit Searle lässt sich dies nochmals verdeutlichen. Er differenziert zwi‐ schen illokutionären und perlokutionären Sprechakten: Die Illokution be‐ trifft dabei die Seite der Kommunikatsproduktion und bezieht sich auf den Vollzug einer Äußerung als entsprechende Handlung: Eine Feststellung wird erst in ihrer sprachlichen Äußerung zu einer solchen, ein Wunsch wird erst zum Wunsch, wenn er als solcher ausgedrückt wird usw. Die Perlokution wiederum betrifft die Seite der Kommunikatsrezeption - hier 4.2 Kommunikation 97 2 Kooperatives Verhalten sollte dabei aber nicht mit altruistischem Verhalten verwechselt werden. So kann Kommunikation auch zur Täuschung genutzt werden. bewirkt die Äußerung als Handlung eine Veränderung beim Gegenüber und in der Umwelt. Eine Aufforderung beispielsweise zielt auf eine Verhaltens‐ änderung ab, während ein expressiver Akt eine Haltungsänderung bzw. eine Veränderung des Gemütszustands intendiert (vgl. Searle 1999). Betrachten wir das nochmal genauer mit Bezug auf die Intentionalität: Nach Tomasello sind die drei grundlegenden Kommunikations-Motive das Auffordern, das Informieren und das Teilen (bzw. Erzählen). Das Auffordern kann als paradigmatische Form der Handlungsbeeinflussung verstanden werden. Doch auch dem Informieren und Teilen kann ein kooperativer Wille zur Änderung und Einflussnahme zugrunde liegen 2 . Wer informiert, „möchte, dass DU etwas weißt, weil ich denke, dass es DIR hilft oder DICH interessiert“ - und wer „Gefühle oder Haltungen“ teilt „möchte, dass DU etwas fühlst, damit WIR Einstellungen oder Gefühle teilen können“ ( Jacobs 2011: 2). Wer informiert oder teilt, macht daher mehr als einfach nur ‚sich auszudrücken‘ oder Sinn und Bedeutung zuzuschreiben. Sprechakte des Informierens, Bittens, Teilens oder Erzählens sind nach außen gerichtet, sie stiften oder verändern Beziehungen und beeinflussen potentiell die „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987: 101) als auch die der Bewertung (ebd.: 2013: 278 f.) der anderen Kommunikations‐ teilnehmenden. Oder auf einen kurzen Nenner gebracht: „Kommunikation ist menschliche Verhaltensabstimmung mittels symbolischer Mittel, die in soziale Praktiken eingebettet sind“ (Reichertz 2009: 98) Die vorliegende Arbeit baut auf dem soeben skizzierten sozial-pragmati‐ schen Kommunikationsbegriff auf. Das bedeutet, Kommunikation - und damit auch Sprache - als Form des sozialen Handelns zu begreifen und nicht als rein geistigen Prozess. Kommunikation kann nicht auf mentalen Austausch - auf das Verstehen einer Information - reduziert werden, wie es noch das Sender - Empfänger-Modell suggeriert. Kommunikation muss vielmehr verstanden werden als kollektives, tätiges Handeln, das eingebettet ist in soziale Kontexte, aus denen es seine Gültigkeit speist, auf die sie aber auch zurückwirkt. Den weiteren Ausführungen wird daher die folgende Arbeitsdefinition zugrunde gelegt: Kommunikation meint wil‐ lentliche und gerichtete (einseitige oder wechselseitige) Handlungen zwischen zwei oder mehr Parteien mittels arbiträrer bzw. symbolischer (nicht zwingend 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 98 konventioneller) Zeichen auf Basis eines gemeinsamen Wissenshintergrunds mit der Absicht, eine Wirkung beim Gegenüber zu erzielen (gleich, worin diese Wirkung besteht) resp. mit der Absicht, die Zeichenhandlungen des Gegenübers sinnhaft zu erschließen. Mit digitaler Kommunikation wiederum ist Kommunikation gemeint, die durch bzw. über digitale Medien vermittelt wird. 4.3 Medium und Kommunikations-Ebenen Medium leitet sich vom Lateinischen medium ab, das ‚die Mitte‘ oder ‚das Mittlere‘ bedeutet. Im heute gebräuchlichen Wortsinn ist es am besten als ‚das Vermittelnde‘ zu übersetzen. Hier beginnen allerdings schon die Schwierigkeiten, möchte man den Begriff über seine alltagssprachliche Verwendung hinaus schärfen und für die Beschreibung kommunikativer Prozesse fruchtbar machen. Wer oder was vermittelt, wenn kommuniziert wird? Der Fernseher oder der Film, den ich darauf sehe? Das Smartphone oder die App, die ich darauf verwende? Das Buch oder die Schriftzeichen darin? Oder gar der Körper, mittels dessen Sinnesorganen wir all diese Dinge überhaupt erst wahrnehmen können? Staiger (2007) nennt drei Dimensionen, nach denen sich Medien unter‐ scheiden lassen: einmal die Art des Technikeinsatzes, dann das Zeichen‐ system und schließlich die Sinneskanäle (ebd.: 50). Das erste Kriterium differenziert zwischen primären Medien, die ohne technische Hilfsmittel auskommen, worunter alle körperlichen verbalen und nonverbalen Mittel der Kommunikation fallen (Sprache, Gestik, Geruch usw.), sekundären Me‐ dien, die auf der Produzentenseite ein technisches Hilfsmittel voraussetzen (Bücher, Bilder, Inschriften usw.) und tertiären Medien, die sowohl auf der Produzentenwie auch auf der Rezipientenseite eines technischen Hilfsmit‐ tels bedürfen (z. B. Telefon, Radio, Film, Computer). Das zweite Kriterium differenziert nach der Art der Zeichen, die zur Kommunikation verwendet werden. Hier ist entscheidend, ob schriftsprachlich, lautsprachlich, über Bild oder Musik oder multimodal (z. B. audiovisuell) kommuniziert wird. Das dritte Kriterium bezieht den Begriff des Mediums auf die unterschiedlichen Sinneskanäle, die bei der Kommunikation eine Rolle spielen, z. B. Auge, Ohren oder Hände. Staiger nennt noch weitere Klassifizierungsmodelle, konstatiert aber richtigerweise, „dass jeder Ordnungsversuch automatisch einen bestimmten Medienbegriff voraussetzt“ (ebd.: 50/ 51). 4.3 Medium und Kommunikations-Ebenen 99 Siever (2015) unterscheidet daher in Anlehnung an Posner (1985) sechs unterschiedliche Medienbegriffe. Den biologischen (1), den physikalischen (2), den technologischen (3), den soziologischen (4), den kulturbezogenen (5) und den kodebezogenen (6). Unter dem soziologischen Begriff fasst Siever ein Medien-Verständnis systemtheoretischer Prägung. Ich schlage vor, an dieser Stelle zumindest noch einmal zwischen einem systemtheoretischen und einem institutionellen Medienbegriff zu differenzieren. Ersterer bezieht sich auf Organisationsmedien - z. B. Geld, Liebe, Macht oder Moral -, wie sie u. a. Luhmann (1998) beschreibt. Der institutionelle Medienbegriff zielt auf gesellschaftliche Einrichtungen ab, die (massen-)kommunikative Abläufe zentral bündeln und steuern (Radioanstalten, Produktionsfirmen, Museen usw.). Um diese weiten Medienbegriffe soll es in dieser Arbeit jedoch nicht gehen. Der physikalische Medienbegriff wiederum zielt auf die physikalisch-materiale Konstitution kommunikativer Elemente ab und unterscheidet bspw. zwischen akustischen und optischen Reizen. Der so definierte physikalische Medienbegriff wird in dieser Arbeit ebenfalls nicht weiterverfolgt werden. Alle anderen Medienbegriffe sind, teils in abgewandelter Form, relevant für die vorliegende Arbeit. Der biologische Medienbegriff definiert Medien, ähnlich wie der physikalische Medienbegriff, über das materielle Substrat kommunikativer Prozesse - allerdings wird das Medium hier vom wahr‐ nehmenden Subjekt und nicht vom Reiz aus definiert. Es geht um Wahrneh‐ mungsqualitäten: werden Inhalte über visuelle, auditive oder bspw. taktile Sinnesmodalitäten rezipiert? Und welchen Unterschied macht es, ob über das Auge oder die Stimme vermittelt kommuniziert wird? Der technologische Medienbegriff wiederum fokussiert auf die technischen Hilfsmittel, die zum Einsatz kommen, um Kommunikation zu ermöglichen. Der Begriff ist hier dementsprechend reserviert für das, was man in Unterscheidung von biologischen Medien als Trägermedien bezeichnen kann - weil es mit ihnen möglich ist, Informationen zu speichern (zu tragen) und zu verbreiten (weiterzutragen). Im kulturbezogenen Verständnis werden als Medium die unterschiedlichen Präsentationsformen, Textsorten und Gattungen gefasst, in denen Kommunikation auftreten kann: Film, Buch Krimi, Actionserie, Un‐ terhaltungsroman usw. Der kodebezogene Medienbegriff wiederum bezieht sich auf die jeweiligen Zeichensysteme, die der Kommunikation zugrunde liegen. Entsprechend ist z. B. die Rede von Kommunikation im Medium des Bildes, der Sprache oder des Tons. 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 100 3 Winkler (2016) ergänzt, dass Wahrnehmungsmedien auch zeigen, indem sie bestimmte Dinge nicht zeigen: „Zum Zweiten haben Wahrnehmungsmedien die Eigenschaft, dass sie Dinge nicht nur sichtbar, sondern andere Dinge gleichzeitig unsichtbar machen. Sie fungieren als Filter“ (ebd.: 143). Keiner dieser Medienbegriffe ist falsch oder in sich nicht schlüssig. Es handelt sich hierbei lediglich um unterschiedlich weite Begriffsdefinitionen, die mal mehr und mal weniger konkrete oder abstrakte, materiale oder symbolische Kommunikationsinstanzen aufgrund ihrer vermittelnden Ei‐ genschaften miteinschließen. Da es außer einem forschungspragmatischen kein wirklich sinnvolles Kriterium gibt, anhand dessen über den verwende‐ ten Medienbegriff entschieden werden könnte, werde ich mich in dieser Arbeit einem engen Medienverständnis nach Holly (2011), Stöckl & Schnei‐ der (2011) und Siever (2015) anschließen. Dieser erlaubt es, präziser zwi‐ schen jenen Phänomenen zu unterscheiden, die Untersuchungsgegenstand dieser Studie sind: Endgeräte, die Kommunikation digital vermitteln und Plattformen, auf denen mittels verschiedenster Zeichensysteme miteinander kommuniziert wird. Siever (2015) schlägt vor, kommunikative Prozesse, die digital-vermittelt werden, auf sieben hierarchisch gegliederten Ebenen zu klassifizieren (vgl. Abb. 6): Jede digitale Kommunikation ist angewiesen auf technologische Hilfsmittel bzw. Endgeräte - sie bilden die oberste Ebene und nur diese Technologien - Smartphones, Tablets, stationäre PCs usw. - sollen im Fol‐ genden als Medien begriffen werden. Medien in diesem Sinne vereinen alle drei der von Kittler (1985) bzw. alle vier der von Hickethier (2010) genannten medienspezifischen Funktionen: Medien der Beobachtung können 1) der „Erweiterung und Steigerung der menschlichen Sinnesorgane“ (ebd.: 21) dienen. Hierunter fallen klassischerweise Technologien wie die Brille, das Fernglas, das Mikroskop oder Hörgeräte. Aber auch neue Medien wie das Telefon oder das Fernsehen schaffen neue Möglichkeiten des Sehens und Hörens. 3 Medien der Speicherung und Bearbeitung haben 2) die Funktion, Inhalte oder „Informationen aufzuzeichnen, aufzuschreiben, und diese damit zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen“ (Hickethier 2010: 21). Derart fixiert können sie im Rahmen der technischen Möglichkeiten auch weiter bearbeitet bzw. manipuliert werden. Medien der Übertragung dienen 3) wiederum dem Transport und der Verbreitung von Inhalten und Infor‐ mationen, wobei in der Regel Medien gemeint sind, die eine Überbrückung weiter Entfernungen ermöglichen. Medien der Kommunikation begreift 4.3 Medium und Kommunikations-Ebenen 101 Hickethier 4) als „akkumulierte Medien“, weil sie die zuvor benannten Möglichkeiten „adaptieren bzw. für sich selbst neu entwickeln“ und so „neue Kommunikationsräume“ schaffen (ebd.). Abb. 6: Ebenen der Kommunikation, nach Siever 2016: 456. Digitale Medien sind akkumulierte Medien in Reinkultur. Sie erweitern Wahrnehmungsmöglichkeiten (bieten bspw. virtuelle Rundgänge in Museen oder Sternengalaxien), stellen unzählige Modi der Speicherung und Bear‐ beitung zur Verfügung (Clouds, Editorprogramme usw.) und haben die Verbreitung von Inhalten wie kein anderes analoges Medium zuvor beför‐ dert. Im Kern jedoch, und dies steckt bereits im Begriff der Akkumulation, übernehmen digitale Medien keine genuin neue oder andere Funktion. Doch was unterscheidet die klassischen Medien dann eigentlich genau von den 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 102 Neuen oder den digitalen Medien? Gemeinhin werden damit die gleichen Phänomene bezeichnet: Endgeräte, die Kommunikation und Information auf der Basis digitaler Technologien übermitteln. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um dyadischen Austausch oder Massenkommunikation handelt, ob die Über- und Vermittlung zeitversetzt oder synchron abläuft, ob sie ein- oder wechselseitig ist. Fokus der vorliegenden Arbeit ist ein bestimmter Bereich digitaler Medien: das Social Web. Schmidt (2011) definiert dieses als „eine Reihe von Anwendungen, denen gemeinsam ist, dass sie die Hürden für den einzelnen Nutzer senken, Informationen im Internet bereitzustellen und sich mit Anderen auszutauschen“ (ebd.: 39). Kennzeichnend hierfür sind Soziale Netzwerkseiten, „die einer Vielzahl von Nutzern eine gemeinsame Infrastruktur für Kommunikation oder Interaktion bieten“ (ebd.: 25). Dazu zählen etwa soziale Netzwerke wie Facebook, Multimediaplattformen wie Youtube oder Instant-Messenger-Dienste wie WhatsApp. Weiterhin Per‐ sonal Publishing-Formen wie etwa Weblogs oder Podcasts, Wikis und „Werkzeuge des Informationsmanagements“ (ebd.: 29), worunter u. a. Ar‐ chivierungsdienste wie Tumblr fallen. Sprechen wir über das Social Web, befinden wir uns schon nicht mehr auf der Ebene des Mediums, sondern auf jener der Kommunikations(platt-)formen. Unter Kommunikationsform kann die zeichenhafte wie strukturelle Gesamtheit beschrieben werden, die einem kommunikativen Austausch zugrunde liegt. Beispiele für Kommunikations‐ formen wären Email, Film, Vortrag oder Gespräch, Chat oder Konzert. Nach Siever (2015) werden Kommunikationsformen „über textexterne bzw. situative Merkmale“, d.h. formal bestimmt (ebd.: 45). Sie nennt Zeichentyp, Sinneskanal, Anzahl der Kommunikationspartner, Zugänglichkeit, Kommu‐ nikationsmedium und die räumliche und zeitliche Dimension als eben jene textexternen Merkmale, anhand derer sich Kommunikationsformen ausdif‐ ferenzieren (vgl. Dürscheid 2005, die ähnliche Merkmale vorschlägt). Mit Kommunikationsplattformen sind wiederum digitale Anwendungen oder Dienste - wie soziale Netzwerkseiten - gemeint, „bei denen den Nutzerin‐ nen und Nutzern verschiedene Kommunikationsformen wie Nachrichten, Chat, Pinnwandeinträge oder Kommentare zur Verfügung gestellt werden“ (Siever 2015: 46). Davon zu unterscheiden sind Kommunikatsorten und kommunikative Gattungen. Ersteres bezieht sich auf einseitige Kommunikation (z. B. im Roman oder der Werbung), letzteres auf wechselseitigen Austausch. Wäh‐ rend Kommunikations(platt-)formen formal definiert werden, sind Kommu‐ 4.3 Medium und Kommunikations-Ebenen 103 nikatsorten als auch -Gattungen „funktionsgeprägt“ (Holly 2011: 157). Sie übernehmen also bestimmte kommunikative Funktionen und beziehen sich darin auf kommunikative ‚Probleme‘. Unter Kommunikatsorten können z. B. Genres oder andere konventionalisierte Darstellungsformate verstanden werden (z. B. Krimi, Glosse, Essay usw.), die sich in ganz unterschiedlichen Kommunikationsformen (Buch, Film, Print- oder Online-Zeitung usw.) realisieren lassen. Die Spezifik kommunikativer Gattungen wird in Kap. 5 ausführlicher erläutert. Der Begriff des Kommunikats rangiert eine Ebene darunter, er ist also basaler, und steht für die jeweilige Gesamtheit an konkret realisierten kommunikativen Elementen im Rahmen einer Kommunikatsorte oder einer kommunikativen Gattung. Kommunikate bestehen ihrerseits aus einzelnen kommunikativen Akten (bezogen auf sprachlich-kommunikative Akte würde man von Äußerungen sprechen) und diese wiederum setzen sich aus einer oder mehreren Zeichenmodalitäten zusammen. So kann ein kommunikativer Akt rein schriftbasiert sein oder bspw. aus Schrift- und Bildanteilen wie Emojis zusammengesetzt sein. In digitalen Räumen und v. a. im Social Web wird überwiegend multimodal kommuniziert, d. h. es wird auf unterschiedliche Zeichensysteme gleichzeitig zurückgegriffen. Welche Zeichenmodalitäten zum Einsatz kommen, variiert von Plattform zu Plattform und hängt auch dort vom Thema, Genre oder der Gruppe ab. 4.4 Multimodales Bildhandeln 4.4.1 Bildhandeln und Bildpraktiken Wie bereits in Kap. 3.1.4 beschrieben, hat insbesondere das Bild als Zei‐ chenmodus im Rahmen der Digitalisierung eine Aufwertung erfahren. Digitale Kommunikation spielt sich immer häufiger nicht oder nicht primär im Modus der Schrift, sondern bildvermittelt ab (vgl. Reißmann 2015b: 59). Symptomatisch für diese Entwicklung stehen einige technologische Innovationen: So wurde die SMS von der MMS und schließlich von multi‐ modalen Applikationen wie WhatsApp ‚abgelöst‘ und die Digitalkamera ist in Anbetracht integrierter und immer potenterer Smartphone-Kameras weitgehend obsolet geworden. Bei seiner Erscheinung warb etwa das Google Pixel offensiv mit der „am besten bewertete[n] Smartphone-Kamera“ und einem „unbegrenzten Speicherplatz für all deine Fotos und Videos“ (Google 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 104 4 Milan Kundera (1990) rief bspw. in seinem Roman „Die Unsterblichkeit“ schon Anfang der Neunziger das Zeitalter der „Imagologie“ aus und Gary Shteyngart (2011) entwirft in seiner satirischen Dystopie „Supersad True Love Story“ eine Zukunft, in der sich die Menschen mit ihren „äppäräts“ (Smartphone-ähnliche Geräte) fast ausschließlich über „Images“ austauschen. 5 Zwar gibt es bereits einige qualitative Studien, die sich mit alltäglicher digitaler Bildkommunikation beschäftigen (Astheimer et al. 2011; Walser & Neumann-Braun 2013; Autenrieth 2014; Niemann & Geise 2015; Schreiber & Kramer 2016). Angesichts der Hochkonjunktur von Instagram, Snapchat, WhatsApp und Co. ist, zumindest im deutschsprachigen Bereich, die Forschungslandschaft dennoch vergleichsweise dünn besiedelt. 2017). Beinahe jede Social Network Site hat sich mittlerweile auf das massenhafte Hochladen und Teilen von Bildern auf ihren Seiten eingestellt. Viele haben es bereits zum primären Medium des Austauschs erhoben, bspw. so augenscheinlich unterschiedliche Anbieter wie Pinterest (das dem Zusammenstellen eigener Bildergalerien dient), Instagram (wo überwiegend Privatfotografien geteilt werden) oder 9gag.com (eine Seite zum Verbreiten von Memes). Die Bildzentriertheit moderner Kommunikation ist nun kein absolut neues Phänomen und wurde in Literatur und Medien schon oft aufgegriffen und verarbeitet. 4 Auch die Sozialwissenschaft registriert mitt‐ lerweile die Verschiebungen, die im Bereich der Alltagskommunikation stattfinden und beginnt zögerlich, sich den damit einhergehenden theoreti‐ schen und methodischen Herausforderungen zu stellen 5 . Eine eingehendere und systematischere Untersuchung visueller Kommu‐ nikation gerade im digitalen Raum blieb in den Sozialwissenschaften bislang jedoch aus. Selbst dort, wo sich die Forschung im Zuge des pictorial turns in der Soziologie und den cultural studies vermehrt mit visueller Kultur auseinandergesetzt hat, beschränken sich die Studien oft auf Einzelbilda‐ nalysen, die thematisch insbesondere Kunstwerke, religiöse und politische Ikonografie oder Werbe- und Familienfotografien fokussieren. Regina Burri (2008) attestiert der Soziologie gar eine „Bildvergessenheit“. Damit meint sie aber nicht etwa, dass das Bild als Datum komplett vernachlässigt worden wäre. Die Soziologie habe sich bislang nur zu sehr mit dem Bild als Einzel‐ werk und Dokument beschäftigt und darüber hinaus die alltagsweltliche Einbindung von Bildern in soziale Handlungen aus den Augen verloren. Sie verweist darauf, dass eine Soziologie des Visuellen auch und gerade die „sozialen Praktiken der Herstellung, der Wahrnehmung und des Gebrauchs von Bildern einschließen“ (ebd.: 345) muss. Auch Michael R. Müller (2016) sieht hierin ein Desiderat und plädiert zusätzlich für die Notwendigkeit 4.4 Multimodales Bildhandeln 105 neuer methodischer Zugänge, um den sich verändernden Gebrauchsweisen von Bildern gerecht zu werden. Ihn interessiert Bilder im Plural sowie ihre jeweiligen Figurationen. Man müsse Bilder aus ihrer „analytischen Isolation“ befreien und in ihrer „lebensweltlichen Gegebenheit“ und Bedeutung als „Bilder unter Bildern“ ernstnehmen (Müller 2012: 130). Eine solche Analy‐ seperspektive fokussiert insbesondere die Eingebettetheit von Bildern in sie umgebende Bild- und Zeichenwelten. Damit geht ein grundsätzlich neues Verständnis von Bildern einher: Ihre Bedeutung und ihre Wertigkeit für Kommunikation und soziale Interaktio‐ nen erschöpft sich nicht in ihrer Semantik, sondern ist durch und durch pragmatischer Natur. Bilder stehen also niemals nur für sich. Was und wieviel ein Bild ‚sagt‘ ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel sinnlicher Wahrnehmungsakte und aus der Einbindung der visuellen Kommunikate in komplexe, soziale Praktiken. Wer sich mit dem Bild als sozialem Artefakt auseinandersetzen möchte, kommt also nicht daran vorbei, das damit in Zusammenhang stehende Bildhandeln der beteiligten Individuen zu unter‐ suchen, sowie deren Aggregationen zu Bildpraktiken. Reißmann (2015) schlägt den Begriff der Bildpraktiken als Bezeichnung für „die eingespielten, vollzugsförmigen, in actu nicht reflektierten Muster bildlichen Produzie‐ rens, Ausdrückens, Wahrnehmens, Verstehens und Handelns“ vor (ebd.: 61). Bildpraktiken schließen damit Bildhandlungen ein, die wiederum unter‐ schieden werden können in Kommunikation mit Bildern, Kommunikation über Bilder sowie das Verstehen von Bildern. Zu beachten ist, dass es sich bei all diesen Differenzierungen nur um „analytische Perspektiven auf Phänomene [handelt], die sich im Alltagsvollzug nicht isoliert voneinander betrachten lassen“ (ebd.: 62). Lobinger (2015) präzisiert die bei Reißmann genannten kommunikativen Formen des Bildhandelns und unterscheidet prä-kommunikative Bildhand‐ lungen, bspw. der Bildproduktion und Bildbearbeitung, objektbezogenes Bildhandeln, z. B. den Austausch von Bildern sowie Zeigehandlungen bzw. Sharing-Praktiken. Letzteres bezieht sich auf die Modalitäten der Distribu‐ tion und Präsentation von Bildern. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Bilder in welchen Settings mit welchen Mitteln gezeigt werden - so können Urlaubsbilder sowohl auf Bilderwänden im eigenen Zimmer, im Rahmen von Dia-Abenden oder auf Instagram präsentiert werden. Das hat jeweils Auswirkungen auf die Art der Rezeption wie auch der Anschlusshandlungen. 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 106 Doch was genau heißt es eigentlich, mit einem Bild etwas ‚zu zeigen‘? Was genau machen wir, wenn wir mit Bildern kommunizieren? Um hierauf eine Antwort zu finden, müssen wir zunächst nochmal ein Schritt zurück und der Frage nachgegangen werden, was denn eigentlich die „ikonische Differenz“ (Boehm 1996) bzw. die Logik des Bildes (ebd.: 2014) ist. Anders ausgedrückt: was unterscheidet Bildsprache von Schrift oder Zahl, was zeichnet sie genuin aus? 4.4.2 Bildlogik Gottfried Boehm versteht das Wechselspiel von Simultaneität und Sukzes‐ sion als Besonderheit ikonischer Zeichensysteme und fasst es unter den Begriff der ikonischen Differenz: „Wie zwingend die ikonische Differenz (simultan - sukzessiv) verbindet, lässt sich daran ablesen, dass wir gar nicht umhin können, das einzelne Element unter dem Horizont des Ganzen zu sehen, wie zwingend sie aber auch trennt, erkennen wir daran, dass sich die bildliche Simultanwahrnehmung nur kurz aufrecht erhalten lässt […]“ (1996: 163, Hvh. i. O.). Boehm selbst stellt jedoch die Frage, inwieweit sich diese These im Hinblick auf bestimmte Formen der abstrakten Kunst oder wissenschaftliche Bilder generalisieren lässt, die teils ohne Figur-Grund-Strukturen auskommen (vgl. Boehm 2014: 78). Ein weiteres solches „Feld der Bewährung“ (ebd.) stellen auch visuelle Zeichen wie Piktogramme oder Emojis dar, die einer solchen Struktur ebenfalls entbehren. Boehm verweist aber noch auf eine zweite Qualität des Bildhaften, auf die ‚materielle Sinngebung‘ des Anscheins: „Das Zeigen des Bildes, bei dem der jeweiligen Sicht eine Ansicht dargeboten wird, zielt auf diesen visuellen Anschein, den wir mit Worten wie Wirkung, Plausibilität, Kognition oder Evidenz umschreiben“ (ebd.: 79). Dieser ‚Sinn des materiellen Überhangs‘ entspricht dem, was Sachs-Hom‐ bach (2006) als „Wahrnehmungsnähe“ ikonischer Zeichen beschreibt. Wahr‐ nehmungsnähe bezieht sich darauf, dass „für die Interpretation bildhafter Zeichen, mit der Ihnen ein Inhalt zugewiesen wird, der Rekurs auf Wahr‐ nehmungskompetenzen konstitutiv ist und die Struktur der Bildträger damit - im Unterschied zu arbiträren Zeichen - zumindest Hinweise auf die Bildbedeutung enthält“ (ebd.: 89). Dabei können nicht nur Bilder wahrneh‐ mungsnah sein - auch Mimik und Gestik werden gegenüber Laut- oder 4.4 Multimodales Bildhandeln 107 6 Diese Befunde werden durch eine Reihe psychologischer Forschungen gestützt, vgl. Müller & Geise (2015). Schriftsprache wahrnehmungsnah rezipiert, wobei die Grenzen fließend sind. Nicht umsonst ist auch von Schrift- oder Klangbildern die Rede. Diese stiften Sinn durch ihre lautliche oder visuelle Anmutung. Es ist jeweils die materiale Oberfläche, die uns darin bereits „etwas als etwas“ (ebd.: 89) erkennen lässt. Geht bereits Sachs-Hombach nicht mehr, wie Boehm, davon aus, dass Bildern exklusive Eigenschaften zukommen, so sieht der Linguist Hartmut Stöckl (2004, 2011) gar nur noch graduelle Unterschiede in den „semioti‐ schen Systemen“ von Bild und Sprache. Er beschreibt die beiden Systeme jeweils auf den vier Ebenen Semantik, Pragmatik, Semiotik und Perzeption. Semantisch attestiert er dem Bild bspw. einen tendenziellen Bedeutungs‐ überschuss, der vielerlei Lesarten möglich macht, den Bedeutungsgehalt aber zugleich im Unbestimmten belässt. Schrift hingegen sei präziser und bestimmter (vgl. ebd. 2011: 49). Pragmatisch übernehme die Sprache vielerlei kommunikative Funktionen, bspw. die Herstellung logischer Bezüge und die Darstellung von Handlungen und Ereignissen in der Zeit. Insbesondere eigne der Sprache, dass sie eine Vielzahl von Sprechakten ermöglicht. Das Bild hingegen habe vor allem die Funktion, Merkmale aufzuzeigen und emo‐ tionale Appelle an die Betrachtenden zu richten. Die Aussagen von Bildern sind diffuser und unkonkreter als die der Sprache, welche zu Differenzierung und Eindeutigkeit tendiert. Dafür evozierten Bilder „sehr gut Stimmungen und Anmutungen“ (ebd.), seien sie doch eng mit dem Gefühl verbunden und wirkten perzeptuell weitaus direkter. Im Zusammenhang mit der Wahr‐ nehmungsnähe steht für Stöckl vor allem der Gestaltcharakter des Bildes, der einer ganzheitlichen Wahrnehmung Vorschub leistet - im Gegensatz zur Sprache, welche sich durch lineare und diskrete Verknüpfungen von Einzelzeichen auszeichnet. Zu guter Letzt attestiert Stöckl dem Bild eine im Vergleich zur Sprache größere Gedächtnisstärke und Wirkkraft, was wie‐ derum unmittelbar mit bereits genannten Qualitäten wie der Direktheit und der emotionalen Valenz zusammenhängt. 6 Stöckls Systematik beschreibt somit keine exklusiven, einander ausschließenden Unterschiede, sondern ein semiotisches Kontinuum (Stöckl 2004: 105). Die Wahl für Sprache, Bild oder eine Kombination aus beidem würde heute, von technischen oder ökonomischen Notwendigkeiten größtenteils entbunden, mit Blick auf die jeweiligen kommunikativen Potentiale der unterschiedlichen semiotischen 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 108 Systeme gefällt werden. Zusammenfassend lassen sich die Stärken von Sprache und Bild wie folgt festhalten: Sprache ist semantisch flexibel, erlaubt es also, „über alles und jedes“ (ebd. 2004: 248) zu kommunizieren und bietet hierfür die meisten Mittel und Möglichkeiten. Durch Sprache werden Menschen in die Lage versetzt, ihrer Umwelt (selbst)reflektierend gegenüber zu treten, sich intentional festzule‐ gen und präzise Bedeutungsgehalte auszudifferenzieren. Bilder hingegen haben wahrnehmungstechnische Vorteile, sie binden Aufmerksamkeit, sind direkter mit der Gefühlswelt verbunden und bewegen schneller „relativ große Informations- und Assoziationsmengen“ (ebd.). Stöckl leitet daraus die funktionale Differenz von Erzählen/ Berichten und Präsentieren/ Zeigen ab. Diese basale Leitunterscheidung kann noch um die perlokutionären Potenzen, die damit einhergehen, ergänzt werden: Sprachorientierte Kom‐ munikation eignet sich insbesondere zum Informieren und Bestimmen, bildorientierte Kommunikation zum Bewegen der Betrachtenden und zum Festsetzen (einfacher) Inhalte. Kurz: Beim semiotischen System der Sprache handelt es sich um einen kognitiven Zeichenmodus, beim semiotischen System des Bilds um einen affektiv-leiblichen Zeichenmodus. 4.4.3 Multimodalität Nun zeigt sich realiter aber, dass sprachliche und bildliche Zeichen immer öfter gemeinsam, also in Kombination miteinander auftreten. Bilder werden nur selten unkommentiert präsentiert. Sie sind meist von kurzen Textele‐ menten, z. B. Kommentaren oder Bildunterschriften flankiert, während Texte nicht selten durch Bilder illustriert und veranschaulicht werden. Bezieht man alltägliche Schriftkommunikation mit ein, so weisen auch Gespräche über Messenger-Dienste wie WhatsApp einen immer höheren Gehalt an visuellen Inhalten auf. Man spricht dabei von sogenannter Multi‐ modalität. Multimodalität besteht in der Verknüpfung und Einbindung un‐ terschiedlicher Zeichenmodalitäten in kommunikative Vorgänge und stellt „the normal state of human communication“ (Kress 2010: 1) dar. Tatsächlich kommunizieren wir im Alltag fast immer multimodal - gesprochene Sprache wird durch Mimik oder Gestik unterstützt und durch symbolische Settings, vestimentäre Zeichen oder andere bedeutungstragende Elemente kontextu‐ alisiert. Das Auftreten von nur einem einzigen Zeichenmodus in einem kom‐ munikativen Kontext stellt empirisch die Ausnahme dar. Eine der verbrei‐ tetsten multimodalen Zeichenkonfigurationen stellen „Sprache-Bild-Texte“ 4.4 Multimodales Bildhandeln 109 (Stöckl: 2010) dar, also Kommunikate, die zu unterschiedlichen Anteilen sowohl aus Bildwie aus Schriftelementen bestehen. Das Verhältnis der einzelnen Zeichenmodi zueinander ist dabei durchaus komplex. Neben komplementären Bezugsstrukturen, wobei ein Zeichensystem das andere ergänzt, finden sich auch Tanskriptionen. Dabei werden Inhalte von einem Zeichenmodus in den anderen übertragen. Mit dem Übergang von Schrift in Bild und umgekehrt ändert sich immer auch der Sinngehalt partiell (vgl. Jäger 2002). Wenngleich die analytische Trennung der Zeichenmodi forschungslo‐ gisch sinnvoll ist, so darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass im Alltag die meisten Kommunikate einheitlich wahrgenommen werden und nicht in ihren einzelnen Bestandteilen. Dies gilt gerade für Spra‐ che-Bild-Texte, die über den gleichen Sinneskanal, nämlich visuell, wahrge‐ nommen werden. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, spricht Ulrich Schmitz bei solchen Zeichenamalgamen von „Sehflächen“ (Schmitz 2011). Schmitz bezeichnet Sehflächen als „Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsame Bedeutungseinheiten bilden“ (ebd.: 25). Es handelt sich um multimodale Verbindungen, „in denen Schrift und Bild durch ein beide Seiten verbindendes Design formal und inhaltlich untrennbar ineinander spielen“ (ebd.: 26). Schmitz geht davon aus, dass Bild-Produzenten über bewusste oder unbewusste Kompetenzen verfügen und Sehflächen so zusammenstellen, dass die jeweiligen Stärken der beiden Zeichensysteme zum Tragen kommen und sich wechselseitig ergänzen. Stöckl spricht diesbezüglich von einer Arbeitsteilung zwischen Sprache und Bild, wobei die „die Stärken des einen semiotischen Systems die Schwächen des anderen aus[gleichen] und umgekehrt.“ (Stöckl 2011: 48). Es wird sich zeigen, dass auch auf Instagram Bild- und Text-Elemente miteinander ver‐ woben sind und in einem bestimmten, nicht zufälligen Verhältnis zueinander arrangiert werden. 4.4.4 Bildhandlungen als Zeigehandlungen Das öffentliche Teilen eines Bildes auf Instagram ist, wie auf anderen SNS und Imageboards, immer auch eine Zeigehandlung und jedes solche Zeigen ist eine Bild- (bzw. Sehflächen-)Handlung. Zeigen ist das „Sehen-Lassen von etwas Intendiertem“ (Wiesing 2013: 48) und umgekehrt müssen alle Betrachtenden das Bild als eine Zeige-Handlung wahrnehmen und eine da‐ mit verbundene Intention des oder der Zeigenden unterstellen, um ein Bild 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 110 sinnhaft zu erschließen. Diese Zeigefiktion ist jeder deutenden Wahrneh‐ mung von Bildern vorgängig. Was gezeigt und gesehen wird, ist demnach nicht identisch mit dem, was auf einer Sehfläche alles gesehen werden kann. Die Wahrnehmung dabei ist selektiv: Relevantes wird von nicht Relevantem unterschieden. Der deutende Blick fokussiert nur bestimmte Elemente und vernachlässigt andere oder ignoriert sie ganz (ebd.: 47 f.). Zeigefiktionen ermöglichen es demnach erst (deutend) zu sehen und Zeigehandlungen sind vice versa ein Mittel um (deutend) sehen zu lassen. Wer ein Bild zeigt, will also etwas sehen lassen und sie oder er will dies auf eine ganz bestimmte Art und Weise tun. Die Art und Weise steht dabei in enger Verbindung mit bestimmten kommunikativen Funktionen. Wiesing sieht in der Verknüpfung von Darstellungsweisen und kommunikativen Funktionen eine Art der ‚natürlichen Auslese‘: „Wenn sich bestimmte Arten des Abbildens und der Bildproduktion durchsetzen, dann liegt das daran, dass Bilder dieser Art besonders erfolgreich bestimmte Zwecke erfüllen“ (Wiesing 2013: 159). Bilder und Darstellungsweisen sind entsprechend als kommunikative Werk‐ zeuge anzusehen, die sich daran messen lassen müssen, ob sich das, was man mit ihnen ‚tun‘ will, auch gut ‚tun‘ lässt. Erst vor diesem Hintergrund kann auch ihre jeweilige Bedeutung verstanden werden. Für Instagram-Beiträge in all ihren Varianten ist daher anzunehmen, dass die entsprechenden Bilder bzw. Sehflächen eine bestimmte Funktion übernehmen und diese besser erfüllen als andere Formen der Abbildung. Sie wurden für tauglich befunden zur Darstellung oder Wiedergabe einer bestimmten Sache oder dazu, eine Erfahrung oder eine Vorstellung zu veranschaulichen. Nach Wiesing sind die Praktiken des Zeigens und Sehen-Lassens Simulationen der Wahrnehmung: „Ein Bild beginnt in dem Moment zu zeigen, in dem es von Menschen als ein Wahrnehmungs- oder Betrachtungssubstitut verwendet wird“ (Wiesing 2013: 169). Bilder als Substitute werden nicht für die Sache an sich gehalten, auch nicht für Imitationen - sie stellen vielmehr eine eigene Wirklichkeit dar, die zwar in einem konkreten Verwandtschaftsverhältnis zum abgebildeten Inhalt steht, damit aber nicht identisch ist. Diese Wirklichkeit ist auch nicht defi‐ zitär - mit einem Bild zu zeigen, heißt nicht zwangsläufig weniger zu zeigen, als eigentlich zu sehen wäre (bspw. aufgrund mangelnder Dreidimensiona‐ lität). Ein Bild kann auch mehr zeigen, als eigentlich wahrnehmbar wäre. Wie gut sich etwas als Substitut eignet, hängt nach Wiesing davon ab, was man 4.4 Multimodales Bildhandeln 111 von einer „Darstellung verlangt“ (ebd.: 170). Betrachtet man die Bilder auf Instagram nicht als isolierte Phänomene, sondern im Zusammenspiel mit Schrift als Sehflächen, so stellt sich die Frage, was Nutzende verlangen, wenn sie Sehflächen in bestimmter Weise arrangieren und einstellen? Welche Wahrnehmungen oder Betrachtungen substituieren diese Sehflächen und welche Funktion erfüllen sie, wenn mit ihnen gezeigt wird? Auf diese Fragen wird im empirischen Teil genauer eingegangen. 4.5 Kommunikativer Stil Konstitutives Element jeder kommunikativen Situation und jeder Interak‐ tion ist der jeweilige kommunikative Stil, der sie kennzeichnet. Der Begriff Stil leitet sich ursprünglich von dem lateinischen Wort stilus ab, welches den Griffel oder Stiel bezeichnete, ein längliches Schreibgerät, mit dem man Zeichen in Wachstafeln einritzte, einkerbte oder eingravierte (vgl. Müller 2009: 50). Mit der Beschaffenheit des Schreibgeräts änderte sich jeweils auch die Zeichenführung und Zeichenbeschaffenheit. Der Begriff meinte zunächst also die Schreibweise und wurde in der antiken Rhetorik auf die Sprechweise übertragen. War die Schreibweise im erstgenannten Sinn eher eine technische Frage, so war Stil im Sinne einer Sprechweise vor allem eine normative Angelegenheit. Unterschiedliche Anlässe und Kontexte erforderten unterschiedliche Arten der zeichenhaften Adressie‐ rung und (Re-)Präsentation. Aber auch Einzelpersonen wurden individuelle Stile zugeschrieben (vgl. ebd.). Der Stilbegriff der antiken Rhetorik prägt noch immer die gegenwärtige Begriffsdenotation. Allerdings wird Stil zu‐ nehmend anhand ästhetischer und nicht normativer Kriterien eingeordnet und beurteilt. Auch wird der Begriff nicht mehr nur auf Sprech- oder Schreibhandlungen angewandt, sondern auf vielfältige Phänomene des All‐ tags bezogen. Wir attestieren bspw. Fußballern einen bestimmten Spielstil oder Köchen einen Kochstil, identifizieren epochenspezifische Kunststile, kulturbedingte Fahrstile oder milieubedingte Kleidungsstile. Goffman definiert Stil sehr allgemein als einen „charakteristischen modus operandi“ (1980: 319), sprich: als eine charakteristische Art und Weise, etwas zu tun. Stil steht dabei insbesondere im Dienst der „expressiven Identifizierbarkeit“ (ebd.: 318). Wer einen bestimmten Stil pflegt, schafft sich ein Profil und gibt sich Identität durch die wiederholte Darstellung wahrnehmbarer Elemente. Man verleiht „den Arten der Handlungsdurch‐ 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 112 7 Dabei ist die Einheitlichkeit von Stil keineswegs immer eindeutig, setzt sich Stil doch aus unterschiedlichen zeichenhaften Elementen zusammen, deren Aggregationen erst holistisch in der Gesamtschau als Stil erkennbar werden. Wenngleich sich einzelne stil‐ spezifische Elemente in der Analyse isolieren lassen, machen diese für sich genommen noch keinen Stil aus. Dieser manifestiert sich erst im ‚Gesamteindruck‘: „Konstitutiv für einen Stil ist, dass unterschiedliche Ausdrucksformen zu einem Bild, einer Figur bzw. einem Hyperzeichen zusammengenommen werden“ (Keim & Schütte 2002: 11). führung differenzierenden sozialen Wert“ (Sandig 1986: 31, zitiert nach Keim & Schütte 2002: 10). Stil als Praxis der Profilierung und Wertzuschreibung ist aber nicht die Handlung selbst - er begleitet sie nur. Stil ist etwas, das „ihr Urheber in alle seine Betätigungen einbringt“ (Goffman 1980: 320). Stilistische Elemente unterliegen dabei den Prämissen der Kontinuität und Kohärenz - auch Neues wird so entsprechend einer „zentralen Logik“ „gleichsinnig“ bearbeitet und integriert (vgl. Keim & Schütte 2002: 11). Stil setzt sich dabei sowohl bewusst wie unbewusst fest: Als genera‐ tive Prinzipien der „Einheitlichkeit des Ausdrucksverhaltens“ benennt Kallmeyer (1995: 8/ 9) „explizite Normen“ einerseits und „Dispositionen in der Art eines verinnerlichten Habitus“ andererseits. 7 Die Verbreitung kollektiver Stile erklärt Meier (2014) mit Rekurs auf Prozesse der medialen Sichtbarmachung und Mimesis. Stil muss nicht zwingend vorgeschrieben werden, er kann sich auch sozial verselbstständigen und ‚einpendeln‘. Soziale Gruppen sichern im Gebrauch von Stilmitteln Gruppenidentität wie auch -zugehörigkeit jenseits von expliziten und formellen Beitrittskriterien und Statusaskriptionen ab. Nach Meier ist eine Stilhandlung nie mit einer anderen identisch, sie ist nie nur eine reine Wiederholung. Er versteht Stil als Vollzugspraxis, die sich im‐ mer nur kontextspezifisch realisiert. Zugleich ist Stil aber auch übersituativ und überindividuell durch soziostrukturelle und kulturelle Einflüsse geprägt und vorgeformt (bspw. Diskurse, Handlungsfelder, Kommunikationsformen oder Genres, aber auch kommunikative Gattungen), nicht aber determiniert (ebd.: 197). Meier unterscheidet zwischen drei Stil-Komponenten: zwischen Stil als zeichenhafter Auswahl, Stil als zeichenhafter Formung und Stil als zeichenhafter Komposition. Während die Formung sich auf das klassische Stil-Verständnis der Gestaltung (das Wie einer Handlung) bezieht, stellt die wiederholte Auswahl von Themen und Motiven eine stilistische „Entschei‐ dungspraxis dar, die aus diskursbedingten Sag- und Zeigbarkeiten auswählt“ (ebd.: 201). Bei der Komposition geht es schließlich um das Arrangement der zeichenhaften Elemente, d. h. um ihr Verhältnis zueinander. Auf der Ebene 4.5 Kommunikativer Stil 113 der Komposition entscheidet sich, welche der Elemente im Vordergrund stehen und welche Bedeutung sie in Bezug aufeinander annehmen (ebd.: 224 ff.). In der vorliegenden Arbeit wurden Kommunikationsstile untersucht. Dabei kann zwischen drei kommunikativen Stildimensionen unterschieden werden: einem individuellen Stil, einem Gruppenstil und einem sozialen Stil. Als individueller Stil soll das charakteristische zeichenhafte Handeln eines Akteurs oder einer Akteurin bezeichnet werden im Unterschied zu anderen Akteuren in einem konkreten Interaktionszusammenhang. Der individuelle Stil mag dabei konventionellen Mustern folgen, geht aber nicht im Stil der konkreten Interaktionssgruppe auf und sticht daher heraus. Als Gruppenstil oder kollektiver Stil soll wiederum ein charakteristisches sprachliches Handeln bezeichnet werden, das einer Gruppe oder kommuni‐ kativen Situation eignet durch den wechselseitigen Bezug der Beteiligten aufeinander. Die Betonung liegt hier auf den kollektiven Orientierungen. Mit Searle und Tomasello (vgl. Kap. 4.1) kann der Unterschied auch durch den Verweis auf die jeweilige Intentionalität verdeutlicht werden: Indivi‐ duelle Stilpraktiken sind - im jeweiligen Interaktionszusammenhang und in Bezug auf die jeweilige kommunikative Gruppe - stärker an einer individuellen Intention orientiert, während kollektive Stilpraktiken stärker auf im jeweiligen Interaktionszusammenhang geteilte Absichten verweisen. Der Begriff des sozialen Kommunikationsstils bezieht sich schließlich auf kommunikative Handlungen, die übersituativ den Stil einer bestimmten Gruppe repräsentieren. In der konkreten Situation kann sich ein sozialer Stil als individueller oder kollektiver Stil manifestieren. Diese Unterscheidungen werden im Folgenden näher erklärt. 4.5.1 Individueller kommunikativer Stil Der deutsche Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun (1990) beschreibt etwa acht idealtypische Kommunikationsstile, die eng verbunden sind mit persönlich-individuellen Eigenschaften der jeweils Sprechenden. Unter Stil versteht Schulz von Thun die „typische Art zu reagieren und mit anderen Menschen in Beziehung zu treten“ (ebd.: 14), „zu sprechen und die Beziehung zu gestalten“ (ebd.: 57), wobei jeder Stil sich auf bestimmte kommunikative Dynamiken sowohl produktiv-ermöglichend als auch verhindernd auswirke (vgl. ebd.: 16). 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 114 Schulz von Thun unterscheidet zwischen dem bedürftig-abhängigen Stil, dem helfenden Stil, dem selbstlosen Stil, dem aggressiv entwertenden Stil, dem sich beweisenden Stil, dem bestimmend-kontrollierenden Stil, dem sich distanzierenden Stil und dem mitteilungsfreudig-dramatisierenden Stil. Zur Veranschaulichung werden kurz drei Stile in der Diktion Schulz v. Thuns vorgestellt: Der aggressiv-entwertende Stil „gebärdet sich […] ‚von oben herab‘“. Er zeichne sich dadurch aus, dass der oder die Sprechende „in dem anderen das Fehlerhafte, Erbärmliche und Schändliche entdeckt und entsprechend herabsetzend und entwertend behandelt [sic! ]“ (ebd.: 115). Der Stil ziele auf eine kommunikative Dynamik ab, die das Gegenüber „klein macht, schuldig oder wertlos erscheinen lässt“ (ebd.: 115). Vertreter des distanzierten Stils wiederum seien charakteristischerweise „förmlich und unpersönlich“ (ebd.: 191). Sie zeigten eine „ausgeprägte Orien‐ tierung auf die sachlichen Aspekte des Gespräches“ (ebd.: 192) und entsprächen dem Typus „‘Rationalisierer‘, der nichts an sich herankommen lässt und alles mit Verstand und Vernünftelei zu bewältigen sucht“ (ebd.: 191). Die Grundbotschaft des mitteilungsfreudig-dramatisierenden Stils wie‐ derum „hat ihre stärkste Betonung auf der Selbstkundgabe. […] Der Inhalt der Selbstkundgabe kann sehr verschieden sein, charakteristisch ist die starke Betonung. […] Der Grundappell schließlich lautet: ‚Wende dich mir mit deiner Aufmerksamkeit zu und werde bestätigender Zeuge meiner Selbstkundgabe! ‘“ (ebd.: 231) Ohne näher auf Schulz von Thuns tiefenpsychologische Erklärungen einzugehen, zeigen sich an diesen Beispielen individuelle Unterschiede im kommunikativen Verhalten, die für die jeweilige Situation und die kommu‐ nikative Dynamik von entscheidender Bedeutung sind: Ob eine Person die Sach- oder Beziehungsebene betont und wie sie diese jeweils gestaltet - mediierend oder kompetitiv, den Ich- oder den Wir-Aspekt betonend usw. - wird sich entscheidend darauf auswirken, wie das oder die Gegenüber auf sie reagieren. Bereits Schulz von Thun bringt die von ihm benannten kommuni‐ kativen Stile in Zusammenhang mit dem habituellen Charakter einer Person (ebd.: 58) - so kann der jeweils charakteristische individuelle Stil auch als kommunikativer Habitus und damit als strukturierte und strukturierende Praxisform begriffen werden. Über diese stilistische Praxis besetzen die Kommunizierenden Sprecherpositionen in der jeweiligen Situation und entwerfen sich so als Subjekte; sie weisen sich durch Akte der Aneignung, Zuweisung und Bearbeitung kommunikativer Elemente bspw. eine Identität 4.5 Kommunikativer Stil 115 zu oder als Statusträger aus und machen sich so zu gesellschaftlichen Wesen (vgl. Herma & Maleyka 2019). Das wiederum kann nur im Rekurs auf anerkannte Geltungs- und Legitimierungsmuster gelingen. Der jeweils individuelle Zugriff auf diese Geltungs- und Legitimierungsmuster zur eigenen Identifizierung wie auch zur Beziehungsgestaltung zeichnet den individuellen kommunikativen Stil aus. 4.5.2 Kollektiver kommunikativer Stil Davon abzugrenzen ist der kollektive kommunikative Stil. Er geht ebenfalls aus situativen Stilrealisierungen hervor, bezieht sich aber auf die charak‐ teristische Art und Weise einer gesamten Gruppe, in einer bestimmten kommunikativen Situation miteinander zu kommunizieren - im Vergleich zu anderen Gruppen oder anderen kommunikativen Situationen. Die indi‐ viduellen Stile müssen sich dabei nicht zwingend überschneiden - ein kollektiver Stil kann sich auch aus unterschiedlichen individuellen Stilen zusammensetzen. Mit Aglaja Przyborskis Diskursmodus-Modell (2004) lässt sich das Kon‐ zept des kollektiven kommunikativen Stils präzisieren. Sie unterscheidet zuerst einmal zwischen inkludierenden und exkludierenden Diskursmodi. Inkludierende Modi beschreiben Gesprächsstile, in denen gemeinsame Orien‐ tierungsrahmen existieren oder erst entwickelt werden. Im inkludierenden Modus werden selbst opponierende Positionen von den Beteiligten auf performative Art zusammengeführt (vgl. ebd.: 51). Es handelt sich bei diesem Modus also um „Weisen der Inszenierung bzw. der Artikulation von Gemein‐ samkeit“ (ebd.: 96). Exkludierende Modi wiederum beschreiben Gesprächs‐ führungsstile, in denen entweder offen oder verdeckt unterschiedliche und unvereinbare Orientierungsrahmen artikuliert werden, ohne dass die Betei‐ ligten dabei Versuche einer Synthese unternehmen würden. Widersprüch‐ liche Positionen werden also formal nicht zusammengeführt. Stattdessen werden ihre Eigenständigkeit und Unvereinbarkeit betont. Przyborski strebt mit dem Konzept der inkludierenden und exkludierenden Modi an, „Form und Bedeutung“ von Äußerungen und Äußerungskomplexen zusammen zu betrachten (ebd.: 21). Konkret bedeutet das, die Entstehung von Stil nicht nur in individuellen Äußerungen zu suchen, sondern ebenso auf der Ebene der Interaktion. Der kollektive Stil kann dabei, aber muss nicht zwingend aus der jeweils realisierten kommunikativen Gattung hervorgehen. 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 116 Über die Mikroeinheiten der Interaktion hinaus gilt es aber auch die einer Gesprächssituation inhärente Atmosphäre im Blick zu behalten. Jeder Gesprächssituation kommt eine bestimmte ‚kommunikative Gestalt‘ zu, die sich über die Zeit hinweg auch wandeln und verändern kann: So unterschei‐ den wir spannungsgeladene, peinliche, heitere, aufgeregte Stimmungen und noch viele mehr, die wir dann nicht einzelnen Individuen, sondern einer Gruppe oder Situation als solcher attestieren. Gesprächsdynamiken bleiben dabei nicht unberührt von der jeweiligen atmosphärischen Ausprägung der Kommunikation. Henckmann (2007: 45) versteht im Anschluss an die Neophänomenologie Hermann Schmitz‘ unter Atmosphären eine „objek‐ tiv bestehende, quasi räumlich ausgedehnte, emotional spürbare Gegeben‐ heit“. Träger von Atmosphären können neben Bewegungssuggestionen wie Rhythmus auch synästhetische Charaktere wie die Helligkeit einer Stimme, die Scharfheit eines Tons oder die Anmutung eines Schriftzeichens sein (vgl. Schmitz 2014: 62). Wir verstehen den ‚Sinn‘ einer Gesprächsatmosphäre auf „leiblich-affektive Weise, weil diese [uns] spürbar nahe geht.“ (Gugutzer 2012: 80). Kollektiver kommunikativer Stil ist also die charakteristische Art und Weise der Kommunikation einer Gruppe unter spezifischen kommunikati‐ ven Randbedingungen. So könnte sich bei einer Gruppe von Arbeitskollegen und -kolleginnen ein bestimmter kommunikativer Stil zeigen, wenn sie abends gemeinsam ausgehen, ein anderer, wenn sie tagsüber miteinander arbeiten. Kollektiver kommunikativer Stil kann sich in der gemeinsamen Übernahme rhetorischer Mittel zeigen, aber auch in der Art und Weise der Interaktionsorganisation oder der kommunikativen Gestalt bzw. Atmo‐ sphäre. 4.5.3 Sozialer kommunikativer Stil Soziale kommunikative Stile sind demgegenüber charakteristische Zeichen‐ handlungen, deren Typik sich auf makrostruktureller Ebene entwickelt und einspielt. Zwar werden die Zeichenhandlungen bzw. kommunikativen Prak‐ tiken individuell realisiert, jedoch verweisen sie über das Individuum hinaus auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, der das Individuum über die aktuelle Kommunikationssituation hinaus angehört. Das Individuum repräsentiert im Rückgriff auf gemeinsame Zeichenhandlungen bspw. eine Subkultur, ein bestimmtes Milieu oder die eigene Familie oder Peergroup, mit der es einen kommunikativen Stil teilt. Der soziale kommunikative Stil 4.5 Kommunikativer Stil 117 ist nicht gleichzusetzen mit dem kollektiven Kommunikationsstil, der die charakteristische Ausprägung der kommunikativen Gestalt des Austauschs einer bestimmten Gruppe bezeichnet. Ein bestimmter sozialer Stil kann sich in einer konkreten Situation auch nur in einem einzigen Individuum manifestieren, während der kollektive Stil alle an einer kommunikativen Situation Beteiligten einschließt. Stil fungiert hier nicht nur als Mittel der individuellen Distinktion - ‚ich möchte zeigen, dass ich als Individuum anders/ eigen bin‘ -, sondern als Mittel der sozialen Distinktion - man präsentiert sich als Vertreter bzw. Vertreterin einer sozialen Gruppe. Auch der soziale kommunikative Stil ist habituell verankert und äußert sich vor allem in routinehaftem Verhalten. Auch im individuellen Stil unterliegt jedes Stilelement Konventionen und verweist auf einen soziokulturellen Hintergrund. Der individuelle Stil ver‐ eint jedoch Stilelemente unterschiedlichen soziokulturellen Hintergrunds und verweist so über die Konventionen hinweg zurück auf das Individuum. Der soziale Stil ist hingegen als Bündel distinkter Stilelemente zu verstehen, die auf eine soziale Gruppe verweisen und dient der Profilierung und Kontrastierung in Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen - nicht so sehr von anderen Individuen. Innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppe - seien es nun abstrakte Milieus oder konkrete peer-groups - existieren zu‐ meist stilistische Vorreiter, Leitbilder oder Idealvorstellungen, an denen sich die individuellen Stilrealisierungen orientieren (vgl. Kallmeyer 1995: 10). Sozialer kommunikativer Stil ist also ein charakteristisches Zeichenhandeln, dessen Typik über die aktuelle Situation hinaus auf die Zugehörigkeit des oder der Einzelnen zu einer sozialen Gruppe verweist. In Tabelle 1 sind die drei Stildimensionen noch einmal zusammengefasst. Natürlich lassen sich die Stildimensionen nur in der Theorie derart fein säuberlich voneinander trennen. In der Praxis durchdringen sie sich gegen‐ seitig. Ihre Unterscheidung dient daher v. a. der differenzierenden Analyse. Auf Basis dieser Differenzierung kann dann untersucht werden, ob sich im Rahmen eines Austauschs vermehrt individuelle, kollektive oder soziale Stilelemente zeigen bzw. in welchem Mischverhältnis diese zueinander stehen. 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 118 Stildimensio‐ nen Charakteris‐ tisch für Basis der Zeichenressourcen Genese Intentionalität Individueller Stil Individuum Individ./ biogra‐ phisch Individuell Individuelle Intention Kollektiver Stil Kommunika‐ tive Gruppe oder Situation aktuelle kommunikative Situation Interaktiv Kollektive Intention Sozialer Stil Soziale Gruppe Soziale Gruppe Soziostruk‐ turell Individuelle Intention Tab. 1: Stildimensionen, eig. Darst. 4.6 Die synthetische Situation 4.6.1 Der Begriff der sozialen Situation Kommunikative Gefüge weisen in der Regel bestimmte, für sie typische Strukturen auf - sie sind nicht chaotisch, sondern geordnet. Wir finden solche Ordnungen bereits in kleinsten Mikrointeraktionen wieder - solche Befunde haben den Konversationsanalytiker Harvey Sacks (1984: 22) dazu bewogen, von „order at all points“ zu sprechen. Um eine solche Ordnung herzustellen, orientieren sich Akteure an kommunikativen Skripts und Re‐ geln, die entweder bereits bestehen oder erst tentativ ausgehandelt werden müssen. Diese Skripts und Regeln verleihen dem kommunikativen Gefüge eine Struktur. Doch selbst dort, wo Ordnung erst hergestellt werden muss, findet Kommunikation, ob nun digital vermittelt oder nicht, niemals im luftleeren Raum statt. Sie ist niemals voraussetzungslos und immer zu einem gewissen Grade vorstrukturiert. Eine vorsoziale Stufe der Kommunikation, in der die Beteiligten Hintergrundwissen, Erwartungshaltungen, Verhaltensregeln usw. alle erst aushandeln müssen - ein Szenario also, in dem die Beteiligten ‚bei Null anfangen‘ - ist allenfalls hypothetisch vorstellbar. Menschen finden sich immer schon in soziale Zusammenhänge gesetzt, die historisch geformt sind. Die basale Form solcher Zusammenhänge ist die soziale Situation. Erving Goffman, der in sozialen Situationen den Maß- und Taktgeber menschlicher Interaktionen sieht, definiert das Konzept wie folgt: 4.6 Die synthetische Situation 119 „Mit dem Terminus Situation bezeichnen wir diejenige räumliche Umgebung, und zwar in ihrem ganzen Umfang, welche jede in sie eintretende Person zum Mitglied der Versammlung macht, die gerade anwesend ist (oder dadurch konstituiert wird). Situationen entstehen, wenn gegenseitig beobachtet wird; sie vergehen, wenn die zweitletzte Person den Schauplatz verläßt.“ (Goffman 1969a: 29). Goffman schrieb einmal, dass es ihm in seinen Studien „nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen“ (ebd. 1973: 9) ginge. Damit verweist er darauf, dass soziale Situationen im Alltag von den Beteiligten als äußere Instanz wahrgenommen werden, die über einen „Geist oder Ethos“ (ebd. 1969a: 12) verfügt, denen entsprechend man sich zu verhalten hat. Sozialen Situationen wird auch Handlungsmacht attestiert; so ist oft die Rede davon, dass eine Situation etwas erforderlich macht, etwas zulässt oder eine Richtung einschlägt. Situationen wird eine koerzive Kraft zugesprochen, die den Beteiligten sagt, was zu tun und zu lassen ist und über die Angemessenheit aller beteiligten Elemente (vom eigentlichen Akteur über Kleidung, Wortwahl, Raumdekor, Speisen und Getränke) entscheidet. Die soziale Situation als Verhaltenskoordinator legt nach Goffman vor allem drei allgemeine Variablen fest: Engagement (Fokus), Anstandsformen und Inszenierungen (facework). Engagement ist nach Goffman „die Fähigkeit des Einzelnen, seine ge‐ sammelte Aufmerksamkeit einer Aktivität, die gerade statthat, zu widmen oder sie ihr vorzuenthalten“ und „impliziert eine gewisse eingestandene Nähe zwischen dem Einzelnen und dem Gegenstand seines Engagements“, die wiederum als „Ausdruck von Absicht oder Ziel des Handelnden ge‐ wertet“ wird (ebd.: 29). Engagement bezieht sich also einerseits auf den Aufmerksamkeitsfokus, den man in einer Situation setzt und zum Ausdruck bringt und zum anderen auf die Art und Weise, „in der der Einzelne seine situierten Aktivitäten betreibt“ (ebd.: 25). Widmet er sich dem Fokus z. B. ‚mit Herzblut‘, gelangweilt, überengagiert oder sichtlich abweisend? Die Art und Weise legt das Wie als auch das Wieviel fest - je nach Situation ist ein unterschiedlich starkes Engagement gefordert bzw. angebracht, d. h. die Einzelnen müssen, sollten oder können sich mal mehr, mal weniger stark ‚einbringen‘. Setzt man die unterschiedlichen Zuwendungen der an einer Situation Beteiligten zueinander ins Verhältnis, so lässt sich nach Goffman eine Situation auch über ihre Engagement-Struktur erschließen (ebd.: 101). Eine Feiergesellschaft weist bspw. eine andere Engagement-Struktur auf 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 120 8 Images müssen natürlich immer situativ vollzogen werden. Wechselseitige Kenntnis der Beteiligten und der Situation sowie entsprechende Erfahrungswerte schaffen aber Vorwissen, das dazu führt, dass Images weniger hergestellt als lediglich aufrechterhal‐ ten werden müssen. als ein Psychotherapiegespräch, ein gemeinsamer Fernsehabend oder Ar‐ beits-Briefings. Facework wiederum „umfasst sprachliches Verhalten mit Bezug auf face - eine Art Maske, die wir uns und anderen Gesprächsteilnehmern in einer Interaktion aufsetzen“ (Fröhlich 2015: 9). Es ist das Image, das wir uns und anderen verleihen. Dieses Image bezieht sich auf Identitäten oder Rollen, welche die Beteiligten nicht für sich allein, sondern wechselseitig vorein‐ ander im Rahmen einer sozialen Situation beanspruchen und inszenieren. Die Beteiligten können die jeweiligen Rollenansprüche bestätigen und stützen oder kontestieren und diskreditieren. Facework ist entsprechend als relationales und interaktionales Konzept zu denken: in der Art und Weise, wie sich die Beteiligten zu ihren und den anderen faces verhalten, drückt sich gleichermaßen ihr Verständnis der Beziehung zueinander aus. Facework meint also mehr als nur den Umgang mit dem eigenen oder mit fremden Images: Das Identitäts- und Rollenmanagement fällt mit Bezie‐ hungsmanagement in eins. Indem die soziale Situation den Rahmen für die Images und Beziehungen absteckt - für das, was als wünschenswert oder unpassend gilt -, stiftet sie auch die Strukturen des Miteinanders. Dabei seien Images nach Goffman immer nur „Bedingung für Interaktionen, nicht ihr Ziel“ (1973: 17). Sie sind meist schon in der Situation angelegt und antizipierbar. 8 Facework steht daher i. d. R. nicht im Vordergrund einer Interaktion, sondern läuft nur im Hintergrund mit. Eng mit Engagement und facework in Verbindung stehend sind schließ‐ lich Praktiken des Anstands als Form der Rücksichtnahme auf die ande‐ ren Beteiligten. Auch diesbezüglich stellen unterschiedliche Situationen unterschiedliche Anforderungen an das höfliche Verhalten der Beteiligten, die nötig sind, um einander nicht nur körperliche, sondern vor allem soziale Unversehrtheit demonstrativ zu versichern (vgl. Goffman 1969a: 102). Soziale Situationen bilden also immer „kleine soziale Systeme“, welche durch das „Verhalten“ entsteht, „das in Übereinstimmung mit den Normen situationellen Wohlverhaltens geübt wird“ (ebd.: 101). Andreas Ziemann (2013) entwirft eine „Systematik der Situation“, die einige von Goffmans Überlegungen zur Konstitution der sozialen Situation 4.6 Die synthetische Situation 121 präzisieren. Er definiert die soziale Situation als „raum-zeitlich eingefasstes, soziales Aktionsfeld mit spezifischen Objektkonstellationen […] und mit zwei oder mehr sich wechselseitig reflexiv beobachtenden Akteuren und deren (widerstreitenden) Interessendynamiken, Machtmöglichkeiten und Kontrollmechanismen in Bezug auf ein Handlungsziel“ (ebd.: 119). Dabei sind Situationen nicht als determinierend zu verstehen. Menschen eignen sich die situativen Skripts und Regeln an und befolgen, erweitern oder ver‐ ändern sie entsprechend der eigenen Interessen, Bedürfnisse oder äußeren Erfordernisse. Für Ziemann konstituieren sich soziale Situationen entlang der spezi‐ fischen Ausprägung von fünf konstitutiven Strukturelementen: Erstens das Thema, welches festlegt, um was es eigentlich geht - das Thema definiert die Situation. Mit der thematischen Bestimmung geht oft auch eine Vorbestimmung von Rollenzuweisungen, Handlungsfolgen, gemeinsamen Zielen u. ä. einher. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass jede Situation thematisch bereits im Vorhinein festgelegt ist - in ‚offenen Situationen‘ kann und muss das Thema in der Regel erst ausgehandelt, die Situation entsprechend ‚definiert‘ werden. Zweitens sind soziale Dimensionen zeitlich strukturiert, insofern sie durch ein Davor und ein Danach beeinflusst und im Vollzug an mehr oder weniger fixe Abläufe gebunden sind, um als sinnhafte und erfolgreiche Realisierung eines Situationstypus zu gelten. Der „Hauptmodus“ (ebd.: 114) sozialer Situationen ist Ziemann zufolge die Wiederholung, in welcher gemeinsam „Strukturbildung und Situationsge‐ wissheit“ (ebd.) geschaffen werden. Der Prozess der Wiederholung steht Wandel und Transformation dabei nicht entgegen, sondern bildet geradezu deren Voraussetzung. Ziemann verweist drittens auf die Bedeutung von Objekten und Dingen, ohne die keine soziale Situation auskommt. Dinge sind immer schon sinnhaft in die soziale Welt integriert und haben in bestimmten Situationen ganz bestimmte Bedeutungen. Sie können Situationen bspw. entweder (mit-)definieren oder bei deren Bewältigung eine Rolle spielen. Viertens implizieren Situationen „immer besondere Erwartungsstrukturen, Machtverhältnisse und Kontrollmechanismen“ (ebd.: 116, Hvh. d. V.). Dabei hätten die Akteure immer sowohl das „manifeste Ziel der Problemlösung“ als auch „das latente Ziel der Herstellung und sozialen Anerkennung der eigenen Kommunikationsmacht“ (ebd.: 117) im Blick. Fünftens zeichnet sich jede soziale Situation durch spezifische Kommunikationsinszenierungen aus, sprich: es muss als Grundvoraussetzung eine „semiotische Hintergrund‐ struktur“ (ebd.: 118) bestehen - über Zeichenart und Zeicheneinsatz muss 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 122 Einigkeit herrschen oder hergestellt werden - und der Ablauf muss gesteu‐ ert und geleitet werden. Hier kommen die kommunikativen Gattungen ins Spiel. Ziemann erachtet es darüber hinaus gar als erforderlich, dass letztere Aufgabe von einer Art Regisseur oder „Amtsautorität“ (ebd.) über‐ nommen wird. Er beruft sich dabei auf soziale Situationen innerhalb streng regulierter institutioneller Rahmen wie bspw. dem Gerichtsverfahren oder der TV-Show. Dabei übersieht Ziemann m. E. aber, dass gerade alltägliche Situationen in Co-Regie zumeist aller Beteiligten gesteuert werden. Diese passen darauf auf, dass ein bestimmter Zeichengebrauch beachtet wird und bestimmte Verhaltensregeln oder Ablaufstrukturen eingehalten werden, fordern dies gegebenenfalls auch ein und sanktionieren Übertretungen (vgl. Goffman 1973, 2011). Abschließend verweist Ziemann noch einmal auf den prozessualen Cha‐ rakter von Situationen: diese seien nicht quasi-ontologisch festgelegt, son‐ dern müssten hergestellt werden: „Die Handlungssequenzen selbst aber bilden erst den aggregierten, typisierten Sinnzusammenhang, kurz: die Definition der Situation“ (Ziemann 2013: 119). Wir brauchen also, um von einer sozialen Situation sprechen zu können, einen wie auch immer beschaffenen und dinghaft besetzten Raum, in dem Akteure innerhalb eines zeitlichen Rahmens miteinander im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel interagieren und sich an bestimmten, mal mehr, mal weni‐ ger expliziten Kommunikationsregeln orientieren. Sowohl bei Ziemann als auch bei Goffman ist Situativität nicht denkbar ohne räumliche Einbettung. Ziemann lässt jedoch offen, um welche Art von Raum es sich handelt und entbindet die soziale Situation vom Primat körperlicher Kopräsenz (ebd.: 160). Goffman hingegen geht noch klar vom physischen Raum aus, wenn er von der „räumliche[n] Umgebung“ (1969a: 29) einer Situation spricht. Das ist nicht weiter verwunderlich. Bis weit ins 20. Jahrhundert hin‐ ein stellte das kopräsente Miteinander tatsächlich den Regelfall zwischen‐ menschlicher Kommunikation und Interaktion dar. So lag es nur nahe, soziale Situationen über das Kriterium der Kopräsenz zu definieren. Die Theoriebildung gerät mittlerweile aber in einige empirische Bedrängnis und Erklärungsnot, solange sie die „nackte Situation“ (Knorr Cetina 2012a), d. h. die körperliche Ko-Präsenz bei zeitlicher und räumlicher Schließung, weiterhin als unhintergehbaren Ausgangspunkt menschlicher Interaktion setzt. Spätestens mit dem Web 2.0 findet nämlich „ein erheblicher und wachsender Teil des täglichen Lebens nicht in der physischen Präsenz 4.6 Die synthetische Situation 123 anderer, sondern in virtuellen Räumen statt“ (Knorr Cetina 2012a: 84). In diesen Räumen liegt aber weder physische Ko-Präsenz vor noch eine zeitliche Schließung. Digitale Plattformen gewährleisten lediglich räumliche Kohärenz: sie führen die Kommunikate der Beteiligten in einem zentralen Interface zusammen und ermöglichen so wechselseitige Wahrnehmbarkeit und Orientierung. ‚Virtuelle‘ Räume scheinen diese Funktionen anders, aber ebenso gut zu erfüllen wie physische Räume. Als Lösung für das ‚Problem‘ der fehlenden Ko-Präsenz schlägt Daniel Houben (2018) die Einführung einer Oberkategorie vor, die Ko-Referenz. Diese schließt auch medial-vermittelte, ungerichtete und asynchrone Kom‐ munikation ein. Houben unterscheidet zwischen Ko-Präsenz (vis-à-vis) und mediatisierter Präsenz (z. B. Telefonie/ Skype), gerichteter Referenz (z. B. WhatsApp-Nachrichten an konkrete andere) und ungerichteter Re‐ ferenz (z. B. Facebook-Beiträge an ein disperses Publikum). Das Konzept umschließt somit alle kommunikativen Akte, deren „Übertragung, (De)Co‐ dierung und Darstellung technologisch und sozial anschlussfähig bleibt“ (ebd.: 15). Houbens Vorschlag erlaubt es, unterschiedliche Formen (ko-)prä‐ senter wie auch nicht-kopräsenter Kommunikation in ein einheitliches Konzept der sozialen Situation zu überführen. Doch auch abseits der feh‐ lenden körperlichen Präsenz setzen digitale Räume ganz neue Rahmen und Bedingungen für soziale Situationen, die zu untersuchen sind. 4.6.2 Skopische Medien und synthetische Situationen Eine der luzidesten und griffigsten Konzeptualisierungen des kommunika‐ tiven Strukturwandels, der mit den neuen Technologien einherging, stammt von Karin Knorr Cetina. Knorr Cetina beobachtete in ihren Studien zu globalen Finanzmärkten, dass technisch-vermittelte Kommunikation die Beteiligten nicht nur vom physikalischen Raum emanzipierte, sondern auch eine ganze Reihe anderer Veränderungen mit sich brachte, die bislang nur wenig Beachtung fanden oder zumindest nicht systematisch aufgear‐ beitet wurden. Unter anderem stellte Knorr Cetina fest, dass bestimmte Kommunikationsformen die Situation mit Informationen anreichern, die in der analogen Welt so nicht zugänglich bzw. sichtbar sind - sie schaffen also eine gänzlich neue informationelle Umwelt. Weiterhin schaffen die virtuellen Räume eine neue Art der wechselseitigen Bezugnahme mit verän‐ derter Reaktions-Erwartung und -bereitschaft (vgl. Hirschauer 2014: 119 ff.). Dadurch entsteht eine neue Art von sozialer Situation, die Knorr Cetina 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 124 9 Was Knorr Cetina als Medien bezeichnet, entspricht gemäß der in Kap. 4.2 vorgenom‐ menen Definitionen Kommunikations(platt-)formen. Der Einfachheit halber behalte ich den Begriff bei, wenn ich mich konkret auf Knorr Cetinas Darstellungen beziehe. (2012a) „synthetisch“ nennt. Die medialen Kommunikations(platt-)formen wiederum, die solche „synthetischen Situationen“ aufspannen, bezeichnet sie als „skopische Medien“ (ebd.). 9 Skopische Medien, so Knorr Cetina, sind „Beobachter- und Bildschirm‐ technologien, die distanzierte Ereignisse, Phänomene und Handlungen in sensorisch wahrnehmbarer Weise in Situationen projizieren“ und Situatio‐ nen damit informativ und interaktiv erweitern. (Knorr Cetina et al 2014). Beispiele für skopische Medien sind die digitalen Trading-Systeme im be‐ reits genannten Finanzmarkthandel (Knorr Cetina 2012a), Computerspiele im E-Sport (Woermann & Kirschner 2014) oder Social Media-Plattformen (Woermann 2012). Schon auf einen ersten Blick fällt auf, dass diese Beispiele große Unterschiede hinsichtlich der kommunikativen Reichweite wie auch der zeitlichen Strukturen und des Engagementgrades aufweisen. Skopische Medien synthetisieren Situationen in jeweils ganz unterschiedlichem Maße. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie Inhalte aus unterschiedlichen Quellen an ein breites Publikum diffundieren, diese Inhalte aggregieren und kontextualisieren und Reaktionsmöglichkeiten bereitstellen (vgl. Woer‐ mann 2012). Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zu bspw. TV-Aus‐ strahlungen dar, die nur einen einzigen audiovisuellen Inhalt verbreiten oder zu Chats, die lediglich einzelne kommunikative Akte sichtbar machen. Skopische Medien verbinden die Partizipanden und sammeln zusätzlich (mal mehr, mal weniger) Metadaten, die in den digitalen Raum zurückgespeist werden. Die wichtigsten Merkmale, die alle skopischen Medien teilen, sind wie folgt: ▸ Skopische Medien mediatisieren Interaktionen, wobei die jeweils zugrundeliegende Plattform oder Technologie als vermittelnde Instanz auftritt und als Akteur wahrgenommen wird, selbst wenn sie nur Daten ausliest und diese sichtbar macht. Instagram stellt - neben den Nutzenden selbst - eine „dritte Ebene“ dar, die als symbolisches Gegenüber (vgl. Knorr Cetina 2012a) auftritt und beispielsweise ‚unter Druck setzen‘, ‚nerven‘, einem etwas ‚mitteilen‘ oder ‚überraschen‘ kann. Diese dritte Ebene umfasst die einzelnen Interaktionen als ‚kleine Lebenswelt‘, mit und in der interagiert werden kann und die von den Teilnehmenden der synthetischen Situation wie ein 4.6 Die synthetische Situation 125 weiterer Teilnehmer und eine zugleich kontrollierende All-Instanz wahrgenommen wird. ▸ Skopische Medien sammeln, kontextualisieren und betonen beständig Daten „die sich außerhalb der Reichweite gewöhnlicher Lebenswelten finden“ (Knorr Cetina 2012b: 170). Dabei kann es sich um vollautoma‐ tisch generierte Metadaten handeln (z. B. die Anzeige der Temperatur oder der Profilbesuche, die Teilnehmerzahl eines Chats, die Spieldauer etc.) oder um nutzergenerierte Daten. Nutzergenerierte Daten sind Daten mit kontextualisierender oder evaluativer Funktion, die von den Nutzenden bewusst und mit kommunikativer Intention herge‐ stellt werden, z. B. Kommentare, Hashtags oder Likes. Es handelt sich also nicht lediglich um die technische Visualisierung nicht-kom‐ munikativer Handlungselemente (bspw. Profilbesuche) oder äußerer Umweltfaktoren (bspw. Temperaturangaben). Hashtags zum Beispiel sind nutzergenerierte Verschlagwortungen, sog. folksonomies, die ei‐ nen Inhalt kontextualisieren und rahmen. Bei Likes wiederum handelt es sich um gezielt evaluative Handlungen. Instagram generiert diese Infos zwar nicht selber, es sammelt und quantifiziert sie aber und führt sie derart transkribiert in die synthetische Situation zurück. ▸ Dadurch entsteht eine informationelle Umgebung, die nicht nur über das Was, sondern eben auch über das Wieviel Auskunft gibt. In der Konsequenz ergeben sich hieraus neue Reaktionsmöglichkeiten aber auch -zwänge. Die Bedeutung und Relevanz von Kommunikaten muss z. B. nicht mehr intuitiv und alltagshermeneutisch erschlossen werden, sondern kann scheinbar objektiv ‚abgelesen‘ werden und als quantitativer Gradmesser für Folgehandlungen dienen. Die Halb‐ wertszeit dieser Informationen ist aber äußerst gering, da sie von ständig neuen Informationen abgelöst werden. So folgt auf ein Bild auf Instagram eine bestimmte Zahl von Likes, woraufhin ein neues Bild mit einer neuen Zahl an Likes folgt. Die älteren Werte werden schnell hinfällig oder verändern im Lichte der aktuellsten Werte ihre Bedeutung. Auch die Followerzahlen schwanken beständig, ähneln teils Livetickern. Skopische Medien spannen also neue soziale (Mikro-)Welten auf mit ganz eigenen Möglichkeiten, Problemen und Herausforderungen. Diese Mikro-Welten sind aufgrund des permanenten Informationsflusses hochgra‐ dig kontingent und veränderlich und befinden sich ständig im Wandel. Sie 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 126 basieren primär auf einem (fluidem) zeitlichen und nicht auf einem (stabilen) räumlichen Fundament: Zeitlichkeit, d. h. der Zeitpunkt und die Frequenz von Ereignissen oder Infos, wird zum primären Organisationsprinzip der Interaktionen, die von skopischen Medien vermittelt werden (vgl. Knorr Cetina 2012a). Neben diesen allgemeinen Merkmalen skopischer Medien gibt es aber auch einige Unterschiede zwischen skopischen Medien, die wie‐ derum die Art der jeweils entstehenden synthetischen Situation verändern. Diese Unterschiede sollen nun anhand einiger Dimensionen synthetischer Situationen aufgezeigt werden. 4.6.2.1 Temporalisierung und Reaktionspräsenz Zeitlichkeit als primäres Organisationsprinzip synthetisch vermittelter In‐ teraktionen führt nach Knorr Cetina (2012a: 90) dazu, dass Reaktionspräsenz gegenüber der reinen Anwesenheit an Bedeutung gewinnt. D.h. dass sich die Handlungen der Beteiligten nicht nur an den temporalisierten Informa‐ tionen und Ereignissen orientieren, die von einem skopischen Medium vermittelt werden. Es bedeutet überdies, dass an synthetischen Situationen nur teilnimmt, wer reaktiv-kommunikativ ‚da‘ ist. Präsent ist also, wer Daten generiert und darauf reagiert. Dies erfordert eine routinemäßige und dem zeitlichen Informationsfluss der jeweiligen Kommunikationsplattform angepasste Überwachung der Situation (ebd.: 96). Wie sehr man sich dem Informationsfluss anpasst, steht wiederum in Verbindung mit dem, was Hirschauer interaktive und relationale Präsenz nennt (Hirschauer 2014: 122 f.). Interaktive Präsenz bezieht sich auf den Grad der Involvierung - vergleichbar mit Goffmans Begriff des Engagements -, d. h. auf die Frage wie aufmerksam und fokussiert die Teilnehmenden sind. Der Begriff der relationalen Präsenz wiederum richtet sich auf die Bedeutung, die einem selbst und den anderen Beteiligten im Gespräch zukommt: wem muss oder sollte aufgrund seines sozialen Status (Freund, Würdenträger, Unbekannter etc.) geantwortet werden und wenn ja, wie? Zeitliche Strukturierung und Informationsfluss und damit auch die An‐ forderungen an interaktive und relationale Präsenz können sich dabei zwischen den Plattformen erheblich unterscheiden. So finden Computer‐ spiele und Videotelefonie in Echtzeit statt und erfordern eine stete Auf‐ merksamkeit. Ich kann bspw. nicht einfach kurz den Involvierungsgrad herunterfahren und beim Skypen Abend essen und nebenher Nachrichten auf dem Smartphone verschicken, ohne die Situation partiell aufzulösen. Das sieht beim Finanzmarkthandel schon etwas anders aus: auch hier laufen In‐ 4.6 Die synthetische Situation 127 formationen in Echtzeit über die Screens, die zeitliche Struktur erlaubt aber durchaus unterschiedliche Involvierungsgrade. Trader können eine Pause einlegen, aber immer noch bedingt ansprechbar sein, ohne dass dadurch die Stabilität der Situation als Ganzes gefährdet wäre. Soziale Netzwerkseiten wiederum, wie Instagram oder Facebook, bieten zwar die Möglichkeit der Echtzeitkommunikation, doch hängt es dort von vielen Faktoren ab, z. B. der Dringlichkeit, ob sofort, zeitlich versetzt oder überhaupt geant‐ wortet wird. Soziale Netzwerkseiten ermöglichen bspw. sowohl komplett digital-vermittelte Kommunikation als auch „informationell angereicherte Face-to-Face-Interaktionen“, etwa durch das Zuschalten von Personen (Knorr Cetina, Woermann & Hepp 2017: 40). Das hat auch Auswirkungen auf den Grad der Involviertheit: man kann sich dem Treiben immersiv hingeben und ganz in der ‚Welt‘ von Instagram, Facebook oder Twitter für Minuten oder Stunden versinken, davon eingenommen und ‚absorbiert‘ werden; man kann beiläufig, in der Vorlesung, beim gemeinsamen Abendessen oder während des Sportevents, ein Bild posten, einen Tweet absetzen oder etwas kommentieren; man kann eine Reaktion aber auch verzögern, indem man die Antwort verschiebt. Diese Praktiken der interaktiven Präsenz lassen sich letztlich auch strategisch zur Bewältigung relationaler Präsenz einsetzen: ob ich jemandem antworte und wie schnell kann u. a. davon abhängen, wie ich den sozialen Status der Person beurteile bzw. welchen Eindruck ich davon vermitteln möchte. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um feste Codes und Konventionen, sondern vielmehr um implizite Spiele der Bedeutungsaufladung und Interpretation metakommunikativer Elemente. Skopische Medien, insbesondere die sozialen Netzwerke, ermöglichen es auch, Inhalte an ein breites Publikum zu streuen und so in großem Ausmaß sichtbar zu machen - jede öffentliche Kommunikation im Netz, und sei sie auch noch so trivial, hat eine potentiell globale Reichweite. Erweiterte Sichtbarkeit für ein disperses Publikum, Reaktionsungewissheit angesichts eines unsichtbaren Publikums und Reaktionspräsenz als Teilnah‐ mekriterium wirken als strukturelle Katalysatoren einer Veränderung von Anwesenheits- und Zugänglichkeitserwartungen, die sich letztlich auch gut sichtbar im Verhalten der Nutzenden niederschlagen, z. B. in theatralischer oder unbestimmter Kommunikation (vgl. Wagner 2014 und die Ausführun‐ gen in Kap. 3.3.2). 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 128 10 Ein Beispiel hierfür sind Live-Stream-Anbieter auf Youtube, Younow oder Twitch, die Handlungen vor der Kamera von den in Echtzeit aktualisierten Views und Likes abhängig machen. 4.6.2.2 Augmentierung des Erfahrungsraums Kennzeichnend für skopische Medien und die durch sie hervorgebrachten synthetischen Situationen ist überdies die Erweiterung des Erfahrungs‐ raums. Skopische Medien visualisieren Nicht-Sichtbares oder sonifizieren Nicht-Hörbares (vgl. zu Sonification Hermann, Hunt & Neuhoff 2011), blenden z. B. Klickzahlen ein oder benachrichtigen per Tonsignal über den Eingang einer Nachricht. Handlungen und Ereignisse werden also in einen konkreten sensorischen Reiz überführt, welcher es den Nutzenden ermöglicht, diese als explizites Datum wahrzunehmen. Insofern handelt es sich bei synthetischen Situationen tatsächlich um ‚augmented realities‘, um erweiterte bzw. erhöhte Wirklichkeiten, die neue Zugänge zur Welt schaffen, auf kognitiver und somatischer Ebene. Synthetische Situationen sind also nicht nur informationell, sondern auch epistemisch angereichert (vgl. Knorr Cetina et al 2014). In ihnen erfahren wir unsere Umwelt auf eine neuartige Art und Weise, wirken entsprechend anders auf sie zurück und handeln anders in ihr. Umwelt, Körper und Technologie werden miteinan‐ der gekoppelt: Apps führen uns audiovisuell von A nach B, informieren uns, wenn wir angekommen sind, blenden die Öffnungszeiten des Restaurants ein, vor dem wir stehen oder geben uns Auskunft darüber, wieviele Perso‐ nen das Bild mögen, das wir gerade vom Abendessen geschossen haben. Skopische Medien und synthetische Situationen schaffen Prothesen-Körper (vgl. Schneider 2005, Spreen 2015). Dieser Prothesen-Körper ist in zweierlei Hinsicht erweitert: Die skopischen Medien entlasten ihn von bestimm‐ ten physisch-kognitiven Leistungen (bspw. von Gedächtnisarbeit oder Konzentrationsanstrengungen) aber auch ausgestattet mit Kompetenzen und Potentialen, über die der menschliche Körper allein nicht verfügt (z. B. instantane Datenaggregation, Visualisierungsmöglichkeiten wie die Zeitlupe etc.). Darüber hinaus wirken skopische Medien kommunikativ aktual, sie prozessieren also ständig und (quasi-)automatisch aktuelle und aktualisierte Informationen. Im jeweiligen kommunikativen Kontext werden diese Informationen mit mehreren anderen Informations- und Handlungsebenen zusammengebracht, verknüpft und mehr oder weniger direkt rückgekoppelt. 10 4.6 Die synthetische Situation 129 11 Das gilt noch viel mehr für selbst kontrollierbare Displays, z. B. die Abo-Zahlen oder die Gefällt-Mir-Markierungen auf Facebook. 4.6.2.3 Evaluation Neu ist aber insbesondere, dass viele der Rahmungen, Informationen und sensorischen Erweiterungen evaluative Kraft haben und die skopischen Medien so einen Raum der Bewertung aufspannen. Zwar finden in nahezu jeder sozialen Situation Wertungen, Einstufungen und Relationierungen statt: Wir schreiben Dingen individuell Wert zu oder sehen uns mit sym‐ bolisch-generalisierten Valenzen konfrontiert, bspw. expliziten Ranglisten oder Hierarchien. In nicht-synthetischen Situationen werden Wertzuschrei‐ bungen aber meist implizit prozessiert. Explizite Wertungen, etwa Kompli‐ mente, sind im face-to-face-Alltag eher selten. Zudem haben sie ausschließ‐ lich qualitativen Charakter: Im Bewerbungsgespräch oder beim Assessment erfolgt die Evaluation z. B. mündlich oder in Form eines Fließtextes, wird nicht veröffentlicht, ist nicht auszählbar und nur bedingt vergleichbar. In synthetischen Situationen sind viele Informationen wiederum zahlenförmig und dadurch direkt oder indirekt ein Ausdruck messbarer und vergleichbarer Wertungen. Likes, Upvotes u. ä. sind bereits semantisch aufgeladen und als direkter Ausdruck eines Urteils angelegt - mit ihnen können die Nutzenden anzeigen, ob ihnen ein Inhalt gefällt oder nicht. Für andere Daten gilt das nur bedingt. Die Follower- (oder Freundes-)Anzahl bspw. ist rein deskriptiv. Die Zahl muss erst als Gradmesser für Beliebtheit (oder eine andere bedeut‐ same Eigenschaft) interpretiert werden, um sozial-evaluative Bedeutung zu erhalten. Sozial-evaluative Bedeutung erhalten Eigenschaften dann, wenn ihnen allgemeinverbindliche Relevanz zugeschrieben wird. Instagram weist den Follower-, Like- und Abozahlen allein durch die prominente Platzierung der Zähler bereits Gewicht qua Sichtbarkeit zu. Dadurch werden die jeweiligen Kategorien mit Relevanz und Bedeutung aufgeladen. Dabei sind Follower (Anhänger) und Likes (Gefällt-Mir-Angaben) ein guter Indikator für soziales Prestige, da sie dem Konzept der Beliebtheit semantisch nahestehen. Sie fungieren als Wert-Display daher besser als etwa bloße Klickzahlen. Letztere sind stärker auslegungsbedürftig und weniger bedeutungsgeladen. 11 Letzt‐ lich bestimmt aber immer die Aneignung durch die Nutzenden, welche Funktionen und Informationen soziale und situative Relevanz erhalten. Mit den quantifizierten Displays stehen den Nutzenden von Instagram (und anderen skopischen Medien) also neue Mittel bzw. kommunikative 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 130 Kanäle der Fremd- und Selbstthematisierung zur Verfügung, die oft explizite Werturteile enthalten und transportieren. Instagram als skopische Plattform stellt diese Wertaussagen öffentlich aus und ermöglicht es dadurch, dass sie situativ relevant werden. Die Nutzenden von Instagram (bzw. deren Profile) tragen so ständig ein oder mehrere sich selbst aktualisierende ‚Preisschilder‘ vor sich her. Wie auch in der face-to-face-Situation Akteure strategisch vorgehen und versuchen, kompromittierende Elemente zu verbergen - z. B. die zitternden Hände, die Nervosität verraten -, so sind auch die Nutzenden skopischer Medien darauf bedacht, jene Elemente für sich selbst auszublenden oder anderen vorzuenthalten, die ein unvorteilhaftes Licht auf sie werfen könnten (vgl. Goffman 1973, 2011). Facebook z. B. erlaubt es, die Anzeige der Freundesstatistik zu verbergen. Auf Instagram gibt es eine solche Möglichkeit nicht. Followerzahlen, Likes und auch die Abonne‐ ments und der Beitragscounter werden ‚gnadenlos‘ und ohne Rücksicht auf Gesichtsverluste öffentlich ausgestellt, selbst dann, wenn es sich um einen privaten Account handelt. 4.6.2.4 Quantifizierung der Kommunikation Um zu verstehen, wie Zahlenförmigkeit die Selbstthematisierung und In‐ teraktion auf Instagram verändert, muss die Eigenlogik dieses Zeichenmo‐ dus‘ verstanden werden. Wie der bildliche Zeichenmodus weist auch die ‚quantifizierte Kommunikation‘ einige spezifische Eigenheiten auf. Bettina Heintz (2010) nennt dies, mit Verweis auf Böhmes ikonische Differenz, die „numerische Differenz“ und führt sie auf vier eigenlogische Momente zurück: ▸ Systematik: Verbale oder schriftliche Aussagen und bildlicher Aus‐ druck folgen nur bedingt fixen Regeln und die Bedeutung ist stark abhängig von der Person, die sie interpretiert - mit teils hohen Varianzen. Quantifizierungen hingegen basieren auf expliziten und normierten Erzeugungsregeln - egal wer sie durchführt, man erhält immer denselben Output. Zahlen wirken insofern kontingenzreduzie‐ rend. ▸ Selbstreferentialität: Im Gegensatz zu Zeichen wie Bildern oder Wor‐ ten verweisen Zahlen nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst. Das Wort Baum steht (sprachtheoretisch vereinfacht) konventional für das Ding Baum, die Zahl 2 aber nur für sich selbst. 4.6 Die synthetische Situation 131 ▸ Geringe Indexikalität: Zahlen sind kontextentbundener und benöti‐ gen weniger Hintergrundwissen. So versteht man fünf Likes in ihrer Bedeutung als Zustimmung für ein Bild auch ohne den konkreten Bildinhalt zu kennen - lediglich das Konzept der Likes muss gekannt werden. Der Kommentar „Saubere Aktion! “ hingegen kann nicht so ohne weiteres verstanden werden. Zusatzinformationen sind nötig, d. h. eine kontextuelle Einbettung. ▸ Objektivität bzw. externale Zurechnung: Eine mündliche Äußerung wird immer als das Tun einer Person wahrgenommen und auf persön‐ liche Interessen zurückgerechnet - sie wird intern attribuiert. Zahlen wiederum legen eine externe Attribution nahe, suggerieren also, dass der Gehalt unpersönlich ist, außerhalb der Äußerungsinstanz liegt und die Äußerung somit „einen ‚objektiven‘ Sachverhalt wiedergibt“ (Heintz 2010: 174). Von diesem objektiven Schein geht eine „Sugges‐ tivkraft“ (ebd.: 171) aus, die gesellschaftliche Akzeptanz und vor allem Vertrauen herstellt: Zahlen sind integer. Das verleiht ihnen Kommu‐ nikationsmacht, da „Zustimmung […] damit wahrscheinlicher“ wird (ebd.: 172). Ganz davon abgesehen, dass Zahlen als verlässlich und wahrhaftig gelten und somit die Folgebereitschaft erhöhen, geht von ihnen aber auch noch ein zweiter Effekt aus: sie machen vergleichbar und unterstützen die kom‐ munikative Diffusion von Inhalten. Vergleichbarkeit ist den Dingen nicht inhärent, sondern wird konstruiert, indem man die zu vergleichenden Dinge einem Vergleichskriterium unterordnet (vgl. ebd.). Dieses Kriterium muss in sich aber wiederum differenzierbar sein, um Unterschiede zwischen den Vergleichsobjekten herausstellen zu können. Das Kriterium selbst ist, so Heintz, Ergebnis einer Selektionsleistung. Statt Likes könnten auf Instagram auch Dislikes oder Klickzahlen als Vergleichskriterium fungieren. Natür‐ lich lässt sich auch qualitativ vergleichen, indem man z. B. Rezensionen gegenüberstellt oder Kommentare. Qualitative Wertungen sind jedoch nicht standardisiert und vereinheitlicht und somit nur indirekt vergleichbar. Quantifizierungen hingegen bieten die Möglichkeit, komplexe Dinge in ein‐ fache quantitative Messeinheiten zu transformieren und Wertungen derart zu vereinheitlichen (ebd.: 164 ff). Einmal in eine Messeinheit umgewandelt, lässt sich auf diese Weise potentiell alles mit allem vergleichen. Derart auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner abstrahiert tragen Quantifizierungen und Vergleiche dazu bei, dass die Zuschreibungen schneller und mit größerer 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 132 Reichweite kommuniziert werden können (ebd.: 174 ff.). Filmranglisten und -wertungen bspw. sind schneller einsehbar als Filmrezensionen und auch über unterschiedliche Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verständlich. Auf Instagram gibt es zwar keine offiziellen Listen oder Rankings. Dennoch werden auf Instagram, neben qualitativen Evaluationen (in Kommentaren), eine Reihe quantitative Bewertungen vorgenommen werden, die als objek‐ tiv, eindeutig und verlässlich gelten und die Reichweite potenzieren. Die globale Reichweite und Sichtbarkeit solcher Vergleiche bleibt nicht ohne Konsequenzen, so Heintz: „Die (massenmediale) Öffentlichkeit solcher vergleichenden Beschreibungen führt dazu, dass die Verglichenen einer ständigen, potenziell weltweiten Beob‐ achtung ausgesetzt sind, sich im Wissen um diese Beobachtung selbst beobachten und ihr Verhalten darauf einstellen“ (Heintz 2010: 167). Dabei hat Heintz noch nicht die sozialen Netzwerkseiten im Blick, sondern v. a. Institutionen und Organisationen. Sie verweist damit jedoch auf einen Aspekt skopischer Medien und synthetischer Situationen, der auch für die Kommunikation auf Instagram von Bedeutung ist: Schicksalshaftigkeit. 4.6.2.5 Schicksalshaftigkeit und Feedbacksteuerung Die Anreicherung der synthetischen Situationen um Zahlen mit sozial-eva‐ luativer Kraft bzw. Relevanz erzeugt das, was Knorr Cetina Schicksalshaf‐ tigkeit nennt (vgl. Knorr Cetina 2012a: 104). Sie rekurriert damit auf einen Begriff Goffmans, der so Situationen, Handlungen und Zustände bezeich‐ nete, die nicht nur Konsequenzen für die Beteiligten haben, sondern auch mit einem Risiko verbunden sind (Goffman 1969b: 119). Es handelt sich dabei um prekäre Situationen, in denen für die Beteiligten etwas ‚auf dem Spiel‘ steht, wobei der Ausgang unsicher und nur bedingt kontrollierbar ist. Im Falle von Instagram droht der Gesichtsverlust: man präsentiert sich einer (mal mehr, mal weniger) breiten Öffentlichkeit und setzt sich deren (Be-)Wertungen aus. Mehrere Faktoren sorgen dafür, dass das Risiko für die Nutzenden mehr als nur marginal ist: ▸ Bei Likes handelt es sich um explizite Werturteile, die für alle als solche erkennbar sind. Als Indikator für Aufmerksamkeit, Bekanntheit oder gar Beliebtheit sind sie zudem sozial hochvalent. ▸ Zahlen suggerieren Objektivität. Likes und Followerzahlen gelten also schon qua Zeichenmodus als glaubwürdig, was sie zu einem 4.6 Die synthetische Situation 133 potenteren Statusindikator macht als bspw. Einschätzungen oder Mei‐ nungen, denen Subjektivität und damit nur bedingte Wahrheitskraft unterstellt wird. ▸ Durch ihre quantitative Verfasstheit eignen sich Likes und Follower‐ zahlen bestens zum Vergleich. So wird mit ihnen nicht nur ein Werturteil, sondern zugleich ein relationaler Status expliziert - es wird ein kompetitiver und komparativer Sozialraum aufgespannt. ▸ Evaluative Quantifizierungen begleiten grundsätzlich jede Handlung. Es gibt keinen kommunikativen Akt auf Instagram, der nicht durch einen Like, Follower- oder Kommentar-Zähler quantifiziert wird und dadurch expliziten Bewertungen ausgesetzt werden kann. Insofern auf Instagram das eigene Selbst präsentiert wird, steht dieses also nicht nur permanent unter Beobachtung, sondern wird ebenso be‐ ständig evaluiert. Das gesamte kommunikative Setting ist durchdrungen von evaluativen Elementen, die eben nicht nur sichtbar machen, sondern auch werten. Und bewertet werden in der Regel das persönliche Profil und das dort zur Schau gestellte Selbst. Dieses Selbst wird dabei nicht nur gelegentlich, sondern fortwährend bewertet - es befindet sich hier gewissermaßen auf dem Dauerprüfstand. Dieser Umstand sollte in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden - bis vor kurzem kamen allenfalls Politiker in den ‚Genuss‘, in Trendumfragen zur Beliebtheit regelmäßig und explizit evaluiert zu werden. Anders als solche Trendumfragen entstehen die Bewertungen auf Instagram jedoch nicht zeitversetzt, sondern reagieren sehr direkt und zeitnah auf Ereignisse. Bei Instagram und den hier herge‐ stellten synthetischen Situationen handelt es sich wie bereits dargestellt um hochgradig temporalisierte, aktuale Interaktionszusammenhänge. Die zeitliche Dichte sorgt dafür, dass Beitrags- und Evaluationshandlungen in großem Maße rückgekoppelt sind und sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Anders ausgedrückt: Kommunikatives Handeln auf Instagram ist hochgradig feedbackgesteuert. Zusammenfassend spannt Instagram als skopische Kommunikations‐ plattform synthetische Situationen auf, die sich insbesondere durch die folgenden Merkmalsausprägungen auszeichnen: ▸ Augmentierung des Erfahrungsraums: Die Situation wird visuell oder auditiv um kommunikative Elemente erweitert, die in der face-to-face-Situation nicht zur Verfügung stehen (z. B. die Like-An‐ zahl, Tonsignale bei Veränderung dieser o. ä. Informationen usw.). 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 134 Diese informationellen Erweiterungen stellen neue Mittel zur situati‐ ven Kontextualisierung und Selbstthematisierung zur Verfügung und beeinflussen das Engagement der Nutzenden. ▸ Temporalisierung: Die neuen Elemente (Metadaten, Push-Up Signale etc.) reagieren instantan auf Handlungen und Ereignisse und verän‐ dern den Fortlauf der Situation. Instagram als ‚kleine Lebenswelt‘ befindet sich daher ständig ‚im Fluss‘, ist hochgradig kontingent und veränderlich. ▸ Reaktionspräsenz und Publikumsfiktion: In der synthetischen Situation auf Instagram gibt es keine physische Präsenz, nur Reaktionspräsenz - sichtbar ist nur, wer aktiv teilnimmt. Die Unsichtbarkeit eines Großteils des Publikums schafft Unsicherheit hinsichtlich der tatsäch‐ lichen Reichweite der eigenen Beiträge. Das Handeln wird daher an Publikumsfiktionen und -antizipationen ausgerichtet, Reaktionser‐ wartungen und Reaktionsbereitschaft stehen unter neuen Vorzeichen. ▸ Evaluation, Vergleich und Schicksalshaftigkeit: Viele der kommunikati‐ ven Reaktionsmöglichkeiten sind wertender Art: Likes, Follower und Kommentare stellen explizite oder implizite Werturteile dar, die von Instagram aggregiert werden. Beinahe jede Handlung wird quantita‐ tiv aufbereitet und dient so als Vergleichsmöglichkeit für das eigene Image und den sozialen Status. Die synthetische Situation legt also eine starke Außenorientierung nahe. Insbesondere im Falle der für die Plattform typischen Selbstdarstellungen erweist sich Instagram für die Nutzenden als schicksalshafter Raum: die kommunikativen Handlungen sind potentiell stark gesichts-bedrohend. Abschließend hier nochmal eine Übersicht der Merkmale synthetischer Situationen im Vergleich zu face-to-face-Situationen (Tab. 2): face-to-face-Situation Synthetische Situation Wahrnehmungsdaten Natürliche Daten Medial bzw. zeichenhaft vermittelte Daten (Vi‐ deos, Bilder etc.); tech‐ nisch generierte Metada‐ ten (Zahlen etc.) Zeitlichkeit Eher begrenzt, linear und statisch; synchron Eher offen, non-linear und flüchtig; asynchron Räumlichkeit Physisch-lokal Virtuell-translokal 4.6 Die synthetische Situation 135 12 Dadurch werden vergangene Kommunikate außerdem in stärkerem Maße relevant für die gegenwärtige Gesprächssituation. Präsenz Anwesenheitspräsenz Reaktionspräsenz Wertigkeits- und Aner‐ kennungsstrukturen Stärker qualitativ: nicht-standardisierte, eher implizite Indikation Stärker quantitativ: stan‐ dardisierte, eher explizite Indikation Tab. 2: Vergleich und Übersicht von Situationsmodi, eig. Darst. Die idealtypische face-to-face-Situation beruht auf natürlichen Daten, d. h. solchen, die sich den Sinnesorganen anbieten, ohne technisch-medial ver‐ mittelt zu sein. Sie ist zeitlich und räumlich klar eingegrenzt. Die beteiligten Personen müssen erstens innerhalb eines physischen Raums zusammenge‐ führt und dort füreinander wahrnehmbar sein. Die Situation startet, wenn mindestens zwei Personen zusammenkommen und sie endet, „wenn die zweitletzte Person den Schauplatz verläßt“ (Goffman 1969a: 29). Die Anwe‐ senden erfahren dabei alles gleichzeitig, die situativen Rahmenbedingungen ändern sich währenddessen nur geringfügig, d. h. sie bleiben statisch. Anwe‐ senheit wird dabei basal über physische Ko-Präsenz hergestellt (wenngleich kommunikative Präsenz auch hier ein gewisses Engagement verlangt). Anerkennung wird (abgesehen von bestimmten Ritualen) vorwiegend qua‐ litativ und implizit distribuiert (bspw. durch ein Kopfnicken, ein Lächeln, freundliche Worte, Taktgefühl usw.). Synthetische Situationen wiederum sind dadurch gekennzeichnet, dass Menschen medial-vermittelt interagieren (bspw. über Avatare) und tech‐ nisch-generierte Metadaten Teil der Interaktion sind. Es werden also Infor‐ mationen bereitgestellt und in einer Weise aufbereitet, wie sie face-to-face nicht zur Verfügung stünden. Zeitlich sind synthetische Situationen gegen‐ über face-to-face-Situationen flüchtiger und offener zugleich. Offener sind sie, weil Daten meist gespeichert werden und Interaktionen so auch nach Unterbrechungen ohne ‚Verlust‘ fortgeführt werden können. 12 Vor allem aber sorgt die ständige Aktualisierung von Informationen für eine größere Flüchtigkeit und Kontingenz der synthetischen Situation: neue Informatio‐ nen setzen neue Vorzeichen. Räumlich gesehen sind die Teilnehmenden in synthetischen Situationen zwar in der Regel physisch voneinander getrennt, jedoch trotz allem an einen virtuellen Ort gebunden. Gerade vor dem Hintergrund größerer zeitlicher Entgrenzung muss dies als Vor‐ 4 Theoretischer Rahmen - Medium, Kommunikation, Bildpraxis und digitale Sozialität 136 aussetzung für die nötige situative Kohärenz betrachtet werden. Die Form der Präsentierung verlagert sich dabei von der physischen Ko-Präsenz zur Reaktionspräsenz. Und nicht zuletzt verändern sich durch die Metada‐ ten die evaluativen Strukturen: Face-to-face existieren keine quantitativen Ratifizierungsmechanismen. Die Metadaten in synthetischen Situationen aber geben zählbares Feedback mit evaluativer Kraft: In den Zählern und Anzeigen wird Wertigkeit expliziert und standardisiert. Letzten Endes sind die Unterschiede zwischen synthetischen und face-to-face-Situationen nicht absolute, sondern graduell. So handelt es sich bei Skype-Gesprächen zwar durchaus um synthetische Situationen, sie liegen jedoch näher an der face-to-face-Situation als Interaktionen auf Facebook, an denen weit mehr skopische Elemente beteiligt sind. Die entscheidenden Fragen lauten daher, welche skopischen Elemente an einer synthetischen Situation beteiligt sind und wie sie von den Nutzenden angeeignet werden. Dies sind empirische Fragen, die für Instagram in den folgenden Kapiteln beantwortet werden sollen. Zuerst betrachte ich hierzu die Struktur der Plattform und Plattformkommunikation, anschließend wird der Fokus auf die Aneignungsweisen der Nutzenden gelegt. 4.6 Die synthetische Situation 137 5 Gattungsstruktur auf Instagram 5.1 Gattungsanalyse 5.1.1 Theorie der kommunikativen Gattung Um die Form des Lifestyle-Bloggings auf Instagram besser zu verstehen, werden in diesem Kapitel vorab die charakteristischen Strukturen der Kommunikation untersucht, die auf dieser Plattform stattfindet. Als Harvey Sacks (1984: 22) von „order at all points“ in kommunikativen Gefügen sprach, war nicht etwa ein mythisches ‚intelligent design‘ oder eine universale Grammatik gemeint. Die Maxime bezieht sich auf das Interesse von Akteu‐ ren, Ordnung und Kontrolle in kommunikativen Prozessen herzustellen. Menschen, die kommunizieren, versuchen, sich aufeinander abzustimmen, einen Arbeitsmodus zu finden, der Orientierung stiftet und Steuerung ermöglicht. Steuerung und Orientierung erhalten kommunikative Gefüge durch zusammenhängende sowie verbindliche (erwartbare und sanktions‐ fähige) Verhaltensbzw. Kommunikationsregeln. Situationen, in denen man nicht weiß, wie man reagieren oder sich verhalten soll (bzw. kann), sind selten und stechen als besondere Ereignisse‘ aus dem Fluss des Alltags hervor. In den meisten Fällen können Menschen auf bestimmte Skripts, d. h. Sets an Verhaltensregeln zurückgreifen. Die Kenntnis solcher Skripts und Regeln ist meist implizit und habituell verankert, sprich: es handelt sich um ein vorbewusstes, verkörperlichtes, stillschweigendes Wissen. Entsprechend dieser nur ‚eingeschriebenen‘, aber nicht ‚festgeschriebenen‘ Bedeutungen ähneln kommunikative Skripte und Regeln eher Richtlinien und erlauben den Beteiligten mal mehr, mal weni‐ ger große Spiel- und Freiräume im Umgang mit ihnen und miteinander. Kommunikative Gattungen stellen eine besonders stabile Form solcher kommunikativen Skripte und Regeln dar. Sie sind als routinierte kommuni‐ kative Handlungskonventionen fest in den kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft integriert und stellen Lösungen für bestimmte Probleme der Interaktion parat. Für Thomas Luckmann haben kommunikative Gattungen gesellschaftskonstitutive Bedeutung und sind ein Mittel der „Produktion gesellschaftlicher Ordnung“ (2002: 185). Kommunikative Gattungen entlas‐ ten nach Luckmann „[…] das Individuum von den fortwährend ‚spontanen‘ Wahlen, wie etwas wann wem kommuniziert werden soll, und sie erlauben damit die Synchronisierung der einzelnen Handlungsschritte in der kommunikativen Interaktion. In einem gewissen Sinne kann man kommunikative Gattungen - also routinisierte und mehr oder weniger verpflichtende, auf Zeichensystemen beruhende Interaktions‐ muster - als kommunikative ‚Institutionen‘ bezeichnen, die vertraute Rahmen für die Produktion und Rezeption kommunikativer sozialer Interaktionen zur Verfügung stellen.“ (ebd.: 188) Ein Seminar soll bspw. andere kommunikative Aufgaben bewältigen als eine Vorlesung, ein Stammtisch hat andere kommunikative Funktionen als das Gespräch unter vier Augen zwischen Freunden und ein Bewer‐ bungsgespräch soll andere Probleme lösen als ein Übergabegespräch im Krankenhaus oder der Klatsch mit Bekannten. Insofern all diese interaktiven Formen kommunikativen Handelns auf unterschiedliche Problemstellungen antworten, sind sie auch unterschiedlich strukturiert. Sie stellen unter‐ schiedliche Rahmen, wie Luckmann (2002: 188) es im Anschluss an Goffman nennt, der Gesprächsführung zur Verfügung, an denen die Beteiligten sich und ihr Verhalten orientieren können, auf die sie ihre Äußerungen abstim‐ men und an denen sie ihre Erwartungen ausrichten können. Günthner und Knoblauch (1997) stellen Verfestigung und Formalisierung als konstitutive Merkmale kommunikativer Gattungen fest: D.h. bestimmte kommunika‐ tive Elemente (bspw. Zeichen, Redefolgen, Rollen) treten wiederholt und quasi-verbindlich (Verfestigung) auf und sind miteinander kombiniert bzw. aggregiert (Formalisierung). Bei kommunikativen Gattungen handelt es sich um Abstraktionen, um Kategorien zweiter Ordnung, sprich: um wissenschaftliche Typisierungen real wirksamer Kommunikationsmuster (vgl. Bergmann 1987: 38). Dabei kann es durchaus vorkommen, dass sie identisch mit Ethnokategorien sind oder zumindest Überlappungen aufweisen - das landläufige Verständnis von Klatsch wie auch die gattungsanalytische Kategorie Klatsch beziehen sich im Kern auf dasselbe kommunikative Phänomen. Einzelne Gespräche sind dabei immer nur individuell-exemplarische Realisierungen einer Gattung, nicht aber die Gattung selbst (vgl. ebd.: 1987: 56). Kommunikativen Gattungen sind von Text-bzw. Kommunikatsorten zu unterscheiden. Letztere können als konventionalisierte Darstellungsformate 5 Gattungsstruktur auf Instagram 140 1 Auch Kommunikatsorten sind wandelbar, so werden Genre-Formeln gerne und oft variiert. Hier handelt es sich aber um bewusst gesetzte Brüche oder Spielereien mit Konventionen. beschrieben werden (bspw. Film-oder Buch-Genres), während erstere kon‐ ventionalisierte Interaktionsformate bezeichnen (bspw. Bewerbungsgesprä‐ che). Gemeinsam ist Kommunikatsorten und Gattungen, dass sie jeweils musterhafte Merkmale aufweisen, die in Verbindung stehen zu den jeweili‐ gen kommunikativen Funktionen, die sie übernehmen. Im Gegensatz aber zu bspw. dem Liebesroman, der ein in sich geschlossenes Darstellungsformat ist, bestehen Gattungen aus zwischen mehreren Beteiligten aufeinander ab‐ gestimmten kommunikativen Handlungsvollzügen. Gattungen sind an jeder Stelle ihrer wechselseitig-interaktiven Herstellung offen für (nicht-vorher‐ gesehene) Variationen, Abweichungen vom ‚Protokoll‘ oder Störungen 1 . Dieser dialogische Charakter kommunikativer Gattungen macht eine ana‐ lytische Differenzierung unterschiedlicher Strukturebenen nötig. So wird klassischerweise zwischen Außen-, Binnen- und Zwischenstruktur unter‐ schieden. Mit der Binnenstruktur ist im Kern die Zusammensetzung der Ausdrucks‐ mittel gemeint, die in einer kommunikativen Situation zum Einsatz kom‐ men und musterhaft verdichtet zu Merkmalen kommunikativer Gattungen werden. Die Binnenstruktur besteht konkret aus „Vorauswahlen aus den kommunikativen ‚Codes‘“ (Luckmann 1986: 204), d. h. aus Wortbzw. Zei‐ chenwahl, Syntax, Prosodie, Rhythmik, Stilistik und Rhetoriken, Themen- und Motivwahl sowie dem mimischen und gestischen Repertoire, das von den Beteiligten realisiert wird. So lässt sich die kommunikative Situation oft sogar schon anhand einzelner binnenstruktureller Merkmale eingrenzen: An Wort- und Themenwahl erkenne ich z. B., ob sich zwei Personen in einer eher trocken-technischen Arbeitsbesprechung befinden oder ob sie angeregt private Urlaubserzählungen austauschen. Binnenstrukturelle Ele‐ mente fungieren auch als Beziehungsindikatoren und -modulatoren, die bspw. anzeigen oder beeinflussen, ob es sich um eine intime oder informelle Situation handelt. Durch den Wechsel sprachlicher Register lassen sich Gattungen also auch ‚wechseln‘ oder Rahmen verschieben. Auf der intersubjektiv-situativen Realisierungsebene oder Zwischenstruktur finden sich die Ablauf- und Vollzugsregeln, die konstitutiv für spezifische kommunikative Muster und Gattungen sind. Auf der situativen Realisie‐ rungsebene entscheidet sich, wie in der jeweiligen Situation das Rederecht 5.1 Gattungsanalyse 141 verteilt ist, wie Sprecherwechsel vollzogen werden oder wie man von einem Thema zum nächsten kommt. Günthner und Knoblauch unterscheiden zwischen rituellen Merkmalen und konversationellen Merkmalen (1994: 708 f.). Rituelle Merkmale legen bestimmte Formen der Kontaktaufnahme, -beendigung oder des Sich-Zueinander-Verhaltens nahe. So mag im Rahmen der einen kommunikativen Gattung Kritik nur in abgemilderter Form akzeptabel sein (etwa im Therapiegespräch), während sie in einer anderen kommunikativen Gattung direkt vorgetragen wird und keinerlei ritueller Prä- oder Postliminarien bedarf (bspw. Im Bürgergespräch). Konversationelle Merkmale wiederum betreffen „die Organisation kommunikativer Hand‐ lungen“, wie sie sich bspw. in „Redezugabfolgen und Paarsequenzen“ (Fra‐ gen/ Antworten etc.) aber auch Präferenzstrukturen manifestiert (eine Ein‐ ladung sollte z. B. angenommen werden, obwohl sie auch abgelehnt werden könnte) (ebd.: 708). Des Weiteren wird auf der zwischenstrukturellen Ebene auch das Beteiligungsformat geregelt oder ausgehandelt, sprich: die vorgege‐ benen Rednerpositionen und ihre (kommunikative) Beziehung zueinander sowie zu den verhandelten Themen und Inhalten. Auch die Organisation sonstiger zeitlicher Abfolgen oder räumlicher Arrangements ist analytisch auf dieser Ebene anzusiedeln. Auf der situativen Realisierungsebene wird also über formal-strukturelle Elemente und sequenzielle Ordnungen die kommunikative Situation gesteuert und die jeweilige Gattung bestimmt. So kann eine Vorlesung zur Diskussionsrunde werden, wenn Dozierende sich mit Studierenden beim Reden abwechseln. Und der Smalltalk kann zum Beratungsgespräch werden, wenn nicht nur das Thema, sondern auch die Redeanteile, Anerkennungs- und Präferenzstrukturen sich entsprechend verschieben. Der Begriff der Außenstruktur schließlich bezieht sich auf „vorgefertigte Definitionen kommunikativer Milieus, kommunikativer Situationen und des Typs, der Rolle und der wechselseitigen Beziehung der Handelnden“ (Luckmann 1986: 204), sprich: auf den sozialen bzw. sozialstrukturellen Kontext kommunikativer Gattungen. So werden sich Rap-Battles, eine Lateinunterrichtsstunde und eine Tupperwarenparty nicht nur hinsichtlich ihres Ablaufs und der verwendeten Zeichen unterscheiden, sondern bereits durch den sie bedingenden und prägenden sozialen Kontext. Damit sind die sozialstrukturelle und räumliche Situierung der Interaktion gemeint wie auch die habituelle Prägung, die demographischen Merkmale und die Konstellation der beteiligten Personen. Kommunikative Gattungen werden, wie Androutsopoulos und Schmidt (2001: 55) es ausdrücken, „von sozialen 5 Gattungsstruktur auf Instagram 142 Milieus und Institutionen, der ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit, dem Geschlechterverhältnis, der Altersverteilung, dem Status usw. der Akteure maßgeblich determiniert“. Es geht bei der Außenstruktur um die Rahmenbedingungen oder auch Voraussetzungen kommunikativer Gattun‐ gen. Insofern stimme ich Dürscheid (2005) und Schmidt (2000) zu, die Medien und Kommunikations(platt-)formen der Außenstruktur und nicht, wie Günthner (1995), der Binnenstruktur zurechnen. Medial-technologische Anordnungen aber auch formatspezifische Interfaces und Regularien schaf‐ fen erst die Grundlagen der jeweils spezifisch vermittelten kommunikativen Handlungen. Wenngleich das Konzept der kommunikativen Gattungen sich ursprüng‐ lich nur auf face-to-face-Kommunikation bezog, lässt es sich - abgesehen von der noch etwas umstrittenen Frage nach der Verortung von Medium und Kommunikationsform - ohne größere Probleme auf mediale Umwelten und auch digital-vermittelte Kommunikation übertragen - gleich ob es sich da‐ bei um Telefonate, Chat-Kommunikation, SMS-Austausch oder WhatsApp- Sprachnachrichten handelt. Bis auf die genannten Beispiele liegen derzeit aber nur sehr wenige Gattungsanalysen von Online-Phänomenen vor. Dabei stellt schon Dürscheid (2005) fest, dass sich in Chaträumen aber auch in anderen digitalen Kommunikationsformen ganz unterschiedliche kommu‐ nikative Handlungs- und Interaktionsmuster ausbilden können. Bislang liegen aber nur vereinzelte Studien vor, die sich mit gattungsspezifischen Ausprägungen der Kommunikation in Newsgroups (Gausling 2005) oder Chats (Loos 2012), auf Facebook (Graffe 2013, Arens 2016), Instagram (Kuhlhüser 2017) oder Twitter (Klemm 2017) beschäftigen - und auch hier handelt es sich nicht bei allen Studien um Gattungsanalysen im engen Sinne. Ein ähnlicher Mangel an Studien ist in der Forschung zu visuellen Gattungen zu beklagen. Zwar ist der Bereich der audiovisuellen Kommunikation recht gut beforscht, doch beschränken sich die meisten Studien auf mediale Genres im Modus des Videos bzw. Bewegtbildes (für einen Überblick, vgl. Bauernschmidt 2016). Digital-vermittelte Bildkommunikation wurde bislang allgemein kaum beachtet und unter dem Aspekt der gattungsspezi‐ fischen Kommunikation gänzlich vernachlässigt. Im Folgenden sollen kommunikative Muster bzw. Gattungsstrukturen auf Instagram näher betrachtet werden. Die Analyse erhebt dabei nicht den Anspruch, erschöpfend zu sein. Es werden lediglich Bildbeiträge und An‐ schlusskommentare betrachtet werden. Profilbeschreibungen oder private Nachrichten sind nicht Teil der Analyse. Neben der ausschließlichen Fokus‐ 5.1 Gattungsanalyse 143 sierung auf Bildbeiträge und Kommentare wird die hier vorgenommene Gattungsanalyse sich auch nur auf Profile aus dem Bereich des Lifestyle- und Fashion-Blogging beziehen. Die Ergebnisse sind daher nur bedingt auf andere Bereiche, bspw. den Austausch auf Profilen politischer oder institutioneller Akteure zu übertragen. Lifestyle- und Fashion-Blogging ist eine Unterart der kommunikativen Form des Webloggens, die im Rahmen der Kommunikationsplattform Instagram sehr spezifische Formen annimmt und zum Aushängeschild der Plattform wurde. Zur besseren Einordnung wird vorab die Gattung des Weblogs kurz auseinandergesetzt. Nach Schmidt handelt es sich dabei „[…] um regelmäßig aktualisierte Webseiten, die bestimmte Inhalte (zumeist Texte beliebiger Länge, aber auch Bilder oder andere multimediale Inhalte) in umgekehrt chronologischer Reihenfolge darstellen. Die Beiträge sind einzeln über URLs adressierbar und bieten in der Regel die Möglichkeit, Kommentare zu hinterlassen. Dadurch sowie durch Verweise auf andere Weblogs, denen interes‐ sante Informationen entnommen wurden oder zu deren Autoren ein persönlicher Kontakt besteht, bilden sich Netzwerke von untereinander verbundenen Texten und Webseiten heraus; die Gesamtheit aller Weblogs wird auch als Blogosphäre" bezeichnet.“ (Schmidt 2006: 13). In der Regel werden Blogs auf speziell dafür vorgesehenen Plattformen erstellt, die bestimmte Formatvorlagen zur Verfügung stellen und so den Rahmen der Kommunikation abstecken (bspw. WordPress). Neben diesen eher formalen Definitionen kann inhaltlich mindestens zwischen Blogs als persönlichem Journal, ähnlich einem öffentlichen Tagebuch, und Blogs als Informationskanal, bspw. für Nachrichten oder Produktrezensionen, unterschieden werden (ebd.: 14). Weblogs lassen sich aber noch in weitere Subkategorien ausdifferenzieren (vgl. Augustin 2015: 83). So unterschei‐ den Ebersbach, Glaser & Heigl (2011: 64/ 65) Blogs nach Inhalt (News-Blog, Science-Blog, Hobby-Blog etc.), nach Medium (z. B. Text-, Foto- oder Videoblogs) oder Betreiber (staatlich, wirtschaftlich, privat etc.). Auf den ersten Blick liegt es nahe, Blogs als unilaterale one-to-many-Kommunika‐ tionsform zu klassifizieren. Bei näherer Betrachtung weisen sie jedoch dialogische Kommunikationsstrukturen auf (vgl. Heyd 2017: 163/ 164). Es handelt sich bei Blogs nicht um isolierte Einzelrealisierungen, sondern um Verflechtungseinheiten und Interaktionszentren. So konstatiert bspw. Schildhauer (2014: 204 Fn), „dass potenziell über Kommentarfunktion und 5 Gattungsstruktur auf Instagram 144 Trackbacks Konversationen entstehen können, die über mehrere Blogs verteilt sind“. Lifestyle-Blogging als eine von vielen spezifischen Ausprägungen in der Blogosphäre ist stark bildbasiert, ist also weniger um das geschrie‐ bene Wort herum zentriert und mehr um Fotografien und Videos. Life‐ style-Blogging umfasst eine recht große thematische Bandbreite, von Kleidung und Design über Wohn- und Lebensweise bis hin zu sportlichen Aktivitäten, Essensvorlieben und Reiseaktivitäten. Dabei zeichnet diese Form des Bloggings sich durch eine stark expressive Ausdrucksweise aus, bei der vermehrt die Präsentation und nicht die Explikation im Vor‐ dergrund steht. Dies wird insbesondere an Lifestyle-Blogs ersichtlich, die Reiseaktivitäten abbilden. Klassische Reiseblogs nehmen oft die Form von Reisereportagen an, haben biographische Züge und greifen auf längere Beschreibungen zurück, die allenfalls von Bildern illustriert werden. Life‐ style-Blogs beschränken sich auf die visuelle Präsentation und ergänzen die Bilder und Videos nur durch kurze Beschreibungen und Infos (vgl. Klemm 2016). Ziel jeder Gattungsanalyse sollte es sein, den untersuchten Gegenstand im kommunikativen Haushalt (Luckmann 1986) der Gesellschaft zu veror‐ ten, d. h. die kommunikative Funktion und Rolle zu bestimmen, die das kommunikative Phänomen als weitestgehend institutionalisierte Form der Gesprächsführung in einem größeren sozialen Kontext übernimmt. Konkret gilt es zu fragen, welche „Lösungen für kommunikative Probleme“ (Ayaß 2011: 287) eine kommunikative Gattung bereitstellt. Schildhauer (2014, vgl. auch ebd. 2016 & 2017) konnte in einer historischwie auch gegenwärtig-vergleichenden Analyse von Blogs zehn kommunikative Funktionen identifizieren, z. B. Neuigkeiten präsentieren, Meinung kund‐ tun, Erlebnisse und Gefühle schildern, Unterhaltung und emotionale Erleichterung. Er ordnet diese jeweils den Oberkategorien Information, (Meta-)Appell, Expression und Kognition zu. Nach Schildhauer sind diese Typen von Einträgen bzw. Kommunikaten „mitunter zahlreich in einem einzigen (Personal) Weblog vereint“ (ebd.: 333). Ihr relatives Auftreten muss empirisch bestimmt werden. Augustin (2015) wiederum widmet sich dezidiert der Gattung des Reiseblogs und beschreibt die Sichtbarma‐ chung, die Gestaltung und Pflege von Beziehungen sowie die schriftlichen Praktiken des Erinnerns, Reflektierens und Bewältigens als deren zen‐ trale Funktionen. Untersuchungen oder Befunde für die kommunikativen 5.1 Gattungsanalyse 145 2 Wiedemann (2010) untersucht Fashion-Blogs aber u. a. auf ihre subjektivierenden Wirkungen. Funktionen von Lifestyle-Blogs liegen bislang nicht vor 2 . Die vorliegende Analyse versteht sich als eine erste Unternehmung zur Bearbeitung dieses Desiderats. Es wird sich dabei zeigen, dass Lifestyle-Blogs auf Instagram nicht einfach nur eine einfache Variante generischer Lifestyle-Blogs sind, sondern die Plattform „eigene Gestaltungs- und Realisierungsmöglichkei‐ ten“ (Ayaß 2011: 289) offeriert, die sich Nutzende in spezifischen Kommu‐ nikationspraktiken aneignen. 5.1.2 Methodisches Vorgehen und Korpus Bislang existiert kein spezifisches ‚gattungsanalytisches Verfahren‘. Viel‐ mehr werden Gattungsanalysen auf Basis klassischer rekonstruktiver Ver‐ fahren durchgeführt, wobei besonders die ethnomethodologische Konversa‐ tionsanalyse im Vordergrund steht (vgl. Androutsopoulos & Schmidt 2001). Es geht darum, jene Regelmäßigkeiten und Ordnungsprinzipien zu unter‐ suchen, die von den Beteiligten kommunikativ und interaktiv hergestellt werden. Dabei können „Verfestigungen […] die sprachlichen Mittel, Sprech‐ stile, Interaktionsmodalitäten oder aber interaktive Ablaufstrukturen, the‐ matische Aspekte, Teilnehmerkonstellationen, soziale Beziehungsmuster etc. betreffen“ (Günthner 2000: 53). Ich werde im Folgenden daher keinen gezielten Fokus auf einen oder mehrere dieser Aspekte legen. Stattdessen werde ich ausgehend vom Ausgangsmaterial und entlang der Strukturebe‐ nen nach Knoblauch und Günthner (1994) jene Aspekte darstellen, die konstitutiv für den Kommunikationsraum Instagram sind. Für die Außenstruktur werde ich das kommunikative Milieu und die technische Struktur der Plattform beschreiben. Zur Beschreibung der Bin‐ nenstruktur werde ich separat auf den Aufbau der Bildbeiträge und der Kommentare eingehen, da sich aus diesen kommunikativen Akten der Großteil der Kommunikation auf Instagram zusammensetzt. Ich werde Bildbeiträge und Kommentare dabei anhand von drei herausstechenden Merkmalen besprechen, welche zusammengenommen den binnenstruktu‐ rellen, d. h. rhetorisch-zeichenhaften Charakter der Kommunikation im Life‐ style-und-Fashion-Bereich von Instagram prägen. Für die Zwischenstruktur werde ich wie von Günthner und Knoblauch (1994) vorgeschlagen die Dimensionen der rituellen und konversationellen Merkmale sowie die des 5 Gattungsstruktur auf Instagram 146 Beteiligungsformats untersuchen. Daran soll herausgestellt werden wie a) der Austausch auf Instagram interaktional-sequenziell organisiert ist und b) welche Sprecherpositionen und welche Akteurstatus dort eingenommen und verhandelt werden. Ich werde diese beiden klassischen Dimensionen zudem um die Dimension der Evaluationsstrukturen ergänzen. Ein Großteil des Austauschs basiert auf den Möglichkeiten der expliziten Bewertung, weswegen der Ablauf evaluativer Handlungen und Wertzuschreibungen gesondert betrachtet wird. Die Gattungsanalyse wurde anhand eines Korpus von 40 Profilen durch‐ geführt. Die Beschränkung auf die Anzahl von 40 Profilen hat dabei rein forschungspragmatische Gründe. Bei 30 der 40 Profile handelt es sich um Profile der Befragten aus den Interviews. Diese ergänzend wurden jeweils fünf weitere männliche und weibliche Profile aus dem Bereich des Lifestyle- und Fashion-Bloggings in den Korpus mit aufgenommen, die aufgrund ihrer hohen Followerzahlen als einschlägig gelten können. Die Profile dienten als prototypische Vergleichsfolie, mittels derer die Ergeb‐ nisse der restlichen Profile validiert wurden. Bei den restlichen 30 Profilen waren folgende Kriterien ausschlaggebend: Sie mussten mindestens 50 Follower haben und es mussten dort in den letzten 2 Monaten mindes‐ tens 10 Bildbeiträge verfasst worden sein. Dadurch sollte gewährleistet werden, dass die Profile durch Sichtbarkeit und Aktivität in genügendem Ausmaße in den ‚kommunikativen Kreislauf‘ der Plattform eingebunden sind. Aus dem Korpus ausgeschlossen wurden ebenfalls Profile, die zwar dem Lifestyle- und Fashion-Blogging zugeordnet werden konnten, aber allzu monothematisch fokussiert waren (bspw. auf Familie oder Sport), um eine entsprechende Verzerrung zu vermeiden. Der Korpus setzt sich also aus thematisch breit gefächerten bzw. unfokussierten Lifestyle- und Fashion-Blogs zusammen und bildet damit die eher ‚durchschnittlichen‘ Vertreter aus diesem Bereich ab. Die Abbildungen in den folgenden Kapiteln dienen lediglich der exem‐ plarischen Veranschaulichung. Für die Darstellungen wurden ausschließlich Bilder der öffentlich zugänglichen Profile aus dem Korpus ausgewählt. 5.1 Gattungsanalyse 147 5.2 Außenstruktur 5.2.1 Kommunikatives Milieu Zur sozialstrukturellen Zusammensetzung der Nutzenden von Instagram gibt es nur wenig genaue und verlässliche Daten. Bestehende statistische Erhebungen weisen übereinstimmend darauf hin, dass der Großteil der aktiv Nutzenden zwischen 14-29 Jahre alt ist, mit einem leicht erhöhten Frauen‐ anteil (vgl. Kap. 2.1.1). Es gibt aber weder Zahlen, die sich ausschließlich auf den Bereich des Lifestyle-Bloggings beziehen noch gibt es statistische Erhebungen zur milieuspezifischen Zusammensetzung der Plattform. Die Stichprobe dieser Untersuchung setzt sich wie erwähnt aus Profilen von Befragten und Nicht-Befragten zusammen. Für die Interviewteilnehmer und -teilnehmerinnen liegen soziodemographische Daten vor, nicht jedoch für den Rest. Da die übrigen untersuchten Profile und Beiträge aber die Personen selbst, ihren Alltag oder ihre Präferenzen abbilden, ist es zumindest möglich, indirekte Rückschlüsse auf Alter und Milieuzugehörigkeit zu ziehen. Mit einem derart indizienbasierten, heuristischen Verfahren können selbstverständlich weder repräsentative noch gesicherte Aussagen zu diesen Merkmalen gemacht werden, es lassen sich aber zumindest näherungsweise Tendenzen aufzeigen. Die Nutzenden des Interview-Samples sind zwischen 15 und 43 Jahre alt, bei einem Durchschnittsalter von 23,5 Jahren. Der Großteil der Befragten verfügt über einen mittleren bis hohen Bildungsabschluss. Viele davon haben sogar einen akademischen Hintergrund, d. h. sie studieren oder haben studiert. Über das Einkommen liegen nur vereinzelt Angaben vor, weswegen hierauf nicht systematisch eingegangen werden kann. Bezüglich der Geschlechterverteilung liegt ein Mischverhältnis von etwa 65 zu 35 vor, bei 54 weiblichen Nutzerinnen und 30 männlichen Nutzern. Repräsentative Erhebungen zu Instagram weltals auch deutschlandweit gehen sogar von einem erhöhten Männeranteil und einem fast paritätischen Geschlechterverhältnis aus (vgl. Kap. 2.1.1). Milieus setzen sich aber nicht nur aus demographischen Merkmalen und der sozialen Lage zusammen, sondern auch aus Lebensstilen und normativen wie praktischen Grundorientierungen. Hierzu konnten im Rahmen der qualitativen Interviews keine umfassenden systematischen Daten erhoben werden, die eine einwandfreie Zuordnung erlaubten. Auf Basis der Bildinhalte lässt sich aber tentativ eine Milieu-Situierung rekonstruieren. Eine explorative Bildinhalts‐ 5 Gattungsstruktur auf Instagram 148 analyse von 40 öffentlichen Profilen (20 davon von Frauen, 20 von Männern) ergibt folgende Differenzierung nach inhaltlichen Schwerpunkten (Tab. 3): W M Gesamt Reisen 9 0 9 Fashion 2 5 7 Sport 2 3 5 Alltag 0 4 4 Familie 3 0 3 Urban Lifestyle 1 2 3 Natur 0 3 3 Kunst 1 1 2 Selbst 2 0 2 Werbung 0 1 1 Fotografie 0 1 1 20 20 40 Tab. 3: Thematische Schwerpunkte der untersuchten Blogs, eig. Darst. Die Darstellung der eigenen Person steht, abgesehen von den Themen Werbung und Fotografie, kategorienübergreifend im Vordergrund, so dass hier weiter differenziert werden musste nach zusätzlichen Bildinhalten und Umgebungs- oder Handlungskontexten (unter die Kategorie Selbst fallen Selbstdarstellungen ohne markanten Kontext). Zieht man in Betracht, dass die Kategorien urban lifestyle und Natur starke Überschneidungen zur Kategorie Reisen aufweisen, lässt sich auch geschlechtsübergreifend konstatieren, dass Profile, deren do‐ minante Bildinhalte Reise-, Stadt- oder Naturmotive sind, überwiegen. Dicht darauf folgen die Kategorien Fashion und Sport. Auf Basis dieser Übersicht lassen sich zumindest einige Überlegungen und begründete Vermutungen hinsichtlich Lebensstil, Werthaltungen und Normen anstellen. Das kommunikative Milieu erweist sich auf den ersten Blick als relativ homogen und scheint sich aus ähnlichen sozialen Milieus zusammenzusetzen (anders als bspw. Schüler-Lehrer-Gespräche, die sich oft durch sehr heterogene 5.2 Außenstruktur 149 soziale Hintergründe der Teilnehmenden auszeichnen). Unter einem sozialen Milieu lässt sich nach Steuerwald (2016: 321) „soziologisch eine Gruppierung von Menschen verstehen, die eine ähnliche Mentalität und häufig auch ein gemeinsames sachliches Umfeld aufweisen wie Region, Stadtviertel oder das berufliche Umfeld. Daher stimmen ihre Werthaltungen, Lebensziele, Prinzipien der Lebensgestaltung und der Beziehung zu Mitmenschen weitgehend überein“. Die Analyse des Samples ergab, dass auf den Bildern eine Art der Lebensführung und -haltung inszeniert wird, die den Genuss in Form von Konsum in den Vordergrund stellt. Arbeit oder Hobbies finden inhaltlich, wenn überhaupt, nur in Form sportlicher Aktivitäten Eingang in die Bild‐ dokumentation. Die Beteiligten demonstrieren einen stilbewussten Hang zum Luxus ebenso wie Sportlichkeit und Körperdisziplin. Bilder, die stilisiert (gesunde) Nahrung und Fitnesseinheiten abbilden, zeugen dann eben nicht nur von einem spezifischen Geschmack, sondern auch von der Orientierung am ethischen Ideal maßhaltender und bewusster Lebensführung. Diese sind eher mit dem glamourösen Hedonismus der oberen Schichten zu vergleichen als mit dem exuberanten Hedonismus der unteren Schichten. Zugleich wird Weltoffenheit als Kosmopolitismus inszeniert, der weniger kulturelle Kon‐ texte als die Internationalität des eigenen Lebensentwurfs betont. Reisen, Kleidung und Sport muss man sich zudem leisten können, geldlich wie zeitlich - finanzieller Wohlstand und zeitliche Autonomie werden jedoch nicht demonstrativ zur Schau gestellt, sondern in der Bildsprache beiläufig, routiniert und wie selbstverständlich in Szene gesetzt. Milieus werden, wenngleich mit einigen Unterschieden, in der Sozial‐ strukturforschung zumeist auf einer zweidimensionalen Skala entlang einer X-Achse eingeteilt, welche sozialstrukturelle Faktoren abbildet, sowie einer Y-Achse, die Grundorientierungen abbilden soll. Folgt man den heuristi‐ schen Ergebnissen der Inhaltsanalyse, lassen sich die untersuchten Abbil‐ dungen im oberen Spektrum der (sich über Bildungsgrad, berufliche Stellung und finanzielles Kapital bestimmbaren) sozialen Lage verorten sowie in den eher individualistischen und spätmodernen Quadranten hinsichtlich der Faktoren Einstellung, Interessen und Wertorientierungen. Folgt man den Sinus-Milieus, entsprechen die Bildinszenierungen am ehesten dem Geschmack und den Interessen des expeditiven sowie des adaptiv-prag‐ matischen Milieus. Das expeditive Milieu ist sozialdemographisch durch einen geringen Altersdurchschnitt gekennzeichnet (zwei Drittel unter 30 Jahren), eine hohe Formalbildung (höchster Anteil an Abiturienten) sowie durch ein überdurchschnittliches Haushaltseinkommen, das sich aus „gut 5 Gattungsstruktur auf Instagram 150 situierten Elternhäusern“ und / oder einem mittleren bis gehobenen Eigen‐ einkommen zusammensetzt (Tippelt 2013: 78). Auch die Beschreibung der dem Milieu Zugeordneten als „mental und geografisch mobil“ (Steuerwald 2016: 323) weist Übereinstimmungen mit den Selbstdarstellungen im Sam‐ ple dieser Studie auf. Überschneidungen mit dem adaptiv-pragmatischen Milieu zeigen sich gleichfalls im Hinblick auf Alter, Bildung und Einkom‐ men, aber auch bezüglich einiger lebensweltlicher Grundorientierungen: Adaptiv-Pragmatische werden als „hedonistisch und konventionell [und] flexibel“ (ebd.) beschrieben. Charakteristische Inszenierungsfiguren finden sich im Sample bspw. in der Fashion-Mum oder dem Natur-Reisenden. Zieht man Schulzes (1995) Milieu-Modell heran, zeigt sich ein ganz ähnliches Bild: Die Typisierungen in den Bildern weisen Ähnlichkeiten mit dem Selbstverwirklichungsmilieu auf. Schulze verweist darauf, „dass sich das Selbstverwirklichungsmilieu an den Ansprüchen des Niveaumilieus“ (ebd.: 320) ausrichtet, welches die oberste Statusgruppe bildet. Ein Teil des Samples ist sichtbar an einer Ästhetik des Alltags orientiert, die den ‚Oberen 1%‘ nachempfunden wird. Sie können deren Lifestyle aber nicht übernehmen, sondern ihm sich nur annähern - angesichts des zumeist jungen Alters verfügen sie oft auch gar nicht über das entsprechende finanzielle Kapital. Man setzt sich aber auch ganz bewusst nach oben ab, indem man nicht „gediegen“, sondern modern und individuell sein will und „eine Präferenz für Stileigenschaften wie ‚ausgefallen‘, ‚frech‘, ‚originell‘, ‚cool‘, ‚selbstgemacht‘, ‚antispießig‘, ‚provozierend‘“ bekundet (ebd.: 318). Das Selbstverwirklichungsmilieu liegt im „Schnittbereich von Hochkulturschema und Spannungsschema“ (ebd.: 316), weist also bei aller Orientierung an den hohen Statusgruppen eine sehr aktive, unterhaltungs- und action-orientierte Lebensführung auf. Dieses Milieu will weder spießig noch stillos sein, sucht Aufregung und Neues, ohne dabei banal oder plump zu wirken. Schulze attestiert diesem Milieu zudem eine verstärkte Ich-Bezo‐ genheit, die sich Sample in der Allgegenwart der Selbstdarstellungen zeigt. Fassen wir diese tentativen Befunde zusammen, so lässt sich folgendes Bild skizzieren: Das kommunikative Milieu der Lifestyle-Bloggenden setzt sich zusammen aus den Angehörigen einer jungen Altersgruppe, die von Adoleszenten bis jungen Erwachsenen reicht, und über ein gehobenes Bil‐ dungsniveau sowie gehobenes finanzielles Kapital verfügt. Die Angehörigen dieses Milieus weisen eine tendenziell starke innen-bzw. egozentrierte Welt‐ sicht auf. Sie sind orientiert am Konsum von Luxusgütern und kultivieren individuelles Stilbewusstsein, streben aber zugleich nach Aktivität und 5.2 Außenstruktur 151 3 Eine Analyse des Mediums wurde aus forschungspragmatischen Gründen ausgespart. Verausgabung, suchen Herausforderungen und sind experimentierfreudig - aber immer nur in einem konventionellen Rahmen. 5.2.2 Kommunikations(platt-)form Neben dem kommunikativen Milieu kann wie erwähnt auch die jeweilige Kommunikationsplattform der Außenstruktur zugeordnet werden, da sie den technischen Rahmen der Kommunikation absteckt. 3 Die Strukturen von Kommunikations(platt-)formen sind anhand textexterner Merkmale zu be‐ stimmen (vgl. Kap. 4.2). Tabelle 4 liefert eine erste Übersicht. Dabei wurden Merkmalskategorien von Siever (2011) und Dürscheid (2005) übernommen und um eigene ergänzt. Kommunikationsmedium PC / Smartphone / ähnl. Endgeräte Zeitliche Dimension Leicht asynchron Vernetzungsrichtung Asymmetrisch Partizipationskultur Prosumenten-Struktur Kommunikationsrichtung one-to-many (Beitrag); many-to-many (Kommentare) Räumliche Dimension Distanz Sinneskanal Visuell / auditiv Vernetzungsreichweite öffentlich / (teil-)öffentlich / privat Zeichentyp Bild / Video (Beitrag); Schrift / ikoni‐ sche Zeichen (Kommentare) Antwort-/ Feedbackstruktur Likes / Kommentare / Teilen / Links Layout Überwiegend standardisiert Identifikation Pseudonym / Klarname Anzeige-Modus Gegenchronologisch (Feed), chronolo‐ gisch (Kommentare) Mobilität Mobil Tab. 4: Merkmalsausprägungen der Kommunikationsplattform Instagram, eig. Darst. 5 Gattungsstruktur auf Instagram 152 Das der Kommunikationsplattform zugrundeliegende Medium ist der Com‐ puter in Form eines Desktop-PCs, eines Laptops, eines Smartphones oder eines ähnlichen Endgeräts (z. B. das Tablet). Das Medium legt in diesem Fall auch die räumliche Dimension fest - es ist für die Distanzkommunikation mit körperlich nicht anwesenden Personen konzipiert. Die Kommunikati‐ onsplattform Instagram ist gleichermaßen auf Distanzkommunikation aus‐ gelegt und zudem auf die Erschließung eines möglichst breiten Publikums. Die (potentielle) Reichweite der Kommunikate hängt aber von der Wahl der Nutzenden selbst ab - die Sichtbarkeit des Profils und der eigenen Beiträge kann auf öffentlich und (teil-)öffentlich eingestellt werden. Dominant und charakteristisch für Instagram ist allerdings die öffentliche Kommunikation. Zeitlich betrachtet erlaubt Instagram beinah synchrone Kommunikation. Anders als bspw. bei der Chatkommunikation werden neue Beiträge oder Kommentare aber nicht (quasi-)synchron (vgl. Dürscheid 2005) angezeigt, sondern erst beim Wechseln oder Neuladen einer Seite sichtbar. Bezüglich des Zeichentyps sind die Profil- und Feedinhalte auf Bild-bzw. Videobei‐ träge beschränkt. Zwar können und werden auch Inhalte eingestellt, die textbasiert sind (z. B. Motivationssprüche), allerdings müssen diese vorab in ein entsprechendes Bildformat konvertiert werden und weisen i. d. R. zusätzliche visuell-ästhetische Qualitäten abseits des reinen Textes auf. Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal bezieht sich auf das Arrangement der Profilinhalte. Die Nutzenden können hierüber nicht selbst verfügen (wie bspw. noch auf MySpace), sondern müssen sich einem Layout ‚beugen‘. Die Plattform Instagram gibt sich hierbei vergleichsweise minimalistisch. Der Kopf der Profilseite besteht aus einem kreisrund gerahmten Profilbild, dem Profilnamen, der Beitragsanzahl, der Anzahl der Abonnements, der Anzahl der Follower sowie einem Freifeld für kurze Selbstbeschreibungen (sowie neuerdings einer Listung der Stories). Das Fehlen weiterer Profilei‐ genschaften verweist auf die suggerierte Bedeutung und hohe Relevanz von Followerzahl und Abonnements, aber eben auch auf die der eigenen (Profil-)Persona: Profilbild- und Name nehmen den größten Raum im Pro‐ filkopf ein. Die Hauptseite des Profils wiederum besteht ausschließlich aus thumbnails (kleinen Vorschaubildern) der hochgeladenen Bilder. Diese werden in horizontalen Dreierreihen neben- und untereinander aufgeführt, jeweils in der Form gleichgroßer Vierecke. Alle Bilder werden in der Profilansicht automatisch in dieses Format überführt, was den einzelnen Profilen aber auch den Profilen untereinander eine einheitliche Ästhetik verleiht. 5.2 Außenstruktur 153 Während als Profilbeitrag nur Bilder zulässig sind, sind Kommentare wiederum nur im Rückgriff auf Schriftzeichen oder ikonische Zeichen wie Emojis und Piktogramme möglich. Den Beitragserstellenden steht in ihrer Bildunterschrift zusätzlich die Möglichkeit der Verschlagwortung durch Hashtags zur Verfügung, während Kommentierende Hashtags lediglich als Verweis oder Stilmittel einsetzen können. Der primäre Zeichenmodus ist das Bild. Zwar sind auch audiovisuelle Beiträge möglich, diese sind jedoch seltener. Videos müssen zudem angeklickt und gestartet werden, während Bilder auf den ersten Blick bzw. Klick einsehbar sind. Bild-oder Video-Beiträge im Feed werden blogtypisch gegen-chronologisch, also von neu nach alt, angezeigt. Kommentare hingegen werden chronologisch, d. h. von alt nach neu angezeigt. Grundsätzlich sind die Inhalte aller öffentlichen Profile, bis auf die Stories, auch für nicht registrierte Nutzende einsehbar. Wer jedoch aktiv partizipieren möchte, muss sich bei Instagram einen Account anlegen. Hierzu kann der Klarname oder ein Pseudonym verwendet werden - eine komplett anonyme Teilnahme ist nicht möglich. Das Merkmal Partizipationsstruktur verweist auf die Möglichkeiten der Teilnahme am Kommunikationsgeschehen. Im Falle von Instagram sind diese Möglichkeiten für alle angemeldeten Nutzenden in gleichem Maße und Umfang gegeben: wer sich registriert hat, kann eigene Beiträge einstellen, von anderen Nutzenden gefolgt werden, von ihnen abonniert, kommentiert und geliked werden oder dies umgekehrt selbst tun. Insofern lässt sich von einer Prosumenten-Struktur sprechen, bei der alle Partizipanden sowohl produzieren können, also Inhalte beisteuern, wie auch konsumieren, also Inhalte rezipieren. Die Vernetzungsrichtung ist, anders als etwa auf Facebook, asymmetrisch, d. h. Profile werden nicht wechselseitig vernetzt. Während auf Facebook jede angenommene Freundschaftsanfrage automatisch dazu führt, dass die Profile wechselseitig verknüpft werden, besteht auf Instagram auch die Möglichkeit des einseitigen Folgens. Bei teil-öffentlichen Profilen ist eine vorherige Anfrage und Genehmigung nötig. Öffentliche Profile können hingegen beliebig abonniert werden - dies erfordert aber eben auch immer eine aktive Handlung. Die rein reaktive Vernetzung mit anderen Profilen, durch Aufforderung oder Einladung, ist nicht möglich. Während es damit, wie allgemein für Blogs, auf den ersten Blick plausibel erscheint, Instagram als one-to-many-Kommunikationsform zu klassifizie‐ ren, zeigt sich bei genauerer Betrachtung ein anderes Bild: Die einzelnen Profile sind durch die Prosumenten-Struktur stark miteinander verflochten 5 Gattungsstruktur auf Instagram 154 und der Austausch im Kommentarbereich spielt eine wichtige Rolle. Hier zeigen sich deutliche many-to-many-Strukturen in der Kommunikation auf Instagram. Wie wichtig der Kommentarbereich ist, zeigt sich bereits im Lay‐ out - der Kommentarbereich nimmt neben dem Bild beinahe den gleichen Raum ein, so dass im Grunde bereits von einer zusammengehörigen Sehflä‐ che gesprochen werden muss. Die Bedeutung der interaktiven Elemente zeigt sich darüber hinaus an der Vielzahl der unterschiedlichen Antwort- und Feedbackmöglichkeiten: neben den öffentlichen Kommentaren können auch private Nachrichten geschrieben werden. In den Kommentaren kann zudem auf andere Profile oder inhaltlich per Hashtag verlinkt werden. Weiterhin besteht die Möglichkeit des Likens und des Teilens von Beiträgen. Die Anzahl der Likes und der Kommentare wird von der Plattform öffentlich angezeigt und in der Browser-Version sogar betont: hier werden die Zahlen schon angezeigt, wenn man mit dem Cursor über die thumbnails fährt. Ein letzter, für die Außenstruktur wichtiger Punkt, der starken Einfluss auf die kommunikativen Rahmenbedingungen nimmt, ist die Mobilität. Die App-Variante der Plattform erlaubt es nicht nur, sondern ist sogar darauf ausgerichtet, unterwegs Bilder oder Videos aufzunehmen, zu bearbeiten und dann mehr oder weniger in Echtzeit hochzuladen. Damit ist schnelle Kommunikation vor Ort und „on-the-go“ möglich (eine Internetverbindung vorausgesetzt). 5.3 Binnenstruktur Nach der Außenstruktur soll nun die Binnenstruktur näher betrachtet werden, sprich die Ebene der Ausdrucks-, Zeichen- und Themenwahl sowie deren rhetorisches und visuelles Arrangement. Hierzu werde ich in einem ersten Schritt die Muster in der Bildbeitragsgestaltung betrachten und im zweiten Schritt die der Kommentargestaltung. Bildbeitrag und Kommentare sind sowohl formal als auch inhaltlich miteinander verschränkt. Gemeinsam bilden sie das eigentliche Kommunikat. Der Ausgangsbeitrag ist jedoch immer dominant und vor allem unabhängig von den Kommentaren. Die genauen Bezüge und Sequenzierungen der einzelnen kommunikativen Akte werden im nächsten Kapitel betrachtet. 5.3 Binnenstruktur 155 5.3.1 Bildbeitrag 5.3.1.1 Einheitlichkeit Bezogen auf die Gestaltung der Bildbeiträge fällt als erstes die Einheitlichkeit der Bildbeiträge auf, wie in Abb. 7-10 zu sehen: Abb. 7: Profilansicht 1, Instagram: öffentl. Privatprofil. 5 Gattungsstruktur auf Instagram 156 Abb. 8: Profilansicht 2, Instagram: öffentl. Privatprofil. Abb. 9: Profilansicht 3, Instagram: öffentl. Privatprofil. 5.3 Binnenstruktur 157 Abb. 10: Profilansicht 4, Instagram: öffentl. Privatprofil. Anhand der exemplarischen Gegenüberstellung der vier Profile lässt sich anschaulich die distinktive Stilpraxis der Nutzenden aufzeigen. Jedes Profil zeichnet sich durch Bildbeiträge aus, die ‚Familienähnlichkeiten‘ aufweisen. Wittgenstein (1984: 278) sah darin ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkei‐ ten, die einander übergreifen und kreuzen“: „Statt etwas anzugeben, was allem […] gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden,sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt“ (ebd.: 277). Diese Verwandtschaft kann sich u. a. in der Kombination von immer wieder verwendeten Perspektiven, Farbtönen oder Inhalten zeigen, wobei nicht je‐ der einzelne Bildbeitrag alle diese Merkmale aufweisen muss und auch nicht jeder Beitrag überhaupt eines davon. Durch diese Form flexibler ästhetischer Geschlossenheit lassen sich spezifische Gestalten bzw. visuelle Identitäten herstellen, die einerseits dem individuellen Wiedererkennungswert dienen 5 Gattungsstruktur auf Instagram 158 und andererseits Spielräume für Kreativität und Neues offenlassen. Beides spielt insbesondere im Rahmen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit eine große Rolle, auf die in den folgenden Kapiteln noch genauer eingegangen wird. Im ersten Beispiel (Abb. 7) sind es inhaltlich vor allem das Meer und der Sandstrand als wiederkehrende Motive und formal die Blautöne, welche das Profil bildübergreifend auszeichnen und einen ‚roten (Wahrnehmungs-)Fa‐ den‘ spannen. Auch die anderen Profile verfügen über diesen roten Faden: Profil zwei (Abb. 8) bedient u. a. musterhaft eine Schwarz-Weiß-Ästhetik und eine Bildrhetorik der Blickverweigerung. Profil drei und vier (Abb. 9 & 10) wiederum setzen auf Selfies kombiniert mit totalen/ halbnah-ame‐ rikanischen Einstellungen. Profil drei ist dabei geprägt von Pink- und Weiß-Tönen, während Profil vier auf ein dezenteres Farbschema setzt. Zwischen die Selbstaufnahmen eingestreute, ästhetisierte Bilder von Tie‐ ren oder natürlichen Dingen (hier z. B. Palmen oder Sonnenuntergänge), von materiellen Statussymbolen (iPhone, Uhr) oder von Kunstobjekten (Lippenstift) wirken dabei nicht deplatziert, sondern reihen sich als kurze inhaltliche oder formale Brechungen bzw. ‚Farbtupfer‘ in das ästhetische Ganze ein - sie fallen niemals ganz aus dem Rahmen. Dies ist einem bereits angesprochenen außenstrukturellen Merkmal zu verdanken: alle Bildbeiträge werden in einem einheitlichen Format (in Dreierreihen von kleinen Vierecken) dargestellt. So eignet selbst unterschiedlichsten Bildern eine minimale Einheitlichkeit, die von der Plattform vorgegeben ist. Wie erwähnt kann sich die Einheitlichkeit sowohl auf stilistische Merk‐ male beziehen als auch auf bestimmte Inhalte, d. h. Motive oder Themen, die wiederholt oder variiert werden. Dies gilt sowohl für die Profile der einzelnen Nutzenden als auch für die Gruppe der Lifestyle-Bloggenden insgesamt. Lifestyle-Blogging konzentriert sich thematisch nur auf wenige, ganz bestimmte Lebensbereiche: Stadtleben/ Wohnen, Fitness, Reisen, Mode und Ernährung. Motivisch eint alle eine starke Ich- und Körperzentriertheit. Lifestyle-Bloggende, die sich thematisch an Mode und Fitness orientieren, zeigen so etwa nicht nur Bilder der neuesten XY-Kollektion oder Trainings‐ matten, sondern kombinieren diese Themen mit ihrem Ich: sie zeigen das fitte Ich vor, während oder nach dem Trainieren auf den Trainingsmatten oder das modische Ich beim Tragen der neuesten XY-Kollektion. Beim Lifestyle-Blogging auf Instagram handelt es sich also um eine thematisch fokussierte Bildpraxis der Selbstinszenierung. 5.3 Binnenstruktur 159 5.3.1.2 Hochglanz-Optik Ein zweites binnenstrukturelles Muster, welches die Bildbeiträge kennzeich‐ net, ist ihre Hochglanzoptik. Damit sind drei Merkmale gemeint, die sich sowohl auf die Bildqualität des Beitrags als auch auf bestimmte Praktiken der Veränderung und Modifikation beziehen. Als erstes fallen hierbei die Schärfe und hohe Auflösung der Bilder ins Auge: verwackelte, grobkörnige oder unscharfe Aufnahmen finden sich nur ganz selten und wenn, dann als bewusst eingesetztes stilistisches Mittel (vgl. Abb. 11 & 13). Die Nutzenden setzen überwiegend auf eine feingranulare, akkurate und ‚geschniegelte‘ Optik. Analog dazu dominieren helle Farbtöne oder fein ausbalancierte Hell-/ Dunkel-Kontraste in den Schwarz-Weiß-Bildern. Übergreifend lässt sich eine Tendenz zu harmonischen Bildqualitäten feststellen. Die Nutzenden vermeiden Dissonanzen und bevorzugen glatte Kanten, helle Farben, klare Sichtbarkeit und Unterscheidbarkeit der Bildelemente (vgl. Abb. 12 & 14) ge‐ genüber disruptiven Elementen wie Über- oder Unterbelichtung, zu dunkle, schattige oder asymmetrische Strukturen oder uneindeutige Bildübergänge. Abb. 11: Galeriebild 1, Vollansicht, Instagram: öffentl. Privatprofil. 5 Gattungsstruktur auf Instagram 160 Abb. 12: Galeriebild 2, Vollansicht, Instagram: öffentl. Privatprofil. Abb. 13: Galeriebild 3, Vollansicht, Instagram: öffentl. Privatprofil. 5.3 Binnenstruktur 161 Abb. 14: Galeriebild 4, Vollansicht, Instagram: öffentl. Privatprofil. Weiterhin setzen die Nutzenden stark auf die visuelle Akzentuierung, d. h. auf die bewusste Hervorhebung bestimmter Aspekte und Elemente im Bild durch Farbgebung, Kontrastierung und Lichteffektregulation. Bedeutsamkeit und Relevanz werden so nicht nur durch die Positionierung im Bild, sondern auch durch farbliche und lichttechnische Ausgestaltung und Relationierung der Elemente erzeugt (vgl. Abb. 11 & 12). Hierin äußert sich nicht nur ein gesteigerter ästhetischer, sondern auch professioneller Anspruch. Die Nutzenden streben Grade der fotografischen Perfektion an, die dem Authen‐ tizismus von Laiendarstellungen diametral gegenüberstehen: Im Verzicht auf jegliche Dissonanz soll die Aufmerksamkeit der Betrachtenden von der Kamera als Erzeugungsprinzip der fotografischen Realität abgelenkt und stattdessen der Illusion des direkten, unbeschränkten und ungetrübten Blicks überlassen werden. Das dritte charakteristische Element steht in direkter Verbindung hiermit: die automatisierte Bildbearbeitung und Filterung. Was die Kameratechnik (oder man selbst im Umgang damit) nicht leisten kann, wird per Software nachträglich eingeholt. Was nicht passt, wird auf den gewünschten Look 5 Gattungsstruktur auf Instagram 162 4 Zum Vergleich: Die ebenfalls beliebten Filter der Snapchat-App verfahren genau umgekehrt. Sie verfremden das Ursprungsbild ostentativ und in humoristischer Weise, indem sie Augen überdimensional vergrößern, Hunde- oder Katzenohren hinzufügen oder die Haut glänzen lassen. getrimmt. Mithilfe von sogenannten Filtern wird nicht nur eine Verbesse‐ rung, sondern auch eine Re-Ästhetisierung und -Semiotisierung der Bilder angestrebt. Das Bild soll also durch gestalterische Mittel eine neue Anmu‐ tung und Bedeutung erhalten. Dabei wird mit Filtern auf vorprogrammierte Schablonen zurückgegriffen, die das Ursprungsbild auf eine Weise künstlich verfremden, die nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Teils werden dem Bild nur neue Noten verliehen und (bspw. farbliche) Akzente hinzugefügt. Die eingesetzten Funktionen stilisieren das Ursprungsbild zwar, sind aber nicht selten an reale Effekte angelehnt: so ahmen Sepia- oder Schwarz-Weiß-Filter bspw. die Ästhetik alter Kameratechnologien nach und Filter, die Hautunreinheiten wegretuschieren, sind orientiert am Idealbild makelloser Haut (vgl. Abb. 12). 4 Die Bildpraktiken und -produkte auf Instagram setzen damit das um, was Baudrillard (2012: 48/ 49) als „Hyperrealismus“, technischen „Perfektions‐ rausch“ und „Exzess der Mittel“ bezeichnete. Diese Irrealität gehöre „nicht mehr zur Ordnung des Imaginären, sondern zur Ordnung eines Mehr an Referenz, eines Mehr an Wahrheit“ (ebd.: 47). Im Verweis auf vermeintliche Wahrheit oder Realität wird so eine ästhetisierte oder künstliche Authenti‐ zität hergestellt, die in der Verfremdung gerade nicht mit der Natürlichkeit oder Wirklichkeit brechen will, sondern sie auf paradoxe Weise steigern möchte. 5.3.1.3 Statik, Pose und Appell Die Hyperästhetisierung (bzw. -realisierung) sorgt aber noch für einen weiteren paradoxen Effekt: Da in der Scharfstellung und Akzentuierung die Realität punktgenau ‚festgehalten‘ wird, wird zugleich jegliche Dy‐ namik und alles Fließende im Bild negiert. Dadurch wirken die Bilder selbst dort, wo augenscheinlich eine Bewegung dem Motiv zugrunde liegt (bspw. beim Lachen oder Springen) eigentümlich statisch (vgl. Abb. 13). Auch wird die Pose bzw. das Posieren als Inszenierungsmittel verhältnis‐ mäßig oft eingesetzt. Die Bilder sind dadurch bereits statisch angelegt. Die Nutzenden nehmen also eine an der Kamera ausgerichtete ruhende Körperhaltung ein und gehen in den Modus des ‚Stillstands‘ (vgl. Abb. 12 & 5.3 Binnenstruktur 163 14). Betrachtet man Einheitlichkeit, Hochglanz-Optik und Posierstatik als stilistische Einheit, so zeigt sich darin eine Bildrhetorik, die insbesondere Harmonie und Gleichklang betont. Diese Rhetorik hat Einfluss auf die Be‐ deutung: Die Bildsprache suggeriert, dass die Abgebildeten angekommen sind, fest im Leben stehen, ausbalanciert und im Einklang mit sich und der Welt leben. Kein Streben und kein Drängen ist auf diesen Bildern zu erkennen. Die Akteure sind zufrieden, gelockert, es existieren weder Mühe noch Angespanntheit darin, nur der leichtfüßige, mal kontemplative, mal ostentative Genuss. Im Posieren liegt aber auch ein Appellcharakter verborgen: Die Nutzen‐ den stellen sich im wahrsten Sinne des Wortes zur Schau und bieten sich dem Blick des Publikums feil. Diese Publikumsorientierung kann auch als Aufruf zur ‚Beschäftigung mit dem Selbst‘ (vgl. Schroer 2006) verstanden werden, gerade dort, wo der Blick ein wechselseitiger ist, wo also auch die Augen der Abgebildeten auf die Kamera und die Betrachtenden gerichtet sind. Sie fragen aber nicht nur nach einer Selbst-Verortung - wer bin ich (hip oder Hipster, glamourös oder prätentiös etc.) -, sondern damit einhergehend auch nach einer Bewertung - wie findet ihr mich und das Leben, das ich führe? Die Pose fordert ein, was für viele Instagram-Nutzende das treibende Motiv ihres Bildhandelns ist: Likes und Kommentare. Während Likes zwar das dominante, aber dennoch nur quantitative Richtmaß sind und sich als sinnhaft schwer zu verorten erweisen, stellen Kommentare für einige Nutzende die aussagekräftigeren Rückmeldungen dar (vgl. Kap. 5 & 6). Kommentare weisen wie die Bilder gewisse Muster auf, die im Folgenden näher betrachtet werden. 5.3.2 Kommentare 5.3.2.1 Syntax & Pragmatik Vagheit und Kitschkommunikation: Sehen wir uns zunächst die Bild‐ beschreibungen an. Diese fallen in der Regel sehr vage aus. Sie enthalten meist nur kurze redundante oder komplementäre Informationen zum Bild, die in reiner Textform oder über Hashtag-Verschlagwortungen vermittelt werden. Redundanz liegt bspw. vor, wenn in einem anderen Zeichenmodus das wiederholt wird, was bereits direkt sichtbar ist (ein Bild, auf dem die Sonne zu sehen ist, wird bspw. mit „sunshine“ getaggt). Komplementarität liegt vor, wenn Text oder Hashtag die visuellen Informationen erweitern 5 Gattungsstruktur auf Instagram 164 (z. B. „Am Gardasee“, wenn eine Seen- und Naturlandschaft zu sehen ist). Insbesondere Hashtags werden aber auch genutzt, um Informationen zu vermitteln, die für das Verständnis des Bilds nur sekundär oder gar nicht relevant sind und die v. a. der Rahmung und Verschlagwortung des überge‐ ordneten Profils dienen, z. B. „#germanblogger“. Abb. 15: Vage Bildbeschreibung Bsp. 1, Instagram: öffentl. Privatprofil. Im obigen Beispiel (Abb. 15) rahmt die Nutzerin das Bild etwa mit einem kurzen Text und einer Reihe von Hashtags. Die Beschreibung des Orts im Text als „happy place“ verknüpft das Bild mit einem Gefühl. Über die Zuordnung eines subjektiven Eindrucks hinaus wird der Bildinhalt aber nicht weiter konkretisiert - es bleibt offen, wo die Nutzerin genau ist und was sie dort macht. Darüber informieren uns die folgenden Hashtags sowie die Ortsinformation unter dem Nutzernamen. Wir erfahren, dass die Nutzerin auf dem Chapman’s Peak ist, der, so die Hashtags, bei Kapstadt in Südafrika liegt. Die Hashtags #travel und #vacation lassen uns wissen, dass die Nutzerin sich nicht auf einer Geschäftsreise oder auf Familienbesuch befindet, sondern im Urlaub ist. Anhand dieser In‐ formationen kann das Bild von den Rezipierenden nun zumindest grob eingeordnet werden. Die Nutzerin ergänzt die sachlichen Informationen 5.3 Binnenstruktur 165 zu Ort und Reisegrund zusätzlich um emotionale Rahmungen, welche den Eingangstext teils ergänzen, teils wiederholen. #happy, #happygirl und #favoriteplace sind Paraphrasierungen, die der Proposition „This is my happy place“ nur unwesentlich neue Facetten hinzufügen. Der Hashtag #summervibes beschreibt die Atmosphäre des Orts und differenziert das damit verbundene Glücksgefühl weiter aus, während #dontwanttoleave und #twodaysleft Wehmut zum Ausdruck bringen. Der Hashtag #smile wiederum ist zweideutig. Auf den ersten Blick ist er redundant und gibt nur wieder, was sowieso auf dem Bild zu sehen ist - die Nutzerin lächelt. Der bewusste Fokus auf die mimische Expression betont das damit verbundene Gefühl des Glücklichseins. Der Hashtag kann aber auch als Appell an die Follower gelesen werden, es ihr gleichzutun oder als Angebot, sich mit ihr zu freuen. Ob der Hashtag eine Selbstreferenz oder Publikumsaufruf ist, bleibt uneindeutig. Typisch für Bildbeschreibungen sind also kurze Einordnungshilfen, z. B. Hinweise auf Ort, Tätigkeit oder andere abgebildete Personen sowie Expressiva, die Auskunft über die Einstellung und die Gefühle im Bild (oder den Bildinhalten gegenüber) geben. Die Rahmungen beschränken sich auf Sachinformationen einerseits und subjektive Rahmungen ande‐ rerseits, wobei erstere allgemein und letztere vage bleiben. So wird z. B. auf andere Personen im Bild in der Regel nur mit allgemeinen Bezeichnungen verwiesen (‚Unterwegs mit den Jungs‘, ‚Familienausflug‘ etc.). Die Nutzenden verfolgen damit eine kommunikative Strategie, die der in Kap. 3.3.5 beschriebenen unbestimmten Kommunikation ähnelt. Eine Extremform hiervon ist der ‚spielerische Emoji‘ (vgl. Pappert 2018). Hierbei besteht die Bildunterschrift nur aus einem Piktogramm, das keine eindeutige Verbindung zum Bildinhalt aufweist, wie in Abb. 16 der grüne Dinosaurier: 5 Gattungsstruktur auf Instagram 166 Abb. 16: Vage Bildbeschreibung Bsp. 2, Instagram: öffentl. Privatprofil. Dessen Sinn und Zweck scheint gerade seine Sinn- und Zwecklosigkeit zu sein, welche Betrachtende zur Beschäftigung mit dem Bild und der möglichen Bedeutung des Emojis anreizen. Gleichzeitig zeigt die Nutzerin damit eine neckisch-spielerische Haltung an. Weiterhin zeichnet sich diese kommunikative Strategie durch den Ver‐ zicht auf konkrete Adressaten aus. Solche ungerichteten Adressierungen sind typisch für Bildbeschreibungen auf Instagram, lässt sich so doch ein möglichst breites Publikum ansprechen. Eine sehr beliebte Variante sind stärker personalisierte Formen der Bildbeschreibung, die wiederum typisch für das klassische Bloggen sind, z.B.: persönliche Ansprachen der Lesenden, kurze Erlebnisberichte, Reflexionen und Ratschläge (vgl. Abb. 17). 5.3 Binnenstruktur 167 Abb. 17: Persönliche Ansprache, Instagram: öffentl. Privatprofil. Da das Format der Bildbeschreibungen auf kurze Einträge ausgerichtet ist, sind insbesondere Motivationssprüche recht weit verbreitet. Motivati‐ onssprüche sind eine Spielart des Kitschs. Sie sind oft nicht länger als ein Satz und beinhalten Anrufungen an die eigene Willensstärke oder Authentizität, bspw.: „Du hast drei Möglichkeiten: Aufgeben, nachgeben oder alles geben“. Wir haben es hier mit einer Art der Mittelklasseästhetik (Elias 2004) und der „emotionalisierenden Gestaltung“ (Zimmermann, nach Schweppenhäuser 2009: 61) zu tun, die das „kategorische Einverständnis mit dem Sein“ (Kundera 1984: 237) zum Ausdruck bringt. 5 Gattungsstruktur auf Instagram 168 Abb. 18: Motivationsansprache, Instagram: öffentl. Privatprofil. Motivationssprüche suggerieren genau jenes Einverständnis: dass die Welt im Kern gut, jeder Mensch wertvoll und das Schicksal gnädig ist. In ihnen drückt sich eine Auslegung der Welt aus, die alles Schlechte oder Ambivalente negiert und jedes Problem zur Seite der Weltbejahung hin auflöst. Insofern eignet dem Motivationsspruch ein emotionalisierender Appell. Er zielt als Sprechakt auf die affektive Rührung der Betrachtenden, soll sie in ihrem Weltvertrauen stärken und Bindung zwischen den Spre‐ chenden und den Rezipierenden herstellen. Wenn die Nutzerin in Abb. 17 schreibt: „Manchmal muss man das falsche tun, aus einem guten Grund“, so legitimiert sie damit eigene Handlungen gleich welcher Art, ob zukünf‐ tig, gegenwärtig oder vergangen, und rahmt sie positiv. Die allgemeine Formulierung und der kategorische Duktus stellen zugleich ein Angebot an die Follower dar. Sie ermöglichen maximale Anschlussfähigkeit, dienen als Rahmen für eigene Erfahrungen und als legitimierte Interpretationsfolie. Personalisierte, aber zugleich ungerichtete Kommunikation wie diese ist typisch für Lifestyle-Blogs auf Instagram. Parataktischer Satzbau: Auf der Ebene der Syntax fällt zuerst die Kürze der Kommentare ins Auge. Beiträge, die länger als ein Satz sind oder über mehrere Absätze gehen, bilden die Ausnahme. Kommentare mit mehr als 5.3 Binnenstruktur 169 einem Satz sind meist parataktisch aufgebaut, d. h. sie bestehen aus einer Reihung vieler kurzer Hauptsätze (Abb. 19). Schachtelsätze, komplizierte Satzstrukturen und sonstige syntaktische Schnörkel finden sich äußerst selten. Abb. 19: Parataktischer Satzbau Bsp. 1, Instagram: öffentl. Privatprofil. Parataxen haben einen sprachökonomischen Vorteil: sie sind schneller zu prozessieren und suggerieren einfache Beziehungen zwischen den einzelnen Propositionen. Hypotaktische Satzkonstruktionen haben demgegenüber die Funktion, Sachverhalte stärker auszudifferenzieren. Der parataktische Aufbau teilt Aussagen hingegen auf und sorgt so für einen Rhythmus von Einzelakzentuierungen. Diese sind überschaubarer und eingängiger als die Akzentverflechtungen hypotaktischer Satzkonstruktionen. Dies lässt sich anschaulich am Beispiel eines Kommentars in Abb. 20 zeigen: „Da wäre ich jetzt auch gerne. : -) Schaut super aus“ heißt es dort. In einer Haupt- und Nebensatzkonstruktion würde ein Satz dem anderen untergeordnet werden. Der parataktische Aufbau aber erlaubt es, die Aussagen zu isolieren und einzeln zu fokussieren. Die Propositionen „Gerne da sein“ und „super 5 Gattungsstruktur auf Instagram 170 ausschauen“ werden separat betont und müssen nicht miteinander konkur‐ rieren. Im parataktischen Rahmen erfährt der Aussagegehalt eines Satzes daher eine stärkere Setzung und kommunikative Kraft. Abb. 20: Parataktischer Satzbau Bsp. 2, Instagram: öffentl. Privatprofil. Phrasenhaftigkeit: Weiterhin sticht die Phrasenhaftigkeit vieler Kommen‐ tare ins Auge: „Just hanging“, „Keep working hard“, „… weiter so“ (alle Abb. 20), „Have a good day“, „My man“ (beide Abb. 21). Bei all diesen Aussagen handelt es sich um mehr oder weniger rituelle und schematische Redewendungen. Sie übernehmen kommunikativ in erster Linie eine Be‐ ziehungsfunktion. Die Phrasenhaftigkeit der Follower-Kommentare weist eine funktionale Ähnlichkeit zum Motivationsspruch auf. Die rituellen Höf‐ lichkeitsfloskeln sollen auf kommunikativ-generalisierter Ebene Bindung herstellen. Sie drücken informell und zugleich distanziert Wohlwollen und Interesse aus und bauen ein Image der Freundlichkeit auf. Ebenfalls wird ein ‚kategorisches Einverständnis‘ transportiert - nämlich mit dem jeweiligen Nutzenden oder dem entsprechenden Beitrag. Genau wie die Bilder und Bildbeschreibungen negative Weltauslegungen bewusst vermeiden, wird auch in den Kommentaren jede kritische Haltung zugunsten einer bedin‐ gungslosen Bejahung zurückgehalten. 5.3 Binnenstruktur 171 5 Im Gegensatz zu syntaktischen Ellipsen, die lediglich die Wiederholung bereits vorhan‐ dener Lexeme vermeiden und deshalb immer noch grammatikalisch vollständige Sätze bilden (vgl. Busler & Schlobinski 1997: 94-95). Abb. 21: Parataktischer Satzbau Bsp. 3, Instagram: öffentl. Privatprofil Ellipsen: Last but not least muss auf der Ebene von Syntax und Pragmatik die Verwendung der pragmatischen Ellipse, eines rhetorischen Stilmittels der Auslassung, besprochen werden. Bei pragmatischen Ellipsen handelt es sich um Auslassungen mit Sprechaktcharakter, die zu grammatikalisch unvollständigen Satzkonstruktionen führen. 5 Bezeichnend ist, dass fast jeder der Kommentare in den bisher gezeigten Beispielen von solch elliptischem Charakter ist, bspw. „Zucker“ (Abb. 16), „Love u“ (Abb. 19) oder „Super Kontent“ (Abb. 20). In der Linguistik und Rhetorik wird der Ellipse attestiert, dass sie „als schriftsprachliche, rhetorische Figur die Aufgabe, die emotiven Merkmale gesprochener Sprache auf das Geschriebene zu übertragen“, über‐ nehme (Busler & Schoblinski 1997: 94). Elliptisches Sprechen unterlaufe die Regeln des ‚richtigen Sprechens‘ und der Klarheit zugunsten von Effizienz 5 Gattungsstruktur auf Instagram 172 und Dialogizität. Elliptisches Sprechen ist ökonomisch, d. h. reduziert und direkt, und nimmt dabei einen Verlust an Genauigkeit in Kauf. Ellipsen haben also keine informationelle Funktion - es geht nicht darum, Inhalte reflektiert oder detailliert zu vermitteln. Stattdessen haben Ellipsen die Funktion, unvermittelt auf den Punkt zu kommen und dem Gespräch eine bestimmte affektive Färbung zu verleihen. „Super Kontent“ verzichtet bspw. auf die zum Verständnis unnötigen Lexeme „Das“ und „ist“, beschreibt damit den informellen Charakter der Gesprächssituation und inszeniert persönliche ‚Lässigkeit‘ sowie die Ungezwungenheit der Beziehung. Diese Eigenschaften führen zu einer weiteren Funktion der Ellipse: mit ihr wird die Tonalität gesprochener Umgangssprache angeschlagen. Solch konzeptuelle Mündlichkeit ist ein weiteres binnenstrukturelles Merkmal der Kommentare auf Instagram - die Ellipse stellt dabei nur ein Mittel unter vielen dieser sprachlichen Spielart dar. 5.3.2.2 Konzeptuelle Mündlichkeit Konzeptuelle Mündlichkeit bezeichnet Schreibweisen in der schriftsprach‐ lichen Kommunikation, die gezielt verbalsprachliche Register nachahmen. Koch und Oesterreicher (1985) unterscheiden zwischen schriftlicher und gesprochener Sprache auf zwei Ebenen: Auf der Ebene des Zeichenmodus unterscheiden sie danach, ob zur Kommunikation graphische (schriftli‐ che) oder phonische (lautsprachliche) Mittel eingesetzt werden. Zwischen schriftlich und gesprochen könne jedoch auch auf der Ebene „der kommu‐ nikativen Strategien, der Konzeption sprachlicher Äußerungen“ (ebd.: 17, Hvh. i. O.) unterschieden werden. Gesprochenes kann so auch konzeptuell schriftlich ausfallen - bspw. in einer Rede - und Schriftkommunikation konzeptuell an Oralität orientiert sein. Doch was genau zeichnet kommu‐ nikative Strategien aus, die an Schriftlichkeit oder Mündlichkeit orientiert sind? Nach Koch und Oesterreicher haben wir es mit einem Kontinuum an Äußerungsformen zu tun, das „aus dem Zusammenwirken mehrerer kommunikativer Parameter resultiert“ (ebd.: 19). Welche kommunikative Strategie realisiert wird, hängt demnach davon ab, wer miteinander unter welchen Randbedingungen spricht. Am einen Ende des Kontinuums befin‐ den sich die kommunikativen Bedingungen der Nähe, am anderen Ende die der Distanz. Worin genau bestehen die Unterschiede zwischen diesen Funktionen kon‐ zeptueller Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Die situativen Parameter Nähe und Distanz haben sowohl eine informationsökonomische als auch eine 5.3 Binnenstruktur 173 beziehungsregulierende bzw. -repräsentierende Funktion. Distanzkommu‐ nikation ist elaborierter, konzentrierter und formal geschlossener. Sie setzt auf Monologizität, Themenfixiertheit, Öffentlichkeit, Reflektiertheit und Objektivität. Distanzkommunikation suggeriert so übersituative und über‐ persönliche, d.h.: allgemeine Gültigkeit. Nahkommunikation wiederum zeichnet sich durch Dialogizität, wechselseitige Vertrautheit, Privatheit, Eingebundenheit, Spontaneität und Expressivität aus. In der Nahkommuni‐ kation ist die sprachliche Komplexität reduziert, die Rhetorik sparsamer, der Planungsgrad geringer. Prägend für den Stil der Nähe sind vor allem Parataxen bis hin zu Ein- oder Zweiwortphrasen, „lexikalische ‚Armut‘“, „expressive Bildungen“ und „Sprecher- und Hörer-Signale“ (ebd.: 27). Abb. 22: Konzeptuelle Mündlichkeit Bsp. 1, Instagram: öffentl. Privatprofil. Die Kommentarbereiche weisen durchgehend Merkmale solcher Nahkom‐ munikation auf, bspw. die bereits erwähnten Ellipsen. Daneben finden sich zahlreiche Einbis Zweiwortphrasen („view“, „ihr süßen“, „really ama‐ zing“), Interjektionen und expressive Ausrufe (wie „Wow nice“, „cool“) und Lautmalereien („hehe“, „megaaaa“) (vgl. Abb. 22 & 23). Die lexikalische Armut ist sowohl kommunikationsökonomisch als auch stilistisch motiviert. Standardformulierungen werden originellen Paraphrasen vorgezogen, so 5 Gattungsstruktur auf Instagram 174 sind Vokabeln wie „nice“, „süß“, „cool“, „hübsch“ und „schön“ überdurch‐ schnittlich oft zu finden. Die Konjunktur generische Begriffsverwendung lässt sich gut am Beispiel von Abb. 23 zeigen. Dort wird wiederholt auf den Begriff „view“ zurückgegriffen, um Perspektive aber auch Bildinhalte zu referenzieren. Auf sprachliche Differenzierung und Varietät wird dabei kein besonderer Wert gelegt - was für eine „view“ man sieht und was daran „amazing“ ist, bleibt bspw. unklar. Abb. 23: Konzeptuelle Mündlichkeit Bsp. 2, Instagram: öffentl. Privatprofil. Als Sprecher- und Hörersignale dienen insbesondere die Emojis und Pik‐ togramme. Sie übernehmen partiell die Funktion paraverbaler, also mimi‐ scher und gestischer Feedbacksignale und geben Auskunft über den ‚Ton‘ einer Aussage und die Stimmung der Sprechenden bzw. Schreibenden. Die lautmalerischen Wortdehnungen imitieren ebenfalls schriftsprachlich nicht-vorhandene Ausdrucksmöglichkeiten - nämlich phonetische und prosodische Qualitäten - und tragen so dazu bei, Nahkommunikation zu simulieren. Dies gilt in gleicher Weise für die informelle Schreibweise - auf Groß- oder Kleinschreibung ebenso wie auf Rechtschreibstandards wird kaum geachtet. Das ist umso erstaunlicher, wenn man in Betracht zieht, dass die situativen Randbedingungen eigentlich konzeptuelle Schrift‐ lichkeit nahelegen: der Kommentarbereich ist schriftgebunden, fixiert die Äußerungen, ist (teil-)öffentlich, thematisch-zentriert und verbindet raum‐ zeitlich getrennte Kommunikationspartner. Die Nutzenden umgehen die Rahmenkonstruktion also gezielt und greifen vorsätzlich auf Kommunika‐ 5.3 Binnenstruktur 175 tionsstrategien der Nähe zurück, um die Fiktion einer spontanen, direkten face-to-face-Situation zu kreieren. Ein Mittel konzeptueller Mündlichkeit, das auf Instagram exzessiv eingesetzt wird, soll abschließend noch einmal ausführlicher betrachtet werden: der Einsatz expressiver Äußerungen und affektindizierender Zeichen. 5.3.2.3 Zeichenwahl und Affektrhetorik Eines der auffälligsten Merkmale ist ohne Frage der zahlreiche Einsatz von Bildzeichen wie Emojis und Piktogrammen, bis hin zum gänzlichen Verzicht auf Schriftzeichen. Folgt man der Einteilung von Arens (2014), so lässt sich unterscheiden zwischen Bildzeichen, die das Geschriebene 1) veranschaulichen bzw. illustrieren, es 2) erweitern bzw. konnotieren oder 3) ganz ersetzen. Abb. 24: Affektrhetorik Bsp. 1, Instagram: öffentl. Privatprofil. 5 Gattungsstruktur auf Instagram 176 Abb. 25: Affektrhetorik Bsp. 2, Instagram: öffentl. Privatprofil. Veranschaulichende Bildzeichen sind solche, die im Kontext der Äußerung redundant sind, d. h. den semantischen Gehalt der Schriftzeichen nur wie‐ derholen. Ein Beispiel hierfür ist die Illustration des Begriffs Sonne mit dem Piktogramm einer Sonne (ähnlich den Hashtags, vgl. Kap. 5.3.1). Eine solche Verwendung findet sich in den untersuchten Kommentaren eher selten. Studien wie von Arens (2014) oder Dürscheid & Frick (2014) deuten darauf hin, dass der illustrativ-redundante Einsatz von Bildzeichen eher in der privaten Kommunikation, bspw. über WhatsApp, zu finden ist. Auf Instagram überwiegt stattdessen die zweite Form der Verwendung von Bildzeichen, die ergänzende: hierbei wird dem Geschriebenen durch die Emojis und Piktogramme eine weitere Bedeutungsebene hinzugefügt. Folgt man der Taxonomie von Pappert (2018) handelt es sich in den meisten Fällen um Modalisierungen (affektuelle Rahmungen) oder Ausschmückungen des Geschriebenen. Es finden sich aber auch Kommunikate, die gänzlich aus Bildzeichen zusammengesetzt sind, wie bspw. in Abb.26: 5.3 Binnenstruktur 177 Abb. 26: Bsp. Emojikommunikation, Instagram. Doch welche kommunikative Funktion übernehmen die Bildzeichen in diesen Fällen genau? Dürscheid und Fricke (2014) unterscheiden noch einmal differenzierter zwischen einem ideogrammatischen Einsatz, wobei die Bildzeichen als „bedeutungstragende Einheiten“ (ebd.: 272) fungieren, und einem Einsatz als Grenz- und Satzintentionssignale. In letzterem Fall markieren die Bildzeichen bspw. Satzanfang oder -ende. Wie Dürscheid und Fricke feststellen, unterscheiden sie sich dabei aber von den gebräuchlichen Interpunktionszeichen dadurch, dass sie kommunikativ nicht neutral sind. Angenommen, dass auch Punkt, Frage- und Ausrufezeichen Beziehungsbot‐ schaften tragen, weisen sie eine größere affektive Wertigkeit auf und in ihnen schwingt deutlicher die Intention eines Satzes oder die Einstellung der oder des Äußernden mit. Der Großteil der Emojis hat dabei tatsächlich expressive und hier sogar überwiegend emotionsausdrückende Funktion, d.h.: Gefühlslagen werden anschaulich zum Ausdruck gebracht, anstatt sie nur zu benennen (vgl. Schwarz-Friesel 2007). Indem die Nutzenden zeigen, wie sie zu einer Aussage oder einem (Bild-)Inhalt stehen, nehmen sie zugleich Wertungen vor: Finden sie das Geäußerte witzig: lachendes Emoji; befürworten oder ermutigen sie das Gezeigte: Daumen hoch; mögen sie, was sich ihnen auf dem Bild präsentiert: Emoji mit Herzaugen. Dabei stellt sich jedoch das Problem, dass Emojis semantisch nicht fixiert sind. Ob das Emoji mit den Herzaugen sich auf die abgebildete Person, den abgebildeten Ort oder etwas Anderes bezieht, ist bspw. unklar. Die Bedeutung von Emojis ist also nicht nur kontextsensitiv, sondern darüber hinaus selbst im konkreten Kontext noch vergleichsweise deutungsoffen. Daher haben die Bildzeichen auf Instagram überwiegend indexikalische Funktion und dienen vor allem als Beziehungs- und Informalitätsmarker. Sie zeigen einerseits diffus Sympathien (oder Antipathien) an und differen‐ zieren sie (es macht z. B. einen Unterschied, ob man etwas per Daumen, Smiley, Lach- oder Herz-Emoji ‚gut findet‘) und indizieren andererseits den jeweiligen situativen Modus. So kann ein Verzicht auf Emojis eine ernste Ausrichtung signalisieren (ähnlich der Verweigerung von Augenkontakt 5 Gattungsstruktur auf Instagram 178 6 Das ist in der face-to-face-Situation nicht anders: Auch hier werden Beziehungsstatus und Situationsdefinition weitgehend implizit hergestellt und angezeigt. oder positiver Rezeptionssignale wie Lächeln), während der iterative bis hy‐ perbolische Einsatz von Bildzeichen eine unverfängliche und leichtgängige Situation indiziert. Kurz gesagt: Über Emojis wird auf Instagram der Ton, die affektive Ausrichtung, der Beziehungsstatus und die Situationsdefinition reguliert und ausgehandelt. 6 Abb. 27: Affektrhetorik Bsp. 3, Instagram: öffentl. Privatprofil. Der kommunikative Stil auf Instagram kann daher in einer ersten Annähe‐ rung als expressiv bezeichnet werden. Darauf verweisen neben dem zahlrei‐ chen Einsatz von Emojis auch die vielen emotionsausdrückenden Begriffe, derer sich die Nutzenden bedienen: „Mega“ (Abb. 22), „Toll“, „Liebes“ (Abb. 24), „Wahnsinn“, „Richtig Geil“, „Hammer“ (Abb. 25), „Wunderschön“ (Abb. 26) usw. Nach Schwarz-Friesel (2007: 151) referieren diese, im Gegensatz zu emotionsbeschreibenden Ausdrücken, nicht auf Gefühle, sondern vermitteln „primär emotionale Eindrücke und Einstellungen, fokussieren also die ex‐ 5.3 Binnenstruktur 179 pressive Ausdrucksfunktion“. Die Nutzenden wählen demnach Ausdrücke, Begriffe und Wendungen, die Emotionen möglichst direkt und unmittelbar anzeigen. Nicht Verweis, sondern Äquivalenz und Wahrnehmungsnähe sind das Mittel der Wahl - stilistisch stehen die expressiven Begriffe somit in einer Reihe mit den expressiven Bildzeichen. Der expressive Stil wird aber noch von einigen weiteren Elementen getragen: von lautmalerischen Wortdehnungen, Zeichenreduplikationen und Großschreibungen. All diese rhetorischen Mittel stellen eine Form „emulativer Prosodie“ (Haase et al: 1997) dar und „übernehmen die Funktion von Tonhöhe, Lautstärke und Akzent in der gesprochenen Sprache“ (Görl 2003: 71). Damit stehen sie wie die emotionsausdrückenden Bild- und Schriftzeichen im Dienste expressiver Äußerungen: Sie zeigen eine Gestimmtheit an und vermitteln die affektive Intensität der Äußerung. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass Instagram binnenstrukturell stark von konzeptueller Mündlichkeit und wahrnehmungsnaher Affektrhetorik geprägt ist. 5.4 Zwischenstruktur Die Zwischenstruktur legt zu guter Letzt die Sequenzialität, das heißt die Abstimmung der Ausgangsbeiträge und Kommentare aufeinander fest. Diese Sequenzen sind zum Teil technisch bedingt, größtenteils aber das Ergebnis kommunikativer Konventionen. 5.4.1 Rituelle und konversationelle Merkmale Ausgangspunkt jedes (teil-)öffentlichen Austauschs ist der Bildbeitrag. Auf fremden Profilen kann man keinen Austausch einleiten, nur reagieren. Pinnwandbeiträge wie auf Facebook sind nicht möglich, ebenso keine Videoantworten wie auf Youtube, oder Mentions wie auf Twitter. Verfasst man einen eigenen Ausgangsbeitrag, kann man wählen, ob man dem Bild noch einen Text, Hashtags oder Emojis hinzufügen möchte. Rituelle Muster zeichnen sich an dieser Stelle noch nicht ab. Begrüßungen zum Beispiel sind nicht gattungstypisch, sondern nutzerabhängig. Manche Nutzenden verzichten gar völlig auf eine weitere Kommentierung oder Kennzeichnung ihres Beitrags. Dieser Befund ist insbesondere im Vergleich mit den Plattfor‐ men Youtube und Twitter interessant, deren Vernetzungsmodus ähnlich ist. Twitter zeichnet sich dabei durch den gattungstypischen Verzicht auf Be‐ 5 Gattungsstruktur auf Instagram 180 grüßungen aus, während die Publikumsadressierung zu Beginn wiederum ein gattungstypisches Merkmal der Vlogs auf Youtube darstellt. Auf Insta‐ gram ist weder eine Ritualisierung solcher Sequenzen noch ein völliger Verzicht darauf erkennbar. Die Nutzenden gehen vergleichsweise frei mit den unterschiedlichen Möglichkeiten um. So kann der unkommentierte Beitrag auratisch und cool wirken, während direkte Publikumsadressierung Nahbarkeit und Vertrautheit herstellt. Es gibt, um es auf den Punkt zu bringen, keine rituelle Klammer: weder existieren musterhafte Einstiege in Form von Begrüßungsformeln o. ä. noch gibt es so etwas wie einen Abschluss: Instagram-Beiträge bleiben kommu‐ nikativ offen. Lediglich der Ausgangsbeitrag ist sequenziell notwendig und sein Format festgelegt. Auch sonst ist Instagram arm an ‚klassischen‘ rituellen Redezügen, so folgt etwa auf Komplimente nicht zwingend ein Dank. Es zeichnet sich hier eine Tendenz zur Informalisierung ab. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Austausch auf Instagram grundsätzlich chaotisch oder ungeordnet ist - es bedeutet noch nicht einmal die völlige Absenz ritueller Sequenzen. Das mit Sicherheit auffallendste Muster sind die Bestätigungen, Kompli‐ mente und Bewunderungen: der überragende Großteil aller Kommentare im Sample bezieht sich affirmativ auf die Abgebildeten, sonstige Bildinhalte oder die Bildtechnik. Daneben finden sich auch allgemeine Bestätigungsfor‐ meln ohne expliziten Bezugspunkt. In Abb. 28 sind alle diese vier Formen der Bestätigung enthalten: Ein User lobt die Bildtechnik: „Great shot“. Ein anderer User schmeichelt dem Abgebildeten: „you looks yummy“ und zwei weitere rühmen sonstige Bildinhalte („Die Haare sind on point bro“, „Chillige Schuhe“), während der Großteil nur allgemeine Bestätigungen hin‐ terlässt. Diese können textbasiert sein („Cool“) oder rein ikonisch wie im Fall des Kommentars, der nur ein Piktogramm beinhaltet, das zwei anstoßende Biergläser zeigt (der User prostet dem Beitragsersteller gewissermaßen zu). Im obigen Kommentarbereich lassen sich sogar Paarsequenzen in Form von Kompliment und Danksagung finden. Diese Art der Wechselseitigkeit bzw. Mehrzügigkeit ist aber nicht typisch für die Kommunikation im Lifestyle-Bereich auf Instagram. Sie bestehen in der Regel aus einem Aus‐ gangsbeitrag - dem Bildbeitrag - und einer folgenden Tirade aus Lob und Beifallsbekundungen. Selten gibt eine Nutzerin oder ein Nutzer dabei mehr als einen Kommentar pro Beitrag ab. Die Dialogizität erschöpft sich also in einem Zwei-Zug-Spiel, wobei dem Ausgangsbeitrag als dem ersten Zug eine Reihe einzelner Zweitzüge folgen, die chronologisch zwar hintereinander‐ 5.4 Zwischenstruktur 181 geschalten sind, strukturell aber parallel zueinander verlaufen. Querbezüge zwischen den Kommentaren treten nur selten auf. Der Gesprächsablauf besteht also in seiner Grundstruktur aus mehreren, voneinander unabhän‐ gigen zweiteiligen Paarsequenzen mit jeweils identischem ersten Redezug (dem Ausgangsbeitrag). Abb. 28: Bestätigungskommunikation, Instagram: öffentl. Privatprofil. Aufbau und Sequenzialität unterscheiden sich damit stark von privater Messenger-Kommunikation oder öffentlicher Kommunikation in Chats, die diesbezüglich größere Ähnlichkeiten mit natürlichen face-to-face-Ge‐ sprächen aufweisen (vgl. Dürscheid 2005). Grund hierfür ist erneut die Adressatenstruktur. Da auf Instagram die Ausgangsbeiträge nicht an be‐ stimmte Personen gerichtet werden, sondern an ein diffuses Publikum, gibt es auch keine spezifischen Adressaten, von denen ein Zweitzug erwar‐ tet oder gar eingefordert werden kann. Erfolgt jedoch eine Antwort, so ist diese im Gegensatz zum Ausgangsbeitrag spezifisch an den oder die Beitragsverfasserin gerichtet. Der Ausgangsbeitrag selbst ist also immer ungerichtet, jeder Antwortzug hingegen gerichtet. Doch wie hängen die 5 Gattungsstruktur auf Instagram 182 typischen Eigenschaften des Ausgangsbeitrags (vgl. 5.3.1) mit der typischen Anschlusskommunikation zusammen? Handelt es sich um Adjazenzpaare mit konditioneller Relevanz (Levinson 2000), sprich: Sind bestätigende Ant‐ worten in der dargestellten Form (vgl. 5.3.2) auch erwartbar oder präferiert (ähnlich wie auf den Redezug der Einladung zwar auch eine Ablehnung erwartbar ist, die Annahme aber präferiert wird)? Das nur sporadische Auftreten von dritten Redezügen (Reaktionen auf die Kommentare, z. B. Dank, oder Folgekommentare) lässt darauf schließen, dass die konversationelle Einheit nach dem zweiten Zug in ihrer Grundform abgeschlossen ist. Der zweite Redezug nimmt dabei typischerweise die Form einer Ratifizierung an. Das überwiegende Fehlen kritischer Resonanz deutet daraufhin, dass Bestätigung die unmarkierte und präferierte Realisierung des zweiten Redezugs ist. Kritik, Ablehnung oder Widerspruch sind hinge‐ gen die markierte und dispräferierte Alternative. Sie wird selten bis gar nicht realisiert (im Gegensatz zu anderen Gesprächsformen wie der Diskussion oder der Debatte: hier wird der Dissens geradezu gefordert). Erleichtert wird dies selbstverständlich durch die bereits erwähnte Adressatenstruktur. Da niemand direkt angesprochen wird, herrscht kein Antwortzwang und Nutzende können sich einer dispräferierten Antwort enthalten. So werden letztlich nur die unmarkierten, kommunikativ präferierten Alternativen sichtbar. Ausgangsbeiträge wiederum müssen in Form und Inhalt verständ‐ lich und den Konventionen angemessen sein, um solche präferierten An‐ schlüsse (Lob und Bestätigung) zu ermöglichen. Zumindest sollte er nicht eindeutig abgelehnt werden müssen. Der Ausgangsbeitrag muss in seinen Eigenschaften hierzu bisweilen nicht nur an allgemeinen, sondern auch gruppenspezifischen Kriterien ausgerichtet werden (vgl. Kap. 6). 5.4.2 Evaluierungen Bei den Zweitzügen handelt es sich in der präferierten Variante also um rituelle Bestätigungen. Doch welche Form nehmen diese Bestätigungen genau an? Was wird wie bewertet? Dies soll an dieser Stelle noch einmal genauer untersucht werden. Die evaluativen Praktiken werden dabei nicht der Binnenstruktur zugeordnet, sondern als Element der situativen Reali‐ sierungsebene betrachtet, da sie Teil einer Paarsequenz sind und kein rein stilistisches Oberflächenmerkmal. Bei der Analyse orientiere ich mich an Peter White und James Mar‐ tin (2005, vgl. auch Zappavigna 2018), die ein linguistisches Modell der 5.4 Zwischenstruktur 183 Bewertungskommunikation entworfen haben, das systematisch zwischen unterschiedlichen Formen evaluativen Sprechens unterscheidet. Dabei wird zwischen unterschiedlichen syntagmatischen und paradigmatischen Ebe‐ nen unterschieden. Auf der Ebene des „engagements“ wird angezeigt, ob eine Aussage assertiv gesetzt, vielleicht sogar verabsolutiert wird oder durch indirekte Rede oder Verweis auf andere Positionen relativiert, d. h. in Bezug gesetzt wird. Auf der Ebene der Haltung („attitude“) kann wie‐ derum unterschieden werden zwischen dem subjektiven Emotionsausdruck, dem expliziten Urteil über Verhaltensweisen oder Kompetenzen und der (ästhetischen) Wertzuschreibung oder Einschätzung. Graduierungen („gra‐ duations“) sorgen zu guter Letzt dafür, dass Bewertungen eine bestimmte In‐ tensität („force“) oder Fokussierung („focus“) erhalten. Fokussierung meint dabei den Vergleich mit einem jeweiligen Prototyp (bspw.: eine Art von Held und ein wahrer Held oder irgendwie sexy und richtig sexy etc.). Aus diesen sprachlichen „Bewertungsressourcen“ können Sprechende schöpfen, um Einstellungen anzuzeigen, ihrer Umwelt Wert zuzuschreiben und dieser Wertigkeit und Bedeutung in spezifischer Weise Ausdruck zu verleihen. Wie gehen nun die Kommentierenden auf Instagram vor, wenn Sie Beiträge bestätigen und affirmieren? Auf der Ebene des engagements zeigt sich wie bereits erwähnt eine starke Tendenz zu assertiven Sprechakten. Aussagen wie „Really amazing“ (Abb. 23), „So wunderschön“ (Abb. 24) oder „Hammer Bild“ (Abb. 25) kommen direkt, schnörkellos und ohne Ab‐ schwächungen oder Relativierungen daher. Subjektivitätsmarker wie „ich finde“ oder „meiner Meinung nach“ werden hingegen kaum gebraucht. Auch stellvertretendes Sprechen oder alternative Sichtweisen kommen selten bis nie vor. Die Bewertungsbzw. Bestätigungskommunikation auf Instagram erweist sich als überwiegend monoglossisch. Darunter verstehen White und Martin alternativloses, kategorisches Sprechen: „By this [monoglossic style, d. V.], the speaker/ writer presents the current pro‐ position as one which has no dialogistic alternatives which need to be recognised, or engaged with, in the current communicative context - as dialogistically inert and hence capable of being declared categorically“ (White & Martin 2005: 99). Die Einstellung („attitude“) der Nutzenden wird überwiegend in Form ästhetischer Wertzuschreibungen ausgedrückt. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob Personen, abgebildete Dinge oder das Bild selbst gemeint sind. Aussagen bzw. Ausrufe wie „Amazing“, „Wunderschön“, „Wie süß“, „great shot“ oder „schaut super aus“ beziehen sich allesamt auf ästhetische 5 Gattungsstruktur auf Instagram 184 7 Wobei Würdigungen der Fotoqualität teils auch als indirekte Anerkennung fotografi‐ scher Kompetenzen verstanden werden können. 8 D.h.: Der Ausgangsbeitrag wird gelobt und / oder Wohlgefallen darüber zum Ausdruck gebracht. Eigenschaften 7 . Auch über Emojis und Piktogramme werden bisweilen Wertzuschreibungen vermittelt: das Flammen-Symbol zeigt etwa an, dass etwas ‚hot’ ist. Öfter jedoch wird mit Emojis ausgedrückt, was im Text außen vor bleibt: die eigenen Gefühlsreaktionen. Emoji-Kompositionen wie in Abb. 26 dienen dazu, anzuzeigen, welche Gefühle oder welche emotionale Regung der Bildbeitrag in den Kommentierenden ausgelöst hat. Die Emojis verweisen fast ausschließlich auf positive Affekte, z. B. Freude, Attraktion oder Überwältigung und beziehen diese auf den Ausgangsbeitrag. Solche Gefühlsausdrücke werden oft mit Wertzuschreibungen kombiniert, treten aber durchaus auch einzeln auf. Graduierungen zuletzt finden überwiegend in Form von Intensivierungen statt. Zwar finden sich auch Fokussierungen, bspw.: „zwei absolute Schön‐ heiten“, doch dominiert das superlativische oder hyperbolische Sprechen: „megahübsch“, „wunderschön“, „great shot“, „schaut super aus“, „perfektes Bild“ usw. Manchmal wird die Intensität einer Wertzuschreibung auch durch emulative Prosodie (z. B. Wortdehnungen wie „megaaa“) oder durch Verdop‐ pelung oder Vervielfachung emotionsausdrückender Emojis verstärkt. Im Intensitätsgrad milde oder verhaltene Bestätigungen, wie etwa „nice outfit“, sind seltener. Zusammenfassend lässt sich die paarsequentielle Bestätigungskommuni‐ kation auf Instagram wie folgt definieren: Der Ausgangsbeitrag stellt die eigene Person im Kontext von Themen wie Fashion, Sport oder Reisen dar und ist dabei stilistisch-ästhetisch an Kriterien wie Hochglanzoptik und Harmonie orientiert. Die Kommentare wiederum nehmen auf den Aus‐ gangsbeitrag affirmativ Bezug in Form von assertiven und superlativischen ästhetischen Wertzuschreibungen und Gefühlsbekundungen. 8 5.4.3 Beteiligungsformat Abschließend soll noch einmal genauer betrachtet werden, in welcher Bezie‐ hung die Beteiligten zu den Inhalten wie auch zueinander stehen. Hinsicht‐ lich des Äußerungsformats lässt sich feststellen, dass die Beitragsverfassen‐ den wie auch die Kommentierenden aus einer subjektiven Position heraus 5.4 Zwischenstruktur 185 sprechen. Der emotionale Gestus insbesondere der Kommentierenden sug‐ geriert eine starke Verbindung zwischen ihnen und den Bezugsinhalten. Die Vagheit und Kürze der textbasierten Äußerungen, die semantische Offenheit der Bildzeichen und die Orientierung an konzeptueller Mündlichkeit lässt zugleich aber auch einen gewissen interpretativen Spielraum: weder Bei‐ tragsverfassende noch Kommentierende legen sich auf eindeutige Aussagen fest. Obwohl sie im subjektiven Sprechen zwar Autorenschaft übernehmen, vermeiden die Beteiligten zugleich eindeutige und allzu verbindliche Aus‐ sagen. Die Äußerungen sind dabei aber nicht ambivalent, also mehrdeutig im engen Sinne: elliptische Sprechakte, Affektrhetorik und unbestimmte Kommunikation machen keine widersprüchlichen Deutungsangebote, son‐ dern ermöglichen lediglich graduelle Auslegungsunterschiede. So kann der Herz-Emoji in ein und demselben Kontext für Bewunderung aber auch für schlichtes Wohlgefallen stehen. Eine Aussage wie „great shot“ kann eine aufrichtige Anerkennung oder nur eine simple Höflichkeitsgeste sein. In beiden Fällen liegt dem Denotat ein affirmativer Kern zugrunde, die Nuancen stehen jedoch zur interpretativen Disposition. Gleiches gilt für die Ausgangsbeiträge: Auch wenn die Bildsprache ten‐ denziell uneindeutiger ist als Verbal- oder Schriftsprache, so übernehmen die Beitragsverfassenden auf Instagram klar Autorenschaft. Es gibt keinerlei Anzeichen für uneigentliches Sprechen, das entsprechend markiert sein müsste. Die Nutzenden vermitteln im Akt des Bildzeigens, dass sie das Bild vielleicht nicht selbst geschossen, es aber bewusst ausgewählt haben. Jeder Bildbeitrag trägt daher eine Zeigeintention. Doch weil Bilder und Fotografien notorisch unterdeterminiert sind, obliegt es der Interpretation der Betrachtenden, was genau mitgeteilt bzw. gezeigt werden soll. Das Bild vor dem Brandenburger Tor kann etwa sagen: „Seht her, ich bin in Berlin“, „Ich stehe vor dem Brandenburger Tor“, „Schaut dieses tolle Denkmal an“, „Bewundert mich“, „Sehe ich nicht toll aus? “, „Ich will euch ein schönes Foto zeigen“ oder „Nehmt an meinem Leben teil“. Weder Proposition noch Sprechakt sind also klar festgelegt. Zwar werden die Bilder meist durch einen kurzen Text und Hashtags kontextualisiert, aber wie gezeigt verbleiben auch diese Rahmungen vage. Die Beitragsverfassenden legen sich nicht fest, sondern spielen den Ball der Semiotisierung an die Betrachtenden weiter. Im Verbund mit der unge‐ richteten Adressierung ergibt sich so das Bild einer charismatischen Praxis (vgl. Weber 2010), in der mit Nähe- und Distanzverhältnissen gespielt wird. Die Beiträge werden mit einer Aura des Ungefähren umgeben: Sie sind an 5 Gattungsstruktur auf Instagram 186 alle und niemanden gerichtet und vielsagend, weil scheinbar nichtssagend. Diese Distanznahme wird konterkariert von den persönlichen Bildinhalten, welche die Beitragsverfassenden in ihrem Alltag zeigen. Der Einblick, der gewährt wird, ist aber hochselektiv und hinsichtlich der expressions given-off (Goffman 1959: 2) stark kontrolliert. Die Betrachtenden werden gewissermaßen mit einer Hand herangezogen und mit der anderen auf Ab‐ stand gehalten. Senft (2013) beschreibt dies als Praxis der Mikroprominenz. Mikroprominenzen bzw. micro-celebrities managten ihr Online-Selbst „with the sort of care and consistency normally exhibited by those who have historically believed to be their own product: artists and entrepreneurs“ (ebd.: 347). Senft führt den Status also weniger auf Zuschreibungen von außen zurück als auf Selbstvermarktungspraktiken, die denen von Künstlern und Unternehmern ähneln. Marwick (2015: 117) präzisiert diese Praktiken als „a self-presentation strategy that includes creating a persona, sharing personal information about oneself, constructing intimate connections to create the illusion of friendship or closeness, acknowledging an audience and identifying them as fans, and strategically revealing information to increase or maintain this audience“. Die kommunikative Konstruktion der eigenen Person unterscheidet sich von jener klassischer Berühmtheiten durch größere Intimität und von der reinen Freundschaftskommunikation durch gezielt eingezogene Distanzen und Asymmetrien. Während der Ausgangsbeitrag ungerichtete Selbstdarstellungen enthält, zeichnen sich die Kommentare durch gerichtete Bestätigungen aus. Durch die einseitige Adressierung und Erhöhung werden kommunikativ Hierar‐ chien hergestellt. Weil der dritte Redezug optional ist, erhält er Selten‐ heitswert und den Nimbus der ‚Gnadenwahl‘. Alle kommunikativen Akte kreisen um die Person der Beitragsverfassenden, affirmieren sie und betonen einen Sonderstatus. Die rituelle Bestätigungskommunikation schafft so zwei distinkte Teilnehmerstatus: Die Beitragsverfassenden inszenieren sich als Bewunderte, während die Kommentierenden sich als Bewunderer inszenie‐ ren. Formal ähnelt dies einer abgeschwächten Star/ Fan-Kommunikation. Es werden kommunikativ asymmetrische bis hierarchische Beziehungen hergestellt, die durch informelles und intimes Sprechen immer wieder ausgeglichen und austariert werden. Hier zeigt sich einmal mehr die Notwendigkeit, kommunikative Akte nicht nur isoliert, sondern in ihrem Verweisungszusammenhang und ihrer Sequenzialität zu betrachten. Isoliert betrachtet hätten bspw. die Affirmati‐ onen auch Teil eines Austausches zwischen Freunden oder Ausdruck einer 5.4 Zwischenstruktur 187 Lehrer-Schüler-Beziehung sein können. Ihre situative Bedeutung ergibt sich aber erst aus dem Verhältnis der einzelnen kommunikativen Sequenzen zueinander. Um den Sozialraum Instagram zu verstehen, reicht es allerdings nicht aus, nur die formalen Strukturen zu betrachten. Die folgenden Kapi‐ tel werden sich darauf konzentrieren, wie die Nutzenden sich innerhalb dieser Strukturen bewegen und diese sinnhaft auslegen. Dabei wird sich u. a. zeigen, dass die Star/ Fan-Kommunikation von den Nutzenden sehr unterschiedlich umgesetzt und ausgelegt wird: Sie erfährt eine praktische Differenzierung. 5 Gattungsstruktur auf Instagram 188 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata Im Folgenden werden die Ergebnisse der Interviews dargestellt, die mit Nutzenden der Plattform Instagram geführt wurden. Im Vordergrund der Befragung standen die subjektiven Sichtweisen, Deutungsmuster und Ori‐ entierungen der Nutzenden (vgl. Helfferich 2011: 21). Deren Perspektive ergänzt die Befunde der Dokumentanalyse aus Kap. 5. In Kap. 1 wurden sechs Hauptaspekte genannt, deren Untersuchung zur Beantwortung des Erkenntnisinteresses dieser Studie nötig ist. Die Dokumentanalyse sollte dabei vor allem (aber nicht exklusiv) die Plattform- und Gattungsstruktur aufdecken, während die Analyse der Interviewdaten vorwiegend dazu beiträgt, die Aspekte Subjektivierung, Vergemeinschaftung, Affekte und Affordanzen zu eruieren. Die Triangulation beider Vorgehensweisen ermög‐ licht es, die Innen- und die Außenseite der Kommunikation auf Instagram integrativ nachzuvollziehen. Die sichtbaren Praktiken und Strukturen wer‐ den dabei mit den zugrundeliegenden Motiven und Sinnzuschreibungen der Nutzenden verknüpft. Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf der Auswertung von 83 leitfadengestützten Interviews, die vom Autor selbst als auch im Rahmen studentischer Seminare an der Universität Hildesheim erhoben wurden. Im Kern handelt es sich um fokussierte (vgl. Merton & Kendall 1979) bzw. problemzentrierte Interviews (vgl. Witzel 1985). Für die Datenanalyse wurden in einem zweistufigen, typenbildenden Verfahren die Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse und der Grounded Theory miteinander kombiniert (vgl. Stamann, Janssen & Schreier 2016). Mit der Inhaltsanalyse wurde das Material im ersten Schritt entlang von Kategoriensystemen systematisch geordnet, abseits „von sog. ‚freien‘ oder ‚impressionistischen‘ Interpretationen“ (Mayring 2010: 603). Dabei entstanden vor allem regel‐ haft-theoriegeleitete und deskriptive Kategorien. Diese dienten dazu, die den Interviews zugrundeliegenden Inhalte und Themen herauszuarbeiten. Mit der Grounded Theory Methode wurde hingegen eine „begründet-krea‐ tive Annäherung an den Untersuchungsgegenstand“ (Marx & Wollny: 475) vorgenommen, um tieferliegende Sinnzusammenhänge zu entdecken. Ziel war es, den Gegenstand so nicht nur induktiv, sondern auch deduktiv zu erschließen (ebd.: 476), ihn also zu beschreiben und zu verstehen. Auf diesem Wege wurden schlussendlich Schemata und Typen gebildet. Die Schemata bilden dabei überindividuelle, idealtypische Handlungs- und Wahrnehmungslogiken ab, die in den Interviews zum Ausdruck kamen. Bei der Typenbildung wiederum wurden die realtypischen Ausprägungen und Zusammenhänge dieser Logiken in den konkreten Fällen untersucht. Durch diese Verknüpfung zwischen „Einzelfall und Regelhafte[m]“ (Kuckartz 2010: 555) ergibt sich schlussendlich ein sehr genaues und doch ausreichend allgemeines Bild davon, wie sich die Nutzenden Instagram aneignen. In diesem Kapitel werden die Nutzungsschemata vorgestellt. Die Nut‐ zungsschemata ergeben sich aus fünf Schlüsselkategorien, die aus den In‐ terviews gewonnen wurden. Sie bilden im Kern die primären Sinnstrukturen ab, an denen das kommunikative Handeln der Nutzenden auf Instagram ori‐ entiert ist. Die Merkmale der Schlüsselkategorien weisen über die Einzelfälle hinweg unterschiedliche Ausprägungen auf, die idealtypisch zu Schemata verdichtet und zusammengeführt wurden. Im Folgenden werden zuerst die Schlüsselkategorien beschrieben. Die Darstellung der Schemata bildet dann den Kern des Kapitels. 6.1 Schlüsselkategorien 6.1.1 Resonanz Die Schlüsselkategorie Resonanz setzt sich aus Deutungsmustern und Sinn‐ bezügen zusammen, die den öffentlichen Charakter der Kommunikation betreffen, genauer: die Publikumsbezogenheit der Nutzenden. Resonanz stellt für alle Befragten einen wichtigen Bezugspunkt dar, jedoch unterscheiden sich die anfänglichen Erwartungen und Motivationen, die Strategien, die sie zur Gewinn von Resonanz entwickeln als auch die Resonanzeffekte, die sie erleben. Dies beginnt mit den Like- und Followerzahlen, die von vielen als bedeutsame Faktoren angeführt werden, an denen sie ihr Handeln orientieren. Likes und Follower sind u. a. ein Indikator für Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist ein wichtiges, für viel Befragte gar das primäre Movens ihres Handelns. Eine Befragte sagt dazu: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 190 Amira: Aber wenn es niemanden interessiert, von alleine dann denkt man sich ja auch so: Wozu? Dann kann ich auch gleich ein Tagebuch schreiben (0.5) und Fotos reinkleben. Abb. 29: Schlüsselkategorie Resonanz, eig. Darst. Wer auf Instagram Inhalte teilt, will gesehen werden und will ebenso wissen, dass er oder sie gesehen wird. Hierzu muss man etwas ‚preisgeben‘ und sich dem Blick der Anderen aussetzen. Im besten Fall handelt es sich bei den Anderen um ein wohlwollendes oder gar bewunderndes Publikum. Reak‐ tionen sind jedoch nur schwer zu antizipieren und zu kontrollieren, worauf die Beteiligten mit ganz unterschiedlichen Strategien reagieren: Manche versuchen sich emotional und mental auf die Resonanz des Publikums einzustellen. Andere wiederum versuchen deren Blicke und Reaktionen aktiv zu steuern, indem sie bspw. die Likes und Kommentare als Maßstab für ihre zukünftigen Beiträge nehmen. Für manche Befragten schlagen sich die bestätigenden Likes und Kom‐ mentare in einem gestärkten Selbstbewusstsein nieder, für andere parado‐ xerweise aber auch in negativen Gefühlen und Angst. Dies hängt zusammen mit einem gefühlten Druck, sich zu vergleichen und zu ‚vermessen‘. Die Nutzenden nehmen zunehmend neue Perspektiven auf sich selbst ein, die geprägt sind durch die vielgestaltigen Resonanzformen. So enthalten etwa 6.1 Schlüsselkategorien 191 Like- und Followerzahlen zählbare Wertungen und setzen das eigene Profil so zwangsläufig in Bezug zu anderen Profilen. Einige Nutzende integrieren diese Vergleichspraktiken positiv in ihr Selbstbild, andere stehen ihr ambi‐ valent gegenüber oder erfahren sie gar als Zumutung. Kurz gesagt umfasst die Schlüsselkategorie Resonanz alle Erfahrungs- und Deutungsmuster, die sich auf die Reaktionen beziehen, welche Nutzende auf ihre Beiträge oder Kommentare erhalten. Es handelt sich bei dieser (und auch bei den folgenden) Schlüsselkategorien nicht um einen thematischen Container, sondern um einen Komplex sich gegenseitig bedingender Erfahrungs- und Deutungsmuster mit komplexen Verweisungsstrukturen. 6.1.2 Arbeit am Selbst Die Schlüsselkategorie Arbeit am Selbst umfasst Sinnbezüge, die um die Un‐ terkategorie Eindrucksmanagement und Inszenierung herum zentriert sind. Hierbei steht im Vordergrund, wie sich die Nutzenden auf Instagram zeigen wollen und was ihre Aktivitäten auf Instagram für ihr Selbstverhältnis bedeuten. Die Schlüsselkategorie bezieht sich also auf die Konsequenzen der Selbstdarstellung und des wechselseitigen Austauschs für das eigene Selbst. Es zeigte sich (erstmal wenig überraschend), dass die Arten und Weisen der Selbstdarstellung im Vergleich mit dem restlichen kommunikativen Handeln für die Befragten besonders selbstbildrelevant sind. Das allgemeine kommunikative Verhalten ist in vielen Fällen stark extrinsisch motiviert und vor allem auf die Publikumsgunst ausgerichtet. Das bedeutet jedoch nicht, dass Erwägungen, Erwartungen und Effekte, die das subjektive Selbstverhältnis betreffen, keine Rolle spielen. Wer sich auf Instagram aktiv am Geschehen beteiligt, indem er oder sie Beiträge teilt, kommt dabei um bestimmte Formen der Selbstreflexion nicht herum. Der direkte Austausch mit anderen in den Kommentaren wird wiederum nur von einem bestimmten Teil der Befragten mit Blick auf ihr Selbstbild hinterfragt. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 192 Abb. 30: Schlüsselkategorie Arbeit am Selbst, eig. Darst. Zu Beginn der Selbstdarstellung stehen für die Befragten richtungsweisende Fragen wie: ‚Worum geht es mir eigentlich? Wozu mache und teile ich Bilder aus meinem Leben? ‘ Für einige besteht die Antwort in der Kontaktherstel‐ lung bzw. -erhaltung oder anders ausgedrückt: in dem Wunsch, andere ‚am eigenen Leben teilhaben zu lassen‘. Andere wiederum möchten vor allem ‚zeigen, wer sie sind‘ oder neue Seiten an sich entdecken und erproben. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Techniken und Strategien der Selbstinszenierung - während einige Instagram als eine Art öffentliches Tagebuch betrachten und ein möglichst unverzerrtes Bild von sich vermit‐ teln möchten, versuchen andere dezidiert nur die einzigartigen und schönen Momente hervorzuheben oder pflegen gar eine bewusst künstliche und überspitzte Selbstdarstellung. Von vielen Nutzenden wird dabei immer wieder der Aspekt der Authen‐ tizität als intervenierende Variable ins Spiel gebracht. Für manche ist er unproblematisch: sie halten Authentizität für unwichtig oder attestieren ihren Beiträgen eine fraglose Authentizität ex ante. Für viele erweist sich der Authentizitäts-Anspruch aber als nur schwer aufzulösender Widerspruch zu anderen Erfordernissen ‚gelungener‘ Selbstinszenierung. Der empfundene Widerspruch nötigt den Betroffenen Konzessionen in der Selbstdarstellung ab oder zwingt sie zumindest zu erhöhter Reflektion der eigenen Routinen und Praktiken. 6.1 Schlüsselkategorien 193 In der Konsequenz führt dies für viele zu einer erhöhten Auseinanderset‐ zung mit dem eigenen Ich, den Wirkweisen der eigenen Selbstdarstellung und den damit einhergehenden Reaktionen. Das gilt aber nicht nur für die Selbstdarstellung, sondern auch für den wechselseitigen Austausch: wie erwähnt beziehen einige Nutzende auch den Austausch mit anderen direkt auf ihr Selbst und beschreiben die Kontakte als Möglichkeit, den eigenen ‚Horizont zu erweitern‘, Neues zu lernen oder sich zu verändern. Selbstdarstellung und Austausch haben für die meisten Beteiligten also eine klare Funktion für das Selbst, die angestrebt und dabei unterschieden wird von anderen, eher beziehungs- oder sachorientierten Funktionen. 6.1.3 Nutzungsinteressen Die Schlüsselkategorie Nutzungsinteressen umfasst Deutungsmuster und Sinnbezüge, die auf Intentionen, Interessen, Zwecke oder Ziele verweisen, welche die Nutzenden mit Instagram verbinden. Hierbei kann es sich um auslösende Momente der Nutzung handeln, aber auch um solche, die sich erst im Laufe der Nutzung entwickeln. Letztere lösen nicht selten die ursprünglichen Intentionen als treibende Kraft ab. Die Nutzungsinteressen geben Auskunft darüber, warum die Nutzenden Instagram nutzen und was sie von der Nutzung erwarten. Die Interessen der Nutzenden unterscheiden sich von mehr oder weniger latenten Nutzungs‐ motiven dadurch, dass sie explizit artikulierbar sind und von den Nutzenden im Rahmen bewusster und willentlicher Entscheidungen verfolgt werden. Die Nutzungsinteressen, so heterogen sie teilweise auch ausfallen, sind zentriert um die Unterkategorie des ästhetischen Empfindens. Um diese Achse herum lassen sich zwei Bezugsnetze bilden, die unterschiedlich zum Verständnis der Nutzungsinteressen beitragen: eines, das am klassischen Kodierparadigma orientiert auf die kausalen Verbindungen zwischen den einzelnen Interessen abstellt, und eines, das nach thematischen Interessens‐ komplexen differenziert. Im klassischen Kodierparadigma stehen am Anfang die auslösenden Interessen, d. h. Ziele wie bspw. Gefühle mit anderen zu teilen, plattform‐ spezifische Erfolge zu erzielen oder das Selbstwertgefühl aufzupolieren. Ge‐ meinsam ist diesen Interessen, dass sie auf Instagram im Rahmen bestimmter ästhetischer Praktiken umgesetzt werden sollen: vermittelt über ‚schöne Bilder‘. Einige Befragte beschreiben diese Umsetzung als arbeitsintensiv und verweisen auf den Einsatz wie auch den Erwerb bestimmter Fähigkeiten 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 194 und Kompetenzen, die damit einhergehen. Andere gehen ihren Interessen in einem eher spielerischen Rahmen nach. In jedem Fall entwickeln die Befragten ganz spezifische Strategien, um ihre Ziele zu erreichen, bspw. ein spezielles Profilkonzept oder die Konzentration auf Publikumsvorlieben. Dafür werden sichtbare ‚Entlohnungen‘ wie bspw. Likes, Zustände der Inspiration oder ein gesteigertes Selbstbewusstsein erwartet. Es stellen sich aber auch unintendierte Nebeneffekte ein wie etwa der zunehmende Wunsch, Anderen gefallen zu wollen. Abb. 31: Schlüsselkategorie Nutzungsinteressen, eig. Darst. Die Nutzungsinteressen weisen als einzige Schlüsselkategorie eine starke thematische Konzentration auf. Die thematischen Komplexe lassen sich dabei in drei Teilbereiche differenzieren, nämlich in die Kategorien Leistung und Erfolg, Selbstverhältnis und Emotionsmanagement. Letztere Kategorie umfasst alle Deutungsmuster und Sinnbezüge, die sich auf emotionale Zustände als treibende Kraft beziehen. Hierbei kann differenziert werden zwischen emotionalen Zuständen, die 1) auf das Selbst, ein Wir oder andere verweisen („Wohlgefallen bei anderen hervorrufen“, „positive (Selbst-Ge‐ fühle“ evozieren, „Freude teilen“) und solchen, die 2) eher diffus und nicht direkt personenbezogenen oder transitiv sind („Spaß“, „Inspiration“ usw.). 6.1 Schlüsselkategorien 195 Abb. 32: Schlüsselkategorie Nutzungsinteressen nach Themen, eig. Darst. Das „ästhetische Empfinden“ wiederum, das im Rahmen spezieller Inszenie‐ rungspraktiken veräußert wird („Ästhetisierung“), wirkt auf die Nutzenden subjektivierend - eignet damit im Sinne Simmels (1996) also der Objektivie‐ rung des Selbst bzw. der Formung eines spezifischen Selbstverhältnisses („Selbstbewusstsein“). Und zuletzt finden sich zwei Komplexe, die beide eng miteinander verknüpft sind, aber auch mit der Kategorie „Leistung und Erfolg“. Der erste Komplex bezieht sich auf extrinsische Motive, genauer: auf am Maßstab des Erfolgs orientierte Ziele und auf die meist nüchternen und rationalen Mittel und Strategien zur Umsetzung dieser Ziele. Der zweite, kleinere und damit zusammenhängende Komplex fokussiert auf die publi‐ kumsorientierten Aspekte eines solchen Kalküls: so gaben manche Befragte an, die Interessen ihrer Follower zu eruieren, um ihre Beiträge zu optimieren und die Wahrscheinlichkeit zu steigern, dass diese ‘gefallen‘. Diese Art der Publikumsorientierung ist aber kein exklusiver Aspekt erfolgsorientierter Nutzungsinteressen und -praktiken, sondern steht auch in direktem Bezug zu emotionsbasierten Nutzungsinteressen. So kann der Wunsch, bei anderen Gefallen oder bei sich selbst positive Gefühle auszulösen, in stark klientel‐ bezogenen Beitragsstrategien gipfeln. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 196 6.1.4 Sinnwelt Die Schlüsselkategorie Sinnwelt umfasst alle Deutungsmuster und Sinnbe‐ züge, die auf die Eigenlogik und Prägekraft des Kommunikationsraums Instagram verweisen. Dabei spielen nicht zuletzt die Affordanzen und Nutzungssuggestionen eine Rolle, die von der Plattform ausgehen. Von besonderer Tragweite erweist sich insbesondere die Bildbasiertheit der Plattform. Viele Befragte beschreiben den Umstand, dass auf Instagram primär mit Bildern kommuniziert wird, als Attraktor und Alleinstellungs‐ merkmal gegenüber anderen sozialen Netzwerkseiten. Die Bildbasiertheit weist dabei einige Zusammenhänge mit plattformtypischen Kommunikati‐ onsweisen wie der phatischen Kommunikation auf. Diese selbstzweckhafte Kommunikationspraxis wird durch das eingängige und semantisch redu‐ zierte Zeichensystem der Bilder gefördert und unterstützt (mehr dazu in 6.2). Das gilt umso mehr für Praktiken der Ästhetisierung und der Idealisierung, die an Instagrams ‚corporate identity‘ und Aufruf, nur ‚positive‘ Inhalte zu kommunizieren, ausgerichtet sind. Man will „mal eben die Welt ganz kurz schön sein“ lassen, wie es der Befragte Janosch nennt. Die größere Wahr‐ nehmungsnähe von Bildern im Vergleich zum Text trägt wiederum dazu bei, dass den Bilderwelten aus der Sicht vieler Nutzender eine besondere emotionale Valenz und Evidenz zugesprochen wird. Nicht selten führen die Befragten ihre Strategien und Praktiken auch auf eine distinkte Plattformlogik zurück. Damit sind Handlungssuggestionen gemeint, die direkt von der Plattform ausgehen aber auch eingeschliffene Gruppendynamiken. Die Nutzenden geben an, sich durch die Plattform zu Selbstinszenierungen und bestätigender Kommunikation aufgerufen und legitimiert zu fühlen. Instagram ermöglicht und erlaubt ihnen, was auf an‐ deren Plattformen (z. B. Facebook) sozial diskreditiert ist oder kein Publikum finden würde. Für viele geht von Instagram auch der Anspruch aus, sich gezielt zu vernetzen, bestimmte Beziehungen zu pflegen oder einfach nur Follower zu ‚sammeln‘. In der Konsequenz entstehen für die Befragten auf Instagram neue Realitäten oder Sinnprovinzen sensu Schütz (2004) und nicht selten stellt sich dabei ein starkes Gemeinschafts- und Gruppengefühl ein. Instagram als kleine Lebenswelt weist darüber hinaus für einige Befragte ein immersives Potential auf, das zum Eskapismus einlädt. Die Befragten ‚verlieren‘ sich aber nicht nur in dieser Subsinnwelt, sie konstatieren auch nachhaltige Auswirkungen auf ihre primäre Lebenswelt, den Alltag. Diesen nehmen ei‐ 6.1 Schlüsselkategorien 197 nige bspw. vermehrt durch die ‚Brille‘ der Plattform wahr oder strukturieren bestimmte Aspekte ihres Alltags entlang der Anforderungen, die von der Plattform und den anderen Nutzenden ausgehen. Abb. 33: Schlüsselkategorie Sinnwelt, eig. Darst. Die Schlüsselkategorie Sinnwelt steht in enger Verbindung zur Schlüssel‐ kategorie Interaktionsregeln. Erstere umfasst Bezüge zu sinn- und gemein‐ schaftsstiftenden kollektiven Kodes und Praktiken, letztere Bezüge zur inneren Dynamik und Wechselseitigkeit sowie zu Normen und Verhaltens‐ protokollen auf Instagram. 6.1.5 Interaktionsregeln Die letzte Schlüsselkategorie Interaktionsregeln umfasst einen nur kleinen, aber dennoch gewichtigen Teil der Deutungsmuster und Sinnbezüge. Die hier versammelten Kategorien beziehen sich in erster Linie auf die kommu‐ nikativen Routinen, Regeln und Konventionen, welche die Befragten auf Instagram vorgefunden haben und welchen sie mal mehr, mal weniger folgen. Das Handeln der Befragten ist primär am Anspruch des harmonischen Miteinanders orientiert: Instagram wird als Plattform erfahren, auf der man einander höflich bis bewundernd begegnet und negative Reaktionen in der 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 198 Regel ausbleiben. Kritik ist entsprechend nur bedingt erwünscht und muss positiv gerahmt werden (z. B. als Bitte oder Wunsch). Abb. 34: Schlüsselkategorie Interaktionsregeln, eig. Darst. Ausgangspunkt hierfür ist das Prinzip der Reziprozität, welches sich in mehrerlei Formen Bahn bricht. Als Movens zeigt es sich bspw. in der Überzeugung, dass es auf Instagram ums ‚Geben und Nehmen‘ gehe - ganz gleich, ob es sich dabei um die abstrakte Möglichkeit geht, sich wechselseitig öffentlich zu präsentieren oder konkret um die Vergabe von Likes im ‚tit-for-tat‘-Verfahren. Die Ausrichtung an Reziprozität und einem harmonischen Miteinander führt weiterhin zu mehr oder weniger konsensualen Handlungsrichtlinien, d. h. einer Art Verhaltensetikette. So wird von vielen Befragten bspw. vorausgesetzt, dass enge Freunde und Freundinnen ihre Bildbeiträge wechselseitig liken. Andere betonen die Notwendigkeit, mit Likes sparsam umzugehen und sie nicht inflationär einzusetzen. Analog dazu verstehen manche Befragte den Kommentar als sehr persönliche Antwortoption und werten ihn als Ausdruck besonderer Wertschätzung. Kommentare, so wird geraten, sollten daher besonderen Nutzenden oder Beiträgen vorbehalten sein. Anders verhält es sich bei ‚strategischen Kommentaren‘, die anders inszeniert werden. Sie werden insbesondere dort eingesetzt, wo keine persönliche Bindung vorherrscht, man sich aber einen ‚Aufmerksamkeitsschub‘ verspricht. Wer Kommen‐ 6.1 Schlüsselkategorien 199 1 Die folgenden Interviews wurden nach dem Notationssystem TiQ transkribiert. Die Ausschnitte sind hier der besseren Lesbarkeit halber aber leicht geglättet dargestellt. Notationssymbole: / : Satzabbruch; [Wort]: unverständlich; […]: Auslassung im Transkript; (1.5): Pause in Sekunden; ((lacht)): Außersprachliches Ereignis; GROSSSCHRIFT: betontes Wort. tare auf welche Weise einsetzt, hängt wiederum stark von der eigenen Präferenz für öffentliche oder teil-öffentliche Kommunikation ab. Mit der Anerkennung solcher Do’s und Don’ts gehen Verhaltensweisen einher, die als klare Grenzüberschreitungen und Zumutungen betrachtet werden. Dies betrifft vor allem Kommentare, die als zu kritisch oder zu persönlich eingestuft werden. In der Konsequenz entsteht so eine Art des pseudo-intimen Austauschs auf Augenhöhe. Dass es sich hierbei um eine nicht immer perfekte Illusion handelt, scheint die meisten nicht zu stören - ganz im Gegenteil betonen einige Befragte die Freude daran, sich Stars, Vorbildern oder eigentlich fremden Personen nahe zu fühlen und einen, wenn auch selektiven, Einblick in ihren Alltag zu erhalten. 6.2 Nutzungsschemata 1 Die in Kap. 6.1 dargestellten Schlüsselkategorien bilden einen mehrdimen‐ sionalen Merkmalsraum, der die einzelnen Deutungsmuster und Sinnbezüge in ihren relationalen und kontextuellen Zusammenhängen abbildet. Inner‐ halb dieses Merkmalsraums finden sich für jeden Fall unterschiedliche Ausprägungen und Merkmalskombinationen. Um Ordnung in diese Hetero‐ genität zu bringen und Regelmäßigkeiten zwischen den Fällen aufzudecken, wurden die Fälle entlang der Schlüsselkategorien miteinander verglichen und semantisch zusammengehörige Deutungsmuster über die Einzelfälle hinweg zu Nutzungsschemata integriert. Insgesamt haben sich dabei drei Schemata ergeben, die eine ausreichend hohe interne Homogenität als auch eine hohe externe Heterogenität, d. h. Kontraststärke, aufweisen (vgl. Kelle & Kluge 2010). Die Schemata unterscheiden sich a) in der Art und Weise, wie Instagram praktisch angeeignet wird als auch b) in der Art und Weise, wie die Aktivitäten auf der Plattform gedeutet und sinnhaft eingeordnet werden. Es handelt sich um idealtypische Zusammenführun‐ gen und Verdichtungen semantisch ähnlicher Deutungsmuster. Es ist also durchaus möglich, dass sich Deutungsmuster aller drei Schemata in einem einzigen Fall wiederfinden. Die einzelnen Fälle weisen dabei in der Regel 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 200 zwar eine Tendenz für eines der drei Schemata auf, sind aber nicht exklusiv darauf festgelegt (weshalb sich einige Fälle in der Darstellung von zwei oder allen drei Schemata wiederfinden). Inwiefern sich die einzelnen Fälle durch ihre Nähe und Distanz zu den jeweiligen Schemata nutzungstypisch definieren lassen, wird in Kap. 7 ausführlich beschrieben. Die nachstehende Darstellung der Schemata erfolgt entlang der Schlüsselkategorien. Das Kapitel beschließend werden die Hauptcharakteristika der Schemata in einem Überblick zusammengefasst. 6.2.1 Nutzungsschema 1: Bestätigungssuche 6.2.1.1 Resonanz Hauptmerkmale: ▸ Aufmerksamkeit und Bestätigung durch Öffentlichkeit wird gesucht ▸ Aufwertung des eigenen Selbst ▸ Druck durch Vergleich, empfundene „Like-Sucht“ Zentraler Ankerpunkt dieses Schemas ist das Publikum, oder genauer: die Resonanz des Publikums. Im Vergleich mit den anderen beiden Schemata nimmt Resonanz bei der Bestätigungssuche den mit Abstand höchsten Stellenwert ein. Ein Befragter bringt dies auf folgenden allgemeinen Nenner: Janosch: Der Hauptgrund beim Posten ist auf jeden Fall die Anteil‐ nahme der Leute, die dir folgen. Der Befragte spricht hier dezidiert von Anteilnahme und nicht etwa von Likes. Er referiert damit auf einen persönlichen und emotionalen Effekt der Resonanz, nicht auf deren funktionale oder sachlich-materiale Bedeutung (z. B. mehr Reichweite, mehr Geld etc.). Ganz ähnlich drückt es ein anderer Befragter aus: Olaf: Ist mit auch son Punkt, warum ich Instagram eingerichtet hab. Ich mag es sehr, so nen positiven Rückmeldungen zu kriegen, auf Bilder von mir. 6.2 Nutzungsschemata 201 Der Befragte gibt an, insbesondere Rückmeldungen auf Bilder „von mir“ zu mögen. Damit können entweder Bilder gemeint sein, die von ihm gemacht (oder ausgewählt wurden) oder auf denen er selbst abgebildet ist. Dass diese Unterscheidung durchaus eine Rolle spielt, geht u. a. aus folgender Aussage hervor: Alea: Also ich fühle mich da schon sehr ich-bezogen und sehr/ Also (1.0) Also es ist ja schon so/ Also nen Like bei einem Selfie ist ja schon was Wichtigeres als bei einem anderen Bild, weißt du? Bilder, die sie selbst zeigen, bspw. Selfies, haben einen höheren Stellenwert als „andere Bilder“ für die Befragte. Mit der Priorisierung explizit selbstthe‐ matisierender (Bild-)Beiträge geht zudem ein erhöhter Grad an gefühlter ‚Ich-Bezogenheit‘ einher: man selbst steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht jemand oder etwas Anderes. Bei dem Befragten Jonas findet sich eine erhellende Spezifizierung dieser Unterscheidung: I: Und dieses positive Gefühl, beziehst du das eher durch Selfies oder ja, auch durch diese Lebensfreude-Bilder? Wie ist da der Anteil, was für Bilder du hochlädst? Jonas: Also ich würde schon sagen, bei beidem auf jeden Fall, aber tatsächlich schon ein bisschen mehr auf die Selfies, weil das halt, es ist halt/ ist man halt selber und wenn die Leute das liken, sagen sie halt dadurch am meisten aus, dass sie einen mögen oder hübsch finden oder was auch immer. Und ich würd sagen, das gibt einem dann schon noch ein bisschen besseres Gefühl als wenn ich jetzt zum Beispiel neue Schuhe von mir poste, die halt gar nicht von/ Was halt eigentlich nichts von mir zu tun hat, was nurn Artikel ist quasi. Der Befragte unterscheidet hier Selfies von „Lebensfreude“-Bildern. Letzteres sind Bilder, die nicht zwingend ihn selbst abbilden, sondern auf denen positiv konnotierte Ereignisse oder Dinge (hier z. B. schöne Schuhe) im Vordergrund stehen. Seiner Auffassung nach sind positive Rückmeldungen vor allem dann von Gewicht, wenn sie sich auf ein Bild beziehen, das ihn selbst zeigt. Genauer: Sie sind für sein Gefühl wichtig, d. h. auf einer emotionalen Ebene bedeutsam („bisschen besseres Gefühl“). 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 202 2 Mit dem ‚Belohnungssystem‘ wird auf körpereigene ‚Glückshormone‘ wie Dopamin angespielt. Dabei geht es nicht um die Frage, von wem die Likes stammen. Der Gefühlswert der Likes bemisst sich an der Anzahl der Likes: Im Schema der Bestätigungssuche ist ausschlaggebend, wie viele Likes ein Bild erhält und wie stark diese inhaltlich auf die eigene Person bezogen werden können. Resonanz wird dann in Bezug zum Selbstwertgefühl gesetzt - je mehr Likes, desto stärker der emotionale Respons. Eine Befragte verwendet die folgende, sehr anschauliche Metapher, um ihr Verhältnis zu den Likes zu beschreiben: Solange: Also Instagram ohne Likes, das wäre wie Cornflakes ohne Milch. Anders ausgedrückt: Ohne Likes wäre Instagram eine trockene Angelegen‐ heit, ohne Reiz und nicht lustvoll - eine wichtige Zutat würde fehlen. Mit einer Art Ernährungsmetapher verdeutlicht auch Janosch sein Verhältnis zu Likes: Janosch: Wenn ich bei Instagram was poste, dann erwarte ich auch irgendwie, dass so n Like dabei rum-rumkommt. Das is ja irgendwie, weiß nicht, man füttert ja irgendwie so seinen eigenen ((klopft sich auf den Schenkel)), sein eigenes Belohnungssystem so n bisschen. Du postest irgendwas und willst dich selbst damit belohnen. Der Befragte spricht hier nicht nur davon, sich bzw. sein „Belohnungssys‐ tem“ 2 zu „füttern“. Er erwähnt auch konkrete Resonanz-Erwartungen und den Wunsch, sich selbst zu belohnen. Er suggeriert damit, dass Likes sich nicht gänzlich der eigenen Kontrolle entziehen und aktiv durch das Posten von Beiträgen beeinflusst werden können. Es handelt sich beim Posten also um eine gezielte Nutzung, die positive Resonanz zum Ziel hat. Eine weitere Befragte expliziert diese Art der Nutzung: 6.2 Nutzungsschemata 203 3 Anerkennung ist die Bestätigung und Affirmation von Eigenschaften und Positionen (vgl. Honneth 2016). Sie kommt auch ohne die Erhöhung aus, die den Akt des Bewunderns auszeichnet. Ronda: Also es fühlt sich natürlich irgendwo gut an, wenn man viele Gefällt-Mir kriegt für das, was du machst. Und irgendwelche positiven Kommentare dalassen, dass du toll aussiehst oder so, das ist natürlich fürs Ego immer angenehm. Und das sage ich auch ganz ehrlich. Und mir fällt das auch persönlich auf, dass ich zum Beispiel, äh ja, wenn ich zum Beispiel diese Bestätigung von meinem Partner oder so nicht so viel kriege oder so ((lacht)), dann mach ich, dann poste ich schneller mal wieder n Foto, um irgendwie son bisschen dieses Gefühl zu kriegen. Eindeutig, das ist - ja, Bestätigung. Die Befragte gibt hier an, Beiträge mit Blick auf ihren aktuellen emotionalen Zustand zu posten und diesen dadurch zu beeinflussen. Explizit erwähnt sie dabei ihr „Ego“: Die Likes, die sie auf Instagram erhält, bestätigen nicht nur irgendeinen Teilaspekt ihrer selbst - sie stellen vielmehr eine Bestätigung des ganzen Selbst dar. Diese Bestätigung zeigt sich als besonderes Gefühl („dieses Gefühl“). Die Befragte Erin beschreibt weiter, zu welchen Höhen sich „dieses Gefühl“ aufschaukeln (lassen) kann: Erin: Ehm ne, also das Geld spornt mich auf jeden Fall nicht an. […] Es geht mir halt einfach darum, dass die Menschen halt quasi mit mir mein eigenes Leben teilen wollen und sich darüber freuen, das zu sehen, und ja, und mich auch auf irgend ne Art und Weise halt bewundern. Erin grenzt sich hier dezidiert ab von materiellen Motiven. Ihr Anliegen ist ein emotionales - die Bestätigung, nach der sie sucht, ist nicht bloße Anerkennung 3 , sondern „Bewunderung“. Folgt man der Definition des Duden, möchte sie als „außergewöhnlich betrachte[t]“ (Duden 2019a) wer‐ den, Staunen auslösen und Hochachtung hervorrufen. Die Suche nach einer besonderen Form von Bestätigung wird auch im folgenden Zitat zum Ausdruck gebracht: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 204 Nele: Instagram ist so ne Plattform, ich hab so das Gefühl man bekommt die Bestätigungen, die man sonst im realen Leben irgendwie nicht bekommt, EINFACHER, indem man demjenigen ein Like zusteckt oder so. Für die Befragte gehen Bestätigungen auf Instagram gefühlt über alltägliche Formen der Anerkennung hinaus. Es handelt sich zwar nicht um plattfor‐ mexklusive Formen der Bestätigung, aber um solche, die im Alltag seltener vorkommen und rarer sind. Im Schema der Bestätigungssuche steht das Selbst im Zentrum eines Spiels um Anerkennung - ein Spiel mit einer nach oben hin (scheinbar) offenen Skala, in das die Beteiligten emotional stark involviert sind. Die Teilnahme an diesem Spiel erweist sich für einige Befragte als entsprechend riskant, wie die folgenden beiden Aussagen illustrieren: Sebastian: Naja, ich finde erstmal ist man so ein bisschen angreifbar. Also wenn jeder immer sofort alles von dir weiß, dann kann man dich halt auch ziemlich einfach manipulieren, vielleicht. Miranda: Also man würde jetzt niemals ein hässliches Bild von einem hochladen sag ich jetzt mal, ne. Ja, also es ist ja jetzt schon wichtig, wenn man schon ein Bild von sich hochlädt, dass man vernünftig aussieht und nicht andere Leute, also mir zumindest, irgendwie Angriffspunkte haben, um einen schlecht zu reden. So nach dem Motto: „Oh, die hat aber eine große Nase“ oder ((lacht)). Beide Befragte verwenden die Metapher des Angreifens, was hier natürlich nicht im physischen, sondern im übertragenen Sinne gemeint ist. Während Sebastian die Gefahr sieht, durch die Preisgabe von Informationen manipu‐ liert zu werden, verortet Miranda die Gefahr im Bereich des facework - es ist das eigene face (bzw. Image vgl. Goffman 1973), das auf dem Spiel steht und welches man preisgibt in der Hoffnung auf Bestätigung. In dem Moment, in dem man sich aktiv beteiligt, entsteht im Schema der Bestätigungssuche ein Kampf um die Deutungshoheit des eigenen Images. Dieser wird aber nicht offensiv und explizit ausgetragen, sondern implizit und oft sogar nur 6.2 Nutzungsschemata 205 im eigenen Kopf geführt. Dort werden Auslegungen und Anfechtungen des eigenen Images vorweggenommen: Anne: Bei mir (2) wäre es glaub ich dann auch so, dass ich, dass ich diesen Außenblick so immer mitdenke. Und dann denk ich so: „Oh Gott, was denken die Leute, wenn die das jetzt sehen“. Der imaginierte und antizipierte Blick der Anderen oder „Außenblick“, wie es Anne nennt, ist omnipräsent und (beg-)leitet die Handlungen im Schema der Bestätigungssuche. Es ist aber nicht nur der Außenblick, vor dem die Befragten gefühlt zu bestehen haben: Ronja: Ich glaub, dadurch dass es halt auch Leute gibt, obwohl die mir auch nicht wichtig sind, aber es ist schon auch so n täglich, so ja son Beweisen. Also ich mein du hast vorhin gesagt, irgendwie, dann guckt man so Profile an und man denkt sich immer, was denken die über einen so, aber auf der anderen Seite, wenn ich so n Profil sehe und so denk: „Woah, was für ne coole Person, voll geile Fotos, voll geile Beiträge“, dann find ich die voll cool und ich will, dass das bei mir halt auch so is, [glaub] ich. Ronja spricht hier davon, sich ‚täglich beweisen‘ zu müssen. Das Gegenüber, vor dem man sich zu beweisen hat, ist dabei ein doppeltes: sowohl vor dem Blick der Anderen als auch vor dem eigenen Blick möchte man bestehen, beiden möchte man gerecht werden. Der potentiell verurteilende (face-threatening) Blick der Anderen als auch der eigene begehrende Blick konfrontieren die Befragten mit diffusen Ansprüchen und Handlungsauffor‐ derungen. Nicht selten verschwimmen Fremd- und Selbstansprüche dabei, wie das folgende Zitat zeigt: Katja: Nochmal zu diesem Rausfiltern und so. Das geht mir auch bei Instagram so irgendwie. Ich mach voll/ Ich fotografier mich ständig selber, wenn mir irgendwie langweilig is oder so und voll oft hab ich so das Gefühl, das würd ich jetzt gern posten, weil ich irgendwie denk, das isn gutes Bild oder so. Ich würd es [gern] hochladen und check 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 206 dann aber mein Instagram und sehe: Okay, ich hab schon zu viele Fotos von mir gepostet und will nicht, dass das so aussieht als wär ich voll selbstverliebt. Katja spricht hier von einem bestimmten Bild, das sie nach außen trans‐ portieren möchte bzw. umgekehrt von einem bestimmten Bild, das sie eben nicht vermitteln möchte. Hier ist der antizipierte Blick der Anderen, die mögliche Interpretation des Images, bereits zum eigenen Darstellungs‐ wunsch geronnen. Noch etwas komplexer stellen sich die folgenden Refle‐ xionen dar: I: Okay. Und wann entscheidest du, dass du jetzt auf einmal wieder n Foto rausnimmst […]? Ronda: […] Das war, als ich dann so meinen eigenen Stil entwickelt habe quasi. Da passten dann meine allerersten Fotos da nicht richtig zu oder wie auch immer, so die ersten Posts, die ich damals gemacht habe […]. Obwohl ich, glaub ich, persönlich fast gesagt hätte, ich hätte sowas dringelassen, aber da ist mir dann doch auch die Meinung anderer viel Wert und die würden sich wahrscheinlich wundern, wenn sie mein Profil angucken und da sind dann immer noch Bilder irgendwie mit dem Freund von vor fünf Jahren oder sowas drin. Obwohls meiner Meinung nach eigentlich n Teil meines Lebens ist. Ronda differenziert hier zweierlei Entscheidungsfaktoren: die Meinung der anderen und ihr persönliches Empfinden. Beide Ansprüche werden abge‐ wogen und der „eigene Stil“ entsteht letztlich aus einem Kompromiss daraus. Die Meinung der Anderen erhält, wie in der zitierten Textpassage, aber meist mehr Gewicht. Welche Auswirkungen hat diese starke Orientierung am Blick der Anderen? Tatsächlich ist sie für einige der Befragten durchaus mit negativen Gefühlen verbunden. Die Befragten geben in erster Linie an, Sorge zu haben, ignoriert zu werden, wie auch die Befragte in der folgenden Passage: Kiki: Und, ich würde nicht sagen, dass es sehr stark ist, also, dass wenn die mir jetzt/ keiner auf meine Instagramstory reagieren würde, dass ich 6.2 Nutzungsschemata 207 dann traurig wäre oder dass sich das negativ auf mein Selbstbewusstsein (1) ausüben würde. Aber es wäre trotzdem irgendwie n komisches Gefühl. Also man würde sich schon fragen, auch wenn's (1) unbewusst ist, wieso antwortet mir keiner oder warum reagiert da keiner drauf. Weil man schon denkt, man weiß ja/ Man sieht ja auch, dass die Leute das lesen und sich das anschauen und daran merkt man erst: interessieren sich die Leute dafür oder interessieren sie sich nicht dafür. Mit explizit negativer Resonanz müssen sich die Befragten selten bis gar nicht auseinandersetzen - und so ist es nicht so sehr konkrete Kritik als vielmehr das Ausbleiben von Aufmerksamkeit bzw. Interesse für das eigene Profil, das als Zurückweisung und Abwertung verstanden wird. Die Befragte gibt an, zu wissen, „dass die Leute das lesen“ und wertet daher ausbleibende Reaktionen als bewusste kommunikative Handlung, stärker noch: als implizites Statement und Kommentar zu ihren Beiträgen, Inhalten und letztlich auch zu ihrer Person. Jonas beschreibt seine Gedanken und Gefühle angesichts fehlender Resonanz in der folgenden Passage etwas genauer: I: Und wenn du jetzt dein Instagram öffnest und du siehst oh, da sind ein, zwei Follower weg, trifft dich das dann? Jonas: Ähm. Ja also es ist halt auch ähnlich wie bei der schlechten RESONANZ auf die Bilder. Es gibt einem halt echt irgendwie schon irgendwie ein ungutes Gefühl und man hinterfragt woran das liegen könnte. Und gelegentlich entstehen dadurch dann halt irgendwie auch Selbstzweifel, weil man halt, weil man halt dann davon ausgeht, dass die Leute, dass man die Leute nervt oder im schlimmsten Fall halt, dass die einen nicht mehr MÖGEN so, aus was für Gründen auch IMMER, und das kann einen dann natürlich auch runterziehen. Der Befragte verweist auf starke Zusammenhänge zwischen dem eigenen Selbstbild und der Aufmerksamkeit, die er erhält. Sinkt diese oder ist geringer als erwartet, wertet er dies als Ausdruck sinkender oder geringer Zuneigung und Anerkennung seitens seiner Mitmenschen. Dies hat zur Folge, dass er sich selbst als Person - und nicht nur seinen Account, seine Fähigkeiten oder andere Teilaspekte - in Frage stellt und in einen negativen 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 208 emotionalen Zustand verfällt - es „zieht“ ihn runter“. Interessant ist nun, wie er darauf reagiert: Jonas: Ja, es gibt einem halt schon irgendwie ein schlechtes Gefühl. Also man fühlt sich ein bisschen schlecht und man hinterfragt dann halt auch woran das jetzt liegen könnte so. Und wie gesagt, dann löscht man halt auch manchmal n Bild. Obwohl das eigentlich wahrscheinlich gar nicht nötig wäre. Aber man fühlt sich einfach nicht so wohl, wenn die Bilder nicht so gut ankommen wie man eigentlich erwarten würde. Und ähm, wobei man dadurch jetzt auch nicht unbedingt demotiviert wird, dann weniger zu posten. Man will eigentlich das, direkt so das nächste Bild posten, ums quasi wett zu machen irgendwie, um das auszubaden. Jonas beschreibt hier, wie er auf den Entzug von Aufmerksamkeit nicht mit Rückzug, sondern mit gesteigerter Aktivität reagiert - oder zumindest einen erhöhten Antrieb feststellt. Die Aussage deutet bereits darauf hin, dass im Schema der Bestätigungssuche davon ausgegangen wird, dass sich die Reaktionen des Publikums zumindest in Teilen durch eigenes Zutun beeinflussen lassen. Interessant an den vorangehenden Passagen sind zusätzlich zwei inhalt‐ liche und formale Auffälligkeiten, die sich verdichtet in folgender Aussage wiederfinden: Solange: Also man hat immer das Gefühl, okay, komm ich an oder komm ich nicht an. Da hat man keinen Einfluss drauf, das ist einfach dieses typische Unterbewusstsein, das da mitreinwirkt. Das einem irgendwie immer das Gefühl geben MUSS, dass ja (0.5) es gut läuft oder halt eben nicht. Zuerst einmal ist in allen der vier letzten Zitate die Rede von mal mehr, mal weniger diffusen negativen Gefühlen. Solange und Kiki sprechen gar von unterbewussten Gefühlen, die sich automatisch einstellen. Sie beschreiben damit eine emotionale Verflechtung und ‚Verschaltung‘ mit den Vorgängen auf der Interaktionsplattform, sozusagen eingeschliffene leibliche Routinen: Der Leib bewertet die kommunikativen Entwicklungen auf Instagram und reagiert auf sie, noch bevor die Betroffenen es reflektieren können. Dieses 6.2 Nutzungsschemata 209 Deutungsmuster geht mit einer sprachlichen Auffälligkeit einher, der gene‐ rischen Verwendung der dritten Person Singular. Die Befragten sprechen eindeutig von sich selbst, substituieren das spezifische Personalpronomen Ich aber durch das allgemeinere Man. Dadurch distanzieren sie sich vom Gesagten, indem sie es als allgemeines Phänomen rahmen, sprich: Sie geben zu verstehen, dass sie nur eine bzw. einer von vielen sind, auf die das Gesagte zutrifft. Dies lässt die Vermutung zu, dass die verhandelten Inhalte für die Beteiligten schambehaftet sind und von ihnen als sozial unerwünscht interpretiert werden. Ihnen scheinen die Gefühle, die sie in Bezug auf Instagram empfinden und in der Interviewsituation äußern, als unange‐ bracht. Sie deuten eine ungewollte emotionale Abhängigkeit von Instagram an, die sie weder kontrollieren noch ignorieren können. Das ‚schlechte Gefühl‘ bei ausbleibender Resonanz findet dabei seine Entsprechung im guten bzw. ‚positiven Gefühl‘ bei ausreichender Resonanz. Auch dieses entfaltet sich relativ autonom und entzieht sich aus Sicht der Befragten einer direkten Kontrolle, so dass einige gar von Sucht sprechen oder suchtähnliche Symptome äußern, wie der Befragte in der folgenden Passage: Jonas: Man freut sich natürlich. Das gibt einem halt schon ein sehr positives GEFÜHL, weil die Leute damit halt ausdrücken, dass einem gefällt, was man postet, was man so macht oder sie einen einfach MÖGEN. Und das ist halt irgendwie wie so ne Bestätigung für einen selbst. So wie man sich darstellt und wie es halt ankommt und dann fühlt man sich halt motiviert auch noch mehr hochzuladen, weil man halt irgendwie auch dieses Gefühl nicht verlieren will, würd ich sagen. Und ähm, deswegen post ich jetzt mittlerweile auch echt mehr als am Anfang, weil man echt dieses/ So wie so ne kleine Sucht. Man will halt dieses positive Gefühl nicht verlieren. Der Befragte umschreibt seine ‚Sucht‘ als den Wunsch, das ‚positive Gefühl‘, das mit den Bestätigungen einhergeht, nicht verlieren und aufrechterhalten zu wollen. Zu diesem Zweck postet er immer mehr Bilder. Jonas spricht allerdings nur davon, die Upload-Rate zu steigern - das positive Gefühl will er lediglich „nicht verlieren“. Das erinnert an gängige Muster der Drogenabhängigkeit, wobei immer mehr von einer Substanz benötigt wird, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Andere Befragte, wie etwa Dennis, 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 210 umschreiben den Effekt von Likes und Followern etwas weniger drastisch und insgesamt positiver: Dennis: Ich fand es einfach wieder n Ansporn. Hab dann halt direkt das nächste Foto gepostet ((lacht)). Und ähm, ja, darauf kam halt auch ne gute Antwort und irgendwie, das pusht. Also mich hat das mega gepusht einfach weiterzumachen. Und ähm (2) Ja, mich freuts sowas anderen Leuten, ja, so, so von anderen Leuten sowas zu hören. Was der Befragte hier beschreibt, ist eine geschlossene Feedbackschleife: Das Bildhandeln ruft Reaktionen des Publikums hervor, die wiederum ein positives Gefühl im Akteur evozieren, welches wiederum erneute, ähnliche Bildhandlungen motiviert usf. Im Gegensatz zu Jonas fehlt in Dennis‘ Umschreibung das obsessive Moment. Er rahmt es vielmehr als lustvolle Praxis - ganz ähnlich wie Janosch, der weiter oben davon sprach, sein ‚Be‐ lohnungssystem zu füttern‘. Wenngleich bei letzterem der eigenen Person mehr Handlungsmacht zugestanden wird, handelt es sich in beiden Fällen um Beschreibungen einer bewusst herbeigeführten positiven Veränderung des emotionalen Zustands. Die riskanten Selbstdarstellungen, die potentiell gesichtsbedrohenden Reaktionen und die Gefahr obsessiven Verhaltens sind aber nur die eine Seite der Medaille. Im Schema der Bestätigungssuche dominieren Deutungs‐ muster, in deren Zentrum die nachhaltige Stärkung des Selbstbewusstseins steht. Während es sich bei den positiven Gefühlen, die mit Likes u. ä. verbunden werden, um aktuale, temporäre Zustände handelt, wird mit dem Selbstbewusstsein eine dauerhafte emotionale Disposition angestrebt. Die positiven emotionalen Schübe helfen aus Sicht der Befragten dabei, das Selbstbewusstsein zu stabilisieren. Eher zaghaft drückt das Selena in einer Art Mini-Konversionsgeschichte aus: Selena: Ja also das beeinflusst einen schon so auch in dem realen Leben quasi. Aber das Instagram hat mir auf jeden Fall super geholfen so. Ich war mega so (1) einer der schüchternsten Menschen, glaub ich, auf der Welt. Aber, mhm, dadurch hat man/ dass auch irgendwie alles in einer anderen Welt stattfindet, aber irgendwie hat man dadurch ein bisschen mehr Selbstbewusstsein bekommen und weil man irgendwie 6.2 Nutzungsschemata 211 denkt, so verkehrt kann man irgendwie nicht sein, (1) weil Leute dich doch irgendwie ganz gut finden und das hilft dann eigentlich schon so ein bisschen so für fürs Selbstbewusstsein und ja. Die Befragte schildert hier das Einsetzen eines Aha-Erlebnisses und der Einsicht, dass sie „so verkehrt […] irgendwie nicht“ ist, welches sie vor allem auf die positive Resonanz zurückführt, die sie auf ihre Beiträge erfuhr („weil Leute dich doch irgendwie ganz gut finden“). Dies hatte für sie zur Konsequenz, dass sie ihre Schüchternheit abbauen konnte und mehr Selbstbewusstsein gewann - anders ausgedrückt: Selena gibt hier an, sich, vermittelt durch den Blick der Anderen, in einem positiveren Licht zu sehen. Eine andere Befragte erklärt genauer, warum die Resonanzen auf Instagram eine solche starke Wirkung auf sie bzw. ihr Selbstbewusstsein haben: Alexa: Als ich 19 war und dass das wie so n/ Dass ich mir irgendwie mehr Selbstbewusstsein dadurch holen wollte, also durch die Selbstdar‐ stellung mit 19 halt, dass ich da irgendwie mehr die Bestätigung von fremden Leuten halt einholen wollte. Weil das ja nochmal was anderes is, ob persö/ Also, ob Freunde zu dir sagen: „Is ok, das sieht jetzt gut aus, so kannste halt rausgehen“ oder eben irgendwelche fremden Leute, weil die ja schon ehrlicher sind. Die Befragte - bzw. ihr 19-jähriges Alter Ego - hält fremde Personen gegenüber den eigenen Freunden für ehrlicher. Daher gewichtet sie die Meinung fremder Personen auch entsprechend stärker. Das unterscheidet u. a. das Schema der Bestätigungssuche von dem der Beziehungspflege, wie später noch zu sehen sein wird. Instagram stellt für die Befragte einen Ort dar, an dem sie, durch den Kontakt mit einer großen Anzahl fremder Meinungen, Feedback von höherer Valenz erhält. Entsprechend sind positive Resonanzen hier mehr wert als diejenigen, die sie bspw. im Alltag von Freunden erhält, und wirken sich gefühlt nachhaltiger auf ihr Selbstbewusstsein aus. Einen weiteren Aspekt, der mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins in Verbindung steht, erwähnt die folgende Befragte: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 212 Kiki: Also du hast wirklich den Zugriff auf die ganze Welt und ähm und das stärkt dich auchn bisschen in dem, in deinem Selbstbewusstsein, weil du halt eben merkst, okay ich kann das auch. Also das, was jemand fünftausend Kilometer von hier macht. Nicht nur anhand der Publikumsresonanz, sondern auch durch den Ver‐ gleich mit anderen Nutzenden innerhalb ihres Netzwerks zieht Kiki Rück‐ schlüsse auf ihre eigenen Fähigkeiten und ihren (Selbst-)Wert und erfährt sich als gleichwertig. Wie wichtig Vergleich und Integration im Rahmen eines Netzwerks bzw. einer Community sind, wird in der folgenden Passage noch ein wenig deutlicher: Kiki: Also dadurch, dass ich so viel die Chance habe andere Leute kennenzulernen und zu sehen, was sie machen, hab ich einfach viel mehr das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein als irgendwie nur ich in meiner Kleinstadt zu sein so. Mhm, also genau, man fühlt sich einfach größer als man wahrscheinlich ist, aber es tut halt einem/ dem Selbstwertgefühl gut. Für Kiki ist es nicht nur die Resonanz auf ihre Bilder, sondern insbesondere auch der Austausch mit anderen, der dazu führt, dass sie sich „einfach größer“ fühlt. Das hier konstatierte Gefühl der Größe erinnert an den von Erin geäußerten Wunsch, „bewundert“ zu werden. Es geht also nicht einfach darum, sich eines bestehenden Status‘ rückzuversichern, sondern ‚aufzusteigen‘ und das eigene Image zu optimieren. Dieser Ambitionen ma‐ nifestieren sich in der medialen Figur des micro-celebrity. Hierbei handelt es sich (vgl. Kap. 3.3.4) um eine Form von Prominenz, die über den begrenzten Rahmen bestimmter Plattformen und Sozialer Netzwerke nicht hinausgeht. Im Rahmen der jeweiligen Communities ist es den Nutzenden möglich, sich (teil-)öffentlich zu exponieren und dafür Aufmerksamkeit zu erhalten, die der Form, aber nicht der Reichweite nach massenmedialer Berühmtheit gleicht. 6.2 Nutzungsschemata 213 Das Resonanz-Begehren im Schema der Bestätigungssuche wird in erster Linie vom Gefühl der Grandeur angetrieben. Dieses Gefühl setzt eine steigerbare Form von Anerkennung voraus, die nur von (teil-)öf‐ fentlichen Publika ausgehen kann. Das Selbstwertgefühl im Schema der Bestätigungssuche ist dabei an die Zahl der Likes geknüpft. Die starke Verbindung des Selbstwertgefühls mit der Likeanzahl führt bei manchen Befragten zu einer gefühlten Abhängigkeit von Likes, die sie belastet. Likes werden im Schema der Bestätigungssuche aber auch positiv als Anreiz verstanden und als Mittel betrachtet, mit dem positiv auf den eigenen Gefühlshaushalt eingewirkt werden kann. So werden Likes von einigen Befragten gezielt zur Steigerung des Selbstbewusstseins eingesetzt. Das Resonanzbegehren im Schema der Bestätigungssuche ist ein eindeutig quantitativ ausgerichtet: Je mehr desto besser. Follower und Kommentare spielen eine kleinere Rolle. Kommentare werden zwar als persönlicher eingestuft, sind aber seltener und nicht im gleichen Maße quantifizierbar. Followerzahlen hingegen lassen sich nicht so regelmäßig steigern wie Likes und sind nicht ‚erneuerbar‘. Das Like-Begehren im Schema der Bestätigungs‐ suche darf aber nicht mit Zahlenfetischismus verwechselt werden: Die Likes entfalten ihre Wirkung nur, weil sich für die Befragten darin Anerkennung und Zuneigung ausdrücken. 6.2.1.2 Arbeit am Selbst Hauptmerkmale: ▸ Dient der Profilierung und Ich-Erprobung, hohe Selbstreflexivität. ▸ Authentizität und Idealisierung bestehen als widersprüchliche An‐ sprüche und müssen austariert werden ▸ Starke Identifikation mit dem eigenen Profil, Instagram als Möglich‐ keit, das Selbst / den Horizont zu erweitern Resonanz setzt voraus, dass es Beiträge gibt, auf welche das Publikum überhaupt erst reagieren kann. Es wurde bereits gezeigt, dass auf Instagram Selbstdarstellungen die Bildinhalte dominieren. Die Nutzenden sehen sich so zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, wie sie sich selbst auf Instagram darstellen möchten. Dabei ist ihnen durchaus klar, dass es sich beim Zeigen 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 214 von Bildern nicht um eine neutrale Handlung handelt und sie mit ihrer Bildauswahl etwas über sich selbst aussagen. Sie transportieren ein Image bzw. Selbstbild: Kiki: Ich finde man sollte sich schon denken, dass Instagram sehr viel aussagt über die Person. Also, dass ich schon darauf achten sollte, was ich poste, weil (1) Leute bewerten schon wie dein Instagram aussieht und was du so postest. Das Profil sage „sehr viel“ aus über jemanden, so die Überzeugung der Befragten hier, und würde Wertungen der anderen Nutzenden nach sich ziehen. Die Nutzenden thematisieren sich, wie hier exemplarisch zum Ausdruck kommt, im Bewusstsein, dass jedes Bild eine Selbstaussage trägt und vom Publikum auch als solche gelesen wird. Dieser Umstand erscheint ihnen nicht als Zumutung, sondern vielmehr als Möglichkeit, sich auf Instagram im wahrsten Sinne des Wortes zu profilieren. Felix elaboriert diese Haltung wie folgt: Felix: JA, also das würde ich auf jeden Fall sagen, dass mir das schon relativ wichtig ist, dass es für MICH sage ich mal SERIÖS ist und dass es auf jeden Fall auch für meine Follower/ dass die sehen so was (0.5) was ich, sag ich mal, für eine Art Mensch bin und das auch in den Bildern halt ausdrückt. Folgt man dem Befragten, so eröffnet Instagram ihm Möglichkeiten, den Anderen - in diesem Fall seinen Followern - zu zeigen, was für eine „Art Mensch“ er ist. Damit geht aber auch der Anspruch einher, mit den Bildern möglichst akkurat „auszudrücken“, wie er ist bzw. gesehen werden will. Dazu wird die ganze Bandbreite der Kommunikationsmöglichkeiten genutzt - so setzt Felix auch Hashtags ein, um seine Gefühle zu verdeutlichen: I: Und möchtest du mit den Hashtags was ERREICHEN oder haben die Hashtags bei dir die Funktion, dass sie deine Fotos einfach nochmal näher beschreiben? 6.2 Nutzungsschemata 215 Felix: Genau. Also sie BESCHREIBEN eher näher meine Fotos. Vor allem auch praktisch. Also ich/ Die Hashtags beinhalten meistens entweder etwas, was darauf auf dem Foto zu SEHEN ist oder aber auch, ja, was man vielleicht auch für Gefühle dabei empfindet, bei diesem empfunden hat, bei diesem Bild, als man das vielleicht geschossen hat. Der Befragte beschreibt hier die durchaus gängige Praxis, sich über Hashtags emotional zum Bild zu positionieren. Diese Praxis stellt eine Profilierungs‐ form dar, bei der das Ich über seine Gefühle und den Gefühlsausdruck definiert wird. Instagram ermöglicht den Befragten so auch die Darstellung spezifischer Facetten und Nuancen ihres Selbst. Kiki schätzt die Selbstdars‐ tellungspotentiale von Instagram in der folgenden Passage sogar noch etwas höher ein: Kiki: Also es ist ne Art von Kommunikation. Und du kannst wirklich Seiten von dir zeigen, wo äh, die du im realen Leben wirklich nicht zeigen könntest. Die Befragte gibt hier an, auf Instagram mit alternativen Seiten oder Aspekten des eigenen Ichs spielen und diese explorieren zu können. Insofern stellt Instagram nicht nur eine Erweiterung ihres Handlungs- und Erfah‐ rungsspielraums dar, sondern auch einen Ort der Selbstermächtigung - was andernorts nicht möglich war, wird hier plötzlich möglich. Die Befragte Ariana erläutert und konkretisiert diese Sichtweise wie folgt: Ariana: Besonders auch, glaube ich, Menschen, die vielleicht im priva‐ ten Leben unglaublich schüchtern sind, die können darauf LOSschrei‐ ben, sich öffnen. Klar sie reden nicht direkt mit jemandem, aber sie teilen sich trotzdem irgendwie mit und besonders für die ist es, glaube ich, auch ne Form sich ja auszudrücken. Für die Befragte stellt Instagram eine niedrigschwellige Möglichkeit zum Selbstausdruck sowie zur Kontaktaufnahme mit anderen dar. Ariana nennt als Beispiel dezidiert „schüchterne Menschen“, also Menschen mit Proble‐ men im Bereich der sozialen Interaktion. Menschen, die sich im nicht-digita‐ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 216 len Alltag damit schwer tun, biete die Plattform Instagram einen alternativen Kommunikationsraum, der es einfacher mache, sich Anderen zu ‚öffnen‘. Sie führt dies implizit auf den Zeichenmodus des Bildes zurück, der es erlaube, sich anderen auch ohne Worte („klar sie reden nicht direkt“) in Bildern mitzuteilen („auch ne Form sich auszudrücken“). Die Befragte Ronda sieht den Mehrwert der Selbstexpression auf Instagram vor allem in den besseren Möglichkeiten zur Stilisierung: Ronda: Und dann habe ich angefangen irgendwie so meinen eigenen Stil zu entwickeln quasi. Also ich hab versucht so authentisch wie möglich rüberzukommen und auch wirklich so, ja wirklich so wie ich bin. […] Ich versuch da schon son, ja, son ähnlichen Stil dann zu halten. Profilierung bedeutet für Ronda Selbststilisierung und Authentifizierung. Besonders interessant ist an dieser Aussage die veranschlagte Kausalität: Authentisch zu sein bedeutet für die Befragte nicht, auf einen bereits exis‐ tenten eigenen Stil zurückzugreifen, sondern diesen zu entwickeln: In der Findung und später der Haltung des eigenen Stils manifestiert sich für Ronda Authentizität. Schon hier zeigt sich, dass im Schema der Bestätigungssuche die eigenen Profile nicht als reines Mittel zur Selbstvermarktung betrachtet werden, die mit der eigenen Person wenig bis nichts zu tun haben (wie im Schema der Erfolgsorientierung). Sie sind Teil des eigenen Selbstbilds, wie es die folgende Befragte besonders deutlich zum Ausdruck bringt: Solange: Wenn ich jetzt EIN Like aufn Bild kriegen würde, habe ich jetzt noch nicht so, aber das sieht nicht schön aus, ne? Also ((lacht)) die Leute, die dann in meiner Timeline scrollen und sich denken: Wow, das Bild ist echt hässlich. Dann will ich das da auch nicht stehen haben. Also irgendwo repräsentiert mich diese Seite auch und dann möchte ich da nicht mit einem Like stehen. Solange fühlt sich durch ihr Profil repräsentier und identifiziert sich damit - hat das Publikum eine schlechte Meinung von ihrem Profil, hat es auch eine schlechte Meinung von ihr. Und jeder Like ist Teil eines Selbstbilds, das über die mediale Darstellung in den Alltag hinausreicht. Wie stark die 6.2 Nutzungsschemata 217 Identifikation im Schema der Bestätigungssuche ist, verdeutlicht folgende Aussage: Kiki: Wobei ich mir auch nicht sicher bin, ob nicht diese Person, die sie online sind vielleicht doch ihre wahre Person ist. Also ich geh nicht immer davon aus, dass Leute, wenn sie offline schüchtern sind, eigentlich auch wirklich schüchtern sind. Also es kann ja wirklich sein, dass diese Online-Plattform ihnen die Möglichkeit gibt, wirklich die Person zu sein, die sie eigentlich sein wollen. Und obs dann gut oder schlecht ist, ja, weiß ich nicht aber. Die Befragte insinuiert hie, dass Nutzende dank Instagram die Möglichkeit erhalten, die „Person zu sein, die sie eigentlich sein wollen“. In dieser Lesart gerät das Ich auf Instagram sogar zur authentischeren Variante des Selbst, da Hürden und Hemmungen wegfallen, die im Alltag das Ausleben der „wahren Person“ verhindern. Es zeigt sich deutlich: Im Schema der Bestätigungssuche ist das Profil nicht einfach nur eine Spielerei oder technische Notwendigkeit, es ist Teil des Selbstbildes und wird entsprechend gepflegt. Die Arbeit am Instagram-Profil stellt im Schema der Bestätigungssuche eine Art Selbstfin‐ dungspraxis dar. So gaben manche Befragte auch an, mittels Instagram ihren Horizont zu erweitern, zu lernen und sich selbst weiterzuentwickeln: Kiki: Ja es ist einfach so, es geht nicht mal wirklich aktiv darum mein eigenes Leben zu teilen und mich in den Vordergrund zu stellen und ich, ich, ich, sondern es ist eher einfach so, dass ich (1) von anderen Leuten lerne. Kiki gibt an, dass nicht die Selbstthematisierung für sie im Vordergrund steht, sondern der Aspekt des Lernens im Austausch mit anderen. Kiki hatte an anderer Stelle bereits darauf verwiesen, dass sich ihr Selbstbewusstsein durch den Austausch auf Instagram vergrößerte. Beim Lernen geht es verglichen damit weniger um Einstellungen zum Selbst als vielmehr um neues Wissen, Kompetenzen und Fähigkeiten. Die Befragte Lena erläutert das am Beispiel des Essens: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 218 Lena: Mhm, also das mit dem ESSEN, finde ich, hat sich bei mir extrem entwickelt dadurch. Also ich habe da NIE vor drei Jahren, wo ich damit angefangen habe/ Klar, ich habe mich immer irgendwo ernährt so dass ich denke das passt. Aber ich würde sagen, dass ich dadurch, durch Instagram, sehr, sehr viel Neues, also MEHR, eigentlich neunzig Prozent mehr Neues, gelernt habe, Rezepte ausprobiert habe, mich damit beschäftigt habe, was ich esse, was ich zu mir nehme, wie ich meine Ziele erreiche damit, mit einer Ernährung. Für die Befragte hat sich nicht nur ihr Ernährungsbewusstsein, sondern auch ihre Ernährungspraxis durch ihre Aktivitäten auf Instagram grundlegend („neunzig Prozent mehr Neues“) verändert. Eine andere Befragte stellt eben‐ falls Entwicklungen auf der Ebene des Bewusstseins und des Alltaghandelns fest, hier allerdings im Bereich des Sports: Freia: Früher habe ich nie wirklich Sport gemacht und, ja, war halt nie wirklich sportlich und dann habe ich halt durch diesen Trend auf Instagram halt gesehen: Ja, okay Sport ist vielleicht doch nicht so ((lacht)) schlimm oder ja, also macht vielleicht doch Spaß und muss halt auch nicht unbedingt immer etwas mit Wettkämpfen oder so zu tun haben, sondern man kann ja auch weiß nicht, mit Spaß und auch mit Freunden unternehmen. Und dann, ja dann habe ich halt angefangen Sport in meinem Alltag zu integrieren (1) Ja oder auch das mit der Nachhaltigkeit integriere ich jetzt auch immer mehr in meinen Alltag. Also habe ich ja quasi diesen Trend dann auch übernommen oder folge ich dann quasi auch noch. Die Befragten konstatieren - das wird im letzten Zitat besonders deutlich - Auswirkungen ihrer Instagram-Aktivitäten auf ihr Verhalten im Alltag. Neue Dinge werden, wie es bei Freia heißt, in den Alltag ‚integriert‘. Er wird also streng genommen nicht komplett umgekrempelt, aber erweitert. In den genannten Fällen sind die Veränderungen streng begrenzt auf die Themenbereiche, denen man auf Instagram folgt bzw. in denen man sich bewegt. Auch wird das ‚Lernen durch Andere‘ betont - im letzten Zitat wurde es bspw. als ‚Übernehmen‘ eines Trends umschrieben. Damit ähneln die genannten Veränderungen der Arbeit am Selbst, wie sie insbesondere 6.2 Nutzungsschemata 219 in „communities of practice“ (Wenger 1999) stattfindet. Hierbei handelt es sich um „groups of people who share a concern or a passion for something they do and learn how to do it better as they interact regularly“ (Wenger & Wenger-Trayner 2015: 1). Wenngleich dieser Aspekt durchaus von Gewicht ist, findet der größte und sichtbarste Teil der Arbeit am Selbst jedoch klar im Rahmen von Ein‐ drucksmanagement statt. Die Nutzenden profilieren sich durch bestimmte Formen der Selbstinszenierungen vor Publikum. Dem Befragten Thomas kommt es dabei vor allem darauf an, sich besonders positiv darzustellen: Thomas: Ja, man versucht sich vielleicht schon von seiner Schokola‐ denseite zu zeigen. Das heißt ja, man möchte auf den Fotos natürlich schon gut aussehen. Das kann man jetzt nicht abstreiten. Zwar spielt für den Befragten, wie auch für viele andere Nutzende, die physische Attraktivität eine wichtige Rolle, andere Aspekte sind aber ebenso bedeutsam. So wird auch versucht, Status oder Lebensstil visuell Ausdruck zu verleihen: Amira: Manchmal is/ will man ja auch sagen: „Guck mal, mein Lifestyle is so schön“ oder „Guck mal, da, der Ort an den ich gereist bin“. Ich mach ja jetzt nich irgendwelche Katalogbilder von TUI. Hätt ich dann ja auch hochladen können, sondern so: Ich war da. Der Befragten hier ist es z. B. wichtig, sich selbst im Rahmen eines bestimm‐ ten „Lifestyles“ zu inszenieren, das Selbstbild also in ganz bestimmte, visuell fassbare Kontexte einzubinden. Es reicht nicht einfach nur, sich selbst oder symbolische Lifestyle-Insignien abzubilden - beides muss bildlich miteinander fusioniert werden, um als bedeutsame und wertige Profilierung zu gelten. Instagram ist bei den meisten Befragten auch deshalb so beliebt, weil sie hier das Gefühl haben, die Wahrnehmung des Publikums lenken zu können und so Kontrolle über das eigene Selbstbild auszuüben. Die Befragte Kim spricht in der folgenden Passage z. B. davon, sich „aussuchen“ zu können, „wie man sich präsentieren möchte“: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 220 Kim: Ich glaube es ist menschlich, dass man sich natürlich immer von der BESTEN Seite zeigen möchte. Und bei Instagram kann man sich, zum Beispiel, halt sich selber aussuchen wie man sich präsentieren möchte, was für Seiten man von sich zeigen möchte. Und, ja, das ist halt eine gute Art Leuten, ich weiß nicht, zu zeigen, wer man am besten sein kann oder, ja. Selbstinszenierung und Eindrucksmanagement nehmen im Schema der Bestätigungssuche entsprechend oft die Form von ästhetisch-überhöhten Selbstbildern an - weil die technische Bearbeitung erstens ein Kontrollge‐ fühl verleiht, und weil die Nutzenden sich zweitens von besseren und schöneren Bildern mehr Resonanz erwarten. Dabei kommen nicht nur formale oder stilistische, sondern auch inhaltliche Strategien zum Einsatz. So gaben viele Befragte an, nur besondere Motive oder Aufnahmen von besonderen Ereignissen zu posten: Aleida: Also meistens is es so, dass ich irgendwas Besonderes, Außer‐ alltägliches erlebe, wo ich denke, da würde es sich jetzt lohnen da n Foto von zu machen. Dann fotografiere ich das mit meinem Fo/ mit meiner Handykamera. Was als „außeralltäglich“ oder „besonders“ erachtet wird, hängt dabei zwar stark von der jeweiligen Person ab, jedoch gibt es Ereignisse wie bspw. Urlaubsreisen oder Konzerte, bei denen ein Konsens zumindest hinsichtlich ihrer ‚Außeralltäglichkeit‘ zu bestehen scheint. Die Ästhetisierung bzw. Besonderung des Ichs erweist sich im Schema der Bestätigungssuche aber als nicht ganz unproblematisch, um nicht zu sagen: dilemmatisch. Das Dilemma entsteht dabei aus dem Widerspruch zwischen ästhetischer Überhöhung bzw. Besonderung und Authentizität - einer zweiten Orientierungsgröße, deren Stellenwert nicht unterschätzt werden darf. So besteht die Befragte Diana im folgenden Abschnitt darauf, dass ihre Beiträge „echt“ und „aus meinem Leben“ sind, obwohl sie nur „die schönen Sachen ausm Alltag“, d. h. einzigartige, besondere oder außeralltägliche Erlebnisse (bspw. den Urlaub) zeigt: 6.2 Nutzungsschemata 221 Diana: Ja, auf Instagram postet man natürlich (0.5) so ((lacht)) die schönen Sachen ausm Alltag. Also was mir gefällt. Und so sieht’s natürlich nicht IMMER aus. Also ich/ und sitz auch nicht immer mit meinen Freunden oder so rum, aber ähm (0.5) Also ich find schon, das was ich POSTE, das KOMMT aus meinem Leben und deswegen, also, ist es auch irgendwo ECHT. Aber natürlich sieht mein Leben nicht die ganze Zeit so aus. Ich bin nicht jeden Tag im Urlaub ((lacht)) oder so. Auf Instagram postet man das, was man toll findet, was grad BESONDERS war. Und solche Sachen kommen halt eben dahin und NICHT der gewöhnliche Alltag. Die Befragte begegnet dem potentiellen Vorwurf der Eindrucksmanipula‐ tion dadurch, dass sie auf die Echtheit des Materials verweist. Zwar handele es sich um eine einseitige Bildauswahl, dafür seien diese Bilder aber alle „echt“. Charakteristisch für das Schema der Bestätigungssuche ist der Ver‐ such, rhetorisch den eigenen Authentizitätsanspruch mit der tatsächlichen Bildpraxis zu versöhnen und auszuhandeln. So heißt es bei Erin u.a.: Erin: Also verstellen tue ich mich nicht. Natürlich richtet man mal hier oder mal da irgendwie was, dass es besser aussieht oder kaschiert ein bisschen was, aber grundsätzlich lasse ich meine Bilder eigentlich relativ authentisch. Was auch wieder darauf zurückzuführen ist, dass ich halt mich selbst als Person eben darstelle so wie ich bin und lebe. War es bei Diana noch die einseitig positive Motivauswahl, so sind es bei Erin die Filter und Retuschen, die dem Authentizitätsanspruch potentiell zuwiderlaufen. Auch die Befragte hier löst den Widerspruch rhetorisch auf, indem sie auf den unverstellten Charakter der Bilder verweist. Worin genau dieser besteht, bleibt jedoch offen und die Argumentation damit tautologisch. Die Befragte Ronda versichert in der folgenden Passage in ganz ähnlicher Manier, dass sie versucht habe, sich „so darzustellen, wie ich wirklich bin“: Ronda: Ich habe eigentlich keine andere Identität da drin gefunden, sondern hab eigentlich schon versucht wirklich so zu wirken, oder mich 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 222 da so darzustellen, wie ich wirklich bin. Und da hab ich dann gemerkt, dass das eigentlich relativ gut ankam. […] Also wenn ich quasi mich verstelle, für meine Follower oder so, das fänd ich doof. Also ich versuch so authentisch wie möglich zu wirken und auch wirklich mich selbst darzustellen. Wirklich so wie ich bin. Ronda verliert in dieser Passage kein Wort darüber, ob die Versuche auch tatsächlich gelungen sind. Der Versuch, sprich: die Intention scheint als Aus‐ weis und Versicherung legitimer Bildpraxis zu genügen. Einziges Kriterium für die Übereinstimmung zwischen dargestelltem und tatsächlichem Ich ist das eigene Ermessen. Authentisches Bildhandeln stellt hier also keinen Automatismus dar, sondern ist das Produkt reflektierter Handlungen - von Versuchen und Ermessen. Die Befragte Leila bringt ein etwas konkreteres Kriterium in Anschlag: Leila: Klar würd ich jetzt nicht nen Foto von mir posten, wo ich unvorteilhaft aussehe, aber (2) ich würde mich glaube nicht so selbst‐ inszenieren, dass man mich nicht mehr wiedererkennt, wenn ich jetzt, wenn man mich auf der Straße sieht. Also schon noch mein Ich und was ich mache und wie ich andern Personen gegenüber bin, aber ich würd jetzt nicht sagen/ mich darstellen als wär ich son Society Mädchen, aber bin es nicht. Das würde ich niemals machen. Also das/ Weil das bin ja nicht. Ich/ Das wissen ja auch meine Freunde, die würden dann sagen: „Ja, was postest du n da. Das bist doch nicht du“. Ein Bild ist für die Befragte dann authentisch, wenn Bekannte und Freunde sie darauf wiedererkennen. Dies gilt ihr als Validierung der Authentizität. Es ist hier also nicht das eigene Ermessen, sondern der Blick der Anderen, der über den Status des eigenen Bildes entscheidet - oder zumindest als Korrektiv dient. Dennoch ist auch dieses Kriterium subjektiv. Der Authenti‐ zitätsdiskurs im Schema der Bestätigungssuche hat auch gar nicht zum Ziel, objektive Kriterien für Authentizität festzulegen. Eine andere Funktion steht im Vordergrund: Die Beteiligten bekennen sich ostentativ zur Authentizität; sie demonstrieren rhetorisch, dass sie den Authentizitätsanspruch nicht aufgegeben haben. Allen möglicherweise zuwiderlaufenden Praktiken zum Trotz betonen sie den Wert wahrhaftiger Bildakte und die Illegitimität 6.2 Nutzungsschemata 223 manipulativen Bildhandelns. Die Befragten validieren in ihren Sprechakten das Prinzip der Authentizität und positionieren sich als authentische Spre‐ chende. Dass dabei nur subjektive Kriterien in Anschlag gebracht werden, verweist darüber hinaus auf die Bedeutung introspektiver und selbstreflexi‐ ver Praktiken. Diese entscheiden im Schema der Bestätigungssuche darüber, ob ein Bildakt authentisch ist oder nicht. Doch nicht nur die Frage nach der Authentizität eines Bildes, auch die Praktiken der Profilierung und des Lernens basieren auf einer gesteigerten Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Die Befragten sehen sich herausgefordert, Fragen zu beantworten wie: ‚Wer bin ich? ‘ bzw. ‚Wer will ich sein? ‘ und ‚Als wer will ich gesehen werden? ‘. Für einige Befragte äußert sich das in einem besseren Augenmaß und einer gesteigerten Sensibilität für die eigenen Selbstdarstellungen und das Bild, das man nach außen abgibt: Freia: Und bei Instagram, also bei den Bildern, die ich poste, achte ich da halt auch schon mehr drauf. Und auch bei den Sachen, glaube ich, die ich unter die Bilder drunter schreibe. Dass ich da ja/ Früher habe ich da mehr drunter geschrieben irgendwie und jetzt denke ich da viel mehr drüber nach, was ich da zum Beispiel, ja, drunter schreibe. In Freias Wahrnehmung hat sich durch die Auseinandersetzung mit sich selbst, ihren Postings und der Community eine neue Achtsamkeit eingestellt („jetzt denke ich da viel mehr drüber nach“). Kiki wiederum gibt an, ihr Selbst verändert zu haben durch den Austausch und Vergleich mit anderen Nutzenden: Kiki: Dadurch ist man halt eben nicht nur in seinen eigenen Gedanken die ganze Zeit. Also wenn man wirklich nur alles das sehen würde, was man selber postet, dann wäre man ja auch die ganze Zeit in seinem eigen kleinen Universum und so siehst du halt viel mehr von der Welt. Du siehst, was die Menschen außerhalb deines/ deiner Stadt machen, außerhalb deines Landes machen. Und dadurch veränderst du dich halt eben auch n bisschen. Für die Befragte ergibt sich aus ihrer Interaktion mit anderen Nutzenden eine Horizonterweiterung - ihre Wahrnehmung und ihr Weltverständnis 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 224 haben in ihren Augen expandiert. Andere Befragte wiederum geben an, dass die Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen sie nicht bereichere, sondern unsicher mache und unter Druck setze: Tamara: Aber irgendwie ich find, Instagram is so Fluch und Segen, beides irgendwie. Is total inspirierend und es macht Spaß, aber auf der andern Seite dieses Vergleichen: „Oh, die is so schön, die is so dünn und die is grade da im Ausland, mhm, oh Gott, und ich häng hier zu Hause ab“. Und is schon sehr, sehr oberflächlich finde ich. Tamara verweist hier auf Leistungsdruck und falsche Ideale, die sich aus dem ständigen Vergleich mit anderen Nutzenden und deren Beiträgen ergeben. Ganz ähnlich sieht sich etwa Lena durch Ernährungsdiskurse auf Instagram mit Fragen der eigenen Tugendhaftigkeit konfrontiert: Lena: Aber es ist auch negativ, weil man dadurch Ängste bekommt dann halt vielleicht auch mal MIST zu essen. Ja, also wenn man dann wirklich mal, keine Ahnung, zu McDonalds läuft oder zu einem Burgerladen und dann isst man da halt mal sowas, dann hat man da vielleicht eher so ein schlechtes Gewissen, weil man denkt: „Orr, das ja jetzt nicht GESUND.“ Im Gegensatz zu den negativen Gefühlen, die in Kap. 6.2.1.1 behandelt wurden, handelt es sich hier nicht um Resonanzphänomene: Angst, Druck und schlechtes Gewissen sind hier Konsequenzen introspektiver und selbst‐ reflexiver Praktiken sowie des Vergleichs mit anderen Nutzenden. Kennzeichnend für die Arbeit am Selbst ist im Schema der Bestäti‐ gungssuche vor allem die starke Identifikation mit dem eigenen Profil. Nicht nur besteht eine starke emotionale Verknüpfung; die Praktiken und Begegnungen auf Instagram werden von den Nutzenden auch als Möglichkeit angesehen, allgemeines Wissen, technische Fertigkeiten, soziale Kompetenzen und Selbsterfahrung zu erwerben. Dies macht Instagram im Schema der Bestätigungssuche zu einem Raum der Selbstoptimierung. Eine zweite Charakteristik ist das dilemmatische Verhältnis zwischen ästhetischer Überhöhung und dem Anspruch an 6.2 Nutzungsschemata 225 Authentizität bei der Bildinszenierung. Im Schema der Bestätigungs‐ suche kann das Dilemma nicht zur einen oder zur anderen Seite aufgelöst werden, da beide für essentiell gehalten werden: Während die ästhetische Selbstüberhöhung und Besonderung als Voraussetzung für die begehrten Likes erachtet wird, sorgt die starke Identifikation mit dem Profil zugleich für ein Bestreben nach Deckungsgleichheit damit. Das führt dazu, dass der Widerspruch von Ideal und Notwen‐ digkeit nicht praktisch aufgelöst, sondern rhetorisch austariert wird. Er bleibt als Reibungspunkt und somit als konstitutives Merkmal der Arbeit am Selbst im Schema der Bestätigungssuche weiterbestehen. 6.2.1.3 Nutzungsinteressen Hauptmerkmale: ▸ Steigerung des Selbstwertgefühls, Streben nach Gefühlsintensität ▸ Instagram als Alltagsausbruch / Eskapismus, serious leisure ▸ Synchronisation von ästhetischem Empfinden und Publikumsge‐ schmack Im Schema der Bestätigungssuche stehen das eigene ästhetische Empfinden und dessen Umsetzung als auch die Suche nach positiven Emotionen im Zentrum des Interesses. Beide Aspekte hängen eng miteinander zusammen. Zu Beginn ist es insbesondere der Wunsch, am Erlebnisraum Instagram emotional teilzuhaben, der im Schema der Bestätigungssuche den Übergang vom passiven Konsum zur aktiven Partizipation einleitet. Man möchte Teil der Community und Teil des Schaffensprozesses werden, vor allem aber Anteil am Austausch von Anerkennung haben. Die Suche nach Anerken‐ nung ist im Schema der Bestätigungssuche dabei von Anfang an stark verbunden mit ästhetischen Bildpraktiken - sind es doch die schönen Bilder der anderen, die einen auch selbst emotional bewegen. Die Lust am Bild geht so bei vielen recht bald in eine Lust am Kreieren und Erschaffen über, wie im folgenden Zitat zu sehen: Tom: Und das hat/ Ich weiß nich, ich find das ganz schön, sich da so n bisschen künstlerisch auszutoben. Also indem man coole Bilder 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 226 hochlädt. Man kann ja auch die Bilder bearbeiten bei Instagram und das macht halt dann auch irgendwie Spaß. Der Befragte beschreibt hier einen Überhang an kreativer Energie (er will sich „künstlerisch austoben“), für den Instagram ein passendes Ventil bietet. Ausschlaggebend sind für ihn die Bildbearbeitungsmöglichkeiten - sie reizen zur Aktivität an und fördern das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Das Bedürfnis, „coole Bilder“ zu produzieren, entsteht aber schon früher aus der Beobachtung anderer Profile und Bildbeiträge. Die Befragte Amira schildert das wie folgt: Amira: Ja, aber da würd ich jetzt nich sagen, dass ich da Trendsetter bin, sondern ich schließ mich eher so dem Trend an. Halt so, dass man dieses minimalistische Design, was grade voll modern und schick is, dass man das n bisschen umsetzt in seinen Fotos und (2) ja (2) Das post ich aber auch einfach, weils so mein eigenes Interesse is. Es interessiert mich halt nich wirklich wie viele Leute das jetzt so toll finden, sondern, wie gesagt, ich find diese Fotos einfach schön. Dann find ich sie ja auch schön, wenn ICH da drauf bin. ((lacht)) Einfach weil die Fotos an sich/ Diesen Stil mag ich halt gerne. Amira gibt hier an, einen Stil auf Instagram entdeckt zu haben, der ihr gefiel. Daraus entstand der Wunsch, selber Bilder in diesem Stil zu produzieren und zu gestalten; aber nicht nur irgendwelche Fotos, sondern Fotos auf denen auch „ich da drauf bin“. Es ging der Befragten also konkret darum, ihre Selbstbilder in einen vorgefassten visuell-ästhetischen Rahmen zu setzen. Der Impetus ist so gesehen ein doppelter: Die Befragte möchte sich selbst als Erschafferin schöner Bilder erfahren und möchte sich selbst im Rahmen dieser stilisierten und ästhetisierten Bilder als schön erfahren - sie ist Subjekt und Objekt zugleich. Andere Interessen, bspw. Spaß zu haben oder Follower zu sammeln, spie‐ len im Schema der Bestätigungssuche zwar auch eine Rolle, aber in einem weitaus geringeren Maße. Eine bestimmte Followeranzahl zu generieren sei bspw. nur ein „schöner Nebeneffekt“ (Felix) und „aus Spaß heraus“ bzw. als „Zeitvertreib“ (Ariana) nutze man Instagram zwar auch, aber eben nur manchmal. Im Vordergrund steht das ästhetische Selbst - und auch wenn 6.2 Nutzungsschemata 227 die eigenen Aktivitäten im Schema der Bestätigungssuche nicht direkt als mühevolle oder zweckorientierte Arbeit erfahren werden (wie im Schema der Erfolgsorientierung), so ist das ästhetische Selbst nicht weniger eine Frage des Engagements und des Könnens: Katja: Ich glaube manchmal kann man/ sind die Leute halt auch mega cool, können es aber halt nich so ausdrücken über das Internet. Is ja auch son bisschen Kunst, so wie Zeichnen. […] Man sieht irgendwas und dann, wenn man/ könnte man das so einfach cool machen, aber man kann/ Also Leute, die nicht zeichnen können, das is genauso wie: Man ist ein cooler Mensch, aber man kann nicht so genau rausfiltern, was jetzt das coolste ist, was man posten kann. […] Ja, aber es gibt so Leute, die können, die könnten cooles Instagram machen und so […] Haja, die haben n spannendes Leben, aber posten das nicht voll ausgeschöpft (2.0) oder schöpfen das nicht aus. Die Befragte Katja verwendet hier bewusst nicht den Begriff der Arbeit, sondern umschreibt die Schwierigkeiten, mit denen man sich bei der Erschaffung eines „coolen“ Selbstbilds konfrontiert sieht, als „Kunst“ und Können. Ein „spannendes Leben“ zu haben oder ein „cooler Mensch“ zu sein reicht in ihrer Lesart nicht aus, um einen Instagram-Account angemessen zu betreiben. Es gilt das Potential dieser Lebensführung zu nutzen (‚auszuschöpfen‘) und das Beste herauszuholen (‚rauszufiltern‘). Am Ende steht der künstlerische „Ausdruck“ eines coolen Lebens und das ‚stilisierte Selbst‘, welche vor Publikum gleich einem Kunstwerk präsen‐ tiert werden. Hierin zeigt sich die für das Schema der Bestätigungssuche charakteristische Pendelbewegung zwischen Außen- und Innenorientie‐ rung. Die (Bild-)Handlungen sind klar an einem Publikum ausgerichtet und für ein Publikum gedacht, zugleich wird aber auch die Orientierung an eigenen Maßstäben des Ästhetischen nicht aufgegeben. Bei der Bestä‐ tigungssuche steht dieser Maßstab wie bereits geschildert in Dissonanz mit dem Anspruch an Authentizität. Um diese auszugleichen wird sich bestimmter ästhetischer Strategien bedient. Die Befragte Veronica gibt bspw. an, dass ein Bild in erster Linie einem bestimmten ästhetischen Anspruch genügen muss - sie bearbeitet es, weil es dann „meistens schöner aus[sieht]“. Das ästhetische Empfinden entbindet sie aber nicht 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 228 von einem Authentizitätsanspruch. Letztlich müsse das Bild immer auch „noch irgendwie realistisch“ aussehen: Veronica: Eigentlich vom Bearbeiten ändere ich Licht, Lichtverhält‐ nisse. Also sieht meistens noch irgendwie realistisch aus. Also nicht, dass man denkt, da ist jetzt so viel bearbeitet, die ist direkt 10 Kilo, 20 Kilo leichter. (2) Das nicht. Ich mach dann so was wie, (1) dass die Augen nen bisschen detaillierter sind, dass man so auf Details mehr achtet und das Licht, (1) Schatten, Licht, sowas anders ist und da/ Warum ich das mache? (1) Sieht meistens schöner aus und dann passt es, wenn man/ (1) passt es vom/ Also wenn man sich dann die Instagram- Galerie sozusagen anguckt von einem selber, dass es schöner reinpasst, wenn man dann in etwa immer die gleichen Farben drin hat im Foto. Als legitime Mittel der Ästhetisierung gelten der Befragten die Veränderung von bestimmten Komponenten wie Licht, Schatten und Akzentuierung. Sie stellen den Rahmen eines ‚akzeptablen Grades an Bearbeitung‘ dar. Die zweite legitime ästhetische Strategie besteht in der Gestaltschließung, die nicht zwingend eine Bearbeitung der Bilder voraussetzt. Veronica spricht hier von „passen“ bzw. „reinpassen“, die Befragte Tanja von Einheitlichkeit: Tanja: Ich geb mehr Acht darauf, wie die Bilder aussehen. Sodass das, das klingt total bescheuert, aber dass das/ Wenn du halt auf das ganze Profil gehst, siehst du halt die Bilder so untereinander, dass das auch so farblich irgendwie alles zusammenpasst. Ne, so von der Belichtung her, dass das alles HELLER ist. Ich nehm immer n bisschen den Kontrast raus und die Sättigung. Also dass das halt alles so EINHEITLICH irgendwie aussieht. Die Befragte nennt hier Lichtbearbeitung und Farbanpassung als mögliche Ästhetisierungsstrategien. Ganz besonderen Wert legt sie aber darauf, eine visuelle Geschlossenheit zu erzielen: Farblich müsse alles „zusammenpas‐ sen“ und auf dem Profil „alles so einheitlich“ aussehen. Einheitlichkeit ist dabei als Konzept bzw. Ästhetisierungsstrategie nicht allein auf die Bilder beschränkt: 6.2 Nutzungsschemata 229 Veronica: Und da hab ich bislang durchweg (1) positive Kommentare. Es gibt natürlich auch immer diese Kommentare wie „Wonderful“ und „Wow“ oder „Great Page“, die dann so generiert sind, um mehr Follower zu kriegen. Die lösch ich dann ((lacht)) meistens direkt raus und hab dann nur die Kommentare, die wirklich zum Bild passend sind oder darauf auch eingehen, ja. Die Befragte beschreibt hier ein Vorgehen, das darauf abzielt, keine Dis‐ sonanzen zwischen Bildern und Kommentaren entstehen zu lassen: Alle Kommentare, die nicht „zum Bild passend sind“ und die Einheitlichkeit stö‐ ren, werden gelöscht. In diese Passungs-Bemühungen fallen auch bestimmte ‚motivische‘ Vorlieben. So gibt der Befragte Jonas an, dass er auf Instagram anstelle von thematischen vor allem ästhetischen Vorlieben folge: Jonas: Ja also echt wie Lebensfreude, wie ich grad schon gesagt habe halt. Ich finds, ich finds persönlich immer gut bei Anderen, wenn man sieht, dass die Leute viel unternehmen in ihrem Leben und einen quasi mitnehmen so, man deswegen viel SIEHT aus deren Leben und halt auch echt diese Lebensfreude halt. Zum Beispiel, es kommt halt meiner Meinung nach viel besser an, wenn jetzt eine Person ein Bild am Strand postet, wo sie lacht und GLÜCKLICH ist, als wenn jemand n Bild im dunklen Zimmer am PC oder so macht. Darauf achtet man dann auch auf jeden Fall, ja. Jonas gefallen Bilder, die „hell“ sind und auf denen „Lebensfreude“ zu sehen ist, die also ein bestimmtes Gefühl vermitteln. Hier kommt nochmal deutlich zum Ausdruck, dass die angestrebte Einheitlichkeit nicht nur die Optik, sondern auch die Stimmung betrifft. Die Strategien dienen der Herstellung eines objektiven wie auch subjektiven Gleichklangs auf der Ebene der Wahrnehmung. Bei den genannten Ästhetisierungsstrategien handelt es sich um Prakti‐ ken, die sowohl zwischen Authentizität und ästhetischer Überhöhung als auch zwischen Innen- und Außenorientierung vermitteln. Sie stellen für die Befragten den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen sich und ihrem Publikum dar. Einerseits befriedigen sie das eigene ästhetische Wohlgefallen, andererseits sorgen sie in verlässlicher und erwartbarer Weise für positive 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 230 Publikumsresonanz. Das im Schema der Bestätigungssuche zweite zentrale Nutzungsinteresse - die Evokation positiver Gefühle - speist sich also überwiegend aus der Abstimmung der eigenen ästhetischen Bedürfnisse mit denen der Anderen. Exemplarisch hierfür die folgenden knappen und beinahe identischen Losungen zweier Befragter: Tom: Insofern lädt man hoch, was einem selber gefällt und was man, glaub, was den anderen gefällt, denk ich. Kim: Ja, es ist natürlich schön, wenn man ein Bild hochlädt, was man selber gut findet und dann Zustimmung bekommt. Dann freut man sich natürlich. Tom beschreibt das wechselseitige Wohlgefallen als Handlungskriterium - er antizipiert und teilt, was nicht nur ihm, sondern auch den anderen gefällt. Kim benennt wiederum die emotionale Wirkung, die folgt, wenn ihr ästhetische Empfinden mit dem des Publikums zusammenfällt („schön“, „freut man sich“). Beatrix elaboriert den Ablauf dieser ästhetisch-emotiona‐ len Passung wie folgt: Beatrix: Und beispielsweise Fotos, die ich selber gemacht habe. Und wenn die schön sind, wenn die mich ansprechen, dann poste ich die. Und wenn man dann über Likes eben mitkriegt, dass anderen Leute das eben auch gefällt, vielleicht ist es dein fotografischer Stil beispielsweise, der Leuten gefällt oder deine Motivauswahl oder so, ja dann ist das natürlich eine Bestätigung so für einen selber, dass das, was man macht, dass das eben auch anderen Leuten gefällt und dass das schön ist. Und klar ist das ne positive/ ist das ein positives Gefühl, das man daraus zieht. Am Anfang stehen für die Befragte die von ihr produzierten Bilder. Diese Bilder sind Ausdruck ihres ästhetischen Willens. Ob die Bilder gelungen sind oder nicht, spürt die Befragte lautet eigener Aussage - sie wird von ihnen ‚angesprochen‘ oder nicht. Beatrix erkennt die Bilder „als eigenständige Wertquelle“ (Rosa 2016: 232) an. Hat ein Bild zu ihr gesprochen, postet sie es und macht es damit dem (teil-)öffentlichen Publikum zugänglich. 6.2 Nutzungsschemata 231 Erhält sie Likes, wertet Beatrix diese als Zeichen dafür, dass ihr Bild das Publikum in ähnlicher Weise angesprochen hat wie sie selbst. Der bislang subjektive Wert ihres Bildes erhält durch die Validierung des Publikums einen objektiven und allgemeingültigen Wert. Mit dem Bild wird zugleich ihr ästhetischer Wille geadelt als auch sie selbst als Urheberin des Bildes. Aus dieser Anerkennung erwächst ein positives Gefühl, das zu unterscheiden ist vom Gefühl, ein schönes Foto gemacht zu haben. Die Befragte Alexa beschreibt dieses Gefühl als „Seele streicheln“: Alexa: Das streichelt einem schon die Seele, glaub ich, son bisschen ne. Also wenn man auch sieht, ja, ich hab das Bild jetzt vor fünf Minuten hochgeladen und es blinkt ständig auf und/ am Handy und so. Ich glaub das macht schon was mit einem. Also ich glaub das steigert schon bei vielen das Selbstbewusstsein. In der Semantik des „Seele-Streichelns“ sind es die Anderen, die ein positives Gefühl durch Wertschätzungen hervorrufen, die sich in Likes oder in einem bloßen „Blinken“ manifestieren. Dabei stellt sich ein Gefühl ein, das am besten als Stolz zu bezeichnen ist. Es ist eine Art extrinsischer Stolz, der von intrinsischem Stolz zu unterscheiden ist - letzteres ist an intrinsischen bzw. inkorporierten Wertmaßstäben orientiert und bedarf keiner direkten Fremdvalidierung. Der extrinsische Stolz ist wiederum ein Gefühl, das sich erst durch direkte und explizite Akte der Anerkennung - bspw. durch das ‚Schulterklopfen‘ der Anderen - einstellt und sich bisweilen in körperlichen Reaktionen wie dem Rot-Werden äußert. Ob extrinsisch oder intrinsisch, Stolz ist nicht bedingungslos, sondern immer an eine bestimmte Leistung geknüpft. Erst wenn diese erbracht und von inneren oder äußeren Instanzen anerkannt wird, entsteht das Gefühl des Stolzes. Positive Resonanz, wie in 6.2.1.1 beschrieben, wird im Schema der Bestätigungssuche also nicht zuletzt deshalb mit sehr gezielten Mitteln angestrebt, weil daraus Stolz erwächst. Die Ergebnisse dieses Gefühlsmanagements bleiben nicht auf Instagram beschränkt, sondern strahlen in den Alltag aus. Der Stolz kann sich einerseits als Disposition, als Stärkung des Selbstbewusstseins, niederschlagen (vgl. 6.2.1.1), wie der Befragte Jonas es hier nochmal beschreibt: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 232 Jonas: Das beeinflusst meinen Alltag auf jeden Fall. Deswegen kann man echt sagen Instagram ist halt sowohl n Fluch als auch n Segen irgendwie. Wobei ich echt sagen muss, in meinem Fall wärs/ Also ich sehs mehr als Segen auf jeden Fall. Ich geh öfter gestärkt aus der Sache heraus, als dass ich traurig bin oder so. Gefühlsmanagement kann aber auch in Form eines situativen Stimmungs‐ managements erfolgen, das in seinen Auswirkungen eher flüchtig ist: Felix: Naja, klar das würde schon für FREUDE sorgen. Also das kann man ruhig schon so sagen, dass man dann auch, ich sag mal, STOLZ oder sowas ist, dass vielleicht das Bild auch gut ankommt. Aber jetzt so (0.5) für/ also/ Klar überwiegt dann die Freude, aber es ist jetzt nicht, ich sag mal, elementar in meinem Leben, dass ich sage „Ok, ich muss so und so viele LIKES haben, damit ich zufrieden durch mein Leben gehe“. Es gibt schon wichtigere Dinge, aber sowas ist halt, sag ich mal, dann schon sowas ZUSÄTZLICHES, was einen einfach noch den Tag vielleicht verschönern kann. I: Und was machen diese Reaktionen mit dir, wenn du negative oder positive Reaktionen kriegst? Muriel: Also bei positiven Sachen freut man sich natürlich und/ Also wenns jetzt (1.0) was ZIEMLICH Positives ist, sag ich mal, verschönert es ja auch den Tag so, wenn man es zum Beispiel morgens liest oder so. Die beiden Befragten sprechen hier unisono davon, dass positive Reaktionen ihnen den „Tag verschönern“ - es geht also weniger um eine dauerhafte emotionale Disposition als vielmehr um die Beeinflussung der Stimmung im Moment. Die Erzeugung eines positiven Gefühls muss aber nicht zwingend von einer eigenen Handlung ausgehen. Gefühlsmanagement lässt sich für die Befragten auch in anderer Form betreiben, nämlich durch das Teilen, Rezipieren und Konsumieren von Bildern und Texten auf Instagram: 6.2 Nutzungsschemata 233 Amira: Aber reizvoll an Instagram finde ich, dass es da diese vielen schönen Bilder gibt, also die/ Ich finde halt Ästhetik ist so ein bisschen das Grundbedürfnis des Menschen auch und ich habe da erst entdeckt wie, wie ästhetisch Fotos sein können, wie schön sie sein können und es ist einfach so ne Balsam für die Augen. Ich guck mir das einfach total gerne an, wenn so ein schönes Foto da ist, weiß ich nicht. Amira beschreibt hier die Suche nach ästhetischem Reizen und beruft sich auf ein „Grundbedürfnis“, das befriedigt werden will. Die Metapher des „Balsams“ lässt analog dazu an ausgleichende ‚Wellness-Maßnahmen‘ für einen geschundenen Körper oder ein geschundenes Auge denken, denen die Wehen des Alltags zugesetzt haben. Manuela schildert demgegenüber eine weniger ästhetisch und stärker diskursiv ausgerichtete Form des Gefühls‐ managements: Manuela [zu Motivationsbildern]: Ich finde schon, dass sie einem auch helfen, wie vorhin schon mal gesagt, ne, wenn man irgendwie mal nicht son guten Tag hat oder so und dann liest son Text oder wenn du gerade mal irgendwie am Zweifeln bist, dann hilft das halt schon, wenn du den Text liest, ne. Ja, dann denkt/ fühlt man sich schon gut, und dass da jemand also/ Da ist ja nicht je eine Person die ei/ direkt an dich denkt so, aber die so deine Gedanken son bisschen aufgreift. Manuela spricht hier von Motivationsbildern, die sie aufbauen und die sie in ihrer Sichtweise bestärken würden. Nicht ästhetische Lust, sondern Selbstsicherheit und Selbstwert sind dabei die Zielvektoren. Noch stärker kommt dies bei Juliette zum Ausdruck, die ihre Erfahrungen und ihr positives Selbstgefühl mit anderen Nutzerinnen teilen und „positive Energie verbreiten“ möchte: Juliette: Weil ich hatte auch ein sehr/ nicht ungesundes aber kein leichtes Verhältnis zu meinem eigenen Körper […] und kam mir dadurch halt irgendwie nicht vollwertig vor und ich habe halt diese Geschichte geteilt mit diesem Foto, dass ich aber gesagt habe, dass ich mittlerweile von diesem Gesellschaftsideal losgekommen bin, dass ich sehr stolz 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 234 auf meinen Körper bin und das hatte sehr positiven Anklang. Viele weibliche Follower, also grade junge Mädchen, konnten sich damit super identifizieren und meinten halt so: „Hey wow, das ist super, dass du das teilst, dass du so ehrlich bist und ich möchte irgendwann auch zu diesem Punkt kommen, dass ich meinen Körper akzeptieren kann wie ich will.“ Und das fand ich schon sehr schön, dass es halt nicht nur für mich was Positives hat, sondern auch für andere Leute so viel positive Energie verbreitet und sie so zu besseren Dingen motiviert. Die Befragte spricht hier von zwei Arten sich wechselseitig bedingender emotionaler Arbeit. Sie betreibt zum einen Selbsttherapeutisierung: Indem sie sich auf Instagram ausdrückt und mitteilt, gelinge es ihr, sich selbst zu ak‐ zeptieren. Zugleich würden ihre Beiträge aber auch auf ihre Followerinnen („junge Mädchen“) therapeutisch wirken („zu besseren Dingen motiviert“). Diese Art quasi-therapeutischer Kommunikation beruht auf einem stärker kritischen und weniger konsumierenden Blick. Ob es sich nun um ästhetische Steigerung des Wohlbefindens wie bei Amira handelt oder um visuelle Psychotherapie wie bei Juliette - die Bildbeiträge auf Instagram werden jeweils gezielt als Mittel zur Herstellung positiver Gefühle genutzt. Der Wunsch nach positiven Gefühlen kulminiert dabei bisweilen im Moment der Inspiration - eine Floskel, die sich in vielen Interviews findet. Der Begriff verweist in den genannten Kontexten auf ein starkes Begehren: Inspiration ergibt sich für die meisten Befragten aus dem Blick auf ein alternatives und erstrebenswertes Leben, das so in die Nähe der Machbarkeit rückt: I: [Wie] fühlst [du dich so], nachdem du Instagram benutzt hast? Alea: (1.0) Also meistens entwickelt man da schon auch/ Also es wird ja auch immer gesagt, dass man eifersüchtig wird. Also das sehe ich manchmal auch so. Jetzt nicht bezogen auf Aussehen oder so, aber in Bezug auf Leute, die was erleben, was man auch gern erleben möchte, also in Bezug auf Reisen, dass man dann schon manchmal denkt: „Oh, würd ich auch gern“. 6.2 Nutzungsschemata 235 Kiki: Wenn es um ein bisschen, ähm, kostspieligere Sachen geht, wie zum Beispiel irgend ne Reise irgendwohin, da muss man sich schon son bisschen/ Da ist es mehr dieses Traumhafte. Also man stellt sich vor wie es wäre, da zu sein, man denkt sich: „Oh, ich wäre auch schon gerne mal da“ oder so. Da ist es nicht so, dass es sich/ dass man das sofort in das Offline-Leben transferieren kann, aber es ist halt eben auch schon/ Es gibt/ Also es ist schon n gutes Gefühl zu wissen, dass es das auch gibt, dass man eventuell vielleicht, wenn man sich n bisschen Geld spart, in nem Jahr dahin reisen könnte. Für Alea ist es die Aussicht auf Erlebnisse, Reisen und ein Ausbrechen aus dem Alltag, die sie immer wieder in die fernen Bilderwelten eintauchen lässt. Auch Kiki beschreibt Instagram als einen Raum, in dem Begehrlichkeiten geweckt werden. Die Bildbeiträge spannen für sie Horizonte des Möglichen auf, indem sie den Vorstellungsraum erweitern. Zugleich rahmt sie mit dem Begriff des „Traumhaften“ die Inhalte aber auch als nicht greifbare, ferne Realitäten. Die Bilderwelten sind eine Art Ersatz für Realitäten, die ihr selbst nicht (oder noch nicht) erleb- und erfahrbar sind. Diese Art der Rezeption weist stark eskapistische Tendenzen auf. Im nächsten Zitat wird dies noch etwas deutlicher: Amira: Also Instagram ist für mich eine Plattform, wo ich mein Hobby praktizieren kann wirklich und mir Inspiration holen kann und mir, wenn mir langweilig ist, schöne Bilder angucken kann so. Halt Hobby, Unterhaltung und vielleicht auch noch so (1.0) irgendwo (0.5) die Idee so, dass ich halt vielleicht meine (1.0) Wünsche verwirklichen kann oder meine so Traumziele son bisschen (1.0)/ dass ich dann vielleicht mir noch so die Option halte, irgendwann kann ich da vielleicht auch mal hin und so. Ein Stück, (0.5) ein Stück Magie im Alltag vielleicht. Die Befragte greift hier auf ein Vokabular und eine Semantik zurück, welche die Bilderwelten auf Instagram in starken Kontrast zur Realität des Alltags setzen - für sie handelt es sich hierbei um „Träume“ und „Wünsche“. Die Bilderwelten schaffen einen emotionalen Fluchtort, sie sind für Amira mit „Magie“ besetzt. Diese starke emotionale Aufladung macht es ihr möglich, einen Moment lang aus dem Alltag auszubrechen 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 236 und in eine alternative, idealisierte Realität einzutauchen. Gesucht wird das immersive Moment, imaginiert wird ein Leben das „cool“ und „schön“ und „interessant“ ist. Je mehr ein Bild dieses Ideal vermitteln und näherbringen kann, desto eher dient es dazu, mit dem Alltag zu brechen. Was cool und schön genau ist, bleibt ungefähr - es handelt sich nämlich nicht um eine kognitive Kategorie, die von den Befragten einfach in Worte überführt werden kann, sondern um Wahrnehmungs- und Erfahrungskategorien. Im Schema der Bestätigungssuche steht nicht die Vermittlung von kognitivem, explizierbarem Sinn im Vordergrund, sondern die Kommunikation auf Basis von bildlich vermitteltem und affektiv erlebbarem Sinn. Das Nutzungsinteresse im Schema der Bestätigungssuche kann be‐ schrieben werden als Suche nach positiven Gefühlen mittels bildäs‐ thetischer Strategien. Die Befragten verweisen auf einen ästhetischen Schaffenswillen, der durch die Bilder der anderen ausgelöst wird und ihr eigenes Bildhandeln antreibt. Eine sehr wichtige Rolle spielt auch die Anerkennung und Aufmerksamkeit des Publikums. Dabei gleicht sich der eigene ästhetische Geschmack zunehmend dem (anti‐ zipierten) Geschmack des Publikums an. Die Bestätigungen evozieren Gefühle des Stolzes, die als besonders positiv und befriedigend wahr‐ genommen werden. Bezugspunkt des Stolzes sind die ästhetisierten und stilisierten Selbstdarstellungen, die zum Vehikel der Emotionspro‐ duktion werden: Schöne Selbstdarstellungen sind emotionales Kapital. Aber auch darüber hinaus gehört es im Schema der Bestätigungssuche zum primären Interesse, das emotionale Heil in Bildern zu suchen. Man baut sich oder andere durch motivierende Bilder auf und nimmt ästhetische als auch emotionale Auszeiten, indem man sich in fremde und oft künstliche Bilderwelten stürzt. Ästhetischer Ausdruck, Pu‐ blikumsgunst sowie das Management positiver Emotionen sind im Schema der Bestätigungssuche eng miteinander verzahnt. 6.2 Nutzungsschemata 237 6.2.1.4 Sinnwelt Hauptmerkmale: ▸ Gruppengefühl / Zugehörigkeit: neue Gleichgesinnte finden ▸ Sinn- und lustbetonte Kommunikation, Idealisierung als Erlebnispraxis ▸ starker Einfluss auf Alltag Resonanzerwartungen, Selbstdarstellungspraktiken oder Gefühlsmanage‐ ment stellen keine isolierten Deutungs- und Handlungsmuster dar. Sie fügen sich in den Schemata zu einem zusammenhängenden Set kultureller Codes und spannen einen spezifischen Erlebnis-, Deutungs- und Handlungshori‐ zont auf: So wird Instagram von den Befragten als eine kleine Lebens- und Sinnwelt erfahren, die ihre eigenen Logiken und Regeln hat. Entscheidend hierfür ist die Dominanz des visuellen Zeichenmodus, d. h. der Bilder und Fotografien. Insbesondere im Schema der Bestätigungssuche erweist sich die Visualität als essentiell. Der visuelle Modus bildet den Ausgangspunkt für Interaktions- und Erlebnisweisen, die Instagram grundlegend von anderen Plattformen abheben: Kiki: Im Gegensatz zu Facebook, wo man wirklich nur/ am meisten nur kommentiert hat, also wirklich Texts geschrieben hat, wars halt auf Instagram halt nur ein Bild. Du konntest mit einem Bild halt sehr viel sagen. Was meint die Befragte, wenn sie hier angibt, mit einem Bild „viel sagen zu können“? Einerseits verweist sie darauf, dass Instagram eine ökonomischere Art des Kommunizierens ermöglicht, die effizienter und unaufwändiger ist als auf Facebook. Das ist aber nicht alles: Die Befragte deutet auch einen qualitativen Unterschied an, der von der visuellen Kommunikation ausgeht, und der den ganzen Kommunikationsprozess unter neue Vorzeichen stellt. Für Amira bspw. kann mit einem Bild nicht nur ‚sehr viel‘ gesagt werden, sondern auch mehr: Amira: Ja gut, man sagt ja auch immer ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Man kann halt aus diesem Bild/ Erstens hat es immer ne Atmosphäre sozusagen. Die kannst du in nem Text richtig schwierig beschreiben, einfach ne Atmosphäre und Lichtverhältnisse einfach. Ne 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 238 WIRKUNG kannst du mit Text viel, viel schwieriger erzielen, als durch ein einziges Bild, weil das so viele Verknüpfungen verursacht, die halt tausend Worte einfach nicht könnten und (1.0) gleichzeitig stellt es halt viel, viel, viel mehr dar auf einmal als so ein Text. Da müsstest du jetzt, weiß ich nicht, einen Aufsatz schreiben darüber (1.0) und kannst es aber auch gleichzeitig in einem kleinen Foto einfach darstellen (0.5) um die gleiche Wirkung zu erzielen vielleicht, ich weiß es nicht. Und selbst dann wahrscheinlich nicht mal die gleiche Wirkung. (1.0) Ich weiß nicht, vielleicht ist es ein Stück weit noch PERSÖNLICHER. Was die Befragte hier beschreibt, sind vor allem Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen. Sie spricht von „Atmosphäre“, „Wirkung“, „Verknüpfungen“ und „persönlichen“ Effekten, die erst durch bestimmte Bildeigenschaften entstehen. Dadurch setzt sie diesen Zeichenmodus funktional vom Modus des Textes ab, der vor diesem Hintergrund defizitär erscheint. Zweimal bemüht die Befragte auch das Sprichwort vom ‚Bild, das mehr als tausend Worte sagt‘ und verweist damit auf die funktionale Diskrepanz zwischen Bild und Text. Was genau das Bild mehr oder anders sagt, ist für die Befragten dabei oft nur schwer in Worte zu fassen und wird eher rhetorisch umkreist, wie in folgendem Fall: Solange: Bei Instagram, man zeigt sich halt ANDERS als auf anderen Plattformen. Auf Instagram sind es halt alles Bilder (0.5) und Einblicke ins Leben und (1.0) wenn das Leuten GEFÄLLT, dann ist es halt so als ob ich ihnen gefalle oder das, was ich von mir zeige. Und auf Facebook sind es irgendwelche Postings, die auch jeder andere hätte posten können. Also es ist nicht so authentisch. Für die Befragte ist das Kommunizieren in und durch Bilder vor allem „anders“ - sie unterscheidet es hier dezidiert von „anderen Plattformen“ und definiert es damit ex negativo. Anschließend wird sie etwas konkreter und beruft sich auf die Wirkung der Resonanz: Wenn ihr Bild den anderen gefällt, dann sei das für sie, als würde sie selbst den anderen gefallen. Die Identifikation mit eigenen Bildprodukten scheint ihr also gegenüber eigenen Textprodukten leichter zu fallen. Als Gegenbeispiel nennt sie Facebook - mit den Beiträgen dort könne sie sich weniger identifizieren, da „die auch 6.2 Nutzungsschemata 239 jeder andere hätte posten können“. Die Kommunikation dort sei generischer und damit weniger ‚authentisch‘. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Mehrwert der Bildkommunikation auf Instagram für sie vor allem in einer erhöhten Authentizität und einer stärkeren Identifikation mit ihren eigenen Produkten liegt. Nun können aber auch auf anderen Plattformen Bilder geteilt werden - dies stellt kein Alleinstellungsmerkmal dar. Der Unterschied liegt für das Schema der Bestätigungssuche nicht in der technischen Verfügbarkeit begründet, sondern im alternativen Rahmen, den Instagram schafft. Dies betrifft vor allem das Layout bzw. die Nutzeroberfläche und den Kreis der Nutzenden. Die Befragte in folgendem Zitat gibt zu verstehen, dass Instagram ihr den passenden ästhetischen Rahmen für eine bestimmte Art von Bildpraktiken zur Verfügung stellt: Amira: Ich hab auch diese Blogs auf jeden Fall, diese Fotos, die ich auch bei Instagram habe, auch bei Facebook, aber ich finde die Plattform ist nicht so dafür geeignet, so diese Bilder so schön zu präsentieren irgendwie, weil da links noch mein Menü steht, oben noch diese, zu viel Text, zu viel Werbung einfach, zu viel drumrum einfach. Es wird dann was von dieser Ästhetik weggenommen. Das ist bei Instagram nicht so, weil es so schön clean und einheitlich und ordentlich aussieht. Mit „diese Fotos“ und „diese Bilder“ spielt Amira auf ästhetisierte Selbstdar‐ stellungen an. Ob die Plattform diese Praktiken direkt anregt und damit erst hervorbringt oder lediglich den passenden Boden dafür bereitet, bleibt an dieser Stelle offen. Deutlich wird jedoch ein positiver Zusammenhang zwischen Design und Bildpraktiken kolportiert. Erneut wird dabei Insta‐ gram über die Kontrastierung mit Facebook definiert. Facebook nehme „von der Ästhetik weg“ und eigne sich nicht für die Präsentation von Bildern - obwohl dies technisch möglich ist. Instagram hingegen biete durch das zurückgenommene Layout den passenden ästhetischen Rahmen. Hier stören keine Menüs die Ästhetik der Bilder, lenken keine Freitexte von den Selbstpräsentationen ab. Das Plattformdesign setzt aus Sicht der Nutzenden den ästhetischen und motivationalen Rahmen für die jeweili‐ gen kommunikativen Praktiken. Dazu gehört neben dem Layout auch die Publikumsstruktur. Viele Befragte geben an, auf Instagram das ‚passende‘ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 240 Publikum für ihre Bilder vorzufinden. So spricht auch Alexa von einem „anderen Kreis an Leuten“: Alexa: Aber/ Also jetzt bei mir wars auch so. Da sind ja auch bei Facebook so, wie soll ich sagen, jetzt zum Beispiel auch Eltern da. Und also so der/ n anderer Kreis an Leuten, dem man das vielleicht nicht teilweise zumuten will. Deswegen pos/ Also macht man das lieber bei Instagram. Also ich finde das Medium hätte eigentlich viel mehr Potential. Erneut wird hier Facebook als Vergleichs- und Kontrastfolie herangezogen. Das Publikum dort bestehe aus Personen, denen man das „nicht teilweise zumuten will“ - als Beispiel werden die Eltern genannt. Doch worin genau liegt die Zumutung der Bildpraktiken? Es ist vor allem der starke Fokus auf die eigene Person, die viele Nutzende als unangemessen erachten, so etwa auch Amira: Amira: Ich persönlich würd das auch auf andern Seiten nie machen, weil ich auch selber früher so jemand war, der das verurteilt hat und gesagt hat so: „Warum sind die Leute alle so selbstdarstellerisch? “ […] Also, ich schätze mal da gucken bestimmt auch mal alte Schulfreunde drauf und sagen so: „Eh, (2) Amira denkt jetzt sie wärs“, was weiß ich. Aber das is mir dann egal, weils halt, weil, wie gesagt, genau die Plattform dafür is. […] Und die andern, die das jetzt nich verurteiln oder die mich auch nich kennen, die denken einfach so: „Ach ja, schönes Bild, schön clean, schön minimalistisch, fusselfrei“, was weiß ich ((lacht)), was man halt so denkt, wenn man sich die Bilder anguckt. Halt, dass es halt ästhetisch aussieht, schön aussieht, halt so, ja weiß ich nich, schön ist. Die Befragte attribuiert hier ihre Bildpraktiken als ‚selbstdarstellerisch‘ und verweist zudem auf den Blick der Anderen. Außerhalb von Instagram blicke man verurteilend auf Selbstdarstellungspraktiken herab - sie seien verpönt und negativ konnotiert. Auf Instagram aber würden sie nicht nur geduldet, sondern auch anerkannt. Bildpraktiken mit einer zu starken Fokussierung auf das Selbst sind für die Befragten potentiell gesichtsgefährdend - vor diesem Hintergrund bietet Instagram einen safe space: einen Raum, der einen 6.2 Nutzungsschemata 241 Kreis von Nutzenden umfasst, die auf Selbstdarstellungen bestätigend und anerkennend reagieren: I: Jetzt quasi die Gegenfrage: Gabs schon mal besonders negative Reaktionen? Khaled: Da habe ich was ganz Komisches auf jeden Fall bei/ Also wenn man es vergleicht zwischen Facebook und Instagram/ Mhm, bei Facebook sind, wenn jetzt so speziell in den Gruppen unterwegs is, wo hier sich so jetz die Leute vom Fitness treffen, fast/ oder ich würd sagen 90 % negative Kommentare. Da wird sich dann über irgendwelche Leute lustig gemacht oder gesagt: „Ey, warum postest dun son Mist“ und bei Instagram is fast durchgehend positiv. Also ich hatte ein einziges Mal ((lacht)) n negatives Kommen/ n negativen Kommentar. Der Befragte kontrastiert Instagram hier mit Facebook und stellt als positi‐ ven Unterschied die anerkennenden Reaktionen auf Bildbeiträge heraus. Der Rahmen, den Instagram zur Verfügung stellt, unterstützt zusammengefasst also eine bestimmte ästhetische Wahrnehmung und ermöglicht und ermutigt Selbstdarstellung durch die Versammlung sich wechselseitig anerkennender Nutzender. Im Schema der Bestätigungssuche erweist sich Instagram so als eigenlogischer Kommunikationsraum. In den folgenden beiden Zitaten kommt dies deutlich durch die Bespielung des semantischen Wortfelds „Welt“ zum Ausdruck: Ariana: Bei Instagram ist das halt so ne Scheinwelt, son bisschen, ne? Da gehts ja darum schöne Bilder zu haben, dass alles so perfekt inszeniert ist. Die Befragte beschreibt Instagram hier als „Scheinwelt“ - sprich: als Ort, an dem die Dinge anders sind, als sie scheinen. Nichtsdestotrotz handelt es sich für die Nutzenden um eine Wirklichkeit, d.h.: Instagram ist für sie nicht unwirklich: In dieser Scheinwelt geht es um etwas. Die Nutzenden fühlen sich angesprochen und verfolgen Absichten, die für sie reale Konsequenzen haben. Auch die nächste Befragte spricht von Welt, bedient aber einen etwas anderen Rahmen: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 242 Selena: Aber ist halt immer irgendwie ein bisschen schwierig mit seinen Freunden über das ganze Instagram Ding, Leben irgendwie zu reden, weil, ich glaub, so richtig nachvollziehen kann das halt irgendwie keiner. Weil das ist halt einfach voll die (2) komische Welt. Selena beschreibt Instagram als „komische“ Welt, die sich nicht nachvoll‐ ziehen lässt. Auch hier wird von der Befragten eine gewisse Logik bzw. Struktur insinuiert, die Instagram innewohnt und zur „Welt“ macht, die für die Nutzenden und erst recht für Außenstehenden nur teilweise nach‐ vollziebar ist. Die Befragte baut die Welt-Metapher aus, spricht zuerst von „das ganze Instagram-Ding“ und fügt nach kurzer Pause die Bezeichnung (Instagram-)Leben hinzu. Der Wechsel von einer Objekt-Metapher zu einer Organismus-Metapher ist vielsagend: Instagram wird nicht nur als lebloses Ding, sondern als lebendiges, eigendynamisches ‚Ökosystem‘ verstanden, in das man sich integrieren kann. Der Begriff der Welt als solches - ob nun in „Scheinwelt“ oder „komischer Welt“ - verweist analog dazu darauf, dass es sich nicht um zusammenhanglose Einzelkommunikate oder zufällige Interaktionen handelt, sondern um kommunikative Handlungen, die ein größeres Ganzes bilden und davon strukturiert werden. Genauer gesagt: Wir haben es bei Instagram mit einer Subsinnwelt zu tun. Bei Subsinnwelten handelt es sich um distinkte, gruppenspezifische Handlungs- und Wahrnehmungsbereiche innerhalb einer umfassenderen symbolischen Sinnwelt, etwa der Alltagswelt bzw. der gesellschaftlichen „Superstruktur“ (vgl. Popitz 2011). Subsinnwelten werden überwiegend von ihren Mitgliedern getragen und legitimiert und erschließen sich oftmals auch nur den Mitgliedern dieser Gruppe sinnhaft (Berger & Luckmann 2009: 93), wie es die Befragte oben exemplarisch andeutete. Instagram wird im Schema der Bestätigungssuche als ganzheitlicher Handlungs- und Wahrnehmungsraum erfahren, der Abläufe und Relevanzen enthält, die deutlich von der Welt des Alltags abweichen. Die Nutzenden orientieren sich an der Logik dieses Kommunikationsraums, indem sie a) den Abläufen und Relevanzen im Rahmen bestimmter Bildpraktiken folgen und b) soziale Bande miteinander knüpfen. Die Praktiken sind dabei stark am Prinzip der Idealisierung ausgerichtet. Idealisierung zielt, im Unterschied zur bereits besprochenen Ästhetisierung (vgl. 6.2.1.3), auf die bildübergreifende Insze‐ nierung und Betonung eines als ideal vorgestellten Lebens ab, bei dem 6.2 Nutzungsschemata 243 vor allem die außergewöhnlichen Ereignisse im Vordergrund stehen (vgl. 6.2.1.2): Der Befragte Moritz veranschaulicht das wie folgt: Moritz: Wo ich jetzt im Urlaub war, hab ich ganz viele Videos davon gepostet wie ich am Tauchen war. Und das warn jetzt natürlich coole, geile Videos, die super aussahen. Und natürlich hab ich nich dann gepostet, wie ich danach völlig fertig aufn Boot saß und mir die Wellen ins Gesicht GESCHLAGEN sind und dass total der Wellengang war und gleich angefangen hat zu regnen, sondern ich hab dann natürlich das Positive gepostet. Im Zitat drückt sich subtil bereits die Selbstverständlichkeit der Idealisie‐ rungspraktiken aus: „Natürlich“ habe er, so Moritz, unästhetische oder negativ konnotierte Aspekte außen vorgelassen; „natürlich“ dokumentiere und teile er nur die schönen Seiten seines Lebens. Der Befragte Janosch findet hierfür noch deutlichere Worte: Janosch: Man muss sich ja nicht vormachen, dass jedes Leben so schön wär wie auf Instagram. Das is son bisschen/ Instagram ist sozusagen der Ponyhof unseres Lebens. So kann man das vielleicht ausdrücken. Man sagt ja immer das Leben ist kein Ponyhof, aber bei/ auf Instagram ist es das auf jeden Fall. Also ich kenn wenig Instagram Feed, der irgendwie negativ behaftet wäre und das hat so n bisschen was davon: Ich geh mal eben kurz, ja, auf meinen Ponyhof und lass mal eben die Welt ganz kurz schön sein. Janosch beschreibt seine Bildhandlungen als eine gezielte, fast schon magi‐ sche Neurahmung: er lässt „mal eben die Welt ganz kurz schön sein“. Deut‐ lich wird an dieser Passage zweierlei. Erstens: die Idealisierung findet „mal eben“, d.h.: ohne größeren Aufwand und routinemäßig statt. Wenngleich seine Bilder außergewöhnliche oder in besonderem Maße „interessante“ Ereignisse zeigen, erfährt der Befragte das Inszenieren und Teil dieser Bilder auf Instagram als Normalität. Instagram kommt zwar der Status einer distinkten Sinnenklave zu, die meisten Handlungen und Wahrnehmungen darin finden aber ebenso routiniert und selbstverständlich statt wie in anderen Sinnwelten. Zweitens: Es wird deutlich, dass es sich bei der Ideali‐ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 244 sierung nicht um einen dauerhaften Zustand handelt. Das liegt aber nicht daran, dass es hierbei um volatile Handlungen geht, die sich, wie Worte, mit der Zeit verflüchtigen. Stattdessen ergibt sich der temporäre Status der Handlungen aus dem untergeordneten Status der Subsinnwelt Instagram. Instagram ist nur eine Realität zweiter (oder sogar niedrigerer) Ordnung und kann daher nicht die gleiche Relevanz entfalten, wie übergeordnete (Sub-)Sinnwelten, allen voran natürlich die der Alltagswelt. Wenn das Leben in der Alltagswelt „nicht schön“ ist, dann ändert Instagram daran nichts und erweist sich allenfalls als zeitlich begrenzte Alternative, an deren Ende doch wieder der Alltag wartet. Idealisierungspraktiken stehen so gesehen in engem Zusammenhang mit dem zuvor beschriebenen Eskapismus (Kap. 6.2.1.3). Der „Ponyhof “ stellt eine metaphorische Verdichtung dieser Rück‐ zugspraktiken dar und weist den idealisierten Abbildungen dadurch den Status des Utopischen, des Kitsches und der (kindlichen) Fantasie zu - der „Ponyhof “ ist schön, aber unwirklich. In konventionellen Bildpraktiken wie denen der eben dargestellten Idea‐ lisierung vergemeinschaften sich die Nutzenden indirekt. Eine direktere Praktik ist das ‚Socialisen‘. Insbesondere im Schema der Bestätigungssuche wird näherer Kontakt zu konkreten Anderen aus der Instagram-Gemein‐ schaft gesucht. Ein anschauliches Beispiel gibt die folgende Befragte: Amira: Sondern die, die, (0.5) die, die bleiben, die machen auch meis‐ tens/ liken die öfter und machen öfter Kommentare und dann fallen die natürlich auf und dann freut man sich über die (0.5) und dann bilden sich auch schon so Beziehungen, dass die eine zum Beispiel sagt: „Ah, ich find dein Feed total cool“ und dann kuck ich mir ihr Profil an und merk so, ihr Feed ist auch total cool, hat auch so den gleichen Stil. Dann sag ich so: „Hey, deiner auch! “ und dann/ dass man so jedes Mal, wenn einer von uns beiden jetzt n neues Bild hochlädt, wird das geliked von uns (1.0) Also da bilden sich halt auch so (0.5) Bekanntschaften. In der zitierten Passage unterscheidet die Befragte zwischen denjenigen Fol‐ lowern, die „bleiben“ und denjenigen, die kommen und gehen. Diejenigen, die bleiben - die treue Followerschaft - würde man daran erkennen, dass sie sich aktiver auf dem Profil der Befragten mit Likes und Kommentaren einbringen. Je öfter sie das täten, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich mit der Zeit „Beziehungen“ entwickelten. Die Befragte gibt an, mit 6.2 Nutzungsschemata 245 einer anderen Nutzerin „Bekanntschaft“ geschlossen zu haben, einzig durch regelmäßige, wechselseitige Anerkennungshandlungen. Die Kontakte, die auf Instagram in dieser Weise hergestellt werden sowie die Beziehungen, die daraus entstehen, führen zusammen mit anderen Faktoren dazu, dass im Schema der Bestätigungssuche das Gemeinschaftsgefühl eine große Rolle spielt und von den Nutzenden intensiver als in den anderen Schemata erlebt wird. Die Befragten fühlen sich als Teil einer Community oder Gruppe von Gleichgesinnten. Kiki umschreibt diese Gemeinschaft wenig euphorisch und schmeichelhaft als „Club“: Kiki: Instagram ist mittlerweile eine Community. Also es ist wie ein Club und wenn du ein Teil davon bist, dann ist das, glaube ich, so n bisschen/ (1) Dann fühlst du dich eben nicht so ausgeschlossen. Interessant ist, dass von der Befragten hier Sorgen über den Ausschluss aus einer Gemeinschaft beschrieben werden, deren Mitgliedschaft keine Notwendigkeit für die Teilnahme an bestimmten Aktivitäten ist. Es geht auch nicht um den Zugang zu irgendwelchen materiellen Ressourcen oder Gütern - von Bedeutung ist ausschließlich die Teilhabe an Praktiken der Anerkennung und die Aufnahme in einen sozialen Zirkel, genauer: in eine Kommunikationsgemeinschaft (Knoblauch 2008). Besonders ausführlich reflektiert die Befragte Lena dieses Thema: Lena: Deswegen suche ich da so ein bisschen meine, ja, meine GE‐ MEINDE, meine ((lacht))/ Da kann ich mich austauschen, da versteht mich jeder. In dem Kreis, wo ich mich bewege. Zuerst einmal gibt die Befragte hier an, aktiv auf die Suche nach einer Gemeinschaft zu gehen - sie wird nicht hineingeworfen, trifft auch nicht zufällig darauf, sondern handelt eigeninitiativ. Sie greift zur Bezeichnung dieser selbstgewählten Gemeinschaft auf den eher religiös konnotierten Begriff der Gemeinde zurück. Dieser Begriff definiert den Typus der Gemein‐ schaft näher, den die Befragte sucht. Erstens wird auf eine gewisse Nähe der Beteiligten zueinander angespielt - Gemeinden sind in der Regel eher klein, man kennt sich untereinander. Zweitens wird durch den Begriff auf die Aspekte Zusammenhalt und Unterstützung verwiesen, welche innerhalb 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 246 von Gemeinden eine starke Betonung erfahren. Drittens rückt die Befragte die gesuchte Gemeinschaft in die Nähe einer Glaubensgemeinschaft mit gemeinsamem Glaubenshorizont - nicht unbedingt eines Gottesglaubens, sondern eher im Sinne einer gemeinsamen, diesseitigen Lebensphilosophie. Dies drückt sich u. a. in der Rede vom Verstanden-Werden aus („da versteht mich jeder“). Die Gemeinschaft, welche Lena auf Instagram vorfindet, geht für sie daher deutlich über eine reine Interessen- und Zweckgemeinschaft hinaus. Sie bestätigt sie in ihren Sichtweisen und ihrem Lebensstil und gibt ihr die Möglichkeit, sich in einer Weise auszudrücken, die ihr im Offline-Alltag oder auf anderen Plattformen verwehrt bleibt - oder für die sie keine Beachtung oder Anerkennung erhält, wie die Befragte weiter ausführt: Lena: Deswegen ist das für MICH natürlich so eine Art von: Ich fühle da wohl, weil jeder versteht mich, jeder weiß was ich da auch sage. Es gibt ja für jeden Bereich auch so Wörter, die vielleicht auch nicht jeder versteht. Da fühle ich mich so VERSTANDEN. Vielleicht auch so ein bisschen bestätigt, weil dann natürlich auch mal so Kommentare kommen à la „Ja, weiter so“ und „Das finde ich gut was du machst“ und das fühlt sich gut an. Lena rekurriert erneut mehrmals auf das Gefühl, verstanden zu werden. Sich verstanden zu fühlen kann sich dabei einerseits auf die konkrete Wortwahl beziehen - auf einen kollektiven Sprachgebrauch („für jeden Bereich auch so Wörter, die vielleicht nicht jeder versteht“) - aber auch auf geteilte Sinnhorizonte. So wird etwa der Wunsch, das eigene Ich zu präsentieren und zu exponieren („Weil dann natürlich auch mal so Kommentare kommen à la ‚Ja, weiter so‘“), auf Instagram legitimiert und validiert. Das Gefühl, „verstanden“ zu werden, steht in enger Verbindung mit dem bereits eruierten Gefühl der Bestätigung. Beides hängt wiederum mit dem Wir-Gefühl zusam‐ men, das im Schema der Bestätigungssuche erfahren wird. Lena umschreibt dieses Wir-Gefühl wie folgt: Lena: Weil man denen schon ein Jahr folgt und die posten viel, die machen viel und mit denen hast du die gleichen Interessen, man hat das Gefühl es sind so deine Freunde, obwohl man sie gar nicht kennt. 6.2 Nutzungsschemata 247 Hier bezeichnet Lena ihre Community als Quasi-Freunde - ihr Status bleibt fraghaft, weil man sie „gar nicht kennt“. Lena oszilliert hier zwischen einem emotionalen und einem rationalen Freundschaftsverständnis: die Beziehun‐ gen auf Instagram fühlen sich für sie zwar wie eine richtige Freundschaft an (emotionales Kriterium), erfüllen aber nicht das rationale Kriterium des wechselseitigen Kennens. Das Gefühl der Gemeinschaft stellt sich für die Befragte also gegen ihr ‚besseres Wissen‘ auch dort ein, wo gar keine direkte Wechselseitigkeit entsteht - ein Phänomen, das als „parasoziale Interaktion“ (Horton & Wohl 1956) bezeichnet wird. Eine Entsprechung finden Lenas Ausführungen im folgenden Zitat: Kiki: Also dadurch, dass ich so viel die Chance habe andere Leute kennenzulernen und zu sehen, was sie machen, hab ich einfach viel mehr das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein als irgendwie nur ich in meiner Kleinstadt zu sein so. Mhm, also genau, man fühlt sich einfach größer als man wahrscheinlich ist, aber es tut halt einem, dem Selbstwertgefühl, gut. Auch in diesem Zitat drückt sich a) eine Erfahrung des (Quasi-)Numinosen und der Ich-Transzendenz aus (das ‚große Ganze‘) und b) eine Gemein‐ schaftserfahrung, die scheinbar mehr ist als die Summe der ‚interaktiven Teile‘. Bei den Beispielen handelt es sich um vergleichsweise extreme Ausprägungen. Gemeinschaft auf Instagram wird auch profaner erfahren, wie folgendes Beispiel zeigt: Ariana: Ich finds einfach schön irgendwie mit anderen Menschen son Austausch zu haben über Themen, mit denen ich mit meinen Freunden, was heißt, NICHT REDEN kann, aber ((schnalzt)) Wie gesagt, diese Sache mit dem Laufen, ich bin da auf ganz viele neue Sachen gekommen, habe ganz viele Ideen und Eindrücke gekriegt. Auch viel mit dem ESSEN, ja, viel Essen wird da gepostet und viele Rezepte. Und für viele ist das halt son Mittel, sich da zu informieren und ja, wenn man im Freundeskreis vielleicht niemanden hat, der eine LEIDENSCHAFT TEILT, aber im Netz ist es halt viel einfacher da jemanden zu finden, weil man da ne größere REICHWEITE dadurch bekommt und das finde ich schon SCHÖN. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 248 Ariana rahmt ihre Instagram-Aktivitäten als Teilnahme an einer com‐ munity of practice bzw. als ein ‚bedeutsames Hobby‘ („serious leisure“, vgl. Stebbins 2017). Entfaltungswunsch, Bedürfnis nach Austausch und Expressionsdrang sind thematisch auf Sport, Gesundheit und Ernährung fokussiert. Obwohl die Intensität des Gemeinschaftsgefühls im Vergleich zu den vorigen Beispielen abzufallen scheint, hat es für die Befragte Auswirkungen auf ihren Alltag. Ariana führt etwa an, wie der Austausch auf Instagram eine sportlichere Ausrichtung ihres Lebensstils zur Folge hatte. Bei der Befragten Lena überschreiten indes auch die Beziehungen selbst die Online-Grenze: Lena: Also auf jeden Fall, dass da Menschen sind, die gleich ticken, gleich denken. Was man vielleicht manchmal im realen Leben nicht HAT. […] Bei mir war es SO, dass ich eher Leute/ Ich habe mich mit den Leuten getroffen, die auch diesen sportlichen Lifestyle leben. Dann sind wir ins Fitnessstudio gegangen, hat sich dann ja auch angeboten. Und danach haben wir dann halt was gegessen zusammen. Für die Befragte bleibt es also keineswegs bei parasozialen und oder nur digital vermittelten Interaktionen. Die neuen Freundschaften und Interessen können sogar Auswirkungen auf das alte Umfeld haben, wie Lena weiter feststellt: Lena: Also meine Freundschaften im Offline Leben sind immer noch beständig, immer noch da und haben dadurch auch nicht minder Qualität bekommen. Würde ich nicht sagen. Ich würde nur sagen, dass die Interessen vielleicht dann einfach sich ein bisschen VERSCHOBEN haben. […] Ich habe auch schon gehört, dass/ Ich kenne auch welche, die dadurch SO beeinflusst worden sind, dass sie sich zum Beispiel ZURÜCKgezogen haben. Dass sie vielleicht die Interessen nicht mehr bei ihren Freunden gefunden haben. In der Lesart der Befragten kann Instagram durchaus zur Neujustierung des sozialen Bezugskreises führen, ist für sie also alles andere als eine banale Spielerei. Die Bande, die auf Instagram eingegangen werden, hinterlassen für Nutzende wie Lena Spuren im Alltag - Online- und Offline- Sphären 6.2 Nutzungsschemata 249 gehen ineinander über. Dies gilt auch für einige andere Aspekte. Die Befragten beschreiben teils sehr breit, wie Instagram ihren Blick auf den Alltag verändert und auch ihr Verhalten. So bemerkten einige, wie sie ihre Umgebung zunehmend an den ästhetischen Standards der Plattform ausrichteten. Das äußert sich in gesteigerten Inszenierungsbestrebungen, wie die Befragte Kiki beschreibt: Kiki: Und bei mir ist das zum Beispiel so, […] dass ich sehr oft darauf achte, dass mein Zimmer immer sauber ist, dass falls ich dann wirklich mal ein Bild machen möchte für Instagram, dass es dann eben auch ästhetisch gut aussieht im Hintergrund. Also allein schon so banale Sachen oder wenn man rausgeht und man kauft sich irgendwas zu essen, achtet man da auch drauf, dass es einfach ästhetisch so n bisschen schön aussieht, falls ich ein Bild für Instagram dafür machen möchte ((lacht)). Andere berichten davon, dass sie ihre Umgebung zwar nicht aktiv inszenie‐ ren würden, aber auf deren Fotogenität bzw. ‚instagramability‘ achteten: Pedro: Öfter halt, wenn ich irgendwo bin, dann achte ich halt drauf irgendwie n Foto mal zu machen. Also, wenn irgendwas Cooles ist, dann achte ich darauf, ein Foto davon zu machen. Damit ich es halt später hochladen kann, ja. Während der Befragte Pedro lediglich angibt, eine erhöhte Aufmerksamkeit ausgebildet zu haben (er achtet zu Zwecken des „Hochladens“ auf ‚coole‘ Dinge in seiner Umgebung), konstatiert Maya weiterreichende Effekte: I: Inwiefern beeinflusst deine Online-Nutzung deine Offline-Welt? Maya: (3.0) Ja, man macht SCHON häufiger mal Fotos und denkt: „Oh ja, das könnte ich bei Insta hochladen.“ Also man is irgend/ Man hat das schon öfter im (0.5) HINTERgedanken: „Oh ja, das wärn gutes Motiv für Instagram zum Beispiel.“ Das macht man halt irgendwie (1.0) schon GEZWUNGENERMAßEN, aber das ist auch nicht (0.5) der richtige Ausdruck, irgendwie n Foto, ums dann hochzuladen. Man ist schon mehr 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 250 damit beschäftigt n schönes Foto zu machen als man vielleicht/ (0.5) Wenn ich da den Account nicht hätte, dann würde man sich vielleicht mit dem perfekten Foto sozusagen nicht so lange und/ beschäftigen. Bemerkenswert ist an dieser Passage vor allem a) der Verweis auf die Hintergedanken und b) das Gefühl, sich „gezwungen“ zu fühlen. Bei beiden Phänomenen handelt es sich um Momente der Innerlichkeit, die von der Person hier externalisiert und artikuliert werden - wobei das der Befragten gerade hinsichtlich des letzten Punktes schwer zu fallen scheint. Sie gibt an, sich nicht sicher zu sein, ihr leibliches Empfinden adäquat artikuliert zu ha‐ ben („gezwungenermaßen […] auch nicht der richtige Ausdruck irgendwie“). Sie scheint auf eine äußere Kraft und ein diffuses Getriebensein verweisen zu wollen, für das der Begriff des Zwangs aber zu stark ist. Der Druck von außen äußert sich schließlich für die Befragte in „Hintergedanken“ bzw. einer konstanten Suche nach dem „perfekten Foto“, die unter anderen Umständen ausblieben („würde man sich vielleicht mit dem perfekten Foto sozusagen nicht so lange […] beschäftigen). Der Befragte Janosch berichtet von einem ähnlichen Plattformimpuls und Gefühl des Drucks, aber auch von Strategien, damit umzugehen: Janosch: Und dann is es doch so, dass man sich so n Stück weit so n bisschen genötigt fühlt was zu posten, das merk ich dann, wenn ich das Handy anmache, bei Instagram gucke und dann mir denke, überlege, wobei das immer noch nicht negativ is, mir überlege ich könnte ja mal wieder was posten. Und dann guck ich meine Fotos an, die ich so habe, die ich so gemacht habe und dann merk ich: „Ach, ich hab ja gar keine Fotos gemacht.“ Dann is es aber schon so, dass ich dann auch sag, wenn ich nichts gemacht hab, dann post ich auch nicht, dann fühl ich mich auch nicht genötigt jetzt n Foto zu schießen, oder sowas. Wenn ich dann aber irgendwie was sehe und mal angenommen ich mach, was weiß ich, ich fahr nach Hamburg oder sowas, mach da n Tag/ irgendwie geh ich da in die City oder sowas, dann würd ich da schon so, ich weiß nich, geh/ lauf ich am Michel vorbei, dann kommt da mal n Selfie bei rum oder sowas. 6.2 Nutzungsschemata 251 Janosch will den Impuls, der von der Plattform ausgeht, nicht als Nötigung verstanden wissen und bemerkt dezidiert, dass der Impuls „noch nicht negativ“ sei. Gleichzeitig wehrt er Zumutungen ab („fühl ich mich auch nicht genötigt“). Deutlich wird hier die ambivalente Erfahrung eines Gefühls, das zwischen Innenorientierung und Außenorientierung pendelt. Das dif‐ fuse Gefühl des Getrieben-Seins kann von den Befragten nicht eindeutig zugeordnet werden, wird von ihnen aber als relevant und handlungsleitend erfahren. Es kulminiert im Wunsch, den eigenen Account zu bespielen und zu pflegen. Die neuen Präferenzen beeinflussen dabei zunehmend auch das Verhalten im Alltag. Die Plattformanrufungen dominieren im Schema der Bestätigungssuche das Leben der Befragten zwar nicht, laufen aber immer mit. Instagram verändert für die Befragten auch die Perspektive auf ihre Mitmenschen. So wurde vereinzelt berichtet, dass die Nutzung von Insta‐ gram sich nicht nur auf die Wahrnehmung von Orten und Ereignissen, sondern auch auf die von Mitmenschen im Offline-Kontext auswirke. Alexa beschreibt im Folgenden bspw. ihren Versuch, von den Instagram-Aktivitä‐ ten einer Person auf deren Persönlichkeit zu schließen: Alexa: Ich hab dann halt auch gemerkt, dass sich das auf meine Beziehung auch irgendwie/ Also das beeinflusst/ Also man hat dann auch geguckt, was der Partner so geliked hat und wa/ Also, was weiß ich, man/ Da sieht man ja auch wie lange das schon her is und so und hab dann immer so nachgeguckt und so und man hat dann so gemerkt wie einen das selber auch kontrolliert, in der Wahrnehmung für andere. Bei der betreffenden Person handelt es sich um den Partner der Befragten, d. h. um eine Person, die ihr auch außerhalb von Instagram nahe steht. Von den Aktivitäten ihres Partners auf der Plattform verspricht sie sich dennoch neue Einsichten in dessen Persönlichkeit. Dies ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass die Profile im Schema der Bestätigungssuche über ihre Online-Existenz hinaus als „Data-Double“ bzw. Repräsentation des Selbst verstanden werden. Es besteht die Tendenz, sich und andere mit den Profilen zu identifizieren. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 252 Resümierend lässt sich festhalten, dass die ‚kleine Lebenswelt‘ Insta‐ gram sich im Schema der Bestätigungssuche als dichter, mit vielerlei Bedeutung aufgeladener und affektiv stark besetzter Mikrokosmos erweist. Das „subjektive Erleben der Wirklichkeit“ dieser „Teilbzw. Teilzeit-Kultur“ (Honer 2011: 23) nimmt Ausgang beim Bild als do‐ minantem Zeichenmodus sowie idealisierenden und ichzentrierten Bildpraktiken. Hieraus entsteht ein eigenlogisches Gruppengefüge, dem sich die Beteiligten zugehörig fühlen und im Rahmen dessen sich ein distinktes und starkes Gemeinschaftsgefühl ausbildet. Die Eigenlogik dieser Subsinnwelt strahlt auf andere Lebensbereiche aus und verändert bzw. erweitert die Umgebungswahrnehmung und das Erleben der Nutzenden um einen spezifisch ästhetisierenden Blick. Die Plattform tritt so als Mittler der Beziehungen zwischen Nutzenden und ihrer Umwelt auf und bringt neue mediatisierte Praktiken hervor. 6.2.1.5 Interaktionsregeln Hauptmerkmale: ▸ Herstellung von Augenhöhe, virtuelles Kennenlernen ▸ Aufmerksamkeit als „Geben und Nehmen“, symmetrische Interaktion ▸ Phatische Kommunikation, künstliche Harmonie Innerhalb des kommunikativen Gefüges der Sinnwelt Instagram entstehen neben den soeben skizzierten Strukturen auch bestimmte Verhaltensregeln, die das Miteinander koordinieren und erwartbar machen. Grundlage hierfür ist ein grundsätzliches Reziprozitätserwarten, welches die Beteiligten mit in die Situation bringen. Im Schema der Bestätigungssuche äußert sich das in einer Art ‚quid pro quo‘-Mentalität, wie Rick sie hier beschreibt: Rick: Instagram basiert ja für mich auf äh, durch ein Geben und Neh‐ men. Also wenn keiner was posten würde, wenn alle privat wären, dann würde/ dann würde es diese Sache nicht geben. Aber ich/ mir persönlich macht Instagram Spaß. Und ich glaube dadurch, dass ich diesen Spaß nutze, dadurch dass ich Sachen von anderen Leuten KONSUMIERE und mich daran erfreue, warum sollte ich nicht was dazusteuern. 6.2 Nutzungsschemata 253 Der Befragte gibt an, nicht nur konsumieren, sondern als Ausgleich auch produzieren und aktiv beitragen zu wollen: Er möchte sich in den Kreislauf der Prosumenten-Struktur einbringen. Interessanterweise wird dadurch auch die klassische Dichotomie von passivem Konsum und aktiver Produk‐ tion aufgelöst. Das Erstellen von Beiträgen setzt auf Instagram eine aktive Leistung sowie eine sichtbare Teilnahme am Kommunikationsgeschehen voraus (bzw. bedingt diese) - hier bleibt das klassische Verständnis un‐ berührt. Konsumption wiederum ist klassischerweise passiv konnotiert - so unterscheidet auch Rosa (2016) die (passive) Konsumption eines Gegenstands oder eines Ereignisses von seiner (aktiven) Aneignung. Doch im Rahmen der digitalen Austauschpraktiken auf Instagram werden dem Konsumakt neue Vorzeichen vorangestellt. Konsum ist nicht länger eine stille, unsichtbare Praxis, sondern - zumindest idealerweise - eine aktive und sichtbare. Durch Likes und Follow-Button sind die Nutzenden dazu angehalten, Inhalte nicht nur zu konsumieren, sondern den Konsum glei‐ chermaßen anzuzeigen - in Form von Likes und Kommentaren kann zudem der konkrete Erlebniswert kenntlich gemacht und evaluiert werden. Diese Art des aktiven Konsumierens wird zur Routine, befördert die Produktion der Inhalte und schlägt sich auch in der Erwartungshaltung der Produzierenden nieder: Jessica: Also ich glaube wenns das nicht geben würde, dann würde man wahrscheinlich auch irgendwann die Lust an der Sache verlieren. Also wenn ich jetzt ständig n Bild posten würde und würde kein Feedback kriegen, dann/ Man macht es ja nicht nur für sich, sondern eben, weil man in Kontakt mit anderen Leuten bleiben möchte. Die Befragte gibt hier an, dass die „Lust an der Sache“, am Beisteuern von Inhalten, eng mit dem Feedback zusammenhänge. Ihr geht es also nicht darum, sich lediglich mitzuteilen. Sie möchte sich über den Akt des Bild-Zeigens austauschen, erwidert werden und Resonanz erfahren. Der Befragte im nächsten Ausschnitt wird noch etwas deutlicher: Janosch: Also tatsächlich ist das schon so, dass wenn du/ wenn ich bei Instagram was poste, dann erwarte ich auch irgendwie, dass so n Like dabei rumkommt. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 254 Janosch artikuliert hier eine dezidierte Erwartungshaltung, die nicht mehr nur implizit mitläuft. Resonanz wird dabei nicht mehr nur erhofft oder gewünscht, sondern beansprucht, wenngleich der Anspruch nicht direkt eingefordert werden kann. Der Austausch auf Instagram ist im Schema der Bestätigungssuche also deutlich an der Reziprozitätsregel orientiert und entspricht damit mehr einer Gesprächsform als einem publizistischen Format (wie es etwa der klassische Blog ist, vgl. Kap. 5.1). Das kann in der Konsequenz sogar in regressiven Schleifen enden, wie sie bspw. Goffman (1974) schon für kommunikative Rituale wie Danken und Entschuldigen beschrieb. Neben der Möglichkeit, auf bestätigende Kommentare mit einem bestätigenden Kommentar seinerseits zu antworten, nutzen einige Befragte mittlerweile auch eine neue technische Funktion, die es ermöglicht, sich für Kommentare mit einem Like zu bedanken: Ben: Anfangs hab ich die Kommentare eher so stehen lassen. Inzwi‐ schen gibts ja diese Funktion, dass man Kommentare auch liken kann auf Instagram und das nutze ich dann am ehesten, wenn man Lob für nen Bild bekommt oder irgendwie nette Kommentare dort hat, dass man die auch wertschätzt. Ben beschreibt hier, wie er die Wertschätzung seiner aktiv konsumierenden (in diesem Fall kommentierenden) Follower seinerseits wertschätzt. Die Mechanismen des Likens, Followens und Kommentierens, das lässt sich an diesem Beispiel besonders schön sehen, sind im Schema der Bestätigungs‐ suche in eine Etikette eingegangen, die kommunikative Rituale konstituiert, in denen sich die Gemeinschaft - gemäß Durkheim (1981) - selbst bestätigt und ihrer Einheit rückversichert. Neben dieser stabilisierenden Funktion für die kollektive Identität der Gruppe sorgt das aktive Konsumieren aber auch dafür, dass der Kommunikationsfluss nicht versiegt, sprich: Die Reziprozi‐ tätsorientierung der Beteiligten regt die Produktion neuer Beiträge an, da sie nicht nur Erwiderung - und damit Aufmerksamkeit -, sondern ganz konkret Bestätigung in Aussicht stellt. Ganz bedingungslos erfolgen die Affirmationen allerdings nicht - die Beiträge wollen am Geschmack des Publikums ausgerichtet sein, d. h. sie sollten bestimmten ästhetischen und motivischen Kriterien der Community entsprechen und bei den Betrachtenden ästhetisches Wohlgefallen auslösen. 6.2 Nutzungsschemata 255 Diese Grundvoraussetzung, um in den kommunikativen Kreislauf aufge‐ nommen zu werden, bringt Solange wie folgt auf den Nenner: I: Achtest du da auf etwas Bestimmtes bei den Bildern? Solange: Dass es schön aussieht, aber auch, dass es anderen Leuten gefällt. Also ich würde jetzt kein Bild hochladen, wo ich jetzt denken würde: „Okay, des find nur ich schön, aber generell ist es eigentlich ziemlich hässlich“. Die Bildgestaltung und -auswahl orientiert sich also sowohl an den eige‐ nen ästhetischen Vorlieben als auch an den antizipierten Vorlieben des Publikums. Für diese Geschmackskonzessionen werden im Gegenzug Likes erwartet. Hat man den Geschmack des Publikums besonders gut getroffen, kann sogar mit ‚Sondergratifikationen‘ gerechnet werden: Amira: Diese Kommentare von Nice oder Daumen so, die bleiben jetzt auch nicht hängen, weil die jetzt nicht besonders aussagekräftig sind, aber wenn da n Satz steht dann/ und dann merk ich mir das und ich guck mir meistens dann auch an, wer das jetzt war, der da kommentiert hat, guck mir das Profil von denen an, machn paar Kommentare und Likes zurück. Einfach, weil sich das so gehört. Kommentare gelten, wie Amira hier deutlich macht, als besondere Aus‐ zeichnung - gegenüber der Person, der gemeinsamen Beziehung oder dem jeweiligen Beitrag. Er wirkt zugleich bindend - für Amira gehört es zur Etikette („weil sich das so gehört“), einen Kommentar mit einem Like oder Gegenkommentar zu erwidern. Kommentare sind so gesehen mehr wert als ein einfacher Like. Sie sind, wie Anne es im Folgenden ausdrückt, wie ein ‚doppelter Like‘: Anne: Es is dann aber schon so, dass da halt so/ quasi wie Sachen so doppelt liken, wenn mans dann auch noch kommentiert, und es dann (3) nochn Stückchen persönlicher irgendwie macht. […] Ich kommentier glaube ich relativ wenig. (2) Also bei Instagram kommentier ich nur Sachen, die mir echt gut gefalln. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 256 Anne beschreibt hier abgestufte Formen der Bestätigung. Auch für sie hat der Kommentar eine Sonderstellung. Weiter gibt sie an, Likes nur sehr bedacht einzusetzen. Wenngleich es also nur drei Bestätigungsfunkti‐ onen gibt - Liken, Kommentieren, Followen - werden diese durch den kontextsensitiven Gebrauch von den Nutzenden feinabgestimmt. So können präzisere, beitragssowie nutzerspezifische Unterscheidungen gemacht und angezeigt werden, ohne grundlegende Gebote der Reziprozität oder Höf‐ lichkeit anzutasten. Die geschilderten reziprozitätsorientierten Techniken und Umgangsformen laufen schlussendlich in einem modus operandi der phatischen Kommunikation zusammen. Die Befragte Alea drückt das wie folgt aus: Alea: Ich glaube, dass es grundsätzlich noch (2.0) war, dass die Menschen es auch EINFACH haben wollen. Und sich etwas anzugucken ist einfa‐ cher, als sich Dinge durchzulesen und in gewisser Weise ist Instagram ja auch manchmal so ein bisschen meinungslos, weil da steht ja nie/ Wenn man sich die Kommentare nicht durchliest, ist das ja kein wirklicher Inhalt. Alea bezieht sich hier nicht auf einzelne Individuen oder Praktiken, wenn sie Meinungslosigkeit oder Inhaltsleere auf Instagram moniert. Sie bezieht sich stattdessen auf die Plattform selbst und ihr Setting. Für sie ist Instagram als ‚Sprachraum‘ von einem bestimmten kommunikativen Duktus geprägt, wie sie weiter ausführt: Alea: Ja also ich hab selten erlebt, dass da wirklich gehatet wird. Also wenn da mal was Negatives drunter steht, dann auch eher so etwas wie, wenn irgendwas jetzt irgendwie anzüglich ist oder so, son bisschen. Obwohl ich das bei Instagram auch schon erlebt hab, wenn die caption irgendwas ist, wo sich einer drüber aufregt, dann kann da auch/ ist das trotzdem so. I: Okay caption heißt? Also kannst du das nochmal genauer erläutern? Alea: Sobald da eben ne Meinung, also ne Aussage, mit zukommt, dann ist das wiederum etwas, worüber sich Leute ärgern können. […] Aber nen Bild kann ja selber irgendwie selten anstößig sein, es sei denn man will das bewusst machen. 6.2 Nutzungsschemata 257 Die Befragte gibt an, selten negative Beiträge oder Kommentare - Zurück‐ weisungen bis hin zu Abwertungen - auf Instagram erlebt zu haben. Dies führt sie kausal auf den Zeichenmodus des Bildes zurück: Ein Bild könne eigentlich nicht „anstößig“ sein, es sei denn, man lege es darauf an. Alea erfährt die Bilder auf Instagram als ‚unverfänglich‘ und den visuellen Zei‐ chenmodus entsprechend als ‚Tongeber‘: als strukturierendes Element, das den Umgang der Nutzenden miteinander vorgibt. Eine individualistischere Sichtweise formuliert Ruth: Ruth: Kritik noch überhaupt nicht. […] Aber ich glaube auch, dass ich noch nie wirklich was gepostet habe, was eventuell kritikfähig gewesen wäre, also in Kommentaren oder irgendwie sowas. Muss man aber auch nicht oder muss ich nicht, MACH ich nicht. Also ich GLAUBE eher, dass ICH, wenn dann, nur poste auch was schön ist und (0.5) also das ist aber auch das, was ich mit Instagram machen möchte. Im Verständnis von Ruth sind es die Nutzenden selbst, die über den kom‐ munikativen Stil entscheiden. Sie führt sich selbst als Beispiel einer Nut‐ zerin an, die einen unkritischen bzw. konfliktfreien Kommunikationsstil präferiert und praktiziert. Zugleich stellt sie in Aussicht, dass Instagram als kommunikativer Raum angeeignet und ausgestaltet werden könne („was ich mit Instagram machen möchte“) - in ihrem Verständnis basiert der kommunikative Stil nicht auf zeichenmodalen Determinanten, sondern auf freiem Willen. Doch ganz gleich ob nun der Bildmodus entscheidend ist oder der eigene kommunikative ‚Gusto‘: Beide Befragte konstatieren unabhängig voneinander einen kommunikativen Stil bzw. Modus, der durch die Absenz von Konflikt und starken individuellen Positionierungen geprägt ist. Genauer gesagt: Was beide Befragten hier beschreiben, ist eine Form der phatischen Kommunikation. Unter phatischer Kommuni‐ kation ist ein Modus des unverfänglichen Sprechens zu verstehen, der insbesondere darauf abzielt, soziale Bande herzustellen oder zu kräftigen (vgl. 3.2 und 8.3). Charakteristisch für phatische Kommunikation ist ihre Äußerlichkeit, - die Form steht über dem Inhalt -, die Konsequenzlosigkeit des Austauschs und der Gleichklang, der dabei zwischen den Beteiligten hergestellt wird. Kurz gesagt: Phatische Kommunikation ist formelhaftes, harmonisierendes Sprechen. Im Schema der Bestätigungssuche stellt pha‐ tische Kommunikation den kommunikativen modus operandi dar, aus dem 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 258 entsprechend formelhafte, unverfängliche und harmonisierte Interaktio‐ nen hervorgehen. Die Befragte Kiki ergänzt hierzu einen weiteren Aspekt: Kiki: Aber ich glaube es wird einfach viel oberflächlicher wahrgenom‐ men. Mhm, weil es so viele Leute machen und im In/ bei/ auf Instagram hat man das Gefühl jeder istn Dichter, jeder istn Philosoph, ((lacht)), jeder ist tiefgründig. Und ich glaube deswegen hat's einfach nur noch diese oberflächliche Schiene erreicht. Aus der Sicht der Befragten ist die Kommunikation auf Instagram von Oberflächlichkeit geprägt. Diese rühre paradoxerweise daher, dass zu viele Nutzende gleichzeitig den Anspruch erheben würden, tiefgründig zu sein. Die Masseninszenierung von Tiefgründigkeit würde letztlich zu deren Entwertung führen und damit einen entgegengesetzten Effekt haben. Neben der Formelhaftigkeit und Äußerlichkeit der phatischen Kommu‐ nikation verweist die Befragte zusätzlich auf einen weiteren zentralen Punkt: Die inflationäre Einnahme bzw. Beanspruchung eines Sonderstatus (Kiki spricht polemisch von Dichtern und Philosophen) erschwere letztlich auch deren Wahrnehmung und Validierung. Oder anders ausgedrückt: Auf einer Plattform, wo prinzipiell jeder zum micro-celebrity werden kann, verlieren die tatsächlichen celebrities im Verhältnis dazu an Wert und Außerordentlichkeit. Das rigide Befolgen des Reziprozitätsprinzips und der Austausch im Modus der phatischen Kommunikation führt in der Konsequenz dazu, dass Statusunterschiede - freilich nur scheinbar - eingedampft und nivelliert werden. So spricht Manuela bspw. wie folgt von einer bekannten Bloggerin: Manuela: Also, wenn sie so spricht, in ihren Stories oder so, das ist dann halt wirklich so, als ob sie so ne Freundin wär. Also, weiß ich nicht, man fühlt sich ihr halt sehr nah. Die Befragte drückt hier eine ambivalente Einstellung aus: Sie erlebt bzw. erfährt die bekannte Bloggerin durch deren Beiträge auf Instagram als nah, weiß sie aber fern. Hier verwendet die Befragte den Konjunktiv: als ob sie eine Freundin wäre. Sie kann sich der Anmutung der Beiträge aber trotz 6.2 Nutzungsschemata 259 besseren Wissens nicht erwehren. Auch Janosch spricht im folgenden Zitat davon, sich einer bestimmten Band besonders „nahe“ zu fühlen: Janosch: Ich folge Leuten, die, die zum Beispiel in ner Band spielen. Die ich gut finde, weil die dann/ da gibts aber dann auch Leute, die posten nur was von ihrem Tourleben und das find ich dann irgendwann langweilig. Ich finds lustiger, wenn die dann auch was von ihrem Privatleben posten, weil ich auch Bands höre, die nicht mega groß sind, sondern die auch/ die womöglich sogar noch arbeiten müssen nebenher. Und ja, das bringt mich der Band, hab ich das Gefühl, so bisschen näher und da/ ja das find ich irgendwie lustig so. Als Grund für sein Nähegefühl führt der Befragte die Privatheit der Bildbei‐ träge der Band an und kontrastiert sie mit Bildern anderer Bands, die nur aus professionellen Kontexten stammen würden und ihn daher weit weniger tangierten. Auch für Manuela spielt die Privatheit eine große Rolle und scheint ein ausschlaggebender Faktor für das konstatierte Nähegefühl zu sein: Manuela: Weil durch die Stories da wird (3) das Alltagsleben so/ und das find ich an sich immer ganz interessant, weil man dann halt so sieht, dass die halt genauso sind wie man selber. Und doch, also ich find das eigentlich schon ganz, ganz cool, wenn ein Instagramer oder Influencer da viele Stories posten. Durch die Darstellung des „Alltagslebens“ entsteht für die Befragte eine Verbindung zu ihrem eigenen Leben - sie identifiziert sich mit den Blog‐ genden bzw. identifiziert die Bloggenden mit sich („die halt genauso sind wie man selber“). Derart wird von beiden Seiten - durch die Inszenierung von Privatheit und die Identifikation mit diesen Inszenierungen - eine Art Nähe und Augenhöhe hergestellt. Die Personalisierung von Inhalten stellt eine implizite, aber einigermaßen verbindliche Richtlinie dar, die wie die Ästhetisierung zur Grundbedingung der Teilnahme am kommuni‐ kativen Kreislauf wird. Wer integriert werden möchte, muss seine Inhalte personalisieren. Dies hat - zumindest im Schema der Bestätigungssuche - ein allgemeines, die Plattform durchdringendes Gefühl der Nähe zur 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 260 Folge, das auch die Beziehungen von einander Unbekannten berührt. Die in 6.2.1.4. beschriebenen Gemeinschaftsgefühle bzw. parasozialen Effekte finden ihre Entsprechung in den Praktiken der Symmetrisierung und Personalisierung. In der folgenden Passage beschreibt die Befragte Juliette ausführlich, wie sie Personen über Instagram kennenlernt: Juliette: Dann auch andere Foodblogger zum Beispiel, die in Berlin tätig sind, mit denen ich mich aber auch irgendwann dann halt so im realen Leben halt getroffen habe, einfach zum Austauschen, um zu erfahren, wie sie zum Beispiel zu Instagram gekommen sind, was für Erfahrungen sie gemacht haben. Durchaus auch viele Unbekannte, wenn man so will, Unbekannte, aber in Anführungsstrichen dann. Es/ also es fühlt sich, ich weiß nicht, ob inwiefern das realistisch ist, aber für mich fühlt es irgendwo [so] an, als wenn es nicht komplette Unbekannte sind dann, da man durch ihren Instagram Feed, was auch immer, die Art, wie sie Sachen hochladen, was sie hochladen, schon einen gewissen Kontext hat und sich ein bisschen zusammenreimen kann wie sie drauf sind. Und ja/ und ich würde aber auch sagen, über Instagram habe ich auch viele Leute dann kennengelernt, wie zum Beispiel halt diese ganzen Foodblogger, aber auch Leute mit denen/ also die vom Inhalt her gar nichts mit mir zu tun haben oder Leute, die auch nur Urlaubsfotos hochladen. Der erste Kontakt mit Personen, die Juliette später auch offline traf, kam über deren Profil zustande. Durch das Betrachten der Bilder - und seien es „auch nur Urlaubsfotos“ - „reimte“ sich die Befragte nach eigener Aussage etwas über die Personen zusammen, nahm sie fortan nicht mehr als Unbekannte wahr und stellte einen persönlichen Bezug her. Was Juliette hier schildert, ist das Phänomen der „Hyperpersonalisation“ (Walther 1996), bei dem „das nur sehr unvollständige Bild des Alter Ego durch eigene Imaginationen innerlich“ vervollständigt wird (Dröge 2013: 11). Diese Art der Wahrnehmung eines Nahverhältnisses, ungeachtet des tatsächlichen Status einer Person, ist charakteristisch für das Schema der Bestätigungssuche. 6.2 Nutzungsschemata 261 Für die Schlüsselkategorie Interaktionsregeln lässt sich abschließend folgendes resümieren: Im Schema der Bestätigungssuche kommt es zur Ausbildung geteilter Verhaltensnormen- und -regeln, die vor allem am Reziprozitätsprinzip sowie am Modus der phatischen Kom‐ munikation orientiert sind. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Unverfänglichkeit sowie die positive Rahmung des Austauschs. Durch die Inszenierung von Privatheit im Rahmen dieser geteilten Interak‐ tionsregeln entsteht im Schema der Bestätigungssuche gleichsam ein enthierarchisierter bzw. symmetrischer Kommunikationsraum, der die Nutzenden in ein gefühltes Nahverhältnis zueinander setzt. 6.2.1.6 Zusammenfassung Für das Schema der Bestätigungssuche ist in erster Linie charakteristisch, dass die Nutzenden sich stark mit ihrem eigenen Profil identifizieren und Bestätigung durch die anderen Nutzenden auf Instagram suchen. Aufgrund der starken Identifizierung werden Likes und Kommentare nicht nur auf einzelne Bilder, Kompetenzen oder Rolleneigenschaften bezogen, sondern auf ihre ganze Person - es stellt sich ein umfassendes Gefühl der Bestätigung ein. Viel stärker als bei den anderen Schemata äußert sich im Schema der Bestätigungssuche daher ein Dilemma: Die Nutzenden spielen auf Instagram ihrer Wahrnehmung nach nicht nur eine Rolle, sondern erheben den An‐ spruch, authentisch zu sein. Gleichzeitig sind ihnen ihr Außenbild und ein positives Feedback enorm wichtig, weswegen sie intensiv Strategien der Ästhetisierung und Idealisierung verfolgen. Beides, der Wunsch nach Authentizität und der nach Likes, steht für sie in einem Widerspruch, der nur bedingt auflösbar ist. Denn wer authentisch sein möchte, darf im Schema der Bestätigungssuche eigentlich weder Bilder noch die Wahrnehmung der Anderen manipulieren. Doch zugleich erscheint letzteres als Notwendigkeit, um die eigenen Resonanzbedürfnisse zu befriedigen. Das bringt die Befrag‐ ten oft in eine Art Erklärungsnot. Entweder relativieren sie daraufhin ihren Authentizitätsanspruch, indem sie sich bspw. darauf berufen, dass es nur selbstverständlich und natürlich sei, sich in einem guten Licht präsentieren zu wollen und dass es sich hierbei um eine allgemein übliche Praxis handele. Durch diese Generalisierungen normalisieren sie ihr Handeln. Oft wird aber 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 262 auch der Inszenierungsgrad relativiert und als derart gering oder hinfällig beschrieben, dass er dem Authentizitätsanspruch nicht mehr entgegensteht. Immer jedoch werden beide Ansprüche rhetorisch aufrechterhalten und sowohl die grundsätzliche Authentizitätsorientierung des Handelns betont als auch die Notwendigkeit, anderen gefallen zu wollen. Das Schema der Bestätigungssuche zeichnet sich also durch eine mar‐ kante Mixtur aus innengerichteten und außengerichteten Orientierungen aus, die von den Befragten als kognitive Dissonanz erfahren werden. Wei‐ terhin charakteristisch für das Schema der Bestätigungssuche ist die hohe emotionale Valenz, die ihre Aktivitäten und ihre Teilnahme auf Instagram für sie haben. Bestätigung ruft in ihnen Stolz hervor, das Betrachten anderer Profile erleben sie als „Balsam für die Augen“ und die Community wird als Gemeinschaft erfahren, der man sich zugehörig fühlt und in der man sich gegenseitig emotional stützt. Ein Nähegefühl entsteht dabei sowohl durch tatsächliche Interaktionen als auch durch parasoziale Effekte - die Beteiligten imaginieren soziale Bande und projizieren Wünsche auf be‐ stimmte Profile. Nähe wird aber auch durch die Orientierung an allgemeinen Verhaltensregeln hergestellt, die dem Prinzip der Reziprozität unterliegen. Wie auch die stilistische Gestaltung von Profil und Bildern ist der gesamte Austausch auf Harmonie und Symmetrie ausgerichtet: Sprechakte im Modus der phatischen Kommunikation gestalten das Miteinander unverfänglich und sorgen so für risikoarme und gleichberechtigte Interaktionsstrukturen. Durch diese Formen inszenierter Privatheit wird das Gefühl von Nähe und Statushomogenität zusätzlich verstärkt: Auf Instagram sprechen alle gleich und ‚auf Augenhöhe‘. Unterschiede in der Like- und Followeranzahl werden zwar anerkannt, werden aber nicht Teil einer Statuskommunikation. Bild-Ästhetik, emotionale Aufgeladenheit und Statusnivellierung sind Fak‐ toren, die dazu führen, dass Instagram im Schema der Bestätigungssuche als außeralltäglicher Erlebnisraum erfahren wird, der immersive Qualitäten entfaltet. Die Nutzung von Instagram stellt im Schema der Bestätigungssu‐ che ein durchaus ernstes und zeitintensives Hobby - eine serious leisure (Stebbins 2017) dar. 6.2 Nutzungsschemata 263 6.2.2 Nutzungsschema 2: Erfolgsorientierung 6.2.2.1 Resonanz Hauptmerkmale: ▸ emotionale Distanznahme ▸ Positives Feedback als Bestätigung der eigenen Arbeit ▸ Feedback-Optimierung Das Schema der Erfolgsorientierung ist geprägt von einer Grundhaltung, die gegenüber dem Schema der Bestätigungssuche weitaus sachlicher und nüchterner ist. Dies zeigt sich deutlich an der Einstellung gegenüber Likes und Followern, die hier vorwiegend als Zahlen betrachtet werden und nur in geringem Maße affektiv besetzt sind. So antwortet bspw. der folgende Befragte auf die Frage nach seinen Erwartungen an Likes mit Überlegungen zu Durchschnittswerten: I: Hast du da denn eine bestimmte Erwartung bezüglich der Likes an deine Bilder? Jonas: Ich würd sagen schon, ja. Also es/ ich denke so. Also durch‐ schnittlich krieg ich so/ so, also mindestens eigentlich so vierzig, fünfzig Likes auf meine Bilder. Und alles darunter ist halt schon ein bisschen ENTTÄUSCHEND und da kommts auch öfter vor, dass die Bilder dann wieder gelöscht werden. Der Befragte bringt hier deutlich zum Ausdruck, dass er konkrete Zah‐ lenwerte schätzt und sich auch daran orientiert. Die Zahlen werden als quantitatives Faktum verstanden und weniger als Persönlichkeitsurteil, wie im Falle der Bestätigungssuche. So spricht auch die Befragte in folgendem Zitat nur von der Anzahl der Likes und thematisiert nicht etwa deren Semantik oder emotionale Bedeutung: Amelie: Ich glaube das ist einfach ganz, ganz viel Selbstbestätigung, die man bekommt. Das geht ja einfach um die Likes und um irgendwelche Kommentare und wenn man ein Bild hochlädt und man hat irgendwie 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 264 da tausend Likes drauf, das ist natürlich, äh, natürlich mega Bestätigung für einen selber. Was die Likes genau bedeuten, ob damit etwas über ihre Person ausgesagt wird - all das ist für die Befragte hier nicht relevant. Es zählt einzig die quantitative Stärke der Likes - je mehr desto besser. Auch der folgende Befragte abstrahiert nicht vom Zahlenwert, sondern nimmt den Like an sich als Maßstab: Tom: Und es ist halt auch cool viele Likes und Followers zu haben. ((lacht)) Darum geht’s ja an sich auch, dass man ne Rückmeldung bekommt. Für Tom geht es nicht darum, gemocht zu werden - Likes an sich sind für ihn, auch ohne Ansehung der Personen, die sie vergeben, ausreichend wertig. Mehr noch: Man kann sie wie einen Gegenstand „haben“ bzw. besitzen und damit auch akkumulieren. Im Schema der Erfolgsorientierung steht der Like in seiner Eigenschaft als unpersönliches Gut bzw. als Währung im Vordergrund, während er im Schema der Bestätigungssuche eher einem Kompliment bzw. Persönlichkeitsurteil gleicht. Letzterem entspricht eine konsumierende Haltung, ersterem eine akkumulierende, aber auch spiele‐ risch-kompetitive Haltung gegenüber den Feedbacksignalen. Auf ludische Aspekte verweist auch die folgende Befragte: Ronda: Und irgendwie hab ich daraus bekomm, aha, man kann, wenn du bestimmte Hashtags hast, halt auch noch mehr Likes kriegen. Das war dann irgendwie cool und dann war man son bisschen like-geil, wenn man das so sagen kann. ((lacht)) Das war dann toll, wenn man besonders viele Likes unter seinen Fotos hatte. Ja, und dann fing es an, dass man dann ne besondere Bestätigung bekommen hat. Ronda beschreibt hier wie am Anfang ihrer Instagram-Biographie das eher strategisch-spielerische Jagen und Sammeln von ‚Resonanzeinheiten‘ im Vordergrund stand („noch mehr Likes kriegen“). Damit wäre eine dem Sammelfieber entsprechende „Like-Geilheit“ einhergegangen. Kompetitiv 6.2 Nutzungsschemata 265 ist die Haltung, weil diesem Sammelfieber der Wunsch nach ‚mehr‘ und nach Steigerung inhärent ist, ganz gleich, ob der Vergleichsmaßstab nun die eigenen Likes oder die Likes der anderen sind, die man übertreffen möchte. Sowohl im Schema der Erfolgsorientierung als auch im Schema der Bestätigungssuche wird also Resonanz erfahren und dabei als sehr relevant eingestuft - die Resonanzerfahrung unterscheidet sich dennoch wesentlich. Dies stellt einen scheinbar kleinen, in der Konsequenz aber bedeutsamen Unterschied dar. Im Schema der Bestätigungssuche werden Likes und Follower wesentlich stärker interpretiert und reflektiert und auf die eigene Person bezogen. Hier hat die Resonanz eine eher implizite und subjektive Bedeutung. Im Schema der Erfolgsorientierung hat Resonanz in erster Linie eine explizite und objektive Bedeutung als direkter Gegenwert. Resonanz wird hier nicht als Bestätigung subjektiver Eigenschaften des Ichs verstan‐ den, sondern als Bestätigung objektiver Leistung und als Zeichen des Erfolgs. So greift auch die folgende Befragte mehrmals auf die Formulierung „was erreicht haben“ zurück: Amira: Je mehr Follower hast/ du hast, desto relevanter bist du theo‐ retisch und desto mehr kriegst du dann noch mehr Follower. Und irgendwann ab ner bestimmten Zahl, ich glaub so ab 20.000, kannst du schon Geld damit verdienen, mhm. Aber also/ Und dann hab ich ja schon was erreicht, weil ich ja, schon 3000 irgendwas habe. […] Also ich werd oft gefragt so: „Wie hast du das jetzt gemacht? Warum hast du so viele Likes? Warum hast du so viele Follower? “ Und dann denk ich halt immer schon so: Okay, daran merkt man ja, man hat jetzt irgendwas erreicht schon n bisschen, ne? Für Amira ist Resonanz in Form auszählbarer Likes ein Ausweis von Erfolg, ein Ausweis davon, „was erreicht zu haben“. Dabei orientiert sie sich am Maßstab eines hypothetischen Durchschnittswerts von Likes, der finanziellen Zugewinn verspricht („Geld damit verdienen“). Hierin drückt sich eine dezidiert nüchtern-sachliche Haltung gegenüber Instagram aus, welche sich auch in den Handlungsstrategien niederschlägt. Eine davon ist die Beitrags-Optimierung. Zum Vergleich: Im Schema der Bestätigungssuche wird Resonanz zwar eine hohe Bedeutung beigemessen. Über den Wunsch oder Versuche, diese auch gezielt zu beeinflussen, wird aber nur selten und zögerlich gesprochen. Im Schema der Erfolgsorientierung hingegen 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 266 erscheint dies als Selbstverständlichkeit. Offen wird davon gesprochen, das Beitragsverhalten so anzupassen, dass die Beiträge eine möglichst hohe Resonanz erfahren. Eine Orientierungsgröße sind dabei Kommentare, in denen konkrete Kritik geübt wird: Sonja: Wenn konstruktive Kritik zurückkommt, klar, dann überdenke ich das immer. Dann schaue ich mir das an. Okay, WAS hat die Person kritisiert oder WAS hat sie zum Beispiel als besonders gut empfunden und dann versuche ich das dem so ein bisschen anzupassen. Die Befragte gibt hier an, ihre Beiträge den Wünschen, Erwartungen aber auch dem Tadel, kurz: dem, was sie unter „konstruktiver Kritik“ ihrer Follower versteht, „so ein bisschen“ anzupassen, die Gestaltung ihres Profils aber nicht komplett dem Publikumsgeschmack zu unterwerfen. Der Publi‐ kumsgeschmack ist im Schema der Erfolgsorientierung also nicht der allein maßgebende Faktor. Die Orientierung daran wird jedoch weitaus expliziter und selbstverständlicher thematisiert als im Schema der Bestätigungssuche. Auch die folgende Befragte gibt an, ihr Beitragsverhalten auf das Feedback abzustimmen: Manuela: Das ist die Kritik mit der ich dann arbeiten kann, wo ich sagen kann: Ja stimmt, daran könnt ich nochmal schauen mich zu verbessern oder schön, dass denen das gefallen hat. Dann versuch ich vielleicht mehr sowas zu machen, weil die da sowas toll finden. Also man achtet schon sehr darauf, was die Leute auch sehen möchten. Manuela gibt hier an, verstärkt solche Inhalte zu posten, die entweder direkt nachgefragt wurden oder besonders viel positives Feedback erhielten. Während Kommentare konkrete Hinweise geben, ist die Orientierung an Likes und Followerzahlen weit tentativer. Diese ‚weichen Indikatoren‘ geben nur Auskunft darüber, ob bestimmte Bilder gefallen haben - sie geben aber keine Auskunft darüber, was dem Publikum genau an einem Bild gefallen oder auch nicht gefallen hat. Der Like ist der dominanteste Resonanzindi‐ kator, zugleich aber eine notorisch uneindeutige Orientierungsgröße. Auch der Befragte Ronald gesteht ein, dass seine Publikumskonzessionen über Annäherungen nicht hinauskommen: 6.2 Nutzungsschemata 267 Ronald: Also einerseits hat/ baut man sich irgendwann n Followerkreis auf und die erwarten halt irgendwie von einem, dass man irgendwie weiter Content bringt und da/ denen versucht man natürlich immer gerecht zu werden natürlich auch, so gut es geht. Dass der Befragte über den „Versuch“ und ein „so gut es geht“ nicht hinauskommt, hat zweierlei Gründe. Der subjektive Grund: Der eigene Geschmack ist auch im Schema der Erfolgsorientierung noch wichtig, wenngleich er nicht im Vordergrund steht - und manchmal kann er nicht mit dem Publikumsgeschmack vereinbart werden. Der zweite, objektive Grund: Die Vagheit der Like- und Followerzahlen als Indikatoren erlaubt gar nicht mehr als eine Annäherung. Trotz allem ist das Schema der Erfolgsori‐ entierung von einem sprachlichen Duktus bzw. Habitus geprägt, der typisch für die Bereiche Unternehmen und Marketing ist. Deutlich wird das am für die Erfolgsorientierung typischen Deutungsmuster der Zielgruppe. Der Befragte im obigen Zitat spricht bspw. von einem „Followerkreis“, den er sich „aufgebaut“ hat, ähnlich einer Stammkundschaft. Die Begriffswahl der folgenden Befragten fällt sogar noch etwas ‚unternehmerischer‘ aus: Amira: Wo man halt so merkt, das kommt halt auch bei, sozusagen, Leuten, die man als wichtig erachtet oder wo das, also genau die Zielgruppe, wo das war, die man erreichen wollte, dass/ wenn das da ankommt, dann ja, dann freut man sich glaub ich besonders. Amira spricht hier von der „Zielgruppe“, die sie „erreichen“ möchte. Aus dieser Perspektive betrachtet, handelt es sich - im Gegensatz zum Schema der Bestätigungssuche - beim Publikum nicht um Bewunderer und Fans, sondern um eine Art von Kundschaft, die Leistung mit Gegenleistung vergü‐ tet. Das Verhältnis zum Publikum und dessen Resonanz werden wesentlich rationaler ausgedeutet und weniger affektiv interpretiert. Die zweite Handlungs- und Denkperspektive, welche das Schema der Erfolgsorientierung deutlich von dem der Bestätigungssuche unterscheidet, hängt mit eben dieser Affektreduktion zusammen. Im Schema der Erfolgs‐ orientierung wird geradezu strategisch eine Haltung der emotionalen Dis‐ tanzierung angestrebt. Das klang bereits weiter oben bei Jens an, der einen gewissen Gleichmut in Bezug auf Likes und Follower konstatierte („relativ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 268 egal“, „nicht wirklich wichtig“). Das Schema der Erfolgsorientierung ist ge‐ prägt von der Bemühung, das Geschehen und die Aktivitäten auf Instagram unter objektive, rationale Vorzeichen zu stellen und genau das zu vermeiden, was sich als charakteristisch für das Schema der Bestätigungssuche erwies: sich affizieren zu lassen. Exemplarisch hierfür steht der folgende Vergleich von Instagram mit einem Computer-Algorithmus: Amira: Ich glaub, man muss echt aufpassen, dass man das überhaupt nicht persönlich nimmt. (0.5) Weils hat einfach NICHTS damit zu tun, glaub ich. Es ist einfach (0.5) wie son Computer-Algorithmus schon fast so. Du musst das und das tun und dann wird das und das passieren und wenn dus nicht tust, passiert es nicht. Keine Ahnung. (2.0) Ich seh das halt nicht persönlich, deswegen betrifft mich, berührt mich das dann nicht emotional. Amira vergleicht die Kommunikation auf Instagram hier mit mechanischem Handeln, dessen Wirkungen kontrollierbar und vorhersehbar sind. Das disqualifiziert das Feedback in ihren Augen als Persönlichkeitsurteil und entwertet seine emotionale Valenz. Auf Instagram Erfolg zu haben, zeigt, dass man die Funktionslogik der Plattform verstanden hat. Es sagt aber nichts über die eigene Person aus. Die Befragte Sonja nimmt Instagram ebenfalls nicht persönlich, beschreibt aber, wie sie erst lernen musste, sich ein dickeres Fell zuzulegen: Sonja: Anfangs habe ich so etwas immer SEHR persönlich genommen. Also es hat mich wirklich SEHR verletzt, wenn Leute dann angefangen haben irgendwie mich da irgendwie schlecht zu reden oder irgendetwas Negatives zu schreiben. Aber mit der Zeit lernt man quasi, das so zu überlesen. Die Befragte berichtet hier von negativer Resonanz, mit der sie gelernt habe, umzugehen, was in diesem Fall heißt: sie nicht zu beachten. Aber auch hinsichtlich der positiven Resonanz -die häufiger vorkommt - werden Vorsichtsmaßnahmen getroffen bzw. Haltungen eingeübt. Das beschreibt die Befragte in der folgenden Passage, in der sie von einer Bekannten berichtet: 6.2 Nutzungsschemata 269 Amira: Und dann meinte sie, sie is auch immer so in Druck, wenn da keine Follower und keine Likes kommen. Dann is immer so: „Ah, hab ich jetzt was falsch gemacht? “ und sie meinte, ihr gehts irgendwie dabei einfach nich gut und deswegn lässts sies dann sein. Also deswegen, ich glaub da braucht man auch theoretisch n bisschen mentale Stärke für, dass man das nich zu nah an sich ranlässt und sagt so/ Also, dass man sich nicht sozusagn durch diese Follower und Likes identifiziert und sagt so: „Ich bin jetzt so und so wichtig, weil ich so und so viele Follower hab.“ Die Befragte spricht hier von „mentaler Stärke“ und von der Notwendigkeit, Likes und Follower “nicht zu nah an sich ranzulassen“ oder sich damit zu identifizieren. Sie befürchtet, der Resonanz ansonsten zu viel Wert beizumessen, sowohl im Positiven (‚sich wichtig nehmen‘) als auch im Negativen (‚Druck verspüren‘). Insofern plädiert sie für eine abgeklärte, leidenschaftslose Haltung gegenüber dem Publikum. Wie im Schema der Bestätigungssuche werden Bildbeiträge auch im Schema der Erfolgsorien‐ tierung als Akte der Selbstpreisgabe verstanden, durch die man sich dem wertenden Blick der Anderen aussetzt: Irene: Ich hab gesagt: „Oh, ich weiß nicht, ob ich mich das traue“. Weil es ist halt schon son Schritt. Es is ein anderer Schritt, als wenn du Food machst oder halt Essen fotografierst. Du präsentierst dich halt selber in dem Moment, in dem du Fashion machst. Und klar, es is dann schon was anderes, als wenn du einfach nur ein Teller mit Essen fotografierst, ne. Also […] du rückst halt selber so in den Fokus und man muss dafür halt schon n gewisses Selbstbewusstsein haben, sich dann so zu präsentiern, wie ich finde. Die Befragte grenzt hier deutlich Bilder, auf denen sie selbst zu sehen ist, von weniger kritischen Motiven wie etwa „Essen“ ab. Das Risiko geht also in erster Linie von Beiträgen aus, die das eigene Ich zeigen, also vom Akt der Selbstpräsentation. Im Schema der Erfolgsorientierung wird versucht, die negativen Konsequenzen dieser potentiell gesichtsbedrohenden Akte zu vermeiden, indem man sich emotional immunisiert. Diese Haltung ist nicht aneignend, sondern negierend. Anstatt die Publikumsresonanz 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 270 reflektierend zu bewältigen, wie im ersten Schema, werden Like- und Followerzahlen hier entproblematisiert, indem sie entpersonalisiert, d. h. auf ihre objektiven Eigenschaften reduziert werden. Entsprechend werden im Schema der Erfolgsorientierung psychische und emotionale Folgen der Nutzung (positiv oder negativ) nur selten themati‐ siert, da sie schemalogisch keine Rolle spielen sollten. Bestätigungen werden dankend an-, aber nicht persönlich genommen. Auch negative emotionale Folgen werden nicht bzw. kaum thematisiert, zumindest nicht mit derselben Emphase wie im Schema der Bestätigungssuche. Eine Ausnahme stellt etwa das oben erwähnte Sammelfieber dar, wie es hier auch von Amelie angesprochen wird: Amelie: Also was mich motiviert Instagram aufzurufen, ist eigentlich, dass ich mir wirklich ganz oft die Bilder angucke, einfach nur und gucken will was da/ was da schönes Neues ist. Und die Followeranzahl hat mich/ Ja, na klar, also wie gesagt, vor n paar Monaten wars natürlich so, dass mit jedem neuen Bild einfach was weiß ich wie viele Follower, neue, 10 oder 20 oder so kamen halt einfach immer dazu und natürlich ist man dann irgendwann angefixt und denkt so: „Okay, jetzt noch 100 mehr und noch 200 und dann in diesem Jahr noch, weiß nicht, die 10.000 knacken“ oder so. Der Wunsch, Follower zu ‚sammeln‘, wird hier zwar als eine Art Sucht beschrieben („angefixt“), ansonsten aber gibt sich die Befragte demonstrativ unemotional. Ihre Sprache ist nüchtern, die transportierte Geisteshaltung rational und zahlenorientiert, die Handlungslogik spielerisch-kompetitiv („die 10.000 knacken“). Aus dieser Perspektive erscheint die Lust am Feed‐ back nicht als Lechzen nach Anerkennung, sondern als ‚Rausch der Zahlen‘ und Sammelfieber. Im Schema der Erfolgsorientierung finden Vergleiche entsprechend auch auf einer anderen, quantitativen Ebene statt. Nicht Lebensstil, Aussehen oder Erlebnisse werden primär verglichen, sondern Likes und Follower - eben jene Eigenschaften, die auszählbar sind, einen konkreten Maßstab liefern und einen direkten Vergleich ermöglichen - auch mit sich selbst: 6.2 Nutzungsschemata 271 I: Und wie ist da so deine Erwartung? Sagst du, ich möchte ne durch‐ schnittliche, also ne bestimmte Anzahl an Likes haben? Solange: Nö, eigentlich nicht, aber es gibt immer so ne Art Richtzahl. Also man weiß ja was das Höchste war, das man mal bekommen hat, was bei mir so ungefähr 50 waren. Von Hundert würde ich jetzt nie ausgehen ((lacht)), das ist utopisch. Aber also so, keine Ahnung, 25, 50 ist schon okay. Der Maßstab, den Solange hier angibt, ist intern - sie orientiert sich an ihren eigenen Bestmarken, die wiederum festlegen, was als gutes oder ausreichen‐ des Feedback zu gelten hat. Die Befragte Amira wiederum vergleicht sich selbst mit einem kolportierten Durchschnittswert von Followern, berichtet aber auch von Nutzenden, die sich mit ihren (Amiras) Likes und Followern vergleichen. Amira: Also ich werd oft gefragt so: „Wie hast du das jetzt gemacht? Warum hast du so viele Likes? […] Warum hast du so viele Follower? “ Ich hab jetzt glaub ich grad 3300 oder so? Also is halt wirklich noch nich (1) viel, aber is jetzt auch nich wenig. Also ich glaub irgendwo hab ich mal gelesen, durchschnittliche Followerzahl bei Instagram sind 200. Hierbei handelt es sich um Strategien der Resonanzmessung und -bewer‐ tung, die an externen Maßstäben orientiert sind. Ob interner oder externer Maßstab: Das Feedback wird nicht einfach hingenommen, sondern auf sein quantitatives Gewicht hin befragt. Das erweist sich aufgrund der semantischen Offenheit der Zahlen nicht immer als einfach und so ergibt sich für viele ein Deutungs- oder Interpretationsproblem. Was bedeutet ein Like, was bedeuten so und so viele Follower? Diese Fragen können zu teils recht komplizierten Reflexionen führen: Felix: Es kommt halt immer darauf an, wie es zum Verhältnis darüber steht. Wenn man jetzt viele Abonnenten hat und WENIG Likes, ist es glaube ich SCHWIERIGER, als wenn man jetzt weniger Likes hat, aber dafür trotzdem/ Wenn man jetzt zehn Abonnenten hat und Drei liken das, dann ist schon gewisser Anteil da. Aber wenn man jetzt, was weiß 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 272 ich, über 100 Abonnenten hat und dann auch nur ZEHN liken. Das ist ja dann schon anderes VERHÄLTNIS. Also man muss das immer, denke ich, auch immer ins Verhältnis mit den Abonnenten setzen und ja, wie das GEFÜHL dabei ist. Felix versucht hier, Likes und Follower ins Verhältnis zu setzen und daraus Wertigkeit abzuleiten. Letzten Endes gesteht er aber eine gewisse Unzuläng‐ lichkeit dieser rationalen Wertmaßstäbe ein und landet beim Gefühl als ausschlaggebendem Faktor für seine Wertzuschreibung. In dieser Passage zeigt sich nochmal deutlich die Schwierigkeit, aus den scheinbar eindeutigen Zahlen und den daran anknüpfenden Vergleichen sinnhafte Bedeutung zu extrahieren. Für die Schlüsselkategorie Resonanz lässt sich festhalten, dass das Schema der Erfolgsorientierung von einer nüchternen Haltung gegen‐ über Likes, Kommentaren und Followern geprägt ist. Wertigkeit und Bedeutung dieser Resonanz- und Feedbacksignale werden anerkannt, allerdings nur als objektive und zählbare Erfolgsindikatoren. Von persönlichen oder emotionalen Bedeutungen distanzieren sich die Be‐ fragten weitestgehend, entwickeln sogar Strategien der emotionalen Immunisierung. Die emotionalen Effekte sollen minimiert werden, die praktischen dagegen optimiert: Aus dem Feedback sollen Erkennt‐ nisse über die Wünsche und Erwartungen des Publikums abgeleitet werden, die es wiederum ermöglichen, Beiträge gezielt so zu gestalten, dass damit mehr Likes erhalten und mehr Follower erreicht werden. 6.2.2.2 Arbeit am Selbst Hauptmerkmale: ▸ Selbstbewusste Annahme eines „Cyber“-Ichs ▸ Gezielt künstliche bzw. idealisierte Inszenierung ▸ Begrenzte Identifikation mit dem eigenen Profil Bereits hinsichtlich des Umgangs mit Resonanz zeigte sich für das Schema der Erfolgsorientierung, dass der Grad des emotionalen Engagements niedri‐ 6.2 Nutzungsschemata 273 ger liegt als beim Schema der Bestätigungssuche. Dies spiegelt sich auch auf der Ebene des Selbstmanagements wieder: Sowie im Schema der Erfolgsori‐ entierung Zustimmung und Ablehnung auf Instagram weniger persönlich genommen werden, so fühlt man sich insgesamt auch weniger als ‚ganze Person‘ angesprochen und versteht die Selbstdarstellungen nur bedingt als Intimkommunikation. Für die folgende Befragte liegt der Grund dafür in der unrealistischen Selbstdarstellung: Larissa: Man versucht sich immer ins beste Licht zu rücken und ich glaube, dass müssen alle WISSEN, dass das nicht das echte Leben ist teilweise. Und, ja. Das sollte nicht zu ernst genommen werden, was dort immer passiert. Für Larissa resultiert aus der Beobachtung, dass Instagram „nicht das echte Leben“ repräsentiert, der Anspruch, es „nicht zu ernst“ zu nehmen - ihr persönliches Engagement sinkt. Auch im Schema der Bestätigungs‐ suche wird Instagram als unrealistisch ‚erkannt‘. Dort wird aber noch versucht, die Künstlichkeit zu relativieren, um sie mit dem eigenen Authen‐ tizitätsanspruch zu versöhnen. Im Schema der Erfolgsorientierung wird die Künstlichkeit stattdessen selbstbewusst angenommen und kultiviert. Exemplarisch hierzu der folgende Befragte: Tom: Darum geht’s doch auch voll bei Instagram, um Selbstdarstellung eigentlich. ((räuspert sich)) Es ist ja an sich auch nur son Sehen und Gesehen werden, um sich quasi halt anders darzustellen, also n Stück weit halt anders darzustellen, als man wirklich ist. Für Tom ist unbestreitbar, dass Sinn und Zweck der Plattform Instagram darin bestehen, sich vor anderen darzustellen und es dabei mit der Wirk‐ lichkeit nicht ganz so genau zu nehmen. Diese Feststellungen äußert er im Duktus der Selbstverständlichkeit - weder Bedenken noch Scham drücken sich darin aus („Darum geht’s doch auch voll“). Während im Schema der Bestätigungssuche eine (selbst-)kritische Haltung gegenüber Selbstdarstel‐ lung und Idealisierung überwiegt, zeichnet sich das Schema der Erfolgsori‐ entierung durch eine deutlich wohlwollendere Haltung aus. Beide Aspekte, Selbstdarstellung und Idealisierung, werden als unproblematisch erachtet, 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 274 ja sogar als charakteristisches und quintessentielles Merkmal der Plattform gesehen. Diese Haltung entsteht nicht ohne, sondern im Wissen um die Kontroversen, welche die Praktiken umgeben. Selbstdarstellung und Ideali‐ sierung sind also nicht selbstverständlich und unproblematisch im Sinne routinierter und nicht weiter hinterfragter Alltagspraktiken. Die Befragten verhalten sich stattdessen sehr gezielt dazu - sie entproblematisieren und entdramatisieren die Praktiken durch neue Rahmensetzungen. Während im Schema der Bestätigungssuche versucht wird, Authentizität und Ideali‐ sierung rhetorisch auszutarieren, wird im Schema der Erfolgsorientierung versucht, dem Problem zu begegnen, indem der Anspruch an Authentizität aufgegeben wird. Dies zieht wiederum bedeutende Neurahmungen der Inszenierungspraktiken nach sich. Insbesondere zwei Überlegungen sind dabei leitend: Erstens attestieren sich die Befragten typischerweise eine oppurtunistische Haltung: Sie geben an, sich zu inszenieren, um Plattform‐ konventionen zu entsprechen und mehr Likes und Follower zu erhalten. Rick drückt das wie folgt aus: Rick: Du gibst eigentlich nicht was von DIR, sondern du gibst FÜR andere, um andere bei der Laune zu halten, um MEHR Follower zu bekommen. Und ich glaub in der Hinsicht muss man sich ein Stück weit inszenieren. Der Befragte legitimiert seine Handlungen einerseits mit einem altruisti‐ schen Argument: Es gehe ihm nicht um ihn selbst, sondern um andere, die er mit den inszenierten Bildern „bei der Laune“ halten möchte. Das sei aber kein Selbstzweck, sondern notwendiges Mittel („muss man sich ein Stück weit inszenieren“), um mehr Follower zu erhalten und somit erfolgreich zu sein. Diesem Ziel wird letztlich die komplette Selbstdarstellung untergeordnet. Dies kann bedeuten, wie es der Befragte in der folgenden Passage schildert, dass vom einzelnen Motiv bis hin zum Profil alles darauf ausgerichtet wird, ein positives Image nach außen zu transportieren, das möglichst viel positive Resonanz findet. Man achtet darauf, dass das inszenierte Selbst beim Publikum „ankommt“ und gefällt: Jonas: Wenn ich jetzt Bilder von mir selber poste, achte ich natürlich darauf, dass ich finde, dass ich darauf gut ausSEHE auf jeden FALL. Und ja, 6.2 Nutzungsschemata 275 ich würd auch sagen, ich achte immer darauf, dass es irgendwie, dass es so aussieht, als würd ich wirklich viel unternehmen und dass es interessant ist für die Leute halt so. Auch vielleicht so, sowas wie Lebensfreude ausgestrahlt wird, weil ich halt auch echt das Gefühl habe, dass sowas immer am besten ankommt auf jeden Fall. […] Wobei ich dazu sagen muss, dass ich vor kurzem jetzt erst, die meisten meiner Bilder gelöscht habe halt, um mein Profil irgendwie ein bisschen übersichtlicher zu gestalten und halt irgendwie auch son bisschen qualitativ höher so. Ich hab dann zum Beispiel die Bilder rausgenommen, die jetzt nicht ganz so gut ankamen und/ Damit Leute, die auf mein Profil gehen, echt sehen, der hat viele Likes. Und halt/ hab halt die Besten drin gelassen, ja. Jonas gibt hier an, dass es ihm in erster Linie darum geht, dem Publikum zu gefallen bzw. diesem das zu geben, was es (in seinen Augen) sehen möchte - ohne dass dabei von Jonas bewusst größere Konzessionen an Authentizitäts‐ normen o. ä. gemacht würden. Dies geht so weit, dass sogar die Bedeutung der Likes für die Außenwirkung des Profils mitreflektiert wird. Qualitativ hochwertig ist, was aufgrund der erhaltenen Likes hochwertig erscheint. Allem, was diesem Eindruck widersprechen könnte, wird die Sichtbarkeit entzogen. Weniger erfolgreiche Bilder zu löschen, versteht Jonas als Quali‐ tätsverbesserung („son bisschen qualitativ höher“) - aus dieser Perspektive besehen liegt keine (negativ verstandene) Eindrucksmanipulation vor, son‐ dern eine (positiv verstandene) Profiloptimierung zugunsten des Publikums und der Popularitätssteigerung. Neben dieser zweckrationalen Rahmung existiert im Schema der Erfolgs‐ orientierung aber noch eine zweite Rahmung, die dazu dient, die Idealisie‐ rungspraktiken zu legitimieren. Die Befragten negieren dabei den Vorwurf der Eindrucksmanipulation durch die Berufung auf spielerisches Verfrem‐ den von und Experimentieren mit dem eigenen Selbstbild. Jim schildert in der folgenden Passage eine ebensolche Orientierung, aber auch seine Abkehr davon: Jim: Dann habe ich MEHR noch mich inszeniert, weil ich einfach DER sein wollte, den ich mir überlegt habe. Und habe dann aber im Laufe der Zeit gemerkt, dass EINMAL eben […], dass die Jugend sehr sensibel 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 276 schon auf das Thema ist und merkt, wenn man sich eben ZU sehr inszeniert. Der Befragte gibt an, dass er in erster Linie eine Kunstfigur etablieren wollte - den, „den ich mir überlegt habe“. Dann habe er aber gemerkt, dass das Publikum auf sein Inszenierungskonzept negativ reagiert und sich künftig weniger (ostentativ) inszeniert. Nicht aus Bedenken oder einem inneren Konflikt heraus, sondern aus opportunistischen Gründen: Nicht Jim selbst, sondern das Publikum entscheidet, ob eine Inszenierungspraxis legitim ist. Auch der folgende Befragte äußert keine grundsätzlichen Vorbehalte, sondern begrüßt die Möglichkeiten der Eindrucksmanipulation: Pedro: Wenn daraufhin Leute mich fragen, wie ich mich beschreiben würd oder sowas, dann drück ich denen einfach mein Handy in die Hand und zeig denen meinen Feed und sag so: „Ja hier, guck einfach, dann wirst dus schon sehen“ so. Also in dem Sinne, es ist haltn neuer erster Eindruck auch, den man witzigerweise auch komplett, ja auch also relativ gut, kontrolli/ inszeniern kann. Auch Pedro macht hier keinen Hehl daraus, dass er gezielt beeinflussen möchte, wie andere ihn wahrnehmen. Er spricht davon, einen „neuen ersten Eindruck“ schaffen zu wollen und dass ihm die Inszenierungsmöglichkeiten der Plattform dabei helfen. Interessant ist, dass der Befragte sich beim Wort „kontrollieren“ verbessert und dieses durch „inszenieren“ ersetzt - möglicherweise, da ‚Inszenierung‘ als Wort semantisch weniger stark vor‐ belastet und unverfänglicher ist, während der Begriff des „Kontrollierens“ negativ konnotiert ist und als Täuschungsabsicht ausgelegt werden könnte. Es gehe lediglich darum, Inszenierungsmöglichkeiten anzuwenden, die es „witzigerweise“ gebe. Das bewusste und autonome Spiel mit dem eigenen Selbstbild übt einen nicht zu unterschätzenden Reiz aus. Auch im Schema der Bestätigungssuche spielt es eine Rolle; es kommt als Orientierungsvektor aber erst im Schema der Erfolgsorientierung stärker zum Tragen, wie an den folgenden Beispielen zu sehen ist: 6.2 Nutzungsschemata 277 Anne: Ich glaub ich hab so ne Vorstellung davon, was irgendwie in dieses Muster passt, wie ich gesehen werden will und wie halt nicht und so. Es klingt irgendwie total absurd, aber irgendwie baut sich das dann halt so/ So keine Ahnung, es is ja so ne gewisse Ästhetik die ja jeder irgendwie verfolgt und wie man irgendwie auch gesehen werden will und sich irgendwie darstellen will oder? Anne verweist, wie auch schon Jim oben, auf eine „Vorstellung“ und Idee davon, wie sie vom Publikum gesehen werden möchte und die sie mittels Instagram glaubt umsetzen zu können. Es geht also weniger darum, wie die Befragten sich selbst sehen - dieser Aspekt spielt im Schema der Bestätigungssuche eine größere Rolle -, als darum, welches Bild man nach außen vermitteln möchte, ungeachtet der Kongruenz mit dem eigenen Selbstverständnis. So deutet Annes Formulierung auch stärker auf Kon‐ struktionsdenn auf Repräsentationsleistungen bei der Darstellung dieses Ichs hin. Sie spricht vom „Muster“ und einer „gewissen Ästhetik“ und suggeriert eine Verselbstständigung der Inszenierungspraktiken („absurd“, „baut sich das dann halt so [auf]“). Sie beschreibt ein Spiel der zunehmenden Selbsttypisierung und Ich-Formierung oder stärker: der Ästhetisierung und Verfremdung. Dieses Spielen mit Typisierungen und Formen umschreibt sie an einer anderen Stelle mit einer Alltagsmetapher: Anne: Oder ich miste das dann auch gerne aus, weil ich damit ja/ weil ich damit dann nichts mehr/ Das is wie halt Klamotten ausmisten, die einem nicht mehr gefallen. Zieht man ja dann auch nicht mehr an oder lässt sie einfach so im Schrank liegen […]. Sich auf Instagram selbst darzustellen vergleicht Anne hier mit dem Anzie‐ hen von Kleidung und dem ‚Ausmisten‘ obsoleter Kleidungsstücke, wobei die Bilder die Kleidung repräsentieren. Das Selbst ist hier für Anne kein Selbst, das eines Identitätskerns bedarf - es ist ein Selbst, dessen Aktualität und Plastizität betont wird und das sich mit den Bildern genauso ändert wie das Selbst sich mit der Kleidung ändert und umgekehrt. Nutzt Anne noch die im Alltag verhaftete Metapher des Sich-Ankleidens, greift Amira im Folgenden auf eine Metapher zurück, die näher an der Außeralltäglichkeit des Sich-Verkleidens rührt: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 278 Amira: Das ist wie so ne/ vielleicht auch wie ne Rolle, die man spielt so. Als ob Instagram ne Bühne wäre und man stellt sich so ein bisschen dar. Die Befragte vergleicht Instagram hier mit einer Bühne und das Profil mit einer Rolle, die man einnehmen, spielen und wechseln kann, die man aber nicht ist. Damit greift Amira auf ein der Authentizitätsnorm diametral entgegengesetztes Deutungsmuster zurück: Instagram sei kein realer Raum, sondern ein im wahrsten Sinne des Wortes virtueller Raum; kein Raum der Ich-Repräsentation, sondern einer der Ich-Kreation und -Projektion. Dem Publikum kommt dabei eine dem Metaphernkomplex entsprechende Bedeutung zu: Wie bei einer Aufführung entscheidet es, ob eine Darstellung und mit ihr der oder die Darstellende erfolgreich ist. Ihre Anerkennung und ihr ‚Applaus‘ wird gesucht - allerdings primär für eine Darstellungsleistung und nicht für die eigene Person. In Anbetracht dessen erstaunt es nicht, dass die Identifikation mit den digitalen Alter Egos im Schema der Erfolgsorientierung geringer ausfällt als im Schema der Bestätigungssuche. Da nur eine Rolle gespielt wird, bewegt man sich im Rahmen von relativ unpersönlicher Kommunikation, die nicht am Verständnis der eigenen Person oder des ‚Kern-Selbst‘ rührt, sondern auf rollenspezifische Interaktionsnormen und Sinngebungen beschränkt bleibt. So konstatiert beispielsweise der folgende Befragte, dass seine „Intimsphäre“ intakt bleibe: Tom: Aber es geht halt nicht wirklich in die Intimsphäre rein. Es ist halt eher/ Wenn ich was auf Instagram poste, weiß ich ja auch wer das sieht und ich will ja auch, dass die Leute das sehen. […] Da geht es halt auch wieder n Stück weit in dieses Selbstinszenierungsding. Also darum geht’s mir halt, mich einfach selber irgendwie zu präsentieren, so wie ich/ so wie ich mir das vorstelle. Auch Tom rekurriert auf das oben beschriebene Deutungsmuster der Ich-Kreation: Er hat eine Vorstellung davon, wie er sich inszenieren und vor anderen darstellen möchte und welches Image er präsentieren möchte. Diese Vorstellung setzt er auf Instagram bestmöglich um. Besonders interessant ist aber der Verweis zu Beginn der Passage: Der Befragte spricht von 6.2 Nutzungsschemata 279 seiner Intimsphäre und betont, dass das, was er auf Instagram poste, „da [in die Intimsphäre] halt nicht wirklich reingehe“. Anders ausgedrückt: So sehr motivisch auch private Lebenswelten abgebildet sein mögen (hier unterscheiden sich die Schemata nicht voneinander), sie werden im Schema der Erfolgsorientierung nicht als privat bzw. intim erfahren. Der Ausschnitt, der präsentiert wird, ist kontrolliert, selektiv und überzeichnet und tangiert aus der Perspektive der Erfolgsorientierung das ‚wahre‘ bzw. ‚eigentliche‘ Ich nur am Rande, wenn überhaupt. In den folgenden Aussagen von Amira konkretisiert sich dieses Deutungsmuster und die Divergenzen zum Schema der Bestätigungssuche werden deutlich: Amira: Du siehst keine Charaktereigenschaften auf Bildern. Das ist ja auch eigentlich warum ich mit Instagram angefangen hab, weil ich auch/ Meine gute Freundin hat auch (0.5) sehr, sehr auffällige Bilder auf Instagram mit ganz viel Schminke und ganz viel Fashion und was weiß ich und sieht in echt auch überhaupt nicht so aus. (1.0) Und da meinte ich halt auch so: (0.5) „Warum ist das denn so? “ und sie meinte: „Ja, warum denn nicht“. (0.5) Und vorher hab ich das immer ein bisschen verurteilt, weil ich dachte, das zeigt doch auch den Charakter ein bisschen, dass sie tussig ist oder was weiß ich oder oberflächlich. Aber da ich sie ja in echt kenne und weiß, dass sie eigentlich gar nicht so IST, hab ich halt irgendwann gemerkt, man kann von diesen Bildern nicht auf ihren Charakter schließen. Die Befragte weist die Ansicht von sich, dass von einem Instagramprofil auf Charaktereigenschaften der Profilinhabenden geschlossen werden könnte. Das steht im Kontrast zum Schema der Bestätigungssuche: Hier besteht die Überzeugung, dass Instagramprofile durchaus aussagekräftige Charakter- und Persönlichkeitsdisplays sind. Im Schema der Erfolgsorientierung ist das Instagram-Ich hingegen eine mediale Kunstfigur, deren abgebildete Eigen‐ schaften nicht mit denen der Profilinhabenden übereinstimmen (müssen). Amira betont dies am Beispiel der Freundin: Die reale Person und das digitale Alter Ego müssten sich weder äußerlich („sieht in echt auch überhaupt nicht so aus“) noch innerlich („dass sie eigentlich gar nicht so IST“) gleichen. Katja drückt diese Losgelöstheit des realen vom virtuellen Ich wie folgt aus: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 280 Katja: Was das ganze Datenschutz und Zeug angeht irgendwie is mir dis/ Ich bin da aber irgendwie/ denke ich auch, ok dann is es so. Irgendwie is halt mein Cyber-Ich dann doch nich so ich. Deswegen is es mir egal, versteht ihr? Gefragt nach den Konsequenzen der öffentlichen Darstellung scheinbar privater Inhalte im Netz konstatiert die Befragte Gleichgültigkeit. Sie be‐ gründet das mit damit, dass ihr „Cyber-Ich dann doch nich so ich“ sei. Und wo keine reale Entsprechung vorliegt, da sind auch keine negativen Konsequenzen zu erwarten. In der Rede vom Cyber-Ich drückt sich eine für das Schema der Erfolgsorientierung charakteristische Selbst-Wahrnehmung aus: Die Bilder auf Instagram zeigen zwar ein Ich, aber eben „doch nich so“. Es wird verstanden als ein nur abgeleitetes oder sekundäres Ich - eben kein vollwertiges Ich. Entsprechend kommt ihm als Bindestrich-Ich auch nicht die gleiche Relevanz wie dem ‚eigentlichen‘ Ich zu. Wir halten fest: Im Schema der Erfolgsorientierung werden Disso‐ nanzen zwischen Authentizitätsnormen und Idealisierungsanforde‐ rungen umgangen, indem der Anspruch auf Authentizität gänzlich aufgegeben wird. Das Selbst, das auf Instagram präsentiert wird, wird ostentativ inszeniert, bewusst überzeichnet und an Idealvorstellungen und dem Publikumsgeschmack ausgerichtet. Aus Spaß am Experimen‐ tieren mit Ich-Entwürfen oder aus zweckrationalen Gründen der Erfolgsoptimierung werden stilistisch überhöhte Varianten des Ichs präsentiert. Diese Idealisierungspraxis wird nicht kritisch eingeord‐ net oder relativiert, sondern selbstbewusst in allen Konsequenzen vertreten. Eine Identifikation mit dem eigenen Profil findet dabei nur sehr bedingt statt. Der jeweilige Selbstentwurf und die dargestellten Eigenschaften werden, wenn überhaupt, nur ansatzweise als Reprä‐ sentation des Selbst verstanden. Entsprechend wird im Schema der Erfolgsorientierung vehement die Ansicht kontestiert, dass sich von Profilen oder einzelnen Bildern auf die Persönlichkeit der Nutzenden schließen ließe. 6.2 Nutzungsschemata 281 6.2.2.3 Nutzungsinteressen Hauptmerkmale: ▸ Follower- und Like-Sammeln, Jagd nach Zahlen ▸ Erfolg und Herausforderung / Arbeit ▸ Strategische Orientierung am ästhetischen Geschmack der "Ziel‐ gruppe" Die Nutzungsinteressen im Schema der Erfolgsorientierung sind grundsätz‐ lich anders ausgerichtet als im Schema der Bestätigungssuche. Geht es dort insbesondere um die gemeinsame Kultivierung eines emotionalen und ästhetischen Empfindens in Bildern und Kommentaren, so ist das Schema der Erfolgsorientierung auch hinsichtlich der Interessen stark zweckrational geprägt. Das Handeln ist orientiert am Streben nach zählbaren und messba‐ ren Erfolgen, im Fokus stehen objektive Zielwerte und deren Erreichung. Die folgende Befragte stellt diese Haltung einer an subjektiven Werten orientierten Haltung gegenüber: Amira: Also wie gesagt, ich mag dieses/ diesen Fotostil total gerne und deswegen setze ich das auch gerne bei mir selber so um. Aber ich hab zum Beispiel auch schon versucht viele Follower und Likes zu bekommen, weil, (2) und jetzt kommt der Clou, man kann auf Instagram auch Geld verdienen. ((lacht)) […] Ich hab auch schon bevor ich auf Instagram war immer irgendwie Fotos gemacht und ja, da setz ich das dann einfach um und hab aber halt da noch son, sag ich mal, erwachsenes Ziel dazu. Also nich so ne (2) „Heititei, ich mach jetzt mal Fotos und mal guckn“, sondern irgendwie/ Man kanns dann halt dann andern Leuten noch so erklärn so. Ich hab da auch schon nen realistischen beziehungsweise (2.0) seriösen Hintergrundgedanken dabei. ((lacht)) Amira konzediert, dass auch für sie der subjektive ästhetische Geschmack eine gewisse Rolle spielt („mag diesen Fotostil“). Sie erwähnt ihn aber lediglich, um ihn als infantile Vorstufe „erwachsener“ Ziele zu relativieren und zu desavouieren. Sie ordnet die rein ästhetische Orientierung einer zweckrationalen Orientierung deutlich unter. Ein Profil nur aus Spaß oder aus ästhetischer Schaffenslust zu betreiben sind für sie defizitäre oder zumindest nicht ernstzunehmende („Heititei“) Gründe, Instagram zu nutzen. „Seriöser“ sei da schon der Vorsatz, „viele Follower und Likes zu bekommen“ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 282 und so mittels Instagram Geld zu verdienen. Interessant an dieser Passage ist, dass Amira diese extrinsischen Motive Nicht-Nutzenden gegenüber für vermittelbzw. kommunizierbar hält, während stärker intrinsische Motive scheinbar schwerer zu „erklärn“ sind. Deutlich dringt hier eine Distanzie‐ rung der Befragten von der Plattform durch - Instagram ist nur Mittel zum Zweck, mögliche Übereinstimmungen zwischen ihrem Bildhandeln und subjektiven Dispositionen sind zufällig oder zumindest nicht ausschlagge‐ bend. Die Plattform wird für ‚höhere‘ Ziele genutzt. Die Fokussierung auf finanziellen Gewinn, den die Befragte erwähnt, stellt im Schema der Erfolgsorientierung die extreme Zuspitzung eines typisch rationalen Nutzungsinteresses dar. Dieses schlägt sich meist in greifbareren Zielen wie der Vermehrung von Likes und Followern nieder. So auch in den folgenden Passagen: Sedat: Und ich kämpfe echt HART um jeden Follower ((lacht)). Das ist irgendwie auch so ne kleine CHALLENGE für mich, wenn ich einen Post absetze, nicht nur die Likes dafür zu bekommen, sondern auch neue FOLLOWER ja zu äh, zu äh, zu äh, zu kriegen in dem Sinne. Und damit das Ganze/ Damit das Ganze oder damit MEINE Seite eben n bisschen publiker wird, ne. Erin: Natürlich motiviert es mich halt noch mehr Follower zu sammeln, um zu sehen, dass eben noch mehr Menschen quasi meine Bilder anschaun und liken. Ja, das ist so mein Haupt-/ Grundmotiv, warum ich quasi immer mehr poste. Beide Befragten geben an, vor allem auf die Erhöhung der Followerzahl Wert zu legen - die Likes rücken ins zweite Glied. Dies stellt eine beachtenswerte Umkehrung der Verhältnisse im Vergleich zum Schema der Bestätigungs‐ suche dar. Dort sind in erster Linie die Likes wichtig. Ihnen kommt als Indikator für Zustimmung, Anerkennung und Zuneigung auf der Suche nach Bestätigung mehr Gewicht zu. Die Followerzahl ist demgegenüber weniger affektgeladen und gilt als die objektivere Richtzahl, vor allem aber auch als diejenige, die öffentlich am sichtbarsten ist. Nicht zuletzt ist sie besser vergleichbar, weil es sich hier um eine einzige Zahl handelt im Unterschied zu den Likes, deren Zählung für jedes Bild neu beginnt. Somit 6.2 Nutzungsschemata 283 erscheinen die Follower gegenüber Likes als geeignetere Indizes für den eigenen Status bzw. Erfolg auf der Plattform In den beiden obigen Aussagen finden sich im Detail aber auch unter‐ schiedliche Rahmungen: so spricht der Befragte Sedat davon, um Follower zu kämpfen, während Erin davon spricht, Follower zu sammeln. In der einen Lesart wird sich aktiv gegen Widerstände durchgesetzt, in der anderen wird sich vergleichsweise mühelos an einem Bestand bedient. Für Sedat stellt die Erhöhung der Followerzahl eine „Herausforderung“ und einen „harten Kampf “ dar, für Erin einen sich quasi selbstvollziehenden Prozess, etwas, das man im Vorbeigehen macht. Dass man etwas für Follower und Likes tun muss, stellt aber auch sie nicht in Frage - nur wer „immer mehr postet“, kann seine Follower vermehren. Der Unterschied liegt in der jeweiligen Haltung: Beide Befragten rahmen die Steigerung von Follower- und Likezahlen als Wettbewerb. Sedat legt diesen Wettbewerb als Kampf aus, betont also die agonale und kompetitive Seite, während Erin ihn als Spiel auslegt und mit dem Sammeln ludische Elemente betont. Wir sehen: Auch das scheinbar zweckrationale Streben nach Erfolg wird von den Befragten unterschiedlich sinnhaft aus- und angelegt und durchaus auch unterschiedlich affektiv aufgeladen. In jedem Fall aber, ob Spiel oder Kampf, erfahren die Befragten ihren Erfolg als Leistung - und umgekehrt das Ausbleiben von Erfolg als ausge‐ bliebene oder nicht ausreichende Leistung. Die Befragte in der folgenden Passage schildert diesen Zusammenhang mit Bezug auf ihre Postingdiszi‐ plin, auf die sie stolz ist: I: Was meinst Du was passiert, wenn du da nicht so diszipliniert bist, also wenn du nicht jeden Samstag was hochlädst? Amira: Mach ich manchmal. Ich lad manchmal auch drei Wochen nichts hoch, aber dann gehen halt ein paar Follower weg. Ja, also dann kann man schon damit rechnen, dass man irgendwie Dreihundert weniger hat (0.5) wahrscheinlich und dann/ Man sieht halt direkt Erfolge und man sieht halt auch Misserfolge quasi. Wenn man halt nichts tut, dann geht das halt auch wieder weg (1.0) und dann muss ich mich halt in den nächsten Wochen dann anstrengen, dass ich dann wieder diszipliniert dabei bin oder halt sag: „Okay, (1.0) weiß ich nicht, (0.5) vielleicht lad ich dann nächste Woche zwei Bilder hoch“. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 284 Für Amira hängt Erfolg auf Instagram vor allem mit Disziplin und Anstren‐ gung zusammen, worunter sie in erster Linie das regelmäßige Einstellen von Beiträgen versteht. Die Qualität der Beiträge erscheint sekundär - Leistung äußert sich für sie erst einmal in der Höhe des Outputs. Wer viel beiträgt ist aktiv und diszipliniert und wer aktiv und diszipliniert ist, kann mehr Follower und Likes erwarten. Im Rahmen dieser relativ simplen Heuristik erscheint Erfolg als kalkulierbarer Effekt einer Investition von Zeit. Die Betonung von Arbeit und Leistung im Schema der Erfolgsorientierung verweist aber auf noch mehr als nur die Investition von Zeit, wie der Befragte in folgendem Zitat zeigt: Jim: Also, man versucht schon seine Ressourcen wirklich GANZ gezielt einzusetzen. […] Denn viele unterschätzen das. Dass sie sagen: „Ach, das ist ja schnell hier mit dem Smartphone ein Foto“. Aber sich Gedanken zu machen. Auch vom Kopf her bist du nicht komplett frei, sondern wirklich schaust ja in der Umgebung. Wo kann ich jetzt ein Foto machen? Wo kann ich ein interessantes Video aufnehmen? Jim gibt hier an, sich viele Gedanken zu seinem Profil zu machen und im Alltag mental fokussiert zu sein. Überlegen und Fokussieren erachtet er als wichtige Voraussetzung für das Finden passender Motive. Die Be‐ tonung der mentalen Fokussierung auf Instagram auch im Alltag ähnelt dem Wahrnehmungsmuster der mentalen Vereinnahmung im Schema der Bestätigungssuche. Im Schema der Bestätigungssuche steht dabei jedoch die Alltags- und Wahrnehmungsveränderung im Zentrum, die dieser Fokus für die Nutzenden mit sich bringt. Im Schema der Erfolgsorientierung wiederum verweist das Wahrnehmungsmuster der gedanklichen Fokussierung auf bewusste und gezielte ‚Kopf-Arbeit‘: Gedanken, Ideen, Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe werden als „Ressourcen“ gedeutet, die man einsetzen und verbrauchen kann. Weitere solche Ressourcen nennt die folgende Befragte: Amira: Auch diese ganzen Bilder, wo man jetzt zum Beispiel sein Essen fotografiert, die sind ja auch nich so: „Ach, guck mal hier, ich esse hier, schnipp, schnapp“, sondern hier, das muss alles erst positioniert werden, der Teller muss so grade liegen und das Essen muss so und so da drauf 6.2 Nutzungsschemata 285 liegen, alles so schön dargestellt und präsentiert und mit Dekor, noch am besten mit den Blumen dazu und dann muss es von oben fo/ a/ fotografiern, mit richtigem Licht. Und das/ das is/ Das sind halt diese Sachen, auf die man auch bei allen möglichen Bildern einfach achten muss. […] Aber das is es halt nich, da steckt schon zie/ ziemlich viel Arbeit auch hinter. Also, du musst ja diese Fotos ja erstmal machn, dass die so gut aussehn, dann musst du/ Also es hat ja nich jeder son Auge oder son Blick dafür oder es kann auch nich jeder mitm Fotoapparat umgehn, vielleicht hat auch nich jeder n Fotoapparat. […] Aber es is schon Arbeit halt auch so, dass man halt sich wirklich regelmäßig da hinsetzt und regelmäßig diese Fotos hochlädt (2) und dadurch dann halt dann irgendwie Follower generiert. Amira rekurriert in dieser Passage - neben dem bereits erwähnten Zeit‐ investment - gleich auf mehrere Eigenschaften, die für sie Erfolg auf Instagram bedingen: Kompetenzen bezüglich der Bildkomposition und -gestaltung, technisches Know-How (zum Bedienen einer Kamera) sowie ökonomische Ressourcen (zur Anschaffung einer hochwertigen Kamera). Erst wenn all diese Dinge zusammenkommen, sind für Amira die Voraus‐ setzungen geschaffen, um Erfolg auf Instagram zu haben. Das bedeutet für sie im Schluss, dass alle, die erfolgreich sein wollen, „ziemlich viel Arbeit“ leisten müssen und dass umgekehrt jeder Erfolg eine gewisse Leistung voraussetzt. Neben den schon genannten Ressourcen spielen im Schema der Erfolgs‐ orientierung auch die Entwicklung und Aneignung gewisser Strategien eine Rolle. Da sind zum einen bestimmte „Faustregeln“ zu nennen, deren Beachtung keine spezifischen Kompetenzen voraussetzt. Diese betreffen das Format der Beiträge und die zeitliche Strukturierung der Uploads, bspw. die Häufigkeit der Beiträge: Irene: Ja, also, man sagt ja schon so als Faust/ als Faustregel als Insta‐ gramer, dass man schon mindestens einmal am Tag was auf Instagram posten sollte. Damit man auch einfach aktuell bei den Leuten bleibt, sozusagen. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 286 Wie die Befragte hier konstatiert, gilt es als erfolgsversprechend, möglichst regelmäßig Beiträge hochzuladen und zu teilen, um aktuell zu bleiben. Weiterhin spielen Tag und Tageszeit eine wichtige Rolle: Ronald: Auf bestimmte Sachen achte ich (2) ja, also ich achte halt, wenn überhaupt, auf alles/ Also wenn, auf Uhrzeiten, wenn ichs hochlade. Das ist halt irgendwie wichtig. I: Okay, warum? Ronald: (3) Weil die Reichweite dann halt angepasst ist, wenn du halt Sachen zu bestimmten Uhrzeiten hochlädst, desto mehr Leu/ Leute sehen das in deinem Umfeld. Weil dann die Leute halt zu Hause sind, beziehungsweise auch zu derselben Zeit auch Instagram nutzen. Amira: Weil ich weiß, dass am Wochenende mehr Leute auf Instagram aktiv sind, lad ich halt meine Bilder auch am Wochenende hoch. Die beiden Befragten geben hier an, vermehrt zu Stoßzeiten zu posten, um so für möglichst viele Nutzende möglichst schnell sichtbar zu sein. Neben diesen zeitbezogenen Strategien wird viel Aufmerksamkeit aber auch der Formatierung der Beiträge geschenkt, z. B. dem Beifügen von Hashtags: Miranda: Und über diese Hashtags können ja dann die Bilder irgendwie auch aufgerufen werden und wenn man/ Desto mehr Hashtags man daruntersetzt, desto öfters erscheint das Bild ja auch, sag ich jetzt mal, für andere Leute, desto mehr Likes kriegt man dann auch irgendwie. Also am Anfang wusste ich das halt noch nicht so richtig und jetzt macht man halt schon viele Hashtags auch drunter, damit es halt mehr Leute sehen auch. Sedat: Ich arbeite noch mit Hashtags, mit sehr vielen Hashtags auch ((lacht)) weil das natürlich auch mehr Aufmerksamkeit erregt, ne und dadurch man eben auch wahrscheinlich so zehn, zwanzig, dreißig Hashtags [Versprecher, gemeint sind Likes, d.V.] mehr bekommt. 6.2 Nutzungsschemata 287 Während im Schema der Bestätigungssuche Hashtags teilweise zur Pro‐ filierung oder als Ausdruck von Gefühlen eingesetzt werden (vgl. Kap. 6.2.1.2), erscheinen sie im Schema der Erfolgsorientierung ausschließlich als Mittel zum Zweck der Steigerung von „Likes“ und „Aufmerksamkeit“. Der Hashtag repräsentiert nicht mehr, er verschlagwortet nur noch und sorgt für ‚Reichweite‘. Die zweckrationalste Variante dieser Art von Hashtags ist der Hashtag like4like: Ronda: Und dann fand ich das auch cool, wenn man dann natürlich viele Likes hatte, dann war man son bisschen angesehener, dann hat man da irgendwie so Like for Like oder so runter geschrieben oder wie auch immer. Dieser Hashtag dient ausschließlich dazu, in eine Art Kooperation einzutre‐ ten die Bereitschaft hierzu zu signalisieren. Man verpflichtet sich damit, für jeden erhaltenen Like selbst einen Like zu geben - ohne weitere Bedingungen. Nicht zuletzt wird auch auf die sprachliche Verfasstheit der Beiträge bzw. der Hashtags und Bildbeschreibungen geachtet, d. h. vor allem auf die jeweilige Verkehrssprache: Amira: Unter Kylie Jenner würd ich jetzt nicht Deutsch schreiben, weil das ist ja/ Es soll ja möglichst viele Leute ansprechen, dann schreib ich natürlich auf Englisch. Katrin: Mein Postverhalten hat sich schon verändert, dahingehend, dass ich jetzt EHER in den Abendstunden was poste, weil da halt die meisten Menschen online sind. Dass ich halt öf/ Dass ich halt angefangen habe auf ENGLISCH zu posten, weil das die meisten Leute VERSTEHEN. Es gibt selten etwas, was ich dann auf Deutsch/ oder dass ich nen deutschen Hashtag verwende. Amira spricht im ersten Zitat von Kommentaren, die sie auf fremden Profilen hinterlässt und die wiederum Nutzende auf ihr eigenes Profil aufmerksam machen sollen. Die Sprache passe sie dem jeweiligen Publikum an. Katrin 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 288 wiederum schreibt ausschließlich auf Englisch und verwendet nur englische Hashtags, „weil das die meisten Leute verstehen“. Zusätzlich versucht sie mehr Nutzende zu erreichen, indem sie in den „Abendstunden“ postet, die sie als Stoßzeit ausgemacht hat. Sie passt sich also nicht dem Zielpublikum an, sondern setzt auf größtmögliche Allgemeinverständlichkeit. Beiden Befragten geht es jedoch darum, ihre ‚Reichweite‘ bzw. ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Andere Strategien dienen eher dazu, das Profil attraktiver zu machen, bspw. durch den Rückgriff auf bekannte Gestaltungsmuster: Freia: Dann ja, weiß ich nicht, passiert das ja auch bisschen so automa‐ tisch, dass man das dann auch quasi in seinen Fotos wiederspiegelt oder weil man vielleicht auch denkt, dass man dann vielleicht auch, keine Ahnung, vielleicht mal so viele Follower hat wie die Person, die jetzt diesen Trend gerade macht und man sich dann denkt: „Ja okay, wenn die das macht und die damit so erfolgreich ist, dann kriege ich das vielleicht auch hin“. Freia verweist in dieser Passage darauf, wie sie sich bei der Gestaltung ihrer eigenen Bilder am Vorbild anderer Nutzender orientiert. Bemerkenswerter Weise liegt für sie der Vorbildcharakter aber nicht in der ästhetischen Ge‐ staltung, sondern in der Followerzahl - diese Followerzahl ist es auch, der sie nacheifert und zu welchem Zwecke sie Gestaltungselemente (Freia spricht von Trends) dieser Vorbilder übernimmt, in der Hoffnung auf ähnlichen Erfolg. Keine Hoffnung, sondern eine Überzeugung äußert hingegen Amira: Amira: Auf Instagram sind die meisten Leute da, um Likes und Follower zu generieren und wenn du halt viele Follower oder viele Likes haben willst, dann musst dus so und so/ Oder halt, wenn du ne ganz neue Idee hast, die besser ist, dann ja, natürlich dann auch gut aber, das is sozusagen ne Garantie dafür, dass es gelikt wird, wenn dus halt in diesem Trendmuster machst quasi. Die Befragte spricht ebenfalls von einem Trend bzw. einem „Trendmuster“, dem man bei der Gestaltung von Profil und Bildern folgen könne und postuliert, dass dieses Vorgehen unter „Garantie“ zu „vielen Followern oder vielen Likes“ führe. Viele Follower und Likes zu haben ist ihrer Ansicht nach 6.2 Nutzungsschemata 289 eines der Hauptnutzungsinteressen („die meisten Leute“). Interessant ist der sprachliche Duktus von Amira. So verwendet sie bspw. den auf Instagram gebräuchlichen Begriff des „Generierens“ von Likes und Followern. Hierbei handelt es sich um einen sehr technischen Terminus ohne subjektive oder emotionale Dimension. In ihm spiegelt sich die nüchterne, unterneh‐ merische Haltung wieder, die für das Schema der Erfolgsorientierung so charakteristisch ist. Gefühle werden im Schema der Erfolgsorientierung selbst dort, wo sie vorkommen und ‚geteilt‘ werden, in den Dienst von Nützlichkeit und Erfolg gestellt: Sedat: Jedes soziale Medium ist ja ne SELBSTdarstellung und (0.5) es ist wirklich für mich, (0.5) ja, (0.5) vielleicht ist es auch ne Selbstinsze‐ nierung. Schöne Momente mit anderen Leuten zu teilen, Likes dafür zu bekommen (1.0) Orte zu posten, an denen vielleicht noch nicht JEDER war. (0.5) Ähm (0.5) Konzerte auch, Konzerte, Festivals, aber auch der normale Geburtstag, sag ich mal, n schönes Gruppenfoto passt immer ganz gut mit rein, ne. Amira: Das finde ich bei Instagram ganz cool, halt dass dieser Fokus auf den Bildern liegt, auf dem Visuellen und dass das auch so ausgenutzt wird, dass wirklich versucht wird das möglichst angenehm für den Nutzer zu gestalten, das möglichst schön darzustellen. Das ist definitiv nicht real. Das ist schon so über-schön finde ich. Sedat zählt hier eine Reihe von „schönen“ bzw. besonderen Motiven auf (z. B. Orte, an denen „nicht jeder war“), die sich besonders dafür eignen würden, „Likes dafür zu bekommen“. Amira spricht davon, den visuellen Modus „auszunutzen“, um dem Publikum optische Reize zu bieten („möglichst angenehm“, „überschön“). Sedat als auch Amira bieten Gefühle in Form ästhetischen Erlebens im Tausch für Likes an. Das Teilen von Gefühlen ist im Schema der Erfolgsorientierung außenorientiert und eine Strategie der Publikumswerbung. Der Erfolg wird dabei der Authentizität übergeordnet und rechtfertigt Bilder, die „nicht real“ und „überschön“ sind. Auch für Nutzerin Alea erweisen sich emotionale Ansprache und Bildgestaltung als zweckrationale Erfolgsstrategien: 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 290 Alea [zu Selfies]: Weil das glaub ich auch den meisten Bezug zu den Menschen herstellt, weil das ist ja einfach so ne Gesichtsnahaufnahme und grade weil/ wenn nen Mensch irgendwie schön ist und dann zieht das glaub ich auch ganz schön viele Likes. Also ich/ das ist schon noch relativ oft, dass son Selfie dabei ist. Die Befragte gibt hier an, dass sie besonders viele Selfies hochlade, weil das „Likes ziehe“. Sie richtet die ästhetische Gestaltung also am übergeordneten Interesse der Like-Vermehrung aus. Die emotionale Komponente des Selfies - der „Bezug zu den Menschen“, der hierüber hergestellt werde - wird von Alea ebenfalls nur im Hinblick auf das Ziel der Like-Vermehrung besprochen. Die affektive Komponente wird von ihr zwar nicht ignoriert, aber auf ihre Zweckmäßigkeit reduziert. Letzten Endes lassen sich alle Strategien auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Es geht dabei darum, das Interesse des Publikums zu wecken und deren Geschmack zu bedienen. Die dieser Zielvorgabe korrespondierenden Wahrnehmungs- und Handlungso‐ rientierungen fallen oft sehr unternehmerisch aus, wie etwa bei folgender Befragter: Larissa: Da achte ich schon sehr drauf, weil, ja, wenn man größer wer‐ den will mit dem Profil, muss man halt gucken was der/ Keine Ahnung, meinen ganzen Followern halt so gefallen hat in der Vergangenheit und dann versuche ich immer solche Sachen zu machen, damit ich wachsen kann damit sozusagen. Larissa gibt hier an, eine Art Bedürfnisanalyse durchzuführen - sie evaluiert, welche Inhalte ihren Followern gefallen haben und welche nicht. Ihre Beiträge sollen schließlich auf die Ergebnisse ihrer Evaluation abgestimmt werden („versuche immer solche Sachen zu machen“). So erhofft sie sich, „größer“ zu werden und zu „wachsen“. Das ist nicht metaphorisch gemeint: Larissa intendiert nicht etwa, persönlich zu wachsen. Vielmehr soll die Zahl der Follower und Likes wachsen und das Profil damit an Reichweite und Einfluss gewinnen - Larissa strebt eine Art ‚Unternehmenswachstum‘ an. Ein solches Verständnis vom Profil als Unternehmen drückt sich auch in den folgenden beiden Passagen aus: 6.2 Nutzungsschemata 291 Selena: Man muss den Followern irgendwas bieten oder anbieten, damit sie halt noch Interesse haben und immer noch da blei/ dabeibleiben. Also es ist schon regelmäßig eigentlich. Manchmal ist es auch irgendwie nur, keine Ahnung, jeder dritter Tag, aber eigentlich ist so/ so vom Ding her schon jeden Tag. Selena gibt an, ihren Followern etwas „bieten oder anbieten“ zu wollen - sie scheint sich also als eine Art Dienstleisterin zu sehen. Das Publikum bzw. der ‚Kundenstamm‘ oder die ‚Zielgruppe‘, müsse gehalten und deswegen regelmäßig mit neuen Angeboten bei Laune gehalten und an das Profil ge‐ bunden werden. Die folgende Befragte greift auf ähnliche Deutungsmuster zurück, als sie von ihrer strikten Angebot-Nachfrage-Politik spricht: Sonja: Also die Resonanz war sehr hoch und die Leute wollten halt immer mehr SEHEN, es kamen immer mehr FOLLOWER dazu und dann hat man sich so in gewisser Weise verpflichtet dazu gefühlt irgendwie den Leuten das auch/ DAS zu geben was sie halt auch SEHEN, hören oder wissen wollen. Sonja gibt an, dass sie ihre Inhalte mit zunehmendem Publikumszuspruch, d. h. mit einer wachsenden Zahl an Followern, auch zunehmend an den Bedürfnissen dieses Publikums ausgerichtet habe. Dabei deutet sie eine sehr explizite und reaktive Orientierung am Publikumsgeschmack an. Sonja antizipiert nicht und experimentiert auch nicht mit Inhalten. Sie postet vor allem das, was sich bei den Followern bewährt hat oder explizit von diesen gewünscht wurde. Ihre Beiträge ähneln damit Auftragsarbeiten. Die Befragte konstatiert auch, sich ihren Followern gegenüber verpflichtet zu fühlen, deutet also an, die Kundenorientierung als Wert verinnerlicht zu haben. Die eigenen ästhetischen Präferenzen und deren Umsetzung verlieren demgegenüber an Bedeutung. Im Gegenteil scheint der eigene Ge‐ schmack zunehmend vom Publikumsgeschmack geprägt und vereinnahmt zu werden: Aleida: Ja, also ich lösch schon häufiger Sachen von/ vor allem Bilder, wo entweder Sachen drauf sind, die ich dann so einfach nicht mehr 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 292 so sinnvoll halte, weils einfach viele Fotos sind und ich mir denke, wie wirke ich jetzt, wenn jemand auf mein Instagramprofil guckt. Was ja immer nur Freunde sind, aber trotzdem, dass man son bestimmtes Gesamtbild hat, was man dann so verkauft. Welche Bilder auf dem Profil bleiben, entscheidet sich für Aleida nicht entlang eigener ästhetischer Präferenzen, sondern danach, was ins „Gesamt‐ bild“ passt, das man „verkaufen“ möchte. Gut bzw. „sinnvoll“ ist, was positiv auf das Publikum „wirkt“. Solange klassifiziert Bilder ebenfalls entlang externer Kriterien, wenngleich etwas anderer: Solange: Ich sehe das ja auch bei den Leuten die GANZ, ganz selten was posten, dass die am meisten Likes kriegen, einfach (0.5) WEIL sie so selten was posten. Und dann sind die Bilder, das klingt doof, aber sie sind irgendwo mehr WERT. I: Also machst du das auch ganz bewusst? Solange: Eigentlich schon. Also ich würde jetzt nicht jeden Tag irgend‐ was posten. Weil (0.5) das Leute nervt. Die Befragte konstatiert hier, die Wertigkeit eines Bildes von der Posting‐ frequenz bzw. vom Seltenheitswert abhängig zu machen. Sie leitet Wert also nicht von der intrinsischen Qualität eines Bildes ab, sondern vom Status des Profils, genauer gesagt: davon, wie selten eine Nutzerin oder ein Nutzer Beiträge teilt. Interessanterweise hält sie die Zuschreibung eines solchen ‚Seltenheitswerts‘ zwar für fragwürdig („klingt doof “), folgt dieser Wertzuschreibungspraxis aber anstatt sich ihr zu entziehen. Im Schema der Erfolgsorientierung stellt sich eine Art der ästhetischen Wahrnehmung ein, in der strategische Publikumsorientierung und persönliche Präferenzen gewissermaßen verschmelzen und nicht mehr klar auseinander zu halten sind: Amira: Also auf jeden Fall bearbeite ich die vorher, weil ich ja schon gesagt hab, die müssen ästhetisch sein und schön sein und das is ja alles auch nich real auf Instagram. Das weiß glaub ich jeder. […] Man tut so, als obs realistisch wäre, aber ich/ Ich hab das auf jeden Fall die ganze 6.2 Nutzungsschemata 293 4 So definiert etwa der Duden den Begriff Konzept als „klar umrissener Plan, Programm für ein Vorhaben“ bzw. „Idee, Ideal; aus der Wahrnehmung abstrahierte Vorstellung“ (Duden 2019b). Zeit vor Augen, dass es das überhaupt nich is. Es is nich das Ziel, dass es möglichst unrealistisch is, sondern es soll möglichst schön sein. […] Ich versuch auch grade son bisschen son Thema herzustellen, also dass ich son einheitliches Design/ […] Weil es muss ja alles ganz unrealistisch clean und minimalistisch und einfach nur schön sein. Im „Muss“ von Amira vermischt sich Publikumsorientierung mit eigenen Präferenzen. Was sie sehen will, ist das, was das Publikum sehen will. Entsprechend rahmt sie Ästhetik als Vermarktungsstrategie: Sie suche nach einem „Theme“ und einem „einheitlichen Design“, mit dem sich ihr Profil zur Marke stilisieren lasse. Auch Aleida gibt an, Bilder gezielt zu bearbeiten: Aleida: Also mittlerweile hat es sich glaub ich so entwickelt, dass ich so ein zwei Filter tatsächlich hab, die mir am besten gefallen, dass es so n stimmiges Konzept am Ende, zu den Fotos untereinander hat. Also wenn man da jetzt raufklickt, kann das alles so leicht trübe, bläuliche, und manchmal schwarz-weiß Bilder, ich finde es immer wichtig, dass man so n Mix aus bunten Bildern und schwarz-weiß Bildern hat. Der Rückgriff auf die „zwei Filter“ kann als Versuch verstanden werden, eine Wiedererkennbarkeit herzustellen und einen ästhetischen Markenkern zu etablieren. Dass die Befragte auf den Begriff „wichtig“ zurückgreift, um ihre ästhetische Wahl zu legitimieren (und nicht etwa auf ästhetische Attribute wie „schön“), impliziert, dass die ästhetische Wahl kein reiner Selbstzweck ist. Sie dient einem übergeordneten Ziel. Darauf verweist auch die Rede vom Konzept. Während bspw. Stil vor allem die ‚individuelle Handschrift‘ bezeichnet (vgl. Kap. 4.4), verweisen die Begriffe Konzept oder Thema darüber hinaus - die Selbstästhetisierung im Rahmen eines Konzepts oder Themas ist systematischer strukturiert und zielorientiert. 4 Konzept und Thema sollen in erster Linie ein bestimmtes Publikum ansprechen und der Markenkernbildung dienen. Eine besonders interessante Vermischung 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 294 ästhetischer Präferenzen und publikumsorientierter Handlungsstrategien beschreibt der folgende Befragte: Jonas: Das ist dann eher so, wenn das, wenn das Bild dann vielleicht so, ja schon nach 2 Tagen oder so/ Weil man dann echt merkt so, ja das kam jetzt nicht so gut an. Da will man das halt irgendwie nicht mehr auf seinem Profil haben. Das zieht einen dann auch irgendwie ein bisschen runter und es gibt einem halt auch wenn man selber sein Profil anguckt, dann gibt einem das irgendwie immer n besseres Gefühl, wenn man sieht, dass alle Bilder schön viele Likes haben und ja, dass so Ausreißer, wo das dann so, wo man halt echt weniger Likes hat und es nicht so gut ankam, die passen dann irgendwie nicht so rein und die will man dann auch irgendwie nicht so gern da drin behalten. Von Jonas haben wir bereits erfahren, dass er mit dem Löschen von like-ar‐ men Bildern bezweckt, erfolgreicher bzw. beliebter zu erscheinen (vgl. Kap. 6.2.2.2). Dieses Vorgehen scheint sich nun auch in seinem ästhetischen Emp‐ finden niederzuschlagen: Er beschreibt die Entwicklung von Präferenzen, die dem ähneln was Stefanie Duttweiler (2016: 230) die „Ästhetik der Kurve“ nennt. Die Zahlen vermitteln den Akteuren einen „leiblichen Eindruck“, der „zum Handeln motiviert“ (Gugutzer 2016: 165). Dabei spricht vor allem die Linearität zu ihnen und führt dazu, dass man „Brüche in der Statistik vermeiden will“ (Duttweiler 2014: 8 Fn) - so wie auch Jonas die „Ausreißer“ vermeiden möchte. Im Schema der Bestätigungssuche finden sich Beschrei‐ bungen ähnlicher Praktiken, wobei das Löschen von Kommentaren, die nicht so recht ‚ins Bild‘ passen wollen und das entsprechende ästhetische Empfinden einer ästhetischen Logik der Harmonie folgen. Hier hingegen folgen die Vermeidung ‚falscher Zahlen‘ und das entsprechende ästhetische Empfinden einer zweckrationalen Erfolgslogik. Eine Konsequenz der radikalen Orientierung an den Interessen der Follower ist also die Entwicklung eines am Publikumsgeschmack, der Außenwirkung und dem Erfolg orientierten ästhetischen Empfindens. Eine weitere Konsequenz ist ein stark ausgeprägtes Statusdenken wie auch Leistungsempfinden. So schildert Amira in folgendem Ausschnitt eine Art Rangliste, die sich vor allem an der Followerzahl bemisst: 6.2 Nutzungsschemata 295 Amira: Wenn (2.0) ungefähr die gleiche Follower-Menge ent/ besteht, dann is es immer Kooperation, wenns schon sehr weit entfernt is, so wie bei Stars, die jetzt drei Millionen Follower haben, dann is es ganz egal, einfach Bewunderung sozusagen und bei Leuten, die halt so das nächststehende Ziel sind theoretisch, is es vielleicht eher Konkurrenz. Interessant an der Passage ist die Zielausgabe (auf weitere Implikationen des Zitats wird in 6.2.2.5 näher eingegangen): Amira versteht ihre Instagram-Ak‐ tivitäten als Arbeit, mit der sie Erfolg haben möchte. Die Nutzung als Arbeit zu rahmen, ist charakteristisch für das Schema der Erfolgsorientierung. All die Arbeit und all die Strategien, die der Steigerung von Followern und Likes dienen, sollen letztlich zum Aufstieg in besagter Rangliste führen, wobei die einzelnen Status von der Befragten nur zahlenmäßig definiert werden. Bei Larissa stoßen wir analog dazu auf den Wunsch bzw. das Ziel „berühmt“ zu werden: I: Was würde dir bei einem privaten Profil jetzt speziell fehlen, dass du dich für ein öffentliches Profil entschieden hast? Larissa: Ja, also, dass halt andere Leute, die ich jetzt nicht kenne, nicht auf mein Profil KÖNNEN. Und ja, das würde mich halt stören, weil ich dadurch ja nicht BEKANNTER werden KÖNNTE. Und, ja, dann würde ich ja nicht mehr mit meinen Followern wachsen und mein Profilbild nicht berühmter werden quasi. Das „Bekannter“- und „Berühmter“-Werden stellt auch im Schema der Bestätigungssuche ein Interesse dar. Dort ist es aber vor allem als utopi‐ sches Imago präsent (vgl. Kap. 6.2.1.3). Der Unterschied zum Schema der Erfolgsorientierung besteht darin, dass hier das „Bekannter“- und „Berühm‐ ter“-Werden erreich- und machbar erscheint und als Ziel (mal mehr, mal weniger) konsequent strategisch verfolgt wird. Für die Schlüsselkategorie des Nutzungsinteresses lässt sich abschlie‐ ßend Folgendes festhalten: Charakteristisch für das Schema der Er‐ folgsorientierung sind in erster Linie extrinsische Interessen. Die Befragten gaben an, es insbesondere auf die Vermehrung von Follo‐ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 296 wern und Likes abgesehen zu haben, sprich: auf nackte, objektive Zahlen. Der Gefühlswert ist unbedeutend, wichtig sind vielmehr die Statusimplikationen, die damit einhergehen. Um Like- und Follo‐ werzahlen zu erhöhen, werden vielerlei unterschiedliche Strategien angewandt, die einer sachlich-nüchternen, rationalen und nicht zu‐ letzt unternehmerischen Logik folgen. In dienstleisterischer Manier wird danach gestrebt, Geschmack und Interessen des Publikums bestmöglich zu bespielen und zu bedienen, um so im eigenen Interesse die Likezahlen verbessern und Follower zu vermehren. Im Schema der Erfolgsorientierung wird das eigene Tun dezidiert als Arbeit und Leistung verstanden, die zu Erfolgen in Form von steigenden Like- und Followerzahlen führen sollen, im besten Fall sogar zu einem Statusaufstieg oder zu finanziellem Gewinn. Von dieser Logik ist auch das ästhetische Empfinden im Schema der Erfolgsorientierung geprägt, welches sich u. a. im verinnerlichten Publikumsgeschmack und einem ‚Zahlenfetisch‘ ausdrückt. 6.2.2.4 Sinnwelt Hauptmerkmale: ▸ Gruppengefühl / Zugehörigkeit: Netzwerken ▸ Effiziente Kommunikation, Idealisierung als Mittel zum Zweck ▸ begrenzter Einfluss auf Alltag Die Sinnwelt auf Instagram fällt im Schema der Erfolgsorientierung weitaus weniger komplex und differenziert aus als im Schema der Bestätigungssu‐ che. Das liegt vor allem daran, dass der Raum Instagram primär unter Gesichtspunkten der Rationalität und Zweckmäßigkeit ausgedeutet wird und so im wahrsten Sinne des Wortes nicht viel ‚Spielraum‘ bleibt. Die erfolgsorientierten Perspektivierungen und Deutungsmuster lassen nur sehr reduziertere Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten auf Instagram zu. Genau das scheint es aber auch zu sein, was im Schema der Erfolgsorien‐ tierung einen Teil des Reizes von Instagram ausmacht. Während im Schema der Bestätigungssuche Bildlichkeit und emotionale Valenz im Vordergrund stehen, liegt die Qualität des Kommunikationsraums Instagram aus der Perspektive der Erfolgsorientierung vor allem in der komprimierten und rationalen Funktionalität der Plattform. Die reduzierte Nutzeroberfläche, 6.2 Nutzungsschemata 297 der komprimierte Zeichen- und Symbolcharakter von Bildern, und die unkomplizierten, übersichtlichen Interaktionselemente bereiten für die Be‐ fragten einen kommunikativen Boden, der ihnen Kontrolle, Übersicht und Zeitersparnis verspricht. So stellt auch die Befragte Leila die „Handlichkeit“ Instagrams in den Vordergrund: Leila: Ja, ist halt einfach handlich, man kann da gut schnell was posten und Facebook ist halt sehr vielfältig würd ich sagn, kannst da halt Videos, alles ja auch posten. Du kannst normale Nachrichten einfach nur posten und Instagram ist halt nur: Du postest nen Video oder nen Bild, schreibste was drunter, da können welche gefällt mir drückn und mehr isses halt nicht, ne. Facebook ist halt zwar vielfältiger aber ich denk mal zu unübersichtlich noch, ne. Und Instagram ist übersichtlicher, würd ich sagen. Für mich jetzt. Leila stellt in dieser Passage die vielen Funktionen von Facebook den ‚schlanken‘ Möglichkeiten von Instagram gegenüber (auch hier ist Facebook die primäre Vergleichsreferenz) und macht zugleich deutlich, dass sie die „Übersichtlichkeit“ von Instagram Facebooks „Vielfalt“ vorzieht. Instagram ist für die Befragte „handlich“, d. h. unumständlich und bequem und eignet sich damit zur effizienten Alltagskommunikation besser als das umfangrei‐ chere Funktionspaket von Facebook, das es nicht erlaube, nur „schnell was zu posten“. Die Befragte Larissa hebt wiederum hervor, dass Instagram ihr eine bessere Handhabe der Inhalte ermögliche, die sie rezipiert. Hier könne sie also das, was ihr gezeigt wird, im Gegensatz zu anderen Plattformen, gezielter kontrollieren: Larissa: Und ich fand das eigentlich ganz cool, dass man halt nur Bilder posten kann und dadurch halt auch nur Bilder sieht von anderen, die einen auch wirklich interessieren. Was Larissa hier beschreibt, ist die umgekehrte Logik der vorab beschriebe‐ nen strikten Publikumsorientierung. Genauso wie die Befragten angeben, in erster Linie die bestehenden Interessen ihrer Follower zu bedienen, rezipieren sie in erster Linie Inhalte, die ihren aktuellen Bedürfnissen ent‐ sprechen. Bewusste Irritationen oder Disruptionen sind nicht vorgesehen, 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 298 ebensowenig zufällige, wie sie durch die reziproken Vernetzungsstrukturen und den Sichtbarkeitsalgorithmus auf Facebook entstehen (vgl. Kap. 6.2.1.4). Anders ausgedrückt: Instagram erlaubt es den Befragten nach eigener Aussage, sich einfacher in Filterblasen bzw. Echokammern einzurichten. Bastian schlägt in eine ähnliche Kerbe, führt die Vorteile einer solchen Informationsbeschneidung aber etwas näher aus: Bastian: Bei Facebook ist es ja mittlerweile so, dass du auch Sachen siehst, wo irgendeiner ein Freund von dir irgend verlinkt hat und das interessiert dich eigentlich gar nicht und bei Instagram ist das son bisschen komprimierter und konzentrierter aufs Wesentliche und deswegen ist es glaube ich so beliebt, sich da auch zu zeigen, weil auch da weniger untergeht. Im Verständnis des Befragten findet hier keine Isolierung gegenüber neuen oder alternativen Inhalten statt - vielmehr würden auf Instagram informa‐ tionelle ‚Störgeräusche‘ ausgeblendet, werde Relevantes von Irrelevantem gesondert. Das bringe den zusätzlichen Vorteil mit sich, dass „weniger untergehe“. Bei Facebook, so lässt sich seine Aussage deuten, besteht also auch immer die Gefahr, dass ein Zuviel an Informationen die Aufmerk‐ samkeit zerstreut, während sie auf Instagram „konzentriert“ wird auf das „Wesentliche“. Umgekehrt bedeutet dies natürlich auch, dass auf Instagram die Chancen größer sind, selbst Aufmerksamkeit zu erhalten und nicht in einer Flut an Informationen unterzugehen. Für die Befragten ist die Plattform auf effiziente Kommunikation ausge‐ legt. Um diese noch ein Stückchen effizienter zu gestalten, greifen sie auf bestimmte Handlungsstrategien wie etwa das Netzwerken zurück, welches typisch für das Schema der Erfolgsorientierung ist: Manuela: Ich kommentiere und like und schreibe denen auch, wenn mir was gefällt. Und bin auch eher aktiv. Ist auch wichtig bei anderen Leuten etwas drunter zu schreibe oder auch zu zeigen, dass man da ist, einfach um auch mit anderen Leuten Kontakte zu knüpfen, da ist es auch wichtig, aktiv zu sein, man sollte da nicht der passive Part sein und nur posten. 6.2 Nutzungsschemata 299 Die Befragte beschreibt hier, wie sie aktiv versucht, „Kontakte zu knüpfen“, betont, wie wichtig das sei und gibt im Duktus einer Ratgeberin sogar Verhaltensratschläge („man sollte da nicht…“). Was fehlt, ist die Emphase, mit der bspw. im Schema der Bestätigungssuche von den Beziehungen auf Instagram gesprochen wird. Die Kontaktaufnahmen dienen hier in erster Linie der Herstellung von Sichtbarkeit für das eigene Profil - man will Präsenz zeigen, d. h. zeigen, „dass man da ist“. So werden auch die Beziehungen rationalisiert und extrinsischen Motiven dienstbar gemacht. Man sucht sie nicht um ihrer selbst willen, sondern um davon in der ein oder anderen Weise zu profitieren - wie sich deutlich an der folgenden Ergänzung von Manuela zeigt: Manuela: Dass man sich auch verlinkt untereinander und zusammen kleine Projekte macht, ja, sowas fördert auch auf jeden Fall, dass man vielleicht noch mehr Leute erreicht. „Sich verlinken“, „zusammen Projekte machen“, „Leute erreichen“ - die Befragte bespielt hier deutlich die terminologische Klaviatur modernen Unternehmertums. Wie bereits ausführlich weiter oben beschriebenen, steht am Ende vor allem das Ziel, die ‚Reichweite‘ des eigenen Accounts zu vergrößern, sprich: die Followerzahlen zu erhöhen. Der Befragte Rick deutet in der folgenden Passage an, dass die hergestellten Kontakte und Beziehungen auch dabei helfen, sich auf Instagram zurechtzufinden und das eigene Profil dort zu etablieren: Rick: Ich glaube einfach, dass man da ist, ähnlich wie bei Facebook, dass diese Vernetzung, wenn man damit BEGINNT, man sich eigentlich immer nur WEITER vernetzen kann und dass dadurch halt diese so/ man immer mehr GEFESTIGT wird in diesem Gewirr. Rick beschreibt hier, wie durch zunehmende Vernetzung mit anderen aus einem anfänglichen „Gewirr“ eine Verstetigung der eigenen Position im Feld wird. Es gilt: Je dichter das Netzwerk, umso gefestigter die Position. Dabei werde eine Eigendynamik mit exponentieller Entwicklung in Gang gesetzt („immer nur weiter vernetzen“). Beim Netzwerken handelt es sich so besehen um ein höchst effektives und vor allem selbsterhaltendes System. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 300 Angesichts dieser rationalen Einstellung gegenüber sozialen Beziehungen verwundert es nicht, dass von Gemeinschaftsgefühlen nicht im gleichen Ausmaß und in sehr anderer Form die Rede ist als im Schema der Bestäti‐ gungssuche. Man sieht die Anderen als eine Art Geschäftspartner, mit denen man kooperieren kann. Irene beschreibt in folgendem Ausschnitt bspw. ihre Einstellung zu Bloggern: Irene: Und irgendwann ähnelt sich halt auch vieles einfach, is auch ein bisschen schade, weil die Individutädie Individualität auch son bisschen flöten geht, aber dafür ist ja im Endeffekt Instagram auch da oder Blogger sind ja auch eigentlich dafür da, um zu inspirieren Sie selbst weist sich hier die Rolle der Rezipientin zu und reduziert ihr Verhältnis zu den Bloggern auf deren Zweckdienlichkeit: Blogger „sind da“, „um zu inspirieren“ - das ist die Funktion, die sie zu erfüllen haben und zugleich ihre primäre Daseinsberechtigung. Von Vorbildcharakter, Bewun‐ derung oder dem Gefühl der Nähe ist hier keine Rede. Umgekehrt werden Follower über ihre Funktion als Fans und Bewunderer definiert: Manuela: Follower sind die Menschen dahinter, die die mich unterstüt‐ zen, die einem folgen, die toll finden was ich mache, das sind für mich meine Follower. Im Schema der Erfolgsorientierung werden Beziehungen auf Instagram in erster Linie über die Rollen definiert, welche die Nutzenden im Feld einneh‐ men sowie über ihren Erfolgsnutzen. So entsteht ein stark vereinfachter Rahmen, innerhalb welchem die anderen Nutzenden nur als Träger von Eigenschaften und Funktionen auftreten. Persönliche und intime Beziehun‐ gen haben, anders als im Schema der Bestätigungssuche, keine zentrale Bedeutung mehr. Weit weniger unterschiedlich als die Vergemeinschaftung fällt gegenüber der Bestätigungssuche die Strategie der Idealisierung aus. Wie bereits in Kap. 6.2.1.4. ausführlich dargestellt, ist dies eine Konsequenz des ästhetisierenden Rahmens, den der Handlungsraum Instagram vorgibt. Wie auch im Schema der Bestätigungssuche wird im Schema der Erfolgsorientierung bei der Motivwahl sowie bei der Bildauswahl sehr selektiv vorgegangen und es 6.2 Nutzungsschemata 301 wird darauf geachtet, nur solche Bilder zu teilen, auf denen man besonders vorteilhaft abgebildet ist. Dabei geht es nicht zuletzt auch darum, sich im Hinblick auf ganz bestimmte Eigenschaften vorteilhaft in Szene zu setzen: Amira: Bei Schüler und StudiVZ wars ja so, man wollte sagn man is jetzt besonders lustig oder individuell oder so: Wow! Und bei Instagram is das so: Ja, man hatn besonders tollen Lifestyle man reist viel rum, und man is so voll schön und so, aber das is halt wie gesagt, wirklich fernab von der Realität. Die Befragte grenzt ihre Inszenierungspraktiken auf Instagram hier deutlich von denen auf einer anderen Plattform, Schülerbzw. StudiVZ ab, und führt diese auf differierende Inszenierungslogiken der Plattformen zurück. Dabei verallgemeinert sie ihr Vorgehen durch die generische Verwendung des Personalpronomens „man“ (vgl. Kap. 6.1.1 & 6.2.1.1): nicht nur sie, sondern „man“ hätte sich auf den VZ-Netzwerken zwar positiv, aber ‚anders positiv‘ als auf Instagram dargestellt. Für die Befragte ging es auf Studi-VZ und Schüler-VZ darum, sich als besonders humorvoll oder originell zu inszenieren, während auf Instagram andere Qualitäten gefragt seien - hier möchte man in den Bereichen Attraktivität und Lebensstil hervorstechen. Kurzum: Von der Idealisierung scheinen nie alle Aspekte der (virtuellen) Persönlichkeit betroffen, sondern nur die jeweils plattform- oder communi‐ tyrelevanten Aspekte - ähnlich einem Fussball- oder Film-Forum, in dem vor allem Kenntnisse und Kompetenzen in den entsprechenden thematischen Bereichen relevant und anerkennungsfähig sind. Diese Beobachtung weist Schnittpunkte mit dem bereits dargestellten Befund auf, dass im Schema der Erfolgsorientierung die Nutzenden ihr digitales Alter Ego nur als Rolle verstehen, die sie spielen und sich entsprechend auch nur über wenige, zentrale Rolleneigenschaften definieren und profilieren. Neben dieser Engführung ist für die Idealisierung im Schema der Er‐ folgsorientierung auch charakteristisch, dass die Nutzenden offen eine Kultur der Künstlichkeit und Überstilisierung pflegen und sich nicht davon distanzieren: Jim: Man sieht immer eben auch durch Instagram, hey, was macht der gerade, wie ist der gerade drauf. Wobei, wie ist der gerade drauf, man 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 302 postet ja immer nur das Positive. Also auch da gibt es so eine Realitäts‐ verzerrung, dass einfach jeder immer nur das Beste, das Schönste von sich postet. Der Befragte spricht in dieser kurzen Passage von „Realitätsverzerrung“ als einem intentionalen und auf der Plattform üblichen Akt der Verfremdung. Die Verfremdung gehe dabei immer in Richtung einer ‚Superlativierung des Lebens‘: Man zeige nur „das Beste“ und „das Schönste“. Im Schema der Erfolgsorientierung steht das eigene Leben bzw. die eigene Person ebenso im Zentrum der Bildmotive wie im Schema der Bestätigungssuche. Anders als dort werden die daran und dadurch vorgenommenen Idealisierungen aber nicht mehr nur als marginale Schönheitskorrekturen oder dezente Verschiebungen der Perspektive gerahmt, sondern als gezielte Stilisierungen zur medialen Kunstfigur ausgewiesen. Das bringt auch die folgende Befragte zum Ausdruck: Freia: Wie gesagt, meistens sind die Fotos ja auch ziemlich gestellt und dann sucht man sich da ja trotzdem auch immer das schönste raus, man will immer nur das Beste von seinem Leben irgendwie darstellen, also ja, man zeigt auf Instagram halt nur die schönen Seiten und im echten Leben ist es ja nicht immer nur so, dass es alles schön ist. Freia gibt hier an, dass das eigene Leben zwar als ‚Quellenmaterial‘ für das idealisierte Profil diene - was im Endeffekt aber dabei herauskommt, habe für sie nicht mehr viel mit dem echten Leben zu tun. Insofern wird die Wirklichkeit in den Idealisierungen nicht nur übersteigert, sondern überschritten - und das alles im Sinne des ‚crowd pleasings‘, d. h. der Publikumswirksamkeit. Der eigentliche Unterschied liegt also auch hier weniger in den eigentli‐ chen Praktiken begründet als in den distinkten Auslegungen und Haltungen bezüglich der Praktiken: Im Schema der Erfolgsorientierung werden sie deutlich rationaler betrachtet und entsprechend in den Alltag integriert. So beschreiben die beiden Befragten in den folgenden Passagen einen Spillover- Effekt, der als ‚rationalisierter und rationalisierender‘ Blick bezeichnet werden kann. 6.2 Nutzungsschemata 303 Juliette: Nicht weil ich jetzt so sehr darauf fixiert bin, alles mitzuneh‐ men, aber ich gucke halt schon so: „Hm, wo könnte man denn schöne Fotos machen? Ah da ist es echt schön! “ Also mein Auge ist schon nen bisschen sensibilisierter darauf, zu gucken was/ welches Motiv könnte ein schönes Instagram Motiv sein. Jim: Denn viele unterschätzen das. Dass sie sagen: „Ach, das ist ja schnell hier mit dem Smartphone ein Foto“. Aber sich Gedanken zu ma‐ chen. Auch vom Kopf her bist du nicht komplett frei, sondern wirklich schaust ja in der Umgebung. Wo kann ich jetzt ein Foto machen? Wo kann ich ein interessantes Video aufnehmen? Juliette und Jim geben beide an, ihre Umwelt auf Motive hin abzusuchen, die sich für Instagram eignen - ihr Blick auf die Umgebung ist demnach kein kontemplativer und auch kein konsumierender, sondern in erster Linie ein unternehmerischer. Das Umfeld wird gescannt mit Fokus auf ästhetische Potentiale und den Erfolg des Instagramprofils. Der Sehsinn wird umfunkti‐ onalisiert zum Geschäftssinn, dem der subjektive Erlebnischarakter abgeht, der das Schema der Bestätigungssuche auszeichnet. Ähnlich rational fällt auch die Rezeption von Beiträgen aus. So vergleicht der folgende Befragte fremde Profile mit „News“: Ronald: Also so isist schon nen Bestandteil. Man schaut halt morgens rein, irgendwie mittags auf der Arbeit, kurz inner Mittagspause und abends um irgendwelche NEWS zu bekommen von andern Leuten, die das halt noch benutzen, was die halt zur Zeit so machen oder was die gemacht haben. Darum ist es dann doch schon in der Aktivitätenreihe nach oben gestiegen, würde ich sagen. Für den Befragten handelt es sich bei den Updates nicht um Einblicke ins Leben oder um Teilnahme an den Erlebnissen anderer - diese Deutungen sind typisch für die Schemata der Bestätigungssuche und, wie noch zu sehen sein wird, der Beziehungspflege. Ronald rahmt Beiträge als Quelle von Informationen - als „News“, mit denen er sich zwischendrin mal ‚kurz‘ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 304 versorgt. Er reduziert sie damit auf ihren informativen Wert. Einen weitaus stärkeren Einfluss auf ihren Alltag konstatiert die Nutzerin Amelie: I: Hat das denn einen Einfluss auf deinen Alltag? Amelie: […] Das ist natürlich ein enormer Zeitfresser, also man muss sich teilweise morgens schon, quatsch, am Abend davor überlegen oder ich hab es mir halt überlegt, oder sogar schon diesedie Woche schon ein bisschen geplant so, was ich posten will und dann wars teilweise so, dass man zu wenig hatte auf dem Bild, dann musste man irgendwie noch irgendwelche Utensilien suchen und noch irgendwas hindekorieren und das hat einfach mega lang gedauert. Die Befragte gibt an, wie Jim weiter oben, sich auch offline in Gedanken oft mit Instagram zu beschäftigen. Dabei schwelgen beide aber nicht in ästhe‐ tischer Kontemplation oder flüchten sich gedanklich in eine Parallelwelt. Im Gegenteil sehen sie sich durch Instagram im Alltag vor allem mit handlungs‐ praktischen Fragen und Überlegungen konfrontiert. Der Spillover-Effekt auf den Alltag besteht im Schema der Erfolgsorientierung also nicht in einer lustvollen Ästhetisierung der Umgebung, einer Vergemeinschaftung oder in erhöhtem Selbstbewusstsein (vgl. 6.2.1) - er äußert sich vor allem als Rationalisierung des Blicks und der alltäglichen Lebenswelt. Resümierend lässt sich festhalten, dass die plattformspezifische Sinn‐ welt im Schema der Erfolgsorientierung von Instagrams kommunika‐ tiven Rahmensetzungen bestimmt ist. Die Befragten sehen die redu‐ zierte Nutzeroberfläche als Aufruf und Möglichkeit zur effizienten und rationalisierten Kommunikation. Neben der zielgenauen Befriedigung eigener Rezeptionsbedürfnisse stellt Instagram für sie vor allem eine Möglichkeit dar, durch Selbstvermarktung quasi-unternehmerisch aktiv zu werden. Dafür werden Zweckbeziehungen eingegangen, die durch die Praxis des Netzwerkens hergestellt werden. Es stellt sich, an‐ ders als im Schema der Bestätigungssuche, dabei kein allumfassendes Gemeinschaftsgefühl ein. Das Gemeinschaftsverständnis entspricht im Schema der Erfolgsorientierung eher dem einer Kooperative, in welcher Beziehungen in erster Linie über die jeweiligen individuellen Rollenfunktionen und Positionen im Feld definiert sind. Auch die 6.2 Nutzungsschemata 305 Idealisierungen sind ausgerichtet auf den Zweck der Publikumswirk‐ samkeit und erfüllen darüber hinaus keine weitere, bspw. emotionale, Funktion. Die Auswirkungen auf den Alltag sind ebenfalls rationali‐ sierender Natur: Die Befragten geben an, eine Art ‚unternehmerischen Blick‘ verinnerlicht zu haben, der ihre Alltagswahrnehmung prägt. Die plattformspezifische Sinnwelt im Schema der Erfolgsorientierung ist also in erster Linie charakterisiert durch die Rationalisierung der Kommunikation. 6.2.2.5 Interaktionsregeln Hauptmerkmale: ▸ Strikte Grenzwahrung ▸ Zweckmäßige Reziprozität ▸ Hierarchisierung, (bedingt) statusbasierte Kommunikation Die grundlegenden Verhaltensregeln und Interaktionsparameter auf In‐ stagram unterscheiden sich in den unterschiedlichen Nutzungsschemata nicht großartig, d. h. die Grundlagen wechselseitiger Erwartungs- und Handlungskoordination sind dieselben. Es handelt sich hierbei also um relativ verbindliche und träge Strukturen. Unterschiede zwischen den Sche‐ mata finden sich nur im Detail, genauer gesagt: in der Art und Weise, wie die Beteiligten Regeln auslegen und aneignen. Auch im Schema der Erfolgsorientierung fußt die Koordination des Miteinanders bspw. auf einer grundlegenden Reziprozitätserwartung. Der Befragte Tom drückt das wie folgt aus (vgl. ausführlicher zu diesem Zitat 6.2.2.2.): Tom: Darum gehts doch auch voll bei Instagram, um Selbstdarstellung eigentlich. Es ist ja an sich auch nur so n Sehen und Gesehen werden. In diesem Zitat deutet sich bereits eine Auslegung des Reziprozitätsprinzips an, wie sie für das Schema der Erfolgsorientierung charakteristisch ist. Der Befragte verweist auf kein Miteinander, sondern nur auf Einzelakteure mit einzelnen Interessen („Sehen und Gesehen werden“). Die Wechselseitigkeit zwischen den Akteuren wird beschränkt auf den Austausch von Aufmerk‐ samkeit. Affektive Komponenten werden nicht benannt. Eine Praxis, die auf 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 306 dieser Auslegung des Reziprozitätsprinzips beruht, ist das bereits erwähnte Netzwerken. Es sei an dieser Stelle nochmal auf eines der Zitate aus diesem Kontext verwiesen: Manuela: Ich kommentiere und like und schreibe denen auch, wenn mir was gefällt. Und bin auch eher aktiv. Ist auch wichtig bei anderen Leuten etwas drunter zu schreibe oder auch zu zeigen, dass man da ist, einfach um auch mit anderen Leuten Kontakte zu knüpfen, da ist es auch wichtig, aktiv zu sein, man sollte da nicht der passive Part sein und nur posten. Es zeigt sich hier eine durchaus vorhandene Orientierung an Wechsel‐ seitigkeit. Auch wenn Instagram im Schema der Erfolgsorientierung in auffallendem Maße als Raum von Einzelakteuren wahrgenommen wird, werden diese nicht als isolierte Individuen verstanden. Man sieht sich selbst durchaus in einer gewissen Interdependenz mit den anderen Akteuren, seien es reine Follower oder Kooperateure - das liegt insbesondere daran, dass jenes Gut, um das gerungen wird, nämlich Aufmerksamkeit, eines ist, für das man auf die anderen Akteure angewiesen ist. Aufmerksamkeit kann man nicht alleine oder gegen den Willen der anderen Teilhabenden erringen. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn die Befragte in obigem Zitat denjenigen Agency unterstellt, die auf andere Nutzende zugehen und einen Mangel dort sieht, wo sich nur um das eigene Profil gekümmert wird. So verweist auch der Begriff der Reaktionspräsenz (s. Kap. 7) auf eine Sichtbarkeit und Präsenz, welche in der Reaktion gründet. Diese Form der Präsentierung setzt die wechselseitige Bezugnahme voraus und erschöpft sich eben nicht in egozentrischen Akten. Im Schema der Erfolgsorientierung wird sich konsequent an dieser Logik orientiert. Dabei wird auf jede weitere Differenzierung oder emotionale Verkleidung verzichtet - es wird quasi eine Art rationale oder ‚nackte‘ Reziprozität verfolgt. Der Befragte in der folgenden Passage zeigt noch einmal deutlich auf, dass die Reziprozität im Schema der Erfolgsorientierung keine altruistische ist, sondern eine zweckhafte bis kompetitive: Ronald: Ich denke mal im Endeffekt will halt irgendwie jeder Auf‐ merksamkeit bekommen, also was heißt Aufmerksamkeit, das klingt 6.2 Nutzungsschemata 307 irgendwie/ ((lacht)) Das klingt irgendwie doof. Aufmerksamkeit würd ich das nicht nennen, so es ist einfach son Ding/ (2) Jeder will mit jedem mithalten und dass man halt so zeigt, was man geschafft oder erreicht hat irgendwie. In ner gewissen Weise und Leute, die halt sich dafür auch interessieren, die können dann einem Tipps geben, das ist halt irgendwie son, son Geben und Nehmen also Zuerst rekurriert der Befragte auf das rare Gut der Aufmerksamkeit, welches in seinen Augen alle Nutzenden begehren. Er verbessert sich aber rasch, ersetzt Aufmerksamkeit durch ‚Mithalten-Wollen‘ und scheint dadurch den kompetitiven Charakter des Austauschs auf Instagram stärker betonen zu wollen. Interessanterweise greift er hierfür auf eine Formulierung zurück, die nicht das Überbieten sondern Augenhöhe impliziert: Man möchte die anderen in erster Linie nicht übertreffen, sondern vor allem mithalten. Zugleich drücken sich in dieser Formulierung eine Getriebenheit aus. Ronald gibt an, anderen zeigen zu wollen, „was man geschafft oder erreicht hat“, was hier mit einem latenten inneren Druck oder Drang assoziiert wird („jeder will mit jedem mithalten“). Der kompetitive Aspekt der Selbstdarstellung wird im nächsten Satz stante pede mit der kooperativen Komponente verbunden: Man steht nicht nur im Wettbewerb zueinander, sondern hilft sich gegenseitig beim Erreichen plattforminterner Ziele (vgl. die Strategie des #like4like) und plattformexterner Ziele („Tipps geben“ hinsichtlich Ernährung, Workouts, Outfits, Makeup etc.). Die Reziprozität oder das „Geben und Nehmen“ besteht im Schema der Erfolgsorientierung also im Wettbewerb, sprich im Hochschaukeln und gegenseitigen Antreiben, das die Form gegenseitiger Hilfe annimmt. Im Vergleich zum Schema der Bestätigungssuche wird das Reziprozitätsprin‐ zip damit leicht, aber letztlich doch entscheidend anders ausgelegt. Dort spielen Höflichkeits- und Anstandsregeln eine größere Rolle, genau wie der Anspruch, einander gegenseitig positiv zu affizieren, während hier die Sachdienlichkeit im Vordergrund steht. Der Anspruch, ästhetische Reize zu bieten, findet sich auch im Schema der Erfolgsorientierung wieder, der Fokus liegt dabei aber auf technischen Aspekten: Janosch: Das is nicht so der Schnappschuss. Na klar is das auch der Schnappschuss, aber das is dann auch schon mehr oder weniger gestellt, 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 308 also w/ Damit das Foto einfach schön wird. […] Muss ja ne gewisse Qualität natürlich irgendwie haben. Ich guck auch tatsächlich ganz viel da drauf, dass das Ganze dann auch ja also also fotogen is sozusagen, nichnicht die Person, dass die Person fotogen is, sondern das, was ich fotografiere muss in irgendeinerirgendeiner Weise fotogen sein. Der Befragte grenzt seine Bilder in dieser Passage klar von „Schnappschüs‐ sen“ ab - seine Bilder seien nicht einfach nur aus dem Moment und dem Handgelenk heraus ‚geknipst‘, sondern sorgfältig vorbereitet („mehr oder weniger gestellt“, „guck ganz viel drauf dass das Ganze fotogen ist“). Das Ziel sei es, Bilder zu teilen, die eine „gewisse Qualität“ haben, „fotogen“ sind und „einfach schön“. In dieser Anspruchshaltung findet sich auch die Ten‐ denz zur ostentativen Idealisierung wieder, die so charakteristisch für das Schema der Erfolgsorientierung ist. Dieser Haltung fehlt die Orientierung am gegenseitigen Wohlgefallen, welche das Schema der Bestätigungssuche auszeichnet. Stärker als die zwischenmenschlichen und emotionalen Bedeu‐ tungen der ästhetischen Strategien werden die technischen Aspekte betont, wie sich auch in folgender Passage zeigt: Sonja: Ich achte darauf, dass alles eine relativ gute Qualität hat, dass alles sehr gut SICHTBAR ist, dass viel LICHT in den Bildern oder in den Videos ist. Auch Sonja antwortet auf die Frage, worauf sie beim Austausch auf Insta‐ gram Wert lege, mit der Sorgfalt, die sie der Bildgestaltung angedeihen lässt und nennt einige Komponenten, die ihrer Meinung nach dabei von Bedeutung sind: Licht, Sichtbarkeit und Qualität im Allgemeinen, allesamt technische Aspekte. Die Wirkung der Bilder oder deren ‚Botschaft‘ spielen für sie dabei keine Rolle. Die Beachtung qualitativer Bildstandards stellt im Schema der Erfolgsorientierung also eine Art allgemeine Norm, Spielregel oder Etikette dar. Die Fokussierung auf formale Normen und ostentative Idealisierung zeichnet Nutzungspraktiken aus, die weniger phatischer als zweckrationaler Natur sind. Auch hier liegt der Unterschied im Detail. Der folgende Befragte beschreibt Instagram als „Plastikwelt“ und attestiert der Plattform damit Künstlichkeit und Oberflächlichkeit: 6.2 Nutzungsschemata 309 Olaf: Es ist fast wie son bisschen wie ne Plastikwelt. Es ist einfach alles so (2) sehr (2) ja, poliert, glattgestrichen, es ist alles sehr weich. Instagram wird in dieser Lesart als Ort der (Selbst-) Spiegelungen beschrie‐ ben („poliert“), als Ort ohne Reibungsflächen („glatt gestrichen“, „weich“), und eben auch als unpersönlicher, oberflächlicher und künstlicher Ort („Plastikwelt“). Die Oberflächlichkeit steht dabei aus der Perspektive der Erfolgsorientierung nicht im Dienste des phatischen Miteinanders, sondern einer rein funktionalen Kommunikation. Mit besonderem Nachdruck wird das im folgenden Zitat betont, auf welches in 6.2.2.1 bereits näher eingegan‐ gen wurde: Amira: Ich glaub, man muss echt aufpassen, dass man das überhaupt nicht persönlich nimmt. (0.5) Weils hat einfach NICHTS damit zu tun, glaub ich. Es ist einfach (0.5) wie son Computer-Algorithmus schon fast so. Du musst das und das tun und dann wird das und das passieren und wenn dus nicht tust, passiert es nicht. Keine Ahnung, (2.0) ich seh das halt nicht persönlich, deswegen betrifft mich, berührt mich das dann nicht emotional. Mit dem Verweis auf einen Computer-Algorithmus insinuiert Amira eine automatische und nach vordefinierten Mustern ablaufende Kommunikation. Diese weist keinerlei zwischenmenschliche bzw. „persönliche“ Dimensionen mehr aufweist, sondern ist rein zweckrational darauf ausgerichtet, spezifi‐ sche Outputs zu erzielen („dann wird das und das passieren“) oder zu vermei‐ den. Eine Harmonisierung des Kommunikationsraums Instagram wird hier also nicht durch phatische Kommunikationsakte angestrebt, wie im Schema der Bestätigungssuche, sondern durch deren Rationalisierung und Funktio‐ nalisierung. Im Schema der Erfolgsorientierung stehen Erwartbarkeit und Effizienz im Vordergrund - zwischenmenschlichen Störgeräuschen, welche diesen ‚funktionalen‘ Gleichklang unterbrechen könnten, wird daher weder im positiven noch im negativen Sinne Raum gelassen. Dieser unterschiedlichen Fokussetzung entsprechend werden im Schema der Erfolgsorientierung auch andere Sitten im Raum Instagram gepflegt. Man weist bspw. wie auch im Schema der Bestätigungssuche der Vergabe 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 310 von Likes einen besonderen Stellenwert zu, die Kriterien hierfür unterschei‐ den sich jedoch: Moritz: Aber wenns einfach nurn MARMELADENBROT is, dann denk ich mir: „Ja, warum sollt ich das jetzt liken“. Also da versuch ich nich so wie/ wie könnt man das sagen, nich so inflationär mitmit meinem, mit meinen Likes umzugehen. Moritz gibt hier an, nicht wahllos Bilder zu liken. Bilder, die „einfach nurn Marmeladenbrot“ zeigen, sind z. B. ausgenommen von dieser Form der Ratifizierung. Die Formulierung „einfach nur“ legt nahe, dass Trivialität eines der Ausschlusskriterien ist. Positive Kriterien werden an dieser Stelle keine genannt. Der Befragte vergleicht Likes jedoch mit einer Währung, die inflationär eingesetzt werden kann. Likes können demnach auch an Wert verlieren, wenn sie in zu großen Mengen zirkuliert. Sie sind wie Geld ein objektives Tauschmittel, dessen Gebrauch kontrolliert und diszipliniert werden muss, da ansonsten u. a. eine Entwertung droht. Aber nicht nur Likes, sondern auch Kommentare können gezielt eingesetzt werden: Amira: Also zum Beispiel bei meinen Freunden würd ich natürlich nie n strategisches Kommentar machen ((lacht)), aber so unter jetzt das Bild von jetzt Kylie Jenner, die mich ja eigentlich nur interessiert, wenn ich da drunter schreibe so „Oh, das sieht aber gut aus! “, dann ist das strategisches Kommentar, weil eigentlich ist mir das egal. Likes und Kommentare stellen im Schema der Bestätigungssuche in erster Linie subjektive Formen der Wertschätzung und des Lobs dar, die sich graduieren lassen. Amira entwirft in der zitierten Passage ein anderes Bild vom Status der Kommentare. Sie betont „das strategische Kommentar“, der eingesetzt wird, um die Sichtbarkeit zu erhöhen. Auf den Profilen bzw. unter den Postings von Freunden würde sie keine solchen Kommentare hinterlassen. Das kann entweder heißen, dass sie die Beiträge ihrer Freunde gar nicht kommentiert oder dass die Kommentare, die sie Freunden hin‐ terlässt, noch immer eine soziale Funktion erfüllen. Der Fokus aber liegt auf strategischen Kommentaren mit zweckrationaler Funktion. Beziehun‐ gen, wie etwa Freundschaften, die der Optimierungs-, Verwertungs- und 6.2 Nutzungsschemata 311 Effizienzlogik des „strategischen Kommentars“ entgegenstehen, werden davon ausgenommen. Während im Schema der Erfolgsorientierung also durchaus Beziehungen anerkannt werden, die nicht-funktionaler Art sind, stehen überwiegend rationale Beziehungen im Fokus der Orientierung. Freundschaftliche Beziehungen stellen nur eine Ausnahme dar und sind kein Primärziel, wie etwa im Schema der Beziehungspflege. Auch die primären Richtlinien des Verhaltens sind entsprechend von einer stark rationalen Auslegung geprägt. Das hat nicht zuletzt Auswirkungen auf den Intimitätsgrad der Kommunikation. Während für das Schema der Bestäti‐ gungssuche ein hoher Grad an kommunikativer Intimität charakteristisch ist und persönliche Grenzüberschreitungen keine erwähnenswerte Rolle spielen, werden im Schema der Erfolgsorientierung durchaus Grenzen der Intimkommunikation bzw. der Angemessenheit wahrgenommen und thematisiert: Michaela: Ja, also was ich mal richtig krass fand, da hat mal IRGEND‐ EINER, den ich ÜBERHAUPT nicht kannte, drunter geschrieben „Ja, du bist meine Traumfrau. Ich würde dich gern heiraten“ oder „Du hast die schönsten Augen. Du bist wie ein Engel“. So ganz komische Sachen. Dazu SAGE ich dann meistens aber auch nichts, weil/ Ich kenne dich nicht. Ist zwar schön und nett und lieb gemeint ((lacht)), aber ich antworte jetzt mal nicht darauf. Kann für das Schema der Bestätigungssuche noch eine Tendenz zur Höchst‐ persönlichkeit (vgl. Luhmann 2010) und „Hyperpersonalisation“ (vgl. Walt‐ her 1996, Dröge 2013 und Kap. 6.2.1.5) festgestellt werden, besteht im Schema der Erfolgsorientierung ganz im Gegenteil eine Neigung zur Debzw. Entpersonalisierung der Kommunikation. Die Beiträge müssen zwar auch hier mit einem Mindestmaß an Intimität und Emotionalität aufbereitet werden - das fordern die Spielregeln der Bestätigung -, die Anrufungen blei‐ ben aber unverbindlich, oberflächlich und generisch. Im Fall von Michaela wurde für die Befragte eine Grenze überschritten: Der Grad an Intimität im geschilderten Beispiel ist in ihren Augen unangebracht, d. h. unangemessen hoch. Hier scheinen Unterscheidungen eine Rolle zu spielen wie etwa die von Amira oben eingeführte Unterscheidung zwischen Freunden und nä‐ heren Bekannten einerseits und reinen Instagram-Kontakten andererseits. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 312 Im Fall der letzteren wird eine zu stark akzentuierte oder personalisierte Intimkommunikation als invasiv und unangebracht erachtet. Dieses differenzierte Intimitätsverständnis zeigt sich auch auf einer anderen Ebene. Während sich das Schema der Bestätigungssuche durch die Annahme einer grundsätzlichen Symmetrie der Nutzenden bzw. einer Begegnung auf Augenhöhe auszeichnet, deutet für das Schema der Erfolgs‐ orientierung vieles daraufhin, dass zwar formal weiterhin symmetrische Verhältnisse inszeniert werden, latent aber Hierarchien konstruiert, wahr‐ genommen und perpetuiert werden. So verweist Katja in folgender Passage sowohl auf den „Fame“ berühmter Persönlichkeiten als auch auf die im Instagram-Profil suggerierte Nähe: Katja: Ich mag halt alles/ Oh, was ich an Instagram so liebe sind halt so/ Gott, ich bin halt so: Alles was im Film zu sehen is find ich halt geil und wenn so jemand wie Cate Blanchett son Video von sich selbst macht, wie sie grade irgendwie im Garten sitzt, das is halt das Geilste find ich, weißt du? Ja, das is der, ne/ Ich steh voll auf alles was Fame hat, find ich halt geil und wenn Cate Blanchett so nah wie möglich is, versteht ihr? Die Befragte spricht an dieser Stelle einerseits zwar davon, dass es ihr gefalle, wenn ihr die Prominenz auf Instagram - auch hier durch Inszenierungen von Privatheit (vgl. Kap. 6.2.1.5) - „so nah wie möglich is“, lässt andererseits aber auch keinen Zweifel daran zu, dass sie sich der Statusunterschiede bewusst ist: Sie folgt der Person in erster Linie nur, weil diese „Fame“ hat. Es handelt sich hier also eher um ein reflektiertes Spiel mit der Illusion von Nähe als um den Glauben an tatsächliche Symmetrie. Auch in der folgenden Passage zeigt sich, dass Hierarchien im Schema der Erfolgsorientierung sehr wohl erkannt werden und praxisrelevant sind: Amira: Wenn (2.0) ungefähr die gleiche Follower-Menge entbesteht, dann is es immer Kooperation, wenns schon sehr weit entfernt is, so wie bei Stars, die jetzt drei Millionen Follower haben, dann is es ganz egal, einfach Bewunderung sozusagen und bei Leuten, die halt so das nächststehende Ziel sind theoretisch, is es vielleicht eher Konkurrenz. 6.2 Nutzungsschemata 313 Das Hierarchieempfinden, das Amira hier zum Ausdruck bringt, ist, anders als im letzten Beispiel, orientiert an den plattformspezifischen Statusindika‐ toren der Follower und Likes. Die Befragte verweist auf handlungsleitende Impulse, die von dieser Art der Hierarchisierung ausgehen: Die Aussicht auf Statuserhöhung fungiere als Anreizsystem zur Profiloptimierung („so das nächststehende Ziel“). Zugleich konstatiert die Befragte unterschiedliche wettbewerbs- und erfolgsorientierte Verhaltensmuster wie Bewunderung, Kooperation und Konkurrenz. Die Hierarchisierung manifestiert sich im Schema der Erfolgsorientierung zwar nicht in der offenen Zurschaustellung von Status, formt als latente Sinnstruktur aber die Wahrnehmungen und Handlungen der Nutzenden. Der Form nach wird weiterhin das Ideal einer Kommunikation auf Augenhöhe gewahrt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Interaktionsregeln im Schema der Erfolgsorientierung rational, nüchtern und mit Blick auf das Effizienzpotential der Plattform angeeignet werden. So wird bspw. das Reziprozitätsprinzip der Erhöhung von Followern und Likes dienstbar gemacht. Auch die Ästhetisierung der Bilder wird weniger als wechselseitig verpflichtende Norm des Miteinanders verstanden und mehr als Beitragsoptimierung im eigenen Interesse. Die ratio‐ nale, nüchterne und zielorientierte Auslegung des kommunikativen Settings führt letztlich zu einer starken Entpersonalisierung der Inter‐ aktionen. Intimität, Nähe und Augenhöhe werden von den Befragten als formale Inszenierungsstrategien anerkannt, nicht aber als reelle Eigenschaften der kommunikativen Situation auf Instagram. Diese ist für sie im Gegenteil geprägt von Statusunterschieden, deutlichen Grenzziehungen und schematischer Zweckrationalität. Auf dieser Auslegung gründet nicht zuletzt das kompetitive und unternehmeri‐ sche Gebaren im Schema der Erfolgsorientierung. 6.2.2.6 Zusammenfassung Für das Schema der Erfolgsorientierung ist besonders die rationale Aneig‐ nung der kommunikativen Strukturen auf Instagram charakteristisch. Es zeichnet sich durch die Verfolgung objektiver Ziele, vor allem die Vermeh‐ rung von Likes und Followern aus. Nutzende in diesem Schema koppeln 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 314 sich emotional ab oder reduzieren ihr emotionales Investment zumindest stark. Hierzu entwickeln sie bestimmte Strategien der Distanzierung und Immunisierung. So wird zum Beispiel die Interpretation von Likes weitest‐ gehend vermieden, d.h.: Die Reflexion möglicher subjektiver bzw. persön‐ licher Implikationen von Likes als auch die Affizierung durch sie werden umgangen, indem Likes auf ihre objektiven Eigenschaften reduziert werden. Solche Strategien der Versachlichung und Entpersonalisierung finden sich auch in anderen Bereichen. Beziehungen werden bspw. nicht etwa affektiv aufgeladen, wie dies für das Schema der Bestätigungssuche charakteristisch ist, sondern im Gegenteil zweckrational ausgedeutet und geführt. Die Arbeit am Selbst und der Grad der Identifikation mit dem eigenen Profil unterscheiden sich ebenfalls stark zum Schema der Bestätigungssuche. Jenes zeichnet sich durch (wenigstens) eine Teilidentifikation mit der auf Instagram dargestellten Online-Persona aus, wobei diese repräsentativ für das eigene Ich oder zumindest für umfangreiche Teilaspekte dessen steht. Im Gegensatz dazu wird das Offline-Ich im Schema der Erfolgsorientierung relativ deutlich vom Online-Ich unterschieden. Die Befragten verstehen ihr auf Instagram dargestelltes Selbst als eine Rolle, die sie vor anderen spielen, und betonen im Duktus der Selbstverständlichkeit die Künstlichkeit der Inszenierungen. Stärker noch als im Schema der Bestätigungssuche werden die eigenen Aktivitäten im Schema der Erfolgsorientierung als Arbeit aufgefasst, die Anstrengungen wie auch Kompetenzen erfordert. Feedback wird von den Befragten entsprechend nicht als Bestätigung der eigenen Person, sondern vor allem als Bestätigung ihrer Leistungen interpretiert, d. h. der Qualität der Bildbeiträge bzw. des Profils im Allgemeinen. Weiterhin stellt Feedback für die Befragten eine Möglichkeit dar, das eigene Profil dem Publikumsge‐ schmack entsprechend zu optimieren und so mit Blick auf die Like- und Followerzahlen zu „wachsen“. Die idealisierte Ästhetik der Bilder erscheint dabei als Mittel zum Zweck dieser Publikumsanpassung. Auch darüber hinaus weist das Schema der Erfolgsorientierung eine stark unternehme‐ risch geprägte Außen- und Nutzenorientierung auf: Erfolg wird über die objektiven Maßstäbe der Like- und Followerzahlen definiert, ästhetische Wertigkeit wird vor allem am Publikumszuspruch gemessen und auch Ver‐ haltensrichtlinien und Interaktionsregeln werden zweckrational gedeutet und angeeignet. Die Orientierung an einer Erfolgslogik unterminiert zum Teil auch die Symmetrisierung des Kommunikationsraums: Formal werden im Schema 6.2 Nutzungsschemata 315 der Erfolgsorientierung zwar, wie im Schema der Bestätigungssuche, Inti‐ mität und heterarchische Verhältnisse inszeniert, latent werden aber hierar‐ chische Strukturen produziert. Das prägt die Sichtweisen auf das Selbst, auf das eigene Verhalten und die Anderen im Schema der Erfolgsorientierung. Die Befragten verstehen Instagram als Raum der Konkurrenz und der Kooperation und ihre eigenen Aktivitäten als Wettbewerb, Herausforderung oder agonales Spiel. Resümierend kann festgehalten werden, dass im Schema der Erfolgsorien‐ tierung ein unternehmerisches und rationales Selbst- und Weltbild prävalent ist: Instagram ist aus dieser Perspektive in erster Linie ein Raum, der effizi‐ ente Kommunikation ermöglicht und Erfolg im Sinne von Statusmobilität und Prestige verspricht. Sich selbst verstehen die Befragten in erster Linie als Unternehmende und Dienstleistende mit dem Ziel, ihr Profil zu optimieren und ihren Erfolg zu steigern. Sie treten auf Instagram nicht als private Person, sondern als Rollenträger auf. Ihr digitales Alter Ego stellt dabei eine Kunstfigur und zugleich ihr Produkt dar, sie selbst wiederum nehmen für sich die soziale Rolle des oder der Selbstunternehmenden in Anspruch. 6.2.3 Nutzungsschema 3: Beziehungspflege 6.2.3.1 Resonanz Hauptmerkmale: ▸ Resonanz der Freunde ist wichtig ▸ Gleichgültigkeit gegenüber Like- und Followerzahlen im Allgemeinen ▸ Zu großes Publikum wird als potentielle Gefahr wahrgenommen Während der zentrale Ankerpunkt im Schema der Bestätigungssuche die allgemeine Bestätigung durch das Publikum ist und im Schema der Er‐ folgsorientierung der sichtbare Erfolg, so besteht er für das Schema der Beziehungspflege insbesondere in der Aufrechterhaltung und Pflege von Offline- und Online-Freundschaften bzw. -Bekanntschaften. Das Schema der Beziehungspflege ist nur unscharf konturiert, d. h. weit weniger klar umrissen und definiert als die anderen beiden Schemata. Das liegt insbeson‐ dere daran, dass die Befragten für sich proklamieren, Instagram nicht zu viel Bedeutung beizumessen und der Plattform in ihrem Leben nicht zu viel Raum geben wollen. Die Unschärfe ist also nur bedingt auf ein Defizit in 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 316 der Datenerhebung zurückzuführen - vielmehr ist sie konstitutiv für dieses Nutzungsschema. Deutliche Unterscheidungen und Relevanzsetzungen werden von den Befragten insbesondere im Hinblick auf verschiedene Beziehungsarten vorgenommen. So wird im folgenden Zitat beschrieben, wie die Bedeutung von Aufmerksamkeit und Bestätigung von der Beziehung abhängen: Mala: Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich/ Ob das mir wichtig ist, dass es VIELE Gefällt-Mir sind, sondern mir ist eher wichtig, WER auf Gefällt-Mir drückt. Mala verweist an dieser Stelle darauf, dass für sie nicht die Quantität (und streng genommen auch nicht die Qualität), sondern der Absender des Feedbacks von Bedeutung ist. Anders als im Falle der Zielgruppenori‐ entierung spielt dabei die persönliche Beziehung eine wichtige Rolle. Das Konzept der Zielgruppe fokussiert eine spezifische Gruppe von Personen, die angesprochen werden soll, ohne Ansehung der einzelnen Personen - der Bezug ist vornehmlich unpersönlich. Eine Resonanzgewichtung wie sie von Mala vorgenommen wird, bezieht sich zwar ebenfalls auf bestimmte Personengruppen, unterscheidet dabei aber auch nach der persönlichen Bedeutung der einzelnen Personen. Es wird gewissermaßen zweifach ge‐ filtert und selektiert. Es wird die Aufmerksamkeit und Bestätigung jener Personengruppen und Personen als wichtig erachtet, die den Nutzenden auch persönlich wichtig sind: Veronica: Ja also, ich mach mir glaub' ich mehr draus, wenn meine Freunde und Familie drauf reagieren, also wenn die mir dazu was/ obs jetzt positiv oder negativ ist, da/ (1) glaub ich dadurch, dass die mich ja persönlich kennen ((lacht)) hat das für mich nen höheren Stellenwert als wenn da jetzt irgendwer was drunter schreibt, den ich so gar nicht kenne. (2) Ja würd ich schon so sehen. Für die Befragte hier handelt es sich bei den wichtigen Personen um Freunde und Familie, oder anders ausgedrückt: um ihren engsten Bezugskreis. Klar abgegrenzt werden diese von Leuten, die sie persönlich „nicht kennt“ und die auch keine persönliche Kenntnis von ihr haben, die also namen- und 6.2 Nutzungsschemata 317 gesichtslos bleiben, kurz: nur „irgendwer“ für sie sind. Nur die Kommentare der ersten Personengruppe erachtet sie als relevant, aus den anderen „macht“ sie sich nichts oder zumindest mache sie sich weniger „draus“. In den Schemata der Bestätigungssuche und der Erfolgsorientierung existieren zwar keine solch expliziten Präferenzgruppen. Es klingt jedoch immer wieder durch (vgl. Kap. 6.2.1.1), dass die überraschenden, nicht erwartbaren Bestätigungen fremder Nutzender dort höher eingestuft werden, ebenso das das Feedback statushoher Nutzender, wie etwa bekannter Bloggerinnen oder Blogger. Diese Präferenzgruppen werden allerdings nicht gezielt benannt oder thematisiert und sie werden auch nicht handlungsleitend - ganz im Gegensatz zum Schema der Beziehungspflege: Mala: Weil es kann ja sein, dass das einfach untergegangen ist, weil das sind ja soviele Posts mittlerweile, dass du dasich auch teilweise von Freunden nicht alle Bilder sehe. […] Dann markiere ich die halt da drauf. Also die kriegen dann sozusagen ne Nachricht, dass sie auf dem Bild sind. Genau, aber wenn jetzt, wenn ich das nicht machen würde und die/ ((lacht)) keiner Gefällt-Mir drücktdrücken würde, der halt mit an dem Abend war, dann würde/ dann wäre ich glaube ich schon irgendwie traurig. Also es ist irgendwie doof, das zu denken, weil es an sich ja halt nur dieses ‚Gefällt mir‘ ist, aber für mich ist es dann halt auch irgendwie so nen: „Er hats gesehen und er fands AUCH gut“. Mala gibt hier an, Freunde und Freundinnen gezielt durch Tags auf eigene Bilder aufmerksam zu machen. Sie erhofft sich davon, dass ihr Beitrag für die Freunde so nicht in der Masse untergeht und tatsächlich rezipiert wird und Resonanz erzeugt. Für sie wird die gewünschte Resonanz dabei durch den Like repräsentiert: Dieser bedeutet zugleich Aufmerksamkeit („hats gesehen“) und Validierung („fands auch gut“). Als Randnotiz kann vermerkt werden, dass die Befragte ein Unbehagen bzw. eine Unsicherheit äußert hinsichtlich des Werts von Likes. Sie unter‐ scheidet zwischen der objektiven Bedeutung (es sei „an sich ja halt nur dieses ‚Gefällt mir‘“) und der subjektiven Bedeutung („wäre ich glaube ich schon irgendwie traurig“) und weist die Abweichung der subjektiven von der objektiven Bedeutung als unangemessen bzw. unangebracht aus („irgendwie doof das zu denken“). Es scheint hier also ein persönlicher Anspruch vorzu‐ liegen, Likes nicht zu viel Wert beizumessen - ein Anspruch, der wiederum 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 318 auf ein allgemeines Misstrauen gegenüber digitalen „Mikro-Gesten“ bzw. „Nano-Level-Interaktionen“ (vgl. Lonkila & Eranti 2015) und deren sozialen Wert verweist (vgl. Aktaş et al 2018). Die Befragte Mala kommt trotzdem nicht umhin, im Like eine Art Freundschaftsbeweis bzw. -bestätigung zu sehen. Die Bedeutung der Likes anderer Nutzender erwähnt sie nicht, sie scheinen im Vergleich dazu weniger relevant zu sein. Deutlich wird die Bedeutung der Beziehung für den Wert des Likes in folgendem Zitat ausgedrückt: Alea: Ja also bei guten Freunden freut mich das schon, aber wenn das jetzt so Bekannte sind, dann ist mir das auch egal, ob das jetzt Bekannte sind oder Fremde und insgesamt ist das schon so, dass/ Ich wundere mich eher, dass ein Bild, was ich super gut finde, dass das dann mal weniger Likes bekommt als eins, das ich nicht/ das ich dann weniger gut finde. Dann wundere ich mich eher, warum die das nicht genauso toll finden wie ich, ne. ((lacht)) Die Befragte zieht hier eine klare Linie zwischen „guten Freunden“ und dem Rest, d. h. zwischen Bekannten und Fremden. Den Likes der Freunde misst sie subjektive Bedeutung bei, den Likes der Anderen nicht. Sie bezieht sich dabei, anders als Mala, auch nicht nur auf jene Freunde, die jeweils auf einem Bild markiert sind, sondern auf Freunde im Allgemeinen. Dabei wird die Geschmackskongruenz zum Definiens der Freundschaft erhoben, sprich: Alea definiert Freundschaft u. a. über geteilte ästhetische Präferenzen und schließt daraus, dass sie und ihre Freunde auch die gleichen Dinge „gut finden“ müssten. Erhält sie auf ein Bild, das ihr „super gut“ gefällt, weniger Likes als auf eines, das ihr im Vergleich dazu weniger gefällt, so sind die Likes für sie ein Ausweis unterschiedlicher Geschmackspräferenzen, der die Beziehung in Frage stellt („Dann wundere ich mich“). Der Like bleibt also auch für Alea nicht auf seine objektiven Eigenschaften beschränkt, sondern fungiert als Ausdruck ästhetischer Gesinnung und vermittelt hierüber als Freundschaftsindikator. Im Schema der Beziehungspflege liegt also durchaus eine Orientierung am Publikum vor, subjektiv bedeutsam werden aber vor allem die Rück‐ meldungen eines bestimmten Teils des Publikums: die der Freunde. Nur deren Likes und Kommentaren wird in diesem Schema besonderer Wert zugeschrieben, nur von diesen werden die Nutzenden in besonderer Weise 6.2 Nutzungsschemata 319 affiziert bzw. lassen sie sich affizieren. Die Befragte in folgendem Zitat gibt an, sich nur noch über die Likes von Freunden benachrichtigen zu lassen: Larissa: Also, ich habe das schon so eingestellt, dass ich sehe, dass wenn meine Freunde meine Bilder liken, also das SEHE ich, dafür kriege ich eine Benachrichtigung. Aber ich kriege nicht für jedes Like eine Benachrichtigung, weil das einfach zu viel wäre dann. Larissa priorisiert: Unter den vielen Likes wählt sie jene aus, die ihr wichtig sind. Doch auch über solche Priorisierungen hinaus geben die Befragten in diesem Schema zu Protokoll, sehr selektiv vorzugehen - sie attestieren sich eine bewusste Haltung der Bedachtheit und des Maßhaltens. Diese im Schema der Beziehungspflege vorherrschende Haltung darf nicht ver‐ wechselt werden mit der Haltung der quasi-professionellen Sachlichkeit und emotionalen Nüchternheit, welche das Schema der Erfolgsorientierung auszeichnet. Während im letzteren Fall die Befragten ihre Haltung auf strategische Überlegungen und gezielte Einübung zurückführen, umschrei‐ ben die Befragten im ersteren Fall ihre Haltungen gegenüber Feedback und Resonanz eher als individuelle Dispositionen oder Einsichten infolge kritischer Reflexion. Vor allem erweist sich die Haltung der Mäßigung, wie wir sie im Schema der Beziehungspflege finden, als weniger treibend und allumfassend als die Zweckrationalität, welche das Schema der Erfolgsori‐ entierung kennzeichnet. Beispielhaft hierfür die folgende Passage: Moritz: Also bei mir ist es eigentlich so, dass wenn ich was poste, guck ich so die ersten vielleicht weiß nich/ Ich schick das ab und sitz dann mit meinem Handy noch da, dann guck ich vielleicht die ersten zwei, drei Minuten drauf, ob das jetzt irgendwie SOFORT jemand/ Also es gibt ja so Leute, die sitzen den ganzen Tag bei Instagram und aktualisieren und sehen das SOFORT wenn jemand/ was gekommen is und die liken das auch sofort. Und die, wenn das, das krieg ich dann auch mit oder das hör ich noch aktiv, aber dann find ichs eigentlich auch spannend, wenn ich mein Handy quasi erstmal für eine halbe Stunde NICH angucke und dann wieder drauf gucke und gucke was passiert. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 320 Moritz grenzt seine Nutzungsweise in diesem Zitat von anderen Nutzungs‐ weisen ab, die er als exzessiv umschreibt („den ganzen Tag“, „sehen das sofort“, „liken das sofort“). Er selbst verfolge bspw. nicht „live“ die Evaluation seiner neuen Beiträge, sondern bevorzuge den Belohnungsaufschub. Moritz profiliert sich hier als maßhaltender Nutzer, lässt den Reiz, den die Likes auf ihn ausüben - es sei „spannend“ -, aber trotzdem zu. Ganz ähnlich klingt das bei Alea: Alea: Ich achte jetzt nicht darauf, dass ich/ Also Kommentare sind mir irgendwie gar nicht so wichtig, also kommt ja auch bei Instagram irgendwie nicht so super oft vor. Und Likes sind schön, aber ich hab z. B. die Benachrichtigung bei Instagram auch ausgestellt, also ich hab jetzt keine direkten Updates wenn jemand mein Bild liked. Dann guck ich mal zwischendurch mal und seh dann: „Ah, da sind Likes“, aber ich werd jetzt nicht bei jedem Like benachrichtigt. Die Haltung, die sich hier ausdrückt, kann nicht als Selbstschutz beschrieben werden, wie er sich sowohl im Schema der Bestätigungssuche als auch im Schema der Erfolgsorientierung oft zeigt. Alea hat, so lässt sie sich hier verstehen, die Benachrichtigungen nicht abgestellt, um sich zu schützen, sondern weil dies ihren Präferenzen entspricht. Likes und Kommentare seien ihr einfach nicht „so wichtig“. Einen lockeren Umgang mit Likes pflegt auch Constantin: Constantin: Aber ob ich jetzt zehn Likes bekomme, GAR keinen oder ACHTZIG. ((schüttelt den Kopf)) Das motiviert mich auch nicht. Wenn ich sage, ich hab jetzt achtzig Posts [gemeint sind Likes, d.V.] gekriegt: WOW, ich bin ja ein richtig cooler Typ so! ((lacht)) Und dann am nächsten Tag lad ich n Foto hoch und das kriegt nur zehn: Oh, ich bin dann doch nicht so cool. Der Befragte drückt hier ostentativ Gleichgültigkeit gegenüber Likes aus und beansprucht (gerade in der Distanzierung davon) Coolness. Coolness kann als innere Haltung verstanden werden (vgl. Herma 2019: 128 ff.), während bspw. die Immunisierung im Schema der Erfolgsorientierung als Strategie verstanden werden muss. Die intrinsische Disposition, von 6.2 Nutzungsschemata 321 Likes nicht „motiviert“ zu werden, unterscheidet sich von der eingeüb‐ ten Einstellung, Likes nicht „an sich ranzulassen“ (vgl. Kap. 6.2.2.1). Ein weiterer Unterschied ist ebenfalls auffällig: Während es im Schema der Erfolgsorientierung vermieden wird, von den Likes- und Followerzahlen persönliche oder emotionale Bedeutung abzuleiten, ihnen aber durchaus Wert im Kampf um Publikumsgunst und Status zugesprochen wird, weist Constantin jegliche Bedeutung solcher Art von sich. Weder mache er, wie üblich im Schema der Bestätigungssuche, sein Selbstbild davon abhängig („bin dann doch nicht so cool“), noch trieben Likes, wie üblich für das Schema der Erfolgsorientierung, seine Aktivitäten an („motiviert mich auch nicht“). Diese Haltung steht exemplarisch für die Grundhaltung im Schema der Beziehungspflege - die Befragten äußern weder Interesse an einem Wettkampf um Likes noch daran, von Fremden bestätigt zu werden. Likes „sind schön“, besonders von Freunden, mehr aber auch nicht. Sie betonen die Indifferenz und Unempfänglichkeit, mit der sie dem Feedback und der Resonanz gegenüberstehen. Entsprechend wird auch nicht versucht, aus dem Feedback ‚zu lesen‘ und die Beiträge bzw. das Profil entlang der Rückmeldungen zu ‚optimieren‘, d. h. auf die Wünsche und Erwartungen des Publikums einzugehen: I: Wie reagierst du, wenn du weniger Likes oder Kommentare bekommst als sonst? Larissa: Also, ich lösche das Bild jetzt nicht oder so. Also, ich gucke halt und dann ist das so, aber ich reagiere jetzt nicht besonders darauf, wenn das mal weniger ist als sonst. Die Befragte gibt hier an, das Ausbleiben von Likes oder Kommentaren nicht zu ignorieren, sich davon aber auch nicht beeindrucken oder beeinflussen zu lassen, sondern die Resonanz gelassen hinzunehmen. Weder verweist sie auf ein ungutes Gefühl oder das Bedürfnis nach Wiedergutmachung (wie im Schema der Bestätigungssuche) noch sieht sie darin einen Optimierungs‐ aufruf (wie im Schema der Erfolgsorientierung). Likes, Kommentare und Follower gehören im Schema der Beziehungspflege zum Instagram-Alltag dazu. Ihnen kann durchaus Positives abgewonnen werden, sie sollten aus Sicht der Befragten aber nicht überbewertet werden. Lediglich bei Freunden wird darauf größerer Wert gelegt. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 322 Etwas anders liegt der Fall für die Frage, wieviel man von sich preisgibt und wie man mit dem Blick der Anderen umgeht. Hier beschwören die Be‐ fragten keine Gelassenheit, sondern betonen Vorsicht und Bedachtsamkeit. So rät die folgende Befragte bspw. dazu, sich immer genau zu überlegen, was man mit der Öffentlichkeit teilt, weil es potentiell imagebedrohend sein könnte: Alexa: Oder dadurch halt auch so richtig/ Ich weiß nicht wie man das ausdrückt, so richtig Gerüchte auch entstehen, so von wegen: „Ja haste gesehen, der hatn Bild mit der und der hochgeladen, sind die jetzt zusammen? “ und und und. Ich kannte die Person überhaupt nicht persönlich, aber es entstehen halt irgendwelche Gerüchte über dich, obwohl die Leute dich null, überhaupt nicht kennen, aber die versuchen halt nach deinem Inter- Instagramprofil dich so zu analysieren so, obwohls ja gar nichts wirklich mit dem wahren Leben zu tun hat. Alexa sieht nicht etwa die Gefahr, ein schlechtes Bild abzugeben, sondern ein falsches. Sie befürchtet, falsch verstanden und zum Klatschobjekt zu werden. Im Schema der Beziehungspflege wird weniger die Evaluation und Bewertung der Selbstbilder gefürchtet als die spekulative Anschlusskommu‐ nikation und Gerüchte, welche sich auch in den Offline-Alltag übertragen könnten. Der Schutz der Privatsphäre spielt im Schema der Beziehungs‐ pflege eine große Rolle und so wird Wert darauf gelegt, nicht zu viel von sich preiszugeben. Das bedeutet u. a., nicht zu viel Kontextinformationen zu liefern. Für Larissa heißt das, auf Angaben oder Hinweise zum Ort einer Aufnahme nach Möglichkeit zu verzichten ebenso wie auf die Abbildung Dritter: Larissa: Und auch dass ich nicht so häufig Bilder poste mit meinen Freunden. Mache ich einfach nicht, weil ich dann auch halt denke, es muss nicht immer jeder wissen wo ich mich gerade aufhalte oder es muss nicht jeder wissen mit wem ich mich BESCHÄFTIGE oder NICHT beschäftige und ja, ich möchte dadurch halt natürlich auch von meinen Freunden auch so ein bisschen die Privatsphäre schützen. Weil ja auch immer Leute dabei sein können, die das nicht so gut finden auf einem öffentlichen Profil einfach zu sein oder aufzutauchen. 6.2 Nutzungsschemata 323 5 Aus dem Kontext der gesamten Passage wird deutlich, dass die Befragte sich hier nicht selbst in das „man“ miteinschließt. Die Befragte gibt an, dem Publikum bzw. der Öffentlichkeit Informationen aus Selbstschutz sowie zum Schutz der Privatsphäre ihrer Freunde vorzu‐ enthalten. Nötig ist das u. a., wie die folgende Befragte ausführt, weil die Kenntnis des Publikums fehlt: Tamara: Man hat irgendwie das Gefühl, man ist geschützt […] Man postet das, man weiß auch, da sind Zahlen, so viele Leute gucken sich das an, man weiß gar nicht so richtig WER, aber irgendwie macht man sich nicht so Sorgen darüber, also man postet das einfach. Tamara äußert hier ein Unbehagen ob der Unsichtbarkeit des Publikums, welche es schwierig mache, den Schutz einzuschätzen, den der Kommuni‐ kationsraum Instagram tatsächlich bietet. Zugleich kritisiert die Befragte das Verhalten derjenigen, die sich trotz dieser unsicheren Randbedingungen keine „Sorgen darüber“ machen und „einfach posten“. 5 Aus diesen und ähnlichen Ausführungen wird eine Bedeutungsverlage‐ rung ersichtlich: Während in den Schemata der Bestätigungssuche und der Erfolgsorientierung die Wahrung des Online-Images Priorität hat, wird im Schema der Beziehungspflege mehr Wert gelegt auf Sicherheit und Schutz vor den negativen Konsequenzen der Selbstdarstellung für den Offline-All‐ tag. In den ersten beiden Schemata schlägt sich dieser Unterschied in der Orientierung an Geboten nieder (‚so sollte man sich darstellen‘), im Schema der Beziehungspflege hingegen in der Orientierung an Verboten (‚das sollte man zu zeigen vermeiden‘). Die Schlüsselkategorie Resonanz lässt sich für das Schema der Bezie‐ hungspflege wie folgt zusammenfassen: Im Allgemeinen überwiegt eine ostentative Haltung der Indifferenz gegenüber Likes- und Fol‐ lowerzahlen, aber auch Kommentaren. Die Befragten geben an, die‐ sen Feedbackmarkern zu misstrauen, erachten sie als oberflächlich und stellen ihren Wert als substantielle Resonanzträger in Frage. Eine Ausnahme bilden lediglich die Likes und Kommentare von Freunden, welche als wichtig, teils sogar als obligatorisch erachtet 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 324 werden. Durch Likes und Kommentare wird im Schema der Bezie‐ hungspflege Aufmerksamkeit geschenkt, Freundschaft bestätigt und Gleichgesinntheit angezeigt, allerdings vorwiegend im Rahmen beste‐ hender freundschaftlicher Beziehungen. Die Publikumsorientierung in diesem Schema fällt analog dazu weit ambivalenter aus als in den anderen beiden Schemata: Den Befragten stellt sich die Praxis der Selbstdarstellung hier als problematisch dar und zwar nicht nur im Hinblick auf möglichen Gesichts- und Prestigeverlust innerhalb der Instagram-Gemeinschaft. Sie sorgen sich auch um Fragen der Privatsphäre und die Konsequenzen einer zu offenherzigen Selbstdar‐ stellung für den Offline-Alltag. Die allgemeine Haltung gegenüber den Resonanzdisplays kann abschließend als selektiv und gelassen bis indifferent beschrieben werden, die Orientierung am Publikum wiederum fällt vorsichtig und bedacht aus. 6.2.3.2 Arbeit am Selbst Hauptmerkmale: ▸ Dient der Kontaktpflege bzw. -herstellung ▸ Tagebuch-Ersatz, Selbstdokumentation ▸ Leichte Identifikation mit dem Profil Die Vorzeichen der Arbeit am Selbst und auch des Eindrucksmanagements sind im Schema der Beziehungspflege, im Gegensatz zu den anderen beiden Schemata, nicht durch den Wunsch nach Profilierung gesetzt, gleich ob künstlich oder authentisch. Profilierung spielt allenfalls eine marginale Rolle. Die Befragten nehmen auch diesbezüglich eine zurücknehmende Haltung ein und geben an, sich nicht übermäßig mit ihrem Profil zu identifizieren. Zwar zeige es sie selbst, doch verstehen sie es nicht als Repräsentation des eigenen Ichs oder gar als eine Art zweites oder digitales Ich. Exemplarisch drückt sich dieses Verhältnis zu den Selbstdarstellungen im folgenden Zitat aus: Miranda: Einfach halt auch um mich selbst mitzuteilen, um ein Teil davon zu sein von diesen ganzen Bildern. Ich finde, das kommt so unpersönlich, wenn man die Bilder von anderen liked oder sowas. Die 6.2 Nutzungsschemata 325 gehen dann aufs Profil und dann sieht man gar nichts. Da wäre kein Profilbild, da wäre nur der Name. Weil dann hat das keine Persönlichkeit, finde ich irgendwie so. Und ja, einfach um sich auch ein bisschen zu identifizieren, irgendwie. Die Bilder und Selbstdarstellungen dienen der Befragten dazu, das eigene Profil persönlicher zu gestalten und sich zu identifizieren, wobei „sich identi‐ fizieren“ im Kontext dieses Zitats nicht als Selbstidentifikation, sondern als Identifikation oder Ausweis für andere zu verstehen ist. Miranda sieht dies als Maßnahme, um ein „Teil der ganzen Bilder“ zu werden und sich in die „Sehgemeinschaft“ (Raab 2008) auf Instagram einzugliedern. Indem sie sich zeigt, versucht die Befragte, sich zu personalisieren, ein Gesicht zu geben und für andere erkenn- und ansprechbar zu werden. Dabei stellt sie ihr Selbst aber weder betont authentisch dar, noch entwirft sie sich darin neu oder inszeniert ein Alter Ego. Der Umgang mit dem eigenen Selbstbild ist äußerst pragmatisch und dient in erster Linie als kommunikative Brücke und visueller Ausweis - die Leute sollen sehen, mit wem sie es zu tun haben. Hauptadressat ist der erweiterte Freundeskreis und die Arbeit am Selbst wird in erster Linie der Pflege dieser Beziehungen untergeordnet. So sieht auch Sebastian die Vermittlung zwischen ihm und den Freunden als Hauptaufgabe seiner Bilder: Sebastian: Dann nach und nach hat man da doch n bisschen dran Gefallen gefunden. Bilder halt zu veröffentlichen von irgendwelchen Hobbies und Leidenschaften. Und mit Freunden konnte man halt viel eh ja vergleichen oder halt schreiben, was man macht und. so n bisschen den Kontakt mit Leuten zu halten, mit denen man halt sonst nicht so tagtäglich im Kontakt steht, das war halt ziemlich hilfreich und macht Spaß. Man kann halt gucken und nach Hobbies filtern. Die geteilten Bilder dienen Sebastian nicht zur Selbsterkenntnis, wie im Schema der Bestätigungssuche, oder als Vermarktungsinstrumente, wie im Schema der Erfolgsorientierung, sondern dazu, sich Freunden und Bekann‐ ten mitzuteilen und so den Kontakt mit ihnen aufrecht zu erhalten. Der Fokus liegt dabei insbesondere auf dem (Mit-)Teilen freizeitlicher Aktivitä‐ ten und „Leidenschaften“: Die anderen sollen sehen, wer man ist und was man macht. Die Selbstdarstellung ist dabei reiner Selbstzweck, sondern soll 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 326 beziehungsstiftend wirken. Die Selbstbilder sollen ganz pragmatisch helfen, das Miteinander und Kontakthalten zu erleichtern („war halt ziemlich hilf‐ reich“) und sind primär in dieser Funktion von Bedeutung. Die Selbstbilder können im Schema der Beziehungspflege aber noch eine weitere Funktion übernehmen, die in den anderen beiden Schemata unterrepräsentiert ist - die Funktion der Selbstchronik und Selbstdokumentation: Constantin: Ich könnte es mir vorstellen, dass andere vielleicht es SO sehen: „Ich mach es NUR für andere“ (1.0) Ich aber immer noch den Aspekt habe, dass ich es EIGENTLICH, im Prinzip diese Sammlung für mich anlege, einfach damit ich nicht im Computer Ewigkeiten suchen muss und dann ne, das dauert ja lange, dass ich einfach die/ meine coolsten Fotos so, die ich/ die entstanden sind an den coolsten Orten, an denen ich gewesen bin, ALLE direkt auf einer Seite habe. Und das auch noch mit Datum. Und so ists halt wien TAGEBUCH, nur digital. Und es ist okay, dass ich sage: „Okay, du kannst mein Tagebuch lesen. Sofern ichs möchte“. Constantin verweist an dieser Stelle explizit darauf, dass seine Bilder nicht „nur für andere“ da sind, sondern sein Profil auch eine persönliche Bedeutung als Bildersammlung oder „Tagebuch“ hat. Als Vorteile der digitalen Dokumentierung auf Instagram nennt er Vorauswahl („meine coolsten Fotos“), Übersichtlichkeit („direkt auf einer Seite“), schnellerer Zugriff („nicht Ewigkeiten suchen“) und Zuordbarkeit („mit Datum“). Auch Kontrolle scheint eine Rolle zu spielen, d. h. die Möglichkeit, frei darüber zu entscheiden, welche Bilder er seinen Followern zugänglich macht. Thomas verwendet eine weitere, dem Tagebuch verwandte Metapher, die ebenfalls den Displaycharakter der Bilder betont: Thomas: So wie die Fotos, die ich mir selber ins/ zu Hause ins Regal stelle, in den Bilderrahmen, so gehe ich halt eben auch dort mit den Fotos auf Instagram um. (2) Also Fo/ also wenn ich ein Foto auf Instagram poste, dann isses auch fürs Fotoalbum geeignet. Der Befragte vergleicht sein Profil hier mit ausgestellten Bildern oder einem Fotoalbum - beides Dinge, die sowohl eine persönliche als auch eine Zeigebzw. Displayfunktion haben. Sie sind nicht ausschließlich dafür gedacht, 6.2 Nutzungsschemata 327 anderen (etwas) zu zeigen, können diese Funktion jedoch übernehmen. In erster Linie handelt es sich aber um Vehikel der Selbstthematisierung. Diese Art der Selbstthematisierung sollte nicht mit fremdinduzierter Bestätigung und auch nicht mit progressiver Selbstoptimierung verwechselt werden, wie sie für die anderen beiden Schemata typisch sind. Es handelt sich um selbstinduzierte Bestätigung durch die visuelle Konservierung eines status quo. Neben der Selbstkonservierung bzw. -fixierung können die Bilder, wie vom folgenden Befragten dargestellt, auch die Funktion einer Selbstbilanzierung übernehmen: Sebastian: Und es war aber eine gute Unterstützung, weil man quasi auch für sich so n Tagebuch gemacht hat, wie: „Okay, heute hast du ja wieder nur gut gegessen“ oder so und: „Ne, heute warst du ja wieder im Sportcenter“ und so. Das fanddas war halt ganz cool. Die Bilder übernehmen hier die Funktion der Selbstüberwachung und -evaluation. Fortschritte und Entwicklungen werden dokumentiert und bilanziert. Diese Art Selbstbilanzierung stellt jedoch eine eher seltene Variante der Selbstdokumentation dar. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie streng genommen auch die Dokumentation profaner Ereignisse voraussetzt. Auch im Schema der Beziehungspflege wird Instagram aber vorwiegend als Plattform verstanden, auf der besondere oder außeralltägliche Ereignisse ausgestellt werden. Constantin erläutert diese ‚Fotoalben‘-Funktion im Folgenden noch einmal näher: Constantin: Also ich nutze es halt ähm persönlich dafür, um (0.5) meine Erinnerungen festzuhalten. Also ich hab wenn ich unterwegs bin oder sonstwas oder besondere Momente habe, dann entstehen da irgendwie Fotos. Ich nutz es halt eigentlich als SAMMLUNG für besondere Momente EIGENTLICH, die ich persönlich als sehr besonders empfinde und gebe das auch gerne Leuten frei, die daran interessiert sind, diese Momente also oder zu wissen was ich da als besonders empfinde. Deutlich wird in diesem Zitat 1) die Beanspruchung einer Innenorientie‐ rung: Der Befragte rekurriert auf ein „persönliches Empfinden“, welches 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 328 darüber entscheidet, welche Bilder er hochlädt und damit in seine Sammlung mitaufnimmt und mit anderen teilt. Das Publikum spielt in seinen Erwägun‐ gen nur insofern eine Rolle, als es zum Nutznießer wird. Er gestattet es dem Publikum zwar, an seinen „Erinnerungen“ teilzuhaben - im Vordergrund steht aber die Konservierungs- und Archivierungsfunktion für sich selbst. Weiterhin wird 2) deutlich, dass die nicht-trivialen Ausschnitte des Alltags fokussiert werden: Der Maßstab, an dem die Bilder gemessen werden, ist ihre Besonderheit und das Auswahlkriterium die persönliche Empfindung von Besonderheit. Eingang in die Sammlung finden also nur jene Bilder, die sich aus Sicht des Befragten vom Alltag und der Routine abheben. So findet keine lückenlose, sondern eine selektive, keine sachlich-objektive, sondern eine stark subjektive Selbstdokumentation statt, in welcher sich die spezifische Erlebnisstruktur des Befragten ausdrückt. Der Fokus auf Besonderheit und Außeralltäglichkeit findet sich auch in den Schemata der Bestätigungssuche und Erfolgsorientierung wieder. Es gibt aber ein paar kleine Unterschiede. Hierzu noch einmal der Befragte Constantin: Constantin: Ich seh das so, dass ich da (1.0) Fotos halt hochlade, die für mich dann ne große Bedeutung haben und ich es OKAY finde, wenn Leute sich dafür interessieren. Ne, das heißt ich zeig das Fotoalbum anderen Leuten. Und es ist okay. Also es ist nicht nur für mich. Ein Unterschied liegt in der bereits erwähnten und von Constantin nochmal betonten persönlichen Bedeutung der Bilder sowie in der proklamierten Innenorientierung bei der Bildauswahl. Im Schema der Bestätigungssuche und der Erfolgsorientierung überwiegt die Außenorientierung. Aufgrund der hohen Bedeutung der allgemeinen Publikumsresonanz wird Außerall‐ täglichkeit hier immer in Antizipation der Publikumswirkung attribuiert. Es wird also versucht herauszufinden, was das Publikum für außeralltäglich und besonders und damit: für mitteilenswert hält. Anders im Schema der Beziehungspflege: Hier wird der Anspruch erhoben, die Bilder auf Basis persönlicher Bedeutung auszuwählen. Ein zweiter Unterschied liegt in der Art der Besonderung. In der folgenden Passage listet die Befragte einige besondere Ereignisse auf. Interessant hieran ist die relativ freie Assoziation dieser Ereignisse: 6.2 Nutzungsschemata 329 Tamara: Ja, ich poste manchmal also viel Fotos, wenn irgendwas Besonderes passiert, wenn man jetzt si/ jetzt hab ich irgendwie ne Ausbildung bestanden oder wenn ich im Ausland war und irgendn besonderer Tag war mit Freunden. Also schon irgendwie sehr sehr auffällige Sachen. Nichts was so im Alltag passiert. Wenn mal n auffällig schönes Essen is oder auffällig schönes/ Also sowas in die Richtung, also eigentlich nur Sachen, die ich sehr sehr positiv finde, die mir passiert sind. Was bei Tamara fehlt, ist die Erwähnung oder Andeutung eines „Konzepts“ oder „Gesamtbilds“ - ein Deutungsmuster, das in den anderen Schemata eine große Rolle spielt. Im Schema der Beziehungspflege wird nicht versucht, den einzelnen außeralltäglichen Ereignissen einen übergeordneten Rahmen zu geben. Sie bleiben Ausreißer und Höhepunkte und verweisen gerade aufgrund ihrer Besonderheit für die Befragten doch immer wieder zurück auf die Normalität des Alltags. Anders ausgedrückt: Während die Schemata der Bestätigungssuche und der Erfolgsorientierung der Versuch auszeichnet, das ganze Leben als ein einziges, einheitliches Highlight zu vermarkten (wir erinnern uns: „man hatn besonders tollen Lifestyle, man reist viel rum, und man is so voll schön“), werden die abgebildeten Ereignisse im Schema der Beziehungspflege nicht als repräsentative, sondern als lose Höhepunkte dargestellt, die punktuell „passiert sind“. Im Schema der Beziehungspflege ist für die Befragten die Einzigartigkeit zudem durch eine weitere Einschrän‐ kung gekennzeichnet: Sedat: Ich achte also im ersten Sinne schon darauf, dass es n GUTES Foto ist. Dass es ein, ja mit- EINZIGARTIGES Foto ist, was ich SO/ was es vielleicht SO schonmal gibt, aber eben jetzt nicht, wie eben schon gesagt, in meinem Bekanntenkreis. Sedat verweist hier auf „seinen Bekanntenkreis“, schränkt die Follower‐ schaft also auf den für ihn relevanten Teil ein. Dieser relevante Teil entschei‐ det in seinen Augen mit darüber, was als einzigartig erachtet werden kann. Ein Foto oder Ereignis mag zwar in den meisten Fällen keinen allgemeinen Kriterien der Einzigartigkeit genügen, wie der Befragte sich hier bewusst macht, dafür erhalte es aber innerhalb des Freundes- oder Bekanntenkreises 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 330 besondere Bedeutung. Wie in Kap. 6.2.3.1 bereits dargestellt, wird die Ablehnung einer Außenbzw. Publikumsorientierung auch hier zumindest zum Teil mit Blick auf den engsten Bezugskreis relativiert. Gezeigt wird nicht nur, so lässt sich ergänzen, was eine individuelle Bedeutung hat, sondern auch, was für die Nutzenden als Teil eines Kollektivsubjekts, bspw. eines Freundeskreises, bedeutungsvoll ist. Praktische Auswirkungen hat die Arbeit am Selbst im Schema der Bezie‐ hungspflege nur sehr begrenzt. Wenn überhaupt ergeben sich nur Effekte für Reaktionen und Feedback aus dem engsten Bezugskreis (vgl. Kap. 6.2.3.1): Veronica: Ja also, ich mach mir glaub ich mehr draus, wenn meine Freunde und Familie drauf reagieren, also wenn die mir dazu was/ Obs jetzt positiv oder negativ ist. Die Praktik der archivierenden und konservierenden Selbstdokumentation selbst sieht keine konkreten Veränderungen bzw. praktischen Konsequen‐ zen vor, sie vermittelt in erster Linie die Beständigkeit des Selbst und regt eher zur Kontemplation als zur Selbstreflexion an. Hierüber lässt sich nicht zuletzt die Absenz einer breiteren Problematisierung von Authentizität erklären - in der Praxis der archivierenden bzw. konservierenden Selbstdo‐ kumentation ist ein positives Authentizitätsverständnis bereits angelegt, d.h.: Die Authentizität der eigenen Bilder wird als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und das Gegenteil von vornherein ausgeschlossen. Ruth bringt dieses Verständnis auf den Punkt: Ruth: Ich poste nichts, was gestellt ist, abgesehen von meinen Mo‐ del-Bildern. Das ist nun mal so. ((lacht)) Da kann ich nichts für. Aber ich arrangier jetzt nicht irgendwie ein Essen, damit das toller aussieht oder hole mir noch eine Pflanze ins Bild, solche Geschichten halt. […] Das sind definitiv Sachen, die mach ich also NICHT. Also ich mach jetzt nicht, wie heißt das, ich ORGANISIERE mir die Bilder jetzt nicht. Sowas halt. Und ich glaub, was das Reisen angeht, Reiseblogs/ Ja, also da poste ich natürlich auch, was eher, was in die Richtung irgendwie so mal Landschaften oder Strände oder irgendwie sowas, aber auch das ist dann eben alles irgendwie nicht, nicht gestellt und auch tatsächlich ziemlich wenig bearbeitet. Also ich benutze (0.5) nicht super viele Filter 6.2 Nutzungsschemata 331 und auch nicht super viele Belichtungen und pipapo. Sondern meistens ist es genau so wie es dann eben auch da ist. […] Nee, ich glaube ich poste ja irgendwie (1.5) schon anders. Wie gesagt, irgendwie eher, EHER das was mein Leben so ist, relativ ungestellt und sehr natürlich und (1.0) dafür benutz ich das. ((lacht)) Die Befragte gibt zwar an, ähnlich dem Schema der Bestätigungssuche, nicht gänzlich auf die Bearbeitung von Bildern zu verzichten, sieht darin aber keinen Kompromiss und versteht es auch nicht als Beeinträchtigung der Authentizität. Die Befragte gibt an, zu posten „was mein Leben so ist“. Sie reklamiert also einen unproblematischen Wahrheitsstatus für ihre Bilder und einen natürlichen Automatismus ihrer Bildinszenierung und -auswahl und erfährt sich darin als „anders“ bzw. besonders. Indem sie natürliche Authentizität beansprucht, distanziert sie sich von anderen Nut‐ zenden, die „Bilder arrangieren“, „ihren Feed organisieren“ und zu viele Filter verwenden. Diese Einstellung ist charakteristisch für das Schema der Beziehungspflege: Die eigene Authentizität wird wie selbstverständlich vorausgesetzt, während das Gros der anderen Profile unter den Verdacht gestellt wird, ‚unecht‘ oder ‚fake‘ zu sein. Künstliche Bilder, überstilisierte Profile und unauthentische Instagramer und Instagramerinnen stellen das antipodische Feindbild dar und werden nicht selten symbolisch sanktioniert: Katrin: Habe andere entfolgt, weil sie sich nicht so gezeigt haben wie sie sind. Die Befragte gibt hier an, anderen Profilen nicht mehr zu folgen, weil diese sich in ihren Augen „nicht so gezeigt haben wie sie sind“. Diese Null-Toleranz-Mentalität gegenüber allem ‚Unechten‘ hebt das Schema der Beziehungspflege sowohl vom Schema der Bestätigungssuche ab, das sich durch den Versuch auszeichnet, Authentizität und Künstlichkeit zu vereinbaren, als auch vom Schema der Erfolgsorientierung, das sich dadurch auszeichnet, dass der Anspruch an Authentizität zugunsten der Inszenie‐ rung weitgehend aufgegeben wird. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 332 Resümierend erweist sich die Arbeit am Selbst im Schema der Bezie‐ hungspflege als Praxis, die in erster Linie nicht dem Selbstentwurf oder der Selbstvermarktung, sondern der Aufrechterhaltung von Kon‐ takten dient. Man hält sich mit Freunden und Bekannten über das Teilen von Bildern gegenseitig auf dem Laufenden und informiert sich so wechselseitig über das eigene Leben, ohne notwendigerweise in direkten Kontakt miteinander zu treten. Im motivischen Fokus der Abbildungen stehen freizeitliche Lebensbereiche und -ereignisse, die für die Nutzenden eine starke persönliche Bedeutung haben und von ihnen als besonders und mitteilenswert erachtet werden. Das Interesse des Publikums spielt für sie nur um Hinblick auf die Erwartungen und Bedürfnisse des erweiterten Freundeskreises eine Rolle. Ansons‐ ten wird von den Befragten im Schema der Beziehungspflege eine rigide Innenorientierung angestrebt. Neben der Beziehungsfunktion übernehmen die visuellen Praktiken der Selbstdarstellung zudem die Funktion der Ich-Konservierung. Die Gestaltung des Profils und das Teilen von Bildern hat für die Befragten eine archivierende und doku‐ mentierende Funktion - vergleichbar einem öffentlichen Tagebuch oder Fotoalbum -, mit Hilfe derer sie sich zurückerinnern und der Beständigkeit des eigenen Selbst versichern. Die Authentizität der ei‐ genen Bilder und des eigenen Profils wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt, während man sich von ‚unechten‘ Profilen ostentativ distanziert. Eine stärkere Identifikation mit dem eigenen Profil erfolgt darüber hinaus nicht, es dient weder der Selbstreflexion noch der Selbstoptimierung und wird auch nicht mit dem Anspruch geführt, das eigene Ich umfänglich nach außen zu repräsentieren. Das Profil wird lediglich als Display besonderer Lebensereignisse und kommunikative Brücke verstanden. 6.2 Nutzungsschemata 333 6.2.3.3 Nutzungsinteressen Hauptmerkmale: ▸ Rituelle Freundschafsbekundungen ▸ Teilen von Freude/ Gefühlen; Selbstdokumentation; Unterhaltung und Zeitvertreib ▸ Orientierung an eigenen ästhetischen Kriterien Die Nutzungsinteressen im Schema der Beziehungspflege ähneln jenen im Schema der Bestätigungssuche stärker als jenen im Schema der Erfolgs‐ orientierung. In beiden Schemata stellen der Wunsch nach ästhetischem Ausdruck sowie ein Interesse an Gefühlsmanagement die dominanten Handlungsmotoren dar. Im Detail zeigt sich jedoch, dass jeweils die Vorzei‐ chen verkehrt sind: Die Befragten geben im Schema der Beziehungspflege eine größere Innenorientierung an, während im Schema der Bestätigungs‐ suche das eigene ästhetische Empfinden flankiert ist von einer starken Außenorientierung am Publikum. Das Gefühlsmanagement wiederum ist im Schema der Beziehungspflege eher darauf ausgerichtet, bei anderen Gefühle zu induzieren, während es im Schema der Bestätigungssuche eher auf den eigenen emotionalen Haushalt ausgerichtet ist. Den übergeordneten Rahmen im Schema der Beziehungspflege bildet das Deutungsmuster „Spaß“. Das steht im Gegensatz zu den anderen beiden Schemata, in denen Instagram, in unterschiedlichen Ausprägungen, vor allem als „Arbeit“ verstanden wurde. Im Schema der Beziehungspflege über‐ wiegt jedoch das Verständnis von Instagram als spielerischem Zeitvertreib und Zerstreuung. Der Befragte im folgenden Zitat schildert dies anhand einer Anekdote: Moritz: Sondern ich poste, wenn ich im Urlaub bin, post ich gerne was davon oder wenn ich wirklich jetzt auchn schönes BILD habe, würd ich das posten. Oder wenn ich/ Zum Beispiel neulich hab ich mir eine GoPro in mein Geschirrspüler getan und noch ne Tauchlampe dazu gestopft, um das ganze auszuleuchten, weil ich es einfach WITZIG fand und dann würd ich das halt auch posten. Moritz gibt hier an, Bilder nicht nur zu teilen, wenn er sie schön findet, son‐ dern auch dann, wenn er die Bilder bzw. die Idee dahinter „witzig“ findet. Er betont hier also die spielerischen Aspekte der Bildproduktion: Teilenswert 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 334 wird ein Bild für ihn u. a. dann, wenn es in ihm Gefühle der Vergnügtheit weckt und Belustigung hervorruft. Zur ästhetischen Komponente tritt damit eine ludische Komponente hinzu, für die das vergnügliche, ausgelassene und bisweilen auch scherzhafte Moment zentral ist. Das Gleiche gilt für die Bildrezeption. Instagram wird nicht nur, aber vor allem im Schema der Beziehungspflege gezielt zur Gemütserhellung und zur Zerstreuung genutzt und um sich in eine bessere Stimmung zu versetzen. Auch hier liegt der Unterschied zum Schema der Bestätigungssuche im Detail: Während die Einflussnahme auf das Selbstgefühl dort vor allem das eigene Selbstbild und den Selbstwert betrifft, nimmt sie sich im Schema der Beziehungspflege als Moodbzw. Stimmungsmanagement aus. Es wird also kein spezifisches Selbstgefühl anvisiert, wie etwa Stolz, mit dem Ziel der Selbsterhebung - stattdessen wird versucht, sich in eine diffus-positive Stimmung zu bringen. Das eigene Selbstverständnis spielt dabei keine größere Rolle. Im Schema der Beziehungspflege wird Instagram stärker als Zeitvertreib gerahmt als in den anderen Schemata, in denen Instagram eher der Status einer serious leisure, eines ernsten Hobbies zukommt (vgl. Stebbins 2017, mehr dazu in Kap. 7). Der Gebrauch von Instagram ist Transitzeiten vorbehalten, die damit über‐ brückt werden. Genutzt wird es etwa während Zugfahrten, während man an der Bushaltestelle wartet, in Arbeitspausen, auf der Toilette, in den Pausen zwischen Seminarveranstaltungen oder während anderer Leerzeiten, um sich die Langeweile zu vertreiben, auf andere Gedanken zu kommen oder eben um sich in eine positivere Stimmung zu versetzen. Spaß und Zerstreuung sind innenorientierte Motive. Analog dazu erfolgt auch die Bewertung von Bildqualitäten innenorientiert. Zwar spielt das Publikum bezüglich des eigenen ästhetischen Empfindens im Schema der Beziehungspflege eine Rolle, diese ist aber deutlich untergeordnet. Auf die Frage, ob er Bilder mit wenig Likes löschen würde, antwortet Felix bspw. folgendes: Felix: Also das würde für mich NICHT in Frage kommen, weil ich wirklich/ Also ich bin der Meinung, wenn ich Bilder hochlade, dann muss ich auch davon überzeugt sein, dass sie erstens MEINEN Standards entsprechen, und zweitens auch vielleicht an meinem, ich sag mal an Follower/ Dass die da irgendwie gerichtet sind, die Bilder. Aber, dass die auf jeden Fall, also dass ich da Bilder löschen würde, das würde bei mir nicht in Frage kommen. Egal wie hoch die Resonanz ist. 6.2 Nutzungsschemata 335 6 Andere Beispiele für solche ‚Körperkartographien‘ finden sich u. a. bei Stefan Hirsch‐ auer (2004) für die Chirurgie und Margot Weiss (2011) für BDSM-Diskurse und -Praktiken. Die eigenen ästhetischen Standards stehen für Felix an vorderster Stelle. Er räumt dem Publikum, d. h. seinen Followern, zwar eine gewisse Aufmerk‐ samkeit ein, sie haben für ihn aber nicht Priorität. Deshalb, so der Befragte, würde er nach eigener Aussage auch nie Bilder löschen, nur weil diese beim Publikum nicht ganz so gut ankämen. Er wiegt also gerade nicht das eigene ästhetische Empfinden gegen das der Follower ab, wie es charakteristisch für das Schema der Bestätigungssuche ist, sondern priorisiert deutlich ersteres. In den folgenden beiden Zitaten wird der Anspruch an Innenorientierung noch deutlicher: Pedro: Ich achte auch drauf, wien Bild wirkt, wenn ich es poste. Wenn ich für mich sagen kann, das istn schönes Bild, dann poste ich das. ---Olaf: Ja, ich achte immer darauf, dass ich mir selber gefalle auf dem Bild, also ich muss (2) äh mir selber gefallen, wie ich/ ((lacht)) wie ich dasitze, wie ich stehe, wie ich gucke. Auch in der Rahmung von Pedro findet sich noch ein Rest Publikumsorien‐ tierung, wenn er konstatiert, auf die Wirkung seiner Bilder zu achten. Die finale Entscheidung fälle er jedoch auf Basis seines eigenen ästhetischen Empfindens, wenn er nämlich „für mich sagen kann, das istn schönes Bild“. Spezifischer und absoluter drückt es Olaf aus - er ist gewissermaßen doppelt Ich-orientiert: Erstens betont auch er das eigene ästhetische Empfinden als primären Maßstab, an dem er sein Bildhandeln ausrichtet und zweitens be‐ zieht sich die Selbstvalidierung nicht auf das gesamte Bild, sondern lediglich auf die Darstellung der eigenen Person. Diese wiederum evaluiert er entlang verschiedener Kriterien wie Körperpositur und Gesichtsausdruck. Der Blick auf das eigene Ich wird also sensibilisiert und der Körper kartographiert und in unterschiedliche Bereiche eingeteilt, um eine akkuratere Einschätzung des Bildes vorzunehmen. 6 Die folgende Befragte wiederum grenzt sich von Praktiken der Bildbear‐ beitung ab, die sowohl im Schema der Bestätigungssuche als auch im Schema 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 336 der Erfolgsorientierung prävalent waren, wenngleich hier mehr und dort weniger selbstverständlich: Vera: Aber viele schwarz/ Bilder in schwarz-weiß, weil ich das irgend‐ wie schöner finde, ich mag das auch nich, wenn die so krass bearbeitet sind. Zwar stellt auch die Anwendung des Schwarz-Weiß-Effekts, auf den die Befragte hier anspielt, eine Bearbeitung dar, die Befragte scheint diese Form der Bearbeitung aber für legitim zu halten. Der Grund hierfür - die Erklä‐ rungsfolie - unterscheidet sich von jener im Schema der Bestätigungssuche: Während dort auf die Notwendigkeit der Bearbeitung zur Sicherstellung von Anschlussfähigkeit und Resonanz rekurriert wird, beruft sich Vera auf ihr ästhetisches Empfinden. Die Bearbeitung ist dann legitim, wenn sie für sich selbst einen ästhetischen Mehrwert daraus ziehen kann („weil ich das irgendwie schöner finde“). Fast wichtiger als der Unterhaltungsfaktor und die gerade dargestellte Umsetzung eigener ästhetischen Standards ist im Schema der Beziehungs‐ pflege die Einflussnahme auf die Gefühle der Follower - auch hier wieder mit einer besonderen Betonung der Freunde. Das Interesse an den Gefühlen der Anderen steht dabei in starkem Zusammenhang mit dem ästhetischen Empfinden und der eigenen Stimmung - der Fokus liegt auf dem Teilen von Emotionen. Der folgende Befragte stellt diesbezüglich eine eher allgemeine Beobachtung an: Beatrix: Wenn ich was poste, dann wie gesagt, sind es ja Bilder, die mir gefallen, mit denen ich was Schönes verbinde und dann postet man die ja auch nur, wenn man gerade irgendwie in einer guten Laune ist oder wenn man sie sich angeschaut hat und sich denkt: „Oh das ist toll, das möchte ich gerne teilen“, dann freue ich mich ja in dem Moment. Also ich glaube, ich habe nix gepostet wenn ich total miese Laune hatte, dann glaub ich nutze ich diese Plattform auch gar nicht erst. Beatrix gibt an, Bilder nur zu posten, wenn sie sich in einer positiven Stimmung befindet. Eine negative Gestimmtheit schließe die Nutzung der Plattform aus. Sie beschreibt Instagram hier quasi als Zufluchtsort der 6.2 Nutzungsschemata 337 „gute[n] Laune“. Die positive Gestimmtheit geht dann einher mit dem Wunsch, die Bilder zu teilen („möchte ich gerne teilen“). Die Befragte in der folgenden Passage konkretisiert diese Verbindung zwischen Affiziertheit und Kommunikationsbegehren: Solange: Ich fands total interessant, die Bilder mit der Welt zu teilen, die mich eben auch beschäftigen. Und auch Urlaubsbilder zu teilen. Wenn man natürlich auch selber gerne seine Urlaubsbilder ankuckt und sich darüber freut und gern daran erinnert und daran möchte man natürlich auch andre teilhaben lassen. Solange gibt an, jene Bilder teilen zu wollen, die sie in irgendeiner Weise affizieren („mich eben auch beschäftigen“) und zählt ein paar Formen der Affizierung durch Bilder auf, alle davon positiv besetzt: sich Bilder gerne anschauen, sich darüber freuen, sich gerne daran erinnern. Sie wird von den Bildern also positiv emotional angesprochen und möchte nun dieses Erleben anderen vermitteln („andere teilhaben lassen“), indem sie die Bilder teilt. Die Formulierung „teilhaben lassen“ insinuiert, dass ein zumindest partielles Miterleben möglich ist durch die Gefühlsübertragung oder Nachempfindung beim Betrachten der Bilder. Die Bilder sind für sie dementsprechend nicht nur Informations-, sondern auch Gefühlsträger. Die Befragte Jessica führt ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung der Gefühlsübertragung an: Jessica: Ich hab auchn Bild ausm Krankenhaus schon gepostet, weil man ist einfach so stolz und überglücklich, dass das Kind da ist und dann möchte man das natürlich auch gerne mit seinen Freunden teilen, und joa, deswegen von Anfang an dabei, sozusagen. Jessica deutet hier die Möglichkeit an, über die Bilder Personen in konkrete Situationen zu inkludieren: Man könne andere „von Anfang an dabei“ sein lassen, wie sie hier am Beispiel ihrer Geburt schildert - einem Erlebnis, das ansonsten einigen wenigen Personen aus dem direkten Umfeld und Nahbereich vorbehalten gewesen wäre. Die Rezipierenden werden so zu Partizipanden, die u. a. über Kommentare auf das Geschehen, wenn auch nur bedingt, rückwirken können (im genannten Beispiel etwa durch Zuspruch und Glückwünsche). Auslöser für dieses Bildhandeln ist wiederum die 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 338 eigene positive Stimmung. Erst dieser Zustand („stolz und überglücklich“) evoziert den Wunsch der Befragten, sich anderen mittels Bildern mitzuteilen und sie in diesem Fall auch ‚mitzunehmen‘. Bei diesen Anderen handelt es sich im Schema der Beziehungspflege meist um eine bestimmte Bezugs‐ gruppe. Im Jessicas Fall besteht die Gruppe derjenigen, die man bewusst inkludieren möchte, aus dem Freundeskreis - ohne auszuschließen, dass man auch eine darüberhinausgehende Öffentlichkeit erreicht. Aus den Aussagen der Befragten im Schema Beziehungspflege lassen sich also drei Bildfunktionen mit abgestuftem Involvierungsgrad ableiten: 1) Bilder mit Informationsfunktion (zeigen, was man gerade macht und auf dem Laufenden halten, niedriger Involvierungsgrad), 2) Bilder mit Affi‐ zierungsfunktion (Gefühle auslösen, vermitteln oder übertragen, mittlerer Involvierungsgrad) und 3) Bilder mit Partizipationsbzw. Inklusionsfunktion (andere einbinden und mitnehmen bzw. Situationen miterleben lassen, hoher Involvierungsgrad). Im Gegensatz zum verwertungslogisch ausgerichteten Gefühlsmanage‐ ment im Schema der Erfolgsorientierung wird im Schema der Beziehungs‐ pflege die Affizierung des Publikums nicht als Mittel zum Zweck verstanden, sondern als Selbstzweck. Und im Vergleich mit dem Schema der Bestäti‐ gungssuche erweist sich das Teilen und Hervorrufen positiver Gefühle hier als weniger eigennützig motiviert. Während die Befragten im Schema der Bestätigungssuche betonen, dass sie aus der Freude der anderen auch selbst ‚emotionales Kapital‘ schlagen würden, greifen die Befragten im Schema der Beziehungspflege öfter auf altruistische Deutungsmuster zurück, um ihr Handeln zu erklären. Entsprechend geben die Befragten an, ein Sendungsbe‐ wusstsein ausgebildet zu haben und von dem Wunsch motiviert zu werden, andere zu motivieren - so auch Nele: Nele: Über diese Funktion poste ich gerne Sprüche, tatsächlich. Und meistens sind das solche Motivationssprüche. Was ich mir dabei denke ist eigentlich in erster Linie irgendwie, mich hat son/ Also ich lese diesen Spruch auf der Plattform und in dem Moment finde ich es motivierend und dann denk ich mir so: Wenn das bei mir so motivierend ankommt, kann ich ja meine Mitmenschen, die auch so zu 80 % Studenten sind und in der Klausurphase stecken, auch motivieren. Und dann denk ich mir eigentlich so (0.5): Ja, ich teil halt in dem Moment sozusagen das kleine Glück, was ich da auf einer Plattform hatte mit den anderen. 6.2 Nutzungsschemata 339 Nele gibt hier an, andere motivieren zu wollen als Reaktion auf eigene Motivationserfahrungen. Sie teilt hierzu nicht nur Bilder, die ihre eigenen Gefühle vermitteln sollen, sondern teilt auch gezielt Bilder mit Motivations‐ sprüchen, um die Stimmung ihres Publikums bzw. ihrer „Mitmenschen“ zu heben. Dabei reduziert sie, wie es charakteristisch für das Schema der Beziehungspflege ist, das Publikum, das sie erreichen möchte, auf einen Personennahkreis- in diesem Fall auf den Kreis der Kommilitoninnen und Kommilitonen. In ähnlicher Weise beschreibt auch die Befragte in der folgenden Passage ihren ‚Motivationsauftrag‘: I: Wie würden Sie denn ihr Profil beschreiben, was Sie da so veröffent‐ licht haben? Jessica: Äh wu/ Ja querbeet eigentlich, mein Leben so, ne. Also ich steh morgens auf und mach Foto und setz es rein. Also da ist dann, ja, also das ist so mein Alltag so, also ich versuch auch Leute zu motivieren. Jetzt gerade aktuell is ne Freundin von mir, die hat ne neue Diät angefangen und da versuche ich sie son bisschen zu unterstützen, indem ich eben auch ein Bild poste und sage: „Ich bin bei dir und ich habs auch schon hinter mir“. Auch Jessica begründet ihre emotionalen Hilfestellungen mit eigenen mo‐ tivierenden Erfahrungen auf Instagram. Was sie selbst erlebt und kennen‐ gelernt hat, möchte sie nun auch anderen in Bildern und Kommentaren vermitteln („habs auch schon hinter mir“). Dieses Interesse darf aber nicht verwechselt werden: Die Befragten verstehen sich im Schema der Beziehungspflege nicht als universelle Motivationscoaches. Sie sehen sich lediglich für Personen aus ihrem engsten Bezugskreis zuständig und be‐ rufen sich nicht auf allgemeines, sondern auf spezifisches Alltags- und Erfahrungswissen, welches sie diesen Personen weitergeben möchten (im obigen Fall z. B. einer Freundin). Instagram wird als Plattform verstanden, die es ermöglicht und erleichtert, Andere - und insbesondere signifikante Andere - emotional aufzubauen, zu „unterstützen“ und zu motivieren. Der Effekt auf das eigene Selbstbewusstsein wird im Schema Beziehungspflege nur am Rande thematisiert und dem altruistischen Motiv untergeordnet. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 340 Die Nutzungsinteressen im Schema der Beziehungspflege haben zusammengefasst zweierlei Quellen. Bei der ersten Quelle handelt es sich um den Wunsch, das eigene ästhetische Empfinden nach außen zu kommunizieren. Der ästhetische Geschmack des Publikums wird einem innenorientierten Maßstab untergeordnet: Die Befragten möchten zeigen, was sie selbst schön finden. Daneben spielt vor allem das Teilen von Gefühlen als zweite Motivationsquelle eine große Rolle. Im Schema der Beziehungspflege liegt für die Befragten ein Fokus darauf, das Publikum Gefühle und Erlebnisse nachempfinden zu lassen und in gleiche oder ähnliche Stimmungen zu versetzen. Dabei ist, charakteristisch für das Schema, der Kreis derjenigen, die bewusst angesprochen werden sollen, eingeschränkt auf Personen des engsten Bezugskreises, zumeist auf die Freunde. Im Schema der Beziehungspflege hat Instagram den Status einer unterhaltsamen Freizeitaktivität, die nicht viel Zeit in Anspruch nimmt und der eher nebenbei, in Transit- und Leerzeiten, nachgegangen wird. Arbeit und Leistung spielen hier als Deutungsmuster keine Rolle. Visuelle Praktiken zur Vermittlung von Gefühlen können für die Befragten unterschiedliche Funktionen und Intensitätsgrade aufwei‐ sen und von der einfachen Darstellung von Emotionen bis hin zur situativen Inkludierung reichen. Im Optimalfall gelingt es, die Freunde über Bilder am eigenen Leben teilhaben zu lassen. In der Konsequenz entwickeln die Befragten im Schema der Beziehungspflege ein Be‐ dürfnis, ihren Freundes- und Bekanntenkreis durch ihr Bildhandeln zu motivieren oder emotional zu unterstützen. Das ästhetische Emp‐ finden, so lässt sich festhalten, ist im Schema der Beziehungspflege stark innenorientiert, das Gefühlsmanagement wiederum nicht auf sich selbst, sondern fast ausschließlich auf ein spezifisches Publikum konzentriert. Im Gesamtbild zeigt sich in den Nutzungsinteressen also ein vergleichsweise autarkes Selbstverständnis. 6.2 Nutzungsschemata 341 6.2.3.4 Sinnwelt Hauptmerkmale: ▸ Gruppengefühl / Zugehörigkeit: Freundschaftspflege ▸ Kommunikation zur Information und Motivation, Idealisierung redu‐ ziert auf Stimmungsmanagement ▸ wenig Einfluss auf Alltag Im Schema der Beziehungspflege ist Instagram als Sinnwelt reduziert auf einige wenige basale kommunikative Funktionen, die allesamt der Aufrechterhaltung und Pflege von Kontakten dienen. Das beginnt bei den Bildaffordanzen: Während im Schema der Bestätigungssuche der sugges‐ tive, implizite Zeichencharakter des Bildes betont wird, wird ihm im Schema der Beziehungspflege eine etwas direktere Funktion zugeschrieben, wie die folgenden beiden Zitate zeigen: Bastian: Bei Facebook ist es mittlerweile so oder/ Da würde sich ja oder da wird sich ja auf ein Beitrag in Textform konzentriert meistens ((räuspert sich)) und ich finde dann son Bild dann doch aussagekräftiger und vielleicht auch für andere Leute einfach, einfach interessanter sich ein Bild anzugucken. Mario: Bei Instagram versuche ich immer, möglichst Bilder einzustellen, die auch irgendwie ne Aussage mit sich bringen. Bei Facebook ist es so, dass ich da eher n Text schreibe und das mitm Bild SCHMÜCKE. Und bei Instagram ist es eher andersrum, da kommt es auf das Bild drauf an und das wird eventuell nochmal mit nem kleinen Kommentar versehen oder auch nicht. Sowohl Bastian als auch Mario verweisen auf die besondere Aussagekraft von Bildern. Deutlich wird dabei die Abgrenzung von der Textlastigkeit und der ornamentalen Verwendung des Bildes auf Facebook: Auf Instagram sei sich das Bild selbst genug. Der Fokus liegt im Schema der Beziehungspflege vor allem auf dem in Kap. 6.2.3.3 dargestellten informativen und emotiona‐ len Gebrauch der Bilder: Man möchte Freunde und Bekannte anschaulich auf dem Laufenden halten, Gefühle vermitteln und Stimmungen evozieren. Hierzu eignen sich in den Augen der Befragten Bilder deshalb besonders, 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 342 weil sie einen Sachverhalt gegenüber dem Text „aussagekräftiger“, also eindrücklicher und nachvollziehbarer wiedergeben. Der Fokus auf diese Art von ‚Aussagekraft‘ hängt aber auch von den Motiven ab und schlägt sich in der Motivwahl und -präferenz nieder: Vera: Ja, Instagram benutz ich schon lieber. […] Weil eigentlich, bei Facebook, was andere posten, soso Statusmeldungen interessieren mich ja auch eigentlich wirklich zu 99 % der Fälle auch nich. Und wenn mich mal dann was interessiert is, wie gesagt, wenn jemand Bilder ausm Urlaub hat. Vera gibt hier an, vor allem an Urlaubsbildern interessiert zu sein und deswegen Instagram gegenüber Facebook zu präferieren. Im Schema der Beziehungspflege ist vor allem eine Art von Inhalt von Interesse, für die der Urlaub hier exemplarisch steht - nämlich jene Inhalte, die ein Miterleben oder ‚aussagekräftige‘ Einblicke in das Leben der Person ermöglichen. Moti‐ visch eignen sich Urlaube hierfür deshalb besonders, da es sich hierbei a) um außeralltägliche Ereignisse handelt, die b) meist mit positiven Emotionen besetzt sind und c) auf individuellen Lebensstil verweisen (vgl. Otte 2000). Neben den Bildaffordanzen, die Instagram auszeichnen, sind für die Befragten auch weitere Plattformunterschiede von Bedeutung. Ähnlich dem Schema der Erfolgsorientierung versprechen sie sich von Instagram größere Kontrolle über ihren Adressatenkreis, aber auch über die Bildinhalte, die ihnen präsentiert werden: Ariana: Bei Facebook bin ich fast gar nicht mehr beziehungsweise scroll da nur so durch. Facebook ist finde ich relativ uninteressant geworden, da werden einem viele Inhalte ja auch aufgezwungen. Also was irgendein ferner Bekannter von mir geliked hat, wird mir gezeigt und es wird einem aufgezwungen richtig quasi. Und den Leuten, denen ich folge bei Instagram, denen folg ich ja bewusst, das will ich ja wissen, was die schreiben. Die Befragte verweist in dieser Passage auf die Zumutung des Facebook-Al‐ gorithmus, der Beiträge nicht nach Relevanz gewichtet und ihr so fremde Inhalte „aufzwinge“. Als Beispiel nennt sie einen Beitrag, den ein „ferner 6.2 Nutzungsschemata 343 Bekannter“ geliked habe. Hier findet sich wieder die für das Schema der Beziehungspflege charakteristische Unterscheidung zwischen dem engen Bezugskreis und dem irrelevanten Rest. Was als interessanter Inhalt gilt, entscheidet sich über die Zugehörigkeit der Beitragenden zu einer der beiden Gruppen. Dem Facebook-Algorithmus steht auf Instagram die Strategie des ‚bewussten Folgens‘ gegenüber. Die Befragten schätzen die Möglichkeit, ih‐ ren Einzugskreis bewusst zu steuern - d. h., wie im obigen Zitat geschildert, sowohl die Personen, denen man folgt, gezielt auszusuchen, als auch den Kreis der Personen zu bestimmen, denen man Zugang zum eigenen Profil gewährt. Entsprechend hat im Schema der Beziehungspflege, im Vergleich zu den anderen beiden Schemata, die Nutzung eines privaten Profils eine deutlich größere Attraktivität, da hier zum Followen erst eine Anfrage gestellt und genehmigt werden muss. Die von den Befragten beschriebenen Unterschiede zwischen den Platt‐ formen ziehen für sie schließlich auch eine spezifische Plattformlogik nach sich. Diese Plattformlogik ist u. a. ausschlaggebend dafür, dass Instagram selbst im Schema der Beziehungspflege, das gekennzeichnet ist durch eine überwiegend pragmatische oder spielerische Nutzung mit eher geringem Zeitaufwand, für die Befragten nicht nur eine funktionale Bedeutung hat. Katrin bspw. hat bemerkt, wie Instagram ihr Verhalten beeinflusst hat: Katrin: Und jetzt im Moment isses zum Beispiel so, dass ich Bilder von mir poste und drüber schreibe, dass ich fertig bin für heute Abend und dann schreibe ich auch wo ich feiern gehe. Das würd ich eigentlich normalerweise nicht machen, aber bei Instagram macht man das halt irgendwie. Mir ist das schon bewusst was ich da mache und mir machts ja auch Spaß. Aber ich merk auf jeden Fall, dass ich mich dadurch auch mehr mitteile auf Instagram. Die Befragte gibt an, auf Instagram Inhalte zu kommunizieren - in diesem Fall private Details -, die sie „normalerweise“ für sich behalten würde. Als Grund gibt sie an, dass „man das da halt irgendwie macht“. Sie rekurriert hier auf eine diffuse Verhaltenslogik, der sie sich anpasse. Sie tut dies jedoch nicht aufgrund von Opportunitätserwägungen, welche das Schema der Er‐ folgsorientierung kennzeichnen, sondern weil es „Spaß“ macht. Katrin lässt sich auf die Eigenlogik der Plattform ein, weil sie daraus einen Lustgewinn 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 344 zieht. Der Befragte in der folgenden Passage schreibt Instagram gar eine Sogkraft zu: Moritz: Also wie gesagt, ich könnte/ Vom Prinzip her könnt ich auch die, weiß nich, die drei Bilder, die ich dann gemacht habe nehmen und ein/ allen Leuten persönlich schicken, denen ich das eh zeigen wollen würde. Wo ich mich auch freuen würde, wenn DIE mir was aus ihrem Urlaub schicken und müsst es nich DA hochladen. Aber es is halt auch einfacher und man is ja so in diesem Sog drin, sodass man es auch benutzen WILL irgendwie, ne. Moritz gibt hier zu verstehen, dass er Bilder, die er auf Instagram hochlädt, gar nicht unbedingt mit allen Personen teilen möchte, die diese auf seinem Profil dann auch einsehen können. Stattdessen hebt er eine nicht näher beschriebene Personengruppe hervor, denen er Bilder zeigen möchte und von denen er umgekehrt auch Bilder gezeigt bekommen möchte und ver‐ weist auf die Möglichkeit, ihnen die Bilder persönlich zu schicken. Auf diese Möglichkeit verzichtet er aus zwei Gründen: 1) Weil die Diffusion der Bilder auf Instagram erleichtert wird, sprich: man erreicht mehrere Personen gleichzeitig mit einem Upload, also auch all jene, „denen ich das eh zeigen wollen würde“. 2) Weil sich für den Befragten eine Sogkraft oder anders ausgedrückt: eine intrinsische Motivation („man es auch benutzen WILL“) einstellt. Bei Punkt 1 handelt es sich um Gründe der kommunikativen Effizienz bzw. Bequemlichkeit - Instagram erweist sich als pragmatischer gegenüber etwa WhatsApp. Punkt 2 verweist wiederum auf eine genuine Eigenlogik oder auch Feldlogik (Bourdieu 1996a) der Plattform, von der sich der Befragte ansprechen lässt, die er als Handlungsorientierung übernimmt und als eigenen Anspruch verinnerlicht („auch benutzen WILL“). Teil dieser Logik - der Handlungsanforderungen oder Spielregeln des Feldes - ist es, sich bzw. Aspekte des eigenen Lebens in Bildern mitzuteilen und diese Bilder mit einer größeren (Teil-)Öffentlichkeit zu teilen. Instagram erweist sich damit als Kommunikationsraum, der im Vergleich zum Offline-Alltag aber auch im Vergleich zu anderen Plattformen nicht nur andere Verhaltensori‐ entierungen, sondern auch andere Haltungen und Einstellungen erfordert, die eine Veränderung der natürlichen Einstellung sensu Schütz (1971) nach sich ziehen. 6.2 Nutzungsschemata 345 Hierzu gehören, im Schema der Beziehungspflege wie in den anderen Schemata, Praktiken der Idealisierung. Es handelt sich dabei um einen all‐ gemeinen Orientierungshorizont, dem sich aber auch hier schemaspezifisch angenähert wird. Wie gezeigt, unterhalten die Befragten im Schema der Beziehungspflege einen spezifischen Authentizitätsanspruch, der auch ihre Haltung gegenüber den Idealisierungspraktiken prägt. So deuten sie etwa ihre selektive Bildauswahl nicht primär als Verzerrung der Realität, sondern als Abbild der eigenen Laune: Mala: Also wenn ich ((lacht)) schlecht gelaunt bin, poste ich meistens auch nichts. Das ist halt auch immer nur/ ja dieses, es ist ja immer/ Man/ Es ist ja schon bewusst, was man postet und man postet meistens immer DAS, was gerade TOLL im Leben ist. Die Beschränkung auf das Positive erfolgt in Malas Lesart nicht aus Berech‐ nung, sondern aus der Laune heraus - die Laune bestimmt darüber, welche Bilder geteilt werden. Da die Befragte angibt, nur aus einer positiven Laune heraus zu posten, teilt sie konsequenterweise auch nur jene Bildmotive, die mit dieser Laune korrelieren bzw. die diese positive Laune in ihr her‐ vorgerufen haben. Im Schema der Bestätigungssuche finden sich ähnliche Deutungsmuster (vgl. Kap. 6.2.1.3) mit leicht verkehrten Vorzeichen: Das Teilen von Bildern ist dort u. a. mit der Intention verbunden, schlechten Launen entgegen zu wirken. Die Befragte in der folgenden Passage deutet ihre Bildhandlungen, analog zu den Befunden in Kap. 6.2.3.3, sogar explizit als Stimmungsmanagement: Katja: Ja, aber das kommt so auf/ Hab ich auch voll krass/ Kam voll auf die Person an. Es gibt nämlich ganz viele Leute, die posten nur traurigen Shit und ich dacht immer, das kannst du nicht machen. So: Du musst/ Das Leben ist so traurig ((lacht)), du musst immer fröhliche Sachen posten. Katja versteht ihr eigenes Postingverhalten als Gegenentwurf zu Nutzenden, die „traurigen Shit“ verbreiten, sprich: Inhalte, die eine negative Stimmung evozie‐ ren. Sie selbst verfolgt dezidiert den Ansatz, „fröhliche Sachen“ zu teilen, also Inhalte, die möglichst positive Stimmungen hervorrufen. Idealisierungsprakti‐ ken werden aus dieser Perspektive zu Praktiken des Stimmungsmanagements. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 346 7 Bewusst ist hier nicht die Rede von Affekthandlung. Es handelt sich zwar um Handlungen, die in der Wahrnehmung der Befragten an Affekten, in diesem Fall: Launen, orientiert sind, die aber dennoch intentional und bewusst und nicht etwa sprunghaft durchgeführt werden (wie im obigen Zitat auch explizit erwähnt). Der Fokus liegt nicht mehr auf einer möglichen Verzerrung der Realität, sondern auf der Modulierung der kommunikativen Situationen, in denen die Bilder gebraucht werden. Sieht man von der Motivselektion ab, werden Filter und andere Mittel der Bildmanipulation im Schema der Beziehungspflege eher selten thematisiert. Die Idealisierung in Form der Bildselektion wird dabei als affektgeleitete Handlung 7 zum Stimmungsmanagement umgedeutet - und so vor dem Hintergrund des Authentizitätsanspruchs auch legitimiert. Dauerhafte Konsequenzen zeitigen die Plattformaktivitäten im Schema der Beziehungspflege in erster Linie im Offline-Alltag. Die Zugehörigkeit zu einer Online-Community ist in diesem Schema nicht von Bedeutung, da der Primat auf der Pflege von bereits bestehenden Offline-Freundschaf‐ ten und -Bekanntschaften liegt. Den Befragten treten ihre Beziehungen daher nicht als virtuell oder parasozial gegenüber. Instagram wird nicht als gemeinschaftskonstituierende, sondern lediglich als gemeinschaftserhaltende Vermittlungsinstanz betrachtet. Konstatiert werden jedoch mediatisierende Einflüsse auf Alltagshandeln und Alltagswahrnehmung, wie bspw. von Ruth: Ruth: Natürlich denkt man dann mal, wenn du irgendwo in einer schönen Stadt bist oder wo auch immer und du machst ein Bild und so: „Ah das wärn schönes Bild für Instagram“ oder irgendwie sowas, dass du denkst: „Ohja, ich würd jetzt gern noch n Bild FÜR Instagram machen“. Die Befragte verweist auf eine Art der gedanklichen Beschäftigung mit Instagram, die derjenigen im Schema der Bestätigungssuche sehr ähnlich ist. Es fehlt jedoch völlig der Beiklang der Zwanghaftigkeit, der für die Deutungsmuster in jenem Schema charakteristisch ist. Stattdessen wird im Schema der Beziehungspflege ein fast schon spielerischer Ton angeschlagen, der das, was sich aus der Perspektive der Bestätigungssuche als mentale Ver‐ einnahmung darstellte, eher als spontane und lustvolle Eingebung ausweist. Und während im Schema der Bestätigungssuche ein zumindest partiell nega‐ tiver Einfluss auf das Selbst als auch auf Offline-Freundschaften konstatiert 6.2 Nutzungsschemata 347 8 Da hier von einem Selfie die Rede ist, erweist sich die Unterscheidung zwischen einer Handlung vor und hinter der Kamera u. U. als missverständlich. Gemeint sind Kamerahandlung und Bildhandlung bzw. Bildproduktion und Bildmotiv. wurde (vgl. Kap. 6.2.1.4), wird Instagram im Schema der Beziehungspflege der positive Status einer freundschaftserhaltenden Plattform zugeschrieben: I: Welchen Einfluss hat Instagram auf deinen Alltag? Muriel: (0.5) Also es ist halt zum Beispiel so, wenn man sich mit Freunden trifft oder so, dass man dann eher so sagt: „Ja okay, lass maln Selfie machen“ zum Beispiel, für Instagram oder so. Die Befragte gibt an, dass sie und ihre Freunde durch die Plattform Instagram zum gemeinsamen Bildhandeln angehalten würden. Zu den Interaktionen auf Instagram, sprich: zum symbolischen Freundschaftsakt vor der Kamera bzw. auf den Bildern, tritt also auch noch eine gemeinschaftsstiftende Praxis hinter der Kamera 8 , d. h. während der Bildproduktion. Im Schema der Beziehungspflege erfahren die Nutzenden so gesehen eher positive, wenngleich dezente Auswirkungen der Plattformaktivität auf ihren Alltag. Dem zugrunde liegt eine Haltung, die von Ronda hier nochmal anschaulich zum Ausdruck gebracht wird: I: Was wäre für dich ein No Go? Ronda: Also für mich ist das, dass ich halt irgendwie/ Das soll halt nicht mein ganzes Leben einnehmen irgendwie, das find ich dann doch zu blöd. Der Nutzung von Instagram wird von Ronda nur ein bedingter Einfluss auf das Offline-Leben zugestanden. Diese Haltung ist charakteristisch für das Schema der Beziehungspflege. Die Befragten geben an, bewusst Maß zu halten. Sie lassen sich zwar teilweise auf die Sinnwelt Instagram und ihre Spielregeln ein, wollen ihnen aber nicht zu viel Bedeutung beimessen. Auch suchen sie die Verbindung zwischen Offline-Alltag und virtueller Welt, so dass weder Parallelwelten wie im Schema der Bestätigungssuche noch eklatante Brüche zwischen Offline- und Online-Selbst entstehen, wie im Schema der Erfolgsorientierung. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 348 Resümierend erweist sich Instagram im Schema der Beziehungspflege als Sinnwelt, deren Eigenlogik getragen wird von den wahrnehmungs‐ nahen Eigenschaften des dominanten Zeichenmodus Bild und den unidirektionalen Vernetzungsstrukturen. Als besonders bedeutsam erweist sich dabei die Möglichkeit, sich gezielter mit Anderen ver‐ netzen zu können sowie die größere Aussicht darauf, Bilder mit Erlebnischarakter präsentiert zu bekommen. Die Eigenlogik der Platt‐ form wird von den Befragten lustvoll, aber zurückhaltend angeeignet. Die plattformspezifischen Idealisierungskonventionen deuten sie bei‐ spielsweise zum Stimmungsmanagement um. Das Engagement ist dabei im Vergleich zu den anderen Schemata deutlich gedrosselt: Eine allzu alltagsinvasive Nutzung der Plattform wird vermieden und beschränkt auf die Festigung offline bereits bestehender Sozi‐ alkontakte. So nehmen sich denn auch die Mediatisierungseffekte für die Befragten im Schema der Beziehungspflege geringer als in den anderen Schemata aus und zeigen sich etwa nur in einer leicht veränderten Umweltwahrnehmung und dezent modifizierten Freund‐ schaftspraktiken. 6.2.3.5 Interaktionsregeln Hauptmerkmale: ▸ Bedingte Grenzwahrung: Intimität ist Offline-Freundschaften vorbe‐ halten ▸ Bedingte, selektive Reziprozität: Freundschaftsdienste ▸ Symmetrische Interaktion, peer-Kommunikation Die Basis der Verhaltensorientierung auf Instagram bildet auch im Schema der Beziehungspflege das Konzept der Reziprozität. Das charakteristische Primat der Offline-Freundschaften sorgt aber auch hier für schemaspezifi‐ sche Auslegungen und Aneignungen. Im Schema der Beziehungspflege wird die digitale Sinnwelt Instagram so auf einige wenige interaktive Parameter reduziert und in ihrer Komplexität, zumindest im Vergleich zu den anderen beiden Schemata, nochmals ausgedünnt. 6.2 Nutzungsschemata 349 Das zeigt sich schon daran, wie Aufmerksamkeit verteilt wird, d. h. auf wen wann und wie reagiert wird. Danach befragt, nach welchen Kriterien er Likes vergebe, konstatiert bspw. der Befragte Moritz folgende Prinzipien: Moritz: Also eher gehe ich da ganz objektiv ran, wobei es jetzt von meinen zwei besten Freunden/ Von denen würd ich dann auch alles liken, was die posten, also einfach prinzipiell würd ich schonmal liken. Der Befragte gibt hier an, normalerweise „objektiv“ Likes zu vergeben, was in diesem Fall heißt: abhängig davon, wie sehr ihm ein Bild gefällt. Nur bei Freunden würde er eine Ausnahme machen - als Beispiel nennt er seine „zwei besten Freunde“, deren Bilder er allein aufgrund der freundschaftli‐ chen Beziehung zu ihnen like. Er vergibt Likes also nicht nur abhängig vom Bild, sondern im Rahmen von Freundschaftsdiensten auch aus Prinzip und unabhängig vom Bild. Auch die folgende Befragte gibt an, Freunden eine Sonderstellung einzuräumen: I: Wie gehst du mit den Reaktionen um, also gibst du denn irgendwie vielleicht ne Rückmeldung oder/ ? Leila: Ja, zum Beispiel bei Freundinnen, da gefallen mir automatisch immer alle Bilder, die die hochladen. ((lacht)) Aber/ (1) Also eigentlich ne Rückmeldung nicht wirklich, außer bei/ wenn die dann mal/ wenn der andere mal nen neues Bild hochlädt, dass ich vielleicht auch mal Gefällt-Mir drücke, ne. Aber so viel mache ich das eigentlich nicht. Leila unterscheidet ihre Freundinnen hier dezidiert von anderen Nutzenden: Erstere erhielten „automatisch“ einen Like für jedes Bild, während sie für den Rest nur „vielleicht auch mal gefällt mir“ drücke. Instruktiv ist, dass die Befragte in ihrer Antwort auch auf den Umgang mit den Likes Anderer eingeht. Leila gibt an, diese nicht in allen Fällen zu vergelten und das Reziprozitäts-Prinzip nur für Freunde zu beachten. Sprich: Andere Nutzende könnten auch dann nicht mit einem Like rechnen, wenn sie Leila zuvor selbst einen solchen gegeben haben. Die rigide Orientierung am Freundschaftsstatus erweist sich für die Befragten bisweilen aber als tückisch. Da die Online-Beziehungen mit diesen Followern - im Gegensatz zum Großteil der restlichen Follower - offline 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 350 fortgesetzt werden, wird die wechselseitige Bestätigung auf Instagram mit besonderer Bedeutung aufgeladen und mit Erwartungen verbunden. Amira schildert in folgendem Zitat bspw., wie aufgrund von ausbleibenden Likes sowohl Aussagen über das Bild als auch über die Beziehung und das Selbstbild abgeleitet werden: Amira: Glaube, das ist so ein Selbst-, das andere ist ein bisschen so ein Selbstdruck, so jetzt: Mein engster Freundes- und Bekanntenkreis hat jetzt alle das Foto von ner Freundin von uns geliked, so wenn ich das jetzt nicht like, dann fällts halt auf. Also ich glaub bei so engen Bekannten und Freunden fällt das schon auf, wenn irgendwer fehlt. Wenn zum Beispiel meine beste Freundin ein Bild, ihr Profilbild ändert und alle liken es, nur ich nicht, dann ist es auch so: „Hä, findest du ich seh blöd aus auf dem Bild? “ ((lacht)) Nach Amira impliziert das Ausbleiben eines Likes eine negative Wertung des Bildes bzw. oder der abgebildeten Person und kann damit als persönli‐ cher Affront verstanden werden, der die Beziehung in Frage stellt. Beim gegenseitigen Liken handelt es sich scheinbar um eine Routine, die derart eingeschliffen und erwartbar ist, dass ihr Ausbleiben in den Augen der Befragten eine bewusst gewählte und mit Bedeutung aufgeladene Unterlas‐ sungshandlung darstellt. Amira konstatiert auch einen „Selbstdruck“, den sie verspüre und der ihr Handeln motiviere. Nicht die anderen bzw. die Gruppe übten also einen Zwang auf sie aus, sie selbst setze sich unter Druck. Damit verweist die Befragte auf den vergleichsweise schwammigen Status dieser Verhaltensnorm: Sie rechnet zwar mit sozialen Konsequenzen oder Sanktionen, diese sind aber so unklar und ungewiss, dass die Befragte sie nur als diffuses Unbehagen wahrnimmt. Ihre Sorge gilt dabei vor allem dem Blick der Anderen, den sie verinnerlicht hat („fällt’s halt auf “, „fällt das schon auf “, „also ich weiß nicht“). Wer die Likes der Freunde nicht erwidert, läuft demnach Gefahr, in Ungnade zu fallen und diese Gefahr, wie unkonkret auch immer, soll vermieden werden. Der Gefahr von Like-Affronts gegenüber nicht-befreundeten Followern wird weniger bis keine Bedeutung beigemessen. Im Schema der Bezie‐ hungspflege dreht sich ein Großteil der Interaktion auf Instagram um die Inszenierung und Auswuchtung von Offline-Freundschaften. Diese peer-to-peer-Kommunikation bleibt aber immer, wie auch in den anderen 6.2 Nutzungsschemata 351 Schemata, unverfänglich und oberflächlich. Auch zwischen Freunden wer‐ den, zumindest auf Instagram, ‚schwere‘ Themen vermieden. Dabei werden Strategien der Harmonisierung und Glättung von Kommunikation einge‐ setzt, die denen der anderen beiden Schemata nicht unähnlich sind. Das gilt insbesondere für die Kommentierung: Ruth: POSITIVE Kritik (0.5) Also am meisten sind oder ich sag mal, viele Kommentare, die ich bekomme, sind dann auch von Freunden und da geht man natürlich dann irgendwie vielleicht auch mal ein bisschen scherzhaft oder wie auch immer oder postet einfach n Herzchen oder likest den Kommentar. Ruth gibt hier an, dass die Kommentare zu ihren Bildern überwiegend von Freunden stammen. Deren „positive Kritik“ nehme dabei eine semantisch undifferenzierte Form an („Herzchen“, Likes) und werde in bestätigender oder spielerischer Absicht („scherzhaft“) geäußert. Der ludische Modus prägt auch die Bildinhalte, wie u. a. Olaf festhält: Olaf: Also Videos poste ich eigentlich gar keine. Bilder sind es entweder lustige Bilder von mir mit Freunden bei weiß nich, Partybilder die gut aussehen oder (2) bei Instagram poste ich meistens dann, wenn ich mit Freunden unterwegs bin und irgendwelche schönen Erlebnisse sind, so was, weiß nich. Wenn man Essen geht oder irgendwelche lustigen Sachen, die einem dann auftauchen und dann fotografiert werden. Sowas, sowas lade ich bei Instagram hoch. Zur ludischen Modulierung tragen auch die freundschaftlichen Bildhand‐ lungen entscheidend bei, wie Olaf hier konstatiert. Diese Beobachtung stellt eine wichtige Differenzierung der Ausführungen in Kap. 6.2.3.2 zum Anspruch an Besonderheit und Einzigartigkeit in den Bildmotiven dar. Während in den anderen beiden Schemata eher ein künstlerisch-ernster oder gar professioneller Ton vorherrschte und Freundschaften bei den Inszenierungen privater Lebensweisen außen vor waren, gewinnt der spie‐ lerisch-gesellige Ton der Bilder im Schema der Beziehungspflege an Bedeu‐ tung: Freunde zeigen sich gegenseitig mit Freunden wie sie miteinander „unterwegs“ sind und „schöne“ oder „lustige“ Dinge erleben. Dies geht mit 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 352 9 Eine gewisse Skepsis bzgl. dieser Auslegung klingt dennoch heraus. So stottert der Befragte in Reaktion auf die Nachfrage und räuspert sich merklich, was als Zeichen der Unsicherheit gewertet werden kann. ‚Spielregeln‘ einher: Wer sich oft mit Anderen zeigt, erwartet auch, in deren Bildern aufzutauchen. Im Schema der Beziehungspflege liegt der Fokus im Vergleich zu den anderen beiden Schemata daher etwas weniger auf dem individuellen Selbst. Das kollektive Selbst, das sich durch seine Einbettung in ein dichtes soziales Umfeld auszeichnet, wird tendenziell stärker betont. Im Schema der Beziehungspflege werden auch Praktiken der Bildverschö‐ nerung thematisiert, die der Herstellung einer ‚reibungslosen‘ Kommunika‐ tion dienen. So gibt der folgende Befragte bspw. an, Filter zu verwenden: Thomas: Ich habe also ganz normale Anforderungen an Fotos so. So wie die Fotos, die ich mir selber ins/ zu Hause ins Regal stelle, in den Bilderrahmen, so gehe ich halt eben auch dort mit den Fotos auf Instagram um. (2) Also Fo/ also wenn ich ein Foto auf Instagram poste, dann isses auch fürs Fotoalbum geeignet. I: Also bearbeitest du deine Bilder? Thomas: Ja gut es gibt ja ((räuspert sich)) diverse Möglichkeiten, die Bilder zu bearbeiten. Eventuell setzt man dann mal n Filter drauf, viel‐ leicht mal in Schwarzweiß oder ähnliches. Aber jetzt richtige ((räuspert sich)) Änderungen nehm ich nicht vor, also ich fang jetzt nicht an meine meine Haut zu retuschieren und meine Zähne weiß zu machen. Wie gesagt, mal son, son Grundfilter der schwarzweiß oder Sepia macht. So in der Art. Mehr aber auch nicht. Deutlich wird in dieser Passage, dass der Befragte den Einsatz von Filtern nicht als Beeinträchtigung der Authentizität von Bildern versteht und auch nicht als besonders erwähnenswerte oder gar deviante Bildpraxis. Er vergleicht die Bilder auf Instagram stattdessen mit Bildern für Fotoalben, also mit einer Sorte von Bildern, die als gewöhnlich und einer Wirklich‐ keitsverzerrung unverdächtig gilt. Er versteht den Einsatz von Filtern nicht als Idealisierung und grenzt diese Form der Bildbearbeitung von stärker invasiven Praktiken, bspw. der Retusche, ab. Beim Einsatz von Filtern handele es sich um keine „richtige Änderung“. 9 Um was aber geht es dann? Es scheint sich beim Einsatz von Filtern eher um eine Variation jenes impliziten 6.2 Nutzungsschemata 353 Verhaltenskodex zu handeln, der besagt, dass allen Beteiligten mit den eigenen Beiträgen ein möglichst angenehmes Erlebnis zu bereiten und für ein harmonisches Miteinander zu sorgen sei (vgl. sowohl Kap. 6.2.1 als auch 6.2.2). Dies drückt sich bspw. in folgendem Zitat aus: Bastian: Weil man die Stimmung einfach verändern kann, ne. Wenn du jetzt zum Beispiel ein schwarzweißes Bild machst, also n Schwarzweiß‐ filter drüber legst, ne, die Stimmung gleich verändern, ne oder wenn das son bisschen oldschool machst, durch n Filter, dann finde ich kann man damit immer sehr viel/ also des Foto auch noch NOCH schöner machen. Für Bastian wird ein Bild dann schöner, wenn die Stimmung verändert wird, die es vermittelt. Die Strategie der kommunikativen Glättung durch den Einsatz von Filtern steht mit der für das Schema der Beziehungspflege cha‐ rakteristischen Praxis in Verbindung, Stimmungen zu modulieren bzw. be‐ stimmte Stimmungen zu präsentieren. Sie gelten, neben der Motivauswahl, als eines der wenigen legitimen Mittel der Bearbeitung und Verschönerung. Eine weitere, in diesem Fall interaktive Strategie der Harmonisierung, die eher Alternative als Gebot ist, besteht darin, konkret auf den jewei‐ ligen Bildinhalt einzugehen. Im Schema der Beziehungspflege wird der Kommentar, wie auch im Schema der Bestätigungssuche, als besonders gewichtig gesehen. Wer also etwas auf der Beziehung hält, hinterlässt nicht nur einen Like, sondern nach Möglichkeit auch einen Kommentar. Da schemaspezifisch bereits ein Akzent auf der Freundschaftskommunikation liegt, werden entsprechend personalisierte Kommentare bevorzugt, die sich von anderen, generischen Kommentaren unterscheiden. Im Zuge dessen bilden sich oft sogenannte „Insider“ heraus: Leila: Positiv kommt schon vor, dass mal drunter geschrieben wird: „Oh, cool, das sieht ja lecker aus“ oder „Das Bild ist schön, da siehst du gut drauf aus“ (1) oder/ Ja, meistens so meine Freunde, die dann schreiben, son paar Insider drunter klatschen ((lacht)), die dann nicht so/ die nicht jeder kennt, ja die dann für dich verständlich sind. Die Befragte gibt an, mit Freunden den Austausch von gemeinsam geteilten Wissen als Distinktionspraxis zu betreiben. Sie tauschen also Witze oder 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 354 Erfahrungen in Form von kurzen Satz- oder Wortsprengseln aus, die nur für Mitglieder der peer-group verständlich sind. Elke Wagner (2014) spricht hierbei von „unbestimmter Kommunikation“ (vgl. Kap. 3.3.5). Diese diene nicht zuletzt dem Festigen sozialer Bande und dem Gruppenzusammenhalt. Der folgende Befragte gibt wiederum an, „richtige“ Unterhaltungen zu schätzen: Janosch: Ich finds dann irgendwie noch lustiger, wenn man tatsächlich dann irgendwie, wenn jemand da drauf replied und was dazu zu sagen hat wo (0.5) wo man, wenn möglich, vielleicht sogar noch irgendwie die/ richtig sich drüber unterhält oder irgendwie sowas. Janosch gibt an, Wert darauf zu legen, „richtig sich drüber“ zu unterhalten und bevorzugt Bildkommentare von Personen, die „was dazu zu sagen“ haben. „Richtig“ meint dabei nicht das Gespräch unter vier Augen, sondern die Art des Kommentars. Janosch unterscheidet zwischen generischen und spezifischen Kommentaren - spezifisch sowohl hinsichtlich der Adressaten (solche, die Expertise oder eine starke Meinung zum Thema haben…) als auch hinsichtlich des Aufwands (… und diese auch äußern). Hierüber wird nicht zuletzt auch Nähe hergestellt. Der folgende Befragte führt diesen Aspekt weiter aus: Moritz: Aber ich hab jetzt NIE SO SEHR darauf geachtet, dass das jetzt irgendwie viel Likes kriegt, sondern ich hab mich eher gefreut, also bei Leuten/ also bei Leuten, die ich jetzt kannte oder bei denen ich/ Wie sagt man das, bei denen ich SAGEN würde, das Thema könnte sie interessieren und DIE haben das dann auch kommentiert oder geliked. DAS fand ich eigentlich viel SPANNENDER, wenn also/ Das fand ich immer viel viel viel BESSER, wenn ich wusste: Das haben auch wirklich Leute wahrgenommen, die damit was anfangen und nich irgendwelche Wildfremden, die ich nich kenne und die dann/ Also es is wie son, son/ so ne freundschaftliche Umarmung, son äh son Schulterklopfen, so: „HEY, das is/ find ich cool“. Moritz verweist hier, wie schon der Befragte zuvor, auf die höhere Wertigkeit von Kommentaren spezifischer Personen. Der Status der Person - bspw. 6.2 Nutzungsschemata 355 als Freund bzw. Freundin oder celebrity - ist dabei weniger wichtig als die Kongruenz von Bildthema und Person. Er definiert diese Personen als Personen, die a) mit einem Inhalt „was anfangen“ können und b) nicht ‚wildfremd sind‘, die er also kennt. Es geht um Personen, deren Meinung bzgl. eines Themas man besonders wertschätzt aufgrund deren persönlichen oder professionellen Hintergrunds und die man mit den eigenen Bildern auch mehr oder weniger gezielt ansprechen möchte. Hierunter fallen nicht zuletzt auch Gruppenbilder, die insbesondere die abgebildeten Personen ansprechen sollen. Während in den anderen beiden Schemata durch die visuelle Inszenierung privater Lebensweisen alle Follower in ein gewisses Nahverhältnis zur eigenen Person gebracht werden sollten, findet im Schema der Beziehungs‐ pflege eine Verengung statt: Sowohl Bilder als auch Kommentare werden spezifischer zugeschnitten und dienen insbesondere der Herstellung von Intimität gegenüber näher bekannten Personen, i. d. R. Freunden. Solche Bilder und Kommentare werden als „freundschaftliche Umarmung“ oder „Schulterklopfen“ (s. Zitat oben) wahrgenommen, dienen also dazu, Freund‐ schaft anzuzeigen und damit gleichzeitig auch zu inszenieren. Die Interaktionsregeln und Verhaltensnormen sind im Schema der Bezie‐ hungspflege also stark an bestehenden Freundschaftsbeziehungen orientiert und prägen diese. Entsprechend fällt in keinem anderen Schema die Sensi‐ bilität für Grenzüberschreitungen größer aus. Intimität bzw. Intimkommu‐ nikation außerhalb freundschaftlicher Beziehungen wird als invasiv und unangebracht wahrgenommen, wie etwa von der folgenden Befragten: Alexa: Und dann gabs aber halt auch so, also so Mädels, die teilweise dann, also für meine Verhältnisse auch son bisschen die Grenze über‐ schritten haben, also obwohl man sich nur so medial kennt dann schon relativ persönlich geworden sind und halt auch so sich schon so sehr nah, also so so Wörter benutzt haben, so: „Ja oh, du fehlst mir voll“ und so und ich dacht mir so: Ja, wir haben uns halt noch nie gesehen. Also dass/ Also dass die da irgendwie wa/ zu viel reininterpretieren in diese Kommunikation wie in Wirklichkeit eigentlich da is. Für Alexa erweisen sich schon Kommunikate, die nur „relativ persönlich“ sind, als zu intim und der Plattform als auch der Beziehung unangemessen. „Mädels“, die in ihren Augen zu intim kommunizieren, würden sowohl 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 356 den Kommunikationsraum falsch verstehen („zu viel reininterpretieren in diese Kommunikation“) als auch die Beziehung falsch einschätzen („obwohl man sich nur so medial kennt“). Umgekehrt bedeutet dies in Alexas Ver‐ ständnis, dass intime Kommunikation nur dann legitim ist, wenn sie unter Freunden oder zumindest Bekannten stattfindet. Dieses Verständnis steht insbesondere dem Schema der Bestätigungssuche diametral gegenüber, für das die Herstellung bzw. Suggestion von Nahverhältnissen zwischen Unbe‐ kannten charakteristisch ist. Im Schema der Beziehungspflege ist intime Kommunikation, ganz gleich ob generisch oder spezifisch, nur zwischen Freunden oder Bekannten vorgesehen. Mit allen anderen werden maximal Höflichkeiten ausgetauscht. So kann abschließend resümiert werden, dass die Verhaltensorien‐ tierungen im Schema der Beziehungspflege insbesondere von den persönlichen Beziehungen geprägt sind. Das Prinzip der Reziprozi‐ tät wird in vollem Umfang nur gegenüber Personen zur Geltung gebracht, mit denen man befreundet ist. Diesen gegenüber wird es jedoch derart strikt eingehalten, dass es für die Beteiligten bereits die Bedeutung einer verpflichtenden oder zumindest erwartbaren Norm annimmt, deren Nichtbefolgung allerhand Implikationen trägt und potentiell soziale Sanktionen nach sich zieht. Bilder wie auch Kommentare sind inhaltlich in größerem Maße als in den anderen Schemata an Freunde gerichtet. Entsprechend verändert sich auch der Duktus. Analog zu den anderen beiden Schemata zeichnet sich auch die Kommunikation im Schema der Beziehungspflege durch Unverfänglichkeit aus. Der Ton, der dabei angeschlagen wird, ist aber weder künstlerisch-überschwänglich noch nüchtern-professio‐ nell, sondern spielerisch-gesellig: Man scherzt miteinander, postet Bilder von gemeinsamen Erlebnissen und versucht so einen lockeren, ungezwungenen Interaktionsrahmen zu schaffen. Eine ästhetische Harmonisierung des Kommunikationsraums wird einzig durch den Einsatz von Bildfiltern gezielt verfolgt. Diese gelten den Befragten als legitimes Mittel der Bildbearbeitung, da sie nicht den Wahrheitsgehalt der Bilder, sondern lediglich Stimmungen verändere und somit das harmonische Kommunikationsgefüge stabilisiere. Retuschen, Orien‐ tierungen an Trends oder ähnliche ‚unauthentische‘ Bildpraktiken werden strikt abgelehnt. Viele schemaspezifische Handlungsweisen 6.2 Nutzungsschemata 357 dienen der Stärkung sozialer Bande unter Freunden, so z. B. der Aus‐ tausch von gemeinsam geteiltem bzw. „Insider“-Wissen, und die Prio‐ risierung beitragsspezifischer Kommentare. Statuszuordnungen wer‐ den nicht anhand von Like- und Followerzahlen, sondern anhand des Beziehungsstatus vorgenommen. Intimkommunikation bspw. bleibt Freunden vorbehalten. Letztlich erweisen sich viele Interaktionsre‐ geln, Handlungsweisen und kommunikativen Strategien im Schema der Beziehungspflege als Mittel der Herstellung, des Ausdrucks und der Stabilisierung von Freundschaft. 6.2.3.6 Zusammenfassung Das Schema der Beziehungspflege zeichnet sich in erster Linie durch die starke Betonung freundschaftlicher Beziehungen aus. Instagram dient dabei insbesondere als Plattform, um bereits bestehende Beziehungen mittels der hier zur Verfügung gestellten kommunikativen Möglichkeiten effizienter zu pflegen. So wird bspw. versucht, über den visuellen Zeichenmodus eine größere Wahrnehmungsnähe herzustellen und die jeweils kommuni‐ zierten Erfahrungen und Erlebnisse so nachvollziehbarer zu machen. Sprich: Durch den Austausch von Bildern soll es einander ermöglicht werden, räumlich-physische Distanzen zu überbrücken und am gegenseitigen Alltag regelmäßig teilzuhaben. Im Schema der Beziehungspflege spielt dabei insbesondere das Teilen aber auch Evozieren von Gefühlen und Stimmungen eine große Rolle. Den ande‐ ren soll nicht nur vermittelt werden, was man macht, sondern auch wie man sich dabei fühlt. Grundsätzlich, und hier unterscheidet sich das Schema nicht von den anderen beiden, werden positive Gefühle in unterschiedlichsten Schattierungen angestrebt, ebenso wie die Herstellung eines harmonischen Kommunikationsraums. Anders als in den Schemata der Bestätigungssuche und der Erfolgsorientierung ist im Schema der Beziehungspflege dabei aber nicht jedes Mittel erlaubt. So wird bspw. Wert auf Authentizität gelegt. Im Gegensatz zum Schema der Bestätigungssuche wird dieser Anspruch nicht partiell zugunsten einer Orientierung an notwendigen Idealisierungsprak‐ tiken aufgegeben. Die Befragten im Schema der Beziehungspflege verstehen ihre Bilder dezidiert als authentisch. Eingriffe in Bilder sind nur legitim in Form von stimmungsmodulierenden Filtern. Posieren, Retuschieren oder das gezielte Nachahmen von Stilen ist verpönt. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 358 Ähnliches gilt für Strategien der Aufmerksamkeitsgenerierung: Likes werden nur sehr bedacht vergeben und überwiegend an Freunde. Gegenüber diesen wird sich wiederum sehr streng am Reziprozitätsprinzip orientiert - das Liken der Bilder von Offline-Freunden hat quasi-obligatorischen Charakter. Abgesehen davon wird Likes jedoch keine große Bedeutung zugeschrieben, noch weniger den Followerzahlen. Opportunistische und auf die Erhöhung dieser Zahlen zielende Praktiken wie die #like4like-Strategie sind im Schema der Beziehungspflege undenkbar. Solcherlei Praktiken würden sich nicht zuletzt aber auch als zu zeitaufwendig erweisen. Die Befragten verstehen ihre Nutzung eher als Zeitvertreib denn als ernstes Hobby und stellen den spielerisch-geselligen Charakter in den Vordergrund. Der Stellenwert von Instagram für das eigene Leben wird im Schema der Beziehungspflege bewusst niedrig angesetzt. Man attestiert sich eine grund‐ sätzliche Gleichgültigkeit oder zumindest Gelassenheit gegenüber vielen Zu- und Anmutungen der Plattform. Im Selbstverständnis der Befragten handelt es sich dabei aber nicht um eine Strategie der emotionalen Distan‐ zierung, die erst eingeübt werden muss, sondern um eine grundsätzliche Veranlagung bzw. Disposition, mit der man der Plattform gegenübertritt. Entsprechend gering fällt die Identifikation mit dem eigenen Profil aus. Zwar zeigt man und präsentiert man auf Instagram Ausschnitte und Aspekte aus dem eigenen Leben und damit auch seiner selbst, diese werden jedoch eher als Dokumente denn als Repräsentationen des eigenen Ichs verstanden. Neben der Kontaktpflege besteht das zweite große Nutzungsinteresse im Schema Beziehungspflege in der Archivierung schöner (Selbst-)Bilder und der Dokumentation des eigenen Lebens in Form eines digitalen Fotoalbums. Hinsichtlich der Bildauswahl zeigt sich im Vergleich zu den anderen beiden Schemata der größte Anspruch an Innenorientierung: Geteilt wird in erster Linie, was selbst Freude bereitet und nicht, was dem Publikum gefallen könnte. Das Publikum in Form einer größeren Öffentlichkeit, die über die Offline-Freund- und -bekanntschaften hinausgeht, wird im Schema der Beziehungspflege überhaupt sehr kritisch gesehen und als potentielle Gefahr für die eigene Privatsphäre gewertet. Das bedingt ein wesentlich reservierteres Kommunikationsverhalten: Die Nutzung im Schema der Be‐ ziehungspflege ist geprägt durch eine Einschränkung und Reduzierung der Intimkommunikation auf den engsten Bezugskreis, i. d. R. auf die Freunde. Die dominanten Merkmale des Schemas Beziehungspflege sind also a) die dominante Ausrichtung fast aller kommunikativen Praktiken am Primat der (Offline-)Freundschaft, b) die ostentative Reserviertheit oder Gelassenheit 6.2 Nutzungsschemata 359 gegenüber vielen Anrufungen der Plattform und c) die reduzierte, auf pragmatische und spielerisch-gesellige Aspekte begrenzte Nutzung und Aneignung der Kommunikationsmöglichkeiten. 6.3 Zusammenfassung Zum Abschluss dieses Kapitels sollen die drei dargestellten Schemata nun noch einmal gegenübergestellt und anhand ihrer Hauptcharakteristika verglichen und in ihren Unterschieden beschrieben werden. Benannt wurden die Schemata nach den für sie charakteristischen und konstitutiven Hauptsemantiken. Diese Semantiken - die Bestätigungssuche, die Erfolgsorientierung und die Beziehungspflege - wirken auf alle Aspekte der Plattformaneignung und sorgen so für unterschiedliche Ausprägungen in den Nebensemantiken (d. h. in den Schlüsselkategorien und Oberkatego‐ rien). Es handelt sich dabei um Unterschiede in der konkreten Nutzung als auch um Unterschiede in der Wahrnehmung und Interpretation bestimmter Sachverhalte. Einige Bereiche weisen dabei nur marginale Unterschiede im Detail auf und auf übergeordneter Ebene zeigen sich auch eklatante Gemeinsamkeiten, die auf starke Plattformeffekte, d. h. Affordanzen und Anrufungen seitens der Plattform hindeuten, mit denen sich alle Nutzenden konfrontiert sehen und die nur noch von schemaspezifischen Deutungsmus‐ tern gebrochen werden. 6.3.1 Likes Bedeutende Unterschiede finden sich unter anderem im Umgang mit und der Einordnung von Feedback. In allen drei Schemata kommt dem Like eine besondere Beachtung zu - selbst dort, wo die Befragten die Wertigkeit von Likes in Frage stellen, sind sie omnipräsenter Gegenstand der Auf‐ merksamkeit und damit schlussendlich auch des Denkens und Handelns. Die Befragten sehen sich herausgefordert, mit dieser Resonanzeinheit auf die ein oder andere Art und Weise umzugehen und zu Rande zu kommen - der Like fordert gewissermaßen auf, sich mit ihm zu beschäftigen. Im Schema der Bestätigungssuche ist der Like, wie auch alle anderen Feedbackeinheiten, stark persönlich und emotional besetzt. Die Befragten interpretieren Likes als Bestätigung und beziehen sie auf ihre eigene Person, wobei sie weniger erwartbaren Likes von fremden Personen 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 360 mehr Gewicht zuschreiben als dem erwartbaren Like von Freunden. Der Like wird für sie zum rahmenden, sinnstiftenden Symbol als auch zum emotionalen Movens ihrer Aktivitäten. Im Schema der Bestätigungssuche leiten die Nutzenden Selbstwert aus den Bestätigungen ihrer Follower ab. Mit der Höhe der Likes steigt also das Selbstwertgefühl - eine prinzipielle Obergrenze oder ein Plateau werden nicht mitgedacht und so erhöht jeder weitere Like das Selbstbild. Damit es zu diesem Effekt kommen kann, ist eine Identifizierung mit dem Profil und den eigenen Bildern unabdingbar, ganz gleich ob man nun die Selbstdarstellungen als repräsentativ für das eigene Ich anerkennt oder sich ‚nur‘ als gestaltende Kraft hinter dem Profil erfährt. Die Likes werden als Bestätigung für etwas anerkannt werden, das die eigene Person, das eigene Selbst im Kern betrifft. Vergleichen wir diese Haltung Likes gegenüber mit den anderen beiden Schemata, sehen wir deutliche Unterschiede: Im Schema der Erfolgsorientierung ist der Like lediglich eine objektive Richtzahl, die als Bestätigung der eigenen Arbeit bzw. Leistung auf Instagram interpretiert wird, aber nicht im gleichen Maß auf das Selbst und den Selbstwert bezogen wird wie im Schema der Bestätigungssuche. Der Like hat im Schema der Erfolgsorientierung in etwa die gleiche Bedeutung wie Geld oder andere Währungen außerhalb der Plattform: sie werden als Ausweis von Erfolg, Macht, Prestige und Status gedeutet, aber nicht bzw. nur bedingt als Ausweis von persönlicher Zuneigung oder sozialer Anerkennung. Während der Like im Schema der Bestätigungssuche den Nutzenden etwas darüber aussagt, wer sie sind und wie sie von anderen gesehen und geachtet werden, sagt er den Nutzenden im Schema der Erfolgsorientierung vor allem etwas über ihre Kompeten‐ zen und ihren Status im Feld aus. Im einen Fall wird der Like als subjektive Auszeichnung gedeutet, im anderen Fall als objektive - in beiden Schemata stellen sie jedoch denjenigen Faktor dar, an dem sich Handeln und Denken der Nutzenden konkret ausrichtet. Etwas anders liegt der Fall für das Schema der Beziehungspflege. Der Like sticht hier in seiner Bedeutung weniger stark aus den allgemeinen Feedbackstrukturen heraus. Ihm wird ganz im Gegenteil eher Misstrauen und Skepsis entgegengebracht. Im Schema der Beziehungspflege wird der Like in seiner Wertigkeit relativiert bis nivelliert - ihm wird weder besondere subjektive noch objektive Bedeutung attestiert. Stattdessen wird eine zu starke Fixierung als Fetisch oder Narzissmus stigmatisiert. Der Like spielt in diesem Schema also keine herausragende Rolle, ist aber trotz allem ein tragendes Element und für die in diesem Schema bedeutsame Freundschaftskommunikation 6.3 Zusammenfassung 361 konstitutiv. Er gilt im Rahmen freundschaftlichen Austausches als Min‐ destmaß gegenseitiger Anerkennung. So geht die Abwertung des Likes in der öffentlichen Kommunikation mit einer Aufwertung des Likes in der Freundschaftskommunikation einher. Der erwartbare Like ist hier mehr wert als der von weniger vertrauten oder gar fremden Personen. Bei genauerer Betrachtung ist aber nicht die Vergabe eines Likes, sondern vor allem die potentielle Unterlassung eines Likes bedeutungsvoll. Der Like fungiert als Mittel beständiger wechselseitiger Versicherung von Aufmerksamkeit und Verbundenheit unter Freunden und wird erst wirk‐ lich relevant vor dem Horizont seines Ausbleibens. Insofern entspricht der Austausch von Likes im Schema der Beziehungspflege eher einem Ritual als einer (Geld-)Transaktion (Erfolgsorientierung) oder einem Kom‐ pliment (Bestätigungssuche). 6.3.2 Selbst und Authentizität Im Schema der Bestätigungssuche ist die starke subjektive Bedeutung der Likes gekoppelt an den hohen Grad der Identifikation mit dem eigenen Profil oder den eigenen Bildern. Konträr hierzu lässt sich im Schema der Erfolgsorientierung eine bewusste Immunisierung gegenüber den Anmutungen der Likes - und auch der Follower - feststellen, die einher geht mit einer Distanzierung vom eigenen Profil. Das Selbstbild, das man auf Instagram inszeniert und präsentiert, wird im Schema der Erfolgsori‐ entierung nicht als Repräsentation des eigenen Selbst verstanden, sondern als mediale Figur und Rolle, die man spielt. In diesem Schema überwiegt sowohl im Hinblick auf die Bedeutung des Likes als auch der Selbstidentifi‐ kation ostentative Nüchternheit - es wird strategisch eine emotionale Ab‐ kopplung angestrebt. Im Schema der Beziehungspflege herrscht hingegen ein gewisser Pragmatismus - man sagt sich vom eigenen Profil nicht als Kunstprodukt los, versteht es aber auch nicht als visuelle Selbstdoublette. Das Profil wird hier eher als Archiv von Selbstdokumenten verstanden. Diese zeigen Teilaspekte des Selbst und des eigenen Lebens, spiegeln aber nur bedingt die eigentliche Persönlichkeit wieder und fallen damit auch nicht in eins. Mit den unterschiedlichen Graden der Selbstidentifikation geht auch ein anderes Authentizitätsverständnis einher. Hierzu muss bemerkt werden, dass sich die Frage nach der Authentizität den Befragten nicht automatisch stellt, d. h. von der Plattform zugetragen wird. Es handelt sich vielmehr um eine für die Spätmoderne typische Selbstinter‐ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 362 pretationsfolie und einen Problemkomplex, der sich mit der Zunahme und Veränderung von Selbstthematisierungen im Verlauf der Moderne hin zur Postbzw. Spätmoderne herausgebildet hat (vgl. Schroer 2006). Auch abseits von Instagram hat sich das Konzept der Authentizität zu einer tragfähigen, aber auch umstrittenen Subjektivierungsschablone ent‐ wickelt (vgl. Herma 2019). Wie umstritten das Konzept ist, lässt sich daran erkennen, wie es in den drei Nutzungsschemata verstanden und integriert wird. Im Schema der Bestätigungssuche fungiert es als Selbstanspruch und Bildhandlungsmaxime und wird sehr bewusst reflektiert. Gleichzeitig konfligiert es aber mit plattformspezifischen Anforderungen. So sehen sich die Befragten im Schema der Bestätigungssuche herausgefordert, ihren Authentizitätsanspruch mit Inszenierungspraktiken zu versöhnen. Sie nehmen einerseits die Notwendigkeit wahr, idealisierte Selbstbilder zu teilen und greifen zu diesem Zweck auf unterschiedliche Funktionen der Bildbearbeitung zurück, um sich durch möglichst ansprechende und schöne Bilder für Likes, Follower und Kommentare zu empfehlen. Ande‐ rerseits verstehen sie diese idealisierenden Bildpraktiken auch als Wider‐ spruch gegenüber dem Konzept der Authentizität. Die starke Identifika‐ tion mit dem eigenen Profil ist dabei sowohl der Grund für das Festhalten am Authentizitätsanspruch als auch der Grund für die idealisierenden Bildpraktiken, welche die erstrebten Bestätigungen garantieren sollen. Die Befragten im Schema der Bestätigungssuche befinden sich also in einer Situation des double-bind. Sie lösen die widersprüchlichen Anrufungen aber recht pragmatisch, wenn auch nicht restlos befriedigend auf, indem sie beiden Seiten konzedieren: Der Authentizitätsanspruch wird gewahrt durch Verzicht auf zu umfangreiche und invasive Bildbearbeitung, Bestä‐ tigung und Feedback wiederum werden gesichert durch Rückgriff auf moderate Formen des Editing. Im Schema der Erfolgsorientierung und im Schema der Beziehungspflege wird der Konflikt zwischen Authentizität und Bildbearbeitung vermieden, indem sich jeweils für eine der beiden Seiten entschieden wird. Im Schema der Erfolgsorientierung wird dezidiert auf Künstlichkeit und idealisierte Bildwelten gesetzt und der Anspruch an Authentizität aufgegeben. Dies kann nur vor dem Hintergrund ei‐ ner geringen Identifikation mit dem Profil geschehen. Im Schema der Erfolgsorientierung hat das Profil für die Nutzenden nur bedingt mit dem eigenen Selbst zu tun, weswegen hier auch kein Anspruch an Authentizität greift. Im Schema der Beziehungspflege wiederum wird Authentizität wie selbstverständlich für das eigene Profil beansprucht. Hierzu wird gezielt 6.3 Zusammenfassung 363 auf einen Großteil der Bildbearbeitungsmöglichkeiten verzichtet, eigene, der Manipulation verdächtige Bildhandlungen wiederum werden in ihrer wirklichkeitsverzerrenden Funktion relativiert und als legitime, nicht-ma‐ nipulative Formen der Bildverschönerung ausgewiesen. Die Entwertung idealisierender Bildpraktiken ist hier wiederum nur reibungsfrei möglich auf Basis der beschriebenen allgemeinen Entwertung von Resonanzmar‐ kern wie Likes. 6.3.3 Gruppengefühl Bedeutende Unterschiede lassen sich aber nicht nur im Hinblick auf die Frage nach dem Ich, sondern auch nach dem Wir verzeichnen. Mit den drei Schemata gehen drei jeweils sehr verschiedene Wahrnehmun‐ gen und Auffassungen von Gemeinschaftlichkeit und Miteinander auf Instagram einher. Das Gemeinschaftsgefühl und -gefüge im Schema der Bestätigungssuche ist das komplexeste und umfassendste. Die Commu‐ nity, der man sich auf Instagram zugehörig fühlt, wird Gemeinschaften im Offline-Leben funktional gleichgestellt. Ihr wird in diesem Schema die gleiche oder zumindest eine ähnliche Bedeutung wie Offline-Kreisen attestiert, zum Teil werden die Online-Bekanntschaften und Freunde sogar stärker wertgeschätzt. Aus der Perspektive der Befragten handelt es sich bei der Instagram-Community also um eine vollwertige Gemeinschaft: sie führen füreinander bedeutungsvolle Beziehungen oder gehen zumin‐ dest starke parasoziale Verhältnisse ein, die ihnen ein ähnliches Gefühl von Verbundenheit vermitteln. Bisweilen überführt man die Bekannt‐ schaften und Freundschaften aus dem Netz sogar in den Offline-Alltag. Dreh- und Angelpunkt sind hierbei die gemeinsamen Interessen: Die Instagram-Gemeinschaft und die Freund- und Bekanntschaften, die sich dort herausbilden, werden im Schema der Bestätigungssuche durch Geis‐ tesverwandtschaft begründet, in Abgrenzung zum Offline-Freundeskreis, der, verglichen damit, eher auf die physische Nähe zueinander und die gegenseitige Verfügbarkeit zurückgeführt wird. Die Befragten im Schema der Bestätigungssuche betonen ihre emotionale Verbundenheit mit der Instagram-Community und wie diese sich auf sie und ihr Leben auswirkt: Anerkennung, Selbsterkenntnis, Motivation, soziale Anbindung sowie die Möglichkeit gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamer Unterneh‐ mungen sind nur einige der Funktionen, welche die Gemeinschaft auf Instagram im Schema der Bestätigungssuche für die Befragten übernimmt. 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 364 Im Vergleich dazu fällt das Gemeinschaftsgefüge in den anderen bei‐ den Schemata unterkomplex aus, die Community wird jeweils auf eine bestimmte Funktion reduziert. Im Schema der Erfolgsorientierung wird die Community zum Netzwerk umgedeutet, das nur noch eine spezielle nutzenorientierte Bedeutung hat. Das Netzwerk dient dazu, möglichst viele Kontakte, tendenziell also eher weak ties anstatt strong ties (vgl. Granovetter 1973 und Kap. 3.3.5), zu knüpfen und so durch Erhöhung von Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit die eigene Position im Feld zu verbessern und im Status zu steigen. Andere Nutzende werden im Schema der Erfolgsorientierung vorwiegend unter rationalen Gesichtspunkten betrachtet und nicht über ihre Individualität, sondern über ihre Funktion als bspw. KooperationspartnerInnen, KonkurrentInnen, Follower oder VermittlerInnen definiert. Emotionale Aspekte, z. B. wechselseitige An‐ erkennung und persönliche Bindung, spielen in diesem Schema eine allenfalls untergeordnete Rolle. Die Herstellung der Kontakte geschieht strategisch und teils sogar ohne direkten Kontakt (bspw. über den Hashtag like4like). Die einzelnen Nutzenden erweisen sich in diesem Schema als entsprechend austauschbar. Anders liegt der Fall für das Schema der Beziehungspflege. Hier wird die Instagram-Gemeinschaft auf einige wenige, bedeutungsvolle und per‐ sönliche Beziehungen (also auf ‚strong-ties‘) reduziert. Dabei handelt es sich in der Regel um einen vergleichsweise kleinen Kreis an Personen, die man bereits aus dem Offline-Leben kennt und mit denen man in einem freundschaftlichen oder quasi-freundschaftlichen Verhältnis steht. Die Followerschaft setzt sich zwar nicht ausschließlich aus Freunden und Freundinnen zusammen und Umgang findet auch mit anderen Nut‐ zenden statt, immer jedoch in einem bewusst begrenzten Rahmen. Im Schema der Beziehungspflege kommt es daher auch nicht selten vor, dass die Privat-Einstellung der Profile genutzt wird. Auf diese Weise wird kontrolliert und beschränkt, wer die eigenen Inhalte sehen kann und sichergestellt, dass aus der teilöffentlichen peer-to-peer-Kommunikation keine vollöffentliche Kommunikation wird. Allen Nutzenden, die nicht zum Freundeskreis gehören, wird wenig bis kaum Beachtung geschenkt und auch kaum Bedeutung zugeschrieben. Sie spielen im Schema der Beziehungspflege lediglich eine Zuschauerrolle - sie stellen das Publikum, vor dem die teilöffentlichen Freundschaftsinszenierungen stattfinden. Diesen Inszenierungen wird im Schema der Beziehungspflege ein hoher Wert und große emotionale Bedeutung beigemessen, während im Kontrast 6.3 Zusammenfassung 365 dazu reinen Online-Bekanntschaften die soziale Relevanz abgesprochen wird. Letztere Beziehungen werden als defizitär angesehen allein auf‐ grund ihrer digitalen Vermitteltheit. Das Primat und Maß aller Dinge stellt die Beziehung in körperlicher Kopräsenz dar - sie gilt in diesem Schema als Grundvoraussetzung für bedeutungsvolle Kommunikation auf Instagram. So wird die Plattform im Schema der Beziehungspflege auch nicht als Konstituens von Beziehungen verstanden, sondern lediglich als Kommunikationsraum und pragmatisches Mittel der Kontaktwahrung und Kontaktpflege. 6.3.4 Hauptsemantiken Führt man alle beobachten Unterschiede zusammen, so ergibt sich für jedes Schema im Gesamtbild eine typische Hauptsemantik, welche all diesen Unterschieden zugrunde liegt. Im Kern spiegeln sich diese in der Aneig‐ nung des visuellen Zeichenmodus wider - so werden innerhalb der drei Schemata jeweils unterschiedliche Bildeigenschaften und -qualitäten be‐ tont: Die Effizienz im Schema der Erfolgsorientierung, der Suggestivcha‐ rakter im Schema der Bestätigungssuche und die Wahrnehmungsnähe im Schema der Beziehungspflege). Im Schema der Erfolgsorientierung wird die Effizienz des Zeichenmodus von einer strengen Kosten-Nutzen-Logik vereinnahmt: Man möchte schnell sichtbar werden und möglichst viel Aufmerksamkeit erhalten. Im Schema der Beziehungspflege steht die Wahrnehmungsnähe des Bildes im Dienste einer eher pragmatischen Ausrichtung: Man möchte Freunde und Co. so direkt bzw. so nah wie möglich am eigenen Leben teilhaben lassen und umgekehrt möglichst genaue Einblicke in und Eindrücke von deren Leben erhalten. Der Sugges‐ tivcharakter des Bildes wird im Schema der Bestätigungssuche wiederum dafür genutzt, Außeralltäglichkeit und Personenkult zu inszenieren und durch die Bilder ein intensives emotionales Erleben zu ermöglichen. Alle Eigenschaften spielen auch in den anderen Schemata eine Rolle, da sie das Zeichensystem Bild als Ganzes auszeichnen und nicht selektiv eingesetzt werden können. Wichtig und instruktiv ist, welche Eigenschaften in den jeweiligen Schemata als besonders relevant erachtet und im Bildhandeln in den Vordergrund gerückt werden. Diese Eigenschaften entsprechen wie erwähnt den grundlegenden Se‐ mantiken der drei Schemata. Die Bestätigungssuche ist ausgezeichnet durch eine starke Orientierung an innerem Erleben: Die Befragten geben 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 366 an, intensive, emotionale Erfahrungen von Bestätigung und Gemeinschaft machen zu wollen, sich gut fühlen zu wollen, in alternative Traumwel‐ ten und hypothetische Lebensstile einzutauchen und zu entfliehen oder schlicht im Genuss der Ästhetik von Menschen, Landschaften oder schö‐ nen Aufnahmen per se zu schwelgen. Zugleich wird Instagram im Schema der Bestätigungssuche als Möglichkeit der Selbstoptimierung verstanden: Es helfe dabei, selbstbewusster zu werden, sich zu neuen Aufgaben zu motivieren und das eigene Selbst in Stil- und anderen Fragen weiterzu‐ entwickeln. Auf den ersten Blick scheint in diesem Schema also die Innenorientierung zu überwiegen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Das Ich und die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse werden zwar ins Zentrum gestellt, aber nicht unabhängig gemacht von der Außenwelt. Die Community, von der man Teil sein will, welcher man gefallen und von der man soziale Anerkennung erhalten möchte, spielt eine zentrale Rolle. Das Schema zeichnet sich insgesamt also durch ein stark ambivalentes Verhält‐ nis von Innen- und Außenorientierung aus. Eine rhetorische Abgrenzung der Befragten dieses Schemas findet gegenüber Praktiken und Nutzungs‐ weisen statt, die am Schema der Erfolgsorientierung ausgerichtet sind. Im Fokus stehen insbesondere die damit einhergehenden Darstellungsweisen, denen ihre unverhohlene Künstlichkeit und Inszeniertheit vorgeworfen wird. Mittels dieser Kontrastfolie wird ethische Integrität demonstriert und die eigenen Bildpraktiken als legitimer Kompromiss gerahmt. Das Schema der Erfolgsorientierung ist wiederum geprägt von einer rational-unternehmerischen Verwertungslogik. Instagram wird hier ge‐ nutzt, um bestimmte Zielstellungen zu verfolgen, die ausgerichtet sind an den plattforminternen Maßstäben für Leistung und Status. Dabei sind Bild‐ gestaltung, Profil-Design, Kommentierung und Interaktion in erster Linie Mittel zum Zweck und unterliegen strategischen Gesichtspunkten sowie Kosten-Nutzen-Erwägungen. Das Ich im Schema der Erfolgsorientierung ist ein unternehmerisches, das Publikum wird als Absatzmarkt verstanden. Emotionales Erleben wird hier nicht gesucht, sondern im Gegenteil als Hindernis verstanden - es wird zum Zwecke der Aufmerksamkeitsgene‐ rierung inszeniert, stellt aber kein intrinsisches Motiv dar. Das Interesse der Befragten im Schema der Erfolgsorientierung ist ein objektives und quasi-ökonomisches: Like- und Followerzahlen - die Währungen der Aufmerksamkeit - sollen vermehrt werden und optimalerweise sogar finanzieller Gewinn mit dem eigenen Profil gemacht werden. Es überwiegt ein nüchternes Verhältnis zur Plattform und den anderen Nutzenden, 6.3 Zusammenfassung 367 die in erster Linie als soziales Kapital verstanden werden. Im Vergleich zu den anderen beiden Schemata erweist sich auch das Statusdenken hier als ausgeprägter. Konkrete Abgrenzungen finden im Schema der Erfolgsorientierung insbesondere gegenüber der hohen emotionalen Affi‐ zierbarkeit und Abhängigkeit statt, die das Schema der Bestätigungssuche kennzeichnen - gegenüber allen also, die Instagram ‚zu ernst nehmen‘. Die Befragten entwerfen sich vor diesem Hintergrund als zweckrationale Vernunftmenschen. Das Schema der Beziehungspflege wiederum ist durchdrungen von einer pragmatisch-ritualistischen Semantik. Instagram wird als Mittel gesehen, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben und einander auf einfache und zugleich anschauliche Art und Weise - nämlich in Form von wahrnehmungsnahen Bildern - vom eigenen Leben zu berichten. Ein Augenmerk liegt darauf, keine der Funktionen zu überstrapazieren und den Plattformaktivitäten auch nicht über Gebühr Bedeutung beizu‐ messen. Als pragmatisch erweist sich auch das Verständnis vom eigenen Profil. Das Profil stellt in diesem Schema kein hypostasiertes Ich dar. Stattdessen wird es als nützliche technische Oberfläche verstanden, um Bilder zu archivieren, das Selbst in diesen Bildern zu dokumentieren und sie in ansehnlicher Weise für sich und andere aufzubereiten. Neben der pragmatischen Ausrichtung ist das Schema der Beziehungspflege aber auch von einer latent rituellen Ausrichtung gekennzeichnet. Im verbindlichen Austausch von Bildern und Bestätigungen unter Freunden wird rituell-symbolisch Freundschaft inszeniert, wobei ein ritueller Bruch als gesichts- und freundschaftsbedrohender Akt verstanden wird. Sofern die Form allerdings gewahrt bleibt, überwiegt ein spielerisches Verhältnis, in welchem die eigenen Aktivitäten als ungezwungener, unverfänglicher Zeitvertreib und lustvoller Austausch mit Freunden wahrgenommen wer‐ den. Kennzeichnend für das Schema der Beziehungspflege ist eine starke Gemeinschaftszentrierung, sprich: Das Ich wird vor dem Hintergrund des Kollektivs (in diesem Fall der peer-group) definiert. Das Ich ist trotz allem in erster Linie nach innen orientiert - welche Bilder man bspw. zeigt, wird weniger vom Publikum als von den eigenen Vorlieben abhängig gemacht. So ergibt sich für dieses Schema eine ausgeprägte Innenorientierung bei gleichzeitiger Gemeinschaftszentriertheit. Eine explizite Abgrenzung wird gegenüber der Like-und Followerfixiertheit vorgenommen, die cha‐ rakteristisch ist für sowohl das Schema der Erfolgsorientierung als auch das der Bestätigungssuche. Abgelehnt wird alles, was den Verdacht der 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 368 Maßlosigkeit weckt, während Kontrolliertheit und Bedachtsamkeit positiv akzentuiert werden. Zur Verdeutlichung hier noch einmal ein Überblick über die Schematamerkmale (Tab. 5) und Schlüsselkategorien (Tab. 6) im Einzelnen und im Vergleich miteinander: Schema Schemamerk‐ male Bestätigungssuche Erfolgsorientie‐ rung Beziehungspflege Handlungslogik Handlungslogik: Erlebnisorientie‐ rung / Selbstopti‐ mierung Handlungslogik: Nutzenorientie‐ rung / Verwer‐ tungslogik Handlungslogik: Pragmatismus / Rituallogik Distinktion Abgrenzung zur Inauthentizität er‐ folgsorientierter Ausrichtungen Abgrenzung zur emotionalen Affi‐ zierbarkeit bestäti‐ gungssuchender Ausrichtungen Abgrenzung z. Like- und Follo‐ werfixiertheit d. bestätigungssuch‐ enden u. d. erfolgs‐ orientierten Aus‐ richtungen Tab. 5: Schematamerkmale Schema Schlüssel‐ kategorien Bestätigungssuche Erfolgsorientierung Beziehungspflege Resonanz Aufmerksamkeit und Bestätigung durch Öffentlichkeit wird gesucht emotionale Distanz‐ nahme Resonanz der Freunde ist wichtig Aufwertung des ei‐ genen Selbst Positives Feedback als Bestätigung der eigenen Arbeit Gleichgültigkeit ge‐ genüber Like- und Followerzahlen im Allgemeinen Druck durch Ver‐ gleich, empfundene „Like-Sucht“ Feedback-Optimie‐ rung Zu großes Publikum wird als potentielle Gefahr wahrgenom‐ men Arbeit am Selbst Dient der Profilie‐ rung u. Ich-Erpro‐ Selbstbewusste An‐ nahme eines „Cy‐ ber-Ichs“ Dient der Kontakt‐ pflege bzw. -her‐ stellung 6.3 Zusammenfassung 369 bung, starke Selbst‐ reflexion Authentizität und Idealisierung be‐ stehen als wi‐ dersprüchliche An‐ sprüche und müssen austariert werden Gezielt künstliche bzw. idealisierte In‐ szenierung Tagebuch-Ersatz, Selbstdokumenta‐ tion Starke Identifika‐ tion mit d. eig. Profil, Instagram als Möglichkeit, das Selbst / den Hori‐ zont zu erweitern Begrenzte Identifi‐ kation mit d. eig. Profil Leichte Identifika‐ tion mit d. eig. Profil Nutzungsin‐ teresse Steigerung des Selbstwertgefühls, Streben n. Gefühls‐ intensität Follower- und Like-Sammeln, Jagd nach Zahlen Rituelle Freund‐ schaftsbekundun‐ gen Alltagsaus‐ bruch / Eskapismus, serious leisure Erfolg und Heraus‐ forderung/ Arbeit Teilen v. Freude / Gefüh‐ len, Selbstdokumen‐ tation, Unterhal‐ tung/ Zeitvertreib Synchronisation von ästh. Empfin‐ den u. Publikumsge‐ schmack Strategische Orien‐ tierung am ästh. Ge‐ schmack der „Ziel‐ gruppe“ Orientierung an ei‐ genen ästhetischen Kriterien Sinnwelt Gruppengefühl / Zugehörigkeit: neue Gleichgesinnte fin‐ den Gruppengefühl / Zugehörigkeit: Netzwerken Gruppengefühl / Zugehörigkeit: Freundschaftspflege Sinn- und lustbe‐ tonte Kommunika‐ tion, Idealisierung als Erlebnispraxis Effiziente Kommu‐ nikation, Idealisie‐ rung als Mittel zum Zweck Kommunikation zur Information und Motivation, Ideali‐ sierung reduziert auf Stimmungsma‐ nagement starker Einfluss auf Alltag begrenzter Einfluss auf Alltag Wenig Einfluss auf Alltag Interaktions‐ regeln Herstellung von Au‐ genhöhe, virtuelles Kennenlernen Strikte Grenzwah‐ rung Bedingte Grenz‐ wahrung: Intimität ist Offline-Freund‐ 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 370 schaften vorbehal‐ ten Aufmerksamk. als „Geben und Neh‐ men“, symm. Inter‐ aktion Zweckmäßige Rezi‐ prozität Bedingte, selek‐ tive Reziprozi‐ tät: Freundschafts‐ dienste Phatische Kommu‐ nikation, künstl. Harmonie Hierarchisierung, (bedingt) statusba‐ sierte Kommunika‐ tion Symmetrische Interaktion, peer-Kommunika‐ tion Tab. 6: Überblick Schlüsselkategorien und Schemata 6.3.5 Plattformspezifische Gemeinsamkeiten Die soeben genannten Unterschiede beruhen auf schemaspezifischen Aus‐ deutungen und Aneignungen der Plattform, die wiederum Strukturierungen entlang verschiedener Hauptsemantiken aufweisen. Dies deutet in diesen Bereichen auf einen vergleichsweise geringen Strukturierungsgrad der Plattform selbst hin. Sprich: Instagram stellt zwar die funktionalen Rahmen‐ bedingungen der kommunikativen Oberfläche zur Verfügung, das Interface hat aber wenig Einfluss auf das konkrete Verhalten der Nutzenden. Die Individuen und ihre habituellen Dispositionen, Motive und Interessen sind entscheidend für die Nutzungsweise. Dies trifft aber nicht auf alle Aspekte der Nutzungsweise zu. Einige Phänomene deuten auf stark plattforminduzierte Nutzungsweisen hin, da sie schemaübergreifend auftauchen und eine gewisse Konstanz aufweisen. Da wären zum einen die beiden eng mit einander zusammenhängenden Aspekte der Bildidealisierung und der Selbstthematisierung: In allen drei Schemata spielt das Bearbeiten und Verschönern von Bildern eine größere Rolle. Zwar besteht insbesondere im Schema der Beziehungspflege der An‐ spruch, nur bedingt die Möglichkeiten der Bildselektion und sehr begrenzt die der Bildbearbeitung einzusetzen, doch letztlich wird im Rahmen aller drei Schemata darauf zurückgegriffen. Nun mag man den ‚Sinn für das Schöne‘ für eine anthropologische Konstante halten, im Rahmen digitaler und auch visueller Kommunikation stellt es trotzdem keine Selbstverständlichkeit dar, dass diesem in einem derartigen Umfang nachgegangen und Raum gelassen wird. Auf anderen Plattformen steht das Ludische (9gag), das Triviale (WhatsApp) oder das Momenthafte (Snapchat) der Bilder stärker 6.3 Zusammenfassung 371 im Vordergrund. Damit zusammen hängt die starke Fokussierung auf das Ich. Während natürlich auch auf anderen Plattformen Selfies oder andere Selbstbilder geteilt und verschickt werden, steht keine andere Plattform so im Zeichen des Ich wie Instagram. Zwei weitere schemaübergreifend auftauchende Phänomene scheinen indirekt damit zusammenzuhängen: die starke, teils rigide Orientierung an reziprokem Verhalten und die Harmonisierung des Kommunikationsraums. Wenngleich es sich auch bei Reziprozität um ein allgemeines Phänomen handelt, das sich in allen Bereichen des Miteinanders wiederfindet, so nimmt wechselseitiges Verhalten im Alltag doch meist die Form impliziter und diffuser Reziprozität an (vgl. Hillebrandt 2009). In allen der hier beschrie‐ benen drei Nutzungsschemata wird jedoch sehr explizit auf das Prinzip der Reziprozität Bezug genommen: Es werden sehr konkrete Erwartungen diesbezüglich geäußert und entsprechende Strategien verfolgt. Eine Rolle spielt hierbei sicherlich die Mess- und Überprüfbarkeit der Wechselseitigkeit - in Form von Likes oder Kommentaren wird sie sichtbar, auszählbar und normierbar. Es entsteht ein Maßstab für den Austausch von Aufmerksamkeit und Anerkennung, auf das man sich notfalls berufen kann. Die Harmoni‐ sierung des Kommunikationsraums beruht sowohl auf dem phatischen Kommunikationsstil, der in den Schemata der Bestätigungssuche und der Beziehungspflege präferiert wird, als auch auf dem nüchtern-sachlichen Kommunikationsstil, der das Schema der Erfolgsorientierung kennzeichnet. Bei diesen Stilen handelt es sich um teils sehr bewusst eingesetzte Praktiken und Strategien, die der Herstellung eines harmonischen Kommunikations‐ raums dienen sollen: reibungsfrei, unverfänglich, bestätigend und erwart‐ bar. Auf Instagram finden sich nur sehr selten explizite Zurückweisungen, opponierende Sprechakte (vgl. Maleyka & Oswald 2017) oder Rhetoriken der Ironie und Coolness (vgl. Barth 2016), und schemaübergreifend wurde von den Befragten immer wieder die fast völlige Absenz ‚negativen Feedbacks‘ betont. Nun haben wir schon gesehen, dass die visuelle Glättung insbesondere im Schema der Bestätigungssuche flankiert wird von einer entsprechenden Anpassung der Kommentare, d.h.: Kommentare, die zwar nicht negativ sind, aber dennoch nicht so richtig ins gewünschte Gesamtbild passen, werden nicht selten gelöscht. Es steht zu vermuten, dass auch die Praktiken der Reziprozität und kommunikativen Harmonisierung auf die Praktiken der Idealisierung zurückverweisen und sich alle drei Praktiken gegenseitig verstärken und so geradlinige, eindeutige und sensorisch wie symbolisch 6 Empirische Ergebnisse I: Nutzungsschemata 372 belohnende Kommunikationsstrukturen etablieren. Instagram als Kommu‐ nikationsraum scheint derartige Praktiken und Strukturen nahezulegen, zu fördern und teils auch herauszufordern. Ob es sich dabei um willkürliche, aber eingespielte und eigendynamische Plattformkonventionen handelt oder ob bestimmte technische Affordanzen dabei eine größere Rolle spielen, lässt sich nur schwer beurteilen. Es gibt jedoch einige Hinweise. So legen z. B. der häufige Verweis auf die „cleane Oberfläche“ (vgl. das Zitat in Kap. 6.2.2.3) und das minimalistische Design der Profile nahe, dass zumindest das Phänomen der Idealisierung nicht unabhängig von einer Betrachtung des Plattformdesigns erklärt werden kann. Im nächsten Kapitel werden einige dieser Punkte noch einmal aufgegriffen und in ein integratives theoretisches Erklärungsmodell überführt, welches das Zusammenspiel der Plattformstruktur mit Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern berücksichtigt. Letztlich wird es jedoch anderer und komplexerer Verfahren und experimenteller Designs bedürfen, um Fragen des direkten Einflusses und der Kausalität beantworten zu können. An dieser Stelle muss es genügen, Problembereiche aufzuzeigen und einige theoretische Lösungs‐ vorschläge in Form von Thesen anzubieten. 6.3 Zusammenfassung 373 1 Dass im Sample der vorliegenden Arbeit nur diese drei Schemata und die beiden Kombinationen fallspezifisch auftraten, bedeutet nicht, dass andere Kombinationen nicht möglich sind oder nicht noch andere Schemata existieren. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum Im Folgenden werden die Ergebnisse aus Kap. 6 verdichtet und in Beziehung gesetzt zu den theoretischen Prämissen der sozialen Situation. Hierzu werden aus den in Kap. 6 beschriebenen idealtypischen Nutzungsschemata fallspezifische, d. h. realtypische Nutzungstypen abgeleitet (vgl. Kap. 2.2.3.2 zur Schema- und Typenbildung). Wie bereits erwähnt sind Nutzungssche‐ mata nicht fallspezifisch - innerhalb eines Falls können sich Merkmale unterschiedlicher Schemata zu distinkten Merkmalskombinationen verbin‐ den. Tatsächlich ließ sich im vorliegenden Sample kein Fall nachweisen, der nur Merkmale eines einzigen Schemas aufwies. 1 Die Fälle definierten sich viel eher durch ihre jeweils spezifische Nähe bzw. Distanz zu den Schemata. Dabei zeigte sich, dass es neben den Fällen, die überwiegend Merkmale eines der drei zuvor bestimmten Schemata aufwiesen, auch Fälle gab, bei denen Merkmale des ersten Nutzungsschemas mit den Merkmalen entweder des zweiten oder des dritten Nutzungsschemas zu in etwa gleichen Teilen zusammengingen. Lediglich eine verhältnisähnliche Kombination der Merkmale des zweiten und des dritten Nutzungsschemas konnte für keinen der Fälle nachgewiesen werden. Insgesamt konnten im Sample fünf unterschiedliche Fallbzw. Nutzungs‐ typen nachgewiesen werden. Für drei davon ist jeweils nur eines der drei Schemata hauptkonstitutiv, d. h. die Eigenschaften der jeweiligen Nut‐ zungstypen weisen überwiegend die Charakteristika von vor allem einem Schema auf. Die anderen beiden ‚gemischten‘ Nutzungstypen‘ ergeben sich hingegen aus der Verbindung des Schemas der Bestätigungssuche mit jeweils einem der beiden anderen Schemata. Sprich: die beiden Mischtypen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die Merkmale des ersten Schemas kombiniert mit entweder denen des zweiten oder des dritten Schemas auftreten und das in einem etwa ähnlichen Verhältnis. In Abb. 35 sind die fünf Nutzungstypen in ihrer schemaspezifischen Zusammensetzung noch einmal veranschaulicht: Abb. 35: Nutzungstypen und Nutzungsschemata, Modell, eig. Darst. Im Folgenden wird jeder Nutzungstypus zuerst anhand von zwei Fallvignet‐ ten exemplarisch veranschaulicht werden und anschließend theoretisch verdichtet und generalisiert. Dabei wird Bezug genommen auf die in Kap. 4.5 dargestellten Prämissen der von Knorr Cetina (2012a) skizzierten Theorie der synthetischen Situation. Die Nutzungstypen werden entlang ihrer Ausprägungen in der subjektiven und der sozialen Dimension, in der Erlebnisdimension, in der zeitlichen und räumlichen Dimension sowie in der evaluativ-informationellen und der Sichtbarkeitsdimension beschrieben. Die subjektive Dimension beschreibt das auf Instagram zum Ausdruck kommende und kommunikativ inszenierte Selbst und das damit einherge‐ hende Selbstverständnis wie auch die Bezüge, die von den Einzelnen zur Plattform und deren Funktionen hergestellt werden. Die soziale Dimension beschreibt die Art der Beziehungen, die eingegan‐ gen werden und die damit einhergehenden Praktiken der Vergemeinschaf‐ tung. Die Erlebnisdimension beschreibt die Erwartungen, die an das affektive Erleben im Raum Instagram gestellt werden wie auch die konkreten Effekte, welche die Nutzenden für sich feststellen. Die zeitliche Dimension beschreibt die Art und Richtung der zeitlichen Strukturierung und Abstimmung der kommunikativen Praktiken auf In‐ stagram und im Offline-Alltags. Dabei stehen u. a. Fragen der Feedback‐ synchronisierung im Vordergrund, wie sie für synthetische Situationen charakteristisch sind. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 376 Die räumliche Dimension beschreibt die sinnliche Konstitution des Er‐ fahrungsraums Instagram als auch dessen Durchdringung mit Elementen und Aspekten des Offline-Alltags und umgekehrt. Die Sichtbarkeitsdimension beschreibt den Adressatenkreis, seine Aus‐ prägung entlang des Spektrums öffentlich/ privat sowie der damit einherge‐ henden Respons- und Präsenzstrukturen. Die evaluativ-informationelle Dimension beschreibt die Bedeutung der evaluativen Metadaten, ihre Einbindung in die kommunikativen Praktiken sowie den Grad an Schicksalshaftigkeit, der diesen Praktiken attestiert wird. In Anschauung all dieser Dimension wird überprüft werden, ob und inwieweit Instagram nicht nur theoretisch synthetische Situationen schafft, sondern auch auf der praktischen Ebene entstehen lässt. Weiterhin soll betrachtet werden, inwieweit nutzerInnenspezifische Aneignungsweisen dabei interferieren. Anders ausgedrückt: es soll untersucht werden, ob synthetische Situationen vorwiegend den Strukturen einer kommunikati‐ ven Plattform - in diesem Fall Instagram - geschuldet sind, oder ob sie nicht in gleichem oder sogar stärkerem Maße vom Nutzungsverhalten der Nutzenden abhängig sind. 7.1 Nutzungstypen 7.1.1 Nutzungstypus 1: Rational-unternehmerischer Typus Fallvignette: Irene, w28, Lehramtsstudentin Bevor Irene mit Instagram anfing, pflegte sie bereits seit einiger Zeit einen ‚normalen‘ Blog. Zum Bloggen ist Irene „aus Langeweile“ gekommen. Bevor sie damit anfing, habe sie selbst viele andere Blogs - insbesondere Food-Blogs - mit Leidenschaft verfolgt, aber nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, selbst einen Food-Blog zu starten. Die Idee dazu entstand aus einer spontanen Eingebung heraus und dem parallelen Vorschlag ihrer Schwester, die ihr dieses Vorhaben zusätzlich nahelegte und schmackhaft machte. Ihren ‚normalen‘ Blog ergänzte sie erst nach einiger Zeit um einen In‐ stagram-Account. Als Account-Namen wählte sie ihren Spitznamen, 7.1 Nutzungstypen 377 da sie ihren wahren Namen nicht preisgeben wollte. Anfänglich war Irenes Account auf privat eingestellt, erst nach einiger Zeit öffnete sie ihre Seite für die Allgemeinheit - um mehr Reichweite zu erzielen und somit „professioneller“ zu werden. Mittlerweile hatte sich auch die Ausrichtung ihres Blogs schon leicht verändert. Die Food-Thematik hatte sie bspw. um die Themen Lifestyle und Fashion ergänzt, was sie nicht zuletzt mit ihrer Leidenschaft für Mode erklärt und ihrem langjährigen Wunsch, dieses Fach zu studieren. Essen herzurichten, zu fotografieren und zu teilen mache ihr zwar immer noch Spaß, sei im Vergleich mit den anderen beiden Themen aber stark in den Hintergrund gerückt. Diese thematische Mischung nennt Irene ihr „Konzept“. Wenngleich es auch ihren subjektiven Präferenzen entspreche, wären nicht zuletzt strategische Überlegungen ein Grund für die Erweiterung des ‚Portfolios‘ gewesen: Nicht nur bei ihr selbst, sondern auch beim Publikum scheint das Interesse an Fashion und Lifestyle größer zu sein als an einem reinen Food-Account und so sieht man sowohl auf ihrem Blog als auch auf ihrem Instagram-Account mittlerweile sehr viele Fotos, auf denen sie selbst abgebildet ist und auf denen sie Outfits oder „andere Sachen aus meinem Lifestyle präsentiere wie zum Beispiel meine Wohnung“. Die thematische Akzentverschiebung ging für sie einher mit einer neuen Herausforderung: Sich selbst zu fotografieren sei eben doch etwas anderes, als nur Essen zu fotografieren. Dabei geht es ihr weniger um den technischen Aspekt als um die Bewältigung gewisser mentaler Hemmschwellen. Die Vorstellung, sich im digitalen Raum zu exponieren, war Irene erstmal unangenehm und so kostete es sie anfangs einige Überwindung: „Du rückst halt selber so in den Fokus und man muss dafür halt schon n gewisses Selbstbewusstsein haben sich dann so zu präsentiern“. Neben dieser mentalen Herausforderung bedeutete die Neuausrichtung für sie aber auch einen Mehraufwand, da sie nun die Bilder nicht mehr alleine schießen konnte und die zu treffenden Vorkehrungen jeweils auch deutlich aufwändiger wurden: die passende Location musste ausgewählt, der Hintergrund dekoriert oder angepasst werden, es musste für passende Lichtverhältnisse gesorgt und eine passende wie vorteilhafte Pose gefunden werden, mit der sowohl Kleidung, Wohnung oder Szenerie als auch man selbst ins ‚rechte Licht‘ gerückt werden. Das erfordere mindestens zwei weitere Hände, ohne die man ansonsten „nicht so arbeiten“ kann. In der Regel 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 378 holt Irene sich für diese Aufgaben Hilfe von ihrem Partner, ihren Freunden oder der Familie. Nach den Fotoshootings, bei denen oft bis zu 300 Fotos entstehen, müssen die Bilder noch selektiert und bearbeitet werden, was Irene in Eigenregie übernimmt. Auf ihrem ursprünglichen Blog lädt sie mehrere Bilder hoch, auf Instagram hingegen teilt sie immer nur ein einziges Bild, das besonders gelungen ist bzw. hervorsticht. Während die Bilder auf dem Blog ‚nur‘ bearbeitet sind, wendet sie auf das Bild für ihren Instagram-Account zusätzlich immer noch einen extra Filter an. Um aktuell zu bleiben und keine Follower zu verlieren, diszipliniert Irene sich und hält sich so gut es geht an die „Faustregel“, mindestens einmal am Tag etwas zu posten. Sie erkennt jedoch an, dass ihr Privat- und Berufsleben es oftmals nicht ermöglichen, diesem Anspruch ge‐ recht zu werden bzw. es „professioneller zu machen“: „Es gibt natürlich auch Momente wo ich im Privatleben auch mega eingespannt bin und wo ich es auch einfach nicht schaffe und wo ich dann halt auch einfach mal 2, 3 Tage gar nichts mache auf Instagram so“. Neben Studium und zwei Nebenjobs erweist sich Instagram daher nur als „minimaler Nebenverdienst“ - immerhin ist ihr Account mittlerweile so beliebt, dass sie von Firmen hin und wieder Zuwendungen in Form von Produkten oder Outfits erhält, die sie im Gegenzug auf ihrem Account präsentieren muss. Irene stört, dass es auf Instagram durch die Einführung eines neuen Algorithmus zunehmend schwerer wird, Follower „zu generieren“ und mit dem Account zu „wachsen“. Im Feed würden überwiegend nur noch die Accounts angezeigt, die man oft besucht oder deren Bilder man liked. Das schränke die Sichtbarkeit deutlich ein, die Followerzahlen würden nicht mehr im gleichen Umfang steigen wie noch zuvor. Und andererseits erschwere der neue Algorithmus es einem auch, kleineren Accounts zu folgen - selbige haben für Irene oft mehr Wert als die großen Accounts. Sie würden sich mehr Mühe geben als die Großen und hätten die kreativeren Ideen. Irene geht es beim Folgen von Accounts vor allem darum, „inspiriert“ zu werden und etwas dazuzulernen - nicht menschlich-persönlich, sondern in professioneller Hinsicht. Irene möchte aufgrund ihrer elevierten Position auch Verantwortung übernehmen - sie scheint ihre Instagram-Persona weniger als Kunst‐ figur oder soziale Rolle denn als Institution oder Unternehmen zu 7.1 Nutzungstypen 379 verstehen. So sieht sie sich selbst in einer sozialen Verantwortung und mit einer Vorbildfunktion ausgestattet. Entsprechend wichtig ist Irene ihre Außenwirkung und das Feedback. Sie nimmt sich dabei nicht nur thematische Wünsche ihrer Follower zu Herzen - z. B. Anfragen nach Bildern zu bestimmten Einrichtungsgegenständen -, sondern berücksichtigt und thematisiert bspw. auch Kritik hinsichtlich unöko‐ logischer Produktverpackungen. Irene gibt an, gerade angesichts einer oft jungen und stark beeinflussbaren Klientel auch auf das Körperbild zu achten, das sie auf ihrem Account transportiert. Von anderen Essen- und Fitnessaccounts habe sie sich selbst mittlerweile abgewendet, da diese ihrer Ansicht nach falsche Erwartungen und Ansprüche an Aussehen und Ernährung zementieren würden. Ihr stark ausgeprägter moralischer Kompass gerade hinsichtlich der Verbreitung bestimmter Körperbilder geht allerdings mit keinem besonderen Anspruch an Authentizität einher. Instagram soll als Plattform vor allem zwei Funktionen erfüllen: Erstens soll über die Plattform die eigene Sicht‐ barkeit erhöht und professioneller bzw. finanzieller Mehrwert - Profit - erarbeitet werden. Zweitens diene Instagram dazu, „schöne Bilder zu präsentieren“. Damit einher gehe, dass auf Instagram in der Regel alles, was man sieht, gestellt sei und nicht oder nur bedingt dem „real life“ entspreche. Instagram ist für Irene ein Ort der Künstlichkeit und genau das soll es auch sein - diesen Umstand möchte sie nicht ändern, allenfalls Bewusstsein dafür schaffen. Ein Nebeneffekt ihrer Instagram-Aktivitäten sei weiterhin, dass Irene in Alltagsgesprächen oft auf ihren Account und ihren Erfolg ange‐ sprochen werde - teils bewundernd, teils kritisch. Mitunter werde sie dabei auf ihre Instagramaktivitäten und das dort dargestellte Selbst reduziert. Das Gefühl, auch im nicht-digitalen Alltag und als private Person vorwiegend über ihre öffentliche Blogging-Tätigkeit definiert zu werden, stört Irene. Nicht zuletzt deshalb erwägt sie, das Bloggen auf Instagram aufzugeben [Anm. d. Verf.: mittlerweile wurde der Account tatsächlich eingefroren]. Hauptgrund sei aber vor allem der erhöhte Arbeitsaufwand sowie die Verträglichkeit mit ihrem Lehrerinnen-Beruf. Nicht zuletzt würde eine Intensivierung der Insta‐ gram-Aktivitäten einen „Lifestyle“ nach sich ziehen, den Irene ablehnt, da sie fürchtet, dass Instagram ihr Alltagsleben zu sehr dominieren würde - schon jetzt fällt ihr negativ die Frequenz auf, mit der sie auch im Beisammensein mit anderen Menschen zum Handy greift. Irene 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 380 trennt deutlich zwischen Instagram und dem Leben abseits davon und möchte diese Trennung aufrechterhalten. Instagram ist für sie in erster Linie lustbetontes Arbeiten - mit Betonung auf Arbeit - und nicht etwa ein arbeitsbzw. zeitintensives Hobby (serious leisure). Entsprechend identifiziert sie sich über Instagram auch nur in einer bestimmten Rolle und nicht als Person. Fallvignette: Jim, m28, Fitnesstrainer / Youtuber Jim nutzt Instagram überwiegend als Werbeplattform für sich und seinen Youtubekanal. Mit letzterem verdient er Geld, hauptberuflich arbeitet er aber als Fitnesstrainer und möchte auf diese Weise auf sich und seine Trainingsprogramme aufmerksam machen. Für ihn ist es eine einfache und kostenlose Möglichkeit, den eigenen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad zu steigern und sich zu vernetzen. Er versteht sich und seinen Account als Unternehmen im Rahmen einer „New Economy“, das flexibel und vielseitig aufgestellt sein muss. Er bedient neben Youtube und Instagram auch noch weitere Plattformen, die meiste Energie steckt er aber in diese beiden. Sein Instagram-Account weist zum Zeitpunkt der Erhebung über 10.000 Follower auf und steht damit nach Jim an der Schwelle zum „businessmäßigen“. Noch verdient er kein Geld mit Instagram, peilt das aber an und orientiert sich dabei an Vorbildern aus dem flüchtigeren Bekanntenkreis, die dieses Ziel bereits erreicht haben. Die Pflege seines Instagram-Accounts versteht Jim einerseits als praktische Möglichkeit, die eigene „Reichweite“ zu vergrößern, da die Plattform öffentlich und kostenlos ist und mit dem Smartphone bequem im Alltag bespielt werden kann. Andererseits weist er auf die notorische Unterschätzung des zeitlichen Aufwands hin: Instagram ist für Jim Arbeit, ein regelrechter „full-time job, wenn man es richtig professionell macht“. Für einen einzigen Post müsse man mit ungefähr 2 ½ - 3 Stunden rechnen. Angesichts dieses Aufwands müsse man jeweils sehr genau abwägen, ob sich die Arbeit auch lohnt, da man in der Regel, wenn überhaupt, nur einen geringen finanziellen Obolus erhält. Neben dem praktischen Aufwand mache man sich aber auch 7.1 Nutzungstypen 381 ständig Gedanken und sei im Kopf nie frei. Für Jim hat letztlich alles im Alltag ein gewisses Potential, als erfolgreicher Beitrag auf Instagram zu enden, da er hier nicht nur die eher sachbezogenen Themen Fitness und Gaming aufgreift, sondern auch Einblicke in seinen Alltag geben möchte. Auf diese Weise gedenkt er Nähe zu seinen Followern und potentiellen Kunden herzustellen. Ein paar Einschränkungen und „Grenzen“ gibt es jedoch und so hält Jim gezielt einige Aspekte in der Darstellung unter Verschluss, u. a. die Darstellung von Alkohol- und Tabakgenuss. Diese seien zwar Teil seines Alltags, würden aber seinem Image widersprechen - letztlich müsse man „nach wie vor professionell bleiben“. Zudem sieht er sich, wie auch Irene, in einer „Vorbildfunktion“. Wenngleich die gezielte Auswahl von Bildern immer zu einer „Rea‐ litätsverzerrung“ führe, nutzt Jim Instagram zur Darstellung seiner „eigenen Person“. Im Gegensatz dazu verkörpere er auf Youtube viel stärker eine Kunstfigur. Bei der vermeintlich ungefilterten Nabelschau auf Instagram handelt es sich jedoch nicht um den intrinsisch moti‐ vierten Versuch, ‚authentisch‘ zu sein. Jim setzt hier viel eher auf die strategische Herstellung und Inszenierung von Privatheit. So habe er zu Beginn auch auf Instagram ein bestimmtes Konzept verfolgt, sich „mehr inszeniert“ und wollte der sein, „den ich mir überlegt hab“. Mit der Zeit habe er aber gemerkt, dass diese Darstellung vom Publikum durchschaut würde und nicht ankäme, weswegen er jetzt seit einiger Zeit in die „Ich-bin-wer-ich-bin-Schiene gerutscht“ sei. Jim setzt also strategisch auf inszenierte Authentizität zum Zweck der Publikumsbindung. Seine unternehmerisch-rationale Haltung drückt sich auch in der Wertigkeit aus, die er Familie, Freunden und Be‐ kannten beimisst, die seinem Account folgen. Diese hätten genau genommen „keinen Mehrwert“, da es bei Likes und Followern allein auf die Masse ankäme. Es sei zwar „schön“ und wichtig, dass Familie und Freunde seine Plattformaktivitäten akzeptierten. Als Follower spielen sie für ihn aber keine gewichtige Rolle, da sie gemessen am Erfolgskriterium nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen. Als besonders motivierend erfährt Jim positive „hohe Resonanz“. Diese sei komme zwar häufiger vor, allerdings würden die wenigen negativen Kommentare stärker auffallen. Mit „Erfahrung und Zeit“ wachse man da aber rein, so Jim, und lerne, sich davon nicht „runter‐ ziehn“ zu lassen. Im Laufe der Zeit habe er gelernt, nüchtern und 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 382 diszipliniert mit „Hate“ umzugehen: „Kopf hoch nehmen, Kommen‐ tare löschen, Leute blockieren und dann sieht das alles schon wieder ganz anders aus“. Jims Strategie besteht also darin, im ersten Schritt seine Affekte zu kontrollieren und im zweiten Schritt den negativen Kommentaren die Sichtbarkeit zu entziehen. So hält er seinen Account „sauber“. Er versteht Kritik ergo nicht als Bestandteil des kommuni‐ kativen Prozesses, sondern als ‚Schmutz‘ und potentiell schädlichen Fremdkörper. Die Kommunikation auf Instagram steht klar im Dienste eines professionell-unternehmerischen Ziels, wobei die authentische Inszenierung der eigenen Person strategisch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird. Jim setzt also sowohl das Konzept der Authentizität als auch seine eigene Person als Vermarktungsstrategie ein. 7.1.1.1 Selbsterfahrung, Sozialität und Erlebnisform Der rational-unternehmerische Nutzungstypus ist gekennzeichnet durch eine große Nähe zum Schema der Erfolgsorientierung. Zu den anderen beiden Schemata weist er nur geringe Affinität auf. Das zeigt sich bereits und sehr deutlich auf der Ebene der Selbstdefinition und des Selbstverständnis‐ ses. Auffallend ist die starke Orientierung an einem Arbeits- und Erfolgs‐ ethos. Der rational-unternehmerische Nutzungstypus sucht den Profit bzw. Mehrwert - er versteht Instagram nicht als Ort der Selbstverwirklichung oder der Beziehungsstiftung und auch nicht als Hort des kreativen Schöp‐ fens. Streng genommen hat Instagram für diesen Nutzungstypus gar keinen Eigenwert - Instagram stellt, wie im Fall von Jim deutlich zum Ausdruck kommt, eine „Werbeplattform“ dar und ist ein Mittel zum Zweck. Der rational-unternehmerische Nutzungstypus nutzt Instagram in Erwartung erhöhter Sichtbarkeit (man möchte bekannter werden) oder mit Aussicht auf finanziellen Zugewinn (man möchte Geld verdienen). Die Nutzenden dieses Typus setzen dabei bewusst auf einige geläufige Strategien der Profitmaximierung. Das Profil wird bspw. sehr gezielt als „Konzept“ angelegt, d. h. es werden thematische und ästhetische Fokussie‐ rungen vorgenommen. So soll dem eigenen Profil im wahrsten Sinne des Wortes ein Profil gegeben und ein Markenkern entworfen werden. Dabei greifen die Nutzenden dieses Typus gerne auf etablierte Versatzstücke der Selbstdarstellung zurück - gut zu sehen am Fall von Jim, der sein ursprüngliches, selbsterdachtes Konzept verwarf und auf das bewährte 7.1 Nutzungstypen 383 Konzept der Authentizität umstellte. Die Orientierung an den Publikums‐ wünschen ist ein weiteres Merkmal des rational-unternehmerischen Typus. Die Nutzenden verstehen sich als eine Art profitorientiertes Unternehmen, als Dienstleister und Stars zugleich und versachlichen, objektivieren und vermarkten sich im Rahmen dieser Rollen gewissermaßen selbst. Sie erfah‐ ren eine starke Trennung zwischen dargestelltem Ich und privater Person. Die wahrgenommene Diskrepanz äußert sich in Entfremdungserfahrungen wie der von Irene, die berichtet, von Followern, die ihr selbst fremd sind, im Offline-Alltag erkannt zu werden und dann im Gespräch auf ihr Insta‐ gram-Profil reduziert zu werden Der rational-unternehmerische Typus versteht Instagram als asymmetri‐ sches Beziehungsnetzwerk, das aus Stars und Followern bzw. Publikum besteht. Mit diesem Selbstverständnis geht ein distinktes Sendungsbewusst‐ sein einher: der rational-unternehmerische Nutzungstypus ist gekennzeich‐ net durch ein starkes Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber den eigenen Followern. Das kann sich in einer hohen Bereitschaft äußern, Publikums‐ wünschen nachzukommen, aber auch in dem Anspruch, positiven Einfluss auszuüben. Das Publikum bzw. die Follower sind ‚König‘ und der bestim‐ mende, extrinsische Handlungsmaßstab. Der rational-unternehmerische Typus beansprucht zwar durchaus einen eigenen ästhetischen Geschmack, stellt diesen auf Instagram aber zurück bzw. misst ihm keine besondere Bedeutung bei. Der eigene ästhetische Geschmack als intrinsischer Maßstab ist Teil der privaten Person, während auf Instagram nicht ausschließlich, aber überwiegend ein Rollen-Ich zur Schau gestellt wird. Der affektive Bezug, der vom rational-unternehmerischen Typus zur Plattform hergestellt wird, ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Kompetitivität. Die Nutzenden verstehen Instagram als Raum, in dem man sich beweisen muss bzw. kann. Dabei wird jedoch kein konkreter Anderer, eine bestimmte Elite oder Avantgarde zur Orientierung herangezogen. Stattdessen handelt es sich um eine Form der freien, selbstbezüglichen Opti‐ mierung: Es gilt, immer weiter symbolisches Kapital in Form von Followern anzuhäufen, um so aus der allgemeinen Masse herauszustechen und im Feld an Relevanz zu gewinnen. Sinnbildlich für diese Grundhaltung steht folgende Aussage eines Befragten: „Ich kämpfe hart um jeden Follower“ (Sedat). Instagram bedeutet für diese Nutzenden in erster Linie Anstrengung und Wille und geht einher mit dem Gefühl von Getriebenheit, das in seiner extremen Form in Stress umschlagen kann. Die Nutzenden dieses Typus verstehen ihr Tun als Arbeit - kreative oder spielerische Impulse 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 384 sind allenfalls am Rande von Bedeutung. So lässt sich das Verhältnis zur Profilpflege nicht eigentlich als Hobby, als serious leisure, bezeichnen - es ist (im besten Fall) eine Art lustvolles Arbeiten. Die Nutzenden dieses Typus sind in der Regel nicht gebunden oder verpflichtet, einen Instagram-Account zu führen - sie haben sich freiwillig für genau diese Plattform entschieden -, tun dies aber auch nicht aus intrinsischer Motivation heraus, sondern verbinden extrinsische Ziele damit. Die Nutzung geht mit einem gewissen Lustempfinden einher, das aus Erfolgserlebnissen und Anerkennung resul‐ tiert, sie basiert aber weder darauf noch lässt sie sich darauf reduzieren. Stattdessen betont und kultiviert dieser Nutzungstypus ostentativ eine Haltung der Indifferenz, Distanz und Sachlichkeit. Im Gegensatz zum na‐ hestehenden ästhetisch-rationalen Typus werden Gefühle in Bezug auf Instagram von den Nutzenden dieses Typus kaum bis gar nicht thematisiert, was auf die strikte Trennung der Arbeit- und Privatsphäre - Emotionen haben nur in letzterer einen Platz - und die eingeübte cool-berechnende und professionelle Haltung zurückzuführen ist. Die Nutzenden vom ratio‐ nal-unternehmerischen Typus verstehen sich als Rationalisten. Anstelle einer komplexen und spielerisch-elaborierten Erlebnisorientierung setzen sie Kosten-Nutzen-Berechnungen: Sie sind durchaus bereit, viel Arbeit in den Account zu investieren, insofern sie sich dafür einen angemessenen Nutzen versprechen. An die Stelle von emotional bedeutsamen Beziehungen und Freundschaften werden sachdienliche Verbindungen und Netzwerke gesetzt. Ein extremes Beispiel hierfür liefert erneut Jim, für den Familie und Freunde als Follower keinen Wert haben. 7.1.1.2 Erfahrungsraum und Zeitlichkeit Vorbereitung und Bildproduktion nehmen im Leben des rational-unterneh‐ merischen Typus vergleichsweise viel Raum ein. Wie im Fall von Irene zu sehen, reicht der Aufwand von der Bereitstellung der passenden Technik und der Akquise der Helfer bis zur Auswahl und Bearbeitung von Dekaden von Bildern. Die Instagram-Nutzung durchdringt den Alltag bis zu dem Punkt, an dem andere Situationen (z. B. ein Treffen mit Freunden, im Fall von Irene) davon irritiert und gestört werden und der Nutzungs- und Gebrauchs-Rahmen ‚übergriffig‘ wird. Weiterhin sind die Nutzenden dieses Typus durch einen bestimmten Blick gekennzeichnet, durch den sie die Umwelt insbesondere verwertungslogisch wahrnehmen: Es gilt, Bildbeitragspotential oder -ressourcen in den Dingen zu erkennen. Insofern verkehren sich hier die Wirklichkeitshierarchien: Der Alltag als primäre 7.1 Nutzungstypen 385 Bezugswirklichkeit (vgl. Schütz 1971) rückt in den Hintergrund während Instagram als sekundäre Teilwirklichkeit in den Vordergrund rückt und Einfluss nimmt auf die Wahrnehmungen und Handlungspräferenzen im Alltag. Die Alltagswirklichkeit wird, wie bereits erwähnt, einerseits zur Ressource für Beiträge, andererseits aber auch zur Hinterbühne, auf der die relevanten Handlungen für Instagram vorbereitet werden. Als relevante Erweiterungen des virtuellen Raums erweisen sich für den rational-unter‐ nehmerischen Nutzungstypus in erster Linie die Followerzahlen. Weiterhin von Bedeutung, wenngleich etwas weniger, sind die Likes. Followerzahlen indizieren für die Nutzenden unzweideutig Erfolg, während die Likes als Feedbackmechanismus und Gradmesser verstanden werden, die zur Verbes‐ serung bzw. Optimierung der Beiträge und somit indirekt zur Erhöhung der Followerzahl beitragen können. Zeit ist im Aneignungsmodus des rational-unternehmerischen Typus extrem fragmentiert und setzt sich aus unterschiedlich gewichteten Zeitfen‐ stern zusammen. a) Der Vorbereitungs- und Produktionszeit, b) der Selek‐ tions- und Bearbeitungszeit, c) der Postingzeit und d) der Feedback- und Evaluationszeit. Die ersten beiden Zeitfenster sind vergleichsweise stark losgelöst von der Plattform und den eigentlichen Plattformtätigkeiten und stärker in der Alltagswelt verankert. Die letzten beiden Zeitfenster sind wie‐ derum stark an plattforminternen Dynamiken orientiert und echtzeitbasiert: Die Nutzenden dieses Typus versuchen, akribischer und strategischer als alle anderen Nutzungstypen, ihre Postings genau zu timen und Zeiträume zu nutzen, in denen die allgemeine Nutzungsfrequenz oder die eines anvi‐ sierten Zielpublikums äußerst hoch ist. Sie versuchen also, die Zeitspanne zwischen Posting und Wahrnehmung des Beitrags so gering wie möglich zu halten. In der Feedback- und Evaluationszeit nimmt die Synchronität im Vergleich zur Postingzeit zwar wieder ab, tendenziell beobachten die Nutzenden dieses Typus das eingehende Feedback aber sehr genau und versuchen, schnellstmöglich zu reagieren, indem sie bspw. die Ausrichtung ihrer Folgebeiträge auf Basis des Feedbacks verändern, bei ausbleibender Resonanz die entsprechenden Beiträge ‚verschwinden‘ lassen oder, wie Jim, negative Kommentare löschen. Im Vergleich zu den anderen Nutzungsty‐ pen legen die Nutzenden des rational-unternehmerischen Typus auch am meisten Wert auf Aktualität - oft und regelmäßig zu posten gilt ihnen als unabdingbare Voraussetzung für ein erfolgreiches Profilmanagement. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 386 7.1.1.3 Publikum, Evaluation und Schicksalshaftigkeit Den rational-unternehmerischen Typus kennzeichnet wie bereits erwähnt eine starke Orientierung an einem öffentlichen Publikum. Er nimmt das Publikum primär als diffuse (gesichtslose), aber immer präsente Masse wahr, deren Aufmerksamkeit hochgehalten werden muss. Die Nutzenden dieses Typus sehen sich nicht als charismatische Ikone, der die Follower um ihretwillen folgen, sondern sind der Ansicht, dass Follower je nach Qualität und Aufwand der eigenen Arbeit kommen und gehen. Sie antizi‐ pieren und richten sich an einem Publikum aus, das ihrer Vorstellung nach nicht solidarisch, sondern opportunistisch handelt. Damit einher geht die Überzeugung, auf Erfolg Einfluss nehmen zu können. Charakteristisch für diesen Nutzungstypus ist der Glaube an Leistung und Selbstwirksamkeit. Statt auf kollektive Solidarität oder individuelle Disposition berufen sie sich auf Arbeit und Disziplin als primäres Erfolgskriterium. Die Nutzenden dieses Typus sind am strengsten dem Prinzip der Reakti‐ onspräsenz verhaftet - für sie zählt nur jenes Publikum, das sich durch Folgen oder Liken bemerkbar macht. Wer reaktiv absent bleibt, wird nicht beachtet - diese Haltung steht im Gegensatz zu den Haltungen anderer Nut‐ zungstypen, welche mehr Wert auf das Feedback konkreter (signifikanter) Anderer geben und diesem auch entsprechend entgegenkommen. Einzelnes Feedback hingegen, erst recht in der weniger stark quantifizierbaren Form des Kommentars, wird vom rational-unternehmerischen Typus tendenziell geringgeschätzt oder nur auf der, vom Handlungsraum Instagram getrenn‐ ten, personalen Ebene anerkannt. Für die Nutzenden dieses Typus zählen in erster Linie kumulierte Reaktionen in quantifizierter Form. Qualitative Kri‐ tik wird nur in Ausnahmefällen - den seltenen Instanzen der „konstruktiven Kritik“ (Sonja) - angenommen, wie im Falle von Irene, die einer Bitte nach mehr Umweltbewusstsein nachkommt. Die Nutzenden des rational-unternehmerischen Typus vergleichen sich nur auf einer sehr allgemeinen Ebene und orientieren sich nicht oder nicht dauerhaft und systematisch an konkreten Anderen. Sie richten sich statt‐ dessen an gefühlten Durchschnittszahlen und Verteilungen der Follower- und Likezahlen aus und gehen etappenweise vor. Der Weg führt dabei tendenziell immer weiter ‚nach oben‘, meist ohne konkreten Endpunkt. Die Nutzenden dieses Typus konkurrieren also nicht direkt mit anderen Nutzenden, sondern indirekt. In ihnen manifestiert sich exemplarisch die moderne Form der „Konkurrenzen im Modus öffentlicher Kommunikation“ (vgl. Werron 2011: 256). Der Kampf um die Gunst des Publikums folgt 7.1 Nutzungstypen 387 dabei einer Knappheitslogik, die nicht nur auf der nicht unendlich teilbaren Aufmerksamkeit des Publikums beruht, sondern auch auf der Masse an Konkurrenzangeboten. Um auf Instagram überhaupt wahrgenommen zu werden, scheint es diesem Typus daher dienlicher, auf etablierte Darstel‐ lungsmuster zu setzen und die Aufmerksamkeit im Netzwerk zu teilen und zu koopieren (vgl. #like4like) anstatt gar nicht wahrgenommen zu werden. Wie bereits besprochen verstehen sich die Nutzenden vom rational-un‐ ternehmerischen Typus auf Instagram zumindest tendenziell Person des ‚öffentlichen Lebens‘. Als solche sehen sie sich, stärker als dies für alle anderen Nutzungstypen der Fall ist, ständiger Beobachtung und Bewertung ausgesetzt. Obwohl die Nutzenden dieses Typus am strengsten zwischen Privatperson im Alltag und inszenierter Kunstfigur und Rolle auf Insta‐ gram unterscheiden, spielt auch für sie das Risiko eines Gesichtsverlusts eine Rolle. Möglicherweise ist der hohe Grad an Selbstexponierung ein Grund dafür, warum dieser Nutzungstypus mit die geringste Affinität zu experimentellem und spielerischem Handeln aufweist. Der Rückgriff auf bewährte Muster stellt nicht nur eine effiziente Strategie dar, um Publikum zu gewinnen, sondern reduziert auch mögliche Risiken. 7.1.2 Nutzungstypus 2: Ästhetisch-rationaler Typus Fallvignette: Amira, w25, Studentin Für Amira sind Bilder auf Instagram eine Art Selbstbeschreibung, in denen das eigene Ich auf spezifische Art und Weise umrissen, definiert und geformt wird. Die Art der Selbstbeschreibung kann je nach Plattform anders ausfallen. Auf StudiVZ sind es Attribute wie „lustig“ oder „individuell“, über die man sich, wie in einer vorgegebe‐ nen ‚Gussform des Selbst‘, definiert, während es auf Instagram die allgemeinen, aber richtungsweisenden Chiffren ‚Lifestyle‘, ‚Reisen‘, ‚Beauty‘ usw. sind. Likes und Kommentare übernehmen für Amira auf Social Media-Plattformen die Funktion relativ allgemeiner und unspezifischer Gratifikatoren („scheinbar kommts gut an“), und rei‐ chen in ihrer Einsatzbreite von der bloßen Floskel bis hin zum Mittel intimer Beziehungspflege. Sie stehen daher nicht spezifisch für eine bestimmte Art der Beziehung. Amira spricht von der bestätigenden 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 388 und angenehmen Wirkung von Likes und Kommentaren, die sich mit der Zeit auch „einprägen“. Bilder sind für Amira ein Weg, Wirkungen und Atmosphären darzu‐ stellen, die von Texten gar nicht oder nur schwer eingefangen werden können. Während sie textbasierte Blogs langweilig findet, verfolgt sie gerne Foto-Blogs, da diese „viel mehr Eindrücke“ vermittelten und „persönlicher“ seien. Aufgrund dieses Mehrs an „Verknüpfungen“ liegen Bilder für Amira näher an der ‚Realität‘ als Texte. Hinzu kommt, dass sie, im Gegensatz zu Texten, ihre Gegenstände auf das Wesent‐ liche reduzierten („ein Bild reicht ja“). Die Bildpraxis auf Instagram unterscheidet Amira hinsichtlich der Bedeutung für ihr Selbst aber auch noch einmal von ihrem allgemeineren Bildhandeln: Fotografie‐ ren ist für sie eine Möglichkeit, das eigene Leben „fest[zu]halten“, eine Erinnerungs- und Dokumentations-Praxis. Fotoalben, gleich ob digital oder analog, haben die Funktion eines Ich-Archivs, welches der Selbstbeobachtung dient. Amira richtet sich damit primär an sich selbst oder ihre signifikanten Anderen. Für Darstellung und Präsen‐ tation erhebt sie auf dieser Ebene den Anspruch der Unverfälschtheit, des realistischen So-Seins und So-Zeigens-Wie-Es-Ist („so wars hier“). Die entsprechenden Bilder und Bildhandlungen wertet sie als privat und persönlich. Im Kontrast hierzu steht die Zeige-Praxis auf Instagram. Hier hat Amira nicht den Anspruch, Realität zu repräsentieren; stattdessen möchte sie eine Art Parallel-Welt entwerfen, in der sie die Realität bewusst überhöht (aber nicht verfälscht) und die Bilder einem Ideal anpasst, das sich an etablierten Stilmustern orientiert. Die Prinzipien, an denen Amira die Ästhetik ihrer Bilder orientiert, sind das Schöne, das Ordentliche und Einheitliche: das „Cleane“. Auch die Auswahl und Anordnung der Bilder selbst unterwirft sie diesen Prinzipien, indem sie die Bilder unter ein einheitliches Thema stellt. Die Bilder sollen in erster Linie gefallen und einen „Balsam für die Augen“ bieten. Um diesem Anspruch der „Perfektionierung“ möglichst gerecht zu werden, bearbeitet Amira die Bilder auch und nimmt dabei Verzerrun‐ gen durch die Inszenierung bewusst in Kauf (Schönheit ist diesem Verständnis nach ein Vollzug, keine Essenz - nicht etwas das man hat, sondern etwas das gemacht ist oder wird). Unrealistische Bilder sind für sie nicht das eigentliche Ziel, sondern Mittel zum Zweck auf dem Weg zum „Überschönen“ und zu „einem Stück Magie im 7.1 Nutzungstypen 389 Alltag“. Instagram stellt für Amira eine öffentliche Bühne dar, die nur bestimmte Aspekte des Selbst betont und diese überspitzt zur Schau stellt. Es soll dadurch das aufrichtige Interesse von Betrachtenden geweckt werden, die das gleiche suchen. Dass es ihr dabei durchaus nicht nur um ein Interesse der anderen an ihren Werken, sondern auch an ihr selbst geht, macht sie an einem Vergleich deutlich: Sie wolle kein „TUI-Katalog“ sein, sondern personalisierte Inhalte bieten. Auch erwähnt sie die positiven Effekte von Zustimmung und Bestätigung durch Kommentare und Likes. Das Selbst und das Produkt bzw. Werk fallen hier in eins. Weiter bemerkenswert ist, dass Amira Instagram und das dortige Publikum dezidiert unterscheidet von anderen Social Media-Plattformen und daraus Konsequenzen für ihr eigenes Bildhan‐ deln und die Qualität und Quantität der Selbstthematisierung zieht. Sie präsentiert sich extensiver, expliziter und idealisierter als bspw. auf Facebook, da Instagram hierfür „genau die Plattform“ sei. Ihr Handeln ist also ganz bewusst an einen spezifischen Handlungsraum angepasst, es ist außengerichtet (sie grenzt es vom Tagebuchführen ab) und zielt auf eine bestimmte Erwartungshaltung und Akzeptanzstruktur des Publikums ab. Instagram stellt für sie einen öffentlicher Raum zur idealisierten Selbstdarstellung und wechselseitigen Bestätigung dar. Die Authentizität ihrer Person bleibt durch die Außengerichtetheit und den ‚Unrealismus‘ aber unangetastet, da Amira die präsentierten Bilder eher als Teil eines Rollenspiels betrachtet, das die Person dahinter und ihre Charaktereigenschaften nicht repräsentiert. „Sich treu bleiben“ bedeutet für Amira in erster Linie, Spaß zu haben an der Herstellung und der Präsentation von Bildern. Der Inhalt bzw. die „Echtheit“ oder „Künstlichkeit“ des Bildes sind demgegenüber von sekundärer Bedeutung. Die Frage nach der Authentizität wird von Amira also nicht komplett ausgespart, aber dem objektiv nicht fest‐ stellbaren Inneren - der Intentionalität und Motivlage der Handelnden - zugerechnet. Nicht was sie zeigen, ist von Bedeutung, sondern warum. Amira nennt die „Liebe“ zu Fotos, den Spaß und das Gefallen an einer bestimmten Spielart des Minimalismus als ihren eigenen treibenden Motor. Neben diesen intrinsischen Motiven, die sie leicht pejorativ als „hei‐ titei“ abstempelt, nennt Amira für ihre Aktivitäten auf Instagram aber noch einen zweiten extrinsischen Grund, einen „seriösen Hinter‐ grundgedanken“ bzw. ein „erwachsenes Ziel“: das Hobby zum Job zu 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 390 machen und Geld damit zu verdienen. Das Gefallen als ästhetisches Prinzip wird hier um das Prinzip des „Erfolgs“ ergänzt. Erfolg ermisst sich dabei in erster Linie an der Followerzahl. Diese lässt sich in Amiras Darstellung nicht über die Qualität, sondern vor allem über die Quantität des Arbeitsaufwandes steuern. Die Erfolgsregeln („Com‐ puter-Algorithmus“, „Trendmuster“) seien bekannt und müssten nur entsprechend diszipliniert und zeitintensiv umgesetzt werden. Das ‚Mechanische‘ des Prozedere veranschlagt Amira ganz explizit auch für ihre mentale Haltung und Einstellung gegenüber ihrem Bildhan‐ deln. Betont sie an anderer Stelle noch den Spaß am Bilder-Machen, -Bearbeiten und -Zeigen sowie die Freude über Komplimente, so rückt sie jetzt ihre „mentale Stärke“ - eine emotionale Distanz bzw. Desengagiertheit - im Umgang mit Followerzahlen in den Fokus. Hierbei handelt es sich um eine (kühle) Affektregulierung im Sinne ökonomischer Zweckrationalität. Amira spricht von Zielen, vom Um‐ setzen und Erreichen dieser Ziele und beschreibt das strategische Planen von Uploads sowie das systematische Sammeln von Likes. Vom reinen Hobby unterscheidet sich ihr Bildhandeln für Amira dadurch, dass es „ne Stufe professioneller“, „nicht mehr so planlos“ und „besser präsentiert“, kurz: eine „Stufe besser“ ist. So ausgedeu‐ tet beschreiben Arbeit und Hobby keine kategorial, sondern nur graduell unterschiedlichen Tätigkeiten. Dass Amira nicht trennscharf zwischen Arbeit und Hobby unterscheidet, wird zusätzlich an ihren Beschreibungen zwischenmenschlicher Beziehungen auf Instagram deutlich. So spricht sie unter anderem von „wichtigen Leuten“, der „Zielgruppe“ und „Geschäftsbeziehungen“. Andererseits schildert sie Situationen, in denen der Austausch auf Instagram zu Beziehungen führte, die darauf basieren, dass man sich „einfach nett“ fand. 7.1 Nutzungstypen 391 Fallvignette: Janosch, m35, technischer Angestellter Janoschs SNS-Karriere begann Ende der 2000er mit StudiVZ. 2010 wechselte er zu Facebook über. Facebook nutzt er noch immer, um Kontakt zu einer Vielzahl von Freunden und Bekannten zu halten, er ist dort aber mittlerweile überwiegend passiv unterwegs. Im Laufe der Zeit begannen vor allem Twitter und Instagram an Bedeutung zu gewinnen. Auch ein Snapchat-Profil habe er sich angelegt - anders als bei den restlichen Diensten finde er zu dieser App aber keinen Zugang - er verstehe sie nicht und fühle sich „zu alt“ dafür. Von all den genannten Diensten nutzt Janisch mittlerweile nur noch Instagram aktiv. Twitter habe er vor einiger Zeit aufgegeben, da es sich als zu nerven- und zeitraubend erwiesen habe. Bis dahin habe er sich aber vor allem auf Twitter mit Abstand am meisten engagiert, bis zu dem Punkt, an dem er sich genötigt sah, regelmäßig zu posten, um aktuell zu bleiben und so seine Followerzahl hochzuhalten. Janosch beschreibt, wie er auf Twitter durchaus erfolgreich publizierte und einer seiner Tweets sogar in eine Best-Of-Liste auf Facebook aufge‐ nommen wurde. Da habe er sich zuerst „ein Ei drauf gepellt“, dann aber gemerkt, dass es „total fürn Arsch“ und „scheißegal ist“. Janosch greift hier zu einer Art Konversionsgeschichte, um im Vergleich seinen wesentlich ‚abgekühlteren‘ und gemäßigteren Umgang mit Instagram zu skizzieren. Für Twitter habe er wesentlich mehr ‚gebrannt‘ - allerdings aus einer rationalen und an Erfolg orientierten Haltung heraus. Er gibt an, Twitter als „völlig unpersönlich“ erfahren zu haben. Weder hätten der Account und seine Beiträge etwas mit seinem „real life“ zu tun gehabt noch hätte er sich etwas aus Kommentaren gemacht - es sei ihm in erster Linie auf die Followerzahlen angekommen. Instagram wiederum hat einen leicht anderen Stellenwert für Janosch, der mit einer abgemildeteren Nutzungsintensität - sowohl zeitlich als auch emotional - einhergeht. Als Grund, warum er mittlerweile vermehrt Instagram nutzt, führt Janosch an, dass ihn diese Plattform weniger „belaste“ - wenngleich auch von ihr ein gewisser Druck ausgehe. Im Vergleich mit Twitter sieht sich Janosch durch Instagram auch etwas stärker repräsentiert, da er hier aus seinem Privatleben postet: Alles „was man macht“ und was „fotogen“ ist. Zu diesem Zweck scheue er sich dann auch nicht, Bilder entsprechend in Szene 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 392 zu setzen. Janosch gibt an, keine „Schnappschüsse“ zu machen - der Großteil seiner Bilder sei gestellt und arrangiert, da man mit „schönen“ Bildern am meisten Likes erhalte. Seine Ansprüche an Ästhetik und Vorzeigbarkeit stehen also stark im Dienste der Like-Gewinnung und sind nur bedingt intrinsischer Natur. Früher, konstatiert Janosch mit einem erneuten Verweis auf vergangene Zeiten, seien ihm Likes und Follower sogar so wichtig gewesen, dass er im Sinne der ästhetischen Wirkung uninteressante oder weniger schöne Bilder von seinem Profil löschte. Sein Rezeptionsmuster beschreibt Janosch als gemischt. Er folge so‐ wohl Freunden und Bekannten als auch Stars, Dingen oder Institutio‐ nen, die er „interessant“ findet. Mit ersteren möchte er Kontakt halten, den Personen oder Inhalten der letzteren möchte er durch Instagram „näher“ kommen. Das Konsumieren von Star-Profilen habe er aber stark zurückgefahren, da diese ihm mit ihren ständigen Updates den Feed „zugeballert“ hätten. Dennoch findet er es immer noch reizvoll, Stars zu folgen und aus dem Alltag auszubrechen, indem er sich vorstellt, wie diese Stars die Welt zu bereisen oder ähnlich viel Geld zu haben. Dabei reflektiert er durchaus den Status dieser Ersatzwelten: Alles was man auf Instagram vorfindet, sei durchinszenierte, positive Selbstdarstellung, die nur bedingt der Realität entspreche. Zur Ver‐ anschaulichung greift Janosch auf eine Metapher zurück: Instagram gleiche einem „Ponyhof “, auf den man gehe, um mal eben „die Welt ganz kurz schön oder interessant“ sein zu lassen. Instagram dient laut Janosch dazu, sich zu „zeigen“ und auch ein Stück weit zu profilieren - aus dieser Einsicht heraus hat er sein Profil auch seit einiger Zeit auf öffentlich gestellt. Neben Freunden und Be‐ kannten folgen ihm auch „enge Follower“ sowie gänzlich unbekannte Nutzende. Zur Selbstdarstellung sind ihm viele Inszenierungsmittel recht, er zieht keine strengen Grenzen. Zwar achte er auf die Öffent‐ lichkeitstauglichkeit seiner Bilder, darüber hinaus beschreibt er sich aber als wenig zimperlich hinsichtlich der Bearbeitung von Bildern. Lediglich vom Genre des Selfies grenzt er sich ein Stück weit ab - er sieht darin zu viel Selbstdarstellung bei zu wenig Inhalt. Er erklärt, dass er sich zwar gerne in diesem Format abbilde, Selfies im Allgemeinen aber für langweilig halte und darauf achte, dass selbige nicht zu häufig auf seinem Profil zu sehen sind. 7.1 Nutzungstypen 393 Für schöne und interessante Beiträge erwartet Janosch wiederum eine Art Gegenleistung in Form von Likes. Allzu viel persönliche Bedeutung misst er ihnen jedoch nicht bei, da sie in seinen Augen kaum mehr als die Wertung „ganz nett“ transportierten. Auch bei der Beschreibung der Feedback-Dynamik greift er auf eine Metapher zurück und spricht davon, mit Likes sein „Belohnungssystem“ zu „füttern“. Er setzt Likes gewissermaßen mit Münzen und sich selbst mit einem Automaten gleich, den man mit dieser Währung ‚füttert‘, um einen entsprechenden Output zu erhalten - in diesem Fall ein bestimmtes Wohlgefühl der Genugtuung und Bestätigung. „Interes‐ santer“ und „persönlicher“ finde er aber Kommentare - besonders schätze er die Bestätigung und Anerkennung, die er von Leuten erhält, die ihm „noch nicht mal folgen“. „Hauptgrund“ für die Nutzung bleibt für Janosch auch auf Instagram also die „Anteilnahme“ der anderen. 7.1.2.1 Selbsterfahrung, Sozialität und Erlebnisform Den ästhetisch-rationalen Nutzungstypus zeichnet eine große Nähe zum Schema der Erfolgsorientierung als auch zum Schema der Bestätigungssu‐ che aus. Grob gesagt schlägt sich die Nähe zu beiden Schemata in einer, im Vergleich mit dem rational-unternehmerischen Typus, verstärkten Aus‐ richtung an ästhetischen Prinzipien und einer höheren Affektbetonung nieder bei gleichzeitiger Beibehaltung einer rational-nutzenorientierten Grundhaltung. Ein erster Unterschied besteht in der Bedeutung, die der Plattform Insta‐ gram als Ort der Selbstdeutung zukommt. Während die rational-unterneh‐ merischen Nutzenden kaum bis gar keine Identitätseffekte konstatieren oder thematisieren, spielen diese für die Nutzenden des ästhetisch-rationalen Typus eine weit größere Rolle. Sie sehen sich zumindest in Teilaspekten durch ihr Profil repräsentiert. Wenngleich auch die Nutzenden dieses Typus eine Unterscheidung zwischen dem Ich und dem „Cyber-Ich“ (Katharina) machen, erfolgt die Trennung der personas bzw. alter Egos und die der Sphären nicht mehr so radikal wie im Falle des rational-unternehmerischen Typus. Die Nutzenden bekennen sich zu einer bewusst überhöhten und überstilisierten Darstellung des Ichs, die wahrgenommene Übereinstim‐ mung ist aber zu groß, als dass hier nur von einer Kunstfigur bzw. einer Rolle gesprochen werden könnte. Besonders deutlich ist dies am Fall von Amira 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 394 zu sehen: Das Profil spiegelt zwar aus Sicht dieser Nutzerin ausgewählte Seiten des Ichs wahrheitsgetreu wieder, das Selbst wird dabei jedoch an ein Idealbild angepasst, in etablierte ästhetische Muster eingepasst und stilisiert. Das Ich wird also einer ‚ästhetischen Brechung‘ unterzogen - es wird aber, aus Sicht der Nutzerin, weder verfälscht noch auf Rolleneigenschaften reduziert. Verglichen mit dem Selbstbild des rational-unternehmerischen Typus wird das Profil von den Nutzenden dieses Typus weniger als Konzept verstanden und stärker mit dem eigentlichen Ich in Verbindung gebracht. Vergleichbar hingegen ist die Verwertungslogik, der das Profil-Selbst untergeordnet wird. Das Ich wird strategisch zur Schau gestellt und gezielt als eine Art Produkt inszeniert, um damit in den Kampf um Aufmerksamkeit einzutreten. Der ästhetisch-rationale Typus versteht sein Profil-Selbst ganz ähnlich wie der rational-unternehmerische Typus als vermarktbares Gut. Das Selbstverständnis entspricht aber nicht mehr ganz dem einer Institution, eines Dienstleisters oder Unternehmens. So wird die ausschließliche Orien‐ tierung an Followerzahlen und den Wünschen des Publikums zugunsten eigener Maßstäbe, bspw. des eigenen ästhetischen Geschmacks, zurückge‐ fahren. Am Beispiel von Amira zeigt sich deutlich, dass versucht wird, eigene Vorstellungen des Schönen stärker mit etablierten, erfolgsversprechenden Stilmustern zu vereinbaren. Der Fall Janosch wiederum illustriert die Abkehr von einem strikten Rollenverständnis und von streng erfolgsorientiertem Handeln: Seine Konversionsgeschichte beschreibt den Übergang von Twit‐ ter zu Instagram und damit zugleich vom rational-unternehmerischen Aneignungsmodus zum ästhetisch-rationalen. Trotz einer stärkeren Identifizierung mit dem eigenen Profil spielt Authentizität für diesen Nutzungstypus nur eine untergeordnete Rolle. Überzeichnung wird als konstitutiver Bestandteil der Selbstdarstellung auf Instagram erachtet und die korrespondieren Praktiken werden auch offen als unrealistische Inszenierungen gerahmt. Authentizität ist, wenn über‐ haupt, als Haltung von Bedeutung, nicht aber als Bildeigenschaft. So sind es für Amira die Intentionen und Einstellungen einer Person, die über die Legitimität der Zuschreibung von Authentizität entscheiden. Authentizität als Bildeigenschaft ist mehr oder weniger obsolet, da dies in den Augen der ästhetisch-rationalen Nutzenden der Anlage der Plattform Instagram widersprechen würde, die zur Idealisierung und Stilisierung aufruft. Nicht zuletzt erfolgt die Auswahl der Bilder, wie auch schon beim vorigen Typus, gezielt selektiv, wobei hier die strategischen Erwägungen ein Stück weit dem mehr kontrolliert-spielerischen Umgang mit dem eigenen Image weichen. 7.1 Nutzungstypen 395 Die Nutzenden dieses Typus verstehen ihr Auftreten mehr als eine Art Schaulaufen auf einer Bühne (vgl. Bublitz 2010, Reißmann 2015a) und weniger als Werbeplattform, wie der vorangehende Typus. Bezogen auf die Formen der Sozialität gilt den Nutzenden dieses Typus Instagram als Plattform, die der funktionalen Vernetzung und Reichwei‐ tenvergrößerung ebenso dient wie der intimen Beziehungspflege. Beides ist möglich und die ästhetisch-rationalen Nutzenden unterscheiden klar zwischen funktionalen Anderen und persönlich relevanten Anderen. Weder das eine noch das andere liegt diesem Typus jedoch als Nutzungsmotiv zugrunde. Der ästhetisch-rationale Typus ist weniger erfolgsorientiert als der rational-unternehmerische Typus und legt entsprechend weniger Wert auf ein großes und breit aufgestelltes Netzwerk an Followern. Er pflegt gleichzeitig aber auch wenig intime Beziehungen über diesen Kanal noch baut er in nennenswertem Umfang neue Beziehungen auf. Die Nutzenden dieses Typus sind stark egozentriert und nur bedingt an Netzwerken oder Gemeinschaft interessiert. Interaktion hat für diese Nutzenden schlussend‐ lich auch weniger mit intersubjektiver Aushandlung als mit quasi-automa‐ tischen (Amira) oder ritualisierten und erwartbaren ( Janosch) Handlungen und Prozessen zu tun. Im Vergleich zum vorherigen Typus ist der ästhetisch-rationale Typus gekennzeichnet von einer weitaus stärkeren Betonung und Kultivierung der Erlebnis- und Gefühls-Dimensionen. Ein Beispiel hierfür sind die Likes, die im Vergleich zum rational-unternehmerischen Typus gegenüber den Followern nicht nur an Gewicht gewinnen, sondern auch persönliche Rele‐ vanz erhalten. Die Nutzenden dieses Typus verstehen Likes als eine Form der persönlichen (wenngleich noch nicht höchstpersönlichen) Bestätigung, die mit der Erfahrung positiver Gefühle einhergeht - ein Aspekt, der sich bei den Nutzenden vom rational-unternehmerischen Typus kaum bis gar nicht findet. Das heißt jedoch nicht, dass die ästhetisch-rationalen Nutzenden sich ihren emotionalen Impulsen hingeben und überwiegend auf der Erlebnisebene handeln und wahrnehmen. Im Gegenteil üben sich die Nutzenden dieses Typus in Affektkontrolle (vgl. Elias 1997a, 1997b) - sie erfahren emotionale Wirkungen und sind sich dieser durchaus bewusst, versuchen diese aber zu kontrollieren. So spricht Amira bspw. dezidiert von Selbstdisziplinierung und davon, die kommunikativen Ereig‐ nisse nicht an sich „heran“ zu lassen. Janosch wiederum beschreibt, wie er von quantitativem Erfolg auf Instagram oder Twitter zwar emotional angesprochen wird, diese Wirkung aber reflektiert und dadurch steuert und 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 396 mindert. Platzierungen in Bestenlisten erhalten dadurch den Status „fürn Arsch“ und Likes werden von ihm nur noch als „ganz nett“ eingestuft. Während die Desengagiertheit des rational-unternehmerischen Typus eine eher habituelle, verinnerlichte Eigenschaft zu sein scheint, wird sie vom ästhetisch-rationalen Typus angestrebt und eingeübt. Die Nutzenden dieses Typus desengagieren sich bewusst und gezielt. Neben der Affektkontrolle spielt auch Emotionsmanagement eine größere Rolle. Nicht nur werden unerwünschte Gefühle auf Distanz gehalten, es wird auch versucht, den Gefühlszustand direkt positiv zu beeinflussen, wie am Fall von Janosch zu beobachten, der sein „Belohnungssystem“ „füttern“ möchte. Die verstärkte Erlebnisorientierung zeigt sich aber nicht nur im Bereich der Likes. Die Nutzenden des ästhetisch-rationalen Typus bilden ein weitaus dominanteres ästhetisches Bewusstsein aus. Das zeigt sich in einer verän‐ derten Rezeptionshaltung - gesucht wird explizit der ästhetische, zweckfreie Genuss, der „Balsam für die Augen“ -, aber vor allem in einer verstärkt innenorientierten Ausrichtung am eigenen ästhetischen Geschmack. Die Nutzenden dieses Typus gestehen ihren eigenen Präferenzen zwar keinen gleichwertigen Platz neben den Präferenzen des Publikums zu, schenken ihnen aber mehr Beachtung und messen ihnen mehr Bedeutung bei. Der Anspruch, den eigenen Vorlieben gerecht zu werden, wächst: Was man selbst als schön und erbaulich empfindet, soll sich auch in den Bildern, die man postet, wiederspiegeln. Diese Erlebnisorientierung - die Nutzenden wollen ästhetisch konsumieren und emotional angesprochen werden - geht Hand in Hand mit eskapistischen Motiven. Die Rezeption fremder Bilderwelten aber auch die Inszenierung und Präsentation der eigenen Bilder werden als Gelegenheiten zur Alltagsflucht verstanden. Janosch spricht bspw. metaphorisch vom „Ponyhof des Lebens“, während Instagram für Amira „ein Stück Magie im Alltag“ bedeutet. Wie bereits erwähnt weist der ästhetisch-rationale Typus aber noch immer eine große Nähe zum Schema der Erfolgsorientierung auf und geht nicht in der Erlebnisorientierung auf. Zweckrationalität und Optimie‐ rung sind auch hier relevante Bezugshorizonte. So weist Amira bspw. darauf hin, dass sie zwar eigene ästhetische Vorlieben habe, aber v. a. „Trendmustern“ folge. Sie setzt also auf einen Stil, der einerseits ihrem Geschmack entspricht, andererseits aber auch populär ist und größere Akzeptanz verspricht. Die Nutzenden dieses Typus setzen ebenso wie der rational-unternehmerische Typus gezielt Hashtags oder greifen auf andere Strategien der systematischen Like- und Follower-Genese zurück, um so 7.1 Nutzungstypen 397 ihre Reichweite zu vergrößern, was ihnen als Erfolg gilt. Der Zeiger schlägt tendenziell also eher in Richtung Erfolgsorientierung als Bestätigungssuche aus. Diese Mischung aus rational-nüchterner und affektbzw. erlebnisbe‐ tonter Grundhaltung und das Oszillieren zwischen diesen beiden Polen zeichnet den ästhetisch-rationalen Typus im Kern aus. Verglichen mit dem rational-unternehmerischen Typus bedeutet die Pflege eines Instagram-Accounts für die Nutzenden dieses Typus mehr Spaß als Arbeit, wenngleich der Aufwand und die Zeit, die man in das Profil steckt, ein in den Interviews relevantes und immer wiederkehrendes Thema ist. Insgesamt gesehen verkehrt sich das Verhältnis also und die geäußerten Erfahrungsstrukturen der Nutzenden vom ästhetisch-rationalen Typus ähneln dem stebbinschen Konzept der serious leisure stärker als die des vorangehenden Typus - insbesondere durch die Akzentuierung intrinsischer Motive. Nach Stebbins (2017) lässt sich serious leisure - ein Hobby - anhand der folgenden Merkmale charakterisieren: 1) Durch eine Beharrlichkeit des Verlangens („the need for perseverance“), 2) durch den Laufbahncharakter der Freizeitaktivität („the leisure pursuit as a career“), 3) einen hohen Aufwand, der zur Aneignung spezifischer Fähigkeiten betrieben wird („effort involving the acquisition of knowledge, training […] and skills“), 4) durch dauerhafte Vorzüge („durable benefits“), 5) durch eine die Praktiken begleitende soziale Welt mit kollektivem Ethos („unique ethos and social world“) sowie 6) durch die persönliche Identifikation mit der Freizeitaktivität („personal identification with leisure activity“). Im Vergleich zum ästhetisch-rationalen Typus sind die Merkmale zwei und drei (Laufbahn und Aufwand) im rational-unternehmerischen Typus stärker ausgeprägt, die Merkmale eins, vier, fünf und sechs hingegen beim dritten Typus, dem emotional-ästhetischen Typus (wie noch gezeigt wird). Beide Typen weisen wiederum Defizite hinsichtlich der anderen Merkmale auf. Einzig auf den ästhetisch-rationalen Typus treffen alle sechs Charakte‐ ristika zu, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Insofern nimmt dieser Typus einen gewissen Sonderstatus unter den Nutzungstypen ein - die Nutzenden dieses Typus eignen sich Instagram am ehesten im Rahmen eines Hobbies im Sinne der Definition von Stebbins an. Für sie ist das Betreiben eines Instagram-Accounts sowohl Arbeit als auch Muße, Erholung und Auszeit - eben eine serious leisure. Das ist insofern von Bedeutung, als es die hohe Bandbreite an Aneignungsformen illustriert - während Hobbies in der Regel mit Aktivitäten in Verbindung gebracht werden, die ein klar definiertes Set an Fähigkeiten und eindeutig sichtbare Leistungen 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 398 voraussetzen (z. B. beim Sport oder im Handwerk), zeigt sich an diesem Beispiel, dass auch scheinbar wenig regulierte und wenig institutionalisierte digitale Praktiken - wie etwa die Pflege eines Profils auf einer sozialen Netzwerkseite - durch spezifische Aneignungsweisen die konsolidierte Form einer hobbyartigen Praxis annehmen können. 7.1.2.2 Erfahrungsraum und Zeitlichkeit Der Aufwand, der für dieses Hobby betrieben wird - für die Erlernung fotografischer und editorischer Kompetenzen, die Inszenierung und Bear‐ beitung der Bilder, für das Hochladen und Kommentieren, usw. -, hält sich im Vergleich zum rational-unternehmerischen Typus in Grenzen. So wendet Amira laut eigener Aussage bspw. nur etwa 2 Stunden pro Woche dafür auf. In dieser Hinsicht nimmt Instagram im Alltag also nur einen kleinen Raum ein. Daneben durchdringen sich Alltag und digitale Welt für die Nutzenden des rational-ästhetischen Typus vor allem in der Formung und Prägung ihrer anderen Offline-Interessen und -Tätigkeiten. So fühlen sich die ästhetisch-rationalen Nutzenden von anderen Bildern und Accounts inspiriert, emulieren was sie dort sehen oder übernehmen explizite Tipps und Ratschläge in Bereichen wie Sport, Mode oder Ernährung. Es kann davon ausgegangen werden, dass hier also zwei Freizeitaktivitäten bzw. Hobbies - die genannten Bereiche (Sport etc.) sowie ‚Instagramen‘ - mit‐ einander verknüpft und Synergien hergestellt werden, wobei insbesondere der Offline-Erfahrungsraum durch die Kommunikation und Interaktion auf Instagram erweitert wird. Das Handeln auf beiden Ebenen wird von einem gemeinsamen Motiv angetrieben: (Selbst-)Optimierung. So versucht die Nutzerin Lena bspw., ihre sportlichen Leistungen als auch ihre Erfolge im sozialen Netzwerk Instagram stetig zu verbessern, ohne dass dabei ein konkretes Endziel anvisiert würde. Die Praktiken verstärkten sich aufgrund der ihnen innewohnenden Steigerungslogik und konstitutiven Unabschließbarkeit gegenseitig. Wie bereits für den rational-unternehmerischen Typus gezeigt wurde, erfahren je nach Aneignungsmodus nicht alle in der synthetischen Situation erzeugten Metadaten die gleiche Relevanz und Bedeutung. Die rational-un‐ ternehmerischen Nutzenden erachten Likes bspw. als weitaus weniger wichtig als Follower. Für den ästhetisch-rationalen Typus wiederum sind Likes etwas bedeutungsvoller. Da sie sich mit ihrem Profil stärker identifi‐ zieren, werten sie Likes eher als persönliche Bestätigung - wenngleich, wie oben beschrieben, immer wieder auch eine Distanz dazu eingeübt wird, in 7.1 Nutzungstypen 399 der sich die Nähe zum Schema der Erfolgsorientierung zeigt. Neben der Erweiterung des Erfahrungsraums um Likes als konkrete Indikatoren für Anerkennung und Bestätigung der eigenen Person weisen die Nutzenden dieses Typus auch eine weitere affektive Öffnung auf: Sie stellen über Instagram leichter parasoziale Beziehungen zu Stars bzw. Personen des öffentlichen Lebens her. Das Nähegefühl bzw. die gesuchte Nähe erreicht nicht die Intensität, wie sie bei Nutzungstypen zu finden ist, die den Schemata der Bestätigungssuche und der Beziehungspflege näherstehen. Persönliche Nähe wird im ästhetisch-rationalen Aneignungsmodus aber durchaus zu einem für die Nutzenden relevanten Aspekt. Instagram erlaubt ihnen insofern einen neuen, wenn auch nur beschränkt affektiv-geprägten Weltzugang. Der im Vergleich mit dem rational-unternehmerischen Nutzungstypus weniger große Zeit- und Arbeitsaufwand geht einher mit einem zwar immer noch in Teilen sehr strategischen, aber weniger rigidem Zeitmanagement. Die Nutzenden kennen in der Regel die etablierten Strategien und sind auch darauf bedacht, sie umzusetzen, priorisieren sie aber gegenüber anderen Aktivitäten nicht. So werden Fotoshoots i. d. R. nicht extra geplant, sondern dann abgehalten, wenn sich die Situation dafür anbietet - wenn man sowieso bereits am Strand oder im Fitnessstudio ist oder das Essen bereits ästhetisch angerichtet vor einem steht (s. etwa Janosch, der vor dem Laufen seine neuen Schuhe ablichtet). Ebenso achten die Nutzenden dieses Typus zwar auf Aktualität, aber nicht mit der gleichen Strenge und Disziplin, wie dies im Fall des ‚professionelleren‘ rational-unternehmerischen Nutzungs‐ typus geschieht. Damit einhergehend lässt sich festhalten, dass die Kommunikation im Vergleich mit dem letzten Nutzungstypus insgesamt durch eine größere Asynchronität gekennzeichnet ist. Feedback und Reaktion sind im ästhe‐ tisch-rationalen Aneignungsmodus zeitlich stärker voneinander entkoppelt und nicht mehr so fein aufeinander abgestimmt wie im rational-unterneh‐ merischen Modus. Sprich: Die Nutzenden lassen sich mehr Zeit, bevor sie auf Feedback reagieren. Sie räumen beim Produzieren und Publizieren von Beiträgen der Eigenzeit mehr Gewicht ein als den plattforminternen Zeitstrukturen. Der Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Relevanz‐ strukturen. Die Nutzenden vom ästhetisch-rationalen Typus suchen zwar quantitativen Erfolg, messen ihm aber nicht den gleichen Stellenwert bei und verfolgen dieses Ziel entsprechend auch nicht mit der gleichen Konse‐ quenz wie die Nutzenden vom rational-unternehmerischen Typus. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 400 7.1.2.3 Publikum, Evaluation und Schicksalshaftigkeit Der ästhetisch-rationale Typus ist im Vergleich zum rational-unternehme‐ rischen Typus stärker innenorientiert und wiegt die eigenen Ansprüche an ein Bild gegen die Ansprüche und Wünsche des Publikums ab. Das Publikum ist für die Nutzenden dieses Typus also nicht der alleinige Maß‐ stab des Handelns, wenngleich es in den meisten Fällen gegenüber dem eigenen Geschmack priorisiert wird. Wie im Fall des ersten Typus wird das Publikumsbegehren ausgehend von den bisherigen Erfahrungen auf Insta‐ gram antizipiert oder von den Likes abgeleitet, welche die vorangehenden Beiträge erhalten haben. Stärker als die Nutzenden des rational-unterneh‐ merischen Typus - denen relativ egal ist, weshalb sich das Publikum genau für ihre Beiträge bzw. ihr Profil interessiert - erheben die Nutzenden dieses Typus jedoch den Anspruch, genuines Interesse an ihren Beiträgen zu wecken. Das Profil der Nutzenden des ästhetisch-rationalen Typus ist i. d. R. öffent‐ lich - immerhin ist es auch ihnen ein Anliegen, neue Follower zu erreichen und die Reichweite des Profils zu vergrößern. Sie nutzen ihren Account aber nicht ausschließlich zur öffentlichen Kommunikation. Private, intime Kommunikation im Kommentarbereich oder über die Messenger-Funktion hat für sie im Vergleich zum ersten Typus jedoch einen höheren Stellenwert. Phatische Kommunikation spielt durchaus eine Rolle, wenngleich sie nicht gezielt kultiviert wird. Der primäre Fokus liegt noch immer auf einem zweckmäßigen Austausch. Die Orientierung an konkreten Nutzenden steht also auch bei diesem Typus hinter der Orientierung an einem diffusen Publikum und der Antizipation eines abstrakten Publikumswillens zurück. Während der rational-unternehmerische Typus eher auf eine ‚Je mehr, desto besser‘-Strategie setzt, verfolgt der ästhetisch-rationale Typus eher eine Beitragsökonomie der künstlichen Knappheit. Man möchte, wie Janosch, die Follower nicht mit ‚Updates zuballern‘ und sich lieber rar machen. Ebenso wie in den Bildern Außeralltäglichkeit inszeniert wird, soll sich Außeralltäglichkeit auch in der Frequenz der Beiträge niederschlagen - die Nutzenden haben den Anspruch, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig zu posten, d. h. oft genug, um aktuell zu bleiben, aber auch in Abständen, die groß genug sind, um nicht als anbiedernd oder nervig zu gelten. Feedback in Form von Likes und Kommentaren verstehen die Nutzenden des ästhetisch-rationalen Typus als eine Art Währung und erwartbare Gegenleistung. Das zeigt sich in beiden Fallbeispielen sehr deutlich: Für Janosch stellen sie ‚Futter für das Belohnungssystem‘ dar, Amira wiederum 7.1 Nutzungstypen 401 sieht in ihnen eine quasi-automatische Reaktion. Diese Art der rhetori‐ schen Distanzierung kontrastiert mit der affektiven Bedeutung, die den Likes trotz allem beigemessen wird. Diesem Spannungsmoment verleiht insbesondere Janoschs Metapher vom Belohnungssystem Ausdruck: Der naturwissenschaftlich-technische Terminus drückt Objektivität und Distanz aus, zugleich verweist er aber auf einen intensiven affektiv-leiblichen und damit subjektiven Zustand. Dass die Nutzenden des ästhetisch-rationalen Typus Feedback nicht nur objektiv wahrnehmen und verarbeiten, zeigt sich auch daran, dass sie stärker als die Nutzenden des rational-unterneh‐ merischen Typus differenzieren und kategorisieren. So weisen sie etwa Kommentare gegenüber Likes als persönlichere Form der Bezugnahme aus und sehen das Feedback fremder Personen tendenziell als wertiger an, da es weniger erwartbar ist. Dem ästhetisch-rationalen Typus ist bis zu einem gewissen Grad durchaus wichtig, wer einen Like oder Kommentar abgibt. Der rational-unternehmerische Typus nimmt im Vergleich dazu Likes und Kommentare in erster Linie nicht qualitativ wahr, sondern bewertet sie anhand ihrer Quantität - was sich besonders eindrucksvoll im Fall von Jim zeigte, der das Feedback von Freunden und Familie entwertete, weil es zahlenmäßig keine Bedeutung hatte. Die stärkere Personalisierung der Kommunikation schlägt sich auch in der Dimension der Schicksalshaftigkeit nieder. Während das Rollen-Selbst‐ verständnis abnimmt - die Nutzenden sehen sich weniger als Star bzw. micro-celebrity, Person des öffentlichen Lebens oder Unternehmen -, nimmt die Identifikation zu. Nicht mehr nur die Exponierung und potentiell weitreichender Image-Schaden werden als Gefahren und Risiken betrachtet, sondern zunehmend auch die fehlende Bestätigung. Die Nutzenden dieses Typus werten Feedback zumindest partiell als persönliche Anerkennung, legen Wert auf diese Anerkennung und sind, wenngleich verhalten, besorgt um ihr Ausbleiben. Ähnlichkeiten zwischen dem ästhetisch-rationalen und dem rational-unternehmerischen Typus zeigen sich wiederum auf der Ebene des Vergleichs. Auch die ästhetisch-rationalen Nutzenden tendieren nicht zu konkreten Vergleichen, sondern gleichen ihren Like-Stand mit vagen Durchschnittswerten ab und weisen sich dadurch einen eher abstrakten Status in der Plattformhierarchie zu. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 402 7.1.3 Nutzungstypus 3: Emotional-ästhetischer Typus Fallvignette: Kiki, w22, Studentin Kiki nutzt Instagram seit etwa vier Jahren. Aufmerksam darauf wurde sie, als viele ihrer Freunde begannen, ihren Facebook-Account mit Instagram zu verknüpfen. Anfangs nutzte sie Instagram noch sehr passiv und begnügte sich damit, andere Profile zu rezipieren. Als dann aber auch Stars und Berühmtheiten begannen, auf Instagram zu posten, wurde sie selbst auch aktiver. Unter aktiv versteht sie nicht nur das Posten eigener Bilder, sondern auch das Kommentieren der Beiträge Anderer und das Abonnieren von Accounts. Beim Folgen anderer Accounts schenkt sie aufgrund der Aktualität insbesondere den Stories Beachtung. Kiki sieht Instagram als Möglichkeit, auf dem Laufenden zu bleiben, weswegen sie großen Wert auf Aktualität legt. Außerdem erfährt sie durch das Zeigen eigener Erlebnisse sowie das Betrachten der Erlebnisse anderer Nutzender ein Gefühl des Im-Mo‐ ment-Seins, des Präsent-Seins und des Miterlebens. Dem normalen Profil misst sie gegenüber den Stories weniger Bedeutung bei, da hier nicht das Momenthafte und Aktualität, sondern Ästhetik und Formschönheit die Beiträge bestimmten. Inhaltlich folgt sie Accounts, die ihren eigenen Interessen entgegen‐ kommen - dabei bleibt sie offen für die „vielen Reize“, mit denen sie auf Instagram konfrontiert wird. Sie schätzt die niedrigschwellige Möglichkeit, sich auf vielfältige Weise durch andere Profile inspirieren zu lassen und ihren Horizont zu erweitern. So habe sie viele neue Interessen entwickelt und alte Interessen intensiviert. Als Beispiel nennt sie das Thema Kunst - auf Instagram könne sie sich ohne Erwartungsdruck und im eigenen Tempo auf Neues einlassen und sich in Neues hineinfinden und habe so Zugang zu vielen neuen ‚Welten‘ gefunden. Instagram verbindet aus Kikis Sicht diese und noch viele andere ‚Welten‘ miteinander und offeriere ihr so die Chance, aus ihrem eigenen „kleinen Universum“ auszubrechen und Vielfalt kennenzulernen: individuelle Charaktere, unbekannte Kulturen oder neue Arten und Weisen mit Ästhetik, Mode und Essen umzugehen. Diese Eindrücke prägten nicht nur ihre geistige Haltung nachhaltig, sondern auch ihren Alltag, z. B. in der Art und Weise, wie sie sich 7.1 Nutzungstypen 403 kleidet oder in ihren Unternehmungen und den Lokalitäten, die sie aufsucht. Sie erwähnt auch, dass viele Beiträge Bedürfnisse in ihr wecken und die Aussicht auf Dinge oder Erlebnisse eröffnen, die ihr bislang unbekannt waren oder unerreichbar erschienen. Für Kiki spannt Instagram neue Möglichkeitshorizonte auf, die Lustgefühle in ihr auslösen. Daneben erwähnt Kiki auch explizit die Lust, zu beobachten und nachzuvollziehen, wie andere Nutzende ihre Gefühle in Bildern ausdrücken. Das Betrachten von Bildern und Profilen stellt für Kiki jedoch keinen solitären Akt dar, sondern ein interaktives und gemeinschaftliches Handeln. Durch die Verfolgung etwaiger Interessens- und Themenge‐ biete habe sie auch die dahinterstehenden Nutzenden kennengelernt, nicht selten zu diesen Kontakt aufgenommen und diesen Kontakt auf anderen Plattformen bisweilen sogar noch intensiviert. Mit einigen Nutzenden habe sie sich sogar schon außerhalb des Netzes, im „real life“ getroffen. Mit vielen davon teile sie so viele Interessen, dass sie schnell gemerkt hätte, dass sie mit ihren Offline-Freundschaften „doch nicht so auf einer Wellenlänge“ liegt. Die Online-Freunde hingegen seien „genauso wie ich“ - dadurch würde „dieses reale Leben eben so ein bisschen nach hinten“ rücken. Im Lichte der neuen Instagram-Bekanntschaften erscheinen Kiki ihre bisherigen Freund‐ schaften beinahe als defizitär. Entsprechend ist Instagram für Kiki mehr als nur eine Ansammlung loser Kontakte oder ein gesichtsloses Netzwerk - sie beschreibt ihr digitales Umfeld als „Community“ und „Club“, dem sie sich in hohem Maße zugehörig fühlt und der ihr das Gefühl vermittelt, Teil eines Kollektivs, eines „großen Ganzen“ zu sein. Ohne die App fühle sie sich exkludiert und vom Gang der Welt ausgeschlossen. Für Kiki ist Instagram ein technisches Mittel der Weltzuwendung und Weltöffnung. Auf ihren eigenen Beiträgen ist überwiegend sie selbst in Form eines Selfies zu sehen. Ergänzt werden diese Ich-Motive durch Bilder mit Freunden, Bilder von besonderen Ereignissen wie „Theater“ oder „Urlaub“ und durch ästhetisierte Motivationssprüche. Dabei achte sie mittlerweile verstärkt und antizipativ darauf, dass bspw. das Zimmer sauber oder das Essen fotogen ist, für den Fall, dass sie davon ein Bild für Instagram machen möchte. Auch versuche sie sich mit der gleichen Voraussicht nach Möglichkeit mit Dingen oder Leuten zu umgeben oder sich in „Locations“ zu bewegen, die ästhetisch „passen“, 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 404 also ‚instagramable‘ und plattformöffentlich vorzeigbar sind. In Kikis Augen sollte man viel Zeit und Gedanken auf die Bilder verwenden, die man auf Instagram teilt, da diese besonders beredt seien und viel über die dahinterstehende Person aussagen würden. Besondere Betonung legt sie dabei auf die Farbgebung und den Bildkommentar. Sie selbst setze auf neutrale Farben und versuche in den Bildkommentaren ihren persönlichen Ansichten und Meinungen Ausdruck zu verleihen. Kiki versteht das Profil als Repräsentant des eigenen Ichs. Dieses Ich kommt aber nicht spontan zum Ausdruck, stattdessen bedarf es gewisser Anstrengungen, die nötige Deckungsgleichheit mit dem realen Ich herzustellen. Beiträge sieht sie dabei nicht nur als Mittel, sich selbst anderen mitzuteilen, sondern vor allem auch als „Kommunikationsquelle“, um mit anderen in Kontakt zu treten, zu interagieren und Beziehungen aufzubauen. Dies schließt ihrer Ansicht nach auch alle „Benachrich‐ tigungsmöglichkeiten“ neben den eigentlichen Beiträgen ein, seien es private Nachrichten, Kommentare oder Likes. Besonders freue sie sich über personalisierte Kommentare, da sich darin genuines Interesse an ihrer Person ausdrücke - es zeige, dass jemand „Wert auf das, was du schreibst“ legt. Likes und Standard-Kommentare schätzt sie als Aufmerksamkeitsindikatoren zwar auch sehr, begegnet ihnen aber mit leichter Skepsis, da die Bedeutung und das Motiv dahinter meist unklar blieben. Dennoch würde es ein „ungutes Gefühl“ nach sich ziehen, wenn diese Form des Feedbacks ausbliebe und sie würde sich über kurz oder lang in Frage stellen. Sowohl das Posten eigener Beiträge als auch das Rezipieren und Kommentieren fremder Beiträge sind für Kiki Teil spezifischer Selbst‐ praktiken, in denen sie und andere die Möglichkeit finden, die „bessere Version“ ihres Selbst zu werden. Aus diesem Grunde würde man beispielsweise vorwiegend Personen folgen, die „so sind, wie man selbst gerne wäre“. Instagram eigne sich dazu, das Selbstbewusstsein zu steigern, extrovertierter aufzutreten oder mutig zu sein. Hier finde man einen geschützten Raum vor, in dem man das eigene Auftreten und Image frei bestimmen und Reaktionen kontrollieren könne und vor allem die Möglichkeit habe, Dinge auszudrücken, die man sich im Alltag so nicht auszusprechen getraue. Angesichts solcher Beobachtungen stellt sich Kiki auch die Frage, ob die idealisierte Online-Persona, die man auf Instagram kultiviert, nicht eigentlich das 7.1 Nutzungstypen 405 ‚wahre Ich‘ sei. Für Kiki verhindert die digitale Selbstdoublette also nicht Authentizität, sondern bereitet ihr mitunter sogar erst den Weg. Kiki stellt die Möglichkeit in den Raum, mit dem Online-Ich identi‐ scher zu sein als mit der im Offline-Kontext dargestellten Person. Gleichzeitig äußert sie auch einige Bedenken: die Möglichkeit, sich frei zu äußern, gehe mit einer gewissen Oberflächlichkeit einher. So verlören intime Ansprachen aufgrund der Öffentlichkeit und ihres Massencharakters an Wertigkeit. Weiterhin ginge „Tiefgründigkeit“ verloren, weil das Publikum alles „positiv drehe“. So würde bspw. Liebeskummer nicht als Ausdruck von Trauer, sondern von Mut und als Aufruf zur Stärke interpretiert. Weiterhin stört Kiki, dass viele Nut‐ zende sich auf Instagram zu sehr verstellten und ein bestimmtes Image nur deshalb pflegten, weil es gerne gesehen ist. Insgesamt erweist sich Kikis Einstellung gegenüber Instagram als ambivalent. Einerseits wertet sie die Möglichkeit der „Horizonterweiterung“ als positiv und beobachtet einen positiven Einfluss auf ihr Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeit. Andererseits stört sie die teils große Kluft zwischen Anspruch und Realität, die sie gerade im Wechsel der Offline- und Online-Ebenen erfährt. Fallvignette: Jonas, m23 Jonas wurde auf Instagram vor 3 Jahren durch Freunde aufmerksam. Zu Beginn war er der Plattform gegenüber eher negativ eingestellt. Seine „Antihaltung“ rührte in erster Linie von dem Eindruck her, dass viele Freunde von der Plattform zu sehr eingenommen wurden und sich nur noch mit ihrem Handy beschäftigten. Da er sich ohne Account aber zunehmend ausgeschlossen fühlte und nicht mehr mitbekam, „was so los ist“, beschloss er letztlich doch, sich aufgrund von „son bisschen Gruppenzwang“ auf Instagram anzumelden. Nun verbringt er laut eigener Aussage ca. 3-4 Stunden am Tag mit der App, wenngleich an manchen Tagen aber auch nur bis zu 5 Minuten. Er hat sein Profil auf privat gestellt und nimmt neben ihm bekannten Personen auch unbekannte Nutzende an - allerdings nur solche, die ihm „vom Output her“ interessant oder sympathisch erscheinen und 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 406 von denen er sich einen gewissen Erlebnismehrwert erhofft. Er selbst folgt sowohl Freunden als auch Bekannten und Stars. In seinen eigenen Postings versucht er die ganze Bandbreite des Motivischen abzudecken: von Selfies über Bilder mit Freunden bis hin zu Modeartikeln in der Profilgalerie, während er seine Follower in den Stories mit kleinen Videos bspw. über seine momentanen Unternehmungen oder über die Serien, die er zur Zeit schaut, up to date hält. Besonderen Wert legt er bei seinen Postings darauf, gut auszusehen und anderen den Eindruck zu vermitteln, er würde viel unternehmen und ein schönes, ereignisreiches Leben führen. Er spricht dabei von „Lebensfreude“-Bilder. Dies sei die Art Bilder, die ihm selbst auch bei anderen Accounts am besten gefallen würden und für die er entsprechend Likes vergibt. Er schätzt es, wenn Bilder ihn am Leben anderer teilnehmen lassen, er dies stellvertretend miterleben kann und wenn sie positive Gefühle in ihm hervorrufen. Dies möchte er auch mit seinen Bildern erreichen. Den emotionalen Erlebniswert seiner Bilder versucht er zusätzlich durch Hashtags zu verstärken, die seine eigenen oder die im Bild dargestellten Gefühle betonen. Bilder in die Profilgalerie lädt er zwei bis drei Stück pro Woche hoch. Hier ist ihm Vielfalt wichtig; es sollen nicht nur Selfies, sondern auch Orte, Dinge und andere Menschen auf den Bildern zu sehen sein. Stories wiederum postet er jeden Tag. Hierbei spiele weniger der konkrete Inhalt eine Rolle als die Möglichkeit, Aktualität herzustellen. Die Profilgalerie wiederum habe insbesondere ästhetisch-repräsenta‐ tiven Wert. So hat Jonas erst vor kurzem ‚ausgemistet‘ und alle Bilder gelöscht, die nicht mehr seiner Vorstellung eines akkuraten Profils entsprachen. Der Aktion fielen u. a. Bilder zum Opfer, die nicht (mehr) seine qualitativen Standards erfüllten. Vor allem aber sortierte er Bilder aus, deren Likezahl deutlich unter denen der anderen Bilder lag. Die Säuberungsaktion sollte dazu dienen, den Feed übersichtlicher zu halten, ihn nach außen „höherwertiger“ und beliebter wirken zu lassen und nicht zuletzt seinem eigenen (zahlen)-ästhetischem Empfinden entgegenzukommen: Ausreißer - sowohl hinsichtlich der Bildqualität als auch hinsichtlich der Likezahlen - empfindet er als störend und unangenehm. Hingegen spricht er von dem „guten Gefühl“ auf das Profil zu schauen und nur „Bilder mit vielen Likes“ zu sehen. Jonas löscht Bilder aber nicht nur im Rahmen solch größerer ‚Frischzel‐ lenkuren‘. Bisweilen löscht er Bilder auch spontan, wenn sie kurz 7.1 Nutzungstypen 407 nach dem Hochladen - etwa zwei Tage später - nicht eine gewisse Mindestanzahl an Likes erhalten haben. Die kritische Hürde ergibt sich aus dem gefühlten Durchschnitt der Likes, die er pro Bild erhält und die er auf 40-50 Likes beziffert. Alles darunter sei „enttäuschend“. Für Jonas stellen Likes unzweideutige Zuneigungsgesten dar - bleiben sie im erhofften Ausmaß aus, führt es entsprechend dazu, dass sein Selbstwert darunter leidet und er beginnt, sich zu hinterfragen, „weil man davon ausgeht, dass man die Leute nervt“ oder „sie einen nicht mehr mögen“. Für Jonas besteht kein großer Unterschied zwischen ihm als Person und seinem Profil bzw. den Bildern die er dort teilt. Grundsätzlich wirkt sich jedes Feedback auf sein Innenleben aus, insbesondere aber jenes Feedback, das sich auf Selbstdarstellungen bezieht, da man „das halt selber ist“. In den Likes und positiven Kommentaren sieht er ent‐ sprechend nicht nur die Bilder, seine Fähigkeiten oder Kompetenzen bestätigt, sondern auch sich selbst als Person. Die Follower würden ihm dadurch zeigen, dass sie ihn mögen oder „hübsch finden“. Dabei ist es ihm nicht mal wichtig, von wem genau er Likes erhält - er versuche, „bei der Allgemeinheit“ anzukommen. Das positive Gefühl, mit dem er auf die Likes und Kommentare reagiert, umschreibt er als „kleine Sucht“, als emotionales Hoch, das er durch weitere Beiträge versucht, aufrecht zu erhalten. Aber auch auf das mit einem Gefühl der Niedergeschlagenheit kor‐ respondierende Ausbleiben von entsprechend hohen Likezahlen re‐ agiert Jonas mit einer erhöhten Posting-Frequenz. Er fühle sich dann angespornt, den Misserfolg „wettzumachen“ und „auszubaden“. Jonas erfährt geringe Likezahlen also als soziales Werturteil, als Zeichen persönlicher Unzulänglichkeit und als eine Art von Verschulden, dem eine Wiedergutmachung folgen muss. Fast mehr noch sind wenige Likes aber ein ‚emotionaler Unfall‘ - ein inakzeptabler Zustand, der behoben werden muss. Diese starke Verknüpfung von Likes und Selbstwertgefühl ist auch der Grund, warum für Jonas gekaufte Follo‐ wer nicht in Frage kommen würden. Die Außenwirkung hat für ihn eine wesentlich geringere Bedeutung als der emotionale Mehrwert, den er aus echten Likes gewinnt, d. h. aus Zuneigungsbekundungen, die seiner Ansicht nach genuin sind. Das emotionale Hoch, das er dabei erfährt, bleibt nicht auf Instagram beschränkt, sondern überträgt sich als Stimmung, Gemütszustand oder gestärkten Selbstwert in seinen 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 408 Alltag. Jonas bezeichnet Instagram als Hobby, in das er viel Zeit investiert. Damit einher geht eine enge emotionale Verbundenheit mit seinem Hobby. So antwortet er, als er gefragt wird, wie er reagieren würde, wenn sein Account plötzlich gelöscht würde, dass er sich unsicher sei, ob er die „Kraft nochmal aufbringen“ könne, von vorn anzufangen. Er spricht davon, sich etwas aufgebaut zu haben, woraus letztlich deutlich wird, dass Jonas nicht nur emotional, sondern auch biographisch mit seinem Profil sehr eng verbunden ist. 7.1.3.1 Selbsterfahrung, Sozialität und Erlebnisform Der emotional-ästhetische Typus steht dem Schema der Bestätigungssuche am nächsten. Zwar ist er mit diesem Schema nicht völlig identisch, er weist jedoch nur vergleichsweise geringe Affinitäten zu den anderen beiden Sche‐ mata auf. Besonders frappant ist die starke Identifizierung der Nutzenden dieses Typus mit ihrem Profil. Sie verstehen ihren Instagram-Auftritt als eine Art Selbstdoublette und als Möglichkeit Entwicklung des Selbst. Im Fokus stehen dabei vor allem zwei Dimensionen: die Ebene der Emotionen und die Ebene der Ich-Gestaltung. Auf der Ebene der Emotionen streben die Nutzenden dieses Typus danach, ihre momentane Zufriedenheit oder ihr nachhaltiges Selbstwertgefühl zu steigern. Auf der Ebene der Ich-Gestaltung geht es ihnen vor allem darum, geeignete Formen für den persönlichen Selbstentwurf zu finden, wobei Instagram als Inspirationsquelle verstanden wird. Von abstraktem Lifestyle und praktischen Lebens-Philosophien - ‚wie möchte ich leben? ‘ - bis hin zu konkreten Praxistipps, bspw. die Mode oder den Sport betreffend, werden hier Antworten auf Fragen aus ganz unterschiedlichen Bereichen gesucht. Insbesondere die Formung und Ausgestaltung des Lebens und des Körpers stehen dabei im Vordergrund. Wenngleich hier und dort auch geistige Haltungen vermittelt werden, bspw. über Motivationssprüche (vgl. Kap. 5.3.2.1), wird Veränderung vor allem auf der materialen Oberfläche gesucht, die entsprechend ausgestaltet und vervollkommnet werden soll. Im Verständnis der Nutzenden dieses Typus werden auf Instagram Möglichkeitshorizonte dessen aufgezeigt, was man mit sich bzw. seinem Leben tun kann. Der Versuch einer „Ästhetik der Existenz“ (Foucault 2008) setzt nicht an der Haltung zur Welt an, d. h. am Wie bzw. an der Lebensführung, sondern am Was und Womit, also an der Lebensgestaltung. 7.1 Nutzungstypen 409 Umgekehrt haben die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus auch den Anspruch, anderen Nutzenden als Vorbild zu dienen - jedoch nicht im hierarchischen Sinne, wie dies für den rational-unternehmerischen Typus der Fall ist. Die emotional-ästhetischen Nutzenden sehen sich als Teil einer community of practice, in der alle gleichberechtigt sind und sich wechselsei‐ tig Tipps oder Ratschläge geben, um voneinander zu lernen (vgl. Wenger & Trayner 2015). So schließt sich denn auch der Zirkel: Die Nutzenden lernen einerseits von Instagram und lassen sich dort inspirieren. Anschließend stellen sie ihre Erfolge wieder auf Instagram aus, präsentieren sich in einem neuen Kleidungsstil, zeigen Fortschritte im Fitnessstudio oder posten ein Bild vom neuesten Reiseziel und motivieren so (vermeintlich) wieder andere Nutzende. Instagram wird so zum Ort von Praktiken der Selbstoptimierung. Das präsentierte Selbst stellt dabei nicht selten ein Ideal- oder Wunschbild dar - im Verständnis der Nutzenden dieses Typus wird dabei aber nur ein angestrebter und realisierbarer Zustand vorweggenommen. Instagram ist für die emotional-ästhetischen Nutzenden Spiegelbild und Ausdruck ihres Selbst und als solches nicht von ihrer Offline-Persona zu unterscheiden. Kiki drückt diese Ansicht sehr akzentuiert aus, wenn sie sinniert, dass in manchen Fällen das ‚Instagram-Ich‘ dem wirklichen Ich eher entspreche als das Ich im nicht-digitalen Alltag: Auf Instagram könne man sich anders als dort freier ausdrücken (vgl. Kap. 6.2.1.2). Neben der Selbstoptimierung spielen zwei weitere Aspekte eine große Rolle: Authentizität und Selbstverwirklichung. Authentizität ist eine Orien‐ tierungsgröße, die - wie typisch für das Schema der Bestätigungssuche - mit den schon erwähnten visuellen Praktiken der Idealisierung versöhnt werden muss. Authentizität bleibt als Anspruch daher immer in der Schwebe und prekär, aber damit eben auch: akut und relevant. Authentizität ist für die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus nicht etwas, das fraglos gegeben ist, sondern ein erst herzustellender Zustand - das ‚wirkliche Ich‘ muss adäquat in eine visuelle Repräsentation übersetzt werden. Vor dem Horizont der Idealisierungsprämisse erweist sich dies für die Nutzenden dieses Typus als Herausforderung. Mit dem Authentizitätsanspruch einher geht der gesteigerte Wunsch nach Selbstverwirklichung im Sinne einer stärkeren Innenorientierung. Im Vergleich zu den vorangehenden beiden Typen gewinnen die persönlichen geschmacklichen Präferenzen für die emotional-ästhetischen Nutzenden an Bedeutung, so dass sich Publikums- und Innenorientierung bei diesem Typus in etwa die Waage halten. Die 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 410 Nutzenden versuchen zu zeigen, was sowohl ihnen als auch dem Publikum gefällt. Im Gegensatz zur Selbsterfahrung des emotional-ästhetischen Typus, die sich überwiegend graduell von den vorangehenden Nutzungstypen unterscheidet, erfährt die Form der Sozialität einen drastischeren Wandel. Beziehungen werden, wie schon erwähnt, überwiegend im Rahmen von communities of practice mit bis dato unbekannten anderen Nutzenden eingegangen und erweisen sich für die Nutzenden dieses Typus insgesamt als intensiver und affektiv aufgeladener als für die ersten beiden Typen. Ankerpunkt der Vergemeinschaftung sind gemeinsame Interessen, wodurch die Communities eine gewisse Ähnlichkeit mit Szenen aufweisen. Merkmal des emotional-ästhetischen Typus ist, dass Beziehungen, die online einge‐ gangen werden, nach Möglichkeit offline fortgesetzt werden. In der Regel stammen die Personen aber nicht aus dem eigenen Umfeld bzw. Nahkreis. Dies und der Umstand, dass sich die Nutzenden dieses Typus emotional stark auf ihre neuen Bekanntschaften einlassen, führen zu reger und regelmäßiger Plattformaktivität, da dies zumindest zu Beginn die einzige Möglichkeit zur Pflege der Kontakte darstellt. Der emotional-ästhetische Typus zeichnet sich neben den bereits genann‐ ten Merkmalen weiterhin durch die im Vergleich zu allen anderen Typen größte Erlebnisorientierung aus. Die Nutzenden betonen die Gefühls- und Erlebniswerte ihrer Plattformaktivitäten; das beginnt bei der Rezeption und endet bei den eigenen Bildhandlungen - immer soll in der ein oder anderen Form das Gefühl angeregt werden. Die Bilderwelten der Anderen stellen für diesen Typus vor allem Katalysatoren des Begehrens dar. Sie wecken Wünsche und Sehnsüchte und sorgen für die bereits angesprochene Inspiration (vgl. Kap. 6.2.1.3). Die Nutzenden lassen sich durch die Rezeption fremder Bilderwelten gezielt aktivieren und stimulieren, gleich ob es sich bspw. um Modeartikel oder Reisen handelt. Rosa (2016: 430) spricht hier vom Resonanzversprechen des Konsums (das oftmals sogar befriedigender wahrgenommen werde als der tatsächliche Konsum). Die Rezeption fremder Bilder stellt für die emotional-ästhetischen Nutzenden darüber hinaus eine Möglichkeit dar, sich als präsent zu erleben und am Leben der Anderen bis zu einem gewissen Grad emotional teilzuhaben. Neben diesen Formen der Selbstaktivierung und Einfühlung betreiben die Nutzenden dieses Typus noch auf andere Weise gezieltes Emotionsmanage‐ ment. So suchen sie bspw. ihr Selbstwertgefühl zu steigern, indem sie durch das Teilen anerkennungswürdiger Bilder Aufmerksamkeit im Allgemeinen 7.1 Nutzungstypen 411 und positive Resonanz im Speziellen herausfordern, in Form von Likes, Followern und Kommentaren. All diese Feedbacksignale werden von den Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus als persönliche Werturteile in‐ terpretiert, sprich: als Zuneigungsbekundungen von mal mehr, mal weniger großer Intensität. Von der Freundschaftsbekundung bis zur Verehrung und Bewunderung finden sich alle Lesarten wieder. Die Nutzenden ‚pushen‘ sich aber, wie schon erwähnt, auch durch den Konsum von Motivationssprüchen bzw. -beiträgen. Bildpraktiken dienen dem emotional-ästhetischen Typus, stärker als allen anderen Typen, zur Regulierung des Gefühlshaushalts. Jonas spricht davon, sich mit Likes gezielt den Tag zu ‚versüßen‘, während im Fall der Nutzerin Ronda Instagram ein Mittel darstellt, um nach Negativer‐ lebnissen das eigene Ego wieder aufzubauen. Die psychologischen Effekte des Bildhandelns werden flankiert von einer weiteren Erlebnisdimension. So gestalten die Nutzenden dieses Typus Bil‐ derwelten für sich und für andere bewusst im Sinne maximalen ästhetischen Genusses. Dies geht, wie im Fall von Jonas (der hierfür die Umschreibung „Lebensfreude“ findet), sogar soweit, dass der ästhetische Sinn selbst für auf den ersten Blick rein funktionale Elemente wie Likes sensibel anschlägt. Die „Ästhetik der Kurve“ (Duttweiler: 2016) bzw. der Zahlen rückt plötz‐ lich ins Blickfeld. Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus sind ‚Gefühls-Junkies‘ und entsprechen damit dem von Zygmunt Baumann (2002) beschriebenen postmodernen Charakter der „Erregungssucher und -sammler“. Auch die Gemeinschaftsstrukturen zeichnen sich bei diesem Typus durch eine hohe affektive Valenz aus. Die Nutzenden fühlen sich mit ihrer Com‐ munity verbunden und betonen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das seinen Ursprung gerade nicht im Offline-Kontext hat, sondern erst vermittelt durch Instagram zustande kam. Im Fall von Kiki wird sogar die Rede vom „großen Ganzen“ bedient - sie verortet sich als Teil eines Kollektivs. Eine solche intensive und affektiv aufgeladene Identifikation mit der Community findet sich für keinen der anderen Typen. All die bisher genannten Merkmale zusammengenommen würde also einiges dafür sprechen, das Verhältnis der Nutzenden zu Instagram als serious leisure zu beschreiben. Auf den ersten Blick scheint der emotional-ästhetische Typus der Definition nach Stebbins (2017) näher zu kommen als der äs‐ thetisch-rationale Typus. Es besteht jedoch ein bedeutender Unterschied: Die Nutzenden des letzteren Typus definieren sich durchaus über ihre fotografischen und ästhetischen Kompetenzen - d. h. über plattforminterne 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 412 2 Man darf das Ausmaß allerdings nicht überstrapazieren. Die Orientierung an Likes kontrolliert nicht den gesamten Alltag, stattdessen ist der Effekt auf bestimmte Bereiche und Zeiten begrenzt, die individuell und situativ stark variieren können. Praktiken -, während die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus sich über plattformexterne Praktiken - die gemeinsamen „Interessen“ (Sport, Mode etc.) - und die damit einhergehenden Kompetenzen definieren. Daher erscheint es mir akkurater, im Falle dieses Typus von Instagram nicht als genuiner serious leisure bzw. als Hobby zu sprechen. Es sind vielmehr die Aktivitäten, die dort zur Schau gestellt werden, die hobbymäßig betrieben werden, während Instagram als Plattform lediglich die kommunikative Verbindung darstellt. 7.1.3.2 Erfahrungsraum und Zeitlichkeit Für den emotional-ästhetischen Typus nehmen Likes im Vergleich zum vorangehenden Typus weiter an Wichtigkeit zu. Sie gehen in den Erfah‐ rungsraum als besonders relevante quantifizierte und sichtbare Anerken‐ nungsmarker ein. Die Nutzenden dieses Typus erweisen sich als besonders sensibel für diese Form des Feedbacks, was sowohl die Wahrnehmung per se betrifft als auch die Integration der Likes in das eigene Selbstbild und den Effekt, den sie auf den Gefühlshaushalt und das (Bild-)Handeln der Personen haben. Kurz gesagt: Denken, Wahrnehmen und Handeln ist - nicht absolut, sondern relativ zu den vorangehenden Typen - zunehmend am Metadatum Likes ausgerichtet. Die emotional-ästhetischen Nutzenden greifen auf In‐ stagram zurück, um gezielt und kontrolliert Likes herauszufordern und so ihre Stimmungen oder ihr Selbstwertgefühl zu beeinflussen. Sie sehen sich andererseits aber auch den Anmutungen der (teils unerwartet hohen oder niedrigen) Likes ausgeliefert und herausgefordert, damit umzugehen. Likes werden zu einem relevanten Bestandteil ihres Alltags. 2 Damit verknüpft ist die verstärkte Aufmerksamkeit, welche der Umwelt im Hinblick auf ihre ‚instagramability‘ zukommt. Nicht nur nehmen die Nutzenden dieses Typus die Dinge um sie herum als Bildpotential bzw. ‚vi‐ suelles Kapital‘ wahr - dieser Effekt trifft auf die Nutzenden jeden Typus‘ in unterschiedlichem Maße zu. Sie antizipieren auch den möglichen visuellen Wert von Umgebung oder Aktivität und machen eine Entscheidung dafür oder dagegen (bisweilen sogar stark) abhängig von dieser Bildnutzenkalku‐ lation. Bei der Wahl zwischen dem Strand, der Radtour oder dem Café kommt es für die Nutzenden dieses Typus mitunter also stark darauf an, von 7.1 Nutzungstypen 413 was sie sich die schöneren, eindrucksvolleren oder schlicht vorzeigbareren Fotos erhoffen. Der Alltag wird aber auch noch in einer zweiten Weise stark beeinflusst. So lassen sich die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus oftmals von Profilen und Beiträgen inspirieren und versuchen die entspre‐ chenden Inhalte für sich selbst umzusetzen, indem sie entweder das dort gesehene Café besuchen, die dort präsentierte Kleidung kaufen, Urlaub an denselben Orten machen, Fitnessübungen ausprobieren, die ihnen gezeigt wurden oder die Übernahme einer vorgeschlagenen Lebenshaltung oder Lebensphilosophie einüben. Instagram wird so zu einem einflussreichen Handlungskatalysator. Zu guter Letzt durchdringen und erweitern sich digitaler und analoger Erfahrungsraum auch in der sozialen Dimension. So zeichnet sich gerade dieser Typus durch die starke Gemeinschaftsbezogenheit und eine hohe Bereitschaft aus, Freundschaften im Netz zu schließen. Dabei werden nicht selten einige dieser online-geknüpften Freundschaften in den Offline-Kon‐ text überführt bzw. dort fortgeführt. So erweitert Instagram für diesen Typus auch den Bereich der Kontaktanbahnung und die Modi des Kennenlernens. Den Nutzenden der anderen Typen stehen diese technischen Möglichkeiten gleichfalls zu Verfügung, sie lassen sich davon aber nicht im gleichen Maße ansprechen. Während die anderen Nutzungstypen im Gegenteil diese Form der Beziehungsherstellung eher problematisieren, erweist es sich für die emotional-ästhetischen Nutzenden als unproblematisch, (interpersonale) Intimität und (kollektive) Zugehörigkeitsgefühle (bis hin zu starken paraso‐ zialen Gefühlen) über Instagram herzustellen. Für die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus spielt die, zum Zeitpunkt der Erhebung noch neue, Funktion der Story eine große Rolle. Während diese Funktion von den anderen Nutzungstypen eher zögerlich aufgegriffen, teils sogar vernachlässigt wird, erweisen sich die emotional-äs‐ thetischen Nutzenden hier als ‚early adopters‘ (vgl. Karnowski 2011). Dass die Funktion eine derart hohe Wertschätzung erfährt, hängt u. a. damit zusammen, dass sie als effektives Mittel zur Herstellung von Aktualität ver‐ standen wird. Die klassische Profilgalerie hingegen wird von den Nutzenden dieses Typus als zeitloses Archiv für ästhetisch wertvolle und herausragende Bilder betrachtet, die keiner festen Chronologie folgen. Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus legen insgesamt mehr Wert auf die Story und betrachten ihr Profil als ein ‚Nebenprojekt‘. Diese Bedeutungsverschiebung wird plausibel, wenn man die starke Erlebnisorientierung dieses Nutzungs‐ typus in Betracht zieht. Instagram stellt für diese Nutzenden eine kleine, 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 414 affektiv stark besetzte soziale Welt dar, die Auswirkungen sowohl auf das Selbst als auch auf Handlungen außerhalb von Instagram hat. Instagram ist für die emotional-ästhetischen Nutzenden, mehr als dies für alle anderen Nutzungstypen der Fall ist, Teil ihres persönlichen Lebens. Das zeigt sich sowohl am Fall von Kiki, die viel soziale Kontakte knüpft und sich als Teil von etwas Größerem versteht, als auch am Fall von Jan, der seinen Instagram-Auftritt mit einem Lebensprojekt vergleicht. Aufgrund dieser starken lebensweltlichen Verknüpfungen und der daraus resultierenden vitalen Bedeutung tragen die Nutzenden Sorge, dass der kommunikative Fluss nicht abreißt und Aktualität zu jedem Zeitpunkt gegeben ist. Die ästhetischen Werte werden gegenüber dem Aktualitätsanspruch sekundär. Dabei geht es den Nutzenden dieses Typus aber nicht darum, wie etwa im Fall des rational-unternehmerischen und des ästhetisch-rationalen Typus, aus strategischen Gründen der Erfolgsoptimierung für Aktualität zu sorgen. Ebenso geht es nicht darum, wie im Fall der noch folgenden beiden Typen, bestimmten Einzelpersonen zu folgen und ‚auf dem Laufenden‘ zu bleiben. Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus sind vielmehr darauf bedacht, im aktiven Kommunikationskreislauf einer Community bzw. eines Netzwerks eingebunden zu bleiben. Die dominante Orientierung an Aktualität geht jedoch nicht zwingend einher mit einer engeren Synchronisierung von Feedback und Reaktion. Die bereits erwähnte starke Innenorientierung der Nutzenden dieses Typus hat im Gegenteil oft eine weitere Zerklüftung und zeitliche Diskrepanz zur Folge. Feedback wird erst reflektiert und verarbeitet, ehe eine Entscheidung darüber gefällt wird, ob und wenn ja, wie auf das Feedback reagiert wird. Löschaktionen, wie etwa von Jonas beschrieben, erfolgen unabhängig von aktuellem Publikumsfeedback. Die zeitliche Kopplung an das Publikum bzw. deren Feedback ist also eher gering. Im Fall von Jonas findet sich aber auch ein Beispiel für eine scheinbare Abweichung von dieser Tendenz. Der Nutzer gibt an, unerwartet niedriges Feedback gleich wieder „gutmachen“ zu wollen durch neue Beiträge. Dabei sollte allerdings beachtet werden, dass der Grund für die instantane Reaktion von Jonas nicht extrinsisch, sprich publikumsorientiert, sondern intrinsisch begründet wird: Jonas möchte den Verlust des ‚positiven Gefühls‘, das mit vielen Likes einhergeht, aufwiegen und folgt so besehen eher seiner persönlichen „kleinen Sucht“, wie er es nennt, als dem Publikumswillen. 7.1 Nutzungstypen 415 7.1.3.3 Publikum, Evaluation und Schicksalshaftigkeit Im Vergleich zu den vorigen beiden Nutzungstypen weist der emotional-äs‐ thetische Nutzungstypus eine größere Personalisierung und Individualisie‐ rung des Publikums auf, was auf den starken Gemeinschaftscharakter zurückzuführen ist, den die Kommunikation auf Instagram für die Nutzen‐ den dieses Typus besitzt. Insofern ist den emotional-ästhetischen Nutzenden nicht mehr ausschließlich das allgemeine Publikum wichtig, sondern ver‐ stärkt auch die Reaktion einzelner Nutzender, zu denen man persönliche bis intime Beziehungen aufgebaut hat. Das Publikum erhält für die Nutzenden dieses Typus ein ‚Gesicht‘ und bleibt weniger anonym und diffus als im Fall des rational-unternehmerischen und des ästhetisch-rationalen Nutzungsty‐ pus. Der Adressierungsfokus liegt dennoch auch für diesen Typus auf der Allgemeinheit. Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus wenden sich nicht an Einzelne oder kleine Gruppen von Nutzenden, sondern wollen von einer breiteren Masse gesehen und gehört werden. Trotz der verstärkten Personalisierung steht daher nicht der spezifische Like, sondern die Quantität der Likes weiter im Vordergrund. Anders als im Falle der vorangehenden Typen werden die Likes jedoch anders interpretiert. Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus verstehen Likes, wie beschrieben, als Indikatoren für persönliche Zuneigung und Anerkennung bzw. setzen sie damit gleich. Quantität wird entsprechend nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern nur vor dem Hintergrund dieser Bedeutungszuweisung. Gesucht wird also nicht der rein quantitative Erfolg oder die objektive Evaluation, sondern die persönliche Bestätigung bzw. Anerkennung durch ein Massenpublikum als Zeichen für deren Zunei‐ gung. Das Zusammenspiel von quantitativer Orientierung bei gleichzeitiger Personalisierung der Kommunikation zeigt sich im Fall von Kiki u. a. an ihrer Wertschätzung des persönlichen Kommentars. Wichtig sind ihr dabei nicht die Urheber (weder ist die konkrete Identität der Nutzenden von Belang, noch, ob sie fremd oder bekannt sind), sondern das rein quantitative Vorkommen dieser Kommentarsorte. Den emotional-ästhetischen Nutzungstypus zeichnet im Hinblick auf die Bewertungskultur weiterhin aus, dass er sehr spezifische Erwartungen an Likes entwickelt. Während der rational-unternehmerische und der ästhe‐ tisch-rationale Typus sich v. a. an den durchschnittlichen Followerzahlen orientieren und ihren Status daran messen, erweisen sich die emotional-äs‐ thetischen Nutzenden auch in dieser Hinsicht als stärker innen- und ge‐ meinschaftsorientiert. Sie orientieren sich primär an Likes und vergleichen 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 416 sich mit ihren eigenen Bestwerten oder mit konkreten Mitgliedern einer bestimmten Community. Die Nutzenden dieses Typus verorten sich bzw. die Likes tendenziell also nicht anhand eines absoluten, sondern anhand eines relativen Maßstabs. Die Skalierungsdimension nimmt ab. Die Schicksalshaftigkeit hingegen steigt: Für keinen anderen Typus sind Likes von derart persönlicher Bedeutung und auch ist kein anderer Typus in einem solchen Ausmaß affektiv engagiert. Der emotional-ästhetische Typus investiert am meisten (z. B. Zeit, Emotionen, Identität) in seine Insta‐ gram-Aktivitäten, weswegen subjektiv auch am meisten auf dem Spiel steht. Ganz konkret befürchten die Nutzenden dieses Typus einen Abfall ihres Selbstbewusstseins. Ausbleibendes oder negatives Feedback indiziert für sie einen Rückgang an Zuneigung und Anerkennung. Durch die starke Identifi‐ kation mit dem eigenen Profil werden gleichzeitig enge Verknüpfungen mit dem Selbstwertgefühl hergestellt, das in der Folge vergleichsweise sensibel und instantan auf jegliche Veränderungen (positiver wie negativer Art) reagiert. Weil die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus Instagram persönliche Bedeutung beimessen und sich gleichzeitig nicht restringieren oder einer Affektkontrolle unterziehen, sondern im Gegenteil mit vollem Körperbzw. Leibeinsatz bei der Sache sind, wird die Plattform zu einem schicksalshaften Ort der Kommunikation, deren Konsequenzen nicht auf diesen Raum beschränkt bleiben. 7.1.4 Nutzungstypus 4: Gesellig-pragmatischer Typus Fallvignette: Ruth, w28, leitende Angestellte / Model Ruth ist seit 2012 auf Instagram angemeldet. Die Plattform habe sie, neben einer grundsätzlichen Neugier, vor allem gereizt, weil sie ein Faible für Bilder habe. Sie beschreibt sich selbst als einen eher „visuellen Typ“ und gerade zu Themenbereichen wie Reisen, Sport oder Mode informiere sie sich lieber über Bilder als sich dazu einen Text durchzulesen. Wirklich aktiv wurde sie aber erst zwischen 2016 und 2017. In diesem Zeitraum habe sie durchschnittlich zwei bis drei Bilder pro Woche hochgeladen, während sie sich bis dahin eher auf die Rezeption beschränkt hatte. Dabei wechseln sich laut Ruth Phasen, in denen sie täglich postet, mit Phasen ab, in denen sie tage- oder sogar 7.1 Nutzungstypen 417 wochenlang gar nichts postet. Es komme immer auf die momentanen Umstände an, z. B. darauf, ob sich in diesen Zeiträumen gerade etwas Besonderes ereigne, sie in der richtigen Laune sei, genügend Zeit und Muße finde oder auf schöne Motive stoße. Besonders geeignet bzw. „postingwert“ erscheint Ruth die Urlaubszeit - ihr Instagram-Profil ist inhaltlich sehr stark auf Reisen fokussiert. Sie belässt es aber nicht bei diesen besonderen Momenten: Ihr ist es ein Anliegen, auch alltäglichere Szenen und Ereignisse aus ihrem Leben abzubilden. Kriterium für die ‚Postingwürdigkeit‘ ist insofern nicht ausschließlich die Außeralltäglichkeit. Es ist das „Leben und was so dazugehört“, das sie ihren Followern zeigen möchte und als dessen abbildenswerte Aspekte sie neben Essen, Trinken und Sport auch ihren Ehemann nennt. Auch sehr Triviales kann zum Beitragsinhalt werden, insofern es ihr eine Regung entlockt und sie es für „schön oder witzig“ o.ä hält. Neben dieser Bandbreite an „postingwerten“ Motiven hat sie für sich aber auch klar entschieden, was nicht auf ihrem Profil zu sehen sein soll: Ruth versteht sich trotz ihres Model-Berufs nicht als „Fa‐ shion-Girl“ und verzichtet daher auf die Darstellung von Outfits, Schminktipps, Rezepten oder Fitnesstipps. Das seien Inhalte für Ac‐ counts mit finanziellem Anliegen. Auch konstatiert sie, dass sie es ablehne, Bilder zu „organisieren“, d. h. extra zu arrangieren oder zu stellen oder sie stark zu bearbeiten: „Meistens ist es genauso wie es dann eben auch da ist“. Sie grenzt sich dezidiert von professionellen Reiseblogs und ähnlichen Angeboten ab. Dieses authentische Selbst‐ verständnis schlägt sich auch in ihrer Einstellung gegenüber einigen Bildpraktiken nieder. So positioniert sich Ruth bspw. gegenüber dem Selfie latent kritisch. Zwar lehnt sie diese Praktik nicht explizit ab, sie distanziert sich jedoch davon: Auf ihrem Profil finde man „gar nicht so viele Selfies wie bei anderen“. Gegenüber der Praxis des Posierens hegt Ruth wiederum eine sehr offenkundige Abneigung. Posieren sei nur dann legitim und angebracht, wenn man Instagram beruflich nutze bzw. damit Geld verdiene. Junge Mädchen, die solche Praktiken des Posens und Präsentierens nachahmen und sich auf ihren privaten Accounts entsprechend zur Schau stellen, empfindet sie als „lächerlich“. Wer auf Instagram als „normale Person“ - also nicht als Werbeträger o. ä. - auftritt, sollte sich in Ruths Augen auch entsprechend anders verhalten und darstellen. Das ostentative 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 418 Posieren diene nur der Jagd nach Likes und Followern. Das befürworte sie nicht und lehne sie auch für sich selbst ab. Im Gegenteil sieht Ruth die Funktion ihres Instagram-Accounts darin, ihre Follower, die sich zum größten Teil aus „real-life-Freunden“ zusammensetzen, über ihr Leben auf dem Laufenden zu halten. Einige dieser Freunde sehe sie nur noch sehr selten, weswegen ihr die Plattform eine Möglichkeit biete, wenigstens indirekt den Kontakt aufrecht zu erhalten und allen Interessierten zu zeigen, was sie gerade so macht. Obwohl ihr Profil öffentlich ist, erhalte sie auch nur von Freunden Kommentare - entsprechend „scherzhaft“ falle der Ton oftmals aus. Der Fokus liegt für Ruth daher auf der Beziehungspflege - weder spinne sie Netzwerke noch sammle sie aktiv Likes und Follower. Unbekannte Follower oder Likes von unbekannten Nutzenden sind ihr eher suspekt. Sie bezweifelt, dass sich jemand Fremdes für ihren Account interessieren könnte und legt darauf auch keinen Wert. Ruth gibt an, sich dezidiert nur mit Freunden auszutauschen: Sie antworte nur auf deren Kommentare und vergebe auch nur an diese Likes. Während Ruths Profil also öffentlich ist, beschränkt sie die Kommu‐ nikation auf den ‚privaten‘ bzw. persönlichen Austausch mit ihren Freunden. Auch die Bilder, die sie postet, seien primär an ihren Freundeskreis gerichtet, aber in ihren Augen so unverfänglich, dass „jeder“ diese sehen dürfe. Ruth versteht ihren Account nicht als Inszenierung, sondern als Repräsentation ihrer privaten Persona. Jegliche professionelle oder berufliche Verbindung versucht sie zu vermeiden. So hat sie sich beispielsweise trotz ihres Model-Jobs dagegen entschieden, einen „professionellen“ Account zu führen und Influencer-Tätigkeiten wahrzunehmen - mit der Konsequenz, dass sie bereits von Model-Agenturen abgelehnt wurde, weil sie nicht genü‐ gend Follower vorweisen konnte. Für Ruth ist ihr Instagram-Account eine private Angelegenheit. Ihr ginge es dabei besonders darum, das Besondere und Schöne ihres Lebens hervorzuheben, wobei ihr zwar keine Posen, aber zumindest kleinere Bildbearbeitungen als legitim erscheinen. 7.1 Nutzungstypen 419 Fallvignette: Sebastian, m25, Automobilkonstrukteur Sebastian beschreibt sich als Person, die schon immer den jeweiligen Kommunikations-Trends gefolgt ist - von ICQ über Facebook bis zu Instagram. Selten allerdings habe er mehr als eine Plattform zum Austausch mit anderen genutzt. So habe er sich mittlerweile auch von Facebook abgemeldet und nutze nur noch Instagram. Auf Instagram sei er vor ein paar Jahren aufmerksam geworden und habe zu Beginn gedacht, dass die App auf die Funktion des Fotofilters beschränkt sei. Als er herausfand, dass man mit Instagram auch Bilder teilen kann, habe er sich der App zögerlich angenähert und mit der Zeit immer mehr Gefallen daran gefunden. Der Reiz liegt für Sebastian darin, die eigenen Hobbies und Leidenschaften mit anderen Nutzenden zu teilen, sich mit Freunden zu vergleichen und mit Bekannten Kontakt zu halten, die er nicht mehr täglich sieht. Seine Abonnements beschränken sich auf Profile, die seine eigenen Hobbies tangieren - zum Zeitpunkt der Erhebung hat Sebastian mit seiner Frau bspw. gerade ein Grundstück erworben und sich daher auch über Instagram eingehender mit Eigenhausbau und Innenarchi‐ tektur beschäftigt. Sein Rezeptionsverhalten wird stark von seinen jeweiligen persönlichen Neigungen beeinflusst, über die er sich mit anderen Nutzenden visuell oder schriftlich auszutauschen sucht. Er gibt an, man käme „dann auch in so ne Community rein“, die sich stark aus den immer gleichen Nutzerinnen und Nutzern zusammen‐ setzen würde. Man folge einander und markiere sich gegenseitig, um einander auf neue Bilder, Ideen oder verwandte Profile hinzuweisen. Daneben rezipiert er auch viele Inhalte - z. B. Fussballvideos - zum reinen „Zeitvertreib“. Selbst poste er neben Bildern von sich und seiner Frau derzeit vor allem Bilder vom Haus. Sebastian gibt an, eine „Fitness-Phase“ gehabt zu haben, während der er überwiegend Bilder vom Training im Fitnessstudio sowie Bilder von seinem Essen online stellte. Damals hätte Instagram als eine Art „Sport-Tagebuch“ fungiert. Mittlerweile habe er sich mit dem Account vielfältiger aufgestellt und zeige auch Bilder aus dem gemeinsamen Alltag mit seiner Frau, um Freunde auf dem Laufenden zu halten, zu denen er ansonsten keinen Kontakt mehr hat. Dass er Bilder von sich zeigt, ist dabei alles andere als 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 420 eine Selbstverständlichkeit. Eine ganze Zeit lang habe er allenfalls Körperteile von sich fotografiert, aus einer diffusen Angst vor dem Verlust der Privatsphäre. Als er das erste Mal Bilder teilte, die ihn selbst zeigen, sei ihm „flau zumute“ gewesen. Er gehe auch immer noch sehr vorsichtig und selektiv bei der Bildauswahl vor und achte darauf, dass das Bild „schick“ aussieht. Er inszeniere sich da „wie alle ein bisschen“, so Sebastian. Dennoch grenzt sich Sebastian rhetorisch, wenngleich vorsichtig, von Leuten ab, die zu stark bemüht sind, sich ein „Image“ zu verpassen und mehrmals täglich Beiträge teilen. Früher, gibt Sebastian an, sei er auch wesentlich aktiver gewesen und habe 2-3 Mal am Tag etwas gepostet. Als sein Profil irgendwann gute 1000 Bilder umfasste, habe er sich jedoch entschlossen, den Großteil davon zu löschen, weil er der Ansicht sei, dass die alten Bilder sowieso niemanden mehr interessierten. Auch die Postingfrequenz habe er reduziert, von alle drei Tage auf mittlerweile alle zwei Wochen, da ihm schlicht die Zeit fehle. Seine eigenen Beiträge bzw. Bildmotive beschreibt Sebastian als ver‐ gleichsweise oberflächlich - damit versucht er sich rhetorisch einer‐ seits von Nutzenden abzugrenzen, die seiner Ansicht nach zu private und intime Inhalte teilen. Andererseits verweist er damit auf den (in seinen Augen) stark materiellen Fokus seiner Bilder. Er definiert sich selbst als „Konsum-Instagramer“ und nennt als Beispiel einen rezenten Post, auf dem er sich mit seiner Frau und dem neuen Auto hat abbilden lassen, um ein wenig „auf die Sahne [zu] haun“. Sebastian gibt an, es durchaus als reizvoll zu empfinden, mittels Instagram seinen Lebensstandard vor Freunden und Followern auszustellen. Dem allgemeinen Feedback der Freunde und Follower spricht er allerdings nur eine geringe Bedeutung zu. Es sind v. a. konkrete Andere, deren Ansichten er wertschätzt. So nennt er als Beispiel einen bekannten Bodybuilder und Wettesser, den er kennenlernte und über dessen Kommentar er sich sehr freute. Gleich neben der Prominenz rangiert die Kompetenz. So habe er bspw. in der Hausbau-Community Bekanntschaften geschlossen (er zieht diese Bezeichnung explizit dem Begriff der Freundschaft vor), auf deren Meinung und Anregungen zu themenspezifischen Inhalten er besonderen Wert legt. Und nicht zuletzt freue es ihn, von anderen Freunden speziell verlinkt zu wer‐ den, um gleich über neue Beiträge benachrichtigt zu werden. Solche Handlungen interpretiert Sebastian als Freundschaftsgeste. Sein Profil 7.1 Nutzungstypen 421 hat Sebastian auf öffentlich gestellt [mittlerweile ist es wieder auf privat gestellt, Anm. d. V.], da es schließlich Sinn und Zweck der Plattform sei, mit den Bildern auf andere zu wirken und entsprechend Reaktionen zu erhalten. Ein öffentliches Profil habe den Vorteil, dass nicht nur Freunde, sondern auch Interessierte beim „Zappen“ sein Profil einsehen, liken und „als Anregung nutzen“ könnten. Denn, so Sebastian, wenn man schon Bilder ins Internet stellt, dann „ganz oder gar nicht“. 7.1.4.1 Selbsterfahrung, Sozialität und Erlebnisform Der gesellig-pragmatische Typus weist sowohl Eigenschaften auf, die cha‐ rakteristisch für das Schema der Bestätigungssuche sind als auch solche die das Schema der Beziehungspflege kennzeichnen. Zu beiden Schemata bestehen starke Affinitäten. Dagegen herrscht eine große, antipodische Distanz zum Schema der Erfolgsorientierung. Das erste markante Charak‐ teristikum ist die verstärkte Betonung von Authentizität. Die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus nehmen für sich Anspruch, viel Wert auf eine unverstellte Darstellung des Selbst und des eigenen Lebens zu legen. Das gilt für den eigenen Instagram-Auftritt ebenso wie für die der anderen. Zwar konstatieren die Nutzenden dieses Typus, wie auch in den beiden Fallvignetten zu sehen, dass sie durchaus auf Filter und andere kleinere Bild‐ bearbeitungsfunktionen zurückgreifen, das unterminiert aber nicht ihren grundsätzlichen Anspruch an Authentizität. Das unterscheidet diesen Typus vom vorangehenden: Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus haben sich als zwiegespalten in dieser Frage erwiesen, oszillierten zwischen der Präferenz für innenorientierte Authentizität und für erlebnisorientierte Idealisierung. Der gesellig-pragmatische Typus hingegen positioniert sich zumindest theoretisch sehr eindeutig auf Seiten der Authentizität. Entspre‐ chend ist eine authentische Darstellung für diesen Typus auch nichts, was erst mühsam hergestellt werden müsste. Authentizität entspricht im Verständnis der gesellig-pragmatischen Nutzenden mehr einer individuellen Disposition als einer speziellen Entscheidung oder Leistung. Dabei werden nicht so sehr Techniken der Bildbearbeitung als vielmehr bestimmte Formen ostentativer Inszenierung als unauthentisch abgelehnt. So bringt bspw. Ruth ihre Abneigung gegenüber Posing und ihre Ambivalenz gegenüber dem Selfie als Inszenierungspraktiken zum Ausdruck. Auch Sebastian grenzt 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 422 sich von Weisen der Selbstdarstellung ab, die zu gewollt erscheinen und zu zahlreich kopiert werden. Die Nutzenden dieses Typus setzen Authentizität mit einem dezenten und unkapriziösen Auftreten gleich und verfolgen eine Philosophie des Maßes und der Mitte. Das Inanspruchnahme von Authentizität korrespondiert bei den Nutzen‐ den dieses Typus mit einer Fokussierung der Freunde und Bekannten aus dem Offline-Kontext. Die Nutzenden richten sich mit ihren Beiträgen dezi‐ diert an ein enger gefasstes Publikum. Authentizität und peer-to-peer-Kom‐ munikation liegt dabei derselbe Anspruch an ‚Natürlichkeit‘ zugrunde. Die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus verwehren sich sowohl einer künstlichen Selbstdarstellung als auch der Unterhaltung künstlicher, d. h. im digitalen Raum geknüpfter Intimkontakte. Das heißt jedoch nicht, dass überhaupt keine online-exklusiven Beziehungen hergestellt werden - diese Kontakte haben für die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus i. d. R. aber nur die Bedeutung oberflächlicher Bekanntschaften. Gut zu sehen ist dies am Fall von Sebastian, der sich zwar als aktives Mitglied bestimmter Communities sieht, diese aber überwiegend als Ort des Infor‐ mationsaustauschs und der solidarischen Hilfe versteht und bspw. keine tiefe Verbundenheit mit den Mitgliedern konstatiert. Für Sebastian wie für den gesellig-pragmatischen Typus im Allgemeinen findet der persönlich bedeutungsvolle und sozial wie emotional wertvolle Austausch nur im Rahmen des ‚natürlichen‘ Freundes- und Bekanntenkreises statt. Mit der eben beschriebenen Berufung auf Natürlichkeit und Mäßigung gehen zwei weitere für diesen Typus charakteristische Aspekte einher: Erstens die Bevorzugung alltäglicher Bildmotive und zweitens die Ableh‐ nung einer zu starken Fokussierung auf Likes. Alltäglichkeit ist für diesen Nutzungstypus dabei nicht mit Profanität und Trivialität gleichzusetzen, ebensowenig wie die Nutzenden Likes per se ablehnend gegenüberstehen. Mit der Berufung auf Alltäglichkeit grenzen sich die Nutzenden vor allem von, aus ihrer Sicht, zu gestellten oder extravaganten Bildmotiven ab, die an der Lebensrealität der Personen vorbeigehen, sprich: Sie grenzen sich ab von arrangierten und nicht spontan oder aus der Situation heraus entstandenen Fotografien. Bilder sollen stattdessen deutlich im alltäglichen Leben verankert bzw. darauf zurückführbar sein - was nicht bedeutet, dass auf den Bildern nicht die besonderen Momente des Alltags ins Zentrum gerückt werden dürften. Ähnlich relativ liegt die Bedeutung von Likes. Die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus sind, wie am Fall von Sebas‐ tian gut zu sehen, Likes durchaus zugeneigt und suchen sie auch, dennoch 7.1 Nutzungstypen 423 wird ein gemäßigtes Verhältnis angestrebt. Eine gezielte Likeorientierung, wie sie für den vorangehenden Nutzungstypus charakteristisch ist, wird dezidiert verurteilt. Es findet aber auch keine strategische Immunisierung statt, wie sie charakteristisch für die ersten beiden Typen ist. Die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus verstehen sich als Nutzende, die Likes genießen, sie aber einzuordnen wissen. Sie verfolgen ein ihrer Ansicht nach gesundes, weil maßvolles und reflektiertes Verhältnis. So gibt bspw. Ruth an, die Likes fremder Personen nicht zu ignorieren, sie aber von den wertvolleren Likes bekannter oder befreundeter Personen unterscheiden zu können. Ähnlich wie die Identifikation mit der Gemeinschaft und mit Likes fällt auch die allgemeine Identifikation dieses Nutzungstypus mit dem Profil-Al‐ ter-Ego aus. Das Instagram-Profil repräsentiert für den gesellig-pragmati‐ schen Typus durchaus die eigene, private Persona. Das zeigt sich etwa deutlich am Fall von Ruth, die eine klare Trennlinie zwischen Privatleben und Beruf zieht. Instagram ordnet sie dem privaten Bereich zu und lehnt daher jede Form der Zweckrationalisierung ab, sei es im Hinblick auf die Bildproduktion oder hinsichtlich einer Instrumentalisierung des Profils für ihren Beruf. Es findet darüber hinaus aber keine intensivere Identifi‐ kation statt wie im Fall des emotional-ästhetischen Typus. Im Fall von Sebastian äußert sich das im Verständnis des eigenen Instagram-Auftritts als „oberflächlich“. Er zeigt zwar sich selbst und sein Leben, aber nur sehr selektive und als unverfänglich verstandene Aspekte dessen. So besehen zeigt das Instagram Profil für gesellig-pragmatischen Nutzenden nur bis zu einer gewissen Grenze, wie oder wer eine Person wirklich ist (anders als noch bei den emotional-ästhetischen Nutzenden). Es lässt sich daher nur von einer bedingten Identifikation sprechen. Recht ausgeprägt ist dem‐ gegenüber die Innenorientierung der Nutzenden dieses Typus. Zwar ist das kommunikative Handeln auch hier auf das Publikum ausgerichtet - man möchte sich gegenseitig Einblicke gewähren oder solidarisch zur Seite stehen -, die Nutzenden verfolgen aber deutlich den Anspruch, ihre Bild- und Kommentargestaltung am eigenen Geschmack auszurichten. Es findet keine gezielte oder gar strategische Ausrichtung an den antizipierten oder eruierten Publikumswünschen statt. Ausschlaggebend soll sein, was man selbst schön und daher „postingwürdig“ findet. Das Fühlen und Erleben des gesellig-pragmatischen Typus ist klar entlang der peer-to-peer-Kommunikation strukturiert. Im Vordergrund steht die Pflege von offline bereits bestehenden Beziehungen. Essentiell für das 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 424 Beziehungsmanagement dieses Nutzungstypus ist das visuelle Miterleben bzw. Teilhaben-Lassen. Die Nutzenden dieses Typus versuchen einander gegenseitig Bilder aus ihrem Alltag zur Verfügung zu stellen, die es ihnen ermöglichen, sich in das jeweils andere Leben ein Stück weit einzufüh‐ len und ein Gefühl der Nähe herzustellen. Die Nutzenden praktizieren, was Reißmann (2015b: 78 f.) die „(Wieder-)Herstellung gemeinsamer Erfah‐ rungsräume“ nennt. Die Bilder fungieren dabei als intersubjektiver, geteilter Erlebnisraum. Der Text wiederum setzt eine zweifache Transkriptionsleis‐ tung voraus: Auf Seiten der Produzierenden muss Wahrnehmung in Text, auf Seiten der Rezipierenden Text in Vorstellung umgesetzt werden. Das Bild schafft dagegen eine weitestgehende modale Kongruenz. Es ist wahr‐ nehmungsnah und erfordert daher keine größere Transkriptionsleistung und kann von den Rezipierenden direkter verstanden werden. Anders als der emotional-ästhetische Typus setzen die Nutzenden des gesellig-pragma‐ tischen Typus allerdings eine vorgängige Bekanntschaft mit den Nutzenden voraus, mit denen sie in einen „wahrnehmungsnahen Dialog“ (Reißmann 2015: 71) treten. Hier zeigt sich, dass semantische Systeme nicht umstands- und bedingungslos wirken. Erst in der kontextspezifischen Aneignung und in bestimmten symbolischen Praktiken entfalten sie ihr jeweiliges Potential. Die Nutzenden dieses Typus lassen den wahrnehmungsnahen Dialog mit Fremden nur bedingt zu, weshalb sich bildvermittelte Intimkommunikation auf den Austausch mit Freunden und Bekannten beschränkt. Eine ähnliche Einschränkung betrifft die Vergabe von Likes. Likes haben für den gesellig-pragmatischen Typus, wie schon dargestellt, kaum allge‐ meine, d. h. zahlenmäßige Bedeutung. Sie erlangen für die Nutzenden dieses Typus erst dann Bedeutung, wenn sie einer Person zugeordnet werden können, die sie kennen und in der einen oder anderen Form wertschätzen. Das betrifft in der Regel Familie oder Freunde, aber durchaus auch Personen, mit denen man weniger vertraut ist, denen aber aus anderen Gründen Anerkennung entgegengebracht wird. Das Verhältnis dreht sich also gerade im Vergleich zu den ersten beiden Typen um: Während der rational-unter‐ nehmerische Typus und der ästhetisch-rationale Typus, wenn überhaupt, einzelnen Likes vorwiegend dann Wert zusprechen, wenn sie von Fremden stammen, weil diese weniger erwartbar und weniger wahrscheinlich sind, ist die Kenntnis des Gegenübers für den gesellig-pragmatischen Typus gerade umgekehrt von Bedeutung. Das liegt an der unterschiedlichen Interpretation der Likes. Während die ersten beiden Nutzungstypen Likes unter anderem als Zeichen der Anerkennung für Kompetenz und Leistung erachten - 7.1 Nutzungstypen 425 welche ein Fremder tendenziell unvoreingenommener beurteilen kann -, haben Likes für die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus eine persönliche Bedeutung. Für sie drückt sich darin in erster Linie Zuneigung aus. Und Zuneigung, so das Verständnis, kann nur von Personen Ausdruck verliehen werden, die einem persönlich nahestehen. Während die Möglichkeit, digital-vermittelt - und damit auch über Likes - Gefühle zu kommunizieren, sowohl vom emotional-ästhetischen als auch vom gesellig-pragmatischen Typus in Rechnung gestellt wird, unterschei‐ den sich beide Typen a) hinsichtlich des Adressatenkreises (wie bereits diskutiert) und b) hinsichtlich der affektiven Dimension. Die Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus stehen der digitalen Kommunikation per se schon recht kritisch gegenüber und setzen den Like entsprechend in den Status einer erwartbaren, obligatorischen Freundschaftsgeste. Für den emo‐ tional-ästhetischen Typus kann der Like hingegen durchaus auch Verehrung oder Bewunderung implizieren, gerade dann, wenn er von Fremden kommt. Diese Dimension des Likes wird von den Nutzenden des gesellig-pragmati‐ schen Typus eher abgelehnt. Neben den Bildbeiträgen selbst und den Likes werden auch die Kommentare und andere Funktionen zur Beziehungspflege genutzt. Im Fall von Sebastian sind es bspw. die Verlinkungen bzw. Tags, die als Freundschaftsgesten dienen oder zumindest so ausgelegt werden. Priorität jedoch haben die Kommentare, in denen man sich gegenseitig Aufmerksamkeit schenkt und Anerkennung oder Zuneigung ausdrückt. Gleichzeitig werden darin die durch Bild, Beschreibung oder Hashtag vorgenommen Beziehungsdefinitionen validiert. Die Techniken, Sprechakte und Zeichen, auf die man hierfür zurückgreift, unterscheiden sich nicht groß von denen der bisher vorgestellten Typen. Der Unterschied liegt in der Häufigkeit und im Adressatenkreis. So kommentieren der rational-un‐ ternehmerische und der ästhetisch-rationale Typus nur sehr eingeschränkt und strategisch, während der emotional-ästhetische Typus im Vergleich zum gesellig-pragmatischen häufiger kommentiert und den Adressatenkreis ausdehnt. Ästhetisches Erleben spielt für diesen Nutzungstypus nur eine unterge‐ ordnete Rolle. Nicht dass die Nutzenden dieses Typus keinen Wert auf Ästhetik, d. h. ‚schöne‘ Bilder, legen würden oder über keine entsprechenden Kompetenzen verfügten - Ästhetik und Qualität der Bilder haben aber eine wesentlich geringfügigere Bedeutung und treten im Vergleich zu anderen Motiven zurück. Instagram hat für die Nutzenden des gesellig-pragmati‐ schen Typus den Status einer beziehungsorientierten Freizeitaktivität, der 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 426 man sich aber selten in größerem Umfang widmet. Instagram wird genutzt, um unkompliziert Kontakte zu pflegen oder sich die Zeit zu vertreiben (im Sinne Stebbins (2017) also casual leisure) - und genau diesen Anforderungen müssen auch die Bilder genügen. 7.1.4.2 Erfahrungsraum und Zeitlichkeit Die vergleichsweise profane Nutzung zum Zeitvertreib aber auch die verstärkt innenorientierte Aneignung haben Auswirkungen auf die Durch‐ dringung von Online- und Offline-Welt. So haben die Instagramaktivitä‐ ten, anders als bei den vorangehenden Typen, für den gesellig-pragmati‐ schen Nutzungstypus nur noch wenige Auswirkung auf den Alltag abseits der Plattform. Die dezidierte Ablehnung von Inszenierungspraktiken hat beispielsweise zur Folge, dass die Wahl der Aktivitäten oder Orte im Offline-Kontext kaum bis gar nicht davon beeinflusst wird. Umgekehrt werden die Postingaktivitäten primär bestimmt von den Ereignissen im Alltag. Ein Bild wird idealerweise dann geschossen und geteilt, wenn es sich gerade anbietet bzw. wenn die Situation es erlaubt. Es werden nicht (oder nur in sehr begrenztem Rahmen) Situationen extra ‚geschaffen‘. Auch erwähnen die Nutzenden dieses Typus viel seltener und wenn, nur geringfügige Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung. ‚Instagramability‘ als Wahrnehmungsmuster, vor dem die Umgebung interpretiert wird, spielt für die gesellig-pragmatischen Nutzenden kaum eine Rolle. Ebenso verlieren für diesen Nutzungstypus die Metadaten sowohl außer‐ halb von Instagram als auch plattformintern an Bedeutung. Scheint die Followerzahl bereits per se keine Relevanz zu besitzen, kommt den Likes zu‐ mindest noch eine begrenzte Bedeutung zu. Die Nutzenden fühlen sich von den Likes bestimmter Personen bzw. Personengruppen angesprochen und stellen gerade bei Freunden eine deutliche affektive Resonanz fest. Sie sehen sich durch Likes hingegen nicht, wie noch die vorherigen Nutzungstypen, zu bestimmten Handlungen verleitet. Außerhalb von Instagram verliert sich die Bedeutung der Metadaten für die Nutzenden schließlich gänzlich, es werden weder situative noch dispositive Effekte wahrgenommen. Der Erfahrungsraum wird lediglich auf zwei sehr basalen Ebenen durch Insta‐ gram erweitert: Einmal durch die Anreicherung der Beziehungspflege durch Bilder und die so ermöglichte Herstellung eines intimeren Nahverhältnisses. Und schließlich durch die Informationen und Anregungen, die man durch die Einbindung in bestimmte interessensbasierte Communities erhält. 7.1 Nutzungstypen 427 Ganz ähnlich verhält es sich mit der zeitlichen Struktur. Alltag und In‐ stagram-Nutzung verlaufen für den gesellig-pragmatischen Nutzungstypus überwiegend asynchron und quer zueinander anstatt parallel. Instagram begleitet den Alltag der Nutzenden dieses Typus nicht auf Schritt und Tritt, wie dies insbesondere für den emotional-ästhetischen Nutzungstypus der Fall ist. Die Plattform wird stattdessen als eigener Kosmos verstanden, der bestimmte Funktionen für die Beziehungspflege erfüllt, darüber hinaus aber weder emotional noch praktisch in besonderem Maße in den Alltag integriert ist. Während die vorhergehenden Nutzungstypen oftmals den zeitlichen Strukturen von Instagram folgen und ihre Beitragsaktivitäten von plattformrelevanten Zeitfenstern abhängig machen, sind die Beitrag‐ saktivitäten der Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus von der All‐ tagszeit bestimmt. Das betrifft die Tageszeit ebenso wie die allgemeine Postingfrequenz, wie anschaulich am Fall von Ruth nachvollziehbar ist: Die Nutzerin gibt an, keinem plattformbedingten Zeitdiktat zu folgen, sondern nur dann Beiträge einzustellen, wenn es der Alltag und die Situation zulassen und sie in der entsprechenden Stimmung ist - weswegen sich Phasen mit hoher Postingfrequenz, etwa im Urlaub oder während anderer besonderer Ereignisse, mit ‚Durststrecken‘ abwechseln würden, in denen im Alltag und damit auch auf dem eigenen Instagram-Profil nicht viel passiert. Bietet der Alltag von sich aus keinen Anlass für Beiträge, so suchen die Nutzenden dieses Typus sie i. d. R. auch nicht oder führen sie extra herbei. Dies entspricht ihrem Ideal, auf Instagram den Alltag nur abzubilden und nicht zu inszenieren. Auch auf der Mikroebene geht die Synchronisation verloren: Reaktionen auf das Feedback finden, wenn überhaupt, nur stark verzögert statt. 7.1.4.3 Publikum, Evaluation und Schicksalshaftigkeit Der Grad der praktischen Publikumsorientierung liegt für den gesellig-prag‐ matischen Typus allgemein sehr niedrig. Aufgrund der starken Innenori‐ entierung und der geringen allgemeinen Bedeutung, welche die Plattform‐ kommunikation für die Nutzenden dieses Typus besitzt, erweisen sie sich in ihrer Handlungsausrichtung als relativ autonom, verglichen mit den vorangehenden Nutzungstypen. Publikumsfeedback wird zwar registriert, hat aber keine oder kaum Konsequenzen für die eigenen Postingaktivi‐ täten. Der bereits dargestellte Umgang von Sebastian mit Bildern steht exemplarisch für diese Haltung: Selbst das Löschen von Bildern erfolgt bei ihm orientiert an der eigenen Einschätzung des Interessantheitsgrads 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 428 und nicht orientiert an der möglichen Außenwirkung oder einem bestimm‐ ten Like-Niveau. Das relevante Publikum wird von den Nutzenden des gesellig-pragmatischen Typus so oder so stark eingeschränkt, wie bereits gezeigt: Im primären Wahrnehmungsradius liegen überwiegend Freunde, Bekannte und die ein oder andere Prominenz. Umgekehrt präsentieren sich die Nutzenden dieses Typus aber auch nur einem kleinen Kreis. Zwar fällt die gesellig-pragmatische Aneignungsweise nicht automatisch mit einem privaten Profil zusammen; die Accounts vieler Nutzender dieses Typus sind öffentlich. Es wird jedoch nicht aktiv der Kontakt zur Öffentlichkeit gesucht. Die Nutzenden dieses Typus hinterlassen nur sehr bedingt, bspw. im Rahmen spezifischer interessensbasierter Gruppen, Kommentare auf fremden Profilen und liken fremde Beiträge auch nur sehr selten. Das initiative Netzwerken, wie es in unterschiedlichem Ausmaß charakteristisch für die vorangehenden Nutzungstypen war, kommt bei diesem Typus zum Erliegen. Likes oder Kommentare von fremden Nutzenden wirken, ebenfalls im Vergleich zu den vorangehenden Nutzungstypen, auf die Nutzenden dieses Typus tendenziell eher befremdlich denn als Adelung, wie etwa Ruths Fall demonstriert, weswegen sie eher auf Abstand dazu gehen. Die Nut‐ zenden des gesellig-pragmatischen Typus sind grundsätzlich bereit, sich öffentlich zu zeigen, erwarten aber Diskretion und Zurückhaltung und schrecken vor (kommunikativer) Berührung durch Fremde zurück. Diese eher ablehnende Haltung gegenüber kommunikativer Expansion als auch die Haltung gegenüber Likes (man versteht Likes eher als Bestätigung unter Freunden) macht die Nutzenden dieses Typus letztlich weniger anfällig und sensibel für Vergleiche. Auch achten die gesellig-pragmatischen Nutzenden auf eine zurückgenommene Selbstdarstellung. Beispielhaft hierfür steht Sebastians Fall: Der Nutzer gibt an, lange gezögert zu haben, bevor er Bilder auf Instagram teilte, auf denen er selbst abgebildet war. Dieser Schritt kostete Sebastian laut eigener Aussage einige Überwindung und selbst jetzt noch gebe er streng Acht darauf, sich auf Bildern möglichst unverfäng‐ lich zu zeigen. Diese grundsätzliche Vorsicht und die allgemeine Skepsis gegenüber zu elaborierten oder frequenten Selbstdarstellungen, welche den gesellig-pragmatischen Typus kennzeichnet, hat zusammen mit der gesun‐ kenen Neigung zu Vergleichen und der relativ geringen Bedeutung, die Instagram allgemein attestiert wird, eine verminderte Schicksalshaftigkeit zur Folge. Sprich: die Nutzenden dieses Typus fühlen sich weniger exponiert und auf dem Präsentierteller sitzend. Die Angst vor einem potentiellen 7.1 Nutzungstypen 429 Gesichtsverlust liegt etwa deutlich niedriger als bei den vorangehenden Nutzungstypen, da einerseits bewusst Vorkehrungen getroffen werden, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und andererseits die sozialen Konsequenzen geringer eingeschätzt werden. Die Nutzenden dieses Typus nehmen sich aber nicht gänzlich aus dem Spiel der Anerkennung heraus: Wenngleich kein öffentlicher Vergleich stattfindet, so findet auf einer sehr niedrigschwelligen Ebene doch zumindest eine Art des Abgleichs in der peer-group statt. Der Nutzer Sebastian deutet das bspw. an, wenn er davon spricht, durch die Präsentation prestigeträchtiger Konsumartikel ein wenig Neid bei seinen Freunden auslösen zu wollen. Dieses Motiv scheint aber eher latent mitzulaufen und nicht im Vordergrund zu stehen. Dennoch mischt sich in die Beziehungspflege und den Austausch unter Freunden und Bekannten ein implizit agonales Element. Das ‚Schaulaufen‘ vor Freunden, Bekannten und Schulkameraden ist aber nur für Eingeweihte und Adressierte vollumfänglich verständlich und anschlussfähig, da es auf intersubjektiven Relevanzstrukturen und der wechselseitigen Kenntnis der Lebensumstände beruht. 7.1.5 Nutzungstypus 5: Pragmatisch-privater Typus Fallvignette: Constantin, m23, Student Constantin nutzt Instagram schon relativ lange. Kurz nachdem die App herauskam, wurde er durch Handywerbung darauf aufmerksam. Zu Beginn wusste er noch nicht, um was für eine App es sich bei Instagram handelt und so hielt er es anfangs für ein reines Fotobear‐ beitungsprogramm. Die Bearbeitungsfunktionen sagten ihm damals aber nicht zu und die soziale Netzwerkfunktion war ihm gar nicht aufgefallen. Nachdem er die App wieder gelöscht hatte, dauerte es eine ganze Zeit, bis er von einer Freundin wieder auf die App und insbesondere auf die Möglichkeit, Bilder zu teilen, aufmerksam ge‐ macht wurde. Die Freundin beschrieb ihm Instagram als Alternative zu Facebook mit Fokus auf Bildern, woraufhin er begann, die App aktiv zu nutzen. Dabei tauschte er sich anfangs nur mit recht engen Freunden und Bekannten aus, andere Follower hatte er noch nicht. Auch nutzte Constantin zu Beginn ein Pseudonym, mittlerweile verwendet er aber 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 430 seinen richtigen Namen. Constantin gibt an, seine Beiträge achtsam und reflektiert auszuwählen, sein Konto dadurch im Griff zu haben und nichts „verstecken“ zu müssen. Er ist sehr auf Kontrolle bedacht und führt daher auch nur einen privaten Account. Allerdings lade er sowieso nur Inhalte hoch, die er mit gutem Gewissen auch öffentlich teilen kann. Er unterscheidet prinzipiell zwischen drei Arten von Bildern: Zwischen 1) vergleichsweise unverfänglichen Bildern, die (teil-)öffentlichkeitstauglich sind, 2) intimeren Bildern, die nur für die Augen bestimmter konkreter Anderer gedacht sind (z. B. Bilder, auf denen er Alkohol trinkt) und die er nur über private Messenger teilt (z. B. WhatsApp) sowie 3) Bildern, die er für sich behält und die er Anderen nur unter ganz bestimmten Umständen zeigen würde. Diese differenzierte Selektionspraktik entspringt Constantins Überzeugung, dass nicht jeder alles über ihn wissen müsse. Kontrolliert geht Constantin aber auch in seinem Rezeptionsverhalten vor. Der Anzeigealgorithmus von Facebook erschien ihm bspw. immer etwas zu willkürlich. Als großen Vorteil von Instagram sieht er es an, stärker selbst darüber entscheiden zu können, welche Beiträge ihm angezeigt werden. Hierzu geht er sehr selektiv bei der Annahme von Followeranfragen vor. Früher habe er nur Freunde zugelassen, sich mittlerweile aber auch partiell für Nutzende mit korrespondierenden Interessen geöffnet. So bekomme er nur das zu sehen, was er auch wirklich sehen möchte. Kritisch sieht er den zum Zeitpunkt der Erhebung gerade erst geänderten, neuen Anzeige-Algorithmus, der nicht mehr streng chronologisch präsentiert, sondern Beiträge nun aufgrund vieler unterschiedlicher Kriterien gewichtet. So, beklagt Constantin, würden Freunde mit wenigen Beiträgen und geringer Aktivität im Feed oft untergehen. Er folge zwar mittlerweile auch einigen Künstlern, um näher an ihnen und ihrem Schaffensprozess dran zu sein, im Grunde interessiere ihn aber vor allem das Leben seiner Freunde. Durch den neuen Algorithmus fühlt sich Constantin ein Stück weit in seiner Rezeptionsautonomie beschnitten. So sehr Constantin den Prozess des Teilens kontrolliert und reflektiert, so wenig systematisch, gibt er an, geht er wiederum bei der Produktion der Bilder vor. Bilder entstünden bei ihm immer spontan aus dem Moment heraus und wann und wo er Fotos mache, hänge ganz von der jeweiligen Situation ab. Weder plane er Bilder oder Bildreihen noch verspüre er einen „Drang“ etwas zu posten. So komme es auch schon‐ 7.1 Nutzungstypen 431 mal vor, dass er einen Monat lang gar nichts poste. Inhaltlich orientiert sich Constantin insbesondere am Kriterium der Bedeutsamkeit, d. h. Bilder müssen für ihn persönlich bedeutsam sein, damit er sie auf Instagram teilt. Hierzu können besondere Orte zählen, an denen er gewesen ist, z. B. schöne Landschaften, oder besondere Ereignisse, die er erlebt hat, z. B. Feiern mit Freunden. Diese Bilder seien für seine Freunde und ihn selbst gedacht, weswegen sich Bildunterschriften o. ä. in der Regel auch erübrigten, da dem Personenkreis, der angesprochen werden soll, der Kontext ohnehin bekannt ist. Zwar ist Instagram für Constantin ein Mittel, mit anderen in Kontakt zu treten, im Vordergrund steht aber ein eher privatimes Motiv: Er versteht die Plattform als persönliches digitales Fotoalbum bzw. Foto‐ tagebuch. Den Vorteil gegenüber einem herkömmlichen E-Fotoarchiv sieht er im ästhetischen Design der Seite und dem Arrangement der Bilder sowie der Möglichkeit, andere - all jene, die es interessiert - gleichzeitig an seinem Leben teilhaben zu lassen und ihnen zu zeigen, was für ihn von Bedeutung ist. So sei das Album nicht nur für ihn gedacht; er finde es stattdessen durchaus „okay“, „wenn Leute sich dafür interessieren“. Letztlich stelle aber sein subjektives Empfinden den einzigen Maßstab für die Auswahl der Bilder dar. Er sammle auf diese Art und Weise für sich Momente, „speichere“ Erinnerungen „chronologisch“ und genieße es, sich diese immer wieder retrospektiv zu vergegenwärtigen. Die Bildersammlung stellt sozusagen ein visuel‐ les, ästhetisch-leicht überhöhtes Best-Of seines Lebens dar. Daher sehe er auch keinen Anlass, Bilder zu löschen - erst recht nicht aufgrund von Likes. Likes nehme er lediglich zur Kenntnis, sie hätten aber keinerlei Bedeutung für ihn, da die Anzahl so oder so unwillkürlich fluktuieren würde. Auch einzelnen Likes schenkt er kaum Beachtung. Er distanziert sich vielmehr von Likes, indem er das darauf basierende Feedbacksystem als „total krank“ und das strategische Sammeln von Likes als „total dämlich“ und „krankhaft“ bezeichnet. Constantin pathologisiert die Evaluationsfunktionen also sehr explizit. Er selbst habe es weder auf viele Likes noch auf viele Follower abgesehen. Beides steht dem überwiegend privatimen Gebrauch entgegen und sei daher „nicht mein Ziel“. Kommentare setzt er ebenfalls nur sehr einge‐ schränkt ein und versteht sie als Honorierung der wenigen Inhalte, die ihn besonders und „direkt ansprechen“. Constantin gibt an, Instagram zunehmend kritischer gegenüberzustehen, da die Plattform immer 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 432 kommerzieller und unpersönlicher werde. Da Instagram sowieso noch nie eine „große Relevanz“ für ihn gehabt hätte, spiele er mittlerweile auch mit dem Gedanken, sich zurückzuziehen. Struktur und Dynamik der Plattform stünden seinen Nutzungsmotiven zunehmend entgegen. Fallvignette: Nele, w21, Studentin Für Nele wurde Facebook durch Instagram als primäre Plattform abgelöst, auf der sie sich mit Freunden austauscht. Der Austausch unter Freunden ist auch der primäre Sinn und Zweck, den Nele ihrer Nutzung zugrunde legt. Sie möchte den ihr nahestehenden Personen die Möglichkeit geben, an ihrem Leben teilzuhaben und möchte im Gegenzug auch sehen können, was diesen widerfährt und was sie erleben. Instagram dient ihr also in erster Linie dazu, sich mit Freunden und Bekannten gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Darüber hinaus folgt sie auch medial bekannten Stars, um mehr von ihnen „erkennen“ und „lernen“ zu können, sprich: intimere Einblicke zu gewinnen. Nele macht einen Unterschied zwischen den Bildern, die sie in Stories postet und denen, die sie in der Profilgalerie teilt. Bei letzteren handele es sich um „durchdachte“ Bilder, d. h. um Bilder, die sie sorgfältig abgewogen und ausgewählt hat. In ihren Stories hingegen teilt sie Bilder, die ihrer Ansicht nach keine lange Haltbarkeit haben und höchstens dazu geeignet sind, einen aktuellen Eindruck zu vermitteln. Als Beispiel nennt sie Bilder vom Mittagessen, die sich zwar für Stories eignen würden, aber für eine Dauerausstellung in der Profilgalerie zu uninteressant wären. Weiterhin nehmen Stories bei Nele eine Sonderstellung ein, da sie die damit verbundene Nachrichtenfunktion teilweise wie einen Messengerdienst zum privaten Austausch mit einzelnen Person nutzt. Bei den Bildern, die Nele in der Profilgalerie teilt, unterscheidet sie zwischen Bildern, die besondere Ereignisse aus ihrem Leben abbilden und solchen, die sie aus „Jux und Dollerei“ heraus teilt. In die letzte Kategorie fielen bspw. Landschaftsbilder oder Memes, die sie zum ästhetischen Genuss oder zur Erheiterung poste. Die erste Kategorie hingegen diene dazu, besondere Ereignisse 7.1 Nutzungstypen 433 mit den Freunden zu teilen. Die Ereignisse müssten dabei nicht im strengen Sinne außergewöhnlich sein - ein Konzert oder eine Silvesterparty mit Freunden ist Nele bereits Anlass genug. Damit möchte sie anderen zeigen, wieviel Spaß sie etwa auf dem Konzert hatte oder Freunde daran „erinnern sozusagen, dass ich das Treffen toll fand“. Insbesondere Bilder mit Freunden haben für sie die Funktion eines kollektiven Erinnerungsankers. Bisweilen arrangiert sie Bilder aus der Profilgalerie auch zu einem Jahresrückblick o. ä. für die Story. Die Bildproduktion geht bei Nele unterschiedlich, aber nie geplant vonstatten: Mal erfolgt sie anlassbezogen - bspw. bei besagten Kon‐ zerten oder Treffen mit Freunden -, mal erfolgt sie intuitiv und spontan aus der Situation heraus, wie etwa bei Landschaftsbildern. Sie gibt jedoch an, nie gezielt auf die Suche nach Motiven zu gehen oder gar Fotoshoots zu veranstalten. Bei der Qualität legt Nele unter‐ schiedliche Maßstäbe an. In vielen Situationen versuche sie, qualitativ hochwertige Fotos zu schießen und entsprechend auch die besten Bilder aus einer Bilderserie auszuwählen. Bei Bildern, die „aus dem Moment“ heraus entstehen und vor allem bei Gruppenbildern sei es ihr aber wichtiger, dass das Bild natürlich aussieht. Das Teilen der Bilder erfolgt dann entweder direkt in der jeweiligen Situation oder in Zeiten der Muße oder Langeweile. Durststrecken würden vor allem dann entstehen, wenn sie viel zu tun habe oder schlecht gelaunt sei. Unter diesen Umständen poste sie nichts. Ihre Beiträge erfolgten also vor allem „gefühlsgeleitet“ und nicht nach „Kalender“. Nele gibt an, sie nehme sich für die Auswahl der Bilder oft auch Zeit und reflektiere das jeweilige Bild wie auch ihr Postingverhalten und ihre Postingfrequenz. So verzichte sie beispielsweise auf einen Beitrag, wenn der neueste noch nicht lange genug zurückliegt, aus Angst, ihren Followern auf die Nerven zu gehen, „weil „ich dann halt auch das Gefühl hab, ich spam die Leute zu“. Auch über die Bildunterschriften macht Nele sich Gedanken. Diese fielen je nach Bild mal mehr und mal weniger umfangreich aus. Ein Kinderbild bspw. erfordere laut Nele eine recht spezifische Beschreibung, während bspw. ein Gruppenbild ohne diese Kontextualisierung auskäme und damit als Beitrag „einfacher“ sei. Über die Likes, die ihre Bilder erhalten, sagt Nele, freue sie sich zwar, sie würde ihnen aber nicht viel Bedeutung beimessen. Die Quantität der Likes spiele für sie keine Rolle, weswegen sie darin auch keinen Anlass zum Löschen von Bildern sähe. Wenn überhaupt wären ihr die 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 434 Likes oder Kommentare bestimmter Follower bzw. Freunde wichtig, insbesondere diejenigen der Personen, die auf einem Foto abgebildet sind. Mit einem Like oder Kommentar bestätigen Freunde in Neles Verständnis die Beziehung oder die Bedeutung eines Ereignisses. Bei ausbleibenden Likes sähe sie diese Bedeutung in Frage gestellt und wäre „traurig. Um dem vorzubeugen, markiert sie Freunde und fordert diese damit indirekt zur Reaktion auf. Nele gibt an, auch nur Freunde aus dem Offline-Kontext zu liken und zu kommentieren. Fremde Profile rezipiere sie lediglich, interagiere damit aber nicht. Sie versteht ihren Account als privat, hat auch entsprechende Einstellun‐ gen vorgenommen und betont, dass sie streng darauf achte, wer ihr folgt. Persönliche Kenntnis ist dabei das entscheidende Kriterium. Wie Constantin hat auch Nele einen relativ hohen Anspruch an Kontrolle. 7.1.5.1 Selbsterfahrung, Sozialität und Erlebnisform Der letzte Nutzungstypus - der pragmatisch-private Typus - zeichnet sich durch seine starke Nähe zum Schema der Beziehungspflege aus und die gleichzeitige große Distanz zu den beiden anderen Schemata. Charak‐ teristisch ist die äußerst privatime, sich nach außen abschließende Form der Aneignung von Instagram und der im Vergleich zu allen anderen Nutzungstypen pragmatischste Gebrauch der Plattform. Das lässt sich gut im Vergleich mit dem rational-unternehmerischen Typus zeigen. Auch die Nutzenden dieses Typus weisen teils deutliche pragmatische Haltun‐ gen auf, die jedoch stärker plattformorientiert und extrinsisch motiviert sind. Die rational-unternehmerischen Nutzenden folgen, anders als die pragmatisch-privaten Nutzenden, der Plattformlogik der Follower und Likes und orientieren sich an einem extrinsisch motivierten Optimierungs- und Leistungsgedanken. Der Pragmatismus der Nutzenden des letzten Typus ist nüchterner, innenorientierter und v. a. auf Nützlichkeit im Alltag fokussiert. Im Vordergrund stehen dabei die Beziehungspflege und die Verwendung des Profils als Bilderarchiv. Im Vergleich mit dem gesellig-pragmatischen Typus fällt die Beziehungspflege aber nochmals ein Stück privatimer aus. Der Kreis der Freunde wird enger gezogen, öffentliche Sichtbarkeit wird vermieden und Instagram-exklusive Bekanntschaften fallen gänzlich unter das Radar oder werden zumindest mit Skepsis bedacht, jedenfalls nicht gezielt gesucht. Der Austausch innerhalb interessensbasierter Gemeinschaf‐ 7.1 Nutzungstypen 435 ten ist im Gebrauchsskript der Nutzenden dieses Typus nicht vorgesehen. Charakteristisch für diesen Typus ist, dass die Nutzenden großen Wert auf Kontrolle und Sicherheit legen. Das ist ein Hauptgrund dafür, warum viele Nutzende des pragmatisch-privaten Typus ihr Profil auf privat gestellt haben. Doch auch abgesehen von dieser eher technischen Sicherheitsmaß‐ nahme tragen die Nutzenden Sorge für ihre Privatsphäre. So gehen sie bspw. sehr selektiv bei der Bildauswahl vor und reflektieren sowie differenzieren die Angemessenheit bestimmter Bilder bzw. Bildinhalte. Im Fall von Nele fällt etwa die Unterteilung in Galerie- und Story-Bilder auf, im Fall von Con‐ stantin die feine Differenzierung in Stufen der Öffentlichkeitstauglichkeit. Die Reflektion entfällt dabei wesentlich stärker auf den Schutz der Privatheit als auf Fragen der Ästhetik oder Publikumswirksamkeit, welche größtenteils den Auswahlprozess der vorangehenden Typen leiten. Auch im Bereich der Bildrezeption weist dieser Nutzungstypus ein ähnlich stark ausgeprägtes Kontrollbedürfnis auf. Die Frage, wer das eigene Profil sehen darf, wird nicht nur vom Beziehungsstatus abhängig gemacht, sondern auch von der Attraktivität des jeweiligen Profils. So wird sichergestellt, dass im Feed keine uninteressanten oder anderweitig störenden Beiträge auftauchen. Weiterhin kennzeichnend für den pragmatisch-privaten Typus ist die Selbstverständlichkeit des Authentizitätsanspruchs. Die Authentizität der eigenen Darstellungen wird weder problematisiert noch ist sie Gegenstand anderweitiger expliziter Erörterungen - stattdessen wird sie vorausgesetzt. So verstehen die Nutzenden dieses Typus ihre Bildhandlungen als spontan und situationsbedingt. Systematische Motivsuche und gestellte Bilder wi‐ dersprechen ihrem Selbstverständnis und dienen höchstens als Kontrastfolie für das eigene Tun. Die Nutzenden beanspruchen Natürlichkeit für ihre Bilder und stellen diesen persönlichen Anspruch einem als äußerlich ver‐ standenen Anspruch an die Qualität der Bilder voran. Nicht schön soll das Bild in erster Linie sein, sondern vor allem authentisch. Unter den Anspruch der Authentizität fällt auch die Orientierung an persönlicher Bedeutsamkeit: Bilder werden so ausgewählt und eingestellt, wie es der persönlichen Relevanzstruktur - und nicht der des Publikums - entspricht. Da der Austausch, wie schon angedeutet, von den Nutzenden des prag‐ matisch-privaten Typus auf einen engen Kreis an Vertrauten und Bekannten begrenzt wird, ergibt sich für sie auch nicht in gleichem Maße die Notwen‐ digkeit einer ästhetischen Außenorientierung. Die Bildkommunikation ist primär gruppenorientiert und dient der Festigung bereits bestehender sozia‐ ler Bande. Noch stärker als im Fall der vorangehenden Typen wird Instagram 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 436 von diesem Typus als Raum für Freundschaftsbekundungen genutzt, wobei die Bilder eine Art Beziehungsanker darstellen. Neben dieser direkten und auf wechselseitigem Austausch fußenden Form der Beziehungspflege spielt auch das für den gesellig-pragmatischen Typus bereits besprochene Teilen von Erfahrungsräumen eine große Rolle: Man hält andere auf dem Laufenden über das eigene Leben und hält sich über deren Leben auf dem Laufenden - ganz unverbindlich und ohne wechselseitigen Kontakt oder die damit verbundenen Erwartungen und Konventionen. Im Fall von Constantin führt diese Engführung der Kommunikation dazu, dass er überwiegend auf Hashtags und Bildunterschriften verzichtet, da er entsprechendes Kontext‐ wissen bei den Adressaten voraussetzt. Neben der Beziehungspflege als gemeinschaftlicher Funktion hat Insta‐ gram für die Nutzenden dieses Typus auch noch eine sehr individuelle Funktion, und zwar als ästhetisches Bilderarchiv. Instagram wird als Ort der Bewahrung und Aufbereitung von Bildern für den eigenen Genuss verstanden, wobei Kontemplation und Konsum im Vordergrund stehen. Instagram als eine Art visuelles Tagebuch stellt für die Nutzenden dieses Typus aber keinen Reflektionsanker dar, wie das insbesondere für den emotional-ästhetischen Typus der Fall ist. Die Nutzenden dieses Typus versprechen sich von Instagram neue Möglichkeiten der Introspektion oder der Selbstbilanzierung, die im Zentrum eines Projekts der Selbstoptimierung stehen. Das digitale Bilderarchiv dient den Nutzenden des pragmatisch-pri‐ vaten Typus hingegen eher als Mittel der ästhetischen Reminiszenz. Hierbei stehen nicht Reflektion oder Selbstbeobachtung, sondern Wiedererleben sowie das Schwelgen in und die Zerstreuung durch die Bilder im Vordergrund. Die Bilder sind für sie eine Möglichkeit, sich in Vergangenes zurückzufühlen. Wir haben es hier also mit dem selbstbezüglichen Äquivalent zum bereits bekannten fotografischen Einfühlen zu tun. Ebenso wie Bilder als visuel‐ les Einfallstor in das Leben von Freunden, Bekannten oder Unbekannten genutzt werden - hier unterscheidet sich dieser Typus kaum zum gesel‐ lig-pragmatischen Typus -, werden sie auch zum Wiedererleben der eigenen Erlebnisse genutzt. Der pragmatisch-private Typus kultiviert diese Form der ästhetischen Selbstrezeption in besonderem Maße. Im Vergleich mit den restlichen Nutzungstypen ist für die Nutzenden dieses Typus auch die Nachrichtenfunktion in den Storys und die so ermög‐ lichte private, aber bildbzw. anlassbezogene Kommunikation tendenziell relevanter. Diese Form der Kommunikation wie auch die allgemeine Privat‐ nachrichten-Funktion spielen für die Nutzenden des pragmatisch-privaten 7.1 Nutzungstypen 437 Typus eine relativ gesehen größere Rolle, während die (teil-)öffentliche Kommunikation in den Kommentaren an Bedeutung verliert. Die Funktio‐ nen der Privatkommunikation werden dabei als zusätzliche Möglichkeiten zur Herstellung von Intimität genutzt. Diese dyadische bzw. personenbe‐ zogene Intimität steht stark im Kontrast zur kollektiven Intimität und dem Gefühl der Gruppenzugehörigkeit, das v. a. die emotional-ästhetischen Nutzenden anstreben. Mit der Abwertung des öffentlich-kollektiven Aus‐ tauschs geht zugleich eine starke Abwertung von Likes einher, die bereits der vorangehende Typus im Kern aufweist. Für die Nutzenden des pragma‐ tisch-privaten Typus sind nur noch die Likes der Freunde von Relevanz. Wie am Fall von Nele zu sehen, sind die Likes dabei oft eingebettet in rituelle Vergabepraktiken im Rahmen kleiner Freundschaftszeremonien: Person A postet das Bild eines gemeinsamen Erlebnisses, verlinkt u. U. sogar die darauf abgebildeten Freundinnen und Freunde, versteht dies als rituelle Bekundung und Bekräftigung der Freundschaft, und erwartet daraufhin die Validierung und Anerkennung dieses Akts durch die angesprochenen Freunde in Form eines Likes. Ein Ausbleiben schürt Selbstzweifel bzw. Zweifel an der Beziehung. Die Nutzenden dieses Typus immunisieren sich also nicht gegen die affektive Berührung durch Likes, machen sie aber auch nicht abhängig von der Quantität. Stattdessen ist die Frage, wie und wie stark die Nutzenden dieses Typus von Likes angesprochen und berührt werden, abhängig vom Beziehungsstatus und dem Kontext der jeweiligen Freundschaftshandlung. Weiterhin charakteristisch für den pragmatisch-privaten Typus ist das Nutzungsmotiv der Zerstreuung. Damit ist zugleich eine besondere Aus‐ prägung der Erlebnisdimension für diesen Typus beschrieben. Anders als bei allen anderen Nutzungstypen spielt für diesen Typus die Nutzung von Instagram zur reinen Unterhaltung, Ablenkung und zum Zeitvertreib eine große Rolle. Bublitz (2005: 24) beschreibt Zerstreuung als Zustand „tagträu‐ merischer Geistesabwesenheit“, während Rosa (2005: 229 f.) Zerstreuung als Vorgang des desengagierten Konsums beschreibt, dem die Bindung zur eigenen narrativ-biographischen Identität und die Einbettung in den Lebenskontext fehlen. Wenn sich die Nutzenden dieses Typus zerstreuen, geht es also gerade nicht um Praktiken der Selbstführung, des Netzwerkens und der reflektierten Rezeption fremder Profile. Es geht um „Jux und Dollerei“, wie es Nele ausdrückt, und um Inhalte wie etwa Memes, die keinen oder zumindest keinen starken persönlichen Bezug mehr haben. In diesem Sinne öffnen und erweitern die Nutzenden des pragmatisch-pri‐ 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 438 vaten Typus den Gebrauchsradius um Nutzungsweisen und Formen des Erlebens wie Zerstreuung und Unterhaltung, die für die vorangehenden Typen keine nennenswerte Bedeutung haben. Auch die Bildproduktion steht in Verbindung mit spezifischen Erlebnisdimensionen. So betonen die Nutzenden ihre Spontaneität und weisen sich, in Übereinstimmung mit ihrem authentischen Selbstverständnis, als ‚Lust-und-Laune-Poster‘ aus. Sie sehen sich nicht als rational-zielorientierte und verkopfte, sondern in erster Linie als ‚bauchgesteuerte‘ Nutzerinnen und Nutzer, die nur dann Fotos machen und Beiträge teilen, wenn sie Lust dazu haben, wenn es sich richtig anfühlt und der raumzeitliche Kontext stimmt. Angesichts der gesteigerten Innenorientierung entfällt für die Nutzenden auch der durch vermehrte Au‐ ßenorientierung entstehende, empfundene Kommunikationsdruck. Dieser kennzeichnet vor allem die ersten drei Typen in unterschiedlich starkem Maß. Die pragmatisch-privaten Nutzenden sehen und empfinden sich als nur lose integrierte und damit entspannte und wenig getriebene Nutzende, die überwiegend stimmungs-, d. h. innenorientiert handeln. 7.1.5.2 Erfahrungsraum und Zeitlichkeit Die starke Innenorientierung hat zur Folge, dass eine größere mediale Durchdringung des Alltags vermieden wird. ‚Was auf Instagram passiert, bleibt auf Instagram‘, so könnte das Motto des pragmatisch-privaten Typus lauten. Erlebnisse aus dem Offline-Alltag werden auf Instagram digital zugänglich gemacht, um dort wiedererlebt bzw. nachempfunden werden zu können. In umgekehrter Richtung wird ein Einfluss von Instagram auf den Offline-Alltag aber vermieden. So hinterlässt die Nutzung von Instagram in der Erfahrung der Nutzenden dieses Typus insgesamt nur sehr geringe Spuren. Das Verhältnis von Offline-Alltag und Plattform ist daher, stärker noch als beim vorangehenden Typus, unidirektional. Der Offline-Alltag bestimmt, was auf Instagram hochgeladen wird, wie oft man die Plattform nutzt, mit wem man kommuniziert und auch wie intensiv. Ein Einfluss auf den Offline-Alltag wird nur in der Beziehungsdimension konstatiert - in der einzigen Dimension also, die für diesen Nutzungstypus auf Instagram Bedeutung hat. Die Bestätigungsriten dort wirken sich einerseits positiv auf die jeweiligen Beziehungen aus. Die Nutzenden stellen aber auch in Aussicht, dass sich ausbleibende Likes oder unpassende Kommentare von Freundinnen oder Freunden in seltenen Fällen negativ auf die Beziehung auswirken. Sie könnten etwa dazu führen, dass man eine Freundschaft oder die jeweiligen Personen aufgrund ihres Verhaltens auf Instagram neu 7.1 Nutzungstypen 439 bewerten muss. Konkrete Konsequenzen scheinen aber in den meisten Fällen auszubleiben. Insgesamt betrachten die Nutzenden des pragmatisch-privaten Typus Instagram also als ein nützliches Mittel zur Kommunikation, das für sie aber kaum lebensweltliche Relevanz besitzt und auch kaum Einfluss auf andere Lebensbereiche hat. Entsprechend gibt es auch nur wenig zeitliche Bindung. Instagram wird in die Zeitstruktur des umfassenden Alltags eingebettet und entfaltet für die Nutzenden des pragmatisch-privaten Typus allenfalls in Momenten der Zerstreuung so etwas wie eine Eigenzeitlichkeit. Statt von Eigenzeitlichkeit müsste hier aber eher von Nicht-Zeit die Rede sein, da charakteristisch für den Modus der Zerstreuung die passive Hingabe und ein Verlust an Zeitgefühl ist (vgl. ebenfalls Bublitz 2005, Rosa 2005). Es findet also weniger eine spezifische Veränderung der zeitlichen Struktur durch die Plattform statt als vielmehr eine Aufhebung von Zeit. Davon abgesehen ist Instagram für die Nutzenden dieses Typus eine nebensächliche Alltagsaktivität, für die Zeiträume eingeräumt, aber nicht extra geschaffen werden. So kann es durchaus vorkommen, dass mehrere Wochen oder sogar Monate keine neuen Bilder eingestellt werden. Wenn, werden Bilder meist entweder direkt während oder kurz nach einem Ereignis eingestellt - dabei ist oft die soziale Bedeutung ausschlaggebend und spielt eine größere Rolle als die Ästhetik. Teils werden Bilder aber auch mit einiger zeitlicher Verzögerung aufgrund besonderer ästhetischer Qualitäten oder persönlicher Bedeutsamkeit zum Zweck der Archivierung und Reminiszenz hochgeladen. Handlungssynchronisierungen lassen sich für diesen Typus keine fest‐ stellen, d. h. für die pragmatisch-privaten Nutzenden setzt das Feedback keine relevanten Handlungsimpulse. Das liegt daran, dass dem Feedback allgemein nur eine geringe Bedeutung attestiert wird und es auch nur bedingt mit dem Bildhandeln in Verbindung gebracht wird. So sagen etwa ausbleibende Likes für die Nutzenden dieses Typus eher etwas über die Qualität der Beziehung aus als über die Qualität des Bildes. Da Bilder im Verständnis dieser Nutzenden nur Mittel zum Zweck der Beziehungspflege sind und Likes streng genommen für Beziehungen und nicht für Bilder vergeben werden, besteht auch keine Notwendigkeit zur Koordination von Feedback und Bildhandeln. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 440 7.1.5.3 Publikum, Evaluation und Schicksalshaftigkeit So wie Likes nur sehr bedingt von Relevanz für die Nutzenden des pragma‐ tisch-privaten Typus sind, so gering fallen auch die Reaktionserwartungen aus. Erwartet bzw. antizipiert werden, wenn überhaupt, lediglich die Reak‐ tionen des Freundeskreises oder adressierter Personen. Für sehr spezifische Bilder, wie etwa Neles Gruppenfoto an Silvester, werden auch spezifische Reaktionen spezifischer Nutzender erwartet. Für Bilder allgemeinerer Art bestehen hingegen keine besonders ausgeprägten Erwartungshaltungen, wenngleich Kommentare und Likes i. d. R. trotzdem geschätzt und als Aner‐ kennung verstanden werden. Das antizipierte Publikum ist, bedingt auch durch die Privatsphäre-Ein‐ stellungen, beschränkt auf eine überschaubare Gruppe signifikanter Ande‐ rer, deren Einstellungen, Haltungen, Erwartungen und Reaktionen aufgrund wechselseitiger persönlicher Kenntnis gut eingeschätzt werden können. Elaborierte Reflektionen über die Angemessenheit und Wirkung eines Bildes oder die Publikumswünsche erübrigen sich vor diesem Hintergrund. Sie erscheinen aber angesichts der starken Tendenz zur Innenorientierung auch weniger relevant. Aufgrund der geringen Außenorientierung als auch den oben genannten Gründen wird dem Feedback insgesamt nur wenig Bedeutung attestiert. Im Gegenteil grenzen sich die Nutzenden dieses Typus deutlich von der Orientierung an Likes ab sowie von allen Nutzenden, die sich daran orientieren. Constantin etwa wertet Likes sehr explizit als „total dämlich“ ab. Die Abgrenzung dient der Schaffung eines konstitutiven Außen und der Profilierung der eigenen Person durch Distinktion. Die Distanzierung beruht auf einem spezifischen Verständnis von Likes, das die Nutzenden des pragmatisch-privaten Typus haben. Die Spezifität zeigt sich besonders deutlich im Vergleich zu den ersten beiden Typen, die sich ebenfalls von Likes distanzieren. Jene bestätigen die emotionale Valenz der Likes durch ihre strategische Abwehrhaltung geradezu, wäh‐ rend die pragmatisch-privaten Nutzenden gar keinen Grund sehen, sich gegenüber ‚bedeutungslosen‘ Likes zu immunisieren. Ähnliches gilt für Vergleiche mit anderen Nutzenden. Solche Vergleiche werden von den Nutzenden dieses Typus gar nicht thematisiert und erst recht nicht pro‐ blematisiert. Ähnlich wie einer übermäßigen Orientierung an Likes haftet auch dem Vergleichen der Nimbus der ‚Unmündigkeit‘ an. Daher spielt das Vergleichen wie auch die Likeorientierung für diesen Typus nur als Distinktionsfläche eine Rolle. 7.1 Nutzungstypen 441 3 So ist im Fall von Nele auch die Rede davon, dass Gruppenbilder „einfacher“ seien. Damit ist einerseits gemeint, dass die Notwendigkeit der Kontextualisierung wegfällt. Es wird damit aber auch auf die Sicherheit verwiesen, die ein solcher Beitrag gewährleistet: Man ist weniger exponiert und kann gleichzeitig auf eine wohlwollende Reaktion der anderen Abgebildeten hoffen. Wie gezeigt werden Likes und besonders Kommentare (vor allem von Freunden) aber trotzdem positiv aufgefasst. Die Nutzenden greifen auch selbst darauf zurück, gehen allerdings sehr sparsam und, wie auch beim Teilen und Rezipieren von Beiträgen, sehr kontrolliert damit um. Anschau‐ lich zeigt sich dies am Fall von Constantin, der mit Kommentaren seine be‐ sondere Wertschätzung für andere Beiträge ausdrückt. Das zeigt, dass dem Feedback durchaus eine affektive Bedeutung zukommen kann, die aber i. d. R. weder besonders intensiv noch nachhaltig ist. Dementsprechend gering fällt auch die Schicksalshaftigkeit für die Nutzenden dieses Typus aus. Sie sehen in Instagram kein eigenes soziales Feld mit autonomen Logiken und Relevanzstrukturen und verinnerlichen auch keine feldspe‐ zifische illusio, die mit Prestige oder Status und dessen möglichem Verlust verbunden wäre. Auch die Gefahr eines allgemeinen Gesichtsverlusts ist für den pragmatisch-privaten Typus gering, da die Nutzenden 1) emotional kaum involviert sind, 2) beim Teilen betont kontrolliert und bedacht vorgehen, 3) ihr kommunikatives Umfeld auf Instagram überwiegend aus dem erweiterten Freundeskreis besteht (und somit eine Art ‚safe space‘ darstellt) und sie 4) in erhöhtem Maße auf Gruppenbilder zurückgreifen, auf denen sie kollektiv eingebettet und somit weniger exponiert und angreifbar sind. 3 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren In Tabelle 7 findet sich noch einmal eine Übersicht der Hauptmerkmale aller Nutzungstypen. Abschließend für dieses Kapitel sollen nun noch einmal kurz die primären Orientierungsvektoren sowie die statistische Verteilung der Nutzungstypen auf das Sample vorgestellt und besprochen werden. Die Grundlage für das Modell der hier präsentierten Orientierungs‐ vektoren ist Gerhard Schulzes Konzept der Primärperspektive. Entlang dieses Konzepts wurden die primären Orientierungsvektoren der unter‐ schiedlichen Nutzungstypen herausgearbeitet, d. h. die unterschiedlichen Faktoren, die für die Nutzungstypen jeweils handlungs- und wahrneh‐ 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 442 mungsleitend sind. Nach Schulze (1995: 236) sind Primärperspektiven „grundlegende Kategorisierung[en]“ im größeren Rahmen existentieller Anschauungsweisen. Unter existenziellen Anschauungsweisen wiederum versteht er eine „stark verdichtete Quintessenz all der konkreten Normali‐ tätsvorstellungen, mit denen sich Subjekte in ihrem Ambiente orientieren, übergreifende Ordnungsprinzipien in der Vielgestaltigkeit der vorgestell‐ ten Welt“ - kurz: „Routinen kognitiver Aneignung von Erfahrungen“ (ebd.: 231). Es geht also konkret um das Netz aus übergeordneten Sinn‐ zusammenhängen und Deutungsmustern, das es Menschen erlaubt, eine kohärente Sicht auf die Welt zu entwickeln. Mit jeder existentiellen An‐ schauungsweise hängt eine Problemdefinition zusammen als „der kleinste gemeinsame Nenner in der ständigen Folge subjektiver Zielsetzungen“ (ebd.: 232). Problemdefinitionen geben den pragmatischen Kurs und die Richtung des Alltagshandelns vor, wobei sie den Einzelnen nicht zwingend kognitiv zugänglich und explizierbar sein müssen, sondern auch als im‐ plizites Wissen oder als grundlegendes Lebensgefühl vorliegen können. Dergestalt strukturieren sie den Alltag auch affektiv. Primärperspektiven wiederum stellen die kondensierte und konkretisierte Version der exis‐ tentiellen Anschauungsweisen dar. Es handelt sich um eine heuristische „Grundeinstellung der Optik“, um eine „Kurzformel“ (ebd.: 236), die das in der Problemdefinition formulierte Weltinteresse trägt und als Antwort auf die Problemdefinition einen bestimmten Blick auf die Welt und spezifische Orientierungsweisen vorgibt. 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 443 Merkmale Nutzungstypus Selbsterfahrung, Sozialität und Erlebnisform Erfahrungsraum und Zeit‐ lichkeit Publikum, Evaluation und Schicksalshaftigkeit Rational-unterneh‐ merischer Typus ▸ Institutionell-unternehme‐ risches Selbstverständnis ▸ wenig Identifikation mit dem Profil ▸ Instagram als Arbeit (Wer‐ beplattform) ▸ Tendenz zu Professionalisie‐ rung ▸ Affektkontrolle, hohe Sach‐ lichkeit ▸ Unterhaltung unpersönli‐ cher Beziehungsnetzwerke ▸ Offline-Alltag als Res‐ source ▸ arbeitsintensiv ▸ Instagram prägt Außen‐ wahrnehmung ▸ Alltag und Instagramakti‐ vität werden aufeinander abgestimmt ▸ Starke zeitliche Struktu‐ rierung des Offline-All‐ tags durch Instagram ▸ hohe Aktualität und Feed‐ back-Synchronität ▸ Starke Publikumsorientierung ▸ Fokus auf Quantität der Likes und Follower, Präferenz für Fremd-Feedback ▸ Follower tendenziell wichtiger als Likes ▸ Strategische Beeinflussung des Feedbacks ▸ Wenig Identifikation, aber ho‐ her Exponierungsgrad und hohe Reichweite: mittlere Schicksals‐ haftigkeit Ästhetisch-rationa‐ ler Typus ▸ Experimentelles, überstili‐ siertes Rollen-Ich ▸ Teilidentifikation mit dem Profil ▸ reduzierte Selbstobjektivie‐ rung ▸ Instagram als Hobby (Bühne, Schaulaufen) ▸ Likes als sachliche Bestäti‐ gung, bedingte Affizierung durch Feedback ▸ Unterhaltung persönlicher wie unpersönlicher, zweck‐ dienlicher Beziehungen ▸ Instagram als Vorder‐ bühne, Offline-Alltag als Hinterbühne ▸ Wenig arbeitsintensiv ▸ Alltag und Instagramakti‐ vität werden aufeinander abgestimmt ▸ Instagram prägt Außen‐ wahrnehmung ▸ Teilw. zeitliche Struktu‐ rierung des Offline-All‐ tags durch Instagram ▸ hohe Aktual. u. Feed‐ back-Synchronität ▸ Starke Publikumsorientierung ▸ Fokus auf Quantität der Likes und Follower, Präferenz für Fremd-Feedback ▸ Likes und Follower ähnlich wich‐ tig ▸ Strategische Beeinflussung des Feedbacks ▸ Stärkere Identifikation, aber et‐ was geringere Exponierung: mittlere Schicksalshaftigkeit 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 444 Emotional-ästheti‐ scher Typus ▸ Authentisches Selbstver‐ ständnis: Profil als Selbst‐ doublette (Authentizität als Praktik) ▸ Starke Identifikation mit Profil ▸ Instagram als Hobby (Selbst‐ optimierung) ▸ Likes als persönliche Bestä‐ tigung, starke Affizierung durch Feedback ▸ Unterhaltung einer Vielzahl persönlicher und plattform‐ exklusiver Beziehungen ▸ Starker Community-Bezug / starkes Gemeinschaftsge‐ fühl ▸ Prägung von Off‐ line-Freundschaften und -Interessen durch Insta‐ gram ▸ Instagram als Handlungs‐ motor und Stimmungsre‐ gulator ▸ Grenze zwischen Insta‐ gram und Offline-Alltag verschwimmt ▸ hohe Aktualität und Feed‐ back-Synchronität ▸ Starke Publikumsorientierung ▸ Fokus auf Quantität der Likes und Follower ▸ Likes tendenziell wichtiger als Follower ▸ Teilw. strategische Beeinflussung des Feedbacks ▸ hohe Affizierbarkeit durch Feed‐ back, starke Identifikation + Konflikt zwischen Authentizi‐ täts- und Idealisierungsanspruch: starke Schicksalshaftigkeit Gesellig-pragmati‐ scher Typus ▸ Authentisches Selbstver‐ ständnis (Authentizität als Disposition) ▸ Teilidentifikation mit Profil ▸ Instagram als Kommuni‐ kationsdienst (Beziehungs‐ pflege) und Informations‐ dienst Pflege von Hobbies) ▸ Unterhaltung persönlicher Beziehungen zu Freunden aus dem Offline-Kontext ▸ Schwacher Community-Be‐ zug ▸ Mittlere bis lange Posting-Auszeiten ▸ Offline-Alltag struktu‐ riert Instagram-Aktivitä‐ ten (Ereignisbezug) ▸ Instagramaktivitäten re‐ gen Offline-Aktivitäten an ▸ Zu großer Einfluss von Instagram auf den Off‐ line-Alltag wird vermie‐ den ▸ Mittlere bis geringe Publikums‐ orientierung ▸ Öffentliche Sichtbarkeit, Kom‐ munikation wird beschränkt auf Freunde ▸ Fokus auf Qualität von Likes und Kommentaren (Urheberschaft als Kriterium) ▸ Followerzahlen nur bedingt v. Be‐ deutung ▸ Ablehnung einer Like-Fokussie‐ rung (bzw. „Like-Jagd“) 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 445 ▸ Likes und Kommentare als Zeichen der Freundschaft ▸ Bedingte Aktualität, keine Feedback-Synchro‐ nität ▸ Geringe Identifikation, mittlere Exponierung: schwache Schick‐ salshaftigkeit Pragmatisch-priva‐ ter Typus ▸ Authentisches Selbstver‐ ständnis (Authentizität als Disposition) ▸ Teilidentifikation mit Profil ▸ Instagram als Kommuni‐ kationsdienst (Beziehungs‐ pflege) und Bildertagebuch (Reminiszenz) ▸ Unterhaltung persönlicher Beziehungen zu Freunden aus dem Offline-Kontext ▸ ikes und Kommentare als Teil von Freundschaftsritualen ▸ Starker Fokus auf Privat‐ sphäre ▸ Mittlere bis lange Posting-Auszeiten ▸ Offline-Alltag struktu‐ riert Instagram-aktivitä‐ ten (Ereignisse und Be‐ deutung) ▸ Instagramaktivitäten sind potentiell beziehungsre‐ levant ▸ Bedingte Aktualität, keine Feedback-Synchro‐ nität ▸ geringe Publikumsorientierung ▸ meist Privatprofil, Ausschluss der Öffentlichkeit ▸ Fokus auf Qualität von Likes und Kommentaren (Urheberschaft als Kriterium) ▸ Followerzahlen unwichtig ▸ Ablehnung des Like-Mechanis‐ mus im Allgemeinen ▸ Geringe Identifikation, geringe Exponierung: schwache bis keine Schicksalshaftigkeit Tab. 7: Übersicht der Merkmale der Nutzungstypen 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 446 Existenzielle Anschauungsweisen, Problemdefinitionen und Primärper‐ spektiven sind grundsätzlich skalierbar. Sie können kulturvergleichend beobachtet werden, aber auch subkulturell differenziert werden, wie es etwa Schulze in seinen Milieuvergleichen macht. In Fall der vorliegenden Studie haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das demgegenüber noch niedriger skaliert ist. Gegenstand der Betrachtung sind nicht Milieus, als die das Subjekt umgebenden und prägenden Lebensbedingungen. Gegenstand der Betrachtung ist eine Internetplattform, die zuerst einmal lediglich technische Rahmenbedingungen setzt. Weiterhin unterscheidet Milieus und soziale Netzwerkseiten, dass ein spezifisches Milieu, sprich ein spezifisches Set von Umweltfaktoren und Lebensbedingungen, zwar gewechselt werden kann, Subjekte aber jederzeit in derartige, wie auch immer schnell oder stark wechselnde, Kontexte eingebunden sind. D.h.: Sie sind ständig Milieuein‐ flüssen ausgesetzt. Instagram als Plattform wiederum stellt lediglich einen spezifischen Umweltfaktor im größeren Rahmen eines solchen lebenswelt‐ lichen Kontexts dar, an den die Nutzenden nicht gebunden sind und von dem sie sich jederzeit lösen können. Angesichts dieser konstitutiven Ungebun‐ denheit der Subjekte an den Kommunikationsraum Instagram erscheint mir die direkte Übertragung des Begriffs der existentiellen Anschauungsweise zu hoch gegriffen. Ich greife stattdessen auf das Konzept der illusio von Bourdieu zurück - das Konzept trägt sowohl der begrenzten Reichweite als auch der Offenheit des Phänomens Rechnung und ist dabei gut mit den grundlegenden Annahmen von Schulzes Konzept der Primärperspektive vereinbar. Legen wir das Konzept der illusio auf Instagram an, so müssen wir nicht von allumfassenden Weltausrichtungen ausgehen. Wir können die Vorgänge und das Handeln der Nutzenden stattdessen als Spielzüge auffassen und Instagram selbst als einen Spielraum (mehr dazu in Kap. 8.1.3). Jedes Spiel setzt Spielende mit einer bestimmten Motivation voraus - Gewinn, Herausforderung, Spannung, soziales Miteinander usw. - und einzelne Spiele werden bestimmte Motivationen stärker begünstigen als andere. An Instagram als einem „sozialen Spiel“ teilzunehmen, bedeutet insofern, ihm „[zu]zugestehen, dass das, was in ihm geschieht, einen Sinn hat, und dass das, was bei ihm auf dem Spiel steht, wichtig und erstrebens‐ wert ist“ (Bourdieu 1996b: 147). Insofern handelt es sich also auch bei der illusio um eine Art der Anschauungsweise und Problemdefinition. Sie ist jedoch feldspezifisch und hat damit einen begrenzten Rahmen. Sie wird bestimmt von der Feldlogik, aber auch vom Habitus der Teilnehmenden. Je nach Bedeutung und Größe des Feldes ist es wahrscheinlicher oder 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 447 unwahrscheinlicher, dass die Logik vom Habitus oder der Habitus von der Feldlogik stärker beeinflusst wird. 7.2.1 Orientierungsvektoren Ich werde im Folgenden die den Konzepten der illusio und der existentiellen Anschauungsweise zugrundeliegenden Ideen im Begriff des Orientierungs‐ vektors bündeln und für das untersuchte Phänomen bzw. die jeweiligen Nutzungstypen differenzieren. Dabei unterscheide ich zwischen folgenden Vektoren: ▸ Das primäre Nutzungsmotiv legt fest, welcher Zielzustand mit der Nutzung konkret angestrebt wird. ▸ Die primäre Nutzungsperspektive legt fest, welche Grundheuristik bzw. -logik dem Motiv und dem Handeln der Nutzenden zugrunde liegt. ▸ Die primäre Handlungszentrierung bezieht sich auf die Weltsicht, die tendenziell entweder individualistisch oder kollektivistisch ist. Sie legt fest, wem das Handeln gilt, d. h. wer im Zentrum des Handelns steht. ▸ Die primäre Handlungsorientierung legt fest, an wessen bzw. an wel‐ chen Vorgaben, Normen, Erwartungen und Ansprüchen die Nutzen‐ den ihr jeweiliges Handeln ausrichten. ▸ Die primären Funktionen stehen für jene Umweltfaktoren, denen be‐ sondere Bedeutung beigemessen wird und die als tragende Elemente in das eigene Handeln miteinbezogen werden. Der Einfachheit und Vergleichbarkeit halber werden hier nur die drei Feedbackmechanis‐ men Likezahl, Followerzahl und Kommentare in den Blick genommen. Tabelle 8 und 9 geben einen Überblick über die nutzungsspezifischen Ausprägungen. Die Nutzenden des rational-unternehmerischen Typus sind in erster Linie darauf aus, Follower zu akkumulieren und so für Reichweite und Sichtbarkeit zu sorgen, die direkt oder indirekt ökonomischen bzw. materiellen Profit versprechen. Die entscheidende Frage für diesen Typus lautet: Lässt sich damit mein soziales, symbolisches oder ökonomisches Kapital steigern? Entweder erhoffen sich die Beteiligten, dank hoher Follo‐ werzahlen direkt Geld zu verdienen oder gratis Produkte als Werbetragende zu erhalten. Oder sie zielen darauf ab, für sich selbst (bspw. als Sportlerin oder Musiker) oder ihre anderen Unternehmen oder Netzauftritte (bspw. auf 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 448 Youtube) Werbung zu machen oder einflussreiche Kontakte und hilfreiche Netzwerke herzustellen. Dem zugrunde liegt eine ökonomische Logik, die Rationalität, Kosten-Nutzen-Effizienz und strategische Planung betont. Das Handeln ist dabei zentriert um das eigene Ich. Die Nutzenden des rational-unternehmerischen Typus sind grundlegend opportunistisch und auf den eigenen Vorteil bedacht, das Publikum stellt für sie lediglich einen Faktor bzw. eine Ressource dar. So ich-zentriert dieser Typus ausgerichtet ist, so außenorientiert ist er zugleich: Als Haupteinflussgröße auf dem Weg zum angestrebten Zielzustand hat er das Publikum ausgemacht und ordnet dessen Ansprüchen und Erwartungen alles andere unter. Eigene bzw. intrinsische Maßstäbe oder Kriterien, gleich ob ästhetischer oder ethischer Art, kommen nur dann zum Tragen, wenn sie der Gunst des Publikums und damit der potentiellen Profitsteigerung nicht abträglich sind. Primäre Orientierungsvektoren Nutzungstypus 1 Primäres Nutzungsmotiv 2 Primäre Nut‐ zungsperspektive 3 Primäre Funktionen Rational-unterneh‐ merischer Typus Streben nach Profit Ökonomie Follower Ästhetisch-ratio‐ naler Typus Streben n. Status / Popularität Hierarchie / erns‐ tes Spiel Follower & Likes Emotional-ästheti‐ scher Typus Streben nach Zuneigung Emotion Likes Gesellig-pragmati‐ scher Typus Streben nach Ge‐ meinschaftlichkeit Kommunikation Likes & Kommen‐ tare Pragmatisch-pri‐ vater Typus Streben nach Bin‐ dung Ritual Private Nachrich‐ ten; Likes & Kommen‐ tare Tab. 8: Ausprägungen der Orientierungsvektoren 1-3 nach Nutzungstypus 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 449 Primäre Orientierungsvektoren Nutzungstypus 4 Primäre Handlungszentrierung 5 Primäre Handlungsorientierung Rational-unternehmeri‐ scher Typus Ich-zentriert Starke Außenorientie‐ rung, geringe bis keine Innenorientierung Ästhetisch-rationaler Typus Ich-zentriert Starke Außenorientie‐ rung, leichte Innenorien‐ tierung Emotional-ästhetischer Typus Ich-zentriert Hohe Außen- und Innen‐ orientierung Gesellig-pragmatischer Typus Gemeinschafts-zentriert Leichte Außenorientie‐ rung, starke Innenorien‐ tierung Pragmatisch-privater Typus Gemeinschafts-zentriert Geringe bis keine Außen‐ orientierung, starke In‐ nenorientierung Tab. 9: Ausprägungen der Orientierungsvektoren 4-5 nach Nutzungstypus Der ästhetisch-rationale Typus ist in ähnlicher Weise auf Follower, Reich‐ weite und Sichtbarkeit aus wie der rational-unternehmerische Typus, aber zu einem anderen Zweck: Die Nutzenden dieses Typus streben nach Popu‐ larität. Sie möchten bewundert werden; nicht zwingend in einem streng emphatischen Sinn, sondern vor allem im symbolischen Sinn: Sie möchten in der plattforminternen Hierarchie aufsteigen. Die entscheidende Frage für sie lautet: Dient es meinem Status und Ansehen? Die Haltung der Nutzenden ähnelt dabei dem eines agonal ausgerichteten Spielens, wie es auch für das ernste Hobby charakteristisch ist. Man möchte sich selbst oder andere übertreffen, besser werden, als etwas gelten und für bestimmte Kompetenzen und Leistungen anerkannt werden. Zentrum des Handelns ist auch hier das Ich - die Anderen existieren, wie auch im Fall des ratio‐ nal-unternehmerischen Typus, nur als diffuses Publikum. Das Publikum interessiert dabei vor allem in seiner Eigenschaft als Einflussgröße für den Status und repräsentiert selten mehr als eine abstrakte, gesichtslose Masse. Ihm kommt allerdings weiterhin großes Gewicht als Handlungsfokus zu. Die meisten Handlungen sind außenorientiert auf das Publikum und deren Präferenzen abgestimmt. Eigenen Ansprüchen und Kriterien wird im 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 450 Vergleich mit dem rational-unternehmerischen Typus jedoch etwas öfter der Vorrang bei der Gestaltung und Bespielung des Profils gewährt. Neben den Followern gewinnen gegenüber dem rational-unternehmerischen Ty‐ pus zudem zunehmend Likes als tragendes Element eine Bedeutung, die nicht zuletzt stärker affektiv besetzt sind als Followerzahlen. Im Gegensatz zur ökonomischen Logik verlangt die Logik des ernsten Spiels und der Hierarchie keine komplette emotionale Desengagiertheit. Der emotional-ästhetische Typus strebt nach Zuwendung und Zuneigung v. a. in Form von vielen Likes. Diese Art quantitativer Zusprache wird als Maß der persönlichen Anerkennung interpretiert und trägt zur Steigerung des Selbstwertgefühls bei. Die Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus folgen dabei einer Logik der Emotionen und dem Lustprinzip, sprich: Sie richten sich danach, was Freude oder Lust bereitet und schöne Gefühle hervorruft, entsprechend einer Steigerungslogik, die besagt: mehr ist besser. Die entscheidende Frage lautet: Fühlt es sich gut an? Die Antwort auf diese Frage strukturiert und legitimiert für die Nutzenden dieses Typus beinahe jede Handlung. Das Handeln ist hier primär um das eigene Ich zentriert. Auf dem Weg, der zur Erreichung des Zielzustands eingeschlagen wird, nimmt die Außenorientierung im Vergleich zu den ersten beiden Nutzungstypen ab und intrinsische Ansprüche, etwa an Authentizität, nehmen zu. Der Like als Mittel der Wahl erfährt von den Nutzenden des emotional-ästhetischen Typus die meiste Wertschätzung, stellt er für sie doch eine nie versiegende und leicht kontrollierbare Quelle positiver Gefühle dar. Der gesellig-pragmatische Typus wiederum strebt nach Gemeinschaft‐ lichkeit. Den Nutzenden dieses Typus geht es darum, einen umfassenden Freundes- und Bekanntenkreis zu schaffen, zu dem man über Bildkommu‐ nikate indirekt den Kontakt aufrechterhält. Ihr Orientierungsschlüssel ist das Konzept der Kommunikation. Auf Instagram wird ein Raum etabliert, der es allen erlaubt, niedrigschwellig über das eigene Leben Auskunft zu geben und gleichzeitig über das Leben der Anderen in Kenntnis gesetzt zu werden. Die Frage, die sich diesem Typus stellt, lautet: Ist es mitteilenswert? Im Gegensatz zu den ersten drei Nutzungstypen ist, wie die Zielsetzung schon impliziert, das Handeln der Nutzenden dieses Typus nicht mehr primär ich-zentriert, sondern gemeinschaftszentriert. Die Anderen, als Kollektiv von Familie, Freunden und Bekannten, werden zum Zentrum der Handlungen. Sie sollen einen Einblick in das eigene Leben erhalten, affektiv angesprochen und visuell ‚mitgenommen‘ werden, im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Das Publikum ist dabei keine gesichtslose und 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 451 4 Das Tagebuchführen bildet hier eine Ausnahme, allerdings ist es gewissermaßen in die kollektiven Praktiken eingebettet und ein Teil davon. Im Sample fanden sich keine Nutzungsweisen, die sich nur über das Tagebuchführen definieren ließen, dafür einige, deren charakteristisches Merkmal der Vollzug von Freundschaftsritualen war. diffuse Masse mehr, sondern als Gruppe signifikanter Anderer relevant. Entsprechend verstehen die Nutzenden sich nicht als isolierte Einzelakteure mit Einzelinteressen, sondern als Teil eines kommunikativen Kollektivs mit geteilten Interessen. Mit dem Handlungszentrum verändert sich auch die Handlungsorientierung. Die Außenorientierung der ersten drei Nutzungs‐ typen weicht hier einer stärkeren Innenorientierung. Kriterien wie das der persönlichen Relevanz oder des ästhetischen Geschmacks gewinnen an Bedeutung. Die eigene subjektive Perspektive soll dabei möglichst adäquat abgebildet werden. Der Kommentar als persönlichstes Mittel der Kontakt‐ herstellung spielt eine weit größere Rolle für diesen Typus als für die vorherigen. Der letzte Nutzungstypus setzt einen noch größeren Akzent auf persön‐ liche Beziehungen und strebt nach Bindung - v. a. nach der Festigung bereits existierender Bindungen. Instagram wird verstanden als Raum intimer Beziehungspflege - es gilt weniger, Kontakte zu vielen Freunden und Bekannten aufrecht zu erhalten, als einige wenige, intime Beziehungen zu festigen und zu validieren. Dabei folgt das Handeln der Nutzenden dieses Typus einer Rituallogik, die auf Konventionen und Erwartungshaltungen beruht. Beispielhaft dafür ist der kommunikative Kreislauf von Gruppen‐ bildbeitrag, Taggen und Liken. Die richtungsweisende Frage für diesen Typus lautet: Bestätigt und festigt es mich und meine Beziehungen? Sowohl die Freundschaftsrituale als auch die kontemplativen Einzelrituale, wie etwa das visuelle Tagebuchführen, zielen auf konzentrierte und bewusste Wieder‐ holungen, die Vertrautheit schaffen und für Stabilität und Festigkeit - eben Bindung - sorgen. Wir haben es aber nicht mit Ritualen in Reinform zu tun, die in regelmäßigen Abständen vollzogen werden und in narrative Rahmen eingebettet sind. Vielmehr handelt es sich um ritualistisch verdichtete und strukturierte Praktiken. Das Handlungsziel ist auch hier kein individualis‐ tisches, sondern ein kollektives. 4 Der Handlungsorientierung ist tendenziell innengerichtet. Die Nutzenden dieses Typus wollen sich im Rahmen der Bildpraktiken gegenseitig und quasi-bedingungslos bestätigen. Allerdings verschwimmt die Trennschärfe der Unterscheidung von außen- und innen‐ orientiert bisweilen, da der pragmatisch-private Nutzungstypus gerade im 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 452 Fall von Gruppenbildern voraussetzt, dass die geteilten Inhalte für ihn selbst von gleicher Relevanz wie für die Adressaten - der Freundeskreis - sind. Neben Kommentaren nutzt dieser sowieso wenig öffentlichkeits-affine Nutzungstypus die Möglichkeit des persönlichen Austauschs per privater Nachricht. Diese ist Ausweis der Nähe zueinander und zugleich deren performative Herstellung. Abb. 36: Handlungszentrierung und Handlungsorientierung nach Nutzungstypen und -schema, Modell, eig. Darst. Die Orientierungsvektoren geben nicht zuletzt eine mögliche Antwort darauf, warum im Sample kein dritter Mischtypus, d. h. eine verhältnisähn‐ liche Kombination aus den Schemata der Erfolgsorientierung (Schema 2) und der Beziehungspflege (Schema 3) vorgefunden werden konnte. Die Merkmale beider Schemata belegen in den Bereichen Handlungszentrierung und -orientierung, diametral entgegengesetzte Extrempositionen (s. Abb. 36). Das durch eine grundsätzliche Ambivalenz gekennzeichnete Schema der Bestätigungssuche nimmt hingegen eine Art Mittelposition ein. Dadurch sind die beiden anderen Schemata hier anschlussfähig und gut kombinierbar. Je nachdem ob eine größere Nähe zum Schema der Erfolgsorientierung oder zur Beziehungspflege besteht, werden auch die dem jeweiligen Schema affineren Merkmale im Schema der Bestätigungssuche betont. Das bedeutet 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 453 natürlich auch, dass eine größere Nähe zum Schema der Erfolgsorientierung mit einer größeren Distanz zum Schema der Beziehungspflege einhergeht und umgekehrt. Die Merkmale beider Schemata schließen sich größtenteils gegenseitig aus. Die starke Außenbzw. Publikumsorientierung im Schema der Erfolgsorientierung beißt sich etwa mit der starken Innenorientierung im Schema der Beziehungspflege. Innenorientierung sollte dabei nicht verwechselt werden mit Ich-Zent‐ riertheit, genauso wenig wie Außenorientierung mit Gemeinschaftszent‐ riertheit. Auf der x-Achse werden die Wahrnehmung des Selbst und der Anderen sowie die Definition der Beziehungen zueinander beschrieben. Am einen Ende der Skala wird Instagram als Bezugsraum kompetitiver Einzelakteure mit partikularen Interessen verstanden, am anderen Ende steht ein Verständnis von Instagram als Bezugsraum einer oder mehrerer solidarischer Gemeinschaften mit kollektiven Interessen. Mit der ersten Sichtweise geht eine im Wesentlichen individualistische Ich-Definition einher, während das Ich im zweiten Fall stark über die Gruppenzugehö‐ rigkeit definiert wird. Die y-Achse wiederum beschreibt die konkreten Handlungs- und Denkorientierungen. Der eine Pol wird dabei gebildet von denjenigen Nutzenden, die ihr Handeln rein an inneren Überzeugungen und den eigenen subjektiven Ansichten und Vorlieben ausrichten. Der andere Pol beschreibt Nutzende, die sich explizit und ausschließlich an äußeren Kriterien und Bedingungen orientieren. Die Schemata und die sie kennzeichnenden Merkmale sind also hinsichtlich zweier Ausprägungen unterschieden. Dabei steht einmal die Vorstellung von kompetitiven Einzel‐ akteuren mit partikularen Interessen der Vorstellung einer solidarischen Ge‐ meinschaft mit kollektiven Interessen gegenüber und einmal die Orientierung an persönlichen Kriterien der Orientierung an äußeren Kriterien. Das Schema der Bestätigungssuche zeichnet sich dabei nicht durch gemäßigte Positionen aus, wie die Darstellung im Schaubild vermuten lassen könnte, sondern eher durch ein Sowohl-Als-Auch, d. h. durch ambivalente Haltungen und ein Oszillieren zwischen den Polen. 7.2.2 Betrachtung und Diskussion statistischer Verteilungen Abschließend gehe ich in diesem Kapitel auf die statistische Verteilung der Nutzungstypen ein. Dabei betrachte ich einmal die Altersverteilung und einmal die Verteilung der formalen Bildungsabschlüsse. Da es sich bei dem vorliegenden Datenmaterial um qualitativ erhobene Daten handelt, sind 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 454 die folgenden Befunde weder repräsentativ noch kann ein systematischer Bias ausgeschlossen werden. Gerade hinsichtlich der Bildungsabschlüsse gilt zu bedenken, dass die meisten der von Studierenden durchgeführten Interviews mit Personen aus dem näheren Umfeld geführt wurden. Dieser coverage bias mag ein Grund für die signifikant erhöhte Anzahl an Gymna‐ sialabschlüssen bei den weiblichen Befragten sein (vgl. Kap. 2.2.1.2). Die folgenden Werte und Zahlen können also allenfalls Tendenzen abbilden. Zur besseren Einordnung des Datenmaterials, auch im Hinblick auf die noch folgende theoretische Verdichtung, sollen sie hier dennoch besprochen werden. Darüber hinaus können die Befunde als Sprungbrett für weitere Forschungen und empirischer Boden für Hypothesenbildungen genutzt werden. Betrachtet man die Gesamtverteilung, fällt eine klare Tendenz hin zum Schema der Bestätigungssuche auf. Der Großteil der Nutzenden entfällt auf die Nutzungstypen zwei, drei und vier, welche eine starke oder zumindest signifikante Nähe zu diesem Schema und seinen Merkmalen aufweisen. Nutzungstyp eins, welcher eine starke Nähe zum Schema der Erfolgsorien‐ tierung aufweist, und Nutzungstypus fünf, welcher eine starke Nähe zum Schema der Beziehungspflege aufweist, sind hingegen unterrepräsentiert. Sie stellen die Ränder dar bzw. die Extreme hinsichtlich bestimmter Aspekte der Aneignung und Nutzung, während die am Schema der Bestätigungssu‐ che orientierten Nutzenden den ‚Mainstream‘ verkörpern. Klar ersichtlich ist jedoch auch der Trend weg von einer rationalen Ausrichtung, wie sie charakteristisch für den ersten Nutzungstypus ist, hin zu einer stärker emotional und phatisch geprägten Nutzungsweise, wie sie die restlichen Nutzungstypen zunehmend auszeichnet. Es erweisen sich also jene Nut‐ zungstypen als prävalent, die sich sowohl von den Evaluationsfunktionen als auch vom visuellen Kommunikationsmodus zu etwa gleichen Teilen an‐ sprechen lassen. Nicht auf die Verteilung auszuwirken scheint sich hingegen der Involvierungsgrad, d. h. der Grad an Zeit und Aufwand, der für Instagram aufgebracht wird sowie das persönlich emotionale Engagement (mehr zu diesen beiden Punkten in Kap. 8): Hier weist Nutzungstypus drei, als am zweitstärksten vertretener Nutzungstypus, die stärksten Ausprägungen auf, Nutzungstypus eins, der hier ebenfalls starke Ausprägungen aufweist, ist aber statistisch unterrepräsentiert. 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 455 Abb. 37: Gesamtverteilung des Samples nach Nutzungstypus. Insgesamt betrachtet tendiert die Verteilung zur Mitte. Eine derart zur Mitte und weg von den Extremen tendierende Verteilung mag als eine Art ‚Normalverteilung‘ auf den ersten Blick nicht überraschen. Ein etwas differenzierteres und aufschlussreicheres Bild ergibt sich, wenn man die Verteilungen entlang der demographischen Merkmale Alter, Geschlecht und Bildung betrachtet. 7.2.2.1 Alter Am aussagekräftigsten und interessantesten stellen sich die Ergebnisse der Altersverteilung dar. Das Datenmaterial deckt insgesamt nur eine sehr geringe Altersspanne von 15-43 ab, wobei das Durchschnittsalter der männlichen Befragten bei 25 liegt, das der weiblichen bei 22. Dennoch zeichnet sich in der Altersverteilung nach Nutzungstypus ein Muster ab, das für beide Geschlechter beinahe identisch ausfällt. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 456 Abb. 38: Altersverteilung nach Nutzungstypus. Abb. 39: Durchschnittsalter der Frauen, nach Nutzungstypus. 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 457 5 Im Fall der Männer wurde für den pragmatisch-privaten Typus ein Ausreißer - ein 43-jähriger Nutzer - eliminiert, der den Schnitt von 23 auf 36,2 angehoben hätte. Abb. 40: Durchschnittsalter der Männer, nach Nutzungstypus. Die Männer sind im Gesamtdurchschnitt und auch für jeden Nutzungsty‐ pus gesehen durchschnittlich älter als die Frauen. Eine Erklärung hierfür fällt schwer, da in allen anderen breiteren Nutzungsstudien (bspw. die JIM-Studie, vgl. MPFS 2018, oder die ARD/ ZDF-Online-Studie, vgl. Frees & Koch 2018) Zahlen zur Geschlechterverteilung innerhalb der jeweiligen Altersgruppen fehlen. Ohne derartige Vergleiche lassen sich bspw. keine Rückschlüsse darauf ziehen, ob die Diskrepanz plattformspezifisch ist oder lebensphasenbedingt. Denkbar wäre bspw., dass Mädchen früher mit der Nutzung von Messengerdiensten und sozialen Netzwerken beginnen, wo‐ hingegen der Großteil der Mediennutzung von Jungs im selben Alter auf Videospiele u. ä. entfällt (vgl. MPFS 2018: 14). Auffallende Ähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen sind jedoch hinsichtlich der Altersverteilung auf die unterschiedlichen Nutzungstypen festzustellen. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen weist der erste Nutzungstypus - der rational-unter‐ nehmerische - den höchsten Altersdurchschnitt auf, und der letzte, der pragmatisch-private Nutzungstyp, den niedrigsten Altersdurchschnitt 5 . Die beiden Altersextrema verteilen sich also sowohl für Männer als auch für 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 458 Frauen auf den ersten und den letzten Nutzungstypus. Die durchschnittlich ältesten Gruppen weisen also ein stark ich-bezogenes, zweckrationales und öffentlichkeits-affines Nutzungsverhalten auf, während die durchschnittlich jüngsten Gruppen ein gruppenbezogenes, eher wertrationales und Privat‐ sphäre-orientiertes Nutzungsverhalten zeigen. Die beiden Mischtypen zwei und vier wiederum sind auch hinsichtlich des Altersdurchschnitts im mitt‐ leren Bereich angesiedelt - bei den Männern tritt das noch etwas deutlicher zutage als bei den Frauen. Sie flankieren den emotional-ästhetischen Typus, der sowohl für Frauen als auch für Männer den zweitniedrigsten Alters‐ durchschnitt aufweist. Die durchschnittlich jüngsten Nutzungsgruppen können also Nutzungs‐ typen zugeordnet werden, für die, im Vergleich mit den anderen Nut‐ zungstypen, ein Fokus auf Beziehungen charakteristisch ist. Während der emotional-ästhetische Typus sich dadurch auszeichnet, dass die Nut‐ zenden verstärkt parasoziale oder online-exklusive Beziehungen in On‐ line-Communities aufbauen, besteht das primäre Nutzungsmotiv des prag‐ matisch-privaten Typus in der teils sehr ritualistisch-rigiden Pflege und Bestätigung bereits bestehender Offline-Freundschaften. Bei all den bereits auseinandergesetzten Unterschieden zwischen diesen beiden Nutzungsty‐ pen verweist diese Gemeinsamkeit doch auf das Bedürfnis der jüngsten Nutzerinnen und Nutzer, sich auch online innerhalb eines festen und vertrauten sozialen Gefüges zu bewegen. Der emotional-ästhetische Nut‐ zungstypus weist darüber hinaus die größte Affizierbarkeit auf, lässt sich also am stärksten emotional ansprechen vom kommunikativen Austausch auf Instagram. Im Vergleich dazu weist mit dem rational-unternehmeri‐ schen Typus der emotional distanzierteste Nutzungstypus den höchsten Altersdurchschnitt auf. Dies lässt darauf schließen, dass wir es hier mit lebensphasenspezifischen Effekten zu tun haben: Im Falle der jüngsten Nutzenden weisen die Befunde auf ein gesteigertes Bedürfnis nach stabilen Bindungen in Phasen der individuellen Entwicklungs- und Reifungsphase hin, im Falle der ältesten Nutzenden auf Veränderungen der Fähigkeit zur Willens- und Affektkontrolle einerseits sowie auf eine zunehmend ökonomische Ausrichtung und eine Orientierung an berufsweltaffinen An‐ sprüchen. Die Tatsache, dass die beiden Mischtypen - in denen sich die Cha‐ rakteristika zweier Nutzungsschemata stark verschränken -, auch jeweils einen mittleren Altersdurchschnitt aufweisen und eng beieinanderliegen, könnte wiederum auf lebensphasenspezifische Übergänge bzw. Übergänge zwischen bestimmten Entwicklungsphasen hindeuten. Die Zahlen sind hier 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 459 aber weniger aussagekräftig und auch die beiden Mischtypen weisen, im Gegensatz zu den anderen Nutzungstypen, wenig Eigenschaften auf, die typisch für bestimmte Lebens- oder Entwicklungsphasen sind, so dass hier auf Basis der Befunde lediglich Mutmaßungen angestellt werden können. 7.2.2.2 Geschlecht Abb. 41: Geschlechterverteilung nach Nutzungstypus, in Prozent. Betrachtet man lediglich die Verteilung der Geschlechter auf die Nutzungs‐ typen ergibt sich ein weiterer interessanter, klar geschlechtsspezifischer Befund. Bei den Frauen finden wir eine deutliche Konzentration auf die Nutzungstypen zwei, drei und vier, während erstaunlicherweise etwa gleich viele Männer auf alle Nutzungstypen entfallen - die Gruppe der Männer verteilt sich also gleichmäßig auf die gesamte Nutzungsvarianz. Wenn über‐ haupt lässt sich eine leichte Tendenz zu den Extremen feststellen. Der größte Anteil der Männer entfiel auf den pragmatisch-privaten Typus, der geringste auf den im Vergleich sehr ähnlich ausgeprägten gesellig-pragmatischen Typus. Und der Anteil der rational-unternehmerischen Nutzenden ist bei den Männern signifikant höher als bei den Frauen, während die Anteile für die beiden angrenzenden Nutzungstypen im Geschlechtervergleich recht ähnlich ausfallen. So lässt sich für die Frauen eine recht deutliche 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 460 Tendenz weg von betont zweckrationalem und öffentlichkeits-affinem Nut‐ zungsverhalten wie auch offen künstlichen Bildpraktiken konstatieren - alles Charakteristika des rational-unternehmerischen Typus -, aber auch weg von reiner peer-to-peer-Kommunikation und einer starken Betonung der Privatsphäre - die wiederum den pragmatisch-privaten Typus kenn‐ zeichnen. Der Altersdurchschnitt der Frauen von 22,5 Jahren deckt sich mit dieser Konzentration auf die Nutzungstypen zwei, drei und vier, die einen ähnlichen Altersdurchschnitt aufweisen. Der Altersdurchschnitt der Männer von 25,3 legt wiederum eher eine Konzentration auf die ersten beiden Nutzungstypen nahe - umso überraschender ist der leichte Überhang auf dem pragmatisch-privaten Nutzungstypus. Wenn überhaupt scheint sich für die Männer in den Befunden eine leichte Tendenz zu einem Nutzungs‐ verhalten abzuzeichnen, für das entweder Rationalität und Affektkontrolle (Nutzungstypus eins und zwei) oder eine starke Betonung der Privatsphäre (Nutzungstypus fünf) charakteristisch sind - Nutzungsverhalten, das sich also durch eine gewisse Distanznahme und persönliche wie emotionale Desengagiertheit auszeichnet. Bei den Frauen hingegen dominieren die Nutzungstypen mit einem höheren Grad an persönlicher Involvierung. Führt man diese Unterschiede auf Geschlechter- oder Rollenbilder zurück, erscheinen v. a. zwei Erklärungen plausibel: eine plattformspezifische und eine verhaltensspezifische. Mit der plattformspezifischen Erklärung ließen sich die Unterschiede auf die geschlechtliche Konnotiertheit der Plattform Instagram zurückführen. Da diese gerne als Plattform für Mädchen und junge Frauen bezeichnet wird, ist anzunehmen, dass ein zu großes per‐ sönliches Engagement für Männer ein Stigmatisierungsrisiko birgt. Die Unterschiede in der Nutzungsweise ließen sich dann damit erklären, dass Männer, die sich auf einer ‚Frauenplattform‘ bewegen, gezielt gegensteu‐ ern, indem sie sich ostentativ desengagieren. Die verhaltensspezifische Erklärung würde eher auf plattformunspezifische, allgemein geschlechtlich codierte Verhaltensweisen verweisen: Rationales oder zurückgenommenes Verhalten ist stärker männlich codiert und wird als solches von Männern bevorzugt. Frauen hingegen präferieren soziales und emotional engagiertes Verhalten, das stärker weiblich codiert ist. Auch hier lassen sich aufgrund des explorativen Charakters aber nur Vermutungen anstellen. 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 461 7.2.2.3 Bildung Abb. 42: Abschlüsse Männer und Frauen. Die Befunde zur Verteilung der Abschlüsse sind aus den bereits genannten Gründen mit der größten Vorsicht zu genießen. Ich werde daher im Fol‐ genden auch nur ein paar sehr auffällige Aspekte besprechen. Besonders bemerkenswert ist - abgesehen von der überwältigend hohen Anzahl hoher formaler Bildungsabschlüsse bei den Frauen -, dass das Merkmal Abitur für Männer selektiv zu wirken scheint, während es auf das Nutzungsverhalten der Frauen keinen Effekt hat. So stellt das Abitur in allen Nutzungstypen den dominanten Bildungsabschluss der Frauen dar und verteilt sich, abge‐ sehen vom rational-unternehmerischen Typus, auch in fast gleichem Maße auf alle Typen. Für die Männer hingegen zeigt sich ein ganz anderes Bild. Hier überwiegt für die meisten Nutzungstypen ein jeweils anderer Bildungsabschluss, was auf einen klaren selektiven Einfluss der formalen Bildung deutet. Der rational-unternehmerische Typus setzt sich bspw. überwiegend aus Nutzenden mit Abitur und Realschulabschluss zusammen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass alle Nutzer in dieser Gruppe mit Gymnasialabschluss eine Ausbildung absolvierten und bereits einem Beruf nachgehen. Der rational-unternehmerische Nutzungstypus umfasst also vor allem tendenziell höhergebildete Berufstätige ohne Studium. Der 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 462 ästhetisch-rationale Nutzungstypus wird demgegenüber von Nutzern mit Realschulabschluss dominiert. Abb. 43: Abschlüsse nach Nutzungstypus, Männer. Der Großteil der studierten oder studierenden Nutzer wiederum konzen‐ triert sich auf die Nutzungstypen drei, vier und fünf - also auf jene Nut‐ zungstypen, die tendenziell beziehungsaffiner sind. Dabei weist der gesel‐ lig-pragmatische Typus den größten Anteil an Hochschulabsolventen auf. Die Gruppe der Berufstätigen ohne Studium neigt hingegen zu eher zweck‐ rationalem und distanziertem Nutzungsverhalten, wie es die Nutzungstypen eins und zwei auszeichnet. Je stärker die biographische Verankerung im Erwerbsleben, so die Vermutung, desto ‚unternehmerischer‘ ist auch die Nutzung der Plattform geprägt und desto weniger wird sie dem privaten Bereich der Muße und Geselligkeit zugeordnet. 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 463 6 Dabei sind die beiden FsJlerinnen noch gar nicht mitberechnet. Abb. 44: Abschlüsse nach Nutzungstypus, Frauen. Ein auf den ersten Blick gänzlich anderes Bild zeichnet sich für die Frauen ab. Jeder Nutzungstypus wird von Studentinnen ohne Hochschulabschluss dominiert. Bei genauerem Blick ergibt sich dann aber doch eine kleine Parallele: Betrachten wir die Nutzungstypen eins und zwei, werden die Studentinnen dort im Verhältnis 1: 1,25 von Abiturientinnen mit oder in der Ausbildung sowie von Nutzerinnen mit Realschulabschluss oder Fachhoch‐ schulreife flankiert. Nimmt man die letzten drei Nutzungstypen zusammen, verdoppelt sich das Verhältnis 6 auf 1: 2,55. Wenngleich also ein allgemei‐ ner Überhang an Studentinnen für jeden der Nutzungstypen konstatiert werden kann, zeichnet sich doch zumindest eine gemeinsame Tendenz ab: Formal niedrige Schulabschlüsse als auch eine biographische Veranke‐ rung im Erwerbsleben scheinen ein Nutzungsverhalten zu begünstigen, das Eigenschaften der ersten beiden zweckrational und unternehmerisch ausgerichteten Nutzungstypen aufweist, während Nutzende mit formal höheren Abschlüssen mit größerer Wahrscheinlichkeit den letzten drei, eher privat-persönlich und beziehungsorientierten Nutzungstypen zuord‐ bar sind. 7 Empirische Ergebnisse II: Nutzungstypen im synthetischen Kommunikationsraum 464 7.2.2.4 Zusammenschau Was lässt sich aus diesen kurzen, schlaglichtartigen und unsystematischen Beobachtungen für weiterführende Forschungen ableiten? Zuerst einmal ist interessant, aber nicht weiter überraschend, dass sowohl Alter, Geschlecht als auch Bildungsstand sich auf das Nutzungsverhalten auszuwirken schei‐ nen. Bemerkenswert hingegen sind die spezifischen Selektionseffekte. So lassen sich die Nutzungstypen entlang des Alters noch einmal hin‐ sichtlich bestimmter extremer Ausprägungen neu ordnen und differen‐ zieren. Dies betrifft insbesondere die Unterscheidungen privat/ öffentlich und unternehmerisch/ beziehungsorientiert. Sowohl der erste (rational-un‐ ternehmerische) als auch der fünfte (pragmatisch-private) Nutzungstypus weisen extreme Ausprägungen dieser Eigenschaften auf. Altersspezifische Selektionseffekte in Richtung der extremen Ausprägungen zeigen sich ins‐ besondere für ältere und für jüngere Nutzende, während die Nutzenden, die im Altersdurchschnitt liegen, sich auf die in den genannten Eigenschaften gemäßigten Typen zwei, drei und vier verteilen. Ein ähnliches Muster ergibt sich für die geschlechtsspezifischen Effekte. So liegen insbesondere bei den Frauen die Nutzungstypen zwei, drei und vier anteilsmäßig näher beieinander als die Typen eins und fünf. Für die Männer zeichnet sich zumindest eine ähnliche Tendenz ab, wenngleich die Befunde hier nicht ganz so eindeutig sind. Interessanterweise unterscheiden sich die anteilsmäßigen Verteilungen für Männer und Frauen genau umgekehrt: So liegen der erste und der letzte Typus für Frauen anteilsmäßig signifikant niedriger als die anderen drei Typen, für die Männer leicht darüber. Männer scheinen Nutzungsweisen zu präferieren, die an extremen Ausprägungen von Eigenschaften des rational-unternehmerischen und pragmatisch-priva‐ ten Typus orientiert sind, während Frauen diese eher vermeiden. Etwas anders sieht es für die Selektionseffekte formaler Bildung aus. Die deutlichsten Effekte zeigen sich hier nicht für die Frauen, sondern für die Männer, wobei die Tendenzen in die gleiche Richtung weisen. So verläuft die Trennung der Nutzungstypen entlang von Bildungseffekten nicht mehr zwischen dem ersten und dem fünften Nutzungstypus und dem Rest, sondern zwischen Nutzungstypus eins und zwei sowie den Nutzungs‐ typen drei, vier und fünf. Dabei zeichnen sich Zusammenhänge zwischen Erwerbsbiographie und unternehmerischem Nutzungsverhalten einerseits und zwischen studentischem Hintergrund und beziehungsorientierterem Nutzungsverhalten andererseits ab. 7.2 Übersicht Nutzungstypen und Orientierungsvektoren 465 Aus den Befunden kristallisiert sich heraus, dass die Merkmale Alter, Geschlecht und Bildung in enge