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Diskursive Gerichtslandschaft

Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert

0831
2020
978-3-7398-8074-7
978-3-7398-3074-2
UVK Verlag 
Patrick Berendonk

Vorliegende Studie eruiert die zivilrechtliche Stellung der jüdischen Minderheit vor landesherrlichen Gerichten im 18. Jahrhundert anhand dreier territorialer Obergerichte. Sie bietet dabei einen weitgreifenden Einblick in die mannigfaltigen Konfliktfelder, welche innerjüdische und jüdisch-christliche Prozesse vor christlichen Gerichten in der Frühen Neuzeit evozierten. Im Fokus der Untersuchung stehen nicht die Parteien oder deren Anwälte, sondern die Richter. Es wird sorgfältig skizziert, wie diese über die zur Entscheidung stehenden Fälle debattierten, um zu Urteilen zu gelangen, welche (diskursiven) Regeln die Debatten strukturierten bzw. begrenzten und inwiefern diese Regeln es gestatteten, den jüdischen Glauben einzelner Parteien für die Urteilsfindung zu bedenken.

<?page no="0"?> Patrick Berendonk Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert Diskursive Gerichtslandschaft <?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Carola Dietze · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulrike Ludwig · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 36 Wissenschaftlicher Beirat: Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt Zum Autor: Patrick Berendonk studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Geschichte und Philosophie. 2010 schloss er das Studium mit einem Bachelor of Arts ab und nahm ein Masterstudium Geschichte an der Universität Duisburg-Essen auf, welches er 2013 mit dem Master of Arts abschloss. Im April 2014 begann er im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Justiz und Vorurteil - Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten“ die rechtspraktische Situation der Juden im Alten Reich zu erforschen. Die Ergebnisse seiner Studie sind in dieser Arbeit zusammengefasst. <?page no="2"?> Patrick Berendonk Diskursive Gerichtslandschaft Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz <?page no="3"?> Die vorliegende Dissertation wurde von Prof. Dr. Stefan Brakensiek und Prof. Dr. Ralf-Peter Fuchs betreut und am 24.01.2019 an der Fakultät Geschichte / Philosophie der Universität Duisburg-Essen verteidigt. Finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-7398-3074-2 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2020 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: © LAV NRW, AA 0008 Kurköln III Nr. II B 70, BL. 1 Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 www.uvk.de <?page no="4"?> Vorwort Eine erste Fassung dieser Studie wurde im Sommer 2018 an der Universität Duisburg-Essen approbiert. Den Betreuern Stefan Brakensiek und Ralf Fuchs sei an dieser Stelle herzlichst gedankt. Für die hier vorliegende Druckfassung wurden einzelne Kapitel überarbeitet. Die hier vorliegende Studie hätte ohne die Mithilfe verschiedener Personen nicht realisiert werden können. Ihre Kritik sowie ihr Zuspruch formten in den letzten Jahren mein Denken und in der Folge auch diese Studie. An erster Stelle gilt mein herzlichster Dank meinem Doktorvater Stefan Brakensiek, der mich lehrte, warum man die Beziehung zwischen Doktorant und Betreuer mit der Beziehung zwischen Eltern und Kindern vergleicht. Er entfachte mein Interesse für die jüdische Geschichte und die Frage nach der rechtspraktischen Stellung der Juden im Alten Reich im Rahmen eines Seminares, welches ich noch als Student bei ihm besuchte. Die Möglichkeit, die Studie realisieren zu können, verdanke ich ihm! Auch stellte er die Kontake zu vielen der im weiteren Verlauf des Vorworts auftauchenden WissenschaftlerInnen her, hatte immer eine offene Tür und ein offenes Ohr für die Probleme, mit denen wohl ein Jeder bei seinen ersten Schritten in der wissenschaftlichen Welt konfrontiert wird und hatte so einen großen Einfluss auf mein akademisches Erwachsenwerden. Stefan Brakensiek stellte auch den Kontakt zu Frau Ullmann und Herrn Brocke her, welche als ExpertInnen für jüdische Geschichte die Studie betreuten. Beide waren immer bereit, Rat zu erteilen, wussten aber auch nötige Kritik zu formulieren. Ihnen sei dafür herzlich gedankt. Frau Ullmann stellte den Kontakt zur GEGJ her, auf deren Tagung im Februar 2015 in Stuttgart-Hohenheim ich mein Projekt vorstellen durfte. Bis dahin lag meiner Studie noch ein wissenssoziologischer Ansatz zu Grunde. Erst nach der Tagung und der dort seitens verschiedener Mitglieder der GEGJ artikulierten Kritik wechselte ich den methodologischen Ansatz und die Studie bekam ihren heutigen, diskurstheoretischen Anstrich. Mein Dank gilt allen Mitgliedern der GEGJ und insbesondere Rotraud Ries, Christoph Cluse, Lucia Raspe, Michaela Schmölz-Häberlein, Mark Häberlein sowie Wolfgang Treue. Der GEGJ habe ich dann auch für die Möglichkeit zu danken, dass ich im Rahmen zweier DoktorantInnenworkshops mein Projekt im Kreise von ExpertInnen vorstellen und diskutieren konnte. Auf dem ersten Workshop lernte ich Herrn Prof. Dr. Friedrich Battenberg kennen, der nicht allein im Rahmen des Workshops ein konstruktiver Gesprächspartner war, sondern auch im Anschluss mir weiterhin beratend zur Seite stand. Er war es, der mich in die Jurisprudenz einführte. Erst durch die Gespräche mit ihm lernte ich, die juristischen Konventionen zu entdecken, welche der gerichtlichen Wahrheitsproduktion zugrundelagen. Ihm sei herzlich gedankt! Mein Dank gilt ferner den MitarbeitInnen der Landesarchive NRW (Abteilung Rheinland sowie Detmold) und des Landesarchives Nürnberg. Den sichtbaren MitarbeiterInnen (welche als ArchivarInnen mir beratend zur Seite standen <?page no="5"?> oder die Aktenausgabe besorgten) sowie jenen MitarbeiterInnen, die verborgen vor den Augen der NutzerInnen die Akten pflegen und ausheben, gilt mein Dank. Für die vielfältige Hilfestellung in Form von konstruktiven Debatten über meine Studie, der kommentierenden Lektüre des Manusskripts sowie der Druckfassung dieser Studie möchte ich mich bei KollegInnen und FreundInnen, inbesondere bei Olav Heinemann, Urs Wohltat, Christine Zabel, Eva Lehner, Sebastian Peters, Sebastian Meurer, Teresa Schröder-Stapper, Jonas Hübner, Markus Schröter, Claudia Schröter, Benjamin Wolf, Claus Blaschke sowie Nils Bennemann bedanken. Für die Aufnahme des Buches in die Reihe Konflikte und Kultur gilt mein Dank den ReihenherausgeberInnen, insb. Gerd Schwerhoff, und der UVK Verlagsgesellschaft. Insbesondere gilt mein Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft, welche die Erstellung und Publikation dieser Arbeit förderte und leztlich das gesamte Forschungsprojekt erst ermöglichte. Für die Projekt- und Publikationsförderung danke ich der DFG herzlichst! Last but not least gilt mein Dank meiner Familie, Klara, Jürgen und Marcel Berendonk sowie Claus, Heike und Maren Blaschke als auch Jan Drüen. Gewidmet ist dieses Buch meiner Frau Carina und meinem Sohn Joris, für welche die Realisierung der Studie und die Niederschrift des Manusskripts sowie der Druckfassung eine entbehrungsreiche Zeit waren. Ihre Liebe und ihr Zuspruch waren der entscheidende emotionale Halt in den schwierigen Phasen, welche wohl eine jede Promotion begleiten. <?page no="6"?> 7 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ........................................................................................11 1.1 Das jüdische Leben in der Frühen Neuzeit .................................13 1.2 Die Komplexität des Rechts .......................................................19 1.3 Die Relevanz der Obergerichte ...................................................29 1.4 Drei territoriale Obergerichte im Zeitalter der Aufklärung .........30 1.5 Das Privileg ius de non appelando ..............................................35 1.6 Von der gerichtlichen Wahrheitsfindung oder ein Blick hinter den Vorhang ...........................................................................................40 1.7 Relation und Logik ....................................................................44 1.8 Diskursanalyse ...........................................................................50 1.9 Begriffe ......................................................................................55 1.10 Vorgehensweise ........................................................................58 2. Das agonale Prinzip .........................................................................61 2.1 Jülich-Berg: Die Relation als Medium verschiedener Diskurse ...62 2.2 Die Form der obergerichtlichen Relationen ................................65 2.3 Das agonale Prinzip ...................................................................75 2.4 Experimente mit der Form an den einzelnen Obergerichten .......79 2.5 Zwischenfazit .............................................................................85 3. Das Auftauchen des Rechts im Urteilsdiskurs ...................................87 3.1 Die Subsumption .......................................................................87 3.2 Diskursive Verschränkung .........................................................89 3.3 Das mosaische Gesetz im Urteilsdiskurs .....................................91 3.4 Zwischenfazit .............................................................................97 <?page no="7"?> 8 4. Das Auftauchen von Juden in den Urteilsdiskursen ..........................99 4.1 Der normative Diskurs, der Urteilsdiskurs und die Juden ..........99 4.2 Die Hofjuden ..........................................................................109 4.3 Zwischenfazit ...........................................................................112 5. Argumentationsmuster ...................................................................115 5.1 Die Präsumptionen ..................................................................115 5.2 Die forensische Interpretation ..................................................122 5.3 Zwischenfazit ...........................................................................130 6. Kurkölner Wahrheitsproduktionen ................................................131 6.1 Die Grenzen des Sagbaren im Kurkölner Urteilsdiskurs - Das Verfahren Moses wider Tosten .......................................................132 6.1.1 Sachverhaltskonstruktion ..................................................136 6.1.2 Urteilsproduktion .............................................................138 6.1.3 Zwischenfazit ....................................................................142 6.2 Vom diskursivem Wandel - Das Verfahren Hirtz wider Weil ..143 6.2.1 Sachverhaltskonstruktion ..................................................146 6.2.2 Urteilsproduktion .............................................................149 6.2.3 Zwischenfazit oder vom diskursiven Wandel .....................151 6.3 Fazit .........................................................................................154 7. Jülich-Berger Wahrheitsproduktionen ............................................159 7.1 Die Grenzen des Sagbaren im Jülich-Berger Urteilsdiskurs - Das Verfahren Elbers wider Lazarus ......................................................159 7.1.1 Sachverhaltskonstruktion ..................................................161 7.1.2 Urteilsproduktion .............................................................165 7.1.3 Zwischenfazit ....................................................................173 <?page no="8"?> 9 7.2 Judenspezifische Argumente - Das Verfahren der Karmelitinnen wider einige jüdische Händler ........................................................175 7.2.1 Sachverhaltskonstruktion ..................................................175 7.2.2 Urteilsproduktion .............................................................177 7.2.3 Zwischenfazit ....................................................................179 7.3 Artifizielle Wahrheit - Das Verfahren Schäfer wider Levi .........180 7.3.1 Sachverhaltskonstruktion 1: Die erste Schuldforderung .....182 7.3.2 Sachverhaltskonstruktion 2: Die zweite Schuldforderung ..187 7.3.3 Urteilsproduktion .............................................................190 7.3.4 Zwischenfazit ....................................................................192 7.4 Fazit .........................................................................................193 8. Brandenburg-Ansbacher Wahrheitsproduktionen ..........................197 8.1 Die Grenzen des Sagbaren am KLG - Das Verfahren der Witwe Roth wider einige jüdische Händler ...............................................197 8.1.1 Sachverhaltskonstruktion ..................................................199 8.1.2 Urteilsproduktion .............................................................201 8.1.3 Zwischenfazit ....................................................................204 8.2 Das Zustandekommen der richterlichen Mehrheit - Das Verfahren Brandeis wider Braun ....................................................205 8.2.1 Sachverhaltskonstruktion ..................................................206 8.2.2 Von Majorität und Minorität ............................................208 8.2.3 Urteilsproduktion .............................................................209 8.2.4 Zwischenfazit ....................................................................217 8.3 Der Zusammenhang von Sachverhalt und Urteil - Das Verfahren Kohnfeld wider Abraham ...............................................................218 <?page no="9"?> 10 8.3.1 Die jüdische Testierfähigkeit .............................................221 8.3.2 Die Judenprivilegien von 1759 ..........................................225 8.3.3 Die forensische Interpretation ...........................................227 8.3.4 Zwischenfazit ....................................................................229 8. 4 Fazit ........................................................................................229 9. Fazit ...............................................................................................233 10. Literatur .......................................................................................243 10.1 Hilfsmittel .............................................................................254 11. Quellenverzeichnis .......................................................................255 11.1 Kurköln .................................................................................255 11.2 Jülich-Berg .............................................................................255 11.3 Brandenburg-Ansbach ............................................................256 11.4 Weitere Quellen .....................................................................257 12. Anhang ........................................................................................259 12.1 Namensregister ......................................................................259 12.2. Sachregister ...........................................................................260 <?page no="10"?> 11 1. Einleitung In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerierten der kurkölnische, jüdische Händler Gumpel Cassel und dessen angebliche Schuldnerin, die Marquise de Trotti, in einen Streit über die Begleichung einer vermeintlich noch offenen Schuld. Cassel verklagte die Marquise vor dem Kurkölner Hofrat auf deren Begleichung, woraufhin die Marquise erklärte, dass es schon zu einem Vergleich zwischen ihr und Cassel gekommen sei, in dessen Folge die noch offene Schuldforderung von 1.535 Reichstaler auf 1.000 Reichstaler gesenkt worden sei und eben diese seien bereits bezahlt worden. Cassel gab zwar zu, dass es zu einem solchen Vergleich gekommen sei und die Marquise auch tatsächlich schon 1.000 Reichstaler gezahlt habe. Allerdings habe man ihn zu dem Vergleich gezwungen, weswegen er diesen für nichtig hielt und die übrigen 535 Reichstaler ausgezahlt bekommen wollte. 1 Der Kurkölner Hofrat urteilte, dass der Vergleich ohne Zwang geschlossen worden sei und Cassel folglich keine legitimen Forderungen gegen die Marquise mehr besäße. 2 Das seitens des Kurkölner Hofrates gefundene Urteil gibt nicht notwendigerweise die historische Wirklichkeit wieder. Die im Urteil enthaltende Wahrheit, Cassel habe in den Vergleich freiwillig eingewilligt, ist Produkt des zivilrechtlichen Verfahrens. Der Gerichtsprozess stellte mittels einer Verschachtelung einzelner, voneinander abgetrennter Verfahrensschritte erst diese Wahrheit her, wobei insbesondere Zeugen sowie die Parteien schon unterschiedliche Wahrheiten im Rahmen des Verfahrens artikulierten, welche dann miteinander konkurrierten. 3 Am Ende des Verfahrens reüssierte dann die im Urteil enthaltende und den Parteien sowie einer interessierten Öffentlichkeit verkündete Wahrheit über den freiwilligen Vergleichsschluss. In der jüngeren Forschung ging Andrea Griesebner der Frage nach, welchen Einfluss die Kategorie Geschlecht auf die strafrechtliche, niedergerichtliche Wahrheitsproduktion hatte, wobei sie die verschiedenen Teilbereiche von Prozessen (insb. das Verhör) in den Blick nahm. 4 Blickt man nun auf den oben skizzierten Fall, so drängt sich zwar auch 1 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II, C 8. 2 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II, C 8. 3 Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert (Wien, 2000), 159-176; Ludger Hoffmann, “Vom Ereignis zum Fall: Sprachliche Muster zur Darstellung und Überprüfung von Sachverhalten vor Gericht,” in Erzählte Kriminalität: Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, ed. Jörg Schönert (Tübingen, 1991), 197ff. 4 Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Auch Ludger Hoffmann fokussierte in seiner die „moderne“ Gerichtspraxis untersuchenden Studie die Verhöre. Ludger Hoffmann, Kommunikation vor Gericht. (Tübingen, 1983). Siehe zum Thema der gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung der Frau in der Frühen Neuzeit: Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe: Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgesellschaft 1700-1914 (Köln, 2004); Ute Gerhard, Gleichheit ohne <?page no="11"?> 12 die Frage auf, welches Gewicht dem Geschlecht der Marquise zukam, jedoch war der männliche Cassel Teil der von der christlichen Mehrheitsgesellschaft seit dem Mittelalter stigmatisierten und ausgegrenzten jüdischen Minderheit. In dieser Arbeit nun interessiert nicht der Einfluss des Geschlechts, sondern allein der Einfluss des jüdischen Glaubens eines Klägers oder Beklagten auf die gerichtliche Wahrheitsfindung. 5 Mit dem Gesagten wird eine zweite Besonderheit dieser Studie angesprochen. Anstelle der üblichen Fokussierung der Strafrechtspraxis zu folgen, interessiere ich mich dezidiert für die zivilrechtliche Wahrheitsproduktion. 6 Schließlich ist diese Arbeit dem Teilbereich der Gerichtsverfahren gewidmet, dem bis dato am wenigsten Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es wird allein untersucht, wie landesherrliche (Ober)richter aus der Vielzahl an Informationen, die im Laufe eines Verfahrens via Beweiserhebungen, Zeugenverhören etc. produziert wurden, am Ende eines Verfahrens eine Wahrheit formten, welche dann in einem Urteil den Parteien verkündet wurde. Es soll nachvollzogen werden, wie aus dem Konkurenzkampf der unterschiedlichen Wahrheiten am Ende eines Verfahrens eine Wahrheit als Sieger hervorging und Angleichung: Frauen im Recht (Beck, 1990); Dies., ed., Frauen in der Geschichte des Rechts: Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (München, 1997); Nicole Grochowina, Das Eigentum der Frauen: Konflikte vor dem Jenaer Schöppenstuhl im ausgehenden 18. Jahrhundert (Köln, 2009); Birgit E. Klein, Das jüdische Ehegüter-und Erbrecht der Frühneuzeit: Entwicklung seit der Antike und Auswirkung auf das Verhältnis der Geschlechter und zur christlichen Gesellschaft (Köln/ Weimar/ Wien, 2011); Dies., “Erbinnen in Norm und Praxis: Fiktion und Realität im Erbstreit der Familien Liebmann von Geldern,” in Juden im Recht: Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im alten Reich, ed. Andreas Gotzmann (Berlin, 2007). 5 Freilich stellt die gesellschaftliche Sonderstellung der Juden ebenso wie das Geschlecht ein seit geraumer Zeit untersuchtes Phänomen dar, wobei ebenfalls die aus der sozialen Sonderstellung resultierende rechtliche Stellung der Juden seit längerer Zeit (insb. im Rahmen des Forschungsclusters Jüdisches Heiliges Römisches Reich) untersucht wird. Siehe: Andreas Gotzmann, ed., Juden im Recht: Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (Berlin, 2007). Außerhalb des Clusters entstandene Studien: Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts (Sigmaringen, 1981); André Griemert. Jüdische Klagen gegen Reichsadelige: Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz Stephans (Berlin, 2015). Instruktiv: Friedrich Battenberg, “Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühenneuzeit zwischen Reich und Territorium,” in Rolf Kießling, Judengemeinden in Schwaben im Kontext des alten Reiches (Berlin, 1995). 6 Neben Andrea Griesebner beschäftigt sich auch die Studie Hoffmanns mit strafrechtlichen Verfahren. Ferner wurden insb. im Rahmen der Genderforschung erkenntnisreiche Studien produziert, welche sich mit dem der Strafrechtspraxis und dem Strafrecht beschäftigen. Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland (München, 1990); Ders., ed., Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit (Köln/ Weimar/ Wien, 1995); Helfried Valentinisch, „Zur Geschichte des Kindsmordes in Innerösterreich. Gerichtspraxis und landesfürstliches Begnadigungsrecht im 17. Jahrhundert“, in Recht und Geschichte. Festschrift für Hermann Baltl zum 70. Geburtstag ed. ders.(Graz, 1988), 573-591; Karin Stukenbrock, Abtreibung im ländlichen Raum Schleswig-Holsteins im 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung auf Basis der Gerichtsakten (Neumünster, 1993). In der jüngeren Forschung ist jedoch eine Trenddwende zu erkennen. So untersuchte André Griemert dezidiert zivilrechtliche Verfahren. André Griemert. Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. <?page no="12"?> 13 welchen Bedingungen ihre Produktion/ Findung unterworfen war. Dabei interessiert primär der Einfluss antijüdischer Stereotype auf die (ober-)gerichtliche Wahrheitsfindung - immerhin grassierte seit dem Mittelalter im Alten Reich eine Vielzahl antijüdischer Vorurteile. Deren Einfluss auf die Rechtssprechung sollte zwar seit der Rezeption des römischen Rechts im HRR um 1500 gebrochen worden seien, jedoch objektivierten auch nach 1500 im Alten Reich erlassene Rechtsordnungen weiterhin antijüdische Vorurteile. 7 Inwiefern also die Sterotype aus der Rechtspraxis und insbesondere der gerichtlichen Wahrheitsfindung verschwunden waren, ist durchaus fraglich. Untersucht wird die Spruchtätigkeit dreier landesherrlicher Obergerichte im 18. Jahrhundert. 8 Damit gerät die Rechtspraxis der in der Forschung unterrepräsentiert untersuchten Obergerichte in den Blick, deren Urteilsfindung hier diskurstheoretisch analysiert wird. Dies ist möglich, da in zivilrechtlichen, obergerichtlichen Verfahren einzelne Richter aus einem Kolleg mit einem Fall mandatiert wurden, diesen beurteilen und den Fall sowie ihren Urteilsvorschlag dann dem Kolleg referieren mussten, wobei ihre Referate in Form von schriftlichen Relationen den Gerichtsakten beigegeben werden sollten. 9 Diese Studie ist damit in verschiedenen Bereichen der Geschichtswissenschaft situiert. So ist eine grundlegende Kenntnis der jüdischen Geschichte sowie auch der Rechtsgeschichte elementar für ein Verständnis dieser Untersuchung. Es wird versucht, dieses Wissen in den nachfolgenden zwei Unterkapiteln zu vermitteln. Daran anschließend werden Untersuchungsgegenstand und -zeitraum vorgestellt, die Quellengattung wird darauffolgend erörtert sowie die Methodik genauer beschrieben. 1.1 Das jüdische Leben in der Frühen Neuzeit Die gesellschaftliche, ökonomische und politische Situation der im Alten Reich lebenden Juden hatte sich am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit grundlegend gewandelt. Die alte Schutzherrschaft von Kaiser und Papst über die jüdische Minderheit war erloschen. An ihrer statt übernahmen ab dem 16. Jahrhundert die landesherrlichen Obrigkeiten bis zum Ende des Alten Reiches 1806 die Schutzherrschaft. Nicht alle Landesherren waren jedoch bereit, überhaupt Juden in ihrem Territorium aufzunehmen. In den judenaufnehmenden Territo- 7 Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, 73. 8 Eine umfassende Begründung der Auswahl der Gerichte und des Untersuchungszeitraums folgt in den Kapiteln 1.3 und 1.4. 9 Dass diese Praxis so nicht immer umgestezt wurde, lernte ich bei der Zusammenstellung des Quellenkopusses. <?page no="13"?> 14 rien differierten die Lebensbedingungen der aufgenommenen Juden. 10 Generell lässt sich aber konstatieren, dass die meisten Städte wie die freie Reichsstadt Köln Juden im 16. Jahrhundert vertrieben hatten und ihnen häufig auch bis 1806 eine Neuansiedlung innerhalb der Stadtmauern untersagten, sodass sich das Leben der jüdischen Minderheit im Alten Reich größtenteils vor den Stadttoren abspielte. 11 Juden waren also im 16. Jahrhundert aus den Städten auf das urbane Umland verdrängt worden, wenn man von einigen Ausnahmen absieht. Da sie in Folge dieser Entwicklung auch rein geographisch aus der Nähe zum Markt verdrängt worden waren, ergriffen sie neue berufliche Betätigungsfelder, die ihnen ihre neue von der christlichen Mehrheitsgesellschaft zugewiesene Umwelt bot. Sie stellten in den nächsten Jahrhunderten die ökonomische Klammer von Stadt und Land dar. Jüdische Händler kauften auf den großen Messen und Märkten Produkte, die sie als Hausierer auf dem Land feilboten. Im Gegenzug kauften sie ländliche Erzeugnisse von Bauern und verkauften diese auf den Messen und großen Märkten. 12 Ferner konnten jüdische Händler den ihnen kurzfristig gestatteten Aufenthalt in den Städten zur Erledigung von Geschäftsgängen nutzen, um kreditwillige Bürger zu kreditieren. Jüdische Kaufleute traten als Pfandleiher oder Kreditgeber auf oder sie handelten mit Wert- und Luxusgütern, Edelmetallen, Grundnahrungsmitteln, Trödelwaren oder Vieh. 13 Nun bedeuteten die von den Juden übernommenen Aufgaben, Stadt und Land ökonomisch miteinander zu verzahnen und Kredite zu stellen, nicht, dass Juden ökonomisch reüssierten. Die Lebenssituation vieler Juden war in der Zeit zwischen 1500 und 1800 prekär. 14 Dies resultierte auch aus dem Umstand, dass Juden der Zugang zu zünftisch organisierten (handwerklichen) Betätigungsfeldern verwehrt wurde. Sie waren rechtlich von diesen ausgeschlossen und mussten somit im Geldgeschäft und Handel tätig werden. 15 Nur einzelnen Juden gelang es in besonderem Maße, in den ihnen von Christen zugewiesenen ökonomischen Betätigungsfeldern 10 Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Band 1. Von den Anfängen bis 1650, 2nd ed. (Darmstadt, 2000), 166f. 11 Friedrich Battenberg, “Aus der Stadt auf das Land? : Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich,” in Jüdisches Leben auf dem Lande: Studien zur deutschjüdischen Geschichte, ed. Monika Richarz, 56 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1997), 28; Ders., Das europäische Zeitalter der Juden, 166; Wolfgang Benz and Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, eds., Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. 1. Länder und Regionen (München, 2008), 85; Markus J. Wenninger, Man bedarf keiner Juden mehr: Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert. Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte / 14 (Köln, 1981). 12 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 167ff. 13 Ibid., 168. 14 Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Band 2. Von 1650 bis 1945, 2nd ed. (Darmstadt, 2000), 4. 15 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 167. <?page no="14"?> 15 Erfolg zu haben. Im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelte sich das Hofjudentum. Hofjuden - auch Hoffaktoren genannt - waren gesellschaftlich und ökonomisch weitgespannt vernetzte Juden, die in den Dienst eines Landesherrens traten. 16 Neben den im Dienste der Fürsten stehenden Hofjuden reüssierten andere Juden als Finanziers, im Versicherungsgewerbe oder im Börsenwesen. Im 18. Jahrhundert kam es ferner zur Gründung jüdischer Familienbanken, deren Relevanz erst im folgenden Jahrhundert vollends hervortrat. 17 Neben der wirtschaftlichen Neuorientierung mussten Juden sich seit Beginn der Frühen Neuzeit vor allem gesellschaftlich neu organisieren. Mit dem Übergang des Judenregals und dem darin kodifizierten Recht, Juden Schutz zu gewähren, von dem Kaiser auf die Landesherren verlor das Reich sukzessive seine Stellung als Bezugspunkt jüdischen Lebens. Zugleich löste sich im 16. Jahrhundert die Judenschaft als geschlossene Sozialgruppe im Alten Reich auf. Die aus den Städten vertriebenen Juden lebten nicht mehr in großen Gemeinschaften, sondern atomisiert innerhalb der Territorien. 18 Eine umgekehrte Entwicklung nahm das Leben von Juden in den Städten, aus denen die jüdischen Einwohner nicht vertrieben worden waren. Diese Städte begannen im 17. Jahrhundert wie z.B. Frankfurt am Main und Prag nach italienischem Vorbild Ghettos zu errichten. 19 Die Juden im Alten Reich mussten also ihre gesellschaftliche Organisation unter diesen Vorzeichen neu strukturieren. Zum neuen Bezugspunkt jüdischen Lebens avancierte im ausgehenden 16. Jahrhundert das Territorium. 20 Die in einem Territorium lebenden Juden organisierten sich in Landjudenschaften. Diese waren Zwangsvereinigungen aller jüdischen Familienhäupter eines Territoriums, die eine mit Ämtern ausgestattete politische Organisationsform darstellten. 21 Die territorialen Obrigkeiten waren ebenfalls an den Gründungen von 16 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 7. Siehe insbesondere zur Institution des Hofjuden: Sabine Hödl, Peter Rauscher, and Barbara Staudinger, eds., Hofjuden und Landjuden: Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit (Berlin/ Wien, 2004); Avrāhām Malāmā and Shemu el E inger, eds., Geschichte des jüdischen Volkes. 3. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Die Neuzeit, (München, 1980), 66f; Rotraud Ries, ed., Hofjuden: Ökonomie und Interkulturalität: Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, 25 (Hamburg, 2002). Eine grundlegende und instruktive Einführung in den Themenkomplex bietet: Rotraud Ries, “Hofjuden: Funktionsträger des absolutistischen Territorialstaates und Teil der jüdischen Gesellschaft,” in Ries, Hofjuden: Ökonomie und Interkulturalität. 17 Malāmā and E inger, Geschichte des jüdischen Volkes. 3. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 15. 18 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 169. 19 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 2. 20 Rotraud Ries, “Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? : Zur politischen Rolle der Elite in der Judenschaft des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts,” in Hofjuden und Landjuden: Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, ed. Sabine Hödl (Berlin, 2004), 126. 21 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 242ff. Siehe insbesondere zum Thema Landjudenschaft: Daniel J. Cohen, “Die Landjudenschaften der brandenburg-preußischen Staaten im 17. und 18. Jahrhundert.: Ihre Beziehung unterienander aufgrund neuerschlossener jüdischer Quellen,” <?page no="15"?> 16 Landjudenschaften interessiert, weil sie in diesen primär eine effektive Möglichkeit sahen, das aus der Schutzherrschaft resultierende Besteuerungsrecht umzusetzen. 22 Kurz gesagt ließen sich die Landesherren den Schutz bezahlen, was aus jüdischer Perspektive bedeutete, dass sie in klingender Münze für ihren Aufenthalt in einem Territorium aufkommen mussten. 23 Diese Praxis war nicht neu. Bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts war in Folge der Pest die rechtliche Situation der im Reich lebenden Juden neu taxiert worden. Lange bevor die Städte die Juden vertrieben, begannen diese und andere Herrschaftsträger nun „das Wohnrecht in einem näher umschriebenen Kreis und das Recht zu gewerblichen Betätigung [für Juden, Anm. d. A.] in einem festgesetzten Rahmen zu einem vertraglich auf Zeit eingeräumten und daher jederzeit kündbaren Recht“ auszugestalten. 24 Verbrieft wurden die territorial stark differierenden Bedingungen in Schutzbriefen. 25 Die Schutzbriefe stellten Einzelabreden zwischen territorialen Obrigkeiten und einzelnen Juden dar. Im 15. Jahrhundert begannen Städte dann damit, anstelle der individuellen Schutzbriefe kollektiv Schutz zu verleihen. 26 Das Interesse der Landesherren im ausgehenden 16. Jahrhundert an den Gründungen von Landjudenschaften ist auch vor diesem Hintergrund zu betrachten. Immerhin hatte sich das Schutzbriefwesen im Laufe der Jahrhunderte wenig verändert. Die Landesherren sahen also in den Landjudenschaften auf der einen Seite Ansprechpartner und auf der anderen Seite eine effektive Möglichkeit, die aus dem gewährten Schutz resultierenden Gelder abzuschröpfen. Letztlich war die städtische und territoriale Judenpolitik im gesamten Alten Reich auf die Begrenzung der Anzahl von Juden, sowie die Ausbeutung und Reglementierung der vergleiteten Schutzjuden ausgerichtet, weswegen im 18. Jahrhundert nur ca. 70 000 Juden offiziell im Alten Reich lebten. 27 in Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preussen: Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, ed. Peter Baumgart and Arbeitstagung Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg- Preußen, (Berlin [u.a.]: De Gruyter, 1983); Daniel J. Cohen, “Die Landjudenschaften in Hessen- Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung,” in Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen: Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, by Christiane Heinemann, ed. Christiane Heinemann (Wiesbaden, 1983). 22 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 242. 23 Allerdings konnten je nach Territorium die Gründe für die Aufnahme divergieren, bzw. kumulierten fiskalische, wirtschaftliche und politische Motive. Darauf verwies schon Rotraud Ries. Vgl.: Ries, “Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? ,” 94. Grundlegend für die politische Motivation: Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat: Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich (Hildesheim [u.a.], 2003); Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz: Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750: Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte / 151 (Vandenhoeck & Ruprecht, 1999). 24 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 141. 25 Ibid. 26 Ibid., 143. 27 Benz and Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, Handbuch des Antisemitismus, 87. <?page no="16"?> 17 Die größte Gruppe der im Reich lebenden Juden spielt in diese Statistik nicht hinein. Der Großteil der jüdischen Minderheit konnte keinen Schutzbrief erlangen, da er die finanziellen Voraussetzungen nicht erfüllte. Die Gruppe der Betteljuden musste von Stadt zu Stadt und Territorium zu Territorium ziehen, da diese verarmten Juden aufgrund mangelnden Vermögens stets von der Ausweisung aus dem Territorium, in dem sie sich aufhielten, bedroht waren. 28 Die besondere gesellschaftliche, politische und ökonomische Situation der jüdischen Minderheit im frühneuzeitlichen Alten Reich wurde von Stereotypen flankiert, die schon im Mittelalter Konturen angenommen hatten. Zwar waren die Ritualmord- und Brunnenvergiftungsbeschuldigungen, denen viele Juden im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert zum Opfer gefallen waren, im Laufe des 16. Jahrhunderts in den Hintergrund getreten, alte Vorurteile über betrügerische und wucherische Handelspraktiken und über die mosaische Glaubenspraxis waren allerdings bis zum Ende des Alten Reiches weit verbreitet. 29 Flugschriften, Flugblätter und gelehrte Abhandlungen geben Auskunft darüber, dass die Vorurteile allgemein zugängliche Wissensbestände waren. 30 Im Zeitalter der Aufklärung plädierten einige aufgeklärte Denker und Staatsbeamte, wie der preußische Staatsjurist Christian Wilhelm Dohm in seinem berühmten Werk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ aus dem Jahre 1781, für einen neuen Umgang mit der jüdischen Minderheit. Gerade ihre Ausgrenzung und Stereotypisierung habe den verdorbenen Charakter der Juden hervorgebracht, hieß es nun seitens dieser Aufklärer. 31 Während sie damit im Rahmen des allgemeinen Emanzipationsprozesses die Judenemanzipation via 28 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 9f. 29 Instruktiv: Karl Härter, “Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht: Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Justizpraxis,” in Gotzmann, Juden im Recht. Zur Vertiefung: Manfred Gailus, “Die Erfindung des 'Korn-Juden': Zur Geschichte eines antijüdischen Feindbildes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts,” Historische Zeitschrift 272 (2001); Ronnie Po-Chia Hsia, The Myth of Ritual Murder Jews and Magic in Reformation Germany (Yale, 1988); Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung: Der Antisemitismus 1700-1933 (München, 1988); Heiko Obermann, Wurzeln des Antisemitismus: Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation (Berlin, 1981); Stefan Rohrbacher and Michael Schmidt, Judenbilder: Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile (Reinbeck bei Hamburg, 1991); Herbert A. Strauss, ed., Antisemitismus: Von der Judenfeindschaft bis zum Holocaust (Bonn, 1988). Immer noch grundlegend: Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. 2. Das Zeitalter der Verteufelung und des Ghettos: Mit einem Anhang zur Anthropologie der Juden (Worms, 1978); Ders., Geschichte des Antisemitismus. 5. Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz (Worms, 1983). 30 Über die Linguistik und die Gestaltung der Flugblätter, die der modernen Werbung ähneln: Hans Wellmann, “Linguistik der Diskriminierung: Über die Agitation gegen Juden in Flugblättern der Frühen Neuzeit,” in Judengemeinden in Schwaben im Kontext des alten Reiches, ed. Rolf Kießling, Colloquia Augustana 2 (Berlin, 1995), 187. Zur Verbreitung der Stereotype in Form von gelehrten Abhandlungen: Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz: Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung (Köln, 2001), 14; Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts (Sigmaringen, 1981), 11. 31 Benz and Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, Handbuch des Antisemitismus, 87. <?page no="17"?> 18 Reformen betreiben wollten, stellten ihre gelehrten Widersacher die Inhärenz des jüdischen verdorbenen Charakters heraus und argumentierten, dass die Diskriminierung der Juden Folge ihrer vermeintlichen Gemeinschädlichkeit sei. 32 Die aufgeklärte Emanzipationsdiskussion zeitigte kaum Folgen, sodass erst der Import französischer Gesetze im Zuge der französischen Revolutionskriege sowie der Zerfall des Alten Reiches die von den Aufklärern gewünschten Reformen der Gesetze evozierte und so eine Emanzipationsgesetzgebung auf den Weg gebracht werden konnte. 33 Diese kam jedoch schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Erliegen. 34 In genau denselben Zeitraum um 1800 fällt auch die Transformation vom Antijudaismus zum Antisemitismus. Während auf den ersten Blick Rassismus als das entscheidende Kriterium erscheint, ist das eigentlich Neue des Antisemitismus sehr viel komplexer und tieferliegend. So hatte schon der Antijudaismus im 18. Jahrhundert prärassistische Züge. 35 Dabei war aber ein grundlegendes Kennzeichen des Antijudaismus sein christlich-religiöses Fundament. 36 Der Antisemitismus hingegen ist säkular, auch wenn die Kirche einen großen Anteil an der Entwicklung der antisemitischen Sprache hatte. 37 Vor allem aber richtete sich der Antisemitismus gegen ein gewandeltes Judentum, welches keine religiöse Außenseiterrolle mehr einnahm, sondern als religiös-besondere Gruppe in das Zentrum der Gesellschaft gerückt war. 38 Dabei richtete sich der Hass auch nicht mehr direkt gegen die Juden, sondern diese fungierten als Simulacrum für gesellschaftliche Entwicklungen um 1800. 39 So wurden die Juden, folgt man Detlev Claussen und mit ihm der Frankfurter Schule, als Agenten des neuen ökonomischen Systems der Warenzirkulation - also letztlich des Geldes - wahrgenommen. Diese neuen ökonomischen Verhältnisse hätten zugleich auch die alten Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse aufgelöst. Die neue Macht sei von nun an das Geld gewesen, welches nunmehr die Herrschaftsverhältnisse strukturiere. Die Vielzahl christlicher Verlierer dieser ökonomischen Entwicklungen hätten ihre Aversionen gegen die Warenzirkulation nun gegen die jüdische Minderheit gerichtet, welche so als Personifikation dieser Entwicklung herhalten mussten. 40 32 Ibid. 33 Ibid., 87 34 Ibid., 88. 35 Wolfgang Benz und Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, eds., Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. 3. Begriffe, Theorien, Ideologien (München, 2010), 13. 36 Ibid. 37 Ibid., 209-213, 213. 38 Ibid. 39 Ibid.; Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung: Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, (Frankfurt am Main, 1987), insb. Kap. 2 und 3. 40 Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung, insb. Kap.2 und 3. <?page no="18"?> 19 Die jüdische Minderheit war also nicht einfach nur eine gesellschaftliche Randgruppe im Alten Reich, sondern es kursierten dezidiert antijüdische Wissensbestände in öffentlich zugänglichen Medien wie Flugblättern und speziellen Werken wie gelehrten Abhandlungen. Dies galt insbesondere für das berufliche Betätigungsfeld. Nun führte gerade die berufliche Beschäftigung als Händler oder Kreditgeber zu christlich-jüdischen Kontakten, die - wie das Verfahren Gumpel Cassel wider der Marquise de Trotti demonstriert - vor Gericht enden konnten. Die Richter mussten dann in Prozessen Wahrheiten über einzelne Juden finden und es stellt sich die Frage, welchen Einfluss antijüdische Wissensbestände und die gesellschaftliche Randstellung der Juden auf die gerichtliche Wahrheitsfindung ausübten, bzw. ausüben konnten und welche Rolle juristischem Fachwissen zukam. 1.2 Die Komplexität des Rechts Die gerichtliche Wahrheitsfindung wurde von einem spezifischen personellem Kreis besorgt und war in einem spezifischen juristischen Kontext situiert. Mit der Rezeption des römischen Rechts im Alten Reich waren sukzessive in der Frühen Neuzeit gelehrte Juristen auf die Richterstühle gedrängt. War noch im Mittelalter das symbolische Kapital des Standes ausschlaggebend für die Besetzung von offenen Richterstellen, so wurde im Laufe der Frühen Neuzeit die wissenschaftliche Ausbildung das entscheidende Kriterium. 41 Da im Fokus dieser Arbeit - wie in den folgenden Kapiteln noch erläutert wird - der Kurkölner und Jülich-Berger Hofrat sowie das Kaiserliche Landgericht zum Burggrafentum Nürnberg stehen, wird deren Bestallung, sofern dies möglich ist, nunmehr dargestellt. Am Kurkölner Hofrat gab es drei Kategorien von Richtern: Titularhofräte, adlige Hofräte und gelehrte Hofräte. Die Titularhofräte bildeten mit 40 - 50 Personen, welche diesen Titel führten, die größte Gruppe. Jedoch waren mit diesen Titel weder Rechte noch Pflichten verbunden; die Titularhofräte wurden nicht einmal bezahlt. 42 Mithin dürfte diese Gruppe den Titel eher als symbolisches Kapital betrachtet haben und somit nicht am Geschäftsgang des Gerichts partizipiert haben. 43 41 Helmut Coing, Epochen in der Rechtsgeschichte in Deutschland (München, 1976), 48ff; Uwe Wesel, Geschichte des Rechts: Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht (München, 1997), 356; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung (Göttingen, 1967), 151ff. 42 Kurt W. Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats: Ein Bild seiner Organisation, seiner Geschäftsordnung und seines Geschäftsganges (Bonn, 1911), 16, 34f. 43 Ibid., 35f. <?page no="19"?> 20 Der eigentliche Geschäftsgang wurde von den adligen und gelehrten Hofräten besorgt, wobei die Verteilung bei ungefähr 1: 4 lag. 44 Sieben bis acht adligen standen 24 bis 27 gelehrte Hofräte gegenüber. Die Anzahl der adligen und gelehrten Hofräte schwankten jedoch und nahm eher ab, sodass für 1794 nur noch zwei adlige Hofräte nachgewiesen werden konnten. 45 Von den ca. 30 bis 40 adligen und gelehrten Hofräten im 18. Jahrhundert nahmen zehn bis zwölf Hofräte im Schnitt am Geschäftsgang teil. 46 Der Kreis der adligen Hofräte rekrutierte sich meistens aus den gleichen Familien und hatte häufig weitere Positionen in und außerhalb Kurkölns inne, sodass sie häufig nur an Sitzungen partizipierten, welche sie zumindest mittelbar selbst betrafen. 47 In der Folge bildeten also primär die gelehrten Richter das entscheidende Richterkolleg. Zwar resultierte daraus, dass die urteilenden Richter Jura studiert hatten, allerdings ging damit einher, dass das Kolleg im 18. Jahrhundert chronisch unterbesetzt war. 48 Es dürfte bezeichnend für das Arbeitspensum des kurkölnischen Hofrates sein, dass 1788 zwar festgesetzt wurde, dass der Hofrat dreimal wöchentlich Sitzungen abzuhalten habe, faktisch jedoch häufiger zusammentreten musste, um das Arbeitspensum überhaupt zu bewältigen. 49 Auch am Jülich-Berger Hofrat war die Anzahl der am Arbeitsgang des Gerichts partizipierenden Richter überschaubar. Wie in anderen Territorien des Reiches kam es im Laufe des Bestehens zu einer Professionalisierung der Richter und einer Reduktion der Stellen. Letzteres wurde seitens der Wittelsbacher Obrigkeit vor allem aus Kostengründen forciert. Mit der Neuordnung von 1708 gehörten dem Hofrat nur noch zwei adlige und fünf gelehrte Räte neben dem immer adligen Präsidenten an. 50 Die Bestallung des kaiserlichen Landgerichts wurde zwar bis dato noch nicht erforscht, es ist aber kaum davon auszugehen, dass die personelle Situation dezidiert anders gestaltet war als an den anderen Gerichten. 44 Ulrich Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts, Veröffentlichungen des kölnischen Geschichtsvereins e.V. 27 (Köln, 1965), 5. 45 Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 17f. 46 Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts,.5. 47 Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 18f. 48 Ibid., § 3, II. 49 Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts, 5f. 50 Hans-Günter Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, (Inaugural-Dissertation, 1969), 35f; Karl Härter, “Jülich-Berg,” in Wittelsbachische Territorien: (Kurpfalz, Bayern, Pfalz-Neuburg, Pfalz-Sulzbach, Jülich-Berg, Pfalz-Zweibrücken), ed. Lothar Schilling/ Gerhard Schuck, Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit 3.1 (Frankfurt am Main, 1999), 1173. <?page no="20"?> 21 Da nun also seit dem 16.Jahrhunderts gelehrte Juristen auf die Richterstühle drängten, stand die gerichtliche Wahrheitsfindung in einem engen Zusammenhang mit dem an den Universitäten gelehrten Recht. 51 An diesen wurde das in der Folge der Rezeption 52 des römischen Rechts geschaffene ius commune unterrichtet. 53 Das ius commune stellte eine Verschmelzung römischer und kanonischer Rechtstexte mit einigen Staufergesetzen und oberitalienischen Stadtrechten , den libri feudorum, dar 54 , deren Anwendbarkeit von einer ganzen Legion juristischer Kommentare besorgt wurde, die seit dem 11. Jahrhundert von Rechtsgelehrten zuerst in Oberitalien und dann ab 1500 an vielen (großen) Universitäten Europas verfasst wurden. 55 Es gilt dabei zu beachten, dass die Kommentare der Rechtslehrer als den Rechttexten äquivalente Rechtsquelle angesehen wurden. 56 Zwar sollte das ius commune schon zu Beginn der Rezeption im Alten Reich um 1500 nur subsidiäre Geltung haben, da jedoch die an den Universitäten ausgebildeten Juristen allen voran im Umgang mit dem römischen Recht geschult waren, begann der Siegeszug des gemeinen Rechts. 57 Es verdrängte die Reichsgesetze und die partikularen landesherrlichen Gesetze aus der Rechtspraxis. 58 Im 17. Jahrhundert wurde das Verhältnis von landesherrlichen Gesetzen zum ius commune neu bestimmt. Auf der einen Seite hatte der 30-jährige Krieg die Reichseinheit zerstört, welche ein Standbein des ius commune war, auf der anderen Seite hatte der Historiker Conring die lotharische Legende als Fiktion entlarvt und somit den Geltungsgrund des ius commune unterminiert. In der Folge begann ein neuer Umgang mit dem römischen Recht. Die Phase des usus modernus pandectarum, benannt nach dem Hauptwerk des Juristen Samuel Stryk, begann. 59 Die Juristen des usus modernus pandectarum benutzten das 51 Coing, Epochen in der Rechtsgeschichte in Deutschland, 50f. 52 Der Begriff Rezeption meint nicht einfach die Übernahme eines fremden Rechts, sondern die Verwissenschaftlichung des Rechts in Folge der gelehrten Auseinandersetzung mit dem römischen Recht, dass nicht einfach nur übernommen, sondern zugleich durch die Bearbeitung der zeitgenössischen Juristen assimiliert wurde. Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 124-143. 53 Coing, Epochen in der Rechtsgeschichte in Deutschland, 50f. 54 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 133f. 55 Wesel, Geschichte des Rechts, 311ff., 360ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 45ff., 165ff. 56 Sogar die Entscheidungsliteratur erlangte in der Frühen Neuzeit den Rang einer Rechtsquelle. Vgl. Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, (Klostermann, 2002), 681. 57 Wesel, Geschichte des Rechts, 358; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 138f. 58 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 139f. 59 Wesel, Geschichte des Rechts, 361ff; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 204-15. <?page no="21"?> 22 römische Recht eher als Struktur und füllten diese inhaltlich mit örtlichem - also partikularem - Recht. 60 Anders ausgedrückt, schuf der usus modernus anstelle der Übernahme des ius commune und dessen Lehrsätze eine positive Rechtsdogmatik des in Deutschland geltenden Rechts unter Berufung auf die römischen und deutschen Bestandteile der Territorialrechte und des allgemeinen deutschen Privat-, Prozess-, Straf-, Staats- und Kirchenrechts. 61 Zeitlich parallel zum usus modernus pandektarum wurde auch das ius naturalis in der Spielart des (aufgeklärten) Vernunftrechts entwickelt. Mitte des 17. Jahrhunderts hatte das positive Recht in Folge des 30-jährigen Krieges nicht allein seinen Geltungsgrund verloren, sondern auch seinen methodischen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Weltbild. Allen voran emanzipierten sich die Vernunftrechtler von der christlichen Moraltheologie und setzten an ihrer statt eine säkularisierte Sozialethik. 62 Darüber hinaus bearbeiteten die Juristen der Rezeptionszeit, als auch die Juristen des usus modernus das Corpus Juris dialektisch 63 , wobei gerade der Bereich der Topik und das syllogistische Schließen von besonderer Relevanz waren. 64 1637 hatte der französische Philosoph Renes Descartes mit seinem Werk über die „Grundlagen der Philosophie“ die (naturwissenschaftliche) systematisch-axiomatische Methode in die Geisteswissenschaften eingeführt. 65 Die Naturbzw. Vernunftrechtler versuchten nun, Descartes folgend, die naturwissenschaftlichen Methoden ihrer Zeit, sowie das damit verbundene Weltbild, welches nunmehr die Subjekt-Objekt-Dimension des denkenden Ichs und die ausgedehnte Objektwelt beinhaltete, auf das positive Recht anzuwenden. 66 Nunmehr sollten auch die Menschen und die Gesellschaft Objekte vorrausetzungsfreier Beobachtung und Erkenntnis sein; man suchte nach dem Naturgesetz der Gesellschaft. 67 Dies bedeutete die Veränderung der zugrundeliegenden Anthropologie: war der Mensch zuvor ein Wesen in einer göttlichen Welt, wurde er nun als ein Naturwesen in der natürlichen Welt gesehen. 68 Auch Recht und Staat sollten jetzt dementsprechend Gesetze naturgesetzlicher Qualität erhalten. 69 Aber die Änderung der Methodik hatte nicht nur Einfluss auf die Rechtsfindung. In der Form der Idee des more geometrico stell- 60 Wesel, Geschichte des Rechts, 362. 61 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 207ff. 62 Ibid., 249ff. 63 Es ist der alte Begriff von „Dialektik“ gemeint, welcher heute wohl am ehesten von dem Begriff der „Logik“ gefasst wird. 64 Helmut Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800) (München, 1985), 17-23 . 65 Wesel, Geschichte des Rechts, 366; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 254. 66 Ibid. 67 Ibid. 68 Ibid., 257. 69 Ibid. <?page no="22"?> 23 ten sich Vernunftrechtler vor, Recht nicht nur mit nahezu mathematischer Präzision zu finden, sondern auch zu sprechen. Was dies in ultimo bedeuten konnte, legte der Rechtsgelehrte Cesare Beccaria in seinem 1764 erschienen strafrechtlichen Werk „Die delitti e delle pene“ dar. So solle es dem Richter nur noch gestattet sein, aus dem Gesetz als Obersatz und der zu Frage stehenden Handlung als Untersatz die Schuld oder Unschuld eines Beklagten zu deduzieren. 70 Die bis hierhin skizzierte Rechtslage galt theoretisch auch für Juden, da sie seit der Rezeption des römischen Rechts im Alten Reich um 1500 von der Mehrheit der zeitgenössischen Juristen als cives romani, als römische Bürger, betrachtet wurden und somit theoretisch der christlichen Mehrheit rechtlich gleichgestellt sein sollten. Allerdings verweigerten noch im 16. Jahrhundert Juristen diesen die Anwendung der aequitas (Billigkeit). Zwar nahm die Zahl der Juristen, welche auch jüdischen Parteien die aequitas zu gewähren bereit waren, im 17. Jahrhundert zu, und auch das Reichskammergericht schloss sich in seiner Urteilspraxis dieser Position an. Jedoch gab es auch im 18. Jahrhundert noch Stimmen - wie Juristenfakultäten in ihrer Gutachtenpraxis demonstrierten - welche die aequitas den Juden verwehren wollten. 71 Die aequitas-Debatte unter Juristen sollte als Indiz gewertet werden, dass den Juden, ungeachtet der grundsätzlichen rechtlichen Gleichstellung als cives romani, innerhalb der Rechtsprechung lediglich eine geminderte Position zugestanden wurde. 72 In der Praxis wurden dann Juden auch schwerer bestraft als Christen. Die betraf insbesondere Betteljuden, da ihr Vagabundieren ohne Judengeleit ein Verbrechen sui generis darstellte. 73 Zugleich konnte stichprobenartig jedoch festgestellt werden, dass die Haftbedingungen für Juden keine besondere Härte darstellten und den jüdischen Inhaftierten sogar die Möglichkeit geboten wurde, den jüdischen Riten gemäß zu leben. 74 Die juristische und soziale Sonderstellung der Juden evozierte auch eine umgekehrte Problemlage. So suchten sich laut Maria Boes christliche Täter jüdische Opfer aus, da sie auf eine geringere Bestrafung hofften, wenn sie erwischt würden. 75 70 Hermann Conrad, Richter und Gesetze im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat (Graz, 1971). 71 Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, 13. 72 Friedrich Battenberg, “Juden als 'Bürger' des Heiligen Römischen Reiches im 16. Jahrhundert: Zu einem Paradigmenwechsel im 'Judenrecht' in der Reformationszeit,” in Christen und Juden im Reformationszeitalter, ed. Rolf Decot/ Mathieu Arnold (Mainz, 2006), 196; Ders., “Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühenneuzeit zwischen Reich und Territorium,” in Rolf Kießling, Judengemeinden in Schwaben im Kontext des alten Reiches, 69. 73 Härter, “Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht.”“, 359ff, 374f. 74 Siegrid Westpahl, “Der Umgang kultureller Differenz am Beispiel von Haftbedingungen für Juden in der frühen Neuzeit,” in Gotzmann, Juden im Recht. 75 Martin Boes, “Zweifach im Visier: Jüdische Opfer von Straftaten und Rechtssprechung im Römisch-Deutschen Reich der frühen Neuzeit,” in Gotzmann, Juden im Recht. <?page no="23"?> 24 In der Folge der oben skizzierten rechtshistorischen Entwicklungen entstand eine Rechtslage, in der nebeneinander und widereinander existierende Gesetze und juristische Kommentare vorhanden waren, auf welcher die Richter ihre Urteile fundieren mussten. 76 Allerdings sollte die komplexe Rechtslage im Moment der Rechtsanwendung eingehegt werden. So kannte das frühneuzeitliche Recht eine Anwendungsdoktrin, laut der der innere Rechtskreis dem äußeren bei der Rechtsanwendung - z.B. das Kurkölner Recht also dem deutschen und dem römisch-gemeinem - vorzuziehen sei. Grundlegend für diese Anwendungsdoktrin war, dass im zeitgenössischen juristischen Theoriegebäude dezidiert zwischen partikularem und universal-gemeinem Recht unterschieden wurde. 77 Nur insofern zwischen den unterschiedlichen Rechtsmassen auch dezidiert unterschieden wurde, konnte die Rechtsanwendungsdoktrin in der Praxis auch umgesetzt werden. Die rechtstheoretische Lösung des Problems der komplexen Rechtslage wurde in der Praxis jedoch unterminiert. So wurde die grundlegende Unterscheidung zwischen den einzelnen Rechtsmassen in den im Rahmen eines Verfahrens vor dem Reichskammergericht (RKG) von Parteien eingereichten Eingaben nivelliert. 78 Die Kammerrichter beachteten zwar in höherem Maße die Distinktion im Umgang mit den angeführten Rechtssätzen der Parteien 79 , allerdings pflegten auch sie keinen einhelligen Umgang mit der rechtstheoretischen Distinktion zwischen den Rechtsmassen, wobei sie noch am ehesten zumindest das ius commune von dem übrigen Rechtsmassen absetzten. 80 Die vielfältigen Rechtsanwendungsmöglichkeiten, die aus dem Neben- und Widereinander der Rechtsätze und dem richterlichen Umgang mit der Rechtsanwendungsdoktrin resultierten, bedeuteten zwar für die Parteien ein gewisses Maß an Unsicherheit, da sie nicht antizipieren konnten, welche Rechtssätze seitens der Richter letztlich angewandt wurden. 81 Dagegen bot diese Vielfalt den Richtern große Ermessensspielräume. „Rechtsvielfalt bedeutete für sie Entscheidungs- und Begründungsvielfalt.“ 82 Der richterliche Ermessenspielraum wuchs weiter an, mussten Richter Urteile über jüdische Parteien fällen, da das frühneuzeitliche Recht bekanntermaßen auch Gesetze kannte, die allein das Leben der jüdischen Minderheit und das jüdisch-christliche Miteinander betrafen. So wurden von vielen Territorialherren 76 Conrad, Richter und Gesetze im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 10; Eckhardt Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen': Zur 'Poetik des Sachverhalts' im juristischen Schriftum des 18. Jahrhunderts.,” in Erzählte Kriminalität: Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, ed. Jörg Schönert (Tübingen, 1991), 128. 77 Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, 129. 78 Ibid., 173ff, 231ff. 79 Ibid., 547. 80 Ibid., 635. 81 Ibid., 602. 82 Ibid., 603. <?page no="24"?> 25 Judenordnungen erlassen, die allein auf die Reglementierung und Normierung des jüdischen Lebens und des jüdisch-christlichen Miteinanders abzielten und welche von der Forschung umfassend untersucht wurden. 83 Dabei rekurrierten die Rechtssätze der Judenordnungen häufig auf traditionell-mittelalterliche Vorurteile. 84 Aber auch die juristischen Gelehrten in der Frühen Neuzeit wandten sich den Juden zu. So veröffentlichte Samuel Stryk - eben jener Begründer des usus modernus pandectarum - zusammen mit Johann Brunnemann 1663 eine juristische Abhandlung mit dem Titel „de dardanariis“, welche später auch in deutscher Sprache unter dem Titel „vom Kornjuden“ publiziert wurde. 85 1693 dann wurde das Werk „De foenore unicario generatimque de usurariae pravitatis peste“ von Georg Kaspar Kirchmeier und Amadeus Schmelz das erste Mal publiziert. 1737 kam die Folgeauflage unter dem deutschen Titel „Vom vermaledeyten Wucher und Jüden-Zinß“ heraus. 86 Jüdische Handelstätigkeiten wurden in landesherrlichen Gesetzen wie den Judenordnungen und juristischen Abhandlungen wie den Werken Stryks und Kirchmeiers kriminalisiert. 87 Daraus resultierte nicht unbedingt eine schlechtere Stellung für Juden in der Rechtspraxis, aber eine Verfestigung antijüdischer Stereotype ging zweifelsohne damit einher. 88 Nun bedingte nicht allein die Vielzahl nebeneinander und widereinander existierender Gesetze und Kommentare die Komplexität des frühneuzeitlichen Rechts, sondern auch die Uneindeutigkeit der Gesetze. 89 Der preußische König 83 Friedrich Battenberg, Judenverordnung in Hessen-Darmstadt: Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches (Wiesbaden, 1987); Imke König, Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.-18. Jahrhundert), Studien zu Policey und Policeywissenschaft (Frankfurt, 1999); Werner Marzi, Judentoleranz im Territorialstaat der Frühen Neuzeit: Judenschutz und Judenordnung in der Grafschaft Nassau-Wiesbaden-Idstein und im Fürstentum Nassau-Usingen (Wiesbaden, 1999); Ralf Schäfer, Die Rechtsstellung der Haigerlocher Juden im Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen von 1634-1850: Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (Frankfurt am Main u.a., 2002); Klaus H. S. Schulte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Herzogtum Jülich, in zwei Teilen (Neuss, 1988). 84 J.J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln (im rheinischen Erzstifte Cöln, im Herzogthum Westphalen und im Veste Recklinghausen) über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind : vom Jahre 1463 bis zum Eintritt der Königl. Preußischen Regierungen im Jahre 1816, Band 1 (Düsseldorf 1830/ 1), 563ff, in: http: / / digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/ content/ titleinfo/ 8208. Selbst der als aufgeklärt geltende preußische König Friedrich II. erließ noch 1750 eine stark antijüdische Judenordnung, vgl. Berghahn, Grenzen der Toleranz, 31. 85 Härter, “Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht.”, 352f. 86 Ibid. 87 Ibid. 88 Ibid., 364. 89 Conrad, Richter und Gesetze im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 10. Ferner sei auch auf Klaus Rehbock, Topik und Recht: eine Standortanalyse unter besonderer Berücksichtigung der aristotelischen Topik: Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung, (VVF, 1988), 132, verwiesen, welcher darlegt, dass diese Probleme auch heute noch existent sind. <?page no="25"?> 26 Friedrich der Große erklärte diesbezüglich in einer Kabinettsorder vom 14. April 1780, „daß es ungereimt sei, wenn man in einem Staat, der doch seinen unstreitigen Gesetzgeber hat, Gesetze duldet, die durch ihre Dunkelheit und Zweideutigkeit zu weitläufigen Disputen der Rechtsgelehrten Anlaß geben, oder wohl gar darüber, ob dergleichen Gesetz oder Gewohnheit jemals existiert oder eine Rechtskraft erlangt habe, weitläufige Prozesse veranlaßt werden müssen“. 90 Diese Aussage Friedrichs spielt freilich auch in einen anderen Kontext hinein: im aufgeklärten Absolutismus war der Landesherr auch oberster Gesetzgeber. 91 Im Rahmen der Theorie des Willens des Gesetzgebers oblag es dem Landesherrn mehrdeutige Gesetze zu interpretieren, umso ihre Anwendbarkeit zu realisieren. 92 Diese zentrale Position des Landesherrn als Gesetzgeber versuchten Herrscher und Rechtsgelehrte zu festigen, in dem man den Richter an das Gesetz binden wollte. 93 Die strenge Bindung an das Gesetz, welche von Rechtsgelehrten gefordert und von Fürsten wie Joseph II. kodifiziert wurde, hatte ihren Ursprung in der vermeintlichen Gefahr der willkürlichen Jurisdiktion, die die richterliche Interpretation der Gesetze bergen würde. 94 So erklärte Franz von Zeiller, der Verfasser des ersten Teils des „Gesetzes über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen“ vom 3. September 1803, „[n]icht gegen diese grammatische und logische Erklärung der Gesetze eifern Montesquieu und Beccaria, sondern gegen den geduldeten Mißbrauch der richterlichen Interpretation, wodurch die Grenze der Wortauslegung überschritten, der klare Sinn des Gesetzes verdreht, folglich die öffentliche und Privatsicherheit dem Belieben der Richter preisgegeben wird“. 95 Nun wurde die forensische Interpretation, also die Auslegung von Rechtssätzen durch Richter oder Rechtsübung, zwar seitens verschiedener Rechtslehrer bekämpft, aber noch am Ende des 18. Jahrhunderts interpretierten Kurkölner Richter Rechtssätze aus der Judenordnung von 1700, bevor sie diese anwandten. 96 Die gerichtliche Wahrheitsfindung wurde also von an Universitäten ausgebildeten Richtern betrieben, die ein komplexes Recht studiert hatten und dieses in 90 Conrad, Richter und Gesetze im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 11. 91 Ibid. 92 Ibid., 11. Ein solcher Interpretationsvorbehalt findet sich schon im Westfälischen Frieden von 1654. In Art. VIII § 2 wurde festgelegt, dass der Reichstag allein die Kompetenz hatte Gesetze zu erlassen und zu interpretieren. 93 Ibid., 12. 94 Ibid., 14. 95 Ibid., 16. 96 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111. <?page no="26"?> 27 der Rechtspraxis anwenden sollten, welches nebeneinander und widereinander existierende Rechtsätze kannte. Die daraus resultierende Komplexität des frühneuzeitlichen Rechts bedeutete für die Richter primär Begründungsfreiheit. Nun wandte sich die Forschung bisher vor allem der Rechtsprechung der Reichsgerichte zu. 97 Darüber hinaus wurde ein kleiner Einblick in die Zivilspruchtätigkeit von Untergerichten gewonnen. 98 Die Fokussierung der Forschung auf die Strafrechtsprechung wurde jüngst von Andre Griemert durchbrochen. 99 Dabei konzentrierte sich Griemert auf die Argumentationsmuster und Selbstbilder der jüdischen Parteien sowie die antijüdischen Aussagen in reichsadligen Eingaben am Reichshofrat. Er konnte aufzeigen, dass der Reichshofrat die antijüdischen Aversionen desavouierte und häufig mit den Selbstbildern und Argumentationsmustern der jüdischen Parteien konform ging. 100 Die schon von Wilhelm Güde postulierte Exklusion antijüdischer Stereotype in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung 101 findet in Griemerts Arbeit also eine Bestätigung. 102 André Griemert folgend wird auch in dieser Arbeit die zivilrechtliche Spruchpraxis untersucht. Die seit der Rezeption des Römischen Rechts von Juristen postulierte Gleichberechtigung der Juden hätte sich gerade in dieser niederschlagen müssen. In Strafrechtsprozessen hingegen existierte qua Anlegung des Verfahrens ein Ungleichgewicht zwischen Angeklagtem und Ankläger, da eine Obrigkeit cum grano salis in einem solchen gegen ihre Untertanen pro- 97 Friedrich Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches: Geistliche Herrschaft und kooperative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch (Wetzlar, 1992); Ders., “Juden am Reichskammergericht in Wetzlar: Der Streit um die Privilegien der Judenschaft in Fürth,” in Die politische Funktion des Reichskammergericht, ed. Bernhard Diestelkamp (Köln, 1993); Margit Ksoll and Manfred Hörner, “Fränkische und schwäbische Juden vor dem Reichskammergericht,” in Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, ed. Manfred Treml (München, 1988); Thomas Lau, “Die Integrationskraft des Streits: Buchaus Juden vor dem Reichshofrat,” in Kaiser und Reich der jüdischen Lokalgeschichte, ed. Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann and Stephan Wendehorst (Berlin, 2011); Barbara Staudinger, “Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte,” in Prozessakten als Quelle: Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit des Alten Reichs, ed. Anette Baumann u.a. (Köln/ Weimar/ Wien, 2001); Barbara Staudinger, “Gelangt an Eur Kayserlichemein Allerunderthenigstes Bitten: Handlungsstrategien Der Jüdischen Elite Am Reichshofrat Im 16. Und 17. Jahrhundert,” in Hödl, Rauscher and Staudinger, Hofjuden Und Landjuden. 98 Claudia Ulbrich, Shulamith und Magarete, Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Wien, 1999); Sabine Ullmann, “Die jüdische Minderheit vor dörflichen Niedergerichten in der Frühen Neuzeit.” in Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 35, no. 4 (2009); Dies., Nachbarschaft und Konkurrenz: Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Veröffentlichungen des Max- Planck-Instituts für Geschichte 151 (Göttingen, 1999). 99 André Griemert, Jüdische Klagen gegen Reichsadelige: Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz Stephans, 16 (Berlin, 2015). 100 Ibid., 6. 101 Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, 73. 102 Griemert, Jüdische Klagen gegen Reichsadelige, 355. <?page no="27"?> 28 zessierte. Ferner wurde mit einem solchen Verfahren eine Straftat aufgeklärt und bestraft, wobei allein dem Angeklagten diese vorgeworfen wurde. In Strafverfahren trat also ein Untertan gegen eine Obrigkeit in einem Verfahren an, in dem er als Beklagter sich allein gegen den Vorwurf verteidigen und der Ankläger diesen allein durchsetzen und eine Verurteilung des Beklagten erreichen musste. Es gab also eine klare Rollenverteilung, die eine Partei als Angreifer und eine Partei als Verteidiger definierte. In Zivilprozessen führten hingegen cum grano salis Untertanen einen Streit fort, der seinen Anfang außerhalb des Rechtsweges genommen hatte, aber ohne die Anrufung eines Gerichts nicht zu lösen war. Da also Untertanen untereinander einen Streit führten und nicht die Obrigkeit eine Straftat aufklären musste, gab es in Zivilprozessen keine Rollenverteilung wie in Strafprozessen. Allen an einem Verfahren beteiligten Parteien konnten gleichermaßen die Rollen des Angreifers und Verteidigers zukommen. Eine Untersuchung der Stellung jüdischer Parteien in der Strafrechtspraxis müsste folglich Verfahren mit jüdischen und Verfahren mit christlichen Beklagten analysieren und die Ergebnisse der Analyse in Relation zueinander setzen, da nur so das generelle Ungleichgewicht zwischen Angeklagtem und Ankläger in Strafrechtsprozesses adäquat bedacht werden kann, fragt man nach der Stellung jüdischer Parteien. Dahingegen kann die Analyse ihrer Stellung in Zivilrechtsprozessen ohne eine solche Vergleichsebene auskommen, da deren Anlegung kein Ungleichgewicht zwischen den Parteien evozierte. Ferner dürfte die Zivilrechtsprechung auch von größerer Relevanz für das frühneuzeitliche jüdische Leben gewesen sein, das vor allem von der jüdischen Handelstätigkeit geprägt war, die ,wie sich auch im Laufe dieser Arbeit zeigen wird, immer wieder Gegenstand von zivilrechtlichen Verfahren war. Die Grundlage jüdischen Lebens bildete also immer wieder einen Gegenstand, über den jüdische Händler mit ihren christlichen Gegenübern in Streit gerieten, der dann von Zivilgerichten beigelegt werden musste. In den zivilrechtlichen Verfahren entschied sich dann, ob z.B. ein jüdischer Händler eine angeblich noch offene Schuldforderung befriedet bekam oder ob von einem jüdischen Händler angeblich unwissentlich angekauftes Diebesgut unentgeltlich dem Eigentümer restituiert werden musste. Ferner fokussiere ich die bis dato von der Forschung vernachlässigten landesherrlichen Obergerichte. Die Schließung dieser Forschungslücke scheint insbesondere notwendig, da die justizpolitische Wirkung der Reichsgerichte in der frühen Neuzeit rückläufig war und das Reichskammergericht - welches einen größeren Einfluss auf die Entwicklung des prozessualen Rechts im Reich hatte als der Reichshofrat - schon im frühen 17. Jahrhundert seinen Zenit überschrit- <?page no="28"?> 29 ten hatte. 103 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ging also die Rechtsentwicklung stärker von den Territorien und damit von deren Obergerichten aus. 104 1.3 Die Relevanz der Obergerichte Die sinkende justizpolitische Wirkung der Reichsgerichte ist auch ein Ergebnis der Vergabe von Appellationsprivilegien im Verlauf der Frühen Neuzeit. Es kann grundsätzlich zwischen zwei Typen von Appellationsprivilegien unterschieden werden. Mit einem limitierten Privileg war die Möglichkeit der Appellation von einem territorialen Gericht an ein Reichsgericht untersagt, insofern die Streitsumme in einem Verfahren nicht den im Privileg festgelegten Mindeststreitwert überstieg. Erst dann war das Verlassen des territorialen Instanzenzuges per Appellation gestattet. Daneben gab es auch unlimitierte Privilegien, welche eine Appellation von einem territorialen Gericht an ein Reichsgericht generell untersagten. Insbesondere im 18. Jahrhundert konnten viele Territorien ein Privileg ius de non appelando et evocando erlangen. 105 Auch wenn dieses häufig nur in limitierter Form seitens des Kaisers an die Landesherren vergeben wurde, schränkte es die verbliebene justizpolitische Wirkung der Reichsgerichte stark ein, da nun gar nicht mehr oder nur noch bei Überschreitung eines festgelegten, durchaus hohen Streitwerts ein Reichgericht angerufen werden konnte. 106 In der Folge bildeten in privilegierten Territorien die Obergerichte häufig in zivilen Streitigkeiten die Letztinstanz. So musste in Kurköln ein Streitwert von 1.000 Gulden überschritten werden, um an ein Reichsgericht appellieren zu dürfen, bevor dann 1786 die Limitation gänzlich aufgehoben wurde. Mit Blick auf die dort verhandelten und in dieser Arbeit untersuchten Fälle gab es kaum Streitfälle, in denen die Summe von 1.000 Gulden auch nur annähernd erreicht wurde. Als Folge waren dann mit dem drittinstanzlichen Urteil eines territorialen Obergerichts die Prozessmöglichkeiten für die Parteien ausgeschöpft. Eine Vielzahl von zivilen Streitfällen konnte also nie vor einem Reichsgericht verhandelt werden. Dieser Umstand bedeutet nun, dass die obergerichtliche Wahrheitsfindung für die in den Territorien atomisiert lebenden Juden von größerer Relevanz war als die 103 Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter: Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. 1. Darstellung: Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (Köln [u.a.], 2011), 68. 104 Ibid., 69. 105 Vgl. exemplarisch für Kurköln: Dieter Strauch, “Das hohe weltliche Gericht zu Köln,” in Rheinische Justiz: Geschichte und Gegenwart, ed. Dieter Laum, Adolf Klein and Dieter Strauch (Köln, 1994), 816-24; Thomas Simon und Markus Keller, “Kurköln,” in Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürstentümer (Kurmainz, Kurköln, Kurtrier) ed. Karl Härter (Frankfurt am Main, 1996), 426. 106 Strauch, “Das hohe weltliche Gericht zu Köln,” 816. So war die Appellationssumme für das Kurfürstentum Köln bei petitorischen Klagen auf 1000 Gulden festgelegt worden. <?page no="29"?> 30 reichsgerichtliche Wahrheitsfindung. So stritten sich beispielsweise vor dem Kurkölner Hofrat Gabriel Broch und Scheuer Abraham 107 um eine Kuh und Gerard Tosten und Chile Moses 108 um ein Pferd. Beide Streitigkeiten erreichten freilich nicht den nötigen Streitwert von 1.000 Gulden, sodass eine der Parteien an ein Reichsgericht hätte appellieren können. Da ein Großteil der in einem Territorien lebenden Schutzjuden sich als Krämer, Klein- oder Viehhändler 109 verdingten, war für das jüdische Leben im Alten Reich gerade die Rechtsprechung der territorialen Obergerichte maßgeblich, mussten sie doch vor den territorialen Nieder- und Obergerichten ihre Handelsstreitigkeiten mit ihren Handelspartnern gerichtlich austragen. 110 Eine Analyse der obergerichtlichen Rechtsprechung berücksichtigt also sowohl den Verfall der justizpolitischen Wirkung der Reichsgerichte im Laufe der Frühen Neuzeit als auch die aus den Appellationsprivilegien resultierende Relevanz der territorialen Gerichtsbarkeit für das jüdische Leben. Die frühneuzeitlichen Obergerichte bildeten jedoch Institutionen in mannigfaltig politisch, ökonomisch und gesellschaftlich unterschiedlich verfassten Territorien. Eine Analyse der landesherrlichen obergerichtlichen Rechtsprechung muss diesem Umstand Rechnung tragen. Dementsprechend wurden drei Obergerichte - der Kurkölner Hofrat, der Jülich-Berger Hofrat und das Kaiserliche Landgericht zum Burggrafentum Nürnberg - synchron vergleichend im Zeitalter der Aufklärung analysiert. Es wurden die Obergerichte dreier Territorien gewählt, die sich mannigfaltig voneinander unterschieden. 1.4 Drei territoriale Obergerichte im Zeitalter der Aufklärung Der Kurkölner Hofrat war am 2. Januar 1597 von dem Koadjutor Ferdinand von Bayern in seiner Rolle als kölnischer Kurfürst gegründet und mit dem älteren Hofgericht vereint worden. Der Hofrat hatte in der Folge die Befugnisse einer obersten Justizbehörde inne. 111 Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass der Hofrat bis zur Auflösung Kurkölns 1803 für die Zivilrechtsprechung bedeutender als für die Strafrechtpflege war. 112 Ein Problem für die Kurkölnische Justiz im gesamten Untersuchungszeitraum stellte die Dreiteilung des Landes in das 107 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70. 108 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II T 19. 109 Auf die Relevanz des Viehhandels und der diesbezüglichen niedergerichtlichen Verfahren für das jüdische Leben verwies Ullmann, “Die jüdische Minderheit vor dörflichen Niedergerichten in der Frühen Neuzeit.” 110 Mithin ist nur für einen Fall ersichtlich, dass er auch vor dem Reichskammergericht verhandelt wurde. Vgl. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009. In diesem Fall stellte allerdings eben auch ein Hoffaktor einen der Protagonisten des Verfahrens. 111 Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 5, 55ff. 112 Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts, 50f . <?page no="30"?> 31 Vest Recklinghausen, das eigentliche Erzbistum und das Herzogtum Westphalen dar, was eine Verkomplizierung der Appellations- und Revisionsmöglichkeiten nach sich zog. 113 In der Folge der komplexen Situation war es möglich, den Hofrat als erste, zweite und dritte Instanz anzurufen, wobei er auch als Drittinstanz für Fälle dienen konnte, in welchen er schon als Zweitinstanz geurteilt hatte. 114 Dabei wurden allerdings die Richter, welche schon in der Zweitinstanz als Referenten aufgetreten waren, von der Teilnahme am drittinstanzlichen Prozess ausgeschlossen. 115 Darüber hinaus war es den Parteien in solchen Fällen gestattet, die Versendung der Akten an auswärtige Rechtsgelehrte, die sogenannte transmissio ad impartiales, zu beantragen. 116 Allerdings konnten in dem von mir untersuchten Quellenkorpus zwar zwei Fälle gefunden werden, in denen der Hofrat sowohl als Appellationsals auch als Revisionsinstanz fungierte, eine transmissio ad impartiales wurde jedoch in beiden Fällen nicht beantragt. Inwiefern also eine solche überhaupt von Relevanz war, ist zumindest für die Kurkölner Gerichtslandschaft fraglich. Neben der Rechtsprechung unterstanden dem Hofrat auch die Gefängnisse, sowie die Aufsicht über die Vollstreckung der Sanktionen in der Strafrechtspflege. Ferner konnte der Hofrat auch Vorkehrungen treffen, die einer Art Entmündigung gleich kamen. Diese Vorkehrungen zielten auf die Unterbringung und Überwachung von Behinderten - in der zeitgenössischen Sprache als Schwachsinnige bezeichnet - ab. Überhaupt unterstand das gesamte Vormundschaftswesen, welches lokal von Stadträten oder Untergerichten wahrgenommen wurde, dem Hofrat. Darüber hinaus wurde der Hofrat auch im Falle von Supplikationen häufig tätig. Zwar stand es dem Hofrat freilich nicht zu, Begnadigungen auszusprechen, denn dies durfte nur der Kurfürst selbst. Allerdings wurde der Hofrat häufig um Gutachten zu den eingehenden Suppliken gebeten. 117 Der Jülich-Berger Hofrat war 1614 von Kurfürst Wolfgang Wilhelm nach seinem Regierungsantritt als ein partiell mit landfremden Räten besetztes Gericht konstituiert worden. 118 In der frühen Phase seines Bestehens fungierte der Hofrat sowohl als zentrales Verwaltungsals auch als oberstes Justizorgan. 119 1668 dann wurde die Verwaltung von der Justiz getrennt, indem die neuen 113 Ibid, 36, 53-65; Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 53- 64. Eine ausführliche Beschreibung der komplexen Situation würde jeglichen Rahmen dieses Kapitels leider sprengen. 114 Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 56f. 115 Ibid. 116 Ibid. 117 Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts, 66ff. Ferner übernahm der Hofrat noch weitere nicht unmittelbar im Bereich des Justizwesens liegende Verwaltungsaufgaben. Vgl. Ibid., 20-30. 118 Härter, “Jülich-Berg,” 1173. 119 Ibid. <?page no="31"?> 32 Landesherren den Hofrat in zwei Räte, den geheimen Rat und den Hof- und Justizrat, teilten. 120 Abgesehen von einem kurzen Intermezzo zwischen 1682 und 1692 war der Hofrat eine reine Justizbehörde, Revisionsinstanz und oberstes Gericht. 121 Er war Appellationsinstanz für die Zivilgerichtsbarkeit und zuständig für die niedere Strafgerichtsbarkeit und Brüchtensachen. 122 Der Hofrat konnte nicht nur als Appellationsinstanz genutzt werden, sondern es war den Beamten und landsässigen Rittern erlaubt, diesen auch erstinstanzlich anzurufen. 123 Außerdem war er ausschließlicher Gerichtsstand für Klagen gegen die Räte, Amtleute, Ritterbürger, Vögte, Schultheisse, Richter und andere Beamten, sowie bei Streitigkeiten von Ritterbürgern untereinander. Ferner war er allein zuständig für die Sachen der Armen und wenn beide Parteien sich auf den Hofrat als Gerichtsstand geeinigt hatten. Schließlich wurde er erstinstanzlich zuständig, wenn das zuständige Untergericht unter dem Verdacht der Parteilichkeit stand oder die eigentlich zuständige Erstinstanz einer Partei das Recht verzögerte oder verweigerte. 124 Wie der Kurkölner Hofrat war also auch der Jülich-Berger Hofrat von einem Landesherren als territoriales Obergericht konstituiert worden, das vor allem die Zivilrechtsprechung übernehmen sollte, daneben aber auch in der Strafrechtspflege tätig war und das justizpolitische Aufgaben übernahm. Das Kaiserliche Landgericht zum Burggrafentum Nürnberg war ein ursprünglich vom König frei besetzbares Gericht, welches Rudolf von Habsburg den zollerischen Burgrafen Friedrich III. 1273 verlieh. 125 Der Margraf galt als Landrichter, sein Stellvertreter als viceiudex. Des Weiteren berief der Markgraf die Beisitzer. Allerdings setzten auch Nürnberg und Eichstätt jeweils einen Beisitzer ein. 1539 wurde eine neue Gerichtsordnung erlassen, welche bis 1800 Bestand hatte und die Rezeption des römischen Rechts berücksichtigte. 126 Nach der neuen Gerichtsordnung stellte die freie Reichsstadt Nürnberg zwei Beisitzer. 127 Seit 1490 blieb der ständige Sitz des Gerichts in Ansbach. 128 Die Verlegung in die brandenburg-ansbachische Residenzstadt verdeutlichte zugleich den tatsächlichen Umstand, dass das Kaiserliche Landgericht auf die Kompetenzen eines landesfürstliches Obergerichts, dass u.a. als Appellationsinstanz für die Hofgerichte Ansbachs und Bayreuths fungierte, beschränkt worden war. 129 Dies 120 Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 22f; Härter, “Jülich-Berg,” 1173. 121 Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 22f; Härter, “Jülich-Berg,” 1173. 122 Ibid. 123 Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 22ff. 124 Ibid., 23ff. 125 Günther Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Eine Bilddokumentation zur Geschichte der Hohenzollern in Franken (Ansbach 1980), 338. 126 Ibid., 338f. 127 Ibid., 339. 128 Ibid., 339f 129 Ibid. <?page no="32"?> 33 wurde von den Zeitgenossen schon so wahrgenommen. Der zeitgenössische Historiker Gottfried Stieber erklärte in seiner „historische[n] und topographische[n] Nachricht von dem Fürstenthum Brandenburg-Ansbach“, dass das Landgericht neben dem Geheimen Rat zur politischen Verfassung des Markgrafentums gehöre. 130 Diese grob skizzierte Diversität erlaubt es bei aller gebotenen Vorsicht von den Ergebnissen der Untersuchung der Rechtsprechung der drei Obergerichte auf generelle Verhältnisse an den Obergerichten im Alten Reich zu extrapolieren. Untersucht werden soll die Wahrheitsfindung der drei Obergerichte im Zeitalter der Aufklärung. Bis zum Beginn des Untersuchungszeitraums konnten sich die schon um 1500 von Rechtsgelehrten postulierte Gleichberechtigung von Juden sowie neue im Zuge der Rezeption des römische Rechts entwickelte Verfahrenstechniken 200 Jahre lang einspielen. Ferner traten mit dem usus modernuns pandektarum im 17. Jahrhundert und dem ius naturale in aufgeklärter Lesart im 18. Jahrhundert zwei wirkmächtige Rechtsauffassungen auf. Gerade das im Rahmen des ius naturale formulierte Prinzip des more geometrico ist für die grundlegende Fragestellung von großer Relevanz. Nunmehr sollte mit mathematischer Präzision Recht gefällt werden. Dies bedeutete für den Rechtslehrer Cessare Beccaria im 18. Jahrhundert, dass man einen Fall unter einem Rechtssatz subsumieren sollte, ohne dass der Richter weitere Interpretationen vornehmen durfte, der Begründungsfreiheit der Richter also enge Grenzen gesetzt sein sollten. Darüber hinaus wurden im späten 17. und im 18. Jahrhundert juristische Dissertationen publiziert, welche sich dezidiert mit Juden beschäftigten. Während die schon erwähnten Werke „vom Kornjuden“ von Samuel Stryk und „Vom vermaledeyten Wucher und Jüden-Zinß“ von Georg Kaspar Kirchmeier und Amadeus Schmelz antijüdisch stereotypen Inhalts waren 131 , war das Opus „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von Christian Konrad Wilhelm Dohm weniger tendenziös. 132 Da solche juristischen Monographien als Rechtsquellen angesehen wurden, konnten sie von den Richtern der drei Obergerichte im Rahmen ihrer Wahrheitsfindung genutzt werden. Schließlich war die Einstellung der Gelehrten im Zeitalter der Aufklärung, aus deren juristischem Teil die Oberrichter rekrutiert wurden, gegenüber Juden ambivalent. 133 So beschäftigten sich aufgeklärte Gelehrte in ihren Werken auch 130 Gottfried Stieber, Historische und topographische Nachricht von dem Fürstenthum Brandenburg-Ansbach, Aus zuverlässigen archivalischen Documenten, und andern glaubwürdigen Schriften verfaßet, und mit nötigen Anmerkungen und Registern versehen (Schwabach 1761), Nachdruck von Christoph Schmidt (Neustadt an der Aisch 1994), 44. 131 Härter, “Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht.”, 352f. 132 Benz and Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, Handbuch des Antisemitismus, 87. 133 Berghahn, Grenzen der Toleranz, 183-88. <?page no="33"?> 34 mit der religiösen Toleranz. Der Philosoph und Vernunftrechtler Samuel Pufendorf postulierte in Form der politischen Toleranz ein gewisses Maß an Glaubensfreiheit. So sollte eine unbegrenzte Toleranz zumindest gegenüber anderen Konfessionen und eine eingeschränkte Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten an den Tag gelegt werden. 134 Der späte Thomasius, seines Zeichens ebenfalls Philosoph und Vernunftrechtler, weitete den unbegrenzten Toleranzbegriff dann auch auf alle religiösen Minderheiten aus. 135 Demgegenüber erklärte der Kantschüler Fichte in einer Fußnote seines anonym publizierten „Beitrages zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“, dass man zwar einen hungernden Juden Brot geben solle, falls man selbst einigermaßen gesättigt wäre, „aber ihnen [den Juden Anm.d.A.] Bürgerechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere draufzusetzen, in denen auch nur eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“ 136 Die Analyse dreier Obergerichte im Zeitalter der Aufklärung ermöglicht es also, den Einfluss der juristischen Entwicklungen inklusive des Aufkommens des usus modernus und des Vernunftrechts auf die obergerichtliche Wahrheitsfindung zu berücksichtigen. Zugleich wurde die Wahrheitsfindung in dem Untersuchungszeitraum von Richtern betrieben, die Teil einer Gelehrtenrepublik waren, die keine eindeutige Einstellung gegenüber den Juden an den Tag legte, sondern zwischen Toleranzforderungen und Antijudaismus oszillierte. Nun ist die Definition des Zeitalters der Aufklärung freilich schwer, da der Beginn einer geistigen Haltung sich nicht auf ein festes Datum fixieren lässt. 137 Der Beginn der Aufklärung wird dann auch nicht auf ein Jahr festgelegt, sondern das Auftauchen und der Wirkungszeitraum des Vernunftrechtlers und Philosophen Christian Thomasius (1655-1728) stellen den Anfangszeitraum dar. 138 Das Ende des Untersuchungszeitraums bildet eben so wenig ein fixes Datum. Die Aufklärung endete um 1800, als Immanuel Kant die „Kritik der 134 Matthias J. Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung: naturrechtliche Begründung konfessionelle Differenzen: Studien zum achtzehnten Jahrhundert, (Hamburg, 2004), 45. 135 Ibid., 62. 136 Berghahn, Grenzen der Toleranz, 224. 137 Zum Problem der Datierung des Beginns der Aufklärung: Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung (München, 1997), 91. 138 Ibid., 92; Iwan-Michelangelo D'Aprile and Winfried Siebers, eds., Das 18. Jahrhundert: Zeitalter der Aufklärung (Berlin, 2010), 14. Ferner wurden als weitere mögliche Anfangspunkte der Aufklärung der Wirkungszeitraum Samuel Pufendorfs oder Gottfried Leibnitz‘ bestimmt. Darüber hinaus wurden auch die Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaft, der Reformuniversität Halle oder die erste Vorlesung Thomasius‘ als Anfangspunkt der Aufklärung gesetzt. Vgl. Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung: naturrechtliche Begründung konfessionelle Differenzen, 15; Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, 91, D'Aprile and Siebers, Das 18. Jahrhundert, 39. <?page no="34"?> 35 reinen Vernunft“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“ schrieb, in denen er nunmehr letztlich die Vernunft selbst kritisierte 139 , welche noch von Descartes 140 zur höchsten Entscheidungsinstanz erhoben worden war. In der Folge hob er den für Aufklärer typischen Erkenntnisoptimismus auf, da das Erkennen der Dinge an sich unmöglich sei. 141 Damit einhergehend begann in derselben Zeit der Verfall des Alten Reiches, welchem zuerst im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 ein epochales Zeichen gesetzt wurde. Drei Jahre später war dann das Alte Reich Vergangenheit. Somit fällt das Ende des Untersuchungszeitraums mit dem Ende des Alten Reiches zusammen. Freilich gilt die Einschränkung, dass nicht jedes Territorium überhaupt bis 1806 bestand. So musste das Kurfürstentum Köln schon 1803 von der Bühne abtreten. Dabei war es zudem schon seit 1794 teilweise von französischen Truppen im Zuge der Revolutionskriege besetzt worden. In Folge solcher Entwicklungen gibt es keine klare Endgrenze des Untersuchungszeitraums, sondern diese wird den drei territorialen Obergerichten angepasst und fällt mit dem jeweiligen Ende ihre Bestehens bzw. Wirkens zusammen. Es werden also der Kurkölner und Jülich-Berger Hofrat sowie das kaiserliche Landgericht zwischen dem frühen 18. (ca. 1720) und dem späten 18. Jahrhundert (ca. 1790) untersucht. Die Wahl des Untersuchungszeitraums ermöglicht es also die Auswirkung der verschiedenen juristischen Strömungen auf die obergerichtliche Rechtsprechung zu eruieren, während die Wahl der drei Obergerichte eine vorsichtige Extrapolation auf die allgemeine obergerichtliche Rechtsprechung im Alten Reich und insbesondere dem Umgang der Obergerichte mit Juden ermöglicht. Dabei gilt es zu beachten, dass alle drei untersuchten Territorien im 18. Jahrhundert ein Appellationsprivileg besaßen. 1.5 Das Privileg ius de non appelando Kurköln hatte ein unlimitiertes Appellationsprivileg zwar schon in der Goldenen Bulle (1356) verbrieft bekommen, jedoch ist in der heutigen Forschung umstritten, wie die Appellationsprivilegien in der Goldenen Bulle zu verstehen sind. 142 So ist es fraglich, ob mit dem Begriff Appellation schon 1356 ein Bezug zum römisch-kanonischen Recht und damit der römisch-kanonischen Appellation 139 Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, 100. 140 René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie: [lateinisch-deutsch]. Meditationes de prima philosophia (Hamburg, 1977). Schon Spinoza brachte dabei Descartes Erhebung der Vernunft auf den Punkt: Benedictus D. Spinoza, Descartes' Prinzipien der Philosophie: in geometrischer Weise dargestellt mit einem Anhang, enthaltend Gedanken zur Metaphysik. Principia philosophiae Cartesianae &lt: Dt.&gt, ed. Wolfgang Bartuschat (Hamburg, 2005). 141 Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, 100. 142 Bernhard Diestelkamp, Die Durchsetzung des Rechtsmittels der Appellation im weltlichen Prozeßrecht Deutschlands, 1998,2 (Stuttgart, 1998), 10. <?page no="35"?> 36 hergestellt werden sollte. Es ist denkbar, dass damit auf das mittelalterliche Rechtszugverfahren referiert wurde, das einen andersgearteten Prozesstypus als ein Appellationsverfahren darstellte. 143 Ferner haben Rechtshistoriker auch den Begriff Appellation als einen Verweis auf das römisch-kanonische Appellationsverfahren begriffen, jedoch sei dieser noch ohne jeden Praxisbezug gewesen. 144 Kurzum ist es fraglich, ob in der Goldenen Bulle schon römischrechtliche Appellationsprivilegien vergeben wurden. Für den geistlichen Kurstaat Köln lässt sich damit festhalten, dass er erst 1653 sicher ein unlimitiertes Appellationsprivileg erhalten hatte. Damit wären Appellation von Kurkölner Gerichten an ein Reichsgericht generell untersagt gewesen. 145 Aufgrund des Protestes der Kurkölner Landstände blieb jedoch auch in der Folgezeit eine Appellation an die Reichsgerichte bei petitorischen Klagen ab einem Streitwert von 1.000 Gulden möglich. 146 In der Phase nach der Wittelsbacher Sekundogenitur unternahm der habsburgische Kurfürst Kölns, Maximilian Franz von Österreich, abermals den Versuch, das limitierte ius de non appellando zu einem ius de non appellando immunitate auszubauen, was dann auch im Jahre 1786 gelingen sollte, als Kaiser Joseph II. ein entsprechendes Privileg für Kurköln ausstellte. 147 Die Erlangung des unlimitierten Privilegs resultierte in der Gründung des Kurkölner Oberappellationsgerichts, welches nunmehr anstelle der Reichsgerichte als Letztinstanz für den kurkölnischen Instanzenzug dienen sollte. 148 Die landesherrlichen Gerichte Jülich-Bergs genossen seit 1530 den begrenzten Schutz ihrer Rechtsprechung durch ein von Kaiser Karl V. gewährtes limitiertes Privileg ius de non appellando. 149 Der Streitwert musste die Summe von 200 Gulden überschreiten, damit eine Appellation an eines der Reichsgerichte zulässig war. 150 In der Folgezeit wurde seitens der seit 1614 wittelsbachischen Landesherrschaft erfolgreich versucht, diesen Mindeststreitwert weiter anzuheben. 151 1764 erhielt der pfälzische Kurfürst Carl-Theodor schließlich von Kaiser Franz I. das uneingeschränkte ius de non appellando für all seine Länder, wozu 143 Ibid.. 144 Ibid. 145 Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht: zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland: Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, (Köln, 1976), 151. 146 Strauch, “Das hohe weltliche Gericht zu Köln,” 816f. 147 Ibid., 816, 822f; Simon and Keller, “Kurköln,” 427f. 148 Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts, 38f. 63f; Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 58f. 149 Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht: zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland , 172-185. 150 Ulrich Schnorrenberg, Das Jülich-Bergische Oberappellationsgericht zu Düsseldorf von 1769 (Köln, 1983), 8f. 151 Ibid., 9ff. <?page no="36"?> 37 auch Jülich-Berg gehörte. 152 Infolgedessen wurde 1769 das Oberappellationsgericht in Düsseldorf gegründet, welches an Stelle der Reichsgerichte als letzte Instanz im Jülich-Berger Instanzenzug fungieren sollte. 153 Für Brandenburg-Ansbach liegt zwar keine Forschungsliteratur vor, die sich dezidiert der Frage des Appellationsverbotes zugewandt hätte, jedoch lassen sich aus internen Kommunikationsdokumenten zwischen der Landesherrschaft und dem kaiserlichen Landgericht sowie einer im Jahre 1744 verfassten Verordnung schließen, dass Brandenburg-Ansbach im 18. Jahrhundert im Besitz eines limitierten Appellationsprivilegs war. 154 Allerdings störten sich die vor den Brandenburg-Ansbacher Gerichten agierenden Parteien nicht an diesem Privileg. Zumindest lässt sich festhalten, dass im 18. Jahrhundert Parteien versuchten, das Privileg ignorierend an das RKG zu appellieren. In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte eine jüdische Partei an dem Privileg vorbei an das RKG appelliert, welches die Appellation auch angenommen hatte. 155 Die Landesherrschaft reagierte auf das Problem widerrechtlicher Appellationen im Jahre 1744 mit der Erlassung einer Verordnung, die den Anwälten unter Androhung des Verlustes ihrer juristischen Qualifikation verbot, das Appellationsprivileg zu unterlaufen. 156 Offensichtlich versuchten Parteien des Öfteren, den Brandenburg-Ansbacher Instanzenzug widerrechtlich zu verlassen. Die Landesherrschaft versuchte nun, die Anwälte der Parteien mit drakonischen Strafen davon abzuhalten. Diese Maßnahme zur Durchsetzung des Appellationsprivilegs trug wohl keine Früchte. Zumindest war es schon in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts zwischen dem Kaufmann Pflüger und den Gebrüdern Bethmann wegen eines Fasses Indigo zum Streit gekommen, welcher gerichtlich beigelegt werden musste. Die unterlegene Partei wollte das erstinstanzliche Urteil nicht akzeptieren und appellierte deswegen an das Kaiserliche Landgericht, das 1751 sein für Pflüger positives Urteil verkündete. Die Gebrüder Bethmann wollten dieses nicht akzeptieren und appellierten von diesem Urteil an das Reichskammergericht. 157 Damit verließen die Gebrüder den territorialen Instanzenzug und wandten sich an die Reichsgerichtsbarkeit. Sie hatten damit 152 Ibid., 8ff. 153 Jörg Engelbrecht, Das Herzogtum Berg im Zeitalter der Französischen Revolution: Modernisierung zwischen bayerischen und französischen Modell (Paderborn, 1996), 61ff; Härter, “Jülich- Berg,” 1173; Schnorrenberg, Das Jülich-Bergische Oberappellationsgericht zu Düsseldorf von 1769, 45-50. 154 Staatsarchiv Nürnberg, Archiv 800, Rep. 103 a IV Fm Ansbach, Bamberger Abgabe 1953, 902. Es wird sich in den folgenden Ausführungen zeigen, dass die Benennung des im Privileg festgelegten Mindeststreitwerts problematisch ist. 155 Staatsarchiv Nürnberg, Archiv 800, Rep. 103 a IV Fm Ansbach, Bamberger Abgabe 1953, Nr. 923. 156 Staatsarchiv Nürnberg, Archiv 800, Rep. 103 a IV Fm Ansbach, Bamberger Abgabe 1953, Nr. 902. 157 Staatsarchiv Nürnberg, Archiv 800, Rep. 103 a IV, Fm Ansbach, Bamberger Abgabe 1953, Nr. 222. <?page no="37"?> 38 das limitierte Appellationsprivileg Brandenburg-Ansbachs unterlaufen, was das Kaiserliche Landgericht dem Brandenburg-Ansbacher Fürsten auch kommunizierte. Der Fürst ordnete an, dem RKG das brandenburg-ansbachische Privileg ius de non appellando zuzusenden, sodass das RKG die Appellation abschlagen und die Landrichter das landgerichtliche Urteil exekutieren könnten. 158 Die Landesherrschaft wollte den konkreten Verstoß gegen das Privileg also dadurch unterbinden, dass man das RKG über die Existenz und den Inhalt des o.a. Privilegs in der Hoffnung informierte, dass dieses dann die widerrechtliche Appellation abschlagen würde. 159 Die Landesherrschaft ergriff also eine konkrete Maßnahme gegen die konkrete widerrechtliche Appellation, da die Verordnung von 1744 die Anwälte nicht effektiv davon abhielt, an dem Appellationsprivileg vorbei die Reichsgerichte anzurufen. Die Landesherrschaft musste also weiterhin das Appellationsprivileg mit konkreten Maßnahmen verteidigen, sobald eine Partei das Privileg zu verletzen drohte. Das war bei limitierten Appellationsprivilegien mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Diese verhinderten Appellationen an die Reichsgerichtsbarkeit nur, solange in einem Verfahren nicht ein gewisser Mindeststreitwert überschritten wurde. Nun gab es im Alten Reich jedoch keine einheitliche Reichswährung. „Das RKG stellte bei der Berechnung von Appellations- und Privilegiensummen auf den Münzfuß des jeweiligen betroffenen Territoriums ab.“ 160 Allerdings konnte im Rahmen der Berechnung in Zweifel gezogen werden, ob Nebenansprüche wie Zinsen noch zur Appellationssumme gerechnet werden müssten. 161 In den limitierten Appellationsprivilegien war also ein Mindeststreitwert festgelegt worden, der jedoch - eine Spezialität der frühneuzeitlichen Rechtsetzung, wie sich in den folgenden Kapiteln weiter zeigen wird - Spielraum für Interpretationen ließ. Eine in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts vor das RKG gebrachte Appellation liefert dafür ein instruktives Beispiel. Dieses Mal hatte der Hofjude Amson Löw gegen ein brandenburg-anbachisches Urteil 162 an das RKG appelliert. Das kaiserliche Landgericht setzte den Markgrafen über die Appellation in Kenntnis und informierte diesen auch darüber, dass die Appellation widerrechtlich sei, insofern man den im Privileg festgelegten Mindeststreitwert in Goldgulden berechnen würde. 163 Das kaiserliche Landgericht berechnete den im 158 Ibid. 159 Es lässt sich der Quelle nicht entnehmen, ob diese Hoffnung erfüllt wurde. Es ist aber davon auszugehen, da ein gegen bestehende Appellationsprivilegien geführter Prozess einen durchaus größeren prozessrechtlichen Makel aufwies. Somit liefe das Verfahren Gefahr nichtig zu werden. Auf der anderen Seite wäre der von dem RKG geführte Prozess dritt- und somit letztinstanzlich. 160 Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht: zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, 254. 161 Ibid. 162 Es lässt sich der Akte nicht sicher entnehmen, welches Gericht das erstinstanzliche Urteil gefällt hatte. 163 Staatsarchiv Nürnberg, Archiv 800, Rep. 103 a IV Fm Ansbach, Bamberger Abgabe 1953, 902. <?page no="38"?> 39 Privileg verbrieften Mindeststreitwert also nicht in der Landeswährung und hob so mit seiner Berechnung den in einem Verfahren notwendig für eine Appellation zu erreichenden Mindeststreitwert an. Die Landrichter erklärten gegenüber dem Markgrafen weiter, dass sie am RKG in der Sache vorstellig würden, mehr könnten sie für den Gegner Löws, der den Prozess vor dem Brandenburg- Ansbacher Gericht gewonnen hatte, nicht tun. Der Fürst solle entscheiden, welche weiteren Schritte unternommen werden müssten. Am 13. August 1768 antwortete der Fürst und übertrug dem Landgericht die Kompetenz in diesem und ähnlichen Fällen geeignete Mittel gegen widerrechtliche Appellationen zu finden und auszuführen. 164 Das Landgericht war allerdings nicht bereit ohne den Fürsten eine Entscheidung zu treffen und so entbrannte eine Vielzahl von Seiten füllende und über ein Jahr andauernde Debatte unter den Landrichtern und den Fürsten über das richtige Vorgehen. War man noch 1751 zur Entscheidung gelangt, dem RKG einfach das Appellationsprivileg zuzusenden, taten sich die Richter dieses Mal schwer. Grund dafür dürfte wohl gewesen sein, dass sie nicht sicher sein konnten, ob die Reichskammerrichter ihrer Berechnung des Mindeststreitwertes folgen würden. Zumindest füllten Ausführungen zu eben diesem Themenkomplex der Debatte viele Seiten. 165 Ferner tauchten in der Debatte Maßnahmen mit einer vollkommen anderen Stoßrichtung auf. Während bei der Zusendung des Appellationsprivilegs das RKG das Objekt der Maßnahme darstellte, zielten in der Debatte in den 60er Jahren Maßnahmen allein auf die appellierende jüdische Partei ab. Einer der Landrichter fragte gar, „was hat man sich denn vor dießen Schutz Juden, dessen ganzes Seyn auf der bloßen Toleranz bestehet viel zu förchten? Stehen denn unsere Privilegia auf so gar schlechten Füssen? Mich dünkt man dörfte den Low Amson nur zu verstehen geben, das man ihm und sein ganze Race aus dem Land jagen würde, wenn er nicht abstehen würde die hochfürstliche Gerechtsam ferner anzufechten, so würde er es wohl bleiben laßen.“ 166 Solche Ideen indizieren das Risiko, das die simple Zusendung des Privilegs in dieser Sache barg. Eine Debatte mit den Reichkammerrichtern über die Appellationssumme konnte weitreichende Folgen für die brandenburg-ansbachische Gerichtslandschaft zeitigen. Das Reichsgericht könnte die Berechnung des Landgerichts verwerfen und so einen für Brandenburg-Ansbach nachteiligen Präzedenzfall schaffen. Es lässt sich nun anhand der Quelle nicht feststellen, welches Vorgehen der Fürst und die Landrichter letztlich beschlossen. Allerdings lässt sich konstatieren, dass der Versuch, allein normativ die widerrechtlichen Appellationen zu 164 Ibid. 165 Ibid. 166 Ibid. <?page no="39"?> 40 bekämpfen, keinen vollkommenen Erfolg zeitigte und Landesherren ihr Privileg auch mit konkreten Maßnahmen verteidigen mussten. So konnte man das seitens einer Partei angerufene Reichsgericht per Insinuation des Appellationsprivilegs über die Existenz und den Inhalt desselben informieren. Jedoch war dies nur dann ein sinnvolles Mittel, wenn es sich um eine offensichtlich widerrechtliche Appellation handelte. Hing die Frage der Widerrechtlichkeit dagegen von der Berechnung des Mindeststreitwerts ab, war es zumindest diskutabel, andere Maßnahmen zu ergreifen, deren Objekt dann auch nicht ein angerufenes Reichsgericht, sondern die anrufende Partei darstellte. Für die in dieser Arbeit untersuchten drei Obergerichte kann also festgehalten werden, dass ihre jeweilige Rechtsprechung mehr oder minder von einem Appellationsprivileg geschützt wurde und Parteien nur eingeschränkt die Möglichkeit hatten, vor einem Reichsgericht um ein Appellationsverfahren zu bitten. Mithin stellte das Verlassen des territorialen Instanzenzugs in den meisten in dieser Arbeit untersuchen Fällen keine Option für die unterlegene Partei dar. 1.6 Von der gerichtlichen Wahrheitsfindung oder ein Blick hinter den Vorhang Im Fokus dieser Arbeit werden mehrere Verfahren mit jüdischer Beteiligung stehen, die im 18. Jahrhundert vor jeweils einem der drei ausgewählten Gerichte verhandelt wurden. Die generelle Ausgestaltung eines obergerichtlichen Zivilverfahrens soll an dieser Stelle am Beispiel des Jülich-Berger Hofrats skizziert werden. Das Verfahren vor dem Hofrat wurde im 18. Jahrhundert von der 1661 erlassenen Kanzleiordnung geregelt, die bis zum Ende Jülich-Bergs als Prozessrecht Geltung hatte. 167 Ein erstinstanzlicher Prozess begann laut dieser Ordnung mit der schriftlichen Einreichung einer Klage durch eine klagende Partei. In der Klageschrift mussten die der Klage zugrundeliegende Sachverhaltsbehauptung der klagenden Partei, Beweise für die Sachverhaltsbehauptung und das eigentliche Klagebegehr enthalten sein. Die Klageschrift wurde dann vom Gericht der beklagten Partei kommuniziert, die innerhalb einer peremptorischen Frist von meist 14 Tagen reagieren musste. In seiner ersten Handlung vor Gericht sollte der Beklagte der Sachverhaltsbehauptung des Klägers widersprechen, insofern er mit dieser nicht übereinstimmte. Darüber hinaus durfte er nur in seiner ersten Handlung dilatorische und peremptorische Einreden vorbringen, also Einreden gegen die Person des Klägers und dessen Gerichtsstand sowie Einreden gegen die Zuständigkeit des Gerichts artikulieren. Insofern der Beklagte dilatorische oder peremptorische Einreden vorbrachte, wurden diese vor der Hauptsache, dem eigentlichen Klagebegehr des Klägers, verhandelt. Mithin musste der Beklagte sich solange nicht zur Hauptsache äußern, wie noch strittig war, ob überhaupt 167 Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 87. <?page no="40"?> 41 ein Verfahren über die Hauptsache vor dem Gericht geführt werden konnte. Denn sowohl peremptorische als auch dilatorische Einreden zielten darauf ab, das Verfahren aus prozessrechtlichen Gründen zum Platzen zu bringen, bevor das Verfahren zur Hauptsache begann. 168 Sollte das Gericht die peremptorischen oder dilatorischen Einreden des Beklagten desavouieren oder dieser keine solche Einreden vorbringen, konnte das Verfahren zur Hauptsache beginnen. Dann wurde ein Termin für den Beginn des Beweisverfahrens angesetzt, in dem die Parteien Beweise wie beispielsweise Urkundenbeweise oder Zeugenbeweise vorbringen konnten. Das Beweisverfahren fand nicht an einem einzigen Tag statt, sondern umfasste einen längeren Zeitraum, sodass den Parteien die Überprüfung der von der Gegenseite vorgebrachten Beweise ermöglicht wurde. Ferner konnten im Rahmen des Beweisverfahrens auch Beweise mittels Eid verstärkt oder Zeugen verhört werden. 169 Generell war es Parteien im Jülich-Berger Kanzleiprozess gestattet drei schriftliche Schlagabtäusche zu führen. Den ersten Schlagabtausch bildeten die Klageschrift und die Reaktion des Beklagten. Darauf folgten die Replik des Klägers und die Duplik des Beklagten. Den Abschluss sollten die Triplik und die Quadruplik bilden. In diesen sechs schriftlichen Handlungen legten Parteien ihre Sachverhaltsbehauptungen und Argumente dar. 170 Insofern ein Appellationsprozess verhandelt wurde, standen dem Hofrat auch die Prozessakten des vorinstanzlichen Verfahrens zur Verfügung. 171 Ansonsten war der Appellationsprozess analog zum erstinstanzlichen Verfahren ausgestaltet. 172 So wurde auch die Trennung von rein prozessrechtlichen Fragen und der Hauptsache beibehalten. Weiterhin wurden prozessrechtliche Fragen per Interlokut vor der Verhandlung zur Hauptsache geklärt, wobei nunmehr nicht allein Hofräte als Entscheider fungieren konnten, sondern sogar der Fürst je nach Sachlage die Entscheidung treffen musste. 173 Prinzipiell waren alle obergerichtlichen Prozessordnungen ähnlich ausgestaltet und basierten wie die Jülich-Berger Kanzleiordnung aus dem Jahre 1661 auf dem jüngsten Reichsabschied von 1654, mit dem das Verfahren am Reichskammergericht reformiert wurde. 174 Allerdings konnte es Abweichungen in den Prozessordnungen anderer Territorien geben, so wurde in der lippschen Kanzleiordnung von 1660 festgelegt, dass die letzte Eingabe einer Partei in einem 168 Ibid., 72-76. 169 Ibid., 87, 5ff. 170 Ibid., 84. 171 Ibid., 80ff. 172 Ibid., 83f. 173 Ibid., 84. 174 Ibid., 71f,75. Für die Reformation des Verfahrens am RKG siehe: Heide-Marie Götte, Der jüngste Reichsabschied und die Reform des Reichskammergerichts, arie. Der jüngste Reichsabschied und die Reform des Reichskammergerichts (München 1998), 68-107, 134-153. <?page no="41"?> 42 Verfahren die Duplik darstellen sollte, sofern weitere Eingaben nicht per Spezialerlaubnis vom Gericht gestattet wurden. 175 Generalisierend lässt sich konstatieren, dass obergerichtliche Verfahren aus verschiedenen kommunikativen Situationen bestanden 176 , in denen Klägern, Beklagten, Zeugen und Gutachtern eine Bühne geboten wurde, auf der sie sprechen durften. Die Richter hatten die Prozessleitung inne, übernahmen also die Regie und organisierten die gerichtlichen Handlungen der Parteien, Zeugen und Gutachter. Zugleich stellten sie allein in der wichtigsten Szene eines Verfahrens den Protagonisten. Sie verlasen am Ende des Verfahrens das Urteil. Und in eben diesem Moment fungierten die Parteien nicht mehr als Akteure auf der Bühne. Sie bildeten nunmehr ein passives Publikum, das schweigend der Verlesung des Urteils lauschen sollte. Kurz vor dem Ende eines Verfahrens also verließen die Parteien die gerichtliche Bühne und überließen diese allein den Richtern. Bevor im letzten Akt das Urteil verlesen wurde, fiel jedoch quasi zuerst einmal der Vorhang. Und in eben jener Phase, die vor den Augen der Zuschauer verborgen wurde, schlossen Gerichte die Wahrheitsfindung ab. 177 Nachdem der Vorhang gefallen war, begannen die Richter eines Obergerichts aus den im Prozess zusammengetragenen Informationen eine Wahrheit über die Parteien zu finden, die sie dann nach der Öffnung des Vorhanges in ihrem Urteil verkündeten. 178 Und eben jener vor den Augen der Parteien verborgene Teil eines Verfahrens soll im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Es soll dezidiert die Phase analysiert werden, in der die Richter eben nicht ein Verfahren so inszenieren musste, dass es als legitim erschien 179 , sondern in der sie vielmehr vor dem Augen des Publikums verborgen ihre Arbeit verrichteten. 180 175 Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, D 71 Nr. 31, Kanzleiprozeßordnung von 1660, § 7. 176 Hoffmann, Kommunikation vor Gericht, 23ff, 363ff Christoph Sauer, “Der wiedergefundene Sohn: Diskursanalyse eines Strafverfahrens vor dem niederländischen 'Politierechter',” in Rechtsdiskurse: Untersuchungen zur Kommunikation in Gerichtsverfahren, ed. Ludger Hoffmann (Tübingen, 1989), 78f. Sieher ferner: Thomas Scheffer, “Diskurspraxis in Recht und Politik. Trans- Sequentialität und die Analyse rechtsförmiger Verfahren,” in Zeitschrift für Rechtssoziologie 35 (2015): 230ff; Ders., “Die trans-sequentielle Analyse und ihre formativen Objekte,” in Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge, ed. Reinhard Hörster (Wiesbaden, 2013), 90ff; Ders., “Zugum-Zug und Schritt-für-Schritt. Annäherungen an eine transsequentielle Analytik,” in Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, ed. Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer and Gesa Lindemann (Frankfurt am Main, 2008). Ferner: Andre Krischer, Die Macht des Verfahrens: Englische Hochverratsprozesse 1554-1848 (Münster 2017), 68. 177 Wolfgang Schild, “Relationen und Referierkunst: Zur Juristenausbildung und zum Strafverfahren um 1790,” in Jörg Schönert, Erzählte Kriminalität, 173. 178 Freilich war die Verfahrensdauer auch in der Frühen Neuzeit wesentlich länger als ein Theaterstück. 179 In der Forschung wurde jüngst der Frage nachgegangen, wie die gesellschaftliche Akzeptanz für gerichtliche Entscheidungen besorgt wurde und welche Rolle dabei der symbolischen Kommunikation zukam. So war es im englischen Prozessbetrieb auch weniger wichtig, was geschrieben wurde, <?page no="42"?> 43 Diese Phase des geschlossenen Vorhanges ist der letzte Verfahrensschritt vor der Verkündung des Urteils. Das gesamte Verfahren ist auf diese Phase ausgerichtet, da in einem Verfahren bis dahin primär die Informationen zusammengetragen wurden, aus denen die Richter die Wahrheit finden mussten. Auf ihr folgte allein der performative Akt der Urteilsverkündung, der wieder vor den Augen der Parteien vollzogen wurde. Zugleich wurde speziell diese Phase in der historischen Forschung kaum untersucht. Sowohl André Griemert als auch Peter Oestmann haben sich mit dem Verfahren als Ganzes beschäftigt und die Phase des geschlossenen Vorhanges nur am Rande behandelt. 181 In dieser Arbeit soll nun dezidiert der Vorhang gelüftet werden; es soll ein Blick hinter die Kulissen und damit hinter die Inszenierung der frühneuzeitlichen obergerichtlichen Wahrheitsfindung über Juden geworfen werden. Wie fanden die Richter aus der Fülle der in einem Verfahren zusammengetragenen Informationen Wahrheiten über einzelne jüdische Parteien? Wie gelangten sie also zu einem Urteil über jüdische Parteien? Nun wurde bis dato eben diese Phase des geschlossenen Vorhanges von der Forschung eher vernachlässigt, sodass es nicht möglich ist die Beantwortung der beiden Fragen mit Forschungsergebnissen zur obergerichtlichen Wahrheitsfindung zu kontextualisieren. Folglich wird in dieser Arbeit auch die Frage erörtert, wie überhaupt die obergerichtliche Wahrheitsfindung hinter dem geschlossenen Vorhang vollzogen wurde. Die Fokussierung auf die Phase des geschlossenen Vorhanges bedeutet nicht, dass allein die Wahrheitsfindungen untersucht werden, deren gefundene Wahrheiten in Endurteilen verkündet wurden. Es war durchaus möglich, dass der Vorhang sich lichtete und kein End-, sondern nur ein Zwischenurteil verlesen wurde, mit dem eine oder beide an einem Verfahren partizipierenden Parteien die Beibringung weiterer Beweise befohlen wurde. Mit einen Zwischenurteil sollte ein Prozess nicht abgeschlossen, sondern das weitere Verfahren organisiert werden. Letztlich war es eben durchaus möglich, dass ein Gericht hinter dem geschlossenen Vorhang zu dem Ergebnis kam, dass man noch keine Wahrheit finden könne und es weiterer Informationen bedürfe. Zwischen- und Endurteil wurden zwar hinter einem geschlossenen Vorhang gefunden, jedoch unterlag auch dieser Teil des Verfahrens der Schriftlichkeitsmaxime, sodass sogenannte Relationen heute Auskunft über die sich hinter dem Vorhang vollzogenen Wahrheitsfindungen geben. sondern allein, dass geschrieben wurde. Das Schreiben war Teil der Inszenierung eines Verfahrens. Vgl. Krischer, Die Macht des Verfahrens, 144f. 180 Auf das Zusammenspiel symbolisch-expressiver und technisch-instrumenteller Faktoren in Gerichtsverfahren wurde jüngst hingewiesen. Vgl. Ibid., 604f. 181 Siehe Inhaltsverzeichnis: Griemert, Jüdische Klagen gegen Reichsadelige; Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich. <?page no="43"?> 44 1.7 Relation und Logik Weil die Obergerichte nach dem Prinzip der Kollegialität funktionierten und es auf Grund des hohen Arbeitsaufwandes nicht möglich war, dass alle Richter sich mit den einzelnen Streitfällen beschäftigen, wurden in der Regel jeweils zwei Richter aus einem obergerichtlichem Kolleg bestimmt, welche dann einen Streitfall als Referent und Koreferent zu bearbeiten hatten. 182 Diese Bearbeitung fand ihre schriftliche Form in der Relation. In einer solchen legte ein Richter seine Argumentation für ein Urteil dar. 183 Seit 1570 war es am RKG Usus das Anwärter auf eine Kammerrichterstelle eine Proberelation verfassen mussten. Diese Form der Prüfung wurde in der Folgezeit von Territorialgerichten übernommen. 184 Da ferner im Laufe der Frühen Neuzeit Anleitungsbücher publiziert wurden und das Verfassen von Relationen Teil des juristischen Curriculums an den Universitäten war 185 , ist davon auszugehen, dass auch die Oberrichter das Verfassen von juristischen Relationen schon vor ihrer Tätigkeit als Richter gelernt hatten. In einer Relation wurde der zur Entscheidung stehende Fall zunächst gemäß Aktenlage dargelegt (species facti, Geschichtserzählung), oftmals unter Beifügung von Auszügen aus den Akten (extractus actorum) und der Argumente der Anwälte aller Prozessparteien. Daran schloss das Votum an, in dem der Verfasser gutachtend zu dem Fall Stellung bezog und einen Urteilsvorschlag abgab. Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts strukturierten die Regeln der disputatio im päpstlich-kanonischen Prozess vor der Rota Romana die weitere innere Ordnung der Relationen. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die systematischaxiomatische Methode zur ordnenden Größe der Relationen. Man unterschied nun zwischen Analyse und Synthese. In der Folge wurde nunmehr in den Relationen eingangs ein Fall wertneutral dargestellt. Daran wurde die rechtliche - rein wissenschaftlich-theoretische - von dem Fall losgelöste Argumentation angeschlossen. Im letzten Schritt wurden Falldarstellung und Argumentation synthetisiert. Die verfertigte Relation wurde dann dem Kollegium eines Obergerichts vorgetragen und bildete, wenn sie keinen Widerspruch erregte, die Grundlage für dessen Urteil. 186 182 Für das RKG einschlägig: Filippo Ranieri, “Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren,” in Zwischen Formstrenge und Billigkeit: Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß, ed. Peter Oestmann, 56 (Köln [u.a.], 2009), 166. 183 Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch (Tübingen, 1999), 36. 184 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 169. 185 Ibid., 166ff; Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'” 131-40. 186 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 165-172. Für den ersten Teil einer Relation sei noch verwiesen auf: Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'” 125-37. Ferner sei für das RKG verwiesen auf: Ranieri, “Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren,” 171-177; Filippo Ranieri, “Entscheidungsfindung und Technik der Urteilsredaktion in der Tradition des deutschen Usus modernus: Das Beispiel der Aktenrelation am Reichskammergericht,” in Caselaw in <?page no="44"?> 45 Freilich war es auch möglich und in der Praxis durchaus gängig, dass die beiden Referenten, welche den Fall zu bearbeiten hatten, nicht einer Meinung waren. In der Folge wurden zwei Relationen erstellt. Das Kolleg entschied auch in solchen Fällen. Auch hier war es möglich, keine der Relationen anzunehmen und stattdessen zwei neue Richter als Referenten zu bestimmen, womit das Spiel von neuem begann. 187 Relationen wurden hinter dem verschlossenen Vorhang verfasst. Sie stellten für die Augen und Ohren der obergerichtlichen Kollegen, des Landesherren und dessen zentralen Regierungsorganen bestimmte interne Kommunikationsdokumente dar, deren Kommunikation an die Parteien nicht vorgesehen war. 188 Zwar wurden Relationen des Reichskammergerichts im Rahmen der kameralistischen Jurisprudenz veröffentlicht, allerdings ging damit nicht einher, dass generell alle Relationen publiziert wurden. Schon die ersten Veröffentlichungen reichskammergerichtlicher Relationen in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch den Begründer der kameralistischen Jurisprudenz, den Richter am RKG Joachim Mynsinger sowie durch Andreas Gail, ebenfalls Richter am RKG, war unter den Juristen zuerst einmal auf große Ablehnung gestoßen, da man ihnen vorwarf, den Richtereid gebrochen zu haben und zu publizieren, was für öffentliche Augen nicht bestimmt war. 189 Zwar waren seither über einhundert Jahre vergangen und längst war eine ganze Literaturgattung aus den Werken Mynsingers und Gails entsprungen, jedoch setzte sich eine öffentliche Urteilsbegründungspflicht erst im 19. Jahrhundert durch. 190 Im 18. Jahrhundert mussten die Richter der untersuchten Gerichtshöfe kaum damit rechnen, dass ihre Relationen publiziert werden würden. Ferner war die Publikation von Relationen in kameraljurisprudentischen Werken auch primär für die Augen interessierter Juristen bestimmt; diese sollten die Publikationen nutzen. Darüber hinaus wurden die Relationen dort nicht in Gänze abgebildet, sodass selbst in den Werken Mynsingers und Gails nicht alle Einzelheiten der Sachverhalte und Erwägungen der Entscheidung mitgeteilt wurden. 191 Der Vorhang wurde also in einigen Fällen post quem gelüftet, sodass eine interessierte Öffentlichkeit, allen voran Rechtsgelehrte und Juristen, Einblicke in die (reichs-)gerichtliche Wahrheitsfindung gewinnen konnte, aber in den the making: The Techniques and Methods of Judical Records and Law Reports. Vol. 1: Essays., ed. Allain Wijfells (Berlin, 1997), 291-97. 187 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II, B 70. 188 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 173. 189 Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter: Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. 1. Darstellung, 67; Stephan Meder, Rechtsgeschichte, 3rd ed. (Köln u.a., 2008), 196. 190 Meder, Rechtsgeschichte, 197. 191 Ranieri, “Entscheidungsfindung und Technik der Urteilsredaktion in der Tradition des deutschen Usus modernus: Das Beispiel der Aktenrelation am Reichskammergericht,” 282. <?page no="45"?> 46 meisten Fällen blieb das Zustandekommen des Urteils für Parteien und Öffentlichkeit ein Mysterium. Für den Rechtshistoriker Wolfgang Schild und den Germanisten Eckhart Meyer-Krentler stellen Relationen keine rein juristische Praxis dar. Beide konnten anhand des Werkes „Grundsätze von Verfertigung der Relationen aus Gerichtsakten, zum Gebrauch der Vorlesung“, das der Rechtsgelehrte Justus Claproth verfasst hatte, nachweisen, dass im Rahmen des praktischen Juraunterrichts den Studenten das Verfassen solcher Relation gelehrt wurde, dabei aber auch rhetorische Regeln vermittelt wurden. 192 Während Eckhart Meyer-Krentler stärker auf die poetische Ausformung der Geschichtserzählung - also des ersten Teils einer Relation - abzielt, blickt Wolfgang Schild auf die gesamte Relation. 193 Dabei insinuiert Meyer-Krentler eine Form realistischer Poetik. 194 Schild hingegen erkennt eine juristische Poetik, „welche den juristischen Regeln von Nüchternheit, Sachlichkeit, Kürze, Klarheit, Disziplin folgt.“ 195 Die Relation ist aus dieser Perspektive in ihrer Gesamtheit ein Kunstwerk. 196 Die Geschichtserzählung sei schon auf die eigentliche Lösung des Falles und damit auf die anzuwendenden Rechtssätze hin formuliert; in der Geschichtserzählung müssten keine wahren Begebenheiten geschildert werden, sondern die Wahrheit der Erzählung ergäbe sich daraus, dass sie in das Ganze der Relation passt. 197 In Folge der Formulierung der Erzählung in Bezug zum Recht werde Wesentliches von Unwesentlichem getrennt, weswegen die Geschichtserzählung die Lösung des Falles schon verborgen inkludiere. 198 „Deshalb wird nicht eine Geschichte erzählt, sondern von vornherein ein Rechtsfall ausgebreitet - ein Fall somit, der immer schon im Horizont des Rechts steht und von ihm her formuliert wird.“ 199 Die Geschichte hätte zugleich wertneutral erzählt werden müssen, was im Zusammenspiel mit der allgemeinen wissenschaftlich-theoretischen Rechtsausführung ein Zurücktreten der Individualität des Verfassers evoziere. 200 Die durch die Präsentation des Falles erzeugte Spannung würde durch die Synthese von Fall und Recht gelöst. 201 Während Schild und Meyer-Krentler vor allem die Form der Relation in Beziehung zu ihrem Inhalt analysierten, untersuchte Filippo Ranieri die argumentative Praxis am Beispiel des Umganges des RKGs mit Präjudizien. 202 Dabei 192 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 168; Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'” 131- 40. 193 Ibid., 131; Schild, “Relationen und Referierkunst,” 169. 194 Ibid., 170; Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'” 137-45. 195 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. 196 Ibid. 197 Ibid. 198 Ibid. 199 Ibid., 171 200 Ibid., 170f. 201 Ibid., 171 202 Ranieri, “Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren,” 177. <?page no="46"?> 47 konnte Ranieri nachweisen, dass das RKG seine Präjudizien generell als bindend ansah. 203 Dieser kursorische Einblick in die richterliche Argumentationspraxis kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die argumentative Praxis frühneuzeitlicher Gerichte noch im Dunkeln liegt, 204 wobei das Werk von Peter Oestmann „Rechtsvielfalt vor Gericht“ Licht in den Bereich gebracht hat. 205 Bezeichnenderweise beschäftigen sich die bisherigen Untersuchungen mit der Reichsgerichtsbarkeit, welche jedoch, wie dargelegt wurde, im Laufe der Frühen Neuzeit an Relevanz eingebüßt hatte. Ranieris Feststellung, dass Studien zur rechtspraktischen Argumentationskultur noch ein Desiderat darstellen 206 , gilt also im besonderen Maße für die im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts an Relevanz gewinnenden territorialen Obergerichte. Dabei liegen grundlegende Arbeiten zur frühneuzeitlichen juristischen Argumentationskultur vor, nur wurden als Quellen präskriptive Texte genommen. So konnte der Rechtshistoriker Helmut Coing aufzeigen, dass die Juristen des usus modernus pandectarum den „Codex juris Justiani“ als auch das „Decretum Gratiani“ mit der antiken philosophischen, syllogistischen Logik im Gewand der mittelalterlichen Scholastik bearbeiteten. 207 Dabei arbeiteten sie zum einem die dem Fall zu Grunde liegende Entscheidung des kasuistisch aufgebauten ius utrumque (kanonisches und römisch-gemeines Recht) heraus und subsumierten alle ähnlich gelagerten Fälle; es dominierte also die Subsumptionsmethode. Zum anderen versuchten sie einen Rechtsgedanken freizulegen, welcher zur Lösung von Fragen genutzt werden konnte, die im Codex selbst nicht besprochen wurden. In der Folge wird zum einem apodiktisch geschlossen; es wird also aus selbstevidenten Prämissen auf notwendig wahre Schlüsse deduziert. Zum anderem sollten jedoch auch für zweifelhafte Probleme induktiv Ausgangsätze gefunden werden. Es galt dann diese gefundenen Ausgangssätze argumentativ zu untermauern. Dieser Bereich wurde Topik genannt. In dem Bereich der Topik wurde dialektisch geschlossen, d.i. von wahrscheinlich wahren Prämissen auf wahrscheinlich wahre Konklusionen induziert. 208 Eine besondere Rolle im Bereich der Topik kam dabei den Analogieschlüssen und Distinktionen sowie den Limitationen (Begrenzungen) und Ampliationen (Erweiterungen) zu. Darüber hinaus war auch die Extrapolation von großer Relevanz, da die zeitgenössischen Juristen versuchten, mit dieser aus Rechtsstellen Obersätze für syllogistische Argumentationen zu gewinnen. Dabei werden 203 Ibid., 187. 204 Ibid., 180. 205 Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, 6. 206 Ranieri, “Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren,” 184. 207 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 17-25. 208 Ranieri, “Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren,” 179; Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 5-25. <?page no="47"?> 48 mittels der Extrapolation Argumente entwickelt, welche man mittels Methoden der Topik zur Konstruktion der Obersätze benutzte. 209 Neben den Juristen des usus modernus wirkten ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch die aufgeklärten Vernunftrechtler - wie Samuel Pufendorf, Christian Thomasius oder Christian Wolff - welche sich auf die auf Descartes zurückgehende systematisch-axiomatische Methode stützten. 210 Für diese bildete nunmehr Deduktion, Induktion, Axiom, Beobachtung, analytische und synthetische Methode die Basis ihrer Arbeiten. Dabei änderte sich aber nicht nur die kausale Struktur ihrer Argumentation, sondern zugleich gewann die Beobachtung an Relevanz. Noch wichtiger ist, dass sie Prämissen, welche die Juristen des usus modernus pandectarums voraussetzen, desavouierten. So wurde die christliche Moraltheologie durch eine säkulare Sozialethik ersetzt. Es ist also nicht allein eine Verschiebung der Methodik zu erkennen, sondern auch eine Änderung der Akzeptanzstrukturen für die Prämissen. 211 Neben der Analyse der Form der obergerichtlichen Relationen soll hier die jeweilige obergerichtliche Argumentationskultur untersucht werden. Es ist offensichtlich, dass gerade die Argumentationen in den Relationen von großer Relevanz für die Frage sind, wie Obergerichte Wahrheiten über Juden in zivilrechtlichen Prozessen fanden. Nun soll nicht einfach die argumentative Struktur in den forschenden Blick geraten, sondern auch die an den verschiedenen Gerichten akzeptierten Prämissen sollen eruiert werden. Gerade für die Frage nach der Wahrheitsfindung über Juden ist es von Bedeutung zu untersuchen, welche Prämissen von den Richtern in ihren Argumentationen überhaupt genutzt werden konnten. Als Quellenbasis für die in dieser Arbeit angelegte Analyse dienen Relationen von 54 Verfahren. Es wurden alle Relationen berücksichtigt, die im Laufe eines Verfahrens erstellt wurden und die heute zugänglich sind. Somit sind sowohl Relationen in den Blick geraten, die wirklich den Endpunkt eines Verfahrens darstellten, als auch Relationen, mit denen letztlich nur der weitere Verfahrensverlauf organisiert wurde, da ein Gericht sich (vorerst) nicht in der Lage sah, ein Endurteil zu produzieren. Die verfügbare Anzahl an Relationen über Verfahren mit jüdischer Beteiligung im Untersuchungszeitraum fiel sehr unterschiedlich aus. Für das Branden- 209 Ibid., 23. 210 Ibid., 69f; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 254. 211 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 70ff; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 254ff. Ferner ist eine zeitgenössische Definition der naturwissenschaftlichen Methode zu finden in: Spinoza, Descartes' Prinzipien der Philosophie: in geometrischer Weise dargestellt mit einem Anhang, enthaltend Gedanken zur Metaphysik. Principia philosophiae Cartesianae &lt, 3 Die Definition wird nicht von Spinoza, sondern dem zeitgenössischen Herausgeber des Werkes, Ludwig Meyer, im Vorwort gegeben. <?page no="48"?> 49 burg-Ansbacher Landgericht ließen sich 44 Verfahren mit jüdischer Partizipation finden. 212 Von diesen Verfahren wurden 20 analysiert. Für den Kurkölner Hofrat konnten 102 solcher Verfahren gefunden werden, wobei nur für 68 Verfahren Relationen vorliegen. Es konnte ferner dem Findbuch entnommen werden, dass in 62 Verfahren Juden Christen verklagten. In vier Verfahren waren sowohl Kläger als auch Beklagter jüdischen Glaubens. Diese Zahlen deuten zumindest daraufhin, dass die Kurkölner Juden Vertrauen in die Rechtsprechung des Hofrates hatten. 213 Von den am Kurkölner Hofrat anhängigen Verfahren wurden ebenfalls 20 untersucht. Am Jülich-Berger Hofrat waren im 18. Jahrhundert 39 zivilrechtliche Prozesse mit jüdischer Beteiligung anhängig. Allerdings konnten nicht für alle 39 Verfahren auch die Relationen gefunden werden, sodass allein 14 Jülich-Berger Verfahren analysiert wurden. Auch in Jülich-Berg traten Juden häufiger als Kläger denn als Beklagter auf. 214 Für die beiden niederrheinischen Territorien lässt sich also festhalten, dass die Juden den Obergerichten mit einem gewissen Maß an Vertrauen gegenüberstanden. Die Verfahren wurden aus den jeweiligen Quellenbeständen zu den einzelnen Gerichten nach Zufallsprinzip ausgewählt, jedoch mit der Einschränkung, dass eine empirisch angemessene Verteilung über den gesamten Untersuchungszeitraum je Gericht erreicht werden sollte. Bezüglich dieses Vorhabens gilt es zu konstatieren, dass die Anzahl der Verfahren (auf die wir heute noch über die Gerichtsakten Zugriff haben) mit der Zeit anstieg. So fanden die meisten Verfahren an allen drei Gerichten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts statt. Diese Entwicklung muss sich aus rein pragmatischen Gründen auch in dem Quellenkorpus dieser Arbeit widerspiegeln, da gerade für die beiden Hofräte für die erste Jahrhunderthälfte nur wenig Akten und Relationen über Verfahren vorliegen. Es konnte im Rahmen dieser Untersuchung nicht festgestellt werden, wie dies zu erklären ist. Es ist möglich, dass Kassationen, Weltkriege und andere Ereignisse Quellen über Verfahren vor 1750 großflächig vernichtet haben. Ebenso möglich ist es, dass der Anstieg an Quellen mit zeitgenössischen Entwicklungen zu erklären ist, und im Laufe des 18. Jahrhunderts tatsächlich die Anzahl an Verfahren mit jüdischer Beteiligung anstieg. Die Relationen zu den insgesamt 54 Verfahren sollen mittels der Diskursanalyse dekonstruiert werden, um zu verstehen, wie Obergerichte im 18. Jahrhundert Wahrheiten über einzelne Juden fanden und welchen Einfluss zeitgenössische antijüdische Wissensbestände auf die obergerichtliche Wahrheitsfindung hatten. Die speziell für diese Arbeit entwickelte Variante der Diskursanalyse, mit der die Relationen untersucht wurden, soll im folgenden Kapitel anhand eines Beispielfalles erläutert werden. 212 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a, Kaiserliches Landgericht. 213 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III. 214 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat. <?page no="49"?> 50 1.8 Diskursanalyse Als im ausgehenden 18. Jahrhundert der in Kurköln ansässige Bauer Gerard Tosten ein Pferd von dem ebenfalls aus Kurköln stammenden jüdischen Händler Chile Moses kaufte, begann die Geschichte eines Zivilprozesses, welcher schließlich als Appellationsprozess am Kurkölner Hofrat verhandelt werden musste. 215 Als Tosten entdeckte, dass das Pferd unter Koldern - einer Pferdekrankheit 216 - litt, wollte er den Handel annullieren. Da Moses dieses Ansinnen nicht teilte und alle außergerichtlichen Schlichtungsversuche 217 gescheitert waren, wandte sich Tosten an ein Kurkölner Untergericht. Nachdem er diesen Prozess verloren hatte, appellierte er an den Kurkölner Hofrat. Dort ging der Zivilprozess in die zweite Runde. Die Kurkölner Hofräte mussten sich nun der gleichen Herausforderung stellen wie die Unterrichter. Moses und Tosten hatten im Zuge der Gerichtsverfahren widersprüchliche Behauptungen über den Sachverhalt aufgestellt. Moses behauptete, dass er sich mit Tosten schon verglichen habe, während Tosten von einem solchen Vergleich nichts wissen wollte. Der hofrätische Referent musste diesen Widerspruch bezüglich des Sachverhaltes auflösen, wollte er zu einem Urteil gelangen. Letztlich stellte er fest, dass kein Vergleich stattgefunden habe und Moses das Pferd zurücknehmen müsse. 218 Er stellte also in seiner Relation einen Sachverhalt fest, zu dem er dann das passende Urteil fand. Generell war und ist es möglich, dass Parteien konfligierende Sachverhaltsbehauptungen aufstellen - also sich widersprechende Darstellungen der Ereignisse vor Gericht behaupten. Es war und ist dann die Aufgabe eines Gerichts sich auf eine Version der Ereignisdarstellung festzulegen und zu dieser ein Urteil zu finden. 219 Nun stellte der Referent eben jenen Sachverhalt fest, den Tosten in seinen Eingaben behauptet hatte. Die Sachverhaltsbehauptungen Tostens stehen jedoch nur in einem mittelbaren Verhältnis zu dem letztlich verkündeten Urteil und somit zu der darin enthaltenden Wahrheit. Sie werden erst durch die Relation des Referenten und insbesondere dessen Sachverhaltsfeststellung in eine Beziehung zu der vom Hofrat letztlich im publizierten Urteil verkündeten gefundenen Wahrheit gesetzt. Die Sachverhaltsfeststellung des Referenten hingegen steht in einer unmittelbaren Beziehung zu der gerichtlich gefundenen 215 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II T 19. 216 Die Pferdekrankheit schwächt das Pferd und mindert das Leistungspotential des Tieres. 217 Zur außergerichtlichen Schlichtung und zur Justiznutzung: Martin Dinges, “Justiznutzung als soziale Kontrolle in der frühen Neuzeit,” in Kriminalitätsgeschichte, ed. Andreas Blauert and Gerd Schwerhoff (Konstanz, 2000). 218 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II T 19. 219 Ludger Hoffmann, “Vom Ereignis zum Fall: Sprachliche Muster zur Darstellung und Überprüfung von Sachverhalten vor Gericht,” in Jörg Schönert, Erzählte Kriminalität, 197ff. Ludger Hoffmann analysierte jedoch nicht die frühneuzeitliche, sondern die moderne Rechtspraxis. <?page no="50"?> 51 Wahrheit. Den Sachverhaltsbehauptungen der Parteien kam also nur ein mittelbarer, den Sachverhaltsfeststellungen der Referenten ein unmittelbarer Wahrheitsanspruch zu. 220 Die bisherige Forschung konstatiert, dass die Einhaltung poetischer und rhetorischer Regeln die Wahrheit des Inhaltes einer Relation bedinge. 221 In ähnliche Richtung argumentiert auch der Jurist Wolfgang Nauck, wenn er ausführt, die Erzählung des Sachverhaltes entlang des abstrakten materiellen und prozessualen Rechts 222 würde dessen Wahrheit besorgen. 223 Der höhere Wahrheitsanspruch einer richterlichen Sachverhaltsfeststellung ergab sich demnach aus dem Umstand, dass dieser, eine spezifische Form wahrend, seine Feststellung seinen Kollegen präsentierte. Nun untersuchte die historische Forschung bisher jedoch allein Entscheidungssammlungen und Anleitungswerke zur Verfertigung von Relationen. 224 In Entscheidungssammlungen wird die richterliche Feststellung von Sachverhalten nicht behandelt. In ihnen wurden Relationen abgebildet, in deren species facti keine strittigen Sachverhalte, sondern feststehende Tatsachen vermittelt wurden. Ihr primärer Zweck war, Juristen die Anwendung des Rechts zu lehren. „Die richterliche Ermittlung eines verwikkelten [sic] Sachverhaltes ist rechtsdogmatisch belanglos“ und „verdürbe die beste Argumentation“, führt Meyer-Krentler dazu aus. 225 Dementsprechend sparten die Entscheidungssammlungen die richterliche Sachverhaltsfeststellung aus und fokussierten die Anwendung des Rechts auf einen feststehenden Sachverhalt. In den Anleitungswerken werden zwar Angaben zur Sachverhaltsfeststellung gegeben und einige dieser Werke beinhalten auch exemplarische Relationen, jedoch gaben die bis dato analysierten Anleitungswerke allein Ratschläge zum Verfassen von Relationen für die Strafrechtsprechung. 226 Sie sollten den juristisch gebildeten Rezipienten als Unterrichtsmaterial dienen, sodass in diesen dargelegt wurde, welchen formalen, juristischen und rhetorischen Ansprüchen eine Relation genügen musste. 227 In der Folge untersuchte die stark linguistisch geprägte Forschung bisher primär die Einwirkung der formalen und rhetorisch- 220 Ibid., 110. Hoffmann legt dar, dass ein der Phase des geschlossenen Vorhanges vorgelagerter forensischer Diskurs für die Entscheidungsfindung genutzt wurde. 221 Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'”, 118f, 124f; Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. Die Arbeiten sind an dem „jüngeren“ Erzählmodell orientiert. Vgl. Hoffmann, “Vom Ereignis zum Fall,” 90. 222 Prozessuales Recht behandelt das Verfahren. Unter dem Begriff des materiellen Rechts sind hingegen die zivil- und strafrechtlichen Normen subsumiert. 223 Wolfgang Naucke, “Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht,” in Jörg Schönert, Erzählte Kriminalität, 63. 224 Schild, “Relationen und Referierkunst.”, 159ff, 165ff. 225 Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'” 125. 226 Ibid., 131-37. 227 Ibid. <?page no="51"?> 52 poetischen Ansprüche auf das in den Relationen Dargestellte 228 und konstatiert, dass die Einhaltung der Form die Wahrheit des Inhaltes bedinge. 229 Ich untersuche hingegen zivilrechtliche Relationen, welche in der obergerichtlichen Relationspraxis verfasst wurden und interessiere mich insbesondere dafür, wie die letztlich in einem von einem Obergericht verkündeten Urteil enthaltende Wahrheit über die Parteien zustande kam. Die Ausführungen Schilds und Meyer-Krentlers geben nun keine Antwort auf diese Frage, da sie allein erklären, was die Wahrheit des Inhaltes einer(! ) Relation bedingt. Damit geben sie Auskunft, was den höheren Wahrheitsanspruch einer Relation in Beziehung zu den Vorbringungen der Parteien rechtfertigte. Sie erklären jedoch nicht, wie der Inhalt einer Relation letztlich wahr, der in der Relation enthaltende Urteilsvorschlag also den Parteien als Urteil verkündet wurde. Nun mag auf den ersten Blick die Antwort ebenfalls die Einhaltung der Form seien. Jedoch kam es in zivilrechtlichen Prozessen vor, dass zu einem Fall mehrere sich widersprechende Relationen verfasst wurden. Im Verfahren Moses wider Tosten wurde eine Relation von einem Referenten verfasst, in der Moses ein betrügerischer Handel mit einem kranken Pferd zum Nachteile Tostens nachgesagt und das Zustandekommen eines Vergleiches verneint wurde. Der Koreferent hingegen bestätigte in seiner Relation das Zustandekommen des Vergleichs. 230 Beide Relationen folgen einem analogen formalen Muster und beide Sachverhaltsfeststellungen sind an denselben materialrechtlichen und prozessrechtlichen Normen orientiert. Ohne jeden Zweifel sind die beiden Relationen auch jeweils in gleichem Maße kohärent. Laut den Ausführungen in der Forschungsliteratur wäre der Inhalt beider Relationen wahr. In linguistischer Perspektive stellt dies kein Problem dar, da man jede Relation für sich betrachten kann und so das Problem widersprüchlicher Relationen nicht auftaucht. In der Rechtspraxis muss das Problem hingegen aufgelöst werden, da widersprüchliche Relationen nicht gemeinsam ein Urteil konstituieren können. Vielmehr konnte aus rechtspraktischer Perspektive nur der Inhalt einer Relation zu einem Fall wahr sein, der Inhalt der anderen, dieser widersprechenden Relationen musste hingegen unwahr sein. Die bisherigen Ausführungen zur Relationstechnik verdeutlichen bereits, dass es um einen spezifischen Wahrheitsbegriff geht, der nicht von den wirklichen geschehenen Ereignissen abhängt. 231 Ontologisch ist die Wahrheit nicht ein Teil des Seins eines Sachverhaltes, sondern ein Attribut, dass diesem - von Menschen - zugesprochen wird. Im Verfahren Tosten wider Moses wurde letztlich für wahr angenommen, dass zwischen den beiden Parteien ein Vergleich geschlossen worden war, da das 228 Ibid. 229 Ibid. Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. 230 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II T 19. 231 Schild, “Relationen und Referierkunst.”, 169f. <?page no="52"?> 53 Hofratskolleg die Relation des Koreferenten annahm und auf dessen Grundlage ein Urteil formulierte. 232 Es war also gerade der mehrheitliche Zuspruch des Kollegs zur Sachverhaltsfeststellung des Koreferenten, der diese wahr werden ließ. Aus rechtspraktischer Perspektive ist also die Wahrheit der Sachverhaltsfeststellung nicht allein von der Einhaltung formaler Bedingungen, sondern auch vom Votum der Richterkollegen abhängig. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Sachverhaltsfeststellung eine diskursive Form der Wahrheitsproduktion darstellt. 233 Ein Diskurs wird dabei verstanden als „das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden […] wird.“ 234 Diskurs wird in dieser Arbeit als ein (semiotisches) Wahrheitsproduktionssystem verstanden, mit dem an einem Diskurs partizipierende Menschen innerhalb der einen Diskurs konstituierenden diskursiven Regeln wahres Wissen produzieren, dessen Wahrheit allein von der Durchsetzung des Wissens innerhalb des Diskurses begründet wird. Allerdings ist ein Diskurs nicht statisch, seine Regeln sind nicht unveränderbar, sondern Diskurse können einen Wandel durchlaufen. 235 Eine Relation stellt also eine Form 236 der Eingabe in einen spezifischen Diskurs dar, in dem wahre Sachverhalte konstituiert werden. Dieser Diskurs lässt sich dabei bezüglich seiner Gegenstände und der Diskursteilnehmer relativ genau bestimmen. Die Diskursteilnehmer waren cum grano salis die an einem Gericht angestellten Richter. Ich gehe demnach davon aus, dass eine Sachverhaltsfeststellung nicht in einem allgemeinen alle (Ober-)Gerichte des Reiches umfassenden Diskurs eingespeist wurde 237 , sondern dass dieser auf ein einzelnes 232 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II T 19. 233 Schon Wolfgang Schild sah im Verfassen von Relationen eine diskursive Praxis. Mithin erkannte auch er einen „juristischen Spezialdiskurs“, in dem die Relationen eingereicht wurden und der auf die Form dieser einwirkte. Schild, “Relationen und Referierkunst,” 169. 234 Michel Foucault, Dispositive der Macht, Über Sexualität, Wissen und Wahrheit (Berlin 1978), 51; Walter Seitter, “Politik der Wahrheit,” in Michel Foucault: Eine Einführung in sein Denken, ed. Marcus S. Kleiner (Frankfurt am Main, 2001), 160-168. Ferner für die Diskursanalyse einschlägig: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Historische Einführungen Bd. 4 (Frankfurt am Main, 2008); Philipp Sarassin, Michel Foucault zur Einführung, 2nd ed. (Hamburg, 2006); Franz Eder, ed., Das Gerede vom Diskurs: Diskursanalyse und Geschichte, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16,4 (Innsbruck [u.a.], 2005). 235 Jüngst wurde ein Sammelband zu diesen Thema veröffentlicht, in dem eine interdisziplinäre Perspektive auf „diskursiven Wandel“ geworfen wird. Siehe: Achim Landwehr, ed., Diskursiver Wandel, 1st ed. (Wiesbaden, 2010). An dieser Stelle muss dieser kurze Verweis auf die Veränderbarkeit von Diskursen ausreichen. Der Punkt wird in den analytischen Kapiteln dieser Arbeit wieder aufgenommen. 236 Es wird sich im Zuge der Analyse des Brandenburg-Ansbacher Obergerichts zeigen, dass auch weitere Formen der Eingaben in solche Diskurse möglich waren. 237 In der bisherigen Literatur wird jedoch solches implizit postuliert, da keine Unterschiede in der Relationspraxis zwischen verschiedenen Gerichten angenommen werden. Siehe „ex negativo“: Hoffmann, “Vom Ereignis zum Fall.”; Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'”; Naucke, “Die <?page no="53"?> 54 Gericht begrenzt war. Dies ergibt sich schon aus dem Umstand, dass die Wahrheit des Sachverhaltes allein von der Zustimmung des jeweiligen Kollegs abhing. Die Gegenstände des Diskurses bilden die Zwecke einer Relation: die Sachverhaltsfeststellung und die Urteilsfindung. Im Verfahren Tosten wider Moses brachten Referent und Koreferent also widersprüchliche Sachverhaltsfeststellungen ein und argumentierten für ihre jeweilige Darstellung. Letztlich überzeugte bekanntermaßen der Koreferent mit seiner Argumentation das Kolleg. Die Wahrheit seiner Sachverhaltsfeststellung hing somit von dessen Regelkonformität ab und von dem Umstand, dass er innerhalb der diskursiven Regeln überzeugendere Argumente für seine Sachverhaltsfeststellung präsentieren konnte als der Referent. Durch die mehrheitliche Zustimmung des Kollegs wurde sie wahr. In dieser Arbeit sollen solche Sachverhaltsfeststellungen diskursanalytisch dekonstruiert und so die zugrunde liegenden diskursiven Regeln an den einzelnen Gerichten offengelegt werden. Es gilt dabei ferner zu bedenken, dass es nicht möglich ist, in einem Diskurs die Prämissen frei zu wählen. Vielmehr ist in einem Diskurs festgelegt, welche Aussagen überhaupt geäußert werden dürfen und welche nicht. 238 Nicht sagbare Aussagen können nicht als Prämissen fungieren. Es gilt also auch zu analysieren, welche Prämissen innerhalb der bis hierhin skizzierten Diskurse genutzt werden konnten, gerade da Wahrheiten über Juden seitens der Richter gefunden werden sollten und im 18. Jahrhundert in und außerhalb der Gelehrtenrepublik antijüdische Wissensbestände kursierten. Nun stellten Referenten in ihren Relationen jedoch nicht nur einen Sachverhalt fest, sondern sie fanden auch das dazu passende Urteil. Auch die Wahrheit des in dem Verfahren Tosten wider Moses vom Koreferenten gefundenen und vom Kolleg angenommenen Urteils, dass Tosten das Pferd behalten müsse, hängt nicht davon ab, dass Tosten das Pferd wirklich behielt. Das Urteil war auf die Zukunft ausgerichtet, ohne dass dessen Wahrheit von der zukünftigen Erfüllung des Urteils abhing. Das Urteil war in dem Moment wahr geworden, als das Richterkolleg der Relation des Koreferenten mehrheitlich zustimmte und das Urteil später dann auch von dem Hofrat den Parteien verkündet wurde. Dem Urteil eines Referenten kam allein attributiv die Wahrheit zu, insofern er diskursregelkonform sein Urteil fand und seine Kollegen von diesem überzeugen Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht.”; Schild, “Relationen und Referierkunst.” 238 Landwehr, Historische Diskursanalyse, 92; Michel Foucault, Archäologie des Wissens. L' archéologie du savoir &lt: Dt.&gt, 16th ed., 356 (Frankfurt am Main, 2013), 186ff; Michael Imhof, “Stereotypen und Diskursanalyse: Anregungen zu einem Forschungskonzept kulturwissenschaftlicher Stereotypenforschung,” in Stereotyp, Identität und Geschichte: Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. [Die Beiträge diese Bandes beruhen auf Referaten einer gleichnamigen Tagung, die der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg … veranstaltete.], ed. Hans H. Hahn, 5 (Frankfurt am Main [u.a.], 1997), 65; Sarassin, Michel Foucault zur Einführung, 110. <?page no="54"?> 55 konnte. Die Wahrheit des Urteils verhält sich also analog zur Wahrheit des Sachverhaltes. Nicht die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit lassen Sachverhalt und Urteil wahr werden, sondern allein deren diskursive Produktion. Entsprechend soll in dieser Arbeit auch die Urteilsfindung diskursanalytisch dekonstruiert werden, um so die zugrundeliegenden diskursiven Regeln offenzulegen, welche die Wahrheit eines Urteils am jeweiligen Gericht bedingten. Auch für die Urteilsfindung gilt es zu bedenken, dass in dem hier skizzierten Diskurs nicht alles sagbar war und somit auch die Akzeptanzstruktur für Prämissen in der Urteilsargumentation davon abhängig war, ob und inwiefern eine Prämisse eine in dem Diskurs äußerbare Aussage darstellte. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass die Wahrheit von Sachverhalt und Urteil vor allem davon abhing, dass ein Referent innerhalb der den jeweiligen Diskurs konstituierenden Regeln seine Kollegen mittels Argumenten überzeugen konnte, sodass diese mehrheitlich dem Referenten folgten. Die Diskurse, in denen Referenten die Relationen platzierten, werden in dieser Arbeit Urteilsdiskurse genannt. Mit der hier vorgestellten Variante der Diskursanalyse lässt sich also feststellen, wie die drei Obergerichte allgemein und insbesondere über Juden Wahrheiten fanden. Bis hierhin wurden die rechtswissenschaftlichen Begriffe Wahrheitsfindung, Urteilsfindung sowie Sachverhaltsfeststellung verwendet, wie sie auch längst in Zeitungen verwandt werden. In den folgenden Analysekapiteln werden diese Begriffe keine Verwendung finden. An ihrer statt wird von Wahrheitsproduktion, Urteilsproduktion und Sachverhaltskonstruktion gesprochen. Das Suffix findung suggeriert ein investigatives Verfahren, dass eine Wahrheit findet, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt bzw. ein richtiges Urteil findet, dass juristisch gerechtfertigte Rechtsfolgen für Parteien darstellt. Die Begriffe atmen also die Auffassung der deutschen positivistischen Rechtswissenschaft, dass Gerichte Wahrheit finden können. 239 Dagegen wird durch die Suffixe produktion und konstruktion ein produktiv-kreatives Verfahren imaginiert, das Wahrheiten (diskursiv) erschafft. 1.9 Begriffe Im Laufe der Arbeit werden mehrere Begriffe juristischen Ursprungs genutzt, die an dieser Stelle ebenso erörtert werden sollen wie weitere im Verlauf dieser Arbeit relevante Termini. So werden in dieser Arbeit die Begriffe Rechtsverhältnis und Rechtsinstitut verwandt. Freilich machte erst Friedrich C. von Savingy - der große Mann der historischen Rechtsschule - die Begriffe einem breiten juristischen Publikum im 239 Krischer, Die Macht des Verfahrens, 7f; Tobias Herbst, “Die These der einzig richtigen Entscheidung.: . Überlegungen zu ihrer Überzeugungskraft insbesondere in den Theorien von Ronald Dworkin und Jürgen Habermas.,” in JuristenZeitung 2012, no. 67. <?page no="55"?> 56 19. Jahrhundert zugänglich. 240 Es scheint jedoch angebracht zu sein, die nichtzeitgenössischen Termini 241 zu verwenden, da schon Savingys Intention die Analyse und Systematisierung des Rechts der vergangenen Jahrhunderte war. 242 Dabei definierte er den Begriff des Rechtsverhältnisses als „sich […] zwischen Rechtssubjekten (Personen) bestehende, durch Rechtsregeln bestimmte Beziehungen. In Gestalt von Rechtsverhältnissen erscheint eine tatsächliche Beziehung (z.B. die Innehabung einer Sache) zur ‚Rechtsform‘ erhoben (als Sachherrschaft eines Eigentümers rechtlich anerkannt).“ 243 Es sind nicht alle sozialen Beziehungen zugleich auch Rechtsverhältnisse, so falle laut Savigny die Ehe nur partiell und die Freundschaft gar nicht in das Rechtsgebiet. 244 Das sich aus den Rechtsverhältnissen ergebene Netz an rechtlichen Beziehungen weist Muster auf, welche durch die Rechtsinstitute geprägt werden. 245 Savingy ordnete die Rechtsverhältnisse den Rechtsinstituten zu, wobei er zur Erklärung des Institutsbegriffs den Typenbegriff verwandte. 246 So können familienrechtliche Verhältnisse Typen familiärer Beziehungen wie der Ehe zugeordnet werden. 247 Anhand der Rechtsinstitute kann die Geschichte des Rechts im Sinne des Bestandes und der Veränderung von Recht verfolgt werden, da das Verschwinden, Auftauchen und die Transformation von Rechtsinstituten betrachtet und analysiert werden kann. 248 Ein größeres Problem als die vorigen Begriffe bildet der juristische Terminus Allegation. Dieser wird in der neueren rechtshistorischen Forschung als Anführung einer Schriftstelle definiert. 249 Jedoch konnte die bisherige Forschung aufzeigen, dass die Grenzlinie zwischen Beweis und Allegation nicht undurchlässig war. 250 Berücksichtigt man die Definition des Zedlerschen Lexikons, so liegt die 240 Roland Dubischar, Einführung in die Rechtstheorie, Die Rechtswissenschaft (Darmstadt: Wiss. Buchges, 1983), 12. 241 Freilich findet sich die Historisierung des Rechts schon im 18. Jahrhundert: Ibid., 9. 242 Ibid., 11-14. 243 Ibid., 13. 244 Ibid. 245 Ibid. 246 Ibid. 247 Ibid., 12, 3ff.. 248 Ibid., 13. 249 Adolf Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Köln, Wien, 1976), 292; Hermann U. Kantorowicz, “Die Allegationen im späteren Mittelalter,” in Das römische Recht im Mittelalter, ed. Eltjo J. H. Schrage (Darmstadt, 1987), 71; Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, 30. 250 Ibid., 31; Rudolf Brinkmann, Aus dem deutschen Rechtsleben: Schilderung des Rechtsganges und des Kulturzustandes der letzten drei Jahrhunderts auf Grund von Schleswig-Holstein- Lauenburgischen Akten des kaiserlichen Kammergerichts (Kiel, 1862), 27; Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555: Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, (Köln, 1981), 170ff; Peter Jessen, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellations- <?page no="56"?> 57 Vermutung nahe, dass die Allegation einen Spezialfall des Beweises darstellte, in dem Rechtsbehauptungen bewiesen werden sollten. In diesem Fall würde aber die gesamte Notorietätslehre in sich zusammenfallen. 251 In der Folge kommt Peter Oestmann zu dem Schluss, dass man die frühneuzeitliche Trennung zwischen Allegation und Beweis nicht mehr rekonstruieren könne. 252 Zwar ist Oestmann kaum zu widersprechen und es ist wirklich fraglich, ob ein Festhalten an dem Begriff der Allegation nicht unter diesen Gesichtspunkten problematisch ist. Jedoch wurden für diese Arbeit nicht dezidiert Fälle ausgesucht, in denen die Beweisproblematik thematisiert wurde. Oestmann verwies in seinem Werk „Rechtsvielfalt vor Gericht“ darauf, dass der seiner Arbeit zugrundliegende Quellenkorpus aus spezifischen Verfahren bestand, in denen Rechtssätze verschiedenster Rechtsmassen angewandt wurden. Dementsprechend trat in solchen Prozessen das Allegationsproblem deutlich zu Tage. Dahingegen wurden für diese Arbeit keine solchen Verfahren ausgewählt. Ferner fokussierte Oestmann das Allegationsproblem, während ich mit einem gänzlich andersgelagerten Forschungsinteresse auf die Quellen blicke. Dementsprechend werde ich die heute gängige weite Definition von Allegation in dieser Arbeit nutzen. Allegationen werden also als Anführungen von Rechtsquellen betrachtet und die Beweisproblematik wird in dieser Arbeit ausgeblendet. Ferner gilt es einige Ausführung zu den in dieser Arbeit auftauchenden Datierungen zu tätigen. Die Historikerin arbeitet generell mit exakten Daten. Eben diese wird man in dieser Arbeit jedoch nur selten finden. Häufiger wird erklärt, dass in einem spezifischen Jahrzehnt etwas geschehen sei. So wird man erfahren, dass irgendwann in den frühen 1760er Jahren ein Verfahren begann. Diese Ungenauigkeiten resultieren zum einem aus dem Quellenmaterial. Nicht immer ist es den Relationen zu entnehmen, wann ein Verfahren begann. Dies ist gerade dann der Fall, wenn ein Obergericht nachinstanzlich tätig wurde. Es wird zwar dann durchaus das erstinstanzliche Verfahren besprochen, aber nicht immer wird dargelegt, wann dieses exakt begann. Ebenso lässt sich nicht immer genau bestimmen, wann eine Realtion verfasst wurde und wann sie einen Kolleg referiert wurde. Auch dann kann nur ein ungefährer Zeitraum und kein exaktes Datum angegeben werden. Dies ist jedoch weniger problematisch, da für diese Arbeit exakte Datierungen nicht nötig sind. Es soll analysiert werden, wie in Urteilsdiskursen wahre Sachverhalte und Urteile produziert wurden und welche Rolle es spielte, wenn über jüdische Parteien Urteile gesprochen wurden. Eine exakte Datierung der Verfahren und der in diesen verlesenen Relationen kann im Zusammenhang der Arbeit bzw. dieses Vorhabens keinen Erkenntnismehrwert generieren. gerichts Celle (Aalen, 1986), 187; Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens: Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte / N.F.,18, (Aalen, 1973), 293. 251 Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, 31. 252 Ibid., 32. <?page no="57"?> 58 Zwar soll auch der diskursive Wandel der Urteilsdiskurse in den Blick geraten, jedoch lässt sich ein solcher generell schwerlich auf ein exaktes Datum fixieren. Nicht allein das Auftauchen einer neuen Aussage in einem Diskurs indiziert einen solchen Wandel, sondern erst der Umgang mit einer solchen Aussage in der Folgezeit. Allein wenn eine neue Aussage reproduziert wird und eine immer wichtigere Stellung in einem Diskurs einnimmt - d.i. sie neue Argumentationen ermöglicht, die im Diskurs reüssieren - kann von einem Wandel gesprochen werden. Dementsprechend lässt sich auch ein diskursiver Wandel nicht auf einen exakten Zeitpunkt, sondern nur auf einen Zeitraum fixieren. Ich werde ferner in den folgenden Ausführungen die Begriffe antijüdisch und judenspezifisch verwenden. Zwar gehören diese Begriffe zum Standartvokabular der jüdischen Geschichte, aber trotz dessen oder auch gerade deswegen scheint es angebracht diese Begriffe genauer zu definieren, will man sie analytisch verwenden. Mit dem Begriff antijüdisch werden allgemeine, diffamierende Aussagen über Juden bezeichnet, die als Prämisse eines gegen einen Juden gewandtes Argument dienen konnten. So wird die Aussage Alle Juden sind Betrüger als antijüdisch betrachtet, da man mit einer solchen argumentieren kann, dass, da alle Juden Betrüger seien, folglich auch eine spezifische jüdische Partei ein Betrüger sei. Dahingegen werden allgemeine, nicht diffamierende Aussagen über Juden, die nicht ohne weiteres eine Prämisse einer solchen gegen Juden gewandten Argumentation darstellen konnten, als judenspezifisch bezeichnet. Eine solche Aussage stellt zum Beispiel der Satz Alle Juden würden ihre Wechsel öffentlich zum Protest bringen dar. 1.10 Vorgehensweise Im Zentrum dieser Arbeit stehen drei Urteilsdiskurse und die Frage, wie in diesen Wahrheiten über Juden produziert werden konnten. Damit zusammenhängend gilt es zu untersuchen, unter Einhaltung welcher diskursiven Regeln generell Wahrheiten an den drei Obergerichten hervorgebracht wurden. Zur Beantwortung dieser Fragen wurde sowohl auf quantitative als auch qualitative Analysen zurückgegriffen. In der Folge ist diese Arbeit in zwei Blöcke gegliedert. In den nächsten vier Kapiteln werden die Ergebnisse der quantitativen Analysen dargestellt. Im Anschluss werden die Ergebnisse der qualitativen Analysen in drei umfangreicheren Kapiteln abgebildet. Während in den vier folgenden Kapiteln die drei untersuchten Urteilsdiskurse gemeinsam behandelt werden, behandelt jedes der qualitativen Analysekapitel einen Urteilsdiskurs. Kapitel 2. erörtert die Form der an den drei Gerichten verfassten Relationen. Es gilt sowohl das schon von der Forschung thematisierte Einwirken der Form auf den Inhalt anzusprechen als auch insbesondere dessen Einfluss auf die diskursive Wahrheitsproduktion zu erörtern. Es wird dann auch dargestellt, dass aus dem Zusammenwirken der Form, der Art der Präsentation der Relation und <?page no="58"?> 59 der kollegialen Verfassung der Obergerichte ein agonales Prinzip erwuchs, dem alle drei Urteilsdiskurse gleichermaßen unterworfen waren und das diese als Arenen ausgestaltete, in denen die Referenten notwendigerweise ihre Wahrheiten durchsetzen mussten. Ferner werden in diesem Kapitel auch die besondere Form der Jülich-Berger Relationen, die Brandenburg-Ansbacher Kurzvotenpraxis und die Veränderung der Form im Laufe des 18. Jahrhunderts an den einzelnen Obergerichten diskutiert. Im dritten Kapitel wird dargelegt, dass in allen Relationen die besprochenen Fälle unter das Recht subsumiert werden mussten und in der Folge in jeder Relationen dieses - zumindest in der Form der Subsumption - zur Sprache gebracht wurde, wobei den Referenten auch die Möglichkeit gegeben war, das Recht explizit zur Sprache zu bringen, indem sie Normen allegierten. Die Notwendigkeit das Recht in allen Relationen zur Sprache bringen zu müssen, verweist auf eine Verschränkung der Urteilsdiskurse mit normativen Diskursen. Ich werde in diesem Kapitel argumentieren, dass dabei die Urteilsdiskurse nicht mit einem das gesamte Reich betreffenden normativen Diskurs, sondern mit territorialen normativen Diskursen verschränkt waren. Ferner wird dargelegt, dass in den Urteilsdiskursen die Möglichkeit gegeben war, auch das mosaische Recht zur Anwendung zu bringen, wobei dies nur unter spezifischen Umständen erlaubt war und nur insofern dessen Anwendung mit dem ius commune oder dem partikularen Recht gerechtfertigt werden konnte. Aus der Verschränkung von Recht und Wahrheitsproduktion resultierte, dass man in den Relationen auch den juristischen Terminus Jude verwenden musste. Dieser Zusammenhang wird im vierten Kapitel erläutert und zugleich wird dargelegt, was für ein Bild die einzelnen Diskurse von der jüdischen Minderheit zeichneten und wie diese Judenbilder ebenfalls aus der Verschränkung von Recht und Urteilsdiskurs resultierten. Das fünfte Kapitel bespricht zwei für diese Arbeit und die damalige Wahrheitsproduktion relevante, vom Recht vorgegebene Argumentationsmuster. So wird zum einem die schon angesprochene forensische Interpretation und deren praktische Anwendung besprochen. Dabei wird aufgezeigt, dass es verschiedene Arten gab, einen Rechtssatz auszulegen und die Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten durchaus zu Debatten unter den Richtern über die richtige Interpretation eines Rechtssatzes führen konnte. Daneben werden die Präsumptionslehre und insbesondere die Präsumptio doli besprochen. Präsumptionen stellten ein wirkmächtiges Werkzeug für die Sachverhaltskonstruktion dar, da sie anstelle eines Beweises als Fundament eines Sachverhaltes dienen konnten. Es ist offensichtlich, dass gerade die Möglichkeit Betrug zu präsumieren (Präsumptio doli) für die Wahrheitsproduktion über Juden von besonderer Relevanz war. Allerdings war es allein im Kurkölner Urteilsdiskurs bis zum Ende des 18. Jahrhunderters zulässig mit einer Präsumptio doli zu argumentieren. Mit der Besprechung der Argumentationsmuster endet der quantitativ-analytische Block. <?page no="59"?> 60 In den daran anschliessenden drei Kapiteln werden die Ergebnisse der qualitativen Analysen vorgestellt. Im sechsten Kapitel werden zwei am Kurkölner Hofrat anhängige Verfahren vorgestellt und die diesbezüglichen gerichtlichen Urteilsproduktionen erörtert, wobei vor allem die Grenzen des Kurkölner Urteilsdiskurses und die Wandelbarkeit solcher Diskurse besprochen werden. Im siebten Kapitel werden die Wahrheitsproduktionen des Jülich-Berger Hofrates für drei Verfahren besprochen. Insbesondere erörtere ich, welchen Einfluss die Einbindung einer jüdischen Partei in ein Verfahren auf die Jülich- Berger Wahrheitsproduktion haben konnte und lege ferner dar, dass auch den zeitgenössischen Richtern der artifizielle Charakter ihrer Wahrheitsproduktion bewusst war. Das achte Kapitel bespricht drei Wahrheitsproduktionen des Kaiserlichen Landgerichts zum Burggrafentum Nürnberg. Hier werden die Grenzen des Uteilsdiskurses des KLG erörtert, der Modus der Stimmabgabe des Richterkollegs nach Verlesung der Relationen vorgestellt, das Zusammenspiel von Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion besprochen und die forensisches Auslegung eines judenspezifischen Rechtssatzes seitens der Landrichter analysiert. <?page no="60"?> 61 2. Das agonale Prinzip In diesem Kapitel soll die Form der obergerichtlichen Relationen in den Fokus der Analyse gerückt werden. Die bisherige Forschung beschäftigte sich mit den formalen Aspekten von Relationen und deren Wirkung auf das in diesen Dargestellte. 253 Allerdings wurden bis dato allein Entscheidungssammlungen und Anleitungswerke zur Verfertigung von Relationen diesbezüglich untersucht. Die bisherigen Erkenntnisse der Forschung sollen in diesem Kapitel mit den Ergebnissen einer diskurstheoretischen Analyse obergerichtlicher Relationen zusammengebracht werden. 254 Dieses Vorgehen scheint nicht allein von Nöten, da so nun die Analyse der zum Unterricht gedachten Textsorten mit der Analyse der in der obergerichtlichen Rechtspraxis verfassten Relationen zusammengebracht werden kann. Allen voran fokussierte die bisherige Forschung die Strafrechtsprechung 255 , dahingegen untersuchte ich Relationen, die in zivilrechtlichen Verfahren erstellt wurden. Aus der Wahl der Quellen und der Beschäftigung mit der Zivilrechtsprechung resultiert, dass die aus meiner Analyse gewonnenen Ergebnisse nicht mit den bisherigen Ergebnissen der Forschung kohärent sind. Die Diskrepanz der Ergebnisse gilt es in den folgenden Kapiteln zu erklären. Darüber hinaus legte die Analyse der Form der obergerichtlichen Relationen ein agonales Prinzip offen, dem alle drei untersuchten Urteilsdiskurse unterworfen waren und das die Diskurse und die in diesen eingeführten Relationen prägte. Primär sorgte dieses dafür, dass alle drei Urteilsdiskurse als Arenen ausgestaltet waren, in denen Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen durchgesetzt werden mussten. 253 Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'”; Schild, “Relationen und Referierkunst.” 254 Auch der Diskursanalytiker Philipp Sarasin beschäftigte sich jüngst mit den Zusammenhang der formalen Rahmenbedingungen eines Mediums und dessen Inhalt. Vgl. Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? , (2011), einzusehen unter: https: / / www.zgw.ethz.ch/ fileadmin/ ZGW/ PDF/ sarasin_wissensgeschichte_2011.pdf [eingesehen am 12.01.18]. 255 Ludger Hoffmann, “Vom Ereignis zum Fall.”; Hoffmann, Kommunikation vor Gericht; Meyer- Krentler, “'Geschichtserzählungen'”; Naucke, “Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht.”; Schild, “Relationen und Referierkunst.” <?page no="61"?> 62 2.1 Jülich-Berg: Die Relation als Medium verschiedener Diskurse Bevor der Blick auf die allgemeine Form von Relationen geworfen werden kann, muss eine Besonderheit der Jülich-Berger Relationspraxis erörtert werden. Dabei gilt es, die besondere politische Entwicklung Jülich-Bergs im 18. Jahrhundert zu bedenken. Als der Wittelsbacher Karl-Phillip 1716 das Amt des pfälzischen Kurfürsten antrat, verlor das im Territorium Jülich-Berg gelegene Düsseldorf den Status der Hauptstadt des pfalz-neuburgischen Länderkomplexes. Schon 1718 verlagerte nämlich der neue Kurfürst Karl Phillip seine Zentrale nach Heidelberg und dann 1720 nach Mannheim in die Kurpfalz. Die Verlagerung des Regierungssitzes objektiviert die neue Stellung, die Karl-Phillip Jülich-Berg im kurpfälzischen Länderverband zugedachte: Eine Randstellung. Er selbst betrat in seiner 26jährigen Herrschaft (1716-1742) das Herzogtum nicht ein einziges Mal. 256 1777 gelangte durch genealogische Zufälle die bayrische Kurwürde in die Hände der kurpfälzischen Wittelsbacher, die daraufhin 1778/ 79 ihren Regierungssitz nach München verlagerten und somit die politische und geographische Distanz zwischen kurpfalzbayrischer Zentrale und Jülich-Berg ausbauten. 257 Der Jülich- Berger Hofrat war also zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einem in der Hauptstadt ansässigen zu einem nebenländischen Obergericht gewandelt worden. In der Folge zeichnen sich die Jülich-Berger Relationen durch eine Besonderheit aus. Das Gros der Relationen ist mit „Durchlauchtigster Churfürst, Gnädigster Herr“ 258 überschrieben und somit an den Kurfürsten adressiert. 259 Die Adressierung an den Kurfürsten band diesen symbolisch in den richterlichen Entscheidungsfindungsprozess ein. Diese Einbindung korrelierte mit dem frühneuzeitlichen, in Jülich-Berg explizit geltenden Rechtsspruch voluntas principis suprema lex, der die rechtliche Grundlage für einen fürstlichen Machtspruch bildete. Basierend auf diesem Verständnis konnte ein Fürst ein Urteil in einem Verfahren aus eigener Machtvollkommenheit fällen. Der Kurfürst war also de 256 Härter, “Jülich-Berg,” 1174. 257 Engelbrecht, Das Herzogtum Berg im Zeitalter der Französischen Revolution, 29f; Jörg Engelbrecht, Landesgeschichte Nordrhein-Westfalen, 1827: Geschichte (Stuttgart, 1994), 134f; Härter, “Jülich-Berg,” 1174f. 258 Bzw. Variationen von dieser Ansprache an den Kurfürsten. 259 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1-11; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, Nr. B XVII 17, Relation 1,2; Nr. B VII 156, Relation 1,2; Nr. B VII 421, Relation 1. Ein großes Problem bei der Zitation von Relationen ist es, dass in vielen Fällen die Akten nicht paginiert sind. Hinzukommend wurden die in den Akten enthaltenden Relationen häufig mit identischen Überschriften versehen. Dies tritt insbesondere bei Jülich-Berger Relationen zu Tage (von denen viele mit „Durchlautigster Churfürst“ überschrieben sind). Aus diesen Gründen also scheint es angebracht zu sein, die jeweilig erste in einer Akte enthaltende Relation als „Relation 1“ zu bezeichnen und die weiteren Relationen nach ihrem Auftauchen in der Akte zu nummerieren. <?page no="62"?> 63 jure berechtigt, an der obergerichtlichen Wahrheitsproduktion zu partizipieren und auch allein eine Entscheidung zu fällen. Mithin war er letztlich der oberste Richter in seinen Landen. 260 Nun war die Adressierung an den Kurfürsten kein rein symbolischer Akt. Tatsächlich wurden die Relationen an den Kurfürsten resp. dessen Zentralregierung gesandt. 261 Dieser war dann auch durchaus bereit, an der Entscheidungsfindung zu partizipieren bzw. die Entscheidung zu treffen. 262 Nun war es nicht so, dass nicht auch an den anderen in dieser Arbeit untersuchten Obergerichten der Kurfürst in die Entscheidungsfindung eingreifen konnte. So lässt sich für einen Mitte des 18. Jahrhunderts vor dem Kurkölner Hofrat verhandelten Prozess festhalten, dass der Kurkölner Kurfürst per Reskript in den Prozess eingriff. Auch in Kurköln trat der Kurfürst als Entscheidungsinstanz auf, deren Entscheidung nicht seitens der Richter zu hinterfragen oder gar zu kritisieren war. 263 Zum einen wurden jedoch die Relationen in Kurköln nicht an den Kurfürst adressiert, zum anderen konnte der Kurfürst in das besagte Verfahren nur eingreifen, da er von einem seiner Untertanen per Supplik auf das Verfahren aufmerksam gemacht wurde. 264 Es ist also durchaus fraglich, ob die Relationen des Kurkölner Hofrates dem Kurkölner Landesherren generell vorgelegt werden mussten und dieser die obergerichtliche Entscheidungsfindung bestätigen musste. Zumindest wurden die Kurkölner und Brandenburg-Ansbacher Relationen nicht an den jeweiligen Landesherren adressiert und somit stellte dieser keinen möglichen Ansprechpartner dar, an denen die Referenten ihr Wort richten konnten bzw. mussten. In Jülich-Berg war nun das Ausmaß der Einbindung des Kurfürsten resp. dessen Zentralregierung in der hofrätischen Entscheidungsfindung ein anderes. Die Relationen wurden an diesen adressiert, wurden nach Mannheim bzw. München versandt und so war der Kurfürst als oberste richterliche Entscheidungsinstanz immer in die Entscheidungsfindung involviert. Mithin erkannten die Jülich-Berger Oberrichter die Einbindung und Stellung des Kurfürsten nicht nur an, sondern wussten diese auch zu nutzen. Als der Gerichtsstand eines Posthalters thematisiert und die Frage aufgeworfen wurde, ob dieser vor einem Jülich-Berger Untergericht überhaupt verklagt werden könne, traf der Hofrat keine Entscheidung, sondern informierte den Kurfürsten über die Sache und die diesbezügliche rechtliche Situation und bat diesen, die Entscheidung zu treffen. 265 Auch weitere im Verlauf des Verfahrens auftauchende Fragen beantworte- 260 Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 40. 261 Dies wird zumindest in einem Verfahren deutlich: Landesarchiv NRW. Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, Nr. B VII 238 a, F. 179r. 262 Ibid., F. 21v, 44v. 263 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 129, Relation 1. 264 Ibid. 265 Landesarchiv NRW. Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, Nr. B VII 105, Relation1, S. 40ff. <?page no="63"?> 64 te der Hofrat nicht, sondern bat den Kurfürsten um eine Entscheidung. 266 Ein vom Hofrat an das Düsseldorfer Stadtgericht gesandter Befehl gibt dann auch darüber Auskunft, dass der Kurfürst resp. dessen Zentralregierung die Entscheidung getroffen hatte, die der Hofrat in seinen zwei an den Kurfürsten gesandten Berichten vorbereitet hatte. 267 Die Jülich-Berger Referenten konnten also in ihren Relationen den Kurfürsten direkt ansprechen, um diesen so in die Entscheidungsfindung einzubinden. Die Kurkölner Hofräte und die Brandenburg- Ansbacher Landrichter hingegen sprachen ihren Landesherren nicht direkt an. Dieser taucht allein als handelnde Instanz, nicht aber als möglicher direkter Ansprechpartner in den beiden Urteilsdiskursen auf. 268 Die besondere Ausprägung der Jülich-Berger hofrätischen Entscheidungsfindung dürfte ein Resultat der Distanz zwischen Zentralregierung und nebenländischem Obergericht sein. Die Sendung der Relationen nach Mannheim bzw. München und die Adressierung an den Kurfürsten legitimierten den nebenländischen und folglich politisch und geographisch von dem obersten Richter distanzierten Jülich-Berger Urteilsdiskurs. Daraus resultierte jedoch, dass die Zentralregierung dann auch faktisch in die Entscheidungsfindung involviert war, auch wenn dies nicht bedeutete, dass sie dann auch tatsächlich immer die Entscheidung traf. Zumindest lassen sich Verfahren ausmachen, in denen die Relationen an den Kurfürsten adressiert waren und auch an diesen versandt wurden, die Entscheidung jedoch schon am Hofrat getroffen worden war und dem Kurfürsten übermittelt wurde, der diese dann bloß noch absegnen sollte. 269 Die Einbindung des Kurfürsten in die obergerichtliche Entscheidungsfindung und die Option, diesen direkt anzusprechen, bot den Jülich-Berger Oberrichtern Möglichkeiten, (justiz-) politische Themen diesem zu präsentieren, in dem sie diese in Relationen thematisierten. Sie konnten die Relationen also auch für Zwecke nutzen, für die diese nicht gedacht waren. Als die kurfürstliche Zentrale aus Jülich-Berg in die Pfalz verlagert wurde, merkte ein Referent in seiner Relation zum Verfahren von Weis wider Beer an, dass der Regierungsrat zu Heidelberg eine Entscheidung in der Sache getroffen habe, die das vor dem Hofrat noch offene Verfahren von Weis wider Beer beträfe. „So viele Gelder als des Graffen von Wysers Forderung ausweistt, zu Heydelberg in Deposito, bis zu Austrag der daselbsten befangegen Sache verbleiben sollten, inmittels aber da Inhalts de- 266 Landesarchiv NRW. Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, Nr. B VII 105, Relation 2, S.47ff. 267 Landesarchiv NRW. Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, Nr. B VII 105, „An hiesiges Stadtgericht“. 268 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 129, Relation 1. In dieser ist verzeichnet, dass die in der Relation dargelegte Entscheidung erst realisiert werden könne, nachdem das von dem Kurfürsten bezüglich des Falles erlassene Reskript umgesetzt wurde. 269 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, Nr. B XVII 17, Relation 1, F. 45v-53r, Relation 2, F. 60v-70r. <?page no="64"?> 65 ro churpfälzischen Regierung unterthänigsten Bericht zu Heydelberg die in deposito übrig bliebenen Gelder, ohne unseres Vorwissens auch anhero remittiret, und obgemeld Juden Joseph Jacob von Geldern mit ausgefolget worden seyendt.“ 270 In den folgenden Passagen wurden dann die juristischen Folgen und die Konsequenzen der Entscheidung des Regierungsrates für den Jülich-Berger Hofrat expliziert. Diese Passus dienten offensichtlich nicht der gerichtlichen Wahrheitsfindung (sondern es wurde aufgezeigt, welche Exekutionsprobleme aus dem Handeln des Regierungsrates für den Jülich-Berger Hofrat erwachsen konnten). Sie waren auch nicht an das Hofratskolleg, sondern allein an den Kurfürsten adressiert. Der Jülich-Berger Hofrat wollte mittels der Relation den Kurfürsten über die aus seiner Sicht fragwürdigen Handlungen des Regierungsrates aufklären und hoffte auf daraus resultierende Konsequenzen für diesen. Diese Passagen sind also in einem anderen Diskurs als dem Urteilsdiskurs zu verorten. Sie sind Teil eines justizpolitischen Diskurses. So waren die beiden Oberbehörden generell in stetigen (jurisdiktiven) Kompetenzstreitigkeiten verfangen. Zwar versuchte die Landesobrigkeit, diese und andere Justizmißstände durch zahlreiche Verordnungen zu beheben; zu einer durchgreifenden Justizreform kam es jedoch nicht, sodass noch im 18. Jahrhundert die beiden Oberbehörden weniger nebenals vielmehr gegeneinander agierende Teile des kurpfälzischen Regierungsapparates darstellten. 271 Die Einbindung des Kurfürsten in die Entscheidungsfindung und die Option, diesen ansprechen zu können, öffnete also für die Hofräte ein Tor, um den Kurfürsten auch über justizpolitische Themen zu informieren. In der Folge wurde die Relation zu einem Medium verschiedener Diskurse. Sie blieb das Medium, mit dem Aussagen in den Urteilsdiskurs eingeführt wurden und dessen Zweck die obergerichtliche Wahrheitsfindung darstellte. Zugleich erreichten die Relationen das Ohr des Kurfürsten. Sie boten den Jülich-Berger Hofräten die Möglichkeit mit diesen zu kommunizieren, ihn über (justiz- )politische Themen zu informieren und seine Hilfe zu erbitten. So war die Jülich-Berger Relation ein Medium, welches verschiedene Diskurse beheimaten konnte. 2.2 Die Form der obergerichtlichen Relationen Nachdem nun also die Besonderheiten der Jülich-Berger Relationspraxis erörtert wurden, soll die allgemeine Form der Relationen an den drei Obergerichten analysiert werden. Diese stellen eine besondere Textgattung dar. Zwar liegen sie heute allein in schriftlicher Form vor, ihr eigentlicher Zweck war es jedoch, vorgelesen zu werden. Der Inhalt einer Relation wurde von ihrem Verfasser - 270 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 6, F. 105 v und r. 271 Härter, “Jülich-Berg,” 1173. <?page no="65"?> 66 dem Referenten - seinen Richterkollegen referiert. Nicht umsonst sprachen zeitgenössische Anleitungswerke zum Verfertigen von Relationen auch von der Referierkunst. 272 Vielmehr noch ist sie eine spezifische Technik, um gerichtliche Verfahren in aufgearbeiteter Form einem Kreis aus Juristen zu präsentieren. 273 Nun gilt es vorab zu konstatieren, dass es zwei Typen von Relationen gab, die an den drei Obergerichten verfasst wurden. Ein jedes Verfahren, welches in einem Urteilsdiskurs besprochen wurde, taucht irgendwann das erste Mal in diesem Diskurs auf. Ein Referent präsentierte das Verfahren in der allerersten Relation, die zu dem Verfahren verfasst wurde - und die im Folgenden einfach als erste Relation bzw. Erstrelation sowie auch der Referent, der die erste Relation verfasste, einfach als erster Referent bzw. Erstreferent bezeichnet wird. Ein jedes Verfahren konnte innerhalb eines Urteilsdiskurses in weiteren Relationen weiter besprochen werden. Es wird sich im weiteren Verlauf zeigen, dass unterschiedliche formale Ansprüche an erste und weitere Relationen gestellt wurden. Relationen sollten gemeinhin mit den species facti beginnen. Nun gilt es zu konstatieren, dass die species facti in den obergerichtlichen zivilrechtlichen Relationen nicht den Relationen in den Entscheidungssammlungen entsprachen und nicht die Vorgaben der Anleitungsliteratur zur Verfertigung von Relationen einhielten. Zuerst einmal gilt es jedoch die Gemeinsamkeiten festzuhalten. Die species facti stellen in beiden Fällen faktische Erzählungen dar, die ohne theoretischen Unterbau auskommen. 274 Sie sind neutrale Schilderungen von Tatsachen. Auch ist der ordo naturalis in beiden Fällen der rote Faden der species fact. Die zeitliche Chronologie der Erzählung musste eingehalten werden. 275 Allerdings erzählen die obergerichtlichen Relationen in ihren species facti eine andere Geschichte, als sie von der Anleitungsliteratur gefordert wurde. Laut dieser sollten die species facti allein die Tat bzw. den zu beurteilenden Sachverhalt behandeln. Die eigentliche Geschichte des Verfahrens sollte erst nach den species facti als Prozessgeschichte von den Referenten referiert werden. 276 Die Referenten sollten die species facti aus den Gerichtsakten erarbeiten und in diesen die Tatsachen eines Sachverhaltes in einer spezifischen Form darstellen. 277 Dahingegen wies der absolute Großteil der an den Obergerichten verfassten Relationen eine zweigeteilte Form auf, deren zweiter Teil das Votum bildete. Der davor gesetzte, meistens nicht mit einer Überschrift versehene Teil der Relationen bildete die Tatsachen als faktische Erzählung ab, wobei die Erzäh- 272 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. 273 Zur Perspektive, Relationen als Technik zu begreifen: Ranieri, “Entscheidungsfindung und Technik der Urteilsredaktion in der Tradition des deutschen Usus modernus: Das Beispiel der Aktenrelation am Reichskammergericht.”; Schild, “Relationen und Referierkunst,” 165ff. Mithin benannte Schild das dritte Kapitel seines Aufsatzes „Die Relationstechnik“. 274 Meyer-Krentler, “'Geschichtserzählungen'” 132. 275 Ibid. 276 Ibid., 133. 277 Ibid. <?page no="66"?> 67 lung dem ordo naturalis folgt. 278 Der erste nicht überschriebene Teil bildet also die species facti ab, die nicht erst von der heutigen Forschung, sondern auch schon von den Zeitgenossen als Erzählung des Verlaufs einer Sache verstanden wurden. 279 Nun berichteten die Oberrichter jedoch in den obergerichtlichen species facti allen voran von dem Verfahren. Sie begannen ihre species facti auch nicht mit der Tat 280 , sondern mit der Klageerhebung. 281 So konstatierte ein Kurkölner Referent in den 1780er Jahren zu Beginn seiner Relation, dass im „späten July 1778 […] Gabriel Broch […] bey […] Gericht klagend 278 Vgl. z.B.: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1; Nr. II H 33, Relation 1; Nr. II W 72 a, Relation 1; Nr. II W 71, Relation 1; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1; B XXVIII 4, Relation 1; B VII 156, Relation 1; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763) , Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 1. 279 Siehe: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirtschaft in alphabetischer Ordnung, 1773-1858 in 242 Bänden erschienen, Species facti. Einzusehen unter: http: / / www.kruenitz1.uni-trier.de/ xxx/ s/ ks23752.htm [zuletzt eingesehen am 18.02.2018]. 280 Eckhardt Meyer-Krentler, “‘Geschichtserzählungen‘“ 132ff. 281 Vgl. z.B.: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1; Nr. II H 33, Relation 1; Nr. II W 72 a, Relation 1; Nr. II W 71, Relation 1; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1; B XXVIII 4, Relation 1; B VII 156, Relation 1; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 1. <?page no="67"?> 68 vor[stellte].“ 282 Von der ersten Klageerhebung ausgehend bilden die obergerichtlichen species facti chronologisch die Verfahren ab. 283 Der ordo naturalis der Verfahren strukturierte also die species facti. Deren Finale bildete die eigentliche rechtliche Frage, die die Parteien an das jeweilige Obergericht stellten und die das Gericht beantworten sollte. 284 Das Verfahren bildet den Anfangs- und den Endpunkt der species facti und strukturiert diese. Dies resultiert jedoch wohl weniger aus einer Missachtung der Anleitungsliteratur seitens der Oberrichter, sondern ist wohl eher dem Umstand geschuldet, dass die species facti eine faktische Tatsachenerzählung sein sollten. Tatsachen konnten im Sinne der Anleitungsliteratur jedoch nur zwischen den Parteien unstrittige Sachverhaltsbehauptungen sein und zugleich mussten die Tatsachen mit Blick auf der im Votum zu 282 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 1. 283 Vgl. z.B.: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1; Nr. II H 33, Relation 1; Nr. II W 72 a, Relation 1; Nr. II W 71, Relation 1; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1; B XXVIII 4, Relation 1; B VII 156, Relation 1; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763) , Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78) , Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788) , Relation 1; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 1. 284 Vgl. z.B.: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, Relation 2; Nr. II H 33, Relation 1; Nr. II W 72 a, Relation 1, F. 1r; Nr. II W 71, Relation 1, Relation 5 „Votum coreferentis“, F. 14vf; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1, S. 53ff; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1, F. 5f; B XXVIII 4, Relation 1, F. 62rf; B VII 156, Relation 1, F. 2vf; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763) , Relation 1, F. 5v; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1, F. 4rf; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1, S. 8f; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1, F. 3v; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1. <?page no="68"?> 69 verrichtenden Rechtsanwendung relevant sein. 285 Nun war es in der obergerichtlichen Zivilrechtspraxis so, dass kaum Sachverhaltsbehauptungen von Parteien existierten, die zugleich unstrittig und mit Blick auf die Rechtsanwendung relevant waren. Es war eben nicht allein fraglich, wie der Sachverhalt rechtlich zu bewerten war, sondern der Sachverhalt selbst war fraglich. Somit blieb den obergerichtlichen Referenten nicht viel, wovon sie in den species facti berichten konnten. Das Verfahren - bzw. die Verfahren im Falle von nachinstanzlichen Prozessen - war tatsächlich prozessiert worden und konnte somit in den species facti abgebildet werden. Somit rückte jedoch zugleich der Streit der Parteien um das Geschehene in den Fokus der Erzählung. Die species facti der obergerichtlichen Relationen bilden den zu beurteilenden Sachverhalt als Streitgegenstand zwischen Parteien ab. Am Ende der species facti ist es noch nicht offensichtlich, was sich zwischen den Parteien zugetragen hatte. Es gibt noch keinen Sachverhalt, auf den Rechtssätze hätten angewandt werden können. Die species facti evozieren nicht allein die Frage, wie ein Fall rechtlich zu lösen ist 286 , sondern auch die Frage, was sich überhaupt zugetragen hatte - was der zu bewertende Sachverhalt ist. Mit den species facti breiteten die Referenten folglich einen Möglichkeitshorizont an Sachverhalten aus. Sie zeigten mit dem Streit der Parteien um den wahren Sachverhalt auf, dass die Konstruktion mehrerer Sachverhalte zu einem Fall möglich war und schon die Parteien sich darin versuchten verschiedene einander widersprechende Sachverhalte zu konzipieren. Hatte ein Referent seine species facti vorgetragen, so hatte er seinen Kollegen nicht einen rechtlich zu bewertenden Sachverhalt präsentiert, sondern mehrere mögliche Sachverhalte. Dass die Oberrichter nun trotz der fehlenden Tatsachen species facti verfassten, in diesen das Verfahren in den Mittelpunkt rückten und somit einen Möglichkeitshorizont an Sachverhalten skizzierten, verweist auf einen spezifischen Zweck der Relationstechnik in obergerichtlichen Zivilprozessen. Die Referenten wurden aus der Mitte eines Kollegs von ihresgleichen bestimmt. Sie sollten dann einen Fall bearbeiten und einen Urteilsvorschlag in Form eines Votums abgeben. Ein Votum stellte die Synthese von Fall und anwendbaren Recht dar. Das Richterkolleg war hingegen weder mit dem Fall noch dem Verfahren vertraut. Daraus resultierte ein enormes Wissensgefälle zwischen den Referenten und den Richterkollegien bezüglich der von den Referenten bearbeitenden Fälle. Die Verfertigung der species facti sollte dieses Wissensgefälle reduzieren. 287 Die Darstellung der Prozesse in den obergerichtlichen species facti führte den Richterkollegen vor Augen, dass der eigentlich zu beurteilende Sachverhalt zwischen den Parteien strittig war und es Aufgabe des Gerichts war, das Geschehene festzustellen; den Möglichkeitshorizont an Sachverhalten zu 285 Eckhardt Meyer Krentler, “Geschichtserzählungen“, 132ff. 286 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. 287 Für das RKG einschlägig: Ranieri, “Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren,” 166. <?page no="69"?> 70 reduzieren, sodass es einen einzigen juristisch zu bewertenden Sachverhalt gab. Die Relationstechnik sorgte also dafür, dass den Richterkollegen eines Referenten die nötigen Informationen an die Hand gegeben wurden, damit sie dessen Konstruktion und Beurteilung eines Sachverhaltes nachvollziehen konnten. Sofern also ein klarer, unstrittiger Sachverhalt allein rechtlich zu bewerten war, konnte man diesen in den species facti präsentieren und dann im Votum mit der Rechtsanwendung beginnen. Da aber in obergerichtlichen Zivilrechtsverfahren die Sachverhaltsbehauptungen der Parteien zumeist strittig waren, mussten die Referenten den Streit der Parteien um den Sachverhalt in den species facti abbilden, damit ihre Richterkollegen die später zu referierende Sachverhaltskonstruktion nachvollziehen konnten. Die Referenten mussten ihren Kollegen den Möglichkeitshorizont präsentieren, damit diese dann deren Reduktion auf einen einzigen Sachverhalt verstehen konnten. Deswegen differieren die obergerichtlichen species facti also von den Vorgaben der Anleitungsliteratur. In der Anleitungsliteratur wurde vorausgesetzt, dass der Sachverhalt zumindest größtenteils unstrittig und die Aufgabe des Juristen die Bewertung dieses feststehenden Sachverhaltes sei. Dahingegen mussten die obergerichtlichen Referenten den Sachverhalt selbst erst schaffen, bevor sie diesen bewerten konnten. In der Anleitungsliteratur eistierte eben jener Möglichkeitshorizont an Sachverhalten nicht, den es in den obergerichtlichen zivilrechtlichen species facti auszubreiten galt. Als Argument für die Interpretation, dass mit den species facti ein Wissensgefälle zwischen Referent und Richterkolleg reduziert werden sollte und in der Folge ein Möglichkeitshorizont ausgebreitet wurde, lässt sich anführen, dass in allen drei untersuchten Urteilsdiskursen die Abfassung von species facti in weiteren Relationen nur unter spezifischen Umständen obligatorisch war. Insofern in einer ersten Relation für ein Endurteil votiert wurde und die weiteren Relationen in direkten Bezug zur ersten Relation verfasst wurden, bedurfte es keiner species facti mehr. 288 Es gab eben kein Wissensgefälle mehr, da dieses schon mit der Verlesung der ersten Relation nivelliert worden war. Die Richterkollegen konnten die Sachverhaltskonstruktionen in weiteren Relationen nachvollziehen, da schon die Verlesung der Erstrelationen die dafür notwendigen Informationen artikuliert und folglich den Möglichkeitshorizont an Sachverhalten ausgebreitet hatte. Dahingegen war die Abfassung von species facti in weiteren Relationen obligatorisch, wenn in der ersten Relation für ein Zwischenurteil votiert worden war und dieses auch von einem Kolleg angenommen und einem Gericht umge- 288 Zur Aussparung der „species facti“ und Bezugnahme weiterer Relationen auf die erste Relation siehe: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II C 8, Relation 2; Nr. II B 70, Relation 2, Nr. II P 26, Relation 2; Nr. II L 51, Relation 2 „Votum Coreferentis“; Nr. II B 24, Relation 2 „Votum Coreferentis“; Nr. II W 46, Relation 5 „Votum Coreferentis“; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 2-5; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 2; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 2, 3; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 2. <?page no="70"?> 71 setzt worden war. Dies führte dazu, dass das Verfahren fortgesetzt wurde. Die zweite Relation musste dann das Verfahren insofern nach Aktenlage darstellen, als dass zumindest der weitere Verfahrensverlauf ab dem Zwischenurteil in der Relation enthalten sein musste. In weiteren Relationen mussten also genau dann species facti abgebildet werden, wenn die Urteilsfindung unterbrochen und ein Verfahren fortgeführt wurde. Die dann nach Beendigung der Fortführung des Verfahrens zu verfassende Relation musste species facti enthalten. 289 Das aus der Fortsetzung des Verfahrens resultierende Wissensgefälle musste durch die Abfassung von species facti in den weiteren Relationen aufgefangen werden. Insofern kein Wissensgefälle zu vermuten war, konnten die Referenten mit ihren Relationen in media res beginnen und die species facti aussparen. So verfasste ein Kurkölner Koreferent, der die sechste Relation zu einem Fall verfassen musste, keine vollständige Relation mehr, sondern nur noch ein „Votum Coreferentis ad causam Erbgemeinschaft von Steffne wider Juden Assur Meyer“, welches keine species facti, sondern allein ein Votum enthält. 290 Die Verfasser weiterer Relationen mussten jedoch nicht obligatorisch auf species facti verzichten, wenn das Wissensgefälle zwischen Referenten und Richterkollegen durch die erste Relation schon nivelliert worden war. Sie konnten durchaus species facti in ihrer Relation aufführen, auch wenn sie damit kein Wissensgefälle mehr auffangen mussten. 291 Die Abfassung der species facti fußte auf der kollegialen Verfertigung der Relationen. Da jeweils zwei Richter aus einem Kolleg mit einem Fall beauftragt wurden, war es zumindest wahrscheinlich, dass diese alle relevanten Punkte eines Verfahrens und Falles zusammenfassend schilderten und in einer ersten Relation nicht etwa gewichtige Episoden ausgespart wurden. Die kollegiale Abfassung von Relationen sicherte also das Vertrauen der Richterkollegien, dass in den species facti die Verfahren nach Aktenlage in allen für eine Entscheidung relevanten Punkten abgebildet und nur unstrittige Tatsachen in diese aufgenommen wurden. Begannen Referenten ihre Relationen mit species facti, so schlossen sie daran das Votum an. Jedoch schufen sie einen Übergang von diesen zum Votum, indem sie am Ende der species facti das zu lösende rechtliche Problem artikulierten. 292 Das Votum wird also mit den species facti verbunden; es stellt dezidiert 289 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 71, Relation 2; Nr. II W 46, Relation 2,3,4; Nr. II C 8, Relation 2; Nr. II P 26, Relation 2; Nr. II, S 111, Relation 3; Nr. II E 10, Relation 2; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 2. 290 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 6. 291 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 3,4 [Interessanterweise widersprechen beide Referenten dem ersten Referenten vehement und werfen ihm unter anderem ein methodisch fragwürdiges Vorgehen vor]; Nr. II S 111, Relation 2. 292 Vgl. z.B.: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, Relation 2; Nr. II H 33, Relation 1; Nr. II W 72 a, Relation 1, F. 1r; Nr. II W 71, Relation 1, Relation 5 „Votum coreferentis“, F. 14vf; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung <?page no="71"?> 72 die Antwort auf eine rechtliche Frage dar, die sich aus einem in den species facti dargestellten Verfahren ergab. Die species facti und das Votum verschmelzen durch die Formulierung des Überganges zu einer Einheit. Mithin ist es so, dass nicht in allen Relationen überhaupt dezidiert zwischen species facti und Votum unterschieden wurde. Relationen konnten entweder aus einem in zwei oder mehr Kapitel unterteilten Referat bestehen 293 oder sie waren als ein einziger Fließtext verfasst, der aber gleichwohl von der Zweiteilung des Textes in species facti und Votum geordnet ist. 294 Relationen, welche die species facti aussparten, enthalten freilich allein das Votum. 295 In dem Votum platzierten Referenten ihre Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1, S. 53ff; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1, F. 5f; B XXVIII 4, Relation 1, F. 62rf; B VII 156, Relation 1, F. 2vf; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763) , Relation 1, F. 5v; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783) , Relation 1, F. 4rf; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1, S. 8f.; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1, F. 3v; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1. 293 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II W 71, Relation 1,2,3,4,6,7; Nr. II P 26, Relation 1,2; Nr. II H 19, Relation 1; Nr. II B 24, Relation 1; Nr. II W 46, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg. Hofrat, B VII 421, Relation 1, S. 6ff; B VII 156, Relation 1,2; B VII 238 a, Relation 1, 4; B XXVIII 4, Relation 1. Vgl. auch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1 [F. 41-62], 2 [F.63-85], 7 [F. 108 v-113v], 8 [F.114v-122r], 9 [F. 124v-148r], 10 [F. 150v-152v], 11 [154v- 157v]; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783). Die „species facti“ waren auch in diesen Relationen nicht mit „species facti“ überschrieben worden, sondern sie firmierten unter der Überschrift der Relation (z.B. Relation cum voto zur Sache X wider Y). Das Votum wurde mit „Votum“, „Beurtheilung“ „Entscheidung“, „Entscheidungsgründe“ oder „Bedencken“ überschrieben. 294 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II E 10, Relation 1; Nr. II V 14, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1,2; Vgl. auch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 3 [F.86v-92r], 4 [F.94v-99r], 5 [F. 100v und r], 6 [F. 102v-106r]; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1. 295 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 6; Nr. II C 8, Relation 2; Nr. II B 70, Relation 2, Nr. II P 26, Relation 2; Nr. II L 51, Relation 2 „Votum Coreferentis“; Nr. II B 24, Relation 2 „Votum Coreferentis“; Nr. II W 46, Relation 5 „Votum Coreferentis“; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 2-5; <?page no="72"?> 73 eigenen Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen. Das Votum bildet den kreativen, schöpferischen Teil einer Relation, in dem Wahrheit geschaffen wurde. Im Votum sollte der Streit der Parteien um Sachverhalt und Rechtsfolgen beendet werden. Nunmehr galt es für die Referenten die am Ende ihrer species facti stehende rechtliche Frage zu beantworten, wobei dies eben nicht allein die Anwendung des Rechts, sondern vielmehr die Konstruktion eines Sachverhaltes beinhaltete. Dies bedeutet aber auch zugleich, dass das schon von den Anleitungsbüchern vorgegebene Verhältnis von Sachverhalt und Recht verstärkt wurde. So galt es laut Anleitungsliteratur, den Sachverhalt im Rahmen der species facti im Bezug zur Rechtsanwendung im Votum zu formulieren. 296 In den obergerichtlichen Relationen hingegen wurde der Sachverhalt erst im Rahmen des Votums, also im unmittelbaren Kontext der Rechtsanwendung, konstruiert. 297 In der Folge wirkte das Recht noch stärker auf den zu bewertenden Sachverhalt ein, formte diesen letztlich mit. Es wird in noch stärkerem Maße für das Recht Wesentliches von Unwesentlichen getrennt 298 , da die Konstruktion des Sachverhaltes mit der Anwendung des Rechts Hand in Hand ging. 299 Die Konstruktion des Sachverhaltes im Rahmen des Votums führt zu einer weiteren Besonderheit obergerichtlicher Relationen. Die bisherige Forschung Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 2; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 2, 3; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 2. 296 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. 297 Vgl. z.B.: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1; Nr. II H 33, Relation 1; Nr. II W 72 a, Relation 1; Nr. II W 71, Relation 1; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1; B VII 238 a, Relation 1; B XXVIII 4, Relation 1; B VII 156, Relation 1; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 1. 298 Wolfgang Schild, “Relationen und Referierkunst,“ 170. 299 Dieser Punkt wird in Kapitel 8.3 aufgenommen und umfassend an einem Beispiel diskutiert werden. <?page no="73"?> 74 suggeriert, dass Relationen dazu dienten, Endurteile zu produzieren. 300 Tatsächlich kam es jedoch häufiger vor, dass ein Referent die Sachverhaltskonstruktion mit dem Argument verweigerte, es lägen nicht genügend Informationen und Beweise vor. Dementsprechend plädierte er allein für die Fortsetzung des Verfahrens, um weitere Beweise einzufordern. 301 Der in den species facti ausgebreitete Möglichkeitshorizont musste im Rahmen des auf die species facti folgenden Votums aufgenommen werden und es musste die Anzahl möglicher Sachverhalte auf einen einzigen wahren Sachverhalt reduziert werden. Dabei stand die Sachverhaltskonstruktion der Referenten freilich in einem engen Verhältnis zu dem in ihren species facti ausgebreiteten Möglichkeitshorizont. Ein instruktives Beispiel bildet der am Ende des 18. Jahrhunderts am Kurkölner Hofrat verhandelte Appellationsprozess zwischen Gabriel Broch und Scheuer Abraham, welchen die mit diesem Verfahren beauftragen Referenten in ihren species facti wie folgt abbildeten. Den Kern des Streits bildete eine Kuh, welche Broch von Abraham im Rahmen eines Handelsgeschäfts erhalten hatte. Schon vor einem Untergericht hatte Broch Abraham verklagt und von ihm verlangt, die Kuh zurückzunehmen. Das Kurkölner Untergericht hatte die Klage abgeschlagen, woraufhin sich Broch via Appellation an den Hofrat wandte. Der erste Referent im Appellationsverfahren stellte nun in den species facti dar, dass Broch vorgab, die Kuh von Abraham unter dem mündlich zugesicherten Vorbehalt erhalten zu haben, dass er die Kuh zurückgeben dürfe, falls sie nicht die seitens Abraham angepriesene Qualität besitze. Abraham behauptete seinerseits, dass es keine mündliche Vorbehaltszusicherung gegeben habe und brachte schon erstinstanzlich mehrere Zeugen für seine Behauptung bei. Broch erklärte erstinstanzlich daraufhin, dass die Zeugen Schuldner Abrahams seien und daher falsches Zeugnis ablegen würden. Er baute diese Geschichte im Rahmen des Appellationsprozesses aus und erklärte nunmehr, dass die Bestechung der Zeugen durch Unterhändler geschehen sei. Der erste Referent konstruierte in seiner Relation und seinem später verfassten „Votum additionale“ seinen Sachverhalt entlang der Behauptungen Brochs. In der Folge elaborierte er, dass die von Abraham vorgeschützten Zeugen Schuldner Abrahams und wohl von Unterhändlern zu einer Falschaussage angestiftet worden seien. Mit Blick auf seinen Sachverhalt plädierte der erste Referent dafür, den von Broch erbetenen Appellationsprozess zu realisieren, um Broch in die Lage zu 300 Zumindest wurde in der bisherigen Forschung der Umstand verschwiegen, dass mit einer Relation nicht allein End-, sondern auch Zwischenurteile begründet und realisiert wurden. Vgl. Meyer- Krentler, “'Geschichtserzählungen'”; Naucke, “Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht.”; Schild, “Relationen und Referierkunst.” 301 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 71, Relation 2; Nr. II W 46, Relation 2,3,4; Nr. II C 8, Relation 2; Nr. II P 26, Relation 2; Nr. II, S 111, Relation 3; Nr. II E 10, Relation 2; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 2; Nr. 363, Jud Jacob Mendels Wittib Kella zu Fürth, Schutzgesuch (1791), Relation 2. <?page no="74"?> 75 versetzen, Beweise für die Bestechung der Zeugen via Unterhändler zu beschaffen. 302 Der Koreferent sowie weitere Referenten, die nach der Verlesung der beiden Relationen bestimmt worden waren, widersprachen dezidiert. Sie konstruierten, dass der Handel ohne Vorbehalt geschlossen worden und die Klage somit abzuweisen sei. 303 Sie konzipierten also einen Sachverhalt, der in großen Teilen den Sachverhaltsbehauptungen Abrahams entsprach. 304 Die seitens der Referenten in einen Urteilsdiskurs gestellten Sachverhalte waren also mit den Sachverhaltsbehauptungen der Parteien verwoben: Sie waren mit den Sachverhaltsbehauptungen des Klägers oder Beklagten identisch oder speisten sich aus beiden. 305 Eine obergerichtliche Relation bestand also notwendigerweise aus species facti und Votum, wenn es noch ein fallspezifisches Wissensgefälle zwischen Referenten und Richtern zu beseitigen gab. Sie konnte allein aus einem Votum bestehen, wenn ein solches nicht zu vermuten war. Im Folgenden soll nun die vorgefundene Form in den Fokus des Nachdenkens gerückt werden. Es gilt zu erörtern, warum an allen drei Gerichten die zweigeteilte Form zumindest für erste Relationen obligatorisch war. Warum mussten die Referenten ihre Kollegen über den Fall außerhalb ihrer eigenen rechtlichen Betrachtung, die sie dann erst im Votum aussprechen durften, informieren? Warum also war die Nivellierung der Wissensdiskrepanz notwendiger Bestandteil einer (ersten) Relation, obwohl hauptsächlich das Verfahren abgebildet wurde, dass laut Anleitungsliteratur nicht in die species facti gehörte? 2.3 Das agonale Prinzip In diesem Kapitel wird argumentiert, erstens, dass ein Zusammenspiel zwischen der oben beschriebenen Form einer Relation und der kollegialen Besprechung der Relationen bestand und zweitens, dass aus diesem ein agonales Prinzip erwuchs, das allen drei Urteilsdiskursen zugrunde lag und diese als Arenen ausgestaltete, in denen Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen durchgesetzt werden mussten. Die species facti in den obergerichtlichen Relationen bilden alle rechtlich relevanten Teile eines Verfahrens ab und somit auch, dass Parteien sich nicht allein über die Rechtsfolgen, sondern eben auch über den Sachverhalt uneinig 302 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 1, Relation 2 „Votum additionale“. 303 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 2,3,4. 304 Dieser Fall wird in Kapitel 5.2 umfassender ausgebreitet werden. Hier soll diese kurze Skizze genügen. 305 . Siehe insbesondere exemplarisch für Verfahren, in denen mehrere widersprüchliche Relationen verfasst wurden: Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B VII 156; B XVII 17; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr: 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718). <?page no="75"?> 76 waren: Rechtsfolgen und Sachverhalt waren strittig. Sie bildeten ebenso ab, worüber Uneinigkeit herrschte, führten die Sachverhaltsbehauptungen der Parteien auf, bildeten möglicherweise Argumente der Parteien für ihre Behauptungen ab oder legten die von den Parteien vorgebrachten Beweise dar. 306 Die species facti informierten die nicht mit einem Fall vertrauten Richterkollegen also nicht allein darüber, dass Parteien sich widersprechende Sachverhaltsbehauptungen aufgestellt hatten, sondern auch darüber, inwiefern diese differierten. Das Kolleg musste also mit den species facti über eben jenen Streit informiert werden, der im Votum dann gelöst werden sollte. Nun muss man sich vor Augen führen, dass es sich bei den Relationen um Texte handelt, welche nicht gelesen, sondern referiert wurden. Ein Referent verlas also seinen Kollegen die species facti seiner Relation und weckte so deren juristische Neugierde. Zeile für Zeile breitete er vor deren Augen aus, wie sich Parteien um Sachverhalte und Rechtsfolgen stritten. Für die Richterkollegen erhöhte jedes Wort die Spannung, wie denn nun letztlich der Streit zu lösen sei. 307 Was war geschehen und welche Rechtsfolgen ergaben sich aus dem Geschehenen? Diese Fragen und deren mögliche Lösungen waren schon in den species facti impliziert. 308 Die Richter also lauschten den species facti und entwickelten Erwartungshaltungen, wie denn letztlich die Lösung auszusehen habe. In dem Moment also, als ein Referent den Übergang von den species facti zu seinem Votum formulierte, hatte er längst seinen Kollegen genug Informationen gegeben, als dass diese seinem Votum neutral gegenüberstehen konnten. Sie konnten sich schon einer Position einer Partei bezüglich des Sachverhaltes angeschlossen haben und in Gedanken auch schon Rechtssätze auf diesen angewandt haben. Die Verlesung der species facti führt also dazu, dass sich das Richterkolleg vor der Verlesung der eigentlichen kreativ-schöpferischen Wahrheitsproduktion eines Referenten schon eine Meinung zu einem Fall bilden konnte. Der durch die Referierung der species facti ausgebreitete Möglichkeitshorizont an Urteilen und Sachverhalten zu einem Fall wurde von einem Referenten in seinem Votum auf einen einzigen Sachverhalt und ein einziges Urteil reduziert. Ein Referent setzte in seinem Votum den möglichen Wahrheiten zu einem 306 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III Nr. II W 71, Relation 1,2,3,4,6,7; Nr. II, P 26, Relation 1,2; Nr. II H 19, Relation 1; Nr. II B 24, Relation 1; Nr. II W 46, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B VII 421, Relation 1, S. 6ff; B VII 238 a, Relation 1, 4; B XXVIII 4, Relation 1; B VII 156, Relation 1,2. Vgl. auch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1 [F 41-62], 2 [F. 63-85], 7 [F. 108 v-113v], 8 [F.114v-122r], 9 [F. 124v-148r], 10 [F. 150v-152v], 11 [154v- 157v]; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1. 307 Schild, “Relationen und Referierkunst” 170. Allerdings bezog sich Schild allein auf die sich aus den „species facti“ ergebene Spannung bezüglich der Rechtsanwendung. 308 Ibid. <?page no="76"?> 77 Fall seine eigene entgegen, während durch die Referierung der species fact die Richterkollegen über den Möglichkeitshorizont sowie verschiedene mögliche Sachverhalte und Urteile zu einem Fall in Kenntnis gesetzt worden waren. Ein Referent trug also sein Votum vor, konstruierte in diesem eine Wahrheit und eliminierte zugleich alle weiteren möglichen Wahrheiten, während diese noch latent - in den Köpfen seiner Kollegen - existierten. Die seitens eines Referenten in dessen Votum eliminierten Sachverhalte und Urteile konnten dessen Richterkollegen schon im Rahmen der Verlesung der species facti von sich überzeugt haben. Die Wahrheitsproduktion eines Referenten konnte also die Erwartungshaltung einzelner Richterkollegen enttäuschen, da diese einen anderen Sachverhalt oder ein anderes Urteil aus dem in den species facti entfalteten Möglichkeitshorizont als der Referent für wahr hielten. In der Folge würden diese enttäuschten Richter bei der Abstimmung sich gegen die Relation eines Referenten aussprechen, Kritik formulieren und die Abfassung weiterer Relationen zu dem Fall fordern. Referenten reduzierten mit ihren Voten den in den species facti entfalteten Möglichkeitshorizont, während dieser auf das spätere Abstimmungsverhalten der Richterkollegen einwirkte, die Ablehnung einer ersten Relation und die Verfertigung weiterer Relationen zeitigen konnte. Die Präsentation des Möglichkeitshorizonts, um diesen im nächsten Schritt zu reduzieren, zeitigte also weitreichende Folgen für die gerichtliche Wahrheitsproduktion. Ich begreife das Zusammenspiel der obergerichtlichen Kollegialität, die erst den Personenkreis besorgte, der Widerspruch erheben resp. eine Relation ablehnen konnte , und der Form der Relation, welche die Möglichkeit des Widerspruches und der Ablehnung in hohem Maße förderte, als agonales Prinzip. Demnach bildeten die drei untersuchten Urteilsdiskurse immer Arenen, in denen Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen durchgesetzt werden mussten und nicht ihre einfache Einführung in den Diskurs schon ihre Wahrheit besorgte. Sachverhalte und Urteile traten in den Urteilsdiskursen immer gegen alle anderen zu einem Fall möglich zu konstruierenden Sachverhalte und zu produzierenden Urteile an. Nun bot zwar schon die kollegiale Abfassung der Relationen die Möglichkeit, dass zu einem Fall sich widersprechende Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen in einen Urteilsdiskurs eingeführt werden konnten, insofern Referent und Koreferent sich widersprechende Relationen verfassten. Einem Richterkollegium wurden dann von zwei Referenten zwei unterschiedliche, mögliche Sachverhalte oder Urteile zu einem Fall in deren jeweiligen Relationen präsentiert; die beiden Referate der beiden Referenten stellten also schon einen Kampf möglicher Wahrheiten zu einem Fall dar. Jedoch kam es häufig vor, dass Referent und Koreferent gemeinsam eine Relation verfassten. 309 In diesen Fällen stellte ein Urteilsdiskurs allein aufgrund der Verle- 309 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II E 10; Nr. II W 72 a; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B. VII N. 85. <?page no="77"?> 78 sung der species facti vor dem Richterkolleg eine Arena dar, in der die von den Referenten präferierten Sachverhalte und Urteile gegen mögliche andere Sachverhalte und Urteile antraten. Das agonale Prinzip zeitigte Folgen. Insofern sich Referent und Koreferent einig waren und gemeinsam eine Relation verfassten, mussten sie trotz ihrer Einigkeit in ihrem Votum Argumente für ihren Sachverhalt und ihr Urteil liefern. 310 Sie mussten eben damit rechnen, dass ein Richterkollege Kritik erheben würde, das Kolleg ihnen nicht mehrheitlich folgte und es zur Abfassung weiterer Relationen kam, mit denen andere Sachverhalte und Urteile zu ihrem Fall in den Urteilsdiskurs eingeführt würden. Sie verteidigten ihre Sachverhalte und Urteile, da sie die mögliche Artikulation anderer Sachverhalte und Urteile antizipierten. Ein fehlender Widerspruch seitens eines Kollegs ist dann auch als Zeichen dafür zu interpretieren, dass Referent und Koreferent eine überzeugende Argumentation präsentiert hatten. Sachverhalt und Urteil in der (ersten) Relation mussten folglich so im Votum ausgebreitet werden, dass es schwer war, ihnen andere Sachverhalte und Urteile entgegenzusetzen oder überhaupt Kritik zu artikulieren. Dies führte auch dazu, dass Referenten nicht immer für ein Endurteil, sondern häufiger auch für ein Zwischenurteil in ihren Relationen votierten. 311 Insofern sie aus den in einem Verfahren gesammelten Informationen keinen Sachverhalt konstruieren konnten, der in ihren Augen streitfest war, stellte das Votum für ein Zwischenurteil eine Möglichkeit dar, die fehlenden Informationen durch die Fortsetzung des Verfahrens zu erhalten und dann auf diesen basierend einen Sachverhalt zu konstruieren. Das agonale Prinzip zeitigte also auch das relativ häufige Auftauchen von Relationen in den Urteilsdiskursen, die für ein Zwischenurteil votierten. Das agonale Prinzip machte die Urteilsdiskurse zu Arenen der Sachverhalte und Urteile und sorgte so dafür, dass in den Voten der obergerichtlichen Relationen spezifischen - noch darzustellenden - Regeln folgend argumentiert werden musste. 312 310 Ibid. 311 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 71, Relation 2; Nr. II W 46, Relation 2,3,4; Nr. II C 8, Relation 2; Nr. II P 26, Relation 2; Nr. II, S 111, Relation 3; Nr. II E 10, Relation 2; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 2; Nr. 363, Jud Jacob Mendels Wittib Kella zu Fürth, Schutzgesuch (1791), Relation 2. 312 Tasächlich wurde die agonale Ausgestaltung des Urteilsdiskurses schon 1939 von Johan Huzinga konstatiert, welcher jedoch weder auf rechtspraktischen noch normativen Quellen für seine Feststellung zurückgriff, sondern seine Annahme im Rahmen seiner Untersuchung der Bedeutung des Spiels resp. Spielens für die Kultur entwickelte. Johan Huizinga, Homo Ludens, Vom Urpsung der Kultur im Spiel (Reinbeck 2009), 51-90. <?page no="78"?> 79 2.4 Experimente mit der Form an den einzelnen Obergerichten Zwar stellte die Zweiteilung zwischen species facti und Votum die obligatorische Form für die (ersten) Relationen dar. Es muss allerdings konstatiert werden, dass einige Relationen, welche am Jülich-Berger Hofrat und am Kaiserlichen Landgericht verfasst wurden, Varianten der formalen Zweiteilung im Untersuchungszeitraum aufweisen. So sind im Jülich-Berger Urteilsdiskurs dreigeteilte Relationen zu finden. Die Referenten dieser Relationen begannen mit dem species facti, woran sie als zweites Kapitel das Votum anschlossen. In diesem Kapitel konstruierten sie wie in zweigeteilten Relationen auch einen Sachverhalt und argumentierten für diesen (i.e. Sachverhaltskonstruktion) sowie für die Rechtsfolgen aus dem Sachverhalt für die Parteien (i.e. Urteilsproduktion). Im letzten Kapitel formulierten sie den in ihrem Votum konstruierten Sachverhalt und das produzierte Urteil als Urteilssentenz. Es galt in diesem dritten Kapitel, keine Argumente mehr zu liefern, sondern ein publizierbares Urteil zu formulieren. 313 Da im Normallfall Referenten keine Urteilssentenzen formulierten, ist davon auszugehen, dass das Kolleg ein von einem Referenten produziertes und vom Kolleg mehrheitlich goutiertes Urteil in eine publizierbare Form brachte. In einigen Relationen nun übernahmen also Referenten diese Aufgabe vorab, freilich ohne zu wissen, ob ihr Sachverhalt und Urteil überhaupt mehrheitsfähig war. Dieser Umstand dürfte dann auch dazu geführt haben, dass diese Variante der zweigeteilten Form, die eine reine Erweiterung um das Urteilssentenzkapitel darstellte, nicht reüssierte. Die Normalform der Relation im Jülich-Berger Urteilsdiskurs blieb die zweigeteilte Form. Allerdings wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Votumskapitel vermehrt in einzelne Teilvoten aufgesplittet, sodass z.B. in einer Relation aus den frühen 1790er Jahren das Votumskapitel aus mehreren einzelnen Teilabschnitten bestand, an die der Referent eine publizierbare Fassung des Votums anhängte. 314 Auch der Koreferent des Verfahrens nutzte die Struktur und unterteilte sein Votum in acht einzelne Teilvoten. 315 Dies bot dem Kolleg die Möglichkeit, auf der Rückseite der Relation zu verzeichnen, in welchen Punkten die Relation die Mehrheit des Kollegs für sich hatte und in welchen nicht. 316 Die Richterkollegen konnten also zu jedem einzelnen Teilvotum die Mehrheiten 313 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, Nr. / B XII 12 a, Relation 1, S. 15. Siehe zu Trennung zwischen Votum und Urteilssentenz auch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 61, Relation 1; B VII 238 a, Relation 2, 5; B XVII 42, Relation 1,2; B IV. N. 210, Relation 1; B XXV 3, Relation 1 [Spezies facti: F. 95v-130v. Votum: F. 130v- 142r. Eigentliches Urteil: F. 142r.] 314 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII42, Relation 1. 315 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII42, Relation 2. Vgl. auch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B VII 238 a, Relation 3, 4. 316 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII42, Relation 2, Rückseite der Relation. <?page no="79"?> 80 verzeichnen. Inwiefern dieses System reüssierte, lässt sich nicht sagen, da Jülich- Berg und mit ihm der Hofrat von der Bildfläche der Geschichte schon einige Jahre nach der Verlesung der Relation verschwinden sollte. Es lässt sich aber konstatieren, dass die weitere Ausdifferenzierung des Votums dazu diente, einen besseren Austausch unter den Richtern über einzelne Teile der Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion zu ermöglichen. Die ausdifferenzierte Form des Votums verstärkte also das agonale Prinzip, da konfligierende Relationen und kollegialer Widerspruch durch diese Form auf spezifische Punkte des Votums referieren konnten, welche sie kritisierten. Am Landgericht experimentierten Referenten ebenfalls mit der Form und schufen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Variante der zweigeteilten Form, die sich durchsetzte und die einfache zweigeteilte Form sogar am kaiserlichen Landgericht verdrängen sollte. Um zu verstehen, warum die landgerichtlichen Experimente Früchte trugen, ist ein Blick auf das frühe 18. Jahrhundert grundlegend. Die Landrichter Brandenburg-Ansbachs mussten zu Beginn des 18. Jahrhunderts Kurzvoten verfassen. Sie schrieben also kurze Stellungnahmen, warum sie sich einer Relation anschlossen oder dieser widersprachen. Ein jeder Richter war theoretisch verpflichtet, ein Kurzvotum zu verfassen. 317 Die Kurkölner und Jülich-Berger Richter kannten eine solche Praxis nicht. Außer den Relationen liegen keine schriftlichen Zeugnisse ihrer Entscheidungsfindung vor. Es ist zwar den Akten in den meisten Fällen zu entnehmen, welche Relation den Zuschlag vom Kolleg erhielt 318 , aber die Gründe für die Votumsabgabe des Richterkollegiums liegen nicht vor. 319 Die brandenburg-ansbachische Kurzvotenpraxis stellt ein deutliches Unterscheidungsmerkmal der drei Diskurse dar. Erklären lässt sich der Unterschied vermutlich mit der besonderen Konstitution des kaiserlichen Landgerichts als Reichsgericht und dessen spezifischer justizpolitischer Entwicklung im Laufe der Frühen Neuzeit. Im 18. Jahrhundert sollte die Praxis jedoch sukzessive verschwinden. Es hatte sich schon im frühen 18. Jahrhundert im landgerichtlichen Urteilsdiskurs ein Argument etabliert, mittels dessen ein jeder Landrichter sich dem Zwang, ein Kurzvotum verfassen zu müssen, entziehen konnte. So erklärte ein Referent in seinem Kurzvotum zum Fall Lattenmeyer wider Lazarus, dass er bekannterma- 317 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), F. 34v-50r. Es handelte sich um mehrere Kurzvoten, die in Bezug auf die vorangegangene Relation und einander verfasst wurden. Diesen ist zu entnehmen, dass es wohl eine Plicht für die Im Richterkolleg sitzenden Richter war, per Kurzvotum Stellung zur Relation zu beziehen. 318 Dies kann auf dem Akteneinband verzeichnet sein. Ferner wurde häufig unter einer erfolgreichen Relation ihr Erfolg verzeichnet. Schließlich ist es auch möglich, dass unter den Relationen nicht allein die Namen ihrer Verfasser, sondern auch die der sich ihnen anschließenden Richter verzeichnet sind. 319 Die Basis dieser Aussage bilden die gesamten dieser Arbeit zugrunde liegenden Relationen für Kurköln und Jülich-Berg. <?page no="80"?> 81 ßen ein fleißiger Richter sei, jedoch habe er keine Zeit gefunden, das geforderte Kurzvotum zu verfassen. Diese Ausführung blieb kein Einzelfall. Vielmehr brachten auch andere Landrichter das Argument des hohen Arbeitsaufwandes und der fehlenden Zeit vor und desavouierten so ihre Pflicht, ein Kurzvotum zu verfassen. 320 Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde dann auch kein kohärenter Umgang mit den Kurzvoten gepflegt. Vielmehr finden sich Prozesse, in denen Kurzvoten verfasst 321 , und solche, in denen keine Kurzvoten abgefasst wurden. 322 Stattdessen wählten die Landrichter hier die schon von den anderen Gerichten bekannte Praxis, dass alle einer Relation zustimmenden Richter diese unterschrieben. 323 Ferner hatte man sich aber auch auf Formeln geeinigt, die anzeigten, ob und welche Relation die Mehrheit der Landrichter für sich hatte. 324 Zwar lässt sich generell die Tendenz feststellen, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts die Kurzvoten verstärkt durch weniger arbeits- und zeitintensive Methoden ersetzt wurden. Gleichwohl konnten sie auch noch in der Spätphase gefunden werden. 325 Allerdings waren sie dann nicht mehr obligatorisch. Die Idee hinter den Kurzvoten war es freilich, jeden Richter zu einer kurzen Stellungnahme zu einem Fall und seiner Urteilsentscheidung anzuhalten. Dies verstärkte das agonale Prinzip, weil jeder Richter sich mit einem Fall insoweit beschäftigen musste, dass er begründet Stellung zu einer Relation beziehen konnte. Letztlich sollten alle Richter schriftlich eine Begründung ihrer Entscheidung liefern und nicht nur jene, die ihre Meinung in den Relationen nicht abgebildet sahen oder etwa Kritik an einer Relation erhoben. Das sukzessive Verschwinden der Kurzvoten aus dem Diskurs ging wohl auch aufgrund der diesen zugrunde liegenden Idee mit Reformansätzen bezüglich des Aufbaus der 320 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), F. 34v-50r. 321 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763); Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78); Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78); Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779). 322 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 338, Jud Simon wider J.M. Dilhers wegen Forderung (1730-1734); Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78) ; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783); Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783); Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), 323 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78) ; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788). 324 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783); Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788). 325 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788); Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792). <?page no="81"?> 82 ersten Relation einher, deren Konturen in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich hervortraten. In einem zwischen 1759 und 1763 stattgefundenen Appellationsprozess verfasste ein Referent eine erste Relation. Nachdem er in den species facti den Weg der Parteien bis an das Landgericht und den Fall in aller Kürze dargeboten hatte, fasste er die Beschwerden des Appellanten gegen das vorige zweitinstanzliche Urteil zusammen und überschrieb jede Beschwerde mit „Grav.“ 326 Die Abkürzung steht für den juristischen Fachbegriff für Beschwerden gegen ein Urteil: Gravamina. Auch den Vorbringungen des Appellaten gegen die Gravamina wurde ein eigener Gliederungspunkt namens „Exceptiones“ zuteil - was wiederum den juristischen Fachbegriff für die Einwände gegen die Gravamina darstellte. 327 Im Anschluss daran folgte das Kapitel „rationes dubitandi“, in denen der Referent aus den Eingaben der Parteien die zu erörternden Fragen destillierte, die im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion und der Urteilsproduktion zu beachten waren. 328 In den „rationes decidendi“ erörterte der Referent dann die in den „rationes dubitandi“ aufgeworfenen Fragen, wobei er jeder Frage ein Unterkapitel widmete. Den Abschluss der Wahrheitsproduktion des Referenten bildete das Votum, in dem er sein Produkt zunächst präsentierte, bevor er es in dem Kapitel „Urteil“ dann publizierbar formulierte. 329 Die „rationes decidendi“ stellten also die rechtliche Begründung des Votums dar. Während in früheren Formen der Relation die rechtlichen Begründungen ohne weiteres im Votumskapitel inkorporiert waren, wurden sie in dieser speziellen Relation unter einem spezifisch für die Rechtsbegründung geschaffenes Kapitel subsumiert. Der Referent hatte also die Zweiteilung zwischen species facti und Votum beibehalten, diese aber weiter ausdifferenziert. Diese Form fokussierte die von den Parteien aufgeworfenen und von den Richtern zu erörternden Fragen. Die Unterteilung in rationes dubitandi und rationes decidendi blieb ein Unikat. Die Aufzählung und Nummerierung der Gravamina wurde hingegen in der Folgezeit von einigen Referenten übernommen. 330 Die Gravaminastruktur ermöglichte es den Referenten nicht allein in ihren Relationen einen dezidierten Bezug zwischen Teilen des Votums und spezifischen Gravamina herzustellen, 326 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1, F. 2rf. 327 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation1, F. 2rf. 328 Ibid., F. 3vff. 329 Ibid., F. 4vff. 330 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78) Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1. <?page no="82"?> 83 sondern auch weitere Relationen und Kurzvoten konnten so dezidiert Bezug auf spezifische Gravamina nehmen. 331 Gleichwohl wurde die Gravaminastruktur nicht immer angewandt. Die Aufzählung der Gravamina war freilich nur insofern möglich, dass ein zweit- oder drittinstanzlicher Prozess verhandelt wurde. Im Rahmen eines erstinstanzlichen Prozesses konnten keine Beschwerden gegen ein vorangegangenes Urteil aufgelistet werden, da es kein Urteil a quo und somit auch keine Gravamina gab. Die Landrichter hatten noch in den späten 70er Jahren des 18.Jahrhunderts keine Möglichkeit gefunden, in Relationen zu erstinstanzlichen Verfahren eine der Gravaminastruktur äquivalente Struktur zu realisieren. 332 Weiterhin wurden Relationen zu solchen Verfahren allein in species facti und Votum unterteilt. 333 Aber auch in einigen Appellationsverfahren wurde die Gravaminastruktur nicht angewandt. Zum einem war es möglich, dass es nur eine zu erörternde relevante Frage gab, sodass eine Aufzählung von Gravamina überflüssig war. 334 Zum anderen war es auch in den 80er Jahren noch möglich, die erste zu einem Appellationsprozess verfasste Relation analog zu der ersten Relation in einem erstinstanzlichen Prozess zu verfassen und die Gravamina nicht aufzuzählen, sondern einfach im Rahmen eines Fließtextes zu benennen. 335 Zeitgleich experimentierten andere Referenten weiter. Wie schon mit der Einführung der rationes decidendi auf der Gliederungsebene versuchten Referenten nun wieder den argumentativen Teil einer Relation - also das Votum - zu gliedern. Sie unterteilten numerisch ihre eigene Argumentation in einzelne Punkte. 336 In den 1770er und 80er Jahren tauchen also eine Vielzahl an Relationen auf, in denen versucht wurde, die Teilung einer Relation in species facti und Votum durch die Schaffung von Unterkapiteln auszudifferenzieren. Keine der angeführten Gliederungen wurde jedoch zur Relationsform sine qua non erhoben. Vielmehr konnten die Referenten ihre Relationen, insofern sie die generelle Teilung in species facti und Votum einhielten, mannigfaltig ausgestalten. Es lässt sich also konstatieren, dass die Landrichter im Laufe des 18. Jahrhunderts die Komplexität der Gliederung der (ersten) Relation zu steigern suchten. Sie führten immer wieder neue Gliederungsebenen ein, ohne dabei die generelle Gliederung in species facti und Votum zu unterminieren. Vielmehr unterteilten sie species facti und Votum in mehrere Untereinheiten und besorgten so eine Ausdifferen- 331 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 2. 332 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779). 333 Ibid. 334 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783). 335 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1. 336 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1. <?page no="83"?> 84 zierung beider Abschnitte. Gerade die Gravaminastruktur, mit ihrer Fokussierung auf die sich aus den species facti ergebenden und weiter zu erörternden Fragen, ermöglichte hinzukommend auch bessere Referenzmöglichkeiten. Eine einheitliche Form - abgesehen von der Zweiteilung in species facti und Votum - wiesen die Relationen bis in die 90er Jahre nicht auf. Allerdings dominierte die Gravaminastruktur die Relationen zu den Appellationsprozessen, auch wenn sie keine exklusive Anwendung fand. Erst in den frühen 1790er Jahren sollte eine Struktur auftauchen, die für jede Relation zu jedem Verfahrenstypus verwandt werden konnte und die dann auch die Form der ersten Relationen dominieren sollte. Im Jahre 1790 wurde am KLG eine Erstrelation zu einem Prozess verfasst, die eine differenziertere Gliederung als die bisherigen Relationen aufwies. Diese Relation wies drei Teile auf. Im ersten Teil wurde der Prozessverlauf beschrieben, wobei dieser in insgesamt 14 Paragraphen untergliedert war. So wurde z.B. unter dem dritten Paragraphen die Insinuation eines Dekrets durch den Appellanten und dessen Inhalt summarisch abgebildet. Einige dieser Paragraphen sind von dem Ersteller der Relation mit Datum versehen und unterschrieben worden, sodass zumindest suggeriert wird, dass die species facti entlang eines voranschreitenden Prozesses verfasst wurden. 337 Im Anschluss an diese umfassende Abbildung des Prozesses folgten die eigentlichen species facti und dann das Votum, welches auch formal von den species facti abgesetzt worden war. Infolge dieser Dreiteilung werden Fall und Prozess differenzierter und detaillierter beschrieben als in den vorausgegangenen Relationen, wobei es zu einer Dopplung kam, da auf die Darstellung des Prozesses in den 14 Paragraphen noch die species facti folgten, in denen der Prozess und der Fall abermals beschrieben wurden. Auch diese verkürzte Darstellung von Prozess und Fall weist eine formale Einteilung auf. Einzelne Teile der species facti sind durch ein in der Mitte der Seite platziertes Rechteck voneinander getrennt. 338 Die Dopplung der species facti wurde in den folgenden Jahren beseitigt und die Paragraphenstruktur ausgebaut. So wurden in der ersten Relation zum Fall Meermann wider Joseph in den ersten 17 Paragraphen die Vorgeschichte des Prozesses und der Prozess bis zum Zeitpunkt der Einreichung der Klage am Landgericht abgebildet. In den darauffolgenden Paragraphen wurden dann die Gravamina aufgeführt, bevor in den Paragraphen 28 bis 43 dann die fallbezogene Wahrheit - also Sachverhalt und Urteil - produziert wurde. 339 In dieser Rela- 337 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 360, Weiß zu Mißelbach wider Israel Sussmann u.A. (1790). 338 Ibid. 339 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1. Siehe auch: Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Akten Rep 119a, Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1 [In dieser Relation wurde die inhaltliche Zweiteilung zwischen „species facti“ und „Votum“ auf der Gliederungsebene hervor- <?page no="84"?> 85 tion wurden also sowohl die species facti als auch das Votum atomisiert. Nunmehr wurde jedem Abschnitt des Prozesses und jedem Argument im Rahmen der Wahrheitsproduktion des Referenten ein Paragraph zuteil. Die Zweiteilung blieb zwar erhalten, jedoch wurde sie deutlich ausdifferenziert. Dies wiederum verstärkte das agonale Prinzip, das der Form im Zusammenspiel mit der kollegialen Besprechung der Relationen entwuchs. Nunmehr stiegen die Informationen an, welche die nicht mit einem Fall betrauten Landrichter erhielten, bevor ein Referent zu seiner fallbezogenen Wahrheitsproduktion gelangte. Ferner wurden die species facti und das Votum nunmehr auch strukturierter dargestellt. Es war möglich, in weiteren Relationen dezidiert Bezug zu einzelnen Paragraphen der ersten Relation herzustellen und so auch einzelne Argumentationsschritte eines Referenten anzugreifen. Kurzum führte die Ausdifferenzierung der Zweiteilung der (ersten) Relationen zu einer Verstärkung des agonalen Prinzips. Dies korrelierte mit dem sukzessiven Verschwinden der Kurzvoten, die in den 1790er Jahren längst nicht mehr obligatorisch waren. Während also die Kurzvoten verschwanden und somit das agonale Prinzip geschwächt wurde, traten Veränderungen an der Struktur der (ersten) Relationen zutage, die die Auswirkungen des Verschwindens der Kurzvoten auf das agonale Prinzip begrenzten. 2.5 Zwischenfazit Alle obergerichtlichen (ersten) Relationen wiesen die gleiche grundlegende Form auf. Ihren ersten Teil bilden die species facti. Der Fall wurde in diesen als Gegenstand eines Verfahrens dargestellt, in denen sich Parteien darüber stritten, was überhaupt geschehen war (Sachverhalt) und was aus dem Geschehenen für die einzelnen Parteien resultieren sollte (Rechtsfolgen). Den zweiten Teil bildet das Votum, in dem ein Referent einen einzigen Sachverhalt und ein einziges Urteil produzierte. In diesem kreativ-schöpferischen Teil der Relation galt es dann auch Argumente zu platzieren, was in den species facti noch verboten war. Die faktische Tatsachenerzählung (species facti) war mit Blick auf das agonale Prinzip notwendig, da allein die aus der Mitte des Kollegiums bestimmten Referenten mit den in ihren Relationen besprochenen Fällen vertraut waren. Mit den species facti wurde die Wissensdiskrepanz zwischen Referenten und Richterkollegium verringert und zugleich wurde ein Möglichkeitshorizont an Sachverhalten und Urteilen entfaltet, den ein Referent mit seinem Votum zu reduzieren versuchte. Dies besorgte im Zusammenspiel mit dem generellen kollegialen Prinzip der Obergerichte die Möglichkeit, dass nicht mit einem Fall betraute Richterkollegen Widerspruch gegen die Relationen der Referenten erheben konnten. Mithin war es die Grundlage für ihre Entscheidung, sich einer Relatigehoben. So lautete Paragraph 33 „Votum“]; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl Relicten (1795), Relation 1. <?page no="85"?> 86 on anzuschließen oder diese abzulehnen. Aus der Form der Relation und dem kollegialen Prinzip erwuchs ein allen drei Urteilsdiskursen zugrundeliegendes agonales Prinzip. In der Folge bildeten die drei Urteilsdiskurse Arenen, in welche die Referenten ihre Sachverhalte und Urteile führten. Sie argumentierten für ihre Wahrheitsproduktionen, um diese gegen möglichen Widerspruch präventiv zu verteidigen. Das agonale Prinzip sorgte also dafür, dass am Horizont des Diskurses immer schon ein möglicher Herausforderer für einen seitens einen Referenten neu in einen Urteilsdiskurs eingeführten Sachverhalt oder eingeführtes Urteil erkennbar war, und deswegen die Wahrheit streitfest produziert werden musste. Die Urteilsdiskurse stellten also wissenschaftliche Diskurse dar, in denen Wahrheit mittels Argumenten erkämpft werden musste. 340 340 Auch Schild kommt zu einem ähnlichen Ergebnis auf Basis der Untersuchung der Anleitungsliteratur und er begreift die Relation dezidiert als ein wissenschaftliches Kunstwerk. Schild, “Relationen und Referierkunst", 169f. <?page no="86"?> 87 3. Das Auftauchen des Rechts im Urteilsdiskurs In diesem Kapitel soll das Recht in den Fokus des Interesses gerückt werden. Dieses taucht in den Urteilsdiskursen auf, da die Oberrichter in ihren Relationen nicht einfach Fälle abbildeten, sondern diese zugleich unter Rechtsverhältnisse subsumierten und so das Recht zur Sprache brachten. Die obligatorische Subsumption von Sachverhalten unter das Recht verweist auf eine Verschränkung der Urteilsdiskurse mit normativen Diskursen, die es in diesem Kapitel zu erörtern gilt. Ebenso muss die Anwendung des mosaischen Rechts besprochen werden, da diese nur unter spezifischen Umständen gestattet war. 3.1 Die Subsumption Die Gliederung der Relationen in species facti und Votum stellte nicht den einzigen formalen Anspruch an Relationen dar. Die zweite wichtige Bedingung fällt schon beim Lesen der ersten Sätze der species facti einer Relation einer jeden Leserin ins Auge. So wurde in der ersten Relation zum Verfahren Broch wider Abraham festgehalten, dass „[am] 14ten July 1778 […] Gabriel Broch […] bey hisiger probsteylichen Gericht vor[stellte].“ 341 Der Referent begann also seine species facti mit der Erklärung, dass Gabriel Broch Klage erhoben habe. In den folgenden Passagen dann nutzte der Referent juristische Begriffe, um Brochs Handlungen darzustellen. So erklärte der Referent, „Replicando erwiderte Kläger“. 342 Der Referent subsumierte demnach in seiner Relation Broch unter den juristischen Terminus Kläger. Ebenso erging es dem Gegner Brochs, den jüdischen Händler Scheuer Abraham. Dieser wurde bei der Erstnennung in den species facti noch mit vollem Namen begriffen, im weiteren Verlauf dann aber unter juristische Begriffe subsumiert. Tauchen also die Parteien zu Beginn einer Relation noch als konkrete Personen auf, verschwinden sie im weiteren Verlauf der Relationen immer stärker hinter juristischen Termini, unter denen sie subsumiert werden. Dies bedeutet nicht, dass im Votum die konkreten Parteien gar nicht mehr vorkommen, aber es dominiert in den Relationen eben deren Subsumption unter juristischen Begriffen. 343 Dies löst die Individualität der konkre- 341 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 1. 342 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II, B 70, Relation 1. 343 Siehe exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II A 35, Relation 1; Nr. II B 24, Relation 1 und Relation 2 „Coreferentis“; Nr. II H 33, Relation 1, 2; Nr. II P 26, Relation 1; Nr. II S 111, Relation 1, Nr. II C 8, Relation 1; Landesarchiv, NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; B VII 421, Relation 1; Nr. / B XII 12 a, Relation 1; B VII 238 a, Relation 1; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1; Nr. 338, Jud Simon wider J.M. Dilhers wegen Forderung (1730-1734), Relation 1; Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; <?page no="87"?> 88 ten Parteien auf, da die Rechtsbegriffe ohne weiteres auf verschiedene Parteien angewandt werden konnten. Gerade der prozessrechtliche Begriff Kläger wurde in fast allen Relationen zur Bezeichnung einer konkreten klagenden Partei verwendet. Die Subsumption der Parteien unter die juristischen Begriffe bedeutet zugleich deren Unterordnung unter spezifische Rechtsverhältnisse, auf die diese Begriffe verwiesen. Rechtsverhältnisse sind „zwischen Rechtssubjekten (Personen) bestehende, durch Rechtsregeln bestimmte Beziehungen.“ 344 So verweist die Subsumption Gabriel Brochs unter den Begriff Kläger auf ein prozessrechtlich erstinstanzliches Verhältnis zwischen ihm und seinem Gegner Scheuer Abraham, das sowohl von einem zweitinstanzlichen Appellationsverhältnis, das durch die Verwendung des Begriffspaares Appellant und Appellat angezeigt wird, als auch von einem materialrechtlichen Verhältnis, wie das durch die Begriffe Schuldner und Gläubiger apostrophierte obligationsrechtliche Verhältnis, unterschieden ist. Die Subsumption der konkreten Parteien unter die abstrakten Rechtssubjekte spannte also schon im Rahmen der species facti abstrakt-rechtliche Verhältnisse zwischen den konkreten Parteien und besorgte so eine Abstraktion von dem konkreten Fall auf eine juridische Fassung des Falles. So wirkte dann aber auch das materielle und prozessuale Recht auf die Beschreibung der Tatsachen in den species facti und die Sachverhaltskonstruktion ein. Es konnte eben nur formuliert werden, was sich unter Rechtsverhältnisse subsumieren ließ. In der Folge gab das Recht den Rahmen vor, in denen Verfahren und Sachverhalt erzählt werden konnten. Das Recht prägte die species facti und die von den Referenten konstruierten Sachverhalte. 345 Der Haupteffekt der obligatorischen Subsumption ist jedoch die Verschränkung des Urteilsdiskurses mit dem Recht. Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786), Relation 1; Nr. 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788), Relation 1; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1; Nr. 360, Weiß zu Mistelbach wider Israel Sülzmann u.A. (1790), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 1. 344 Dubischar, Einführung in die Rechtstheorie, 13. 345 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch: Naucke, “Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht.”, 63-71. <?page no="88"?> 89 3.2 Diskursive Verschränkung Mit der obligatorischen Subsumption konkreter Parteien unter abstrakte Rechtssubjekte in den Relationen wurde also der Urteilsdiskurs mit dem frühneuzeitlichen Recht verwoben. Nun ist aus diskursanalytischer Perspektive das Recht selbst ein Diskurs, denn es ist die Gesamtheit aller Aussagen, die als Gesetz innerhalb eines Staates gelten (sollen). Damit wird zugleich offenbar, dass es im Alten Reich der Frühen Neuzeit nicht einen, sondern eine Vielzahl normativer Diskurse gab. Zwar galt das ius commune sogar über die Grenzen des Alten Reiches hinaus, aber die partikularen Rechte hatten einen lokal begrenzten Gültigkeitsanspruch. Daraus resultierte, dass z.B. die Kurkölner Richter einen anderen normativen Diskurs zu beachten hatten, als die Jülich-Berger Richter oder die Brandenburg-Ansbacher Landrichter. Es sei an dieser Stelle exemplarisch auf die Kurkölner Judenordnung von 1700 verwiesen, die Teil des normativen Diskurses in Kurköln war, jedoch nicht in Jülich-Berg galt. Im Jülich-Berger normativen Diskurs hingegen wurde die Sitten- und Religionspolicey als eigenständige umfassende Ordnung nicht zur Sprache gebracht. 346 Die verschiedenen Urteilsdiskurse sind also nicht mit demselben, sondern mit verschiedenen normativen Diskursen verschränkt. Die Art der Verschränkung ist vielschichtig. So ist der Kurkölner hofrätische Urteilsdiskurs im prozessrechtlichen Teil des kurkölnischen normativen Diskurses fundiert. Im Kurkölner Prozessrecht war festgelegt, wie ein Verfahren als Ganzes organisiert werden musste, wie oft sich eine Partei im Rahmen eines Verfahrens zur Sache einlassen durfte, welche Form die Eingaben der Parteien haben mussten, wie Beweise eingereicht werden mussten, wann und wie Zeugen zu verhören waren, wie die Klage formuliert und substantiiert artikuliert werden musste etc. 347 Kurzum stellt der prozessrechtliche Teil eines normativen Diskurses sowohl die Bedingung der Möglichkeit eines Ver- 346 Generell wurde die Sitten- und Religionspolicey in der Jülich-Berger Gesetzgebung ausgespart. Härter, “Jülich-Berg,” 1166. 347 Das Prozessrecht Kurkölns wurde bis dato nicht in einer einzigen Monographie umfassend abgebildet, so dass auf folgende drei ältere Forschungswerke verwiesen werden muss, in denen verschiedene prozessrechtlichen Bestimmungen des Kurkölner Hofrates zusammengetragen wurden, die alleridngs allen voran den verworrenen Instanzenzug regelten.: Schulz, Der Kurkölnische Hofrat von 1724 bis zum Ausgange des Kurstaats, 53-68; Strauch, “Das hohe weltliche Gericht zu Köln.”, 810-827; Eisenhardt, Der Kurkölnische Hofrat. Aufgabenbereich und Bedeutung des Kurkölnischen Hofrates in den letzten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts, 50ff. Siehe ferner für den Jülich-Berger Hofrat: Adenauer, "Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810," 71ff. Die umfassendste Arbeit zum Prozessrecht eines spezifischen Gerichts (welche zugleich nicht primär die Appellationsmöglichkeiten bespricht) stellt noch immer die Dissertation von Heide-Marie Götte zum jüngsten Reichsabschied und der darin enthaltenden Reformation des Verfahrens am RKG dar: Götte, Der jüngste Reichsabschied und die Reform des Reichskammergerichts. Die obigen Ausführungen fussen primär auf eben diesem Werk, da ein ähnliches, auf die Verfahrensorganisiation ausgerichtetes Werk für den Kurkölner Hofrat bis dato nicht geschrieben resp. publiziert wurde. <?page no="89"?> 90 fahrens als auch dessen obligatorische Organisationsform dar. Das Prozessrecht gab aber nicht allein die innere Organisation eines Verfahrens vor, sondern zugleich wurde darin geregelt, welche Art von Prozess unter welchen Bedingungen überhaupt vor einem spezifischen Gericht geführt werden konnte und welches Gericht in einer spezifischen Sache zuständig war. Ohne das Prozessrecht wäre ein Prozess nicht einmal denkbar gewesen. Nun stellt ein Verfahren nicht als Ganzes einen Diskurs dar, sondern es besteht aus mehreren Diskursen resp Sequenzen (z.B. Zeugenverhör und Urteilsdiskurs). 348 Das Prozessrecht fundierte also ein Verfahren und somit auch die Diskurse, aus denen ein Verfahren letztlich bestand. Der Kurkölner normative Diskurs bildete dementsprechend für alle Verfahrensdiskurse das Fundament, die in Kurköln im Rahmen von Verfahren ausgerollt wurden. Er bringt also den Urteilsdiskurs hervor und stellt zugleich dessen Sockel dar. Diese Verschränkung zeitigte Folgen, die mit Blick auf die Subsumption klar hervortreten. Die obligatorische Subsumption konkreter Parteien unter abstrakte Rechtssubjekte zwang die Richter, in Urteilsdiskursen territoriale normative Diskurse zur Sprache zu bringen. Die Verschränkung der beiden Diskurse sollte nicht stillschweigend seitens der Richter hingenommen werden, sondern die obligatorische Form der Relation forderte, die Verschränkung auch zu offenbaren und in Urteilsdiskursen die fundierenden normativen Diskurse zur Sprache zu bringen. Die in den Relationen betonte Verschränkung verband keine gleichwertigen Diskurse. Sie verband zwei Diskurse im Stile einer Ursache-Wirkung-Relation miteinander. In der Folge kam normativen Diskursen entnommene Aussagen (Rechtssätzen) eine besondere Stellung in den Urteilsdiskursen zu. Sie waren längst in eben jenen territorialen normativen Diskursen für wahr befunden worden, die die Urteilsdiskurse fundierten. Die Verschränkung der normativen Diskurse mit den Urteilsdiskursen lieferte also für letztere ein Gerüst an Aussagen, die unbezweifelbar sagbar und wahr waren und die mittels Allegation dann auch in verbis zur Sprache gebracht wurden. Es gab allerdings zwei Möglichkeiten, Rechtssätze in Urteilsdiskursen zu entkräften. Die eine Möglichkeit ergibt sich aus der Komplexität des Rechts in der Frühen Neuzeit. Da in den verschiedenen normativen Diskursen widersprüchliche Rechtssätze existieren konnten, war es folglich durchaus möglich, einen Rechtssatz mit einem anderen kontradiktorischen Rechtssatz anzugreifen. In einem solchen Fall griff man jedoch eine aus einem normativen Diskurs stammende Aussage mit einer anderen an. Die andere Möglichkeit stellte die - von dem großen Vernunftrechtler Cesare Becarria so verachtete 349 - forensische Interpretation dar, deren Anwendung in Kapitel 5.1 ausführlich erörtert wird. 348 Das Verfahren als Kumulation verschiedener Kommunikationsformen (Diskurse): Hoffmann, Kommunikation vor Gericht, 23ff, 357ff; Sauer, “Der wiedergefundene Sohn,” 77ff; Scheffer, “Die trans-sequentielle Analyse und ihre formativen Objekte,” 89ff; Scheffer, “Diskurspraxis in Recht und Politik. Trans-Sequentialität und die Analyse rechtsförmiger Verfahren,” 229ff. 349 Conrad, Richter und Gesetze im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 14. <?page no="90"?> 91 Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, um kein falsches bzw. schiefes Bild der Rechtsanwendung zu zeichnen, dass auch jüdisches Recht in den Urteilsdiskursen zur Anwendung gebracht wurde. Jedoch wurde - wie im nächsten Kapitel gezeigt wird - dessen Anwendung mit Aussagen aus dem jeweiligen territorialen normativen Diskurs begründet. 3.3 Das mosaische Gesetz im Urteilsdiskurs Das jüdische Gesetz - die Halacha - ist die Gesetzgebungslehre des Talmud, die das jüdische Leben reglementiert. 350 Eine der großen Autoritäten auf den Gebiet des jüdischen Gesetzes im 16.Jahrhundert war der sephardische Gelehrte Joseph ben Ephraim Caro, der mit seinem Werk „Bet Joseph“ einen bedeutsamen Kommentar zum Talmud verfasst hatte. Sein relevantestes Werk war allerdings der „Schulchan Aruch“ (Der gedeckte Tisch), der 1564/ 65 in Venedig veröffentlicht wurde. 351 Caro fasste in diesem Werk alle noch geltenden religiösen Vorschriften (Verbote, Gebote und Minhagim 352 ) so zusammen, dass sie ohne langjährige Vorstudien im Laufe eines Monats studiert werden konnten. 353 Während das Werk unter den sephardischen Juden der Diaspora reüssierte, bedurfte es für den aschkenasischen Gebrauch einer Bearbeitung. Diese besorgte der aschkenasische Rabbiner Moses ben Israel, gen. Ramo, mit seiner „ha-Mappa“ (Das Tischtuch). 354 Dieses Werk folgte zwar dem Aufbau des „Schulchan Aruch“, allerdings stellte Ramo in seinem Werk den sephardischen Rechtsauslegungen die der deutsch-französischen Talmudisten entgegen. 355 Dies war nötig, da sich die aschkenasische von der sephardischen Rechtsauslegung unterschied. Erst durch die „ha-Mappa“ konnte das aschkenasische Judentum den „Schulchan Aruch“ akzeptieren. Beide Werke zusammen „wurden gleichsam zu einer Art geschriebenen Verfassung für das Leben der Juden, für das Verhalten in der jüdischen Gemeinschaft ebenso wie für die Beziehung zur christlichen Umwelt.“ 356 Es gilt dabei zu beachten, dass die beiden Werke Kommentare darstellten bzw. Kompilationen der jüdischen Gesetze. Die eigentlichen Quellen der jüdischen Gebote waren freilich die Thora und der Talmud. Gleichwohl waren es eben die von Caro und Ramo verfassten Werke, die eine immense gesetzliche Autorität unter den Juden erlangten. 357 Es gab also ein aus der Thora und Talmud resultierendes und in kommentierter Form vorliegendes jüdisches Recht, welches freilich im Rahmen innerjüdischer Prozesse vor Rabbinatsgerichten 350 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 173. 351 Ibid. 352 = Gebote gleichwertig erachtete Gebräuche 353 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 173. 354 Ibid., 174 355 Ibid. 356 Ibid. 357 Ibid. <?page no="91"?> 92 angewandt werden konnte und unter spezifischen Umständen konnte es auch in obergerichtlichen Verfahren angewandt werden. 358 Ein instruktives Beispiel für den Umgang des Kurkölner Hofrates mit dem jüdischen Recht stellt ein in den 1760er Jahren des 18. Jahrhunderts verhandelter Fall dar, der zugleich Auskunft darüber gibt, dass jüdisches und christliches Recht nicht allein aus unterschiedlichen Federn stammten, sondern auch Sachverhalte von den beiden Rechtsmassen unterschiedlich bewertet wurden. Der Kurkölner Schutzjude Gumpers Wolf wollte sein Haus an den ebenfalls vergleiteten Juden Benjamin verkaufen. Allerdings verhinderte ein Kurkölner Untergericht 359 den Verkauf mit dem Argument, das Haus gehöre nicht Gumpers Wolf, sondern dessen Kindern aus erster Ehe. Es entbrannte eine heftige Debatte zwischen dem Untergericht und Wolf, die primär darauf fußte, dass das Gericht auf den Kurkölner normativen Diskurs abstellte, während dieser das jüdische Recht angewandt wissen wollte. Er wandte sich dann auch an den Kurkölner Hofrat und bat diesen, das Untergericht anzuweisen, dem Häuserverkauf nicht weiter im Weg zu stehen. 360 Der Hofrat musste nun also primär die Frage entscheiden, nach welchem Recht der Fall überhaupt bewertet werden sollte. Der mit dem Fall beauftragte Erstreferent allegierte zur Beantwortung der Frage den bekannten christlichen Rechtslehrer Johann Beck, der erklärt hatte, „daß in Sucessions Fällen unter denen Juden nach ihren Gesetzen aus Hebrag zu urthelen seye, wird von denen [? ? ? ] und bewaheteßen Rechtslehrern nach Zeugnus Beck de jure judaore 361 Cap II. §12 mit guten Grund behauptet.“ 362 Auch in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde die Anwendung des mosaischen Rechts mit dem Verweis auf Becks Werk „de juribus judaeorum“ gerechtfertigt. Ferner wurde weiterhin die Möglichkeit der Anwendung auf innerjüdi- 358 Zur Bedeutung der rabbinischen Rechtsprechung: Daniel J. Cohen, “Die Entwicklung der Landesrabbinate in den deutschen Territorien bis zur Emanzipation,” in Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, ed. Alfred Haverkamp (Stuttgart, 1981); Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit: Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum (Göttingen, 2008), 7-23; Andreas Gotzmann, “Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie in den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts,” in Historische Zeitschrift 267 (1998); Birgit E. Klein, “Unter der Herrschaft einer gnädigen Obrigkeit: Das Kurkölner Landesrabbinat von den Anfängen bis in die Zeit von Kurfürst Clemens August,” in Hirt und Herde: Religiösität und Frömmigkeit im Rheinland des 18. Jahrhunderts, ed. Frank Günther Zehnder (Köln, 2000). 359 Leider ist der Name des Gerichts in der Relation nicht lesbar, sodass sich nicht klären lässt, welches Gericht den Verkauf verhinderte. 360 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 72 a, Relation 1, F. 1 vf. 361 Beck wandte sich den Juden allein auf Basis christlich-römischen Rechtsquellen zu. Johann Jodocus Beck, de juribus Judaeorum, Nürnberg 1731, Vorrede, in: http: / / reader.digitalesammlungen.de/ en/ fs1/ object/ display/ bsb10521360_00012.html. [zuletzt eingesehen am 12.03.18]. 362 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 72 a, Relation 1 F. 1 r. <?page no="92"?> 93 sche Sukzessionsfragen und Zeremorialsachen begrenzt. 363 Ferner war das mosaische Recht nur insofern anwendbar, dass es der Kurkölner Judenordnung nicht widersprach. So führte ein Referent im Jahre 1760er Jahren aus, „daß dan man Benjamin all das jenige recht so das Gumpertz de qs Behausung gehabt übertragen warde. Ich sage zu fluß all das jenige recht, wailen nach Vorschrifts erzstiftlicher Judos ordnung die Juden in liegende Guthere den Eigenthumb nicht an sich bringen mögen.“ 364 Der Kurkölner normative Diskurs gab also einen Raum im Kurkölner Urteilsdiskurs vor, in dem das mosaische Recht angewandt werden durfte. Es galt allerdings bei der Anwendung des mosaischen Rechts ostentativ darauf zu verweisen, dass der territoriale normative Diskurs die Anwendung goutierte. Das mosaische Recht konnte von den Oberrichtern nicht als eine dem ius commune oder landesherrlichem Recht äquivalente Rechtsmasse, sondern nur also eine diesen beiden Rechten untergeordnete und in seiner Anwendung von diesen abhängige Rechtsmasse begriffen werden, wobei generell nur ein kleiner Ausschnitt des jüdischen Gesetzes im Urteilsdiskurs platzierbar war. Es war den Kurkölner Referenten also theoretisch gestattet, jüdische Rechtssätze in den Urteilsdiskurs zu platzieren, um diese dann auch auf einen Sachverhalt anzuwenden. Jedoch gab es ein praktisches Problem: Das jüdische Recht lag in hebräischer Sprache vor und war somit den Oberrichtern nicht zugänglich. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts war es in der Folge einem Referenten zwar möglich, für die Anwendung des mosaischen Rechts im Kurkölner Urteilsdiskurs zu argumentieren, allerdings konnte er das mosaische Recht nicht selbst anwenden. Stattdessen griff er auf rabbinische Gutachten zurück, in denen Rabbiner das mosaische Recht auf den von dem Referenten zu erörternden Fall angewandt hatten. 365 Damit ging eine Anerkennung der rabbinischen Autorität bezüglich des mosaischen Rechts einher, die immerhin soweit ging, dass im Kurkölner Urteilsdiskurs argumentativ auf deren Gutachten rekurriert werden konnte. Der Kurkölner Urteilsdiskurs anerkannte also nicht allein Teile des mosaischen Rechts, sondern auch die Autorität der Rabbiner bezüglich der Anwendung dieses Rechts. In den folgenden Jahrzehnten wandelte sich der Umgang mit dem mosaischen Recht am Kurkölner Hofrat, ohne dass das generelle Verhältnis zwischen dem partikularen, gemeinen Recht und Reichsrecht auf der einen und dem mosaischen Recht auf der anderen Seite neu bestimmt wurde. Allerdings wurde das mosaische Recht in der Konsequenz stärker in den Kurkölner Urteilsdiskurs integriert. 363 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 46, Relation 1. 364 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 72 a, Relation 1, F. 1r. 365 Ibid., F. 1 rf. <?page no="93"?> 94 In den 1790er Jahren erklärte ein Kurkölner Referent, dass das mosaische Recht die männliche Erbfolge präferiere und nur im Falle des Aussterbens im Mannesstamme die weibliche Sukzession möglich sei, „man sehe manches Mendelsohns Ritualsgesetze der Juden und Beck de juribus judaeorum.“ 366 Die Übersetzung der Thora des weltberühmten jüdischen Gelehrten und Sternes der Haskala (jüdische Aufklärung) erschien erst 1783, weswegen Referenten vor diesem Zeitpunkt noch keinen Zugriff über das Werk auf das mosaische Recht hatten. Ein anderer Referent explizierte in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts die Ausführungen des mosaischen Rechts zur Sukzession in extenso und verwies auf „Michaelis mosaisches Recht pag. 59“. 367 Damit führte er damals ein hochaktuelles Werk an, war doch das „Mosaische Recht“ des Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis erst 1793 erschienen. Am Ende des Jahrhunderts allegierten Referenten also mosaisches Recht und verwiesen dabei wie bei römisch-gemeinem und partikularem Recht auf die Rechtsquelle. Dies war allein möglich, da in der Zwischenzeit Übersetzungen des mosaischen Rechts entstanden waren, die sowohl aus christlicher als auch aus jüdischer Feder 368 stammen und mittels derer die Kurkölner Oberrichter auf das mosaische Recht zugreifen konnten. Das den Richtern eigentlich fremde Recht verlor durch diese Übersetzungen seinen exotischen Charakter, welcher allein schon durch die Sprachbarriere evoziert wurde, und in der Folge argumentierten Referenten mit jüdisch-rechtlichen Sätzen, wie mit gemeinrechtlichen oder partikularrechtlichen: Sie allegierten diese. Diese Form der Integration ging sogar soweit, dass Referenten in den 1790er Jahren in einem Verfahren zwar das mosaische Recht anwandten, um die Erbfolge im Rahmen eines Erbschaftsstreitverfahrens zu bestimmen, allerdings griffen sie auf gemeinrechtliche und partikularrechtliche Aussagen zurück, um eine testamentarisch bestimme Übertragung des Erbweges zu bewerten. Diese begriff ein Referent als eine römischrechtliche Substitution 369 , während ein anderer Referent sie unter einen entsprechenden Paragraphen des kurkölnischen Landrechts subsumierte. 370 So entstanden Mischargumentationen gemeinrechtlicher, partikularrechtlicher und jüdisch-rechtlicher Provenienz, in denen Aussagen aus den verschiedenen Rechtsmassen nebeneinander als Argument standen, um den rechtmäßigen Erben zu bestimmen. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das mosaische Recht - in dem ihm vom Kurkölner normativen Diskurs bestimmten Raum im Kurkölner Urteilsdiskurs - analog zu dem gemeinen oder partikularen Recht angewandt. Die 366 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 46, Relation 1. 367 Ibid., Relation 4. 368 Wobei Moses Mendelssohn einen jüdischen Ausnahmegelehrten darstellte, der unter den Großteil christlicher Gelehrter einen guten Ruf genoss. Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 71ff. 369 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 46, Relation 4. 370 Ibid., Relation 5. <?page no="94"?> 95 Übersetzungen des mosaischen Rechts evozierte diese stärkere Integration des Rechts. Zwar blieb das generelle Verhältnis der Rechtsmassen von den Auswirkungen der Übersetzungen unberührt, aber es kam eben zumindest in spezifischen Bereichen zu einer gleichberechtigten Anwendung der verschiedenen Rechtsmassen, die so weit ging, dass sogar Mischargumentationen im Kurkölner Urteilsdiskurs auftauchen. Es lassen sich an dieser Entwicklung im Umgang mit dem mosaischen Recht am Kurkölner Hofrat drei Punkte festmachen. Erstens konnte das mosaische Recht im Kurkölner Urteilsdiskurs platziert werden, da der Kurkölner normative Diskurs dessen Anwendung in spezifischen Zusammenhängen anerkannte. Zweitens zeigt sich, dass (rabbinische) Gutachten allein vonnöten waren, um Materien in dem Urteilsdiskurs zur Sprache bringen zu können, die den Kurkölner Oberrichtern fremd waren bzw. auf die sie keinen Zugriff hatten. Ab dem Zeitpunkt, als den Richtern Zugriffsmöglichkeiten geboten waren, griffen sie nicht mehr auf Gutachten zurück, sondern wandten das mosaische Recht autonom an. Drittens ging mit der autonomen Anwendung des mosaischen Rechts eine stärkere Integration des mosaischen Rechts in den Kurkölner Urteilsdiskurs einher. Der für den Kurkölner Hofrat herausgearbeitete Umgang mit dem mosaischen Recht und dessen Entwicklung stehen nicht pars pro toto für die anderen Gerichte. Während für den Jülich-Berger Hofrat keine innerjüdischen Prozesse aufgetan werden konnten, offenbart ein in den 1770er Jahren am Kaiserlichen Landgericht verhandelter Fall einen anderen Umgang mit dem mosaischen Recht. Im Zentrum des Verfahrens stand eine Forderung einer jüdischen Witwe gegen die Konkursmasse ihres Mannes. Im Zuge des Verfahrens wurden die unterschiedlichen rechtlichen Ausprägungen christlicher und jüdischer Ehen thematisiert, sowie (vermeintlich) spezifische jüdische Eigenarten bei der Eheschließung. 371 Im Laufe der sich unter den Landrichtern entfaltenden Debatte über den Fall wurde die Frage aufgeworfen, ob es nicht eines Gutachtens über die mosaisch-rechtliche Ausgestaltung der Ehe (primär des Ehevertrages) und des jüdischen Ehebrauchtums bedürfe. 372 Nun wurde jedoch nicht etwa überlegt, jüdische Rabbiner um ein solches zu bitten, sondern die Landrichter wollten einen gewissen Erzdiakon Rabe mit der Verfassung eines solchen Gutachtens beauftragen. 373 Diese Praxis war nicht neu. Der Debatte ist zu entnehmen, dass schon in mindestens einem früheren Verfahren ein Respons des Erzdiakons seitens des Landgerichts erbeten worden war, in dem der Erzdiakon einen jüdischen Ehevertrag übersetzt und zugleich generelle Informationen über solche 371 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a Kaiserliches Landgericht 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1-5. 372 Ibid., Relation 2-5. 373 Ibid., Relation 2, 5. <?page no="95"?> 96 Verträge kompiliert hatte. Mithin diente dieser Respons den Landrichtern in der Debatte in den 1770er Jahren als Quelle, um sich über die jüdische Ehe zu äußern. Ferner waren sie sogar in der Lage, hebräische Begriffe zur Bezeichnung der jüdischen Heiratsbriefe zu nutzen. 374 Man griff am Landgericht also nicht auf rabbinische Gutachten zurück, welche die Rechtsanwendung besorgten, sondern ließ einen christlichen Geistlichen, der als Experte für die jüdische Ehe im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs geführt wurde, Gutachten und Responsen verfassen. Es lässt sich also konstatieren, dass der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs zwar die Anwendung des mosaischen Rechts, nicht aber die Autorität der Rabbiner goutierte. Die Gutachten Rabes wurden nun nicht allein zur Lösung des Falles genutzt, für den sie verfasst worden waren, sondern die Landrichter nutzten die Gutachten bzw. Responsen offensichtlich, um Wissen über jüdisches Recht und Brauchtum zu akkumulieren, dass sie dann auch zur Lösung weiterer Fälle selbstständig anwandten. 375 In der Folge konnten die Landrichter bereits vor den Übersetzungen des mosaischen Rechts in den 1780er und 1790er Jahren dieses schon in einem gewissen Umfang selbstständig anwenden. Die Anwendung des mosaischen Rechts bedurfte auch keiner Rechtfertigung wie im Kurkölner Urteilsdiskurs. Allerdings stand das mosaische Recht trotz des Fehlens der Rechtfertigung der Anwendung durch Aussagen aus dem Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs in einem untergeordneten Verhältnis zu diesem. So wurde bei der Anwendung des mosaischen Rechts dezidiert herausgestellt, dass dessen Anwendung nicht dazu führen dürfe, dass Juden besser gestellt seien als Christen. In der Folge tauchen in dem Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs Mischargumentationen auf, in denen landesrechtliche oder gemeinrechtliche Bestimmungen angeführt wurden, um die Anwendung des mosaischen Rechts zu begrenzen. 376 Folglich war auch im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs das mosaische Recht dem gemeinen und partikularen Recht untergeordnet, stellten doch letztere die Grenze der Anwendungsmöglichkeit des Ersten dar. Der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs nahm so die von Classen konstatierte Assimilationspolitik der Emanzipationszeit cum grano salis vorweg. Das jüdische Recht konnte zwar angewandt werden, ohne dass es einer Apologie der Anwendung bedurfte, jedoch konnte es nur insofern appliziert werden, als dass es im Einklang mit dem gemeinen und partikularen Recht stand bzw. gebracht werden konnte. Das mosaische Recht wurde also im Moment der Anwendung durch die Landrichter dem gemeinen und partikularen Recht angeglichen. 374 Ibid., Relation 2, 4. 375 Ibid., Relation 2, 5. 376 Ibid., Relation 2. <?page no="96"?> 97 3.4 Zwischenfazit In den Relationen mussten die Parteien obligatorisch unter Rechtssubjekte subsumiert werden, sodass die konkreten Parteien entindividualisiert in rechtliche Beziehungen zueinander gesetzt wurden. Daraus folgend gab das Recht den Rahmen vor, in dem species facti und Sachverhalte zu erzählen waren. Die Stellung des Rechts in den Urteilsdiskursen, die durch die Subsumption konkreter Parteien unter Rechtssubjekten ihren offensichtlichsten Ausdruck findet, resultiert aus einer Verschränkung zwischen Urteilsdiskursen und normativen Diskursen, die Aussagen aus normativen Diskursen einen besonderen Wahrheitsanspruch in den Urteilsdiskursen verlieh. <?page no="98"?> 99 4. Das Auftauchen von Juden in den Urteilsdiskursen Nachdem im letzten Kapitel dargestellt wurde, dass das Recht in den Urteilsdiskursen via Subsumption zur Sprache gebracht werden musste und die Subsumptionsmethode auf eine Verschränkung von territorialen normativen Diskursen mit Urteilsdiskursen verweist, wird nunmehr das Auftauchen von Juden in den Urteilsdiskursen erörtert. Es wird sich zeigen, dass deren Auftauchen aus der diskursiven Verschränkung von Recht und Urteilsdiskurs folgt. Dementsprechend gilt es eingangs darzustellen, wie das Rechtsubjekt Jude in den drei für diese Arbeit relevanten territorialen normativen Diskursen ausgestaltet war. 4.1 Der normative Diskurs, der Urteilsdiskurs und die Juden In Kurköln war schon 1599 die erste Judenordnung erlassen worden, in der allein die jüdische Lebenswelt und das christlich-jüdische Miteinander normiert wurden. 1700 kam es dann zu einer Neuauflage, in der eingangs festgehalten wurde, dass die Landstände mit der Bitte um die Ausweisung der jüdischen Minderheit an den Kurfürsten herangetreten waren, der Kurfürst die Bitte desavouierte und stattdessen eine neue Judenordnung erließ. 377 Mit diesen beiden Verordnungen wurde die gesellschaftliche Sonderrolle der Juden in Kurköln zementiert, da in dieser mittelalterliche Vorurteile über Juden transportiert wurden. 378 Auf solchen Vorurteilen basierten dann Rechtssätze, die beispielsweise den Juden verboten, arglistig und betrügerisch zu handeln. 379 In Jülich-Berg war, aufgrund der generellen Abstinenz von Rechtssätzen, welche die Religions- oder Sittenpolicey berührten, keine Judenordnung aufgerichtet worden. 380 Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Jülich-Berger Partikularrecht nicht jüdische und jüdisch-christliche Verhältnisse in eine rechtliche Form gegossen worden wären. Am 18. Dezember 1652 wurde verordnet, dass vergleitete jüdische Händler einen maximalen Jahreszins von 12% veranschlagen durften. 381 Ein Blick auf dieses Einzelgesetz lehrt dann auch, dass es keiner umfassenden 377 J.J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln (im rheinischen Erzstifte Cöln, im Herzogthum Westphalen und im Veste Recklinghausen) über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind : vom Jahre 1463 bis zum Eintritt der Königl. Preußischen Regierungen im Jahre 1816, Band 1, (Düsseldorf 1830/ 1), 557f, in: http: / / digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/ content/ titleinfo/ 8208. 378 Ibid., Kap 1. § 12, Kap 4. § 2. 379 Ibid., Kap. 4. §2. Härter, “Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht.”, 350-64. 380 Härter, “Jülich-Berg,” 1166. 381 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Scotti, J.J., Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in den ehemaligen Herzogthümern Jülich, Cleve und Berg… über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind I-IV, (Düsseldorf 1821- 1822), Band 1, 127ff. Karl Härter spielte auf eben diese „Einzelgesetze“, sowie auf die Geleitskonzessionen, an, als er von Jülich-Berger Judenordnungen sprach. Vgl. Härter, „Jülich-Berg“, 1166. <?page no="99"?> 100 Judenordnungen bedurfte, um traditionelle, antijüdische Stereotype in eine Rechtsordnung miteinfließen zu lassen. So argumentierte der Gesetzgeber in dem Einzelgesetz, dass der gewährte Zinssatz für die jüdischen Händler zur Eindämmung des schädlichen jüdischen Wuchers diene. 382 Ferner hatte der kurpfalzbayrische Fürst am 4. Juli 1783 ein Gesetz erlassen, dass allein die Abfassung jüdischer Kaufmannsbücher reglementierte, und somit ebenfalls Aussagen über ein Rechtssubjekt Jude in den Jülich-Berger normativen Diskurs stellte. 383 Neben solchen Einzelgesetzen lagen in Jülich-Berg auch die für die Frühe Neuzeit und das Alte Reich typischen Geleitskonzessionen für Juden vor. 384 Mit Geleitskonzessionen wurde, cum grano salis, Juden ein Bleiberecht in einem Territorium gewährt. So durften sich entsprechend mit einem Geleit versehene Juden dann in einem Territorium ansiedeln, wofür sie einen Obolus an die Landesherrschaft zu entrichten hatten. Die Konzessionen wurden oftmals nur für eine gewisse Zeitspanne vergeben. Mit ihrem Erlöschen endete auch das gewährte Bleiberecht, sodass die Konzession erneuert und verlängert werden musste. Die durchschnittliche Dauer der Befristung der Konzessionen in Jülich- Berg sank im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. So hatte die 1689 erlassene noch 31 Jahre Bestand. Im 18. Jahrhundert erhöhten die Wittelsbacher die Taktfrequenz, sodass die Generalkonzession 1720, 1733, 1747, 1763 und schließlich 1779 erneuert wurde. 385 Die territoriale Obrigkeit erhöhte nicht allein die Frequenz, sondern baute auch den normativen Inhalt aus. So enthielten die um 1700 von den Landesherren erteilten Geleitskonzessionen nur einige knappe normative Sätze zur Niederlassungszahl. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Geleitspatente dann zu vergleichsweise umfassenden Rechtsordnungen entwickelt. 386 382 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Scotti, J.J., Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in den ehemaligen Herzogthümern Jülich, Cleve und Berg… über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind I-IV, (Düsseldorf 1821- 182)2, Band 1, 21ff. 383 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, HS L II 7 Band XI, 4. Juli 1783. 384 Grundsätzlich war Juden der Aufenthalt und Handel in einem Territorium des Alten Reiches nur gestattet, sofern sie einen Geleitsbrief vorweisen konnten. Dieser Geleitsbrief musste freilich von dem jeweiligen Territorialherren - zumindest nominell - ausgestellt worden seien. In der Regel arbeiteten die Landesherren mit Generalkonzessionen, die für ein jüdisches Kollektiv in der politischen Verfassung einer Landjudenschaft galten. Daneben traten auch Individualgeleitpatente, die für einzelne Juden oder einzelne jüdische Familien galten. Im Folgenden wird allein die Generalkonzession betrachtet, sodass auch nur noch von ihr gesprochen wird. Für die Juden galt dann die Konzession unter der sie vergleitet worden waren. Somit verloren Konzessionen nach ihrem Auslaufen ihre Rechtskraft und wurden durch neue (mehr oder minder inhaltsgleicher) Konzessionen ersetzt. Siehe zum Geleit: Bastian Fleermann, Marginalisierung und Emanzipation: jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779 - 1847: Bergische Forschungen / 30, (Schmidt, 2007), 66-72. 385 Ibid., 66. 386 Ibid. <?page no="100"?> 101 Auch die beiden fränkisch-brandenburgischen Markgrafentümer Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach (Bayreuth) kodifizierten zwar keine umfassende Judenordnung. Es wurden allerdings die für die Frühe Neuzeit typischen Policeyordnungen erlassen, in denen auch Juden thematisiert wurden. So wurden in der Brandenburg-Bayreuther Policeyordnung von 1672 im Kapitel zum Wucher Christen und Juden gemeinsam angesprochen und beiden wurde ein Zinssatz von bis zu 5% gestattet. 387 Den letzten Artikel der Policeyordnung widmete der Gesetzgeber dann allein den Juden. Allen voran wurden die Bedingungen des jüdischen Lebens normiert. In diesem Abschnitt wird dann auch gleich das gesamte Repertoire an judenfeindlichen Stereotypen geäußert. Sie seien schändlich für das Land, würden Christus hassen, seien sowieso Todfeinde der Christen und würden diese betrügen, sowie wuchern und schachern. 388 In der Policeyordnung von 1746 wurde der Artikel in leicht abgeänderter Fassung beibehalten. In ihr fehlt nunmehr die Aufzählung der antijüdischen Stereotype. Allein der Wuchervorwurf wurde übernommen. 389 In allen drei territorialen normativen Diskursen existierte also ein Rechtssubjekt Jude, welches als betrügerisch charakterisiert wurde. Ganz im Sinne der Subsumptionsmethode ordneten die Oberrichter an allen drei untersuchten Gerichten in ihren Relationen jüdische Parteien unter dieses Rechtssubjekt. 390 Das Auftauchen von Juden in den drei Urteilsdiskursen resultiert also aus deren Verschränkung mit dem jeweiligen territorialen normativen Diskurs, der Offen- 387 “Nr. 23: Markgrafentum Brandenburg-Bayreuth (1672): „Caput VII. Von der policey u e berhaupt. Num. I. Erneuerte und vermehrte policey-ordnung unter weyland herrn marggrafen Christian Ernsts g.m. regirungs-zeiten publicirt.“,“ in Die gute Policey im fränkischen Reichskreis, ed. Wolfgang Wüst (Berlin, 2003), Tit. XXXXIIII Von wucher und wucherlichen contracten, 666. 388 Ibid., Tit. XXXXV von juden, 667ff. 389 “Nr. 24: Markgrafentum Brandenburg-Bayreuth (1746): Revidirte und verbesserte policeyordnung des durchlauchtigsten fürsten und herrn, herrn friedrichs, marggrafens zu Brandenburg, in Preussen etc.herzogs etc. ergangen den I. September 1746,“ in ibid., Tit. XXXVII von Juden, 709ff. 390 Vgl. exemplarisch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II A 35, Relation 1,2; Nr. II T 19, Relation 2.; Nr. II L 51, Relation 1; Nr. II E 10, Relation 1,2; Nr. II H 19, Relation 1; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1; Nr. / B XII 12 a, Relation 1; B IV 61, Relation 1,2; B VII 238 a, Relation 2,3,4,5; B XVII 17, Relation 1,2; B XVII 42, Relation 1,2; B IV N 210, Relation 1; B XXVIII 4, Relation 1; B VII N. 85, Relation 1; B XXV Nr. 3, Relation 1; B VII 156, Relation 1,2; Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1,2,6,7,8; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1; Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1; Nr. 344 Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 1; Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1; Nr. 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783), Relation 1; Nr. 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783), Relation 1; Nr. 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783), Relation 1; Nr. 350, Hofmann zu Untersulzbach wider Abraham Levi Jeckelheimer (1784), Relation 1; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1; Nr. 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795), Relation 1. <?page no="101"?> 102 legung der Verschränkung durch die Subsumptionsmethode und der Existenz eines Rechtssubjekts Jude in allen drei normativen Diskursen. Gleichwohl dieses Rechtssubjekt in diesen äquivalent beschrieben wurde, finden sich nicht in allen drei Urteilsdiskursen die gleichen Charakterisierungen des Rechtssubjekts Jude. Der Signifikant Jude taucht also in allen drei Urteilsdiskursen auf, dessen Signifikat differiert jedoch. Dies ist erklärungsbedürftig, da an sich die äquivalente Charakterisierung des Rechtssubjekts Jude in den drei normativen Diskursen auch ein ähnlich ausgestaltetes Rechtssubjekt Jude in den drei Urteilsdiskursen besorgen müsste. Am kaiserlichen Landgericht zum Burggrafentum Nürnberg vollzog sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein Wandel im Umgang mit den Jüdischen Parteien. Zu Beginn des Jahrhunderts führte ein Richter in seiner Eingabe zum Fall Lattenmeyer wider Lazarus aus, „[d]ie Juden haben […] Übersatz und Wucher [betrieben] unter denen Christen, zu unmerklichen Schaden christlicher Gemeinden und Comun in Städt und auf dem Land.“ 391 Er illustrierte diese Aussage mit einer fiktiven Rechnung. „Wenn ein Jud alle Wochen 2 frankfurter Fl. Zu Wucher gibt, und derselb Wucher jährlich auf kürzerem Wuchers Wucher zum Haubtbuch geraidet wird: so bringen 20.R. in 20 Jahren 51854 [Fl.].“ 392 Er zeigte dann auch an, dass seine Aussagen auf dem territorialen normativen Diskurs, genauer gesagt der Reichpoliceyordnung von 1577, fundiert waren. „[I]n bemühen seine Richter […] wider die jüdische Wuchereyen, bey einer jeden mithin auch jetziger Occassion auch alla rechtmäßiger erfindlicher Weise unaufhörlich fortzufahren, dringentlichste Ursache, so zumahle auch darin bestehen, daß über sothans derer Juden allerschädlich und verdarlichstes Regierens tum ipsi tam politica Justia Sacerdotes, quam Theologi, gravissimas querelas führen: vid. E.G.(a.) die Reichspoli=cey Ordnung ex A.CH.1577.Tit.20 und daraußen die ausführung daß durch die Juden und ihren unmäßigen= und ungöttlichen Wucher und Lierantz das gemein arm nothdürfftige Volck mehr, dann jemand genug rechnen kann, beschweren, aussaugen, und jämmerlich verderben, und zu vielen bösen Thaten verursachen.“ 393 Mit dem Verweis auf den normativen Diskurs charakterisierte der Referent das Rechtssubjekt Jude also als Feinde der Christen, Betrüger und Wucherer. Die jüdische Partei in dem Verfahren war nur mittelbar von der Zuschreibung be- 391 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1, F. 4v. 392 Ibid. 393 Ibid., F. 3vff. <?page no="102"?> 103 troffen, da sie unter das Rechtssubjekt Jude subsumiert wurde. Durch die Subsumption wurde die jüdische Partei mit der Charakterisierung des Rechtssubjekts zusammen gebracht. Die meisten seiner Richterkollegen goutierten die Ausdehnung der Charakterisierung des Rechtssubjekts auf die konkrete jüdische Partei. 394 Ein Landrichter jedoch erhob Widerspruch. Die Ausdehnung der Charakterisierung sei unzulässig, argumentierte dieser auf den Brandenburg- Ansbacher normativen Diskurs referierend, da man zuerst auf die konkrete jüdische Partei und nicht das Rechtssubjekt blicken müsse. Insofern die Charakterisierung der jüdischen Partei allein durch diesen Bick möglich sei, dürfe man nicht mehr die an dem Rechtssubjekt Jude haftenden Zuschreibungen auf die konkrete jüdische Partei übertragen. 395 Der rechtlich fundierte Widerspruch trug offensichtlich Früchte. Zumindest taucht das Argument in einer sogar stärkeren Formulierung noch häufiger in dem Diskurs auf, während Widerspruch gegen diese vergeblich gesucht wird. 396 Mit der Verneinung der Möglichkeit, die rechtliche Etikettierung auf konkrete Parteien auszuweiten, ging eine Eindämmung von antijüdischen und judenspezifischen Aussagen einher, da diese allein das abstrakte Rechtssubjekt charakterisierten, eine Übertragung der Zuschreibungen auf konkrete jüdische Parteien aber nicht mehr möglich war. Es war also nicht mehr möglich, die im Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs fundierten, antijüdischen Aussagen zu nutzen, um im Urteilsdiskurs eine Wahrheit über eine konkrete jüdische Partei zu konstituieren. Das zu Beginn des 18. Jahrhunderts in dem Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs eingeführte Argument gegen die Ausdehnung der Charakterisierung des Rechtssubjekts Jude auf konkrete jüdische Parteien hatte sich also durchgesetzt, wurde in der Folgezeit sogar reproduziert und hatte so zu einem Wandel des Diskurses geführt. Nicht allein vermochte es, eine Trennung zwischen Rechtssubjekt und jüdischer Parteien innerhalb des Urteilsdiskurses zu konstituieren, sondern es sorgte auch dafür, dass sukzessive weniger Aussagen über den vermeintlich betrügerischen Charakter der Juden im Laufe des 18. Jahrhunderts in diesem auftauchen. Dass gleichwohl solche Aussagen nicht vollends aus dem Diskurs verschwanden, dürfte auch damit zusammenhängen, dass 1759 der Landesherr ein Judenprivileg erließ, also Aussagen in den Brandenburg- 394 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), F. 48v-75v. 395 Ibid., F. 75rff. Genau genommen sprach sich der Referent gegen die Anwendung einer „Präsumptio generali“ aus, da zuvor eine „Präsumptio speciale“ zu bedenken sei. Dieses Argument hier ausführlicher zu erklären, würde den Rahmen des Kapitels sprengen. Die juristische Präsumptioneslehre wird in Kapitel 5.1 ausführlich erörtert. Dann wird auch das Argument des Landrichters in ausführlicher Form besprochen. An dieser Stelle reicht es anzuerkennen, dass mittels eines juristischen Argumentes die Übertragung der an dem Rechtssubjekt „Jude“ haftenden Zuschreibungen auf eine konkrete jüdische Partei verhindert wurde. 396 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1, F. 8vf; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 7, F. 20rff. <?page no="103"?> 104 Ansbacher normativen Diskurs einschrieb, in denen der Zusammenhang von Juden, Wucher und Betrug expliziert wurde. 397 Diese Aktualisierung antijüdischer Zuschreibungen im Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs evozierte eine Reproduktion der antijüdischen Zuschreibungen im Urteilsdiskurs. Wann immer man das Gesetz allegierte, musste man auch jene Stelle wiedergeben, in der Juden mit Betrug und Wucher verbunden wurden. 398 Die Einführung des Judenprivilegs in den normativen Diskurs änderte jedoch nichts daran, dass man die im normativen Diskurs existierenden antijüdischen und judenspezifischen Zuschreibungen nicht mehr auf jüdische Parteien übertragen konnte. 399 Überhaupt hatte sich das diskursive Klima am Landgericht binnen weniger Jahrzehnte gewandelt. So artikulierte ein Referent Ende der 1780er Jahre, „[w]ann man die bisherige Observanz abänderte, weit größeren Schaden würde es nach sich ziehen, indem kein vermöglicher Judt mehr würde hirher ziehen, und den Hoff et Stattleuthe mit tüchtigen Waaren versehen.“ 400 Am Ende des 18. Jahrhunderts finden sich also Aussagen, in denen Juden ein positiver Nutzen für die Brandenburg-Ansbacher Gesellschaft zugeschrieben wurde. Der hier skizzierte Wandel des Diskurses, der durch die Einführung eines spezifischen Arguments zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausgelöst worden war, wird insbesondere deutlich, blickt man auf die species fact einer in den 1790er Jahren verfassten Relation. In den species facti galt es das Verfahren abzubilden und der Verfasser der besagten species facti stellte dar, dass eine christliche Partei basierend auf dem territorialen normativen Diskurs die jüdische Partei als Wucherer begriffen wissen wollte. „[D]arüber führt er [der Anwalt der christlichen Partei, Anm. d. A.] die Landes Constitution und sonstige fürstliche Verordnungen an die des jüdischen Wuchers wegen ergangen, aber alle leider nur Handelschaften der Juden mit dem Bürgern und Landmann begriffen und der Appelant [die christliche Partei, Anm. d. A.] stört sich nicht die Stelle wörtlich zu zuwäcken, die die Waarnung enthält, daß theils Juden die Christen absonderlich die einfältigen Bürger und Bauern Leuthe in Kauf, [? ? ? ] Vorlehen, 397 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 3,4,7. Siehe insbesondere: F. 8rf. 398 Ibid., Relation 4, F. 8rf; Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1, 3ff, 14ff. 399 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1, F. 8vf; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 7, F. 20rff. 400 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 4, F. 2v. <?page no="104"?> 105 Verpfandung und anderen Contracten gar sehr und öfters enormiter et ultra dimidium Laedirung praetendirt […].“ 401 Der Referent legte dar, dass die christliche Partei, die in den von ihr allegierten Rechtssätzen enthaltende Beschreibung des Rechtssubjekts Jude wörtlich genommen hatte; die das Rechtssubjekt Jude betreffenden Zuschreibungen also auf die konkrete jüdische Partei übertragen wissen wollte. Er merkte aber zugleich auch an, dass man das Gesetz nicht auf diese Art und Weise wörtlich nehmen könne. Der Referent zeigte also schon in den species facti an, dass das Argument der Partei im Urteilsdiskurs nicht haltbar war, da es die Trennung zwischen Rechtssubjekt und konkreter jüdischer Partei missachtete, welche im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgerichtet worden war. Er selbst reproduzierte das Argument dann auch nicht in seinem Votum und nahm generell Abstand davon, die jüdische Partei resp. das Rechtssubjekt Jude zu charakterisieren. 402 Nun war es freilich nicht üblich, schon im Rahmen der species facti zu argumentieren, weswegen auch an dieser Stelle die klare Absage an das Argument der christlichen Partei fehlt. Die species facti sollten einen faktischen Tatsachenbericht darstellen und so merkte er dann auch eher versteckt an, dass die Argumentation der christlichen Partei problematisch war, wenn er formulierte, „Appelant [die christliche Partei, Anm. d. A.] stört sich nicht die Stelle wörtlich zu zuwäcken“. 403 Dass es überhaupt zu so umfassenden Darstellungen der Argumente der Parteien in den species facti kam, liegt freilich an der Entwicklung der Form der Relation in Brandenburg-Ansbach. Diese Relation wies nämlich schon die Paragraphenstruktur auf, aus der eine genauere Beschreibung des Verfahrens in den species facti resultierte. Der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs hatte sich also binnen eines Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Tauchen in der Frühphase des 18. Jahrhunderts eine Vielzahl antijüdischer Aussagen auf, so war deren Anzahl in der Folgezeit rückläufig. Zwar führte der Erlass eines judenspezifischen Gesetzes dazu, dass antijüdische Aussagen wieder vermehrt auftauchen, jedoch erreichen sie nicht mehr die Quantität der Frühphase. Vor allem jedoch war ihre argumentative Kraft bezogen auf die gerichtliche Wahrheitsproduktion deutlich eingeschränkt worden. Zugleich zeigt sich, dass das Auftauchen antijüdischer Aussagen mit der Möglichkeit korreliert, diese auch argumentativ nutzen zu können. Im Jülich-Berger Urteilsdiskurs hingegen wurden außerhalb der species facti keine auf den Jülich-Berger normativen Diskurs rekurrierenden Aussagen getätigt, die das Rechtssubjekt Jude charakterisierten. Mithin wurde auch nur in den species facti einer einzigen Relation abgebildet, dass die christliche Partei mit antijüdischen Aussagen argumentierte. 404 Dahingegen finden sich im Jülich- 401 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119a, Kaiserliches Landgericht, Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph 1792, Relation 1, 14. 402 Ibid., Votum. 403 Ibid., F. 14. 404 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland. Jülich-Berg Hofrat B XXV 3, Relation 1 F. 128r. <?page no="105"?> 106 Berger Urteilsdiskurs gleich mehrere Relationen, welche das Wort Jude überhaupt nicht verwenden. 405 In diesen Relationen wurden jüdische Parteien unter allgemeine Rechtssubjekte wie Kläger oder Appellant subsumiert. So erklärte ein Referent im Rahmen eines obligationsrechlichen Verfahrens, dass „Resident 406 [die jüdische Partei, Anm. d. A.] passim in actis vorgegeben, aunoch in Stand zu seye, gestalten seiner rechtmäßig zu fordern habenden creditoribus überflüssig zu bey Hingehung seiner ausstehenden Geldern zehensachlich bezahlen zu können, darzu sich auch erbotten, subietirt alßo hierunter die Rechts-Lehr, quod si debitor sit solvendo et offerat se ad solutionem, invito eo creditores Concursum excitare non possunt cum hoc sit Debitoris proprium Mevus p.i. dec.112. modo non appareat Debitorem animo frustratorio solutionem offere“. 407 Der Referent hatte also mittels der Subsumption ein obligationsrechtliches Verhältnis zwischen den beiden Parteien aufgespannt und allegierte dann auch einen obligationsrechtlichen Rechtssatz, der zwischen Christen und Juden nicht unterscheidet. Dieser Subsumption blieb er dann auch bis zum Abschluss seiner Relation treu. In der nächsten Passage erklärte er, „[i]nmittels aber da gleichwohl particularis concursus si non principaliter ratione subjecti sive persona Debbitoris soltem ratione objecti nemblich deren Deposito dahir liegender Graff Wyserischen [einer der Gläubiger Beers, Anm. d. A.] mehrgl. Beer [der jüdische Schuldner, Anm. d. A] zuständigen Geldern formirt werden wollen, und einige des Debitoris Beer Schuldner sich angegeben, und Extraditionem sothaner Geldern gebetten, und dadurch diese deponirte Geldern ad concursum particulos kommen als beruhet es darauff, daß untersuchet werde, wer aus denen sich angemeldeten creditoren darzu am maheisten berechtiget, oder befüg seye möge.“ 408 Im Jülich-Berger Urteilsdiskurs tauchen also zwar Juden auf, doch werden diese - sieht man von den species facti einer Relation ab (und in dieser wurde nur dargestellt, wie eine christliche Partei argumentiert hatte) - überhaupt nicht charakterisiert. Eine Ausdehnung der Charakterisierung des Rechtssubjekts auf eine jüdische Partei war somit auch nicht möglich und es ist wohl davon auszugehen, dass schon vor dem Untersuchungszeitraum die Möglichkeit der Ausdehnung aus dem Diskurs genommen worden war. Dafür spricht auch, dass 405 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, Nr. B VII 238 a, Relation 1; Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 3,4,5,9,10. 406 Der Terminus wurde in der Relation auch für andere (christliche) Personen genutzt und hatte wohl die Bedeutung: Einwohner Jülich-Bergs. 407 Landesarchiv, NRW Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1, S. 54. 408 Landesarchiv, NRW Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 1, S. 55. <?page no="106"?> 107 gerade im frühen 18. Jahrhundert Relationen verfasst wurden, die überhaupt nicht von Juden sprachen. 409 Das Fehlen der üblichen antijüdischen Zuschreibungen im Jülich-Berger Urteilsdiskurs mag auch mit einer Haltung der Hofräte gegenüber Juden einher gegangen sein, die eine Druckschrift indiziert, deren Publikation der Hofrat im Jahre 1771/ 2 in Auftrag gab. Schon im Jahre 1768 waren in Düsseldorf Gerüchte aufgekommen, dass der jüdische Händler Abraham Franck in Bremen mehrere Ochsenhändler betrogen habe. 410 „Gedachter Franck wurde von einigen, die ihn besser kennten, darüber im Scherze aufgezogen, andere aber erzählten es ihm als eine Wahrheit nach“ 411 Die Bremer Händler nun erreichten, dass Franck sich vor einem Amtsverhör verantworten musste. Er widersprach den Betrugsvorwürfen der Bremer Händler nicht nur, sondern ging seinerseits in den Angriff über und beklagte sich über die Diffamierungen, die die Bremer Händler über ihn verbreiteten. Da der Amtsverwalter den Klagebestrebungen Francks nicht nachkam, wandte dieser sich an den Hofrat. Dieser stellte fest, dass Franck die Bremer Händler nicht betrogen habe und ordnete an, „[d]ie beigedruckte Reprobations-handlung welche am 31. augusti 1771. also von Wort zu Wort zum hochlöblichen Hofrath übergeben worden, enthält getreulich den weesentlichen Inhalt der beiderseitigen Zeugenaussagen und Beweisstücke; [. . .] Abraham Franck ist deswegen veranlasst worden, selbige den öffentlichen Druck zu übergeben, damit ein jeder Unpartheiliche nunmehro sehen möge, mit welch unerhörter Bosheit die Klägere ihn als ihren Schuldner und hernächst gar als einen Falfarium angegriffen.“ 412 Der Jülich-Berger Hofrat fällte nicht ein einfaches Urteil, sondern ordnete sogar die Publikation größerer Teile des Amtsverhöres und des Verfahrens vor dem Hofrat an, damit die über Abraham Franck in Düsseldorf kursierenden Gerüchte beendet würden. Nicht allein tauchen also im Jülich-Berger Urteilsdiskurs typische soziale und rechtliche Vermengungen der Juden mit Wucher und Betrug kaum auf. Die Richter halfen darüber hinaus die Verbreitung antijüdischer Wissensbestände einzudämmen und zugleich einzelne Juden wie Franck vor Stigmatisierungen zu schützen. In Kurköln hingegen wurde im gesamten Untersuchungszeitraum das Rechtssubjekt Jude mit antijüdischen Aussagen beschrieben. So konstatierte ein Kurkölner Referent, „daß, […] der Legislator andurch allen ansehen nach weislich und landes vätterlig bezielet hat, der jüdischen, dem gemeinen 409 Ibid., Relation 3,4,5,9,10. 410 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 238, F. 1r. 411 Ibid. 412 Ibid. <?page no="107"?> 108 Wesen unterem Theil sehr nachtheiligen und sehr öfters betrügerischen Handel dergestalt zu besträuben“. 413 Der Referent fundierte seine Aussage, wie schon am Terminus Legislator zu erkennen ist, im Kurkölner normativen Diskurs. Er bezog sich mit seiner Beschreibung des Rechtssubjekts Jude auf die Judenordnung von 1700. Ein anderer Referent stellte in seinem Votum fest, „daß klagenden Juden in seinem allinger Betragen ansonst nichts Betrügerisches mit Fug beygemessen werden könne.“ 414 Auch dieser Referent bezog sich mit dieser Aussage auf die Judenordnung von 1700, genauer gesagt auf den zweiten Paragraphen des vierten Kapitels, demzufolge jüdische Händler ohne Arglist und Betrug Handel betreiben sollten. 415 Er zeigte ostentativ auf, dass diese jüdische Partei im Gegensatz zum Rechtssubjekt Jude kein Betrüger war. Der Referent befreite die jüdische Partei mit der Aussage von der an dem Rechtssubjekt haftenden Charakterisierung. Dies indiziert zugleich, dass eine Übertragung der Charakterisierung des Rechtssubjekts Jude auf jüdische Parteien im Kurkölner Urteilsdiskurs möglich war. Deutlicher artikulierte diese Möglichkeit ein Referent in den 1770er Jahren. Dieser erklärte, dass „die Erfahrung lehret, daß jene denen Juden in denen Rechten zu last liegende Präsumptio doli [vereinfacht 416 ausgedrückt: rechtlicher Betrugsvorwurf, Anm. d. A.] sich in der that nur allzu offt verificire“. 417 Mit dem Terminus Präsumptio verwies er auf eben jenes rechtliche Argumentationsmuster, mit denen eine Ausdehnung der an einem Rechtssubjekt haftenden Charakterisierungen auf konkrete Parteien möglich war und goutierte dessen Anwendung, da - empirisch betrachtet - die rechtlichen Zuschreibungen konkrete jüdische Parteien meist treffend charakterisieren würden. Im gesamten Untersuchungszeitraum wurde am Kurkölner Hofrat also zwischen konkreten jüdischen Parteien und dem Rechtssubjekt Jude nicht im gleichen Maße unterschieden wie am Jülich-Berger Hofrat. Die an dem Zweiten haftenden Zuschreibungen konnten mittels einer Präsumption auf Erstere übertragen werden. Die Charakterisierung des Rechtssubjekts Jude - und somit mittelbar der jüdischen Parteien - fußte primär auf der im Jahre 1700 aufgerichteten Judenord- 413 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 5, F. 30v. [Die Akte ist unpaginiert. Für diese und einige anderen Akten wurde die Seitenzählung von mir besorgt. In solchen Fällen bildet immer die erste Seite der ersten Relation „F. 1v“.] 414 Ibid., Relation 1, F. 3v,r. 415 J.J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln (im rheinischen Erzstifte Cöln, im Herzogthum Westphalen und im Veste Recklinghausen) über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind : vom Jahre 1463 bis zum Eintritt der Königl. Preußischen Regierungen im Jahre 1816, Band 1, (Düsseldorf 1830/ 1), 564, in: http: / / digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/ content/ titleinfo/ 8208. 416 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird der „Präsumptio legis“ noch ein ausführliches Kapitel gewidmet. Für das hiesige Kapitel ist die vereinfachte Übersetzung ausreichend. 417 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 5, F. 30r. <?page no="108"?> 109 nung. 418 Die Kombination des Rechtssubjekts Jude mit den Anwürfen des Betrugs und Wuchers wurde von Referenten mit Blick auf die kurkölnische Judenordnung von 1700 sogar so weit getrieben, dass ein Referent erklärte, dass durch die Judenordnung, „eines theils allen denen[…] Juden, gleichsam angestammten Betrug so viel möglich vorgebogen werde.“ 419 Nicht nur postuliert der Terminus angestammten, dass der Betrug in der jüdischen Natur angelegt sei, sondern der Satz verwischt zugleich die Grenze zwischen abstrakten Rechtssubjekt und konkreten Juden. Es lässt sich als generell festhalten, dass in allen drei Urteilsdiskursen von Juden gesprochen wurde, wobei die Verwendung des Begriffs Jude ein Verweis auf das dementsprechende Rechtssubjekt darstellt. Dieses war in den jeweiligen territorialen normativen Diskursen schon Jahrhunderte zuvor geschaffen worden und als Wucherer, Betrüger und Feind der Christenheit imaginiert worden. Zwar war somit die Verwendung antijüdischer Aussagen aufgrund der diskursiven Verschränkung gerechtfertigt, jedoch korreliert das tatsächliche Auftauchen von antijüdischen Aussagen in den drei Urteilsdiskursen mit der Möglichkeit, diese nicht allein als Charakterisierung des Rechtssubjekts zu begreifen, sondern diese auch auf konkrete jüdische Parteien zu übertragen. Allein in Kurköln war dies mit der Akzeptanz der Präsumptio doli möglich. Am Jülich-Berger Hofrat war die Verwendung dieser im gesamten 18. Jahrhundert unmöglich, während am Landgericht deren Anwendbarkeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschränkt und diese dann letztlich gänzlich abgeschafft wurde. Bevor nun dieses besondere Argumentationsmuster erklärt werden kann, muss dargestellt werden, dass auch Hofjuden in Urteilsdiskursen auftauchen konnten. Allerdings war die Möglichkeit, jüdische Parteien unter dieses Rechtssubjekt zu subsumieren, drastisch beschränkt bzw. Hofjuden konnten nicht generell unter dieses Rechtssubjekt subsumiert werden. 4.2 Die Hofjuden Hofjuden waren nicht einfach nur Juden mit weitgespannten familiären und geschäftlichen Beziehungen im Dienste der Fürsten. 420 Sie traten aus dem lokalen jüdischen Gemeindeleben heraus und in die absolutistisch-höfische Sphäre ein. 421 Allerdings wandten sie sich nicht von ihren Gemeinden ab, sondern übernahmen hohe Ämter in den Landjudenschaften. Diese erlangten sie, da die Landjudenschaften sie als einen Kommunikationskanal zu den fürstlichen 418 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II A 35, Relation 1; Nr. II B 70, Relation 1, Nr. II T 19, Relation 1, 2. 419 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 2, F. 18r. 420 Dass die jüdische Wirtschaftselite schon im 16. Jahrhundert auf diesen Beziehungen fußte, wurde jüngst herausgestellt: Ries, “Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? ,” 98ff. 421 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 7; Ries, “Hofjuden.,” 22ff. <?page no="109"?> 110 Machtzentren betrachteten. 422 Dieser Aufgabe kamen Hofjuden dann auch tatsächlich nach und setzten sich für die wirtschaftliche und rechtliche Verbesserung der Situation der jüdischen Minderheit ein. 423 Am Ende des 18. Jahrhunderts gehörten ca. 2% der im Reich vergleiteten Juden der Gruppe der Hofjuden an. 424 Diese jüdische Oberschicht lebte in einer quasiadligen Lebenswelt und zeigte dies auch nach außen an. So distinguierten sich Hofjuden durch ihre Kleidung von anderen Juden und suchten in ihrem Kleidungsstil eher den Anschluss an die fürstliche Beamtenschaft. Die symbolische Annäherung der Hofjuden an die christlichen Adligen und Beamten führte auch dazu, dass Hofjuden in zweiter oder dritter Generation der Aufstieg in den Adel ermöglicht wurde, der dann durch ein System gegenseitiger Heiraten eine familiäre Abschließung evozierte. 425 Die Hofjuden bildeten also eine von der übrigen Judenschaft abgehobene Gruppe politisch einflussreicher und wirtschaftlich erfolgreicher Juden, die ihre besondere Stellung auch symbolisch gegenüber Juden und Christen herausstellte. Das wirft die Frage auf, inwiefern Richter bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigten, ob eine jüdische Partei der Gruppe der Hofjuden angehörte. Die Beantwortung der Frage setzt voraus, dass in einem Urteilsdiskurs Verfahren eingespeist wurden, an denen Hofjuden beteiligt waren und zugleich die Zugehörigkeit zu dieser Statusgruppe für das Verfahren von Relevanz war. Lediglich im Kurkölner Urteilsdiskurs ließen sich solche Verfahren identifizieren, sodass die folgenden Ausführungen allein auf der Arbeit dieses Hofrates ruhen. Nun gilt es zu konstatieren, dass die Subsumption einer Partei unter den Terminus Hofjude bedeutet, dass es im Kurkölner normativen Diskurs überhaupt ein Rechtssubjekt Hofjude gab. Ferner musste dieses Rechtssubjekt Hofjude dezidiert von dem Rechtssubjekt Jude unterschieden sein. Hofjuden mussten also in andere Rechtsverhältnisse zu juristischen Personen gesetzt sein als sonstige Juden. Ansonsten wäre die juristische Unterscheidung zwischen Hofjuden und Juden bloße Makulatur. Es ist dann auch tatsächlich so, dass Hofjuden von einer Vielzahl judenspezifischer Bestimmungen des territorialen normativen Diskurses befreit waren. So war es laut der Kurkölner Judenordnung von 1700 jüdischen Händlern nur gestattet, ihre Kaufmannsbücher bis zur Höhe von zehn Reichstalern zu beschwören. Für Hofjuden galt die in dem Rechtssatz enthaltende Beschwörungsobergrenze hingegen nicht. Diese aus dem normativen Diskurs stammende rechtliche Position fand ihre Reproduktion im Kurkölner Urteilsdiskurs. 426 422 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 7 Zur Verbindung politischer Ämter und der jüdischen Wirtschaftselite im 16. Jahrhundert: Ries, “Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? ,” 100. 423 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, 7. 424 Ibid. 425 Ibid., 7f 426 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, 2. <?page no="110"?> 111 Die Befreiung der Hofjuden von judenspezifischen Rechtssätzen korreliert mit einer besonderen Charakterisierung des Rechtssubjekts Hofjude. Während das Rechtssubjekt Jude als Wucherer und Betrüger beschrieben wurde, attestierten die Richter dem Rechtssubjekt Hofjude einen makelloser Handel und Wandel 427 , mithin sei ein „Hofffactor […] ein glaubwürdiger Mann“. 428 Der Grund für die besondere rechtliche Stellung der Hofjuden sowie deren Charakterisierung wurde im Kurkölner Urteilsdiskurs ebenfalls festgehalten. Beides resultiere aus dem Umstand, dass ihr „Handel und Wandel [von dem] Gesätzgeber selbst andurch öffentlich approbirt [wird]“. 429 Im Urteilsdiskurs war das fürstliche Mandat ausschlaggebend, um eine jüdische Partei als Hofjude begreifen zu können. Jedoch unterschied sich dieses Rechtssubjekt in einem Punkt elementar von dem sozialen Subjekt Hofjude. Im sozialen Bereich wurde ein im Dienst des Fürsten stehender jüdischer Händler generell als Hofjude begriffen. Dahingegen war es im Urteilsdiskurs nur möglich, jüdische Parteien unter das Rechtssubjekt Hofjude zu subsumieren, insofern diese auch im Auftrag des Fürstens agierten. Dahingegen galten im Dienste des Fürsten stehende Juden außerhalb der „Hofflieferungen und [fürstlichen] Geschäfften“ nur als gewöhnliche Juden. 430 Allein jene Handelstätigkeiten dieser Juden, die unmittelbar im Dienst des Fürsten verrichtet wurden, waren unter ein Rechtsverhältnis subsumierbar, dessen Rechtssubjekt der Hofjude darstellte. Anders als im sozialen Bereich galten also im Kurkölner Urteilsdiskurs nicht die im Dienste des Kurfürsten agierenden Juden als Hofjuden, sondern allein spezifische jüdische Handelstätigkeiten, welche fürstlich mandatiert wurden, konnten unter ein entsprechendes Rechtsverhältnis subsumiert werden. Die besondere Gnade, die der Gesetzgeber den Hofjuden zukommen ließ, war also im Moment der Rechtsanwendung eng begrenzt. Damit einher ging auch, dass die besondere Charakterisierung von Hofjuden nicht generell für die im Dienste des Fürsten agierenden Juden galt, sondern nur für diese, insofern sie unmittelbar für den Kurfürsten Handel betrieben. Nur insofern sie im Dienste des Fürsten handelten, wiesen sie einen guten Handel und Wandel sowie eine besondere Glaubwürdigkeit auf. Insofern sie nicht im Dienste des Fürsten handelten, standen sie auf einer Stufe mit den nicht im Dienst des Fürsten stehenden Juden. 431 Dies wird von der folgenden Aussage ostentativ herausgestellt. „[D]ergleichen Persohn [gemeint ist ein Adliger oder eine Amtsperson, Anm. d. A.] von einen Juden so leicht als ein gemeiner Mann werde betrügen und übervortheilen lassen; […] da die Juden ihre Bücher für sich allein ohne die mindeste Zulassung de- 427 Ibid., Relation 1, F. 2vff und Relation 2, F. 21vff, Relation 6, F. 31v. 428 Ibid., Relation 7, F. 43v. 429 Ibid., Relation 1, F. 2rf. Die Aussage erfuhr ihre Reproduktion im Diskurs. Vgl. Landesarchiv NRW, ibid., Relation 2, F. 19vf. 430 Ibid., F. 21vf. 431 Ibid., F. 21 rf. <?page no="111"?> 112 ren Debitorem führen, mithin in sothaner ihr Bücher so wohl in Ansehung deren Stand und in Ehren Ämtern sitzenden Persohnen als geringere Leute Ohnwahrheiten eintragen können, ohne daß solche von denen ersten so wenig als lezteren verhütet werden möge; so ist die Ursach, warum Legislator deren Judenhandbücher auch respectu erwehenter Persohnen (Hofjuden, Anm. d. A.) nicht illimitatio habe gültig seyn lassen wollen, sondern dieselbe in ordine ad effeciendam semiplenam probationem indistinktim auf ein geringe Summe eingesträubet habe, gantz augenfällig.“ 432 Der Möglichkeit, jüdische Parteien unter das Rechtssubjekt Hofjude zu subsumieren, waren also enge Grenzen gesetzt. Mithin war die Verwendung des juristischen Terminus weniger von der Person der jüdischen Partei, als von der spezifischen Art der Handelstätigkeit einer solchen abhängig. Die Nutzung des Begriffs verwies weniger auf die besondere Stellung einer Personengruppe, als auf die besondere Stellung eines vom Fürsten approbierten und mandatierten Handels. Da dieser Handel vom Fürsten approbiert war, war es möglich, den diesen Handel ausführenden Juden einen guten Handel und Wandel sowie ein besondere Glaubwürdigkeit zu attestieren und diese im Rahmen der fürstlichen Handelstätigkeit von einer Vielzahl jüdischer Rechtssätze zu befreien. Hofjuden waren aus juristischer Perspektive keine jüdischen Personen, sondern spezifische, vom Fürsten legitimierte Handelstätigkeiten, für die allein aufgrund der fürstlichen Approbation besondere Bestimmungen galten. Daraus resultiert, dass die im Dienst der Fürsten stehenden jüdischen Händler, welche im sozialen Bereich durchweg als Hofjuden begriffen wurden, im Urteilsdiskurs als gewöhnliche Juden begriffen und unter das Rechtssubjekt Jude subsumiert werden konnten. 4.3 Zwischenfazit Die Verschränkung von normativen Diskursen und Urteilsdiskursen via Subsumption konkreter Parteien unter abstrakte Rechtsverhältnisse zeitigte für die jüdischen Parteien vor allen drei Gerichten Konsequenzen. So existierte im Kurkölner, Jülich-Berger und Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs das Rechtssubjekt Jude und, damit verbunden, spezifische jüdische und jüdischchristliche Rechtsverhältnisse. In der Folge wurden jüdische Parteien dann auch als Juden begriffen, wobei das Wort auf das Rechtssubjekt Jude verwies. Dieses war in den normativen Diskursen als Betrüger und Wucherer charakterisiert worden. Inwiefern diese Zuschreibungen in einen Urteilsdiskurs diffundierten, hing davon ab, ob die an dem Rechtssubjekt Jude haftenden Zuschreibungen auf konkrete jüdische Parteien übertragen werden konnten. Allein im Kurkölner Urteilsdiskurs war eine Ausdehnung der Charakterisierung auf konkrete jüdische Parteien über den gesamten Untersuchungszeitraum möglich. In der Folge tau- 432 Ibid., F. 22v - 23v. <?page no="112"?> 113 chen allein im Kurkölner Urteilsdiskurs über den gesamten Untersuchungszeitraum antijüdische Aussagen auf, mit denen unmittelbar das Rechtssubjekt Jude und mittelbar jüdische Parteien beschrieben wurden. Zugleich tauchen auch Hofjuden in dem Kurkölner Urteilsdiskursen auf. Auch dieser Begriff stellt ein Rechtssubjekt dar, unter das jedoch nicht im Dienst der Fürsten stehende jüdische Händler subsumiert wurden. Der Begriff diente vielmehr dazu, jüdische Handelstätigkeiten, die fürstlich mandatiert waren, zu begreifen. Es wird also ein spezifisches Rechtsverhältnis apostrophiert, in den jüdische Händler eintraten, insofern sie im unmittelbaren Auftrag des Fürsten agierten. Für eben dieses Rechtsverhältnis galt eine Vielzahl an judenspezifischen Gesetzen nicht. Nachdem nunmehr dargestellt wurde, wie Juden in den drei Urteilsdiskursen auftauchen, werden zwei juristische Argumentationsmuster dargestellt. Dabei gerät gleich zu Beginn die Präsumption in den Blick. Diese war das Muster, mit dem die Ausdehnung der an einem Rechtssubjekt haftenden Zuschreibung auf konkrete Parteien möglich war. <?page no="114"?> 115 5. Argumentationsmuster Die Schaffung von Sachverhalten und Urteilen in Urteilsdiskursen setzte voraus - dies dürfte bis hierhin deutlich geworden sein - dass Richter für diese argumentierten. Territoriale normative Diskurse stellten eine Vielzahl an Aussagen (Rechtssätzen), die als Prämissen von Argumenten in den Urteilsdiskursen fungieren konnten. Nicht allein gab das Recht jedoch mögliche Prämissen vor, sondern es hielt auch möglich Argumentationsmuster für den richterlichen Nutzen parat. Als Argumentationsmuster begreife ich den (kausalen) Aufbau und die Stoßrichtung eines Arguments. Es waren also im Recht nicht allein Prämissen für Argumentationen angelegt, sondern auch erkennbar, welche Schlussfolgerungen aus ihnen abgeleitet werden konnten, um einen spezifischen Zweck zu erreichen. Im Folgenden werden zwei Argumentationsmuster behandelt. Zu Beginn wird die Präsumptionslehre besprochen, welche ein Argumentationsmuster darstellte, das im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion verwandt werden konnte. Nun war die Verwendung der Präsumptionslehre - dies wurde schon im vorigen Kapitel angesprochen - nicht in allen drei Urteilsdiskursen im gleichen Umfang gestattet. Daran anschließend wird die schon häufiger bis hierhin angesprochene forensische Interpretation thematisiert, die im Rahmen der Urteilsproduktion verwandt werden konnten. 5.1 Die Präsumptionen Bevor erklärt werden kann, was eine Präsumption ist, müssen die Ausführungen zur Verschränkung von territorialen normativen Diskursen und Verfahrensdiskursen aufgegriffen werden. Das frühneuzeitliche Prozessrecht untersagte in Zivilprozessen die freie Beweiswürdigung. 433 Das bedeutet, dass im Prozessrecht vorgegeben war, was einen Beweis ausmachte und inwiefern ein Beweis eine Sachverhaltsbehauptung einer Partei stützen konnte. Nicht die Richter, sondern das Prozessrecht qualifizierten also die seitens der Parteien beigebrachten Beweise als juristisch verwertbare Beweise. So war es auch kein Zufall, dass Abraham im schon mehrfach erwähnten Appellationsverfahren wider Broch gleich mehrere Zeugen für die Stützung seiner Sachverhaltsbehauptung beibrachte. Ein einziger Zeuge machte laut dem frühneuzeitlichen Prozessrecht noch keinen vollen Beweis. Es bedurfte mindestens zweier Zeugen, damit deren Aussagen als voller Beweis eine Sachverhaltsbehauptung stützen konnten. 434 Nun hatte Abraham die Zeugen nicht freiwillig beigebracht, sondern das erstinstanzliche Gericht hatte diesem aufgetragen, Beweise für seine Behauptung 433 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 134. 434 Ibid. <?page no="115"?> 116 vorzulegen, der Handel zwischen ihm und Broch sei ohne Vorbehalt geschlossen worden. 435 Dieser Entscheidung ging ein Streit zwischen den beiden Parteien voran, wer seine Sachverhaltsbehauptung zu beweisen habe. 436 Das erstinstanzliche Gericht hatte letztlich die Beweislast Abraham auferlegt. Selbst die Verteilung der Beweislast war im frühneuzeitlichen Prozessrecht geregelt worden, sodass Richter nicht frei entscheiden konnten, welche Partei welche Sachverhaltsbehauptung wie zu beweisen hatte. Das frühneuzeitliche Prozessrecht war angefüllt mit Normen, die sich mit diesem Thema beschäftigten. So widmete unter anderem der Rechtsgelehrte Pacian den Beweislastregeln zwei Bücher seines Werkes „de probationibus“. 437 Generell sollte jede Partei ihre in ein Verfahren eingeführten Tatsachenbehauptungen auch beweisen. 438 Ein seitens einer Partei behaupteter Sachverhalt sollte nur insofern wahr werden können, als dass er auf einem Beweis ruht. Dies bedeutete nicht nur dass Parteien ihre Sachverhaltsbehauptungen mit Beweisen versehen mussten, sondern auch dass Referenten ihre Sachverhaltskonstruktionen auf prozessrechtlich qualifizierte Beweise stellen mussten. Nun gilt bekanntermaßen für die Frühe Neuzeit im Allgemeinen keine Regel ohne Ausnahme und auch für die Beweislastregel gab es eine entscheidende Ausnahme. So war es Parteien unter Umständen gestattet, unbewiesene Sachverhaltsbehauptungen in ein Verfahren einzuführen, welchen dann der gleiche Wahrheitsanspruch zukam wie voll bewiesenen. Dies war dann der Fall, wenn eine Präsumption für die Sachverhaltsbehauptung vorlag. 439 Generell ist die Grundlage einer Präsumptio 440 die Lebenserfahrung über den Lauf der Welt. Man spricht dann auch von einer Präsumptio hominis. 441 Das allgemeine Prozessrecht verwies die Richter hingegen auf die Präsumptio legis. Diese basierte nicht einfach auf subjektiven Lebenserfahrungen, sondern auf Erfahrungssätzen, die aus dem Recht gewonnen wurden. 442 Jede Präsumption ruht damit auf dem Corpus Juris und dessen Auslegung durch die communis opinio (herrschende Auffassung der Rechtsgelehrten). Die Rechtsgelehrten konzipierten aus dem Corpus Juris Präsumptionen wie die, dass die corpula canaris (Beischlaf) zwischen Verlobten im Zweifelsfall den Eheschluss bedeute. 443 Im Laufe der Zeit schufen Rechtsgelehrte mehrere 435 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 1. 436 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70, Relation 1. 437 Coing, Europäisches Privatrecht, 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 134. 438 Ibid. 439 Ibid. 440 Die Präsumption erfüllte im „ius commune“ weitere Zwecke, die an dieser Stelle ausgespart werden, da sie nicht sachdienlich sind. Zu den weiteren Zwecken der Präsumption sei verwiesen auf: Ibid., 135f 441 Ibid., 134f. 442 Ibid. 443 Ibid., 135. <?page no="116"?> 117 Hundert von Präsumptionen, die z.B. seitens des Rechtsgelehrten Menochius in sechs Büchern kompiliert wurden. 444 Insofern also eine Sachverhaltsbehauptung auf einer solchen Präsumption beruhte, besaß sie einen so starken Wahrheitsanspruch, dass es eines Beweises nicht bedurfte. Stattdessen wurde die Beweislast umgekehrt. Eine Partei musste nicht mehr die von ihr behauptete Tatsache beweisen, sondern die Gegenseite musste die Behauptung widerlegen. 445 Dem Wahrheitsanspruch einer präsumierten Behauptung war also nur mittels eines Gegenbeweises zu begegnen. Insofern also eine Partei in einem Verfahren eine Sachverhaltsbehauptung auf einer solchen Präsumption fundierte, sollte nicht sie den Beweis, sondern die Gegenseite den Gegenbeweis erbringen. Für den Urteilsdiskurs resultierte daraus, dass auf einer Präsumption ruhende, nicht per Beweis widerlegte Behauptungen äquivalent zu bewiesenen Behauptungen behandelt werden konnten. Damit einherging, dass der Wahrheitsanspruch einer präsumierten, nicht widerlegten Aussage äquivalent zu dem Wahrheitsanspruch einer bewiesenen Behauptung ausgestaltet war. Kurzum konnten Referenten mit Beweisen für ihre Sachverhaltskonstruktion argumentieren oder mit Präsumptionen und dem Fehlen von Gegenbeweisen. Die Präsumptionslehre besorgte also eine Vielzahl an Prämissen, die für die Sachverhaltskonstruktion genutzt werden konnten, gab dabei aber ein spezifisches Argumentationsschema vor, da nicht allein mit einer Präsumption als Prämisse argumentiert werden konnte, sondern zugleich keine Gegenbeweise vorliegen durften. Für Prozesse mit jüdischer Beteiligung ist die Präsumptionslehre von besonderer Relevanz, da in jüdischen und jüdisch-christlichen Rechtsverhältnissen in den territorialen normativen Diskursen Juden bekanntermaßen mit Wucher, Betrug und christenfeindlichen Verhalten zusammengebracht wurden. Die Präsumptionslehre bildete das Tor in der Mauer zwischen Rechtssubjekt Jude und konkreter jüdischer Partei. Mittels Präsumptionen war es theoretisch möglich, die an dem Rechtsubjekt Jude haftenden Etikettierungen auf konkrete jüdische Parteien zu übertragen. Nun zeigte sich schon im vorigen Kapitel, dass die im Recht angelegte Möglichkeit nicht in allen drei Urteilsdiskursen in gleichem Maße genutzt werden konnte. Im Jülich-Berger Urteilsdiskurs tauchen kaum Aussagen auf, die das Rechtssubjekt Jude mit Betrug oder Wucher zusammenbrachten. Dies korreliert mit dem Umgang der Jülich-Berger Hofräte mit der Präsumptio doli. Diese bildete eine besondere Kategorie von Präsumptionen, die dazu diente, betrügerisches und wucherisches Verhalten zu präsumieren. Im Jahre 1788 taucht eine Aussage im Jülich-Berger Urteilsdiskurs auf, die den Umgang in nur einem Satz zusammenfasst. 444 Ibid. 445 Ibid., 134. <?page no="117"?> 118 „Der Goldarbeiter Busch ware bekanntlich ein hieselbst lange Jahre wohnhaft gewesen, und in keinen bößen Ruf bestehender Bürger und da es ohnhie rechtens ist, quod omnis praesumptio Doli [Betrug, Anm. d. A.] exclusiva, so kann eine dergleichen Wissenschaft von denen Juden nicht vermuthet werden.“ 446 Es war also im Jülich-Berger Urteilsdiskurs nicht möglich, Betrug zu präsumieren, er musste bewiesen werden! Auch Wucher wurde im Untersuchungszeitraum nie präsumiert. Die typischen, auch im Jülich-Berger normativen Diskurs auftauchenden Zuschreibungen für Juden konnten also im Urteilsdiskurs nicht mittels der Präsumptionslehre auf eine konkrete jüdische Partei übertragen werden. Es war also nicht möglich, die im territorialen normativen Diskurs formulierten antijüdischen Vorwürfe konkreten jüdischen Parteien zu unterstellen und darauf basierend einen Sachverhalt zu konstruieren. Allerdings waren Präsumptionen nicht generell aus dem Urteilsdiskurs verbannt worden. 447 Es konnten nur jene Präsumptionen nicht angeführt werden, mit denen Betrug oder Wucher präsumiert wurden. So erklärte ein Referent in den frühen 90ger Jahren, „die Unwahrscheinlichkeit dieses Angebens [ dass eine Lieferung getätigt wurde, Anm. d. A.] ist von daher auffallend, daß Appellant während dem Prozesse auf die Schuld 28 Reichstaler abgeführet hat, er aber auf diese Weise offenbar zuviel zahlt hätte, indem der Werth der gelieferten 5 Malter, 6 Sester Weizen, sodann 2 Malter Korn den Rest der Schuld stark 21 Reichstaler 45 Stüber übersteigen würde, da doch eine solche Überbezahlung von einem Schuldner, welcher sich durch richterliche Zwangsmitteln zur schuldigen zahlung vermögen läßt, gar nicht einmal zu denken ist“. 448 Mit diesem Argument konstruierte der Referent in dem Verfahren einen Sachverhalt, laut dem der Schuldner die ihm von dem Gläubiger zugesandte Lieferung bei der Annahme nicht bezahlt hatte. Das Argument für diese Konstruktion bildete nun kein Beweis, sondern die Präsumption, dass ein Schuldner einen Gläubiger für eine Lieferung kaum zu viel zahlen würde. Insbesondere dann nicht, wenn der Schuldner sich ansonsten geweigert hatte, seine Schulden zu bezahlen. 449 Es lässt sich also festhalten, dass im Jülich-Berger Urteilsdiskurs die Verwendung von Präsumptionen erlaubt war, jedoch weder Betrug noch Wu- 446 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat Nr. B VII 156 , Relation 1, F. 3rf. 447 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, Nr. B XVII 17, Relation 1, F. 56v. 448 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat Nr. B IV 162, Relation 1, F. 10v, r. 449 Es ist aus den Quellen nicht zu entnehmen, ob es sich um eine Präsumption legis oder um eine Präsumption hominis handelte. Letztere dürfte mit Blick auf die prozessrechtlichen Vorschriften eigentlich nicht im Urteilsdiskurs platziert werden. <?page no="118"?> 119 cher präsumiert werden konnten, was mit der geringen Anzahl diesbezüglicher antijüdischer Aussagen korreliert. Am Landgericht hingegen wandelte sich der Umgang mit der Präsumptio doli im Laufe des 18. Jahrhunderts. Bei der Einspeisung des Verfahrens Lettermayer wider Lazarus in den Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs nutzten Referent und Kurzvoten verfassende Richter Präsumptionen, um den Juden Lazarus zum Wucherer und Betrüger zu stilisieren. Der Referent argumentierte dann auch mit dem Ausbleiben des Gegenbeweises, dass Lazarus wucherisch gehandelt habe. 450 In der sich entfalteten Debatte wurde die Nutzung der Präsumptio doli mehrheitlich goutiert; ein Richter merkte im Rahmen der Debatte sogar an, dass „notorischen Rechtens ist, quod partes Christianorum favorabilioris sunt Judaorum et quod prassumptiones pro se“, was er auf den Rechtsgelehrten Mascard zurückführte. 451 Es war zu Beginn des 18. Jahrhunderts also unzweifelhaft möglich, Betrug und Wucher zu präsumieren. Jedoch sollte in eben diesem Verfahren ein Richter seine Stimme erheben und ein Argument artikulieren, dass die Anwendung gegen Juden gerichteter Präsumptionen stark einschränken sollte. Er erklärte, „[u]nd obzwar eingewendet werden wollte, daß von dem Lettmeyer die Prasumptio Furio contra Judaeos für statt finden könne, […] wie sie [Juden, Anm. d. A.] die Christen zu betrügen jederzeit bedacht seyen; So ergüte ich jedoch, daß diese praesumptio generali erst als dann Platz gereichten könne, wenn kein praesumptio Specialis pro Judaeo militiret.“ 452 Er differenzierte in diesem Passus zwischen zwei Arten von Präsumptionen. So gäbe es eine allgemein für alle Juden formulierte Präsumptio Furio contra Judaeos. Daneben lägen aber auch spezifisch nur für konkrete jüdische Parteien geltende Präsumptionen vor. Nun solle die allgemein formulierte Präsumption nur dann angewandt werden können, insofern keine spezifische Präsumption vorläge. Dies bedeutete eine grundlegende Umstrukturierung der Argumentation mittels der Präsumptio Furio contra Judaeos. Nunmehr galt es nachzuweisen, dass keine spezifische Präsumption für die jüdische Partei vorlag, bevor man mittels einer allgemein formulierten Präsumption und dem fehlenden Gegenbeweis argumentieren konnte. Damit war der Startschuss für die Herausbildung eines neuen Umganges mit der Präsumptio doli gegeben worden. Zumindest taucht zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unwidersprochen eine Aussage im Brandenburg- Ansbacher Urteilsdiskurs auf, die anzeigt, dass inzwischen die Präsumptio doli keinen Platz mehr im Diskurs hatte. 450 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation pars posteriori, F.1rff. 451 Ibid., F. 70r. 452 Ibid., F. 77v. <?page no="119"?> 120 „Wenn es auch ziemlich wahrscheinlich ist, das der Hederlein durch die Juden […] betrogen worden, so ist seiner Witwe u. Kindern [christliche Partei, Anm. d. A.] in via Jure doch nicht zu helfen 453 , [da] doch Dolus [Betrug, Anm. d. A.] nicht praesumirt wird, sondern jederzeit bewießen werden muß.“ 454 Spätestens von diesem Zeitpunkt an war der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs bezüglich des Umganges mit der Präsumptio doli äquivalent zum Jülich- Berger Urteilsdiskurs ausgestaltet. Es war also zu einem Wandel gekommen, der seinen Anfang mit der Artikulation eines juristischen Arguments genommen hatte, dass auf einen neuen Umgang mit der Präsumptio Furio contra Judaos abzielte, und an dessen Ende Betrug generell nicht mehr präsumiert werden konnte. Damit einhergehend finden sich dann auch keine Relationen mehr, in denen Wucher oder Betrug präsumiert wurden. Allerdings fand der im Verfahren Lettermayer wider Lazarus von einem Richter getätigte Ausspruch „quod partes Christianorum favorabilioris sunt Judaorum“ 455 noch in den 1770er Jahren seine - griffigere - Reproduktion. „[D]a doch in dubio mehr pro Christiani, als pro Judaeo.“ 456 Der Referent argumentierte, dass die Beweislage unklar sei und man in einem solchen Fall in dubio pro christianos entscheiden und der christlichen Partei die Ablegung eines Eides per Zwischenurteil zugestehen müsse. Er argumentierte also nicht mehr auf einer rechtlichen Vorstellung über Juden basierend für einen spezifischen Sachverhalt, sondern er argumentierte mit einem judenspezifischen Argument für ein spezifisches Zwischenurteil - nämlich der Anweisung des Eides. Generell wurde jüdischen Parteien im Prozessrecht nur eine geminderte Testierfähigkeit zugesprochen; ihre Möglichkeit einen Eid abzulegen also begrenzt. 457 Im Laufe der Arbeit wird die Rechtsanwendung solcher judenspezifischer Normen im Rahmen der Urteilsproduktion anhand verschiedener Verfahren besprochen und in Kapitel 8.3 wird insbesondere die den Juden rechtlich zugestandene Testierfähigkeit ausführlich erörtert. Bis dahin wird sich zeigen, dass im Rahmen der Urteilsproduktion in allen drei Urteilsdiskursen judenspezifische Argumente platzierbar waren, welche aber nicht alle auf ein für jüdische Parteien ungünstigeres Urteil abzielten. 453 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Kurzvotum, F. 10v. 454 Ibid., Relation 1, F. 8vf. 455 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht Rep 119a, Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), F. 70r. 456 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 2, F. 4v, Relation 6, F. 19r. 457 Jüdische Parteien mussten ferner auch einen anderen Eid als Christen schwören, welcher diskriminierende und diffanmierende Passagen enthalten konnte. Otto Böcher, “Der Judeneid,” Evangelische Theologie 30 (1970); Hans-Kurt Claussen, “Der Judeneid,” in Rechtswissenschaft II, ed. Karl August Eckhardt (Berlin, 1937). <?page no="120"?> 121 Im Kurkölner Urteilsdiskurs tauchen im gesamten 18. Jahrhundert antijüdische Aussagen zur Beschreibung des Rechtssubjekts Jude sowie zur Charakterisierung konkreter jüdischer Parteien auf. Dies korreliert damit, dass im gesamten Untersuchungszeitraum keine Aussage auftaucht, mit der die Präsumptio doli aus dem Urteilsdiskurs verbannt wurde. Vielmehr erklärte noch in den 1770er Jahren ein Referent unwidersprochen, dass „die Erfahrung lehret, daß jene denen Juden in denen Rechten zu last liegende Präsumptio doli sich in der that nur allzu offt verificire“. 458 Diese Aussage zeigt nicht allein an, dass noch in der Spätphase des 18. Jahrhunderts die Präsumptio doli im Urteilsdiskurs platzierbar war (während sie in den anderen beiden Urteilsdiskursen zur selben Zeit nicht mehr in den Diskurs gestellt werden konnte), sondern zugleich fundiert die Aussage die Anwendung einer solchen Präsumption. Die ostentativ herausgestellte, vermeintliche Übereinstimmung der rechtlichen - in diesem Zitat dezidiert antijüdisch begriffenen - Präsumption mit der Wirklichkeit bot den Boden, auf dem sie gedeihen konnte. In allen drei Urteilsdiskursen war also der Umgang mit Präsumptionen gestattet. Diese stellten Prämissen dar, die in ein spezifisches Argumentationsmuster eingefügt werden konnten. Es galt mit den Präsumptionen als Prämissen sowie dem Fehlen eines ihnen widersprechenden Gegenbeweises für einen Sachverhalt zu argumentieren. Nun gab es eine Vielzahl an Präsumptionen, welche verwandt werden konnten. Gleichwohl konnten nicht alle rechtlich formulierbaren Präsumptionen (legis) in allen Urteilsdiskursen genutzt werden. Im Jülich-Berger Urteilsdiskurs war schon vor dem Beginn des Untersuchungszeitraums die Präsumptio doli ausgeschlossen worden. Es war also nicht möglich, Betrug oder Wucher zu präsumieren. Im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs verschwand die Präsumptio doli erst sukzessive im Laufe des 18. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war auch dort dann ebenfalls ihre Verwendung nicht mehr gestattet. Im Kurkölner Urteilsdiskurs konnte hingegen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Wucher und Betrug präsumiert werden. Der Umgang mit der Präsumptio doli an den drei Obergerichten lehrt dann auch, dass die Deduktion oder Induktion von Gesetzen auf die Rechtspraxis nicht möglich ist. Die Rechtsanwendung erfolgte diskursiv und es war durchaus möglich, dass territoriale normative Diskurse Prämissen oder Argumentationsmuster vorgaben, welche in Urteilsdiskursen nicht angewandt werden konnten. Nachdem nunmehr ein Argumentationsmuster in den Blick geriet, welches dezidiert für die Sachverhaltskonstruktion gedacht war, wird mit der forensischen Interpretation ein Muster erörtert, dass für die Urteilsproduktion genutzt werden konnte. 458 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 5, F. 30r. <?page no="121"?> 122 5.2 Die forensische Interpretation Eine forensische Interpretation war und ist die Auslegung eines Rechtssatzes durch Rechtsübung oder durch ein Gericht. 459 Generell war es möglich, dass ein Rechtstext einen mehrdeutigen Sinn hatte, den man folglich vor der Anwendung des fraglichen Rechtssatzes auslegen konnte. Zwar führten die Juristen des Usus modernus eine Stelle aus dem Corpus Juris an, nach der allein der Kaiser zur Auslegung berufen sei. Die Juristen interpretierten die Stelle jedoch dahingehend, dass auch Richter und Rechtsgelehrte Rechtstexte auslegen dürften. 460 Im Rahmen der forensischen Interpretation ermittelten Gerichte also den Sinn eines mehrdeutigen Gesetzestextes. Es soll nun exemplarisch an dem Verfahren von Steffne wider Assur Meyer dargelegt werden, wie eine forensische Interpretation im Urteilsdiskurs vollzogen wurde. Das ausgewählte Verfahren eignet sich insbesondere für dieses Vorhaben, da es eine über sechs Relationen erstreckende Debatte über die richtige Auslegung des fünften Paragraphens des vierten Kapitels der Kurkölner Judenordnung von 1700 heraufbeschwor, in der verschiedene Techniken der Auslegung auftauchen. Daran anschließend wird eine kurze forensische Interpretation erörtert, die in den 1790er Jahren in den Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs eingespeist wurde. Das Verfahren von Steffne wider Assur Meyer begann in den frühen 60er Jahren des 18. Jahrhunderts. Die Erbgemeinschaft von Steffne appellierte an den Hofrat, nachdem der jüdische Kaufmann und ehemalige Hofjude Assur Meyer die Erbgemeinschaft auf eine aus einer Warenlieferung resultierenden Schuld in Höhe von 353 Reichstalern und 34 Stübern vor dem archdiakonischen Offizialat verklagt und das Gericht entschieden hatte, dass Kläger Meyer ein Juramentum Suppletorium auf sein Rechnungsbuch schwören und in der Folge die von ihn geforderte Schuld beglichen werden sollte. 461 Die Erbgemeinschaft artikulierte vor dem Hofrat die Frage, inwiefern Juden überhaupt gegen Christen einen Eid schwören dürften. Der Erstreferent allegierte gleich mehrere Rechtslehrer, um diese Frage zu beantworten. „Ob nun zwar bey deren Rechts=gelehrten solche Question zu allen Zeiten aus der Ursach conrova=tirt worden, […] Allerweilen aber Mynsinger: Cen: 5. Obs: 6. Et Cent: 6. Obs: 20. Hartm Hartmanni Tit 24. Obs: 6. In addit: projudicia anführen, daß in Camerali Judicio sub obtentu contraria in Germania consuetudinis dieser also genannte Erfüllungs Eyd auch denen Juden deferirt zu werden pflege, aus Ursachen, quod pro Civibus romanis habeantur, immaßen auch mehr andere Authores dieser Lehre alsdann 459 Coing, Europäisches Privatrecht, 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 132. 460 Ibid., 127. Mithin stellt gerade diese Stelle eine der am meisten interpretierten Stellen des „Corpus Juris“ dar. 461 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, F. 1vf.. <?page no="122"?> 123 beypflichten wan an einen Orts durch eins Gewohnheit, oder besonderer Verordnung dergleichen eingeführt zu seyn sich befunde.“ 462 Die Allegation des bekannten Juristen Joachim Mynsingers zur Beantwortung der Frage war kein Zufall. Wenige Jahre zuvor musste der Hofrat im Zuge des Verfahrens Hirtz wider Weil schon die Frage erörtern, ob Juden gegen Christen einen Eid ablegen dürften. Schon damals wurde zur Lösung der Frage genau die gleiche Stelle aus dem Opus des Begründers der Kameraljurisprudenz angeführt. 463 Die daraus resultierende Position, dass Juden gegen Christen einen Eid schwören dürften, hatte sich damals durchgesetzt. Der Erstreferent im Verfahren von Steffne wider Meyer stellte mit der Allegation Mynsingers einen Bezug zu einem zuvor behandelten Fall dar, bei dem die von ihm nun zu erörternde Frage schon beantwortet worden war. Seine Ausführungen gewannen also allein dadurch an Stärke, da sie auf einer Position rekurrierten, die sich schon wenige Jahre zuvor im Diskurs durchgesetzt hatte. Er zeigte an, dass er nichts Neues darlegte, sondern alt bekannte Wahrheiten reproduzierte. Nun unterschied sich das damalige Verfahren von dem Verfahren von Steffne wider Meyer in einem entscheidenden Punkt. Die Frage war, inwiefern Meyer resp. Juden ihre Rechnungsbzw. Handelsbücher beschwören durften. Aus diesem Grund allegierte der Erstreferent im Verfahren von Steffne wider Meyer dann auch noch den Rechtssatz aus der Kurkölner Judenordnung von 1700, der genau diese Frage behandelte. Dieser Rechtssatz - Judenordnung von 1700, Kap. 4 § 5 - besagt, dass Juden ihre Handelsbücher bis zu einer Obergrenze von zehn Reichstalern beschwören dürfen. 464 Der Erstreferent war jedoch der - wie sich herausstellen sollte - falschen Meinung, dass Hofjuden generell von dieser Bestimmung ausgenommen seien. Dafür argumentierte er mit einer Form der forensischen Interpretation. In der heutigen Jurisprudenz wird eine solche Art der Interpretation als systematische Auslegung bezeichnet. Mittels einer solchen soll der Wortsinn eines Rechtssatzes ermittelt werden, indem man die zu interpretierende Textstelle in einen sachlich-logischen Kontext mit weiteren Rechtssätzen der gleichen Rechtsquelle setzt. 465 Der Erstreferent begann also den allegierten Rechtssatz unter Zuhilfenahme Kapitels 4 § 1 und 4 der Judenordnung auszulegen. Der erste Paragraph besagt, dass jüdische Geldverleiher kein Geld ohne Wissen des Ehegatten eines Schuldners vorstrecken dürfen. Im vierten Paragraphen wird diese Norm dahingehend eingeschränkt, dass für ihren aufrechten Handel bekannte Kaufleute und Ehren- 462 Ibid., F 2 v, r. 463 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 2, S. 35. 464 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, F 2rf. 465 Hans P. Prümm, Verfassung und Methodik: Beiträge zur verfassungskonformen Auslegung, Lückenergänzung und Gesetzeskorrektur unter besonderer Berücksichtigung des vierten Änderungsgesetzes zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz: Schriften zur Rechtstheorie / 67, (Berlin, 1977), 30ff. <?page no="123"?> 124 personen davon ausgenommen sind. 466 Der Erstreferent erweiterte dann diese Einschränkung auf den fünften Paragraphen. 467 Da Meyer ein Hofjude zum Zeitpunkt des Handels und von Steffne ohne Frage eine Ehrenperson war, kam der Erstreferent zu dem Schluss, dass Meyer die gesamte im Buch verzeichnete Schuld beschwören dürfe. 468 Dieses Argument ging mit einer Vorstellung von Hofjuden einher, die im Diskurs nicht haltbar war, was der Koreferent dann auch in seiner Relation anzeigte. „[Ü]brigens sich [? ? ? ] dergleichen Persohn [gemeint sind in Ehrenämtern sitzende Personen, Anm. d. A.] von einen Juden so leicht als ein gemeiner Mann werde betrügen und übervortheilen lassen; […] da die Juden ihre Bücher für sich allein ohne die mindeste Zulassung deren Debitorem führen, mithin in sothane ihre Bücher so wohl in Ansehung deren Stand und in Ehren Ämbtern sitzenden Persohnen als geringere Leuthe Ohnwahrheiten eintragen können, ohne daß solche von denen ersten so wenig als lezteren verhütet werden möge; so ist die Ursach, warum Legislator deren Judenhandbücher auch respectu erwehener Persohnen [Hofjuden Anm. d. A.] nicht illimitatio habe gültig seyn lassen wollen, sondern dieselbe in ordine ad effeciendam semiplenam probationem indistinctim auf ein geringe Summe eingesträubet habe, gantz augenfällig“. 469 Der Koreferent argumentierte basierend auf dem fraglichen Rechtssatz für die aus Kapitel 4.2 bekannte Vorstellung über Hofjuden, laut der der Status nur im Auftrag eines Fürsten unmittelbar agierenden Juden zugesprochen werden konnte. Da Meyers Handel mit von Steffne nicht fürstlich mandatiert gewesen wäre, könne man Meyer diesbezüglich nicht als Hofjude begreifen, führte der Koreferent weiter aus. Er präsentierte diese Vorstellung als Ergebnis einer forensischen Interpretation des fraglichen Rechtssatzes (Judenordnung Kap. 4 § 5). Er erkannte in dem Rechtssatz den diesem zugrundeliegenden Willen des Gesetzgebers, aus dem er den Zweck des Rechtssatzes - unter zeitgenössischen Juristen ratio legis genannt - ableitete. So deduzierte er, dass die im Rechtssatz gesetzte Beschwörungsobergrenze im konkreten Verfahren für Meyer gelten müsse, da Hofjuden juristisch betrachtet auch Juden seien und nur unter spezifischen Umständen eine von der übrigen jüdischen Minderheit unterschiedene Gruppe darstellten. Diese mit dem Willen des Gesetzgebers argumentierende Form der forensischen Interpretation nannten zeitgenössischen Juristen argumentum e contra- 466 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, F 2vf. Nun wäre es freilich fahrlässig, dem Referenten einfach zu glauben. Vgl. also auch: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln, Skotti, Kurkölner Judenordnung von 1700, Kapitel 4. 467 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 1, F 2rff. 468 Ibid., F 2r-4r. 469 Ibid., Relation 2, F, 22r - 23v. <?page no="124"?> 125 rio. 470 Erstreferent und Koreferent nutzten also unterschiedliche Formen der Gesetzesauslegung und kamen dann auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nun stärkte der Koreferent seine Auslegung, indem er argumentierte, die systematische Auslegung des Koreferenten sei fehlerhaft. Man könne den fünften Paragraphen nicht durch Zuhilfenahme des ersten und vierten Paragrafen interpretieren. Im vierten Paragraphen würden die von einem christlichen Schuldner ausgestellten, sich über zehn (oder mehr) Reichstaler belaufenden und somit nicht mit der Judenordnung konformen Handschriften für kraftlos erklärte. Davon wären jedoch Standes- und in Ehrenämtern sitzende Personen ausgenommen. Im fünften Paragraphen würden hingegen die jüdischen - also von den jüdischen Händlern geführten - Handelsbücher „in ordine ad efficiendam semiplenam probationem“ auf zehn Reichstaler limitiert. 471 Da im vierten Paragrafen von Christen ausgestellte Handschriften und im fünften Paragrafen von Juden geführte Handelsbücher besprochen würden, könne man den fünften nicht mit den vierten Paragraphen auslegen. Der Koreferent führte eine durchaus spitze Klinge gegen die systematische Auslegung des Erstreferenten und stärkte so sein eigenes argumentum e contrario. Die Fortsetzung der Debatte unter den Oberrichtern zeigt nun an, dass sich der Koreferent mit seiner Position grundsätzlich durchgesetzt hatte. Es sollte sich allerdings bald zeigen, dass seine Auslegung zwar den Rechtssatz erhellte, aber durch sie nicht alle Mehrdeutigkeiten beseitigt worden waren. Zuerst galt es jedoch, aufgelaufene Verfahrensmängel per Zwischenurteil zu beseitigen 472 , bevor der fünfte Referent dezidiert der Auslegung des Koreferenten folgte - mithin also auch die darin entwickelte Vorstellung über Hofjuden goutierte. Er reproduzierte sogar das argumentum e contrario des Koreferenten, sodass es ein zweites Mal im Zuge dieses Verfahrens in den Diskurs eingespeist wurde. 473 So argumentierte auch dieser Referent für die von dem Koreferenten entwickelte Vorstellung über Hofjuden und der daraus resultierenden Geltung der Beschwörungsobergrenze für Meyer in diesem Appellationsverfahren, „da […] der Legislator andurch allen Ansehen nach weislich und Landesvätterlig bezielet hat, der jüdischen, dem gemeinen Wesen unterem Theil sehr nachtheiligen und sehr öfters betrügerischen Handel dergestalt zu besträuben, damit der Nahrungsstand den handelnden christlichen Unterthan darunter kein großen Abbruch, wie jedoch denen allen ohnachtet gehirhet, leide“ 474 470 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 128. 471 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 2, F, 22v - 22r. 472 Ibid., Relation 3,4. 473 Ibid., Relation 5, F. 30v. 474 Ibid. <?page no="125"?> 126 Der fünfte Referent merkte jedoch an, dass der fünfte Paragraph des vierten Kapitels der Judenordnung weiterhin „zweideutig und dunkel“ sei. 475 So sei der bisherigen Interpretation des besagten Rechtssatzes nicht zu entnehmen, „ob der darinnen [gemeint ist der besagte Rechtssatz, Anm. d. A.] einen jüdischen Handelsbuch zugelegte, jedoch nur auf 10 Rtlr restingirte halber Beweis auf jeden Posten der Rechnung, oder auf die Schuld überhaupt gehe? “ 476 Er sprach sich dafür aus, dass der Gesetzgeber wohl die gesamte Schuld gemeint habe, ansonsten hätte er in dem Gesetz erklärt, dass die Obergrenze für jeden einzelnen Posten einer Schuld gelte. 477 Er folgte also vollständig der Argumentation des Koreferenten, die somit wohl als mehrheitsfähig im Kollegium galt und warf eine weitere Frage bezüglich des Rechtssatzes auf, die er dann beantwortete. Da nun der Koreferent bereits eine sehr erfolgreiche Relation zu dem Verfahren geschrieben hatte, durfte er auch die sechste Relation verfassen und somit auf die vom fünften Referenten aufgeworfene Frage reagieren. Wenig überraschend blieb er seinen schon in der zweiten Relation getätigten Argumenten treu und explizierte abermals, dass die in Kapitel 4 § 5 gesetzte Beschwörungsobergrenze für alle Juden gelte (mit Ausnahme von Hofjuden im Sinne des Kapitels 4.2 dieser Arbeit). 478 Nunmehr jedoch war die von dem fünften Referenten aufgeworfene Frage virulent geworden, was genau unter Obergrenze zu verstehen sei. Hier widersprach der Koreferent dem fünften Referenten. „Auf die […] Frag gibt Maller ad Strurium Cit: Loco die Entscheidung in verbis: posita in statuto certa summa ad quam usque probant libri Mercatorem, plures minuata Summa Coacurrari non debent ad excludendam hanc probationem Conferadur Marantat de Ord: judic: 6: 4.Distinc: 9.N: 18 ubi. […]Alleg: Baldum, et Decium, dahero dan accedent Juramento Suppletorio die bis auf 10 Rtlr sich betragenden Posten ebenfals zuzusprechen, uber die Übrige aber bessere beweis aufzulegen seyn wird.“ 479 Die Obergrenze gelte also für jeden einzelnen Posten. Somit dürfe Meyer jeden Posten, der sich auf maximal zehn Reichstaler beläuft, beschwören. Für die anderen Posten müsse er bessere Beweise vorbringen. Der Hofrat verkündete den Parteien in seinem Urteilsspruch, dass von Steffne einen Teil der Schuldforderung begleichen müsse. Für diesen lagen aber neben dem Rechnungsbuch weitere Beweise vor, sodass diese Tilgungsanweisung nicht aus der Auslegung des Rechtssatzes resultierte. Darüber hinaus sollte von Steffne die Hälfte der Gerichtskosten tragen. Die übrigen Gerichtskosten sowie die Schuldposten, die allein durch das Rechnungsbuch bewiesen wurden, 475 Ibid., F. 29.r. 476 Ibid. 477 Ibid., F. 29.r, 30v. 478 Ibid., Relation 6, F. 32r. 479 Ibid., F. 33r. <?page no="126"?> 127 sollten hingegen verglichen werden. 480 Diesem Urteil lässt sich also nicht entnehmen, ob die fünfte oder die sechste Relation grundlegend war. In beiden Relationen wurde unterschiedlich argumentiert, dass Meyer das Juramentum nicht schwören konnte. Das letztlich vom Hofrat gesprochene Urteil gibt nun nur darüber Auskunft, dass im Kollegium mehrheitlich auf die Nichtablegung des Eides insistiert worden war, nicht jedoch über den ausschlaggebenden Grund hierfür. Da nun jedoch die beiden Parteien den angeordneten Vergleich platzen ließen und von Steffne ein Revisionsgesuch beim Hofrat einreichte, kam es zu einem entsprechenden Verfahren, das Auskunft darüber gibt, welche Relation den Zuschlag des Kollegs erhalten hatte. Der siebte Referent 481 ließ keinen Zweifel daran, dass weiterhin der fünfte Paragraph des vierten Kapitels der Judenordnung im Mittelpunkt des Interesses stand. „[D]ie Frag worauf es ankombt, beruhet einzig und allein auf der Auslegung des Erzstifftischen Gesetzbuches, so der Beschwörung der jüdischen Handels-bücher“. 482 Nun erklärte der siebte Referent, dass alle Posten, die durch das Rechnungsbuch und weitere Beweise gestützt würden, seitens der Erbgemeinschaft von Steffne befriedet werden müssten. 483 Diese Position war nicht neu, sondern schon Teil des Urteils im Appellationsprozess von Steffne wider Meyer. Mithin entsprach sie auch der frühneuzeitlichen Beweislehre, laut der die Kombination halber Beweise einen vollen Beweis ausmachen konnte. Die eigentliche Frage war, wie mit den Posten der Schuldforderung verfahren werden sollte, die allein durch das Rechnungsbuch bewiesen wurden und inwiefern das Rechnungsbuch mit einem Eid aufgewertet werden konnte. Diesbezüglich führte der siebte Referent aus, „auswegen bey weiter Fortlesung gemeldter Ordnung § subsequens 8. nach meinem geringen Verstand die Intention des höchsten Gesetzgebers nicht undeutlich dahin erklärt, daß in höheren Summen die Beschränkung der 10 Rtlr cessirt, und alsdann die Juden die nembliche Vorschung zu geniessen haben sollen, der sich ein Christ zu erfreuen hat“. 484 Der siebte Referent versuchte also wie der erste Referent, den fraglichen Rechtssatz unter Zuhilfenahme eines weiteren Rechtssatzes aus der Judenordnung zu erklären und zugleich dem Ansatz des zweiten Referenten, den Willen des Ge- 480 Ibid., Relation 2, F. 24 v, Relation 6, F. 34v. 481 Da eigentlich der Appellationsprozess beendet worden war und der Hofrat den Fall nunmehr in einem Revisionsverfahren erneut behandelte, handelte es sich eigentlich um einen Erstreferenten. Es wird jedoch zum besseren Verständnis der Übergang vom Appellationsprozess zum Revisionsprozess bei der Benennung der Referenten in diesem Kapitel nicht beachtet. 482 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 7, F. 48v. 483 Ibid., Relation 7, F. 48r, 49v. 484 Ibid., F. 50v. <?page no="127"?> 128 setzgeber zu ermitteln und dann als Richtschnur zur Interpretation zu nutzen, zu folgen. Er vermengte argumentum e contrario und systematische Auslegung. In der Folge brachte er eine ganz neue Lesart des Rechtssatzes in den Diskurs ein: Die Nichtgeltung der Beschwörungsobergrenze für höhere Summen. Diese Auffassung wurde jedoch von dessen Koreferenten angegriffen. Die Beschwörungsobergrenze für jüdische Kaufmannsbücher gelte ohne Ausnahme für jeden einzelnen Posten. Der Koreferent sah sich nicht mehr genötigt, seine Ausführungen mit exakten Rechtsallegationen zu untermauern oder überhaupt elaboriert für seine Position zu argumentieren. Er kam dann auch zu dem Schluss, die Befriedung der Posten anzuweisen, die besser als allein durch das Kaufmannsbuch bewiesen wurden. Bezüglich dieser Posten könne man das Buch als „semiplenam probationem“ verstehen und mit den anderen Beweisen in Zusammenschau ließe sich so ein Teil des vorangegangenen Urteils bestätigen. 485 Die Aufwertung des Rechnungsbuches per Eid sei jedoch weiterhin nicht zu gestatten. Das Kollegium folgte cum grano salis dem Vorschlag des achten Referenten. 486 Da nun die achte Relation reüssierte, obwohl sie kaum Argumente enthielt, lässt sich davon ausgehen, dass sie die Position reproduzierte, die sich schon im Appellationsprozess durchgesetzt hatte. Der achte Referent konnte also wissentlich auf ausufernde Argumente verzichten, da er wusste, dass seine Position schon im Appellationsverfahren siegreich gewesen war, somit die seiner Position zugrundeliegenden Argumente bekannt und mithin schon mehrheitlich im Kollegium goutiert worden waren. Am Ende zweier Verfahren obsiegte also die von dem zweiten Referenten in der zweiten und sechsten Relation eingebrachte, in der achten Relation reproduzierte Argumentation und so wurde eine wahre Auslegung des zu erörternden Rechtssatzes geschaffen. Diese Auslegung hatte sich gegen drei weitere Interpretationsmöglichkeiten durchgesetzt. Auch diese forensische Auslegung stand im Zeichen des agonalen Prinzips. Dies deutet gerade der Revisionsprozess an, in dem der schon im Appellationsprozess siegreichen Auslegung eine gänzlich neue Interpretation entgegengestellt wurde. 487 Letztlich hatte eine Interpretation den Wettstreit gewonnen, der eine über die beiden Verfahren von Steffne wider Meyer herausragende Bedeutung zukommen konnte, insofern der Rechtssatz abermals verwendet werden musste. Dann nämlich befand sich im Urteilsdiskurs bereits eine wahre Auslegung des Rechtssatzes, die in späteren Verfahren hätte aufgegriffen werden können. In Brandenburg-Ansbach kam es in den frühen 1790er Jahren zu einem Verfahren, in dem die christliche Partei behauptete, ein jüdischer Wechsel sei nich- 485 Ibid., Relation 8. 486 Ibid., Die Abweichung lässt sich damit erklären, dass sich die Debatte nicht allein um die Auslegung des Rechtssatzes drehte, sondern die Referenten auch noch auf verschiedenen „Nebenschauplätzen“ stritten. 487 Es muss abschließend nochmals dezidiert darauf verweisen werden, dass in diesem hochkomplexen Verfahren mehrere Fragen behandelt werden mussten und an dieser Stelle nur die forensische Interpretation abgebildet werden konnte. <?page no="128"?> 129 tig, wenn dieser und dessen Erststellung nicht protokolliert worden seien. Diese Behauptung beruhte auf einer Interpretation eines fürstlichen Gesetzes aus dem Jahre 1791. Der den Fall bearbeitende Referent goutierte die Interpretation dezidiert nicht. Vielmehr bezeichnete er den Anwalt der christlichen Partei wegen dessen Interpretation als „[e]ine wahre Schande von einem Rechtsgelehrten“. 488 Er legte seinerseits den fraglichen Rechtssatz dahingehend aus, dass der Wechsel gültig sei, denn „denen Juden alles Wechsel negotiren zu benehmen war nie die fürstliche Intention.“ 489 Auch dieser Referent griff also auf das argumentum e contrario zurück, um den Rechtssatz auszulegen. Es zeigt sich an diesem Beispiel dann aber auch, dass eine forensische Interpretation eines Rechtssatzes nicht auf antijüdischen Aussagen fußen musste und Rechtssätze nicht generell zum Nachteil jüdischer Parteien ausgelegt wurden. Es war wohl auch eine Frage des diskursiven Klimas, das im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs anders ausfiel als im Kurkölner. Die Präsumptio doli stellte längst keine zulässige Argumentationsform mehr dar und generell nahm die Anzahl antijüdischer Aussagen - abgesehen von einigen Ausschlägen - seit den 1720er Jahren im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs sukzessive ab. Die forensische Interpretation bot also eine Möglichkeit, Rechtssätze im Moment der Anwendung auszulegen, wobei diese dafür mehrdeutig formuliert sein mussten. Damit erweiterte diese die schon aus der Rechtsvielfalt resultierende Begründungsfreiheit der Richter noch weiter. Die Auslegung von Rechtssätzen bot - je nach diskursivem Klima - dabei die Möglichkeit, antijüdische Aussagen als Prämissen zu nutzen und die Rechtssätze so auszulegen, dass sie für die jüdischen Parteien nachteiliger ausfielen. Die von Caesare Beccaria so verteufelte Auslegung von Rechtssätzen durch Richter stellte also gerade für jüdische Parteien vor dem Kurkölner Hofrat ein immensen Risikofaktor dar. Dahingegen mussten sie jüdische Parteien vor dem Kaiserlichen Landgericht in der Spätphase des 18. Jahrhunderts nicht fürchten. In den folgenden qualitativen Analysen einzelner Verfahren wird sich zeigen, dass die Referenten durchaus ob des Problems der forensischen Auslegung wissend Maßnahmen ergriffen, um Angriffe ihrer Richterkollegen via forensischer Interpretation gegen ihre Urteile zu konterkarieren. Zum einem konnten sie - anders als der Erstreferent im o.a. Fall - einen mehrdeutigen Rechtsatz direkt in interpretierter Form darbieten, zum anderen konnten sie das Problem umgehen, indem sie keine unkommentierten Rechtssätze, sondern Rechtskommentare allegierten. Diese boten bereits eine gelehrte Auslegung des Rechts und wurden in den hier analysierten Verfahren auch kaum mittels forensischer Interpretation ausgelegt. 488 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119a, Kaiserliches Landgericht, 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1, S. 25. 489 Ibid. <?page no="129"?> 130 5.3 Zwischenfazit Die Oberrichter konnten auf verschiedene argumentative Muster zurückgreifen, welche im Recht vorformuliert waren. Diese gaben kausale Schlussfolgerungen von Prämissen auf vorgegebenen Konklusionen vor. Für die Sachverhaltskonstruktion stellte die Präsumptionslehre ein solches Argumentationsmuster dar, mittels dessen die übliche Form, mit Beweisen zu argumentieren, umgangen werden konnte. Anstatt mit Beweisen galt es mit Präsumptionen und dem Fehlen von Gegenbeweisen für einen Sachverhalt zu argumentieren. Das frühneuzeitliche Recht kannte eine Vielzahl an Präsumptionen, welche aber nicht alle in den drei Urteilsdiskursen platziert werden konnten. Allein im Kurkölner Urteilsdiskurs war es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts möglich, auch mit einer Präsumptio doli argumentieren zu können. Diese Möglichkeit war in den anderen beiden Urteilsdiskursen spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht (mehr) gegeben. Neben der Präsumptionslehre stellte die forensische Interpretation ein gängiges Argumentationsmuster dar, welches im Rahmen der Urteilsproduktion verwandt und mit dem Rechtssätze im Moment der Anwendung ausgelegt werden konnten. Insbesondere die systematische Auslegung und das argumentum e contrario wurden appliziert. Die forensische Interpretation erhöhte die aus der Rechtsvielfalt resultierende Begründungsfreiheit für die Richter. Nachdem nunmehr die Grundlagen der Urteilsdiskurse erörtert wurden, werden in den folgenden drei Kapiteln einzelne Wahrheitsproduktionen an den drei Gerichten ausführlich analysiert und erörtert. <?page no="130"?> 131 6. Kurkölner Wahrheitsproduktionen Am Ende eines Gerichtsverfahrens steht im Idealfall ein Urteilsspruch. Mit diesem setzt ein Gericht fest, was sich zwischen den streitenden Parteien ereignet hat (Sachverhalt) und welche Rechtsfolgen für diese daraus resultieren (Urteil). In den vorangegangenen Kapiteln wurden drei obergerichtliche Urteilsdiskurse beschrieben, in denen Sachverhalte und Urteile produziert wurden. Es konnte die Relevanz des Wettstreits sowie der Subsumptionsmethode für diskursive Sachverhalts- und Urteilsproduktion herausgearbeitet und zugleich aufgezeigt werden, dass es möglich war, in den Urteilsdiskursen mit judenspezifischen Aussagen zu argumentieren, da die Grenzen des Sagbaren von territorialen normativen Diskursen vorgegeben wurden, in denen antijüdische Aussagen vorlagen. Überhaupt war für die Produktion von Urteilen und Sachverhalten die Verschränkung von Urteilsdiskurs und normativen Diskurs elementar. Nachdem bis hierhin also das den Urteilsdiskursen zugrundeliegende Regelwerk beschrieben wurde, erzählen dieses und die folgenden Kapitel die Geschichten einzelner Verfahren. Die Verfahren werden getrennt nach den Gerichten besprochen. Die ausgewählten Fälle exemplifizieren, wie die Richter an den jeweiligen Gerichten innerhalb der oben beschriebenen Regeln über die Fälle stritten und so zu Urteilen gelangten. Ferner werden anhand der Verfahren weitere noch nicht besprochene Elemente der gerichtlichen Wahrheitsproduktion diskutiert sowie die Möglichkeit des diskusiven Wandels von Urteilsdiskursen erörtert. Darüber hinaus wird in Kapitel 8.2 der Modus der richterlichen Stimmabgabe vorgestellt sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für die gerichtliche Wahrheitsproduktion dargelegt. Die folgenden Kapitel haben den gleichen Aufbau. Zu Beginn wird der Fall nach Aktenlage dargestellt. Dabei bildet für diese Darstellung nicht die Aktenlage die Grundlage, sondern die seitens der Referenten besorgten species facti, die ihrerseits schon eine Abbildung eines Verfahrens und Falles nach Aktenlage darstellen. Im Anschluss wird die jeweilige fallbezogene Sachverhaltskonstruktion erörtert. Es wird dargestellt, wie die Referenten und Richter über den zu verhandelnden Fall diskutierten und wie sie schließlich einen Sachverhalt festlegten. Getrennt von der Sachverhaltskonstruktion wird abschließend die Urteilsproduktion besprochen. Die hier vorgenommene Trennung von Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion ist künstlich. Eigentlich bilden Sachverhalt und Urteil eine Einheit. 490 Die Trennung dient allein der Darstellung und soll zu einem besseren Verständnis führen. Da dies zur Folge hat, dass das Zusammenwirken von Sachverhaltskonstruktion und Uteilsproduktion ausgeblendet 490 Darauf machte schon Wolfgang Naucke aufmerksam. Naucke, “Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht”, 71. <?page no="131"?> 132 wird, bespricht Kapitel 8.3 die Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion zusammen, wobei dort insbesondere die Kohärenz der beiden fokussiert wird. 6.1 Die Grenzen des Sagbaren im Kurkölner Urteilsdiskurs - Das Verfahren Moses wider Tosten Im Jahr 1770 verklagte der jüdische Händler Chile Moses den Bauern Gerard Tosten vor dem Amtsverhör zu Rheinbeck mit dem Argument, dass Tosten zwei Jahre zuvor ein Pferd von ihm erstanden, den Kaufpreis jedoch noch nicht vollständig entrichtet habe. Moses wollte nun mit seiner Klage die Tilgung dieser Schuld gerichtlich erzwingen. Der Beklagte Tosten erklärte darauf, dass der jüdische Händler Moses ihn betrogen habe. 491 Moses habe ihm ein Pferd für 13 Pistolen, ein Malder Weizen und einen Kronentaler verkauft, 492 nach dem Verkauf habe sich jedoch herausgestellt, dass Moses das Alter des Pferdes falsch angegeben habe und das Tier noch zu jung für die Arbeit gewesen sei. Daraufhin sei er zu Moses gegangen und habe sich beschwert. Dieser sei zwar bereit gewesen, das Pferd zurückzunehmen, jedoch nicht den Kaufpreis zu erstatten. Stattdessen habe er Tosten überzeugt, ein anderes, teureres Pferd als Ersatz zu nehmen, wofür der Bauer jedoch weitere sieben Pistolen und einen weiteren Malder Weizen sowie zwei weitere Kronentaler Aufpreis bezahlen musste. Dafür habe Moses ihm allerdings zugesichert, das Pferd nach dem Kauf umtauschen zu dürfen, wenn es ihm nicht gefiele. 493 Dieser habe ihm dann auch ein konstitutionell gut aufgestelltes Pferd präsentiert, welches er dann auch unter dem Vorbehalt des möglichen späteren Umtausches akzeptiert habe. Allerdings habe Moses ihm später dann nicht das präsentierte und von ihm erstandene, sondern ein anderes Pferd geliefert. 494 Zwei Wochen nach der Lieferung sei Tosten dann auch von dem Juden Seligmann angedeutet worden, dass das gelieferte Pferd von einer Art Koldern - eine Pferdekrankheit - befallen sei. Tosten habe nun Moses davon in Kenntnis gesetzt, welcher jedoch den Bauern davon überzeugte, es handele sich nur um eine gewöhnliche Krankheit, die mit der Zeit heilen würde. Da sich der Gesundheitszustand in den folgenden Wochen jedoch nicht verbesserte, sei er zu Moses gegangen und habe - wie im mündlichen Kaufvertrag angeblich festge- 491 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 1,2. 492 Malder = Malter: Volumenmaß für Gerteide. Pistole: Goldmünze zu fünf silbernen Talern. Kronentaler: Niederl. Geldstück, das vom ersten Koalitionskrieg an in Massen nach Süd- und Westdeutschland einströmte, den Konventionsgulden verdrängte und zur Hauptsilbermünze wurde. Es entstand das Wertverhältnis 1 Kronentaler = 100 Kreuzer. Vgl. Fritz Verdenhalven, Alte Meß- und Währungssysteme aus dem deutschen Sprachgebiet: Was Familien- und Lokalgeschichtsforscher suchen, 2nd ed., 4 (Insingen, 2011), 34,109,112. 493 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr., II T 19, Relation 1,2. 494 Ibid. <?page no="132"?> 133 legt 495 - um einen weiteren unentgeltlichen Austausch des kranken Tieres gebeten. Moses habe dies allerdings verwehrt. 496 Moses hingegen gab vor dem Amtsverhör zu Protokoll, dass das Pferd zum Zeitpunkt des Kaufes noch gesund gewesen sei. Er reichte dann auch ein Zeugnis des Schmiedes Baulussen ein, in dem dieser dem Pferd beste Gesundheit attestierte. 497 Ferner argumentierte er, dass es noch nicht erwiesen sei, dass das Pferd überhaupt unter Koldern leide und selbst wenn das der Fall sei, trage er daran keine Schuld. Abschließend gab er zu Protokoll, dass im Kaufvertrag kein Passus enthalten sei, der besage, dass Tosten das Pferd unentgeltlich umtauschen könne, wenn es ihm nicht gefiele. Dahingegen beweise der Kaufschein vom 27. August 1768, dass Tosten die Kaufsumme noch nicht bezahlt habe und somit ihm diese noch schuldig sei. 498 Der Beklagte Tosten reagierte auf die Beschuldigungen Moses‘ mit der Bitte um dessen eidliches Verhör. Er gab zugleich acht Fragestücke 499 bei, die den von ihm behaupteten Passus im Kaufvertrag fokussierten und zu denen Moses im Verhör befragt werden sollte. 500 Moses wandte dagegen am 15. Februar 1770 ein, „Beklagter Tosten hätte am 11. Februar 1770 [also während des laufenden Verfahrens, Anm. d. A.] sich mit ihm schon verglichen und mit dem Pferd wohl zufrieden zu seyen deklariert, alle Gerichts= und Advokatskosten […] übernohmen, auch wirklich bis auf 2 Rtlr und 46 Schilling Zahlung geleistet, sonst diese nebst 1 Malder weiter binnen 14 Tagen zu erlegen versprochen.“ 501 Er führte Heinrich und Magdalena Becker sowie Salomon Moyses als Zeugen des Vergleiches an, um deren Anhörung er dann auch bat. 502 Moses argumentierte, dass eine Erörterung des Kaufes nicht mehr nötig sei, da sich Tosten zwischenzeitlich mit ihm verglichen und somit den Kauf akzeptiert habe. 503 Zwar gab Tosten zu, dass er sich mit Moses am 11. Februar getroffen habe. Allerdings habe Moses ihm dort ein neues Pferd angeboten und er habe dann 495 Es ist in den Relationen zwar nicht ausdrücklich verzeichnet, dass der Kaufvertrag mündlich geschlossen worden war, da er aber als mögliches Beweismittel überhaupt nicht thematisiert wurde, ist davon auszugehen, dass der Handel allein mündlich beschlossen wurde. 496 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr., II T 19, Relation 1,2. 497 Ibid. 498 Ibid. 499 Generell wurden Zeugenverhöre in frühneuzeitlichen Zivilprozessen unter Abwesenheit der Parteien durchgeführt. Diese hatten nur die Möglichkeit schriftlich niedergeschriebene Fragestücke einzureichen, die als Leitfaden des Verhörs fungierten. Vgl. Wolfgang Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte: HRG. 1. Aachen - Geistliche Bank, 2nd ed., ed. Albrecht Cordes and Wolfgang Stammler, HRG (Berlin, 2008), 407. 500 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 1,2. 501 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 2. 502 Ibid. 503 Ibid. <?page no="133"?> 134 auch dem Kaufgeschäft zugestimmt, jedoch sei dies kein Vergleich, sondern ein übliches Handelsgeschäft gewesen. Somit könne der in dem Verfahren strittige Pferdekauf weiterhin erörtert werden. Tosten bat zu diesem Zweck um eine Abhörung von vier seiner Nachbarn, die Informationen über das gekaufte Pferd und Moses besäßen. Das Verhör wurde dann auch am 20. März 1770 realisiert. Alle vier Nachbarn Tostens bezeugten die schwache Konstitution des Pferdes. 504 Darüber hinaus bestätigten sie auch cum grano salis die weiteren Sachverhaltsbehauptungen Tostens über den Kauf des Pferdes: Moses habe das Pferd einige Jahre zuvor von einem gewissen Jacob Selster gekauft. Als ihm selbst der gesundheitliche Mangel des Tieres aufgefallen sei, habe er das Pferd Selster zurückgeben wollen. Dieser habe nun Moses eine Kuh und eine Menge an Weizen angeboten, wenn er den Kauf nicht rückgängig machen würde. Moses habe zugestimmt und in der Folgezeit dann versucht, das Pferd zu veräußern. Die Zeugen schätzten den Wert des Pferdes auf nicht einmal eine Pistole, „weilen man darmit in Lebensgefahr seye.“ Ein Zeuge namens Mathias Vögeler gab sogar an, selber Opfer einer betrügerischen Veräußerung des Pferdes gewesen zu sein. 505 So habe er „das gesagte Pferd vor ohngefähr 3 Jahren von dem Juden Chilo Moses gekauft und solches vom 6teren bis Michael gehabt, während welcher Zeit daßelbe oftmals unter der Arbeit unbetont gleich stehen geblieben und Zitterns zu fallen bedröhet, wie ein Mensch, der die fallende Krankheit hette, er habe dafür 18 Pistolen gegeben und nur von dem Juden 9 Pistolen zurückbekommen.“ 506 Die von Tosten in das Verfahren eingeführten Zeugen betätigten also nicht allein die schwache Konstitution des Pferdes, sondern wussten auch zu berichten, wie Moses an das Pferd gelangt war, ferner dass ihm der Zustand des Tieres bekannt war und er schon mehrfach versucht hatte, das Tier zu veräußern, wobei sie alle das Tier für wertlos hielten. Moses brachte nun seinerseits Beweise für das Zustandekommen des von ihm behaupteten Vergleichs vor. Es handelte sich um ein von den drei schon zuvor von Moses angeführten Zeugen Becker und Moyses sowie einem Schultheißen unterschriebenes und um ein weiteres von einem Richter unterfertigtes Zeugnis. Beide Zeugnisse enthalten Aussagen der beim angeblichen Vergleich anwesenden drei Zeugen 507 Becker und Moyses, die das Zustandekommen des Vergleiches bestätigen. Darüber hinaus erklärten die Zeugen, dass sie ihre Aussagen vor 504 Ibid. 505 Ibid. 506 Ibid. 507 Tatsächlich tauchte in dieser Passage ein weiterer Zeuge namens Salomon David auf, welcher aber im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielte und auch zuvor noch nicht auftaucht. <?page no="134"?> 135 Gericht wiederholen würden, insofern die Zeugnisse als Beweis nicht ausreichten. 508 Tosten versuchte in der Folge, diese Zeugnisse zu disqualifizieren. So erklärte er, dass die von Moses beigebrachten Zeugen Juden seien und Juden nicht gegen Christen einen Eid ablegen dürften. 509 Ferner gab Tosten an, dass er in der Lage sei, Reprobatorialzeugen - modern gesprochen: Gegenzeugen - zu präsentieren, die bezeugen könnten, dass es zu keinem Vergleich gekommen sei. Allerdings argumentierte er weiter, dass die Beibringung der Gegenzeugen nicht nötig sei, da es mithin keine Rolle spiele, ob am 11. Februar 1770 zwischen ihm und Moses ein Vergleich geschlossen worden sei, da das Verhör seiner Nachbarn ergeben habe, dass er durch den Kauf des Pferdes großen Schaden (enormissma laesio) erlitten habe und man deswegen den Vergleich, sofern er denn zustande gekommen sei, „rejudizieren“ müsse. 510 Moses bat daraufhin um die Abhörung der von ihm angeführten drei Zeugen Becker und Moyses. Das Amtsverhör zu Rheinbeck verlas am 13. August 1771 das Urteil, welches die Rücknahme des Pferdes und die Restitution der Kaufsumme anordnete. Von diesem Urteil aus appellierte Moses an den Kurkölner Hofrat. In seiner Appellationsklage beschwerte er sich, dass im untergerichtlichen Urteil von 1771 der Vergleichsschluss widerrechtlich desavouiert worden sei. Ferner sei das Pferd seit nunmehr drei Jahren im Besitz Tostens. Dies beweise doch, dass das Pferd nicht kränklich und schwach sei. 511 Tosten erwiderte am 26. Februar 1772 abermals, dass es keinen Vergleichsschluss gegeben habe und Juden kein Zeugnis „contra Christianos“ ablegen könnten, die von Moses beigebrachten drei jüdischen Zeugen in diesem Verfahren also nicht testieren dürften. 512 Ferner sei es zwar richtig, dass sich das Pferd seit längerer Zeit in seinem Besitz befinde, jedoch nur weil er durch die Handlungen Moses‘ dazu genötigt sei. So gebe es auch Zeugen dafür, dass das Pferd innerhalb der drei Jahre nie wirklich arbeitsfähig gewesen sei. 513 Tosten reichte dann auch zwei Zeugnisse von Schmiedemeistern am Hofrat ein, welche die Arbeitsunfähigkeit des Pferdes attestierten. 514 Moses widersprach dieser Behauptung vehement mit dem Argument, dass Tosten seit drei Jahren das Pferd auf seinen Feldern arbeiten ließe. Die von Tosten vorgeschützten Zeugen seien dessen Nachbarn „und were nichts leichteres als ein testimonium [Zeugnis, Anm. d. A.] […] von 20 Nachbahrn beizubringen.“ 515 Hatte bis hierhin Tosten versucht die Zeugen Moses‘ zu disqualifizieren, so übte sich Moses nun in der- 508 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 2. 509 Ibid. 510 Ibid. 511 Ibid. 512 Ibid. 513 Ibid. 514 Ibid. 515 Ibid. <?page no="135"?> 136 selben Disziplin. Mit der Eingabe Moses war die letzte Prozesshandlung vollzogen und nunmehr lag es in den Händen des Hofrates, eine Entscheidung zu treffen. 6.1.1 Sachverhaltskonstruktion Nunmehr musste also der Hofrat den Streit zwischen Moses und Tosten lösen. Dafür galt es zuerst zu entscheiden, was sich zwischen den streitenden Parteien ereignet hatte. Das Richterkollegium bestimmte aus seiner Mitte einen Referenten und einen Koreferenten, welche den Sachverhalt konstruieren sollten. Diese waren sich jedoch uneinig. Während der Referent festestellte, dass Moses Tosten bei dem Pferdekauf betrogen habe und es zu keinem Vergleich zwischen den beiden gekommen sei, befand der Koreferent die Beweislage nicht für ausreichend, um einen umfasenden Sachverhalt zu konstruieren. Dabei erzählten sie zu Beginn ihrer jeweiligen Referate eine analog ausgestaltete Geschichte. Sie erklärten, dass Tostens Nachbarn ausgesagt hatten, dass das Pferd konstitutionell schwach aufgestellt sei, Moses dieses auch gewusst und schon mehrfach versucht habe, dass Pferd betrügerisch zu veräußern. 516 Nach frühneuzeitlichem Prozessrecht machten zwei Zeugenaussagen einen vollen Beweis aus. Beide Referenten argumentierten, dass Moses diesen Aussagen im Laufe des Verfahrens auch nie explizit widersprochen hätte und diese deswegen ihre volle Rechtskraft erlangt hätten. 517 Aus den von den Zeugen behaupteten vergangenen Betrügereien Moses‘ und der schwachen Konstitution des Pferdes deduzierten beide Referenten, dass Moses auch Tosten betrogen habe. 518 Beide Referenten waren also bereit, auf der vorliegenden Beweislage basierend den betrügerischen Pferdehandel Moses‘ zu konstruieren. Für die Beurteilung des Falles war es relevanter - wie im nächsten Kapitel ausführlich erörtert wird - ob es zu dem seitens Moses behaupteten Vergleichsschluss gekommen war. Bezüglich dieses Vergleichs nun herrschte Uneinigkeit unter den mit dem Fall mandatierten Richtern. Der Referent verneinte das Zustandekommen eines Vergleichs zwischen Moses und Tosten. 519 Nun hatte Moses zwar drei schriftliche und notariell beglaubigte Zeugenaussagen beigebracht, in denen der Vergleichsschluss bestätigt wurde, der Referent thematisierte diese jedoch überhaupt nicht. Stattdessen plausibilisierte er, dass der Vergleich so nachteilig für Tosten ausgestaltet sei, dass man davon ausgehen könne, dass auch „[k]einer von den einfältigsten Bauern in diesem Amt“ 520 freiwillig in diesen eintreten würde. 521 Er führte also keine Beweise als Argument an, sondern 516 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln, III, Nr. II T 19, Relation 1, Relation 2. 517 Ibid. 518 Ibid. 519 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln, III, Nr. II, T 19, Relation 1. 520 So bezeichnete der Referent Tosten. 521 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln, III, Nr. II, T 19, Relation 1. <?page no="136"?> 137 rekurrierte auf seine Lebenserfahrung - argumentierte also mit einer Präsumptio hominis, der laut Prozessrecht eigentlich keine juridische Relevanz zukommen sollte. 522 Darüber hinaus sollte laut Prozessrecht mit einer Präsumption nur argumentiert werden können, insofern keine Gegenbeweise vorlagen. Es existierten nun mit den beiden von Moses beigebrachten schriftlichen Zeugenaussagen zumindest Indizien, die der von dem Referenten präsumierten Geschichte widersprachen. Der Koreferent erhob dann auch deutlichen Widerspruch gegen die Sachverhaltskonstruktion seines Kollegen, indem er allen voran mit den von Moses beigebrachten schriftlichen Zeugenaussagen argumentierte, dass es möglich sei, dass der Vergleich im Laufe des Verfahrens - genauer gesagt am 11. Februar 1770 - zustande gekommen sei. Zwar erkannte er die von Moses beigebrachten Zeugenaussagen auf Grund ihrer Form nicht als volle Beweise an. Allerdings gab er zu erkennen, dass durch die eidliche Abhörung der Zeugen noch volle Beweise für das Zustandekommen des Vergleiches entstehen könnten. 523 Die Zeugenaussagen seien aufgrund der Form noch kein voller Beweis, doch dieser Umstand ließe sich sanieren. Sofern die Zeugenaussagen qualifiziert würden, ließe sich dann nicht allein konstruieren, dass Moses sich mit Tosten verglichen habe, argumentierte der Koreferent weiter, sondern auch dass Tosten zum Zeitpunkt des Vergleichs der Zustand des Pferdes bekannt gewesen sei, da dieser erst nach Beginn des erstinstanzlichen Verfahrens angeblich zustande gekommen, mithin Tosten also der Zustand des Pferdes am 11. Februar 1770 unzweifelhaft bekannt gewesen sei. 524 Der Koreferent verweigerte also noch die Sachverhaltskonstruktion bezüglich des Vergleiches und plausibilisierte stattdessen nur, dass es zu einem Vergleich gekommen sein könne und dass hierfür auch theoretisch Beweise existierten. Er sprach sich dann auch für eine Fortsetzung des Verfahrens aus, damit diese Beweise gerichtlich eingefordert werden könnten und in der Folge dann auf Beweisen gestützt erzählt werden könnte, dass es zu einem Vergleich zwischen Moses und Tosten gekommen sei. 525 Nun verhandelt die Debatte der Referenten in diesem Fall vordergründig die Frage, ob die Beweislage für eine Sachverhaltskonstruktion ausreichend war oder ob es weitere Beweise zu fordern galt. Tatsächlich sprach sich der Koreferent aber nicht einfach für eine Verbesserung der Beweislage aus, sondern für einen spezifischen Modus der Beweisbeibringung, mit dem Beweise beigebracht werden sollten, die eine spezifische Geschichte stützen würden. Referent und Koreferent debattierten also oberflächlich betrachtet, ob für eine Sachverhaltskonstruktion weitere Beweise erforderlich seien, tatsächlich sprachen sich Referent und Koreferent für unterschiedliche 522 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 420. 523 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln, III, Nr. II T 19, Relation 2. 524 Ibid. 525 Ibid. <?page no="137"?> 138 Sachverhalte aus, die sie dann durchzusetzen versuchten. Der Referent versuchte basierend auf der Beweislage seinen päferierten Sachverhalt zu konstruieren, während der Koreferent diese Konstruktion ablehnte und weitere Beweise forderte, mit denen er die von ihm bevorzugte Geschichte erzählen könnte. 526 6.1.2 Urteilsproduktion Referent und Koreferent erzählten in ihren Referaten unisono, dass Moses Tosten das Pferd betrügerisch verkauft habe und auch ihre rechtliche Beurteilung dieses Teils ihres jeweiligen Sachverhaltes fiel analog aus. Sie stützten ihre juridische Bewertung auf das Vertragsrecht. In diesem Rechtsinstitut wurde zwischen zwei Arten von Betrug - im zeitgenössischen Juristenlatein dolus genannt - unterschieden. Zum einem konnte ein Betrug nur accidentalia eines Vertrages berühren. Solche Formen eines Betruges verletzte die Rechtmäßigkeit eines Vertrages nicht. Hingegen konnte ein Betrug auch die essentialia eines Vertrages berühren. Eine solche Art des Betruges lag in der zeitgenössischen Rechtsdoktrin dann vor, wenn ein Betrug eine Partei zum Vertragsabschluss veranlasste. 527 Der Referent unterstellte nun ohne Anführung von Argumenten oder der Allegation von Rechtssätzen, dass der betrügerische Verkauf des Pferdes die essentialia des zwischen Moses und Tosten geschlossenen Kaufvertrages berühre und dieser somit nichtig sei. Daraus resultiere, dass Moses das Pferd gegen die Erstattung des Kaufpreises zurücknehmen müsse. 528 Der Koreferent forderte die gleichen Rechtsfolgen, argumentierte für diese aber elaboriert und auf den territorialen normativen Diskurs verweisend, „daß Beklagter [Tosten Anm. d. A.] […] Mangel angezeigt und das Pferd obrückzugeben […] prasentieret habe, […], wann klagender Jud welcher der vorhandenden Pferdemangel juxta elogia testium [gemeint sind die Zeugenaussagen, der von Tosten beigebrachten Zeugen, Anm. d. A.] wohl geweißt per commissium testum dolum sich bereichere hingegen aber der beklagte Gerhard Tosten in einen ohnertraglichen Schaden ersitzen solle, indem die abgehörten Zeugen erheblich ausgesagt, daß das gesagte Pferd nicht einstens ein Pistole, ja gar nichts wert sey. In welchem Betracht Beklagter |: welcher dafür mit Einschlages das obrückgegebene letztere Pferd 20 ½ Pistol, zwey Malder Weizen und zwei Cronnendahler zu zahlen versprochen |: weit über die Halbstandt und quam enomissime verkurtzt seyn würde, quale remedium petende restitutionem in integrum et capite lassionis 526 Sehr ähnlich verläuft ein Streit innerhalb des Kollegs über den Fall Broch wider Abraham. In diesem Verfahren bestimmte das Kolleg sogar weitere Referenten aus seiner Mitte, die zu dem Fall Stellung beziehen sollten. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70. 527 Coing, Europäisches Privatrecht, 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 420. 528 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 1. <?page no="138"?> 139 ultra dimidum per triginta annoch durat Stryk ad usum mod: Lib: 4. Tit: 1. §: 2“. 529 Der Koreferent führte an dieser Stelle also Stryks Hauptwerk „specimen usus moderni Pandectarum“ ins Feld und platzierte so eine aus dem territorialen normativen Diskurs stammende Aussage als Argument für seine Position, dass Tosten das Recht habe, Moses das Pferd gegen die Erstattung des Kaufpreises zurückzugeben. Kennern des Werkes Samuel Stryks fällt freilich auf, dass es sich nicht um ein Originalzitat handelt, sondern allein die wichtigsten Termini und Grundgedanken des zweiten Paragraphen des vierten Buches des 1690 erschienen Hauptwerkes Stryks wiedergegeben wurden. 530 Der Koreferent argumentierte nun also auf Stryks Werk gestützt, dass Tosten die Restitutio in integrum zustehe. Eine Restitutio in integrum war im frühneuzeitlichen Recht definiert als die Rückgängigmachung von Verträgen, wenn eine Partei bei einem Rechtsgeschäft eine Beeinträchtigung erlitten hatte. 531 Während der Referent nur über die Subsumption der Parteien unter Rechtssubjekte das Vertragsrecht zur Sprache brachte und dieses als Garant für seine Schlussfolgerung anführte, allegierte der Koreferent auch einen Rechtssatz aus dem Vertragsrecht, mit dem er dann argumentierte. Beide Argumentationen fußen also auf dem normativen Diskurs, nur der Koreferent verwies jedoch dezidiert auf diesen. Dieses unterschiedliche Vorgehen der beiden Referenten sollte sich auch bei der Bestimmung der Rechtsfolgen für die zweite Episode nicht ändern. Da nun der Referent konstruiert hatte, dass der Vergleich nicht zustande gekommen sei, argumentierte er, dass dieser auch kein Hindernis für die von ihm geforderten Rechtsfolgen bezüglich des betrügerischen Vertragsschlusses darstellen könne. Allerdings wusste der Referent, dass seine Konstruktion, es sei nicht zu einem Vergleichsschluss zwischen Tosten und Moses gekommen, auf wackligen Beinen stand - dieser Teil seines Sachverhaltes fußte nicht auf vollen Beweisen. So argumentierte der Referent weiter, dass selbst ein zustandegekommener Vergleich nicht den betrügerischen Handelsabschluss saniere, da der Betrug dem Vergleich vorangegangen sei. Weiterhin argumentierte er nicht mit Allegationen - brachte das Recht also nicht unmittelbar zur Sprache. Dieses bildete gleichwohl den Garant für seine Ausführungen, da er Begriffe in seiner Argumentation nutzte, die dem Vertragsrecht entstammten. 532 Er subsumierte also den hypothetischen Fall, es sei zu einem Vergleichsschluss gekommen, unter das Vertragsrecht und argumentierte, dass auch dieser den vorangegangen Betrug nicht sa- 529 Ibid., Relation 2. 530 Samuel Stryk, specimen usus moderni Pandectarum, Buch 4, (Magdeburg 1717), 379f. Das Werk kann dank der Bayrischen Staatsbibliothek online eingesehen werden: http: / / www.mdz-nbnresolving.de/ urn/ resolver.pl? urn=urn: nbn: de: bvb: 12-bsb10519864-6 . Letzter Besuch am 21.03.2017. 531 Coing, Europäisches Privatrecht, 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 420. 532 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 1. <?page no="139"?> 140 niere. Abschließend bestätigte der Referent das von der Vorinstanz gefällte Urteil, demzufolge Moses den Kaufpreis erstatten müsse. 533 Der Koreferent bewertete die Sache anders. Wie bereits erwähnt sprach er sich für die Beibringung eben jener Beweise aus, mittels denen erzählbar würde, dass der Vergleich tatsächlich zustandegekommen war. Nun behauptete der Referent jedoch, dass selbst ein zustandegekommener Vergleich den Betrug nicht sanieren könne und folglich unabhängig vom Vergleich Tosten zu restituieren sei. Es ist also wohl wenig verwunderlich, dass der Koreferent sich ausführlich mit der Frage auseinandersetzte, welche Folgen der Vergleichsschluss für Tosten und Moses bedeuten könne. Dabei setzte er - wie schon zuvor - auf die Kraft von Rechtsallegationen und ließ abermals Stryk sprechen. „Quod quastionem 2dam [Die Frage bezüglich des Vergleichs, Anm. d. A.] hat klagender Jud in actis vorgeschützet, daß Beklagter Tosten […] am 11ten Februar 1770 sich mit ihm Juden verglichen, mit dem Pferd wohl zufrieden zu seyen deklariert, alle Gerichts und Advokaten Gebührnüßen uber sich genohmen, […] beneficium autem rescisionis [? ] in amissione aluis juris totali, quando sciliat transigens jure sive actionis sibi competentes scientes remittit usus renuntiat quippe quod hoc transactio similis sit donationi, qua semel perfecta avocari nequit protexta lasionis nec enim datus beneficium ei, qui scivit lassionem ultra dimidium vel magna aut maximam [? ] qua scienti ac volenti non infectus injuria Carpz: Pte 2. Weht: 34 definit 2 et 3. Huic remedio restitutionis in integrum ex capite lassionis ultra dimidium non amplis locus est, si quis eidem specialiter renunciaverit Stryk ad usum mod: Lib: 18 Tit: 5 §: 15“ 534 Der Koreferent gab damit zwar die Ansicht des großen Rechtslehrers Stryk nahezu wortgetreu wieder. Jedoch bezog sich diese Passage von Stryks‘ Opus überhaupt nicht auf das Vertragsrecht. Sie besprach das Juramentum als mögliches remedium, also als Rechtsbehelf. 535 In Stryks Werk bezog sich das remedio dann auch auf juramentum. Die Worte restitutio in integrum tauchen in § 15 mithin nicht einmal auf. 536 Es konnte also im Kurkölner Urteilsdiskurs auch versucht werden, Gegenstände und Ereignisse unter Rechtsinstitute zu subsumieren, die diese eigentlich nicht behandelten. In diesem Fall reüssierte dieses Vorgehen, da der Koreferent keinen Widerspruch seitens des Kollegs evozierte. 533 Ibid. 534 Ibid., Relation 2. 535 Samuel Stryk, specimen usus moderni Pandectarum, Buch 15,( Magdeburg 1710), 438f. Das Werk kann auf der Homepage der Bayrischen Staatsbibliothek eingesehen werden: http: / / reader.digitale-sammlungen.de/ de/ fs1/ object/ goToPage/ bsb10519872.html? pageNo=450 . [Zuletzt gesichtet am 21.03.2017]. 536 Ibid. <?page no="140"?> 141 Der Koreferent argumentierte also mit der Allegation Stryks dafür, dass in einem vertragsrechtlichen Verhältnis zwischen zwei Vertragspartnern ein Betrug unter spezifischen Umständen kein Hindernis für die spätere Schließung eines Vergleiches darstelle. Die Möglichkeit eines betrogenen Vertragspartners, einen Rechtsbehelf (inklusive der Restitutio in integrum) gegen einen betrügerisch erreichten Vertragsabschluss einzulegen, habe keinen Platz, „si quis eidem specialiter renunciaverit“. 537 Eben diesen Verzicht könne der Vergleich darstellen, insofern er geschlossen wurde. 538 Von besonderer Bedeutung für diese Argumentation ist, dass der Koreferent explizit herausgestellt hatte, dass Tosten zum Zeitpunkt des angeblichen Vergleichsschlusses von der Konstitution des Pferdes gewusst hatte. Dieser Teil seiner Sachverhaltskonstruktion war für die rechtliche Bewertung von besonderer Relevanz, da nur aufgrund des Wissens Tostens ob des Zustandes des Pferdes zum Zeitpunkt des angeblichen Vergleichsschlusses dieser als eben jener rechtliche Verzicht gewertet werden könnte, mit dem der Betrug post quem saniert werden könnte. Der Koreferent widersprach mit dieser Argumentation dezidiert den Referenten, der argumentiert hatte, dass es letztlich unerheblich sei, ob der von Moses behauptet Vergleich tatsächlich geschlossen worden war. Er hingegen argumentierte, dass es für die Beurteilung des Falles eine essentielle Frage sei, ob der Vergleichsschluss zustande gekommen war. Der Koreferent forderte nun basierend auf seinen Argumenten die Fortsetzung des Verfahrens, um (volle) Beweise produzieren zu lassen, mittels denen er den Vergleichsschluss feststellen könnte. Dabei konnte er weiter argumentieren, dass im Verfahren eine Möglichkeit thematisiert worden sei, wie solche vollen Beweise produziert werden könnten. Das von Moses erbettene Zeugenverhör solle nun also umgesetzt werden. 539 Der Koreferent urteilte also, einen Termin anzusetzen, um das von Moses erbetene Zeugenverhör durchzuführen und Tosten die Möglichkeit zu geben, Beweise beizubringen, dass am 11. Februar 1770 kein Vergleich, sondern ein weiteres Kaufgeschäft abgeschlossen worden sei. 540 Der Koreferent forderte also eben jene Beweise, die im Verfahren thematisiert worden waren und die ihm helfen würden, eine Geschichte über den Vergleichsschluss zu konstruieren. 1773 sollte er sich durchsetzen - die Mehrheit des Kollegs schloss sich seiner Meinung an. 541 Zu einer Fortsetzung des Verfahrens ist es allerdings laut Akten nicht gekommen, sodass zu vermuten ist, dass die beiden Parteien sich letztlich dann doch außergerichtlich einigten, wobei das Urteil Tostens Interese an einer außergerichtlichen Einigung gesteigert haben dürfte. 542 537 Übersetzung des Autors: „wenn jemand auf dasselbe insbesondere verzichtet hatte“. 538 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II T 19, Relation 2. 539 Ibid. 540 Ibid. 541 Ibid. 542 Auf eine solches Nutzungsverhalten frühneuzeitlicher Kläger und Beklagter verwies: Martin Dinges, „Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit.“ <?page no="141"?> 142 6.1.3 Zwischenfazit Im Urteilsdiskurs mussten Referenten die Beweislage beachten. Die Beweise bildeten die grundlegenden Prämissen ihrer Argumentationen. Für die erste Episode über den betrügerischen Handel lagen volle Beweise vor, die von beiden Referenten als Fundament ihrer Sachverhaltskonstruktion genutzt wurden. Da ferner keine kontradiktorischen Beweise vorlagen, war der argumentative Spielraum gering und beide erzählten die gleiche Geschichte. Dahingegen widersprachen sie sich bezüglich der Episode über den Vergleichsschluss, da die Beweislage für diese dünner ausfiel und der argumentative Spielraum somit größer wurde. Der Referent argumentierte mithin unter gänzlicher Missachtung der seitens Moses beigebrachten schriftlichen Zeugenaussagen und führte stattdessen eine Präsumptio hominis ins Feld. Der Koreferent hingegen argumentierte gerade mit den vom Referenten ausgeklammerten schriftlichen Zeugenaussagen, auch wenn er diese ebenfalls nicht als volle Beweise wertete. Aber er konnte so die Schilderung der Episode über den Vergleich verweigern und darauf abstellen, dass es weiterer Beweise bedürfe, welche auch im Laufe des Verfahrens bereits besprochen worden waren. An dieser Stelle zeigt sich dann auch ein Effekt des agonalen Prinzips. In dem Moment, als die Argumentation des Referenten nicht mehr auf vollen Beweisen fundiert war, erfuhr sie Widerspruch, wobei gerade die Punkte zur Sprache und in Stellung gebracht wurden, die er in seiner Argumentation nicht erwähnt hatte. Das agonale Prinzip provozierte eine Debatte über die Beweislage, an deren Ende letztlich die Forderung weiterer Beweise stand. Zugleich erwähnte erst der Koreferent die von Moses beigebrachten Zeugenaussagen in seiner Argumentation. Es zeigt sich, dass das Verschweigen von Gegenargumenten seitens eines Referenten eine offene Flanke für Widerspruch bildete und das agonale Prinzip führte dann auch dazu, dass ein solcher Widerspruch formuliert wurde. Die Debatte der beiden Referenten illustriert die Relevanz (voller) Beweise für die Sachverhaltskonstruktion am Kurkölner Hofrat. Ohne diese war ein Sachverhalt nicht zu konstruieren. Dies wird ebenfalls deutlich, blickt man auf das Verfahren Wertheim wider Leibmann. Die beiden Parteien stritten sich um das Erbe der minderjährigen Rachel Wertheim, welche ihre Verwandten in Regensburg besuchte und verschwand. Die Regensburger Zeitungen und der dortige Magistrat kolportierten ihr Ableben. Auch Wertheim und Leibmann gingen davon aus, dass diese in der Donau ertrunken sei. Da sie über das Erbe in einem Streit gerieten, wandten sie sich an den Kurkölner Hofrat. Dessen Urteil kam für beide Parteien überraschend. Die mit dem Fall mandatierten Referenten monierten die Beweislage für das Ableben Rachels. Ohne volle Beweise sei es erst nach Ablauf einer gesetzlichen Frist möglich, Rachel für tot zu erklären. In der Folge sprachen sich beide Referenten dafür aus, dass keine Partei erben könne, da Rachel (noch) nicht tot sei. Erst nach Ablauf der Frist könne man ihr <?page no="142"?> 143 Ableben konstruieren und auch erst dann könne eine der beiden Parteien das Erbe antreten. 543 Das Verfahren Moses wider Tosten illustriert nicht allein die Relevanz der Beweise, sondern auch die Relvanz des Rechts und den richterlichen Umgang mit diesem. Beide Referenten argumentierten mit dem kurkölnischen normativin Diskurs für die Rechtsfolgen. Während der Referent diesen allein via Subsumption anklingen ließ - also indem er in den entscheidenden Passagen die Parteien unter Rechtssubjekte subsumierte, welche dem Vertragsrecht entnommen waren - brachte der Referent diesen per Allegation unmittelbar zu Sprache. Dabei bildeten die von ihm angeführten Rechtssätze die Argumente, mit denen er von dem Sachverhalt auf die Rechtsfolgen schloss. Das Recht sollte im Kurkölner Urteilsdiskurs also zur Bestimmung der Rechtsfolgen für die konstruierten Sachverhalte dienen, indem es die Argumente stellte, mit denen die Referenten für die Rechtsfolgen argumentierten. Dieses bildete aber kein enges Korsett, das die Begründungsfreiheit der Richter erstickte. Nicht allein die Vielfalt des Rechts im Alten Reich bedeutete für die Richter Begründungsfreiheit 544 , sondern auch ihr Umgang mit diesen evozierte einen argumentativen Freiraum. Immerhin konnte der Koreferent ohne Widerworte zu erregen, Stryks Ausführungen zum Juramentum nutzen, um die Restitutio zu erörtern und so für die von ihm präferierten Rechtsfolgen argumentieren. Es war also offensichtlich möglich, Rechtssätze aus einem Rechtsinstitut auf Fälle anzuwenden, welche dem Rechtsinstitut eigentlich fremd waren, indem man die Rechtssätze leicht modifizierte. Der Konstruktion von Sachverhalten setzte der Kurkölner Urteilsdiskurs engere Grenzen als der Bestimmung der Rechtsfolgen. 6.2 Vom diskursivem Wandel - Das Verfahren Hirtz wider Weil Der Tod eines gewissen Herrn Weils führte zu einem Verfahren, welches quasi den Prolog für das in Kapitel 5.2 besprochene Verfahren von Steffne wider Meyer bildet. 545 Herr Weil hatte zu Lebzeiten geschäftliche Beziehungen zu dem jüdischen Händler Mendel Hirtz unterhalten. Eben jener Hirtz tauchte bei der Testamentseröffnung Weils auf und erklärte dem Testamentsvollstrecker, dass er noch eine offene Schuldforderung gegen den Verstorbenen Weil besitze. Da die Erben Weils dies bezweifelten, verklagte Hirtz diese vor einem kurkölnischen Untergericht auf die Tilgung der angeblich noch offenen Schuld. Er untermauerte seine Behauptungen mit einem von dem Verstorbenen und einem Notar, namens Beuel, unterschriebenen Wechsel. Die beklagten Erben bezweifelten 543 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 46. 544 Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, 603. 545 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. <?page no="143"?> 144 nun die Echtheit des Wechsels und erklärten gerichtlich, dass der verstorbene Erblasser keinen Kredit bei dem jüdischen Händler Hirtz aufgenommen habe. 546 Der Kläger Hirtz forderte daraufhin die Verifikation des Wechsels durch die Notare Sensenschmitz und Kippels „per agnoscendum manum“. 547 Die Notare sollten also die Unterschrift des Verstorbenen unter dem Wechsel mit einer anderen offiziell geltenden Unterschrift Weils vergleichen und so den Wechsel verifizieren. 548 Die Erben sprachen sich gegen den Unterschriftenvergleich aus. Sie argumentierten, dass der Erblasser sich eine schwere Verletzung an der Hand zugezogen habe und überhaupt nicht in der Lage gewesen sei, zu schreiben. Als Beweis für diese Behauptung reichten sie das Testament des Verstorbenen ein, welches nicht von dem Erblasser mit seiner Unterschrift versehen worden war. Stattdessen hatte dieser mit einigen Zeichen das Testament unterschrieben. Die Erbgemeinschaft argumentierte nun, dass die allein aus Zeichen bestehende Unterschrift unter dem Testament ein Resultat der Verletzung sei. Ferner führten sie an, dass der Notar Beuel ihnen gesagt habe, dass er den Wechsel nur auf Zureden Hirtz‘ unterschrieben habe. 549 Sie stellten also weiterhin darauf ab, dass der Wechsel gefälscht sei und der Erblasser Weil nie eine Schuld bei dem Kläger Hirtz aufgenommen habe. Sie plausibilisierten diese Behauptung weiter, indem sie Hirtz vorwarfen, den Wechsel mit dem Notar Beuel „ad non subilitis Testibus“ zur Protestation gebracht zu haben. 550 Im frühneuzeitlichen Recht war die Wechselschuld als Hohlschuld definiert worden, da der Wechselinhaber den Wechsel ohne Wissen des Schuldners weitergeben konnte. 551 In der Folge konnte der Schuldner nicht notwendigerweise zum Zeitpunkt der Fälligkeit einer Schuld wissen, wer sein Gläubiger war. 552 So musste ein Wechselgläubiger dann auch zum Zeitpunkt der Fälligkeit den Wechsel dem Schuldner präsentieren. 553 Neben der Präsentation des Wechsels stand der Protest. „Der Wechselprotest ist die öffentliche Beurkundung, dass ein Wechsel am rechten Ort zur rechten Zeit zur Annahme oder zur Einlösung ohne Erfolg vorgelegt wurde.“ 554 Üblicherweise konsultierte ein Gläubiger einen Notar, der gemeinsam mit zwei Zeugen dem Schuldner den Wechsel präsentierte und diesen fragte, ob er zahlungswillig sei und im Fall der Weigerung des Wechselschuldners den gesamten Vorgang notariell dokumentierte. 555 546 Ibid. 547 Ibid. 548 Ibid. 549 Ibid. 550 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 551 Anja Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit: Quellen und Forschung zurhöchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 54 (Köln, 2009), 281. 552 Ibid. 553 Ibid. 554 Ibid., 383f. 555 Ibid., 386. <?page no="144"?> 145 Laut der Erbgemeinschaft hatte Beuel in Hirtz‘ Namen also den Wechselprotest ohne Hinzuziehung von Zeugen („ad non subilitis Testibus“) und somit nicht öffentlich erledigt. 556 Sie argumentierten weiter, dass Juden im Allgemeinen die öffentliche Form des Protests wählten und Hirtz‘ abweichendes Vorgehen von der angeblichen Norm die Echtheit des Wechsels in Frage stelle. 557 Mithin habe Hirtz den Wechsel auch nie, wie rechtlich gefordert, dem Verstorbenen ordentlich präsentiert. 558 Nach Ansicht vieler zeitgenössischer Rechtsgelehrter verfiel damit die Schuldforderung des Wechselgläubigers. 559 Auf eben diese Rechtsfolge zielten die Erben mit ihrem Argument jedoch nicht unmittelbar ab. Sie argumentierten stattdessen, dass die fehlende Wechselpräsentation beweise, dass die Schuldforderung gegenstandslos sei. Hirtz habe den Wechsel also nie präsentiert, weil er keine legitime Schuldforderung gegen den Erblasser besitze. 560 Die Erbgemeinschaft wusste darüber hinaus noch weitere Argumente zu präsentieren. Hirtz sei ein „armer Jude“, welcher ein Haus für 600 Reichstaler gekauft habe, aber noch 300 Reichstaler zu 4% schuldig sei, während der verstorbene Erblasser Weil zum Zeitpunkt der angeblichen Schuldaufnahme noch aktive Schulden besessen habe. 561 Sie inszenierte Hirtz also als armen Juden und den verstorbenen Erblasser als erfolgreichen Kaufmann. So erschien die Behauptung, Weil habe bei Hirtz einen Kredit aufgenommen, freilich wenig plausibel. Da nun also die Falschheit des Wechsels offensichtlich sei, bedürfe es auch keines Unterschriftenvergleichs, argumentierte die Erbgemeinschaft abschließend. 562 Hirtz ging in seinen gerichtlichen Handlungen auf die Behauptungen der Erbgemeinschaft Weil ein und erklärte, dass er bekanntlich im „guten Handel und Wandel“ stehe und er über einen Dritten - einen gewissen Paulus Open - die Präsentation des Wechsels habe betreiben lassen. 563 Das erstinstanzliche Gericht machte Nägel mit Köpfen und setze den Unterschriftenvergleich an. Diese Aufgabe wurde letztlich - nicht ohne dass auch über den Modus der Überprüfung des Wechsels gestritten wurde - zwei Schriftmeistern übergeben, die dann auch die Unterschrift unter dem Wechsel verifizierten. 564 Der Vergleich brachte aber nicht die erhoffte Lösung des Falles, sondern beschwor nur weiteren Streit. Die beklagte Erbgemeinschaft zumindest akzep- 556 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 557 Ibid. 558 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 559 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, 281. 560 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 561 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 562 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 563 Ibid., Relation 1, 2. 564 Ibid. <?page no="145"?> 146 tierte das Ergebnis des Unterschriftenvergleichs nicht und führte gegen diesen zwei Zeugen an, die guten Bekannten des verstorbenen Erblassers namens Vicarius Victoris und Bernhard Christoph Hombroich. Diese beiden waren aufgrund ihrer langjährigen, auch geschäftlichen Bekanntschaft mit dem verstorbenen Weil in der Lage, die Unterschrift des Erblassers zu fälschen. Unter gerichtlicher Aufsicht fälschten sie die Unterschrift des Verstorbenen, welche dann den beiden bestellten Schriftmeistern ebenfalls zum Vergleich vorgelegt wurde. Das Problem war nun, dass diese die Unterschrift ebenfalls verifizierten. Damit unterminierten sie jedoch ihre aus dem vorigen Unterschriftenvergleich resultierenden Aussagen. 565 Da nun also das Ergebnis des ersten Unterschriftenvergleichs in der Folge des zweiten problematisiert worden war, bot Hirtz ein Juramentum suppletorium an. Nunmehr wollte er also per Eid die Verifikation des Wechsels besorgen. Das erstinstanzliche Gericht urteilte dann auch am 10. Oktober 1760 dahingehend. Hirtz sollte den Eid ablegen, anschließend sollte die Schuld beglichen werden. 566 Die Erbgemeinschaft zeigte sich mit dem Urteil wenig zufrieden und appellierte an das kurfürstliche weltliche Gericht. Dieses dekretierte am 28. November 1761, man solle die beiden Unterschriftenfälscher Hombroich und Victoris verhören, bevor Hirtz das Juramentum schwören könne. Die dem angeordneten Verhör zugrunde liegenden Fragestücke stammten aus der Feder der Erbgemeinschaft, deren Forderungen das weltliche Gericht auch weitgehend gefolgt war. Das Verhör war darauf ausgerichtet, die Fälschung des Wechsels durch Hirtz zu beweisen. Der Beweis der Fälschung hätte freilich die Ablegung des Eides konterkariert, da dieser die Echtheit desselben unterstreichen sollte. Gegen dieses Dekret klagte Hirtz vor dem Kurkölner Hofrat, der in üblicher Manier zwei Richter mit der Bearbeitung des Falles beauftragte. 1763 verlasen diese ihre Relationen. 567 6.2.1 Sachverhaltskonstruktion Die beiden mit dem Fall mandatierten Referenten konstruierten unisono einen Sachverhalt, welchen das Kolleg kritiklos annahm. Erst die Beurteilung des Sachverhaltes sollte eine Diskussion unter den Richtern entfachen. Die beiden Referenten erzählten, dass Hirtz durch den Notar Beuel den fraglichen Wechsel „ad non subilitis Testibus“ - also ohne Zeugen - zum Protest gebracht habe. 568 Für diese Behauptung bedurfte es keiner Argumente, da sie zwischen den Parteien unstrittig war, schließlich hatte Hirtz dieser Behauptung der Erbgemeinschaft im Rahmen des Verfahrens nie widersprochen. Der Referent präsumierte aus der Art und Weise des Wechselprotests, dass Hirtz betrüge- 565 Ibid. 566 Ibid. 567 Ibid., Relation 1. 568 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. <?page no="146"?> 147 risch den Wechsel gefälscht habe. Er argumentierte, dass Juden im Allgemeinen ihre Wechsel öffentlich zum Protest brächten und das abweichende Verhalten von Hirtz spräche deshalb für sich. 569 Die Argumentation stellte wohl nur auf einer Präsumptio hominis ab, weswegen der Referent zusätzlich die Aussage der Haushälterin des Erblassers als Argument für die Fälschung des Wechsels anführte. Diese hatte ausgesagt, dass der Verstorbene zu einer seiner Erbinnen gesagt habe, keine Schulden bei Hirtz aufgenommen zu haben. 570 Er argumentierte also mit einer Präsumption und einer Aussage einer Zeugin, die laut Prozessrecht nur einen halben Beweis ausmachte. Der Referent nutzte mit der Präsumption (hominis) ein dezidiert judenspezifisches Argument, um seine ansonsten auf einem halben Beweis ruhende Geschichte zu stützen. Dabei war das judenspezifische Argument nicht eine der bekannten antijüdischen Aussagen, die Juden mit Wucher und Betrug zusammenbrachten, sondern die Präsumption insinuierte, dass Juden im Allgemeinen eine spezifische Art des Wechselprotests bevorzugten. Aus der Abweichung des Vorgehens Hirtz‘ von der angeblich allgemeinen Praxis schloss er dann darauf, dass Hirtz in der Tat betrogen habe. 571 Der Referent konstruierte weiter, dass Hirtz den Wechsel nie und auch nicht in Persona Paulus Opens präsentiert habe. Er argumentierte, dass für die dahingehend lautende Sachverhaltsbehauptung Hirtz‘ allein ein halber Beweis in Form der Aussage Paulus Opens vorläge. Dessen Aussage sei jedoch mehrdeutig und somit kaum zu gebrauchen. Mit diesem Argument desavouierte er die Sachverhaltsbehauptung Hirtz‘ über die Wechselpräsentation, was ihm die Erzählung ermöglichte, der Wechsel sei nie präsentiert worden - so wie es auch von der Erbgemeinschaft Weil im Verfahren behauptet worden war. Damit klang die dem Richterkollegium im Rahmen der species facti referierte Argumentation der Erbgemeinschaft an, dass doch die fehlende Präsentation des Wechsels indiziere, dass Weil keine Schulden bei Hirtz aufgenommen habe. 572 In seinen weiteren Ausführungen konzentrierte sich der Referent auf die Vermögensverhältnisse des Erblassers Weil zum Zeitpunkt der angeblichen Kreditaufnahme. Der Erblasser sei zum Zeitpunkt der vermeintlichen Kreditierung ein erfolgreicher und vermögender Kaufmann gewesen. Argumente für die Inszenierung Weils konnte der Referent jedoch nicht anführen, sondern musste zugeben, dass für diese allein wenige gerichtlich nicht erwiesene Indizien vorlägen. 573 Widerspruch erntete der Referent gleichwohl weder von dem Koreferenten noch wurden Stimmen im Kollegium laut, die diese Konstruktion kritisierten. 574 Dass die gesamte Sachverhaltskonstruktion des Referenten keinen Wider- 569 Ibid., Relation 1,2. 570 Ibid., Relation 1. 571 Ibid., Relation 1,2. 572 Ibid. 573 Ibid. 574 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33. <?page no="147"?> 148 spruch evozierte, ist wohl darin begründet, dass der Hofrat kein Endurteil fällen sollte, das festelegte, ob Hirtz legitime Forderungen gegen die Erbgemeinschaft in Händen hielt, sondern beurteilen sollte, welche der in den beiden vorigen Verfahren besprochenen Beweiserhebungen nunmehr umgesetzt werden sollte. Das Kolleg sollte also allein entscheiden, ob Hirtz das Juramentum suppletorium ablegen durfte oder stattdessen die beiden Unterschriftenfälscher verhört werden sollten. Die hier betrachtete Sachverhaltskonstruktion bildete die Grundlage für die Entscheidung, welche Beweise noch zu fordern waren, damit danach ein Sachverhalt auf Basis der dann vorliegenden neuen Beweise konstruiert werden konnte. Dabei gab die seitens der Referenten konstruierte Geschichte vor, welche Geschichte nach Abschluss der noch zu realisierenden Beweisbeibringung erzählt werden sollte. Referent und Koreferent argumentierten beide basierend auf dieser Sachverhaltskonstruktion, dass das Verhör umzusetzen sei, womit der am Hofrat konstruierte Sachverhalt auf ein besseres Fundament gesetzt werden könnte - also man mit einem vollen Beweis für die Fälschung des Wechsels argumentieren könnte. Hier zeigt sich, dass Sachverhaltskonstruktionen, welche nicht einen endgültigen, sondern nur einen behelfsmäßigen Sachverhalt konstruierten, welcher genutzt wurde, um über die weitere Organisation eines Verfahrens zu entscheiden, nicht den strikten Regeln von Sachverhaltskonstruktionen unterworfen waren, die auf die Konstruktion eines abschließenden Sachverhaltes abzielten, welcher den Parteien via Urteilsspruch verkündet werden sollte. Insofern der Hofrat nicht ein Endurteil fällen musste, sondern allein über die weitere Organisation eines Verfahrens entschieden werden musste, waren die Grenzen der Sachverhaltskonstruktion weniger klar definiert - nunmehr konnten Richter auch mit halben Beweisen und Indizien für einen Sachverhalt argumentieren, da dieser nicht ein Endurteil begründen sollte und folglich auch nicht via Urteilsspruch für die Parteien und die Öffentlichkeit wahr werden sollte. Da aber der behelfsmäßig konstruierte Sachverhalt grundlegend für die Entscheidung über die weitere Organisation des Verfahrens und insb. der weiteren Beweiserhebung war, hatte dieser einen großen Einfluss auf den letztlich dann noch zu konstruierenden Sachverhalt. Letztlich gab der behelfsmäßig konstruierte Sachverhalt in großem Maße vor, was der noch zu konstruierende, endgültige Sachverhalt erzählen konnte resp. sollte. Dieses größere Maß an Begründungsfreiheit wurde in diesem Verfahren seitens beider Referenten genutzt, um einen Sachverhalt zu konstruieren, der ein Zwischenurteil begründete, das für die jüdische Partei nachteilig ausfiel - die weitere Beweiserhebung sollte Beweise beibringen, mittels denen der behelfsmäßige Sachverhalt als endgültiger Sachverhalt konstatiert werden könnte und daraus resultierend Hirtz seine angeblichen Forderungen verlieren würde. <?page no="148"?> 149 6.2.2 Urteilsproduktion Die beiden Referenten waren sich nicht allein bezüglich der Sachverhaltskonstruktion einig, sondern auch bezüglich der Rechtsfolgen herrschte Einigkeit. Allein über den Weg vom Sachverhalt zum Urteil geriet der Hofrat in einen Streit, der dann seine Fortsetzung im Rahmen des Verfahrens von Steffne wider Meyer erhalten sollte. Der Referent argumentierte, dass zwar ein per Unterschriftenvergleich verifizierter Wechsel einen halben Beweis ausmachen könne, der per Juramentum zu einem vollen Beweis aufgewertet werden könne. Allerdings stellte er fest, dass es zwar eine Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit sei, einer Partei die Aufwertung eines Wechsels per Eid zuzugestehen. Seine Argumentation wurde nicht allein durch die Subsumption des Falles unter das Recht mit dem Kurkölner normativen Diskurs verbunden, sondern er brachte diesen direkt zur Sprache, als er anführte, „quod se actos intentionem suam semiplene probaverit et ex sensu aliquo corpora suus possit veritatem, ut qua ipse actor actui interfuit et vidit vel audit, de cetero persona legalis sit, et honesta, et causa exigui poneris, tum a judice possit deferre juramentum Suppletoriam […] de jurament: L. 4C. 12N. 16 et 34.“ 575 Er argumentiert, dass die mögliche Fälschung des Wechsels einen juristisch haltbaren Grund darstelle, die Eidesleistung zu verweigern. Stattdessen solle man der Erbgemeinschaft die Möglichkeit zukommen lassen, Beweise für die Fälschung des Wechsels beizubringen. 576 Mithin wurde er sehr deutlich, als er erklärte, „daß das gericht Hysbach [erstinstanzlich tätiges Gericht in diesem Verfahren, Anm. d. A.] gar übereylt den Juden Hirtz ad Juramentum suppletorium admittirt hatt, absonderlich da dieses Juramentum auf völliger Decision der Sach zielt.“ 577 Der Referent kritisierte, dass das erstinstanzliche Gericht Hirtz die Möglichkeit zugestanden hatte, das Juramentum abzulegen. Dabei insinuierte er, dass dessen Ablegung, die Sache entschieden hätte. Mit Blick auf die Sachverhaltskonstruktion ist diese Aussage nachvollziehbar. Insofern Hirtz den Wechsel beeidet hätte, würde dieser zu einem vollen Beweis, den es bei der Sachverhaltskonstruktion zu berücksichtigen gäbe - es wäre folglich nicht mehr konstruierbar, dass der Wechsel gefälscht wurde und Hirtz in betrügerischer Absicht agiert hatte. Der Referent übte also deutliche Kritik an der erstinstanzlichen Entscheidung, da er - dies hatte er im Rahmen seiner Sachverhaltskonstruktion offenbart - eine 575 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1. 576 Ibid. 577 Ibid. <?page no="149"?> 150 Sachverhaltskonstruktion bevorzugte, die Hirtz betrügerisches Handeln konstatiert. Dahingegen forderte das zweitinstanzliche Urteil eben jene Beweise, mittels denen die Wechselfälschung gerichtsfest konstruierbar wäre. Der Referent sprach sich dann auch für eine Zurückweisung des Verfahrens an die Zweitinstanz und für die Umsetzung des Dekrets des zweitinstanzlich tätigen Gerichts aus. Das von den Erben Weils geforderte Zeugenverhör sollte also realisiert werden. 578 Der Koreferent kam zum gleichen Ergebnis und argumentierte ebenfalls, dass ein durch Unterschriftenvergleich verifizierter Wechsel per Eid zu einem vollen Beweis aufgewertet werden könne, wobei er nicht allein die Rechtslehrer Stryk, Gail und Mascard in seiner Argumentation zu Wort kommen ließ, sondern auch darauf verwies, dass der Hofrat in einem ähnlich gelagerten Fall schon so geurteilt habe. „[Es leide] halt wenig Anstand, dass die comparatio manu legitime parata nur einen halben Beweis wenigstens ausmache; daß mithin dem Producenten des juramentum suppletorium defferirt werden könne, gleichwie solches dahier unlängst in Casa Bonnin wider Tassier geschehen ist.“ 579 Auch er argumentierte weiter, dass es im Ermessen des Richters liege, ob ein Eid zu gewähren sei, wobei er diesbezüglich die Rechtslehrer Leyser und Brunnemann zu Wort kommen ließ. 580 Bis hierhin herrschte also Einigkeit unter den beiden Referenten. Der Koreferent gab jedoch einen anderen Grund als der Referent an, warum der Eid in diesem Fall zu verweigern sei. Er griff die judenspezifische Argumentation der Sachverhaltskonstruktion auf und argumentierte ebenfalls judenspezifisch, „[dass] das [erstinstanzliche] Gericht […] billig an sich halten [hätte] solen, den Juden ad Juramentum zu zu laßen, besonders gegen einen Christen denn Mynsinger: Lib: 5. Obs: 6 / Carpzov: Par: I. Cap 23. Defin 7 / Stryk. De cautalis juram: P 3. Sect: 3. Cap: b. W 45: et seqq ( bezeugt quod in camera judacis hoc juramentum indistinkte deferatur, so seyend gleichwohl die Rechtslehrer damit durchgehend nicht einig) Carpzov: Par: i. Cap: 23 Defin. 7 Struck. De Cautalis jurem: P: 3.Sect: 3.Cap: 6.N: 45: et Seqq alwo er einen casum anführet da ein Jud von den Juristen Facultaten zu Rintelen und Franckfurt zu dem Erfüllungs Aydt gegen einen Christen angenohmen, solches aber von denen Universitaten zu Erfurst. Wittenberg und Giesen abgeändert worden“. 581 578 Ibid. 579 Ibid., Relation 2. 580 Ibid. 581 Ibid. <?page no="150"?> 151 Ebenso wie der Referent argumentierte auch der Koreferent mit Rechtssätzen. Auch an diesem Verfahren zeigt sich also die Relevanz des normativen Diskurses und insbesondere allegierter Rechtssätze für die Bestimmung der Rechtsfolgen. Nun argumentierte der Koreferent jedoch im Gegensatz zum Referenten dezidiert antijüdisch, wenn er mit Blick auf dem Kurkölner normativen Diskurs konstatierte, dass Juden generell nicht gegen Christen testieren dürften und somit Hirtz auch nicht wider der Erbgemeinschaft Weil. Während der Referent also für seine Rechtsfolgen nicht judenspezifisch argumentierte, schlussfolgerte der Koreferent auf dieselben Rechtsfolgen dezidiert antijüdisch. Mithin war der einzige Unterschied zwischen den beiden Urteilen die Argumentation, warum man Hirtz‘ den Eid nicht gewähren dürfe. 582 Die Einlassungen des Koreferenten demonstrieren, dass es möglich war, antijüdisch zu argumentieren, um die Rechtsfolgen zu bestimmen. Entscheidend dafür war, dass entsprechende Aussagen schon im Kurkölner normativen Diskurs vorlagen. Wenige Jahre später sollte bekanntermaßen der Hofrat sich erneut mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob und inwiefern Juden wider Christen einen Eid schwören dürften. Dann sollte es zu einer ausufernden und den Hofrat lähmenden Debatte kommen, die die Urteilsfindung im Fall von Steffne wider Meyer deutlich erschwerte. In diesem Verfahren hingegen fand sich noch im Jahre 1763 eine Mehrheit im Kollegium, welche das Urteil des Referenten durchsetzte. 583 6.2.3 Zwischenfazit oder vom diskursiven Wandel Auch dieses Verfahren demonstriert die Relevanz der Beweise für die Sachverhaltskonstruktion. Es handelt sich um ein drittinstanzliches Verfahren, dem schon zwei Verfahren vorausgingen, in denen die problematische Beweislage thematisiert worden war. Der Mangel an vollen Beweisen problematisierte die Sachverhaltskonstruktion derart, dass in allen drei Verfahren von den Parteien sowie den Richtern allen voran erörtert wurde, welche Beweise noch produziert werden sollten, damit ein Sachverhalt festgestellt werden konnte. Die vorigen Instanzen hatten verschiedene Optionen festgelegt und der Kurkölner Hofrat sollte als Drittinstanz entscheiden, welche dieser Optionen nun realisiert werden sollte. Die Möglichkeiten waren grundverschieden. Das erstinstanzliche Gericht hatte geurteilt, Hirtz solle den Wechsel beeiden. Damit würde dieser zu einem vollen Beweis werden und folglich könnte ein Sachverhalt konstruiert werden, der die seitens der Erbgemeinschaft behauptete Fälschung des Wechsels aussparte - in dieser Geschichte hätte Hirtz nicht betrügerisch gehandelt. Das zweitinstanzliche Gericht wollte hingegen das seitens der Erbgemeinschaft geforderte 582 Ibid. 583 Ibid., Relation 1. <?page no="151"?> 152 Verhör der beiden Unterschriftenfälscher realisieren, mit dem Beweise für eine Fälschung des Wechsels produziert werden sollten. Mit diesen Beweisen wäre dann ein Sachverhalt konstruierbar gewesen, der von Hirtz betrügerischer Fälschung des Wechsels berichten würde. Die Entscheidung des Hofrates für eine der beiden Optionen, Beweise zu produzieren, war also zugleich eine Entscheidung über den zu konstruierenden Sachverhalt. Grundlegend für diese Entscheidung war ein behelfsmäßiger Sachverhalt. Die Referenten konstruierten diesen und entschieden sich dann auf Basis dessen für eine Organisation des weiteren Verfahrens, die volle Beweise beibringen sollte, mit denen der behelfsmäßige Sachverhalt abschließend konstruiert werden, ein Endurteil stützen und folglich mit der Verkündung des Urteils für die Parteien und die Öffentlichkeit wahr werden könnte. Der behelfsmäßig konstruierte Sachverhalt gab vor was der endgültige Sachverhalt erzählen können sollte. Die Konstruktion des behelfsmäßigen Sachverhaltes unterlag nicht den strikten Regeln für die Konstruktion endültiger Sachverhalte - die Begründungsfreiheit der Richter wuchs an, da sie auch mit halben Beweisen und Präsumptionen (hominis) sowie gerichtlich nicht erwiesenen Indizien argumentieren konnten, ohne Widerspruch oder Kritik zu evozieren. Die größere Begründungsfreihheit wurde in diesem Verfahren von beiden Referenten genutzt, um ein für die jüdische Partei problematischen, behelfsmäßigen Sachverhalt zu konstruieren, der nach der Fortsetztung des Verfahrens einen endgültigen Sachverhalt bilden und dann für Hirtz nachteilige Rechtsfolgen begründen sollte. Bemerkenswert an der Konstruktion dieses Sachverhaltes ist ferner, dass der Referent das betrügerische Verhalten Hirtz‘ präsumierte. An den anderen untersuchten Gerichten war die Präsumption von Betrug nicht (mehr) möglich. In Kurköln hingegen nutzten Richter weiterhin diese Form der Argumentbildung. Dabei nutzte der Referent keine antijüdischen Stereotype um Hirtz‘ betrügerisches Verhalten zu präsumieren, sondern er nutzte dessen abweichendes Verhalten von einer angeblich normalen Verhaltensweise jüdischer Kreditgeber. Es bedurfte also keiner typischen antijüdischen Aussagen, um zu konstruieren, dass ein Jude betrogen habe. Selbst ein Abweichen von einer angenommenen Norm jüdischen Verhaltens konnte als Argument gegen Juden im Kurkölner Urteilsdiskurs gewandt werden. Bemerkenswerter an dem Fall ist jedoch, dass beide Referenten für exakt die gleichen Rechtsfolgen, nämlich für die Zurückweisung des Verfahrens an das zweitinstanzlich tätige Gericht, mit unterschiedlichen Argumenten argumentierten. Um zu verstehen, warum überhaupt der Koreferent das Wort ergriff, um für dieselben Rechtsfolgen wie der Referent zu argumentieren, gilt es zu bedenken, dass Diskurse keine statischen Gebilde, sondern diese wandelbar sind. Ein Wahrheitsproduktionssystem - also ein Diskurs - kann sich im Laufe der Zeit verändern. Das bedeutet, dass sich die dem Diskurs zugrunde liegenden Regeln ändern und somit auch die Art und Weise wie der Diskurs Wahrheit produziert. Für den Urteilsdiskurs ist ein diskursiver Wandel denkbar, indem <?page no="152"?> 153 sich der den Urteilsdiskurs fundierende territoriale normative Diskurs ändert, was aufgrund der Verschränkung der beiden Diskurse auch Folgen für den Urteilsdiskurs zeitigen muss. Sofern sich also der den Urteilsdiskurs begründende und mit diesem verschränkte territoriale normative Diskurs wandelte, konnte dieser Wandel freilich auch den Urteilsdiskurs aufgrund der Verschränkung betreffen. Darüber hinaus konnte sich der Urteilsdiskurs auch wandeln, ohne dass sich der territoriale normative Diskurs veränderte. So argumentierte der Koreferent, dass der Unterschriftenvergleich einen halben Beweis ausmachen könne mit der gerichtseigenen Präjudiz. Er zeigte also auf, dass der Hofrat in einer ähnlichen Sache schon so entschieden hatte. Die Argumentation mit gerichtseigenen Präzedenzfällen war äußerst schlagkräftig. Dies war auch den Parteien bekannt. Im Jahre 1789 hatte der Kurkölner Hofrat in einer Schuldforderungssache ein Zwischenurteil erlassen, das die Bitte eines jüdischen Gläubigers abschlug, Mobilien seines christlichen Schuldners gerichtlich zu arrestieren, um die mögliche, spätere Anweisung der Schuldtilgung mittels dieser zu realisieren. Die jüdische Partei akzeptierte dieses Zwischenurteil nicht und brachte Scheine bei, die bewiesen, dass der Hofrat in anderen, ähnlich gelagerten Schuldforderungsverfahren, in die mithin derselbe Schuldner verstrickt war, die Arrestierung angeordnet habe. 1790 korrigierte der Hofrat daraufhin seine vorige Entscheidung und ordnete nun auch in diesem Verfahren die Arrestierung an. 584 Dieser Fall illustriert in besonderem Maße die Schlagkraft einer auf Präjudiz gestützten Argumentation. Die Beurteilung eines Falles konnte also die spätere Beurteilung weiterer Fälle beeinflussen, indem Richter oder Parteien die vorangegangene Entscheidung als Präzedenzfall anführten. Nun plädierten in diesem Fall zwar beide Referenten für das gleiche Urteil, jedoch basierend auf unterschiedlichen Argumenten. Der Koreferent argumentierte mit Rechtssätzen dezidiert antijüdisch, wenn er Hirtz die Eidesleistung verweigerte, da Juden generell nicht gegen Christen einen Eid ablegen dürften. Die antijüdische Wendung unterscheidet die Ausführungen des Koreferenten von denen des Referenten, der Hirtz den Eid mit einem nicht judenspezifischen Argument verweigerte. Das Richterkollegium musste also nach der Verlesung der Relationen nicht zwischen unterschiedlichen Rechtsfolgen entscheiden, sondern zwischen unterschiedlichen Argumentationen - sollte man Hirtz den Eid mit der allgemeingültigen Argumentation des Referenten oder mit der antijüdischen des Koreferenten verweigern? Mit Blick auf den Umgang mit der gerichtseigenen Präjudiz war dies keine einfache Entscheidung. Letztlich ging es darum, wie der Urteilsdiskurs in der Zukunft beschaffen sein sollte. Die Annahme der antijüdischen Argumentation durch die Mehrheit des Kollegs hätte diese gestärkt. In zukünftigen Verfahren hätte diese antijüdische Argumentation angeführt werden können mit dem Verweis, dass diese schon im 584 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II W 71, Relation 1, 2. <?page no="153"?> 154 Urteilsdiskurs reüssiert hatte. Eine Annahme des Referats des Koreferenten hätte zu einem diskursiven Wandel geführt - der Kurkölner Urteilsdiskurs hätte eine (noch) antijüdische(re) Färbung bekommen, da in ihm ein Argument vorläge, welches schon reüssiert hätte und welches die Stellung jüdischer Parteien vor dem Kurkölner Hofrat deutlisch verschlechtert hätte. Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen folgte die Mehrheit des Kollegs dem Referenten. Auch dies zeitigte Folgen für die Beschaffenheit des Urteilsdiskurses. Zwar endete innerhalb des Kollegiums die Debatte über gegen Christen geschworene jüdische Eide mit diesem Verfahren nicht, jedoch tauchte die Position, Juden dürften generell nicht gegen Christen testieren, nicht mehr auf. Im Verfahren von Steffne wider Meyer entbrannte zwar bekanntermaßen eine ausufernde Debatte darüber, inwiefern ein jüdischer Kaufmann sein Rechnungsbuch beeiden dürfe. Aber keiner der Diskutanten erklärte wie der Koreferent in diesem Verfahren, Juden dürften generell nicht gegen Christen einen Eid ablegen. Diese Position scheint mit der Niederlage des Koreferenten in diesem Verfahren nicht mehr artikulierbar gewesen zu sein. Die Verfahren Hirtz wider Weil und von Steffne wider Meyer demonstrieren die diskursgestalterischen Möglichkeiten des hofrätischen Richterkollegiums. Der von ihnen geführte Urteilsdiskurs konnte nicht allein durch externe Einflüsse wie der Veränderung des teritorialen normativen Diskurses transformiert werden, sondern die Richter selbst konnten die Grenzen dieses Diskurses verschieben und die Kurkölner Richter entschieden sich mehrheitlich gegen eine antijüdische Grenzverschiebung. 6.3 Fazit Ein jeder Kurkölner Referent argumentierte mit prozessrechtlich qualifizierten Beweisen für seinen Sachverhalt. Von besonderer Relevanz waren prozessrechtlich qualifizierte volle Beweise wie die Beweisführung mit zwei Zeugen. Ein solcher stellte ein solides Fundament für eine Sachverhaltskonstruktion dar. Konstruierte ein Referent einen Sachverhalt, durfte er volle Beweise nicht ignorieren. Mithin war es auch nicht möglich, gegen einen vollen Beweis zu argumentieren. Man konnte lediglich versuchen, diesen abzuwerten oder zu disqualifizieren, ihm den Status voller Beweis also zu entziehen. Ein solches Vorgehen wählte der Referent im Verfahren Broch wider Abraham, als er in seinem Referat ausführte, dass die seitens der jüdischen Partei beigebrachten zwei Zeugen von Abraham bestochen worden seien, wofür es jedoch keine Beweise gab, weswegen dann auch seine Kollegen deutlichen Widerspruch gegen die versuchte Disqualifizierung des vollen Beweises artikulierten. 585 Zwischen den Parteien unstrittige Sachverhaltsbehauptungen konnten ohne die Fundierung auf einen Beweis in einen Sachverhalt inkorporiert werden. Es 585 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70. <?page no="154"?> 155 war für ihre Aufnahme in einen Sachverhalt ausreichend, dass beide Parteien die Behauptungen als wahr anerkannten. Es war jedoch nicht garantiert, dass Referenten unstrittige Sachverhaltsbehauptungen in ihre Sachverhalte einfügten. Insofern keine Beweise für eine unstrittige Behauptung sprachen, konnten Referenten auch gegen solche Behauptungen mit dem Fehlen von Beweisen argumentieren. Sie konstruierten einen Sachverhalt unter Auslassung der Behauptungen resp. wider diesen - was der Fall der Rachel Wertheim eindrucksvoll demonstriert. Ein elementares Problem für die Richter war, dass nicht in jedem Verfahren eine klare Beweislage vorlag. Das gesamte Verfahren Hirtz wider Weil war am Hofrat nur anhängig, damit dieser entschied, inwiefern die Beweislage zu verbessern war, da mit der vorhandenden Beweislage kein Sachverhalt zu konstruieren war - was auch schon die beiden vorigen Instanzen so entschieden hatten. In dem ebenso am Kurkölner Hofrat verhandelten Verfahren Broch wider Abraham kam auch die Frage auf, ob man noch weitere Beweise fordern solle. Während die Mehrheit des Kollegs deutlich die Forderung weiterer Beweise ablehnte und stattdessen das Verfahren mit einem Urteil abschließen wollte, sprach sich der Referent für die Forderung aus, da mit den vorliegenden Beweisen kein Sachverhalt zu konstruieren sei ( was tatsächlich meint, dass der seitens des Referenten präferierte Sachverhalt nicht zu konstruieren war). 586 Es war den Referenten also immer gestattet, zu postulieren, eine problematische Beweislage sei nicht ausreichend, um einen Sachverhalt zu konstruieren. Das agonale Prinzip sorgte dann dafür, dass eine Debatte darüber entbrannte, ob man tatsächlich weitere Beweise fordern müsse. Die häufig problematische Beweislage (widersprüchliche Beweise, fehlende volle Beweise, das alleinige Vorliegen von Indizien) bot den Referenten argumentative Möglichkeiten im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion. Die Kurkölner Hofräte konnten versuchen, auf der problematischen Beweislage basierend einen Sachverhalt zu konstruieren, auf Präsumptionen zurückgreifen oder aber eine Fortführung des Prozesses fordern, mit dem Ziel die Beweislage zu verbessern - wobei in solchen Fällen die seitens der Referenten geforderten Beweise immer schon mit Blick auf einen spezifischen Sachverhalt gefordert wurden. Da das Hofratskollegium dem agonalen Prinzip unterworfen war, boten problematische Beweislagen nicht allein den Referenten argumentative Optionen, sondern entfachten auch die agonale Auseinandersetzung. Die Verfahren Tosten wider Moses und Broch wider Abraham illustrieren die debattive und diskursive Konstruktion wahrer Sachverhalte am Kurkölner Hofrat. Ebenso waren die Bestimmungen der Rechtsfolgen von richterlichen Debatten geprägt, die aus der Verschränkung vom Kurkölner Urteilsdiskurs mit dem Kurkölner normativen Diskurs resultierten. Die Rechtsfolgen für einen Sachverhalt wurden bestimmt, indem der Sachverhalt unter das Recht subsumiert und 586 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II B 70. <?page no="155"?> 156 so auf diesem rekurrierend für die Rechtfolgen argumentiert wurde. Noch stärker wurde die Argumentation, wenn ein Referent einen Rechtssatz allegierte. Allerdings tauchen im Kurkölner normativen Diskurs eine Vielzahl sich widersprechender Rechtssätze auf, sodass es möglich war, dass Referenten für unterschiedliche Rechtsfolgen auf dem gleichen Sachverhalt basierend argumentierten und beide sich auf den normativen Diskurs bezogen. Mithin war es sogar möglich, dass Referenten sich auf den selben Sachverhalt bezogen und für die selben Rechtsfolgen argumentierten, allerdings unterschiedliche Rechtssätze anführten. Der normative Diskurs war eben keine einheitliche Rechtsmasse mit einheitlichen Rechtssätzen, sondern in ihm standen ius commune und Partikularrecht, schriftliches und nichtschriftliches Recht sowie gelehrtes und Gewohnheitsrecht nebeneinander. Allen voran standen sich in diesem Diskurs Aussagen gegenüber, die entweder aus einem Rechtstext wie den römischen Institutiones oder der Kurkölner Judenordnung von 1700 stammten oder sie entsprangen einem gelehrten Kommentar, dem allerdings bekanntermaßen die gleiche Rechtskraft wie einem Rechtstext zukam. Die Vielfältigkeit der Rechtsmassen spiegelt sich auch in den allegierten Rechtssätzen im Urteilsdiskurs. So taucht sowohl das ius commune 587 als auch das Partikularrecht 588 in nicht kommentierter Form auf. Die Mehrheit der im Urteilsdiskurs auftauchenden Normen sind jedoch Allegationen von rechtgelehrten Kommentaren. Es kommen insgesamt 24 verschiedene Rechtgelehrte zu Wort. Die Spitzengruppe der allegierten Rechtslehrer bilden die bekannten, frühneuzeitlichen juristischen Größen Joachim Mynsinger 589 , Samuel Stryk 590 , Freiherr Ulrich von Cramer 591 und Andreas von Gail 592 . Es lässt sich also konstatieren, dass auch der Kurkölner Urteilsdiskurs die Relevanz dieser Rechtsgelehrten bestätigt, da sie die am häufigsten allegierten Autoritäten darstellen. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass Argumente im Urteilsdiskurs zweckgebunden waren. So gehörte auch Beck, der einen dezidiert den Juden zugewandten gemeinrechtlichen Kommentar verfasst hatte, zu den am häufigsten im Diskurs 587 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 1 (1763); Nr. II C 8, Relation 1 (1765); Nr. II M 11, Relation 1 (1765), S.8f; Nr. II, L 51, Relation 4 (1766), F. 16vf; Nr. II T 19, Relation 1 (1771); Nr. II S 111, Relation 6 (1771); Nr. II A 35, Relation 2 (1791), F. 25f; Nr. II W 46, Relation 1 (1792), Relation 3 (1793). 588 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 129, Relation 1(1757); Nr. II, S 111, Relation 1(1765), Relation 2 (1769), Relation 5 (1771); Nr. II W 46, Relation 4 (1794). 589 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 2 (1763); Nr. II S 111, Relation 1 (1765), Relation 2 (1769); Relation 6 (1771). 590 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II H 33, Relation 2 (1763); Nr. II, L 51, Relation 1 (1764), F. 11vf; Nr. II M 11, Relation 1, F. 10vf, Relation 4 (1769), F. 18f; Nr. II T 19, Relation 2 (1773). 591 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II, L 51, Relation 4 (1766), F. 17vf.; Nr. II S 111, Relation 2 (1769); Nr. II B 70, Relation 1(1785). 592 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II M 11, Relation 1 (1765), F. 8vf; Nr. II S 111, Relation 2 (1769). <?page no="156"?> 157 auftauchenden Rechtsgelehrten. 593 Jedoch wurde er hauptsächlich dann allegiert, wenn es um die Anwendung des mosaischen Rechts ging. In seinem Werk „de juribus judaeorum“ fanden sich Aussagen, mit denen die Anwendung des mosaischen Rechts in innerjüdischen Sukzessionsprozessen gerechtfertigt werden konnte. Insofern man also die innerjüdischen Verfahren nicht betrachtet, zählt Beck auch nicht mehr zur Spitzengruppe der allegierten Rechtsgelehrten. Das Auftauchen von Aussagen aus dem normativen Diskurs im Urteilsdiskurs korreliert also mit den in den Verfahren thematisierten Gegenständen. So wurden Mynsinger und Gail primär für prozessrechtliche Fragen allegiert. Die hier abgebildete Spitzengruppe der allegierten Rechtsgelehrten ist also von dem Setting der Fälle abhängig, also davon, dass primär Handelsprozesse mit jüdischer Beteiligung untersucht wurden. Mit Blick auf das Gesagte kann also konstatiert werden, dass Aussagen aus der Kameraljurisprudenz (Mynsinger, Gail), dem usus modernus (Stryk) und dem Vernunftrecht (Cramer, Schüler Christoph Wollfs und Lehrer Daniel Nettelbladts) im Urteilsdiskurs je nach behandelter Materie als Argumente/ Autoritäten herangezogen werden konnten. Während auf der rechtstheoretischen Ebene die Rechtsmassen klar distinguierte Rechtsvorstellungen objektivierten, standen sie im Urteilsdiskurs nebeneinander und boten gleichermaßen ein argumentatives Arsenal zur Produktion von Urteilen. Wenn Juden in einem Fall involviert waren, erhöhte sich die Argumentationsvielfalt um judenspezifische Aussagen. Dabei konnten gerade auf Präsumptionen abstellende Argumente einen antijüdischen Charakter aufweisen, die im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion angezogen werden konnten. Darüber hinaus bildeten auch judenspezifische Rechtssätze Argumente, die im Urteilsdiskurs auftauchen. Es lässt sich nun nicht konstatieren, dass Juden generell benachteiligt wurden, es muss jedoch festgehalten werden, dass es die Möglichkeit gab, judenspezifisch und antijüdisch zu argumentieren. Der Kurkölner Urteilsdiskurs wies also einen zumindest latent antijüdischen Charakter auf. Zugleich gilt es festzuhalten, dass die Kurkölner Richter sich zwei Mal mehrheitlich gegen einen antijüdischen Wandel des Urteilsdiskurses aussprachen, während zugleich angemerkt werden muss, dass es eben auch Richter gab, die einen solchen Wandel intendierten. 593 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II, L 51, Relation 2 (1764), F. 13vf; Nr. II W 72 a, Relation 1 (1764), F. 1r; Nr. II, S 111, Relation 6 (1771); Nr. II W 46, Relation 1(1792). <?page no="158"?> 159 7. Jülich-Berger Wahrheitsproduktionen 7.1 Die Grenzen des Sagbaren im Jülich-Berger Urteilsdiskurs - Das Verfahren Elbers wider Lazarus In der Freiheit Mühlheim lebten die beiden Nachbarn Elbers und Lazarus. Die frühneuzeitliche Bauweise führte dazu, dass deren Häuser - modern gesprochen - Doppelhaushälften darstellten. Die beiden Häuser und somit auch die beiden Nachbarn teilten sich also eine Wand - im Folgenden als Scheidewand bezeichnet - auf der beide Häuser ruhten. Im Jahre 1772 nun ließ Elbers umfassende Renovierungsarbeiten - allen voran die Aufsetzung eines neuen Daches - an seinem Haus durchführen, die einen Nachbarschaftsstreit evozierten, der immer weiter eskalierte, bis sich Lazarus an ein Jülich-Berger Untergericht wandte und aussagte, dass Elbers Renovierungsarbeiten an seinem Haus unternommen habe, in deren Folge die gemeinsame Scheidewand beschädigt und deswegen auch sein Haus in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Der Schaden bestünde in der Durchlöcherung und Ausbeulung der Wand um bis zu fünf Zoll. Dieser sei jedoch nicht auf die Scheidewand begrenzt, sondern auch die an der Wand anliegenden Zimmer Lazarus‘ seien verwüstet worden. 594 Überhaupt sei der Schaden so groß, dass die gemeinsame Scheidewand wohl bald einstürzen würde. 595 Offenbar war der Streit zwischen den beiden Nachbarn eskaliert. Lazarus wusste nämlich neben dem eigentlichen Streitgrund gleich noch eine ganze Ladung weiterer Beschwerden gegen Elbers vorzubringen. 596 Dieser habe in der Scheidewand einen tragenden Balken eingelegt, welcher inzwischen verfault sei. Da dies eine Gefahr für die Scheidewand und somit die beiden Häusern darstelle, forderte Lazarus den Austausch des Balkens durch Elbers. 597 Ferner hätte Elbers auch mehrere Ställe gegen seinen Stall gebaut, was diesen beschädigt habe. 598 Abschließend erklärte Lazarus auch noch, dass auf Elbers‘ Grundstück ein Birnenbaum stünde, dessen Äste auf sein Grundstück ragten. Er forderte die Fällung des Baumes, da die Äste eine Gefahr für sein Haus darstellen würden. 599 Lazarus‘ gerichtlicher Großangriff auf Elbers sollte vorerst Früchte tragen. Das erstinstanzliche Gericht ließ Sachverständige die besagte Scheidewand und die Grundstücke der beiden Parteien inspizieren und erließ basierend auf deren 594 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 38v. 595 Ibid. 596 Ibid. 597 Ibid., F. 48vf. 598 Ibid., F. 46r. 599 Ibid., F. 52v. <?page no="159"?> 160 Gutachten ein Urteil, das Lazarus in nahezu allen Punkten Recht gab. 600 Elbers wollte dieses nicht akzeptieren und appellierte an den Jülich-Berger Hofrat. 601 Er erklärte vor diesem, dass die Scheidewand zwar wirklich beschädigt sei, aber es sei in der Freiheit Mühlheim stadtbekannt, dass der Schaden schon seit vierzig oder fünfzig Jahren vorläge und in diesem Zeitraum auch keine Ausbesserungen an den beiden Häusern vorgenommen worden seien. Ferner führte Elbers aus, dass die Scheidewand ihm allein gehöre. So hätte seine Familie einst beide Häuser besessen und dann ein Haus verkauft, wobei die beschädigte Scheidewand explizit laut Kaufvertrag weiterhin das Eigentum der Familie Elbers sei. Dahingegen sei jedoch im Kaufvertrag festgehalten worden, dass die Instandhaltung der beschädigten Scheidewand von Lazarus zu besorgen sei. 602 Bezüglich des faulen Balkens behauptete Elbers vor dem Hofrat, dass die beiden Zimmer- und Maurermeister Schmitz und Schleppel Lazarus über den Zustand des Balkens informiert hätten und Lazarus versprochen hätte, sich an der Reparatur des Balkens finanziell zu beteiligen. 603 Später hätte Lazarus jedoch die Feiertage vorgeschoben, die Reparatur blockiert und schließlich gesagt, er habe nie versprochen, die anteiligen Kosten für die Reparatur zu übernehmen. Somit sei der Balken zwar noch immer faul, aber die alleinige Schuld trage Lazarus. 604 Elbers reichte dann auch die Aussagen Schmitz‘ und Schleppels zur Untermauerung seiner Ausführungen ein. 605 Lazarus widersprach diesen Behauptungen ausdrücklich und bezeichnete die beiden Zeugenaussagen als „falsa narata“. 606 Ferner hatte sich Lazarus erstinstanzlich beschwert, dass Elbers zwei Ställe gegen seinen eigenen Stall gebaut habe. Dabei dürfte kein Stall näher als eineinhalb Fuß an seinem Stall gebaut werden, da er den Tropfenfall - eine Art frühneuzeitliche Regenrinne - für sein Haus und das Haus Elbers unterhielte. Dar- 600 Ibid., F. 39v. 601 Genaugenommen provozierte er. Laut Kanzleiprozessordnung konnte eine im erstinstanzlichen Prozess unterlegene Partei gegen ein Urteil an den Hofrat provozieren oder an das Hofgericht appellieren. De facto waren Provokation und Appellation prozessrechtlich analog aufgebaut. Es gab inhaltlich also keine Unterschiede zwischen den beiden Prozessarten. Der Unterschied bestand in dem Gericht, an das sich eine unterlegene Partei wandte. Da seit dem Jahre 1747 das Hofgericht nicht mehr existierte, war die Unterscheidung hinfällig geworden. Der Einfachheit halber wird in dieser Relation nicht der Quellenterminus „Provokation“ verwandt, sondern der auch heute noch bekannte Begriff „Appellation“. Zur prozessrechtlichen Ordnung der Appellation und Provokation in Jülich-Berg siehe: Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 80ff . 602 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 40vf. 603 Ibid., F. 49v. 604 Ibid., F. 47rf. 605 Ibid. 606 Ibid., F. 48vf. <?page no="160"?> 161 über hinaus sei ein Pferdestall 607 Elbers nicht allein an seinen Stall angebaut worden, sondern dessen Balken würden sogar über die Wand von Lazarus‘ Stall zum Teil hinausragen, zum Teil in diese eingelegt sein. 608 Elbers widersprach diesen Behauptungen im Appellationsprozess zwar nicht, aber er führte an, dass die Ställe gebaut worden wären, als sich noch beide Häuser im Besitz seiner Familie befunden hätten. 609 Bezüglich des Birnenbaumes erklärte Elbers, „sich einer solchen Kleinigkeit halber nicht aufhalten zu wollen, fort sich erbietiget, in hoc puncto der Urtheil a quo [gemeint ist das erstinstanzliche Urteil, laut dem cum grano salis die auf das Grundstück Lazarus‘ ragenden Äste abgeschnitten werden sollten, Anm. d. A.] nun genügen leisten zu wollen.“ 610 Der Jülich-Berger Hofrat bestimmte aus seiner Mitte zwei Richter, welche als Referenten den Fall bearbeiten und dann diesen sowie ihre Urteilsvorschläge dem Kolleg referieren sollten. 7.1.1 Sachverhaltskonstruktion Elbers und Lazarus hatten in den beiden Verfahren eine Menge an Behauptungen aufgestellt und Beweise für diese beigebracht. Aus der Masse an Informationen konstruierten die beiden mit dem Fall mandatierten Referenten zwei sich widersprechende Sachverhalte. Dabei begannen die Geschichten der beiden analog. Der Referent führte aus, dass sich noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts beide Häuser im Besitz der Vorfahren Elbers befunden hätten. Diese hätten dann 1708 eines der beiden Häuser verkauft, welches von den Vorfahren Lazarus‘ 1709 gekauft worden sei. Als Argument führte er den diesbezüglichen Kaufvertrag an, welcher von Lazarus und Elbers schon erstinstanzlich eingereicht worden war. 611 Der Koreferent erzählte grundsätzlich die gleiche Geschichte, wusste aber etwas mehr zu berichten. Ebenfalls basierend auf dem Kaufvertrag erklärte er, dass 1708 Familie Hoppe das Haus gekauft und 1709 an die Vorfahren Lazarus‘ weiterverkauft habe. 612 Mit der Jülich-Berger Kanzleiordnung von 1661 war prozessrechtlich definiert worden, dass Urkunden - zu denen Kaufver- 607 Im weiteren Verlauf werden mit dem Begriff „Ställe“ eben jene Ställe bezeichnet, die gegen Lazarus‘ Stall gebaut worden waren ausgenommen des Pferdestalls. Dieser wird allein mit dem Begriff „Pferdestall“ bezeichnet. 608 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 45rff. 609 Ibid., F. 46vf. Dies zeigt auch sehr schön, wie der Streit eskalierte, da offensichtlich über Streitgegenstände gesprochen wurde, die schon vor der Installation des neuen Daches und der Beschädigung der Scheidewand im Jahr 1772 existierten. 610 Ibid., F. 52v. 611 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 39vf, 43rff. 612 Ibid., Relation 2, F. 60vf. <?page no="161"?> 162 träge zählten - als volle Beweise fungieren konnten. 613 Die Argumentation beider Referenten basierte also auf einem Beweis, der laut Prozessrecht einen vollen Beweis ausmachte, wobei kein widersprüchlicher Beweis dem Gericht vorlag. Diese unproblematische Beweislage dürfte dann auch die analoge Konstruktion der Eigentumsverhältnisse bedingt haben. Der Referent argumentierte weiter, dass die beschädigte Scheidewand zwischen den Häusern das Eigentum Elbers sei. Er führte als Argument die Aussagen der erstinstanzlich bestellten Sachverständigen an, welche die beschädigte Scheidewand als die im Kaufvertrag angesprochene Scheidewand identifiziert hatten. Ferner hätte Lazarus auch Elbers als alleinigen Eigentümer der Scheidewand anerkannt. 614 Während der letzte Teil der Argumentation schon bekannt ist - handelte es sich doch um den typischen Umgang mit nichtstrittigen Sachverhaltsbehauptunge - so ist die Argumentation mit Gutachten von Sachverständigen neu. Diese stellten wie Urkunden und zwei Zeugen ebenfalls prozessrechtlich qualifizierte volle Beweise dar. 615 Die Sachverhaltskonstruktion des Referenten fußte also auf unstrittigen parteilichen Sachverhaltsbehauptungen und vollen Beweisen. Der Koreferent folgte weiterhin mit seiner Geschichtserzählung und Argumentation dem Referenten. Der Referent führte weiter aus, dass der Schaden an der Wand, wie von Lazarus behauptet, durch die Renovierungsarbeiten - insbesondere der Aufsetzung eines neuen Daches - Elbers‘ im Jahre 1772 entstanden sei. 616 Er fundierte seine Geschichte auf den Behauptungen Lazarus‘ und eines von diesem im Appellationsverfahren beigebrachten Attests eines Maurermeisters namens Braun. 617 Nun wies seine Argumentation eine offene Flanke auf. Elbers hatte behauptet, dass der Schaden schon seit ca. 70 618 Jahren existiere. Nun stellte die alleinige Behauptung Elbers‘ zwar kein Problem für den Referenten dar, wohl aber die seitens Elbers beigebrachten Atteste zweier Sachverständige, die dessen Sachverhaltsbehauptung stützten. Es lagen also gleich zwei Atteste und somit ein voller Beweis vor, welcher den von dem Referenten konstruierten Sachverhalt widersprach, der allein auf der Behauptung Lazarus‘ und einer Zeugenaussage - und somit einem halben Beweis - ruhte. Der Referent schloss nun die offene Flanke seiner Sachverhaltskonstruktion, indem er argumentierte, dass die beiden von 613 Adenauer, Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810, 76f. 614 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 43rf. 615 Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 407. 616 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 43rf. 617 Ibid. 618 In der Relation wird zwar immer wieder von 40 oder 50 Jahren gesprochen, es ergibt sich aber aus dem Kontext, dass der Schaden schon seit ca. 70 Jahren bestehen musste. So fand das Verfahren in den Jahren 1773-1775 statt und Elbers behauptete, dass der Schaden schon vor dem Verkauf der Häuser existiert habe und seit dem Verkauf auch keine Reparaturen unternommen worden waren. Der Verkauf fand 1708/ 9 statt, sodass zwischen dem Verkauf des Hauses und dem Prozess 65-67 Jahre lagen. Dementsprechend ist der Schaden ca. 70 Jahre vor der Erstellung der Relation laut der Aussage Elbers entstanden. <?page no="162"?> 163 Elbers beigebrachten Sachverständigen eben jene Baumeister seien, die 1772 das neue Dach auf das Haus setzten und nunmehr mit ihren Attesten ihre eigene schlampige Arbeit vertuschen wollten. 619 Dabei konnte er auf die Aussage des von Lazarus angeführten Maurermeister Brauns verweisen, der ausgesagt hatte, dass der Schaden an der Scheidewand ein Resultat der Aufsetzung des neuen Daches 1772 sei. 620 Mit seinem Argument warf er den Sachverständigen also Parteilichkeit vor und argumentierte so, dass deren Aussagen nicht als voller Beweis gelten könnten. Für diesen Teil der Sachverhaltskonstruktion des Referenten war die Beweislage problematischer, da sich widersprechende Sachverhaltsbehauptungen der Parteien und kontradiktorische Beweise vorlagen. Der Koreferent folgte dann in seiner Sachverhaltskonstruktion auch nicht weiter dem Referenten. Er erklärte, dass insgesamt zu wenige Beweise vorlägen, um zu entscheiden, wie lange der Schaden schon existiere. Damit war er zumindest der Argumentation des Referenten insoweit gefolgt, dass er ebenfalls die Zeugenaussagen, der von Elbers beigebrachten Sachverständigen, nicht als vollen Beweis wertete. 621 Er zog jedoch daraus den Schluss, dass es noch nicht möglich sei, eine Geschichte über den Schaden an der Scheidewand zu erzählen, da es kein solides Fundament für eine solche gebe, außer der Behauptung Lazarus‘, eines Zeugens und den konfligierenden zwei Attesten möglicherweise parteilicher Zeugen. Der Koreferent zeigte also auf, dass die vom Referent erzählte Geschichte über die beschädigte Scheidewand allein auf einem halben Beweis ruhte, verweigerte die Geschichtserzählung, da diese nicht mit vollen Beweisen vollzogen werden konnte, und forderte solche ein. Das agonale Prinzip evozierte also auch am Jülich-Berger Hofrat genau dann Streit um die Beweislage, wenn diese problematisch für die Sachverhaltskonstruktion war - sei es weil zu wenig oder zu viele sich widersprechende Beweise vorlagen. Den nächsten zu besprechenden Punkt bildete der angeblich faule Balken. Laut Referent läge ein solcher fauler Balken in der Scheidewand ein, die laut dessen vorigen Ausführungen allein Elbers gehörte. Dabei insinuierte er, dass es sich hierbei um eine zwischen den Parteien nicht strittige Aussage handelte. Er argumentierte dann weiter, dass die Zimmermeister Schmitz und Schleppel ausgesagt hätten, mit der Reparatur des Balkens von Schäfer beauftragt worden zu sein, Lazarus dann über den Zustand des Balkens informiert zu haben, woraufhin dieser zugesichert habe, die Kosten für die Reparatur partiell übernehmen zu wollen. Elbers habe also die Reparatur des faulen Balkens besorgen wollen, Lazarus habe daraufhin versprochen anteilig die Kosten für die Reparatur zu tragen, dann aber die Sanierung des Balkens behindert. 622 619 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 44vf. 620 Ibid., F. 44v. 621 Ibid., Relation 2, F. 63v. 622 Ibid., Relation 1, F. 49vf. <?page no="163"?> 164 Auch diesbezüglich erhob der Koreferent Widerspruch. So referierte er, dass Elbers im Appellationsverfahren Lazarus widersprochen und ausdrücklich nicht eingestanden habe, dass der Balken überhaupt faul sei - zumindest nicht, dass er so faul sei, dass er eine Gefahr für die Scheidewand und somit für das Haus Lazarus‘ darstelle. 623 Der Koreferent argumentierte, dass es weiterer Beweise bedürfe, um den Zustand des Balkens festzustellen, da strittige Behauptungen bewiesen werden mussten. 624 Er führte dann auch weiter aus, dass keine Beweise bezüglich des Zustandes des Balkens dem Gericht vorlägen und folgerte „die Lage, und Beschaffenheit des besagten Balken [sei] nicht deutlich genug vorstellen, vielweniger kann man sicher seyen, ob der besagte Balken würklich verfaulet, und daher statt dessen eine neuen hinzulegen nöthig seye, oder nicht“. 625 Die nächste Episode des Sachverhaltes des Referenten bilden die gegen Lazarus‘ Stall gebauten Ställe Elbers‘. Der Referent konstruierte, dass zwei kleine Ställe an den Stall Lazarus‘ gebaut worden wären und die Balken eines ebenfalls an Lazarus‘ Stall gebauten Pferdestalls dessen Wand teils überragen würden und teils in der Wand eingelegt wären. Hierfür führte er als Argumente sowohl die Gutachten der vom erstinstanzlich tätigen Amtsgericht Blankenberg bestellten Sachverständigen als auch den Umstand, dass Elbers den diesbezüglichen Behauptungen nicht explizit widersprochen habe - die Behauptungen also unstrittig seien - an. 626 Mit den Gutachten argumentierte er weiter, dass die beiden Ställe Elbers‘, dessen Pferdestall, Lazarus‘ Stall und der Tropfenfall schon seit geraumer Zeit in der nun strittigen Art und Weise zueinander stünden. Mithin seien die Ställe schon vor dem Verkauf des Hauses an die Familie Lazarus‘ gebaut worden. 627 Der Koreferent schloss sich dem Referenten an, wobei er die Gutachten der Sachverständigen stärker betonte. 628 Der Referent konstruierte diesen Teil seines Sachverhaltes auf Basis voller Beweise, wobei keine kontradiktorischen Beweise dem Gericht vorlagen. Die Sachverhaltskonstruktion des Koreferenten fußte auf derselben unproblematischen Beweislage, was zu einer analogen Ausgestaltung dieser Teile der beiden ansonsten doch widersprüchlich ausfallenden Sachverhaltskonstruktionen der Referenten führte. Die letzte Episode des Sachverhaltes des Referenten bespricht den Birnenbaum. Laut Referent ragte dieser von Elbers‘ Grundstück auf das von Lazarus. Da Elbers explizit nicht widersprochen hatte, war laut gemeinrechtlicher Lehre eine Beweisführung überflüssig. 629 Allerdings legte der Referent nicht fest, inwiefern die über das Grundstück Lazarus‘ ragenden Äste des Birnenbaumes ein 623 Ibid., Relation 2, F. 67vff. 624 Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 407. 625 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 2, F. 68v. 626 Ibid., Relation 1, F. 46r. 627 Ibid., F. 47vf. 628 Ibid., Relation 2, F. 66r. 629 Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 407. <?page no="164"?> 165 Gefahrenpotential für dessen Immobilien darstellten. 630 Das Koreferent widersprach in diesem Punkt dezidiert nicht, sondern blendete diese Episode in seiner Geschichte vollständig aus. 7.1.2 Urteilsproduktion Die beiden Referenten hatten zwei unterschiedlich ausfallende Sachverhalte konstruiert. In der Folge forderten sie in ihren Referaten auch unterschiedliche, jeweils zur eigenen Sachverhaltskonstruktion passende Rechtsfolgen. Der Referent wandte sich als erstes der Frage zu, welche der beiden Parteien inwiefern für die Reparatur der laut seinem Sachverhalt beschädigten Scheidewand aufkommen musste. Nun kam laut diesem Elbers das alleinige Eigentum an der Scheidewand zwar zu. Allerdings hatte Elbers angegeben, dass laut Kaufvertrag Lazarus die Instandhaltung der Wand zu besorgen habe. Der Referent kam mit Blick auf den Kaufvertrag zu einem anderen Schluss. So sei in diesem zwar festgelegt worden, dass Lazarus die Instandhaltung einer Wand besorgen müsse. Jedoch lege der Kaufvertrag nicht eindeutig fest, für welche Wand Lazarus die Instandhaltung übernehmen müsste. Laut § 4 des Kaufvertrages sei es die Rückwand und laut § 5 die beschädigte Scheidewand. Da nun der Vertrag mehrdeutig formuliert sei, könne man diesen nicht zum Nachteile Lazarus‘ auslegen und diesem die Reparatur der Scheidewand auferlegen. 631 Mit seinem Argument bewegte sich der Referent durchaus auf Linie mit dem ius commune. So war in D 2,14,39 festgelegt, dass man unklar abgefasste Verträge gegen den Verkäufer auslegen sollte. Im 18. Jahrhundert wurde diese Regelung dahingehend erweitert, dass man mehrdeutige Verträge immer gegen den auslegen solle, der eine eindeutigere Abfassung hätte besorgen können. 632 Das Argument des Referenten atmete also den Geist des ius commune, da es ebenfalls die Mehrdeutigkeiten in dem Kaufvertrag gegen den Verkäufer des Hauses bzw. dessen Nachfahren - also Elbers - auslegte, welche demnach den Kaufvertrag besser hätten formulieren sollen. Der Referent argumentierte in diesem Fall nicht mit allegiertem Vertragsrecht, sondern verwies allein durch die Subsumption des Sachverhaltes unter das Vertragsrecht auf diesbezügliche Rechtssätze. Offenbar gingen die Referenten am Jülich-Berger Hofrat bezüglich des Vertragsrechts davon aus, dass dieses in einem gewissen Umfang ihren Richterkollegen bekannt war. Der Referent führte weiter aus, dass dem Kaufvertrag zu entnehmen sei, dass es Lazarus in seiner Funktion als Eigentümer seines Hauses gestattet sei, tragende Balken in die beschädigte Scheidewand Elbers‘ zu legen. Mithin gehöre also die beschädigte Scheidewand zwar Elbers, allerdings fungiere diese trotz dessen 630 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 52vf. 631 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 43rf. 632 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 411 <?page no="165"?> 166 als tragende Wand für das Haus Lazarus‘. 633 Dies bildete das Fundament einer Argumentation, die darauf hinauslief, dass Elbers allein die Reparatur zu besorgen hatte. Er argumentierte mit einer aus dem Jülich-Berger normativen Diskurs stammenden Aussage weiter, „daß der Elbers diese 5. Zoll Ausweichung der Mittelscheidewand als derselben Herr alleinig herstellen, und machen zu laßen schuldig […] als de servitutibus tradirende Autores Assesor de Cramer thom 1.lib: 3.ex tit: 3. Item [? ? ? ] de servit: cap: 58. sich dahin vernehmen lassen. si murrus vicini pendens servitatem onis ferendi et sustinendi omna Dominus illa reficere teneatur“. 634 Der Referent rekurrierte in seinem Argument auf die servitus onus ferendi und verließ damit das bekannte Terrain des Vertragsrechts. Nunmehr subsumierte er seinen Sachverhalt unter das Rechtsinstitut servitus. Bezeichnenderweise allegierte er nunmehr einen Rechtssatz. Dieses Rechtsinstitut war wohl nicht so bekannt wie das Vertragsrecht. Zumindest setzte der Referent dieses Mal nicht voraus, dass seinen Kollegen das Rechtsinstitut insofern bekannt war, als dass diese seine Argumentation ohne Rechtsallegation verstehen könnten bzw. diese sich ohne Rechtsallegation überzeugen ließen. Generell kannte das ius commune einen weitgefassten Servitusbegriff, der das Verhältnis von dominus zu servitus, die persönlichen Grunddienstbarkeiten und die allgemeinen Grunddienstbarkeiten inkludierte. 635 Zu letzteren zählte die im Argument des Referenten und mit Ausführungen des gelehrten Rechts zur Sprache gebrachte servitus onus ferendi. Grundsätzlich konnte laut frühneuzeitlichem Privatrecht ein Grundstück einer Person zu Diensten sein müssen, die an dem Grundstück weder Eigentumsnoch Besitzansprüche besaß. Es wurde zwischen verschiedenen Formen der Dienstbarkeit differenziert, die sich in den Folgen und in der Art der Dienstbarkeit unterschieden. 636 Der Referent subsumierte also den die Scheidewand betreffenden Teil seines Sachverhaltes unter die servitus onus ferendi und zeigte mit der Allegation der diesbezüglichen Ausführungen des berühmten Rechtsgelehrten Cramers die Folgen für den Nutzer und den Tolerierenden dieser Form der servitus auf. Elbers sollte als Tolerierender der Dienstbarkeit, die seine Wand Lazarus resp. dessen Haus leitstete, die Kosten der Reparatur der beschädigten Wand übernehmen, da dies bei einer servitus onus ferendi so vorgesehen sei. 637 Nun waren im frühneuzeitlichen Recht noch andere Formen der servitus definiert worden. Eine Subsumption des Sachverhaltes des Referenten unter eine andere Form 633 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 44vf. 634 Ibid., F. 45v. 635 Interessanterweise war es möglich über eine „servitus“ gewisse Freiheiten zu ersitzen. Siehe generell zur „servitus“ im frühneuzeitlichen Privatrecht: Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 313-318. 636 Ibid., 313. 637 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 45v,r. <?page no="166"?> 167 würde zu anderen Rechtsfolgen führen. Da der Referent wusste, dass seine Argumentation seitens seiner Kollegen angegriffen werden könnte, indem man die Subsumption anders ausgestaltete, argumentierte er für die Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit seiner Subsumption. Er reichte das Argument jedoch erst nach, als er in seinem Referat über die Beurteilung des in der Scheidewand eingelegten und laut seinem Sachverhalt faulen Balken Elbers sprach. „Dan obschon fur den provocantischen Beklagten [Elbers, Anm. d. A.], quod pradii servitatis Dominus ad refectionem non teneatur, ex quod servitus tigni immittendi ordinarium servitutem indicat Leg: 8.ff.servitutis, sich schlussigen lassen mögte, daß dem Provocato [Lazarus, Anm. d. A.] zu mehr nicht, als die servitus tigni immittendi zustehe, und Provocanten [Elbers, Anm. d. A.] zu Herstellung eines anderen Balkens über die Reywand [die beschädigte Scheidewand, Anm. d. A.], oder eines frischen Stücks Ansetzung an statt des vorhandenen belangen möge, […]: So mag hierunter auch der von bewahreten Authoribus führender Rechtsatz nicht ausser rechtlicher Erwegung belassen werden, idque Brunnem: ad Leg: 33ff. de servituti: Item Voet: ad ff eod: Tit: ac ad citatis complaimis, alß die Frage nicht de servitute tigni immittendi, sondern. oneris ferendi vorwaltet.“ 638 Der Korferent widersprach diesen Ausführungen des Referenten dezidiert. Er erklärte, dass beide Parteien eine andere Auslegung des Vertrages behauptet hätten und man nun dem Appellaten Lazarus befehlen solle, seine Auslegung zu beweisen. Lazarus solle also beweisen, dass der Kaufvertrag nicht ihm die Instandhaltung der Scheidewand auferlege. Als Argument für diese Beweislastverteilung führte der Koreferent an, dass zwar der Appellant Elbers den Kaufvertrag als Maßstab zur Beurteilung des Sachverhaltes angeführt habe, der Appellat Lazarus allerdings die servitus für sich habe - ihm also gestattet sei, die Elbers zugehörige Scheidewand mitzubenutzen, weswegen dieser nun auch darlegen solle, wie die servitus ausgestaltet sei. 639 Um die Notwendigkeit der Beibringung der von ihm geforderten Beweise zu unterstreichen, erklärte er, „gesetzten Fall, es würde der Beweis nicht geliefert, daß in mehr erwehnten Kaufbrief jene zwischen beyden Häußern durchgehende Reywand [die beschädigte Scheidewand, Anm. d. A.] angedeutet worden, so würde es jedoch noch nicht ab denen [Elbers, Anm. d. A.] seyn, quod provocanti reparatio, et refectio muri incumberet, sondern es müste als dann auch erwiesen seyn, daß provocatus [Lazarus, Anm. d. A.] servitutem oneris ferendi hergebracht habe, dann sollte demselben nur servitus tigni immittendi zustehen, so würde ihm, und nicht dem Provocanten [El- 638 Ibid., F. 49vf. 639 Ibid., Relation 2, F. 61rff. <?page no="167"?> 168 bers, Anm. d. A.] die Instandsetzung und Unterhaltung sothaner Reywand incumbiren“. 640 Während der Referent die Mehrdeutigkeiten im Kaufvertrag zu Gunsten des Käufers Lazarus mit einem Verweis auf das ius commune auflöste, forderte der Koreferent also Beweise von Lazarus für die von ihm im Verfahren behauptete Auslegung, dass der Kaufvertrag nicht ihm die Instandhaltung der beschädigten Scheidewand auferlegte. Insofern Lazarus seine Auslegung beweisen könne, bedeute dies jedoch nicht, dass Elbers die Kosten der Reparatur zu tragen habe. Dies sei nur der Fall, insofern man die Episode über die beschädigte Scheidewand unter die servitus onus ferendi subsumiere, sofern man diese mit der servitus tigni immittendi begreife, seien andere Rechtsfolgen zu bestimmen. Der Koreferent führte also nun eben jene servitus tigni immittendi ins Feld, gegen die der Referent schon Argumente artikuliert hatte. Der Koreferent argumentierte, dass nur insofern der Sachverhalt unter die servitus onus ferendi subsumiert würde, Elbers die Reparatur übernehmen müsse. Wenn man diesen hingegen unter die servitus tigni immittendi subsumiere, müsse Lazarus die Instandhaltung tragen. Entscheidend also sei, unter welche der beiden Dienstbarkeitsbegriffe der Sachverhalt subsumierbar sei. 641 Für die Frage der Subsumption sei allein entscheidend, inwiefern die Scheidewand Lazarus‘ Haus trage. Insofern die Dienstbarkeit der tragenden Scheidewand sichtbar und dauernd sei, könne man die Dienstbarkeit als servitus tigni immitendi begreifen. 642 Eben dies sei aber mit den vorliegenden Beweisen nicht zu entscheiden, sodass Lazarus diesbezügliche Beweise beibringen solle. 643 Der Koreferent setzte sich mit seinen Argumenten 1775 durch. 644 Als Nächstes galt es zu erörtern, inwiefern der in der Scheidewand einliegende Balken Elbers repariert werden müsste und wer von den beiden Parteien die Kosten dafür zu tragen habe. Das erstinstanzliche Gericht hatte geurteilt, dass Elbers den Balken auf eigene Kosten instand setzen sollte, da dessen Fäulnis eine Gefahr für beide Häuser darstelle. Der Referent folgte dem erstinstanzlichen Urteil und sprach sich ebenfalls für eine Instandsetzung durch Elbers aus. Zwar hatte laut dem vom Referenten konstruierten Sachverhalt Lazarus versprochen, sich an den Kosten der Reparatur zu beteiligen, der Referent wertete jedoch das von Lazarus gegebene Versprechen als unerheblich für die Frage, wer den Balken sanieren müsse, da die Zahlungszusicherung vor dem Prozess und der Aufsetzung des neuen Daches geschehen sei. 645 Er erklärte mit Blick auf seinen vorigen Ausführungen, dass 640 Ibid., F. 63v. 641 Ibid., F. 63v. 642 Ibid., F. 63v. Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 313. 643 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 2, F. 62r. 644 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, F. 24v, 53v. 645 Ibid., Relation 1, F. 48vff. <?page no="168"?> 169 „bereits verständiges worden sey, da, wie der Provocans [Elbers, Anm. d. A.] qs Scheidewand ihm eigenthumlich zu seyn sustiniret, fort dieser in Pramissio bemerckten alleiniger Eigenthum demselben zuerkannt worden, der Provocans zu ein solcher Instandhaltung, und Reficyrung, nicht weniger zu Herstell- oder Reparirung des in der qs Wand bis auf die Mitte verfaults und verbrochenen Balkens verbunden zu halten“. 646 Der Koreferent hatte bekanntermaßen Zweifel geäußert, ob der besagte Balken überhaupt faul sei. Laut diesem war es also fraglich, ob der Balken überhaupt repariert werden musste. Auf einem solchen Fundament konnte er schwerlich für weitreichende Rechtsfolgen argumentieren, sodass er die Beibringung weiterer Beweise forderte, mit denen der Zustand des Balkens konstruierbar würde. 647 Hatte er zuvor noch bezüglich der Scheidewand umfassend mit aus dem normativen Diskurs stammenden Aussagen für die Beibringung weiterer Beweise plädiert, sparte er diesmal die ausufernde rechtliche Argumentation aus. Seine Problematisierung der Beweislage im Rahmen seiner Sachverhaltskonstruktion war jedoch ausreichend. Er setzte sich auch in diesem Punkt durch. 648 Eine weitere zu erörternde Frage kreiste um Elbers Ställe. Der Referent widersprach dezidiert der von Lazarus erhobenen Forderung, Elbers solle die Ställe abreißen. Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildeten die Gutachten der Sachverständigen, die im erstinstanzlichen Verfahren die Situation vor Ort begutachtet hatten. Diese hatten nicht allein begutachtet, wie die Situation vor Ort sich darstellte, sondern ihrerseits schon juridische Konsequenzen für die Parteien aus der sich ihnen darbietenden Situation vor Ort gezogen. 649 Allerdings waren die Sachverständigen zu keiner einhelligen Meinung gekommen. So legte der Referent dar, dass ein Sachverständiger aus der Bauweise der zwei Ställe wider dem Stall Lazarus‘ und aus dem Umstand, dass Balken des Pferdestalls in die Wand des Stalles Lazarus‘ eingelegt waren, darauf schloss, dass Elbers das Recht zu einer solchen Bebauung erlangt habe. Dieser Baumeister ging in seiner Argumentation mithin davon aus, dass die Ställe schon seit mehr als 50 Jahren standen. Ferner sei Lazarus‘ Tropfenfall - die frühneuzeitliche Regenrinne - als Vergünstigung für diesen anzusehen. Die Ställe müssten also nicht weggeräumt werden, sondern Lazarus müsse den Bau gegen seinen Stall erdulden. 650 Zwei Sachverständige hätten dahingegen erklärt, dass Elbers zwar die Ställe nicht abreißen müsse, jedoch eine Gegenwand errichten solle, um die Wand des Stalles Lazarus‘ zu entlasten, 646 Ibid., F. 49v. 647 Ibid., Relation 2, F. 67rf. 648 Ibid., Relation 1, F. 24v, 53v. 649 Ibid., Relation 1, F. 46rff. 650 Ibid., F. 46vf. <?page no="169"?> 170 „so der Jud nicht zu gestatten schuldig, daß zum Nachtheil seines Stalls etwas anbehängt werde, dan der Tropfenfall machete nichts zur Sache, indem der Elbers nur das Wasser anzunehmen, und abzuführen schuldig“. 651 Elbers habe laut diesen beiden Sachverständigen die Abführung des Wassers auch besorgt. Diese beiden wären sich bezüglich des Pferdestalls allerdings uneinig. Einer habe erklärt, dass Elbers zur Absicherung auch für den Pferdestall eine Gegenwand errichten solle. Der Andere hingegen meine, dass die Einlegung der Balken des Pferdestalls in die Wand von Lazarus‘ Stall ausreichend Stabilität besorge und die Errichtung einer Gegenwand für den Pferdestall unnötig sei. 652 Danach ließ der Referent den letzten Sachverständigen - den Hofbaumeister Kees - zur Sprache kommen. Dieser habe erklärt, dass sofern Lazarus bauen wolle, die Ställe abgerissen werden müssten, da sie Lazarus an jeglichem Bauvorhaben hindern würden. 653 Dahingegen spräche sich auch Kees dafür aus, dass Elbers für den Pferdestall keine Gegenmauer bauen müsse, da die Balken des Pferdestalls in der Wand von Lazarus‘ Stall eingelegt seien. Die Instandhaltung müssten sich beide Seiten nur insofern teilen, als der Verursacher eines Schadens immer auch für die Reparatur aufkommen müsse. 654 Der Referent wandte sich nun den einzelnen Punkten zu. Bezüglich des Pferdestalls hätten die Sachverständigen die Einlegung des Balkens in den Stall Lazarus‘ als servitus tigni immittendi gewertet. Dies habe Lazarus auch anerkannt. 655 Mit diesen beiden Argumenten kam er zu dem Schluss, dass der Pferdestall auch in Zukunft erhalten bleiben solle, da die Nutzung des Stalles Lazarus‘ durch den Pferdestall Elbers eine juristisch erlaubte Form der Nutzung darstelle. 656 Er argumentierte weiter, dass auch das erstinstanzliche Gericht dahingehend geurteilt und Lazarus dies akzeptiert habe. 657 Danach wandte sich der Referent den zwei gegen Lazarus‘ Stall gebauten Ställen zu und gab zu erkennen, dass für die Frage, was mit den Ställen geschehen müsse, allein relevant sei, auf wessen Grund sie stünden. Er führte aus, Hofbaumeister Kees habe sich mit Blick auf Lazarus‘ Tropfenfall dafür ausgesprochen, dass der Grund unter dem Tropfenfall Lazarus‘ Eigentum sei. Er wandte dagegen ein, dass „hirunter aber nicht ausser rechtlicher Erwegung zu belassen seyn wird, daß, so weit der Troppenfall sich erstrecket, so weit auch der Eigenthum dem Troppenfalls Herren zu zuneigen seyn 651 Ibid., F. 46r. 652 Ibid., F. 46rf. 653 Ibid., F. 47v. 654 Ibid. 655 Ibid., F. 47r. 656 Ibid., F. 47rf. 657 Ibid., F. 47r. <?page no="170"?> 171 sich nicht, sondern wohl ein ius servitutis in fundo alieno juxta Leg: 20.ff.de servitut: sich schließen lasse“. 658 Anders als der Gutachter stellte der Referent also keine notwendige Verbindung zwischen dem Tropfenfall und der Frage nach dem Eigentum an dem Grund her, über den der Tropfenfall führte. Ohne diese Verbindung stelle der besagte Grund jedoch noch ein Eigentum Elbers‘ dar und dürfe auch von diesem bebaut werden. In diesem Bereich dürfe Lazarus zwar seinen Tropfenfall über das Grundstück Elbers führen. Lazarus besäße diesem Grund gegenüber allerdings keinen Eigentumsanspruch, sondern allein einen Nutzungsanspruch in Form einer servitus. Da ferner die Ställe „nach Außsag deren Wercksverständigen von alters her hingestelt gewesen seien“ und den vom Grundstück Lazarus führenden Tropfenfall nicht behindern würden, könne man Elbers nicht anweisen, die Ställe abzureißen. 659 Allerdings solle Elbers den Stall von Lazarus gegen Schäden absichern. Der Referent blieb seiner Linie treu und fundierte auch diese Rechtsfolge auf der servitus. „[M]inder widersprochen worden, daß dem von Provocato [Lazarus, Anm. d. A.] angesucheten Rechtssatz nach: quod [? ? ? ] servientis in servitus in alieno fundo competente ita uti debeat, ne fundus serviens [? ? ? ] afficiatis detrimento: in rechtliche Erwegung zu ziehen; Wie ein solches auch Judex a quo zu Augenmerck genommen zu haben schenet“ 660 Er führte nicht einfach eine Aussage aus dem Jülich-Berger normativen Diskurs an, sondern erklärte zugleich, dass diese wohl von Lazarus erstinstanzlich angeführt worden sei und schon die erstinstanzlichen Richter bewogen habe, den Bau von Gegenwänden anzuweisen. Nichtsdestotrotz artikulierte der Koreferent Widerspruch. Auch dieser setzte an den Anfang seiner Argumentation die Ausführungen der Sachverständigen. 661 Er führte zu diesen abschließend aus, dass „[a]us diesen jetzt erwehenten Äußerungen deren 4. Wercksverständigen erhellet zur Genüge, daß dieselbe nicht einerley Meinung seyen, mithin auch solche in Judicando nicht zur Richtschnur genommen werden mögen, sondern aus denen verschiedenen Meinungen werden nur dasjenige eingefolget werden müssen, welche denen Rechten am ähnlichsten seyend.“ 662 Wie schon der Referent minderte auch der Koreferent die argumentative Kraft der Aussagen der Sachverständigen. Er tat dies - wie schon der Referent - da er in seiner weiteren Argumentation diesen partiell widersprach. Da nun also die Gutachten der Sachverständigen abgewertet waren, betonte er im Anschluss die von ihm im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion getätigten Ausführungen, 658 Ibid. 659 Ibid. 660 Ibid. 661 Ibid., Relation 2, F. 64vff. 662 Ibid., F. 64rf. <?page no="171"?> 172 laut denen sowohl die Ställe als auch der Tropfenfall schon seit „langen Jahren allschon auf dem nemlichen Platz gestanden, wo sie dermalen stehen“. 663 Daraus folgerte er weiter, dass „[w]ann nun dem Provocaten [Lazarus, Anm. d. A.] oder dessen Antecessoren von dem Provocanten [Elbers, Anm. d. A.], oder vielmehr von dem ehemaligen Besitzern des Hauses zur blauen Hand [Elbers Haus, Anm. d. A.] das jus stillicidii immittendi [eine Art der ‚servitus‘, Anm. d. A.], welches wegen Länge der Zeit allerdings zu vermuthen, constituiret worden, so lasset sich hierab entnehmen, daß Provocans des Platzes, wo die dem Provocaten gebührende Dachtröpfen hinfallet, und wo die besagten 2. Ställchen stehen, der Eigenthümer seye, widrigen Falls keine Servitus hätte constituiert werden können, in omni enim servitute requiritur res aliena, eo quod res propria nemini serviat per Leg.26.de servit: praed: urban.“ 664 Der Koreferent kam also zu dem gleichen Schluss wie der Referent: Der Boden, auf dem die besagten Ställe standen, sei das Eigentum Elbers. Basierend auf der von ihm konstruierten langen Existenzdauer der Ställe und des Tropfenfalles schloss er darauf, dass der Grund, über den der Tropfenfall verlief, der Regenrinne dienlich sein müsse. Es läge also eine Form der servitus vor. Diese könne aber nur dann vorliegen, wenn der unter Lazarus‘ Tropfenfall befindliche Boden nicht dessen Eigentum sei, sondern Elbers allein gehöre. Der Koreferent führte im Anschluss weiter aus, Elbers könne freilich auf seinem Eigentum bauen, wenn er nur nicht den Tropfenfall Lazarus‘ behindere. Damit sprach er sich ebenfalls für den Erhalt der Ställe aus. 665 Bis hierhin folgte er also dem Referenten. Bezüglich des Baues einer Gegenwand widersprach er jedoch vehement. So führte er aus, dass er Elbers für „eben so wenig verbunden […] erachte [die Gegenwand zu errichten, Anm. d. A.], anerwogen die besagten 2. Ställchen nicht auf des Provocati [Lazarus, Anm. d. A.], sondern des Provocantis [Elbers, Anm. d. A.] eigenthümlichen Grund gebaut seyen, quilibet autem rerum suarum liber moderator, et arbiter, et in suo quodcunque pro habitur adificare poses, ex libertate naturali, eins und andertes hinderen diese angebauten Stälchen der provocatischer Seits hergebrachten servituti sillicidii immittendi keineswegs, mithin sehe ich nicht, wie Judex a quo den Provocanten hierzu anweisen konnten.“ 666 663 Ibid., F. 65r. 664 Ibid., F. 65r. 665 Ibid. 666 Ibid., F. 66r. <?page no="172"?> 173 Der Koreferent begegnete also der auf dem Jülich-Berger normativen Diskurs abstellenden Argumentation des Referenten, indem er ebenfalls Rechtssätze allegierte. Der Koreferent folgerte aus seinen Argumenten, dass Elbers von der Errichtung der Gegenwände zur Absicherung des Stalles Lazarus befreit sei. 667 1775 setzte sich der Koreferent auch in diesem Punkt durch. 668 Als letzten Punkt besprach der Referent in seinem Referat den Birnenbaum Elbers. Er führte aus, dass schon das erstinstanzliche Gericht laut Aussage Elbers die Folgen aus dem Sachverhalt mittels „juxta Leg: 1.ff. de aboribus cadendis § 1.et 2. Item cod: de interdictis“ deduziert hätte. 669 Das erstinstanzliche Urteil wies Elbers an, die Äste zu stutzen, sodass diese nicht mehr auf den Grund Lazarus‘ reichten oder diesem zu erlauben, die auf seinen Grund ragenden Äste selber zu entfernen. 670 Letztlich hatte Elbers zwar im Rahmen der Appellationsklage auch Beschwerde gegen diesen Punkt des erstinstanzlichen Urteils geführt. Am Ende des Appellationsprozesses konnte der Referent hingegen festhalten, „diesen undbefugsamen des provocantischen Beklagter [Elbers, Anm. d. A.] Einwand, nicht weniger obangeführten in Leg: 1ma ff de aboribus cadendis sich klahr vorlegender Unbestand scheint der provocantischer Beklagter selbst anzuerkennen, unterem Vorwand: sich seiner solchen Kleinigkeit halber nicht aufhalten zu wollen, fort sich erbietiget, in hoc puncto der Urtheil a quo nun genügen leisten zu wollen.“ 671 Nun argumentiert der Referent an dieser Stelle nicht allein mit einem Verweis auf den territorialen normativen Diskurs (Leg: 1ma ff de aboribus cadendis), sondern er erklärte, dass auch Elbers im Laufe des Prozesses erkannt habe, dass die seitens des erstinstanzlichen Gerichts erlassenen Rechtsfolgen auf einem starken Fundament standen. Der Koreferent schwieg über diesem Punkt, sodass sich 1775 der Referent in diesem Punkt durchsetzen konnte. 7.1.3 Zwischenfazit In diesem Kapitel wurde ein Nachbarschaftsstreit, dessen Eskalation und dessen gerichtliche Lösung abgebildet. Die beiden mit dem Fall mandatierten Referenten konstruierten auf Basis der (teils problematischen) Beweislage unterschiedliche Sachverhalte. Beide erzählten generell solange eine analog ausgestaltete Geschichte, insofern volle Beweise und keine kontradiktorischen Beweise vorlagen. Mithin argumentierten sie dann mit den vollen Beweisen auch analog. Abweichungen der beiden Sachverhalte entsprangen der partiell problematischen Beweislage. Der Referent versuchte auch auf Basis dieser Teile seines Sachverhaltes 667 Ibid., F. 67v. 668 Ibid., „Copiam Decretum März 1775“, F. 23rf. 669 Ibid., Relation 1, F. 52v. 670 Ibid. 671 Ibid. <?page no="173"?> 174 zu konstruieren, während der Koreferent sich einer solchen problematischen Konstruktion verweigerte, Teile des Sachverhaltes in der Folge aussparte und stattdessen weitere Beweise verlangte, um dann auf diesen basierend die fehlenden Teile des Sachverhaltes zu konstruieren. Das agonale Prinzip führte also gerade dann zu Debatten unter den Richtern, wenn die Beweislage aufgrund fehlender voller Beweise oder der Existenz kontradiktorischer Beweise problematisch war. Der Wettstreit trat also eben dann zu Tage, wenn innerhalb der diskursiven Regeln nicht eindeutig ein einziger Sachverhalt zu konstruieren war. Zugleich demonstrieren die Konstruktionen der Referenten und deren Debatte die Relevanz der Beweise für die Sachverhaltskonstrukionen am Jülich-Berger Hofrat. Sie gaben die Geschichte vor, welche Referenten in ihren Referaten erzählen konnten - ohne sie und gegen sie war ein Sachverhalt nicht zu konstruieren. Aus den unterschiedlich konstruierten Sachverhalten folgte auch eine unterschiedliche Bestimmung der Rechtsfolgen. Während der Referent alle Teile des Sachverhaltes konstruiert hatte und dann basierend auf seinem Sachverhalt die Rechtsfolgen für die Parteien bestimmte, fehlte dem Koreferenten ein vollends konstruierter Sachverhalt - seine Geschichtserzählung war lückenhaft. Dementsprechend konnte er auch noch keine weitreichenden Rechtsfolgen festlegen, sondern forderte eben jene Beweise ein, mit denen er seine Geschichtserzählung vervollständigen könnte. Beide Referenten argumentierten für die von ihnen favorisierten Rechtsfolgen mit Rechtssätzen aus dem Rechtsinstitut servitus. Man war sich einig, dass der Sachverhalt unter dieses Rechtsinstitut subsumiert werden musste, damit ein Urteil produziert werden konnte. Sie waren sich jedoch nicht einig, um welche Art der Dienstbarkeit es sich handelte. Sie argumentierten für ihre Subsumption unter die jeweilige Spielart der servitus und den daraus resultierenden Rechtsfolgen nun nicht allein über die Subsumptionsmethode auf den Jülich-Berger normativen Diskurs verweisend, sondern brachten diesen via Rechtsallegationen unmittelbar zur Sprache. Es zeigt sich, dass es durchaus diskutabel sein konnte, unter welches Rechtsinstitut resp. unter welche Spielart eines juristischen Konstrukts wie der servitus ein Fall zu subsumieren war. Grundlegend für die Debatte über die richtigen Rechtsfolgen war auch am Jülich-Berger Hofrat der territoriale normative Diskurs. Dieser lieferte implizite und explizite Argumente, welche die Referenten nutzten, um ihre divergierenden Ansichten durchzusetzen. In diesem Verfahren spielte der Umstand, dass eine Partei dem jüdischen Glauben anhing, keine Rolle. Im folgenden Verfahren ist es hingegen für die Urteilsproduktion entscheidend, dass die Beklagten Juden waren. <?page no="174"?> 175 7.2 Judenspezifische Argumente - Das Verfahren der Karmelitinnen wider einige jüdische Händler Ende der 1770er Jahre dürften die Karmelitinnen eines in oder um Düsseldorf gelegenen Klosters den Entschluss gefasst haben, eine ihrer Monstranzen restaurieren zu lassen. Sie übertrugen diese Aufgabe dem christlichen Goldarbeiter Busch. So gelangte die Monstranz in seine Hände, damit er diese säubern und vergolden konnte. Statt der Aufgabe nachzukommen, verließ der Goldarbeiter kurze Zeit später Jülich-Berg. Nach seiner Abreise kamen Gerüchte auf, er habe vor seiner Flucht einiges Silberwerk an die Jülich-Berger Judenschaft versetzt, das er aus der ihm anvertrauten Monstranz gebrochen habe. 672 Das Kloster bat den Hofrat in der Folge, einem Schultheißen zu befehlen, die Monstranz dem Kloster zu restituieren. Der Hofrat kam der Bitte nach und der Schultheiß machte drei jüdische Händler und eine jüdische Witwe ausfindig, die von dem Goldhändler Busch Silberwerk gekauft hatten. 673 Nicht allein Joan Levi, David Levi, Salomon Aaron Cohen und die Witwe Aaron Cohens wurden daraufhin vor dem Hofrat vorstellig, sondern auch die Landjudenschaft wurde in der Sache aktiv. Immerhin warf das Kloster den vier jüdischen Händlern vor, gestohlenes Gut gekauft zu haben und forderte dessen unentgeltliche Rückgabe. Damit stellten sie zum einen die vier Händler in die Nähe illegalen Schleichhandels, zum anderen sollten allein die jüdischen Händler die durch den Ankauf des Silberwerks verursachten Kosten tragen. Vor Gericht erklärten nun die jüdischen Händler, dass man das Silberwerk nicht unentgeltlich zurückgeben wolle. Die Händler hätten zwar von Busch Silberwerk erstanden, jedoch hätte man weder gewusst, dass es sich um gestohlenes Gut handelte, noch sei man sich bewusst gewesen, dass das Silberwerk Teil eines religiös-liturgischen Gegenstandes war. Insofern das Kloster auf die Rückgabe des Silberwerks bestehe, solle es den Händlern die Kaufsumme erstatten. 674 7.2.1 Sachverhaltskonstruktion Basierend auf den im Verfahren gesammelten Informationen konstruierten die beiden mit dem Fall mandatierten Richter einen Sachverhalt. Der Referent behandelte gleich zu Beginn seines Referats eine Frage, welche seitens der Parteien nicht aufgeworfen worden war. So war es laut diesem noch gar nicht sicher, dass es sich bei dem seitens der jüdischen Händler angekauften Silberwerk auch tatsächlich um Teile der Monstranz handelte. Er argumentierte, das Kloster habe zwar behauptet, dass das von den jüdischen Händlern angekaufte Silberwerk von der Monstranz stammte, dies sei jedoch nicht stichhaltig belegt. Man 672 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 156, Relation 1, F. 1vf. 673 Ibid., Relation 1, F. 1rf. 674 Ibid., Relation 1, F. 2v, Relation 2, F. 7vf. <?page no="175"?> 176 solle das Silberwerk dem Kaplan und dem Küster des Klosters „ad recognoscendum“ übergeben. Die beiden sollten also das Silberwerk prüfen und feststellen, ob dies zur Monstranz gehörte. 675 Die Ausführungen des Referenten überzeugten die Mehrheit des Kollegs, sodass dieses sich für eine Fortsetzung des Verfahrens aussprach, damit dem Küster und dem Kaplan das fragliche Silberwerk zur Überprüfung gezeigt werden könne. Die Beiden identifizierten dann auch das Silberwerk als Teil der entwendeten Monstranz. 676 Mit diesen beiden Zeugenaussagen argumentierte der Referent, dass die jüdischen Händler von Busch tatsächlich Bestandteile der Monstranz gekauft hatten. 677 Dem Referenten reichte es also nicht, dass die jüdischen Händler nicht bezweifelt hatten, dass das von ihnen gekaufte Silber Teil der entwendeteten Monstranz war. Er wollte seine Sachverhaltskonstruktion auf einen prozessrechtlich qualifizierten Beweis fundieren, für dessen Beibringung er plädierte. Erst nachdem der Beweis vorlag, war er bereit, zu konstruieren, dass das von den jüdischen Händlern gekaufte Silberwerk aus der Monstranz gebrochen worden war. Dieses Vorgehen des Referenten unterstreicht die Relevanz prozessrechtlich qualifizierter Beweise für die Sachverhaltskonstruktion. Sie stellten ein besseres Fundament für einen Sachverhalt dar als allein das Faktum, dass eine Behauptung zwischen den Parteien unstrittig war. Als nächstes wandte sich der Referent der Frage zu, ob die jüdischen Händler wissentlich das zur gestohlenen Monstranz gehörige Silberwerk gekauft hatten und verneinte dies ausdrücklich, denn „[d]er Goldarbeiter Busch ware bekanntlich ein hieselbst lange Jahre wohnhaft gewesen, und in keinen bößen Ruf bestehender Bürger und da es ohnhie rechtens ist, quod omnis praesumptio Doli exclusiva, so kann eine dergleichen Wissenschaft von denen Juden nicht vermuthet werden. Wie wenig diese Wissenschaft von dem reclamierenden Kloster erwiesen ist“. 678 Das Fundament seiner Ausführungen bildete also kein Beweis, sondern ein fehlender Beweis, resp. die Beweislast. Diese käme laut dem Referenten dem Kloster für die Behauptung zu, die Juden hätten wissentlich agiert. Damit bewegte er sich im Rahmen des frühneuzeitlichen Prozessrechts. Hier war die Beweislastverteilung geregelt worden. Laut dieser kam einer Partei die Beweislast für von ihr aufgestellte Behauptungen zu. 679 Eine Möglichkeit der Beweislastumkehr war es mit Präsumptionen zu argumentieren. Der Referent sicherte sein auf den fehlenden Beweis rekurrierendes Argument dann auch gegen auf 675 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 156, Relation 1, F. 4vf. 676 Ibid., Relation 2, F. 8vf. 677 Ibid., F. 11rf. Zur Zwei-Zeugen-Regel: Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 407; Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 134. 678 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 156, Relation 1, F. 3vf. 679 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 134. <?page no="176"?> 177 Präsumptionen gestützte Kritik ab, indem er seine Kollegen daran erinnerte, dass man am Jülich-Berger Hofrat Betrug nicht präsumieren dürfe. Es wurde dann auch kein Widerspruch artikuliert, sodass der Referent seinen Sachverhalt im Jahre 1788 konkurrenzlos durchsetzte. 680 Es war ab diesem Zeitpunkt also wahr, dass die jüdischen Händler Teile der gestohlenen Monstranz gekauft hatten, jedoch war es ebenfalls wahr, dass sie dies unwissentlich getan hatten. 7.2.2 Urteilsproduktion Die Einigkeit unter den mit dem Fall mandatierten Richtern endete bei der Festlegung der Rechtsfolgen. Der Referent argumentierte, dass es einem Eigentümer zustünde, sein Eigentum von einem Besitzer unentgeltlich zurückzufordern und auch seitens eines Dritten gekauftes Diebesgut könne von dessen Eigentümer zurückgefordert werden. Er verortete diese Position im territorialen normativen Diskurs, indem er erklärte, „[d]aß ein jeder seine Sachen an jeden Ort und und von jeden Besitzeren sein Eigenthum ohnentgeldlich vindiciren [=beanspruchen, Anm. d. A.] mögte, und daß die gestohlenen Sachen sogar von einem Dritten gutläubigen Besitzer nicht anders, als durch eine 30 jährige Zeit Verlauf verjähret werden mögen, ist aus gemeinen Rechten bekannt.“ 681 Der Referent führte weiter aus, dass es sich bei den Käufern um Juden handele und dementsprechend weitere aus dem territorialen normativen Diskurs stammende Aussagen zu bedenken seien, welche auch nicht dem gemeinrechtlichen, sondern dem partikularrechtlich-landesherrlichem Teil des Diskurses entsprangen und spezifisch für Juden galten. „Die hießige Juden ertheilete Concession [= Judengeleitskonzession, Anm. d. A.], wovon ein Exemplum von anno 1779 anliegt 682 , enthaltet in verbis. Ein Jud solle nicht auf Kirchengut und Gezirr, Mobilien, Utensilien, wie die Nahmen haben, viel weniger auf Heiligthum, oder gestohlene Güther bey Vermeidung unserer Straf und Verlierung des Hauptgeldes wissentlich kein Geld hergeben, sondern da ihme einiges Heiligthum oder Kirchen Ornaten, oder auch einige Kleinodien von Gold, Silber, darauf unser Wappen und Zeichen gesetzt, zu Kauffen gebracht 680 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B VII 156 , Relation 2, F. 12v. 681 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 156, Relation 1, F. 11v. 682 Der Referent verortete seine folgenden Ausführungen nicht einfach im normativen Diskurs, sondern bot sogar eine Abschrift des Gesetzestextes dar. Es gilt aber zu bedenken, dass die Geleitskonzession eine sehr spezielle Rechtsmaterie darstellte und dementsprechend nicht vorausgesetzt werden konnte, dass diese dem Kollegium bekannt war. Ferner ist es auch fraglich, inwiefern dieses ohne weiteres Zugriff auf die Geleitskonzession hatte. <?page no="177"?> 178 würden, solches allenfals bey Vermeidung höchster Ungemach und Straf anzuzeigen schuldig sey; Wann aber solches unwissentlich geschehen würde, und derjenige, welcher solche Güter entfremdete, daß sie bemeldten Juden versetzt, oder verkaufft wären, erfahren würde, innerhalb sechs Monaten erscheinen, sich anschiebe, und solche wiederfordere, auch daß ihme solche Güter zuständig wären, erweistet, solle der Jud solche gegen Herausgebung des bloßen ausgelegten Geldes ohne einigen Wucher darauf zu rechenen, sonsten aber, da einigermaßen erwiesen werden sollte, daß er Wissenschaft gehabt, daß es gestohlene Sachen sind, ohne einigen Entgeld herauszugeben, schuldig seyn.“ 683 Der Referent entnahm also dem Jülich-Berger normativen Diskurs eine Aussage, die allein aufgrund des jüdischen Kontextes des Falles zur Bestimmung der Rechtsfolgen herangezogen werden konnte. Diese war unmittelbar - also in unkommentierter Form - einer partikularrechtlichen Ordnung entnommen. Der Referent interpretierte die angezogene Norm, um Mehrdeutigkeiten im Gesetzestext aufzulösen, bevor er den Rechtssatz dann applizierte. 684 Er erklärte, dass in der Konzession festgehalten sei, dass Juden weder Diebes-, noch Kirchengut wissentlich kaufen dürften, wobei er darauf abstellte, dass der Terminus wissentlich auf Diebesgut und Kirchensachen bezogen sei. Der Rechtssatz sei also so zu verstehen, dass Juden die „Herausgebung des blosen ausgelegten Geldes zugebilligt wird“, wenn sie unwissentlich (gestohlenes) Kirchengut kauften. 685 Seine forensische Interpretation des Rechtssatzes war erfolgreich, da keine Kritik an dieser Auslegung seitens seiner Richterkollegen (inklusive des Koreferenten) formuliert wurde. Er hatte mit seinen Argumenten das Kolleg von der Richtigkeit seiner forensischen Interpretation überzeugt, gleichwohl der Koreferent sich den seitens des Referenten festgelegten Rechtsfolgen nicht anschloss, für die diese Auslegung des Rechtssatzes elementar war. Nachdem der Referent definiert hatte, wie er seinen allegierten Rechtssatz verstanden wissen wollte, brachte er diesen und den Sachverhalt zusammen. Da er konstruiert hatte, dass die jüdischen Händler unwissentlich das zur gestohlenen Monstranz zugehörige Silberwerk gekauft hatten, erklärte er, „ich [halte] unmaßgeblich dafür, daß da erwehnte Juden diese Stücke[= Silberwerk, Anm. d. A.] von einen hiesigen damals in keinen bösen Ruf gestandenen Goldarbeiter Busch jene demselben mit allzu guten Glauben des Klosters anvertraute Stucken in Versatz genohmen haben, wegehn ihres erweislich hergeschossenen blöslichen Versatzschillings zu befriedigen seyen.“ 686 683 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 156, Relation 1, F. 11vf. 684 Ibid., F. 11r. 685 Ibid. 686 Ibid. <?page no="178"?> 179 Der Referent sprach sich also für eine entgeltliche Rückgabe des gestohlenen Silbers aus. Er hatte diese Rechtsfolgen dem agonalen Prinzip folgend gut gegen Angriffe seiner Richterkollegen gewappnet und es zeigt sich, dass dies auch notwendig war. Der Koreferent referierte nämlich im Anschluss, dass die Judenschaft nicht allein das Silberwerk unentgeltlich zurückgeben, sondern auch die gesamten Prozesskosten tragen solle. Diese Forderungen waren nicht auf ausführlichen Argumenten fundiert wie beim Referenten, sondern der Koreferent erklärte allein kurz und bündig, dass „[d]ie Judenschaft salvo regressu Busch zur unentgeldlichen Rückgabe der quast: Silberstücken schuldig zu erklären, mithin Karmelitissen die Rucknahme dieser […] deponierten Stücke unentgeldlich zu gestatten und die Judenschaft in alle Proceß und Untersuchungs Kosten […] fällig zu erteilen“ 687 Dieses doch sehr kurz gefasste Urteil sollte nicht reüssieren. Im Jahre 1788 setzte sich der Referent mit seinem Urteil durch. 688 In der Folge hatten die jüdischen Händler zwar eine gestohlene Monstranz erstanden, da sie dies aber unwissentlich getan hatten, waren sie keine Schleichhändler und mussten die gestohlene Waare nur gegen die Erstattung des Kaufpreises dem Kloster zurückgeben. 7.2.3 Zwischenfazit Der Referent in diesem Fall legte die Rechtsfolgen für die Parteien fest, indem er den Sachverhalt mit dem territorialen normativen Diskurs zusammenbrachte. Dabei allegierte er einen judenspezifischen Rechtssatz. Für seine Argumentation war es also von großer Relevanz, dass die Händler Juden waren. Er gab sogar zu erkennen, dass allgemein formulierte und auf gänzlich andere Rechtsfolgen abzielende Rechtssätze im Jülich-Berger normativen Diskurs vorlagen, jedoch sei der spezifisch auf Juden gemünzte Rechtssatz anzuwenden. Es war also im Rahmen der Urteilsproduktion möglich, judenspezifisch zu argumentieren, da in den normativen Diskursen judenspezifische Rechtssätze beheimatet waren. In diesem Fall sollte dies der jüdischen Partei sogar zum Vorteil gereichen, da gerade die Anwendung des judenspezifischen Rechtssatzes das sich für die jüdischen Händler aussprechende Urteil bedingte. Die normative Sonderstellung der Juden diffundierte also in die Rechtspraxis, indem sie dort Urteile bedingte. Dabei resultierten aus der Sonderstellung nicht allein Urteile, welche die Juden beschwerten, sondern diese konnte auch Urteile bedingen, welche für jüdische Parteien günstiger ausfielen. Im nächsten Verfahren wird sich zeigen, warum die frühneuzeitlichen Richter den Beweisen eine solche Relevanz für die Sachverhaltskonstruktion zuwiesen 687 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, Hofrat, B VII 156, „Relation“ 3, F. 12r. Diese wenigen Zeilen bilden die gesamte „Relation“ des Koreferenten. 688 Ibid., Relation 2, F. 12v. <?page no="179"?> 180 und wie mit dem Handelsrecht Rechtsfolgen am Jülich-Berger Hofrat bestimmt wurden. 7.3 Artifizielle Wahrheit - Das Verfahren Schäfer wider Levi Im Jahre 1782 war es zu einem niedergerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht Blankenberg zwischen Johann Schäfer und Moses Levi gekommen. Levi hatte Schäfer wegen einer vermeintlich offenen Schuldforderung aus dem Jahre 1779 verklagt. Er konnte diesbezüglich auch einen Schuldschein über 40 Reichstaler beibringen, der von Schäfer ausgestellt worden war. 689 Nachdem Levi im Laufe des Prozesses verstorben war, agierten seine Erben im weiteren Verfahren als Kläger. 690 Sie brachten einen zweiten Schuldschein bei 691 , laut dem, „Beklagter [Schäfer, Anm. d. A.] bescheinigte, daß Moses bey ihm ein halbes Malter 692 Samen und ein Malter Weizen abgekauft und bezahlt habe, und er ein und anderes gegen Martini liefern werde, welche Lieferung sie aber noch nicht geschehen zu seyn behaupteten.“ 693 Laut den Erben bestand also neben der ersten schon von Moses Levi vor dem Amtsgericht vorgestellten Schuldforderung eine weitere Schuldforderung, da Schäfer eine bereits bezahlte Lieferung noch nicht zugestellt habe. 694 Schäfer hingegen erklärte, schon einen Teil der ersten Schuldforderung im Laufe des Verfahrens getilgt zu haben. Zur Untermauerung dieser Behauptung brachte er Quittungen bei, denen zufolge schon 28 Reichstaler auf den ersten Schuldschein gezahlt worden waren. 695 Ferner behauptete der Beklagte, dass er im Jahre 1780 fünf Malter und sechs Sester Weizen, sowie zwei Malter Korn an den Kläger Moses Levi geliefert habe, womit die restliche aus dem ersten Schuldschein resultierende Schuldforderung getilgt worden sei. 696 Da die klagenden Erben erklärten, dass eine solche Lieferung nicht geschehen sei, präsentierte Schäfer Zeugen - Hinrich Bullenfeld und Heinrich Pütz -, die bestätigen soll- 689 Im Folgenden wird die aus dem ersten von Moses eingereichten Schuldschein resultierende Schuldforderung als erste Schuldforderung bezeichnet. 690 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 5vf. Weiterhin wird der Kläger auch als Levi bezeichnet, da dies der Name der vor Gericht agierenden Partei war. Nur ist im folgenden Text niemals der Verstorbene Levi mit dem Begriff „Levi“ gemeint, sondern allein die Partei. 691 Die aus dem zweiten von Moses‘ Erben beigebrachten Schuldschein resultierende Schuldforderung wird im Folgenden als zweite Schuldforderung bezeichnet. 692 Malter: Volumenmaß für Getreide. Vgl. Verdenhalven, Alte Meß- und Währungssysteme aus dem deutschen Sprachgebiet, 34. 693 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 5r. 694 Ibid., F. 6v. 695 Ibid., F. 6vf. 696 Ibid. <?page no="180"?> 181 ten, dass die Lieferung erfolgt war. 697 Letztlich wurden Pütz, Bullenfeld und Abraham Samuel als Zeugen vor dem Amtsgericht verhört, die auch alle die Lieferung mehr oder minder 698 bestätigten. 699 Der Beklagte Schäfer behauptete ferner, auch die zweite Schuldforderung schon beglichen zu haben, was die Erben Levis bestritten. 700 Er argumentierte, dass der verstorbene Gläubiger den zweiten Schuldschein weder vor noch im Gerichtsverfahren präsentiert oder auch nur angesprochen habe. Erst dessen Erben hätten nach dem Tod Moses Levis den zweiten Schuldschein beim Amtsgericht eingereicht und die auf diesem verzeichnete Schuld eingefordert. Das Verhalten des verstorbenen Erblassers beweise doch, dass er, Schäfer, die Schuld beglichen habe. Auch für diese Behauptung wusste Schäfer eine Zeugin zu präsentieren. Allerdings erschien die als Zeugin vorgeschlagene Tochter Heimann Levis nicht zu ihrem vom Amtsgericht angesetzten Verhör. Da beide Parteien daraufhin auf das Verhör verzichteten, blieb ihr Fernbleiben folgenlos - zumindest für den Moment. 701 Die Erben Levis konnten das Verhalten des Erblassers nicht erklären, bestanden aber weiterhin auf die Rechtmäßigkeit der Schuldforderungen. 702 Damit endete das erstinstanzliche Verfahren. Das Amtsgericht Blankenberg verurteilte Schäfer zur Tilgung der offenen Forderung aus dem ersten Schuldschein, wobei es annahm, dass die Tilgung in Höhe von 28 Reichstalern schon geschehen war. Somit musste Schäfer bezüglich der ersten Schuldforderung nur noch die Restschuld begleichen. Die weiteren Forderungen hingegen sollte er komplett befrieden. 703 Der unterlegene Schuldner Schäfer war mit dem Urteil offenbar unzufrieden und appellierte an den Jülich-Berger Hofrat. 704 Als Beschwerde gegen das erstinstanzliche Urteil formulierte er unter anderem, dass die Erben Levis die Restschuld aus der ersten Schuldforderung falsch berechnet hätten und diese um fünf Reichstaler zu hoch angesetzt worden sei. 705 Die Erben gaben dies auch zu, erklärten jedoch zugleich, dass der rechnerische Fauxpas offensichtlich gewesen sei und mithin das Gericht zu Blankenberg das erstinstanzliche Urteil bezüglich der Höhe der Restschuld schon korrigiert habe. 706 Der Appellant Schäfer wertete hingegen vor dem Hofrat den rechnerischen Fauxpas als einen Betrugsversuch. Darüber hinaus erklärte er vor dem Hofrat nochmals, die Restschuld der ersten 697 Ibid., F. 6r, 7v. 698 Diese Einschränkung wird im nachfolgenden Unterkapitel expliziert werden. 699 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 11 v. 700 Ibid., F. 6r, 7v, 15v. 701 Ibid., F. 16v. 702 Ibid., F. 17v. 703 Ibid., F. 6r, 7v. 704 Ibid., F. 7v. 705 Ibid., F. 8v-9v. 706 Ibid. <?page no="181"?> 182 Schuldforderung mit einer Lieferung von fünf Malter und sechs Sester Weizen sowie zwei Malter Korn beglichen zu haben. 707 Er gab nunmehr weiter an, dass die Lieferung von dem verstorbenen Moses Levi in sein Kaufmannsbuch eingetragen worden sei und einer der Erben - Levi Hirsch - dies auch wüsste. Die Erben bestritten weiterhin die Sachverhaltsbehauptungen des Schuldners und boten an, das Kaufmannsbuch offenzulegen, in dem laut Schäfer der verstorbene Erblasser die angebliche Lieferung verzeichnet habe. 708 Auch die zweite Schuldforderung wurde im Appellationsverfahren erneut thematisiert. Weiterhin gab Schäfer an, auch diese getilgt zu haben. Vor dem Hofrat beschwerte er sich nun, dass im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens das Verhör der Tochter Heimann Levis nicht realisiert wurde, was seine Behauptungen hätte beweisen können. 709 Er behauptete sogar, dass die Erbgemeinschaft Levi die Zeugin vor dem Verhör bei Seite geschafft habe. 710 Allen Beschwerden zum Trotz bestätigte 1791 der Hofrat das erstinstanzliche Urteil. 711 Dem Urteil lag ein Sachverhalt zugrunde, der die beiden im Verfahren besprochenen Schuldforderungen thematisiert. Der Sachverhalt erzählt eine grob in zwei Kapitel eingeteilte Geschichte, wobei je eine Schuldforderung in einem Kapitel behandelt wird. Die folgende Darstellung übernimmt diese Gliederung. 7.3.1 Sachverhaltskonstruktion 1: Die erste Schuldforderung In diesem Verfahren waren sich die mit dem Fall mandatierten Richter bezüglich des Sachverhaltes in jedem Punkt einig. Der Referent erklärte zu Beginn seiner Sachverhaltskonstruktion, dass die erste Schuldforderung schon partiell in Höhe von 28 Reichstalern von Schäfer getilgt worden sei. Ferner habe die Erbgemeinschaft Levi im Zuge des erstinstanzlichen Verfahrens die Restschuld falsch berechnet. Damit übernahm er die Sachverhaltsbehauptungen Schäfers. Er argumentierte, dass Levi 712 diesen nicht nur nicht widersprochen, sondern sogar zugestimmt habe - die Behauptung somit unstrittig sei. Laut frühneuzeitlichem Prozessrecht bedurfte es Beweise nur für bestrittene Behauptungen. Eine unbestrittene Behauptung musste auch nicht bewiesen werden. 713 Er führte gleichwohl ein weiteres Argument für diesen Sachverhalt an. Das Amt Blanken- 707 Ibid., F. 10vff. 708 Ibid., F. 14r, 15v. 709 Ibid., F. 16vff. 710 Ibid., F. 15rf. 711 Ibid., Relation 2, F. 22r-27r. 712 Gemeint ist die Partei; also sowohl der Erblasser vor seinem Ableben als auch dessen Erben nach seinem Ableben. Die Bezeichnung wird im Folgenden zur Bennenung der erstinstanzlichen Kläger und nunmehrigen Appelaten genutzt. 713 Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 401, <?page no="182"?> 183 berg habe den Rechenfehler schon im erstinstanzlichen Urteil korrigiert, was dessen Existenz einwandfrei beweise. 714 Der Referent wandte sich anschließend der angeblich noch offenen Restschuld aus der ersten Schuldforderung zu, bezüglich der Schäfer behauptete, diese schon mit einer Getreidelieferung beglichen zu haben. Für diese Behauptung hatte Schäfer drei Zeugen - Pütz, Bullenfeld und Samuel - präsentiert, die alle mehr oder minder ausgesagt hatten, dass die Restschuld schon beglichen worden sei. Laut Zwei-Zeugen-Regel lag also ein voller Beweis für die Behauptungen Schäfers vor. 715 Der Referent besprach nun die drei Zeugenaussagen ausführlich und argumentierte dabei, dass diese nur bedingt die Sachverhaltsbehauptung Schäfers stützten. Um dessen Ausführungen zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass Zeugenverhöre in frühneuzeitlichen Zivilprozessen unter Abwesenheit der Parteien durchgeführt wurden. Diese hatten nur die Möglichkeit, schriftlich niedergeschriebene Fragen einzureichen, die als Leitfaden des Verhörs fungierten. Die Zeugen wurden also im Verhör bezüglich der von den Parteien eingereichten Fragestücke befragt und das Ergebnis dieser Befragung bildete ihre Aussage. 716 Der Referent wandte sich in seinem Referat zuerst der Zeugenaussage Bullenfelds zu und erklärte, dass dieser auf die Fragen Schäfers ausgesagt habe, Levi mehrfach Korn und Weizen geliefert zu haben, während er auf die Fragen Levis geantwortet habe, nur ein einziges Mal Weizen an Levi geliefert zu haben. Da sich der Zeuge bezüglich der Anzahl der Lieferungen selbst widersprochen habe, sei die auf eine Lieferung begrenzte Aussage für richtig anzunehmen. 717 Danach erörterte er die Aussage des Zeugen Pütz‘. Dieser habe ebenfalls im Verhör erklärt, eine Weizenlieferung Levi zugestellt zu haben. Allerdings würden die beiden Zeugen nicht behaupten, zusammen den Weizen geliefert zu haben. 718 Der Referent deduzierte, dass „[d]urch diese beyden Zeugen […] also zwey verschiedene Weizenlieferungen bewahrheitet [seien], und da jede Weizenlieferung nur von einem Zeugen bewahrheitet wird, so ist jede Lieferung halb bewiesen.“ 719 Die Aussagen Pütz‘ und Bullenfelds ergäben also keinen vollen Beweis für die Behauptung Schäfers, da sie nicht miteinander kombiniert werden könnten. Abschließend besprach er die Aussage Samuels und argumentierte, dass 714 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 9rf. 715 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 134; Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 407. 716 Ibid. 717 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 11v. 718 Ibid., F. 11rf. 719 Ibid., F. 12v. Zur Vollständigkeit eines Zeugenbeweises durch zwei geführte Zeugen siehe: Stammler, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 407. <?page no="183"?> 184 „[d]urch diese zwey verschiedenen Fall erwiesenen Fruchtlieferungen [durch die Aussagen Bullenfelds und Pütz‘, Anm. d. A.] ist aber die Fruchtlieferung in genese bewiesen, zumal da die Aussage des [? ? ? ] Juden Abraham Samuel noch hinzu kommt, daß im Jahr 1780 der Appellant [Schäfer Anm. d. A.] den Moses Levi einmal 1 ½ Malter Weizen liefern wollen, dessen Knecht [Pütz oder Bullenfeld, Anm. d. A.] demselben aber nur 1. Malter zugebracht, und noch mehrere ungefüllte Säcke ein oder zwey an der Zahl auf dem Karren liegen gehabt, welche derselb bey dem Juden Moses Levi abgeladen, ohne daß er Zeuge [Samuel, Anm. d. A.] wisse, was darin gewesen.“ 720 Der Richter argumentierte, dass für eine der von Pütz und Bullenfeld halb bezeugten Warenlieferungen mit der Aussage Samuels eine weitere Zeugenaussage vorläge, sodass ein voller Beweis für diese existiere. Allerdings führte er weiter aus, dass die Zeugenaussagen bezüglich der Menge des gelieferten Getreides voneinander abwichen, sodass zwar ein voller Beweis dafür vorläge, dass eine Warenlieferung geschehen sei, nicht aber für den Umfang der Lieferung. 721 Der Referent war nun nicht daran interessiert, dieses Problem zu lösen, sondern er argumentierte weiter, dass zwar alle drei Zeugen ausgesagt hätten, es seien Warenlieferungen geschehen, jedoch habe keiner den Zweck der Lieferungen angegeben. Es sei also allein voll bewiesen, dass eine Lieferung unbekannten Umfanges von Schäfer an Levi gesandt wurde, aber es sei nicht einmal halb bewiesen, dass mit der Lieferung die noch offene Restschuld der ersten Schuldforderung beglichen werden sollte. 722 Nun sei „[d]ie Unwahrscheinlichkeit dieses Angebens [dass die Lieferung zur Tilgung der offenen Restschuld getätigt wurde, Anm. d. A.] […] von daher auffallend, daß Appellant [Schäfer, Anm. d. A.] während dem Prozesse auf die Schuld 28 Reichstaler abgeführet hat, er aber auf diese Weise offenbar zuviel zahlt hätte, indem der Werth der gelieferten 5 Malter, 6 Sester Weizen, sodann 2 Malter Korn den Rest der Schuld stark 21 Reichstaler 45 Stüber 723 übersteigen würde, da doch eine solche Überbezahlung von einem Schuldner, welcher sich durch richterliche Zwangsmit- 720 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 12vf. 721 Ibid. 722 Ibid., F. 13rf. 723 Freilich übersteigt die Rechnung des Referenten die bis hierhin erwähnte Schuldsumme von 40 Reichstalern deutlich. Allerdings beinhaltete die Berechnung des Referenten die Zinsen. Die 40 Reichstaler sind die Hauptschuld ohne Zinsen. Dies erklärt die Diskrepanz zwischen der vom Referenten angeführten Schuldforderung von 40 Reichstalern und die in diesem Zitat ausgeführte Berechnung der Restschuld. <?page no="184"?> 185 teln zur schuldigen Zahlung vermögen läßt, gar nicht einmal zu denken ist.“ 724 Nunmehr argumentierte der Referent also mit einer Präsumption dafür, dass die bewiesene Warenlieferung nicht dem Zweck gedient haben könne, die Restschuld aus der ersten Schuldforderung zu begleichen. Er zeigte auf, dass eine die eigentliche Schuldsumme übersteigende Tilgung mit Blick auf die Lebenserfahrung nicht zu vermuten sei. Stattdessen sei die Lieferung zur Begleichung einer anderen Schuldforderung Levis gegen Schäfer gedacht gewesen. So habe Levi in das erstinstanzliche Verfahren bereits von Schäfer getilgte Schuldscheine eingebracht. Für eben deren Befriedung sei die Warenlieferung verwandt worden. 725 Der Referent hatte bis hierhin argumentiert, dass die von Levi eingeklagte erste Schuldforderung rechtens war, dass Schäfer diese im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens partiell beglichen hätte und dass Schäfer ferner schon vor dem erstinstanzlichen Prozess Levi eine Getreidelieferung gesandt hätte, welche jedoch für die Begleichung einer anderen Schuld Schäfers gedacht gewesen sei. Der Referent weigerte sich jedoch, dies abschließend als Sachverhalt zu konstruieren. Dieser wies nämlich den Makel auf, dass der Referent nicht auf einen vollen Beweis basierend den Zweck der Getreidelieferung konstruieren konnte, sondern allein mit einer Präsumptio und den von Levi beigebrachten Schuldscheinen den von Schäfer postulierten Zweck verneinen konnte. Da die gerichtlichen Wahrheitsprodukionen am Jülich-Berger Hofrat dem agonalen Prinzip unterworfen und folglich debattiv ausgestaltet waren, konnte er also antizipieren, dass dieser Makel Kritik oder Widerspruch seitens seines Koreferenten oder eines Richterkollegen hätte evozieren können, da Beweise die grundlegenden Bausteine der Sachverhaltskonstruktion darstellen sollten. Anstelle also seinen argumentativ herausgestellten Sachverhalt abschließend zu konstruieren, blickte der Referent auf die Beweislage und erklärte, dass im Laufe des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens diesbezügliche Beweise von Schäfer gefordert worden seien, ohne dass er welche hätte beibringen können. Dementsprechend sei davon auszugehen, dass er keine mehr besäße und man also auch von diesen keine weiteren mehr fordern könne. 726 Dahingegen habe Schäfer im Appellationsverfahren behauptet, dass der verstorbene Erblasser Levi die Tilgung der Restschuld durch die Warenlieferung in seinem Kaufmannsbuch verzeichnet habe und einer der Erben Levis - Levi Hirsch - dies auch wüsste. Demnach bestünde also die Möglichkeit, dass die Erbgemeinschaft Levi noch Beweise dafür in Händen hielt, dass mit der Getreidelieferung tatsächlich die erste Schuldforderung beglichen worden war. Der Referent forderte nun die Offenlegung des Kaufmannsbuches, welches laut seinen Ausführungen den 724 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 10vf. 725 Ibid., F. 14v. Offensichtlich übernahm er hier eine von dem Kläger im erstinstanzlichen Verfahren schon geführte Argumentation. 726 Ibid., F. 15vf. <?page no="185"?> 186 einzigen vollen Beweis bildete, mit dem der Zweck der Getreidelieferungen prozessrechtlich abgesichert konstruiert werden konnte (da Levi Hirschs Aussage allein laut frühneuzeitlichem Prozessrecht keinen vollen Beweis bilden konnte). 727 Der Hofrat goutierte die Forderung, der Prozess wurde fortgesetzt und das Kaufmannsbuch offengelegt. 728 Es mag widersprüchlich anmuten, dass der Referent einen Beweis forderte, der laut Schäfer seiner eigenen, bis hierhin behelfsmäßigen Sachverhaltskonstruktion widersprechen konnte, aber der Fortgang seines Referats nach der Beendigung der neu angesetzten Beweisaufnahme demonstriert, warum er die Offenlegung des Buches gefordert hatte. Der Referent referierte nämlich, dass in dem Kaufmannsbuch kein Beweis für eine Tilgung der Restschuld zu finden sei. Es sei eben nicht von dem verstorbenen Erblasser Levi verzeichnet worden, dass mit der Getreidelieferung die offene Restschuld aus dem ersten Schuldschein getilgt worden war. 729 Der geforderte Beweis widersprach also - allen Beteuerungen Schäfers zum Trotz - nicht den Behauptungen Levis und ebenso wenig den vorangegangenen Ausführungen des Referenten. Der Referent hatte in seinen vorangegangenen Ausführungen argumentiert, dass es bezüglich des Zwecks der Getreidelieferung keine anderen Beweise als das Buch mehr gäbe. Dies stelle folglich den entscheidenen Baustein für die Konstruktion des Zwecks dar. Mit dem Buch hätte er also den Zweck konstruieren können, allerdings hatte Schäfer im Rahmen des fortgesetzten Appelationsprozesses der Argumentation mit dem Kaufmannsbuch eine Hürde in den Weg gestellt. Schäfer hatte nämlich erklärt, dass das Kaufmannsbuch schlecht geführt worden sei. Es wären Empfang und Ausgaben von Levi nicht notiert worden. Da dieser Umstand auch seitens seiner Richterkollegen gegen das Kaufmannbuch als entscheidenden Baustein der Sachverhaltskonstruktion gewandt werden konnte, entkräftete der Referent präventiv darauf fußende Argumente. Er erklärte, dass das Kaufmannsbuch zwar tatsächlich aufgrund der formalen Mängel keinen Beweis für die aus dem ersten Schuldschein resultierende Schuld ausmachen könne. 730 Allerdings solle das Buch allein als Beweis für die von Schäfer postulierte Tilgung der Schuld fungieren. Dies aber beweise das Buch nicht, womit die Behauptung Schäfers über den Zweck der Warenlieferung unbewiesen sei. Es wäre nun unzulässig, basierend auf dem Buch die Echtheit der ersten Schuldforderung generell anzuzweifeln, da die Schuld schon bewiesen und das Buch zu einem anderen Zwecke offengelegt worden sei. 731 Nach diesen Ausführungen konstruierte der Referent abschließend basierend auf seiner bisherigen Argumentation, dass Schäfer die von Levi eingeklagte Schuld aufgenommen, im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens partiell beglichen, den Rest der Schuld 727 Ibid., F. 14rf. 728 Ibid., Relation 2, F. 21v -23v. 729 Ibid. 730 Ibid., F. 23r. 731 Ibid. <?page no="186"?> 187 jedoch nicht mit der tatsächlich geschehen Warenlieferung befriedet habe und folglich noch eine Restschuld offen sei. 732 Der Referent hatte sich viel Mühe gegeben den schwächsten Teil seiner Sachverhaltskonstruktion auf ein ordentliches Fundament zu stellen. Die Existenz der Schuld sowie die partielle Begleichung war auf vollen Beweisen basierend erzählbar, ebenso lies sich auf Basis eines vollen Beweises erzählen, dass Schäfer Levi Waren gesandt hatte. Der Zweck der Lieferung war hingegen fraglich und auch wenn der Referent plausible Argumente vorzulegen wusste, dass diese nicht wie von Schäfer behauptet zur Tilgung der ersten Schuldforderung gedient habe, reichten diese ihm nicht. Er forderte einen Beweis ein, mittels dem er letztlich den Zweck konstruieren konnte. Bemerkenswert ist, dass der Referent nicht einfach einen Beweis forderte, sondern zugleich argumentierte, dass der von ihm geforerte Beweis der einzig einforderbare Beweis für die Bestimmung des Zwecks sei. Erst so bekam das Buch den Wert für seine Argumentation. Das Vorgehen des Referenten trug Früchte. Er überzeugte das Kollegium, welches am 07.07.1791 widerspruch- und kritiklos dem Referenten bezüglich der Konstruktion der ersten Schuldforderung zustimmte. 733 7.3.2 Sachverhaltskonstruktion 2: Die zweite Schuldforderung Nun hatte Levi im Laufe des Verfahrens noch eine zweite Schuldforderung eingeklagt, deren Begleichung Schäfer ebenso wie die Befriedung der ersten behauptete. Die Referenten konstruierten weiterhin im Einklang auch den Sachverhalt bezüglich der zweiten Schuldforderung. Der Referent trug dem Kollegium vor, dass die zweite Schuld ebenfals noch nicht von Schäfer beglichen beglichen worden sei. Am Anfang seines Referats wandte sich der Referent einem beweistechnischen Problem zu. So sollte im ersten Verfahren eine Zeugin, die Tochter Heimann Levis; verhört werden, die dann jedoch nicht zum angesetzten Termin erschienen war, woraufhin auf ihr Verhör verzichtet wurde. Schäfer hatte dann während des Appellationsverfahrens behauptet, Levi habe sie an ihrem Erscheinen gehindert, da sie die Tilgung der zweiten Schuldforderung bezeugt hätte. Der Referent desavouierte diese Behauptung mit der Begründung, dass sie unbewiesen und somit davon auszugehen sei, dass die Zeugin aus freien Stücken nicht zum Verhör erschienen sei und somit aus ihrer Abwesenheit nicht auf den möglichen Inhalt ihrer Aussage geschlossen werden könne. 734 Der Referent parierte so präventiv mögliche diesbezügliche Beweisforderungen seiner Kollegen, die dann auch nicht erhoben wurden. Er setzte im weiteren Verlauf seines Referats voraus, dass Schäfer tatsächlich die zweite Schuld aufgenommen hatte, vermutlich da dies zwischen den Parteien 732 Ibid., F. 23vff. 733 Ibid., F. 27r. 734 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 16vf. <?page no="187"?> 188 nicht nur nicht strittig war, sondern beide Parteien dezidiert in ihren Sachverhaltsbehauptungen deren Aufnahme bejahten - so behauptete die Erbgemeinschaft, dass die Schuld nicht beglichen worden sei, während Schäfer vorgab, diese schon befriedet zu haben. Der Referent argumentierte nun, dass Schäfer durchaus plausibel dargestellt habe, dass der verstorbene Erblasser Levi den zweiten Schuldschein nie präsentiert habe, weil die Forderung schon getilgt worden sei. Immerhin habe der Erblasser die Klage wegen des ersten Schuldscheins bis zum Äußersten getrieben, den zweiten Schuldschein hingegen vor Gericht nie erwähnt. Erst dessen Erben hätten diesen vor Gericht gebracht. Der Referent führte weiter aus, dass auch die Erben nicht erklären könnten, warum der Erblasser den zweiten Schuldschein nie vor Gericht erwähnt hatte. Aus diesen Gründen sei die Behauptung Schäfers also plausibel, dass der zweite Schuldschein von dem Erblasser nie präsentiert worden sei, da er schon getilgt worden wäre, bevor das Verfahren wegen des ersten Schuldscheins begonnen hatte. 735 Der mit dem Fall mandatierte Richter argumentierte weiter, dass die Sachverhaltsbehauptung Schäfers zwar plausibel, jedoch unbewiesen sei. Dahingegen sei die bezüglich des zweiten Schuldscheins aufgestellte Sachverhaltsbehauptung der Erbgemeinschaft Levi zwar lückenhaft - so konnte auch sie nicht erklären, warum der Erblasser nie wegen des zweiten Schuldscheins gerichtlich aktiv geworden war - allerdings hätten sie einen vollständigen Beweis für ihre Sachverhaltsbehauptung beigebracht. 736 So habe die Erbgemeinschaft den zweiten Schuldschein dem Gericht vorgelegt, der nicht als getilgt gekennzeichnet sei und aus prozessrechtlicher Perspektive als vollständiger Beweis für die legitime Schuldforderung fungieren könne. 737 Der Referent konstruierte, dass auch die zweite Schuldforderung von Schäfer nicht beglichen worden sei, da sie laut Schuldschein noch offen sei. Entscheidend für seine Sachverhaltskonstruktion war, dass Levi Beweise für seine Behauptungen vorgelegt hatte, während Schäfers Angaben zwar plausibel aber nicht durch Beweise gestützt waren. Auch hier zeigt sich die Relevanz der Beweise für gerichtliche Sachverhaltskonstruktionen, deren Wichtigkeit der Referent im letzten Abschnitt seines Referats in bemerkenswerter Weise mit der Frage betonte, „[w]arum hat Appellant [Schäfer, Anm. d. A.] sich nicht mit Quittungen versehen, wenn er Zahlungen verfüget hat? […] Er mag es sich selbst aufbürden, wenn der Richter, welcher nur nach Beweisen zu Werk gehen kann, ihn unschuldiger Weise verurtheilen sollte.“ 738 735 Ibid., F. 17v. 736 Ibid., F. 17v. 737 Ibid. Vgl. Adenauer, “Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810,” 77f. 738 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 18vf. <?page no="188"?> 189 Hiermit führte der Referent seinen Kollegen dezidiert vor Augen, dass allein Beweise die entscheidenden Bausteine für die Sachverhaltskonstruktion darstellten, selbst wenn die auf ihnen basierte Geschichte weniger plausibel war als eine die Beweise ignorierende. Deswegen sei also der von ihm konstruierte, die Beweise beachtende Sachverhalt zu akzeptieren, auch wenn die Sachverhaltsbehauptungen Schäfers eine plausiblere Geschichte erzählten. Der Referent verwies mit seinen Ausführungen zugleich auf die Möglichkeit, dass der von ihm konstruierte Sachverhalt von den tatsächlichen Geschehnissen abwich. So wahrscheinlich eine Abweichung auch sei, das Kolleg müsse trotzdessen seiner Konstruktion folgen und den Sachverhalt im Urteil als Wahrheit verkünden, da er den Beweisen entspräche. Die Wahrheit eines Sachverhaltes hing nicht davon ab, dass dieser sich tatsächlich ereignet hatte, sondern sie folgte aus dessen Fundierung auf Beweisen. Im Jülich-Berger Urteilsdiskurs wurden Sachverhalte nicht wahr, da sie geschehen waren, sondern da sie auf Basis der Beweise konstruiert und dann seitens des Kollegs nach den Vorträgen der Referenten akzeptiert wurden. Es war also dem Hofrat gar nicht möglich, in einem Urteil einen unwahren Sachverhalt zu artikulieren, da dessen Wahrheit nicht in seiner Faktizität, sondern seinem argumentativen Fundament gründete. Die Ausführungen des Referenten demonstrieren, dass die damaligen Richter sich des artifiziellen Charakters ihrer Sachverhaltskonstruktionen bewusst waren. Dabei erklärte der Referent zugleich, warum der Urteilsdiskurs so beschaffen war. Für die Beweislage seien die Parteien zuständig. Sie sollten die Bausteine produzieren, mit denen die Richter die Sachverhalte konstruierten und somit obläge es ihnen, Beweise vorzulegen, mit denen eine den tatsächlichen Geschehnissen entsprechende Geschichte konstruiert werden könnte. Laut den Ausführungen des Referenten setzten die Parteien mit ihren Beweisbeibringungen den gerichtlichen Sachverhaltskonstruktionen (diskursive) Grenzen. Die Parteien seien also letztlich für eine Diskrepanz zwischen gerichtlich konstruiertem Sachverhalt und tatsächlichem Geschehen selbst verantwortlich. Die spezifische - auf Beweise rekurrierende - Ausgestaltung des Urteilsdiskurses besorgte nicht notwendigerweise die Übereinstimmung der in ihm konstruierten Sachverhalte mit den tatsächlichen Geschehnissen. Sie band aber diejenigen, über die Gerichte Wahrheiten produzierten, in großem Maße in die Wahrheitsproduktion mit ein - sie waren für die Grenzen des Konstruierbaren verantwortlich. Mit den oben angeführten zwei Sätzen hatte der Referent also seinen Kollegen und uns viel über die Beschaffenheiten des Urteilsdiskurses erzählt. Da nun seine Sachverhaltskonstruktion unwidersprochen seitens des Kollegs auch in diesem Punkt angenommen wurde, lässt sich konstatieren, dass seine Kollegen seine Einschätzung ihrer Arbeit folgten: Gerichtlich produzierte Wahrheit war allein auf prozessrechtlichen Beweisen rekurrierende Wahrheit. <?page no="189"?> 190 Der Referent hätte seinen Vortrag wohl an dieser Stelle beenden können, hatte er doch seine essentiellen Argumente präsentiert und einen - wenn auch nicht vollends plausiblen - Sachverhalt konstruiert. Er hatte aber noch einen Nachsatz zu seinen vorigen Ausführungen vorbereitet, den er am Ende seines Referats seinen Kollegen präsentierte. „Christen glauben von Juden immer überlistet und betrogen zu werden, ihre Nachlässigkeit ist also doppelt unerzielich, wenn sie mit Juden handeln, und denselben liefern und zuthun ohne sich davon Beweise geben zu lassen.“ 739 Dieser Satz unterstreicht das schon vorhergehende Argument, dass für Schäfers zwar durchaus überzeugende Behauptung keine Beweise vorlägen und Richter auf Basis der Beweise Sachverhalte konstruieren müssten. Im Kontext dieser Arbeit ist es jedoch bemerkenswerter, dass der Referent davon spricht, dass Christen glauben würden, Juden betrögen sie. Am Kurkölner Hofrat herrschte ein anderer Tonfall. Dort konstatierte man den betrügerischen Charakter der Juden. 740 Am Jülich-Berger Hofrat durfte man die Präsumptio doli nicht nutzen, konnte auch bei Juden Betrug also nicht präsumieren. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts taucht dann sogar eine Aussage auf, die den generallisierenden Vorwurf, Juden seien Betrüger, mit einer gewissen Skepsis anspricht. In dieser Aussage manifestiert sich das deutlich judenfreunlichere Klima, welches am Jülich-Berger im Vergleich zum Kurkölner Hofrat vorherrschte. Der Referent erzählte in seinem Referat, dass die erste Schuldforderung partiell getilgt worden sei, während die Restschuld noch offen sei. Bei der Berechnung der Restschuld sei nun Levi ein Fehler unterlaufen, der allerdings bereits im erstinstanzlichen Urteil korrigiert worden sei. Die zweite Schuldforderung sei ebenfalls noch nicht befriedet worden. Nun galt es die Rechtsfolgen für die Parteien zu produzieren. 7.3.3 Urteilsproduktion Auch bei der Beurteilung des von ihnen konstruierten Sachverhaltes waren sich die beiden mit dem Fall mandatierten Richter einig. Der Referent wandte sich in seinem Referat eingangs der Frage zu, wie der Umstand zu bewerten sei, dass Levi die Restschuld aus der partiell beglichenen ersten Schuldforderung nach der Beendigung des erstinstanzlichen Verfahrens falsch berechnet hatte. Für den damaligen Beklagten Schäfer lag die Sache klar auf der Hand: Levi hatte sich in betrügerischer Absicht verrechnet und müsse dafür strafrechtlich verfolgt werden. 741 Nun war Schäfers Forderung in der Zeit nicht unüblich und auch nicht 739 Ibid., F. 18vr. 740 Vgl. z.B. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III, Nr. II S 111, Relation 5, F. 30r. 741 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B IV 162, Relation 1, F. 8rf. <?page no="190"?> 191 allein Juden waren solchen Vorwürfen ausgesetzt. Auch in Verfahren vor dem Reichskammergericht berührten Wechselklagen aufgrund von vermeintlichen Wechselbetrügereien die Sphäre des Strafrechts. 742 Allerdings gingen die Reichsrichter mit der Einschätzung eines Wechselbetruges selbst bei unlauteren Geschäftspraktiken restriktiv um. 743 Auch der Jülich-Berger Referent argumentierte dafür, dass die jüdische Partei nicht versucht habe, zu betrügen. 744 So sei Schäfers Wertung der falschen Berechnung als Betrug „bodenloß, indem bey einen dergestalt in die Augen springenden [? ? ? ] [Handlung, Anm. d, A.] kein Arglist, sondern ein bloßer Verstoß zu vermuthen ist.“ 745 Der Referent erklärte also, dass Levi nicht arglistig und folglich auch nicht betrügerisch gehandelt habe. Damit implizierte er auch, dass Arglist ein elementarer Bestandteil des Betruges sei. Für diese Einschätzung bot er keine Argumente dar. Allerdings wurde dessen Einschätzung von zeitgenössischen Rechtsgelehrten durchaus geteilt. So erklärte der Rechtsgelehrte Altimarius, „Dolus significat omnem decetionem [Täuschung Anm. d. A.] quae alium in errorem inducendi gratia fit.“ 746 Die Argumentation des Referenten bewegte sich also im Einklang mit dem materiellen Recht der Zeit. Auch laut diesem konnte ein einfacher Fehler - wie eine falsche Berechnung - allein keinen Betrug darstellen. Die Handlung - im vorliegenden Fall also die falsche Berechnung - musste ausgeführt worden sein, mit der Absicht einen Dritten zu täuschen. 747 Die nur lose auf das Recht referierende Argumentation des Referenten überzeugte dessen Kollegen. So ist aus den Reihen des Kollegs kein Widerspruch zu vernehmen. Der Referent sprach sich im folgenden Teil seines Referats zwar ohne Darbietung expliziter Argumente dafür aus, das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen und Schäfer die Begleichung der Restschuld der ersten Schuldforderurng aufzuerlegen. 748 Allerdings subsumierte er seinen Sachverhalt unter das zeitgenössische Vertragsrecht. Mit dem usus modernus pandectarum war das bekannte Rechtsprinzip pacta sunt servanda 749 auf verschiedene Vertragstypen ausgeweitet worden. Genauer gesagt wurden Unterscheidungen von verschiedenen Vertragsarten von den Juristen in dieser Zeit aufgehoben, sodass das Rechtsprinzip auf alle obligatorischen Verträge anwendbar wurde. 750 Die vom Referenten angedachten 742 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, 404f. 743 Ibid., 404. 744 Zum Betrug im Obligationenrecht: Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500 - 1800), 420. 745 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, B IV 162, Relation 1, F. 9r. 746 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 420. 747 Ibid. 748 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg, B IV 162, Relation 1, F. 9rf, Relation 2 F. 23rf. 749 Übersetzung durch den Autor: Verträge sind zu erfüllen. 750 Coing, Europäisches Privatrecht. 1. Älteres gemeines Recht (1500-1800), 397. <?page no="191"?> 192 Rechtsfolgen setzten diese Position um. Mit der begrifflichen Subsumption verwies er also auf den vertragsrechtlichen Teil des Jülich-Berger normativen Diskurses, in dem in der Zeit eine Position reüssierte, die seine geforderte Rechtsfolge stützte. Er argumentierte dann auch nicht mit einer Rechtsallegation, sondern setzte die vertragsrechtlichen Normen, auf denen die Subsumtion referierte, als bekannt voraus. Er legte als Rechtsfolge für die zweite Schuldforderung fest, dass Schäfer diese vollständig begleichen sollte. Als Argument diente wie schon zuvor allein die Subsumption der Geschichte unter das Vertragsrecht. Er argumentierte also letztlich analog für die Rechtsfolgen aus der ersten und der zweiten Schuldforderung. 751 1791 setzten sich die beiden Referenten unwidersprochen und kritiklos mit ihrem Urteil durch. 752 7.3.4 Zwischenfazit Im Zuge dieses Verfahrens wurden gleich zwei Aussagen in den Urteilsdiskurs eingeschrieben, welche allesamt die Relevanz der Beweise für die Sachverhaltskonstruktionen apostrophieren. Die Aussagen sprechen Beweise als das alleinige Fundament der Sachverhaltskonstruktion an. Zugleich erklären sie, dass eine Sachverhaltskonstruktion nicht mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmen musste, sondern allein das Resultat der Beweislage sein sollte. Dies bedeutet zum einen, dass auch frühneuzeitliche Richter nicht glaubten, in ihren Urteilen die Wirklichkeit notwendigerweise abzubilden. Zum anderen verorten die Aussagen die Schuld für eine Diskrepanz zwischen Sachverhaltskonstruktion und tatsächlichen Ereignissen bei den Parteien. Sie legen nämlich zugleich dar, dass die Parteien dafür zu sorgen hätten, dass alle relevanten und nötigen Beweise dem Gericht vorlagen. Konnten Parteien ihre Sachverhaltsbehauptungen nicht beweisen, obwohl diese die tatsächlichen Ereignisse wiedergaben, so sei es die Schuld der Parteien, dass die gerichtliche Wahrheitsproduktion eine andere, von der Wirklichkeit abweichende Wahrheit hervorbrachte. Beweise waren das Fundament der gerichtlichen Sachverhaltskonstruktionen, weil so denjenigen, über die Gerichte Wahrheiten produzierten, die Macht zugesprochen wurde, die Grenzen der diese betreffenden Wahrheitsproduktionen zu definieren. Es gilt ferner die letzte Aussage des Referenten im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion zu betrachten. Diese warf ganz im Geiste der Aufklärung die Frage auf, warum Christen zwar immer behaupten würden, dass sie von Juden betrogen worden seien, aber nur selten Beweise dafür vorlegen könnten. Ende des 18. Jahrhunderts war es also möglich, einen solchen Satz über das christlich-jüdische Verhältnis in den Jülich-Berger Urteilsdiskurs einzuschreiben. Im ca. 80 Kilometer weit entfernten kurkölnischen Bonn war man Welten von der Artikulati- 751 Ibid., Relation 1, F. 17vf, 20r, Relation 2, F. 27r. 752 Ibid., Relation 2, F. 27r. <?page no="192"?> 193 on eines solchen Satzes entfernt. Es zeigt sich also, dass sich die bis hierhin analysierten Diskurse gerade in Bezug auf den Umgang mit Juden unterschieden. Während in dem Einen noch Ende des 18. Jahrhunderts der vermeintlich betrügerische Charakter von Juden herausgestellt wurde, hatten derartige Aussagen in dem Anderen keinen Platz. Stattdessen tauchen in dem Jülich-Berger Urteilsdiskurs Aussagen auf, die den vermeintlich betrügerischen, jüdischen Charakter nicht als Tatsache, sondern als christliches Postulat beschreiben, welches Christen zwar immer wieder artikulieren würden, jedoch nie beweisen könnten. 7.4 Fazit In diesem Kapitel wurde für drei Verfahren vor dem Jülich-Berger Hofrat der Vorhang gelüftet, sodass die Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen des Jülich-Berger Hofrates in den Blick gerieten. Letztlich zeigt sich, dass dessen Wahrheitsproduktion in vielen Punkten analog zur Kurkölner ausgestaltet war. Es waren für die Sachverhaltskonstruktion auch am Jülich-Berger Hofrat prozessrechtlich qualifizierte Beweise grundlegend. Sie bildeten das Gerüst der von einem Sachverhalt erzählten Geschichte. Es gilt jedoch zwischen vollen und halben Beweisen zu differenzieren. Die Argumentation für eine Geschichte war unproblematisch, wenn auf volle Beweise zurückgegriffen werden konnte und es keine Gegenbeweise zu berücksichtigen galt. War die Beweislage hingegen problematisch, da kaum volle Beweise vorlagen oder Gegenbeweise existierten, so konnte das agonale Prinzip die Artikulation von Widerspruch gegen eine auf einer solchen Beweislage rekurrierenden Geschichtserzählung evozieren. Auch im Jülich-Berger Hofrat führte das agonale Prinzip gerade dann zu Debatten unter den Richtern oder zu ausufernden Argumentationen der Referenten, wenn die Beweislage in einem Fall problematisch war. Das agonale Prinzip diente also nicht dazu, starke, auf vollen Beweisen fußende Sachverhaltskonstruktionen zu erörtern, sondern schwache, auf einer problematischen Beweislage rekurrierende Sachverhaltskonstruktionen zu problematisieren. Ließ sich für den Kurkölner Urteilsdiskurs die Relevanz der (vollen) Beweise für die Sachverhaltskonstruktion nur durch die Dekonstruktion der richterlichen Argumentationen offenlegen, so tauchen im Jülich-Berger Urteilsdiskurs Aussagen auf, die selbst die Relevanz der Beweise behaupten. Sie erklären, dass Sachverhaltskonstruktionen letztlich auf solchen gründen müssen. Dabei beschäftigen sie sich zugleich mit der möglichen Diskrepanz zwischen dem tatsächlich Geschehenen und einem konstruierten Sachverhalt. Eine Abweichung der gerichtlichen Wahrheitsproduktion von dem tatsächlich Geschehenen sei allein das Resultat einer unklaren oder fehlerhaften Beweislage. Damit unterstreichen die Aussagen zum einen die Relevanz des Beweises für die Sachverhaltskonstruktion. Zum anderen zeugen diese Aussagen davon, dass schon frühneuzeitliche Richter ob der Diskrepanz wussten und nicht davon ausgingen, dass ihre Wahr- <?page no="193"?> 194 heitsproduktionen notwendigerweise die Wirklichkeit abbildeten. Relevanter ist aber, dass die Aussagen offenlegen, warum gerade prozessrechtlich definierte Beweise das Gerüst einer von einem Sachverhalt erzählten Geschichte bilden sollten. Für die Beweislage seien die Parteien verantwortlich, sodass sie auch die Verantwortung dafür trügen, dass eine gerichtlich produzierte Wahrheit von den tatsächlichen Ereignissen abweiche. Sie hätten dann nicht genügend und vor allem nicht die notwendigen Beweise beigebracht, damit eine den Tatsachen entsprechende Wahrheit von dem Hofrat produziert werden könnte. Die Aussagen demonstrieren also, dass die Beweise für die Sachverhalte die Grenzen des Sagbaren darstellten, nicht etwa da somit die Übereinstimmung von Sachverhalt und Tatsachen realisiert wurde, sondern damit die Parteien einen gehörigen Einfluss auf die Geschichtserzählungen der Referenten erhielten. Sie waren es die letztlich durch ihre Beweisbeibringungen die Grenzen des Konstruierbaren festlegten und sie hätten es laut den Aussagen folglich auch zu verantworten, wenn ein Sachverhalt etwas erzählen konnte, was nicht den Tatsachen entsprach. Diejenigen, über die der Diskurs Wahrheiten produzierte, definierten die Grenzen der sie betreffenden Wahrheitsproduktion. Für die Bestimmung der Rechtsfolgen war der Jülich-Berger normative Diskurs elementar. Die Referenten subsumierten die von ihnen konstruierten Sachverhalte unter Rechtsinstitute und brachten so in jeder Relation notwendigerweise das Recht zumindest implizit zur Sprache. Es galt dann auch mit dem Recht für die Rechtsfolgen zu argumentieren. Dies stellte auf den ersten Blick ein geringes Problem dar, da die Rechtsinstitute Rechtsfolgen vorgaben. So war im Vertragsrecht festgehalten worden pacta sunt servanda. Erzählte also ein Sachverhalt, dass ein obligationsrechtlicher Vertrag zwischen zwei Parteien bestünde und berichtete dieser von keinen Ereignissen, die die Rechtmäßigkeit des Vertrages berührten, so war die aus der Subsumption folgende Rechtsfolge, dass der Vertrag erfüllt werden musste. Am Verfahren Schäfer wider Levi zeigt sich, dass es möglich war, ohne Rechtsallegationen allein mittels der Subsumption für die Rechtsfolgen zu argumentieren. Hier subsumierte der Referent seinen Sachverhalt unter das Vertragsrecht ohne diesbezügliche Normen zu allegieren. Das Vertragsrecht war jedoch ein häufig angewandtes und zugleich im 18. Jahrhundert unter den Juristen häufig diskutiertes Institut, sodass Referenten ein diesbezügliches Wissen bei ihren Kollegen vermuten konnten. Konnte ein Referent dahingegen nicht davon ausgehen, dass seine Richterkollegen ein grundlegendes Verständnis des von ihm zur Lösung eines Falles angewandten Rechtsinstituts besaßen oder gestaltete sich die Subsumption oder die Rechtsanwendung als problematisch, so wurde dezidiert mit aus dem territorialen normativen Diskurs stammenden Aussagen argumentiert, die man als Rechtsallegation präsentierte. Dies konnte z.B. dann nötig sein, wenn man einen Sachverhalt unter das Rechtsinstitut Dienstbarkeit subsumierte. In diesem existierten verschiedene Formen der servitus. Die Allegation von Rechtssätzen konnte dann genutzt werden, um zu argumentieren, dass die Subsumption des zu <?page no="194"?> 195 beurteilenden Sachverhaltes unter die servitus onus ferendi rechtmäßig sei, dahingegen die Subsumption unter die servitus tigni immittendi unrechtmäßig. Hier wird zugleich dann auch ersichtlich, dass auch am Jülich-Berger Hofrat die Rechtsvielfalt für die Richter Argumentationsfreiheit bedeutete. Der territoriale normative Diskurs beheimatete eben auch in Jülich-Berg unterschiedliche Normen, welche seitens der Richter genutzt werden konnten, um für spezifische Rechtsfolgen zu argumentieren. Wie schon im Kurkölner Urteilsdiskurs tauchen auch im Jülich-Berger Rechtssätze aus landesherrlichen Gesetzen und Verordnungen, aus dem Corpus juris und aus gelehrten Rechtskommentaren auf. Es lässt sich allerdings festhalten, dass das Übergewicht der Rechtskommentare im Jülich-Berger Urteilsdiskurs nicht so stark wie im Kurkölner ausfiel. Es kann für den Jülich-Berger Urteilsdiskurs auch keine Spitzengruppe an allegierten Rechtsgelehrten dargeboten werden, da keine Rechtsgelehrten in besonderem Maße allegiert wurden. Es finden sich unter den Angezogenen alte Bekannte aus Kurköln, wie Carpzov 753 , Mynsinger 754 oder Cramer 755 . Darüber hinaus taucht sogar einmal einer der großen Vordenker der deutschen Aufklärung im Diskurs auf: Samuel Pufendorf. 756 Auch im Jülich-Berger Urteilsdiskurs tauchen also Aussagen aus dem Vernunftrecht, dem usus modernus und dem klassischen ius commune nebeneinander auf. Die rechtstheoretische Trennung zwischen den einzelnen Rechtsmassen spielte für deren Anwendbarkeit demnach keine Rolle. Obwohl alle drei Rechtslehren unterschiedliche Geltungsgründe für sich behaupteten, wurden sie im Urteilsdiskurs ohne Unterschied behandelt. Der theoretische Unterschied verschwimmt im Urteilsdiskurs. Im Jülich-Berger Urteilsdiskurs tauchen im 18. Jahrhundert - im Unterschied zum Kurkölner - keine antijüdischen Aussagen auf. Es wurde schon im vierten Kapitel und in Kapitel 5.1 dargelegt, dass dies daraus resultiert, dass die Präsumptio doli keine gültige Argumentationsform darstellte. Zwar war die Verwendung anderer Präsumptionen durchaus erlaubt, aber die speziell für Juden problematische Präsumptio doli wurde seitens der Jülich-Berger Richter nicht artikuliert. Dahingegen tauchen Aussagen auf, die ihre Anwendung dezidiert verbieten. Aufgrund des Verbots der Nutzung der Präsumptio doli tauchen auch keine judenspezifischen Argumentationen im Rahmen der Sachverhaltskonstruktionen auf. Allerdings finden sich judenspezifische Argumente im Kontext der Urteilsproduktion. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür bildet der Fall der gestohlenen Monstranz. Letztlich gewann die Landjudenschaft resp. die jüdischen Händler den Prozess. Dieses Urteil ist jedoch auf einer aus dem Jülich-Berger normativen Diskurs stammenden Aussage fundiert, die allein auf 753 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 9, F. 145vff; Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 2, F. 57v. 754 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009, Relation 9, F. 146rf. 755 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, B XVII 17, Relation 1, F. 45v. 756 Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat, Nr. / B XII 12 a, S. 11, 12f. <?page no="195"?> 196 Juden bezogen war. Folgerichtig konnte man mit ihr nur dann argumentieren, wenn Juden an einem Verfahren teilnahmen, da man christliche Parteien nicht unter einen solchen Rechtssatz subsumieren konnte. Selbst im Jülich-Berger Diskurs konnten also judenspezifische Argumentationen geführt werden, insofern man den jeweiligen Fall unter judenspezifischen Rechtssätzen subsumierte, mittels derer dann für die Rechtsfolgen argumentiert wurde. Es gilt aber zu konstatieren, dass zwar mit judenspezifischen, nicht aber mit antijüdischen Aussagen im Jülich-Berger Urteilsdiskurs argumentiert wurde. Nun zeigt der Fall der gestohlenen Monstranz auch auf, dass im 18. Jahrhundert judenspezifisch zu argumentieren, nicht unbedingt bedeutete, eine jüdische Partei zu benachteiligen. Das in dem Verfahren von dem Referenten angeführte Argument kam ohne antijüdischen Inhalt aus und führte zu Rechtsfolgen, die seitens der Landjudenschaft resp. der jüdischen Händler gewünscht worden waren. Die besondere Behandlung von Juden musste also nicht immer diesen zum Nachteil gereichen. Selbst in jenem Jahrhundert, als der Antijudaismus zum Antisemitismus mutierte, konnte der Jülich-Berger Hofrat judenspezifisch für eine jüdische Partei argumentieren. Allerdings war es allein nur möglich, überhaupt judenspezifisch zu argumentieren, insofern das anzuwendende Rechtsinstitut auch judenspezifische Normen enthielt. Wurde dahingegen ein Fall in den Jülich-Berger Urteilsdiskurs eingeführt, der unter ein Rechtsinstitut zu subsumieren war, das Juden nicht thematisierte, waren judenspezifische Argumentationen nicht möglich. Zwar stellten freilich Handelsstreitigkeiten den Hauptgrund dar, warum Juden vor dem Hofrat klagten oder verklagt wurden und das Handels- und Vertragsrecht beheimatete auch judenspezifische Normen, allerdings indiziert der Fall der streitenden Nachbarn, wie eingeschränkt im Jülich-Berger Urteilsdiskurs im Vergleich zum Kurkölner die Möglichkeit war, judenspezifisch zu argumentieren - das Baurecht beheimatete eben keine judenspezifischen Normen. Mit Blick auf all das bis hierhin über den Jülich-Berger Urteilsdiskurs Gesagte, lässt sich konstatieren, dass dieser kein antijüdisches Wahrheitsproduktionssystem darstellte, auch wenn es unter spezifischen Umständen möglich war, im Rahmen der Urteilsproduktion judenspezifisch zu argumentieren. Jüdischen Parteien kam zwar die im Recht angelegte juridische Sonderstellung im Jülich- Berger Urteilsdiskurs zu, doch im Gegensatz zum Kurkölner Urteilsdiskurs wurden sie nicht als Betrüger und Wucherer begriffen und die Anwendung antijüdischer Argumente war nicht möglich, während judenspezifische Argumente allein im Rahmen der Urteilsproduktion platziert werden konnten und nicht notwendigerweise einer jüdischen Partei zum Nachteil gereichen mussten. <?page no="196"?> 197 8. Brandenburg-Ansbacher Wahrheitsproduktionen 8.1 Die Grenzen des Sagbaren am KLG - Das Verfahren der Witwe Roth wider einige jüdische Händler In den 50er Jahren des 18 Jahrhunderts kam es zu einem Streit zwischen der Witwe Roth und einer größeren Gruppe jüdischer Händler. Im Zentrum des Streits standen deren noch offene Schuldforderungen gegen den verstorbenen Ehemann der Witwe. Der Streit eskalierte, bis sich die jüdischen Gläubiger an den Brandenburg-Ansbacher Hofrat wandten. Der Hofrat eröffnete erstinstanzlich ein Verfahren, in dessen Verlauf dieser den jüdischen Gläubigern auftrug, ihre Schuldscheine, auf denen die fraglichen Schuldforderungen verzeichnet waren, zu beeiden. Nun bildeten die jüdischen Gläubiger keine homogene Gruppe. Sie setzte sich stattdessen aus Wechselgläubigern und gemeinen Gläubigern zusammen. 757 Durch die Anweisung des Eides trennten sich die Wege der jüdischen Gläubiger. Die Wechselgläubiger verweigerten den Eid und appellierten gegen dessen Anweisung. Mit ihrer Entscheidung, den Eid nicht abzulegen, verließen die Wechselgläubiger das Verfahren und in der Folge auch diese Geschichte. 758 Die gemeinen Gläubiger hingegen legten den Eid auf die Thora ab. 759 Die Witwe Roth war von der Eidesleistung wenig angetan und wandte sich an das Kaiserliche Landgericht. In der Folge kam es zu einem Appellationsverfahren, welches jedoch nicht von dem KLG, sondern dem zweiten Senat des Hofrates verhandelt wurde - ein Umstand, der im drittinstanzlichen Verfahren noch thematisiert werden sollte. Der Hofrat befand die Appellation für unstatthaft und schlug sie per Dekret ab. Von diesem Dekret aus appellierte die Witwe 1760 an das Kaiserliche Landgericht, welches nun dritt- und somit letztinstanzlich den Fall zu entscheiden hatte. 760 Die Witwe Roth hatte in ihrem Klagebegehr drei Beschwerden gegen das Urteil des zweiten Senats artikuliert. Sie stellte erstens infrage, ob die jüdischen Gläubiger überhaupt legitime Forderungen gegen ihren verstorbenen Mann in Händen hielten. Roth argumentierte, dass einer der jüdischen Gläubiger namens 757 Für die weitere Besprechung dieses Falles ist es nicht nötig, den Unterschied zwischen Wechselgläubiger und gemeinen Gläubigern darzustellen. In Kapitel 8.2 wird jedoch ein Fall besprochen werden, für den die Unterscheidung relevant ist und folglich wird in Kapitel 8.2 diese dargelegt. 758 Die Wechselgläubiger appellierten nicht vor dem Landgericht, sodass es nicht möglich ist, diesen Teil des Streites weiter zu beschreiben. 759 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1, F. 1vf. 760 Ibid. <?page no="197"?> 198 Liggmann Callemann ihr noch vor dem Tod ihres Ehemannes versichert habe, keine offenen Schuldforderungen gegen ihren Mann in Händen zu haben. Ferner seien die seitens der jüdischen Händler eingereichten Schuldscheine nicht von ihrem Mann, sondern allein von den jüdischen Händlern und deren Schreibern verfasst worden und folglich gefälscht. 761 Diese beiden Punkte wiesen doch nach, dass die jüdischen Gläubiger einen Meineid geleistet und sie keine offenen Schuldforderungen gegen ihren verstorbenen Ehemann besäßen. 762 Tatsächlich waren die Schuldscheine nicht von dem verstorbenen vermeintlichen Schuldner, sondern von den jüdischen Händlern verfasst worden. Außerdem hatte einer der jüdischen Händler namens Härl Joachim laut Schuldschein noch 225 Reichstaler von dem verstorbenen Schuldner resp. dessen Witwe zu fordern, allerdings hatte er im Rahmen der Ablegung des juramentum auf die Thora eine noch offene Schuldforderung in Höhe von 480 Reichstalern beeidet. 763 Die Witwe argumentierte weiter, dass es bei der Ablegung des Eides auch zu formellen Fehlern gekommen sei, die dessen Gültigkeit berührten. 764 So hätte der Hofrat die Juden angewiesen, den Eid nicht innerhalb der Synagoge auf die Thora abzulegen. Nachdem die jüdischen Händler jedoch auf einer solchen Form der Eidesablegung bestanden hätten, habe der Hofrat ihnen dies zugebilligt. 765 Die erste Beschwerde der Witwe richtete sich also gegen die Rechtmäßigkeit der Schuldforderungen, da deren Mann diese nie aufgenommen habe. Sie argumentierte, dass die einzigen dafür vorliegenden Beweise - die Schuldscheine - gefälscht seien und die jüdischen Händler einen Meineid auf diese geschworen hätten, wobei die Eidesleistung aus formellen Gründen generell ungültig sei. Als zweite Beschwerde führte die Witwe an, dass, sofern die Schuldforderungen rechtmäßig seien, d.h. ihr verstorbener Ehemann wirklich einen Kredit bei den Gläubigern aufgenommen habe, sie und ihre Kinder davon nicht gewusst hätten. Das zweitinstanzliche Urteil fordere nun von ihr die Begleichung dieser Schulden, jedoch müsse sie doch nicht für die Schulden ihres verstorbenen Ehemannes aufkommen. 766 Drittens argumentierte die Witwe, dass das zweitinstanzliche Verfahren formell fragwürdig sei, da der Hofrat sowohl erstals auch zweitinstanzlich tätig gewesen sei und somit sei dieser „Judex in eodam causa“ gewesen. Mithin habe sie auch von dem erstinstanzlichen Urteil nicht an den Hofrat, sondern an das Landgericht appellieren wollen, was ihr aber verweigert worden sei. 767 Die jüdischen Gläubiger argumentierten, dass mit der Ablegung des Eides feststünde, dass sie legitime Schulforderungen gegen den verstorbenen Ehemann 761 Ibid., F. 2r, 3vf. 762 Ibid., Relation 1, F. 2vf. 763 Ibid., F. 3vf. 764 Ibid., F. 2r, 5vff. 765 Ibid. 766 Ibid., F. 2r, 3v. 767 Ibid. <?page no="198"?> 199 resp. dessen Witwe besäßen. Zwar replizierte die Witwe abermals, dass die jüdischen Händler einen Meineid geleistet hätten, jedoch sollte ihr dies nicht helfen. 768 1763 bestätigte das KLG die vorinstanzlichen Urteile. 8.1.1 Sachverhaltskonstruktion Entscheidend für das Urteil des KLG war die einhellige Konstruktion eines Sachverhaltes seitens der beiden mit dem Fall mandatierten Richter, welche jedoch über die Bestimmung der Rechtsfolgen in Streit gerieten. Im Verlauf der Verfahren waren von den jüdischen Gläubigern Schuldscheine beigebracht und dann später auch beeidet worden, welche den Kern der Beweislage bildeten. Deren Authentizität sowie die Gültigkeit der Eide war jedoch im Zuge der Verfahren seitens der Witwe Roth problematisiert worden. Der Referent wandte sich zu Beginn seines Referats den vorliegenden Beweisen und insbesondere der Behauptung der Witwe, diese seien gefälscht, zu. Er referierte, dass die Behauptung der Witwe durchaus plausibel sei. So seien die Schuldscheine tatsächlich allein von den jüdischen Händlern und deren Schreibern verfasst worden. Ferner habe auch ein Jude namens Jacob Haiß den Siegelring des verstorbenen Ehemannes Roth 14 Tage in Händen gehabt und somit bestünde die Möglichkeit, dass die Schuldscheine mit Hilfe dieses Siegelringes gefälscht worden seien. 769 Dies „mach[e] an sich zwar einen Verdacht, im Hauptwert aber keinen Beweis.“ 770 Der Referent legte also dar, dass es keinen Beweis für die Fälschung der Schuldscheine gäbe. 771 Daran anschließend wandte er sich der theoretischen Möglichkeit zu, die Fälschung der Scheine zu präsumieren. „Nicht allein […] die praesumptio generalis vor die Juden [streitet], sondern es hat auch Hederleins Witwe irgend zu erweisen vermagt, daß gedachter Jud Jacob Haiß den Siegelring ihres Mannes würcklich gemisbrauchet, wo doch Dolus nicht praesumirt wird, sondern jederzeit bewießen werden muß“. 772 Der Referent erinnerte seine Kollegen an den diskursiven Wandel aus der Frühphase des 18. Jahrhunderts, in dessen Folge die Präsumptio doli aus dem Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs verschwunden war. Er legte also dar, dass die Einwände der Witwe auf Behauptungen basierten, für die keine Beweise vorlägen und die auch nicht (mehr) präsumiert werden könnten. Der Referent desavouierte so die Behauptungen der Witwe Roth - diese hatten aufgrund der fehlenden Beweise keinen Platz in seinem Sachverhalt. Als nächstes besprach er, 768 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1, F. 3vff. 769 Ibid., F. 6v und 8v. 770 Ibid., F. 8v. 771 Ibid., F. 8vf. 772 Ibid. <?page no="199"?> 200 was für die Beweiskraft der Schuldscheine spräche und führte diesbezüglich aus, dass die Echtheit der Schuldscheine schon in den vorigen Verfahren erörtert und festgestellt worden sei. 773 Der Hofrat habe ferner erstinstanzlich die Beeidung der Schuldscheine durch die jüdischen Gläubiger angewiesen und die Witwe habe dies akzeptiert. Der Referent argumentierte mit dem Verweis weiter, dass daraufhin die jüdischen Händler dann auch den Eid abgelegt hätten. 774 Er referierte anschließend, dass die Witwe im Laufe dieses Verfahrens versucht habe, die Eidesleistung zu entkräften, indem sie insinuierte, dass diese formale Fehler aufweise, da die jüdischen Händler auf einer Ablegung des Eides in der Synagoge auf die Thora bestanden hätten und der Hofrat daraufhin den Modus der Eidesleistung dahingehend geändert habe. Der Referent argumentierte nun für die Gültigkeit des abgelegten Eides mit dem prozessrechtlichen Argument, dass die jüdischen Gläubiger nur einen anderen „modus jurandi“ bezüglich der Eidesleistung vorgeschlagen haben und dieser von dem gerichtlich zuständigen Hofrat akzeptiert worden sei. 775 Diesbezüglich habe der Rechtsgelehrte Mevius erkannt, „Juramentum recurans ex Causa non potest condemnari, antequem super ista pronunciatum sit. Mevius.D.165.Part.V. bey solchen in Medio vorliegenden Juramento ex parto debotoris derato, a creditoribus acceptato et sollenni modo praestito“. 776 Der Referent subsumierte also die Anweisung der Eisdesleistung durch den Hofrat unter das Prozessrecht und argumentierte auf diese Weise, dass die Eidesleistung rechtskräftig sei, wobei es insbesondere von Relevanz war, dass die Witwe die Eidesanweisung anfangs akzeptiert hatte. Er hatte nunmehr argumentativ elaboriert, dass der Eid gülig sei, und basierend auf diesem argumentiert, dass die Schuldscheine volle Beweise darstellten. Mit eben diesen Schuldscheinen konstruierte er seinen Sachverhalt, demnach der Ehemann Roth Kredite bei den jüdischen Händlern aufgenommen, aber vor seinen Ableben nicht beglichen hatte. 777 Diese Sachverhaltskonstruktion demonstriert, dass auch am KLG volle Beweise die entscheidenden Bausteine für die Konstruktion von Sachverhalten darstellten. Die gesamten Ausführungen des Referenten kreisten um die Frage, ob und inwiefern die Schuldscheine Beweise darstellten. Da er ihnen die volle Beweiskraft zusprach, bildeten sie das Fundament seines Sachverhaltes, laut dem Roth tatsächlich Kredite bei den jüdischen Händlern aufgenommen hatte. Zwar erzählte der Referent diese Geschichte seinen Kollegen, welche dann diese auch als Sachverhalt akzeptierten, jedoch glaubte der Referent selber nicht ganz an 773 Ibid., F. 7rff. 774 Ibid., F. 2r, 4vf. 775 Ibid., F. 2r, 5vff. 776 Ibid., F. 2r, 6r. 777 Ibid., Kurzvotum 3, F.10v. <?page no="200"?> 201 seine Konstruktion. Zumindest erklärte er am Ende seines Referats resümierend, dass „es auch ziemlich wahrscheinlich ist, das der Hederlein [der verstorbene Ehemann der Witwe Roth, Anm. d. A.] durch die Juden enomissione betrogen worden, so ist seiner Witwe u. Kindern in via Jure doch nicht zu helfen.“ 778 Nun beweist diese Aussage, dass auch die Landrichter sich des Umstandes bewusst waren, dass ihre Sachverhaltskonstruktionen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen mussten, sondern deren Wahrheit von der regelkonformen Konstruktion bedingt wurde. Zugleich demonstriert diese Aussage, dass der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs in der Folge des diskursiven Wandels kein Ort mehr war, an dem jüdische Parteien aufgrund zeitgenössischer Vorurteile über Betrug und Wucher benachteiligt werden konnten. Im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion waren Juden wie Christen zu behandeln, sodass Sachverhalte auch über Juden nur eine Geschichte erzählen konnten, wenn diese primär auf Beweisen ruhte. Es spielte eben keine Rolle, dass der Referent die Möglichkeit der Fälschung der Schuldscheine als durchaus realisitisch einschäzte - ohne Beweise war dies auch am KLG nicht zu konstruieren. 8.1.2 Urteilsproduktion Während die Referenten noch einhellig einen Sachverhalt konstruierten, gerieten sie in eine Dabette über die Rechtsfolgen. Der Referent erklärte, dass die Witwe die Schulden ihres Mannes den jüdischen Händlern begleichen solle. Als Argument fungierte die Subsumption der vom Sachverhalt erzählten Geschichte unter das Vertragsrecht, wobei der Referent darauf verzichtete, Normen aus dem Rechtsinstitut zu allegieren. 779 Auch am Brandenburg-Ansbacher Kaiserlichen Landgericht setzten Referenten wie ihre Jülich-Berger Kollegen eine grundlegende Kenntnis des Vertragsrechts seitens des Richterkollegiums voraus. Der Referent irrte mit seiner Einschätzung nicht. Sowohl der Koreferent als auch das Kollegium erhoben keine Kritik an seiner Argumentation, sondern schlossen sich seiner Einschätzung widerspruchslos an. Auch am KLG galt pacta sunt servanda. Im letzten Teil seines Referats ging der Referent der Frage nach, welchen Zinssatz die jüdischen Händler erheben dürften und wer die Prozesskosten zu tragen habe. Er kam zu dem Ergebnis, dass die jüdischen Händler nur einen fünf prozentigen Zinssatz veranschlagen dürften, sofern auf den Schuldscheinen kein anderer Zinssatz verbrieft würde, und die Prozesskosten zu kompensieren seien, auch wenn es an sich rechtmäßig sei, diese allein der Witwe aufzuerle- 778 Ibid. 779 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Relation 1, F. 2r, 7rff. <?page no="201"?> 202 gen. 780 Als Argument fungierte nicht etwa das Recht, sondern die soziale Situation der Witwe. Diese hätte zum einen erst vor kurzem ihren Mann verloren und zum anderen versetzten sie die rechtmäßigen Schuldforderungen der jüdischen Händler in ein großes Unglück. 781 Der Referent verließ also zur Bestimmung des Zinssatzes und der Prozesskostenverteilung den rechtlichen Raum. Und in eben diesem Punkt erfuhr er dann auch deutlichen Widerspruch. Auch am KLG war das Recht entscheidend für die Bestimmung der Rechtfolgen - eine nicht auf dem Boden des Rechts errichtete Bestimmung erntete Kritik und Widerspruch. Der Koreferent führte aus, dass es zwar richtig sei, dass die Witwe die Schuldforderungen zu begleichen habe, der seitens des Referenten festgelegte Zinssatz sei jedoch nicht rechtmäßig. Die Landesgesetze erlaubten den Juden, sechs Prozent Zinsen zu veranschlagen, und somit stehe es auch in diesem Fall den jüdischen Gläubigern zu, sechs Prozent Zinsen zu fordern, insofern auf den Schuldscheinen kein anderer Zinssatz verzeichnet sei. 782 Der Koreferent nahm sogar direkten Bezug auf die Ausführungen des Referenten und erklärte, dass es zwar tatsächlich so sei, dass die Witwe in ein großes Unglück geraten sei, jedoch gelte es, das Gesetz anzuwenden und dieses gestünde Juden einen sechsprozentigen Zinnssatz zu. 783 . Die wahren Rechtsfolgen mussten nicht gerecht oder sozial sein, sondern ein Ergebnis der Zusammenschau von Sachverhalt und Recht. Der Koreferent allegierte zur Untermauerung seines Arguments an dieser Stelle die „Corp.Constit.Brand.Culmb.“. 784 Er argumentierte also mit dem Brandenburg-Kulmbacher Landesgesetz. Brandenburg-Kulmbach war wie Brandenburg-Preußen in dieser Zeit ein hohenzollerisches Fürstentum. Ab 1415/ 17 herrschten die Hohenzollern über die Markgrafschaften Brandenburg, Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach (Bayreuth). Allerdings versuchten die Hohenzollern nicht, die Herrschaft über diese Territorien in der Hand eines Fürsten zu vereinen. Vielmehr sollten die Wege der drei Territorien durch die folgenden Jahrhunderte zwar immer wieder kollidieren, allerdings garantierte eines der wichtigsten zollerischen Hausgesetze - die Dispositio Achillea - die territoriale Integrität der einzelnen Territorien. Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach bewahrten durch dieses Hausgesetz ihre Unabhängigkeit von der Kurlinie in Berlin. 785 780 Ibid., F. 2r, 8rff. 781 Ibid. 782 Ibid., F. 10v. 783 Ibid. 784 Ibid. Auch in einem einige Jahre später stattfindenden Prozess verwies ein Richter bezüglich eines Zinssatzes von 6% für jüdische Kaufleute auf „Corp.Constit.Brand: Culmb. Tom.II.part.I.pag.189. §7“, wonach ein Zinssatz von 6% für jüdische Gläubiger erlaubt sei. Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a, Nr. Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 2. 785 Manfred Rudersdorf, “Brandenburg-Ansbach/ Bayreuth,” Band 1: Der Südosten in Die Territorien Des Reichs Im Zeitalter Der Reformation Und Konfessionalisierung: Land Und Konfession <?page no="202"?> 203 1495 vereinigte der zweite Sohn des in Berlin residierenden Kurfürsten Albrecht Achilles, Markgraf Friedrich IV., der Ältere, Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach in seiner Hand. Zwar sollten die beiden fränkischen Fürstentümer noch häufiger in Personalunion regiert werden, ihre territoriale Unabhängigkeit voneinander wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts allerdings bewahrt. So teilte Friedrich IV. die Herrschaft später auch unter zweien seiner Söhne auf. 786 Zwar waren die beiden fränkischen Markgrafschaften schon am Ende des 16. Jahrhunderts abermals in einer Hand vereint, als jedoch 1603 der in Personalunion beide fränkische Markgrafschaften regierende Georg Friedrich kinderlos verstarb, übernahmen die jüngeren Brüder des brandenburgischen Kurfürsten die Herrschaft in den beiden Markgrafschaften. 787 Die mit dem Herrscherwechsel verbundene Auflösung der Personalunion sollte bis 1769 anhalten. Die beiden fränkischen Markgrafschaften bildeten in der Folge voneinander getrennte und von Brandenburg-Preußen weitgehend unabhängige Sekundogenituren der Kurlinie. 788 1757 übernahm Karl-Alexander von seinem Vater die Herrschaft über Brandenburg-Ansbach. 1769 erhielt er laut den hohenzollernschen Hausgesetzen auch die Herrschaft über Brandenburg- Kulmbach. 789 Die genealogische, politische, konfessionelle 790 und geographische Nähe der beiden hohenzollerischen Markgrafentümer mögen Gründe sein, warum am KLG auch das Kulmbacher Landesgesetz als anwendbares Partikularrecht begriffen wurde. Mit Sicherheit demonstriert die Nutzung des Kulmbacher Landesgesetzes durch die Landrichter aber, dass es zu dem von diesen berücksichtigten Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs gezählt wurde. Dies zeigt dann auch auf, dass ein territorialer normativer Diskurs mehr fassen kann als das Landesgesetz und das ius commune. Die territorialen normativen Diskurse stellen hochkomplexe Gebilde dar, in denen Normen unterschiedlichster geographischer und geistiger Herkunft (Vernunftrecht, ius commune, usus modernus) beheimatet waren. Zur Lösung des Falles Roth wider ihrer jüdischen Gläubiger allegierte der Koreferent also einen judenspezifischen Rechtssatz aus dem Brandenburg- Ansbacher normativem Diskurs. Es war nur möglich, diesen anzuwenden, insofern die unter den Rechtssatz subsumierte Partei jüdischen Glaubens war. Der Brandenburg-Ansbacher normative Diskurs beheimatete also auch judenspezifi- 1500-1650, ed. Anton Schindling/ Walter Ziegler, Katholisches Leben Und Kirchenreform Im Zeitalter Der Glaubensspaltung 49 (Münster, 1989), 12. 786 Ibid., 14. 787 Ibid., 27. 788 Ibid., 27f. 789 Rudolf Endres, “Staat und Gesellschaft. Zweiter Teil 1500-1800,” in Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 3. Franken, Schwaben, Oberpfalz bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts: Teilbd. 1, ed. Max Spindler (München: Beck, 1971), 406. 790 Rudersdorf, “Brandenburg-Ansbach/ Bayreuth,” 28. <?page no="203"?> 204 sche Normen, deren Verwendung im Rahmen der Urteilsproduktion erlaubt war. Zugleich zeigt sich an diesem Fall, dass auch am KLG judenspezifisch zu argumentieren nicht mit deren Benachteiligung einhergehen musste, wurde doch auch dieses Mal das judenspezifische Argument genutzt, um für einen höheren Zinssatz zu Gunsten der jüdischen Gläubiger zu argumentieren. 8.1.3 Zwischenfazit Die Wahrheitsproduktion im Verfahren Witwe Roth wider jüdische Gläubiger zeigt auf, dass der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs analog zu den beiden hofrätischen Urteilsdiskursen ausgestaltet war. So waren Beweise für die Konstruktion der Sachverhalte grundlegend und es war auch am Landgericht nicht möglich, eine plausible Geschichte zu erzählen, die den dem Gericht vorliegenden vollen Beweisen widersprach. Dabei wurden prozessrechtliche Aussagen allegiert, um für eine spezifische Qualität eines Beweises zu argumentieren. Auch im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs bildeten Beweise und Prozessrecht die Grenze der Sachverhaltskonstruktion. Die Referenten brachten dann die von ihnen konstruierten Sachverhalte mit dem Recht zusammen, um die Rechtsfolgen zu produzieren. Wurde ein Rechtsinstitut angewandt, welches als bekannt vorausgesetzt werden konnte, so war es möglich, ohne Rechtsallegationen allein auf Basis der Subsumption des Sachverhaltes unter dem entsprechenden Institut zu argumentieren, was wohl insbesondere für die Anwendung des Vertragsrechts galt, welches auch am Jülich-Berger Hofrat weniger per Allegation als vielmehr durch Subsumption zur Sprache gebracht wurde. Bewegten sich Referenten jedoch in eher unbekannteren Gefilden des Rechts, dann allegierten sie diesbezügliche Normen. Da der Brandenburg-Ansbacher normative Diskurs judenspezifische Rechtssätze inkorporierte, war es im Rahmen der Urteilsproduktion möglich, judenspezifisch zu argumentieren. Allerdings zielte die in diesem Fall angezogene judenspezifische Argumentation wohl kaum auf die Durchsetzung eines für die jüdische Partei nachteiligen Urteils, sondern vielmehr auf ein für diese günstigeres. Auch für den Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs lässt sich somit konstatieren, dass es möglich war, im Rahmen der Urteilsproduktion judenspezifisch zu argumentieren, was aber nicht unbedingt einer jüdischen Partei zum Nachteil gereichen musste. <?page no="204"?> 205 8.2 Das Zustandekommen der richterlichen Mehrheit - Das Verfahren Brandeis wider Braun Im Jahr 1776 wurde der jüdische Händler Samuel Brandeis mit einer Klage gegen den christlichen Händler Georg Braun vor dem Kaiserlichen Landgericht vorstellig. Brandeis gab vor, noch eine offene Wechselschuldforderung gegen Braun in Händen zu haben und forderte vor Gericht deren Begleichung. 791 Dies war nicht der erste Versuch Brandeis‘, Braun gerichtlich zur Tilgung der noch offenen Schuld zu bewegen. Schon 1763 hatte er Braun vor dem Kaiserlichen Landgericht diesbezüglich verklagt und dieses hatte daraufhin entschieden, Brandeis solle dem Geleitsamt Fürth die der Schuldforderung wider Braun zugrunde liegenden zwei Wechsel vorlegen, woraufhin das Amt dann Braun zur Tilgung anhalten sowie im Fall der Weigerung Brauns die Exekution gegen diesen einleiten solle. 792 1776 wurde Brandeis also erneut vor dem Kaiserlichen Landgericht vorstellig, um die Tilgung der noch immer offenen Schuld Brauns zu erreichen. Jedoch hatte sich die finanzielle Situation Brauns in der Zwischenzeit greifbar verschlechtert, da dieser sich nunmehr in einem förmlichen Konkurs befand. 793 Darüber hinaus erklärte Braun vor dem KLG, er habe im Rahmen des Konkurses eine Einladung zu einem Vergleichstermin an all seine jüdischen Gläubiger in der jüdischen Schule in Fürth ausgehangen. Während die Mehrheit seiner jüdischen Gläubiger zu dem Termin erschienen sei und sich dann auch mit ihm verglichen habe, habe Brandeis den Termin und somit die Möglichkeit eines Vergleichsschlusses nicht wahrgenommen. 794 Auf Grundlage dieser Sachverhaltsbehauptungen artikulierte Braun eine „Exceptio Pacti remissorii universalis cum ceteris creditoribus initii“ gegen die Klage Brandeis‘. 795 Die Rechtshistorikerin Anja Amend-Traut präsentiert in ihrem Werk über Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht acht Einreden, die Wechselschuldner gegen Klagen ihrer Gläubiger vorbrachten. Allein die von Braun angeführte Einrede ist nicht Teil der acht von ihr dargestellten möglichen Einreden. 796 Allerdings gab es unter den zeitgenössischen Juristen die Rechtsansicht, dass in einem Konkurs befindliche Wechselschuldner mit der Gesamtheit ihrer Wechselgläubiger einen Vergleich schließen durften und dass ein so entstandener Vergleichsvertrag für alle Wechselgläubiger bindend war, auch wenn nicht alle Gläubiger diesen unterschrieben hatten. Vielmehr wurde es als ausrei- 791 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 1v. 792 Ibid., F. 1vf. 793 Ibid. 794 Ibid., F. 2vf. 795 Ibid. 796 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, 321-84. <?page no="205"?> 206 chend angesehen, wenn die Unterschriften der Mehrheit der Gläubiger vorlagen. 797 Für die Rechtskraft eines solchen Vertrages für jene Gläubiger, die diesen nicht unterzeichnet hatten, war es allerdings entscheidend, dass ein Schuldner alle seine Gläubiger zu dem Vergleichsvertragsbeitritt aufgefordert hatte. 798 Braun argumentierte also, Brandeis Klage sei abzuschlagen, da dieser aufgrund des zwischen ihm und der Mehrheit seiner Gläubiger zustande gekommenen Vergleiches zur Erhebung einer solchen nicht berechtig sei, sondern sich auf den Vergleich einlassen müsse. 799 Darüber hinaus argumentierte er, Brandeis habe weder bei dieser noch bei der vorigen Schuldforderungsklage gegen ihn einen Wechsel beigefügt. Somit sei die Klage formal unstatthaft und die Forderung illegitim. 800 Brandeis widersprach den Sachverhaltsbehauptungen Brauns‘. 801 8.2.1 Sachverhaltskonstruktion In üblicher Manier bestimmte das Richterkollegium zwei Richter aus seiner Mitte, welche den Fall bearbeiten und dann dem Kolleg inklusive eines Urteilsvorschlags referieren sollten. Zwar herrschte unter den Referenten Einigkeit über den zu beurteilenden Sachverhalt, jedoch wurde Kritik an deren Sachverhaltskonstruktion aus den Reihen des Kollegiums laut. Der mit dem Fall mandatierte Richter referierte, dass der stärkste Beweis für das Zustandekommen eines Vergleiches, das „pactum remissorum universale“, also eine Urkunde über den Vergleich, seitens Braun nicht beigebracht worden sei und somit auch nicht als Fundament einer Sachverhaltskonstruktion dienen könne. 802 Darüber hinaus sei dem Landgericht nicht bekannt, dass bis dato eine „Praeclusio in foro Concursus“ errichtet worden sei. 803 Als eine Praeclusion verstanden die zeitgenössischen Juristen „nichts anders, als eine Entschließung eines Richters, in welcher bey einem Concurse diejenigen, welchen an dem gemeinen Schuldner oder dessen in die Concursmasse gezogenen Güther Ansprüche zustehen, selbige aber, der an sie ergangenen Aufforderung ungeachtet nicht angezeigt, oder nicht nach der richterlichen oder gesetzlichen Vorschrift betrieben haben, aller Theil- 797 Ibid., 399. 798 Ibid., 400. 799 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 2vf. 800 Ibid. 801 Ibid., F. 2rff. 802 Ibid., F. 4rf. 803 Ibid. <?page no="206"?> 207 nehmung an der Concursmasse völlig verlustig erkläret werden.“ 804 Eine solche richterliche Rüge Brandeis‘ für die Nichtwahrnehmung des Vergleichstermins läge dem KLG nicht vor und es sei nicht einmal bekannt, dass eine solche überhaupt seitens eines Gerichtes ausgesprochen worden wäre. 805 Darüberhinaus erörterte der Referent ein von Braun beigebrachtes Attest, dass beweisen sollte, dass Braun Brandeis zu dem Vergleich zitiert hatte. Allerdings tauchte der Name Brandeis in dem Dokument überhaupt nicht auf. Stattdessen sprach es von einem Ascher Veil. Braun hatte zwar im Verfahren behauptet, dass Ascher Veil und Samuel Brandeis ein und dieselbe Person seien. Der Referent konstatierte jedoch, dass dem Gericht keine Dokumente vorlägen, die eine solche Gleichsetzung erlaubten. 806 Bis hierhin hatte der Referent seinen Kollegen dargelegt, dass es kaum Beweise gäbe, um zu konstruieren, dass es zu einem Vergleich gekommen und dass Brandeis auch zu diesem eingeladen worden sei. Als letztes besprach er Brandeis Duplik - die zweite Eingabe eines Beklagten in ein Verfahren. In dieser habe Brandeis erklärt, dass er den Aushang Brauns in der Judenschule in Fürth vor dem Vergleichstermin gelesen, diesen aber nicht als peremptorische Zitation begriffen habe. 807 Mit der Duplik argumentierte der Referent, dass Braun Brandeis über den Termin in Kenntnis gesetzt habe und Brandeis der Ladung nicht gefolgt sei, wobei er die Ladung auch nicht als peremptorisch verstanden habe. Dabei insinuierte der Referent, dass der Vergleichstermin realisiert worden sei und dann auch die Mehrheit der Gläubiger einen Vergleich mit Braun geschlossen habe. 808 Hierfür allerdings - dies hatte er selbst am Anfang seines Referats herausgestellt - lagen jedoch keine Beweise vor. Zwar hatte der Koreferent die Relation des Referenten mitunterschrieden und zeigte so auf, dass er diese goutierte, jedoch artikulierten einige seiner Richterkollegen deutliche Kritik an dessen Sachverhaltskonstruktion. Sie bezweifelten das Zustandekommen des Vergleichs, „denn alles beruhet auf dem bloßen Sagen des Brauns.“ 809 Ohne 804 Johann Winkler, Die Lehre von der Praeclusion bey entstandenen Concurse der Gläubiger, 1797, §7, 5f. Das Werk ist digital einsehbar unter: https: / / books.google.de/ books? id=v35DAAAAcAAJ&pg=PA8&lpg=PA8&dq=Die+Lehre+von+der+ Praeclusion+bey+entstandenen++Concurse+der+Gl%C3%A4ubiger&source=bl&ots=G72qZUObkO&sig=3 0HcbYiqkVH2G0yOxRgmn2uBbZU&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwif6vzmlp_cAhWLwAIHHSN yC1MQ6AEwAHoECAEQAQ#v=onepage&q=Die%20Lehre%20von%20der%20Praeclusion%20 bey%20entstandenen%20%20Concurse%20der%20Gl%C3%A4ubiger&f=false [zuletzt eingesehen am 15.05.18.]. 805 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 4rf. 806 Ibid. 807 Ibid., F. 7rff. 808 Ibid. 809 Ibid., Kurzvotum 3, F. 12vff. <?page no="207"?> 208 das pactum remissorum universale waren sie nicht bereit zu konstruieren, dass der Vergleich wie von Braun behauptet geschlossen worden war. 810 Allerdings forderten sie auch nicht dessen Beibringung. Ein Großteil der Kritik war nämlich erst artikuliert worden, als schon feststand, dass die Mehrheit des Kollegs die Arbeit des Referenten goutierte. 8.2.2 Von Majorität und Minorität Die Wahrheitsproduktion zu dem Fall Brandeis wider Braun gibt einen einmaligen Einblick in das Zustandekommen rechtspraktischer Wahrheiten. Nicht allein wurde eine Relation zu dem Fall verfasst, die vom Referenten und Koreferenten unterzeichnet ist, sondern alle an der Entscheidungsfindung partizipierenden Richterkollegen verfassten ein Kurzvotum. 811 Während dies auch bei anderen Verfahren am KLG usus und das Verfassen von Kurzvoten im 17. Jahrhundert wohl noch obligatorisch war, ist die eigentliche Besonderheit, dass in diesem Fall erkennbar ist, dass die Richter nacheinander ihre Stimmen abgaben. Der Referent hatte seine Relation, welche der Koreferent mittrug, dem Kolleg vorgelesen, woraufhin zwei Richter Kurzvoten verfassten, in denen sie sich für eine Annahme des Urteilsvorschlages des Referenten aussprachen. 812 Der nächste Richter formulierte in seinem Kurzvotum zwar Kritik an der Sachverhaltskonstruktion des Referenten, sprach sich aber trotz dessen für die Umsetzung des referierten Urteilsvorschlages aus. Zwar müsse das KLG eigentlich Braun die Beibringung des „pactum remissorum universale“ auftragen, jedoch sei es für Brandeis wohl besser, wenn man die Urteilsvollstreckung nicht herauszögern würde. 813 Der vierte Richter, der ein Kurzvotum verfasste, schloss sich hingegen wieder kritiklos der Relation an. 814 Nunmehr also hatten vier Richter, der Referent und der Koreferent sich für die Annahme der Relation ausgesprochen. Da nur noch drei Richter ihr Votum abgeben konnten, war die Entscheidung also längst getroffen, als der fünfte Richter die im dritten Kurzvotum angeklungene Kritik aufgriff und deutliche Kritik an der Sachverhaltskonstruktion des Referenten formulierte. Auch er argumentierte, dass man ohne pactum nicht konstruieren könne, Braun habe mit der Mehrheit seiner Gläubiger einen Vergleich geschlos- 810 Ibid., Kurzvotum 3, F. 12vff, Kurzvotum 5, F. 13vff. 811 Zumindest verfassten sieben Richter ein Kurzvotum. Daneben gab es noch den Koreferenten, sodass davon auszugehen ist, dass neun Richter an dieser Wahrheitsproduktion beteiligt waren. Betrachtet man nun den in den folgenden Passagen auszuführenden Inhalt der Kurzvoten, liegt es nahe, dass nur diese neun Richter auch an der Entscheidungsfindung partizipierten. Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779). 812 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Kurzvotum 1,2, F. 11vff. 813 Ibid., Kurzvotum 3, F. 12vf. 814 Ibid., F. 12rf. <?page no="208"?> 209 sen. Anders als der dritte Richter insinuierte der fünfte Richter nicht, dass das pactum ohne Zweifel von Braun beigebracht werden könnte und dessen Forderung nur die Urteilsexekution verzögern würde. 815 Der sechste Richter schloss sich der Kritik an, erklärte jedoch zugleich, dass sein Votum gegen die Mehrheit des Richterkollegs stünde. 816 Auch der letzte sich äußernde Richter kritisierte die nicht auf dem pactum fußende Sachverhaltskonstruktion, merkte aber zugleich an, dass man nunmehr das Mehrheitsvotum umsetzen könne. 817 Interessant an diesem Verlauf ist, dass der Großteil der Kritik erst formuliert wurde, als sich die Mehrheit schon für die Annahme des Sachverhaltes des Referenten ausgesprochen hatte. Das agonale Prinzip evozierte also selbst dann Widerspruch und Kritik, wenn diese keine Folgen mehr zeitigen konnten. Zugleich demonstriert die richterliche Debatte auch die Relevanz der Beweise für die Sachverhaltskonstruktion. Dass überaupt in diesem Verfahren letztlich ein Sachverhalt abschließend konstruiert werden konnte, der partiell nicht auf einem vollen Beweis fundiert war, obwohl ein solcher im Rahmen des Verfahrens von den Parteien erwähnt worden war und das Gericht diesen auch hätte eingefordern können, erklärt ein Blick auf die Urteilsproduktion, da der Referent in diesem Kontext noch ein Argument platzierte, dass seine problematische Konstruktion gegen Kritik absichern sollte und letztlich wohl die Mehrheit des Kollegs dann auch überzeugte. 8.2.3 Urteilsproduktion Der Referent musste nicht allein einen Sachverhalt konstruieren, sondern auch die Rechtsfolgen bestimmen. Die Richter, welche schon dessen Konstruktion kritisiert hatten, übten freilich auch Kritik an dessen Urteilsproduktion. Der Referent begann seine Urteilsproduktion mit der Desavouierung des von Braun formulierten Einwandes, dass Brandeis weder in diesem, noch im vorigen Verfahren die Wechsel, auf denen die eingeklagte Schuld verzeichnet war, vorgelegt habe und somit dessen Klage unrechtmäßig sei. Er begegnete diesem Einwand mit dem Argument, Braun sei schon im Zuge der ersten Schuldforderungsklage Brandeis‘ 1763 zur Tilgung der eingeklagten Schuld verurteilt worden. Dessen Einwand sei mithin derart frivol, dass man darüber nicht weiter sprechen müsse. 818 Das Argument verfing. Zumindest erhoben selbst die Kritiker des Referenten keinen Widerspruch. 819 Anschließend deduzierte der Referent die Rechtfolgen aus dem von ihm konstruierten Sachverhalt, dem zufolge Braun Brandeis zu dem Vergleich eingela- 815 Ibid., Kurzvotum 5, F. 13vf. 816 Ibid., Kurzvotum 6, F. 13rf. 817 Ibid., Kurzvotum 7, F. 14vf. 818 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 2vf. 819 Ibid., Kurzvoten 1-7, F. 11vff <?page no="209"?> 210 den, letzterer die Ladung jedoch nicht als peremptorisch verstanden habe, dann auch zu dem Vergleichstermin nicht erschienen sei und Braun mit der Mehrheit seiner Gläubiger einen Vergleich geschlossen habe. Der Referent erörterte am Anfang seiner Ausführungen die Frage, ob Brandeis sein Recht zu Klagen verloren habe, da dieser den Vergleichstermin nicht wahrgenommen hätte. Er argumentierte, Brandeis habe aufgrund der Nichtwahrnehmung des Termins sein Recht, zu klagen, nicht verloren. Zwar ließe sich mit „allen Beifall der Rechte“ behaupten, dass „ein Creditor der sub praejudicio Citatus in Termino nicht erschienen omne jus et actionem gegen die Debitoren verliere.“ 820 Ein Gläubiger sei also verpflichtet, einem solchen Termin beizuwohnen, auch wenn er sich nicht auf einen Vergleich einlassen wollte. Allerdings sei es Brandeis nicht bekannt gewesen, dass die Ladung zu dem Vergleichstermin peremptorisch gewesen sei. Da ferner auch der gerichtliche Ausschluss der nicht an dem Vergleichstermin anwesenden Gläubiger - die Praeclusio in foro Concursus - nicht erfolgt sei, Brandeis ferner im Verfahren auch ausgesagt habe, dass die Zeit zwischen der Zitation und dem Vergleichstermin nicht ausgereicht habe, sich formalrechtlich korrekt dem Konkurs zu nähern, müsse man laut „Cram. W. Ebst. P.122. pag 179. §12.“ in „dubio die Sententiam meliorem“ annehmen. 821 Die Klage Brandeis sei also berechtigt. 822 Nachdem der Referent expliziert hatte, dass die Klage berechtigt sei, zog er die Rechtsfolgen für Braun und Brandeis aus dem Umstand, dass Braun sich mit seinen Gläubigern verglichen hatte. Auch wenn es dafür keine Beweise gab, war dies immerhin die Geschichte, die dessen Sachverhalt erzählte. Er erklärte, dass es „hauptsächlich auf das Pactum remissorium und besonders auch die Frage an[kommt] ob einen Gläubiger durch dergleichen Pactum auch in Ansehnung seiner praejudicirt, und er dadurch vermeisiget werden könne, auch mit dem Vergleichen quanto Vorlieb zu nehmen? “ 823 Nun herrschte zwar bekanntermaßen unter zeitgenössischen Juristen die Meinung vor, dass ein pactum remissorium universale, welches von der Mehrheit der Gläubiger mit einem insolventen Schuldner geschlossen wurde, auch für die nicht in den Vergleich eingetretenen Gläubiger gelten solle. Allerdings galt dies nicht für Gläubiger, die zu dem Vergleich nicht formaljuristisch korrekt eingeladen worden waren. 824 Folglich erörtere der Referent abermals die Ladung Brandeis‘, die durch einen Aushang in der jüdischen Schule in Fürth realisiert worden war. Nunmehr stand 820 Ibid., Relation 1, F. 3rf. 821 Ibid., F. 4rff. 822 Ibid. 823 Ibid., F. 5v. 824 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, 400. <?page no="210"?> 211 allerdings nicht mehr die Frage im Raum, ob Brandeis diese als peremptorisch verstanden hatte, sondern deren Form und Qualität. Der mit dem Fall mandatierte Richter argumentierte, „[d]aß die [von Braun getätigte, Anm. d. A.] Citation nur privata und nicht judicialis gewesen auch nicht dreymal wiederholt worden, that nichts zur Sache, denn das erstere defiderieren die Doctores um zu deßen mehreren Sicherheit v. Lauterbach c.D. § XIX.“ 825 Er bestimmte basierend auf einer Aussage aus dem Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs die Qualität der Ladung Brandeis‘ durch den Aushang in der jüdischen Schule. Dabei anerkannte er, dass die Ladung die juristische Form nicht wahrte. Allerding handle es sich um eine Privatladung, welche laut dem Rechtsgelehrten Lauterbach ebenfalls als rechtskräftige Zitation verstanden werden könne. Der sich im fünften Kurzvotum äußernde Richter bewertete die Ladung anders und argumentierte, „daß die privata convocatio creditorum in der Judenschulde auch nicht für ein solche privat Citation, die Lauterbach in cit. Diss. §29. defidirte darzu solche der citationi edictali nur contradisquirt, folgl nur citationem individualem in faciem vel ad donem darunter verstehet, gehalten werden mögte“. 826 Er argumentierte also ebenfalls basierend auf dem Rechtsgelehrten Lauterbach, dass es sich bei der von Braun in der jüdischen Schule ausgehangenen Ladung nicht um eine von dem Rechtslehrer definierten Privatladung handele, sondern allein um eine individuelle Zitation. Die Ladung weise also weder die juristische noch die von Lauterbacht beschriebene private Form auf und genieße folglich keine Rechtskraft. 827 Der mit dem Fall mandatierte Richter hatte hingegen argumentiert, dass die Ladung rechtskräftig sei. Daran anschließend wandte er sich der Frage zu, ob ein Gläubiger in einen zwischen seinem Schuldner und der Mehrheit seiner Gläubiger geschlossenen Vergleichsvertrags eintreten müsse und argumentierte, „[s]o gewis Frage bejahet werden muss wann von dem jenigen Gläubigern die Rede ist, welche sich in den Concurs eingelassen haben, und aus denjenigen Vermögen des Schuldners befriedigt werden wollen, welches Tempore moti Concursus die Massen communem ausmacht v. Lauterbachibus Diss. De praejudicali pacto remissori Credito“. 828 825 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, 9r. 826 Ibid., Kurzvotum 5, F. 13vf. 827 Ibid. 828 Ibid., Relation 1, F. 5vf. <?page no="211"?> 212 Der Referent argumentierte also weiterhin basierend auf Lauterbach, dass ein Gläubiger, der sich in den Konkurs seines Schuldners eingelassen habe, sich auch in einen zwischen diesem und der Mehrheit seiner Gläubiger geschlossenen Vergleichsvertrags einlassen müsse. Allein war Brandeis laut des von ihm konstruierten Sachverhaltes kein solcher Gläubiger. Er hatte sich nicht in den Konkurs eingelassen und so argumentierte der Referent weiter, „So gewiss ferner solche assertion in denjenigen Landen wo der sächsische rigor cambialis nicht eingeführet, sondern wo vielmehr die Cessio bonorum Secundum L.I.C. de qui Con ced. a carcere et arresta liberirt, wie solches in Specie von den hochfürtl Landen nach der Wechselordnung pag.29 statt findet, auch die Creditores Cambiales [Wechselgläubiger, Anm. d. A.] extendirt werden muß.“ 829 Nunmehr argumentierte er also mit der landesherrlichen Wechselordnung dafür, dass nicht nur jene Gläubiger, die sich in den Konkurs eingelassen haben, sondern alle Wechselgläubiger einen o.a. Vergleichsvertrag beitreten müssten. Aber der allegierte Rechtssatz bringe nicht die Lösung, denn „nach der hochfürstl. W. ordnung p.4 [? ? ? ], nach dem Nürnbergischen Statt Dekreto de 19. Mai 1714. welches kein an Juden ausser von den Handelsleuten und des Wechselrechts kundigen Personen ausgestellte Wechsel, wenn sie nicht vor einen geschworenen [? ? ? ] errichtet worden, vor gültig ansehet, […] folglich Brandeis wircklich ein Creditor Cambiales seye? “ 830 Auch wenn der Referent letztlich die aufgeworfene Frage bejahen sollte, demonstriert die Allegation der Wechselordnung und des Nürnberger Dekrets, dass im Rahmen der Urteilsproduktion judenspezifisch argumentiert werden konnte, da judenspezifische Aussagen im Brandenburg-Ansbacher normativem Diskurs vorlagen. Dieses Mal hätte eine Anwendung der judenspezifischen Normen dann auch zu einer Schlechterstellung der jüdischen Partei geführt. Bemerkenswert an den Ausführungen des Referenten ist ferner, dass er Nürnberger Stadtrecht allegierte. Dabei ist die Anwendung des Nürnberger Stadtrechts unzweifelhaft nicht dem Umstand geschuldet, dass eine der beiden Parteien aus Nürnberg stammte. Brandeis war ein Fürther Schutzjude und Braun war in der Stadt Ansbach ansässig. 831 Nun pflegten nicht allein die beiden hohenzollerischen fränkischen Fürstentümer enge Kontakte, welche auch darin Ausdruck fanden, dass beide gemeinsam zum lutherischen Bekenntnis konvertierten, sondern am 1. März 1533 trat eine von Luther und Melanchton abgesegnete und von den Reformatoren Osi- 829 Ibid., F. 5r. 830 Ibid., F. 6v. 831 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), siehe Aktentitel sowie F. 1ff. <?page no="212"?> 213 ander und Brenz verfasste Kirchenordnung für die beiden fränkischen Markgrafschaften und die freie Reichsstadt Nürnberg in Kraft. Auf dieser „städtischstaatlichen Kooperation“ sollten die evangelischen Kirchen in Franken in den folgenden Jahrhunderten ruhen. 832 Die Konfession wurde also zu einen den fränkischen Raum einenden Band, das die Markgrafschaft Brandenburg- Ansbach mit ihren Nachbarn verknüpfte. Neben den besonderen Banden, die Brandenburg-Ansbach mit seinen Nachbarn wie Nürnberg knüpfte, gilt es auch zu beachten, dass es sich bei Brandenburg-Ansbach um ein Territorium non clausum handelte. 833 Im frühneuzeitlichem Alten Reich konnte ein Gebiet in einem Territorium liegen, ohne dass der Landesherr des Territoriums die Gerichtsbarkeit oder die obrigkeitliche Herrschaft über das Gebiet ausüben konnte, da territorialfremde Landesherren - zumindest partiell - die Landeshoheit über das Gebiet für sich beanspruchten. Ein solches Territorium wird in der Forschung als Territorium non clausum bezeichnet. Der Markgraf zu Brandenburg- Ansbach hatte also nicht die herrschaftliche Gewalt über sein gesamtes Territorium inne, da andere regionale Mächte wie fränkische Reichsritter, die freie Reichsstadt Nürnberg oder das Hochstift Bamberg die herrschaftliche Gewalt über Teile des Territoriums behaupteten. 834 Die Situation in Franken war von besonderer Brisanz, da die fränkischen Regionalmächte ab dem 16. Jahrhundert die Landeshoheit aus der Vogtei und der Dorf- und Gemeindeherrschaft ableiteten. 835 Demgegenüber war man seitens Brandenburg-Ansbachs der Meinung, dass die Hochgerichtsbarkeit die Landeshoheit begründe. Eine konsequente Auslegung dieser Position hätte eine Arrondierung der Landesherrschaft und eine Akkumulation aller Herrschaftsrechte über Brandenburg-Ansbach in den Händen der Landesherrschaft bedeutet. 836 Die Anwendung der Nürnberger und Kulmbacher Partikularrechte seitens der Landrichter mag also aus der Kumulation der spezifischen politischen Verfasstheit des fränkischen Raumes, der Verbindung der hohenzollerischen fränkischen Fürstentümer untereinander und mit anderen fränkischen Größen wie Nürnberg und der Konstitution des KLGs als Reichsgericht, welches dann im Laufe des Mittelalters und der Frühen Neuzeit territorialisiert wurde, resultieren. An dieser Stelle kehren wir zu dem Verfahren und der seitens des Refernten aufgeworfenen und bejahten Frage zurück, ob Brandeis überhaupt „Creditor 832 Rudersdorf, “Brandenburg-Ansbach/ Bayreuth,” 18ff, insb. 19. 833 Günther Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach: Eine Bilddokumentation zur Geschichte der Hohenzollern in Franken (Ansbach, 1980), 321ff. 834 Georg Seiderer, Formen der Aufklärung in fränkischen Städten: Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich, Schriftenreihe zur bayrischen Landesgeschichte 114 (München, 1997), 460. 835 Seiderer, Formen der Aufklärung in fränkischen Städten, 460; Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, 325. 836 Seiderer, Formen der Aufklärung in fränkischen Städten, 460. <?page no="213"?> 214 Cambiales seye? “ 837 Der Richter, der das fünfe Kurzvotum abgegeben hatte und schon in zwei anderen Punkten Kritik an der Arbeit des Referenten geübt hatte, bejahte zwar auch die Frage, stellte aber heraus, dass „Wechselgläubigern dergl. pacto a maiori creditorum pacte inito beyzutretten nicht schuldig [seien], per tradita Boehmer in supr. Cit. Diss. §14.n: 2“. 838 Während also der Referent basierend auf dem Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs argumentierte, dass Wechselgläubiger einem pactum remissourm universale beitreten müssten, argumentierte der kritikübende Richter mit einer allegierten Norm, dass Wechselgläubiger dazu eben generell nicht verpflichtet seien. Der Brandenburg-Ansbacher normative Diskurs beheimatete also zwei sich widersprechende Rechtssätze bezüglich der Verpflichtung von Wechselgläubigern, sich in ein pactum remissorum universale einlassen zu müssen. Die beiden seitens der beiden Landrichter gegenübergestellten Positionen waren Gegenstand einer zeitgenössischen, rechtsgelehrten Debatte. In der zeitgenössischen, juristischen Literatur wurde diskutiert, ob „Wechselgläubiger generell von derartigen Vergleichsverträgen zu befreien“ seien. 839 Die Gegenüberstellung der beiden Rechtssätze in der richterlichen Debatte verweist also auf eine größere zeitgenössische juristische Diskussion, die möglicherweise erst die Debatte am KLG entfachte. Beide Richter bejahrten also, dass Brandeis ein Wechselgläubiger sei, kamen dann aber basierend auf unterschiedlichen Rechtssätzen zu verschiedenen Rechtsfolgen. 840 Der Referent war der Meinung, dass Brandeis als Wechselgläubiger in den Vergleich eintreten müsse und präsentierte eine umfangreiche Argumentation für diese Rechtsfolge, in der er eingangs unterschied „zwischen solchen Creditoribus, welche auf beschehener Citation oder Invisitation sich einfinden und declariren, sie wollten an dem Pacto remissorio keinen Theil haben, […] hingegen aber auch ihr Recht sich vorbehalten auf dem Fall wenn der gemeine Schuldner ad meliorem forthunam kommen würd und […] solchen die auf […] Invitation und Citation ausbleiben, und sich weder deklarieren noch etwas reservieren. Die ersten behalten allerdings ihr volles Recht, ohngeachtet aller übrigen zu stand kommenden pactorum remissoriorem. […] Von den Letzteren aber kann dieses nicht behauptet werden. Denn es statuieren die Doctores juris unter Beziehung auf den Legem 10 H. de pactis, 837 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779)., F. 6v. 838 Ibid., Kurzvotum 5, F. 13vf. 839 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, 400f. Faktisch sprach sich selbst das RKG in seiner Urteilspraxis gegen solche Überlegungen aus.Ibid., 402 840 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 5v-7r. <?page no="214"?> 215 daß die Consentientes prasentes [= bei dem Vergleich anwesenden Gläubigern, Anm. d. A.] den absentibus [= den Abwesenden, Anm. d. A.] allerdings praejudiciren können, zumalen wenn Sie gehörig citirt und vorgefordert worden sind, indem die legitime citati pro prasentibus v. Staudacher Diss. De jure plurium $55. gehalten werden.“ 841 Weiterhin argumentierte er mit Aussagen aus dem Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs. Die Allegation des Rechtssatzes „L 10 H de pactis“ barg allerdings ein Problem, da „[d]er Lex 10 H de Pactis […] zwar diese Frage nicht mit eigentlichen […] Worten [entscheidet], […] da Sie [Die Worte des Rechtssatzes, Anm. d. A.] aber Solche doch förmlich aufgeworfen, und nicht negative beantwortet wird, so wird de Decisio affirmativa angenommen, weil die Entscheidung der in Ansehung des fisci dortselbst aufgeworfenen und der besten intuitu absentium unmittelabr angehangte Frage pure affirmirt wird. Lauterbach in cit.Diss. §XXX und XLIII entscheidet sothan frage eben=falls affirmative“. 842 Der Referent argumentierte also regelkonform mit Rechtsallegationen, führte einen mehrdeutigen Rechtssatz an und legte diesen aus, um möglichen, auf der forensischen Interpretation fußenden Widerspruch zu konterkarieren. Er argumentierte basierend auf seiner Interpretation, dass „Lex 10 H“ tatsächlich die Position stütze, bei einem Vergleichstermin anwesende Gläubiger könnten Entscheidungen treffen, die unter gewissen Umständen - allen voran einer ordnungsgemäßen Zitation aller Gläubiger - auch für die abwesenden Gläubiger galten. Er subsumierte die von seinem Sachverhalt erzählte Geschichte unter das so ausgestaltete Rechtsverhältnis rekurrierend auf seinen vorigen Ausführungen bezüglich der ordnungsgemäßen Privatzitation und deduzierte, dass Brandeis in das pactum remissorum universale eintreten müsse. 843 Im letzten Teil seines Referats wandte sich der mit dem Fall mandatierte Richter dem schon bekannten Problem seiner Sachverhaltskonstruktion zu, dass es zum Vergleichsschluss zwischen Braun und einem großen Teil seiner Gläubiger gekommen sei. Diese Episode des Sachverhaltes ruhte nicht auf einem vollen Beweis - eine Schwachstelle, die dann bekanntermaßen auch die Kritik einiger Landrichter erregen sollte. Der Referent argumentierte, dass es für die zu bestimmenden Rechtsfolgen unerheblich sei, ob der Vergleich tatsächlich zustande gekommen war. Die Schwachstelle in seiner Sachverhaltskonstruktion sei unerheblich. Er überzeugte mit seinen Ausführungen die Mehrheit des Kollegs. 841 Ibid., F. 6r, 7v. 842 Ibid., F. 7r. 843 Ibid., F. 7rff. <?page no="215"?> 216 Bevor nun diese Ausführungen des Referenten nachvollzogen werden können, gilt es, die zeitgenössische Rechtslehre bezüglich des Konkurses genauer zu betrachten. Ein Schuldner begibt sich dann in einen Konkurs, wenn er nicht mehr die finanziellen Mittel hat, alle seine passiven Schulden zu begleichen, wobei Kapital, Mobilien, Immobilien und aktive liquide Schulden gegen die passiven Schulden aufgerechnet wurden. Ein in einem Konkurs befindlicher Schuldner hatte also nicht die Möglichkeit, alle Schuldforderungen seiner Gläubiger zu befrieden. Es war also fraglich, welche Gläubiger eines in einem Konkurs befindlichen Schuldners wie zu befrieden waren. Die Antwort des frühneuzeitlichen Rechts auf diese beiden Fragen war die Einteilung aller Gläubiger in Gläubigerklassen. Die in der ersten Klasse eingeordneten Gläubiger waren bevorzugt zu befrieden; sie konnten sich also die größten Hoffnungen machen, ihre Schuldforderung - zumindest großteilig - beglichen zu bekommen. In der zeitgenössischen rechtsgelehrten Literatur findet man zwar die Auffassung, dass Wechselgläubiger in die erste Klasse einzuordnen seien, jedoch lassen sich auch namenhafte Gegenstimmen ausmachen wie die des über die Grenzen und Zeit des Alten Reiches hinaus berühmten Rechtsgelehrten Samuel Stryk. Mithin war es die herrschende Lehrmeinung, dass Wechselgläubiger in die vierte und somit letzte Klasse eingeordnet werden müssten. 844 Dies ist der Hintergrund, vor dem die letzte Argumentation des Referenten verstanden werden kann. Er legte nämlich dar, dass Brauns Konkurs noch an einem Nürnberger Gericht anhängig sei, woraus er deduzierte, dass die Klage Brandeis zu früh käme. 845 Der Referent argumentierte, dass das Nürnberger Gericht noch den Konkurs beurteile. Dieses hätte also auch noch nicht entschieden, welche Gläubiger in welche Klasse eingeteilt werden müssten. Folglich würde also die Entscheidung, Brandeis solle seine gesamten Schuldforderungen beglichen bekommen, das am Nürnberger Gericht anhängige Verfahren berühren und würde mithin einer Einordnung Brandeis in die erste Gläubigerklasse gleichkommen. Außerdem sei Braun in ein anderes Verfahren am Landgericht verstrickt, infolge dessen dieser wohl in die Konkursmasse seines Vaters 846 394 Gulden „refundieren“ müsse. 847 Die finanziellen Möglichkeiten Brauns, alle seine Schulden zu befrieden, sei also noch begrenzter, als es dem Nürnberger Gericht bekannt sei. Eine Entscheidung in dieser Sache würde also sowohl der Entscheidung des Nürnberger Gerichts bezüglich des Konkurses vorgreifen, als auch die übrigen Schuldner Brauns belasten, da für die Befriedung deren Forderungen noch weniger Kapital zu Verfügung stünde. Diese Ausführungen galten 844 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, 397f. 845 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 10vff. 846 Sowohl Vater als auch Sohn befanden sich in den 70ger Jahren im Konkurs. 847 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 10vff. <?page no="216"?> 217 freilich nur, insofern kein Vergleich zwischen Braun und der Mehrheit seiner Gläubiger zustande gekommen war. Insofern also kein Vergleich zustande gekommen sei, könne das KLG nicht die Befriedung der offenen Schuldforderung Brandeis‘ anweisen, ohne dass Konkursverfahren am Nürnberger Gericht zu berühren, und somit müsse man Brandeis zur Schließung eines Vergleichs anhalten, da ihm dies mehr nütze, als den Prozessweg weiter zu beschreiten, der ohne ein Urteil des Nürnberger Gerichts kein (gutes) Ende für Brandeis nehmen könne. 848 Es sei also irrelevant, ob ein Vergleich zwischen Braun und seinen Gläubigern zustande gekommen sei, da für Brandeis mehr als ein Vergleich mit Braun nicht möglich sei. Die Mehrheit des Kollegs ließ sich wohl von diesen Argumenten überzeugen. Es war dem Referenten also nur deswegen gelungen, einen Teil seines Sachverhaltes zu konstruieren, ohne diesen auf einen Beweis stützen zu können, da er die Mehrheit des Kollegs davon überzeugen konnte, dass dieser Teil für die Bestimmung der Rechtsfolgen nicht ausschlagebend sei. Abschließend behandelte der Referent die Prozesskosten, die er kompensiert wissen wollte. Wie schon im vorigen Verfahren argumentierte er weniger rechtlich, als mit den sozialen Umständen. Die Prozesskosten seien zu vergleichen, da Brandeis genug Schaden durch den Konkurs und den Prozess erlitten habe. 849 Während im letzten Kapitel ein Referent mit einem sozialen Argument für die Kompensation der Prozesskosten zu Gunsten der christlichen Partei argumentierte, nutzte dieser Referent den durch den Konkurs Brauns evozierten finanziellen Schaden, um für eine Kompensation der Prozesskosten zu Gunsten der jüdischen Partei zu argumentieren. Es lässt sich also konstatieren, dass zum einen die Beachtung der sozialen Umstände ein zulässiges Argument für die Verteilung der Prozesskosten darstellte, zum anderen die sozialen Umstände nicht generell zu Gunsten der christlichen Partei angeführt wurden. 8.2.4 Zwischenfazit Die Debatte innerhalb des Kollegs über die Sachverhaltskonstruktion demonstriert die Relevanz der Beweise für die Sachverhaltskonstruktion - sie bildeten an allen drei untersuchten Gerichten die entscheidenden Bausteine und das Fundament eines jeden Sachverhaltes. Dass in diesem Verfahren dann ein Sachverhalt seitens des Referenten konstruiert und vom Kolleg mehrheitlich angenommen wurde, der partiell nicht auf Beweisen ruhte, ist darin begründet, dass der Referent viele seiner Kollegen davon überzeugen konnte, dass der fragliche Teil des Sachverhaltes für die Bestimmung der Rechtsfolgen nicht relevant sei. Die Rechtsfolgen wurden auch dieses Mal bestimmt, indem der konstruierte Sachverhalt mit dem Recht zusammengebracht wurde. Das Recht bildete auch am 848 Ibid. 849 Ibid. <?page no="217"?> 218 KLG die entscheidende Instanz der Urteilsproduktion. Zwar galt es auch dieses Mal, den Sachverhalt unter das Vertragsrecht zu subsumieren, das noch von dem Referenten im vorangegangen Kapitel als bekannt vorausgesetzt worden war. Jedoch galt es nun einen Spezialfall zu entscheiden, da sich Braun im Konkurs befand und vorgab, schon einen Vergleich mit der Mehrheit seiner Gläubiger geschlossen zu haben. Diese Spezifikation dürfte dazu geführt haben, dass der Referent mehrere Rechtssätze allegierte. Das hier untersuchte Verfahren zeigt auf, wie der Modus der richterlichen Stimmabgabe am KLG organisiert war und welche Konsequenzen diese Organisationsform für die gerichtliche Wahrheitsproduktion zeitigte. Nachdem die mit einem Fall mandatierten Richter ihre Referate gehalten hatten, stimmte das Kolleg über diese ab. Einer nach dem anderen Richter gab offen sein Votum ab, wobei in diesem Fall die Voten begründet wurden (wobei letzteres im 18. Jahrhundert am KLG nicht zwingend notwendig war). Die Organsisation der Stimmabgabe hatte zurfolge, dass sich eine Mehrheit bilden konnte, bevor alle Richter ihre Stimme abgegeben hatten. In einem solchen Fall hatten die zuletzt stimmabgebenden Richter keinen Einfluss darauf mehr, welches Urteil das Gericht letztlich sprechen würde - diese Entscheidung war schon vor ihrer Stimmabgabe gefallen. Das agonale Prinzip sorgte jedoch dafür, dass die zuletzt votierenden Richter selbst in solchen Fällen Kritik übten oder Widerspruch artikulierten, auch wenn dies keine Folgen mehr zeitigen konnte. Die Diskussion problematischer Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen kam also auch dann zustande, wenn es den Kritik formulierenden Richtern bewusst war, dass ihr Widerspruch keinen Effekt mehr haben konnte. Dieser Umstand demonstriert, wie agonal der Urteilsdiskurs am KLG ausgestaltet war. 8.3 Der Zusammenhang von Sachverhalt und Urteil - Das Verfahren Kohnfeld wider Abraham Irgendwann in den späten 1760er oder frühen 1770er Jahren trafen sich der Brandenburg-Ansbacher Schutzjude Joel Abraham, Johann Jacob Kohnfeld und dessen Ehefrau sowie dessen Stiefvater auf einer Straße im Amt Hagensdorf. Johann Jacob Kohnfeld kaufte nun per Handschlag Abraham zum Brandenburg-Ansbacher-Pflegeamt Dürnmang gehörige Lehnswiesen für 625 Gulden ab, wobei er die Lehnswiesen schon zuvor inspiziert hatte. Der Abschluss des Kaufgeschäfts wurde dann einige Zeit später im Hause Kohnfelds vollzogen, als dieser und Abraham einen Kaufvertrag über die Lehnwiesen unterzeichneten. In den 1770er Jahren wurde Kohnfeld dann jedoch vor dem Amt Hagendorf vorstellig und forderte die Auflösung des Kaufvertrages. Das Amt leitete ein (erstinstanzliches) Verfahren ein, an dessen Ende es den Kaufvertrag annullierte. Abraham appellierte daraufhin an den Justizrat, welcher allerdings als „secunda instantia“ das erstinstanzliche Urteil bestätigte, woraufhin sich Abraham an das <?page no="218"?> 219 Kaiserliche Landgericht wandte, welches ein drittinstanzliches Verfahren eröffnete und in den späten 1780er Jahren dann ein Urteil fällte. 850 Dessen Produktion gestaltete sich als durchaus aufwendig, hatte doch Abraham gleich acht Gravamina bzw. rechtliche Beschwerden gegen die vorigen Urteile in seinem Klagebegehr aufgeführt. So sei das erstinstanzliche Urteil von einem „Judice incompetente“ gefällt worden, da das Amt Hagensdorf überhaupt nicht die jurisdiktive Kompetenz besäße, um über einen Kaufvertrag zu urteilen, welcher laut Zeugen freiwillig geschlossen worden sei und dessen Gegenstand - also die Lehnswiesen - auch nicht im Amt Hagensdorf, sondern im Amt Dürnmang läge (Grav. I). Überhaupt habe sich das Amt Hagensdorf verdächtig gemacht, bestochen worden zu sein (Grav. II). Mithin sei es so, dass in einem ihm vom Amt Hagendorf zugesandten Bescheid behauptet würde, dass Kohnfeld durch den Kauf einen (finanziellen) Schaden erlitten habe. So seien die Wiesen nach der hagendorfschen Tax auf 400 Gulden geschätzt worden, womit der Kaufpreis den Wert der Lehnswiesen um 225 Gulden übersteige. Jedoch habe das Lastenamt Waßertrüdingen den Wert der Wiesen auf 530 Gulden taxiert, sodass der Kaufpreis den Wert nur um 95 Gulden übersteige (Grav. III). Ferner sei es so, dass selbst wenn die Differenz 225 Gulden betrüge, so habe Kohnfeld selbst dann keinen Schaden erlitten, welcher eine rechtliche Grundlage für die Annullierung des Kaufes bilden könne (Grav. IV). 851 Darüber hinaus habe das vorinstanzliche Gericht gelten lassen, dass die Ehefrau Kohnfelds Einspruch gegen den gültigen Kaufvertrag erhoben habe. Deren Einspruch sei jedoch juristisch unerheblich, da sie kein Vermögen in die Ehe eingebracht habe (Grav. V). Selbst wenn sie ein Vermögen in die Ehe eingebracht hätte, sei ihr Einspruch unerheblich, da laut einem herrschaftlichen Ausschreiben vom 4. April 1759 und den jüdischen Privilegien ein solcher Einspruch nur rechtswirksam sein könne, wenn durch einen Kauf dem Ehemann und dessen Ehefrau eine „Lassionem valde enorme“ zugefügt würde, welche aber in diesem Fall nicht bestünde (Grav. VI). Darüber hinaus sei das Vermögen des Ehepaares Kohnfeld nicht verkürzt worden, selbst wenn man die Taxierung des Amtes Hagendorf der Bewertung des Kaufpreises zugrunde lege. Mithin habe die Witwe auch nicht die Wahrheit über die Vermögensverhältnisse gesagt (Grav. VII). Schließlich sei der Kaufvertrag von dem Amt Hagendorf und dem Justizrat auch deswegen annulliert worden, da er an einem Sonntag geschlossen worden war. Nun sei es zwar so, dass der erste Ausschrieb vom 12. April 1756 den Handel mit Pferden sonntags und der zweite Ausschrieb den Juden den Handel während des sonntäglichen Gottesdienstes verbiete, allerdings sprächen die Verbote wohl eher die Metzger an. Ferner sei auch nur eine Strafe von acht Reichstaler für ein Vergehen gegen das 850 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1. 851 Ibid. <?page no="219"?> 220 Verbot des sonntäglichen Handels vorgesehen und nicht dessen Annullierung [Grav. VIII]. 852 Kohnfeld antwortete auf die lange Liste an Beschwerden, dass Abraham ihm wirklich die Lehnswiesen angeboten habe und er und seine Frau diese dann auch inspiziert hätten. Jedoch habe Abraham, als er Kohnfeld im Beisein von dessen Ehefrau und deren Vater die Lehnswiesen anbot, den Kaufpreis verschwiegen. Nachdem er den Kaufvorgang aus seiner Sicht geschildert hatte, artikulierte Kohnfeld Exceptiones gegen die von Abraham formulierten Gravamina. So sei der Kaufvertrag in Kohnfelds, im Amt Hagendorf gelegene, Wohnung unterzeichnet worden, weswegen das Amt Hagendorf durchaus als „Judex competente“ zu werten sei (Exc. I). 853 Mithin seien er und seine Ehefrau bereit, einen Eid zu schwören, dass sie das Amt Hagendorf nicht bestochen haben (Exc. II). 854 Die Taxierung der Lehnswiesen auf einen Wert von 530 Gulden sei von einem „Judes incompetente“ getätigt worden. So habe kein seitens des Amtes Waßertrüdingen in die Pflicht genommener „Taxtator“ den Wert der Lehnswiesen geschätzt, sondern ein von Abraham instruierter. Dahingegen beweise die Anlage „sub Lit. B. una“ - es handelt sich um die Taxierung des Amtes Hagendorf - dass der Wert der Wiesen 400 Gulden betrage (Exc. III). 855 Der vierten Beschwerde Abrahams schenkte Kohnfeld keine Beachtung, während er bezüglich der fünften ausführte, dass die Anlage „sub Lit. C.“ beweise, dass das Vermögen des Ehepaares größtenteils von der Ehefrau in die Ehe eingeführt worden sei (Exc. V). 856 Über die sechste Beschwerde bräuchte man nicht sprechen, da er und seine Frau in einer „Communio bonorum“ 857 lebten und beide einen finanziellen Schaden durch den Ankauf der Wiese erlitten hätten. Seine Ehefrau habe ihm dann auch allein erlaubt, die Wiesen zu inspizieren, nicht aber diese zu kaufen. Nun sei notorisch, dass „absque Consensa uxoris“ solcher Kauf keinen Bestand und Gültigkeit haben könne, weil in „Contractibus quatalibus praeser- 852 Ibid. 853 Ibid. 854 Ibid. 855 Ibid. 856 Ibid. 857 Unter zeitgenössischen Juristen wurde die „communio bonorum“ als „vera amicitia“ verstanden. Sie geht jedoch - zumindest nach der Einschätzung Hieronymus Gundlings - nicht auf das römische Recht zurück, was jedoch von zeitgenössischen Juristen, wie dem niederländischen Rechtsgelehrten Wesel behauptet wurde. Sie entspringe dem deutschen Recht. Laut dem Sachsen- und Schwabenspiegel gäbe es in der Ehe kein „Gezweytes“. Die Eheleute besäßen ihr Eigentum folglich gemeinsam, insofern sie in einer „communio bonorum lebten. Allerdings sei diese Gundling folgend nicht mehr in allen territorialen normativen Diskursen im Alten Reich beheimatet. Vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling, D. Nic. Hier. Gundlings Weyl. Königl. Preußl. Geheimden und Consitorial- Raths, auch Prof. Publ. Ord. zu Halle Ausführliche und gründliche Discovrse Uber Die sämtlichen Pandecten : Nach Anleitung Sowohl seiner eigenen Protorym als auch Des sel. Herrn Geheimden Raths Ludovici Doctrinae Pandectarvm, 1515f. Das Werk kann unter „http: / / digitale.bibliothek.uni-halle.de/ urn/ urn: nbn: de: gbv: 3: 1-497121“ heruntergeladen resp. eingesehen werden [zuletzt eingesehen am 06.07.2018]. <?page no="220"?> 221 tim inter Christianos et Judaos“ die Einwilligung und Genehmigung der Ehefrau per „Subscriptionem Spontaneam“, gefordert würde. Diese müsse eine rechtsgültige Form aufweisen, ansonsten sei ein zwischen einem Juden und einem Ehemann geschlossener Kaufvertag nichtig (Exc. VI). 858 Die Ehefrau Kohnfeld gab ferner an, dass sie bezüglich ihrer Vermögensverhältnisse nicht gelogen habe. Die durch den Wiesenkauf entstandene Schuldenlast habe sie und ihre Kinder in eine notdürftige Situation versetzt (Exc. VII). 859 Außerdem sei es generell verboten, sonntags Handel zu treiben, wie Anlage „sub Lit. D.“ - ein Auszug aus dem Landesrecht - beweise (Exc. VIII). 860 Die Landrichter mussten nun also entscheiden, ob die Beschwerden Abrahams gegen die vorinstanzlichen Urteile gültig und diese somit nichtig waren. Dabei galt es, die Masse an Argumenten zu bedenken, welche die Parteien im Laufe des Verfahrens formuliert hatten und die hier in aller Kürze skizziert wurden. 8.3.1 Die jüdische Testierfähigkeit Die Wahrheitsproduktion in diesem Verfahren gestaltete sich schwierig, was zur Folge hatte, dass nach den Vorträgen des Referenten und Koreferenten weitere Richter mit den Verfahren mandatiert wurden und dann ebenfalls ihre Einschätzung des Falles referieren mussten. Der Erstreferent kondensierte die acht von Abraham artikulierten Beschwerden auf vier Fragen. So erörterte er eingangs die Frage, ob das Amt Hagendorf überhaupt zuständig war. Er erklärte, dass zwar die Lehnswiesen tatsächlich zum Amt Dürnmang gehörten und die Eheleute auch besser daran getan hätten, Abraham vor dem Amt Dürnmang zu verklagen, allerdings habe die fürstliche Regierung die Streitschlichtung angewiesen und das seitens des Amtes Hagendorf erlassene Urteil sei auch vor dessen Publikation dieser vorgelegt worden. Es stände also außer Zweifel, dass das Amt Hagendorf für die Beurteilung dieses Falles einen „Iudex competento“ darstelle. 861 Der Erstreferent konstruierte also einen Sachverhalt und schlussfolgerte aus diesem ohne den Umweg über das Recht zu nehmen, dass das Amt Hagendorf zuständig gewesen sei. Das kritische Argument war, dass die fürstliche Regierung sowohl die Streitschlichtung angewiesen als auch das Urteil vor der Publikation überprüft hatte. Der Erstreferent hielt also das Amt Hagendorf für zuständig. Eine andere Frage war es jedoch, ob der Kaufvertrag gültig war. Der Erstreferent konstruierte 858 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1. 859 Ibid. 860 Ibid. 861 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1. <?page no="221"?> 222 einen Sachverhalt, demzufolge Kohnfeld in seinem Haus den Kaufvertrag unterschrieben hatte, wobei er darauf verweisen konnte, dass der Vertrag als Beweis vorlag und diese Episode seines Sachverhaltes zwischen den Parteien unstrittig war. Er subsumierte seine Erzählung unmittelbar unter das Vertragsrecht und schlussfolgerte, dass der Vertrag als gültig anzusehen sei, da Kohnfeld diesen unterschrieben habe. 862 Wie schon häufiger in dieser Arbeit betrachtet werden konnte, wurde auch dieses Mal das Vertragsrecht allein durch die Subsumption zur Sprache gebracht. Der Erstreferent sah sich nicht genötigt mit Rechtsallegationen für seine Schlussfolgerung zu argumentieren, da er einen als bekannt vorausgesetzten Teil des Vertragsrechts anwandte. Gerade an dieser Passage wird das Zusammenwirken von Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion deutlich. Der Erstreferent formulierte nicht zuerst einen konkreten Sachverhalt, den er dann in einem nächsten Schritt unter das Recht subsumierte. Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion bilden vielmehr eine Einheit. Der Erstreferent konstruierte einen Sachverhalt, auf den er unmittelbar das Recht anwandte und so die Rechtmäßigkeit des Kaufvertrages konstatierte. Er präsentierte den Sachverhalt also in bereits subsumierter Form und somit in einem juristisch-argumentativen Zusammenhang. Dies bedeutet aber auch, dass nicht allein die prozessrechtlich qualifizierten Beweise eine Grenze des Sagbaren im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion darstellten, sondern auch das Recht bildet eine solche Grenze. Der Erstreferent konnte nur erzählen, was unter das Vertragsrecht subsumierbar war, von diesem also auch besprochen wurde. In der Folge konnte er nicht erzählen, dass die Ehefrau den beiden Männern Essen servierte, diese Bier oder Wein tranken oder Kohnfeld sich später mit seiner Ehefrau darüber austauschte, ob man überhaupt mit Juden handeln sollte. Ein Sachverhalt erzählte nur das, was für die Lösung eines Falles relevant war, da dessen Geschichtserzählung nicht einfach eine Geschichte über konkrete Personen erzählte, sondern diese schon in einer unter das Recht subsumierte Form präsentierte. Das materielle Recht formte die Geschichtserzählungen der Sachverhalte, da die Sachverhalte Geschichten über Parteien nur insofern erzählten, als diese für die rechtliche Argumentation relevant waren. 863 Der Erstreferent hatte also dafür argumentiert, dass das Amt Hagendorf die juristische Kompetenz zur Beurteilung der Sache besäße und der Kaufvertrag gültig geschlossen worden sei. Jedoch sei es drittens fraglich, ob der seitens der Ehefrau Kohnfeld erhobene „Dissens“ - also ihr nach dem Vertragsschluss artikulierter Einspruch gegen den Kauf - die Rechtmäßigkeit des Vertrages aufhebe. 864 Der Erstreferent argumentierte, dass selbst die tatsächliche Artikulation 862 Ibid. 863 Dieser Zusammenhang von Sachverhaltskonstruktion und Urteilsproduktion wurde schon in den frühen 1990er Jahren in einem Aufsatz erörtert. Vgl. Naucke, “Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht.”, insb. S. 65ff. 864 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1. <?page no="222"?> 223 des „Dissens“ die Rechtskraft des Vertrages nicht berühre. 865 Er führte gegen eine mögliche rechtskraftmindernde Wirkung des „Dissens“ aus, dass weder im ius commune noch im Partikularrecht ein Passus zu finden sei, demnach eine Ehefrau einen von ihrem Mann geschlossenen Vertrag post quem umstoßen könne. Es gäbe zwar eine Ausnahme, die aber nur dann wirksam würde, wenn ein Ehemann vor der Ehe tatsächlich kein Vermögen besessen und die Ehefrau das gesamte mobile und immobile Vermögen in die Ehe eingebracht habe. Dann käme dem Ehemann nur das „Dominium“ und der „Usum factum“ zu, nicht aber das Recht, das Vermögen zu veräußern. 866 Allerdings sei nicht zu vermuten, dass der Ehemann überhaupt kein Vermögen in die Ehe eingebracht habe, weswegen der von der Frau erhobene „Dissens“ die Rechtmäßigkeit des Vertrages nicht berühre. 867 Da der „Dissens“ laut dem Referenten den Vertrag nicht berühre, konstruierte dieser weder, dass dieser tasächlich artikuliert, noch dass er nicht ausgesprochen worden war. Er legte mit seiner die Rechtskraft fokussierenden Argumentation vielmehr dar, dass die Episode über den „Dissens“ überhaupt nicht konstruiert werden müsste, da es dieser zur Lösung des Falles nicht bedürfe. Es zeigt sich, wie die von dem Referenten erzählte Geschichte von dessen rechtlicher Argumentation geprägt wurde. Es war allein ein auf die Rechtsfolgen abzielendes Argument, dass die Episode um den „Dissens“ für unwichtig erklärte und sie folglich aus dem festzustellenden Sachverhalt zu verbannen gesuchte. Gleichwohl konstruierte der Referent im Rahmen seiner rechtlichen Ausführungen bezüglich des „Dissens“ einen Teil seines Sachverhaltes, wenn er präsumierte, dass der Ehemann Kohnfeld auch Vermögen in die Ehe eingebracht habe. Nachdem der Referent den seitens der Ehefrau Kohnfeld artikulierten „Dissens“ für rechtlich unwirksam erklärt hatte, wandte er sich abschließend der Frage zu, ob der Kauf nichtig sei, da der Kaufvertrag an einem Sonntag unterschrieben worden war. Er konstruierte, dass Kohnfeld tatsächlich die Lehnswiesen von Abraham gekauft hatte, wobei dies zwischen den Parteien unstrittig war und Abraham den Umstand auch laut species facti zugegeben hatte. Ferner ging er davon aus, dass der Vertrag im Hause Kohnfeld und außerhalb des Gottesdienstes geschlossen worden war. Er argumentierte, dass das landesherrliche Gesetz den Handel außerhalb des Gottesdienstes auch an Sonntagen erlaube und somit auch der zwischen Abraham und Kohnfeld geschlossene Vertrag gültig sei. 868 Folglich sprach er sich für eine Reformation der vorinstanzlichen Urteile aus. Der Vertrag sei weiterhin als gültig anzusehen, Kohnfeld der neue Besitzer der Lehnswiesen und Abraham müsse dafür die im Vertrag festgehaltene Kaufsumme von 625 Gulden erhalten. 869 Es ist an dieser Stelle zu sehen, dass es 865 Ibid. 866 Ibid. 867 Ibid. 868 Ibid. 869 Ibid. <?page no="223"?> 224 aufgrund des angewandten Rechts eine Rolle spielte, wann genau der Vertrag geschlossen wurde, sodass der Referent erzählen musste, dass der Vertrag nicht während des Gottesdienstes geschlossen worden war. Die relative Genauigkeit in dieser Passage bezüglich der Zeitangabe wird von dem angewandten Recht erzwungen. Das angewandte materielle Recht wirkte also auf die seitens des Referenten erzählte Geschichte ein, formte diese mit. Ferner ist zu beachten, dass der Referent seinen Sachverhlat nicht als eine zusammenhängende Geschichte an einem spezifischen Ort innerhalb seines Referats resp. seiner Relation erzählte, sondern er zerstückelte diese in mehrere Einzelteile, welche in seine rechtliche Argumentation eingewoben waren. Er erzählte immer nur das, was er für einen spezifischen argumentativen Schritt innerhalb seiner Relation brauchte. Die Geschichte wird allein fragmentarisch und immer im Kontext einer die Rechtsfolgen bestimmenden Argumentation erzählt. Nun teilte der Koreferent die Einschätzung des Referenten nicht, dass der „Dissens“ für die rechtliche Bewertung unerheblich sei. Er erklärte, dass ein Dissens einer Ehefrau die Gültigkeit eines Vertrages berühre, wenn sie mit ihrem Ehemann in einer communio bonorum lebe und sie ein gemeinsames Vermögen besäßen. Zwar sei in einem solchen Fall ein geschlossener Kaufvertrag wohl nicht für nichtig zu erklären, jedoch müsse man ihn aufheben. Nun war es jedoch so, dass der Referent nie konstruiert hatte, dass der „Dissens“ tatsächlich artikuliert worden war - er hatte kein einziges Argument dafür geliefert, dass die Ehefrau Kohnfeld diesen ausgesprochen hatte. Der Koreferent musste also erst konstruieren, dass die Ehefrau Einspruch eingelegt hatte. Er erklärte, dass dem KLG keine Beweise für die Artikulation des „Dissens“ vorlägen und solche auch schwer zu produzieren seien. Es sei zwar naheliegend, der Ehefrau eine diesbezügliche Eidesleistung abzuverlangen, allerdings könne man dagegen einwenden, dass die eidliche Bestätigung der Ehefrau, sie habe den „Dissens“ eingelegt, auf einen halben Beweis ergehen müsse, welcher nicht existiere. Somit wäre die einzige Möglichkeit, Abraham aufzuerlegen, dass er unter Eid aussagen solle, von einem „Dissens“ nichts gewusst zu haben. Jedoch beweise dies nicht, dass die Ehefrau einen solchen nicht ausgesprochen habe, sondern nur, dass Abraham dessen Artikulation nicht bekannt wäre. Dementsprechend solle das Richterkolleg der Ehefrau den Eid zugestehen, da „uberhaupt aber in dubi Christianos pro Judaeo ac Jurardum zu zu laßen ist.“ 870 Der Koreferent argumentierte an dieser Stelle also, die Ehefrau solle beeiden, dass sie den „Dissens“ artikuliert habe. Zu Beginn seiner Argumentation besprach er möglichen kollegialen Widerspruch gegen diesen Eid, zeigte dann die mögliche Alternative auf, um Beweise zu produzieren, disqualifizierte die laut ihm einzige andere Möglichkeit und sprach sich erst dann dafür aus, dass die Ehefrau den Eid leisten solle. Er antizipierte also mögliche Gegenargumente und entkräftete diese vorsorglich, indem er diese ebenfalls erörterte, disqualifizierte 870 Ibid., Relation 2. <?page no="224"?> 225 und so seine Lösung als die einzig mögliche erscheinen ließ. Zugleich zeigt sich, dass im Brandenburg-Ansbacher Prozessrecht der Zugang zum Juramentum für Juden schwerer als für Christen ausgestaltet war. Gerade bezüglich der Eidesleistung wurde Juden bekanntermaßen generell eine Sonderstellung im (Prozess- )Recht des Alten Reichs zuteil, die auch in die verschiedenen Urteilsdiskurse aufgrund der diskursiven Verschränkung dieser mit den normativen Diskursen diffundierte. 871 Das Prozessrecht schrieb jüdischen Parteien eine geringere Testierfähigkeit und folglich eine rechtliche Sonderstellung zu, die ihren Ausdruck in den Urteilsdiskursen findet, weil mit dem Eid betreffenden, judenspezifischen Rechtssätzen (Zwischen-)Urteile produziert werden konnten, die jüdischen Parteien die Eidesleistung verweigerten. Der Koreferent sprach sich in diesem Verfahren dafür aus, dass die Ehefrau den Eid schwören solle, womit die Episode um die Artikulation des „Dissens“ ein tragfähiges Fundament erhalte, und danach die vorigen Urteile zu bestätigen seien. 872 Letztlich sprach er sich also basierend auf dem judenspezifischen Argument dafür aus, dass Kohnfeld Recht habe und der Vertrag zu annullieren sei. Dieses Mal versuchte ein Referent mittels eines judenspezifischen Rechtssatzes ein wahres Urteil zu produzieren, dass sich für die christliche Partei aussprach. Die Anwendung judenspezifischen Rechts war ein zweischneidiges Schwert, das für jüdische Parteien günstigere und ungünstigere Urteile gleichermaßen bedingen konnte. Die Anwendung judenspezifischen Rechts führte aber immer dazu, dass die normative Sonderstellung der Juden in die Rechtspraxis diffundierte. 8.3.2 Die Judenprivilegien von 1759 Erstreferent und Koreferent stritten also über die Wirkung des „Dissens“, doch das eigentliche Problem war, dass es überhaupt noch nicht feststand, dass ein solcher auch artikuliert worden war. Der Koreferent sah sich noch nicht in der Lage den Einspruch zu konstruieren, sondern forderte weitere Beweise, was das Kolleg so einfach nicht goutierte. Allerdings stand es den Ausführungen des Koreferent auch nicht vollends ablehnend gegenüber. Es mandatierte weitere Richter aus seiner Mitte mit dem Fall, so dass ein Zweitreferent und ein Zweitkoreferent den Fall bearbeiten und dann ihre Ergebnisse referieren mussten. Der zweite Referent war zwar ebenfalls der Meinung, dass der „Dissens“ die Rechtmäßigkeit des Vertrages berühre, jedoch müsse dessen Artikulation nicht mehr bewiesen werden. Abraham habe im Verfahren vor dem Amt Hagendorf 871 Jüdische Parteien mussten ferner auch einen anderen Eid als Christen schwören, welcher diskriminierende und diffanmierende Passagen enthalten konnte. Otto Böcher, “Der Judeneid,” Evangelische Theologie 30 (1970); Hans-Kurt Claussen, “Der Judeneid,” in Rechtswissenschaft II, ed. Karl August Eckhardt (Berlin, 1937). 872 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 2. <?page no="225"?> 226 ausgesagt, dass die Ehefrau nach vier Tagen ihren „Dissens“ kundgetan habe. Es sei also zwischen den Parteien unstrittig, dass die Ehefrau Kohnfeld den „Dissens“ artikuliert habe. Mithin habe die Ehefrau dem Protokoll des Amts Hagendorf zufolge zwei Tage nach dem Geschäftsabschluss ihren „Dissens“ ordentlich protokollieren lassen. 873 Nachdem er also argumentiert hatte, dass es bereits ein tragfähiges Fundament für die Episode um den „Dissens“ gebe, argumentierte er für dessen Rechtswirksamkeit mit eben jenen, von dem Appellanten Abraham angeführten Judenprivilegien aus dem Jahre 1759, mit denen dieser die Rechtskraft des „Dissens“ bestritt. Der zweite Referent explizierte, dass dem zweiten Paragraphen des achten Titels zufolge eine Ehefrau eines Geschäftspartners eines Juden binnen acht Tagen einen rechtskräftigen Dissens gegen einen zwischen ihrem Ehemann und einem Juden geschlossenen Vertrag einlegen könne, insofern das eheliche Vermögen durch das Handelsgeschäft merklichen Schaden nehmen würde. 874 Mit der Allegation des zweiten Paragraphen des achten Titels der Judenprivilegien rückte der Referent die Frage in den Fokus, ob dem Vermögen des Ehepaares ein merklicher Schaden durch den Kauf der Lehnswiesen zugefügt worden war. Diese Frage war allein durch die Anwendung des Rechts nicht zu beantworten, da die Lehnswiesen unterschiedlich taxiert worden waren. Folglich galt es zu zuerst zu konstruieren, welchen Wert die Lehnswiesen hatten, damit dann die Diskrepanz zwischen deren Wert und dem Kaufpreis rechtlich bewertet werden konnte. Der Referent wandte sich also der Sachverhaltskonstruktion zu, bevor er weiter für sein Urteil argumentierte. Er führte an, dass das Amt Hagendorf den Wert der Wiesen auf 400 Gulden, das Amt Waßertrüdingen diesen aber auf 530 Gulden taxiert habe. Nun habe jedoch letzteres in dieser Sache nichts zu melden und somit konstruierte er basierend auf der Taxierung des Amtes Hagendorf, dass der Wert der Wiesen 400 Gulden betrüge. 875 Es lässt sich anhand der dritten Relation nicht klären, warum das Amt Waßertrüdingen in dieser Sache nichts zu melden habe. Es ist aber davon auszugehen, dass der Referent darauf abstellte, dass die Lehnswiesen im Amt Dürnmang lagen, während der Kauf im Amt Hagendorf vollzogen worden war, welches zugleich auch das erstinstanzliche Verfahren prozessiert hatte. Mit der Festlegung des Wertes der Lehnswiesen konnte er nunmehr seinen Sachverhalt unter den von ihm allegierten Rechtssatz subsumieren und so deduzieren, dass eine Diskrepanz von 225 Gulden zwischen Kaufpreis und Warenwert einen merklichen Schaden für das eheliche Vermögen darstelle. Folglich sei der „Dissens“ rechtskräftig und die vorinstanzlichen Urteile seien zu bestätigen. 876 873 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 3. 874 Ibid. 875 Ibid. 876 Ibid. <?page no="226"?> 227 Dessen Koreferent goutierte die Ausführungen und fügte diesen ein weiteres Argument hinzu. Er erklärte, dass die Sachverhaltskonstruktion des zweiten Referenten bezüglich des Wertes der Wiesen unerheblich sei. So habe das Amt Waßertrüdingen den Wert auf 530 Gulden taxiert, was zu einer Diskrepanz zwischen Warenwert und Kaufpreis von 95 Gulden führe. Selbst diese Diskrepanz stelle schon einen merklichen Schaden im Sinne des zweiten Paragraphen dar. Es sei also unerheblich, ob man den Sachverhaltsbehauptungen Abrahams oder Kohnfelds folgte. Beide Sachverhalte wären unter den seitens des zweiten Referenten allegierten Rechtssatz zu subsumieren und führten zum gleichen Ergebnis. Er erklärte ferner, dass es im erstinstanzlichen Verfahren zu einem Verfahrensfehler gekommen sei, da der Ehemann Kohnfeld als Beklagter geführt wurde, jedoch sei vielmehr die Ehefrau der eigentliche juridische Gegner Abrahams, da sie den „Dissens“ gegen den Kaufvertrag artikuliert habe. Gleichwohl stimmte er dem Votum des zweiten Referenten zu. 877 8.3.3 Die forensische Interpretation Das Argument des zweiten Koreferenten stach in ein juristisches Wespennest. Laut diesem stellte schon die Diskrepanz von 95 Gulden zwischen Kaufpreis und Warenwert einen merklichen Schaden dar. Dies war jedoch dem von dem zweiten Referenten und Koreferenten angewandten Rechtssatz nicht ohne weiteres zu entnehmen. Es stellte vielmehr eine Interpretation dessen dar. Das Kolleg wollte nun nicht einfach über die Sache entscheiden, sondern diskutierte ausführlich über die richtige Auslegung des zweiten Paragraphen des achten Titels der Judenprivilegien. Der sechste sich zu dem Fall äußernde Richter legte 878 nun den fraglichen Rechtssatz ganz im Sinne des usus modernus römisch-rechtlich aus. Er argumentierte, dass der Begriff „merklich“ in den Judenprivilegien auf den römischrechtlichen Terminus „Laession enorme“ verweise, welche aber in diesem Fall nicht vorläge. Folglich sei das vorige Urteil dahingehend zu reformieren, dass der Kaufvertrag weiterhin gültig sei. 879 Auf welchen der beiden möglichen Sachverhalte sich der Richter bezog, geht aus dessen Relation nicht hervor. Es lässt sich also nicht feststellen, ob allein die Diskrepanz von 95 Gulden keine Laession enorme darstelle oder ob er auch eine Diskrepanz von 225 Gulden nicht als eine solche wertete. Der siebte und letzte sich zu dem Fall äußernde Richter hingegen unterstützte den dritten und vierten Referenten. Er argumentierte, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff „merklich“ nicht auf das ius commune verwiesen habe, da 877 Ibid., Relation 4. 878 Die fünfte Relation ist leider nicht lesbar. 879 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 6. <?page no="227"?> 228 „man in Statutis schon 50 Rthtr für ein merkl Suma bey Bauerns Leutehn angenommen hat, und derenwegen aller auf so hoch sich belaufende contracte Amts: Protocollirung expresse et sub poena Nullitatis [Nichtigkeit des Vertrages, Anm. d. A.] anbefohlen werden Ibid.§2[des achten Titels des Judenprivilegs von 1759, Anm . d. A.].“ 880 Er legte den Rechtssatz also systematisch aus und bestimmte so, dass schon 50 Reichstaler für Bauern einen merklichen Schaden bedeuten könnten. 881 Seine grundsätzlich den Ausführungen des sich zuvor äußernden Richters widersprechende Argumentation unterstützte er mit dem Argument, dass es auch laut ius commune (welches der vorige Richter als Richtschnur seiner Interpretation nutzte) keiner „Laession enorme“ bedürfe, damit eine Ehefrau einen „Dissens“ artikulieren könne. Sofern eine solche Läsion vorläge, sei der Ehemann prinzipiell berechtigt, eine Klage gegen die Rechtmäßigkeit eines Vertrages einzureichen und somit bedürfe es dann der Artikulation eines „Dissens“ durch die Ehefrau nicht. Die im römischen Recht besprochene „Laession enorme“ könne nicht als Richtschnur der Interpretation des Rechtssatzes dienen - der Begriff „mercklich“ nicht mit dem römisch-rechtlichen „Laession enorme“ übersetzt werden. 882 Der siebte sich zu dem Fall äußernde Richter hatte also die Ausführungen des vorigen sowohl römisch-rechtlich als auch mit der systematischen Auslegung angegriffen. Laut der forensischen Interpretation des landesherrlichen Rechtssatzes durch den siebten Richter war es irrelevant, ob die Diskrepanz zwischen Kaufpreis und dem Wert der Lehnswiesen 95 Gulden oder 225 Gulden betrug. Dieser Richter unterstützte also die Position des vierten Referenten, der zufolge eine den Wert der Wiesen betreffende Sachverhaltskonstruktion für die Lösung des Falles unerheblich sei. Laut dem vierten und siebten Referenten musste nur der Sachverhalt dahingehend konstruiert werden, dass Kohnfeld die Wiesen gekauft hatte. Es sei hingegen nicht nötig zu spezifizieren, welchen Wert die Wiesen letztlich hatten, da sowohl laut den Sachverhaltsbehauptungen Kohnfelds (Wert der Wiesen: 400 Gulden) als auch den Sachverhaltsbehauptungen Abrahams (Wert der Wiesen: 530 Gulden) die Diskrepanz einen merklichen Schaden darstelle, weswegen die Ehefrau berechtigt gewesen sei, einen rechtskräftigen „Dissens“ zu artikulieren. Folglich votierte auch der siebte Richter für eine Bestätigung der vorigen Urteile. 883 880 Ibid., Relation 7. 881 Siehe Kap. 5.2. 882 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten, 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 7. 883 Ibid. <?page no="228"?> 229 8.3.4 Zwischenfazit Der Fall Abraham wider Kohnfeld wurde also in sieben Referaten erörtert, die im Mit- und Gegeneinander einen wahren Sachverhalt und ein wahres Urteil produzierten. Für die Konstruktion der Sachverhalte waren die seitens der Parteien im Laufe des Verfahrens beigebrachten Beweise elementar, für die Urteilsproduktion hingegen waren Aussagen aus dem Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs konstitutiv. Insbesondere war für diese Urteilsproduktion ein judenspezifischer Rechtssatz von besonderer Relevanz, da der zwischen den Richtern strittige Punkt, die Rechtskraft des „Dissens“, aus diesem abgeleitet wurde. Jedoch waren sich die Richter nicht einig, wie der Rechtssatz auszulegen sei und von dessen Interpretation wiederum hing es ab, wie man die Rechtskraft des „Dissens“ bewertete. Während der sechste Richter den Rechtssatz römischrechtlich auslegte und gegen die Rechtskraft des „Dissens“ argumentierte, sprach sich der siebte Richter für die Rechtskraft aus, wobei er dafür den Rechtssatz systematisch auslegte. Der seitens des dritten Referenten in die Debatte eingebrachte Rechtssatz führte also nicht unmittelbar zur Lösung des Falles, sondern er verlängerte die Debatte, da andere Richter mit dessen forensischer Interpretation begannen. Jedoch griff keiner der Referenten auf eine antijüdische Argumentation zurück, um seine Auslegung zu stützen. Vielmehr nutzten sie die aus dem fünften Kapitel dieser Arbeit bekannten Arten der forensischen Interpretation. Selbst im Rahmen der Auslegung eines judenspezifischen Rechtssatzes waren nach der Vollendung des diskursiven Wandels am KLG keine antijüdischen Argumente und Aussagen mehr platzierbar. Primär zeigt sich an dieser Wahrheitsproduktion jedoch, dass Sachverhalt und Urteil eine Einheit bildeten. Sie wurden nicht getrennt voneinander im Votum einer Relation besprochen, sondern der Sachverhalt wurde unmittelbar unter das Recht subsumiert präsentiert. In der Folge stellten nicht allein die prozessrechtlich qualifizierten Beweise, sondern auch das Recht die Grenzen des Sagbaren für die Sachverhalte dar. 884 8. 4 Fazit Der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs war im Grunde denselben diskursiven Regeln unterworfen, welche auch für die hofrätischen Wahrheitsproduktionen galten. Im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion gaben prozessrechtlich qualifizierte Beweise vor, was ein Sachverhalt erzählen konnte, während der Brandenburg-Ansbacher normative Diskurs festlegte, welche Rechtsfolgen ein Urteil für einen Sachverhalt festlegen durfte. Das agonale Prinzip sorgte dafür, 884 Es sei nochmals auf den instruktiven Aufsatz von Wolfgang Naucke zu diesem Thema verwiesen, der auch meinen Blick für den Zusammenhang schärfte. Naucke, „Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderung durch materielles Strafrecht und Strafprozessrecht.“ <?page no="229"?> 230 dass die Referenten ihre Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen auf eine argumentative Basis stellten, wobei prozessrechtlich qualifizierte Beweise und das Recht die Prämissen der Argumente darstellten. Auch am KLG besorgte das agonale Prinzip Debatten über problematische Beweislagen und über aus der Rechtsvielfalt und der Möglichkeit der forensischen Interpretation resultierende, problematische Rechtsanwendungen. Die gerichtliche Wahrheitsproduktion am KLG war kein Akt der Willkür, sondern ein diskursiver Wettstreit verschiedener (juristischer) Meinungen, an dessen Ende sich eine Meinung durchsetzte und so die wahre Meinung zu einem Fall darstellte. Die seitens des KLGs produzierte Wahrheit ist das Ergebnis einer juristisch geregelten Debatte von Fachleuten. Gleichwohl unterminierte der Modus der Stimmabgabe am KLG das agonale Prinzip. Die Stimmen wurden nacheinander abgeben, sodass schon feststehen konnte, dass eine Relation die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen würde, bevor alle Richter die Chance bekamen, ihre Stimme zu erheben. Der Fall Brandeis wider Braun demonstriert dies. Zugleich indiziert der Fall jedoch auch, dass selbst wenn ein Urteil schon die Mehrheit der Stimmen auf sich vereint hatte, Widerspruch und Kritik artikuliert wurde. Es kam also selbst dann zu Debatten, in denen die problematischen Punkte einer spezifischen gerichtlichen Wahrheitsproduktion angesprochen und erörtert wurden, wenn ein wahres Urteil bereits feststand. Das agonale Prinzip konzipierte den Urteilsdiskurs am KLG als agonalen Raum, in den rege Debatten die gerichtliche Wahrheitsproduktion begleiteten. Ferner konnte in diesem Kapitel anhand des Falles Abraham wider Kohnfeld aufgezeigt werden, wie Sachverhalt und Urteil zusammenhingen, dass sie mithin eine Einheit bildeten. In der Folge stellte auch das Recht eine Grenze des Sagbaren für die Sachverhaltskonstruktion dar. Nur was rechtlich relevant war - d.i. was für die rechtliche Argumentation eines Referenten notwendig zu wissen war - wurde konstruiert. Dahingegen stellten Leerstellen in der von einem Sachverhalt erzählten Geschichte kein Problem dar, wenn ein Referent argumentieren konnte, dass diese Leerstellen für die Bestimmung der Rechtsfolgen unerheblich seien, was ebenfalls die gerichtliche Wahrheitsproduktion zum Fall Brandeis wider Braun demonstriert, in welcher der Referent seinen nicht auf einen Beweis fußenden Teil seiner Sachverhaltskonstruktion reüssierend mit dem Argument verteidigte, dieser sei für die Bestimmung der Rechtsfolgen letztlich unerheblich. Für die Bestimmung der Rechtsfolgen griffen die Referenten auf den Brandenburg-Ansbacher normativen Diskurs zurück, welcher römisch-rechtliche 885 und partikulare Rechtssätze 886 beheimatete. Darüber hinaus berücksichtigten die 885 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1, F. 1vf; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1, Relation 4; Nr. 344; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 1, F. 6r, Relation 8, F. 27v; Nr. 368, Asser Israel wider Schmid (1793), Relation 1, S. 22f. 886 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763), Kurzvotum 3, F. 10vf; Nr. 344, Joel Abraham zu <?page no="230"?> 231 Landrichter aber auch Reichsgesetzte wie die Reichspoliceyordnungen 887 , preußische Gesetze 888 oder Nürnberger Stadtrecht. 889 Ferner allegierten auch die Landrichter eine Vielzahl an Rechtsgelehrten. Zwar wurde der große Mann der Kameraljurisprudenz Joachim Mynsinger nicht angeführt, jedoch allegierten die Landrichter den zweiten großen Mann der Kameraljurisprudenz Andreas von Gail. 890 Darüber hinaus allegierten die Landrichter auch den Begründer des usus modernus pandectarum Samuel Stryk 891 und den Vernunftrechtler Samuel Pufendorf. 892 Ferner allegierten sie auch weitere alte Bekannte wie Carpzov 893 und Cramer. 894 Auch im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs verschwimmt also die eigentliche Trennung zwischen usus modernus und Vernunftrecht. Obwohl beide auf gänzlich unterschiedlichen rechtstheoretischen Fundamenten standen, konnten sowohl Rechtssätze des usus modernus als auch vernunftrechtliche Aussagen von den Referenten allegiert und somit als Prämisse ihrer rechtlichen Argumente für die Rechtfolgen dienen. Auch wuchs am KLG die Rechtsvielfalt weiter an, wenn Juden als Parteien in einem Verfahren verfangen waren, da der Brandenburg-Ansbacher normative Diskurs ebenfalls judenspezifische Rechtssätze beheimatete. Dies bedingte dann auch die Möglichkeit, im Rahmen der Urteilsproduktion judenspezifisch argumentieren zu können. Dahingegen war die Möglichkeit, antijüdisch oder judenspezifisch im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion zu argumentieren, durch den diskursiven Wandel zu Beginn des 18. Jahrhunderts eliminiert worden. Die Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 1, Relation 3, Relation 4, Relation 6, Relation 7; Nr. 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78), Relation 2; Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1, F. 3v, Relation 2, F. 2vff, Kurzvotum 1 [Ende der Akte, unpaginiert]; Nr. 349, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 5r; Nr. 358, David Baruch wider Kirschner (1788), Relation 7, F. 18vf; Nr. 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1, F. 14ff. 887 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1, Relation 3; Nr. 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78), Relation 4. 888 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 2, F. 1rf. 889 Staatsarchiv Nürnberg, Kaiserliches Landgericht 119a,Nr. 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779), Relation 1, F. 6v. 890 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1, Relation 3. 891 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 1, F. 24r. 892 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 3, F. 2v-3v. 893 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718), Relation 1. 894 Staatsarchiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Nr. 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78), Relation 3, F. 2v; Nr. 366 Meermann wider Meyer Joseph (1792), Relation 1, F. 29. <?page no="231"?> 232 Landrichter konnten also weder mit antijüdischen noch judenspezifischen Aussagen für ihre Sachverhaltskonstruktionen argumentieren. Dahingegen konnten sie für ihre Urteile mit judenspezifischen Aussagen argumentieren, die prozessrechtliche und materialrechtliche Normen darstellten. Dabei konnte die Anwendung judenspezifischer Normen sowohl für jüdische Parteien günstigere als auch ungünstigere Urteile bedingen. Die rechtliche Sonderstellung der Juden im Alten Reich diffundierte folglich auch in die Rechtspraxis des KLGs. <?page no="232"?> 233 9. Fazit Im 18. Jahrhundert produzierten die drei in dieser Arbeit analysierten Obergerichte im Rahmen zahlreicher zivilrechtlicher Verfahren Wahrheiten über Juden. Die Oberrichter verkündeten in ihren Urteilen, was sich zwischen einzelnen Juden und Christen zugetragen hatte und welche Folgen sich daraus für diese ergaben. Ebenso mussten sie vereinzelt über innerjüdische Streitigkeiten urteilen und so Wahrheiten schaffen, welche allein Juden betrafen. Die gerichtliche Wahrheitsproduktion wurde folglich nicht allein durch die Klageerhebungen christlicher Parteien in Gang gesetzt, sondern auch Juden initiierten diese, indem sie andere Juden oder Christen verklagten. Die jüdische Minderheit nahm die gerichtliche Wahrheitsproduktion also nicht als allzu antijüdisch wahr, sondern war sogar bereit, diese eigenständig in Gang zu setzen. Dies bedeutete jedoch nicht, dass für die gerichtliche Wahrheitsproduktion die Religionszugehörigkeit der Parteien im 18. Jahrhundert irrelevant gewesen wäre. Die zivilgerichtliche Wahrheitsproduktion im Allgemeinen begann mit einer Klageerhebung einer Partei, in deren Folge dann ein Verfahren eröffnet wurde. Im Laufe eines Verfahrens wurden von den involvierten Parteien Behauptungen aufgestellt und Beweise beigebracht; Zeugen wurden verhört, Gutachten erstellt. Über den Großteil eines Prozesses hinweg agierten die Parteien neben den Richtern, Zeugen und Gutachtern als Akteure auf der gerichtlichen Bühne. Erst im letzten Akt verließen sie diese, der Vorhang fiel und öffnete sich ein letztes Mal, damit das Gericht den Parteien das Urteil verkünden konnte. Über dessen Zustandekommen blieben die Parteien allerdings im Unklaren. Sachverhalt und Urteil wurden hinter dem geschlossenen Vorhang von den Richtern aus den im Verfahren gesammelten Informationen und dem geltenden Recht geschaffen. Das Vorgehen hinter dem geschlossenen Vorhang war an allen drei Obergerichten analog ausgestaltet. Das Gericht setzte sich aus einem mehrköpfigen Richterkolleg zusammen, dass aus seiner Mitte zwei Referenten bestimmte, welche mit der Bearbeitung eines Falles beauftragt wurden. Das Ergebnis ihrer Arbeit stellte eine dem Richterkolleg vorgetragene Relation dar, in der sie einen Urteilsvorschlag artikulierten. Das Kolleg stimmte daraufhin ab, ob man den Votumsvorschlag annehmen oder ablehnen sollte. Im Falle der Annahme wurde der Urteilsvorschlag den Parteien als Urteil verkündet, im Fall der Ablehnung mussten weitere Relationen von anderen Referenten verfasst und vorgetragen werden. Relationen - zumindest die jeweils ersten zu einem Fall verfassten - wiesen an allen drei untersuchten Obergerichten eine ähnliche Grundform auf. Sie bestanden aus zwei grundlegenden Elementen. Im ersten Teil, den species facti, stellten Referenten das bearbeitete Verfahren und den darin besprochenen Streitfall nach Aktenlage dar. Es handelt sich dabei also um einen Tatsachenbericht, in denen das unzweifelhaft Geschehene dargestellt wurde. Dies war im <?page no="233"?> 234 Rahmen von Zivilprozessen jedoch zumeist allein das Verfahren, wohingegen der sich zwischen den Parteien zugetragene Sachverhalt - zumindest partiell - zwischen diesen strittig war und somit nicht als Tatsache abgebildet werden konnte. Die species facti stellen also unmittelbar ein Verfahren und mittelbar den im Prozess besprochenen Fall dar. Der Fall wird jedoch nicht als eine Abfolge von geschehenen Ereignissen, sondern als Streitgegenstand der Parteien dargestellt. Er ist also noch in Bewegung; es ist noch nicht entschieden, was geschehen war, sondern vielmehr liegen verschiedene Sachverhaltsbehauptungen der Parteien über das Geschehene vor, welche von den species facti abgebildet werden. Es gibt am Ende der species facti noch keinen wahren Sachverhalt, sondern allein einen Möglichkeitshorizont an Sachverhalten. Diese befanden sich miteinander im Wettstreit, harrten ihrer Wahrwerdung und der damit einhergehenden Eliminierung des Möglichkeitshorizonts. Die species facti bilden den Prolog einer Relation; in ihnen stellte ein Referent die von den Parteien behaupteten Sachverhalte und geforderten Rechtsfolgen dar. Er breitete den Möglichkeitshorizont an Sachverhalten und Urteilen vor seinen Richterkollegen aus, den er im folgenden Teil in zunehmendem Maße immer weiter reduzierte und schließlich eliminierte. Auf die species facti folgt das Votum. In diesem wurde der noch in Bewegung befindliche Fall angehalten: Die Referenten konstruierten aus dem in einem Verfahren gesammelten Informationen einen Sachverhalt und lösten so den Streit der Parteien über das Geschehene auf. Im Votum setzten sie den sich widersprechenden Sachverhaltsbehauptungen der Parteien ihre Sachverhaltskonstruktion entgegen. Sie stellten fest was geschehen war. Ihre Sachverhaltskonstruktion stellt eben jene Tatsachen her, die in den species facti noch allein als widersprüchliche Behauptungen der Parteien auftauchten. Zu ihrem konstruierten Sachverhalt produzierten sie dann das Urteil. Sie legten also die Rechtsfolgen für die Parteien aus dem von ihnen konstatierten Sachverhalt fest. Sie schufen einen einzigen bei gleichzeitiger Eliminierung aller weiteren möglichen Sachverhalte, fanden zu diesem die Rechtsfolgen und löschten somit alle weiteren möglichen aus. Der in den species facti ausgebreitete Möglichkeitshorizont wurde aufgelöst und an seiner Stelle standen allein ein einziger Sachverhalt und ein einziges Urteil. Der erste Teil der Relation ist also allein neutral-darstellerischer Natur, während der zweite Teil kreativ-produktiver Natur ist. Nun soll die schriftliche Form der Relationen, in der sie uns heute begegnen, uns nicht über ihre ursprüngliche Konzeption als mündlich dem Richterkollegium vorgetragene Referate täuschen. Die Art der Präsentation der Relationen zeitigte im Zusammenspiel mit deren Form Konsequenzen für den Urteilsdiskurs. Die Referenten verlasen nämlich zuerst den ersten Teil ihrer Relation, die species facti, daran anschließend präsentierten sie erst in Form des Votums ihre Lösung eines Streitfalles. Dadurch wurden die Richterkollegen zuerst über das Verfahren, die seitens der Parteien aufgestellten Sachverhaltsbehauptungen, die von diesen beigebrachten Beweise sowie Argumente, schließlich die Aussagen <?page no="234"?> 235 von Zeugen und Gutachtern informiert. Wort für Wort lauschten die Richterkollegen dem Vortrag eines Referenten und Zeile für Zeile breitete sich der Streit der Parteien um Sachverhalt und Urteil und folglich der Möglichkeitshorizont an Sachverhalten und Urteilen vor ihnen aus. Die Verlesung der species facti evozierte bei den juristisch ausgebildeten Zuhörern die Fragen, was sich denn nun zwischen den Parteien zugetragen habe und welche Rechtsfolgen zu bestimmen seien. Wort für Wort und Zeile für Zeile wuchs im Richterkolleg die Spannung, wie der Referent denn nun letztlich den Streitfall lösen würde; welchen Sachverhalt er aus den in den species facti abgebildeten Informationen konstruieren würde und welche Rechtsfolgen er aus diesem für die Parteien bestimmen würde. Kurzum erwuchs eine Spannung, wie der Referent den in den species facti abgebildeten Möglichkeitshorizont auf eine einzige Wahrheit reduzieren würde. Die Referierung der species facti evozierte zugleich die Möglichkeit, dass Mitglieder des Richterkollegiums schon während des Referats begannen, im Geiste aus den ihnen durch die Verlesung vermittelten Informationen selbst einen Sachverhalt zu konstruieren und ein Urteil zu produzieren. Bevor der Referent also sein Votum verlas und somit seinen Sachverhalt und sein Urteil präsentieren konnte, konnten Richterkollegen schon andere Sachverhalte und Urteile für wahr halten. Der Referent produzierte mit der Verlesung seines Votums nicht allein eine Wahrheit, sondern er versuchte eo ipso auch alle anderen möglichen Wahrheiten und somit auch die seitens seiner Richterkollegen möglicherweise präferierten Sachverhalte und Urteile zu eliminieren. Nach der Verlesung seiner Relation wurde dann über deren Annahme abgestimmt und nur insofern sie die Mehrheit eines Kollegs hatte überzeugen können, wurde der Urteilsvorschlag auch umgesetzt. Sollte sie hingegen keine Mehrheit überzeugt haben, so wurden weitere Referenten bestimmt und neue Relationen verfasst. Eine Ausnahme bildet das KLG, da dort die Richter auch Kurzvoten verfassten und somit Stellung zu der Relation eines Referenten beziehen und direkt Widerspruch formulieren resp. einen anderen Sachverhalt oder ein anderes Urteil schaffen konnten. Hier war es nicht nötig weitere Referenten zu bestimmen, sondern die Lösung eines Falles konnte auch mittels der Kurzvoten realisiert werden. Darüber hinaus war es an allen drei Obergerichten möglich, dass schon Referent und Koreferent zu keiner einhelligen Meinung kamen, beide also unterschiedliche Sachverhalte oder Urteile schufen. In einem solchen Fall wurden dem Kolleg zwei Relationen vorgetragen, welche unterschiedliche Wahrheiten aus dem Möglichkeitshorizont an wahren Sachverhalten und Urteilen abbildeten, wobei auch in einem solchen Fall ein Kolleg über die Relationen abstimmte und theoretisch auch beide ablehnen konnte. Die kollegiale Verfassung des richterlichen Kollegs, die kollegiale Abfassung der Relationen, deren Form und deren Verlesung kumulieren in einem allen Urteilsdiskursen zugrundeliegenden agonalen Prinzip. Dieses gestaltete die Ur- <?page no="235"?> 236 teilsdiskurse als Arenen aus, in die Referenten ihre Sachverhalte und Urteile führten. Wollte ein Referent die Mehrheit des Kollegs für seine Relation gewinnen, musste er seine Richterkollegen mit Argumenten von seinem Sachverhalt und seinem Urteil überzeugen, antizipierend, dass Richterkollegen möglicherweise nach der Verlesung der species facti schon einen anderen Sachverhalt und ein anderes Urteil für wahr hielten. Ein Referent musste also immer seinen Sachverhalt und sein Urteil gegen andere mögliche Sachverhalte und Urteile durchsetzen, wollte er die Mehrheit eines Kollegs überzeugen, insbesondere wenn der Koreferent eine eigene Relation verfasst hatte. Referenten führten ihre Sachverhalte und Urteile also in einem Diskurs, der als Arena ausgestaltet war, in dem sie nach spezifischen Regeln ihre Sachverhalte und Urteile produzieren und gegen andere mögliche Sachverhalte und Urteile durchsetzen mussten. Für die Sachverhaltskonstruktion waren die Sachverhaltsbehauptungen der Parteien und die seitens dieser beigebrachten Beweise konstitutiv. Nicht nur musste die seitens eines Sachverhaltes erzählte Geschichte auf Beweisen ruhen, auch durfte die Geschichte in keinem Teil der Beweislage widersprechen. Die Beweise bildeten also das Fundament der von Sachverhalten erzählten Geschichten und zugleich die Grenze des Sagbaren im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion. Allerdings kannte das Prozessrecht mit den Präsumptiones eine weitere Möglichkeit, von Sachverhalten erzählte Geschichten zu fundieren. Als Präsumptio (legis) verstanden die frühneuzeitlichen Juristen Erfahrungssätze, welche aus dem Recht gewonnen wurden. Gleich mehrere Rechtsgelehrte hatten hunderte solcher Erfahrungssätze aus dem Recht destilliert und in Form von Kompilationen zugänglich gemacht. Solche Erfahrungssätze konnten ebenfalls als Fundament einer Geschichtserzählung dienen, insofern kein ihnen widersprechender Gegenbeweis dem Gericht vorlag. Referenten konnten also nur dann mit Präsumptiones für ihren Sachverhalt resp. einer Episode ihres Sachverhaltes argumentieren, wenn diesbezüglich keine (widersprechenden) Beweise vorlagen. Der Beweis war dementsprechend für die Sachverhaltskonstruktion konstitutiver als die Präsumptiones. Letztere konnten nur subsidiär eingesetzt werden, insofern nicht mit Beweisen argumentiert werden konnte. Ferner war es nicht notwendig, Episoden einer Geschichte auf Beweisen zu fundieren, die zwischen den Parteien unstrittig waren. Gleichwohl war es aber möglich, unstrittige Sachverhaltsbehauptungen mit dem Argument, dass diese zwar unstrittig, aber eben unbewiesen seien, zu desavouieren. Die entscheidende Größe für die Sachverhaltskonstruktion stellten also die Beweise dar. Dass es nun trotz dieser Relevanz der Beweise möglich war, im Rahmen eines Verfahrens mehrere unterschiedliche Sachverhalte zu konstruieren, ist darin begründet, dass in den seltensten Fällen die Beweislage eindeutig war. Die zumeist fehlende Eindeutigkeit der Beweislage evozierte, ja, sie provozierte den Wettkampf verschiedener, von ihr ermöglichter Sachverhalte zu einem Streitfall: <?page no="236"?> 237 Die Eigenschaft, verschiedenste Sachverhalte generieren zu können, war jeder mehrdeutigen Beweislage inhärent. Die Festlegung des Beweises als grundlegendes Fundament und Grenze der Sagbarkeiten schränkte also nicht das Problem ein, dass zu einem Streitfall verschiedene Sachverhalte konstruiert werden konnten. Beweisen kam diese Relevanz für die Sachverhaltskonstruktion aus einem anderen Grund zu. Die frühneuzeitlichen Oberrichter waren sich des artifiziellen Charakters ihrer Sachverhaltskonstruktionen bewusst. Sie erklärten, dass ihr Sachverhalt nicht den Tatsachen entsprechen müsse, sondern allein der Beweislage, da die Parteien für diese verantwortlich seien. Die Relevanz des Beweises konterkarierte weder das Problem, dass zu einem Streitfall mehrere Sachverhalte konstruierbar waren, noch führte sie dazu, dass die konstruierten Sachverhalte notwendigerweise Tatsachen wiedergeben mussten. Sie band vielmehr diejenigen, über die der Urteilsdiskurs Wahrheiten produzierte, in die Produktion ein - gab ihnen die Macht, die Grenzen der Wahrheitsproduktion zu setzen. In der Folge sahen sich die Richter als Produzenten der gerichtlichen Wahrheiten nicht dafür verantwortlich, wenn ihre Produktion nicht den Tatsachen entsprach - die Schuld an einer solchen Diskrepanz verorteten sie bei den Parteien, welche die Grenzen zogen. Ein Referent präsentierte mit der Verlesung des Votums auch das zu seinem Sachverhalt passende Urteil. Für die Urteilsproduktion in allen drei Urteilsdiskursen waren die jeweiligen territorialen normativen Diskurse entscheidend. Dies resultiert aus der Verschränkung der territorialen normativen Diskurse mit den Urteilsdiskursen. Erst der Kurkölner normative Diskurs brachte den Kurkölner Urteilsdiskurs hervor. Im Kurkölner Prozessrecht war vorgegeben, wie ein Verfahren abzuhalten war und wie der Hofrat zu einem Urteil zu gelangen hatte. Ohne das Kurkölner Prozessrecht hätte es also kein geordnetes Verfahren und folglich auch keinen der in das Verfahren implementierten Diskurse gegeben. Der Urteilsdiskurs ruhte folglich auf dem territorialen normativen Diskurs; war mithin allein dessen Produkt. Diese Verschränkung manifestiert sich in den Aussagen in den Urteilsdiskursen. Referenten mussten in ihren Relationen die von ihnen konstruierten Sachverhalte und sogar schon die species facti unter das Recht subsumiert präsentieren. Es war also obligatorisch, das Recht zumindest in Form der Subsumption zur Sprache zu bringen, sodass die Verschränkung von Urteilsdiskurs und territorialem normativem Diskurs in jeder Relation Ausdruck fand. Resultierend aus der Verschränkung beanspruchten Aussagen aus einem territorialen normativen Diskurs in einen Urteilsdiskurs einen besonderen Wahrheitsanspruch. Sie galten schon in jenem Diskurs als wahr, der den Urteilsdiskurs konstituierte, was ihre besondere Qualität begründete. Die in den territorialen normativen Diskursen beheimateten Rechtsinstitute und Rechtsverhältnisse wurden mit den von den Sachverhalten erzählten Geschichten zusammengebracht, um die Rechtsfolgen zu bestimmen. Die Referenten subsumierten die von ihnen konstruierten Sachverhalte - wie schon die species facti - unter Rechtsinstitute, indem sie die konkreten Parteien und kon- <?page no="237"?> 238 krete Handlungen mit aus dem jeweiligen territorialen normativen Diskurs stammenden juristischen Fachwörtern begriffen. Aus Moses Levi und Johann Schäfer wurden Kläger und Beklagter sowie Gläubiger und Schuldner, wobei die ersten Begriffe auf das zwischen den Parteien mit Beginn des Verfahrens bestehende prozessrechtliche Verhältnis referierten, während letztere die beiden Parteien in ein obligationsrechtliches Verhältnis zueinander setzten. Für viele Wahrheitsproduktionen in den drei Urteilsdiskursen war die Subsumption eines Sachverhaltes unter das Recht ausreichend, um für Rechtsfolgen zu argumentieren. Gerade die Anwendung des Vertragsrechtes resp. des Obligationsrechts wurde in mehreren Fällen allein durch die Subsumptionsmethode realisiert. Referenten subsumierten in der o.a. Form ihre Sachverhalte unter das Vertragsrecht und deduzierten aus der Subsumption die Folgen für die Parteien. Dies setzte voraus, dass ein seitens eines Referenten per Subsumptionsmethode apostrophiertes Rechtsinstitut den Richterkollegen soweit bekannt war, dass diese nachvollziehen konnten, wieso aus der Subsumption eines Sachverhaltes unter ein Rechtsinstitut die von dem Referenten geforderte Rechtsfolge resultieren sollte. Es ist dann auch wenig verwunderlich, dass eine solche Form der Rechtsfolgenbestimmung vor allem gewählt wurde, um einfache vertragsrechtliche resp. obligationsrechtliche Streitigkeiten zu lösen, für die kein tiefgreifendes Verständnis der Rechtsinstitute nötig war, da insbesondere das Vertragsrecht wohl eines der häufig angewandten Rechtsinstitute darstellte. Zur Beurteilung speziellerer Fälle wurde das Recht hingegen unmittelbar in Form einer Allegation zur Sprache gebracht. Es wurde ein Rechtssatz aus dem jeweiligen normativen Diskurs mit Angabe der Quelle zitiert und dieser wurde dann als Prämisse für die Argumentation zur Bestimmung und Durchsetzung des Urteils genutzt. Das Recht wurde dementsprechend in Form der Subsumptionsmethode oder als Rechtsallegation zur Sprache gebracht und bildete zusammen mit dem Sachverhalt das Fundament für die Bestimmung und Durchsetzung der Urteile. Das Recht stellte das Fundament der Urteile und die Grenze des Sagbaren im Rahmen der Urteilsproduktion dar. Die Relevanz des Rechts für die Urteilsproduktion verhinderte nicht, dass zu einem Sachverhalt verschiedene Urteile produzierbar waren. Dies ist zum einen in der Komplexität des frühneuzeitlichen Rechts begründetet. So beheimateten alle drei territorialen normativen Diskurse keine einheitliche bzw. kohärente Rechtsmasse. Vielmehr tauchen in den normativen Diskursen widersprüchliche Rechtssätze auf, die den unterschiedlichen juristischen Strömungen der Frühen Neuzeit entsprangen. Mithin verschwimmen die rechtstheoretischen Grenzen zwischen den einzelnen Rechtsmassen und selbst die Unterscheidungen zwischen dem vernunftrechtlichen ius naturalis und dem positiven Recht sind in der rechtspraktischen Anwendung dieser Rechtsgebäude nicht wahrnehmbar. Zum anderen bedingt die Möglichkeit der forensischen Interpretation uneindeutig verfasster Rechtssätze die Möglichkeit, verschiedene Urteile zu einem <?page no="238"?> 239 Streitfall zu produzieren, wobei gerade solche Rechtsauslegungen zu weitreichenden Debatten über das wahre Urteil unter den Richtern führen konnten. Das letztlich vom Gericht publizierte Urteil war kein Akt der Willkür - wie es Zeitgenossen partiell begriffen - sondern eine Entscheidung, die auf einem argumentativen Wettkampf von juristischen Meinungen ruhte. Nicht ein einziger Richter sollte entscheiden, welcher mögliche Sachverhalt und welches mögliche Urteil wahr werden sollten, sondern es sollte agonal im Kreise juristischer Experten entschieden werden, wobei die Urteilsdiskurse allein prozessrechtlich qualifizierte Beweise, prozessrechtliche Argumentationsmuster und das materielle und prozessuale Recht als Argumente gestatteten. Die obergerichtliche Wahrheitsproduktion war - die Worte Schilds für die Relationstechnik auf diese ausdehnend - eine Perle konkreter Wissenschaft 895 ; die Referenten und Richter produzierten in juristischen Debatten Wahrheiten. Dies also waren die Grundlagen der Wahrheitsproduktion an allen drei Obergerichten. Bei der Produktion von Wahrheiten über Juden unterschieden sich die drei Urteilsdiskurse jedoch partiell. Generell wurde in allen drei Urteilsdiskursen über Juden gesprochen. Dies resultierte aus der obligatorischen Subsumption der species facti und der Sachverhalte unter das Recht. Alle drei territorialen normativen Diskurse beheimateten auch Rechtssätze, die allein das jüdische Leben und das jüdisch-christliche Miteinander reglementierten. Folglich kannten die drei normativen Diskurse auch ein Rechtssubjekt Jude, welches als abstraktes Subjekt eben jener Rechtssätze fungierte. Die Subsumption einer jüdischen Partei unter den Terminus Jude war also die diskursiv regelkonforme Subsumption einer Partei unter ein Rechtssubjekt. Die Subsumption stellte eben heraus, dass eine Partei Jude war und somit spezifische Rechtssätze zu bedenken waren, die allein für Juden galten. Die Subsumption einer jüdischen Partei unter das Rechtssubjekt Jude ist aus juristischer Perspektive äquivalent zur Subsumption einer klagenden Partei unter den Terminus Kläger oder des Begreifens einer Partei als Gläubiger. All diese Begriffe referieren auf das Recht sowie spezifischen Rechtsinstituten und -sätzen. Dass Juden in den Urteilsdiskursen auftauchen, ist also ein Ergebnis der Verschränkung der territorialen normativen Diskurse mit den Urteilsdiskursen, der Existenz judenspezifischen Rechts in diesen und der obligatorischen Subsumption der Fälle unter das Recht. Es tauchen also in allen drei Urteilsdiskursen Juden auf, gleichwohl werden diese in den drei Urteilsdiskursen nicht in gleicher Art und Weise beschrieben. Im Kurkölner Urteilsdiskurs werden Juden als Betrüger, Wucherer und Feinde der Christenheit charakterisiert. Diese Zuschreibungen haben ihren Ursprung nun nicht unmittelbar in zeitgenössischen antijüdischen Vorurteilen, sondern in Rechtssätzen, die solche Beschreibungen inkludierten. Insbesondere die Kurkölner Judenordnung von 1700 bot derartige antijüdischen Aussagen an. Jedoch war nicht allein die Existenz antijüdischer Aussagen im Kurkölner normativen 895 Schild, “Relationen und Referierkunst,” 170. <?page no="239"?> 240 Diskurs für die Charakterisierung der Juden ausschlaggebend. Ebenso relevant war, dass man bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion auch mit einer Päsumptio doli argumentieren konnte. Die Präsumptio doli stellte eine Form der schon zuvor erwähnten Präsumptionen dar. Mittels dieser konnte Betrug und Wucher präsumiert werden. Es war also im Kurkölner Urteilsdiskurs möglich, Sachverhaltskonstruktionen auf aus dem Recht abgeleiteten Erfahrungssätzen über Betrug und Wucher zu fundieren. Da nun die Kurkölner Judenordnung von 1700 und eine Vielzahl anderer Rechtsquellen Normen beinhalteten, welche Juden mit Wucher und Betrug zusammenbrachten, stellte die Akzeptanz der Präsumptio doli im Kurkölner Urteilsdiskurs gerade für jüdische Parteien ein Problem dar. Die auf dem Recht fußende Charakterisierung der Juden im Kurkölner Urteilsdiskurs korrelierte demnach mit der Möglichkeit, diese rechtlich fundierte Charakterisierung in Form einer Präsumptio doli für die Konstruktion eines Sachverhaltes zu nutzen. Letztlich ging dies soweit, dass Juden im Kurkölner Urteilsdiskurs der Betrug als etwas Angestammtes zugesprochen wurde; betrügerisches und wucherisches Verhalten sei also ein natürlicher Charakterzug der Juden. Im Kurkölner Urteilsdiskurs wurden Juden folglich mit antijüdischen Aussagen beschrieben, die für judenspezifische und antijüdische Argumentationen im Rahmen von Sachverhaltskonstruktionen genutzt werden konnten. Solche Beschreibungen der Juden als Betrüger und Wucherer tauchen im Jülich-Berger Urteilsdiskurs hingegen nicht auf. Es finden sich mehrere Aussagen, welche die Präsumptiones doli aus dem Jülich-Berger Urteilsdiskurs verbannten. Es war also am Jülich-Berger Hofrat nicht möglich, mit aus dem Recht gewonnen Erfahrungssätzen einen Sachverhalt zu konstruieren, welcher Betrug oder Wucher präsumierte. Konstatierte ein Referent betrügerisches oder wucherisches Verhalten seitens einer jüdischen Partei, musste er dafür Beweise anführen. Aus dem Recht gewonnene Erfahrungssätze über jüdischen Betrug und Wucher konnten also keinen Einfluss auf die Sachverhaltskonstruktionen am Jülich- Berger Hofrat nehmen. Damit korrelierend wurden Juden dann auch nicht als Wucherer und Betrüger im Diskurs beschrieben. Es tauchen also weder judenspezifische, noch antijüdische Argumente und Aussagen im Rahmen der Sachverhaltskonstruktionen am Jülich-Berger Hofrat im 18. Jahrhundert auf. Im Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs erscheinen noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts Aussagen, die Juden als Betrüger und Wucherer begreifen. In dieser Zeit war die Nutzung der Päsumptiones doli durchaus noch gestattet. Erst in den 1720er Jahren kam es dann zu einem Wandel des Brandenburg- Ansbacher Urteilsdiskurses, in dessen Folge die Päsumptiones doli aus diesem verbannt wurden. Als Resultat war es spätestens ab den 1730er Jahren auch am Kaiserlichen Landgericht zum Burggrafentum Nürnberg nicht mehr möglich, antijüdisch oder judenspezifisch im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion zu argumentieren. Da durch den diskursiven Wandel aus dem Recht gewonnene Erfahrungssätze über vermeintlich typisch jüdischen Betrug einen Sachverhalt <?page no="240"?> 241 nicht mehr stützen konnten, verschwanden in der Folge auch entsprechende Aussagen aus dem Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs. Es wurde also in Folge des diskursiven Wandels ein anderes, nicht länger judenfeindliches Bild der Juden im Urteilsdiskurs gezeichnet. Antijüdische Beschreibungen finden sich also allein in jenen Diskursen, in denen diese Aussagen auch als Prämissen von Argumenten fungieren konnten. Verloren sie ihren argumentativen Nutzen, so verschwanden sie sukzessive aus den Diskursen. Es lässt sich also festhalten, dass im Kurkölner Urteilsdiskurs über den gesamten Untersuchungszeitraum im Rahmen der Sachverhaltskonstruktion antijüdisch und judenspezifisch argumentiert werden konnte, während am Jülich- Berger Hofrat diese Möglichkeit überhaupt nicht und am KLG über den Großteil des Untersuchungszeitraum nicht gegeben war, was mit der Beschreibung der Juden in den Diskursen korreliert. Dahingegen konnte an allen drei Obergerichten im Rahmen der Urteilsproduktion judenspezifisch argumentiert werden. Dies resultiert aus dem Umstand, dass die drei territorialen normativen Diskurse judenspezifische Rechtssätze beheimateten, welche im Rahmen der Urteilsproduktion argumentativ genutzt werden konnten. Da also in den territorialen normativen Diskursen Juden besonders behandelt wurden, galt dies auch im Rahmen der Urteilproduktionen. Ihre Sonderstellung in der obergerichtlichen Wahrheitsproduktion resultierte unmittelbar aus ihrer rechtlichen Sonderstellung, nicht aber immediat aus sozial verbreiteten antijüdischen Wissensbeständen. Die Idee der Gleichberechtigung der Juden, die seit der Rezeption des römischen Rechts von unterschiedlichen Rechtsgelehrten postuliert worden war, war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verbunden mit dem Gedanken, judenspezifisches Recht erlassen zu müssen, was aber letztlich eine rechtspraktische Gleichbehandlung konterkarierte. Zwar war es allein am Kurkölner Hofrat bis zum Ende des 18.Jahrhunderts möglich, antijüdisch zu argumentieren, aber selbst am Jülich-Berger Hofrat und am KLG waren judenspezifische Argumente zugelassen. Eine gesonderte Behandlung wurde Juden an allen drei Gerichten zuteil. Die rechtspraktische Sonderbehandlung musste den jüdischen Parteien nicht notwendigerweise zum Nachteil gereichen. Die den Juden zuteilwerdende Sonderbehandlung war ein zweischneidiges Schwert, die ihnen zum Nachteil oder Vorteil gereichen konnte, wobei dafür die Materie entscheidend war, die in einem Verfahren behandelt wurde. Gewisse Rechtsinstitute enthielten Aussagen, mit denen man zu Gunsten von jüdischen Parteien argumentieren konnte, andere enthielten Aussagen, mit denen man zu Ungunsten jüdischer Parteien argumentieren konnte, und wieder andere thematisierten Juden überhaupt nicht. Es lässt sich also abschließend konstatieren, dass der Kurkölner Urteilsdiskurs latent antijüdisch ausgestaltet war, während der Jülich-Berger und der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs zwar keine antijüdischen, wohl aber judenspezifische Argumente gestatteten. Inwiefern diese Ausgestaltung der Diskurse sich in <?page no="241"?> 242 einzelnen Wahrheitsproduktionen niederschlug, lässt sich aufgrund des agonalen Charakters der Wahrheitsproduktionen nur für jeden Fall einzeln feststellen. Die Ausgestaltung der Diskurse lässt also z.B. nicht etwa den Rückschluss zu, der Kurkölner Hofrat hätte antijüdische Urteile en Masse verkündet. Es war allein an allen drei Obergerichten möglich, dass die rechtliche Sonderstellung der Juden und am Kurkölner Hofrat sogar antijüdische Präsumptionen Wahrheitsproduktionen entschieden. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Stelliung jüdischer Parteien nur für jedes Gericht einzeln bestimmt werden kann - folglich keine Aussagen über die generelle Stellung der Juden vor den Gerichten des Alten Reiches möglich sind, ohne alle Gerichte untersucht zu haben. Ferner bedarf es einer Untersuchung eines Verfahrens, um festzustellen, ob in diesem Prozess Juden tatsächlich eine Sonderbehandlung zuteil wurde. Die reine Feststellung, dass das Verfahren vor einem Gericht prozessiert wurde, welches antijüdische Argumente im Rahmen der richterlichen Wahrheitsproduktion gestattete, ist nicht ausreichend, um Aussagen über das Verfahren zu treffen. Was sich generell sagen lässt, ist das die Verfahren im 18. Jahrhundert in Diskursen entscheiden wurden, in denen soziales Wissen keinen immediaten Einfluss auf die Entscheidung nehmen konnte. Vielmehr sollten Experten über die Fälle diskutierend zu einer Entscheidung gelangen, wobei die Diskussion einem Regelwerk unterworfen war, dass allein prozessuales und materielles Recht als Regeln anerkannte. Ferner lässt sich festhalten, dass obwohl der Arbeitsaufwand der Gerichte im Laufe der Zeit anstieg, die Richter gleichwohl bereit waren, über einzlene Zivilverfahren weitreichende und langatmige Debatten zu führen - ein einfaches Abnicken der Vorträge der Referenten seitens des Kollegs war an keinem der untersuchten Gerichte der Regelfall. Die Richter nahmen die ihnen auferlegte Aufgabe ernst und fällten keine leichtfertigen Entscheidungen, selbst wenn Juden wider Christen prozessierten. Die Rezeption des Rechts hatte letztlich nicht allein eine quasi technokratische Entscheidungsfindung an den (Ober-)Gerichten des Alten Reiches etabliert, sondern auch ein Personal besorgt, welches allen Widrigkeiten zum Trotz den Urteilsdiskurs führte und debattiv gerichtliche Wahrheiten schuf. <?page no="242"?> 243 10. Literatur Adenauer, Hans-Günter. Die Entwicklung der Obergerichte in Jülich-Berg in der Zeit von 1555 bis 1810. Inaugural-Dissertation, 1969. Amend-Traut, Anja. Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht: praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit: Quellen und orschung zurhöchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 54. Köln, 2009. Backhaus, Vera. Der gesetzliche Richter im Staatsschutzstrafrecht. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 120 Abs. 2 GVG. Frankfurt am Main, 2010. 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Quellenverzeichnis 11.1 Kurköln Relationen: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Kurköln III: Nr. II A 35; Nr. II B 24; Nr. II B 70; Nr. II C 8; Nr. II E 8; Nr. II E 10; Nr. II H 19; Nr. II, H 20; Nr. II H 33; Nr. II L 51; Nr. II M 11; Nr. II P 26; Nr II S 21; Nr. II S 111; Nr. II S 129; Nr. II T 19; Nr. II V 14; Nr. II W 46; Nr. II W 71; Nr. II W 72 a. Gedruckte Quellen: J.J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln (im rheinischen Erzstifte Cöln, im Herzogthum Westphalen und im Veste Recklinghausen) über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind : vom Jahre 1463 bis zum Eintritt der Königl. Preußischen Regierungen im Jahre 1816, Band 1, Düsseldorf 1830/ 1. Einzusehen unter: http: / / digitale-sammlungen.ulb.unibonn.de/ content/ titleinfo/ 8208. 11.2 Jülich-Berg Relationen: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat: B XVII 17; B XXV 3; B VII 156 ; B IV 162; B. VII N. 85; B XXVIII 4; B IV. N. 210; B XVII 42; B VII 238 a; B VII 105; B IV 61; Nr. / B XII 12 a; B VII 421. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Reichskammergericht Nr. 3009. Weitere Gerichtsakten: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Jülich-Berg Hofrat: B VII 238 a; B VII N. 23. Gedruckte Quellen: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Scotti, J.J., Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in den ehemaligen Herzogthümern Jülich, Cleve und Berg… über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind I-IV, Düsseldorf, 1821-1822, Band 1. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, HS L II 7 Band XI. <?page no="255"?> 256 11.3 Brandenburg-Ansbach Relationen: Staatsachiv Nürnberg, Rep 119 a , Kaiserliches Landgericht Akten Nr.: 333, Lattenmeyer wider Lazarus (1718); 338, Jud Simon wider J.M. Dilhers wegen Forderung (1730- 1734); 341, D. u. R. Federlin (Roth) wider einige Juden wegen Forderung (1759-1763); 344, Von Reitzenstein zu Selitz wider Hofjuwelier Löw Isaac Wertheimer (1777/ 78); 344, Jüdin Roes wider Kaufmann (1777/ 78); 344, Joel Abraham zu Wikelshofen wider Kohnfelder Jakob (1777/ 78); 345, Brandeis, Jud wider Braun (1779); 349, Eisenmenger und Westphal zu Frankfurt wider Moses Levi Wesel zu Fürth (1783); 349, Seligmann Lämmlein Handelsjude zu Fürth wider Kaufmann Dorn (1783); 349, Hans Schuhmacher zu Insingen wider David Joel Schutzjude zu Ansbach (1783); 350, Hofmann zu Untersulzbach wider Abraham Levi Jeckelheimer (1784); 353, Levi Samuel jud zu Dikenheim wider Johann Leopold (1786); 353, Nathan Schülein wider Leipoldl. Concurs (1786), 357, Consitorials Rath Seiler wider Jud Hirsch Selke (1788); 358, David Baruch wider Kirschner (1788); 360 Weiss Relicten wider Sussmann Debitmassam (1790); 363, Jud Jacob Mendels Wittib Kella zu Fürth, Schutzgesuch (1791); 366, Meermann wider Meyer Joseph (1792); 368, Asser Israel wider Schmid (1793); 370, Löw Pfeiffer wider Flurerl. Relicten (1795). Weitere Gerichtsakten: Staatsarchiv Nürnberg, Fm Ansbach, Bamberger Abgabe 1953 Nr.: 222; 902; 907; 912; 923. Gedruckte Quellen: Stieber, Gottfried, Historische und topographische Nachricht von dem Fürstenthum Brandenburg-Ansbach, Aus zuverlässigen archivalischen Documenten, und andern glaubwürdigen Schriften verfaßet, und mit nötigen Anmerkungen und Registern versehen, Schwabach 1761, Nachdruck von Christoph Schmidt, Neustadt an der Aisch, 1994. Nr. 23: Markgrafentum Brandenburg-Bayreuth (1672): „Caput VII. Von der policey u e berhaupt. Num. I. Erneuerte und vermehrte policey-ordnung unter weyland herrn marggrafen Christian Ernsts g.m. regirungs-zeiten publicirt“, in Die gute Policey im fränkischen Reichskreis, ed. Wolfgang Wüst (Berlin, 2003). Nr. 24: Markgrafentum Brandenburg-Bayreuth (1746): Revidirte und verbesserte policey-ordnung des durchlauchtigsten fürsten und herrn, herrn friedrichs, marggrafens zu Brandenburg, in Preussen etc.herzogs etc. ergangen den I. September 1746, in Die gute Policey im fränkischen Reichskreis, ed. Wolfgang Wüst (Berlin, 2003). <?page no="256"?> 257 11.4 Weitere Quellen Nicht gedruckte Quellen: Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, D 71 Nr. 31, Kanzleiprozeßordnung von 1660. Gedruckte Quellen: Beck, Johann Jodocus, de juribus Judaeorum, Nürnberg 1731, in: http: / / reader.digitalesammlungen.de/ en/ fs1/ object/ display/ bsb10521360_00012.html. [zuletzt eingesehen am 12.03.18]. Descartes, René, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie: [lateinischdeutsch]. 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Anhang 12.1 Namensregister Abraham Franck 107 Albrecht Achilles 203 Amadeus Schmelz 25, 33 Amson Löw 38 Andreas Gail 45, 150, 157, 231 Assur Meyer 71, 122-129 Benedikt Carpzov 150, 195, 231 Carl-Theodor (Pfälzischer Kurfürst) 37 Cesare Beccaria 23 Chile Moses 30, 50, 132 Christian Wilhelm Dohm 17 David Levi 175 Elbers 159 - 173 Erbgemeinschaft von Steffne 71, 122 - 128, 143, 149, 151, 154 Erbgemeinschaft Weil 44, 123, 143 - 147, 151, 154f Ferdinand von Bayern (kölnischer Kurfürst) 30 Franz von Zeiller 26 Friedrich C. von Savingy 56 Friedrich der Große 26 Friedrich III (Brandenburg-Ansbacher Burggraf) 32 Friedrich IV (Brandenburg-Ansbacher Markgraf) 203 Gabriel Broch 30, 67, 74, 87, 115f, 138, 154f Gebrüder Bethmann 37 Georg Braun 205 - 218, 230f, 256 Georg Friedrich (Brandenburg- Ansbach-Bayreuther Markgraf) 203 Georg Kaspar Kirchmeier 25, 33 Gerard Tosten 30, 50, 52ff, 132 - 143, 155 Goldarbeiter Busch 118, 175 - 179 Gottfried Stieber 33 Gumpers Wolf 92 Härl Joachim 198 Immanuel Kant 35 Joachim Mynsinger 45, 122, 150, 156f, 195, 231 Joan Levi 175 Joel Abraham 218 - 231 Johann Beck 12, 92, 94, 156, 203, 246, 257 Johann Brunnemann 25 Johann David Michaelis 94 Johann Jacob Kohnfeld 218, 220 - 230 Johann Schäfer 25, 163, 180 - 194, 238, 251 Joseph ben Ephraim Caro 91 Kaiser Franz I 37 Kaiser Joseph II 26, 36 Kaiser Karl V 36 Karl-Alexander (Brandenburg- Ansbacher Markgraf) 203 Karl-Phillip (Pfälzischer Kurfürst) 62 Kaufmann Pflüger 37 König Rudolf von Habsburg 32 Lazarus 159 - 173 Liggmann Callemann 198 Maximilian Franz von Österreich 36 Mendel Hirtz 123, 143 - 155 Moses ben Israel 91 Moses Levi 180 -191, 194, 238, 256 Rachel Wertheim 142, 155 Renes Descartes 22 Salomon Aaron Cohen 175 Samuel Abraham 181, 184 Samuel Brandeis 67f, 72f, 81f, 88, 101, 205 - 217, 230f, 256 Samuel Pufendorf 34, 48, 195, 231 Samuel Stryk 21, 25, 33, 139, 140ff, 156, 216, 231 Scheuer Abraham 30, 74, 87f, 115f, 154f Thomasius 34, 48 <?page no="259"?> 260 Ulrich von Cramer 156f, 166, 195, 231 Witwe Aaron Cohens 175 Witwe Roth 197, 199, 201, 204 Wolfgang Wilhelm 31 12.2. Sachregister Aequitas 23 Das agonale Prinzip 7, 59, 61, 75, 77f, 80f, 85f, 142, 155, 163, 174, 193, 209, 218, 229f Allegation 56, 90, 123, 138, 141, 143, 166, 194, 204, 212, 215, 226, 238 Anleitungsliteratur 44, 66, 68, 70, 73, 75, 86 Antijudaismus 18, 34, 196 Antisemitismus 14, 16ff, 33, 196 Appellation 29, 35 - 38, 40, 74, 160, 197 Appellationsprivilegien 29f, 35, 38 Appellationsprozess 41, 50, 74, 82f, 127, 128, 161 Argumentum e contrario 125, 128ff Aufklärung 7, 12, 17, 18, 30, 33ff, 94, 192, 195, 213 Betrug 59, 104, 107ff, 117 - 121, 138 - 141, 147, 152, 177, 190f, 201, 240 Beweis 40f, 43, 56, 74, 76, 89, 115 - 118, 126f, 134ff, 140 - 155, 161ff, 167ff, 173f, 176, 182 - 190, 192f, 198 -201, 204, 206f, 209f, 215, 217, 221f, 224f, 229f, 233f, 236, 239f Beweislastregel 116 Beweislastverteilung 167, 176 Beweislehre 127 Beweisverfahren 41 Cives romani 23 Codex juris Justiani 47 Corpus Juris 22, 116, 122 Decretum Gratiani 47 Dienstbarkeit 166, 168, 174, 194 Diskurs 7f, 51, 53ff, 58 - 61, 65f, 77, 80f, 86, 89, 90, 91 - 106, 108, 110ff, 115, 118f, 121, 123ff, 128, 131, 138f, 143, 149, 151ff, 15f, 166, 169, 171, 173f, 177ff, 193ff, 203f, 211f, 214f, 229ff, 236 - 241, 245 Dispositio Achillea 202 Dissens 222 - 229 Duplik 41f, 207 Eid 41, 120, 122, 123, 127, 128, 135, 140, 143, 146, 148 - 154, 197f, 200, 220, 224, 225 Einreden 40f, 205 Endurteil 73 Entscheidungssammlung 51, 61, 66 Forensische Interpretation 8, 10, 26, 59, 90, 115, 122, 128, 129, 130, 178, 227 Geleitskonzession 99f Gemeinen Rechts 21 Generalkonzession 100 Gerichtsordnung 32 Geschichtserzählung 44, 46, 163f, 174, 193, 222, 236 Gläubiger 88, 106, 118, 144, 181, 197f, 200, 202 - 216, 218, 238, 239 Goldenen Bulle 35 Gravamina 82ff, 219f Gutachter 42, 171 Halacha 91 Hoffaktoren siehe Hofjuden Hofjuden 8, 15, 27, 109 - 113, 123 - 126, 247 <?page no="260"?> 261 Ius commune 21, 24, 59, 89, 93, 116, 156, 165f, 168, 195, 203, 222, 227, 228 Ius naturalis 22, 238 Judenordnung 25f, 89, 93, 99ff, 108ff, 122 - 127, 156, 239 Judenprivileg 103f, 228 Judenregal 15 Jülich-Berger Hofrat 19f, 30f, 35, 40, 49, 62, 65, 79, 89, 95, 107ff, 160f, 163, 165, 174, 177, 180f, 185, 190, 193, 195f, 204, 240f Juramentum siehe Eid Justizrat 32, 218 Kaiserliche Landgericht zum Burggrafentum Nürnberg 9, 19, 30, 32, 60, 84, 197, 199, 20ff, 205, 207f, 214, 216ff, 224, 229ff, 235, 241 Kanzleiordnung 40f, 161 Kaufvertrag 132f, 138, 160ff, 165, 167f, 218, 220 - 224, 227 Klageschrift 40f Konkurs 205, 210ff, 215ff Kurkölner Hofrat 11, 19, 30, 32, 49f, 60, 63, 74, 89, 92f, 95, 108, 129, 135, 142, 146, 151 - 155, 190, 241f Kurzvoten 80f, 83, 85, 119, 208f, 235 Landesgesetz 202f Landjudenschaft 15, 16, 109, 244f Lassionem valde enorme 219 Meineid 198f More geometrico 22, 33 Notorietätslehre 57 Obergericht 7, 13, 20, 28ff, 32ff, 40, 44, 47ff, 52, 55, 57, 59, 62, 64, 68, 85, 89, 160, 162, 188, 233, 243 Partikularrecht 21, 24, 43, 47, 56f, 99, 143, 156, 203,213, 222 Personalunion 203 Policeyordnung 20, 29, 101 Positives Recht 22 Praeclusion 206 Präsumption 8, 59, 103, 108, 109, 113, 115 - 121, 129f, 137, 142, 147, 152, 155, 157, 176, 185, 190, 195, 199, 236, 240, 242 Präsumptio hominis 116 Präsumptio legis 116 Privileg 37 Privileg ius de non appelando et evocando 29 Prozess 8, 9, 12f, 19, 22, 28, 29ff, 38 - 44, 48 - 52, 54f, 57, 60 - 64, 66f, 69 - 72, 74f, 78, 83f, 87 - 90, 92, 94f, 102, 104, 110, 116 - 120, 122 - 135, 138, 141ff, 147ff, 151 - 169, 174f, 179 - 182, 185 - 188, 191, 193 - 200, 202, 204, 207 - 210, 213, 216ff, 221, 225ff, 231, 233f, 237, 241, 242 Prozesskostenverteilung 202 Prozessordnung 41 Prozessrecht 40, 89f, 115f, 120, 136f, 147, 162, 182, 186, 200, 204, 224, 236f Quadruplik 41 Rabbiner 91, 93, 95f Rationes decidendi 82f Rationes dubitandi 82 Recht 11f, 15ff, 21 - 26, 32f, 42, 46ff, 51, 56, 59, 69, 73, 87 - 99, 115ff, 122, 125, 130, 137ff, 143f, 149, 155, 160, 165f, 168f, 176, 183, 191, 194, 196, 201f, 204, 209, 214, 217, 220, 221ff, 225, 228ff, 233, 236 - 242 Rechtsanwendung 21, 24, 43, 47, 56f, 68, 70, 73, 76, 91, 96, 111, 120, 121, 143, 194 Rechtsauslegung 91 Rechtsfolgen 55, 73, 75f, 79, 85, 131, 138f, 143, 149, 151ff, 155, 165, 167ff, 173f, 177 - 180, 190, 192, 194ff, 199, 201f, 204, 209, 210, 214f, 217, 223f, 229f, 234f, 237 <?page no="261"?> 262 Rechtsinstitut 55f, 138, 140, 143, 166, 174, 194, 196, 201, 204, 237f, 241 Rechtskreis 24 Rechtsmassen 24, 57, 92, 94f, 156f, 195, 238 Rechtspraxis 13, 21, 25, 27, 50, 52, 61, 121, 179, 225, 232 Rechtsquelle 21, 94, 123 Rechtssubjekt 56, 88, 97, 99, 117 Rechtsverhältnis 55f, 87f, 110 - 113, 215, 237 Referat 72, 154, 167, 173, 183, 190 Reichsgericht 27 - 30, 36, 38ff, 80, 213 Reichshofrat 12, 27f, 56 Reichskammergericht 23f, 27 - 30, 36 -39, 41, 44f, 47, 56, 62, 64, 66 - 73, 76, 89, 101, 106, 144f, 191, 195, 205, 210, 214, 216, 243 Relation 7, 13, 28, 42 -46, 48 - 55, 57 - 87, 89f, 92 - 97, 101 - 111, 116, 118 - 129, 132f, 135 - 151, 153, 156f, 159 - 169, 171, 173, 175, 176 - 192, 194f, 197ff, 201f, 205 - 211, 214, 216, 218, 220ff, 224 - 231, 233 - 237, 239 Relationstechnik 52, 66, 69, 239 Religionspolicey 89 Replik 41 Restitutio in integrum 140 Rezeption 13, 19, 21, 23, 27, 32, 33, 241, 242 Römische Bürger siehe Cives romani Römisches Recht 13, 19, 21, 23, 32, 241 römisch-kanonischen Recht 35 Sachverhalt 9, 45, 50f, 53ff, 57, 66, 69, 73 - 79, 84ff, 88, 92f, 97, 116, 118, 120f, 130f, 136, 138, 142f, 146, 148f, 151f, 154f, 161f, 165 - 168, 173 - 179, 182, 185, 187, 189 -194, 199 - 202, 204, 206, 209f, 215, 217f, 221f, 226 - 230, 233, 234 - 240 Sachverhaltsfeststellung 50, 51, 53, 54, 55 Sachverhaltskonstruktion 8f, 55, 59 - 61, 70, 73ff, 77, 79, 82, 88, 115ff, 121, 130f, 136f, 141f, 146 - 155, 157, 161 - 165, 169, 171, 175f, 179, 182, 185 - 189, 192f, 195, 199ff, 204, 206 - 209, 215, 217f, 222, 226, 228 - 231, 234, 236, 237, 240f Schuldner 74, 88, 106f, 118, 125, 144, 153, 181, 184, 198, 206, 210, 211, 214ff, 238 Schutzbrief 16 Schutzherrschaft 13, 16 Schutzjude 67f, 72f, 81, 88, 92, 101, 212, 218 Servitus 166ff, 170ff, 174, 194 Servitus onus ferendi 166, 168, 195 Servitus tigni immittendi 167f, 195 Species facti 44, 51, 66f, 69 - 72, 74 - 77, 79, 82 - 85, 87f, 97, 104ff, 131, 147, 223, 233 -239 Strafgerichtsbarkeit 32 Strafrechtspraxis 12, 28 Strafrechtsprozesses 28 Subsumption 7, 59, 87, 88 - 90, 97, 99, 103, 106, 110, 112, 139, 143, 149, 165f, 168, 174, 192, 194, 201, 204, 222, 237, 238, 239 Supplikation 31 Systematisch-axiomatische Methode 22, 44, 48 Systematische Auslegung 123, 125, 128, 130 Talmud 91 Territorialer normative Diskurs 59, 90, 93, 99, 101, 109, 115, 117, 131, 153, 174, 195, 220, 237, 241 Territorium non clausum 213 Thora 91, 94, 197, 198, 200 Topik 22, 25, 47, 250 Transmissio ad impartiales, 31 Triplik 41 <?page no="262"?> 263 Urteilsdiskurs 8, 55, 57ff, 60f, 64, 66, 70, 75, 77f, 86 -91, 97, 99, 101, 103, 109, 112f, 115, 117, 120f, 130f, 154, 157, 189, 204, 225, 235, 237 - 240 Urteilsfindung 13, 54, 55, 71, 151 Urteilsproduktion 8, 9, 55, 60f, 73, 75, 77, 79, 82, 115, 120f, 130f, 138, 148, 165, 174, 177, 179, 190, 193, 195f, 201, 203f, 209, 212, 217f, 222, 229, 231, 237, 238, 241 Usus modernus 21, 22, 25, 34, 47, 48, 157, 191, 195, 203, 227, 231 Verfahren siehe Prozess Verfahrensdiskurse 90 Vergleich 11, 50, 52, 57, 127, 134 - 137, 139 - 142, 145, 190, 196, 205 - 210, 213 - 217 Vernunftrecht 22, 34 Verordnung 25, 65, 99f, 104, 108, 195, 255 Vertrag 19, 138, 165, 167, 194, 221 - 228, 254 Vertragsrecht 138ff, 143, 165f, 191f, 194, 196, 201, 217, 221f, 238 Votum 44, 53, 66, 68 - 76, 78f, 82 - 85, 87, 105, 108, 208, 218, 227, 229, 234f, 237 Wahrheitsfindung 7, 12, 19, 21, 26, 29, 33f, 40, 42f, 45, 48f, 55, 65 Wahrheitsproduktion 5, 11, 53, 55, 58ff, 62, 76f, 82, 85, 105, 131, 189, 192f, 204, 208, 218, 221, 229f, 233, 237, 239, 241, 242 Wechsel 58, 128, 143, 144 - 147, 149ff, 205f, 209, 212 Wechselgläubiger 144, 197, 205, 212, 214, 216 Wechselinhaber 144 Wechselschuld 144 Wechselschuldner 144 Zeuge 11, 41f, 74, 89, 115, 133 - 138, 144ff, 154, 162f, 176, 180, 183f, 219, 233, 235 Zivilgerichtsbarkeit 32 Zivilrechtsprechung 28, 30, 32, 61 Zivilverfahren 28, 40 Zwischenurteil 43, 70, 78, 120, 125, 148, 153 <?page no="263"?> Band 18 Mathis Leibetseder Die Hostie im Hals Eine ›schröckliche Bluttat‹ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726 2009, 200 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-208-8 Band 19 Sarah Bornhorst Selbstversorger Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm 2010, 374 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-249-1 Band 20 Mark Häberlein, Christian Kuhn, Lina Hörl (Hg.) Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750) 2011, 220 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-254-5 Band 21 Päivi Räisänen Ketzer im Dorf Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg 2011, 370 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-255-2 Band 22 Jan Willem Huntebrinker »Fromme Knechte« und »Garteteufel« Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert 2010, 452 Seiten, 54 s/ w Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-274-3 Band 23 Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter, Gerd Schwerhoff (Hg.) Das Duell Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne 2012, 372 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-319-1 Band 24 Alexander Kästner Tödliche Geschichte(n) Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547-1815) 2011, 688 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-320-7 Band 25 Albrecht Bukardt, Gerd Schwerhoff (Hg.) Tribunal der Barbaren Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit 2012, 452 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-371-9 Band 26 Matthias Bähr Die Sprache der Zeugen Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806) 2012, 316 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-397-9 Band 27 Christina Gerstenmayer Spitzbuben und Erzbösewichter Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation 2013, 386 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-403-7 Konflikte und Kultur Herausgegeben von Martin Dinges, Joachim Eibach, Mark Häberlein, Gabriele Lingelbach, Ulinka Rublack, Dirk Schumann und Gerd Schwerhoff www.uvk.de : Weiterlesen <?page no="264"?> Band 28 Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.) Göttlicher Zorn und menschliches Maß Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften 2013, 218 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-404-4 Band 29 Andreas Flurschütz da Cruz Zwischen Füchsen und Wölfen Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden 2014, 460 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-504-1 Band 30 Nina Mackert Jugenddelinquenz Die Produktivität eines Problems in den USA der späten 1940er bis 1960er Jahre 2014, 338 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-559-1 Band 31 Maurice Cottier Fatale Gewalt Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne Das Beispiel Bern 1868-1941 2017, 248 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-719-9 Band 33 Suphot Manalapanacharoen Selbstbehauptung und Modernisierung mit Zeremoniell und symbolischer Politik Zur Rezeption europäischer Orden und zu Strategien der Ordensverleihung in Siam 2017, 288 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-809-7 Band 34 Moritz Glaser Wandel durch Tourismus Spanien als Strand Europas, 1950-1983 2018, 392 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-826-4 Band 35 Eva Keller Auf Bewährung Die Straffälligenhilfe im Raum Basel im 19. Jahrhundert 2019, 304 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-892-9 Band 36 Franz-Josef Arlinghaus, Peter Schuster (Hg.) Dynamiken und Grenzen des Vergleichs in der Vormoderne 2020, 134 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-914-8 Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter www.uvk.de Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. : Weiterlesen <?page no="265"?> Konflikte und Kultur Vorliegende Studie eruiert die zivilrechtliche Stellung der jüdischen Minderheit vor landesherrlichen Gerichten im 18. Jahrhundert anhand dreier territorialer Obergerichte. Sie bietet dabei einen weitgreifenden Einblick in die mannigfaltigen Konfliktfelder, welche innerjüdische und jüdischchristliche Prozesse vor christlichen Gerichten in der Frühen Neuzeit evozierten. Im Fokus der Untersuchung stehen nicht die Parteien oder deren Anwälte, sondern die Richter. Es wird sorgfältig skizziert, wie diese über die zur Entscheidung stehenden Fälle debattierten, um zu Urteilen zu gelangen, welche (diskursiven) Regeln die Debatten strukturierten bzw. begrenzten und inwiefern diese Regeln es gestatteten, den jüdischen Glauben einzelner Parteien für die Urteilsfindung zu bedenken. ISBN 978-3-7398-3074-2 www.uvk.de