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Ausplünderung der Juden in Schwaben während des Nationalsozialismus und der Kampf um Entschädigung

1109
2020
978-3-7398-8103-4
978-3-7398-3103-9
UVK Verlag 
Peter Fassl
Markwart Herzog
Sylvia Heudecker

Die Verfolgung der jüdischen Bürger während der nationalsozialistischen Herrschaft ging einher mit dem Raub ihres Eigentums, der von alltäglichen Haushaltsgegenständen über Kunstwerke, Geld- und Anlagevermögen sowie Immobilien bis hin zu ihren Firmen reichte. Am Raub und der Bereicherung waren neben den Funktionären der NSDAP zahlreiche weitere Personengruppen und Institutionen beteiligt, darunter staatliche und kommunale Behörden, vor allem die Finanzverwaltung und Museen, Kunsthistoriker, Kunsthändler, Firmeninhaber und Angestellte sowie Arbeitskollegen und Nachbarn. Die Restitution des Eigentums der Verfolgten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war für die Berechtigten schmerzvoll, das Ergebnis selten befriedigend. Oft mussten sie die Verfolgung erneut durchleben. Häufig waren ihre Verhandlungspartner die Täter, die ihre eigene Rolle im Raubgeschehen verharmlosten, im Extremfall sogar Beweismaterial zurückhielten oder die Berechtigten schlichtweg anlogen. An Beispielen überwiegend aus Schwaben, darunter aus Augsburg und Memmingen, werden in diesem Band solche Raubszenarien und die Restitution vorgestellt. Akteure werden benannt, Abläufe rekonstruiert, darüber hinaus wird die Quellenlage für die Raub- und Restitutionsforschung in Bayerisch-Schwaben vorgestellt. Band 14 der Reihe "Irseer Schriften - Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker

<?page no="0"?> Peter Fassl (Hg.) Ausplünderung der Juden in Schwaben während des Nationalsozialismus und der Kampf um Entschädigung <?page no="1"?> Peter Fassl (Hg.) Ausplünderung der Juden in Schwaben während des Nationalsozialismus und der Kampf um Entschädigung <?page no="2"?> IRSEER SCHRIFTEN Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte N.F. Band 14 Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee <?page no="3"?> Peter Fassl (Hg.) Ausplünderung der Juden in Schwaben während des Nationalsozialismus und der Kampf um Entschädigung UVK Verlagsgesellschaft Konstanz <?page no="4"?> Einbandmotiv: © Sammlung Häußler Die Besucherkarte der Firma „Friedmann & Dannenbaum, Weiß-, Strumpf- und Wollwarenhandlung en gros“ überliefert das Aussehen des Geschäftshauses in der Zeit um 1900 in Augsburg an der Ecke Annastraße/ Martin-Luther-Platz. Die Firma produzierte ihre Damen- und Herrenwäsche in einer eigenen Näherei selbst und belieferte damit den Einzelhandel. Im Geschäftsgebäude waren die Erdgeschossflächen immer vermietet, die Firma selbst belegte die oberen Stockwerke. Die jüdischen Eigentümer mussten verfolgungsbedingt 1938 die Firma verkaufen, das Geschäftsgebäude wurde 1939 zwangsweise „arisiert“. Das Foto des Geschäftsgebäudes von 1940 zeigt den Zustand nach der „Arisierung“. Der vorliegende Band ist Band VI der Reihe „Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben“. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1619-3113 ISBN 978-3-7398-3103-9 (Print) ISBN 978-3-7398-8103-4 (ePDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2020 Satz: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Druck und Bindung: CPI · Clausen & Bosse, Leck UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 www.uvk.de <?page no="5"?> Inhalt Peter Fassl Einleitung ............................................................................................................11 1. Quellen und Forschungsstand ...........................................................................11 2. Die Beiträge des Tagungsbandes........................................................................15 3. Resümee und Desiderate ...................................................................................24 I. Quellen, gesetzliche Grundlagen und Berichte Rainer Jedlitschka Quellen zur „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts im Staatsarchiv Augsburg ................................................................................33 1. „Wiedergutmachung“ - Rückerstattung und Entschädigung .............................33 2. Administration der „Wiedergutmachung“ in Bayern und Zuständigkeit der staatlichen Archive.......................................................................................35 3. Relevante Bestände im Staatsarchiv Augsburg ....................................................37 4. Resümee............................................................................................................48 Katrin Holly/ Gerhard Fürmetz Quellen in Archiven außerhalb des Regierungsbezirks Schwaben zu „Arisierung“, Restitution und „Wiedergutmachung.“ Ein Leitfaden ............55 1. Bestände im Staatsarchiv München ...................................................................56 2. Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv ...........................................................58 3. Das Bayerische Wirtschaftsarchiv ......................................................................59 4. Das Bundeszentralregister im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen .....................59 <?page no="6"?> Inhalt 6 Florian Schwinger Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht und das Beispiel Ludwig Dreifuß .........................................63 1. Die erste Phase von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht ............................................................................................................63 2. Die zweite Phase von Restitution und „Wiedergutmachung“ .............................65 3. Die dritte Phase von Restitution und „Wiedergutmachung“ - Staatsabkommen ............................................................................................69 4. Das Entschädigungsbeispiel Ludwig Dreifuß .....................................................70 5. Resümee............................................................................................................75 Heinz Högerle Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen ................79 1. Horb am Neckar und seine jüdischen Gemeinden .............................................79 2. Stufen der Ausplünderung und wirtschaftlichen Vernichtung der jüdischen Bürger von 1933 bis 1938 .................................................................................80 3. Verordnungen anlässlich des Novemberpogroms 1938 und die Folgen für die Horber Juden ....................................................................................................83 4. Die Endphase der Ausraubung der jüdischen Menschen in Horb und Rexingen ...........................................................................................................87 5. Restitution nach 1945 am Beispiel der Familie Esslinger - ein deprimierendes Ergebnis..................................................................................103 6. Erkenntnisse....................................................................................................106 Michael Niemetz „Arisierung“ in Laupheim - ein Forschungsstand .......................................109 1. Quellen ...........................................................................................................109 2. „Arisierung“ jüdischen Eigentums ...................................................................110 <?page no="7"?> Inhalt 7 II. „Arisierung“ und Restitution Tim Benedikt Heßling Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg ......................115 1. Zur rechtlichen Situation jüdischer Immobilienbesitzer während der NS-Zeit .....................................................................................................116 2. Übersicht über die „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg.....117 3. Das Anwesen in der Heilig-Grab-Gasse 2 ........................................................118 4. Das Anwesen in der Mozartstraße 5 ½ ............................................................122 5. Das Anwesen in der Bahnhofstraße 7 ..............................................................127 6. Zusammenfassung ...........................................................................................130 Katrin Holly Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 .........................................................................................................133 1. Beteiligte Personen und Institutionen..............................................................135 2. Verfahren, Streitpunkte und Argumentationslinien .........................................138 3. Die Verhandlung nationalsozialistischen Unrechts in zwei Restitutionsverfahren .........................................................................................................150 4. Zusammenfassung ...........................................................................................159 Maren Janetzko Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen .....................................................................................................169 1. Historische Umstände der Restitution .............................................................169 2. Die Weberei M.S. Landauer in Augsburg: Ein Vergleichsabschluss vor der Wiedergutmachungsbehörde ...........................................................................170 3. Die Weiß- und Wollwarengroßhandlung Julius Guggenheimer in Memmingen: Der Versuch einer Widerlegung der Entziehungsvermutung......172 <?page no="8"?> Inhalt 8 4. Strumpfwarenfabrik J. Gutmann, Memmingen: Ein Verfahren über mehrere Instanzen.........................................................................................................175 5. Fa. J. Kleofass & Knapp, Hoch- und Tiefbauunternehmen in Augsburg: Ein Fall von „schwerer Entziehung“.................................................................177 6. Die Butter- und Käsegroßhandlung Wilhelm Rosenbaum, Memmingen: Die Ablehnung eines Rückerstattungsantrags...................................................180 7. Bilanz ..............................................................................................................181 III. Kunstraub Katrin Holly Rettung oder Raub? Die Rolle städtischer Funktionsträger in Augsburg bei Übernahme und Erwerb von Kunstgegenständen aus jüdische m Besitz 1939 bis 1945 für die S tädtischen Kunstsammlungen ....187 1. Die Akteure: Norbert Lieb, Hans Robert Weihrauch, Ferdinand Josef Kleindinst und Josef Mayr...............................................................................188 2. Die Erwerbungen der Städtischen Kunstsammlungen aus jüdischer Provenienz.......................................................................................................197 3. Motivation der Akteure und deren Rolle im nationalsozialistischen Herrschaftssystem............................................................................................210 Horst Keßler Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg ..........................................................................................................225 1. Die Anfänge der Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg............................................................................................225 2. Provenienzforschung in der Praxis ...................................................................228 3. Zum regionalhistorischen Kontext: Die „Judenaktion“ in Augsburg ................230 4. Ablauf der Beschlagnahmungen 1939 und der Rückerstattungen in Augsburg nach 1945........................................................................................233 5. Fallbeispiele.....................................................................................................237 <?page no="9"?> Inhalt 9 Katharina Maria Kontny Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ ...............................................................................................253 1. Die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ ......................................................253 2. Zur Struktur der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ ..................................255 3. Die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ und das „Itinerar“ Reitzensteins ....256 4. Plünderung des Schlosses Wilanow bei Warschau............................................265 5. Zusammenfassung und Forschungsdesiderate ..................................................268 IV. Einzelfälle Paul Hoser Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger ......275 1. Erlangers Leben bis zum Ersten Weltkrieg .......................................................275 2. Soldat im Ersten Weltkrieg..............................................................................277 3. Erlanger als Textilkaufmann und Hausbesitzer 1919-1934 .............................279 4. Die Zwangsversteigerung von Erlangers Haus im Jahr 1934 ............................285 5. Erlangers Schicksal zur Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus ................287 6. Der Neubeginn und das Ringen um die Rückerstattung seines Hauses ............292 7. Erlangers schwierige Lage nach der Rückgabe des Hauses ................................299 8. Der Anspruch auf „Wiedergutmachung“ .........................................................304 9. Die Besonderheiten des Falls Hugo Erlanger ...................................................309 Jim G. Tobias Ausgeplündert, verfolgt und belogen. Enteignung und Rückerstattung am Beispiel des „Wiedergutmachungs“-Verfahrens Kupferberg/ Schneider gegen die Oberfinanzdirektion Nürnberg ..................................321 1. Fiskalische „Arisierung“ ...................................................................................321 2. Eine jüdische Familie in Nürnberg ..................................................................323 3. Wer bekam das Haus? .....................................................................................324 <?page no="10"?> Inhalt 10 4. Entschädigungsverfahren nach 1945................................................................326 5. Finanzverwaltung lügt und verschleiert............................................................331 6. Resümee..........................................................................................................335 Karl Borromäus Murr „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? Der Fall Bernheim in Augsburg .....................................................................339 1. Das Ende von R. Bernheim - der Anfang der Chemischen Fabrik Pfersee .......341 2. Einvernehmliche Übereignung oder erzwungene „Arisierung“? ........................343 3. Die Verquickung des Strafverfahrens mit der Enteignung der Bernheims ........351 4. Die Anfechtung des Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags durch die Bernheims .................................................................................................353 5. Das weitere Schicksal der Bernheims bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ....356 6. Der Fall Bernheim in der Beurteilung der Wiedergutmachungsbehörde ..........358 7. Paradoxie und Pragmatik des rechtlichen Vergleichs ........................................362 8. Zur weiteren Einordnung des Falles Bernheim ................................................364 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................373 Autoren und Herausgeber .............................................................................375 Geographisches Register ..............................................................................377 Personen- und Firmenregister ......................................................................383 <?page no="11"?> Einleitung Peter Fassl 1. Quellen und Forschungsstand In ihrem Roman Heimat Los schildert Liselotte Denk, 1 deren Mutter aus Buttenwiesen stammte, was Anfang April 1944 am Abend nach der Deportation der letzten Juden im Ort geschah: „Am Abend brachte die Bürgermeisterin Einzelheiten aus Nerlingen mit, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht im Dorf, auch daß in den momentan unbewachten Judenhäusern ‚etwas zu holen‘ sei. Ein Steuerberater, der beim Abtransport in unmittelbarer Nähe zu tun gehabt hatte, fuhr noch am selben Abend vor und holte heraus, was sein Auto faßte. Anderntags wurde behördlicherseits alles versiegelt; kurz zuvor wollte man Bürgermeister Schropp gesehen haben, wie er Hausrat und Möbel für den Eigenbedarf fortbrachte. [...] Erst Wochen nach der ‚Säuberungsaktion‘ bereitete das Landratsamt auf routiniert-bürokratische Weise die übliche Versteigerung des Inventars vor. Was nicht heimlich entfernt worden war, stand und lag noch genauso da, wie es die Bewohner zurückgelassen hatte. Ihre Kopfabdrücke auf den Kissen, die Nachtgewänder auf zerdrückten Laken, halb leergetrunkene Tassen, verschimmeltes Brot, das man ihnen, als es frisch war, vom Munde weggerissen hatte. Ehemalige Nachbarn, Freunde, Kunden und viel Landvolk ersteigerten alles zu Schleuderpreisen: Töpfe und Teller, Tisch- und Bettwäsche, Kleidung, Möbel, Zie- 1 D ENK , Heimat Los. Bei der 17. wissenschaftlichen Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben in Irsee referierte Liselotte Denk am 30. September 2005 über ihr Buch: „Heimat Los. Die literarische Gestaltung des Endes der jüdischen Gemeinde in Buttenwiesen in der NS-Zeit.“ Denk, geboren 1932 in München, war 1944 aus Angst vor Fliegerangriffen zu ihren Verwandten nach Buttenwiesen geschickt worden und hatte 1985 mit den Recherchen für ihr Buch „Heimat Los“ (1. Auflage 1993) begonnen. Denk war Redakteurin beim „Münchner Merkur“, bei der Illustrierten „Quick“ und „Harper’s Bazaar“, arbeitete als freie Journalistin und Buchautorin. Sie betonte in Irsee, dass die Orte und Personen „authentisch“ seien. Sie habe fünf Jahre bei ihrer weit verzweigten Verwandtschaft recherchiert, die Gespräche auf Tonband aufgenommen und dann die Berichte literarisch überarbeitet: „‚Heimat Los‘ ein absolut authentischer Stoff mit authentischen Personen, bedurfte der Pseudonyme um noch Lebende und mich selbst zu schützen. [...] Es gab heftige Diskussionen über die ‚Zumutung‘ eines solchen Psychogramms (sogar die Morddrohung eines Verwandten), aber inzwischen haben sich die Wogen geglättet, zumal meine Recherchen vieler Jahre hieb- und stichfest sind.“ Vgl. Heimatpflege des Bezirks Schwaben, Akt Judentagung 2005, Lieselotte Denk an Dr. Peter Fassl, 10.5.2005. <?page no="12"?> Peter Fassl 12 rat, Spielzeug, Schlitten. Auch aus Thalhofen kamen sie mit Radanhängern und Karren. Nachdem die Häuser leergeräumt waren, standen sämtliche zum Verkauf, die Interessenten mußten das günstige Geschäft bei den zuständigen Stellen in Nürnberg und anderswo perfekt machen, den Kaufpreis strich der Staat ein. Und die neuen Besitzer äußerten Nachbarn gegenüber, billig seien die Häuser nicht gewesen, wohingegen die leer Ausgegangenen behaupteten, man habe sie für ein Butterbrot erwerben können.“ 2 In den Akten fanden die letzten Erpressungen, Raubzüge und Diebstähle an den Juden keinen Niederschlag. In den schriftlichen Erinnerungen der Zeitzeugen wurden sie natürlich nicht erwähnt. Selbst die öffentlichen Versteigerungstermine der letzten Habe wurden nicht immer in den öffentlichen Blättern bekanntgemacht. Archivalisch blieben in den meisten Fällen nur pauschalisierte Inventarlisten erhalten. Die minutiösen Recherchen von Liselotte Denk, begünstigt durch die dörflichen Verwandtschaftsverhältnisse, bilden zumindest für den schwäbischen Raum eine einzigartige Darstellung, auch wenn wir über die Art und Weise der Verwertung des jüdischen Eigentums durch die Forschung seit den 1990er Jahren genau Bescheid wissen. Utz Jeggle hat in diesem Zusammenhang bereits 1993 darauf hingewiesen, dass es gerade die Aneignung fremden Eigentums war, die zu einem hartnäckigen Beschweigen und völligen Auslöschen der jüdischen Spuren führte. „Jede Erinnerung an ein gemeinsames Miteinander von Christen und Juden sowie an eine angestammte symbolische Ortsbezogenheit der Deportierten, vulgo Heimat genannt, war aus dem Erinnerungsvermögen getilgt [...] Es waren ja nicht nur die Gotteshäuser verwüstet, auch die ‚Judenhäuser‘ waren alle an neue Besitzer gelangt; die langen Listen der versteigerten Besitztümer zeigen, mit welcher Radikalität eine mögliche Rückkehr bestritten wurde. Alles kam in neue Hände, vom Tisch bis zum Weißzeug aus dem Aussteuerschrank. Auch das ist nicht nur Bereicherung im Sinne von Schnäppchen machen, sondern eine ‚Assimilierung‘ der Güter und eine Annullierung ihrer einstigen Besitzer.“ 3 Anschaulich und beklemmend beschrieb dieses Verhalten Claudio Magris jüngst am Beispiel von Triest, wie die Gewinner eine verschworene Gemeinschaft bilden, die sich mit allen Mitteln gegen eine Aufklärung wenden: „Beim Prozess hatte ein Anwalt der Zivilpartei gefordert, dass die fehlenden Papiere im Gerichtssaal beigebracht werden sollten, ohne jedoch in der Lage zu sein zu sagen, wer sie beibringen solle und könne, und erst damals hat man überhaupt ihr Verschwinden bemerkt, das zunächst verborgen geblieben und verdrängt worden war. 2 D ENK , Heimat Los, 387f. 3 J EGGLE , Was bleibt, 33. <?page no="13"?> Einleitung 13 Auch das Verschwinden muss man bemerken, das, was nicht da ist - und das zu bemerken ist nicht leicht.“ 4 Magris beschrieb die sein Projekt leitende Motivation folgendermaßen: „Ich kämpfe nicht gegen das Vergessen, sondern gegen das Vergessen des Vergessens, gegen die schuldhafte Unbewusstheit, vergessen zu haben, vergessen haben zu wollen, nicht wissen zu wollen und nicht wissen zu können, dass es etwas Entsetzliches gibt, das man vergessen wollte - sollte? “ 5 Der Vertreibung und Ermordung der Juden ging die wirtschaftliche Enteignung der Juden durch Staat, Gemeinden und Privatpersonen voraus, so dass die Handlungsspielräume der Verfolgten immer geringer wurden und auch diejenigen, die rechtzeitig Deutschland verlassen konnten, nahezu vollständig mittellos waren. Die Abgaben bei Devisentransfer betrugen seit Oktober 1936 81 Prozent, seit September 1939 96 Prozent. Die Häuser und Grundstücke konnten nur zum Einheitswert oder zu einem geringeren Wert verkauft werden. Auch für die erzwungenen Verkäufe von Gewerbe und Industrieanlagen waren seit 1938 die Handlungsspielräume gering. Seit 1939 wurde nicht einmal mehr der Anschein eines angemessenen Verkaufs erweckt. Nach der steuerlichen Benachteiligung begannen 1938 die Vermögensabgaben und ab 1939 die Verwertung des Resteigentums. Seit der Reichspogromnacht mehrten sich wilde Raubzüge durch NS-Dienststellen und Selbstermächtigungen von NS- Führern. Die reguläre wirtschaftliche Vernichtung geschah durch die Finanzbehörden. Die systematischen Forschungen sowohl zur „Arisierung“ wie zu Restitution und Entschädigung nahmen seit den 1990er Jahren zu und erhielten durch die Zugänglichmachung der Akten der Finanzbehörden ab 1999 neue Perspektiven. 6 Am Anfang 4 M AGRIS , Verfahren eingestellt, 350. 5 Ebd., 252. 6 Im Folgenden seien die wichtigsten Studien und Schritte der Forschung mit Schwerpunkt auf Bayern genannt: Forschungsberichte und Bilanzen: W ELZBACHER , Kunstschutz, Kunstraub, Restitution; H OCKERTS / K ULLER / D RECOLL / W INSTEL , Finanzverwaltung; H OCKERTS , Wiedergutmachung (2001); H OCKERTS , Wiedergutmachung (2013); sowie die Studien G OSCH- LER , Wiedergutmachung; G OSCHLER / L ILLTEICHER , „Arisierung“ und Restitution; H O- CKERTS / K ULLER , Nach der Verfolgung; Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Magdeburg, Entehrt; H OCKERTS / M OISEL / W INSTEL , Grenzen der Wiedergutmachung; W IN- STEL , Verhandelte Gerechtigkeit; L ILLTEICHER , Raub, Recht und Restitution; S TÄBLER , Kulturgutverluste; T OBIAS , „... zugunsten des Reiches vereinnahmt“; G OSCHLER , Schuld und Schulden; K ULLER , Finanzverwaltung; D RECOLL , Der Fiskus als Verfolger; N IETZEL , Vernichtung; J ANETZKO , „Arisierung“; H OPP , Kunsthandel; K ULLER , Bürokratie und Verbrechen; S CHWARZMEIER , NS-verfolgungsbedingte Entzug; B AMBI / D RECOLL , Alfred Flechtheim; K Ö- NIG , Fragen; L AUTERBACH , Central Collecting Point; B ARESEL -B RAND / H OPP / L ULIŃKSA , Bestandsaufnahme Gurlitt; Stiftung preußischer Kulturbesitz, SPK - Das Magazin 2 (2018); Jüdisches Museum München/ Museum für Franken, Sieben Kisten; R AICHLE , Finanzverwaltung; K UHR -K OROLEV / S CHMIEGELT -R IETIG / Z UBKOVA / E ICHWEDE , „Raub und Rettung“; G RIMM , Silber für das Reich. <?page no="14"?> Peter Fassl 14 standen die Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der administrativen Zuständigkeiten und Praxis sowie der einschlägigen politischen Diskussionen in der Nachkriegszeit. Bei der Frage der Restitution und Entschädigung wurden die unterschiedlichen Interessen, also von Staat, Kommunen und Privaten, die sich jüdisches Eigentum angeeignet hatten, bzw. der beraubten Juden, ihrer Nachfahren und Verwandten, der jüdischen Gemeinden und der 1947 gegründeten Jewish Restitution Successor Organisation, welche die Ansprüche erbenlosen jüdischen Vermögens vertrat, sowie der beteiligten Behörden herausgearbeitet. Die Einzelfälle zeigen komplexe Sachverhalte, eine unübersichtliche Vielfalt von Konstellationen und Entwicklungen, die bei der persönlichen Situation der Beraubten beginnt und bei der Frage nach dem Zustand des Raubguts nach dem Krieg endet. Aus heutiger Sicht sind die formal juristisch und empathielos geführten Verfahren schwer erträglich, in denen die Beraubten den Nachweis für die Verluste führen mussten und die zuständigen Behörden, die eine hohe personelle Kontinuität von der NS-Zeit in die Nachkriegszeit aufwiesen, ihnen die teilweise bei den Ämtern vorhandenen Belege verweigerten oder sie schlicht anlogen. In der Forschung wird mitunter darauf hingewiesen, dass entsprechende „Arisierungs“- und Restitutionsverfahren besser unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, dem Konkurrenzkampf und der Neusortierung des Marktes sowie unter rein rechtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden müssten als mit moralischem Zeigefinger. Doch Recht, das Unrecht ist, und Verwaltungshandeln, das erpresst und Interpretationsspielräume gegen die Juden anwandte, sind auch als solche zu benennen. Maren Janetzko weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Bevölkerung nur eine geringe Bereitschaft zur Restitution vorhanden war. 7 Die Geschichte der Restitution und Entschädigung verweist auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Nachkriegszeit und die Frage der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der Judenverfolgung. Vergleicht man die Entwicklung der geistigen Auseinandersetzung mit Judenverfolgung und Holocaust mit der ökonomischen „Wiedergutmachung“, so zeigen sich hier erhebliche Unterschiede. Die Schuldeinsicht fiel offensichtlich leichter als die Rückgabe des geraubten Gutes bzw. die Entschädigung für Verluste. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten beim Thema Raubkunst, das erst auf äußeren Druck durch die Washingtoner Konferenz von 1998 in die gemeinsame Erklärung von Bund, Ländern und Kommunen von 1999 mündete, welche die Aufhebung der Verjährung für staatlichen Kunstraub erklärte. Hinzu kamen weitere neue Impulse und finanzielle Förderungen für die Provenienzforschung, welche die Entdeckung der Sammlung Gurlitt 2012/ 13 hervorrief. 7 Vgl. den Beitrag von J ANETZKO in diesem Band, 169f. <?page no="15"?> Einleitung 15 2. Die Beiträge des Tagungsbandes Ziel der beiden Irseer Tagungen 8 war es, das Thema Ausplünderung von Juden und deren Kampf um Entschädigung 9 auf regionaler Ebene an örtlichen und individuellen Fallbeispielen zu beschreiben. Die Gewinner der Raubzüge sollten benannt werden, der hartnäckige Widerstand gegen die Rückgabe und die Entschädigung dargestellt und die Vertuschungsmechanismen aufgezeigt werden. Am Anfang steht daher eine Beschreibung der zu Raub und Restitution vorhandenen Quellen und des verwaltungsrechtlichen Rahmens der Vorgänge (Gesetze, Ämter, Zuständigkeiten) durch die Beiträge von Rainer Jedlitschka und Katrin Holly/ Gerhard Fürmetz. Die verwaltungsmäßigen Zuständigkeiten sind verschlungen, haben sich mehrfach geändert und spiegeln die jeweiligen zeitgeschichtlichen Bewertungen wieder. Für die weitere landesgeschichtliche Forschung ist damit eine übersichtliche Grundlage vorhanden, ohne deren Kenntnis sich die Einzelfälle nicht angemessen erforschen und bewerten lassen. Die Komplexität der rechtlichen Entwicklung verlangt eine Einarbeitung in die Rechtsvorschriften und das Rechtsdenken der Zeit. Quellenmäßig erschließen sich Raub und Restitution gegenseitig, da die Raubhandlungen sich vielfach erst durch die Belege, Nachweise und Rechtsverfahren der Nachkriegszeit erkennen lassen. Welche administrativen Spielräume die Ämter und Akteure bei Raub und Restitution besaßen - bis hin zur Lüge und glatten Verweigerung - können die vorliegenden Beispiele zeigen. Darüber hinaus bleiben blinde Flecken, die zumindest hier nicht beseitigt werden konnten. Die Recherchen zu Donauwörth, Fellheim, Ichenhausen, Kempten, Krumbach und den jüdischen Gemeinden im Ries ließen sich nicht zu Beiträgen verdichten. Dies hat verschiedene Gründe. Hausrat und Mobiliar wurde bestenfalls summarisch aufgelistet, zu den Käufern gibt es kaum Belege, die mündlichen Berichte sind vage und quellenkritisch schwierig zu beurteilen. Kam es zu Restitutionsverfahren, sind diese natürlich individuell. Manchmal wurden „verdächtige“ Gegenstände zwei Generationen später von aufmerksamen Nachfahren an jüdische Organisationen zurückgegeben. Christian Herrmann, der über Fellheim referierte, machte auf ein strukturelles Problem aufmerksam. Wenn er, der aus einer eingesessenen Familie aus Fellheim stammt, die Familien benennt, die 8 Raub, Raubkunst und Verwertung jüdischen Eigentums. 26. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee am 28./ 29. November 2014 in Irsee; Raub und Rückgabe jüdischen Eigentums. 27. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee am 20./ 21. November 2015 in Irsee. 9 Der Begriff „Wiedergutmachung“, der in Gesetzestexten der Nachkriegszeit vorhanden ist, wird in Anführungszeichen gesetzt, da die Gräuel der NS-Zeit nicht wieder gut zu machen waren. <?page no="16"?> Peter Fassl 16 sich an jüdischem Eigentum bereichert haben, könne er nicht länger in Fellheim leben. Die familiären Nachbarschaftsverhältnisse in einer kleinen Gemeinde machen die Auseinandersetzungen mit den Verbrechen in der NS-Zeit besonders schwierig. 10 Bei dürftiger Quellenlage bzw. bei Quellen, die in bürokratischer Reduktion mehr verschweigen als offenlegen, öffnet sich der Raum für eine nachempfindende Literarisierung von Personen, Orten und Geschehnissen, die Stimmungen, Empfindungen und Gefühle anschaulich machen können. Ein frühes Beispiel ist der Roman von Liselotte Denk, heute scheint diese Form der Darstellung vielleicht sogar anschaulicher und einprägsamer als die historische Analyse. 11 Dies gilt wohl immer stärker auch für die Erinnerungskultur. Florian Schwinger gibt einen auf die wesentlichen Entwicklungsstufen der Gesetzgebung konzentrierten Überblick in seinem Beitrag „Die Entwicklung von Restitution und Wiedergutmachung in rechtlicher Hinsicht und das Beispiel Ludwig Dreifuß.“ Von dem amerikanischen Militärregierungsgesetz vom 10. November 1947 (Rückerstattung) und dem Wiedergutmachungsgesetz vom 1. April 1949 bis zur deutschen Gesetzgebung, wie dem Bundesergänzungsgesetz, Bundesentschädigungsgesetz, Bundesentschädigungsschlussgesetz und Bundesrückerstattungsgesetz, reicht die Übersicht. 12 Am Beispiel des jüdischen Rechtsanwalts Ludwig Dreifuß (1883- 1960), der im Februar 1945 noch nach Theresienstadt deportiert wurde, in Augsburg 1945 zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt, 1946 zum Zweiten Bürgermeister gewählt wurde und Mitglied der verfassungsgebenden Landesversammlung in Bayern war, wird die Entschädigung dargestellt. Die frühesten Auszahlungen geschahen sieben Jahre nach Antragstellung, die letzten drei Jahre vor seinem Tod. Nach eigenen Schätzungen erhielt er weniger als zehn Prozent des Schadens. Man kann bereits an diesem Fall erkennen, mit welcher Intension die Verfahren selbst bei einer so prominenten und angesehenen Person durchgeführt wurden. Es folgen zwei Berichte, die Einblicke in nicht abgeschlossene Forschungen in Kommunen Baden-Württembergs geben und Schlaglichter auf die dortigen Vorgänge werfen. Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb am Neckar und seinem Ortsteil Rexingen wurde durch Heinz Högerle anlässlich einer Ausstellung recherchiert. Er 10 Vgl. auch F ASSL , NS-Zeit in Ortsgeschichten. 11 Aus der Vielzahl literarischer Darstellungen, die mit dem Wegfall der Zeitzeugen zugenommen hat, seien nur einige hervorgehoben: K RECHEL , Landgericht; S CHRAMM , Meine Lehrerin; M ARON , Pawels Briefe; T ERGIT , Effingers; S ANDS , Rückkehr nach Lemberg; M EDICUS , Heimat. Zur wissenschaftlichen Diskussion H ÜRTER / Z ARUSKY , Epos Zeitgeschichte, mit der Rezension von S CHÜTZ , Rezension; F ULDA / J AEGER , Romanhaftes Erzählen; P EITSCH , Nachkriegsliteratur; P LAMPER , Geschichte und Gefühl; H ITZER , Emotionsgeschichte; B ANNASCH / H AHN , Darstellen, Vermitteln, Aneignen. 12 Die Liste der einschlägigen Gesetze findet sich bei D RECOLL , Der Fiskus als Verfolger, 553f. <?page no="17"?> Einleitung 17 beschreibt die Situation seit dem November 1938 mit einem Schwerpunkt auf der letzten Phase 1942. Herausgearbeitet wird die maßgebliche organisatorische Durchführung durch die Finanzbehörden. Nach dem Verkauf von Häusern und Grundstücken wurden die Einrichtungsgegenstände an die Finanzämter und NS-Organisationen nach den von dort gemeldeten Bedürfnissen verteilt. Gemeinden im weiten Umkreis meldeten ihre Wunschlisten an. Die Selbstbedienung der Finanzämter war bemerkenswert. Der Rest wurde in angekündigten öffentlichen Versteigerungen verkauft, wobei Interessenten auch von weither kamen. Die jüdischen Forderungen gegen Dritte, die zuvor inkriminiert wurden, sind ganz selbstverständlich realisiert worden. Am Beispiel eines Restitutionsprozesses kann Högerle zeigen, wie das zuständige Landesamt für Wiedergutmachung die vorhandene Inventarliste verschwieg, die aus dem Gedächtnis einer Verwaltungsmitarbeiterin erstellte Liste nicht beachtete, selbst den Fall unbearbeitet liegen ließ und nach 19 Jahren die beraubte Familie für die Verzögerung verantwortlich machte. Eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Baden-Württemberg befand sich in Laupheim. 1860 gab es hier noch 900 jüdische Einwohner, 1933 immerhin noch 240, die zur Mittel- und Oberschicht zählten. Eine Gewerbestatistik von 1933/ 34 zählte 69 jüdische Steuerzahler (von insgesamt 520), die 45 Prozent der Gewerbesteuer aufbrachten. 13 Michael Niemetz skizziert in seinem Forschungsbericht über die „Arisierung“ in Laupheim die radikale Durchführung der Ausraubung bis 1939 auf dem gewerblichen Gebiet. Die private Enteignung (Häuser, Einrichtungen, Grundstücke) bis 1942 ist noch nicht erforscht. Restitutionsfälle lassen sich ab 1949 belegen. Der zweite Abschnitt des Bandes befasst sich mit Raub und Restitution von Immobilien und der Restitution arisierter Unternehmen in Augsburg und Memmingen. Tim Benedikt Heßling behandelt den Kauf von Häusern von jüdischen Bürgern durch die Stadt Augsburg. Auch wenn erst nach dem Pogrom vom November 1938 die Handlungsspielräume für die jüdischen Hausbesitzer sehr eng wurden, kann er aufzeigen, dass bereits bei früheren Verkäufen Druck auf die Hauseigentümer ausgeübt wurde. Während die Stadt Augsburg im Jahre 1947 nur zwölf Grundstückskäufe erwähnte, waren es 1963 insgesamt 18 Objekte. Heßling untersucht an drei Beispielen die sich verschärfende Situation. Beim Verkauf des Anwesens Heilig-Grab-Gasse 2 (1936) wurde der Preis auf den Einheitswert gedrückt, was das Grundverwaltungsamt der Stadt Augsburg noch 1949 „als angemessen“ bezeichnete, während die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Augsburg dies ein Jahr später als sehr gering ansah. Bei den Verkäufen 1939 (Mozartstraße 5 ½) und 1942 (Bahnhofstraße 7) gab es gar keine Spielräume mehr für die Verkäufer. 1942 ging es nur noch darum, dass die Stadt schneller in den Besitz kam als das Reich. Die Beispiele zeigen eine 13 Vgl. N IEMETZ in diesem Band, 110. <?page no="18"?> Peter Fassl 18 rücksichtslose Interessenpolitik, an der auch nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten wurde. Die von Katrin Holly beschriebene „Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945“ muss für die enteigneten Juden alptraumhaft gewesen sein, da der hauptverantwortliche Arisierer rechtlich für die Stadt Memmingen die Restitutionsverfahren betreute. Der Erste Bürgermeister Heinrich Berndl (1931- 1945) war ab 1948 wieder in städtischen Diensten, betreute ab März 1950 zunächst als kommissarischer Abteilungsleiter und ab 1. Januar 1951 als zuständiger Rechtsrat die Restitutionsverfahren. 1952 wurde er wieder zum Oberbürgermeister gewählt. Die von Holly aus den Quellen präzis beschriebene Besitzerhaltungsstrategie der Stadt zeigt, wie skrupellos contra legem das Gesetz gedehnt und ausgelegt werden konnte. Bei den Verhandlungen vor der Wiedergutmachungsbehörde bzw. -kammer kam dann allerdings im Unterschied zur Entnazifizierung Berndls das zwielichtige Verhalten von Berndl zur Sprache. Maren Janetzko, die 2012 eine Studie zur Arisierung in Bayern am Beispiel von Augsburg, Nürnberg, Memmingen und Gunzenhausen vorgelegt hat, 14 untersucht am Beispiel von zwei Augsburger und drei Memminger mittelständischen Unternehmen die Restitutionsverfahren. Eine eigentliche Restitution kam nur bei dem Augsburger Bauunternehmen Kleofass und Knapp zustande, da es sich hier um eine „schwere Entziehung“ handelte. Drei Mal kam es zu einem Vergleich, einmal zu einer Abweisung der Restitutionsforderung, da die Memminger Käsegroßhandlung von Wilhelm Rosenbaum bereits 1933 in einen Konkurs gezwungen worden war. Janetzko kommt zu der Erkenntnis, „dass die gefundenen juristischen Regelungen dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden und der Biographie der Verfolgten wie auch der Pflichtigen nur schwer gerecht werden konnten.“ 15 Gewinner blieben im Wesentlichen (mit kleinen Abstrichen) die Arisierer. Im dritten Teil stehen die Augsburger Städtischen Kunstsammlungen im Mittelpunkt. Die sehr sorgfältig aus den Quellen erarbeitete Studie „Rettung oder Raub? “ von Katrin Holly über die Erwerbungen aus jüdischen Besitz durch die Städtischen Kunstsammlungen beantwortet die Titelfrage eindeutig: Raub - und dies gegen die Verteidigungsstrategien von Dr. Hans Robert Weihrauch, Leiter der Städtischen Kunstsammlungen von 1939 bis 1946, und Dr. Ferdinand Josef Kleindienst, dem zuständigen Kulturreferenten. Der dritte Akteur im Bereich Kunstraub war Dr. Norbert Lieb, der im September 1938 aus den Kunstsammlungen ausgeschieden war, aber weiterhin als Gutachter für die Stadt arbeitete und Forschungsaufträge ausführte. 14 J ANETZKO , „Arisierung“. 15 J ANETZKO , in diesem Band, 182. <?page no="19"?> Einleitung 19 Bemerkenswert ist weniger die Art und Weise der Sicherung des jüdischen Kunstbesitzes für die Stadt Augsburg als die sorgfältigen Verteidigungs- und Vertuschungsstrategien nach Kriegsende, deren Unwahrheiten und Lügen Katrin Holly teilweise aufdecken kann, sowie die bemerkenswerten Karrieren in der Nachkriegszeit. Trotz skrupulöser Quellenkritik bleiben Unsicherheiten über die Handlungsspielräume von Lieb und Kleindienst, wogegen sich Weihrauch mit seiner kunsthistorischen Expertise auch bei den Raubzügen im Osten bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ beteiligte. Auch bei „milderer“ Beurteilung von Lieb, Weihrauch und Kleindienst als von Katrin Holly resümiert 16 bleibt ein trüber Eindruck von Opportunismus, Unredlichkeit und mangelndem Schuldbewusstsein. Katharina Maria Kontny geht der bisher völlig unbekannten Rolle von Hans Robert Weihrauch bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ nach, die sie auch in ihrer unveröffentlichten Magisterarbeit beschrieben hat. Weihrauch, der 1941 die Initiative zum Raub des jüdischen Kunstgutes in Augsburg ergriffen hatte, war vom 15. Februar 1943 bis 7. September 1945 bei der Heeresdienststelle, die sich mit dem Raub von Kunstgut in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten im Osten befasste - ein Thema, das noch kaum erforscht ist. 17 Nachweisbar ist seine organisatorische Beteiligung bei Kunstraubzügen in Minsk, Riga und Schloss Wilanow bei Warschau. In seinem Nachlass, den er selbst an verschiedene Institutionen abgegeben hatte, ist seine Tätigkeit bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ nirgendwo dokumentiert. Der Aufarbeitung des Ankaufs und der Aneignung von Kunstgegenständen aus jüdischem Besitz widmet sich der Beitrag von Horst Keßler „Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg“, an der der Autor maßgeblich selbst mitgewirkt hat. Relativ früh begannen die Kunstsammlungen mit der Provenienzforschung, allerdings mit einem Thema, das nur indirekt mit Augsburg zu tun hatte. 1957 gelangte der Nachlass von Karl Haberstock (1878-1956), einem „der bedeutendsten Kunsthändler im Dritten Reich“, 18 an die Stadt Augsburg. Angestoßen durch internationale Forschungen wurde die Sammlung von 2000 bis 2008 erforscht. 16 „Obwohl sie von sich selbst überzeugt waren, dem Nationalsozialismus gegenüber kritisch oder oppositionell eingestellt gewesen zu sein, stellten sie ihre Fachkompetenz einer Kommune zur Verfügung, die nationalsozialistische Herrschaft ausübte und trugen auf diese Weise zum Funktionieren eines Unrechtssystems bei. Weihrauch, Lieb und Kleindinst sind in eine Reihe mit jenen deutschen Kunsthistorikern, Museumsleitern und verwaltungspolitischen Funktionären einzuordnen, die durch ihre Erwerbspolitik und Mitarbeit am Kunstraub im In- und Ausland die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung als integrativen Bestandteil der Judenverfolgung und -vernichtung stützten.“ Vgl. H OLLY , Rettung oder Raub, in diesem Band, 218. 17 Siehe K UHR -K OROLEV , Nehmt mit, was ihr tragen könnt; K UHR -K OROLEV / S CHMIEGEL -R IE- TIG / Z UBKOVA / E ICHWEDE , „Raub und Rettung“. 18 K EßLER , in diesem Band, 225. <?page no="20"?> Peter Fassl 20 2010 begannen sodann die Untersuchungen zu den in den Jahren 1933 bis 1945 bei den Kunstsammlungen eingegangenen Objekten (über 3.071), von denen etwa 140 Objekte „Verdachtsmomente auf möglichen unrechtmäßigen Erwerb“ 19 aufwiesen. Keßler dokumentiert die Restitutionen nach 1945, die vier Raubzüge zwischen 1939 und 1943, die unterschiedlichen Formen des Erwerbs und den weiteren Umgang mit Objekten aus jüdischem Besitz nach 1945. An zwei Beispielen können die Mechanismen des internationalen Handels und Verwertungsgeschehens mit jüdischem Eigentum dargestellt werden. Die Provenienzforschungen in Augsburg laufen fort. In diesem Zusammenhang ist der Stand der Provenienzforschung in weiteren Museen in Bayerisch-Schwaben von Interesse. Anfragen zu den möglicherweise betroffenen Museen in Oettingen, Nördlingen, Memmingen und Kempten im Vorfeld der Tagungen und im Jahr 2020 führten zu folgenden Ergebnissen, die zeigen, dass seit 2014 Fortschritte zu verzeichnen sind. Die Stadt Memmingen übereignete geraubtes jüdisches Kulturgut an die Nachkommen der Memminger Familie Guggenheimer. Dies waren „die Urenkel von Regina und Julius Guggenheimer, die bis zur Ausreise 1939 nach Holland eine Textilhandlung in Memmingen betrieben.“ 20 Bei der Veranstaltung am 23. Mai 2019, bei der die Urenkel Nikolaus Grant, Tara Diane Keats und Sara Deborah Denny anwesend waren, führte Dr. Bayer aus: „Julius Guggenheimer wurde 1885 in Memmingen geboren und war in seiner Heimatstadt ein erfolgreicher Woll- und Weißwarenhändler. Seine Ehefrau Regina, geb. 1891 wurde durch Heirat 1912 in Memmingen ansässig. Die beiden hatten zwei Kinder, Lore und Fritz, geb. 1913 und 1920 ebenfalls in Memmingen. [...] Schon zu Beginn des Jahres 1938 sah sich Julius Guggenheimer zum Verkauf seines Textilhandels an einen Mitarbeiter gezwungen. [...] Der Vandalismus der Pogromnacht traf die Guggenheimers mit großer Wucht. Die Wohnung in der Kalchstraße wurde verwüstet. Bargeld, Sparbücher, Schmuck wurden von der Memminger Schutzpolizei im Auftrag der Gestapo konfisziert. Am Folgetag wurden Julius Guggenheimer und sein Sohn Fritz vorübergehend inhaftiert. Ein Transport brachte sie vom Gefängnis in Memmingen in das Konzentrationslager Dachau. […] Eine vom damaligen Bürgermeister Dr. Berndl bestellte zweiköpfige Kunstkommission sollte alle Wohnungen jüdischer Memminger und Memmingerinnen durchkämmen und eine Liste erstellen - mit den Kunstgegenständen, die sich in den Familien befanden. Auch in der Kalchstraße 9 wurde jedes Stück einzeln erfasst und mit einer Wertangabe versehen: - zwei Elfenbeinminiaturen für 10.- und 12 RM, 19 Ebd., 226. 20 E-Mail von Hans-Wolfgang Bayer, Kulturamt Memmingen, an Peter Fassl vom 19.5.2020. <?page no="21"?> Einleitung 21 - ein Fayencekrug für 35 RM, - ein Zinnteller für 3 RM - eine Tischuhr für 10 RM - und ein Gemälde von Josef Madlener, geschätzt auf 80 RM. Motiv: ‚Nächtliches Ulmer Tor‘. Die Bedrohung für die Guggenheimers wurde täglich größer und die Ausreise wurde zum Jahreswechsel 1938/ 1939 zu einem konkreten Vorhaben. Auch deshalb bot Julius Guggenheimer gleich in den ersten Tagen nach Neujahr die genannten Kunststücke, auch das Madlener-Gemälde, dem städtischen Museum zum Verkauf an. [...] Mit dem damals ehrenamtlichen Leiter des Museums hatte er als Verhandlungspartner dann genau die Person sich gegenüber, die vier Wochen vorher in seiner Wohnung die Auflistung inkl. Wertschätzungen vorgenommen hatte. Es verwundert also nicht, dass die Kunstgegenstände genau zu den dabei vorgenommenen Taxierungen übernommen wurden. Das erwähnte Madlener Gemälde war 2016 bei einer Ausstellung in der Mewo Kunsthalle mit Fotoarbeiten von Julius Guggenheimer als kleines Detail auf einer Ablichtung der Guggenheimschen Wohnstube aufgefallen. Und tatsächlich konnte das Gemälde im großen Bestand der städtischen Madlener-Sammlung gefunden werden. Weitere Recherchen haben dann im Bestand des Stadtmuseums die Tischuhr und eine der Elfenbeinminiaturen zu Tage gefördert. Für den Fayencekrug gibt es keinen Zugangsnachweis. Der Zinnteller und die zweite Elfenbeinarbeit sind im Inventar verzeichnet, aber leider als abgängig markiert. Wo sie verblieben sind, wissen wir bislang nicht. Ein Umstand, der zu weiteren Recherchen verpflichtet.“ 21 Während Julius und Regina Guggenheimer in Sobibor am 4. Juni 1943 ermordet wurden, gelang die Ausreise der Kinder Lore und Fritz nach England. Petra Ostenrieder, die Leiterin des Heimatmuseums in Oettingen, schrieb zu meiner Anfrage Folgendes: In „der NS-Zeit gelangten einige Haushaltsgegenstände aus jüdischem Besitz in unseren Museumsbestand. Es handelt sich dabei um eine relativ überschaubare Zahl von Objekten, 69 Stück, vorwiegend Kannen, Teller, Gläser. In einem Fall war es so, dass aus einem Haushalt (Martha Badmann) in den Jahren 1937 - 1939 insgesamt 39 Objekte in den Museumsbestand kamen, davon wurden 38 nach dem Krieg ‚zurückverkauft‘ (an einen Nachfahren / Verwandten der ursprünglichen Besitzerin). 21 Unveröffentlichter Redebeitrag anlässlich der Rückgabe jüdischen Kulturguts an die Nachkommen der Familie Guggenheimer am 23. Mai 2019 im Memminger Rathaus, Vortragsmanuskript von Hans-Wolfgang Bayer, zur Verfügung gestellt per Mail an Peter Fassl am 19.5. und 28.5.2020. <?page no="22"?> Peter Fassl 22 Für die anderen 31 Objekte wurden Eingangsjahre zwischen 1939 und 1942 notiert, sie stammten aus 7 weiteren Haushalten. Die Angaben stützen sich auf das Inventarverzeichnis von 1940. Inwieweit die jeweiligen Objekte sich heute noch in der Sammlung befinden, konnte nur für rund ein Drittel eindeutig (positiv) bestätigt werden.“ 22 Die Leiterin des Stadtmuseums Nördlingen konnte in ihrem Bestand einen Thoravorhang und möglicherweise zwei Truhen aus jüdischem Besitz identifizieren. 23 Aus Kempten berichtete Stadtarchivar Franz-Rasso Böck, dass sich im Bestand des Allgäu-Museums eine „Thora-Schriftrolle“ befinde und dass jüdische Gottesdienstgegenstände in den 1980er Jahren unter Oberbürgermeister Dr. Josef Höß an das Jüdische Kulturmuseum Augsburg übergeben worden seien. 24 Die Provenienzforschungen im Jüdischen Museum Augsburg-Schwaben sind noch nicht abgeschlossen. 25 Im vierten abschließenden Teil dieser Veröffentlichung stehen Untersuchungen zu Einzelfällen im Fokus. Den, man möchte sagen, romanwürdigen Lebensweg von Hugo Erlanger (1881- 1964) aus Augsburg, der seit 1898 in München lebte, im Ersten Weltkrieg zum Offizier ernannt wurde, in der Weimarer Republik als Textilkaufmann tätig war und als Hausbesitzer (Thierschstraße 41) Adolf Hitler beherbergte, die NS-Zeit zuletzt im Lager Milbertshofen und weitere verschiedene Arbeitseinsätze wie durch ein Wunder überlebte, stellt Paul Hoser in seinem zermürbenden Kampf um „Wiedergutmachung“ und Entschädigung dar. 26 Am Kriegsende war Erlanger 64 Jahre alt, arbeitslos und besaß nichts. Der Kampf um sein 1934 zwangsversteigertes Haus gegen die Stadt München dauerte vier Jahre und konnte nur dank des kundigen Rechtsbeistandes von Siegfried Neuland gewonnen werden. Das Ringen um Entschädigung war ein zähes Feilschen. Hauptgrund der Zwangsversteigerung 1934 war die Tatsache, dass Adolf Hitler neun Jahre als Mieter in Erlangers Haus gelebt hatte und 1934 schnellstmöglich aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden sollte, dass dieses Haus einem Juden gehört hatte. Das Ringen um Restitution und Entschädigung zeigt beispielhaft 22 E-Mail von Petra Ostenrieder, Heimatmuseum Oettingen, an Peter Fassl vom 18.5.2020. 23 E-Mail von Andrea Kugler, Stadtmuseum Nördlingen, an Peter Fassl vom 22.5.2020: „Thoravorhang, Inv. Nr. 10258, lt. Stadtmuseum Nördlingen, Altinventar Z 5345: ‚abgenommen vor Abbruch der Synagoge im Juni 1939‘ zusammen mit zwei weiteren ‚Vorhängen‘ (Z 5344 und 5346). Wo die beiden anderen Vorhänge sind, ist jedoch nicht bekannt. Unter Z 5189 und Z 5190 sind ohne Zugangsdatum, jedoch wohl im Herbst 1935, zwei Truhen erwähnt, ‚Gekauft v. [Leerstelle] in Kleinerdlingen‘. Da in Kleinerdlingen viele Juden ansässig waren, könnten die Truhen aus jüdischen Haushalten stammen.“ 24 E-Mail von Franz-Rasso Böck, Stadtarchiv Kempten, an Peter Fassl vom 24.11.2014. Vgl. auch L IENERT , Geschichte, 69, 162 [ohne Quellenbeleg]. 25 S CHÖNHAGEN , Jüdische Kulturmuseum, 45; DIES ., Eine Erinnerung. 26 Den ersten Teil der Untersuchung veröffentlichte Hoser 2017: H OSER , Thierschstraße 41. <?page no="23"?> Einleitung 23 das Vorgehen der handelnden Akteure und die Spielräume, die sich in den Verfahren eröffneten. Zu den Pionieren der Restitutionsforschung gehört Jim G. Tobias, der durch seine Hartnäckigkeit zur Freigabe der Akten der Finanzverwaltung (Steuerakten, Restitutions- und Entschädigungsakten) für die Forschung mit beitrug. In der NS-Zeit waren die Finanzbehörden verwaltungstechnisch für die Beraubung der Juden zuständig und in der Nachkriegszeit führten dieselben Behörden unter weitgehender personeller Kontinuität die Rückgabeverfahren durch, durch welche die Berechtigten endgültig um ihr Erbe betrogen wurden, wie Tobias nachweisen kann. Am Fall der später ermordeten Leo und Katharina Schneider belegt Tobias, wie bereits 1939 ihre Wohnung geplündert wurde und im Restitutions- und Entschädigungsverfahren die Nachkommen und Verwandten systematisch belogen wurden. Selbst bei von Tobias im Jahr 1998 angestellten Recherchen wurden ihm letztmals bezüglich der Besitznachweise falsche Informationen gegeben. Die, man kann sagen, Kriminalgeschichte der Finanzverwaltung in der Nachkriegszeit in Angelegenheiten der jüdischen Restitution, wie sie von Tobias mit drastischen Formulierungen, von Kuller 27 , Drecoll 28 und Lillteicher 29 in ruhigerer Diktion und zuletzt von Raichle 30 für Baden und Württemberg dargestellt wurde, zeugt vom langen Atem völkischen Denkens und Handelns und den Strategien der Vertuschung bis in die jüngste Vergangenheit. Ebenso spannend liest sich die Studie von Karl Borromäus Murr über den Fall Bernheim in Augsburg. Die chemische Fabrik „R. Bernheim“ war 1888 in Pfersee, einem Augsburger Vorort, gegründet worden und hatte am Ende der Weimarer Republik Zweigwerke in der Schweiz, Italien, der USA und Frankreich. Seit 1922 arbeitete Willy Bernheim (geb. 1900) in dem Unternehmen, für das er seit 1931 allein verantwortlich war. Am 5. Februar 1933 wurde eine Untersuchung wegen Steuer- und Devisenvergehen gegen ihn eingeleitet, am 22. Februar wurde er verhaftet und bereits Ende März 1933 wurde das Unternehmen in eine von den leitenden Mitarbeitern getragene Auffanggesellschaft übergeführt. Die staatlichen Behörden beschlagnahmten das Firmen- und Familienvermögen, 1934 wurde Bernheim zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und erhielt eine hohe Geldstrafe. Das Ganze wurde orchestriert durch eine Pressekampagne gegen die gesamte Familie. Prozesse um die Wiedererlangung des Eigentums 1935/ 36 scheiterten. Im November 1938 konnte Bernheim völlig mittellos in die Schweiz flüchten. Im Rahmen des Restitutionsverfahrens, das vor allem Erhard Bernheim, der Vertreter der jüngsten Generation der Familie, vor Ort betrieb, wurde gegen den erbitterten Widerstand der Profiteure die 27 K ULLER , Finanzverwaltung. 28 D RECOLL , Der Fiskus als Verfolger. 29 L ILLTEICHER , Raub, Recht und Restitution. 30 R AICHLE , Finanzverwaltung. <?page no="24"?> Peter Fassl 24 „Arisierung“ durch die Spruchkammer am 6. August 1947 festgestellt. Durch die Autobiographie von Willy Bernheim sowie die Gerichts- und Restitutionsakten sind wir im Detail informiert. In einer sehr sorgfältig abwägenden Argumentation begründet Murr, wieso die Familie dann doch einen Vergleich mit den leitenden Angestellten der Firma einging und aus Gründen des „Pragmatismus“ die gemeinsame Fortführung des Unternehmens in Angriff nahm. Später konnte die Familie wieder die Mehrheit im Unternehmen erreichen und führte es 1966 mit dem Schweizer Unternehmen Geigy zusammen, da Erhard Bernheim „nach den Erfahrungen des Dritten Reichs lieber mit den Schweizern kooperieren wollte als mit den Deutschen.“ 31 3. Resümee und Desiderate Die Beiträge dieses Bandes ermöglichen keine große Synthese zur regionalen Situation, aber sie stellen Fragen, verweisen auf Forschungsmöglichkeiten und dokumentieren Unerwartetes. Bei der Frage der Restitution von Häusern und Grundstücken zeigen die Städte Memmingen, Augsburg und München trotz unterschiedlicher politischer Mehrheitsverhältnisse ein ähnliches zähes Festhalten an dem erpressten Besitz. Ein Unrechtsbewusstsein lässt sich kaum erkennen. Der politische und wirtschaftliche Druck auf die Juden begann bereits kurz nach der „Machtergreifung“ einzusetzen und wirkte in die Verwaltung und in die Rechtsprechung hinein (Fall Bernheim). Nach der Reichspogromnacht begegnen wilde Plünderungen, Gewalttaten und Erpressungen, denen die Juden schutzlos ausgeliefert waren. 32 Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und den europaweiten Beutezügen und Ausplünderungen der eroberten Länder 33 ging mehrheitlich jede Empathie verloren. Teile der Bevölkerung - der Anteil war örtlich unterschiedlich und lässt sich nicht mehr zahlenmäßig fassen - wurden zur Beutegemeinschaft, die sich nach der Deportation der Reste bemächtigte. Dieser letzte Akt des Raubzugs, der in den Landgemeinden zur Versteigerung des Inventars und zu Hauskäufen führte, ist nur mehr in den Grundbüchern fassbar, im Einzelnen aber kaum mehr darstellbar. Nach dem Krieg versuchte man mit allen Mitteln, das Angeeignete festzuhalten, die Ansprüche abzuwehren und sich selbst als Opfer darzustellen. Die Forschungen zur Restitution in den Landgemeinden haben noch kaum begonnen. Die Akten sind verstreut und lassen sich nur mit ausgewiesener Fachexpertise angemessen interpretieren. Während in anderen historischen Bereichen oft bemerkenswerte Arbeiten von nicht wissenschaftlich ausgebildeten Forschern begegnen, ist dies hier kaum möglich. In der Nachkriegszeit hatten Entschädigungs- 31 Zitat aus dem Beitrag von M URR in diesem Band, 370. 32 Allgemein W ILDT , Volksgemeinschaft. 33 Pointiert A LY , Hitlers Volksstaat. <?page no="25"?> Einleitung 25 und Rückerstattungsforderungen in der Regel nur dann Erfolg, wenn sie von einem kompetenten juristischen Beistand vertreten wurden. Je länger die Anspruchsberechtigten lebten, desto besser wurde ihre Chance auf eine Entschädigung etwa in Form von Renten. Die Wiedereinsetzung in den früheren Besitz gelang nie ohne Schmälerung und war selten. Bei Vergleichen gewannen bis auf wenige Ausnahmen die Arisierer. Der fortlaufende Antisemitismus in der Gesellschaft und in der Verwaltung in der Nachkriegszeit wird durchgehend sichtbar. 34 In kleinen Gemeinden, in denen jeder jeden kennt, blieb die Verschwiegenheit erhalten. Auch ohne jüdische Einwohner setzte hier die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit erst spät ein. In den 1980er Jahren begannen einzelne Gemeinden, überlebende Juden und ihre Nachfahren zu Festakten einzuladen. Für Schwaben wirkte hier der frühere Chefredakteur der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ Gernot Römer als Bahn- und Tabubrecher. 35 Zur Restaurierung der Augsburger Synagoge, sodann der Synagogen in Ichenhausen, Hainsfarth und Binswangen 36 erhielten die Verantwortlichen vertraulich Gegenstände aus jüdischem Besitz. Wenn heute von vielen Seiten der Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland als vorbildlich bezeichnet wird, 37 mag man dies mit Blick auf die Mikrogeschichte, die Ortsgeschichte nicht ohne weiteres bestätigen. Das in der NS-Zeit von einzelnen Personen und Familien angehäufte Unrecht, die Brutalität selbst im eigenen Haus, in der Familie und im Dorf wurde beschwiegen. Ortsgeschichte als verlängerte Familiengeschichte ist ein emotionsgeladenes komplexes Thema, da man ja mit allen Betroffenen weiter zusammenlebt. 38 Der Umgang mit den schwarzen Flecken im Nahbereich bleibt schwierig und eine fortlaufende Aufgabe, auch wenn viele Spuren mit dem Wegfall der mündlichen Überlieferung verblassen. Mein Dank gilt allen Autoren. Mein besonderer Dank gilt der Schwabenakademie Irsee, welche die Tagungen von Anfang an ermöglicht hat, sie fachkundig begleitet und berät, und meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Katrin Holly für die sorgfältige Redaktion. 34 Allgemein S ILBERMANN / S CHOEPS , Antisemitismus; B ERGMANN / E RB , Antisemitismus; G IN- ZEL , Antisemitismus., bes. 449-461. 35 R ÖMER , Leidensweg; DERS ., Austreibung; DERS ., Schwäbische Juden. 36 Vgl. K RAUS / H AMM / S CHWARZ , Mehr als Steine, 387-539. 37 Zuletzt N EIMAN , Von den Deutschen lernen. 38 W ELZER / M OLLER / T SCHUGGNALL , „Opa war kein Nazi“; F ASSL , NS-Zeit in Ortsgeschichten. <?page no="26"?> Peter Fassl 26 Literatur A LY , G ÖTZ : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2005. B AMBI , A NDREA / D RECOLL , A XEL (Hrsg.): Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin 2015. B ANNASCH , B ETTINA / H AHN , H ANS -J OACHIM (Hrsg.): Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust, Göttingen u.a. 2018. B ARESEL -B RAND , A NDREA / H OPP , M EIKE / L ULIŃKSA , A GNIESZKA (Hrsg.): Bestandsaufnahme Gurlitt. „Entartete Kunst“ - Beschlagnahmt und verkauft. Kunstmuseum Bern. Der NS-Kunstraub und die Folgen. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, München 2017. 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Quellen, gesetzliche Grundlagen und Berichte <?page no="33"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts im Staatsarchiv Augsburg Rainer Jedlitschka Der ehemalige Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns Hermann Rumschöttel charakterisierte die Archive zu Recht als „Häuser der Zeitgeschichte“: „Archive sind nicht nur Orte der Erinnerung, Arsenale der Geschichte und Speicher menschlicher und gesellschaftlicher Erfahrung, sondern von ihnen wird auch ein entscheidender Beitrag zur Transparenz vergangenen Verwaltungshandelns im Sinne einer politischen Aufklärung erwartet.“ 1 Die folgenden Erläuterungen zur Überlieferungslage der sogenannten „Wiedergutmachung“ nach 1945 im Staatsarchiv Augsburg soll diesem Ziel der historischen Aufarbeitung dienen. 2 Um begriffliche Klarheit zu gewinnen, wird zunächst der Oberbegriff der „Wiedergutmachung“ erläutert (1). Ferner ist ein knapper Überblick zur Administration der „Wiedergutmachung“ in Bayern unabdingbar. Denn daraus ergibt sich die archivische Zuständigkeit der Staatlichen Archive Bayerns (2). Anschließend werden die im Staatsarchiv Augsburg verwahrten relevanten Bestände beschrieben und Fragen ihrer Benützung erläutert (3). Ein Resümee rundet den Quellenüberblick ab (4). 1. „Wiedergutmachung“ - Rückerstattung und Entschädigung Der Begriff der „Wiedergutmachung“ in Deutschland umfasst alle Maßnahmen, durch die im „Dritten Reich“ rassisch, religiös und politisch Verfolgte nach 1945 materiell entschädigt wurden. Der zeitgenössische Begriff war und ist umstritten, weil er die Möglichkeit unterstellt, erlittenes Leid und jahrelange Entrechtung, Freiheitsentzug sowie Schäden an Leib und Leben durch Leistungen abgelten und „wieder gut“ 1 R UMSCHÖTTEL , Historische Transparenz, 11. 2 Vorliegender Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung des Referates, das der Verfasser auf der 27. Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben zum Thema „Raub und Rückgabe jüdischen Eigentums“ in der Schwabenakademie Irsee am 20./ 21.11.2015 gehalten hat. Herrn Archivamtmann Günter Steiner sei für kollegialen Rat aufgrund profunder Bestandskenntnisse herzlich gedankt. <?page no="34"?> Rainer Jedlitschka 34 machen zu können. Der Begriff könne nach Ludolf Herbst seine Herkunft aus deutscher Erziehungstradition nicht verleugnen, klinge in dem Wort doch ein eigentümlicher, „naiv-trotziger Anspruch“ nach - als könne man durch Schuldbekenntnis und Schuldenbegleichen etwas „wieder gut machen“ und den Zustand kindlicher Schuldlosigkeit wiedererlangen, in dem alles „vergessen und vergeben“ ist. 3 Andererseits hat Hans Günter Hockerts darauf hingewiesen, dass „gutmachen“ nach dem Grimm’schen Wörterbuch im Deutschen schon in der Barockzeit auf das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner bezogen wird und hier „ersetzen, bezahlen, sühnen“ bedeutet. 4 Schließlich bleibt festzuhalten, dass sich der Sammelbegriff als terminus technicus in der Wissenschaft durchgesetzt hat, nicht zuletzt deshalb, weil er ursprünglich von jüdischen Emigranten deutscher Herkunft geprägt wurde. 5 Als Sammelbegriff umfasst er insbesondere zwei Bereiche, einerseits die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den Verfolgten entzogen worden sind, 6 sowie andererseits die Entschädigung für Eingriffe in Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit oder beruflichem Fortkommen. Schon im April 1945 hatte die amerikanische Direktive JCS 1067 die Rückerstattung widerrechtlich entzogenen Eigentums an die rechtmäßigen Besitzer festgeschrieben. 7 Die Verwaltung dieser Güter wurde durch die Militärregierung einer besonderen Institution zugewiesen, der „Property Control.“ Gesetzlich geregelt wurde dies für die amerikanische Besatzungszone durch Militärregierungsgesetz (MRG) Nr. 52. 8 Regeln zur Wiedergutmachung schlugen sich dann in Form weiterer alliierter sowie deutscher Gesetze und Verordnungen nieder. Zu nennen ist hier von amerikanischer Seite vor allem das MRG Nr. 59 (Rückerstattungsgesetz - REG) vom November 1947. 9 Nach Gründung der Bundesrepublik folgten auf deutscher Seite das auf Landesgesetzen aufbauende Bundesentschädigungsgesetz von 1953 sowie das 3 H ERBST , Einleitung, 8. 4 H OCKERTS , Wiedergutmachung in Deutschland, 167f. 5 Vgl. H OCKERTS , Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff. „Wiedergutmachung“ wird daher im Folgenden als Fachbegriff nicht mehr in Anführungszeichen gesetzt. 6 Vor allem im Zuge der sogenannten „Arisierungen“; dazu als Überblick J ANETZKO , „Arisierung“. 7 Abdruck in: G ELBERG , Quellen, 25-37; dazu G OSCHLER , Wiedergutmachung, 60-62. 8 Gesetz Nr. 52 der amerikanischen Militärregierung: Sperre und Kontrolle von Vermögen, geänderte Fassung (Abdruck in: H EMKEN , Sammlung, 19. Nachtrag, Juli 1949). Das MRG 52 ist nicht datiert, sondern wurde durch die Militärregierung nach der Besetzung eines Gebietes in Kraft gesetzt, vgl. W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit, 20, Anm. 4; siehe zusammenfassend W EISZ , OMGUS Handbuch, 270-277. 9 Gesetz Nr. 59 der Militärregierung Deutschland, Amerikanisches Kontrollgebiet vom 10. November 1947 über die „Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände“ (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt [GVBl] 1947, 221-235), es folgten weitere Verordnungen der Militärregierung. Grundlegend dazu S CHWARZ , Rückerstattung; G OSCHLER , Wiedergutmachung, 106-148; DERS ., Auseinandersetzung. <?page no="35"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 35 Bundesrückerstattungsgesetz von 1957. 10 Für die Umsetzung wurden Rückerstattungs- und Entschädigungsbehörden errichtet. Da deren Organisation in die Kompetenz der Länder fiel, unterschieden sie sich in den einzelnen Besatzungszonen bzw. Bundesländern. 2. Administration der „Wiedergutmachung“ in Bayern und Zuständigkeit der staatlichen Archive Bereits im Mai 1946 ging die Verantwortung für die Eigentumskontrolle in deutsche Hände über. 11 Für die Kontrolle beschlagnahmter nationalsozialistischer Vermögenswerte errichtete die bayerische Staatsregierung im Oktober 1946 das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung (BLVW) in München. 12 Dieses unterstand zunächst dem Ministerpräsidenten, seit Anfang 1948 dem Staatsministerium der Finanzen. 13 Der Titel der Behörde verrät die ursprüngliche Absicht, die Kosten der „Wiedergutmachung“ aus dem Ertrag des Betriebs und Verkaufs nationalsozialistischen Vermögens zu finanzieren bzw. die entzogenen Vermögen direkt zurückzuerstatten. Dem Landesamt waren Außenstellen in den einzelnen Regierungsbezirken zugeordnet, die das beschlagnahmte Vermögen verwalteten. Die Durchführung der Rückerstattung wurde anderen nachgeordneten Dienststellen, den - etwas missverständlich bezeichneten - Wiedergutmachungsbehörden übertragen. Von diesen gab es jeweils eine in jedem der damals fünf bayerischen Regierungsbezirke. 14 Bevor die Entschädigung gesetzlich geregelt worden war, hatte Ministerpräsident Wilhelm Hoegner 1945/ 46 einen Staatskommissar für die Betreuung der Juden und einen Staatskommissar für die politisch Verfolgten berufen. Beide gingen im Oktober 1946 im Staatskommissariat für die Opfer des Faschismus auf, das Anfang 1947 auf Anordnung der Militärregierung in Staatskommissariat für die rassisch, religiös und 10 Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 18.9.1953 (Bundesgesetzblatt [BGBl] I 1387); Bundesgesetz zur Regelung der rückerstattungsrechtlichen Geldverbindlichkeiten des Deutschen Reichs und gleichgestellter Rechtsträger vom 19.7.1957 (BGBl I 1957, 734). 11 Dazu W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit, 20-22, 64-88; zur bayerischen Administration für die Wiedergutmachung V OLKERT , Handbuch, 167f.; G RAU , Entschädigungs- und Rückerstattungsakten (2004), Absatz 6-12; G RAU , Entschädigungs- und Rückerstattungsakten (2010), 107f.; G ELBERG , Protokolle Ehard I, Nr. 9 TOP XIII; DERS ., Protokolle Ehard II, Nr. 3 TOP VII und Nr. 7 TOP VIII. 12 Verordnung (VO) Nr. 109 vom 24.10.1946, GVBl 1947, 43. 13 VO Nr. 138 vom 15.11.1947, GVBl 1947, 247. 14 1932 waren die Regierungsbezirke Niederbayern und Oberpfalz, 1933 diejenigen von Ober- und Mittelfranken zusammengelegt worden, weshalb es nach 1945 zunächst nur fünf Regierungsbezirke in Bayern gab; dazu V OLKERT , Handbuch, 39. <?page no="36"?> Rainer Jedlitschka 36 politisch Verfolgten umbenannt wurde. 15 Staatskommissar war Dr. Philipp Auerbach, ein deutscher Jude und Überlebender der nationalsozialistischen Konzentrationslager. 1948 entstand aus dieser Dienststelle das ebenfalls von Auerbach geleitete Landesamt für Wiedergutmachung. 1949 wurde dieses Landesamt schließlich in das neu errichtete Bayerische Landesentschädigungsamt überführt, dessen Präsident ebenfalls Auerbach wurde. Dieses unterstand wie das BLVW dem Staatsministerium der Finanzen. 16 Die archivische Zuständigkeit für die Überlieferung der staatlich verantworteten „Wiedergutmachung“ in Bayern ergibt sich aufgrund der „Verordnung über die Gliederung der Staatlichen Archive Bayerns“ vom 28. Mai 1990. 17 Danach obliegt dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv die Archivierung des Archivguts der staatlichen Stellen, die für das gesamte Staatsgebiet zuständig sind. Darunter fällt hier die Überlieferung des BLVW (1946-1955), des Staatskommissariates zur Betreuung der rassisch, religiös und politisch Verfolgten (1946-1949) sowie diejenige des Bayerischen Landesentschädigungsamtes (1949 bis heute). Dagegen archiviert das Staatsarchiv Augsburg die Überlieferung der staatlichen Stellen auf mittel- und unterbehördlicher Ebene im Regierungsbezirk Schwaben. Dazu zählen hier die Außenstellen des BLVW sowie die Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben. Daneben sind auch Unterlagen der Finanzverwaltung (Finanzmittelstelle Augsburg, Steuerakten und weitere Unterlagen schwäbischer Finanzämter sowie einzelne Akten von Behörden der Inneren Verwaltung) zu nennen. Die Staatlichen Archive Bayerns sind Kooperationspartner des Forschungsverbunds Provenienzforschung Bayern. Im Jahr 2015 gegründet führt der Verbund bedeutsame Kultureinrichtungen (Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Museen, Sammlungen, Bibliotheken und Archive) mit dem Ziel zusammen, die Suche nach und die Restitution von im „Dritten Reich“ verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zu fördern. Zu diesem Zweck sollen die bisher nur analog - vor allem in Form von Karteien - vorliegenden Findmittel zu Archivbeständen, die von zentraler Bedeutung für die Provenienzforschung sind, digitalisiert werden (sog. Retrokonversion). Soweit archivrechtliche Gründe nicht dagegenstehen, werden sie für in diesem Verbund akkreditierte Forscher online zur Verfügung gestellt. 18 15 Vgl. ebd., 167f. 16 Vgl. ebd., sowie F ÜRMETZ , Neue Einblicke. 17 GVBl 1990, 175. 18 Vgl. „Wichtiger Schritt für eine effiziente Provenienzforschung“ - Kunstminister Dr. Ludwig Spaenle richtet Forschungsverbund ein (Pressemitteilung des Bayerischen Kultusministeriums Nr. 178 vom 18.5.2015) und B IERSCHNEIDER , Quellenmaterial sowie weitere Informationen unter www.provenienzforschungsverbund-bayern.de (Zugriff am 30.11.2016). <?page no="37"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 37 3. Relevante Bestände im Staatsarchiv Augsburg 3.1. Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung - Zweigstelle Schwaben und Außenstellen Das BLVW war eine dreistufig gegliederte Behörde. Oberste Instanz war das bereits oben genannte BLVW als Landesbehörde in München, das von einem Direktorium und einem Verwaltungsrat geleitet wurde. 1955 wurde diese Zentrale aufgrund teilweiser Erledigung der Aufgaben aufgehoben. Die laufenden Fälle sowie die Aufsicht über die Außenstellen wurden ab 1. April 1955 der Zweigstelle München der Oberfinanzdirektion (OFD) München übertragen. 19 Als Mittelinstanzen des BLVW waren entsprechend den Regierungsbezirken fünf Zweigstellen eingerichtet worden. Diejenige für Schwaben befand sich in Augsburg. Sie übten die Aufsicht über die Außenstellen aus, waren erste Instanz bei Beschwerden, führten auch für große Objekte die Vermögenskontrolle selbst durch. Aufgrund von Auflösung und Zusammenlegung bestanden ab 1949 nur noch die Zweigstelle Süd (München) für Oberbayern, Niederbayern und Schwaben sowie die Zweigstelle Nord (Nürnberg) für Oberfranken, Mittelfranken, Unterfranken und die Oberpfalz. Die Überlieferung der BLVW-Zweigstelle Schwaben war lange Bestandteil des von der Bezirksfinanzdirektion (BFD) München ausgesonderten Mischbestandes, der auf die BLVW-Zweigstelle Süd zurückzuführen ist. Diese Unterlagen wurden im Staatsarchiv München verwahrt. Nach einer Provenienzanalyse wurden die entsprechenden Unterlagen der Zweigstelle Schwaben und einiger Außenstellen des BLVW im Sommer 2019 an das Staatsarchiv Augsburg abgegeben. Auf der untersten Ebene wurden für die Stadt- und Landkreise in ganz Bayern Außenstellen des BLVW gebildet. Sie waren die ausführenden Organe der Vermögenskontrolle, erfassten die zu kontrollierenden Vermögen, setzten Treuhänder ein, überwachten deren Tätigkeit und entließen Vermögen aus der Kontrolle. Dabei wurde auch Verbindung zu den Spruchkammern gehalten. Nach Zusammenlegung zahlreicher Außenstellen des BLVW in den Jahren 1947 bis 1953 wurden diese 1957 als selbständige Behörden endgültig aufgelöst. Ihre Zuständigkeit und die Abwicklung ihrer Aufgaben ging ab April 1958 auf bestimmte Finanzämter - im Falle Schwabens auf das Finanzamt Augsburg-Stadt - über. 20 Die Vermögenskontrolle des BLVW erfasste bewegliche und unbewegliche Vermögenswerte. Sie bedeutete allerdings keine Enteignung, sondern nur den Entzug der Verfügungsberechtigung, solange, bis eine Entscheidung über das kontrollierte Vermögen gefällt wurde. Dem MRG 52 folgend waren der Beschlagnahme und Aufsicht 19 VO vom 14.2.1955, GVBl 1955, 37. 20 Zweite VO über die Einrichtung der Landesfinanzbehörden in Bayern vom 23.12.1957 (GVBl 1958, 1-3). <?page no="38"?> Rainer Jedlitschka 38 folgende Vermögen unterworfen: a) des Reiches, seiner Länder, Gaue und Provinzen, b) der mit dem Reich verbündeten Staaten und ihre Bürger, c) der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände sowie der von der Militärregierung bezeichneten NSDAP-Funktionäre, ihrer leitenden Mitglieder und Anhänger, d) aller in Haft oder Verwahrung der Militärregierung befindlichen Personen, e) der von der Militärregierung verbotenen oder aufgelösten Organisationen, f) der abwesenden deutschen Eigentümer und g) aller von der Militärregierung bezeichneten Personen. 21 Die durch die Tätigkeit der BLVW-Außenstellen erwachsenen Einzelfallakten waren nach einem Aktenplan systematisiert, dessen Aktenzeichen sich aus dem Länderschlüssel „Y“ für Bayern 22 und einem Kennbuchstaben für die Art der Vermögenskontrolle zusammensetzte: YA: Alliiertes Vermögen YB: Deutsches Staatsvermögen YC: Vermögen der NSDAP und ihrer Mitglieder YD: sonstiges feindliches Vermögen YE: Vermögen von Personen, die auf der schwarzen Liste stehen YF: erbeutetes oder verschlepptes Vermögen aus Gebieten außerhalb Deutschlands YG: Vermögen, das unter Druck oder Zwang übertragen wurde (vor allem ehemaliges jüdisches und Emigranten-Vermögen) YH: Vermögen von abwesenden deutschen Eigentümern YJ: sonstiges Vermögen YK: Vermögen neutraler Staaten. 23 Hinzu tritt eine spezielle Zahlenkombination aus Kennziffer und fortlaufender Fallnummer. Der innere Aufbau der Einzelfallakten gehorcht allgemein einem einheitlichen Muster: Freigabe, Allgemeiner Schriftwechsel, Sonderausgaben, Finanzberichte, Außen-Prüfungsberichte, Miet- und Pachtverträge, Vermögensaufsicht, Treuhänderakte und Ermittlungsunterlagen. Die im Staatsarchiv Augsburg verwahrten Akten der BLVW-Außenstellen im Umfang von insgesamt 4.269 Akten und einer Gesamtlaufzeit der Jahre 1946 bis 21 MRG 52, Art. 1. 22 Vgl. Military Government Regulations, Title 17 Property Control von 1948 (BayHStA, OM- GUS Legal Divison 14/ 2133). In diesen Richtlinien findet sich unter dem Gliederungspunkt 17-902 („Issuance of Licence“) der Hinweis, dass für Bayern der Buchstabe „Y“ verwendet wurde („using the letter assigned to their laender for general property control accounting“). Der Verfasser dankt Herrn Archivinspektor Matthias Nicklaus M.A. vom BayHStA für die Ermittlung dieses Belegs. 23 Systematisierung der Vermögen nach: Military Government Regulations, Title 17 (BayHStA, OMGUS Legal Divison 14/ 2133). <?page no="39"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 39 1958 wurden im Oktober 1990 vom Finanzamt Augsburg-Stadt abgegeben. Das Schriftgut wurde im Staatsarchiv ohne Nachkassationen archiviert. Dabei bildete man für jede Außenstelle einen eigenen Bestand (Augsburg, Dillingen, Donauwörth, Füssen, Günzburg, Illertissen, Kaufbeuren, Kempten, Krumbach, Marktoberdorf, Memmingen, Mindelheim, Neuburg, Neu-Ulm, Nördlingen, Schwabmünchen, Sonthofen und Wertingen). Die Bestände sind ihrerseits systematisch gegliedert nach allgemeinem Schriftwechsel (zum Beispiel Organisationsunterlagen der Außenstellen, Schriftwechsel mit Treuhändern, Dienstanweisungen u.Ä., insgesamt 730 Akten) sowie Einzelfallakten zu Vermögenseinzug (insgesamt 160 Akten) und Vermögenskontrolle (insggesamt 3.537 Akten). Die Akten sind durch ein adaptiertes Findmittel der ehemaligen BLVW-Außenstellen in alphabetischer Reihung nach Personen, Sachen (Immobilien, Firmen, Synagogen, Grundstücke, mit Plannummer bzw. Adressen) und Orten erschlossen. Momentan erfolgt dessen digitale Erfassung (Retrokonversion) unter dem Dach des Provenienzverbundes Bayern, so dass zukünftig die Recherche in einer Datenbank möglich sein wird. Die Akten unterliegen keiner besonderen Schutzfrist und stehen, da die 30-jährige Schutzfrist bei Sachakten verstrichen ist, der Forschung ungehindert zur Verfügung. 3.2. Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben Als Wiedergutmachungsbehörden im Sinne des REG von 1947 wurden in Bayern die Zweigstellen des BLVW, Abteilung Wiedergutmachung bestimmt. 24 Die entsprechende schwäbische Behörde wurde im April 1948 errichtet und hatte ihren Sitz in Augsburg. Nicht mehr rekonstruieren ließ sich die - wohl verwaltungsintern - festgelegte Kennzeichnung der fünf bayerischen Wiedergutmachungsbehörden mit römischen Ziffern, die später auch Niederschlag in den jeweiligen Aktenzeichen der Dienststellen fand: I (Oberbayern) in München, II (Niederbayern und Oberpfalz) in Regensburg, III (Mittel- und Oberfranken) in Ansbach, später Fürth, IV (Unterfranken) in Würzburg sowie V (Schwaben) in Augsburg. Für die Anmeldung von Rückerstattungsansprüchen aus dem REG von 1947, die bis spätestens 31. Dezember 1948 anzuzeigen und durch geeignete Beweise glaubhaft zu machen waren, 25 wurde im hessischen Bad Nauheim ein Zentralanmeldeamt 24 VO des Bayerischen Ministerpräsidenten zur Durchführung des Gesetzes Nr. 59 der Militärregierung über Rückerstattung feststellbarer Vermögensbestände vom 15.4.1948 (GVBl 1948, 111). 25 REG, Art. 56. <?page no="40"?> Rainer Jedlitschka 40 errichtet. 26 Dieses übermittelte die Anmeldungen, die neben einer Beschreibung des entzogenen Vermögensgegenstandes Angaben über die Umstände der Entziehung, die Rückerstattungspflichtigen und -berechtigten enthalten sollten, 27 an die zuständigen Wiedergutmachungsbehörden. 28 Zuständig war jene Dienststelle, in deren Sprengel sich der entzogene Gegenstand, etwa eine Liegenschaft, Unternehmen oder bewegliche Sache befand. 29 Bei Hausrat richtete man sich nach dem Wohnsitz, bei Wertpapieren nach dem Sitz der das Depot führenden Bank. 30 Die Wiedergutmachungsbehörden arbeiteten als Schiedsgericht und versuchten, mit den Verfahrensbeteiligten eine gütliche Einigung zu erreichen. Kam eine solche nicht zustande, wurde das Verfahren an eine beim jeweiligen Landgericht eingerichtete Wiedergutmachungskammer als erste gerichtliche Überprüfungsinstanz weitergeleitet. Als zweite Instanz diente für ganz Bayern die entsprechende Kammer beim Oberlandesgericht München I, für die gesamte amerikanische Zone als Nachprüfungsinstanz der 3. Senat beim international besetzten Obersten Rückerstattungsgericht in Nürnberg, später Herford. 31 Mit Wirkung vom 1. Oktober 1952 wurde die Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben aufgelöst. Ihre Zuständigkeit ging auf die Wiedergutmachungsbehörde I für Oberbayern in München über. 32 Durch Verordnung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz wurde die Zuständigkeit der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Augsburg mit Wirkung vom 1. Mai 1954 auf die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht München I übertragen. 33 Aufgrund der Behördenentwicklung bzw. -verlagerungen ist zu beachten, dass Rückerstattungsfälle aus dem Bereich Schwabens nach Auflösung der Wiedergutmachungsbehörde in Augsburg 1952, insbesondere alle diejenigen nach dem Bundes- 26 Die Überlieferung des Zentralanmeldeamtes verwahrt heute das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen in Berlin in einem sogenannten „Rückerstattungsarchiv.“ In den Akten befindet sich Schriftgut zu Anmeldungen nach entzogenen Vermögenswerten, zum Ort und Gegenstand des Verfahrens einschließlich Aktenzeichen und gegebenenfalls Beschlüsse/ Vergleiche sowie Abgabenachrichten der Anmeldungen an die örtlich zuständigen Wiedergutmachungsbehörden, vgl. Bundesarchiv für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, Archive, Rückerstattungsarchiv, Akten aus der Zeit nach 1945. 27 REG, Art. 58. 28 REG, Art. 55. 29 REG, Art. 59. 30 Vgl. L AUTERBACH , Geltendmachung, 421f. 31 Vgl. W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit, 76-77. 32 VO zur Durchführung des Gesetzes Nr. 59 der Militärregierung über die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände in der amerikanischen Besatzungszone vom 29.7.1952 (GVBl 1952, 245). 33 VO zur Ausführung des Art. 63 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 59 der Militärregierung über Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände vom 8.4.1954 (GVBl 1954, 84). <?page no="41"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 41 rückerstattungsgesetz aus dem Jahr 1957 abgehandelten Verfahren, bei der Wiedergutmachungsbehörde I für Oberbayern und Schwaben im Staatsarchiv München zu ermitteln sind. Es lohnt, einen genaueren Blick auf die Überlieferung und Struktur des Bestandes der Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben zu werfen. Die schwäbischen Rückerstattungsakten waren mit denjenigen der übrigen im Jahr 1974 aufgelösten Wiedergutmachungsbehörden bei der Wiedergutmachungsbehörde Bayern unter der Aufsicht der Bezirksfinanzdirektion Ansbach zusammengezogen worden. Die Registraturen der ehemaligen fünf Wiedergutmachungsbehörden sind dabei in ihrer ursprünglich regionalen Eigenständigkeit erhalten geblieben. Im Jahr 2001 wurde der gesamte Aktenbestand von Ansbach zunächst an das Staatsarchiv Nürnberg abgegeben. Dieses verteilte die Akten mit den jeweiligen Karteien entsprechend dem Sitz der ehemaligen Wiedergutmachungsbehörden auf die einzelnen Staatsarchive. An das Staatsarchiv Augsburg gelangte so der Bestand der ehemaligen Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben mit einem Umfang von 2.891 Archivalieneinheiten und einer Laufzeit von 1948 bis in die 1960er Jahre, in Einzelfällen auch darüber hinaus. Das Schriftgut unterteilt sich in zwei bereits in der Registratur der Wiedergutmachungsbehörde angelegte Aktenserien: 1. Die mit schwäbischem Behördenkürzel „V“ sowie dem Buchstaben „a“ gekennzeichneten Akten betrafen individuelle Rückerstattungsverfahren nach dem REG von 1947; 2. Die mit Behördenkürzel „V“ und der Abkürzung „JR“ gekennzeichneten Akten betrafen Rückerstattungsverfahren der „Jewish Restitution Successor Organization“ (JRSO, auch IRSO, gegründet 1948 in New York). Die JRSO war berechtigt, für erbenloses Vermögen von Privatpersonen sowie für Vermögen von Institutionen und Organisationen Ansprüche geltend zu machen, die als „jüdisch“ rassisch verfolgt und enteignet worden und später ermordet bzw. aufgelöst worden waren. Das auf diesem Wege erworbene Vermögen verteilte die JRSO an jüdische Institutionen und Organisationen vor allem in den USA und in Israel. 34 Die Benützung der Unterlagen der Wiedergutmachungsbehörden in Bayern richtet sich nach dem Bayerischen Archivgesetz. Dieses sieht vor, dass Entschädigungs- und Rückerstattungsakten aus datenschutzrechtlichen Gründen erst 60 Jahre nach ihrer Entstehung benützt werden können. 35 Ist die Frist noch nicht abgelaufen, besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, diese zu verkürzen. Dadurch sollen wissenschaftliche Forschungen ermöglicht werden, deren Zweck ohne Heranziehung der gesperrten Unterlagen nicht zu erreichen wäre. 36 34 Zur JRSO vgl. W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit, 237-267. 35 Bayerisches Archivgesetz (BayArchivG) Art. 10 Abs. 3 (4). 36 Ebd., Abs. 4. <?page no="42"?> Rainer Jedlitschka 42 Die Rückerstattungsakten waren bisher mit Hilfe der bereits durch die Wiedergutmachungsbehörde angelegten Karteien recherchierbar. Im Rahmen der Mitarbeit im oben genannten Provenienzverbund Bayern wurden diese Findmittel 2015 retrokonvertiert und die Daten in eine Datenbank übernommen. Diese baut auf den früheren analogen Karteien auf. Zum besseren Verständnis der Recherchemöglichkeiten sei die frühere Verkartung kurz erläutert. Die Serie der a-Akten war zum einen durch eine rein alphabetische Kartei ohne festes Formular (nach Namen von Antragsstellern, Erben, Eigentümern, aber auch Fabriken oder Institutionen) ohne Laufzeitangabe erfasst. Durch die Mehrfachverweise lagen hier 5.914 Datensätze vor. Ergänzend gab es eine numerisch fortlaufende, formulargebundene Kartei der Einzelfallakten (1.487 Akten). Die Karten listeten dabei Vermögensobjekt, Berechtigte, Eigentümer vor/ nach Entziehung, Pflichtige bzw. heutige Eigentümer auf. Bei der Serie der a-Akten wurde im Zuge der Retrokonversion die tatsächliche Laufzeit an den Einzelfallakten ermittelt und in den Datensätzen ergänzt. Die Serie der JR-Akten war erschlossen durch eine numerisch fortlaufende, ebenfalls formulargebundene Kartei (1.504 Akten) ohne Laufzeitangabe, die nun nach der Retrokonversion einmal alphabetisch nach dem Betreffsfeld (Name, Vorname und Titel der Berechtigten und Verfolgten) sortiert wurde. Die angegebene Laufzeit ist jedoch nur eine einheitliche Bestandslaufzeit (1948-1954). Die tatsächlichen Aktenlaufzeiten wurden bei den JR-Akten nicht ermittelt Die Sortierung der Einträge alphabetisch nach den Antragstellern bzw. Berechtigten hilft, auch wenn nun eine Volltextrecherche möglich ist. Denn einen korrekt geschriebenen Namen findet die Wortsuche zwar auch, die alphabetische Reihe bietet jedoch eine zusätzliche Sicherheit bei abweichenden Schreibungen und sie macht Familien- und Entziehungszusammenhänge deutlich, die für die Provenienzforschung von großer Bedeutung sind. Im Vergleich zu früher sind die Rückerstattungsakten der Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben nun deutlich komfortabler und übergreifend im Betreff bzw. Enthält-Vermerk nicht nur nach Personen, sondern auch nach Vermögensobjekten (zum Beispiel Immobilien, Grundstücken oder Kunstwerken) recherchierbar. Auch eine Suche nach einem bestimmten Aktenzeichen, das sich aus Anmelde- und Antragsnummer der Zentralanmeldestelle in Bad Nauheim sowie einer Verfahrensnummer der Wiedergutmachungsbehörde in Augsburg zusammensetzte, ist möglich. 3.3. Finanzmittelstelle Augsburg Aufgrund der Verordnung über die Einrichtung der Landesfinanzbehörden in Bayern vom 10. Oktober 1955 wurden die bisherigen Zweigstellen der OFD aus der Dienst- und Sachaufsicht der OFDs herausgelöst und zu selbständigen Mittelbehörden der <?page no="43"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 43 Bayerischen Finanzverwaltung. 37 Sie erhielten vom 1. Januar 1956 an die Bezeichnung „Finanzmittelstellen des Landes Bayern“ und hatten wie die bisherigen Zweigstellen die Dienstsitze in München, Augsburg, Landshut, Regensburg, Ansbach und Würzburg. Sie waren allgemeine Mittelbehörden der Landesfinanzverwaltung neben den besonderen Mittelbehörden (wie etwa das Landesentschädigungsamt). Nach der Verordnung über die Bezeichnung der Landesbehörden in Bayern vom 19. August 1963 führten die bisherigen Finanzmittelstellen des Landes Bayern in Ansbach, Augsburg, Landshut, München, Regensburg und Würzburg ab 1964 die Bezeichnung „Bezirksfinanzdirektion ...“ mit dem Namen des Sitzes als Zusatz. 38 Die heute im Staatsarchiv Augsburg verwahrten insgesamt 915 Rückerstattungseinzelfallakten der Finanzmittelstelle Augsburg mit einer Laufzeit von 1948 bis circa 1960 waren Teil einer im April 1974 vorgenommenen Abgabe der BFD München, Abt. VI (Rückerstattung) an das Staatsarchiv München. Die Unterlagen waren bei der Finanzmittelstelle Augsburg abgeschlossen worden. Nach Auflösung der Nachfolgebehörde, der BFD Augsburg, kamen sie an die BFD München und wurden dort als Sondergruppe nicht in die Numerierung der Münchner Behörde einbezogen. Im Herbst 1976 gab das Staatsarchiv München diese Akten schließlich an das zuständige schwäbische Staatsarchiv, das damals noch seinen Sitz in Neuburg a.d. Donau hatte, ab. 39 Die Akten behandeln sämtlich Rückerstattungsansprüche der JRSO, das heißt Ansprüche für (vermutet) erbenloses Vermögen von Privatpersonen sowie für Vermögen von Institutionen und Organisationen, die der bayerische Staat durch das sogenannte JRSO-Globalabkommen von 1952 gegen einen Pauschalbetrag von 20 Mio. DM abgekauft hatte. 40 In diesen Fällen war die Zweigstelle Augsburg der OFD München, später in Finanzmittelstelle Augsburg unbenannt, die Parteienvertretung des Freistaats Bayern. 41 Die Unterlagen der Finanzmittelstelle Augsburg sind über Karteikarten alphabetisch erschlossen, wobei diese ebenfalls im Wege der Retrokonversion digitalisiert wurden. So kann man inzwischen in den Akten mittels einer Datenbank komfortabel nach Namen (bei Rückerstattungsvorgängen beide Parteien, Unternehmen), Objekt 37 GVBl 1955, 231; dazu und zum Folgenden V OLKERT , Handbuch, 150f. 38 GVBl 1963, 185. 39 Vgl. den entsprechenden Schriftwechsel in: StAA, Verwaltungsregistratur VA 116. 40 Zum JRSO-Globalabkommen W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit, 237-267. 41 In den Akten der Finanzmittelstelle Augsburg findet man ein entsprechendes Formblatt, mit dem die Dienststelle Augsburg anzeigt, dass sie aufgrund des Abkommens von 1952 „als zuständige Vertretungsbehörde des Freistaates Bayern an Stelle der JRSO“ das „RE-Verfahren“ übernommen habe (Formblattt der Finanzmittelstelle Augsburg - datiert vom 4.8.1953 - im Verfahren JRSO gegen Otto und Angelika Baur, Günzburg, in: StAA, Finanzmittelstelle Augsburg, A 1). <?page no="44"?> Rainer Jedlitschka 44 (Immobilie, Grundstück, Hypothek, Bankguthaben, Wertpapiere, Mobiliar) oder JR-Aktenzeichen recherchieren. Auch diese Akten unterliegen keiner besonderen Schutzfrist und stehen, da die 30-jährige Schutzfrist bei Sachakten verstrichen ist, der Forschung ungehindert zur Verfügung. 3.4. Steuerakten verschiedener schwäbischer Finanzämter über rassisch verfolgte Personen Diese insgesamt 1.534 Steuerakten über im „Dritten Reich“ aus rassischen Gründen Verfolgte (vor allem Juden) mit einer Laufzeit von 1938 bis 1948 waren zwischen den Jahren 1964 und 1969 durch die BFD München von den schwäbischen Finanzämtern angefordert worden. 42 Als Vertretungsbehörde des Freistaats Bayern in Rückerstattungsverfahren benötigte sie diese Unterlagen. Hintergrund war, dass die Finanzämter während des „Dritten Reiches“ die Vermögenswerte aller Auswanderungswilligen und Juden erfasst hatten. Die dabei entstandenen Akten sind bürokratischer Niederschlag derjenigen Gesetze und Verordnungen, die ab 1933 auf die Ausplünderung jüdischer Bürger zielten (zum Beispiel „Reichsfluchtsteuer“, „Judenvermögensabgabe“). In den Rückerstattungsverfahren nach 1945 ließen sich daher mit diesen Unterlagen staatlich aufgezwungene Sonderabgaben nachvollziehen. Von der BFD München wurden zu diesem Zweck die Akten aller Steuerarten (Einkommen-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer) eines Steuerpflichtigen zu einem einzigen Steuerakt mit einer Signatur - unter Wahrung der ursprünglichen Einzelakten - vereinigt. 43 Die BFD München gab diese Steuerakten mit einer alphabetischen Kartei der Namen der Steuerpflichtigen 1973 an das Staatsarchiv München ab. Nach einer Provenienzanalyse wurde der Bestand im Jahr 2000 von dort auf die zuständigen Staatsarchive aufgeteilt. An das Staatsarchiv Augsburg gelangten so Steuerakten der Finanzämter Augsburg-Stadt, Augsburg-Land, Donauwörth, Günzburg, Illertissen, Kempten, Krumbach, Lindau, Mindelheim, Neu-Ulm, Nördlingen und Wertingen. Die Benützung von Archivalien, die dem Steuergeheimnis unterliegen, ist für den Bereich der staatlichen Archive in Art. 10 des Bayerischen Archivgesetzes geregelt. 44 Danach greifen hier die Bestimmungen von § 5 des Bundesarchivgesetzes, das 42 StAA, Amtsregistratur 431-5/ 2612-2000. 43 Vgl. S TEPHAN , Steuer-, Devisen- und Einziehungsakten, Abs. 4-6. 44 Steuergeheimnis ist geregelt in § 30 der Abgabenordnung (BGBl. 2002 I, 3866; 2003 I 61); Bayerisches Archivgesetz (BayArchivG) vom 22.12.1989 (GVBl, 710), geändert durch Gesetz vom 16.12.1999 (GVBl, 521). <?page no="45"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 45 heißt, dieses Archivgut darf erst 60 Jahre nach Entstehen benutzt werden. 45 Eine Verkürzung der Schutzfrist ist nicht vorgesehen. Allerdings sind die Fristen der hier relevanten Steuerakten aus der Zeit des Nationalsozialismus größtenteils abgelaufen. Eine Stichtagsregelung mit Beginn der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (die Schutzfrist gilt nicht für Unterlagen aus der Zeit vor dem 23. Mai 1949) ermöglichte auch schon zuvor den Zugang für bestimmte wissenschaftliche Forschungsarbeiten und zur Wahrnehmung berechtigter Belange. 46 Im Staatsarchiv Augsburg werden diese Steuerakten aufgrund ihrer Bedeutung für die Forschung weiterhin als Selekt aufbewahrt, das heißt, sie wurden nicht in die Archivbestände derjenigen schwäbischen Finanzämter integriert, bei denen sie ursprünglich entstanden waren. Die von der BFD München erstellte alphabetische Erschließung in einer Kartei wurde kürzlich im Wege der Retrokonversion digitalisiert. So kann man inzwischen mittels einer Datenbank komfortabel nach Namen der Verfolgten, Wohnort, Beruf sowie zurückerstattetem Objekt (Immobilie, Grundstück) recherchieren. 3.5. Weitere Unterlagen schwäbischer Finanzämter Im Zug oben erwähnter Abgabe aus dem BFD-Mischbestand durch das Staatsarchiv München im Jahr 2000 waren neben den oben genannten Steuerakten über rassisch Verfolgte auch 63 weitere Akten der Finanzämter Augsburg-Land, Augsburg-Stadt, Günzburg, Illertissen, Nördlingen und Wertingen mit Laufzeiten von 1919 bis in die 1960er Jahre an das Staatsarchiv Augsburg gelangt. Sie wurden hier detailliert verzeichnet und ebenfalls als Selekte nach Finanzämtern getrennt archiviert. Diese sehr informativen Akten geben unter anderem Auskunft über Auswanderung in der Zeit des Nationalsozialismus, 47 enthalten Übersichten zur „Reichsfluchtsteuer“ und „Judenvermögensabgabe“ im jeweiligen Amtssprengel 48 oder die Verwertung des Eigentums deportierter oder emigrierter Juden. 49 Darüber hinaus enthalten sie auch Rundschreiben vorgesetzter Dienststellen und Zusammenstellungen für den 45 In der ursprünglichen Fassung des Bundesarchivgesetzes (BArchG) von 1988 betrug die Frist nach § 5 noch 80 Jahre, wurde aber im Jahr 2002 auf 60 Jahre reduziert; vgl. BArchG vom 6.1.1988 (BGBl I, 62), geändert durch Art. 4 Abs. 35 des Gesetzes vom 18.7.2016 (BGBl I, 1666). 46 BArchG, § 5 (3). 47 Zum Beispiel nach Nachnamen geordnete Akten über die Auswanderung aus Ichenhausen ab 1936 (StAA, Finanzamt Günzburg 14-21). 48 Zum Beispiel ein Verzeichnis der Reichsfluchtsteuerbescheide und Steuersteckbriefe im Sprengel des Finanzamtes Augsburg-Stadt der Jahre 1936-1943 (StAA, Finanzamt Augsburg- Stadt 3). 49 Zum Beispiel StAA, Finanzamt Augsburg-Stadt 11: Vermögensverwaltung von eingezogenem jüdischem Vermögen, 1942-1944. <?page no="46"?> Rainer Jedlitschka 46 gesamten Sprengel eines Finanzamtes aus der Zeit des „Dritten Reiches.“ 50 Zu einem geringeren Teil sind hier auch Unterlagen überliefert, die im Zusammenhang der Rückerstattung nach 1945 entstanden sind. 51 Die genannten Akten stehen, insoweit es sich um Sachakten handelt, deren dreißigjährige Schutzfrist verstrichen ist, der Forschung zur Verfügung. 3.6. Quellen zu den Verfolgungsmaßnahmen im „Dritten Reich“ Um diesen Quellenüberblick zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg abzurunden, soll abschließend noch der Blick auf die Überlieferung zur Vorgeschichte, der Vermögenseinziehung und „Arisierung“ während der Zeit des Nationalsozialismus geworfen werden. Zu den Maßnahmen gegenüber rassisch, religiös und politisch Verfolgten sind im Staatsarchiv vielfältige Unterlagen überliefert. Die relevanten Bestandsgruppen werden im Folgenden knapp beschrieben. Zunächst anzuführen ist hier natürlich das Schriftgut der NSDAP Gau Schwaben samt ihrer Gliederungen und Verbände, 52 ebenso Unterlagen der Kreisbauernschaften im Reichsnährstand. 53 Was die staatliche Verwaltung betrifft, so sind hier als erste Quellengruppe die bei den Amtsgerichten seit 1909 geführten Grundbücher (zuvor: Hypothekenbücher) zu nennen. Mit ihnen lassen sich Eigentumsveränderungen u.a. für die Zeit des Nationalsozialismus nachvollziehen. Der Zugriff ist über Personen- und Sachregister (Aufstellung nach Plannummern) möglich. Die Grundbücher enthalten nach Gemarkung eingeteilt detaillierte Angaben über einzelne Grundstücke (vor allem Lage, Größe, Wirtschaftsart), den jeweiligen Eigentümer, dingliche Rechte und Belastungen (zum Beispiel Geh- und Fahrtrechte, Erbbaurecht) sowie finanzielle Belastungen (Hypotheken, Grundschulden). Die beim Grundbuchamt vorgelegten Urkunden und Schreiben sind in den Grundbuchanlagen zusammengefasst. Ab 1936 wurden die Grundbücher nach Reichsmuster angelegt, statt Grundbuchanlagen werden Grundakten geführt. 54 Eine weitere Quelle zum Nachweis von Veränderungen am Grundeigentum sind die bereits im 19. Jahrhundert eingeführten, von der Finanzverwaltung geführten 50 Zum Beispiel StAA, Finanzamt Augsburg-Stadt 9: Judenvermögensabgabe - Rundschreiben, Schnellbriefe und Verordnungen, 1938-1939. 51 Zum Beispiel StAA, Finanzamt Augsburg-Stadt 23-27: Judenvermögen - Rückerstattungssachen nach Nachnamen, 1945-1964. 52 Zum Beispiel StAA, NSDAP Kreisleitung Memmingen-Stadt 1/ 41: Maßnahmen gegen Juden, oder StAA, NSDAP Kreisleitung Memmingen 1/ 167: Arisierung der jüdischen Strickwarenfabrik Max Günzburger, 1937-1938. 53 Zum Beispiel StAA, Kreisbauernschaft Nördlingen 184: Judenangelegenheiten, 1938-1941. 54 Dazu H AMMER , Geschichte des Grundbuches, 140-142, 149-153, 160-165. <?page no="47"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 47 Grundsteuerkataster. In diesen wurden alle Grundstücke in einer Steuergemeinde zur Einhebung der Grundsteuer genau beschrieben und in einer Steuersumme veranschlagt. Die Kataster enthalten außerdem Angaben über Eigentümer und dessen Erwerbstitel (Kauf, Tausch, Verweis auf notarielle Urkunden). Ordnungsprinzip sind hier die (alten) Hausnummern und Besitznummern (bei unbebauten Grundstücken). Die laufenden Veränderungen durch Kauf, Verkauf, Tausch etc. werden in den sogenannten Umschreibheften erfasst. Diese wurden bis circa 1950/ 60 geführt. 55 Anhand des Grundsteuerkatasters kann die Geschichte eines Anwesens oder einzelner Flurstücke bei entsprechender Überlieferungslage von 1808 bis 1950/ 60 lückenlos verfolgt werden. Hervorzuheben ist, dass sich in den Umschreibheften in einigen Fällen auch Verweise auf entsprechende Rückerstattungsverfahren bei der Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben (inkl. Aktenzeichen) finden. Ebenfalls aus dem Bereich der Finanzbehörden stammen die sogenannten „Einheitswertakten“ der Finanzämter. Nach dem Reichsbewertungsgesetz vom 10. August 1925 begannen die Finanzämter damit, Einheitswerte festzulegen und daraus Grundsteuermessbeträge abzuleiten. 56 Im Jahr 1999 wurden durch das Staatsarchiv Augsburg vom Finanzamt Neu-Ulm Einheitswertakten der Finanzämter Illertissen und Neu-Ulm für Gebäude und Grundstücke mit Hauptbewertungsfeststellungen von 1935 und 1946 (sowie 1964) als Musterregistratur für den Regierungsbezirk Schwaben übernommen. Dieser Bestand im Umfang von 852 Akten enthält auch Unterlagen für Gemeinden mit jüdischer Bevölkerung mit Belegen für die sogenannte „Arisierung“ sowie Schriftwechsel mit der Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben nach 1945. Über Veränderungen bei Firmeneigentum geben die bei den Amtsgerichten geführten Firmen-, Gesellschafts- und Handelsregisterakten Auskunft. Im Staatsarchiv Augsburg befinden sich nur Akten nicht mehr bestehender Firmen, die aktuell laufenden Akten sind noch beim zuständigen Registergericht. Typischerweise enthalten diese Akten unter anderem Informationen über Firma, Sitz, Niederlassung und Zweigniederlassungen, den Gegenstand des Unternehmens, vertretungsberechtigten Personen, die Rechtsform des Unternehmens sowie das Grund- oder Stammkapital. Mit diesen Unterlagen lassen sich Schicksale jüdischer Betriebe nachvollziehen. 57 Da die Zuständigkeit für die Registergerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert bei den einzelnen Amtsgerichten selbst lag, im 20. Jahrhundert aber schon bald größere Registergerichtsbezirke gebildet wurden, deren Zuständigkeit zum Teil wechselte, wurden die Registerakten im Staatsarchiv Augsburg nach den Amtsgerichtssprengeln geordnet. 55 Dazu S CHERL , Steuerkataster. 56 RGBl I 1925, 214. 57 Zum Beispiel zur Firma Max Guggenheimer Webwaren in Memmingen für die Jahre 1922 bis 1939: StAA, Firmenregister Memmingen I/ 144; StAA, Handelsregister A Memmingen 80. <?page no="48"?> Rainer Jedlitschka 48 Als weitere Quelle für die Dokumentation von Verfolgungsmaßnahmen anzuführen sind die bei den Amtsgerichten geführten Nachlassakten. Seit Einrichtung der Standesämter 1875/ 76 im damaligen Kaiserreich besteht die Verpflichtung, dem zuständigen Amtsgericht jeden Todesfall anzuzeigen. Diese sind dazu verpflichtet, von Amts wegen die Erben zu ermitteln. Die dabei entstehenden Nachlassakten enthalten Unterlagen, die Aufschluss über Höhe und Verteilung von Vermögen der verstorbenen Person geben. Das sind neben der Todesanzeige üblicherweise Ehe- und Erbverträge, Niederschriften, Testamente, Stammbäume, Erbscheine und gegebenenfalls Besitzinventare. 58 In den Nachlassakten sind auch Hinweise auf Verfolgungsschicksale während des „Dritten Reiches“ zu finden, wenn die Todesanzeige als Sterbeort oder letzten Wohnsitz zum Beispiel ein Konzentrationslager vermerkt. Neben den genannten Quellengruppen sind auch einzelne relevante Akten staatlicher Behörden der inneren Verwaltung überliefert, die ebenfalls an Verfolgungsmaßnahmen bzw. der sogenannten „Arisierung“ beteiligt gewesen sind, etwa der Regierung von Schwaben, der Bezirks- und Landratsämter oder der Polizei. 59 Teilweise laufen diese Akten auch über die Zäsur des Jahres 1945 hinaus und enthalten dann auch Schriftwechsel im Zusammenhang der Wiedergutmachung. 60 4. Resümee Archive schaffen Transparenz, indem sie die Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns langfristig sicherstellen. Das ist Anspruch und zugleich zentrale gesellschaftliche Aufgabe der öffentlichen Archive. Der Überblick zu den Beständen der „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts im Staatsarchiv Augsburg hat verdeutlicht, wie die Staatlichen Archive Bayerns dem gerecht werden. Die relevanten Unterlagen werden nach Maßgabe des Bayerischen Archivgesetzes zugänglich gemacht, die entsprechenden Findmittel modern aufbereitet und, soweit der Datenschutz dem nicht entgegensteht, digital zur Verfügung gestellt. Wie drängend die zu Anfang der Ausführungen zitierte archivische Aufgabe einer „politischen Aufklärung“ ist, zeigte die im Jahr 2016 geführte Diskussion um den 58 Vgl. G RAU , Nachlaßakten. 59 Beispiele: StAA, Regierung von Schwaben (1935-1972) 5959, 5959 I: Erfassung der Zu- und Abwanderung der Juden im Regierungsbezirk Schwaben (enthält u.a.: namentliche Erwähnung einzelner Personen), 1934-1943; StAA, Bezirksamt Memmingen 10975: Aktionen gegen Juden, „Entjudung“ der Wirtschaft, Sperrung jüdischer Konten, 1934-1940; StAA, Gendarmeriestation Fischach 1: Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung, 1935-1942; viele dieser Archivalien sind in dem sachthematischen Inventar P FISTER , Dokumentation, erfasst. 60 Zum Beispiel StAA, Bezirksamt Donauwörth nS 10181: Einsatz jüdischen Vermögens und Grundstückveräußerungen, 1938-1958. <?page no="49"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 49 Umgang der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen mit Raubkunst nach 1945. Viele Kunstwerke waren nach Kriegsende von der US-Armee konfisziert und den deutschen Behörden treuhänderisch übergeben worden. Doch haben die Staatsgemäldesammlungen, statt die Bilder ihren früheren jüdischen Eigentümern zurückzugeben, dieselben bis in die 1970er Jahre zum Teil weiterverkauft oder sogar an die NS- Funktionäre, welche die Kunstwerke geraubt hatten, bzw. deren Angehörige abgetreten. 61 In der Debatte um die Versäumnisse bei der Aufarbeitung des behördlichen Umgangs mit geraubten Kunstwerken nach 1945 sind aber auch mahnende Stimmen laut geworden, das Thema nicht politisch zu instrumentalisieren. Eine reine Skandalisierung greife zu kurz, dazu sei die Provenienzforschung zu komplex. 62 In dieser politisch aufgeladenen Diskussion spielte auch die Frage eine bedeutende Rolle, weshalb die Staatsgemäldesammlungen ihre Akten nicht schon längst dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv übergeben hatten. Denn nach dem Bayerischen Archivgesetz haben die Behörden des Freistaates Bayern dem zuständigen staatlichen Archiv diejenigen Unterlagen zur Übernahme anzubieten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr benötigen. Dies ist in der Regel 30 Jahre nach Entstehung der Unterlagen anzunehmen. Die Staatsgemäldesammlungen waren aber lange der Ansicht, dass sie insbesondere ihre Erwerbungsakten weiterhin benötigten und diese daher nicht abgeben müssten. Interessierten Wissenschaftlern stünden diese Akten auf Anfrage zur Einsichtnahme offen. 63 2017 ist es schließlich gelungen, die komplette Überlieferung der Staatsgemäldesammlungen an Sachakten und Amtsbüchern bis herauf ins Jahr 1980 in das Bayerische Hauptstaatsarchiv zu übernehmen, ebenso eine größere Menge an Personalakten. Zwar verblieben vor allem die Objektakten, Inventare und Zugangsbücher bei den Staatsgemäldesammlungen. Aber ein wesentlicher Teil der für die Provenienzforschung wichtigen Unterlagen ist inzwischen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zugänglich. Dies ist unverzichtbar, damit das vergangene Verwaltungshandeln differenziert aufgeklärt werden kann. 61 Vgl. „Bayerische Museen verkauften Raubkunst an Familien hochrangiger Nazis“, in: Süddeutsche Zeitung, 25.6.2016; „NS-Raubkunst: Das Museum mauert“, in: Süddeutsche Zeitung, 27.6.2016; „Spaenle: Bayerische Behörden haben NS-Raubkunst verkauft“, in: Süddeutsche Zeitung, 12.10.2016. 62 B AHNERS , Provenienzforscher wehren sich. 63 „Bayern verkaufte Nazi-Raubkunst an Familien ehemaliger NS-Größen“, in: Bayerische Staatszeitung, 12.10.2016, www.bayerische-staatszeitung.de/ staatszeitung/ landtag/ detailansicht-landtag/ artikel/ bayern-verkaufte-nazi-raubkunst-an-familien-ehemaliger-ns-groessen. html (Zugriff am 12.12.2016). <?page no="50"?> Rainer Jedlitschka 50 Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) - OMGUS Legal Division 14/ 2133: Military Government Regulations, Title 17 Property Control (1948) Staatsarchiv Augsburg (StAA) - Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstellen, Vermögenskontrollakten - Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstellen, Vermögenseinzugsakten - Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstellen, Allgemeiner Schriftverkehr - Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben, a-Akten - Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben, JR-Akten - Finanzmittelstelle Augsburg, Rückerstattungsakten O 1490 - Finanzmittelstelle Augsburg, Rückerstattungsakten F III - Steuerakten verschiedener schwäbischer Finanzämter über rassisch Verfolgte Gedruckte Quellen und Inventare G ELBERG , K ARL -U LRICH (Bearb.): Die Protokolle des Bayerischen Ministerrates, Bd. 3: Das Kabinett Ehard I, 21. Dezember 1946 bis 20. September 1947, München 2000. - (Bearb.): Die Protokolle des Bayerischen Ministerrates, Bd. 4/ 1: Das Kabinett Ehard II, 20. September 1947 bis 18. Dezember 1950, 1. Teilband 1947/ 48, München 2003. - (Bearb.): Quellen zur politischen Geschichte Bayerns in der Nachkriegszeit. Band I: 1944-1957, 1. Auflage, München 2002. H EMKEN , R UTH (Bearb.): Sammlung der vom Alliierten Kontrollrat und der Amerikanischen Militärregierung erlassenen Proklamationen, Gesetze, Verordnungen, Befehle, Stuttgart 1946ff. P FISTER , D ORIS (Bearb.): Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. I/ 1 Archivführer (Aichach-Augsburg), Augsburg 1993, http: / / digital.bib-bvb.de / R/ 84SGDBL1GQ9PVHT6X8RV3YKEEX1PPT8HVRC3IL ACVQ6R5TIGVP-00349? func=collections&collection_id=5274 (Zugriff am 24.1.2018). <?page no="51"?> Quellen zur „Wiedergutmachung“ im Staatsarchiv Augsburg 51 Literatur Abschlussbericht der ARK-Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wiedergutmachung“, Düsseldorf 2009 (37 S.), www.bundesarchiv.de/ imperia/ md/ content/ bundesarchiv_de/ fachinformation/ ark/ ark_ag_wiedergutmachung_abschlussbericht.pdf (Zugriff am 30.6.2016). ARK-Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wiedergutmachung“: Übersicht über die Überlieferung und Rechtsgrundlagen zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland in den staatlichen Archiven, Düsseldorf 2010 (194 S.), http: / / www.lostart.de/ Content/ 05_Provenienz/ ARK- Bund-L%C3%A4nder-Arbeitsgruppe_Wiedergutmachung.pdf? __blob=publicationFile (Zugriff am 30.6.2016). 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Forschungsverbund Provenienzforschung Bayern, www.provenienzforschungsverbund-bayern.de (Zugriff am 30.11.2016). <?page no="55"?> Quellen in Archiven außerhalb des Regierungsbezirks Schwaben zu „Arisierung“, Restitution und „Wiedergutmachung.“ Ein Leitfaden Katrin Holly/ Gerhard Fürmetz 1 Die „Wiedergutmachung“ von NS-Unrecht, bestehend aus Rückerstattung/ Restitution und Entschädigung, ist quellenmäßig breit dokumentiert. Dieser Beitrag ist ein kurzer Leitfaden, der Hinweise zur Suche nach relevanten Archivalien geben soll, die nicht im Staatsarchiv Augsburg oder in den teils reichhaltigen Beständen der Kommunalarchive vorliegen. Weil bei der Beurteilung der Restitutionsfälle auch die Kenntnis über die „Arisierungs“- und Raubvorgänge wichtig ist, werden die Quellen hierzu mit einbezogen. Der Beitrag baut auf dem vorausgegangenen Aufsatz in diesem Band von Rainer Jedlitschka auf. 2 Rainer Jedlitschka hat darin Organisation und Entwicklung einiger Behörden, deren Aktenniederschlag auch in den hier vorgestellten Archiven zu finden ist, bereits beschrieben. Außerdem weist er in seinem Beitrag an einigen Stellen auf Überlieferungen in anderen Archiven hin, die hier deshalb nicht mehr aufgeführt werden. So auf die Akten der Wiedergutmachungsbehörde, die aufgrund des MRG 59 von 1947 entstanden sind, und von denen einige Fälle aus Bayerisch-Schwaben wegen der Behördenumstrukturierung für den Zeitraum nach 1952 im Staatsarchiv München liegen. 3 Auch erwähnt Jedlitschka das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen in Berlin, in dem die Unterlagen des Zentralmeldeamts Bad Nauheim verwahrt werden. 4 Grundsätzlich gelten für fast alle hier vorgestellten Archivbestände Schutzfristen, meist 60 Jahre nach Abschluss der Akte. Zum Teil sind diese Schutzfristen bereits abgelaufen. Ansonsten muss in den entsprechenden Archiven eine Schutzfristverkürzung beantragt werden. Da die Findmittel teilweise schwierig zu benützen sind, sollte bei der Suche nach Akten immer zuerst eine schriftliche Anfrage an das Archiv gestellt werden, damit die Archivare nach den relevanten Akten suchen können. 1 Ich danke Herrn Gerhard Fürmetz für das Verfassen des Abschnitts über das Bayerische Hauptstaatsarchiv. Er hat darüber hinaus den gesamten Beitrag kritisch durchgesehen und wertvolle Hinweise gegeben. 2 Zitiert als J EDLITSCHKA , Quellen. 3 J EDLITSCHKA , Quellen, Kap. 3.2. 4 Ebd., Kap. 3.2 und Anmerkung 26. <?page no="56"?> Katrin Holly/ Gerhard Fürmetz 56 1. Bestände im Staatsarchiv München 5 Im Staatsarchiv München werden zahlreiche Aktenbestände aus verschiedensten Behörden verwahrt, die für die Forschung über Fälle aus Bayerisch-Schwaben relevant sind. 1.1. Akten der Oberfinanzdirektion München Zunächst wurden die Verfahren zur Beschlagnahmung des Vermögens von Juden in den regional zuständigen Finanzämtern geführt, also beispielsweise im Finanzamt Augsburg. 6 Mit Beginn der Deportationen 1941 wurde das Verfahren im Oberfinanzpräsidium München zentralisiert. Die Dienststelle für Vermögensverwertung des Oberfinanzpräsidiums München war seitdem für die Einziehung und Verwertung von Vermögen (Geld- und Sachwerte) von verfolgten Personen zuständig, die emigrierten oder deportiert worden waren. Deshalb sind in der Überlieferung des Oberfinanzpräsidiums im Staatsarchiv München auch Akten zu Verfolgten aus Bayerisch- Schwaben zu finden. Es ist grundsätzlich zu beachten, dass in der Amtssprache „eine Reihe von verharmlosenden Tarnbegriffen“ 7 im Zusammenhang mit den Deportationen, den Ermordungen und der Enteignung üblich waren. Deportationen wurden praktisch immer als „Abschiebung“ oder „Evakuierung“ bezeichnet, auch das Codewort „Aktion 3“ taucht immer wieder auf. Dieses bezeichnete die „Verwaltung und Verwertung jüdischen Eigentums nach den Deportationen.“ 8 Diese Begriffe sind deshalb immer wieder in den einschlägigen Akten der Oberfinanzdirektion München zu finden. In den Einzelfallakten der Oberfinanzdirektion München sind die von den Verfolgten selbst ausgefüllten Formulare über deren Besitzverhältnisse enthalten. Diese sind mitunter sehr detailliert und geben Auskunft über Bargeldbestand, Wertpapiere, Immobilien und Hausratgegenstände von Möbeln, Kunstwerken, Bettzeug bis hin zum Besteck. Dokumentiert sind außerdem die eigenen Recherchen der Dienststelle zu den vorhandenen Vermögen und vor allem die Verwertungswege der Behörde, also der Einzug der Vermögenswerte und deren Veräußerung, darunter auch die Versteigerung von Hausrat mit den Listen der Erwerber. 5 Ich danke Herrn Robert Bierschneider vom Staatsarchiv München für seine Auskünfte, Hinweise und die kritische Durchsicht dieses Abschnitts. 6 Zum Aufbau der Finanzverwaltung in Bayern, insbesondere zum Neuaufbau als Reichsbehörde in der Weimarer Republik und zur Weiterentwicklung seit 1933 K ULLER , Finanzverwaltung, 32-38. 7 Ebd., 12. 8 Ebd. <?page no="57"?> Quellen außerhalb des Regierungsbezirks Schwaben 57 Die Akten sind nach Nachname, Vorname und Geburtsdatum der Verfolgten sortiert. Es ist kein Zugriff sortiert nach Ortschaften möglich. 1.2. Akten der Münchner Finanzämter Erhalten sind auch Steuerakten der Münchner Finanzämter zu rassisch, religiös und politisch Verfolgten. 9 Es handelt sich um einen Restbestand, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen gezogen wurde. Der Schwerpunkt der Überlieferung liegt auf oberbayerischen Fällen, es kann aber durchaus der eine oder andere Akt zu Verfolgten aus Bayerisch-Schwaben darunter sein. Die Akten sind nach Nachname, Vorname und Geburtsdatum der Verfolgten sortiert. 1.3. Personendossiers der Polizeidirektion München Diese Akten wurden unter anderem über Münchner Juden angelegt, die ausreisen wollten. In diesem Bestand sind auch Juden erfasst, die von Bayerisch-Schwaben erst nach München gezogen waren und von dort aus ihre Auswanderung betrieben. 1.4. Spruchkammerakten Von der Entnazifizierung wurden auch Personen erfasst, die als Täter an „Arisierungs“- und Raubvorgängen beteiligt waren. Die Spruchkammerakten der ersten Instanz sind nach dem Wohnort des vom Entnazifizierungsverfahren Betroffenen, den dieser nach Kriegsende hatte, auf die zuständigen Staatsarchive verteilt. Wenn im Staatsarchiv Augsburg keine Spruchkammerakte zu einer Person aus Bayerisch- Schwaben existiert, dann lohnt sich grundsätzlich eine Anfrage in anderen Staatsarchiven, v.a. im Staatsarchiv München. Dort befinden sich viele Akten zur Entnazifizierung von Personen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft in Bayerisch-Schwaben gewohnt hatten oder dort tätig waren, aber nach dem Krieg ihren Wohnsitz in Oberbayern hatten. 10 Die Akten der zweiten Instanz, der Berufungskammer(n), befinden sich für ganz Bayern ebenfalls im Staatsarchiv München. 9 Dazu auch J EDLITSCHKA , Quellen, Kap. 3.4 und 3.5. 10 So befindet sich beispielsweise die Spruchkammerakte von Hans Robert Weihrauch, dem Leiter der Städtischen Kunstsammlungen Augsburg von 1939 bis 1945, im Staatsarchiv München. Dazu Beitrag H OLLY , „Rettung oder Raub? “, in diesem Band. <?page no="58"?> Katrin Holly/ Gerhard Fürmetz 58 2. Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv 2.1. Zentralbehördliche Akten des Bayerischen Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung (BLVW) 11 Die sogenannten Treuhänderakten des BLVW liegen für Vermögen in Bayerisch- Schwaben im Staatsarchiv Augsburg vor. 12 Akten zur Vermögenskontrolle und Rückerstattung fielen allerdings auch auf der zentralbehördlichen Ebene an, insbesondere bei größeren Vermögenskomplexen. Sollten im Staatsarchiv Augsburg keine Treuhänderakten zu einem bestimmten Fall gefunden werden, empfiehlt sich zusätzlich eine Suche im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dort sind rund 3.000 Einzelfallakten zur Vermögenseinziehung und zum Umgang mit Vermögenswerten von Juden, Ausländern und juristischen Personen überliefert, außerdem zum Vermögen führender NS-Funktionäre. Weitere rund 3.000 Akten betreffen die Rückübertragung von Vermögenswerten politischer, religiöser und karitativer Organisationen. 13 2.2. Entschädigungsakten aus dem Bayerischen Landesentschädigungsamt 14 Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv befinden sich derzeit etwa 67.700 Einzelfallakten des Bayerischen Landesentschädigungsamts. Diese dokumentieren individuelle Verfolgungsmaßnahmen und die daraus resultierenden Schäden an Leben, Körper und Gesundheit, Freiheit, wirtschaftlichem Fortkommen, Versicherungs- und Rentenleistungen, aber auch Eigentums- und Vermögensschäden, soweit diese nicht im Rahmen der Rückerstattung geltend gemacht werden konnten. Rechtliche Grundlagen waren das Entschädigungsgesetz für die US-Zone (EG) und das Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Mittlerweile sind die meisten Akten zu Personen, die bis einschließlich 1909 geboren wurden, archiviert. Die restlichen Entschädigungsakten liegen noch im Bayerischen Landesamt für Finanzen, in dem das Landesentschädigungsamt 2005 aufgegangen ist. Erschlossen sind die Entschädigungsakten nach den Namen der Betroffenen und deren Geburtsdaten. Recherchiert werden kann auch nach dem EGbzw. BEG-Aktenzeichen. Bei derzeit rund 26.000 Entschädigungsakten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv sind außerdem die Berufe und die letzten Wohnsitze der Betroffenen im Findmittel erfasst. Obwohl sich die meisten Entschädigungsakten auf 11 Zu Organisation und Aufgaben des Bayerischen Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung J EDLITSCHKA , Quellen, Kap. 2 und 3.1. 12 Dazu J EDLITSCHKA , Quellen, Kap. 2 und 3.1. 13 Dazu N ICKLAUS , Rückübertragung. 14 Zuletzt F ÜRMETZ , Akten zur Entschädigung. <?page no="59"?> Quellen außerhalb des Regierungsbezirks Schwaben 59 persönliche NS-Opfer beziehen, betrifft ein kleiner Teil auch Vereine, Verbände, Firmen und kirchliche Einrichtungen. Grundsätzlich ist zu empfehlen, neben den objektbezogenen Rückerstattungsakten immer auch die opferbezogenen Entschädigungsakten zu sichten. 3. Das Bayerische Wirtschaftsarchiv Im Bayerischen Wirtschaftsarchiv in München werden die Unterlagen der Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwaben verwahrt. 15 Bei der „Arisierung“ von Unternehmen waren immer auch die regional zuständigen Kammern mit beteiligt. Die Unterlagen der IHK Schwaben im Bayerischen Wirtschaftsarchiv geben daher Auskunft über die Arisierungsvorgänge von Unternehmen in Schwaben. Sie enthalten Akten über den „Ausschluss von Juden aus der Wirtschaft“ und Akten über die „Enteignung jüdischer Einzelpersonen und Gewerbebetriebe in Augsburg“ bzw. „... im Bezirk Schwaben“. 16 Zusätzlich sind Unterlagen aus der Nachkriegszeit unter anderem zu Treuhänderschaften und Entnazifierung vorhanden. Die IHK Lindau-Bodensee wurde, weil deren Zuständigkeitsgebiet französisch besetzt war, 1946 separat gegründet. Auch in deren überlieferten Nachkriegsakten 17 kann der eine oder andere Vorgang relevant sein. 4. Das Bundeszentralregister im Landesarchiv Nordrhein- Westfalen Für die Suche nach Entschädigungsakten kann eine Anfrage beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Duisburg empfehlenswert sein - auch im Vorfeld einer Archivrecherche. Die bisher im Dezernat 15 der Bezirksregierung Düsseldorf geführte „Bundeszentralkartei (BZK) als zentrales und gemeinsames Register des Bundes und der Länder“ 18 wurde Anfang des Jahres 2020 in das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen übernommen. Im Vorfeld lag dort bereits ein Digitalisat der BZK vor. 19 Die BZK 15 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Bestände, Industrie- und Handelskammern: K 009 IHK Schwaben (Augsburg); Winkler, Sicherung, 177f. 16 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Bestände, Industrie- und Handelskammern: K 009 IHK Schwaben (Augsburg), Bestand 8. 17 Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Bestände, Industrie- und Handelskammern: K 004 IHK Lindau-Bodensee. 18 Bezirksregierung Düsseldorf, Entschädigung für Naziunrecht: Wissenswertes über das Dezernat 15. 19 Auskunft von Dr. Karoline Riener, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (E-Mail vom 11.11.2019). <?page no="60"?> Katrin Holly/ Gerhard Fürmetz 60 dokumentiert bereits durchgeführte Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (nicht nach dem MRG 59! ). Auf rund 2,5 Mio. Karteikarten sind Anspruchsberechtigte und ihre Angehörigen aus allen Entschädigungsregionen der Bundesrepublik Deutschland erfasst. Auf diesen Karteikarten ist vermerkt, bei welcher Behörde und unter welchem Aktenzeichen die Entschädigungsverfahren geführt werden. Damit kann ermittelt werden, ob es überhaupt ein Verfahren gab, aber nicht, welches Ergebnis dieses Verfahren hatte. Außerdem geht aus den Karteikarten hervor, wer verfolgt wurde, weil Anspruchsberechtigte und Verfolgte nicht in jedem Entschädigungsfall identisch sind. Zudem können dadurch auch noch möglicherweise vorhandene Angehörige der Verfolgten ermittelt werden. 20 Die Karteikarten sind nach Geburtsdatum und Nachnamen der Antragstellenden sortiert. Das bedeutet, dass nicht nur die Daten der Opfer, sondern auch die der erbberechtigten Angehörigen verstorbener Opfer bei der Recherche angegeben werden sollten. Grundsätzlich können öffentliche Stellen sowie von Entschädigungsverfahren betroffene Personen und ihre Rechtsvertreter Auskünfte erhalten. 21 Bei wissenschaftlichen Forschungen ist das Forschungsinteresse zu belegen. 22 Nach Übernahme in das Landesarchiv Nordrhein- Westfalen richtet sich die Benutzung nach dem Archivgesetz des Landes Nordrhein- Westfalen, das unter anderem eine Schutzfristenverkürzung bei wissenschaftlicher Forschung vorsieht. 23 Quellen und Literatur Literatur F ÜRMETZ , G ERHARD : Zahlreiche neue Akten zur Entschädigung von NS-Unrecht archiviert, in: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns 72 (2017), 44- 46. J EDLITSCHKA , R AINER : Quellen zur „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts im Staatsarchiv Augsburg - in diesem Band. K ULLER , C HRISTIANE : Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, München 2008. 20 Bezirksregierung Düsseldorf, Entschädigung für Naziunrecht: Wissenswertes über das Dezernat 15. 21 Bezirksregierung Düsseldorf, Entschädigung für Naziunrecht: Merkblatt. 22 Telefonische Auskunft des zuständigen Dezernats 15 der Bezirksregierung Düsseldorf, 15. Juli 2019. 23 Auskunft von Dr. Karoline Riener, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (E-Mail vom 11.11.2019). Demnach richtet sich die Benutzung nach § 7 des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivguts im Land Nordrhein-Westfalen vom 16. März 2010 in der am 30. September 2014 in Kraft getretenen Fassung. <?page no="61"?> Quellen außerhalb des Regierungsbezirks Schwaben 61 N ICKLAUS , M ATTHIAS : Rückübertragung von Vermögenswerten politischer, religiöser und karitativer Organisationen nach der NS-Herrschaft jetzt bereit dokumentiert, in: Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns 73 (2017), 45f. W INKLER , R ICHARD : Die Sicherung und Erschließung wirtschaftsgeschichtlicher Quellen in Schwaben. Eine Aufgabe für das Bayerische Wirtschaftsarchiv, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 93 (2000), 167-187. Internet Bezirksregierung Düsseldorf, Entschädigung für Naziunrecht - Dezernat 15 unter: www.brd.nrw.de/ entschaedigung_fuer_naziunrecht/ index.jsp (Zugriff am 15.7.2019). - Merkblatt unter www.brd.nrw.de/ entschaedigung_fuer_naziunrecht/ pdf/ BZK_ Merkblatt_deutsch.pdf (Zugriff am 15.7.2019). - Wissenswertes über das Dezernat 15 unter www.brd.nrw.de/ entschaedigung_ fuer_naziunrecht/ Wissenswertes.html (Zugriff am 15.7.2019). Bayerisches Wirtschaftsarchiv, Bestände, Industrie- und Handelskammern - K 009 IHK Schwaben (Augsburg) unter www.bwa.findbuch.net/ php/ main. php? ar_id=3254&be_kurz=4b20303039 (Zugriff am 16.7.2019). - K 009 IHK Schwaben (Augsburg), Bestand 08 Nationalsozialismus, Kriegs-, Nachkriegs- und Übergangszeit unter www.bwa.findbuch.net/ php/ main.php? ar_ id=3254&be_kurz=4b20303039#7 (Zugriff am 16.7.2019). - K 004 IHK Lindau-Bodensee unter www.bwa.findbuch.net/ php/ main.php? ar_id=3254&be_kurz=4b20303039#4b20303034 (Zugriff am 16.7.2019). Gesetz über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivguts im Lande Nordrhein-Westfalen vom 16. März 2010 in der am 30. September 2014 in Kraft getretenen Fassung: https: / / recht.nrw.de/ lmi/ owa/ br_text_anzeigen? v_id=1000 0000000000000338#FN1 (Zugriff am 12.11.2019). <?page no="63"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht und das Beispiel Ludwig Dreifuß Florian Schwinger Die Entwicklung des Rechts von Restitution und „Wiedergutmachung“ nach dem Zweiten Weltkrieg begann in den Besatzungszonen, in denen jede Besatzungsmacht ihre eigenen Gesetze erließ. Sie setzte sich fort in der Bundesrepublik Deutschland. Die gesetzlichen Regelungen umfassten Rückgaben von geraubten Sachwerten bzw. Entschädigungsleistungen hierzu und Entschädigungen für Personen- und Vermögensschäden, darunter auch für Haftzeiten, Verdienstausfälle und ähnliches. Insgesamt lassen sich drei Phasen unterscheiden, die im Folgenden dargestellt und anschließend an dem Fallbeispiel von Ludwig Dreifuß vertieft werden. 1. Die erste Phase von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 1.1. Amerikanische Zone Am 10. November 1947 trat in der amerikanischen Besatzungszone das Militärregierungsgesetz Nr. 59 (MRG 59) in Kraft. Nachdem der Versuch einer einheitlichen Lösung der „Wiedergutmachung“ für das gesamte ehemalige Deutsche Reichsgebiet aufgrund gescheiterter Verhandlungen mit den drei anderen Besatzungsmächten sowie der Vertretungsordnung aller Länder in der US-Zone - dem Stuttgarter Länderrat - für die USA nicht mehr als erfolgsversprechend erschien, gingen die Amerikaner einen Einzelweg und erließen das vorgenannte Militärregierungsgesetz, welches nur für die US-Zone Geltung hatte. 1 Der Grundgedanke des MRG 59 war die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände (Sachen, Rechte) an Personen, denen sie in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus entzogen worden sind. Solche Vermögensgegenstände waren dem ursprünglichen Inhaber oder dessen Rechtsnachfolger zurückzuerstatten. 1 L ILLLTEICHER , Grenzen der Restitution, 4; Bundesministerium der Finanzen, Entschädigung NS-Unrecht, 6. <?page no="64"?> Florian Schwinger 64 Vorschriften zum Schutze eines eventuellen gutgläubigen Erwerbers sah das MRG 59 nicht vor, was einer der Hauptstreitpunkte in dem Stuttgarter Länderrat war. 2 Der Schutz des gutgläubigen Erwerbers ist ein rechtlicher Grundgedanke, welcher seither im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankert ist. Dieser Schutz besagt, verkürzt dargestellt, dass ein Erwerber, der nicht weiß, dass derjenige, der einen Gegenstand übergibt nicht der Eigentümer ist (Gutgläubigkeit), an dem übergebenen Gegenstand trotz des fehlenden Eigentums des Übergebenden selbst Eigentum erwerben kann. Eine Ausnahme sieht das BGB in § 935 für abhandengekommene d.h. insbesondere gestohlene Sachen vor, an welchen - auch nicht bei Gutgläubigkeit - kein Eigentum erworben werden kann. Im MRG 59 wurde, wie dargestellt, auf einem dem BGB vergleichbaren Schutz vollständig verzichtet. Im Falle der Gutgläubigkeit führte dies mithin zu dem Ergebnis, dass der gutgläubige Käufer die erworbenen Sachen zurückgeben musste und dafür den von ihm geleisteten Kaufpreis, welcher zum Zeitpunkt der Rückerstattung jedoch aufgrund Wertverlust oftmals wertlos war, erstattet bekam. Gemäß Artikel 3 des MRG 59 wurde eine unrechtmäßige Entziehung jüdischen Eigentums grundsätzlich widerleglich vermutet, sofern die Entziehung vor dem 15. September 1935 (Erlass der sogenannten Nürnberger Gesetze) stattgefunden hatte. Das heißt, wer vermeintlich Eigentum an den entzogenen Gegenständen erworben hatte, konnte den Gegenbeweis antreten, dass es sich um keine Entziehung, sondern um einen normalen Eigentumsübergang handelte, der nicht im Zusammenhang mit der jüdischen Abstammung des Verkäufers stand, sofern das Rechtsgeschäft vor dem 15. September 1935 vollzogen wurde. Nach dem vorgenannten Stichtag waren grundsätzlich alle Geschäfte anfechtbar, so dass ein Gegenbeweis nicht mehr möglich war. Die gesetzgeberische Intuition war in diesem Zusammenhang, dass man davon ausging, dass Geschäfte nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze nicht mehr ohne Zwang erfolgen konnten, sondern sämtliche Geschäfte in Zusammenhang mit der Verfolgung aufgrund der Rasse standen. Außerdem wurden Vermögensmassen von Personen, die keine Erben mehr hatten, nicht dem Staat zugeschrieben, sondern kamen jüdischen Nachfolgeorganisationen zu Gute, was einer der Hauptstreitpunkte mit der britischen Besatzungsmacht war. 3 2 L ILLTEICHER , Grenzen der Restitution, 4. 3 Ebd. <?page no="65"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 65 1.2. Restliche Besatzungszonen Ebenfalls im November 1947 erlässt auch die französische Besatzungsmacht für ihre Zone ein Restitutionsgesetz: die Verordnung Nr. 120. 4 Der Unterschied zur Lösung der Amerikaner lag darin, dass zum einen der gutgläubige Erwerber besser geschützt war und zum anderen der Stichtag, ab welchem eine unrechtmäßige Entziehung angenommen wurde, später - nämlich zum 14. Juni 1938 (Erlass der 3. Verordnung zum Reichsbürgergesetz) - vorgesehen war. Die britische Zone zog erst später nach und erließ erst 1949 eine zu der amerikanischen Lösung ähnliche Regelung. Der Hauptgrund lag darin, dass die Briten insbesondere bezüglich der Regelungen für erbloses Vermögen fürchteten, dass Vermögen nach Palästina verbracht werde und die Forderung nach einem eigenen Staat Israel in der damaligen britischen Kolonie Palästina vorangetrieben würde. 5 In der sowjetischen Zone stand die Restitution von Vermögen im Widerspruch mit der geplanten Sozialisierung des Privateigentums. Auch bezüglich des erblosen Vermögens sollte verhindert werden, dass dieses ins westliche Ausland transferiert wurde. 6 In der sowjetischen Zone gab es daher kein Restitutionsgesetz. Erst nach der Gründung der DDR wurde Verfolgten des Naziregimes sowie aktiven Kämpfern gegen den Faschismus eine monatliche Rente zugesprochen. Rückübereignungen von Eigentum erfolgten nicht. 7 2. Die zweite Phase von Restitution und „Wiedergutmachung“ 2.1. Das „Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ in der amerikanischen Zone Die zweite Phase der Restitution begann 1949 mit dem Erlass des US-EG (Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts), welches zum 1. April 1949 in Kraft trat. 8 Das US-EG war nach zähen Beratungen zwischen dem Süddeutschen Länderrat und der US-Militärregierung zu Stande gekommen und galt zunächst nur in der amerikanischen Besatzungszone. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde es im August 1949 als Landesgesetz in Bremen, Württemberg- Hohenzollern, Hessen und Bayern eingeführt. 4 Journal Officiel 1947, Nr. 119, 1219. 5 L ILLTEICHER , Grenzen der Restitution, 5. 6 H OCKERTS , Wiedergutmachung, 1. 7 Ebd. 8 W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit, 43. <?page no="66"?> Florian Schwinger 66 Das US-EG diente zur Entschädigung von Personen- und Vermögensschäden, welche nicht bereits unter die bestehenden rückerstattungsrechtlichen Regelungen fielen. Es war „Schrittmacher der Entschädigungsgesetzgebung“ 9 und vollzog den bereits gewählten Weg der Trennung von Rückerstattung und Entschädigung weiter. Das US-EG kannte insbesondere bereits die Unterscheidung verschiedener Schadenstatbestände, wie zum Beispiel Schaden an Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit (§§13 ff. US-EG) oder Schaden im wirtschaftlichen Fortkommen (§§ 21 ff. US- EG). 10 In den anderen Besatzungszonen folgte ein ähnliches Gesetz zunächst in der französischen Zone sowie in Westberlin, so dass insgesamt das Problem bestand, dass vielerlei verschiedene Regelungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik existierten, welche gleichartige Sachverhalte teilweise unterschiedlich behandelten. Es nahm daher der innen- und außenpolitische Druck auf die Bundesregierung immer weiter zu, eine einheitliche Lösung für die gesamte Bundesrepublik umzusetzen, wozu sich die Bundesregierung schließlich 1952 gegenüber der Conference on Jewish Material Claims against Germany verpflichtete. 11 2.2. Bundesergänzungsgesetz Eine einheitliche Regelung brachte schließlich das am 18. September 1953 erlassene Bundesergänzungsgesetz. Das Bundesergänzungsgesetz lehnte sich dicht an das US- EG an und sollte dieses ergänzen bzw. die Regelungen für das gesamte Gebiet der Bundesrepublik vereinheitlichen. 12 Das Bundesergänzungsgesetz wies - nicht zuletzt aufgrund einer übereilten Umsetzung - rechtliche Ungerechtigkeiten auf, beispielsweise, dass es gemäß Artikel I in Verbindung mit der Präambel des Grundgesetzes nur für Deutsche Staatsangehörige galt. 2.3. Bundesentschädigungsgesetz 2.3.1. Allgemeines Es folgte schließlich drei Jahre später das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG). 13 Dieses hatte eine rückwirkende Wirkung zum 1. Oktober 1953 und ersetzte somit das Bundesergänzungsgesetz vollständig. Grundsätzlich orientierte sich das BEG an dem Bundesergänzungsgesetz zwar in dem Sinne, dass die einzelnen Schadenstatbestände übernommen wurden, jedoch 9 Ebd. 10 L EHMANN -R ICHTER , Auf der Suche, 32. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 BGBl. I, 1953, 1387. <?page no="67"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 67 wurden die einzelnen Vorschriften sowie die Systematik weitreichend überarbeitet und somit erfolgreich Mängel des Bundesergänzungsgesetzes beseitigt. 2.3.2. Definition des Begriffs „Verfolgter“ Durch § 1 BEG wurde der Begriff des Verfolgter wie folgt definiert: „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter).“ 2.3.3. Systematik der Entschädigung Das BEG sah die Entschädigung folgender Schäden vor: - Schaden am Leben (§§ 15 - 27 BEG) - Schaden an Körper und Gesundheit (§§ 28 - 42 BEG) - Schaden an Freiheit (§§ 43 bis 50 BEG) - Schaden an Eigentum (§§ 51 - 55 BEG) - Schaden an Vermögen (§§ 56 - 58 BEG) - Schaden durch Zahlung von Sonderabgaben, Geldstrafen, Bußen und Kosten (§§ 59 - 63 BEG) - Schaden im beruflichen Fortkommen (allgemein §§ 64 und 65 BEG) Selbstständige Berufe (§§ 66 - 86 BEG) Unselbstständige Berufe (§§ 87 - 110 BEG) - Schaden im wirtschaftlichen Fortkommen Schaden an einer Versicherung außerhalb der Sozialversicherung (§§ 127 - 133 BEG) Versorgungsschäden (§§ 134 - 137 BEG) Schaden in der Sozialversicherung (§ 138 BEG) Schaden in der Kriegsopferversorgung (§ 139 BEG) - Soforthilfe für Rückwanderer (§ 141 BEG) 2.4. BEG Schlussgesetz Das BEG sah ursprünglich eine Ausschlussfrist zur Anmeldung von Entschädigungsansprüchen bis zum 1.4.1958 vor. Nachdem sich jedoch zeigte, dass diese Frist nicht ausreichte, um der Vielzahl von Fällen gerecht zu werden, wurde letztlich mit dem zweiten Änderungsgesetz zum BEG eine Nachmeldefrist bis zum 31. Dezember 1964 <?page no="68"?> Florian Schwinger 68 (§ 189 a Abs. 1 BEG) vorgesehen. Das zweite Änderungsgesetz wurde ausdrücklich als BEG Schlussgesetz tituliert, um den abschließenden Charakter zu formulieren. 14 Neben der Nachmeldefrist sah das BEG Schlussgesetz außerdem noch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 189 Abs. 3 BEG) sowie die Möglichkeit der späteren Anmeldung von Tatsachen, die erst nach dem 31. Dezember 1964 eingetreten sind (§ 189 a Abs. 2 BEG) vor. Durch diese beiden Regelungen war in eng begrenzten Fällen die Möglichkeit gegeben, dass der Verfolgte - sofern ihn kein Verschulden traf - auch nach der Schlussfrist noch Ansprüche anmelden konnte. Mit den Verlängerungsoptionen der Geltendmachung von Ansprüchen wurde mit Fingerspitzengefühl der praktischen Bedeutung des BEG und vor allem dem politischen Hintergrund Rechnung getragen. Dies insbesondere, weil letztlich jede Verlängerung von Antragsfristen bedeutete, dass die Bundesrepublik weitere finanzielle Mittel für die Entschädigung zur Verfügung stellen musste. Auf der anderen Seite war der Gesetzgeber um Rechtsklarheit bemüht. Es wurde daher in dem Art. VIII BEG Schlussgesetz eine absolute Ausschlussfrist festgelegt. Diese Ausschlussfrist zum 31. Dezember 1969 sah daher vor, dass ab dem 1. Januar 1970 keinerlei Ansprüche mehr - auch nicht über die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand - geltend gemacht werden konnten. 2.5. Bundesrückerstattungsgesetz Am 19. Juli 1957 wurde das Bundesgesetz zur Regelung der rückerstattungsrechtlichen Geldverbindlichkeiten des Deutschen Reiches und gleichgestellter Rechtsträger (BRüG) verabschiedet, welches die Rückerstattung von zu Unrecht entzogenen Vermögensgegenständen während der NS-Zeit regelte. 15 Nachdem die Rückerstattung teilweise nicht mehr in natura möglich war, da die entzogenen Gegenstände entweder nicht mehr auffindbar oder zerstört waren, sah das Gesetz vor, dass sich die Bundesrepublik zu Schadensersatz verpflichtete, sofern die Rückerstattung nicht mehr möglich war. Dies galt jedoch nur dann, wenn der Verfolgte nachweisen konnte, dass die entzogenen Gegenstände auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelangt waren. 2.6. Sonstige Wiedergutmachungsregelung In Ergänzung zu den vorgenannten Entschädigungs- und Wiedergutmachungsgesetzen wurden außerdem noch Gesetze zur „Wiedergutmachung“ für Angehörige des öffentlichen Dienstes sowie im Bereich des Versicherungs- und Versorgungsrechts 14 Bundesministerium der Finanzen, Entschädigung NS-Unrecht, 6. 15 Ebd. <?page no="69"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 69 und das Allgemeine Kriegsfolgengesetz (AKG) erlassen. 16 Letzteres war eine Art Auffanggesetz für Staatsunrecht, welches zu einer Verletzung von Leben, Gesundheit oder Freiheit geführt hatte und nicht bereits unter anderweitige Gesetze fiel. 17 3. Die dritte Phase von Restitution und „Wiedergutmachung“ - Staatsabkommen Am 10. September 1952 schloss die BRD mit dem Staat Israel das sogenannte Luxemburger Abkommen, nach welchem sich Deutschland zur Zahlung von drei Milliarden DM, welche auch durch Warenlieferungen beglichen werden konnten und größtenteils auch wurden, sowie zur Zahlung von 450 Mio. DM an die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (JCC) verpflichtete. 18 Die JCC war ein Zusammenschluss von jüdischen Verbänden, die sich um notleidende Verfolgte außerhalb des Staates Israel kümmerte. In den Jahren 1959 bis 1964 wurden außerdem mit den zwölf europäischen Staaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Holland, Norwegen, Österreich, Schweden und der Schweiz Globalabkommen geschlossen. In ihnen wurde die Zahlung von Entschädigungssummen für Verfolgte in den jeweiligen Ländern vereinbart. 19 Später wurden vergleichbare Abkommen mit Polen, der Russischen Föderation und Weißrussland sowie weiteren osteuropäische Staaten getroffen. Im Jahr 2000 wurde zudem die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet, welche von der BRD und verschiedenen deutschen Unternehmen mit einem Gesamtbetrag von 5,16 Mrd. EUR versehen wurde. 20 Der Stiftungszweck sah die Unterstützung von Opfern, die während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeit leisten mussten, vor. 16 Ebd., 8. 17 Ebd. 18 Ebd., 6. 19 Ebd., 8. 20 Ebd., 11. <?page no="70"?> Florian Schwinger 70 4. Das Entschädigungsbeispiel Ludwig Dreifuß 4.1. Biografischer Hintergrund Ludwig Dreifuß, am 28. August 1883 in München geboren, war ein angesehener Augsburger Rechtsanwalt jüdischen Glaubens. 21 Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in München und Erlangen wurde Dreifuß am 15. Mai 1911 in Augsburg als Rechtsanwalt zugelassen. 22 Im Ersten Weltkrieg kämpfte Dreifuß im Alter von 30 Jahren für das Deutsche Reich an der Front, wofür er später unter anderem das Bayerische Verdienstkreuz mit Schwertern verliehen bekam. 23 Nach dem Ersten Weltkrieg praktizierte Dreifuß, der mit seiner Familie in der Fröhlichstraße wohnte, im ehemaligen „Riegele Haus“ am Königsplatz als Rechtsanwalt. 24 Nachdem Dreifuß zunächst als angestellter Anwalt gearbeitet hatte, machte er sich erst 1929 mit einem nichtjüdischen Sozius, Rechtsanwalt Anton Fraunholz, selbstständig. 25 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten führte sowohl in Dreifuß Privatals auch Geschäftsleben zu erhebliche Einschnitten. Sein Sohn, der wie Dreifuß’ Ehefrau christlich getauft war, erlebte immer weitere Anfeindungen, bis das Ehepaar Dreifuß ihn schließlich zu seiner eigenen Sicherheit mit nur 16 Jahren in das Exil in die USA schickte. 26 Die von Dreifuß erwirtschafteten Einnahmen aus anwaltlicher Tätigkeit sanken seit dem Aufstieg der Nationalsozialisten erheblich. 1933 betrugen die Einkünfte im Vergleich zu 1930 nur noch die Hälfte und sanken in der Folge jedes Jahr noch weiter, bis schließlich in den Jahren 1936 bis 1938 Dreifuß nur noch rund 2.000 RM pro Jahr und somit weniger als 200 RM pro Monat erwirtschaften konnte. 27 Der Hauptgrund für den Einkommensrückgang war vor allem, dass zu jener Zeit viele Mandanten fürchteten, wenn sie sich von einem jüdischen Rechtsanwalt vertreten ließen, selbst als „Judenfreund“ verfolgt zu werden. Ein weiterer Grund für den Einkommensrückgang waren Schutzhaftverhaftungen, welche Dreifuß - insbesondere aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SPD - 21 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Antrag an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 24.3.1950 und Bescheid vom 5.10.1957. 22 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Antrag auf Anerkennung als Verfolgter an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 4.12.1952; R IEGER / J OCHEM , Lebenslauf. 23 W EBER , Schicksal, 226; R ÖMER , An meine Gemeinde, 206; R IEGER / J OCHEM , Lebenslauf, 2. 24 StdA, MK 1, Meldekarte Dreifuß Rolf; W EBER , Schicksal, 226; R IEGER / J OCHEM , Lebenslauf, 2. 25 BayHStA, LEA 794, LG München I, Urteil vom 3.3.1960 - AZ 3 EK 1613/ 59; R ÖMER , An meine Gemeinde, 206. 26 R ÖMER , In der Fremde, 116. 27 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Antrag an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 22.3.1950. <?page no="71"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 71 schon bald nach der Machtergreifung erdulden musste und während der er seiner Arbeit nicht nachgehen konnte. Erstmals wurde Dreifuß anlässlich des Judenboykotts vom 23. März 1933 bis zum 29. April 1933 in das Augsburger Gefängnis Katzenstadel von der Geheimen Staatspolizei inhaftiert. 28 Weitere Verhaftungen folgten vom 1. Mai 1934 bis zum 5. Mai 1934 sowie anlässlich der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938. 29 4.2. Entzug der Rechtsanwaltszulassung Kurz nach der „Reichskristallnacht“ wurde Dreifuß zusammen mit allen anderen verbliebenen Rechtsanwälten jüdischen Glaubens im Deutschen Reich die berufliche Existenz durch den Entzug der Rechtsanwaltszulassung gemäß der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz genommen. 30 Vielen anderen Rechtsanwälten war bereits 1933 die Zulassung aufgrund des Rechtsanwaltszulassungsgesetzes entzogen worden. Dreifuß konnte zu diesem Zeitpunkt seine Zulassung behalten, da er als ehemaliger Frontkämpfer einen Ausnahmetatbestand erfüllte. Die 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz sah solche Ausnahmen jedoch nicht mehr vor, so dass sämtlichen verbliebenen Anwälten die Zulassungen entzogen wurden. Dreifuß hatte jedoch den Vorteil als jüdischer Konsulent - ein extra geschaffener Beruf, welcher es ausgewählten ehemaligen jüdischen Rechtsanwälten gestattete, ausschließlich Juden rechtlich zu beraten - für Bayerisch-Schwaben tätig zu sein. Die Einnahmesituation von Dreifuß verbesserte sich durch die Ernennung zum jüdischen Konsulenten. 1939 erwirtschaftete Dreifuß rund 8.000 RM und somit so viel, wie seit 1932 nicht mehr. 31 Jedoch musste Dreifuß von den Einnahmen rund 1.500 RM an die Reichsrechtsanwaltskammer als Sonderabgabe abgeben. 32 Doch auch nach Abzug der Sonderabgabe stellte der verbleibende Rest eine wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Dreifuß gegenüber den Tiefpunkten von 1936 bis 1938 dar. Die Einnahmen nach Abführung der Sonderabgabe variierten in den Folgejahren, lagen jedoch bis 1943 stets über 4.200 RM bis sie 1944 auf knapp unter 3.000 RM sanken. 33 28 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Eidesstattliche Versicherung vom 1.4.1950. 29 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Eidesstattliche Versicherung vom 3.5.1946 und vom 1.4.1950, sowie Fraunholz Wilhelmine, Eidesstattliche Versicherung vom 1.4.1950, sowie Schwarz Hugo, Eidesstattliche Versicherung vom 1.4.1950. 30 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Antrag auf Anerkennung als Verfolgter an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 4.12.1952, sowie Bayerisches Landesentschädigungsamt, Bescheid vom 2.3.1957. 31 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Antrag an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 22.3.1950. 32 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Anlage 5 zu Antrag Ludwig Dreifuß vom 22.3.1950. 33 Ebd. <?page no="72"?> Florian Schwinger 72 Dreifuß wurde am 20. Februar 1945 mit dem Transport München-Augsburg II/ 34 Nr. 1359 als einer der letzten Augsburger in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. 34 Das Konzentrationslager überlebte Dreifuß nur knapp durch die Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 8. Mai 1945. 35 Nach der Befreiung verbrachte Dreifuß zunächst rund zehn Wochen im Krankenhaus, um sich von Leiden, welche er während seiner Internierung erdulden musste, zu erholen. 36 Am 26. Juni 1945 kehrte er nach Augsburg zurück. 37 In Augsburg angekommen, übernahm Dreifuß unmittelbar Verantwortung für den Aufbau seiner Heimatstadt und stimmte der Ernennung zum Oberbürgermeister von Augsburg durch die US-Militärregierung am 1. September 1945 zu. 38 Dreifuß war auch wieder als Rechtsanwalt tätig, wobei er hauptsächlich Verfolgungsopfer bezüglich der Restitution vertrat. 1952 erhielt Dreifuß für seinen Einsatz für Augsburg das Bundesverdienstkreuz am Bande. 39 Am 15. April 1960 verstarb Dreifuß im Alter von 76 Jahren. Heute erinnert an ihn die Oberbürgermeister-Dreifuß-Straße in der Nähe der City-Galerie Augsburg. 4.3. Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen das Deutsche Reich und seine Rechtsnachfolger Dreifuß vertrat nicht nur seine Mandanten in Restitutionsangelegenheiten, sondern machte auch für sich selbst Ansprüche gegen das Deutsche Reich beziehungsweise dessen Rechtsnachfolger geltend. 4.3.1. Berufsschaden Am 22. März 1950 stellte Dreifuß Antrag auf Entschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen gemäß §§ 78 ff. BEG, welchen er zunächst mit 250.000 DM bezifferte. 40 Der Schaden war bei Dreifuß durch den Entzug seiner Zulassung und 34 W EBER , Schicksal, 226; R IEGER / J OCHEM , Lebenslauf, 5; Sammlung Römer, Bendner, Schreiben an unbekannten Rechtsanwalt (wahrscheinlich Arthur Luchs) vom 17.9.1946; BayHStA, LEA 794, Comité International, Schreiben an Bayerisches Landesentschädiungsamt vom 14.12.1956. 35 BayHStA, LEA 794, Comité International, Schreiben an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 14.12.1956. 36 R IEGER / J OCHEM , Lebenslauf, 5. 37 W EBER , Schicksal, 226. 38 R ÖMER , An meine Gemeinde, 126 f.; BayHStA, LEA 794, LG München I, Urteil vom 3.3.1960 - 3 EK 1613/ 59. 39 W EBER , Schicksal, 226; R ÖMER , An meine Gemeinde, 206. 40 BayHStA, LEA 794, Dreifuß, Antrag an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 22.3.1950. <?page no="73"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 73 dem damit einhergehenden Berufsverbot eingetreten. Die Berechnung des Schadens leitete Dreifuß aus der Differenz zwischen dem hypothetischen Einkommen, welches er seiner Meinung nach ohne die Verfolgung durch die Nationalsozialisten erwirtschaftet hätte und seinen tatsächlichen Einkünften, welche er in den Jahren von 1930 bis 1945 erwirtschaftet hatte, her. 41 Die sich hieraus ergebende Gesamtsumme rechnete er ohne nähere Begründung in dem Verhältnis 1: 1 in DM um und kam schließlich auf den oben genannten Betrag in Höhe von 250.000 DM. 42 Diese Berechnung entsprach jedoch nicht der vom Gesetzgeber im BEG gewählten Schadensherleitung, welche nach der Antragstellung von Dreifuß erlassen worden war. Die Berechnung des hypothetischen Einkommens ohne Verfolgung wäre nicht praxistauglich gewesen, da das hypothetische Einkommen an zu viele subjektive Merkmale angeknüpft hätte. Das BEG leitete den Schaden vielmehr derart her, dass der Verfolgte zunächst einer seiner Ausbildung nach vergleichbaren Berufsgruppe aus der Beamtenschaft gleichgestellt wurde und berechnete den Schaden der Verfolgung im beruflichen Fortkommen aus der Differenz des Einkommens dieses vergleichbaren Beamten und den tatsächlichen Einnahmen des Verfolgten. Bei Dreifuß führte dies dazu, dass er nach wirtschaftlicher Stellung und Berufsausbildung einem Beamten des höheren Dienstes gleichgestellt und somit die Einkünfte eines entsprechenden Beamten herangezogen wurden. 43 Außerdem wurde angenommen, dass von April 1933 bis zum Entzug der Zulassung im November 1938 nur eine Beschränkung und kein voller Entzug der beruflichen Tätigkeit vorlag, so dass die Einkünfte in diesem Zeitraum entsprechend um 40 Prozent zu kürzen waren. 44 Eine vollständige Verdrängung aus der erlernten Berufstätigkeit wurde schließlich erst mit dem Entzug der Rechtsanwaltszulassung zugestanden. Die Tätigkeit als Konsulent stand der Verdrängung nicht entgegen, da die Tätigkeit als Konsulent tatsächlich eine - mitunter ähnliche - aber tatsächlich andere Tätigkeit als der Anwaltsberuf war. Dreifuß wurde schließlich insgesamt eine Entschädigung von 20.000 DM zugesprochen, welche ihm am 2. April 1957 und somit über sieben Jahre nach Antragsstellung ausbezahlt wurde. 45 41 Ebd. 42 Ebd. 43 BayHStA, LEA 794, Bayerisches Landesentschädigungsamt, Bescheid AZ EG 41082 vom 2.3.1957. 44 Ebd. 45 BayHStA, LEA 794, Fraunholz Anton, Schreiben an Bayerisches Landesentschädigungsamt vom 28.3.1957, sowie Bayerisches Landesentschädigungsamt, E Konten Buchhaltung. <?page no="74"?> Florian Schwinger 74 4.3.2. Schaden an Freiheit Ebenfalls erst sieben Jahre nach Antragsstellung erhielt Dreifuß 46 600 DM Entschädigung für insgesamt 122 Tage Inhaftierung durch die Nationalsozialisten (davon allein 80 Tage im Konzentrationslager). 47 Die Berechnung ergab sich nach § 45 BEG aus 150 DM pro vollen Monat Gefangenschaft. 4.3.3. Soforthilfe für Rückwanderer Schließlich erhielt Dreifuß Ende 1957 (nur vier Monate nach Antragstellung) eine Soforthilfe für Rückwanderer in Höhe von 6.000 DM, da von der Rechtsprechung das Konzentrationslager Theresienstadt als Deportationslager anerkannt wurde (§ 141 BEG Pauschalbetrag). 48 4.3.4. Entschädigung für geleistete Sonderabgaben Dreifuß erhielt außerdem umgerechnet 1.300 DM als Entschädigung für gezahlte Sonderabgaben insbesondere Judenvermögensabgabe. 49 Für eine Entschädigung für die an die Reichsrechtsanwaltskammer gezahlte Sonderabgabe musste Dreifuß zunächst den Klageweg beschreiten, bis er schließlich den vollen Betrag in Höhe von umgerechnet 1.400 DM entschädigt bekam. 50 4.3.5. Good-Will-Schaden Dreifuß begehrte schließlich einen über seinen Berufsschaden hinausgehenden Good- Will Schaden. Ein Good-Will-Schaden war ein Vermögensschaden im Sinne des § 56 BEG. Der Good-Will war der in der Kanzlei verkörperte Wert, der über die bloße Berufstätigkeit des Unternehmers oder Freiberuflers hinausgeht. Bei einem Rechtsanwalt sind das mithin insbesondere der Mandantenstamm und der Ruf der Kanzlei. Diesen Anspruch hatte das Bayerische Landesentschädigungsamt für Dreifuß zunächst abgelehnt, „da der von Dreifuß angegebene durchschnittliche Verdienst in Höhe von 14.633 RM in der Zeit vor der Verfolgung unter Berücksichtigung der Eigenart freiberuflicher Tätigkeit den Arbeitserlös für die hochqualifizierte Tätigkeit eines Rechtsanwalts nicht übersteigt“ und somit folglich kein zu ersetzender Schaden gegeben wäre. 51 Dreifuß legte gegen diesen ablehnenden Bescheid ebenfalls Klage 46 Gemäß § 3, § 1 Absatz 1, § 43 Absatz 1 Satz 1, § 45 Satz 1 und 2 BEG. 47 BayHStA, LEA 794, Bayerisches Landesentschädigungsamt, E Konten Buchhaltung. 48 BayHStA, LEA 794, Bayerisches Landesentschädigungsamt, Bescheid vom 31.10.1957. 49 Gemäß § 3, § 1 Absatz 1, § 59 Absatz 1 Satz 1 BEG, vgl. BayHStA, LEA 794, Bayerisches Landesentschädigungsamt, Bescheid vom 5.10.1957, 1, 3. 50 Gemäß § 3, § 1 Absatz 1, § 59 Absatz 1 BEG, vgl. BayHStA, LEA 794, LG München I, Urteil vom 22.5.1958 - 4 EK 8144/ 57. 51 BayHStA, LEA 794, Bayerisches Landesentschädigungsamt, Bescheid vom 13.3.1959. <?page no="75"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 75 zum Landgericht München ein und obsiegte dem Grunde nach, dass ihm ein Anspruch in Höhe von 2.500 DM zustände, jedoch war dieser Anspruch geringer als der hälftige Anteil aus der erhaltenen Soforthilfe für Rückkehrer, die Dreifuß in Höhe von 6.000 DM erhalten hatte 52 und welche gem. § 141 Absatz 2 BEG zur Hälfte auf den Anspruch gemäß § 56 BEG anzurechnen war. 53 4.3.6. Gesamtentschädigung Insgesamt erhielt Dreifuß rund 30.000 DM Entschädigungen. Die letzte Entschädigung bekam er in Form der Haftentschädigung im Jahr 1957 - drei Jahre vor seinem Tod. 5. Resümee Die Bundesrepublik Deutschland versuchte in den dargestellten drei Phasen das durch das Deutsche Reich während des Nationalsozialismus der jüdischen Bevölkerung zugefügte Unrecht wiedergutzumachen. Den Ursprung nahm das Wiedergutmachungsrecht in den einzelnen Besatzungszonen und umfasste in Form des MRG 59 Rückforderungsansprüche von zu Unrecht übertragenen Eigentum aber auch durch das US-EG Entschädigungsansprüche der Verfolgten. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden in der zweiten Phase der Wiedergutmachungsgesetzgebung die Entschädigungsgesetze für die ganze Bundesrepublik in Form des Bundesergänzungsgesetzes sowie später des Bundesentschädigungsgesetzes vereinheitlicht und sicherte Verfolgten Schadensersatzansprüche für das persönlich erfahrene Leid unter anderem in Form von Entschädigungen für Beschränkungen der Freiheit, für Schäden am Leben und Leib, für Schäden durch Zahlung von Sonderabgaben sowie Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen zu. Darüber hinaus wurden auch Rückforderungsansprüche in dem Bundesrückerstattungsgesetz einheitlich für die Bundesrepublik Deutschland geregelt. Die Bedeutung der Wiedergutmachungsgesetzgebung für die Verfolgten in wirtschaftlicher Hinsicht wurde anhand des Beispiels des jüdischen Rechtsanwalts Ludwig Dreifuß verdeutlicht. Die dritte Phase der Wiedergutmachung begann im September 1952 durch die Vereinbarung von Staatsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen Staaten, insbesondere mit Israel. 52 Vgl. hierzu oben Kapitel 4.3.3. 53 BayHStA, LEA 794, LG München I, Urteil vom 3.3.1960 - 3 EK 1613/ 59. <?page no="76"?> Florian Schwinger 76 Bei der rückblickenden Beurteilung der Wiedergutmachungsgesetze darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Recht nur beschränkte Möglichkeiten hat, mit gesetzlichen Ansprüchen begangenes Unrecht - insbesondere Nichtvermögensschäden - wiedergutzumachen. Dennoch war die Wiedergutmachungsgesetzgebung trotz ihrer Schwächen, wie zum Beispiel der langen Verfahrensdauer, der Beweisschwierigkeiten ect., ein richtiger und wichtiger Schritt der jungen Bundesrepublik Deutschland, wenn auch dieser mitunter nur auf gewichtigen außenpolitischen Druck erfolgte. Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), LEA 794 - Bayerisches Landesentschädigungsamt - Comité International - Dreifuß Ludwig - Fraunholz Anton - Fraunholz Wilhelmine - LG München I - Schwarz Hugo Sammlung Römer - Bendner Wilhelmine, Schreiben an unbekannten Rechtsanwalt, wahrscheinlich Arthur Luchs, vom 17.9.1946. Stadtarchiv Augsburg (StdA) - StdA, MK 1, Meldekarte Dreifuß Rolf. Gedruckte Quellen Bundesgesetzblatt (BGBl.) I, 1953. Journal Officiel du commandement en chef français en allemagne (Amtsblatt des französischen Oberkommandos in Deutschland) 1947, Nr. 119. Literatur H OCKERTS , H ANS -G ÜNTER : Wiedergutmachung in Deutschland 1945-1990. Ein Überblick, Bundeszentrale für politische Bildung, 2013, www.bpb.de/ apuz/ 162883/ wiedergutmachung-in-deutschland-19451990-ein-ueberblick (Zugriff am 2.4.2018). <?page no="77"?> Die Entwicklung von Restitution und „Wiedergutmachung“ in rechtlicher Hinsicht 77 L EHMANN -R ICHTER , A RNOLD : Auf der Suche nach den Grenzen der Wiedergutmachung. Die Rechtsprechung zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Berlin 2007. L ILLTEICHER , J ÜRGEN : Grenzen der Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, www.initiativefortbildung.de/ pdf/ provenienz_lillteicher.pdf (Zugriff am 30.9.2016). R ÖMER , G ERNOT : An meine Gemeinde in der Zerstreuung. Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941-1949, Augsburg 2007. -: In der Fremde leben meine Kinder … - Lebensschicksale kindlicher jüdischer Auswanderer aus Schwaben unter der Naziherrschaft, Augsburg 1996. W EBER , R EINHARD : Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933, München 2006. W INSTEL T OBIAS : Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland, München 2006. Internet Bundesministerium der Finanzen: Entschädigung NS-Unrecht, www.bundesfinanzministerium.de/ Content/ DE/ Downloads/ Broschueren_Bestellservice/ 2012-11- 08-entschaedigung-ns-unrecht.html (Zugriff am 3.10.2016). R IEGER , S USANNE / J OCHEM , G ERHARD : undatierter Lebenslauf (von Ludwig Dreifuß), www.rijo.homepage.t-online.de/ pdf/ DE_BY_JU_dreifuss.pdf (Zugriff am 30.9.2016). <?page no="79"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen Heinz Högerle In diesem Beitrag 1 wird die Ausplünderung der jüdischen Familien entlang von Dokumenten gezeigt, die sich im Bestand des Staatsarchivs Sigmaringen befinden. Während der inhaltlichen Vorbereitung für eine lokale Ausstellung im Jahre 2011, die sich mit der ersten Deportation jüdischer Familien in Württemberg beschäftigte, die am 27./ 28. November 1941 begann, bin ich auf diesen Bestand aufmerksam geworden. Bei den Dokumenten handelt es sich um Teile der sogenannten „Judenakten“ des Finanzamts Horb. Dieser Bestand dokumentiert, dass die Ausraubung nicht heimlich vonstatten ging, sondern weite Kreise von Tätern oder Profiteuren einschloss und die Finanzbehörden eine zentrale Rolle bei der Ausraubung spielten. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Familie Alice und Viktor Esslinger aus Horb, die im Konzentrationslager Jungfernhof in Riga ermordet wurde. Am Ende des Aufsatzes wird ebenfalls am Beispiel der Familie Esslinger auf die teilweise ernüchternden Ergebnisse der sogenannten Restitution bzw. „Wiedergutmachung“ nach 1945 eingegangen. 1. Horb am Neckar und seine jüdischen Gemeinden Die ehemalige Kreisstadt Horb war im 20. Jahrhundert ein Zentrum jüdischen Lebens. Hier war der Sitz des Rabbinats Horb/ Mühringen, das im 19. Jahrhundert flächenmäßig und zeitweilig auch nach der Zahl der Gemeindeglieder das größte Rabbinat in Württemberg war. Es reichte von Tübingen bis Rottweil. Auf dem heutigen Stadtgebiet von Horb gab es allein sechs jüdische Gemeinden, nämlich in den ehemals selbständigen Gemeinden Mühringen, Mühlen, Nordstetten, Dettensee, Rexingen und in Horb selbst. Die jüdischen Landgemeinden rund um Horb verloren gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Gemeindemitglieder. Familien nutzten die neu erworbenen Bürgerrechte und zogen in die Städte. Die jüdische Gemeinde Horb entstand erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und galt als die aufstrebende Gemeinde. Eine Ausnahme unter den jüdischen Landgemeinden stellte Rexingen dar. „Zwischen der Gründung des Deutschen Reiches und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1 Der folgende Aufsatz beruht auf dem gleichlautenden Vortrag, der am 28. November 2014 in der Schwabenakademie Irsee gehalten wurde. <?page no="80"?> Heinz Högerle 80 wurde Rexingen als ‚Viehbörse Süddeutschlands‘ eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Dörfer des Königreichs Württemberg.“ 2 Der Anteil der jüdischen Gemeinde an der Gesamtgemeinde sank bis 1933 nie unter 25 Prozent der Bevölkerung. Die Gemeinde war relativ stabil und galt für die NSDAP bis 1933 als „uneinnehmbare Festung.“ 3 2. Stufen der Ausplünderung und wirtschaftlichen Vernichtung der jüdischen Bürger von 1933 bis 1938 Schon im Parteiprogramm von 1920 formulierte die NSDAP den Rahmen für die geplante wirtschaftliche Verdrängung und Vernichtung jüdischer Menschen in Deutschland. Dort wurde die Staatsbürgerschaft auf „Volksgenossen deutschen Blutes“ beschränkt und allen Menschen, die diese NS-Kriterien nicht erfüllten, nur ein Gaststatus in Deutschland zugestanden. Für sie sollte zudem ein spezielles „Fremdenrecht“ gelten. Im Parteiprogramm der NSDAP wurde erklärt: „Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“. 4 Mit der Machtergreifung 1933 begann deshalb der Ausgrenzungsprozess der jüdischen Bürger aus dem gesellschaftlichen, öffentlichen und wirtschaftlichen Leben, auch weil viele Deutsche innerhalb kurzer Zeit die Regeln akzeptierten, welche die Nationalsozialisten vorgaben. 5 Sichtbarer Ausdruck war die von den Nationalsozialisten als „Judenboykott“ bezeichnete Aktion am 1. April 1933, bei der alle Geschäfte, aber auch Arztpraxen oder Rechtsanwaltskanzleien, deren Eigentümer Juden waren, boykottiert wurden. 6 Dem folgte am 7. April das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, mit dessen Hilfe Juden ihr Beamtenstatus entzogen wurde. Nur sogenannte Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs oder wer einen Vater oder Sohn in diesem Krieg verloren hatte, 2 K OHLMANN , Von Rexingen nach Malchutia, 22. 3 Ebd., 23. 4 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vom 24. Februar 1920 unter http: / / www.documentarchiv.de/ wr/ 1920/ nsdap-programm.html (Zugriff am 15.8.2016). 5 F RITSCHE , Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 201. 6 Über die Organisation und Durchführung des Boykotts in Württemberg: S AUER , Dokumente über die Verfolgung, Teil 1, 4-13. <?page no="81"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 81 waren ausgenommen. 7 Reichsinnenminister Frick bezeichnete dieses Gesetz ausdrücklich als „den Beginn der deutschen Rassengesetzgebung“. 8 Zum selben Zeitpunkt wurde - mit denselben Ausnahmebestimmungen - gesetzlich den Rechtsanwälten, die einen jüdischen Großelternteil hatten, die Zulassung entzogen. 9 Gleichzeitig setzte der Vermögensentzug ein. Mit Hilfe der Reichsfluchtsteuer und der entsprechenden Gestaltung von Devisengesetzen wurden rassistisch verfolgte Emigranten systematisch eines großen Teils ihres Vermögens beraubt. 10 Mit dem Erlass des „Reichsbürgergesetzes“ von 1935, das ein Teil der sogenannten „Nürnberger Rassegesetze“ war, seinen bis 1943 erlassenen dreizehn Durchführungsverordnungen und dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, auch Blutschutzgesetz genannt, wurden juristische Rahmenbedingungen geschaffen, welche den wirtschaftlichen und sozialen Druck auf als Juden eingestufte Menschen systematisch immer mehr erhöhten. 11 Die wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen von 1933 wurden ab September 1935 wieder aufgenommen und zum Dauerprojekt. So veröffentlichte die NS-Hago-Gauamtsleitung Stuttgart die Broschüre „Deutscher kauf nicht beim Juden! “, in der versucht wurde, alle Geschäfte mit jüdischen Eigentümern für Württemberg und Hohenzollern aufzulisten und in der die Verfasser aufforderten, diese Geschäfte nicht mehr aufzusuchen (Abb. 1 und 2). 12 Mit dem Novemberpogrom von 1938 wurde die Endphase der wirtschaftlichen Vernichtung der jüdischen Familien eingeleitet, wobei in den Monaten davor bereits wichtige Vorbereitungen für die endgültige Ausraubung der jüdischen Menschen getroffen worden waren, wie die Benachteiligung von Betrieben jüdischer Unternehmer bei der Zuteilung für Importquoten 13 oder die Anordnung vom April 1938, dass alle Vermögen jüdischer Familien angemeldet werden mussten. 14 Im Juni 1938 definierte die „Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ die Kriterien, welche Unternehmen als „jüdisch“ zu gelten hatten. Diese wurden in ein gesondertes Verzeichnis eingetragen und nach außen besonders gekennzeichnet. 15 Schließlich folgte im Juli 1938 der Entzug der Zulassung für noch praktizierende jüdische Ärzte und im September für 7 Reichsgesetzblatt Teil I, 1933, Nr. 34, 175-177; auch: Reichsgesetzblatt Teil I, 1933, Nr. 37, 195. 8 NS-Kurier, 16.2.1934, 1, zit. nach: S AUER , Dokumente über die Verfolgung, Teil 1, 19. 9 Reichsgesetzblatt Teil I, 1933, Nr. 36, 188. 10 F RIEDENBERGER , Rolle der Finanzverwaltung, 13, 30. 11 W ALK , Das Sonderrecht für die Juden, 127. 12 NS-Hago, Deutscher kaufe nicht beim Juden, 5. 13 F RITSCHE , Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 188. 14 B ARKAI , Vom Boykott zur „Entjudung“, 125. 15 Beispiele für die zwangsweise Kennzeichnung von Betrieben jüdischer Eigentümer durch die Gestapo in: S AUER , Dokumente über die Verfolgung, Teil 1, 106f. <?page no="82"?> Heinz Högerle 82 Abbildung 1: Innentitel der Broschüre „Deutscher kaufe nicht beim Juden“, hg. von NS- Hago Gauamtsleitung Stuttgart, 1935. Archiv des Träger- und Fördervereins Ehemalige Synagoge Rexingen. die noch verbliebenen jüdischen Rechtsanwälte. Beide Berufsgruppen durften nur noch eingeschränkt ausschließlich für jüdische Klienten tätig sein. 16 16 W ALK , Das Sonderrecht für die Juden, 234. <?page no="83"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 83 Abbildung 2: Auflistung von Betrieben in Rexingen mit jüdischen Eigentümern aus der Broschüre „Deutscher kaufe nicht beim Juden“, hg. von NS-Hago Gauamtsleitung Stuttgart, 1935. Archiv des Träger- und Fördervereins Ehemalige Synagoge Rexingen. 3. Verordnungen anlässlich des Novemberpogroms 1938 und die Folgen für die Horber Juden Nach der Zerstörung der Synagogen und der Plünderung von Geschäften jüdischer Eigentümer wurden von Hermann Göring drei wichtige Verordnungen unterzeichnet, und zwar alle am 12. November 1938, also wenige Stunden nach dem Pogrom. Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“ wurde es Juden verboten, Einzelhandelsgeschäfte oder Handwerksbetriebe zu führen. Es war ihnen untersagt, auf Märkten aller Art Waren oder gewerbliche Leistungen anzubieten, dafür zu werben oder Bestellungen darauf aufzunehmen. 17 In Rexingen bedeutete dies das Ende aller Viehhandelsbetriebe, von denen die meisten Familien lebten. 17 Ebd., 254. <?page no="84"?> Heinz Högerle 84 Abbildung 3: Formular des Finanzamts Horb mit der Berechnung der Judenvermögensabgabe für Viktor Esslinger vom 13.2.1939. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 273. <?page no="85"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 85 Juden konnten nicht mehr Betriebsführer sein. Juden konnten nicht mehr Mitglied in einer Genossenschaft sein. Und jüdischen leitenden Angestellten konnte mit einer Frist von sechs Wochen gekündigt werden. Mit der „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben“ wurde verfügt: „§ 1. Alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums [...] an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden sind, sind von dem jüdischen Inhaber oder jüdischen Gewerbetreibenden sofort zu beseitigen. § 2. (1) Die Kosten der Wiederherstellung trägt der Inhaber der betroffenen jüdischen Gewerbebetriebe und Wohnungen. (2) Versicherungsansprüche von Juden deutscher Staatsangehörigkeit werden zugunsten des Reichs beschlagnahmt.“ 18 Und schließlich wurde von Hermann Göring die „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ unterzeichnet. In ihr wurde festhalten: „Die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich, die auch vor feigen Mordtaten nicht zurückschreckt, erfordert entschiedene Abwehr und harte Sühne. [...] Den Juden deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit wird die Zahlung einer Kontribution von 1.000.000.000 Reichsmark an das Deutsche Reich auferlegt.“ 19 Die so genannte „Sühneleistung“ wurde als persönliche „Judenvermögensabgabe“ eingezogen. Nach der Feststellung des persönlichen Vermögens wurden 20 Prozent des Vermögens als Abgabe festgelegt, die in vier Raten zu bezahlen war. Am Beispiel des Ehepaars Viktor und Alice Esslinger, das in Horb am Neckar ein Wäsche- und Kurzwarengeschäft betrieb, soll die Abrechung der „Sühneleistung“ gezeigt werden. Das erste Dokument (Abb. 3) zeigt die Festsetzung der „Judenvermögensabgabe“ für Viktor Esslinger. Sein Vermögen wurde auf 14.000 RM festgesetzt. Die Abgabe betrug also 2.800 RM, die in vier Raten zu je 700 RM vom 15. Dezember 1938 bis 15. August 1939 zu bezahlen war. Seine Ehefrau Alice Esslinger musste eine gesonderte Vermögensaufstellung vorlegen. Ihr Vermögen betrug 10.000 RM, das heißt, sie musste zusätzlich 2.000 RM Abgabe entrichten. Im Oktober 1939 beschloss die NS-Regierung die sogenannte „Sühneleistung“ von 20 auf 25 Prozent des jeweiligen Vermögens zu erhöhen. Diese Neufestsetzung (Abb. 4) bedeutete, dass Viktor Esslinger eine weitere Rate in Höhe von 700 RM bis 15. November 1939 zu bezahlen hatte. 18 Ebd. 19 Ebd., 255. <?page no="86"?> Heinz Högerle 86 Abbildung 4: Mitteilung des Finanzamtes Horb über die Erhöhung der Judenvermögensabgabe für Viktor Esslinger auf 25 Prozent vom 9.11.1939. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 273. <?page no="87"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 87 4. Die Endphase der Ausraubung der jüdischen Menschen in Horb und Rexingen Die finale Ausraubung der jüdischen Familien vor ihrer Ermordung begann mit dem Schreiben der Gestapo Stuttgart vom 18. November 1941 an die Landräte in den Landkreisen in Württemberg, in denen Juden wohnten. Darin wurde die erste Deportation jüdischer Menschen angekündigt und vorbereitet. Im Schreiben legte die Gestapo besonderen Wert auf die sorgfältige Auflistung des Vermögens 20 und kündigte auch schon die Beschlagnahmung an. Im Schreiben heißt es: „Um etwaigen Vermögensverschiebungen vorzubeugen, wird das Vermögen der abzuschiebenden Juden in seiner Gesamtheit beschlagnahmt [...]. Aufgabe ist es also die Juden rechtzeitig zu sammeln, im Benehmen mit den Finanzbehörden das Vermögen sicherzustellen, die Wohnungen zu versiegeln, eventuell Hausverwalter zu bestellen, die einzelnen Personen durchsuchen zu lassen, das Gepäck zu kontrollieren und mit einer entsprechend Anzahl von Beamten die Juden am 27. bzw. 28.11.1941 im Sammellager in Stuttgart einzuliefern“. 21 4.1. Die Finanzbehörden als zentrale Schaltstellen und Ausführungsorgane der Ausraubung Um sich eine umfassende Kenntnis über die zu erwartenden Raubgüter zu verschaffen, musste Mitte November 1941 für jedes Familienmitglied - auch für Kinder - eine gesonderte achtseitige Vermögenserklärung abgegeben werden, in der - von den Servietten, über die Möbel bis zu den Immobilien - alles anzugeben war. Die Jüdische Kultusvereinigung Württemberg hatte den betroffenen Menschen mitzuteilen, dass sie „zu einem Evakuierungstransport nach dem Osten eingeteilt worden sind“, und ihnen das Formular zur „Vermögenserklärung“ auszuhändigen. 22 Bevor die Menschen am frühen Morgen des 28. November den Weg zum Bahnhof nach Horb gingen, mussten sie Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Dabei wurden ihnen alle persönlichen Wertgegenstände außer den Eheringen und alles Bargeld abgenommen. Christiane Kuller beschreibt in ihrem Werk „Bürokratie und Verbrechen“ im Detail die Bedeutung der Finanzbehörden als operative Basis zur Diskriminierung und Ausraubung jüdischer Menschen sofort nach 1933: „Die Finanzbeamten vor Ort 20 Bereits im April 1938 war die Anmeldung aller jüdischen Vermögen angeordnet worden, die sich auf alle möglichen Vermögensformen bezog: F RITSCHE , Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 188. 21 S AUER , Dokumente über die Verfolgung, Teil 2, 272-275. 22 Ebd., 273. <?page no="88"?> Heinz Högerle 88 verweigerten Juden systematisch Billigkeitserlasse, berechneten die Höhe von Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe und anderer diskriminierender Steuern und blockierten jüdische Vermögen mit Sicherungsverfügungen.“ 23 In der Endphase der Ausraubung wurden die Finanzbehörden die unmittelbaren Vollzugsorgane vor Ort. Die Wohnungseinrichtungen wurden von örtlichen Finanzbeamten aufgenommen und mit den Vermögenslisten verglichen. Danach wurden von ihnen die Wohnungen versiegelt. Abbildung 5: Brief eines Finanzbeamten, verfasst wenige Tage nach der Riga-Deportation 1941. Archiv des Träger- und Fördervereins Ehemalige Synagoge Rexingen. In einem Brief (Abb. 5) an seinen Sohn, der beim Militär diente, schrieb ein Horber Finanzbeamter: „Die Juden im Bezirk, die unter 60 Jahre alt sind, wurden letzten Freitag abgeschoben. Sie werden in Stuttgart gesammelt u. sollen im Osten für den Straßenbau eingesetzt werden. Das Finanzamt ist von der Regierung beauftragt, das gesamte Judenvermögen zu beschlagnahmen. Herr Gaiser, ich und noch zwei Amtsangehörige mußten in Rexingen die gesamten Wohnungseinrichtungen aufnehmen, die Kästen usw. abschließen und versiegeln. Das gesamte Vermögen geht an das Reich über. Kannst Dir denken, dass das keine schöne Arbeit war.“ 24 23 K ULLER , Bürokratie und Verbrechen, 106-123. 24 Archiv des Träger- und Fördervereins Ehemalige Synagoge Rexingen <?page no="89"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 89 Abbildung 6: Ausschnitt aus der Titelseite der Schätz- und Verkaufsliste Lager Synagoge Rexingen, erstellt vom Finanzamt Horb am Neckar am 10.8.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. Im „Sammellager Killesberg“ auf dem ehemaligen Gelände der Reichsgartenschau in Stuttgart erhielten alle Verschleppten eine „Einziehungsverfügung“ ausgehändigt, in der ihnen erklärt wurde, ihr ganzes Vermögen werde nun an das Deutsche Reich übergehen. 25 Als Pseudo-Rechts-Grundlage diente die Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die am 25. November 1941, also wenige Tage vor dem Beginn der großen Deportationen erlassen wurde. In dieser Verordnung hieß es: „(§ 2) Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit a) wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat [...]. b) wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt später im Ausland nimmt, mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland. [...] (§ 3): Das Vermögen des Juden, der die deutsche Staatsangehörigkeit auf Grund dieser Verordnung verliert, verfällt [...] dem Reich.“ 26 Durch die Vermögenserklärungen, die die Deportierten ausfüllen mussten, erhielten die NS-Stellen in Berlin und in Stuttgart einen genauen Überblick, was zu verteilen war. Die besten Stücke sicherten sich die oberen NS-Stellen, beispielsweise der Höhere SS- und Polizeiführer Südwest für den Bezirk Groß-Stuttgart. Am 10. August 25 S AUER , Dokumente über die Verfolgung, Teil 2, 273. 26 F RIEDENBERGER , Rolle der Finanzverwaltung, 74f. <?page no="90"?> Heinz Högerle 90 1942 stellte das Finanzamt Horb alle Güter zusammen, die an den Höheren SS- und Polizeiführer Südwest gegangen waren. Der Titel des Dokuments „Schätz- und Verkaufsliste [...] aus dem Lager Synagoge in Rexingen [...]“ zeigt auch, dass die geschändete Synagoge in Rexingen als Lager für das Raubgut verwendet wurde (Abb. 6). Das mehrseitige Dokument belegt weiter, was der Familie Esslinger von der SS in Stuttgart geraubt wurde (Abb. 7). Abbildung 7: Auflistung von Möbeln der Familie Esslinger aus der Schätz- und Verkaufsliste Lager Synagoge Rexingen, erstellt vom Finanzamt Horb am Neckar am 10.8.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. 4.2. Die Rolle des Oberfinanzpräsidenten Der Oberfinanzpräsident von Württemberg organisierte und leitete den Raub des Vermögens der jüdischen Familien. Er war die Schaltstelle für die NSDAP und stand in direktem Kontakt zu den NS-Behörden in Berlin. Der Oberfinanzpräsident gab den örtlichen Finanzämtern und deren Leitungen generelle Anweisungen und entschied in Einzelfällen, wer welchen Teil des Raubes erhalten sollte. Die einzelnen Finanzämter erledigten die Arbeit vor Ort: die Verwaltung und Verwertung der Grundstücke und Gebäude, die alle an das deutsche Reich gefallen waren. Man konnte sie verpachten, vermieten oder verkaufen. Die Finanzämter organisierten die Sortierung des Hausrats, die Befriedigung der Interessen der örtlichen NS-Organisationen und schließlich die Versteigerung von Hausrat und Wertgegenständen an die Bevölkerung. <?page no="91"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 91 Abbildung 8: Brief des Oberfinanzpräsidenten Württemberg an das Finanzamt Horb zur „Abschiebung der Juden“ vom 9.5.1942, S.1. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. <?page no="92"?> Heinz Högerle 92 Abbildung 9: Brief des Oberfinanzpräsidenten Württemberg an das Finanzamt Horb zur „Abschiebung der Juden“ vom 9.5.1942, S. 2. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. Das Schreiben (Abb. 8 und 9) des Oberfinanzpräsidenten an die Leitung des Finanzamtes Horb vom 9. Mai 1942 zeigt plastisch, welche Rolle die oberste Finanzbehörde <?page no="93"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 93 spielte und wie der Oberfinanzpräsident bis ins Detail gehende Anweisungen gab, wer welche Güter erhalten sollte. Es ist ein Dokument des Zynismus und der Gier. Die eigene Bereicherung wird nicht verschwiegen und auch den untergeordneten Leitern wird einiges in Aussicht gestellt. So lässt der Oberfinanzpräsident der Horber Dienststelle unter anderem ausrichten: „Unterhaltungsspiele bitte ich mir einzusenden.“ „Die beiden elektrischen Heizöfen bitte ich mir einzusenden.“ „Schreib- und Arbeitstische, Bücher- und Kleiderschränke, Sessel, Stühle, Sofas, Teppiche und sonstige brauchbare Gegenstände, die in Geschäftszimmern verwendet werden können, stelle ich Ihnen zur Verfügung.“ „Aus den vorhandenen Vorhängen und Lampen ist zunächst der Bedarf des Finanzamts und des Zollamtes Horb zu decken; die restlichen Vorhänge sind mir einzusenden, die Lampen zu verkaufen.“ Unter Punkt 15 wird schließlich vermerkt, dass beim nächsten Horber Kranz - das war ein Stammtisch leitender Beamte - den Amtsvorstehern Bodenteppiche und für Bürozwecke geeignete Bilder anzubieten seien, soweit sie noch vorhanden wären. 4.3. Die Finanzämter als direkte Profiteure der Ausraubung Die Finanzämter organisierten nicht nur die Verwertung, sondern nahmen selbst am Raub als direkte Profiteure teil. Sie hatten, ähnlich wie die Parteiorganisationen, das Recht auf den ersten Zugriff für die Ausstattung ihrer Amtszimmer. Besonders begehrt waren Möbel aller Art, Bodenteppiche und Gemälde. Selbst wie ein gemaltes Bild des Raubes erscheint die Liste von geraubten Teppichen aus Mühringen, die vom Finanzamt Horb geführt wurde (Abb. 10). Es ist ein Ausschnitt aus einem mehrseitigen Verzeichnis, in dem das Finanzamt Horb Bodenteppiche und Läufer von jüdischen Familien nach Größe, Wert und Erhaltungszustand auflistete und angab, welchen Familie aus welchem Ort die Sachen geraubt wurden. Mit rotem Farbstift wurde auf der Liste notiert, welches Finanzamt welchen Teppich oder Läufer erhalten hatte. Neben den mit Maschine geschriebenen Auflistungen fanden sich in den „Judenakten“ des Finanzamtes Horb mehrere Seiten handschriftlicher Notizen, die die Empfänger, die Art und Herkunft von Raubgut verzeichneten. Auch hier war auffällig, wie viele Finanzämter zu Nutznießern des Raubes wurden. Auf der ersten Doppelseite wurde festgehalten: „Finanzamt Freudenstadt 1 Bodenteppich aus Mühringen 1 Bild Auguste Stern Baisingen Finanzamt Hirsau 1 Bodenteppich aus Mühringen 1 Läufer aus Rexingen Finanzamt Tuttlingen 1 Bodenteppich braun Klara Kahn Baisingen Finanzamt Rottweil 1 Bodenteppich aus Rexingen <?page no="94"?> Heinz Högerle 94 Abbildung 10: Ausschnitt aus der Auflistung von beschlagnahmten Teppichen aus der jüdischen Gemeinde Mühringen, erstellt vom Finanzamt Horb am Neckar am 14.2.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. Finanzamt Oberndorf 2 Bettstellen etc. Salomon Schweizer Baisingen Finanzamt Rottenburg 1 Bodenteppich grün Salomon Schweizer Baisingen 1 Sessel 3 Bilder Zollschule Lochau 1 Bett m. Matratze Wertheimer Baisingen Reservelazarett I Stuttgart viel Bettzeug Oberfinanzpräsident Stuttgart Gardinenstoffe etc. viel [sic! ] Vorhänge 4 Couches Finanzamt Herrenberg 1 Bodenteppich Wertheimer Baisingen Kreispflege Horb für Landwirtschaftsschule 1 Bodenteppich Senta Levi Rexingen Gettoverwaltung Litzmannstadt 3 Nähmaschinen u. 3 Nähmaschinen Gemeinde Mötzingen Schlafzimmer etc. 1795.- darunter 1 Bett Julius Kahn Baisingen“. 27 27 Staatsarchiv Sigmaringen (StAS), Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. <?page no="95"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 95 4.4. Die örtlichen NS-Organisationen werden bedient Die örtlichen NS-Organisationen waren über die Deportationen bestens informiert und wurden in die Verwertung des Raubgutes bevorzugt einbezogen. Schon am 3. Dezember 1941, wenige Tage nach der Deportation, bestätigte die NS-Volkswohlfahrt den Empfang von verschiedenen Lebensmitteln aus dem Wintervorrat der deportierten Familien. Unter dem Betreff: „Abschiebung der Juden“ wird festgehalten: „Die aus den Haushalten der abgeschobenen Juden gesammelten Lebensmittel wurden heute der NSV Kreisamtsleitung Horb übergeben. Insgesamt wurden übergeben: ca. 10 Zentner Tafelobst, 55 Eindunstgläser mit Inhalt (Früchten), 22 Gläser Marmelade, 6 Dosen Bohnen, 21 Büchsen mit Nährmitteln aller Art, 2 Schachteln mit Gewürzen und Teigwaren, ca 10 Pfund Mehl, eine Anzahl Bohnenflaschen, Saftflaschen usw.“ 28 Abbildung 11: Auflistung von Möbeln der Familie Esslinger, die an die NS-Volkswohlfahrt gingen, erstellt vom Finanzamt Horb am Neckar am 5.1.1941. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. Am 5. Januar listete das Finanzamt Horb auf, welche Güter aus dem Vermögen der Baisinger und Rexinger Familien an die NS-Volkswohlfahrt gegangen waren. Darunter waren auch Gegenstände aus dem Eigentum der Familie Esslinger, die 1941 von Horb nach Rexingen zwangsumgesiedelt worden war (Abb. 11). 28 Ebd. <?page no="96"?> Heinz Högerle 96 Abbildung 12: Bestellung der NS-Kreisfrauenschaft an das Finanzamt Horb, Liste vom Finanzamt Horb am Neckar vom 8.1.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. In Kenntnis der geraubten Bestände bestellte die NS-Frauenschaft am 8. Januar beim Horber Finanzamt wie bei einem Versandhaus (Abb. 12). Die angeforderten Gegenstände wurden am 31. Januar freigegeben (Abb. 13). Da die Gegenstände anscheinend direkt aus den versiegelten Wohnungen geholt wurden, mussten jeweils Abholtermine vereinbart werden. Im Schreiben des Finanzamtes an die Leitung der NS-Frauenschaft heißt es: <?page no="97"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 97 Abbildung 13: Auflistung der NS-Kreisfrauenschaft überlassenen Gegenstände, Schreiben des Finanzamts Horb am Neckar an die NSDAP Kreisfrauenschaftsleitung Horb am Necker vom 31.1.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. <?page no="98"?> Heinz Högerle 98 „Ich bitte um möglichst baldige Begleichung des Kaufpreises bei der Finanzkasse Horb. Ferner bitte ich die Gegenstände in Bälde abholen zu lassen. Da die Haushaltungen abgeschlossen sind, bitte ich die Abholungszeit vorher mit dem Finanzamt zu vereinbaren.“ Ein Interessent für ganz besonderes Raubgut war der Kreisschulungsleiter der NDSAP Kreisleitung. Er benötigte Lehrstoff für seine Schulungen. Er erhielt Bücher zur Geschichte der Juden in Süddeutschland, ein Lehrbuch zur Hebräischen Sprache, ein Kinderbuch und anderes. Sein besonderes Interesse scheint Gebetbüchern gegolten zu haben. In einer zweiten Lieferung aus dem Bestand der Synagoge in Rexingen erhielt er allgemeine Gebetbücher und spezielle Gebetbücher zu den jüdischen Feiertagen (Abb. 14). Abbildung 14: Lieferschein über Bücher, die dem Kreisschulungsleiter der NSDAP Horb überlassen wurden, ausgestellt vom Finanzamt Horb am Neckar, 17.7.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. 4.5. Die Verwertung von Raubgut zieht weite Kreise Erstaunlich ist, wie weit sich herumgesprochen hatte, dass durch die Deportation jüdischer Familien in Rexingen etwas zu holen war. Die fast 60 Kilometer entfernte Gemeinde Onstmettingen hatte schon Möbel erhalten. Der Bürgermeister bittet noch <?page no="99"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 99 um „etwas Küchengerät“ für die Ausstattung angesiedelter Familien aus Slowenien, die eingebürgert werden sollen (Abb. 15). Auch das Forstamt Neuenbürg bei Pforzheim - immerhin fast 70 km von Rexingen entfernt - bestellte beim Finanzamt Horb Geschirr, Besteck und anderes für die „Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers“. Und das Finanzamt Horb lieferte. 29 Abbildung 15: Bitte der Gemeinde Onstmettingen um Überlassung von Küchengeräten, vom 7.5.1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 31. 29 Ebd. <?page no="100"?> Heinz Högerle 100 Abbildung 16: Lageskizze von Häusern in Rexingen aus jüdischem Eigentum, Karte des Finanzamts Horb am Neckar, März 1942. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 44 d. 4.6. Die Verwertung von geraubten Immobilien Die größten Vermögenswerte, die an das Deutsche Reich fielen, waren die Grundstücke, Wohnungen und Häuser der deportierten Familien. Man konnte sie vermieten, verkaufen oder für öffentliche Zwecke verwenden. Einige Gebäude wurden von der bürgerlichen Gemeinde Rexingen direkt genutzt. Andere wurden der SS in Stuttgart für die Unterbringung von Umsiedlern zur Verfügung gestellt. Zahlreiche Häuser wurden vom Finanzamt an Interessenten aus nah und fern verkauft. Das Finanzamt Horb legte im März 1942 eine Karte (Abb. 16) an, um den <?page no="101"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 101 Überblick über die verkauften bzw. noch zu verkaufenden Häuser zu behalten. Bei den auf der Karte durchgestrichenen Häusern war ein Kaufvertrag abgeschlossen und der neue Eigentümer schon im Grundbuch eingetragen. 4.7. Die Verwertung von Forderungen von Deportierten Der NS-Staat übernahm auch die Forderungen, die jüdische Privatpersonen oder Unternehmer gegenüber Käufern von Häusern oder Waren hatten. Auch die Forderungen jüdischer Viehhändler, gegen die man zuvor jahrelang gehetzt hatte, waren willkommen. Schließlich versuchte man, an die Gelder zu kommen, die deportierte Juden zuvor für ihre geplante Auswanderung ins Britische Mandatsgebiet Palästina an die Deutsche Warentreuhand AG in Berlin gezahlt hatten. Abbildung 17: Ausschnitt aus dem Titelblatt einer Liste „der dem Reich verfallenen Geldforderungen“, ohne Datum. StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 43. Die Titelseite einer achtseitigen Liste (Abb. 17) dokumentiert die „Überwachung der dem Reich verfallenen Geldforderung usw., die a) durch Entrichtung von Teilbeträgen getilgt werden oder b) deren Flüssigmachung erst später möglich ist.“ Auf den Innenseiten werden in der ersten großen Spalte die Schuldner der deportierten Personen genannt. In dieser Spalte erscheint mehrmals die Deutsche Warentreuhand AG Berlin, mit der die Nationalsozialisten mit der Flucht der Juden nach Palästina Geschäfte machten. Die Engländer verlangten, dass Flüchtlinge 1.000 <?page no="102"?> Heinz Högerle 102 palästinensische Pfund vorweisen konnten. Dieser Wert wurde in Form von deutschen Waren nach Palästina transferiert. Im Frühjahr 1938 war eine Gruppe Rexinger Juden ins Britische Mandatsgebiet Palästina geflohen und hatte dort am 13. April 1938 die Siedlung „Shavei Zion“ gegründet. Berthold Schweizer aus Baisingen hatte 31.500,- RM an die Warentreuhand AG überwiesen. Simon Fröhlich aus Rexingen 7.289,63 RM und Isidor Lemberger 9.800,- RM. Die drei Männer wollten sich mit ihren Familien der Siedlung Shavei Zion anschließen. Sie wurden mit ihren Ehefrauen nach Riga deportiert und dort ermordet. 30 In der Spalte „Vermerke“ wurde bei diesen Familien notiert: „Entscheidung der zuständigen Ministerien abwarten. Hinweis auf das Schreiben der Deutschen Warentreuhand AG v. 5. August 1942.“ 31 4.8. Die Versteigerung von Raubgut Nachdem das Raubgut gesichtet und geordnet war und die NS-Organisationen und Finanzämter ihre Wunschobjekte an sich genommen hatten, durfte die breite Bevölkerung von der Deportation der Juden profitieren. In fünf Anzeigen in der Schwarzwald-Rundschau, Ausgabe Horb, vom Januar 1942 wurde die Versteigerung von Haushaltsgegenständen aller Art angekündigt. 32 Jedermann war klar, wer die Eigentümer der Haushaltsgegenstände waren, auch wenn die Worte Juden oder Judenvermögen in den Anzeigen nicht auftauchten. Man hatte mitbekommen, welche Angst die jüdischen Nachbarn erfasste, als sie von der Deportation hörten. Man hatte gesehen oder davon gehört, wie die Finanzbeamten die Häuser versiegelten. Man hatte miterlebt, wie der Hausrat in die geschändete Synagoge in Rexingen gebracht wurde, um ihn dort zu lagern. Die Signalwörter der Anzeigen (Abb. 18) waren: „In Baisingen beim Haus Kahn“. „In Rexingen beim Haus Heimann“. „Finanzamt Horb am Neckar“. In Baisingen benötigte man sechs Tage, in Rexingen neun Tage, um den Hausrat der jüdischen Familien zu versteigern. Bei den späteren Deportationen wurden Versteigerungstermine nicht mehr in der Presse, sondern durch Ausrufen am Ort bekannt gegeben oder man verzichtete auf die Versteigerungen in den ländlichen Heimatorten der Deportierten, weil die Schamgrenze eines Teils der christlichen Bevölkerung anscheinend überschritten worden war. 30 Zu Simon Fröhlich, Isidor Lemberger, Berthold Schweizer und ihren Angehörigen: Bundesarchiv, Gedenkbuch, unter: http: / / www.bundesarchiv.de/ gedenkbuch (Zugriff am 14.12. 2017). 31 StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 43. 32 Schwarzwald-Rundschau, Ausgabe Horb, vom 8.1.1942. <?page no="103"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 103 Abbildung 18: Erste Anzeige aus der Schwarzwald-Rundschau vom 8.1.1942, Ausgabe Horb, in der die Versteigerung von Gütern aus jüdischem Eigentum angekündigt wird. Ortsarchiv Rexingen. 5. Restitution nach 1945 am Beispiel der Familie Esslinger - ein deprimierendes Ergebnis Im amerikanisch kontrollierten Nachkriegsdeutschland - also auch in Teilen des heutigen Baden-Württemberg - wurde als Stichtag für die grundsätzliche Rückabwicklung von Vermögensübertragungen der 15. September 1935 - der Tag der Verkündigung der Nürnberger Rassegesetze - festgesetzt. 33 Die Gegend um Horb und Rexingen gehörte nach 1945 zur französischen Besatzungszone. Hier wurde als Stichtag für die Rückerstattung geraubter Vermögensobjekte bzw. die Rückabwicklung von Vermögensgeschäften der 14. Juni 1938 festgesetzt, der Tag an dem die Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz verkündet wurde. Die französische Militärregierung war der Meinung, dass man erst ab diesem Stichtag ohne Ausnahme davon ausgehen konnte, dass jede Vermögensübertragung unter Druck geschehen war. 34 Die Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz regelte, wie oben ausgeführt, welche Voraussetzungen gegeben sein mussten, um einen Gewerbebetrieb als „jüdisch“ einzustufen. Alle sogenannten „jüdischen Gewerbebetriebe“ wurden in eine Liste eingetragen. Damit wurden zweifellos die Grundlagen für Zwangsverkäufe systematisch gelegt. Bei Vermögensübertragungen, die vor dem genannten Stichtag stattfanden, waren die 33 F RITSCHE , Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 590. 34 Militärregierungsgesetz Nr. 59 unter http: / / www.linkfang.de/ wiki/ Militärregierungsgesetz_Nr._59 (Zugriff am 19.8.2016). <?page no="104"?> Heinz Högerle 104 früheren jüdischen Eigentümer verpflichtet, zu beweisen, dass die Übertragung von Vermögen unrechtmäßig und unter Zwang zustande gekommen war. Von den über 120 Menschen, die aus Rexingen deportiert wurden, überlebten nur drei und von diesen kamen zwei nur kurzzeitig nach Rexingen zurück. Bei den hier beschriebenen Ausraubungen handelte es sich ausschließlich um Vorgänge, die nach dem besagten Stichtag stattgefunden hatten. Trotzdem war es für die Überlebenden bzw. für die Familienangehörigen der Ermordeten teilweise sehr schwierig, ihre Ansprüche geltend zu machen. Am einfachsten war der Raub von Immobilien zu belegen, denn darüber gaben die Grundbücher Auskunft. Schwieriger wurde es bei Bargeld, Schmuck, Sparkonten und natürlich beim geraubten Hausrat. Man musste nachweisen, was geraubt worden war. Der Aktenbestand des Finanzamtes Horb, der hier in kleinen Ausschnitten gezeigt wurde, belegt, dass viele Unterlagen beim Finanzamt Horb vorhanden waren. Sie hätten zur Aufklärung herangezogen werden können und müssen. Nun gab es in Horb eine Anwaltsgehilfin, Frau Agnes Hermann, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in vorbildlicher Weise für die Rechte jüdischer Familien einsetzte. Sie versuchte Erben zu finden, ihnen bei der Erstellung von Anträgen auf Entschädigung zu helfen und Beweismittel zu sichern. Als junge Frau hatte sie im Haus der Familie Esslinger gewohnt, mit der sie sich freundschaftlich verbunden fühlte. Viktor und Alice Esslinger mussten mit ihrem fünfjährigen Sohn Helmut am 10. Juli 1941 zwangsweise nach Rexingen umziehen, weil die Kreisstadt Horb, wie die Nazis sagten, „judenrein“ gemacht werden sollte. 35 1953 hatte Agnes Hermann die Erben der Ermordeten ermittelt und dem Landesamt für Wiedergutmachung mitgeteilt. 1955 stellte sie im Auftrag von Fritz Esslinger, der in der Schweiz lebte, einen Antrag auf Entschädigung. 36 Dieser wurde bis 1964 nicht weiter bearbeitet. Am 21. Dez. 1964 schrieb das Landesamt für Wiedergutmachung an Fritz Esslinger und machte ihn für die Verzögerung verantwortlich: „Seit Antragstellung haben weder Sie, noch die Bevollmächtigte, noch einer der Miterben sich gemeldet und das Verfahren weiter betrieben. Wir fragen daher zunächst an, ob der Antrag aufrecht erhalten oder zurückgenommen wird und ob die von Ihnen an Fräulein Agnes Hermann erteilte Vollmacht vom 14.9.1954 noch Gültigkeit hat.“ 37 Nachdem keinerlei Beweismittel von amtswegen zur Verfügung gestellt wurden, belegte Agnes Hermann, die ja im Haus der Familie Esslinger gewohnt hatte, im März 1965 mit einem Gedächtnisprotokoll den wichtigsten Hausrat der Familie. 38 Diese 35 Ortsarchiv Rexingen, Meldebuch 1941. 36 StAS, Wü 126/ 7 T1, Nr. 273. 37 Ebd. 38 Ebd. <?page no="105"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 105 Zeugenaussage von Agnes Hermann stimmte fast vollständig mit den Akten überein, die beim Finanzamt z.B. in Form der Liste für den Oberen Polizei- und SS-Führer in Stuttgart lagen. 39 Am 11. Mai 1965 erhielt Agnes Hermann vom Landesamt für Wiedergutmachung folgende Nachricht: „Ihr früherer Vollmachtgeber und Miterbe Herr Fritz Esslinger, zuletzt wohnhaft gewesen in Uster bei Zürich/ Schweiz ist inzwischen verstorben. Ihre Vollmacht ist daher mit dessen Tod erloschen. Es bedarf daher zunächst der Klärung, wer Erbe des Fritz Esslinger geworden ist. [...] Für eine etwa zu erwartende Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz bedarf es außerdem entweder um entsprechende Mitteilung sämtlicher in Frage kommender Erben, wohin die Entschädigung gezahlt werden soll oder aber um Vorlage von auf Sie lautenden Vollmachten sämtlicher Miterben.“ 40 Zum geraubten Hausrat, den Agnes Hermann schon ausführlich beschrieben hatte, verlangte der Beamte des Landesamtes für Wiedergutmachung weitere Belege: „Um über die Art und Höhe der verfolgungsbedingten Schäden ein genaues Bild zu bekommen, bitten wir Sie, die Ansprüche an Hand des beigefügten Fragebogens genau und vollständig zu begründen gegebenenfalls unter Vorlage von Beweismitteln.“ 41 Darauf gab Agnes Hermann den Kampf um Entschädigung für die Esslinger- Erben auf. In einer Aktennotiz vom 4. November 1965 hielt der Sachbearbeiter im Landesamt für Wiedergutmachung fest: „Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass seit der Antragsstellung seitens der Miterben Hugo und Fritz Esslinger das Verfahren im Laufe von über 10 Jahren nicht mehr weiterbetrieben worden ist, die ursprünglichen Antragssteller und die weitere Miterbin Lotte Esslinger inzwischen ebenfalls verstorben sind, andererseits die übrigen Miterben ausschließlich im Ausland (USA, Israel und Südafrika) wohnen, das Verfahren bis heute jedoch selbst nie betrieben haben und davon mit Sicherheit gar keine Ahnung haben, erscheint eine Weiterbearbeitung dieser Entschädigungssache aussichtslos. Sämtliche in dieser Sache noch offenen Ansprüche können daher ‚ohne Entscheidung‘ erledigt werden. Auswertung für Statistik. erledigt.“ 42 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. <?page no="106"?> Heinz Högerle 106 6. Erkenntnisse Die systematische Ausraubung der jüdischen Familien im nationalsozialistischen Regime lässt sich auch in den Quellen über jüdische Familien in Horb detailliert nachzeichnen. Deutlich wird der öffentliche Ablauf des Raubs, er ging nicht heimlich vonstatten. Der Raub war in Verwaltungsakte eingebunden und wurde in den Behörden sorgfältig dokumentiert. Trotzdem mussten die ausgeraubten Juden und deren Erben nach dem Zweiten Weltrkieg in den Rückerstattungsverfahren gegenüber den Behörden den Verlust ihres Besitzes nachweisen, was naturgemäß schwer möglich war. Das Beispiel der Familie Esslinger zeigt, wie Verfahren verzögert und die Beibringung von Beweisen oft auf die geschädigten Familien verlagert wurden und die Verfahren teilweise ohne jegliche Restitution und Entschädigung endeten. Quellen und Literatur Archive Archiv des Träger- und Fördervereins Ehemalige Synagoge Rexingen. Ortsarchiv Rexingen, Meldebuch 1941. Staatsarchiv Sigmaringen (StAS), Wü 126/ 7 T1, Nr. 31, 43, 44d, 273. Gedruckte Quellen NS-Hago-Gauamtsleitung Stuttgart (Hrsg.): Deutscher kaufe nicht beim Juden! Verzeichnis jüdischer Geschäfte in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1935. W ALK , J OSEPH (Hrsg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien - Inhalt und Bedeutung, 2. Auflage, Heidelberg 1996, Nachdruck 2013. S AUER , P AUL : Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime, 1933-1945, I. und II. Teil, Stuttgart 1966. Literatur B ARKAI , A VRAHAM : Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943, Frankfurt am Main 1988. F RIEDENBERGER , M ARTIN : Die Rolle der Finanzverwaltung bei der Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung der deutschen Juden, in: DERS ./ K LAUS -D IETER G ÖSSEL / E BERHARD S CHÖNKNECHT (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumente, Bremen 2002, 10-94. <?page no="107"?> Die Ausraubung der jüdischen Familien in Horb und Rexingen 107 F RITSCHE , C HRISTIANE : Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim, 2. Auflage, Ubstadt-Weiher 2013. K OHLMANN , C ARSTEN : Von Rexingen nach Malchutia, in: H EINZ H ÖGERLE / C ARS- TEN K OHLMANN / B ARBARA S TAUDACHER (Hrsg.), Ort der Zuflucht und Verheißung. Shavei Zion 1938-2008, Stuttgart 2008, 22-43. K ULLER , C HRISTIANE : Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, München 2013. Internet Bundesarchiv, Gedenkbuch, zu Simon Fröhlich, Isidor Lemberger und Berthold Schweizer unter http: / / www.bundesarchiv.de/ gedenkbuch (Zugriff am 14.12. 2017). 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vom 24. Februar 1920 unter http: / / www.documentarchiv.de/ wr/ 1920/ nsdap-programm. html (Zugriff am 15.8.2016). Militärregierungsgesetz Nr. 59 unter http: / / www.linkfang.de/ wiki/ Militärregierungsgesetz_Nr._59 (Zugriff am 19.8.2016). <?page no="109"?> „Arisierung“ in Laupheim - ein Forschungsstand Michael Niemetz Die jüdische Gemeinde Laupheim war im 19. Jahrhundert für einige Zeit die größte im Königreich Württemberg. Nach der - vergleichsweise späten - ersten nachweislichen Ansiedlung um 1730 hatten sich die Juden gut in das christliche Umfeld integrieren können und trugen entscheidend zum allgemeinen Aufblühen des oberschwäbischen Marktfleckens bei. Ende des 19. Jahrhunderts setzte auch in Laupheim die markante Abwanderung der Landjuden ein, wirtschaftlich motiviert in attraktivere Städte oder - wie bei dem berühmtesten Sohn der Stadt Carl Laemmle - bis nach Amerika. Hatte die Gemeinde in den 1860er Jahren mit bald 900 Mitgliedern ein gutes Fünftel der Einwohnerzahl gestellt, reduzierte sich ihre Zahl bis 1933 auf 240. Dennoch fällt auf, dass diese typische Abwanderung die Laupheimer Gemeinde nicht existentiell bedrohte: Die in Laupheim verbliebenen jüdischen Familien bildeten eine etablierte Mittel- und Oberschicht, deren gesellschaftliche Stellung stark gefestigt war und durchaus eben als schon urban bezeichnet werden kann. 1 1. Quellen Die Epoche nach 1933 ist hinsichtlich Vertreibung, Flucht und Mord zum Teil detailliert aufgearbeitet worden. 2 Doch obwohl dabei auch die Restitutionsakten 3 verschiedentlich eingesehen wurden, sind in diesen Publikationen die einzelnen Schritte der „Arisierung“ und Enteignung jüdischen Besitzes in Laupheim nicht dokumentiert worden. Dabei sind die über die zuständigen Ämter überlieferten Verwaltungsvorgänge rekonstruierbar über die Judaica-Akten 4 des Kreisarchives Biberach, die insbesondere die Beteiligung des Oberamtes und des Finanzamtes sichtbar machen. Der Bestand enthält auch die Korrespondenz mit den übergeordneten Landesbehörden wie auch mit der unmittelbar involvierten Stadtverwaltung in Laupheim. Die Akten 1 Grundsätzlich zur Geschichte der Gemeinde: Stadt Laupheim/ Haus der Geschichte Baden- Württemberg, Nebeneinander; H ÜTTENMEISTER , Friedhof Laupheim, 13-20; S CHENK , Juden in Laupheim, 286-302. 2 K ÖHLERSCHMIDT / N EIDLINGER , Die jüdische Gemeinde Laupheim; H ECHT / K ÖHLER- SCHMIDT , Deportation der Juden; S CHÖNHAGEN , Vernichtung. 3 Staatsarchiv Sigmaringen, Südwürttembergische Bestände, u.a. Wü 126/ 2 T 1 und Wü 33 T 1. 4 Kreisarchiv Biberach beim Landratsamt Biberach, Bestand Nr. 34. <?page no="110"?> Michael Niemetz 110 der städtischen Behörden 5 geben schließlich nur ein bruchstückhaftes Bild der „Arisierungen“ in Laupheim. Auch für sie wie für die Unterlagen des Finanzamtes beim Kreisarchiv gilt, dass von deutlichen Verlusten bei Kriegsende auszugehen ist. 2. „Arisierung“ jüdischen Eigentums Als Ende 1945 die ersten Anfragen von Überlebenden der Laupheimer jüdischen Gemeinde an die Stadtverwaltung gingen, was mit ihrem Eigentum letztlich geschehen sei, versuchte man sich einen ersten Überblick vor Ort zu verschaffen: Der Schaden sollte bemessen werden. Diese vordergründig statistischen Retrospektiven 6 bilden den Ausgangspunkt für die Erforschung der „Arisierung“ in Laupheim und greifen selbst zurück auf die forcierte Buchführung der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ab 1935, als in Laupheim mit Ludwig Marxer ein bekennender NS-Bürgermeister an die Macht gekommen war. Fortan wurden bis zur restlosen Zerstörung der Gemeinde 1942 sämtliche Bevölkerungsbewegungen und Vermögenskonstellationen der Juden in Laupheim registriert. So ergibt sich das Bild einer äußerst gründlichen Behördenagitation, die vor allem zwischen 1937 und 1939 effizient den Juden ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage entzog. Man ging 1933/ 34 von 69 jüdischen Steuerzahlern aus, von denen wiederum 41 Gewerbesteuer entrichteten. Diese 41 von 520 Gesamtleistenden in Laupheim trugen 45 Prozent der Gewerbesteuer. Die mit Abstand größten Arbeitgeber und Gewerbesteuerzahlenden waren die Haarfabrik Bergmann 7 und der Steiner’sche Hopfenhandel, daneben bildeten auch die Laupheimer Werkzeugfabrik und das Kaufhaus Einstein das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt. Auch wenn der Laupheimer Bürgermeister im März 1939 mit der Feststellung „Betriebe judenfrei“ deren vollzogene Übernahme durch Nichtjuden zum Ausdruck brachte, war die „Arisierung“ alles - eben auch privaten - jüdischen Besitzes noch nicht abgeschlossen. Hier bestehen die größten Lücken und Forschungsaufgaben, was im Einzelfall mit dem beweglichen, persönlichen und familiären Eigentum geschehen ist. Dabei scheinen sich die behördlichen Vorgänge und die Zwangsrollen ihrer jüdischen Opfer in Laupheim wenig von anderen Orten zu unterscheiden, etwa Schätzungen, Kaufverträge und Vermögenstransfer betreffend. Fragen zu öffentlichen Versteigerungen und Plünderungen sind zu klären, der Verkauf des geraubten Gutes lief offenbar in der Regel über das Finanzamt. Die Restitutionsprozesse begannen 1949 und zogen sich bis in die 1960er Jahre, in vielen nachweislichen Laupheimer Arisierungsfällen ist noch gar nicht klar, ob überhaupt Privatklage eingereicht wurde. 5 Stadtarchiv Laupheim, Altregistratur, u.a. Bestand Fl 1515, 9000 und 9895. 6 Ebd. 7 Der einzige im Detail aufgearbeitete Arisierungs- und Restitutionsfall: B ERGMANN , Die Bergmanns, 97-103 und 124-137. <?page no="111"?> „Arisierung“ in Laupheim - ein Forschungsstand 111 Abbildung 1: Das Kaufhaus D.M. Einstein in Laupheim um 1925. Museum zur Geschichte von Christen und Juden, Laupheim. Die jüdische Gemeinde hatte 1942 aufgehört zu existieren, ihre Einrichtungen wie die Schule und der Platz der zerstörten Synagoge gingen in Restitutionsvergleichen an die Stadt Laupheim, das Rabbinat und Leichenhaus an Privathand, der jüdische Friedhof an die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg. Bekannt ist, dass keine Laupheimer Juden in ihre Heimat zurückkehrten, 126 hatten die Verfolgung überlebt. Das Interesse an ihnen und ihrer Geschichte gewann vor allem ab den 1980er Jahren an Bedeutung, das Laupheimer Museum zur - gemeinsamen - Geschichte von Christen und Juden wurde 1998 eröffnet. <?page no="112"?> Michael Niemetz 112 Quellen und Literatur Archive Staatsarchiv Sigmaringen, Südwürttembergische Bestände, u.a. - Wü 126/ 2 T 1. - Wü 33 T 1. Kreisarchiv Biberach beim Landratsamt Biberach - Bestand Nr. 34. Stadtarchiv Laupheim, Altregistratur, u.a. - Bestand Fl 1515, 9000, 9895. Literatur B ERGMANN , J OHN H.: Die Bergmanns aus Laupheim. Eine Familienchronik, Laupheim 2006. H ECHT , C ORNELIA / K ÖHLERSCHMIDT , A NTJE : Die Deportation der Juden aus Laupheim, Laupheim 2004. H ÜTTENMEISTER , N ATHANJA : Der jüdische Friedhof Laupheim, Laupheim 1998. K ÖHLERSCHMIDT , A NTJE / N EIDLINGER , K ARL : Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung. Biografische Abrisse ihrer Mitglieder nach dem Stand von 1933, Laupheim 2008. S CHENK , G EORG : Die Juden in Laupheim, in: Stadt Laupheim (Hrsg.), Laupheim, Laupheim 1979, 286-302. S CHÖNHAGEN , B ENIGNA : Die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in der NS- Zeit. Das Beispiel Laupheim im Kontext der Gedenkstätten in Baden-Württemberg, in: P ETER S TEINBACH / T HOMAS S TÖCKLE / S IBYLLE T HEBEN / R EINHOLD W EBER (Hrsg.), Entrechtet - verfolgt - vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten, Stuttgart 2016, 97-134. Stadt Laupheim/ Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Katalog zur Ausstellung: Nebeneinander. Miteinander. Gegeneinander. Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim, Laupheim 2006. <?page no="113"?> II. „Arisierung“ und Restitution <?page no="115"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg Tim Benedikt Heßling Die historische Forschung hat den Sachkomplex der „Arisierung“ lange Zeit nur als Randphänomen beachtet, da sich die Holocaust-Forschung anfänglich auf die Deportation und physische Vernichtung der europäischen Juden konzentrierte. 1 Speziell seit Ende der 1990er Jahre, und vor allem seit den „Pionierstudien“ von Frank Bajohr 2 und Wolfgang Dreßen, 3 welche „Arisierungen“ in Hamburg und Köln thematisierten, sind jedoch eine Vielzahl neuer Regionalstudien entstanden, welche sich schwerpunktmäßig mit der „Arisierung“ beschäftigen. 4 Im Laufe der letzten Jahre rückte hierbei auch verstärkt die Rolle der Städte und Gemeinden in den Fokus der Forschung. 5 Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit der „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg während der NS-Zeit. Hierbei wird zunächst auf die rechtlichen Grundlagen des Vermögensentzugs eingegangen und eine Übersicht über die „Arisierungstätigkeiten“ der Stadt Augsburg gegeben. Danach werden drei Immobilienankäufe durch die Stadt Augsburg, nämlich der Kauf der Anwesen in der Heilig- Grab-Gasse 2, Mozartstraße 5 ½ und der Bahnhofstraße 7 in Augsburg genauer dargestellt. Die genannten Immobilien wurden bewusst ausgewählt, da die Ankäufe zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten stattfanden und daher einen guten Eindruck vermitteln können, welche Handlungsmöglichkeiten jüdische Immobilieneigentümer zu unterschiedlichen Zeitpunkten der NS-Herrschaft hatten. Darüber hinaus existieren für die genannten Immobilienankäufe auch noch Unterlagen aus den nach dem Krieg durchgeführten Restitutionsverfahren, welche zum einen eine umfangreiche Darstellung der Ankäufe ermöglichen und zum anderen auch die „rechtliche Bewertung“ der Käufe durch die Restitutionsgerichte enthalten. 1 H OCKERTS / K ULLER , Von der wirtschaftlichen Verdrängung zur Existenzvernichtung, 21-23. 2 B AJOHR , „Arisierung“ in Hamburg. 3 D REßEN , Betrifft „Aktion 3“. 4 Hier zum Beispiel K ÖHLER , „Arisierung“ von Privatbanken, und F RIEDENBERGER , Fiskalische Ausplünderung. 5 Exemplarisch G RUNER , Grundstücke der Reichsfeinde. <?page no="116"?> Tim Benedikt Heßling 116 1. Zur rechtlichen Situation jüdischer Immobilienbesitzer während der NS-Zeit Die rechtliche Diskriminierung der Juden setzte bereits relativ früh nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 ein: So wurden mit dem sogenannten „Berufsbeamtengesetz“ 6 vom 7. April 1933 und weiterer Gesetze 7 die Erwerbsmöglichkeiten der Juden in NS-Deutschland stark vermindert, da diesen nicht mehr gestattet wurde, im öffentlichen Dienst sowie bestimmten anderen Berufen tätig zu werden. Mit den sogenannten „Nürnberger Rassegesetzen“, welche am 15. September 1935 erlassen worden waren, und den darauf folgenden Verordnungen wurden die staatsbürgerlichen Rechte der Juden, insbesondere auf familienrechtlicher Ebene, stark eingeschränkt. 8 Jedoch wurde die Möglichkeit des Immobilienerwerbs und Immobilienbesitzes durch die jüdische Bevölkerung anfänglich nicht behindert. Dies zeigt exemplarisch auch folgender Auszug aus einem Rundschreiben von Reichsjustizminister Gürtner aus dem März 1936, welches an die Präsidenten der Oberlandesgerichte im gesamten Reichsgebiet gerichtet war und Unklarheiten zum Grundstückserwerb von Juden klarstellen sollte. „Die Nürnberger Gesetzgebung hat die Judenfrage - abgesehen von der Mischlingsfrage - nur in staats- und eherechtlicher Hinsicht geordnet. Das Wirtschaftsrecht der Juden ist vorläufig gesetzlich noch nicht geregelt. Auch diese Regelung bleibt der obersten Staatsführung vorbehalten, so wie allein diese befugt war, die staats- und eherechtlichen Seiten des Problems zu ordnen. Es kann nicht Aufgabe einzelner Stellen im Lande sein, der obersten Staatsführung die Lösung dieses Teils der Judenfrage vorwegzunehmen. Die wirtschaftliche Betätigung der Juden richtet sich alleine nach den bestehenden Gesetzen. Da diese eine Beschränkung beim Erwerb von Grundeigentum durch Juden nicht vorsehen, ist keine Rechtsgrundlage vorhanden, die Veräußerung eines Grundstücks als verboten oder nichtig anzusehen, weil der Erwerber Jude ist.“ 9 Während auf den Gebieten der gewerblichen Tätigkeit der Juden sowie im Bereich der „Arisierung“ von Firmen relativ früh umfangreiche gesetzliche Maßnahmen zu Ungunsten der jüdischen Bevölkerung getroffen wurden, kam es erst Ende des Jahres 1938 zu einschneidenden gesetzlichen Verschärfungen bezüglich des jüdischen 6 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, RGBl. 1933 I, 175. 7 So zum Beispiel das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“, RGBl. 1933 I, 188. 8 A DAM , Judenpolitik im Dritten Reich, 92f. 9 StAM, OLG München Nr. 302 (Staatsbürgerrecht im Allgemeinen), Rundschreiben vom 19.3.1936. <?page no="117"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 117 Immobilienbesitzes. 10 Mittels der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ 11 vom 3. Dezember 1938 konnten die deutschen Juden nun durch die zuständigen Verwaltungsbehörden dazu gezwungen werden, ihren Grundbesitz zu veräußern. 12 Darüber hinaus wurde den Juden durch diese Verordnung auch verboten, neuen Grundbesitz zu erwerben. 13 Somit wurde den jüdischen Immobilienbesitzern Ende des Jahres 1938 nahezu die vollständige Verfügung über ihr Grundeigentum entzogen, da die staatlichen Behörden nun sowohl verlangen konnten, dass der betreffende Grundbesitz verkauft wird, und die Behörden außerdem jeden Kauf genehmigen mussten, weshalb sie dadurch mittelbar ebenfalls Preishöhe und die Person des Käufers bestimmten. 14 Als Folge dieser gesetzlichen Regelung wurde die „Zwangsarisierung“ des jüdischen Immobilienbesitzes eingeleitet. 15 Im Oktober 1941 begannen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die besetzten Ostgebiete im Baltikum und Polen, wo der Großteil der Deportierten bis zum Kriegsende ermordet wurde. 16 Um die Verwaltung und Verwertung des Vermögens der Deportierten zu vereinfachen, wurde am 25. November 1941 die „Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ 17 erlassen. 18 Auf Grund der obigen Verordnung verloren die Deportierten beim Grenzübertritt ihre Staatsbürgerschaft und als weitere Folge verfiel ihr gesamtes bewegliches und unbewegliches Vermögen zugunsten des Reichs. 19 Mit Hilfe der „Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ wurden die wenigen nach der „Zwangsarisierung“ noch vorhandenen Immobilien jüdischer Bürger nach deren Deportation zugunsten des Reichsfiskus eingezogen. 2. Übersicht über die „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg Hinsichtlich des Umfangs der „Arisierungs“-Tätigkeit der Stadt Augsburg existieren so gut wie keine Unterlagen mehr, welche direkt aus der NS-Zeit stammen. Die we- 10 B OPF , Enteignung, 190-192. 11 RGBl. 1938 I, 1709. 12 Paragraphen 1, 6 der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“, RGBl. 1938 I, 1709. 13 B OPF , Enteignung, 192. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 F RIEDENBERGER , Die Rolle der Finanzverwaltung, 21. 17 RGBl. 1941 I, 722. 18 F RIEDENBERGER , Fiskalische Ausplünderung, 271. 19 R UMMEL , Die Enteignung der Juden als bürokratisches Verfahren, 69. <?page no="118"?> Tim Benedikt Heßling 118 sentlichen Quellen, welche einen Überblick über die durch die Stadt Augsburg „arisierten“ Gebäude liefern, stammen aus den Jahren 1947 und 1963. 2021 Laut einer Liste aus dem Jahr 1947, welche die Stadt an das Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung übersandte, hatte die Stadt Augsburg zwischen 1933 und 1945 insgesamt zwölf Grundstücke von jüdischen Bürgern erworben. 22 In der anderen Liste aus dem Jahr 1963, welche an den Bayerischen Städteverband übersandt wurde, werden für den gleichen Zeitraum sogar achtzehn Grundstücke genannt, welche von Augsburger Juden erworben wurden und einen Gesamtwert von 1.646.720,00 RM hatten. 23 Woher dieser offensichtliche Unterschied herrührt und ob in der Korrespondenz mit dem Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung im Jahr 1947 eventuell bewusst Gebäude verschwiegen wurden, um deren Restitution zu verhindern, lässt sich den noch vorhandenen Akten nicht eindeutig entnehmen. 3. Das Anwesen in der Heilig-Grab-Gasse 2 3.1. Ausgangssituation Über den Verkauf des Anwesens Heilig-Grab-Gasse 2 sind in den Akten der Stadt so gut wie keine Akten mehr aus der NS-Zeit erhalten. 24 Der Großteil der noch vorhandenen Akten stammt aus den juristischen Auseinandersetzungen, welche nach Ende der NS-Herrschaft bezüglich der Rückerstattung des Gebäudes Heilig-Grab-Gasse 2 stattfanden. 25 Auf Grundlage der Wiedergutmachungsakten lassen sich folgende Umstände des Verkaufs skizzieren: Das Gebäude in der Heilig-Grab-Gasse 2 war bis zum Verkauf 1936 je zur Hälfte im Eigentum der Erbengemeinschaft R., bestehend aus Johanna, Julius und Dr. Hans R., sowie der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg gewesen. 26 20 StadtAA, 50/ 19, Liste der Grundstücke aus ehemals jüdischem Besitz als Anhang des Schreibens des städt. Grundverwaltungsamtes an das Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung vom 1.7.1947. 21 StadtAA, 50/ 19, Liste der Grundstücke aus ehemals jüdischem Besitz als Anhang des Schreibens des städt. Grundverwaltungsamtes an den Bayerischen Städteverband vom 27.2.1963. 22 StadtAA, 50/ 19, Liste der Grundstücke aus ehemals jüdischem Besitz als Anhang des Schreibens des städt. Grundverwaltungsamtes an das Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung vom 1.7.1947. 23 StadtAA, 50/ 19, Liste der Grundstücke aus ehemals jüdischem Besitz als Anhang des Schreibens des städt. Grundverwaltungsamtes an den Bayerischen Städteverband vom 27.2.1963. 24 StadtAA, L5/ 305. 25 Ebd. 26 StadtAA, L5/ 305, Abschrift des Kaufvertrags vom 9.6.1936. <?page no="119"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 119 Auch ist es unstrittig, dass der Architekt St. im Auftrag der Eigentümer die Verkaufsverhandlungen über das Grundstück mit der Stadtverwaltung geführt hatte. 27 Als Preis für das Grundstück wurden 47.000,00 RM festgelegt, wobei die Stadt zusätzlich die vollen Notarkosten in Höhe von 3.000,00 RM übernahm. 28 Auch erhielten die Verkäufer später den vereinbarten Kaufpreis ausgezahlt. 29 3.2. Die Umstände des Verkaufs Die weiteren Umstände des Verkaufs waren zwischen der Stadt und den Restitutionsberechtigten, wie die nach dem Krieg stattgefundenen Gerichtsverfahren zeigten, größtenteils strittig. 30 Insbesondere waren die genaue Motivation der Eigentümer für den Verkauf, der Zusammenhang mit der Errichtung des jüdischen Altersheims in der Frohsinnstraße 21 sowie die Angemessenheit des Kaufpreises umstritten. Anhand der noch vorhandenen Prozessakten sowie der überlieferten Unterlagen der Stadt Augsburg werden im Folgenden die genauen Umstände des Verkaufs der Heilig- Grab-Gasse 2 nachvollzogen. Laut einem Schreiben der Stadt Augsburg an das Landesamt für Vermögensverwaltung wurde dieser im Jahr 1936 das Gebäude in der Heilig-Grab-Gasse durch den Architekten St. als Vertreter der Verkäufer von sich selbst aus zum Kauf angeboten. 31 Auch sei kein politischer Druck auf die jüdischen Eigentümer ausgeübt worden. 32 Wörtlich schrieb die Stadt hierzu: 33 „Es müßte schließlich anerkannt werden, daß es den Angehörigen der israelitischen Konfession im Jahre 1936, genau wie z.B. jedem Nichtparteigenossen möglich gewesen war, aus eigenem Wille Grundstücksgeschäfte zu tätigen.“ 34 Jedoch ist es unbestritten, dass die Stadt Augsburg im Jahre 1936 das Gebäude in der Heilig-Grab-Gasse 2 für die Schaffung neuer Diensträume erwerben wollte. 35 Eine Befragung des damals für die Verkäufer handelnden Architekten St. durch einen städtischen Mitarbeiter am 19. Juli 1949 wurde von diesem wie folgt zusammengefasst: 36 27 StadtAA, L5/ 305, Aktenvermerk des städtischen Grundverwaltungsamts vom 2.9.1946. 28 Ebd. 29 StadtAA, L5/ 305, Schreiben der Stadt Augsburg an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, Datum unleserlich. 30 StadtAA, L5/ 305, Bericht über Termin vor der Wiedergutmachungsstelle vom 5.1.1950. 31 StadtAA, L5/ 305, Schreiben der Stadt Augsburg an das Landesamt für Vermögensverwaltung vom 27.2.1947. 32 StadtAA, L5/ 305, Schreiben der Stadt Augsburg an die Militärregierung vom 10.4.1947. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 StadtAA, L5/ 305, Schreiben der Stadt Augsburg an die Militärregierung vom 15.4.1948. 36 StadtAA, L5/ 305, Schreiben der Stadt Augsburg vom 19.7.1949. <?page no="120"?> Tim Benedikt Heßling 120 „ Betreff : Rückerstattungsanspruch, Hl. Grabgasse 2 Am 19.7.1949 habe ich Herrn Architekt St. 37 in seiner Wohnung Rosenaustr. 36 aufgesucht um ihn über die seinerzeitigen Vorgänge beim Erwerb des im Betreff genannten Anwesens durch die Stadt zu befragen. Architekt St. machte dabei folgende Ausführungen: Die israelitische Kultusgemeinde beabsichtigte ursprünglich, im Anwesen Heilig Grabgasse 2 eine Gaststätte mit kleinem Vorführsaal für etwa 200-250 Personen, einer Turnhalle und einer Kegelbahn einzurichten, da den Juden und ihren Angehörigen bekanntlich immer mehr ihre Bewegungsfreiheit entzogen wurde. Von irgendeiner, ihm heute nicht mehr bekannten, Seite der Stadt wurde der Kultusgemeinde jedoch andeutungsweise bekanntgegeben, daß die Durchführung des Planes an dieser betonten Stelle der Stadt unerwünscht sei. Daraufhin habe insbesondere die israelitische Kultusgemeinde den Verkauf des Anwesens an die Stadt betrieben mit dem Zweck, aus dem Verkaufserlös das Projekt an anderer Stelle durchzuführen. Das wurde, wie bekannt, schließlich im Anwesen Frohsinnstr. 21 gemacht. Architekt St. glaubt sich in Übereinstimmung mit der Äußerung des Dir. E. daran erinnern zu können, daß er das Anwesen im Auftrag der Kultusgemeinde der Stadt zum Kauf angeboten habe. Zum Kaufpreis befragt, vertrat St. den Standpunkt, daß dieser für die Stadt sehr wohl sehr günstig gewesen sei. Man habe seinerzeit nur 50.000,- RM gefordert, da einerseits allgemein die Annahme bestand, die Stadt bezahle nicht mehr als den Einheitswert (= im vorliegenden Fall etwa 48.000.- RM) und andererseits Dir. E. ihm gegenüber eine entsprechende Bemerkung fallen gelassen habe.“ Die von St. geäußerte Ansicht, wonach der israelitischen Kultusgemeinde nicht gestattet wurde, ein Gebäude zu besitzen, welches an die repräsentative Hauptachse der Altstadt, die Maximiliansstraße, angrenzt, wird auch von der Sekundärliteratur gestützt. 38 Eines der Hauptprobleme war wohl auch, dass die Juden aufgrund von § 4 des „Gesetzes zum Schutze der deutschen Ehre und des deutschen Blutes“ 39 auch bei Aufmärschen und Feiertagen keine Hakenkreuzflaggen an dem Gebäude hissen durften. 40 37 Die Namen der handelnden Personen sind in diesem und den folgenden Schreiben ausgeschrieben und wurden nur aus Datenschutzgründen in allen Schreiben dieses Aufsatzes bewusst gekürzt. 38 O PHIR / W IESEMANN , Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918-1945, 32. 39 RGBl. 1935 I, 1146. 40 StadtAA, L5/ 305, Bericht über Termin vor der Wiedergutmachungsstelle vom 5.1.1950 (Az.: V 103456-a 18045/ 679). <?page no="121"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 121 Eine Aussage von Frau Hermine R., der Ehefrau einer der ursprünglichen Eigentümer, vor der Wiedergutmachungskammer stützt die obige Ansicht. 41 So habe ihr Mann damals bezüglich des Verkaufs der Heilig-Grab-Gasse 2 Folgendes gesagt: 42 „Nun müssen wir das Haus doch verkaufen, denn es geht nicht an, dass es an dieser Aufmarschstrasse ein nicht beflaggtes Haus gibt.“ 43 Es ist aber auch richtig, dass die Stadt sich im Gegenzug für den Verkauf der Heilig-Grab-Gasse 2 erfolgreich darum bemühte, dass die israelitische Kultusgemeinde in der Frohsinnstraße 21 ein Altersheim für Juden einrichten konnte. 44 Das Altersheim in der Frohsinnstraße 21 konnte im Oktober 1937 nach Umbau und Renovierung eröffnet werden. 45 Jedoch wurde das Gebäude in der Frohsinnstraße 21 bereits im November 1938 beschlagnahmt und deren Bewohner zum Verlassen des Hauses gezwungen. 46 Auch die Angemessenheit des damals bezahlten Kaufpreises für die Heilig-Grab- Gasse 2 ist zwischen den Verfahrensbeteiligten strittig gewesen: In einer Stellungnahme des Grundverwaltungsamts der Stadt Augsburg vom 2. September 1949 wird der Kaufpreis als „angemessen“ angesehen. 47 Die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Augsburg kam in ihrem Beschluss vom 22. Dezember 1950 zu dem Ergebnis, dass der Verkehrswert des Grundstücks zum Verkaufszeitpunkt 88.446, 67 RM betragen hatte und die Stadt daher dafür einen sehr geringen Preis bezahlt habe. 48 3.3. Fazit über den Verkauf der Heilig-Grab-Gasse 2 Die Betrachtung des Verkaufs der Heilig-Grab-Gasse 2 bietet ein insgesamt uneinheitliches Bild. Zum einen ist aufgrund der Aussagen des Architekten St. sowie von Frau Hermine R. davon auszugehen, dass die Eigentümer des Gebäudes durch politischen Druck dazu gebracht wurden, den Verkauf des Gebäudes zu betreiben. Diese Ansicht wird auch von der Sekundärliteratur gestützt. Auch erzielten die Verkäufer einen deutlich unter dem Verkehrswert liegenden Preis, wie die Feststellungen des Landgerichts Augsburg zeigen. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 StadtAA, L5/ 305, Aktenvermerk über die Verhandlung vor der Wiedergutmachungskammer am LG Augsburg am 9.6.1950 (Az.: V WK V 51/ 50). 45 S CHMUCKER , Jüdisches Altenheim. 46 Ebd., 181. 47 StadtAA, L5/ 305, Aktenvermerk des Grundverwaltungsamtes vom 2.9.1949. 48 StadtAA, L5/ 305, Beschluss der Wiedergutmachungskammer des LG Augsburg vom 22.12.1950 (Az.: V WK V 51/ 50). <?page no="122"?> Tim Benedikt Heßling 122 Dennoch darf nicht vergessen werden, dass die Verkäufer Handlungsmöglichkeiten hatten, da sie erreichten, dass in der Frohsinnstraße 21 ein jüdisches Altersheim errichtet wurde. Außerdem erhielten die Verkäufer den vereinbarten Preis und konnten darüber verfügen. Dennoch kann von einer „uneingeschränkten Verfügungsmöglichkeit“ über den Grundbesitz für jüdische Verkäufer Mitte 1936 nicht mehr die Rede sein, da die Verkäufer, zumindest mittelbar, zum Verkauf gedrängt wurden. Darüber hinaus spricht der geringe Erlös aus dem Verkauf für sich. 4. Das Anwesen in der Mozartstraße 5 ½ 4.1. Zur Ausgangssituation Ähnlich wie beim Verkauf des Grundstücks in der Heilig-Grab-Gasse 2 existieren über den Verkauf des Anwesens in der Mozartstraße 5 ½ nahezu keine Unterlagen mehr, welche direkt aus der NS-Zeit stammen. Dies ist unter anderem dadurch zu erklären, dass die internen Vermerke und der Originalkaufvertrag kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner bewusst durch die Stadtverwaltung vernichtet wurden. 49 Jedoch können der Verkauf des Grundstücks und dessen genaue Umstände aufgrund von noch vorhandenen Akten aus Restitutionsverfahren nach dem Krieg gut nachvollzogen werden. Das Haus in der Mozartstraße 5 ½ wurde am 20. Februar 1939 von dessen jüdischen Eigentümern, dem Kaufmannsehepaar Alfred und Berta S., an die Stadt Augsburg verkauft. 50 Der Verkauf wurde am 4. April 1939 durch den Regierungspräsidenten von Schwaben genehmigt. 51 Als Kaufpreis wurden 36.100,00 RM vereinbart; von dieser Kaufsumme wurden aber nur 1.700,00 RM direkt an die Eheleute S. überwiesen. 52 Die Stadt zahlte außerdem 6.487,16 RM, um eine Aufwertungsforderung des Protestantischen Volksschulfonds gegen die Eheleute S. zu begleichen, sowie weitere 10.875,35 RM, um die auf dem Grundstück ruhenden Grundschulden zu tilgen. 53 Auch wurden durch die Stadt 1.150,00 RM als „Judenvermögensabgabe“ an das Finanzamt Augsburg-Stadt überwiesen. Da alle diese Zahlungen durch die Stadt auf den Kaufpreis angerechnet wurden, überwies die Stadt Augsburg am 13. Juni 49 StadtAA, L 5/ 574, Interner Vermerk vom 16.8.1946. 50 StadtAA, L 5/ 574, Anzeige des Bürgermeisters gemäß Art. 73 und 74 des Gesetzes der Militärregierung über Rückerstattung vom 15.4.1948. 51 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben des Dr. R. (Rechtsanwalt von Ferdinand S.) vom 4.8.1948 an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim. 52 StadtAA, L 5/ 574, Anzeige des Bürgermeisters gemäß Art. 73 und 74 des Gesetzes der Militärregierung über Rückerstattung vom 15.4.1948. 53 Ebd. <?page no="123"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 123 1939 insgesamt nur 15.887,49 RM auf ein Sperrkonto des Alfred S. bei der Bayerischen Vereinsbank Augsburg, um den restlichen Kaufpreis zu begleichen. 54 Der Sohn des Ehepaares, Ferdinand S., emigrierte im Jahr 1939 zusammen mit seinen minderjährigen Töchtern nach England, während seine Ehefrau Martha mit den Schwiegereltern in Augsburg zurückblieb. 55 Alfred S. starb bereits im Jahr 1940, während seine Ehefrau und seine Schwiegertochter 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. 56 Dort starb Berta S. am 30. Oktober 1942, während Martha S. nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie wahrscheinlich umkam. 57 Die Stadt Augsburg nutzte das Anwesen in der Mozartstraße 5 ½ zwischen Oktober 1939 und August 1943 als sogenanntes „Judenhaus“, um dort bis zu zwanzig jüdische Bürger einzuquartieren, welche später deportiert wurden. 58 4.2. Umstände des Verkaufs Bei dem später durchgeführten Wiedergutmachungsverfahren waren vor allem die genauen Umstände des Verkaufs strittig: Der Anwalt von Ferdinand S., der Sohn und Alleinerbe der Eheleute S., wies darauf hin, dass die Stadt nur den Einheitswert für das Gebäude bezahlt habe, welcher üblicherweise um mindestens ein Drittel unter dem Verkaufswert eines Grundstücks läge. 59 Außerdem seien die Eheleute S. zu dem Verkauf gezwungen worden, da die Mozartstraße 5 ½ im Bereich des sogenannten „Gauforumprojekts“ gelegen habe und daher von der Stadt unbedingt benötigt worden sei. 60 Die Stadt widersprach dieser Darstellung teilweise und wies darauf hin, dass angeblich Alfred S. selbst das Gebäude angeboten und auch von sich aus den Einheitspreis des Grundstücks als Kaufpreis vorgeschlagen habe. 61 Jedoch gab die Stadt zu, dass diese das Haus in der Mozartstraße 5 ½ zum damaligen Zeitpunkt für Parteibauten im Rahmen des „Gauforumprojekts“ benötigt habe; gleichzeitig behauptete die Stadt aber, dass der von ihr gezahlte Kaufpreis angemessen gewesen sei. 62 Zwischen den Parteien war unstreitig, dass die Verhandlungen zum Verkauf des Grundstücks Anfang 1939 von Alfred S. zusammen mit seinem Sohn Ferdinand ge- 54 Ebd. 55 S CHMUCKER , Reiheneckhaus Alfred Stein. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben des Dr. R. vom 4.4.1948 an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim. 60 Ebd. 61 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben der Stadt Augsburg vom 4.7.1949. 62 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben der Stadt Augsburg an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben vom 14.2.1949. <?page no="124"?> Tim Benedikt Heßling 124 führt wurden, während auf Seiten der Stadt Verwaltungsdirektor E. mit den Verhandlungen betraut war. 63 Bei einer von der Stadt Augsburg nach dem Krieg durchgeführten schriftlichen Befragung von Verwaltungsdirektor E. stellte dieser die Verkaufsverhandlungen bezüglich der Mozartstraße 5 ½ folgendermaßen dar: 64 „Die Angebote der Juden bezüglich des Erwerbs von jüdischem Grundbesitz wurden fast ausschließlich durch die V.O. vom 3. Dezember 1938 über den Einsatz des jüdischen Vermögens (RGBl. S. 1708/ 38) in Verbindung mit der V.O. über die Anmeldung des jüdischen Vermögens vom 26.4.38 (RGBl. S. 415) ausgelöst. Die nach Art. II § 6 der V.O. vom 3.12.38 Aufforderung an die jüdischen Grundbesitzer zum Verkaufe ihrer Anwesen erging gem. Art. V § 17 der V.O. durch die höhere Verwaltungsbehörde. Die Juden erhielten von der Regierung die Auflage binnen einer Frist ihren Anwesensbesitz abzustoßen. Im Vollzuge dieser Aufforderung erschien Ende Januar oder Anfangs Februar 1939 Herr Alfred S. mit seinem Sohne in dem Büro des Unterfertigten. Herr S. fragte, ob die Stadt am Kaufe des Anwesens Interesse habe. Nach kurzer Rücksprache mit dem Referenten Dr. St. erklärte ich den Herrn: Die Stadt erwirbt gegebenenfalls das Anwesen, was kostet es? S. sen. den ich schon seit Jahren kannte fragte: Darf ich den Einheitswert, das ist 36.100,- RM verlangen? Ich bejahte dies und sagte Herrn S., nachdem er den Einheitswert verlange, übernimmt die Stadt die Kosten der Beurkundung und die Grunderwerbssteuer. S. bemerkte: Aber das Anwesen ist mit ziemlichen Schulden für Waren belastet, wie steht’s damit? Ich erklärte Herrn S., er müsse selbstverständlich zur Freimachung des Anwesens von Hypotheken sorgen; die Stadt werde die Mittel hierfür dem Notare zu treuen Händen überweisen. Vater und Sohn verließen hierauf befriedigt den Amtsraum. Der Kauf kam zustande.“ Somit stellte E. klar, dass die Initiative zum Verkauf der Mozartstraße 5 ½ zwar von der Familie S. ausging, diese aber wohl nur handelte, da sie von der Regierung von Schwaben eine Aufforderung gemäß § 6 Absatz 2 der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 65 erhalten hatte, welche sie zur Veräußerung zwang. Bezüglich des Ablaufs der Verkaufsverhandlungen ist in den Akten auch noch ein Brief von Ferdinand S., welcher an den Verkaufsverhandlungen im Jahr 1939 beteiligt war, an seinen Anwalt Dr. R. vorhanden. 66 Der Brief trägt das Datum vom 22. Juli 1949 und wurde von Ferdinand S. offenbar in Großbritannien abgefasst. 67 In 63 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben des Rechtsamts der Stadt Augsburg an die Wiedergutmachungskammer vom 14.7.1949. 64 StadtAA, L 5/ 574, Bericht des Verwaltungsdirektors E. vom 16.1.1949. 65 RGBl. 1938 I, 1909. 66 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben des Ferdinand S. an Rechtsanwalt Dr. R. vom 22.7.1949. 67 Ebd. <?page no="125"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 125 diesem Schreiben äußert sich S. vor allem kritisch über die Aussagen der Prozessvertreterin der Stadt, Frau Dr. Sp., im damals anhängigen Wiedergutmachungsverfahren und gibt gleichzeitig einen guten Einblick in die persönliche Situation der Juden in Augsburg während der NS-Zeit: 68 „Sehr geehrter Herr Doktor, Aus Ihrem Schreiben v./ 8. Juli 1949 ersehe ich, daß die Stadt Augsburg mit aller Gewalt versucht den Verkauf des Hauses Mozartstr. 5 ½ als ‚freiwillig‘ darzustellen. Das Nazi Gesetz, daß Juden weder Grund noch Boden noch Häuser haben durften war bereits in Kraft. Daß bereits Enteignungen durchgeführt wurden war bekannt. Also was war dann geboten. Einen privaten Käufer zu finden war ausgeschlossen, da das Haus abgerissen werden sollte, da es in dem Projekt des Parteigeländes lag. Auch die Maus geht freiwillig in die Falle, niemand schiebt sie oder drängt sie und so erging es auch den Juden. Man erließ Gesetze wonach sie zu handeln hatten und wenn sie es nicht taten, dann ab mit ihnen so rasch wie möglich. Beispiel: Franz S. und Frau Hausbesitzer der nicht verkaufte, Fritz F. ebenfalls usw. Sie waren die ersten die dafür bezahlen mußten. Es ist traurig, daß eine gebildete Dame, wie ich annehmen muß, ich meine Frau Dr. Sp., immer noch in der Vergangenheit lebt und anscheinend recht wenig von den tatsächlichen Verhältnissen weiß oder wissen will. Nach den Darlegungen von Frau Sp., haben die Juden alle freiwillig gehandelt, politischer Druck ist ihr unbekannt. Freiwillig sind die Juden zum städt. Leihhaus gegangen und haben ihr Gold und Silber und Schmuck und Kunstwerke angeboten, freiwillig sind sie ausgewandert und haben ihren Besitz hinterlassen und freiwillig sind sie in den Gaskammern gestorben, freiwillig sich erschießen lassen, freiwillig den Judenstern getragen, alles nur um den Märtyrertod für das Judentum zu sterben. Und so haben wir freiwillig unser Geschäft verkauft, nachdem der Boykott gegen jüd. Geschäfte sie zum Ruin gebracht haben, und dann sind wir freiwillig ausgewandert nachdem der politische Druck dies bedeutete. Und wer nicht alle Nazi Gesetze freiwillig bis zum Kriegsausbruch Folge geleistet hatte, der war freiwillig auf dem sinkenden Schiff, das zum Tode führte. Wer auch immer auftreten möge, das Wort vom freiwilligen Verkauf kann und darf ich nicht gelten lassen und verstößt gegen jede gute Sitte und Moral, denn was es auch immer war, es war Druck von der einen Seite, die uns in die Hände auf der anderen Seite trieben, und die auf der anderen Seite sprachen dann von Freiwilligkeit. Wie freiwillig wir unsere Auswanderung betrieben ist auch noch zu erwähnen. Wir hatten keine Angehörigen im Ausland, die uns mit Affidavits eine Auswanderung ermöglichten und so haben wir uns voll und ganz auf fremde Hilfe verlassen müssen. Meine Tochter Liesel erhielt ein Permit (Erlaubnisschein) als Kindergärtnerin nach 68 Ebd. <?page no="126"?> Tim Benedikt Heßling 126 England zu kommen, meine Tochter Ilse wurde vom Child Movement Committee gerettet und ich nach meiner Entlassung aus dem freiwilligen Aufenthalts Ort Dachau kam in ein Refugee Camp (Flüchtlingslager) hier in England und wir haben außer unserem Leben G.s.D. gerade etwas Kleider und Wäsche gerettet, für meine sel. Frau war wohl etwas im Gange, doch wollte sie nach U.S.A. auswandern und hoffte daß wir uns dorten wieder vereinen, aber leider war das auch zu spät. Für meine Eltern war weder etwas vorbereitet, noch in naher Aussicht. Und in Anbetracht dieser Tatsachen traut sich jemand zu sagen, dass wir verkaufen mußten, um erstens unsere Schulden und zweitens unsere Auswanderung zu ermöglichen. Unsere Auswanderung ist von dem Konto meiner Kinder bei der Bayer. Vereinsbank beglichen worden und hatte gar nichts mit dem Haus zu tun, da dies ja meinen Eltern gehörte, die dort verblieben. Ich hoffe, daß dies ein klares Bild gibt, und wünsche nur, daß man allmählich lernen möge, daß Hitlerzeiten vorüber sind, wo man Juden gegenüber alle Einwendungen machen kann, auch wenn sie unwahr sind. Sehr geehrter Herr Doktor, ich bitte Sie diesen meinen Standpunkt zu vertreten, denn der entspricht den Tatsachen und nicht das Gerede oder fälschliche Behauptung von Freiwilligkeit.“ Zu den Verkaufsverhandlungen selbst äußerte sich S. mittels eines weiteren Briefes vom 8. August 1949: 69 „Die Verkaufsverhandlungen mit Herrn Verwaltungsdirektor E., waren formal, doch habe ich nach wie vor das innere Empfinden daß Herr Direktor E. sich bewußt war, hier nicht ganz gegen seine Überzeugung zu handeln. Dies ergibt sich aus folgendem: Erstens das Angebot des Einheitswertes, wobei Herr Direktor E. erklärte, daß die Stadt heute bereit wäre den Preis von Mk. 36 000,-zu bezahlen, was aber, falls wir dazu nicht unsere Einwilligung geben könnten, in nächster Zeit sich entwickeln könnte, kann er nicht sagen. Wir wußten dadurch, daß wir mit einer Enteignung zu rechnen [sic] konnten. Dem Wunsche in dem Kaufvertrag das Wohnungsrecht für meine Eltern sicherstellen zu wollen lehnte Herr Direktor E. auch ab, mit der Begründung, daß er das der Stadt gegenüber nicht vertreten könne. Dies bezeichnet allein unter welchen politischen Druck wir standen, wobei ich betonen möchte, daß dafür keine Schuld Herrn Direktor E. zuzuschieben ist, der selbst unter dem Druck der damaligen nationalsozialistischen Regierung stand und so seine Verhandlungen vorgeschrieben waren.“ 70 69 StadtAA, L 5/ 574, Schreiben des Ferdinand S. an Rechtsanwalt Dr. R. vom 8.8.1949. 70 Ebd. <?page no="127"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 127 4.3. Fazit über den Verkauf der Mozartstraße 5 ½ Die obigen Schreiben des Ferdinand S. zeigen auf eindrückliche Weise, dass im Jahr 1939 für jüdische Hauseigentümer letztlich kein Verhandlungsspielraum mehr vorhanden war. Neben dem deutlich spürbaren politischen Druck, waren die jüdischen Hausbesitzer nun aufgrund der verwaltungsrechtlichen Anweisungen der lokalen Regierung auf Grundlage der „Verordnung über den Einsatz des Vermögens von Juden“ nicht mehr in der Lage, über das Ob des Hausverkaufs zu entscheiden, was auch von Verwaltungsdirektor E. in seiner schriftlichen Stellungnahme nicht bestritten wurde. Das zweite Schreiben des Ferdinand S. zeigt, dass hinsichtlich der genauen Umstände des Verkaufs, also bezüglich der möglichen Eintragung eines Wohnrechts für die Eheleute S., sowie der Höhe des Kaufpreises letztlich kein Verhandlungsspielraum für die jüdischen Eigentümer mehr bestand, da die Stadtverwaltung im Ergebnis alles vorgab. Erwähnt werden muss an dieser Stelle auch, dass die Familie S. über den Kaufpreisanteil in Höhe von 15.887,49 RM, welcher von der Stadt auf ein Speerkonto eingezahlt wurde, nicht frei verfügen konnte und diese nur einen Bruchteil des vereinbarten Kaufpreises ausgezahlt bekam. 71 Im Beschluss der Wiedergutmachungskammer vom 13. Juli 1950 bezüglich des Verkaufs der Mozartstraße 5 ½ wurde außerdem festgestellt, dass der Kaufpreis selbst nicht „angemessen“ gewesen sei, da dieser auf dem „Einheitswert“ und eben nicht auf dem „Verkehrswert“ des Grundstücks beruhte. 72 5. Das Anwesen in der Bahnhofstraße 7 5.1. Allgemeines zum Verkauf des Anwesens Bahnhofstraße 7 Im Unterschied zu den bereits vorher besprochenen Immobilienankäufen durch die Stadt Augsburg existieren bezüglich des Kaufs des Anwesens in der Bahnhofstraße 7 neben Akten aus den Wiedergutmachungsverfahren ebenso noch Akten aus der NS- Zeit selbst, aufgrund derer die Verkaufsumstände des Kaufs der Bahnhofstraße 7 sowie die internen Überlegungen der Stadtverwaltung genauer dargestellt werden können. Das Haus in der Bahnhofstraße 7 gehörte den beiden Eigentümern Fanny Mä. und Salomon M. zu gleichen Teilen. 73 Das Haus wurde mit Kaufvertrag vom 23. 71 StadtAA, L 5/ 574, Bericht von Dr. Sp. über den Termin vom 4.11.1949. 72 StadtAA, L 5/ 574, Beschluss der Wiedergutmachungskammer vom 13.7.1950. 73 StadtAA, L5/ 99, Anmeldung beim Zentralmeldeamt Bad Nauheim wegen Rückerstattungsansprüchen vom 23.12.1948. <?page no="128"?> Tim Benedikt Heßling 128 März 1942 zum Kaufpreis von 201.300,00 RM an die Stadt Augsburg verkauft. 74 Beim Verkaufstermin bei dem zuständigen Notar waren die beiden Eigentümer sowie Verwaltungsdirektor E. als Vertreter der Stadt anwesend. 75 Die Stadt Augsburg übernahm die auf dem Gebäude lastende Hypothek in Höhe von 42.500,00 RM. 76 Der Verkauf wurde am 21. Mai 1942 gemäß § 3 der „Zweiten Verordnung über die Durchführung der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ 77 durch den Regierungspräsidenten von Schwaben und Neuburg genehmigt. 78 Die Stadt überwies den jeweiligen Kaufpreisanteil in Höhe von 79.800,00 RM auf die Sperrkonten der beiden Eigentümer. 79 Jedoch konnten beide Eigentümer nicht mehr über die auf die Sperrkonten eingezahlten Gelder verfügen. 80 Salomon M. und Fanny Mä. wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. 81 Beide kamen in den Lagern der Nationalsozialisten um. 82 5.2. Umstände des Verkaufs Aus den überlieferten Akten aus der NS-Zeit ist bekannt, dass die Stadt Augsburg das Gebäude in der Bahnhofstraße 7 aufgrund der städtebaulichen Neugestaltung der Stadt Augsburg erwerben wollte. 83 Das Gebäude gehörte zu einem Neubaubezirk, welcher für die Errichtung eines Zentralhotels gedacht war. 84 Doch auch die Eigentümer hatten spätestens seit Dezember 1938, wohl unter dem Eindruck der „Reichspogromnacht“, versucht, das Gebäude zu verkaufen. 85 Die Eigentümer wollten das Gebäude nur verkaufen, um ihre Auswanderung finanzieren zu können. 86 Dazu hatten die Eigentümer die Immobilienhändler Johann K. und Hugo Kl. beauftragt, wel- 74 StadtAA, L5/ 99, Kaufvertrag vom 23.3.1942. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 RGBl. 1940 I, 188. 78 StadtAA, L5/ 99, Schreiben des Regierungspräsidenten vom 21.5.1942. 79 StadtAA, L5/ 99, Schreiben der Commerz- und Creditbank München vom 2.11.1957, sowie StadtAA, L5/ 99, Schreiben der Oberfinanzdirektion München vom 6.5.1958. 80 Ebd. 81 StadtAA, L5/ 99, Schreiben des Treuhänders für den jüdischen Gemeinde- und Privatgrundbesitz von Augsburg-Stadt und -Land an Rechtsanwalt F. vom 5.4.1950. 82 R ÖMER , „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“, 302, 304. 83 StadtAA, L5/ 99, Internes Schreiben Referat 3 vom 15.4.1941. 84 StadtAA, L5/ 99, Internes Schreiben Referat 3 vom 21.3.1942. 85 StadtAA, L5/ 99, Schreiben des Johann K. an den Oberbürgermeister vom 8.12.1938. 86 StadtAA, L5/ 99, Schreiben des RA F. an die Wiedergutmachungsbehörde Augsburg vom 6.2.1950. <?page no="129"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 129 che der Stadt Augsburg das Gebäude anboten, aber offensichtlich keinen Ankauf erreichen konnten. 87 Ein Verkauf des Gebäudes an Privatpersonen erwies sich als unmöglich, da bekannt war, dass das Gebäude im Bereich der städtischen Neugestaltung lag und somit wahrscheinlich zukünftig enteignet werden würde. 88 Warum die Stadt mit einem möglichen Ankauf solange zögerte, lässt sich aus den Akten nicht entnehmen. Dokumentiert ist jedoch, dass die Stadtverwaltung im Jahr 1942 erfuhr, dass Salomon M. deportiert werden sollte. 89 In einem internen Vermerk am 21. März 1942 wurde hierzu folgendes notiert: 90 „Nachdem von der geheimen Staatspolizei dem Juden M. Auftrag erteilt worden ist die Wohnung in seinem Anwesen zu räumen, ist zu fürchten, daß das Anwesen baldigst in den Besitz des Reiches übergehen würde. Es ist daher unbedingt notwendig, daß sich die Stadt das Anwesen vorher sichert.“ Zwei Tage später, am 23. März 1942, kaufte die Stadt Augsburg das Gebäude in der Bahnhofstraße 7 von den Eigentümern an. 91 Die Stadt zahlte hierfür, wie bereits erwähnt, den Einheitswert in Höhe von 201.300,00 RM. 92 Der Verkaufswert des Grundstücks lag laut einem internen Vermerk des städtischen Liegenschafts- und Vermessungsamts vom 3. Februar 1939 bei ca. 270.000,00 RM. 93 5.3. Fazit über den Verkauf des Anwesens Bahnhofstraße 7 Der vorliegende Fall zeigt, dass jüdische Immobilieninhaber seit der „Reichspogromnacht“ faktisch keine Möglichkeit mehr hatten, frei über ihren Immobilienbesitz zu verfügen. Im Unterschied zu dem Verkauf des Anwesens in der Mozartstraße 5 ½ musste beim Verkauf des Gebäudes in der Bahnhofstraße 7 nicht einmal die Möglichkeit eines Zwangsverkaufs auf Grundlage der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ 94 genutzt werden. Da offensichtlich stadtbekannt war, dass das Gebäude in der Bahnhofstraße 7 enteignet werden sollte, konnten die Eigentümer das Haus faktisch nur noch an die Stadt Augsburg verkaufen, da private Käufer scheinbar eine baldig e Beschlagnahmung des Hauses befürchteten. Für die Eigentümer, welche auswandern wollten, war die gesamte Situation extrem schwierig, da diese ohne einen 87 StadtAA, L5/ 99, Schreiben des Johann K. an den Oberbürgermeister vom 8.12.1938, sowie Schreiben des Hugo Kl. vom 30.1.1939. 88 StadtAA, L5/ 99, Schreiben des Rechtsanwalts F. an die Wiedergutmachungsstelle vom 27.6.1950. 89 StadtAA, L5/ 99, Internes Schreiben Referat 3 vom 21.3.1942. 90 Ebd. 91 StadtAA, L5/ 99, Kaufvertrag vom 23.3.1942. 92 Ebd. 93 StadtAA, L5/ 99, Interner Vermerk des städtischen Liegenschafts- und Vermessungsamts vom 3.2.1939. 94 RGBl. 1938 I, 1709. <?page no="130"?> Tim Benedikt Heßling 130 Verkauf ihres Hauses nicht die bei Auswanderung fällige „Reichsfluchtsteuer“ zahlen konnten. 95 Warum die Stadt mit einem möglichen Ankauf so lange zögerte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Bekannt ist nur, dass die Stadt Augsburg innerhalb von zwei Tagen den Ankauf der Immobilie durchführte, nachdem bekannt geworden war, dass einer der Eigentümer deportiert werden sollte. Die Stadt fürchtete offenbar, dass die „Bahnhofstraße 7“ dem Reich zufallen könnte, was aufgrund der Regelungen der „Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ 96 wahrscheinlich auch passiert wäre. Insoweit musste die Stadt davon ausgehen, dass sie bei Übernahme des Grundstücks durch die Reichsbehörden den vollen Verkehrswert hätte zahlen müssen, während die unter Druck stehenden jüdischen Eigentümer bereit waren, das Gebäude auf Grundlage des Einheitspreises, 97 welcher üblicherweise deutlich unter dem Verkehrswert liegt, zu verkaufen. 6. Zusammenfassung Diese kurze Darstellung ausgewählter Beispiele von „arisierten“ Gebäuden in Augsburg zeigt zum einen, dass die Stadt Augsburg von der Zwangslage der jüdischen Bevölkerung profitierte, und zum anderen, dass sich die rechtliche und wirtschaftliche Position der jüdischen Eigentümer, ähnlich wie die der Juden im gesamten Reichsgebiet, mit zunehmender Radikalisierung stetig verschlechterte: Während beim Verkauf des Anwesens in der Heilig-Grab-Gasse 2 im Jahr 1936 noch gewisse Verhandlungsoptionen für die jüdischen Eigentümer vorhanden waren, war dies beim Verkauf der Mozartstraße 5 ½ im Jahr 1939 schon nicht mehr der Fall. Außerdem konnten die ehemaligen Eigentümer der Mozartstr. 5 ½ faktisch nur in sehr begrenztem Umfang über den Kaufpreis verfügen. Beim Verkauf des Anwesens der Bahnhofstraße 7 im Jahr 1942 hatten die Eigentümer letztlich gar keine Möglichkeiten, auf den Verkauf Einfluss zu nehmen, konnten nicht mehr über den Kaufpreis verfügen und wurden kurze Zeit später deportiert. Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass die Verwaltung der Stadt Augsburg die Zwangslage der jüdischen Bevölkerung nicht nur passiv zur Kenntnis nahm, sondern auch aktiv versuchte, sich der Grundstücke der Deportierten zu bemächtigen, bevor diese den Reichsinstitutionen in die Hände fielen. 95 StadtAA, L5/ 99, Internes Schreiben Referat 3 vom 24.4.1941. 96 RGBl. 1941 I, 722. 97 S IMON / C ORS / T ROLL , Handbuch der Grundstückswertermittlung, 19f. <?page no="131"?> Zur „Arisierung“ von Immobilien durch die Stadt Augsburg 131 Quellen und Literatur Archive Staatsarchiv München (StAM): OLG München / 302 (Oberlandesgericht München, Staatsbürgerrecht im Allgemeinen) (enthält Rundschreiben des Reichsjustizministers vom 19. März 1936). Stadtarchiv Augsburg (StadtAA) - Bestand L 5/ 99 (Liegenschaftsamt, Bahnhofstraße 7) (enthält Unterlagen zum Kauf der Bahnhofstraße 7 in Augsburg sowie zu Restitutionsverfahren nach Kriegsende bis 1958). - Bestand L 5/ 305 (Liegenschaftsamt, Heilig-Grab-Gasse 2) (enthält Unterlagen zum Kauf der Heilig-Grab-Gasse 2 in Augsburg sowie zu Restitutionsverfahren nach Kriegsende bis 1951). - Bestand L 5/ 574 (Liegenschaftsamt, Mozartstraße 5 ½) (enthält Unterlagen zum Kauf der Mozartstraße 5 ½ in Augsburg sowie zu Restitutionsverfahren nach Kriegsende bis 1949). - Bestand 50/ 19 (Rechtsamt) (enthält Übersichtslisten zum Immobilienerwerb aus „jüdischem Besitz“ durch die Stadt Augsburg; Schriftverkehr mit verschiedenen städtischen Mitarbeitern zu Nachforschungen über „Arisierungen“ nach Kriegsende bis 1963). Literatur A DAM , U WE D IETRICH : Judenpolitik im Dritten Reich, Nachdruck, Düsseldorf 2003. B AJOHR , F RANK : „Arisierung“ in Hamburg. 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Zur „Arisierung“ von Immobilien durch Städte und Gemeinden 1938-1945, in: I RMTRUD W OJAK / P ETER H AYES (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000, 125-156. H OCKERTS , H ANS G ÜNTHER / K ULLER , C HRISTIANE : Von der wirtschaftlichen Verdrängung zur Existenzvernichtung. Dimensionen der „Arisierung“, in: W OLF- GANG S TÄBLER (Red.), Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution. Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven, München 2007, 21-37. K ÖHLER , I NGO : „Arisierung“ von Privatbanken im Dritten Reich, München 2005. O PHIR , B ARUCH Z./ W IESEMANN , F ALK (Hrsg.): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918-1945. Geschichte und Zerstörung, München 1979. R ÖMER , G ERNOT (Hrsg.): „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“. Die Rundbriefe des Rabbiners Ernst Jacob 1941-1949, Augsburg 2007. R UMMEL , W ALTER : Die Enteignung der Juden als bürokratisches Verfahren. 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Wann wird aus Recht Unrecht? “ 1 Die Stadt Memmingen erwarb während der nationalsozialistischen Herrschaft zahlreiche Immobilien von jüdischen Mitbürgern. Diese Vorgänge hat bereits Paul Hoser in seiner Geschichte der Stadt Memmingen in einem eigenen Kapitel erstmals nachgezeichnet. Dabei wurde deutlich, dass die Memminger Stadtverwaltung - und hier hauptverantwortlich der Erste Bürgermeister Heinrich Berndl - systematisch die Verfolgungssituation ihrer jüdischen Mitbürger zu ihren Gunsten ausgenutzt und die Immobilien deutlich unter dem Verkehrswert, häufig unter dem Einheitswert erwarb. 2 In diesem Beitrag soll die Restitution von Immobilien untersucht werden, welche von der Stadt Memmingen direkt oder mittelbar aus jüdischem Privatbesitz 3 während der nationalsozialistischen Herrschaft erworben wurden. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Welche Personen bzw. Institutionen waren an diesem Restitutionsprozess beteiligt? Welche Rolle spielten sie und welche Interessen verfolgten sie? Welche Argumentationslinien lassen sich feststellen? Zuvor jedoch einige Hinweise auf die rechtliche Grundlage der Restitutionen. Die Besatzungsdirektive JCS 1067 vom April 1945 und schließlich die im Militärregierungsgesetz (MRG) 52 festgeschriebene Property Control schufen die ersten Vo- 1 S CHWARZ , Rückerstattung, 107f. 2 H OSER , Geschichte der Stadt Memmingen, 218-222. Dabei wird deutlich, dass Berndl als Erster Bürgermeister und als Mitglied des Verwaltungsrats der Stadtsparkasse Memmingen „Arisierungen“ auch dann mit verantwortete, wenn nicht die Stadt, sondern andere die Nutznießer waren, vgl. dazu auch u.a. ebd. 205-218, und J ANETZKO , „Arisierung“, 60, 69-72, 80- 99, 196, 210f. Die Bewertung der Rolle von Heinrich Berndl durch Paul Hoser kann die Autorin aufgrund der Beschäftigung mit den Akten zu diesem Beitrag vollumfänglich bestätigen. Aber auch Janetzko kommt zu diesem Schluss (ebd., 329). Paul Hoser standen damals noch nicht alle Akten zur Verfügung, welche die „Arisierung“ und Restitution von Immobilien durch die Stadt behandeln und die die Autorin dieses Beitrags im Stadtarchiv Memmingen benutzen konnte. Denn nach Abschluss der Forschungen von Paul Hoser hatte die Registratur weitere Akten an das Archiv abgegeben. 3 Nicht thematisiert wird der bereits veröffentlichte Vorgang zum jüdischen Friedhof, der der Jüdischen Kultusgemeinde gehört hatte. Hierzu W IRSCHING , Jüdische Friedhöfe. <?page no="134"?> Katrin Holly 134 raussetzungen. Während des Nationalsozialismus aus jüdischem Besitz erworbene bewegliche und unbewegliche Vermögensgegenstände mussten bei der Militärregierung angemeldet werden und wurden unter Vermögensverwaltung durch einen Treuhänder gestellt. Das bedeutete, dass die Erwerber (Antragsgegner) zwar noch das Eigentum an diesen Vermögensgegenständen behielten, bis die Restitutionsverfahren abgewickelt waren, aber die Verfügungsberechtigung darüber entzogen wurde. 4 In Memmingen übte sehr häufig der zurückgekehrte jüdische Mitbürger Hugo Günzburger dieses Amt aus. Gesetzlich geregelt wurde die eigentliche Rückerstattung geraubten Eigentums, das auch Immobilien umfasste, in der amerikanischen Besatzungszone im November 1947 mit dem MRG 59 (auch REG genannt). 5 Dieses sah zahlreiche Tatbestände als Entziehung von Vermögen der Verfolgten vor. „Entziehung war entweder Wegnahme unter Zwang oder Weggabe unter Zwang.“ 6 Entscheidend war die Tatsache, dass bei der Wegnahme „der Besitzer nicht gefragt“ 7 und er bei der Weggabe zwar selbst den Entschluss fasst, der Entschluss aber unfrei ist. Das Motiv zur Weggabe musste man „aus äußeren Vorgängen erschließen.“ 8 Dazu zählten zum einen eine „unerlaubte Handlung nach dem bürgerlichen Recht (z.B. sittenwidriges Rechtsgeschäft, Drohung, widerrechtliche Wegnahme etc.),“ aber auch, wenn eine „ Abtretung oder Veräußerung ‚durch Staatsakt‘ (Verfallerklärung etc.)“ oder „durch eine Maßnahme der NSDAP erzwungen worden war.“ Zudem wurde eine „gegen die guten Sitten verstoßende rechtsgeschäftliche Veräußerung“ wie der Notverkauf eines Grundstücks aufgrund einer Auswanderung so gewertet. 9 Bei Zwangsversteigerungen wurde darauf geachtet, ob die Vollstreckungsmaßnahme verfolgungsbedingt und auf Diskriminierung beruhte. 10 Es wurde auch geprüft, ob die ursprünglichen Besitzer überhaupt noch über das Kaufgeld selbst verfügen konnten, beispielsweise wenn es auf ein Sperrkonto eingezahlt worden war. Die Rückerstattungspflicht traf grundsätzlich nicht nur den Erst-, sondern auch den Nacherwerber. Als bösgläubiger Nacherwerber galt, wenn er wusste oder wissen konnte, unter welchen Umständen der Gegenstand entzogen worden war. 11 Wie in der Tabelle im Anhang aufgelistet, konnten zehn Immobilienkomplexe - fünf Gebäude und fünf unbebaute Grundstückskomplexe - identifiziert werden, 4 Dazu W INSTEL , Gerechtigkeit, 19-24. 5 Ebd., 25. 6 S CHWARZ , Rückerstattung, 145. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 W INSTEL , Gerechtigkeit, 25. 10 S CHWARZ , Rückerstattung, 153. Zu den Schwierigkeiten bei der Feststellung dieses Sachverhalts und der Entwicklung der Rechtsprechung ebd., 153-158. 11 Ebd., 147f. <?page no="135"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 135 welche die Stadt Memmingen zwischen 1933 und 1945 „arisiert“ hatte. 12 Nach dem Restitutionsverfahren der Nachkriegszeit waren die Eigentumsverhältnisse folgendermaßen: drei Gebäude (Bahnhofstraße 6, Krautstraße 8, Kramerstraße 12) und drei unbebaute Grundstücke (Garten von der Firma Max Günzburger, Garten der Familie Pick, Baugrundstück von Rosenbaum Benno) wurden wieder an ihre früheren Eigner bzw. deren Erben zurückgegeben, wobei die Stadt das Gebäude Krautstraße 8 den Erben rasch erneut abkaufte. Zwei Gebäude (Herrenstraße 22 und Kalchstraße 47 und 47 1/ 2) und die zwei unbebauten Grundstücke von Rosenbaum Wilhelm konnte die Stadt gegen finanzielle Entschädigung behalten. 13 1. Beteiligte Personen und Institutionen An den Restitutions- und Wiedergutmachungsverfahren beteiligt waren die Anspruchsberechtigten bzw. die Antragsteller; das konnten die überlebenden ehemaligen jüdischen Besitzer oder deren Erben sein. Selten verhandelten die Berechtigten direkt mit der Stadtregierung, wie anfangs Edgar Pick und Hugo Günzburger. Aber diese schalteten wie die anderen Berechtigten im Rückerstattungsverfahren rasch Juristen ein. Von Seiten der Stadtgemeinde Memmingen leitete zunächst in erster Linie der Stadtrechtsrat bzw. Stadtsyndikus als Leiter der Abteilung II das Verfahren. Dies war zunächst Dr. Gustav Hilk, der erst nach Kriegsende in städtische Dienste getreten war und im April 1950 als Staatsanwalt zurück in den Staatsdienst ging. Er war also in die Geschehnisse vor 1945 in der Stadt Memmingen nicht involviert, ganz im Gegenteil zu seinem Nachfolger Dr. Heinrich Berndl, der von 1931 bis 1945 Erster Bürgermeister der Stadt Memmingen gewesen war. 14 Berndl wurde nach Abschluss seines Spruchkammerverfahrens als sogenannter Entlasteter im Oktober 1948 in der Stadt wieder eingestellt, zunächst als Leiter der Abteilung III. 15 In dieser Zeit wurde durch 12 Ein Objekt hatte die Unterhospitalstiftung der Stadt Memmingen erworben. Es wurde in die Untersuchung mit aufgenommen, weil die Unterhospitalstiftung von der Stadt Memmingen im Sinne der Interessen der Stadt (im Rahmen des Stiftungsrechts und -zwecks) verwaltet wurde. 13 Es kann hier also nicht davon die Rede sein, dass das Restitutionsverfahren das Ergebnis der „Arisierung“ zementierte (L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 146), wenn man das Ergebnis von den Eigentumsverhältnissen her betrachtet. Allerdings waren weitere jüdische Immobilien in Memmingen in andere Hände gekommen. Wenn man diese in die Untersuchung einbeziehen würde, ergäbe sich vermutlich ein anderes Bild. 14 Zu Berndl als Bürgermeister und seine Rolle im Geflecht nationalsozialistischer Herrschaft in dieser Zeit H OSER , Spielraum, insb. 185-195, 214-218. 15 Dr. Heinrich Berndl (1887-1973), in München aufgewachsen, Jurist, 1916 Staatsprüfung für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst, 1917 bis 1920 Leiter des Kommunalverbands <?page no="136"?> Katrin Holly 136 die Stadtverwaltung bei Berndl wiederholt nach den Umständen der Erwerbung der Objekte, also direkt bei der Person, die in allen Vorgängen der „Arisierung“ federführend beteiligt gewesen war, angefragt. Offenbar war dies nicht nur der Fall, weil man bei Berndl eine persönliche Kenntnis der Erwerbungsvorgänge vermutete, sondern auch, weil der Abteilung III das Liegenschaftsamt zugeordnet war. 16 Als Nachfolger von Gustav Hilk 17 wurde Berndl am 30. März 1950 vorläufig als kommissarischer Abteilungsleiter und schließlich zum 1. Januar 1951 als Rechtsrat bzw. Stadtsyndikus der Abteilung II berufen. 18 Berndl war somit seit März 1950 direkt für die Restitutionsverfahren zuständig. Nachdem er im November 1952 wegen Erreichen der Altersgrenze pensioniert worden war, 19 gewann er noch 1952 die Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Memmingen. Damit war einer der Haupttäter der Entziehungsvorgänge während der nationalsozialistischen Herrschaft leitend mit den Restitutionsverfahren betraut. Berndl vertrat bereits am 19.4.1950 die Stadt Memmingen vor der Wiedergutmachungsbehörde, als in einem Gütetermin die Restitution einer Immobilie an die Erben von Max und Rosa Guggenheimer verhandelt wurde. 20 Auch die Verhandlungen über das Gebäude in der Kalchstraße 47 und 47½ führte er bis zum Abschluss des Vergleichs im Oktober 1950 persönlich. Er sah sich dabei harten persönlichen beim Bezirksamt Deggendorf, seit Juli 1920 im Staatsdienst, am 1. Oktober 1920 Ernennung zum Bezirksamtmann in Mindelheim. Das Angebot des Stadtrats Mindelheim 1924 für die Stelle des Ersten rechtskundigen Bürgermeisters kann er nicht annehmen, weil er nicht aus dem Staatsdienst entlassen wird. Wahl zum rechtskundigen Stadtrat der Stadt Memmingen am 14. Mai 1926, am 27. November 1931 Wahl zum berufsmäßigen Ersten Bürgermeister, Amtsantritt am 1. Januar 1932. Berndl bleibt auch über 1933 hinaus im Amt, er wird erst nach Kriegsende am 4. Juni 1945 abgesetzt. 1948 Entnazifizierungsverfahren als Entlasteter beendet. Berndl beantragt bei der Stadt Memmingen Wiedereinstellung unter gleichzeitiger Versetzung in den Ruhestand. Es müsste in diesem Fall die Stadt und nicht der Versorgungsverband die Pensionsbezüge zahlen. Er wird als Abteilungsleiter wiedereingestellt. StdM, Personalakt Heinrich Berndl. 16 Hier nur zwei Beispiele: StdM EAPL B1 063(R), Nr. 2, Vormerkung Berndl an Abteilung II und Liegenschaftsamt, 19.5.1949; ebd. B2 063(2), Nr. 21, Vormerkung Berndl an Hilk, 9.7.1949. Hinweis: Zur Zitierweise der Akten aus dem Stadtarchiv Memmingen vgl. die Erläuterung am Schluss unter Archive. 17 StdM, Personalakt Heinrich Berndl, Bürgermeister Fey an die Regierung von Schwaben, 21.3.1950. 18 Ebd., Verfügung Oberbürgermeister Riedmiller vom 30.3.1950, Oberbürgermeister Riedmiller an Berndl, 8.1.1951. 19 Ebd., Beschluss des Personalsenats Nr. 37 vom 28.1.1953. 20 StdM, EAPL B1 063(R), Nr. 2, Vollmacht von Oberbürgermeister Riedmiller, 17.4.1950, und Niederschrift der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 19.4.1950. <?page no="137"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 137 Vorwürfen ausgesetzt. 21 Vermutlich sorgte er aufgrund dieser Erfahrung im November 1950 dafür, dass er die Angelegenheiten nur noch intern in der Stadtverwaltung bearbeitete: Berndl schlug anlässlich des Wiedergutmachungsverfahrens wegen der Kramerstraße 12 den Rechtsanwalt Wilhelm Rauh vor, der die Stadt Memmingen nach außen vor der Wiedergutmachungsbehörde und den Antragstellern vertrat. 22 Rauh, Mitglied der FDP, war seit 1948 im Stadtrat und fungierte in der Wahlperiode von 1952 bis 1956 als ehrenamtlicher Zweiter Bürgermeister. 23 Innerhalb der Stadtverwaltung war Berndl weiterhin neben Rauh Berichterstatter im Stadtrat und nahm weiterhin Einfluss auf die Verhandlungsinhalte. Berndl wurde zudem in einem Verfahren, in dem es zu einer Beweisaufnahme wegen des Ablaufs der „Arisierung“ kam, als Zeuge vor die Wiedergutmachungskammer vorgeladen. 24 Die letzte Entscheidung über die ausgehandelten Restitutionsvergleiche traf der Memminger Stadtrat. Hilk und Berndl legten - meist in vorheriger Absprache mit den Bürgermeistern - Empfehlungen vor. Die Bürgermeister waren bei Abstimmungsbedarf auch die ersten Ansprechpartner für Hilk und Berndl. Von deren Votum hing es ab, ob ein Vorgang dem Stadtrat zum Entscheid vorgelegt wurde. Insofern hatten auch die Bürgermeister Einfluss auf die Verfahren, doch ist dieser in den Akten nur indirekt erschließbar. Nach der Absetzung von Heinrich Berndl wurde der Tapeziermeister Georg Fey am 15. Mai 1945 von der Militärregierung als Erster Bürgermeister berufen. Fey war bereits von 1926 bis 1929 ehrenamtlicher Zweiter Bürgermeister gewesen und bekleidete danach bis 1945 kein öffentliches Amt mehr. Er wurde auch bei den Kommunalwahlen 1946 als Erster Bürgermeister bestätigt. Als 1948 Lorenz Riedmiller in dieses Amt gewählt wurde, wurde Fey Zweiter Bürgermeister und blieb dies bis zu seinem Ruhestand 1952. 25 21 Vgl. den Akt mit den Verhandlungen wegen der Immobilien Kalchstraße 47 und 47 ½ in StdM, EAPL B1 063(R), Nr. 5, darin v.a. Vormerkung Berndl 17.5.1950, 5.7.1950, und Berndl an Rechtsanwalt Harnisch 21.9.1950, 14.10.1950. Die Vorwürfe an Berndl ebd., Rechtsanwalt Harnisch an Berndl, 28.9.1950, 29.9.1950, und Reaktion von Berndl an Harnisch, 14.10.1950. Dazu Abschnitt 3 dieses Beitrags. 22 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Beschluss des II. Senats, 3.11.1950: „III. Dr. Berndl hat nach Rücksprache mit den beiden Bürgermeistern den RA Dr. Rauh für die Durchführung des Streitverfahrens mit Pick vorgeschlagen und Zustimmung hiezu erhalten.“ 23 Dr. Wilhelm Alfred Rauh (13.1.1888-4.8.1957), gebürtiger Memminger, FDP, Mitglied im Memminger Stadtrat von 1948 bis zu seinem Tod, 1952 bis 1956 Zweiter Bürgermeister. Vorstandsmitglied (1948-1952) und Mitglied des Verwaltungsrats (1952-1957) der Kreis- und Stadtsparkasse Memmingen, Mitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft: Internetseite Stadtarchiv Memmingen, Publikationen, Dokumentation Räte, Ratsmitglieder 1946- 2014 (Stadtrat), Rauh, Wilhelm Alfred. 24 So im Restitutionsverfahren zur Kramerstraße 12: StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Protokoll der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 12.11.1951. 25 Georg Fey (28.12.1882-2.10.1959), geboren in Memmingen, Tapeziermeister, Mitglied im Stadtrat 1919 bis 1924 für die Bürgerlichen, von 1925 bis 1929 für den Katholikenverband, <?page no="138"?> Katrin Holly 138 Der Publizist Lorenz Riedmüller (1880-1960), der in Memmingen aufgewachsen war und die Stadt als junger Mann verlassen hatte, war seit 1903 aktiver Sozialdemokrat. Er war Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung und danach auch des Reichstags. 1922 trat er als Stadtverordneter in die Dienste der Stadt Köln ein. Nach 1933 wurde er mehrfach verhaftet und schließlich im April 1945 aus dem Konzentrationslager Dachau befreit. Ab 1946 war er zunächst Landtagsabgeordneter für den Wahlkreis Mindelheim, bis er 1948 in Memmingen als Erster Bürgermeister gewählt wurde. Bei der Kommunalwahl 1952 unterlag er erst im zweiten Wahlgang knapp seinem Konkurrenten Heinrich Berndl. 26 2. Verfahren, Streitpunkte und Argumentationslinien 2.1. Die Anerkennung der Berechtigung einer Restitutionsforderung durch die Stadt Jüdische Bürger, die in die Stadt zurückkehrten und sich in Memmingen wieder eine Existenz aufbauten, wie Hugo Günzburger, wollten in der Regel die Immobilien zurückerstattet haben und beanspruchten Schadensersatz für entgangene Nutzungen und Wertminderungen, samt Zinszahlungen. Hugo Günzburger nahm nach seiner Rückkehr 1946 sofort wieder die Grundstücke der Familie in Besitz, also noch bevor überhaupt eine Gesetzesgrundlage für die „Wiedergutmachung“ geschaffen war. Für den Gartengrundstücksanteil, den die Stadt Memmingen zur Verwendung als Schulgarten 1940 gekauft hatte (den Rest des Grundstücks und das Wohngebäude hatte ein Privatmann erworben) zahlte er bis zum Abschluss des Restitutionsverfahrens eine Pacht. Bürgermeister Fey ließ das Grundstück auf Günzburgers Bitte hin sofort durch von 1946 bis 1952 für die CSU; Wahl zum Zweiten Bürgermeister 1926, da der Vorgänger verstorben war. Die Wahlperiode lief am 29. Dezember 1929 ab. Die Stelle des Zweiten Bürgermeisters wurde nicht mehr besetzt und eingespart. Zu Georg Fey StdM, Personalakt Bürgermeister Fey Georg; Auskunft Christoph Engelhard, Stadtarchiv Memmingen, (e-mail vom 24.5.2018) sowie die Internetseiten: Stadtarchiv Memmingen, Publikationen, Dokumentation Räte, Ratsmitglieder 1919-1945 (Stadtrat), Fey, Georg; ebd. Ratsmitglieder 1946-2014 (Stadtrat), Fey, Georg; H OSER , Geschichte der Stadt Memmingen, 162-164. 26 Ich danke Christoph Engelhard, Stadtarchiv Memmingen, für die Auskunft über Lorenz Riedmiller (E-Mail vom 24.5.2018), die mir weitere Recherchen ermöglichte. Zu Riedmiller Internetseite: Haus der Bayerischen Geschichte, Themen und Suche, Parlamentarismus, Geschichte des Bayerischen Parlaments seit 1819, Personen nach Namen, Riedmiller Lorenz; Stadt Memmingen, Aktuell, Presse, Archiv, Pressemeldung vom 18.10.2013; Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten, Riedmiller Lorenz. <?page no="139"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 139 die Stadtgärtnerei in den ursprünglichen Zustand zurück versetzen. 27 Im Wesentlichen ging es dabei um einen entfernten größeren Obstbaumbestand. 28 Doch die Stadtverwaltung anerkannte nicht immer sofort eine Rückgabebzw. Restitutionsverpflichtung. In vier Fällen war sie zunächst der Meinung, dass ein Rückerstattungsanspruch nicht bestand, wie bei der Herrenstraße 22. Fey machte geltend, dass die Stadt das Objekt aus einer angeblich schon seit Jahren angebotenen Konkursmasse gekauft habe, somit eine völlig „reguläre Transaktion“ gewesen sei und nicht mit „den nach dem November 1938 einsetzenden Zwangsmaßnahmen gegen das jüdische Eigentum gleichzustellen ist.“ 29 Die Recherchen anlässlich der Restitutionsansprüche ergaben jedoch, dass dies nicht stimmte und die Immobilie zudem mit 22.000 RM deutlich unter dem Einheitswert von 51.000 RM erworben worden war. Die Herrenstraße 22 hatte ursprünglich je zur Hälfte den Geschwistern Siegfried und Paula Einstein gehört. Siegfried Einstein war kinderlos am 26.5.1935 verstorben und hatte seine Haushälfte an die Schwester Paula vererbt, die wegen angeblicher Überschuldung der Haushälfte das Erbe ausschlug. Der Nachlassverwalter bot die Haushälfte des Siegfried danach den weiter in Frage kommenden Erben an, die alle wegen der Überschuldung das Erbe ausschlugen, darunter auch die nichtjüdische Witwe von Siegfried. Diese meldete nach dem Krieg trotzdem Restitutionsansprüche an, denn der inzwischen verstorbene Nachlassverwalter habe sie als „arische“ Ehefrau eines Juden in rassistischer Weise verbal gedemütigt und sie so zum Erbverzicht gedrängt. Außerdem habe er den Verkauf des Hauses so lange hinausgezögert, bis nur noch ein schlechter Preis zu erzielen war. Sie musste das Haus verlassen und sei ohne Geld von der Gnade ihrer Geschwister abhängig gewesen. 30 Die Wiedergutmachungskammer wies explizit auf Art. 79 des MRG 59 hin. Laut diesem war es bei Erbschaftsausschlagung, die rassistisch und verfolgungsbedingt begründet war, möglich, diese anzufechten, doch das hätte bis zum 31. Dezember 1948 erfolgen müssen. Die Antragstellerin hatte diese Vorschrift nicht gekannt und die Frist verpasst. Deshalb wies das Gericht ihren Restitutionsanspruch ab. 31 Die Stadt Memmingen war damit unangefochtene Eigentümerin einer Haushälfte. Bestehen blieb der Anspruch der Erbin der zweiten Haushälfte von Paula Einstein. Die Bank hatte wegen einer Annuitätenforderung auf 27 Den restlichen Schaden musste der private Käufer beheben: StdM, EAPL B2 063(2), Nr. 21, Beschluss von Georg Fey, 3.7.1946, und Georg Fey an Hugo Günzburger und Dr. Zett, 3.7.1946. 28 Ebd., Hugo Günzburger an den Bürgermeister der Stadt Memmingen, 7.6.1946. 29 StdM, EAPL B1 333(R), Nr. 1, Erster Bürgermeister Fey an das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, 23.6.1947 (Zitat) und 17.4.1947. 30 StdM, EAPL B1 063(1), Nr. 6a, Centa [Kreszenz] Kremmer an Hugo Günzburger, 17.7.1946, und ebd., B2 063(1), Nr. 4, Beschluss der Wiedergutmachungskammer vom 20.2.1951. 31 StdM EAPL B2 063(1), Nr. 4, Beschluss der Wiedergutmachungskammer vom 20.2.1951. Zur Beurteilung der Verfolgung nichtjüdischer Ehepartner S CHWARZ , Rückerstattung, 126f. <?page no="140"?> Katrin Holly 140 dem Hausteil von Siegfried einen fragwürdigen Zwangsverkauf der gesamten Immobilie erzwungen. Die Stadt hatte deutlich weniger als den Einheitswert bezahlt. Rechtsanwalt Rauh machte dem Stadtrat klar, dass deshalb ein Entzug vorliege und „die Verpflichtung zur Zurückgabe“ dieser Haushälfte unbestritten gegeben sei. 32 Auch für das von der Familie Pick erworbene Gartengrundstück und deren Wohn- und Geschäftshaus Kramerstraße 12 wollte Fey zunächst keine Pflicht zur Rückerstattung erkennen. Den Garten hatte zunächst ein Memminger Bürger erworben, der ihn später an die Stadt weiterverkaufte. Deshalb stufte 1947 Fey den Erwerb als rechtmäßig ein. Nachdem klar geworden war, dass das MRG 59 auch Nacherwerber in die Rückerstattungspflicht einschloss, zumal die Stadt die Hintergründe der Herkunft kannte, verlegte sich die Stadt darauf, dass Pick die Grundstücke aus wirtschaftlichen Gründen freiwillig verkauft hätte und ein angemessener Preis bezahlt worden sei. 33 Die Immobilien waren jedoch wegen der nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Familie Pick unter Wert verkauft worden. 34 Es lag eindeutig eine Weggabe unter Zwang vor. Rechtsrat Hilk musste nach zwei Verhandlungsrunden bei der Wiedergutmachungsbehörde im März 1950 einsehen, dass die Position der Stadt nicht zu halten war und es sehr teuer werden könnte, wenn die Stadt sich nicht auf einen Vergleich einließe. 35 Auch bei den Grundstücken aus dem Besitz von Wilhelm Rosenbaum musste die Stadt einlenken. Die Antragstellerin konnte das Argument, dass diese 1935 aus wirtschaftlichen Gründen und nicht verfolgungsbedingt verkauft worden waren, widerlegen. 36 2.2. Der Vergleich als oberstes Ziel Oberstes Ziel war, einen Vergleich zu erreichen, der vor der Wiedergutmachungsbehörde protokolliert werden musste. Sah die Wiedergutmachungsbehörde oder eine der Streitparteien keine Chancen auf eine gütliche Einigung, wurde das Verfahren an die Wiedergutmachungskammer am Landgericht Augsburg verwiesen. Auch diese gerichtliche Instanz arbeitete zunächst immer auf einen Vergleich hin, ansonsten leitete 32 StdM EAPL B2 063(1), Nr. 4, Wilhelm Rauh an den Stadtrat Memmingen, 18.11.1950. 33 StdM EAPL B1 333(R), Nr. 1, Erster Bürgermeister Fey an das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, 17.4.1947. Vgl. auch ebd., B1 063(R), Nr. 8, Rechtsrat Hilk an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 30.11.1949, und Notiz von Hilk über die Verhandlung bei der Wiedergutmachungsbehörde am 10.1.1950, 12.1.1950. 34 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 8, Rückerstattungsantrag von Edgar Pick an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 5.12.1948, sowie Rechtsanwalt Ludwig Dreifuß an Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 26.1.1950. 35 Ebd., Vormerkung Rechtsrat Hilk, 15.3.1950. 36 Vgl. dazu die Ausführungen unter 2.3. <?page no="141"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 141 sie umfänglichere Beweiserhebungen ein und kam zu einem Beschluss. Ein Vergleich konnte von den Parteien direkt, aber auch unter Mitwirkung der Wiedergutmachungsbehörde bzw. -kammer ausgehandelt beziehungsweise von diesen vorgeschlagen werden. 37 Bei allen ausgewerteten zehn Fällen wurde ein Vergleich abgeschlossen. Davon wurde ein Fall (Kramerstraße 12) in drei Abschnitte aufgeteilt und die ersten beiden in zwei Vergleichen nacheinander abgeschlossen. Den dritten Teil musste die Wiedergutmachungskammer mit einem Beschluss erledigen. Die Antragsteller, also die Restitutionsberechtigten, bevorzugten in der Regel ebenfalls den Vergleich. In den Akten wird der Grund dafür selten ausdrücklich benannt, er lässt sich jedoch indirekt erschließen. Die Antragssteller hatten in der Regel ihr gesamtes Vermögen verloren und lebten praktisch alle unter prekären Verhältnissen. Sie benötigten entweder das Gebäude, um sich wieder eine Existenz aufbauen zu können (beispielsweise Familie Pick), oder die Geldzahlungen, um ihre Vermögensverhältnisse zu stabilisieren. Doch wie die folgenden Fälle zeigen, konnte sich auch ein Vergleich hinziehen. So zeigte eine in Israel lebende Erbin Ausdauer und widerrief zwei Vergleichsvorschläge der Wiedergutmachungskammer. Erst den dritten Vergleich, den die Streitparteien schließlich selbst ausgehandelt hatten, nahm sie an. 38 Die Stadt Memmingen bevorzugte als Antragsgegnerin den Vergleich, wenn bei einem gerichtlichen Urteil die Einstufung als besonders schwere Entziehung drohte und/ oder sie erwartete, dass bei einem Vergleich günstigere Konditionen als bei einem Beschluss der Wiedergutmachungskammer zu erreichen wären. Ein Vergleich war zudem auch günstiger, wenn die zu erwartenden Gerichtskosten in keinem Verhältnis zu den finanziellen Verlusten standen, die man bei einem Kompromiss mit den Antragstellern erwartete. Die Vergleichsbereitschaft der Stadt erklärt sich nicht mit einer moralisch intendierten Einsicht in ihre Verwicklung mit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft, sondern folgte rein fiskalischen Erwägungen und der miserablen Haushaltslage. Es war ein „Sieg der Sparsamkeit.“ 39 Die Stadt Memmingen zeigte sich 37 Zum Verfahren ausführlicher L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 130f. Eigentlich hätte bei einer Überweisung des Verfahrens an die Wiedergutmachungskammer diese sofort in eine umfängliche Beweiserhebung unabhängig vom Parteivortrag beginnen müssen. Die Praxis aller hier ausgewerteten Verfahren zeigt jedoch, dass die Kammer erst mal auf die Vergleichsbereitschaft der Parteien setzte bzw. zunächst einmal sich bei der Beweiserhebung auf die strittigsten Punkte beschränkte, dann noch mal auf einen Vergleich drängte und eine umfangreichere Beweiserhebung erst vornahm, wenn sie die Parteien zu keinem Vergleich bewegen konnte. Dies war auch im übrigen Geltungsbereich der MRG 59 offenbar die übliche Praxis, ebd., 131. 38 Das betraf die Verhandlungen über die Grundstücke aus dem Besitz von Wilhelm Rosenbaum. Zu dem letztendlich ausgehandelten Vergleich siehe weiter unten. 39 So der Titel der Untersuchung von Heiko Scharffenberg über die Wiedergutmachung in Schleswig-Holstein: S CHARFFENBERG , Sieg der Sparsamkeit, insbesondere 118-124. Nicht <?page no="142"?> Katrin Holly 142 bei den Verhandlungen über die unbebauten Grundstücke der Familie Pick erst vergleichsbereit, als sie befürchten musste, dass es zu einem für sie sehr teuren gerichtlichen Beschluss kommen könnte. 40 Sparsamkeit zeigte sich schon bei relativ kleinen Beträgen. Der Erbin der Haushälfte von Pauline Einstein (Herrenstraße 22) wären beispielsweise auch nach Ansicht der Stadtverwaltung Memmingen als Nachzahlung 12.000 DM zugestanden. Rechtsanwalt Rauh war auch zu Verhandlungen in dieser Höhe ermächtigt worden. 41 Dieser handelte einen Vergleich mit 11.000 DM Nachzahlung aus, den die Stadt gerne annahm. 42 Rechtsrat Berndl befürwortete diesen Abschluss mit der Begründung: „Wir würden hierdurch 1000,- DM ersparen.“ 43 Im Falle der Grundstücke aus dem Besitz von Wilhelm Rosenbaum schlug die Wiedergutmachungskammer beim ersten Vergleichsversuch am 29. Dezember 1950 12.000 DM Nachzahlung vor, 44 die Antragstellerin schlug diesen als auch den zweiten Vorschlag des Gerichts vom 18. Juni 1951 mit 15.000 DM 45 aus. Stadtrechtsrat Berndl kam daraufhin nach einer Grundstücksschätzung selbst zu dem Ergebnis, dass eigentlich noch 18.215 DM nachgezahlt werden müssten; er hielt sogar eine Nachzahlung von rund 20.000 DM für vertretbar. 46 Bürgermeister Fey schlug vor, man solle versuchen mit einer Summe von 15.000 DM auszukommen, 20.000 DM sollten nicht nur die Praxis der Wiedergutmachung, sondern auch die Intention der Gesetzgebung orientierte sich an fiskalischen Erwägungen. Auch die US-Regierung legte Wert darauf, dass die Wiedergutmachung auch an der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik ausgerichtet wurde. Sie wollte den wirtschaftlichen Aufbau nicht gefährden; dazu W INSTEL , Gerechtigkeit, 312-321. Wobei Winstel feststellt (ebd., 321), dass kein eindeutiges Urteil darüber möglich ist, ob Sparsamkeit den Prozess der Wiedergutmachung ausbremste und tatsächlich die Anspruchsberechtigten benachteiligte. 40 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 8, Vormerkung Rechtsrat Hilk, 15.3.1950. 41 StdM EAPL B2 063(1), Nr. 4, Wilhelm Rauh an den Stadtrat Memmingen, 23.4.1953. 42 Schon am 27. April 1951 war vor der Wiedergutmachungskammer ein Vergleich mit 12.000 DM Nachzahlung ausgehandelt worden, der dann von der Berechtigten widerrufen wurde, weil sie der Meinung war, dass damit die entgangenen Nutzungen aus der Immobilie nicht abgegolten waren, und forderte 12.000 DM. Vgl. StdM EAPL B2 063(1), Nr. 4, Wilhelm Rauh an Stadt Memmingen, 7.5.1951; Ludwig Dreifuß an Wilhelm Rauh, 9.5.1951. In dem endgültigen Vergleich vom 18.6.1951 blieb der Nachzahlungsbetrag jedoch bei 11.000 DM, ohne dass der Grund dafür angegeben wird: ebd., Protokoll der Wiedergutmachungskammer vom 18.6.1951 (Abschrift). 43 StdM EAPL B2 063(1), Nr. 4, Berndl an den Finanzausschuss, 5.6.1951. 44 StAA, Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 1141, Protokoll der Wiedergutmachungskammer, 29.12.1950. 45 Ebd., Protokoll der Wiedergutmachungskammer, 18.6.1951. 46 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 18, Vormerkung Berndl, undatiert [ca. Anfang Februar 1952]; dazu Mitteilung über die Grundstücksrichtpreise: StAA, Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 1141, Landbauamt Memmingen an die Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 24.10.1951. <?page no="143"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 143 überschritten werden. 47 Rauh war vom Stadtrat beauftragt, maximal 20.000 DM anzubieten. Er schlug der Berechtigten zunächst nur 18.000 DM vor und regte danach beim Stadtrat an, ob man der Gegenpartei statt einer Ratenzahlung die sofortige Auszahlung der Gesamtsumme gegen einen Rabatt von 1.000 DM anbieten solle. 48 Der Vergleich vom 7. Juli 1952, den die Streitparteien schließlich selbst aushandelten, lautete auf 18.000 DM ohne Ratenzahlung und ohne Abzug, denn die aus Israel angereiste Berechtigte wollte das Geld sofort komplett mitnehmen. Dafür verzichtete sie auf eine Nachzahlung für das Grundstückteil, das 1940 für den Straßenbau abgezweigt worden war. 49 Ihre Beharrlichkeit hatte sich gelohnt. Die Stadt blieb immerhin mit 215 DM unter dem Betrag, den sie selbst als gerechtfertigt bezeichnet hatte. Auch die Auseinandersetzungen um die Nachzahlungen wegen der Kalchstraße 47 und 47½, die weiter unten geschildert werden, zeigen, mit welcher Hartnäckigkeit die Stadtverwaltung feilschte. Eine seltene Ausnahme war die freiwillige Erhöhung einer Entschädigungszahlung von 676 DM auf 1.000 DM im Falle der Bahnhofstraße 6. Das Gebäude war zurückgegeben, der Kaufpreis - den die Antragssteller an die Stadt zurückzahlen mussten - mit dem Ersatz der entgangenen Nutzungen verrechnet worden. Angesichts der dramatisch schlechten finanziellen Situation der Berechtigten hatte deren Anwalt die Aufstockung auf 1.000 DM vorgeschlagen. Damit war gleichzeitig die Übernahme der Rechtsanwaltskosten der Berechtigten abgegolten. 50 Dieses Objekt war der einzige Fall, in dem die Stadt noch nach Abschluss des Restitutionsverfahrens und außerhalb einer rechtlichen Verpflichtung sich zusätzlich bei der Instandsetzung des Hauses engagierte. 51 Dass die Stadtregierung dem ehemaligen Eigentümer Hermann Pick der Kramerstraße 12 von 1946 bis zu seinem Tod 1948 Beträge zur Lebensführung und Bestreitung von Krankheitskosten auszahlte, beruhte auf der Berechnung, dass die Immobilie Kramerstraße 12 der Restitution unterlag und an Pick sowieso eine Entschädigung geleistet werden musste. Die Stadt bestritt die Zahlungen auch nicht aus dem Stadtsäckel, sondern aus den Erträgen der Immobilie. Als das nicht mehr möglich war, weil das Gebäude unter treuhänderische Zwangsverwaltung kam, musste Pick auf Verlangen der Stadt zusichern, dass die Zahlungen auf die noch zu leistende Rückerstattung angerechnet werden sollten. Pick selbst hatte vorher deutlich gemacht, dass er nicht auf wohltätige Almosen angewiesen 47 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 18, Vormerkung Liegenschaftsamt Stadt Memmingen, 8.2.1952. 48 Ebd., Wilhelm Rauh an den Stadtrat Memmingen, 21.6.1952. 49 StAA, Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 1141, Protokoll der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 7.7.1952. 50 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 2, Niederschrift der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 19.4.1950, und Vormerkung Heinrich Berndl, 24.4.1950. 51 Dazu unten unter 2.4. <?page no="144"?> Katrin Holly 144 sein wolle, sondern die Zahlungen aus den Erträgen seines Eigentums als sein gutes Recht betrachte. 52 Generell waren die Auseinandersetzungen von zähen, sachlichen juristischem Schlagabtausch geprägt, der die Vorgaben des MRG 59 Stück für Stück abarbeitete. Denn weil die Stadt immer gegen irgendeinen Aspekt der Forderungen der Berechtigten widersprach, musste sie ihren Einwand begründen, der sich am MRG 59 orientierte. Damit waren die Antragssteller gezwungen, die Vorgänge der „Arisierung“ in ihren Gegenvorstellungen detailliert zu belegen, sie mussten sozusagen das Verfolgungserlebnis erneut aufrollen. Ein direktes Schuldanerkenntnis mit einer Entschuldigung von Seiten der Stadtregierung oder gar von Berndl im Sinne einer Aussöhnung war nicht vorgesehen. Dieser Befund ordnet sich generell in die Forschungsergebnisse über die „Wiedergutmachung“ ein. 53 Auch die Gefühle der Opfer bzw. ihrer Erben blieben in der Regel außen vor. Nur in einem Fall, der von einem guten persönlichen Freund der Anspruchsberechtigten vertreten wurde, gab dieser die Ansichten seiner Klienten unverblümt weiter. 54 Im Folgenden sollen zwei Streitkomplexe näher dargestellt werden, die in allen Verfahren im Vordergrund standen und typische Verhandlungsmuster widerspiegeln. 2.3. Streitpunkt: Die Umstände der Entziehung Die Klärung dieser Frage sollte feststellen, ob überhaupt eine Entziehung und ob eine schwere Entziehung im Sinne des § 2 des MRG Nr. 59 vorlag. In letzterem Fall haftete die Stadt nicht nur für entgangene Nutzungen, sondern konnte auch für jeden anderen Schaden, den die Berechtigten durch die Entziehung der Immobilie erlitten hatten, in Haft genommen werden. Die Gerichte nahmen von vornherein an, dass nach der Kristallnacht Immobilienverkäufe von Juden immer verfolgungsbedingt stattfanden und die Verkäufer unter einem enormen Druck standen. In Memmingen waren einigen Juden, die danach an die Stadt verkauften, in der Kristallnacht Woh- 52 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Beschluss des Finanzsenats, 15.2.1946; Fey an den Regierungspräsidenten von Schwaben, 11.2.1946; Stadtratsbeschluss, 15.2.1946; Vormerkung Zweiter Bürgermeister Rommel, 15.7.1946; Hermann Pick an Fey, 28.8.1946; Beschluss des II. Senats, 25.9.1946; Hermann Pick an Oberinspekteur Schmitt, 7.7.1948; Vormerkung der Stadtkämmerei, 13.7.1948; Hermann Pick an Wohlfahrtsamt Memmingen, 1.8.1948; Rechtsrat Hilk an Hermann Pick, 7.8.1948; Erklärung von Hermann Pick, 12.8.1948 und 10.9.1948; Beschluss des I. Senats, 8.10.1948. 53 L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 132; W INSTEL , Gerechtigkeit, 269. 54 Das betraf die Verhandlungen wegen der Kalchstraße 47 und 47 ½. Dazu unten 3.2. <?page no="145"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 145 nungen und Geschäftseinrichtungen in ihren Häusern zerstört worden. So in der Kramerstraße 12 bei Familie Pick 55 oder in der Krautstraße 8 bei Familie Nathan. 56 Wichtig war die Klärung der Frage, ob die Verkäufer überhaupt noch über das Geld verfügen konnten. Sehr oft war das Kaufgeld auf Sperrkonten eingezahlt worden, auf welche die Verkäufer gar keinen Zugriff hatten. Das Vermögen der Sperrkonten wurde in aller Regel vom Deutschen Reich eingezogen. Die Stadt - nicht die Berechtigten - musste beweisen, dass die Verkäufer das Geld tatsächlich noch erhalten hatten. Während offenbar die Nathans über ihren Verkaufserlös vom Sperrkonto noch verfügen konnten, 57 gelang dieser Nachweis im Falle der Gartengrundstücke von Wilhelm Rosenbaum nicht. 58 Die Kaufgelder für die Bahnhofstraße 6 waren in Raten auf ein Sicherungskonto eingezahlt worden und laut Auskunft der Bank „von Herrn Guggenheimer gemäss den damals geltenden Bestimmungen abgehoben oder für verschiedene erlaubte Zwecke weiterüberwiesen“ worden. 59 Der Rechtsanwalt der Erben erkannte jedoch Zahlungen, die nach dem 1. April 1939 eingingen, nicht mehr an, weil Guggenheimer ab diesem Zeitpunkt nicht mehr über sein Vermögen verfügen konnte. 60 Im Falle eines Baugrundstücks von Benno Rosenbaum war der Kaufpreis ganz offenbar auf einem Sperrkonto gelandet und erreichte den Verkäufer nicht mehr. 61 Es wurden auch weitere Verkaufsumstände genau beleuchtet. Familie Nathan beklagte in der Kristallnacht nicht nur Schäden an der Immobilie Krautstraße 8, sondern auch am Inventar von Geschäft und Wohnung; sie selbst kamen in Haft. 62 Nach 55 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Rückerstattungsantrag von Edgar Pick an Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 5.12.1948. 56 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 6, Rückerstattungsantrag an Zentralmeldeamt Bad Nauheim, gez. Ernst Seidenberger, 8.12.1948 (Abschrift). 57 Ebd., Bayerische Vereinsbank Filiale Memmingen an den Stadtrat Memmingen, 5.9.1949. 58 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 18, Bestätigung der Stadtkasse Memmingen, 11.10.1951, und Berndl an Wilhelm Rauh, 20.10.1951. 59 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 2, Bayerische Hypotheken- und Wechselbank Filiale Memmingen an den Stadtrat Memmingen, 21.6.1949, auch 16.7.1949 mit Anlage der Kontoauszüge. 60 Ebd., Vormerkung Hilk, 4.7.1949; VM Berndl, 24.4.1950; 61 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 11, Rückerstattungsantrag von Martha Gimpel-Rosenbaum an Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 4.12.1948 (Abschrift) und Notiz Hilk, 13.6.1949. In dem Restitutionsverfahren einigten sich Stadt und Erbin auf die Rückgabe des Grundstücks. Eigentlich hätte die Erbin den 1935 gezahlten Kaufpreis der Stadt zurückerstatten und sich das vom Deutschen Reich beschlagnahmte Kaufgeld von dessen Rechtsnachfolger erstreiten müssen. Im Vergleich trat sie ihre Ansprüche gegen das Deutsche Reich an die Stadt ab, so dass sich die Kommune den Kaufpreis selbst zurückholen musste: Ebd., Niederschrift der Wiedergutmachungsbehörde V Schwaben, 8.11.1949. 62 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 6, Rückerstattungsantrag an Zentralmeldeamt Bad Nauheim, gez. Ernst Seidenberger, 8.12.1948 (Abschrift). <?page no="146"?> Katrin Holly 146 der Entlassung verkauften sie 1939 ihr Haus an die Stadt für 16.000 RM. Im Notarvertrag wurde explizit vermerkt, dass sie zwar noch Wohnrecht genossen, aber zwingend ihre Auswanderung betreiben mussten. 63 Auf schwere Entziehung wurde beispielsweise auch bei der Kramerstraße 12 erkannt, weil Bürgermeister Berndl aktiv die Ausschaltung konkurrierender Mitbieter betrieben hatte. 64 Die Stadt versuchte auch wirtschaftliche Schwierigkeiten des Verkäufers als Erwerbsgrund vorzuschieben, so beim Verfahren über die Grundstücke von Wilhelm Rosenbaum. Dessen Anwesen Kaiserpromenade 13 wurde 1933 von der Stadtsparkasse Memmingen ersteigert, nachdem sie ihm das Darlehen gekündigt hatte. Rosenbaum hatte schon vor der Machtergreifung wirtschaftliche Probleme gehabt, die sich im Winter 1932/ 33 zuspitzten. Nach seiner Verhaftung und einem KZ-Aufenthalt im Sommer 1933 kam er nicht mehr nach Memmingen zurück, weil ihm auch von staatlichen Stellen abgeraten wurde: er müsse mit Gewaltanwendung gegen seine Person rechnen. Die wirtschaftlich schwierige Lage wurde als Vorwand zur „Arisierung“ seines Geschäfts, Immobilien und Vermögens instrumentalisiert und unter anderem die Zwangsversteigerung der Kaiserpromenade 13 eingeleitet. 65 Rosenbaum bereitete in Hamburg seine Auswanderung vor und leitete von dort aus die Veräußerung seiner übrigen Immobilien ein. 66 Die Unterhospitalstiftung erwarb 1935 beim Grundstück Kaiserpromenade 13 einen Garten, wovon sie eine Fläche an die Stadt für eine Straßenerweiterung abtrat, sowie einen Gemüsegarten vor dem Kempter Tor. 67 Weil die Stadt eine Entziehung bestritt, der Antragsteller diese aber verfolgungsbedingt begründete, landete das Verfahren vor der Wiedergutmachungskammer. Die Stadt argumentierte: „Es handelt sich um einen freiwilligen Verkauf, nicht um eine Entziehung der Grundstücke aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus (Art. 1 REG).“ 68 Wilhelm Rosenbaum sei zum Verkaufszeitpunkt überschuldet gewesen, die Stadtsparkasse hätte die Zwangsversteigerung schon im März 1932 erwirkt. Diese wäre auch durchgeführt worden, wenn Rosenbaum kein Jude gewesen wäre. Außerdem hätte 63 Ebd. und Kaufvertrag zwischen der Stadt Memmingen und Sara Nathan, Karl Israel Nathan, Siegfried Israel Nathan, 13.3.1939 (Abschrift), Ziff. II. 64 Dazu siehe ausführlicher unter 3.2. 65 Zur Verfolgung von Wilhelm Rosenbaum bereits in der Weimarer Republik und den Ablauf der „Arisierung“ seiner Firma und Immobilien ab 1933 H OSER , Geschichte der Stadt Memmingen, 119-124, 209f., 219; J ANETZKO , „Arisierung“, 59, 69-72, 77, 210. Die Kaiserpromenade 13 erwarb die Kreis- und Stadtsparkasse Memmingen. 66 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Vormerkung Bürgermeister Berndl, 8.7.1935. 67 Zum Kauf der Plan Nr. 1043 (Gemüsegarten vor dem Kempter Tor) und Plan Nr. 1045 (Garten bei der Kaiserpromenade 13) am 26.7.1935: StdM EAPL B2 912/ 7, Nr. 2, Vormerkung der Stadtkämmerei Memmingen, 22.7.1939. 68 StAA, Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 1141, Wilhelm Rauh an die Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 28.12.1950. <?page no="147"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 147 die Unterhospitalstiftung einen angemessenen Kaufpreis bezahlt, den Rosenbaum auch erhalten hätte, weil er schließlich zur Tilgung von Grundschulden auf seinen Grundstücken gedient hätte. 69 Der Rechtsvertreter von Wilhelm Rosenbaum stellte dagegen dar, dass Rosenbaum wegen antisemitischer Gewaltandrohungen nach seiner Haftentlassung nicht mehr nach Memmingen zurückkehrte und von Hamburg aus über Holland auswandern musste: „Es ist ohne weiteres damit dargetan, daß hier eine schwere Individualverfolgung vorlag. Infolgedessen ist die Anfechtung berechtigt. Die Naziregierung hat dann nach der Flucht aus Holland die Auslieferung von Rosenbaum verlangt. Er wurde zunächst auf Veranlassung der Nazis in Holland in Haft gesetzt. Die holländische Regierung lehnte aber nach Prüfung der Unterlagen die Auslieferung ab, weil sie aus politischen Gründen verlangt wurde.“ 70 Die Wiedergutmachungskammer machte deutlich, dass sie „im Hinblick auf die streitige Rechts- und Sachlage“ einen Vergleich in Form einer Nachzahlung für den richtigen Weg halte. 71 Auch Familie Pick konnte letztendlich überzeugend darstellen, dass die 1940 erfolgte Zwangsversteigerung ihres Anwesens Kramerstraße 12 und der Verkauf ihrer Grundstücke ihrem Verfolgungsdruck geschuldet war. 72 2.4. Streitpunkt: Die Feststellung des tatsächlichen Immobilienwertes Die Stadtverwaltung Memmingen musste beweisen, dass der Kaufpreis angemessen gewesen war. In der Regel erkannten die Gerichte auf eine Entziehung, wenn der Kaufpreis deutlich unter dem Einheitswert und/ oder Brandversicherungswert lag. Aber Einheits- und Brandversicherungswert gaben nur Anhaltspunkte, jedoch keine erschöpfende Auskunft über den tatsächlichen Verkehrswert zum Erwerbszeitpunkt. Auch die Einschätzung des aktuellen Wertes der Immobilie zum Zeitpunkt der Restitution in der Nachkriegszeit barg Konfliktstoff. Im Grunde war eine Bewertung einer Immobilie im Nachhinein Spekulation. Niemand konnte wirklich wissen, was bei einem Verkauf unter normalen Umständen tatsächlich erlöst worden wäre. Schon die Bewertungen der beteiligten Behörden konnten sich bereits zum Zeitpunkt der 69 Ebd. 70 Ebd., Legal Aid Departement IRSO an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 22.12.1950. 71 Ebd., Protokoll der Wiedergutmachungskammer, 29.12.1950. 72 Vgl. oben unter 2.1. und weiter unten unter 3.2. <?page no="148"?> Katrin Holly 148 „Arisierung“ widersprechen. 73 Das Stadtbauamt stufte meistens den Wert der Immobilien niedriger ein als die Anspruchsberechtigten. 74 Familie Pick gab den Wert ihres unbebauten Grundstücks zum Verkaufszeitpunkt mit 21.000 RM an, denn der Sparkassenausschuss hätte schon 1930 auf 20.000 RM geschätzt, ohne den Wert der gartenbaulichen Anlagen zu berücksichtigen. Ein vereidigter Sachverständiger sei 1935 auf 21.000 RM gekommen, für die inzwischen zerstörten Gartenbauanlagen hätte er 2.800 RM angesetzt. Damit seien die erlösten 15.000 RM viel zu gering gewesen. 75 Die Stadt Memmingen hielt dagegen mit dem Argument, der Einheitswert hätte bei 9.600 RM gelegen, außerdem sei das Grundstück nur von einem Flurweg erschlossen, es fehle ein Bebauungsplan und sonstige Infrastruktur, sodass man von keinem wertvollen Bauerwartungsland sprechen könne, auch ein „Arier“ hätte schon wegen der Preisstoppverordnung keinen höheren Preis erzielt. 76 In den Vergleichsverhandlungen zu den zwei Gartengrundstücken von Wilhelm Rosenbaum musste die Stadt, wie bereits oben dargestellt, von sich aus ihr Angebot nach oben korrigieren, als ihr die amtlichen Richtwerte vorgelegt wurden. Die Feststellung von Wertminderungen an den Immobilien nach der „Arisierung“ bis zur Restitution war ebenfalls Thema und betraf nicht nur Gebäude, sondern auch unbebaute Grundstücke, wenn landschaftsgärtnerisch gestaltete Gartenanlagen oder wertvolle Nutzpflanzungen beschädigt bzw. zerstört worden waren. So beim 73 So gab es beispielsweise bei der „Arisierung“ der Kalchstraße 11 eine lange Auseinandersetzung der Stadt Memmingen bzw. dem Ersten Bürgermeister Berndl mit der Preisbehörde und den Aufsichtsbehörden um die Bewertung der Immobilie, vgl. hierzu die Unterlagen in: StdM EAPL B1 333(R), Nr. 1. Das Gebäude wurde allerdings letztendlich vom Deutschen Reich beschlagnahmt. 74 Im Nachhinein ist schwer beurteilbar, wer mit welcher Bewertung richtig lag. Grundsätzlich hatten die Anspruchsberechtigten auch aufgrund ihrer schlechten Lebenssituation ein Interesse an einer möglichst hohen Entschädigung, die Stadt dagegen wollte möglichst geringe Nachzahlungen leisten. 75 StdM B1 063(R), Nr. 8, Notiz von Rechtsrat Hilk über die Verhandlung bei der Wiedergutmachungsbehörde am 10.1.1950, 12.1.1950, und Ludwig Dreifuß an Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 26.1.1950. In diesem Schreiben setzte er den Wert des Grundstücks sogar mit 23.000 bis 25.000 DM an. 76 Ebd., Notiz von Rechtsrat Hilk über die Verhandlung bei der Wiedergutmachungsbehörde am 10.1.1950, 12.1.1950, und Vormerkung Stadtbauamt Memmingen, 24.2.1950. Die Wiedergutmachungsbehörde schlug schließlich einen Vergleich vor: Die Stadt solle das Grundstück zurückgeben, die Picks zahlen einen Betrag von 1.500 RM an die Stadt und verzichten auf die Geltendmachung von Nutzungen und Wertminderung, die von diesen mit 2.500 RM beziffert wurden. Jeder solle seine außergerichtlichen Kosten selbst übernehmen: Ebd., Protokoll der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 9.3.1950 (Abschrift). Da Hilk bei einem Urteil ein finanziell noch schlechteres Ergebnis befürchtete und deshalb zur Annahme des Vergleichs riet, ging die Stadt auf den Vorschlag der Behörde ein: Ebd., Vormerkung Oberbürgermeister Riedmüller, 23.3.1950 und dessen Schreiben an Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 23.3.1950. <?page no="149"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 149 Gartengrundstück der Familie Pick, die den Wert dieser Anlagen mit 2.800 RM ansetzte, 77 oder beim Garten aus dem Besitz der Firma Max Günzburger. 78 Die Stadt hatte auch zahlreiche Immobilien auf Abbruch gekauft, weil sie Infrastrukturprojekten im Weg waren. Während des Krieges wurden diese Projekte nicht umgesetzt, deshalb wurden die Immobilien vermietet und nur noch das Allernötigste investiert. Einige Gebäude verwahrlosten oder wurden von den Mietern rücksichtslos abgewirtschaftet. Die Bahnhofstraße 6 war auf Abbruch gekauft worden, weil die Stadt den Bahnhofvorplatz erweitern wollte. Sie hatte Instandhaltungsmaßnahmen unterlassen und auch die Bombenschäden nicht behoben, was zu weiteren Schäden führte. Angesichts des unübersehbar herabgewirtschafteten Zustands des Gebäudes beteiligte sich die Stadt Memmingen freiwillig (außerhalb des Vergleichs) an der Instandsetzung des Gebäudes und bewilligte dazu einen Betrag von 1.500 DM. Allerdings stellte die Stadt dazu die Bedingung, „daß sich die Eigentümer verpflichten, gleichzeitig das Gebäude in einen der hervorstechenden Lage entsprechenden guten äußeren Zustand zu versetzen.“ 79 Auch die Kalchstraße 47 und 47 ½ war auf Abbruch gekauft worden und stark vernachlässigt. 80 Für die Kramerstraße 8 mussten Beschädigungen ersetzt werden, die während der Kristallnacht verursacht worden waren. Wurden bei einer Schätzung des aktuellen Verkehrswertes die Fliegerschäden wertmindernd angesetzt, protestierten die Antragsteller, wie der Vertreter der Erben des Hauses Kalchstraße 47 und 47½: „Wenn die Stadtverwaltung heute auf den Lastenausgleich und die durch Bomben herbeigeführte Entwertung des Grundstücks hinweist, mag dieser Hinweis Menschen, wie meinen Freunden eigenartig erscheinen. Sie sind wohl kaum diejenigen, welche Schuld daran tragen, dass Lastenausgleich und Bombenschäden auf uns lasten.“ 81 Sie empfanden dies ganz offenbar als eine „Einbeziehung der Juden in das Haftungskollektiv der Deutschen“ und somit „als eine Verdrehung der Verhältnisse.“ 82 77 Ebd., Ludwig Dreifuß an Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 26.1.1950. 78 StdM, EAPL B2 063(2), Nr. 21, Hugo Günzburger an den Bürgermeister der Stadt Memmingen, 7.6.1946. 79 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 2, Beschluss des II. Senats, 15.9.1950. 80 Vgl. unter 3.2. 81 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 5, Josef Harnisch an Bürgermeister Fey, 28.9.1950. 82 L ILLTEICHER , Raub, 217. Lillteicher macht dort darauf aufmerksam, dass es durchaus vorkam, dass sogar Antragsteller den Ausschluss von Bombenschäden von der Haftung der Rückerstattungspflichtigen als selbstverständlich akzeptierten. <?page no="150"?> Katrin Holly 150 3. Die Verhandlung nationalsozialistischen Unrechts in zwei Restitutionsverfahren 3.1. Kramerstraße 12 Das Anwesen Kramerstraße 12, Schaufenster des dort untergebrachten Geschäfts sowie die Laden- und Wohnungseinrichtung der Familie Pick wurden in der Reichskristallnacht verwüstet. Die Picks versuchten, das Hinterhaus an den Geschäftsmann O. Z. zu verkaufen, um damit die Reparaturen für das Geschäft bezahlen zu können. Wegen der Verwüstungen war das Geschäft geschlossen und es fehlten die Einnahmen. Deshalb konnten sie die Zinsen für die Gebäudehypothek nicht bedienen. Daraufhin kündigte die Sparkasse Memmingen wegen eines Rückstands von 1.500 RM sofort das Darlehen. Die Immobilie wurde deshalb unter Zwangsverwaltung gestellt, was wiederum den Verkauf des Hinterhauses verhinderte. Der Kreiswirtschaftsberater der NSDAP, der als Treuhänder eingesetzt worden war, verlangte die Liquidierung des Geschäfts. Nachdem der Verkauf des Hinterhauses unmöglich war, veräußerten die Picks den Warenbestand, weil sie nicht mehr an eine Fortführung des Geschäfts glaubten. Die arische Ehefrau Ida Pick hatte zwar vorher von Kreisleiter Wilhelm Schwarz die Erlaubnis erhalten, das Geschäft weiterzuführen, es hätte dann als „arisiert“ gegolten. Ida Pick sah sich aber nach dem Verkauf des Warenbestands nicht mehr in der Lage, das Geschäft ohne die Hilfe ihres Sohnes Edgar Pick weiter zu führen. Deshalb wurde Ida Pick die Geschäftsübernahme von der Regierung von Schwaben verweigert. Das Gebäude ging in die Zwangsversteigerung. Die Stadt Memmingen hatte von Anfang an großes Interesse an dem Anwesen, weil es an einer Engstelle der belebten Einkaufsstraße stand und bei dessen Erwerb eine Passage erstellt werden konnte. Es wurde sogar überlegt, das Gebäude ganz abzureißen und beim Wiederaufbau die Baulinie nach hinten zu verschieben. Es gab jedoch einen Mitbewerber, Geschäftsmann O. Z., mit den Picks befreundet, der bereit war, das Gebäude, das Edgar Pick gerne für 65.000 RM verkauft hätte, für 50.000 bis 60.000 RM zu ersteigern. Er wollte seine Buchhandlung dort hinein verlegen. Dem Ersten Bürgermeister Berndl war das Interesse von O. Z. bekannt und drängte den Konkurrenten aus dem Verfahren, indem er bei der Regierung von Schwaben erfolgreich den Antrag stellte, dass die Stadt als alleiniger Bieter zugelassen werde, weil ein öffentliches Interesse vorliege. Handhabe bot dazu die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 (RGBl. I, S. 1709). Die Stadt erwarb als einziger Bieter in der Zwangsversteigerung am 8. April 1940 das Gebäude zum niedrigsten <?page no="151"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 151 Gebot für 45.000 RM. Vorher hatte sie bereits ohne Genehmigung die Passage gebaut und damit das Geschäft verkleinert. 83 Als die Stadt Memmingen das Gebäude 1948 der Militärregierung melden musste, war Bürgermeister Fey noch der Meinung, dass das Gebäude nicht unter die Rückerstattung falle, weil es bei einer Zwangsversteigerung rechtmäßig erworben worden sei. Er war auch der Ansicht, dass der Kaufpreis angemessen gewesen sei, denn 1941 hätte der Einheitswert nur 25.300 RM betragen. 84 Die Picks, die sich in Memmingen wieder eine Existenz aufbauen wollten, verlangten 1948 die Kramerstraße 12 zurück, zuzüglich der entgangenen Nutzungen, Schadensersatz für Wertminderungen und für entgangenen Geschäftsgewinn, einschließlich Zinsen. Sie setzten den Gebäudewert auf mindestens 91.660 RM an. 85 Im Juli 1949 klärte Rechtsrat Hilk die Stadtverwaltung auf. Er hatte die Hintergründe des Kaufvorgangs erfahren und musste angesichts der Herausdrängung von O. Z. aus dem Versteigerungsverfahren, was er als eine schwere Entziehung nach dem MRG 59 bezeichnete, die grundsätzliche Rückerstattungspflicht anerkennen. 86 Weil Edgar Pick Wert darauf legte, möglichst schnell wieder ein Geschäft zu eröffnen, wurde zunächst in einem ersten Vergleich am 16. November 1950 die Immobilie von der Stadt zurückgegeben. Die Stadt sollte dafür sorgen, dass ein Mieter auszog, damit Familie Pick ihre Wohnung wieder selbst nutzen konnte. 87 In einem zweiten Vergleich vom 30. November 1950 wurde die Belassung der von der Stadt 1939 widerrechtlich eingebauten Fußgängerpassage festgeschrieben. Die Stadt bezahlte dafür die Wiederherstellung der beschädigten Fassade. 88 In den dann noch offenen Nebenansprüchen - Schadensersatz für die entgangenen Nutzungen, für entgangenen Geschäftsgewinn und für die Wertminderung des Gebäudes - kam es zu 83 Zu den Hintergründen des Kaufs der Kramerstraße 12 durch die Stadt 1940 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Rückerstattungsantrag von Edgar Pick an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 5.12.1948 (Abschrift); Vormerkung Rechtsrat Hilk mit der Erklärung von O.Z., 1.7.1949; Beschluss des I. Senats, 18.1.1951; Rechtsanwalt Hofmann an die Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 30.5.1951 (Abschrift). 84 Ebd., Anmeldung eines Rückerstattungsanspruches nach REG Nr. 59 durch die Stadt Memmingen, 30.6.1948, gez. i.V. Bürgermeister Fey; Heinrich Berndl an den Regierungspräsidenten von Schwaben, 10.6.1939 (Abschrift); Der Regierungspräsident von Schwaben, gez. i.V. Dr. Schwaab, an den Bürgermeister der Stadt Memmingen, 7.9.1939 (Abschrift). 85 Ebd., Rückerstattungsantrag von Edgar Pick an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 5.12.1948 (Abschrift). 86 Ebd., Vormerkung Rechtsrat Hilk mit der Erklärung von O.Z., 1.7.1949; Rechtsrat Hilk an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 4.7.1949. 87 Ebd., Niederschrift der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 16.11.1950 (Abschrift) und Wilhelm Rauh an Stadtrat Memmingen, 18.11.1950. 88 Ebd., Vertrag zwischen Ida Pick mit Erbengemeinschaft Pick und Stadt Memmingen, 30.11.1950 und Beschluss des Stadtrats, I. Senat, 18.1.1951. <?page no="152"?> Katrin Holly 152 keiner gütlichen Einigung. Deshalb wurde das Verfahren vor der Wiedergutmachungskammer fortgesetzt. Die Vorstellungen über den Wert des Gebäudes und damit über die Höhe der Wertminderung und den zu leistenden Schadensersatz waren viel zu unterschiedlich. 89 Das Gericht leitete eine Beweiserhebung ein 90 und beendete das Verfahren mit einem Urteil am 23. Oktober 1952. 91 Ein wichtiger Streitpunkt war die Bewertung, ob eine schwere Entziehung vorliege. Dabei wurde die Verdrängung des Mitbewerbers aus der Versteigerung durch den damaligen Ersten Bürgermeister Berndl besonders thematisiert. Der Rechtsanwalt der Antragsteller beschrieb die Erwerbung durch die Stadt folgendermaßen: „Wahrer Grund war vielmehr die Aussicht, durch Ausnützung der gegebenen Lage möglichst billig zu wertvollem jüdischen Grundbesitz zu kommen; es dürfte bei den Wiedergutmachungsbehörden in Augsburg amtsbekannt sein, daß die Stadt Memmingen hiervon in ziemlich ausgiebigem Maß Gebrauch gemacht hat. Nach alledem kann es wohl kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß der vorliegende Fall geradezu ein Schulbeispiel einer schweren Entziehung ist. Sittenwidrigkeit des Veräußerungsgeschäfts und damit ein schwerer Entziehungsfall ist bereits dann gegeben, wenn der Kaufpreis in einem groben Mißverhältnis zum erlangten Gegenwert stand und ausserdem der Erwerber in Kenntnis dieses Mißverhältnisses und in Kenntnis der aus rassischen Gründen bestehenden Zwangslage der Verkäufer das Geschäft abgeschlossen hat […]. Daß der Erwerb durch Zwangsversteigerung erfolgt ist, erschwert im gegebenen Fall, wo sie wegen nur 1500,- RM Zinsrückständen betrieben und eine an sich gebotene Möglichkeit für die Antragsgegnerin bewußt hintertrieben wurde, den Charakter der Entziehung in erheblichem Maße. Auch eine Entziehung durch Staatsakt ist auf jeden Fall schwere Entziehung dann, wenn der Ersterwerber an dem Zustandekommen der Entziehung individuell durch ein in diesem speziellen Sinn verwerfliches Handeln teilgenommen hatte […]. Hier aber wurde die ganze Angelegenheit vom damaligen I. Bürgermeister der Antragsgegnerin sogar zielbewußt auf den Staatsakt hingetrieben und jede Möglichkeit ihn abzuwenden den Antragsstellern bewußt und böswillig abgegraben. 89 Zu dieser Auseinandersetzung ebd., Vormerkung Heinrich Berndl über eine Erklärung von Edgar Pick, 30.4.1951; Rechtsanwalt Hofmann an die Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 30.5.1951 (Abschrift); Stellungnahme zu dem Schriftsatz von Rechtsanwalt Hofmann vom 30.5.1951, undatiert und ungezeichnet (Stadt Memmingen, ca. Ende Mai/ Juni 1951); Stadtrat Memmingen, gez. Berndl, an Wilhelm Rauh, 30.6.1951. 90 Ebd., Beweisbeschluss der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 20.8.1951, sowie Protokoll der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 12.11.1951. 91 Ebd., Beschluss der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 23.10.1952. <?page no="153"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 153 Wenn das keine schwere Entziehung ist, gibt es überhaupt keine.“ 92 Berndl fühlte sich persönlich angegriffen, schließlich war er damals der erwähnte Erste Bürgermeister gewesen. Es ist auffällig, dass er in diesem Verfahren die Schriftsätze gegen die Ansprüche der Picks selbst verfasste und Rechtsanwalt Rauh übergab, der diese unverändert an die Wiedergutmachungsbehörde sandte. Die Stadt hätte das Anwesen zur Bereinigung schwerwiegender Verkehrsprobleme erworben: „Dieses allgemeine Interesse hat auch die Regierung in ihrer Entschliessung vom 7.9.1939 Nr. VI 3995 und das Finanzamt Memmingen im Bescheid über Niederschlagung der Grunderwerbssteuer anerkannt. Ausserdem hat die Stadt ausdrücklich erklärt, daß sie nach Erledigung dieser Verkehrsfragen an dem Anwesen keinerlei Interesse mehr hege und es wieder abgebe. Das ganze Verfahren wickelt sich s.Zt gemäß den gesetzlichen Bestimmungen und auf Grund Genehmigung der Staatsaufsichtsbehörden ab. Eine Regierungskommission war wegen der Verkehrsfragen und baulichen Neugestaltung am 6.6.1939 in Memmingen, wie der Bericht vom 10.6.39 ergibt. Hierauf erging die vorgenannte Regierungsentschliessung vom 7.9.39, worin wegen dieser allgemeinen Interessen der Fa. Z. untersagt wurde, im Versteigerungstermin ein Gebot abzugeben. Unter diesen Umständen kann Art. 30 REG. nicht beigezogen werden. Die Motive, die der Antrag dem damaligen Bürgermeister Dr. Berndl an Böswilligkeit und Sittenwidrigkeit unterlegt, entbehren jeglicher Grundlage und dies um so mehr, als ihm politische Motive oder auch nur Antisemitismus nicht unterschoben werden kann. Die einschlägigen Akten, die offenbar der Wiedergutmachungskammer bereits vorliegen, beweisen dies eindeutig. Vorsorglich wird für gegenwärtiges Verfahren dem Bayer. Staate als der Staatsaufsichtsbehörde der Streit verkündet.“ 93 Berndl argumentierte rein formaljuristisch. Er habe damals nach den bestehenden geltenden Gesetzen gehandelt und deshalb könne man ihm keinen Vorwurf machen. Berndl entzog sich mit dieser Argumentation seiner Verantwortung. Er sah sich als unpolitischer Verwaltungsfachmann, der rein sachlich und objektiv nach den Gesetzen handelte. Er habe nur gesetzlich legitimierte Interessen der Stadt vertreten und sei durch die damaligen Entscheidungen der staatlichen Behörden darin bestätigt. Deshalb kündigt er an, den Bayerischen Staat als Staatsaufsichtsbehörde verklagen zu wollen. Berndl war kein Nationalsozialist klassischer Prägung und offenbar auch kein Antisemit. 94 Aber dass er sich mit seiner Handlungsweise in diesem Amt mitschuldig 92 Ebd., Rechtsanwalt Hofmann an die Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 30.5.1951 (Abschrift). 93 Ebd., Stadtrat Memmingen, gez. Berndl, an Wilhelm Rauh, 30.6.1951. 94 Zur Beurteilung von Berndl als Erstem Bürgermeister von 1933-1945 H OSER , Geschichte der Stadt Memmingen, insb. 176f., Anm. 45, 186-188, auch 188, Anm. 154; DERS ., Spielraum, 185-195, 214-218. <?page no="154"?> Katrin Holly 154 am Unrechtssystem des Nationalsozialismus machte, lag außerhalb seines Horizontes. Nachdem er erreicht hatte, als sogenannter Entlasteter aus dem Entnazifizierungsverfahren herauszugehen, war es aus seiner Sicht eine fehlgeleitete Umkehrung des Spruchkammerurteils, dass in den Restitutionsverfahren seine Aktionen als Unrechtshandlungen beurteilt wurden. Seine „Flucht in den Rechtspositivismus“ ist typisch für die Personenkreise, die bereits im Nationalsozialismus an der „Arisierung“ und danach an den Restitutionsverfahren beteiligt waren. 95 Doch das REG enthielt den Vorwurf der sogenannten unzulässigen Rechtsausübung, 96 also der Tatsache, dass Recht auch Unrecht sein konnte. Der Vorsitzende der Wiedergutmachungsbehörde ließ sich deshalb nicht beirren. Er urteilte, dass das Anwesen Kramerstraße 12 der Pickschen Firma „entzogen“ worden war, weil Hermann Pick als Jude laut Reichsbürgergesetz von 1935 galt. Somit waren die allgemeinen Voraussetzungen des Art. 1 REG sowohl hinsichtlich seiner Person als auch hinsichtlich der Firma der Picks gegeben. 97 Er argumentierte weiter: „Es liegen weiterhin die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 b REG. vor. […] Die Stadt Memmingen hat […] das Grundstück entzogen, und zwar durch Missbrauch eines Staatsaktes.“ 98 Hätte die Stadt zusammen mit anderen Interessenten in der Zwangsversteigerung geboten oder hätte anderen Bewerbern den Kauf der Immobilie überlassen und von diesen über eine Zwangsabtretung eines Grundstücksteils die Anlage der Passage erwirkt, dann würde keine schwere Entziehung vorliegen: „Das Gesuch um Erlaubnis zum Bieten [von O. Z.] wurde mit dem ausdrücklichen Hinweise auf die Wünsche des Bürgermeisters von Memmingen mit Entschliessung des Regierungspräsidenten vom 7.9.1939 abgelehnt. Die Stadt Memmingen hat somit das Zwangsversteigerungsverfahren missbraucht, in dem sie in unbilliger Weise sich hiedurch einen Vermögensvorteil verschaffte. Dieser besteht darin, dass sie das Anwesen erheblich unter dem vom Landbauamt im Gutachten vom 13.10.1951 für den damaligen Zeitpunkt errechneten wahren Wert von 56.500 RM, nämlich für 45.000 RM erlangte, nachdem sie den weiteren Bieter ausgeschaltet hatte. In diesem Verhalten der Stadtgemeinde ist überdies eine widerrechtliche Wegnahme im Sinne des Art. 30 REG. zu erblicken […], da der Erwerb des Grundstückes unter den gegebenen Bedingungen nur aufgrund der die Juden betreffenden Ausnahmegesetzgebung möglich war. […] Die Stadtgemeinde haftet demnach gemäss Art. 95 L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 132, dort auch das Zitat. Lillteicher kommt angesichts der Haltung von Richtern in den gerichtlichen Wiedergutmachungsinstanzen zu diesem Schluss. 96 S CHWARZ , Rückerstattung, 107-116. 97 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Beschluss der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 23.10.1952. 98 StdM EAPL B2 063(2), Nr. 19, Beschluss der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 23.10.1952. <?page no="155"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 155 30 REG. auf vollen Schadensersatz wegen Verschlechterung des entzogenen Vermögengegenstandes, auf Herausgabe von Nutzungen und auf sonstigen Schadensersatz nach §§ 848, 249 ff BGB.“ 99 Der Richter erkannte jedoch keinen Schadensersatz für entgangenen Geschäftsgewinn zu. Denn es sei nicht Schuld der Stadt gewesen, dass Ida Pick das Geschäft nicht hätte fortführen können. Der Richter verurteilte die Stadt zur Zahlung von 10.000 DM. Weil die Antragsteller das erhaltene Kaufgeld zurückzahlen mussten, standen ihnen letztendlich 4.517 DM zuzüglich Zinsen zu. 100 3.2. Kalchstraße 47 und 47½ Die Stadt erwarb 1939 das Anwesen zum Einheitswert von 38.800 RM. Die Immobilie stand dem Bau der geplanten Unterführung an der Augsburgerstraße im Weg. 101 Weil das Haus somit auf Abbruch gekauft worden war, vernachlässigte die Stadt dessen Instandhaltung. Schließlich litt es noch stark unter den Fliegerangriffen, deren Schäden ebenfalls nicht repariert wurden. Die Kinder der Verkäufer meldeten im Dezember 1949 ihren Anspruch an. Sie machten geltend, dass der Verkehrswert 60.000 DM betragen hätte, 102 zudem hätten die Eltern nicht mehr über den Kaufpreis verfügen können, weil er auf ein Sperrkonto eingezahlt worden sei. 103 Berndl recherchierte, dass der Großteil des Kaufpreises für die Ablösung von Hypotheken und der rückständigen Steuer verwendet worden war. Der Rest von 15.030 RM war auf das Sperrkonto gebucht worden. 104 Vertreten wurden die Kinder, die unter prekären Verhältnissen in England lebten, 105 von einem guten Freund der Familie, dem Juristen Josef Harnisch aus Düsseldorf. Zunächst beriefen sich die Erben auf Art. 16 des REG, 106 nach dem sie unter Verzicht auf alle sonstigen Ansprüche verlangen konnten, dass ihnen der Unterschied zwischen dem erlangten Entgelt und dem angemessenen Preis nachbezahlt werde. Die 99 Ebd. 100 Ebd. 101 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 5, Rückerstattungsantrag an die Zentralstelle Bad Nauheim, gez. Josef Harnisch (Bevollmächtigter der Antragsteller), 27.12.1948 und Vormerkung Rechtsrat Hilk, 26.7.1949. 102 Ebd., Vormerkung Rechtsrat Hilk, 26.7.1949. 103 Ebd., Rückerstattungsantrag an die Zentralstelle Bad Nauheim, gez. Josef Harnisch (Bevollmächtigter der Antragsteller), 27.12.1948. 104 Ebd., Vormerkung Berndl, 5.7.1949. 105 Zu den Lebensumständen der Kinder von Julius und Nelly Guggenheimer ebd., Stadtassessor Harnisch an Stadtverwaltung Memmingen, 3.5.1950. 106 Ebd., Rückerstattungsantrag an die Zentralstelle Bad Nauheim, gez. Josef Harnisch (Bevollmächtigter der Antragsteller), 27.12.1948. <?page no="156"?> Katrin Holly 156 Stadt hatte dabei kein Anrecht darauf, das Grundstück zurück zu geben, denn nur die Anspruchsberechtigten hatten ein Wahlrecht, nicht der Beklagte. Damit war klar, dass die Auseinandersetzung um die Feststellung des tatsächlichen Gebäudewertes zu führen war. Das Projekt der Unterführung war inzwischen in weite Ferne gerückt und die Kommune hatte finanzielle Probleme. Sie wollte zwar die Immobilie behalten, 107 aber so wenig wie möglich nachzahlen, weil sie den Betrag nicht über einen Verkauf des Gebäudes refinanzieren konnte. Die Wohnungen standen unter Mieterschutz. Solche Objekte waren damals unverkäuflich. 108 Die Stadtverwaltung, insbesondere Bürgermeister Fey, nahm an, dass das Anwesen, weil es alt sei und nur niedrige Räume habe, wesentlich weniger als 60.000 DM wert war. 109 Das Stadtbauamt schätzte das Gebäude auf 54.500 DM. 110 Bei den Vergleichsverhandlungen bot die Stadt zunächst 15.000 DM Nachzahlung an, obwohl die Antragsteller 25.000 DM gefordert hatten. 111 Während der Verhandlungen stellte sich heraus, dass die Kinder der Guggenheimers wenigstens den Kaufpreis von 38.000 RM, der ihre Eltern damals nicht erreicht hatte, in DM ausbezahlt haben wollten. 112 Sie hatten Harnisch beauftragt mindestens 35.000 DM auszuhandeln. 113 Einem Angebot der Stadt mit 31.000 DM 114 stimmten die Erben nicht zu. 115 Die Aufstockung um 4.000 DM auf 35.000 DM war ein hartes Ringen, denn die Stadtverwaltung wollte dem zunächst nicht zustimmen. Angesichts dieser Auseinandersetzung verließ der Vertreter der Antragsteller, Josef Harnisch, die Ebene des rein juristischen Schlagabtausches. Jetzt tauchten sowohl moralische als auch politische Argumente auf. Harnisch schrieb an Berndl: „Ich glaube, schon die Vermeidung des Rufes, in den die Stadtverwaltung Memmingen kommen könnte, wenn sie die Kinder des dort überaus geachteten Herrn Julius Guggenheimer nicht so behandelt, wie man es im Sinne einer aufrichtig gemeinten Wiedergutmachung tun müsste, wäre das noch geringe Zugeständnis von 4.000 DM wert. Ich wenigstens im Finanzdezernat Düsseldorf würde so denken und ich wüsste, es wäre letzlich die richtige Entscheidung. 107 Ebd., Vormerkung Berndl an Bauamt Memmingen, 16.5.1950, und Vormerkung Stadtbauamt an Berndl, 17.5.1950. 108 Ebd., Vormerkung Rechtsrat Hilk, 26.7.1949. 109 Ebd., Vormerkung Fey, 10.8.1949. 110 Ebd., Vormerkung Stadtbauamt an Rechtsrat Hilk, 28.2.1950. 111 Ebd., Vormerkung Berndl, 17.5.1950. 112 Ebd., Stadtassessor Harnisch an Stadtverwaltung Memmingen, 3.5.1950. 113 Ebd., Vormerkung Berndl, 5.7.1950, und Josef Harnisch an Stadtverwaltung Memmingen, z.Hd. Berndl, 5.7.1950, und Beschluss des Stadtrats, II. Senat, 15.9.1950. 114 Ebd., Vormerkung Berndl, 5.7.1950. 115 Ebd., Beschluss des Stadtrats, II. Senat, 15.9.1950. <?page no="157"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 157 Ich bedaure, dass Herr G., 116 wie er mir in seinem letzten Brief mitteilt, der Meinung ist, dass er gerade auf Ihre wohlwollende Behandlung dieser Angelegenheit nicht rechnen könnte, was er glaubt mit gewissen Mitteilungen, die er aus Memmingen erhalten hat, begründen zu müssen. Ich habe Herrn G. entschieden berichtigt und würde mich sehr freuen, ich könnte nochmals von Ihrem Willen, diese Angelegenheit mehr mit dem Akzent auf das Gerechte zu behandeln, überzeugt werden.“ 117 Harnisch forderte Gerechtigkeit und moralische Wiedergutmachung ein. Gerade der letzte Absatz war eine Misstrauenserklärung an den ehemaligen Ersten Bürgermeister und jetzigen Stadtsyndikus Heinrich Berndl, der hier als Vertreter der Täter gebrandmarkt wurde. Dass sich der Sohn der Guggenheimers auf „Mitteilungen, die er aus Memmingen erhalten hat“ berief, wundert nicht. Einige der verfolgten jüdischen Memminger Bürger bzw. deren Nachkommen waren nach dem Krieg zurückgekehrt, darunter auch Hugo Günzburger, der viele der „arisierten“ Immobilien als Treuhänder im Auftrag der Militärregierung verwaltete. Hugo Günzburger belastete Berndl in dessen Spruchkammerverfahren. 118 Die überlebenden Memminger Juden und Nachfahren, ob auswärtig oder in Memmingen lebend, tauschten sich untereinander aus, viele standen wegen ihrer Immobilien mit dem Treuhänder Hugo Günzburger in Kontakt. So waren sie über die Vorgänge in Memmingen im Bilde. Harnisch appellierte deshalb an die neuen Mitglieder der Stadtregierung, hier an Bürgermeister Fey, Verantwortung für das nationalsozialistische Erbe zu übernehmen und sich von den Taten zu distanzieren, indem sie seinen Mandanten entgegenkamen und so deren erlittenes Unrecht anerkannten: „Durch den Ankauf hat die Stadtverwaltung Memmingen des Jahres 1938, deren Rechtsnachfolge durch die jetzige Behörde angetreten werden musste, das Risiko, welches mit dem Kauf eines Hauses von politisch und rassisch Verfolgten verknüpft ist, auf sich geladen. […] Es mutet mich etwas eigenartig von der Stadt an, dass sie sich nunmehr von dem selbst aufgeladenen Risiko des Hauses distanzieren will und zwar 116 Herr G. ist der Sohn von Nelly und Julius Guggenheimer. 117 Ebd., Josef Harnisch an Heinrich Berndl, 29.9.1950. 118 StAM, Spruchkammerakt Berndl, Hugo Günzburger an die Spruchkammer des Internierungslagers Regensburg, 2.5.1947. Dort warf er Berndl die Unterstützung der nationalsozialistischen Rassepolitik vor, dass er nicht gegen die Zerstörung der Synagoge eingeschritten sei und den jüdischen Friedhof als Hühnerhof verpachtet habe. Und er warf ihm nicht nur vor, Wohnungsinventar und Kunst aus jüdischer Hand billigst erworben zu haben, sondern auch die „Arisierung“ der Immobilien: „Des Weiteren hat Berndl, selbstverständlich Alles ‚nur im Interesse der Stadt-Memmingen‘ jüdischen Hausbesitz um billiges Geld erworben“. Günzburger sagte auch in der Verhandlung der Spruchkammer aus: ebd., Protokoll der Spruchkammer des Internierungslagers Regensburg, 23.7.1947. <?page no="158"?> Katrin Holly 158 gerade in einem Augenblick, in dem es darauf ankommt, dass insbesondere die deutschen Behörden beweisen sollen, dass sie die Handlungen ihrer Rechtsvorgänger im Dritten Reich missbilligen und angemessen wieder gut machen wollen.“ 119 Er hoffe, dass seine Mandanten bei Bürgermeister Fey „Gerechtigkeit“ fänden. 120 Diese Vertrauenserklärung wurde offenbar ganz gezielt an Bürgermeister Fey gerichtet, der von der Militärregierung als Unbelasteter in sein Amt eingesetzt worden war. Harnisch wählte nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Nähe zu seinen Mandanten diesen Weg. Der eigentliche Adressat der Vorwürfe, der ehemalige Erste Bürgermeister Berndl, fühlte sich tatsächlich angesprochen. Nachdem er in längeren Besprechungen mit den beiden Bürgermeistern Fey und Riedmiller erreicht habe, so Berndl, dass die Stadt das Angebot auf 35.000 DM aufstockte, teilte er Harnisch das Ergebnis mit. Dabei ging er auch auf die Vorwürfe zu seiner Person und seiner Rolle während der „Arisierung“ ein: „Im übrigen werden Sie mir nicht verübeln, wenn ich zu einigen Wendungen in Ihren beiden Schreiben meinerseits mich äußere. Die Einsichtnahme in die Vorverhandlungen wird erkennen lassen, daß ich auf die damalige Preisgestaltung keinen Einfluß nahm, da der Preis nur durch Sachverständigengutachten bestimmt und daraufhin von der Regierung genehmigt wurde. Politische Tendenzen lagen meinerseits vollkommen fern, dies wurde auch andernwärts von autoritativer Stelle aus bereits ausgesprochen.“ 121 Der Verweis auf die „autoritative Stelle“ bezieht sich auf die Berufungskammer der Spruchkammer, die ihn als „Entlasteter“ eingestuft hatte, allerdings ohne die Rolle Berndls bei der „Arisierung“ des jüdischen Immobilienbesitzes tatsächlich zu kennen. 122 Berndl argumentierte rein formaljuristisch und legalistisch. Er befand sich dabei in guter Gesellschaft zahlreicher Rückgabepflichtiger, ob staatliche Stellen oder 119 StdM EAPL B1 063(R), Nr. 5, Josef Harnisch an Bürgermeister Fey, 28.9.1950. 120 Ebd. 121 Ebd., Heinrich Berndl an Josef Harnisch, 14.10.1950. 122 StAM, Spruchkammerakten, Berndl Heinrich, Urteil der Berufungskammer Regensburg vom 24.6.1948. Dort wird die Haltung von Berndl als Bürgermeister als durchweg „antinationalsozialistisch“ bezeichnet. Vor der Berufungskammer war vor allem das Verhalten Berndls bei der Zerstörung der Synagoge und bei der Verpachtung des jüdischen Friedhofs als Hühnerhof Thema (zum Jüdischen Friedhof W IRSCHING , Jüdische Friedhöfe). Die „Arisierung“ privater Immobilien wird nur ganz am Anfang vor dem ersten Spruchkammerspruch thematisiert, spielte dort aber keine große und entscheidende Rolle. Die Verteidigung betonte, dass Berndl keinen Zwang auf die Verkäufer der Immobilien, auch keinen Preisdruck ausgeübt habe: StAM, Spruchkammerakt Berndl, Rechtsanwalt Robert Miller an die Lagerspruchkammer Regensburg, 9.6.1947; Bestätigung von Xaver Brückle, Oberinspektor, 19.6.1947. Dass ein Belasteter in einem Berufungsverfahren zu einem Entlasteten mutierte, ist ein typisches Ergebnis des Entnazifizierungsverfahrens. Zu Bayern N IETHAMMER , Mitläuferfabrik, von zahlreichen weiteren Arbeiten seien hier nur zwei Beispiele aus Bayerisch-Schwaben herausgegriffen: zu Kaufbeuren, M ALEK , Entnazifizierung; zu Augsburg, G OTTO , Kommunalpolitik, 386-404. <?page no="159"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 159 private „Ariseure“. 123 Nicht nur Berndl verweigerte die Einsicht, dass er Teil des nationalsozialistischen Systems gewesen war und mit seinem Handeln die nationalsozialistische Herrschaft gestützt und gefestigt hatte. 124 4. Zusammenfassung Die Antragsteller mussten hart um ihre Rechte verhandeln, ihnen wurde von den städtischen Funktionsträgern nichts geschenkt. Die Ausgangssituationen waren unterschiedlich. Nicht immer führten prekäre Lebensverhältnisse der Antragsteller zu finanziellen Zugeständnissen ihrer Seite. Es kam durchaus vor, dass sie längeren Atem bewiesen und hartnäckig um ein besseres Ergebnis rangen. Das zahlte sich insbesondere für die Kinder von Julius und Nelly Guggenheimer oder für die Witwe von Benno Rosenbaum aus. Wie der Fall der Witwe von Siegfried Einstein jedoch zeigt, konnte mangelhaftes Wissen über die Gesetzeslage und zu späte Einschaltung eines kundigen Rechtsvertreters zur Versäumung von Fristen und damit von Ansprüchen führen. Die Antragsteller waren in dieser Hinsicht gegenüber der Stadt im Nachteil, die versierte Juristen einsetzte. Der Erfolg der Berechtigten hing auch davon ab, ob die weit entfernt lebenden Anspruchsberechtigten rechtzeitig von der Restitutionsgesetzgebung erfuhren und die Fristen einhalten konnten. Die Stadt bevorzugte nur deshalb die Vergleiche, weil Urteile der Wiedergutmachungskammer für sie wesentlich teurer geworden wären. Sie ging nur bedingt auf die Berechtigten zu. Es gab nur in zwei Fällen Zugeständnisse bei unübersehbaren Fehlverhalten. Ein offenes Schuldeingeständnis mit einer großzügigen Versöhnungsgeste war jedoch nicht zeitgemäß. 125 Die Stadtjuristen Hilk und Berndl, die Bürgermeister Fey und Riedmiller und der Stadtrat argumentierten juristisch. Moralische Dimensionen waren weitgehend ausgeblendet, was die Antragsteller verbittern konnte. Die in 123 L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 158. Lillteicher spricht ebd. zurecht bei dieser Argumentationsstrategie von einer „Trennung von Normen- und Maßnahmenstaat […], die sich auf gängige legale Geschäftspraktiken beriefen und dabei ausblendeten, mit welchen Mitteln sie zu Reichtum gekommen waren und warum sie gerade das Eigentum der Juden und kein anderes erworben hatten.“ 124 Der erste Spruchkammerspruch hatte Berndl deutlich als verantwortlich bezeichnet, er habe mit seinem Handeln das nationalsozialistische System gestützt und gefestigt: StAM, Spruchkammerakten, Berndl Heinrich, Urteil der Spruchkammer Internierungslager Regensburg, 3.12.1947. 125 Zur Entwicklung der Wiedergutmachungsgesetzgebung im gesellschaftlichen Klima einer Verdrängung nicht nur der Judenverfolgung G OSCHLER , Wiedergutmachung, 214-217, der dazu feststellt, „daß in aller Regel den ehemaligen Nationalsozialisten die gesellschaftliche Rehabilitierung schneller gelang als den vormalig Verfolgten.“ Ebd. 217. Dazu auch DERS ., Schuld, 125-146; DERS ., Politik, 113f. <?page no="160"?> Katrin Holly 160 diesem Beitrag geschilderten Reaktionen der Beteiligten finden sich in der allgemeinen Wiedergutmachungsforschung für ganz Deutschland wieder: Die Rückgabepflichtigen bauten „Abwehrstrategien“ und eine „Fundamentalopposition“ auf, was zur „Verlagerung des Streits auf Marginalfragen“ führte. 126 Die Abwehrreaktion der Stadt ordnet sich auch in das allgemeine abwehrende Verhalten staatlicher Institutionen als Rückgabepflichtige gegenüber den Berechtigten ein. 127 Obwohl das MRG 59 eine genaue Prüfung der individuellen Vorgänge verlangte, hätte sich das typische Ringen um diese Detailfragen durchaus vermeiden lassen können, wenn die Stadt Memmingen auch moralische Wiedergutmachungsaspekte einbezogen und auf dieser Basis Vergleiche ausgehandelt hätte. 128 Diese Chance wurde von der Stadtregierung verpasst. Die Tatsache, dass ausgerechnet der ehemalige Erste Bürgermeister Berndl und „Arisieur“ der Immobilien ab 1950 als Stadtsyndikus für die Restitutionen zuständig war, muss für die Antragsteller eine Zumutung gewesen sein. Die Chronologie der Ereignisse lässt den Schluss zu, dass Berndl offenbar anfangs im Vertrauen und Glauben als „Entlasteter“ zu gelten, die Verhandlungen mit den Antragstellern selbst führte und erst später wenigstens einen Vertreter für die Verhandlungen nach außen installieren ließ. Während Berndl seine Rolle als Erster Bürgermeister im Nationalsozialismus bei der Berufungskammer im Entnazifizierungsverfahren erfolgreich verharmlosen konnte, gelang ihm das während der Restitutionsverfahren nicht mehr. Das REG war in dieser Hinsicht ein Korrektiv und damit äußerst bemerkenswert. Es war geeignet, seinen Ruf erneut zu beschädigen. Diese Konstellation beförderte die eigentlichen Fragen an die Oberfläche: „Hinter den juristischen Sachfragen verbarg sich meist ein tieferer Konflikt über die Interpretation der NS-Vergangenheit.“ 129 126 L ILLTEICHER , Raub, 210. 127 L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 150, 157f. 128 Vgl. auch ebd., 210-213. 129 Ebd., 210. <?page no="161"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 161 Anhang: Zusammenstellung der Immobilien, die von der Stadt Memmingen von jüdischen Privatpersonen bzw. jüdischen Firmen im Zeitraum von 1933 bis 1945 gekauft wurden und unter das Restitutionsverfahren fielen, mit Angabe des Ausgangs des Restitutionsverfahrens: Erläuterungen: Es wurde der Ausgang der Restitutionsverhandlungen zwischen den ursprünglichen jüdischen Eigentümern bzw. deren Erben der Immobilien und der Stadt Memmingen aufgenommen. Zur Form der Restitution: beinhaltet Vergleich vor WB oder WK bzw. Beschluss der WK. Quellenangaben: zu den Quellen aus dem StdM vgl. auch die Auflistung im Anhang und die Anm. 130. Abkürzungen: WB = Wiedergutmachungsbehörde; WK = Wiedergutmachungskammer Immobilie / ursprünglicher Besitzer Herrenstraße 22 / Einstein Siegfried und Paula (je zur Hälfte, sind Geschwister) Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Zwangsversteigerung am 23.03.1938 / Kaufpreis 22.000 RM ohne Nebenkosten / Einheitswert 51.000 RM. Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Zunächst von der Stadt Memmingen angezweifelt. Begründung: sei Zwangsversteigerung aus wirtschaftlichen Gründen gewesen. Art der Restitution: Hälfteanteil von Paula Einstein: Verbleib im Eigentum der Stadt gegen Nachzahlung des beim Arisierungsvorgang zu wenig gezahlten Kaufpreises in Höhe von 11.000 DM an Antragstellerin / Hälfteanteil von Siegfried Einstein: Anspruch von WK abgelehnt, weil Antragstellerin eine Frist verpasst hatte. Form der Restitution: für Hälfteanteil von Siegfried Einstein: Beschluss der WK am 20.2.1951. benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 333(R), Nr. 1 und B2 063(1), Nr. 4 und B2 063(1), Nr. 6a. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Kalchstraße 47 und 47 ½ / Guggenheimer Julius und Nelly (Ehepaar) Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Verkauf 1938 an Kaufmann G. D., der auch das Geschäft übernahm. Kauf durch die Stadt Memmingen 1939 zum Einheitswert von 38.800 RM; Zweck: auf Abbruch wegen geplanten Bau einer Bahnunterführung an der Augsburger Straße. <?page no="162"?> Katrin Holly 162 Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Sofortige Anerkennung. Art der Restitution: Verbleib im Eigentum der Stadt gegen Nachzahlung des beim Arisierungsvorgang zu wenig gezahlten Kaufpreises in Höhe von 35.000 DM an die Antragssteller. Die Antragsteller treten Forderungen gegen den Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches an die Stadt ab. [Im Nachtragsvergleich 1964 weitere Zahlung der Stadt an die Antragssteller, weil die Abtretungsformulierung zu schwammig war. Es ist nicht klar, was tatsächlich abgetreten wurde. Die Stadt tritt das übrige Rückforderungsrecht wieder an die Antragssteller ab.] Form der Restitution: Vergleich am 20.2.1952 vor der WB; Nachtragsvergleich am 11.3.1964. benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 063(R), Nr. 5 und B1 063(R), Nr. 7 und B1 333, Nr. 1. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Bahnhofstraße 6 (Siebertstr. 6) / Guggenheimer Max und Rosa (Ehepaar) Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Kauf am 1.4.1939 lt. Kaufvertrag vom 8.3.1939 / Kaufpreis 49.900 RM / Einheitswert 1939 49.900 RM / Zweck: auf Abbruch für die geplante Erweiterung des Bahnhofplatzes. Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Sofortige Anerkennung. Art der Restitution: Rückgabe unter gegenseitiger Aufrechnung von gezogenen Nutzungen und Leistungen, dafür zahlt die Stadt eine Entschädigung von 1.000 DM; Antragssteller zahlen Kaufpreis nicht an die Stadt zurück, sondern treten den Anspruch gegen den Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches an die Stadt ab. Hinweis: Stadt übernimmt (außerhalb des Vergleichs) freiwillig Instandsetzungen für das Gebäude in Höhe von maximal 1.500 DM, weil der Unterhalt des Gebäudes von der Stadt vernachlässigt wurde. Form der Restitution: Vergleich vor der WB am 19.4.1950. benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 063(R), Nr. 2 und B1 333, Nr. 1 und B1 912(1)(R), Nr. 1 und B2 912/ 7, Nr. 1. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Gartengrundstück Plan Nr. 1122 mit 1192 (vor dem Krugstor) - später Plan Nr. 1117 (= Garten auf der Rückseite anschließend an Grundstück von Moltkestraße 8) / Firma Max Günzburger Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Kaufvertrag vom 27.1.1940. Ein Teil des Gesamtgrundstücks ging an den Privatmann N. Z., der andere Teil an die Stadt Memmingen zum Preis von 4.899,12 RM / Einheitswert 1941 4.770 RM / Zweck: Verwendung als Schulgarten. <?page no="163"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 163 Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Sofortige Anerkennung. Art der Restitution: Rückgabe - Der Antragssteller tritt an die Stadt Memmingen die Rückforderung des Kaufpreises vom Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs ab. Hinweis: Wiederherstellung der beschädigten Gartenanlage durch die Stadt Memmingen bereits vor dem Vergleich (ist kein Bestandteil des Vergleichs). Form der Restitution: Vergleich vor der WB am 16.3.1950 [Vergleich vor WB am 11.3.1964: Hugo Günzburger übernimmt die Eintreibung der Kaufpreisschuld vom Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs. Er zahlt dafür an die Stadt Memmingen 200 DM]. benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 333, Nr. 1 und B2 063(2), Nr. 21 / StAA, Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 904. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Krautstraße 8 / Nathan Sara, Karl und Siegfried Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Kaufvertrag 13.3.1939 / Kaufpreis 16.000 RM ohne Nebenkosten / Einheitswert 19.900 RM / Brandversicherung für 24.210 RM; Zweck: Umbau zur Unterbringung des Stadtarchivs, damit die Polizeiwache dessen Räume im Rathaus beziehen kann (alte Räume der Polizeiwache waren gesundheitsgefährdend). Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Sofortige Anerkennung. Art der Restitution: Rückgabe - Die Antragsteller zahlen den Kaufpreis nicht an die Stadt zurück, sondern treten die Rückforderung des Kaufpreises an den Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs ab. Form der Restitution: Vergleich vor der WB am 8.11.1949. benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 333(R), Nr. 1 und B1 063(R), Nr. 6. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Garten Plan Nr. 2669 / Gras- und Baumgarten mit Gartenhaus und Schupfe mit 0,802 ha / Pick Hermann Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Zunächst Kauf von Privatmann N. Z. am 14.8.1935; Stadt Memmingen kauft von N. Z. mit Kaufvertrag vom 22.6.1940; Kaufpreis der Stadt 15.000 RM ohne Nebenkosten; Zweck: Schaffung einer öffentlichen Erholungsanlage als Teil des geplanten Nordparks und wegen geplanten Bau einer Umgehungsstraße. Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Zunächst ist die Stadt der Meinung, dass N. Z. rechtmäßig erworben habe und der Verkauf nicht im Zusammenhang mit Gewaltmaßnahmen gegen jüdische Bürger stand. <?page no="164"?> Katrin Holly 164 Art der Restitution: Rückgabe - Die Antragsteller zahlen an die Stadt 1.500 RM zurück und verzichten dafür auf Geltendmachung von gezogenen Nutzungen und Wertminderungen. Form der Restitution: Vergleich vor der WB am 19.4.1950. benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 333(R), Nr. 1 und B1 063(R), Nr. 8. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Kramerstraße 12 / Pick Hermann u. Ida = Fa. Gebr. Rheineck Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Zwangsversteigerung am 8.5.1940; Kaufpreis 45.000 RM ohne Nebenkosten; Zweck: Teilabbruch oder vollständiger Abbruch der Immobilie zur Straßen- und Gehsteigerweiterung an einer Engstelle der Kramerstraße. Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Zunächst von der Stadt Memmingen angezweifelt. Begründung: sei Zwangsversteigerung aus wirtschaftlichen Gründen gewesen. Art der Restitution: Rückgabe gegen Rückerstattung des Kaufpreises an die Stadt. Erstattung von gezogenen Nutzungen und Schadensersatzzahlungen an die Antragsteller. Form der Restitution: Vergleich vor der WB am 16.11.1950 (Rückgabe des Gebäudes); Vergleich vor der WB am 30.11.1950 (Entschädigung wegen Teilabbruchs des Gebäudes durch die Stadt zur Schaffung der Passage); Beschluss der WK am 23.10.1952 (Regelung der Nebenansprüche auf Schadensersatz). benutzte Quellen: StdM EAPL: B1 912(1)(R), Nr. 8 und B2 063(2), Nr. 19 und B2 063(2), Nr. 20. Immobilie / ursprünglicher Besitzer: Grundstück Bauplatz Plan Nr. 2832 (an der Hindenburgstraße) / Rosenbaum Benno Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Kauf am 6.5.1940; Kaufpreis 3.105 RM; später Weiterverkauf eines Grundstückteils; Zweck: Verwendung eines Teils für den Bau einer Umgehungsstraße. Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Sofortige Anerkennung. Art der Restitution: Rückgabe; keine Rückzahlung des Kaufpreises an die Stadt. Die Antragstellerin tritt an die Stadt die Rückforderung des Kaufpreises vom Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ab. Form der Restitution: Vergleich vor WB am 8.11.1949. benutzte Quellen: StdM EAPL: B2 063(2), Nr. 11 und B2 912/ 7, Nr. 1 und B1 333, Nr. 1. <?page no="165"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 165 Immobilien / ursprünglicher Besitzer: Zwei Grundstücke: Plan Nr. 1043 (Gemüsegarten vor dem Kempter Tor) und Plan Nr. 1045 (Garten bei der Kaiserpromenade 13) / Rosenbaum Wilhelm (Käsehändler) Informationen zum „Arisierungs“-Vorgang: Zwangsversteigerung 1935; Erwerber ist die Unterhospitalstiftung der Stadt Memmingen; Preis 21.000 Goldmark; Zweck: Ein Teil eines Grundstücks wird für einen Straßenbau verwendet (Abtretung an die Stadt Memmingen), das restliche Grundstück versucht die Stadt danach vergeblich zu verkaufen. Anerkennung der Berechtigung der Rückerstattungsforderung durch die Stadt Memmingen: Zunächst von der Stadt Memmingen angezweifelt. Begründung: sei Zwangsversteigerung aus wirtschaftlichen Gründen gewesen. Art der Restitution: Verbleib im Eigentum der Stadt gegen Nachzahlung des beim Arisierungsvorgang zu wenig gezahlten Kaufpreises: Unterhospitalstiftung zahlt an den Antragssteller 18.000 DM. Dafür verzichtet Antragssteller auf Anspruch aus den für Straßenbauzwecke abgetretenen Grundstücksteil. Form der Restitution: Vergleichsvorschlag der WK am 29.12.1950 wird von Antragssteller widerrufen; Vergleichsvorschlag der WK am 18.6.1951 wird von Antragssteller widerrufen; Vergleich vor der WK am 7.7.1952. benutzte Quellen: StdM EAPL: B2 063(2), Nr. 17 und B2 063(2), Nr. 18 und B2 912/ 7 Nr. 2 / StAA Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 1141 und 653. Quellen und Literatur Archive Stadtarchiv Memmingen (StdM) 130 - EAPL B1 333, Nr. 1 (Einzelne Juden-Akten) - EAPL B1 333(R), Nr. 1 (Verhandlungen über die ehemaligen jüdischen Anwesen) - EAPL B1 063(R), Nr. 2 (Rückerstattung Bahnhofstr. - Guggenheimer, Picard) - EAPL B1 063(R), Nr. 5 (Rückerstattung Anwesen Kalchstr. 47 und 47½, Fred Grant) - EAPL B1 063(R), Nr. 6 (Rückerstattung Krautstr. 8 - Anwesen von Nathan 1947) 130 Die einzelnen Akten tragen im Archiv keine Nummer, sondern ihren Aktentitel, da der Bestand noch nicht erschlossen wurde. Da die Aktentitel teilweise sehr umfangreich sind, wurde auf deren Nennung in den Anmerkungen und in der Tabelle verzichtet; dort wurden stattdessen Nummern angegeben, die der Reihenfolge entsprechen, in der ich die Akten in den Kartons vorgefunden habe. In der Auflistung hier am Schluss des Aufsatz wird hinter den in den Anmerkungen verwendeten Nummern zusätzlich in Klammern jeweils der originale Aktentitel angegeben. <?page no="166"?> Katrin Holly 166 - EAPL B1 063(R), Nr. 7 (Ankauf des Anwesens Kalchstraße 47 und 47½ von Julius Guggenheimer) - EAPL B1 063(R), Nr. 8 (Pick II) - EAPL B1 912(1)(R), Nr. 1 (Siebertstraße 6, Ankauf) - EAPL B1 912(1)(R), Nr. 8 (Erwerbung des Anwesens, Kramerstr. 27) - EAPL B2 063(1), Nr. 4 (Rückerstattung Anwesen Herrenstr. 22, Lilly Regensteiner, geb. Eismann) - EAPL B2 063(1), Nr. 6a (Kto.Nr. 11208, Herrenstr. 22, Siegfr. u. Paula Einstein, YG 3361-79) - EAPL B2 063(2), Nr. 11 (Rückerstattung: Grundstück Hindenburgstr. - Gimpel- Rosenbaum) - EAPL B2 063(2), Nr. 17 (Wilhelm Rosenbaum gegen Freistaat Bayern wegen Entschädigung) - EAPL B2 063(2), Nr. 18 (Wiedergutmachung i.S. Wilhelm Rosenbaum. Grundstücke an der Kaiserpromenade) - EAPL B2 063(2), Nr. 19 (Verhandlungen mit Hermann Pick und Wiedergutmachungsangelegenheit) - EAPL B2 063(2), Nr. 20 (Kramerstraße 12) - EAPL B2 063(2), Nr. 21 (Rückerstattung Hugo Günzburger ./ . Stadt Mgen. Pl. Nr. 1117, Gartengrundstück) - EAPL B2 912, Nr. 1 (Bahnhofstr.6) [Achtung: falscher Akttitel, enthält Siebertstr.6] - EAPL B2 912/ 7, Nr. 1 (ohne Titel) [betr. versch. Käufe, darunter Benno Rosenbaum] - EAPL B2 912/ 7, Nr. 2 (ohne Titel) [betr. versch. Käufe, darunter Wilhelm Rosenbaum] - Personalakten: Berndl, Heinrich; Fey, Georg Staatsarchiv Augsburg (StAA) - Wiedergutmachungsbehörde Schwaben a-Akten, 653, 904, 1141 Staatsarchiv München (StAM) - Spruchkammerakten, Berndl Heinrich Literatur G OSCHLER , C ONSTANTIN : Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-1954), München 1992. <?page no="167"?> Die Restitution jüdischer Immobilien durch die Stadt Memmingen nach 1945 167 -: Die Politik der Rückerstattung in Westdeutschland, in: DERS ./ J ÜRGEN L ILLTEI- CHER (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 99-125. -: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. G OTTO , B ERNHARD : Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933- 1945, München 2006. H OSER , P AUL : Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945, Stuttgart 2001. -: Spielraum und Grenzen nationalsozialistischer Parteiherrschaft am Beispiel Memmingens, in: A NDREAS W IRSCHING (Hrsg.), Nationalsozialismus in Bayerisch- Schwaben. Herrschaft - Verwaltung - Kultur, Ostfildern 2004, 185-230. J ANETZKO , M AREN : Die „Arisierung“ mittelständischer jüdischer Unternehmen in Bayern 1933-1939. Ein interregionaler Vergleich, Ansbach 2012. L ILLTEICHER , J ÜRGEN : Rechtsstaatlichkeit und Verfolgungserfahrung. „Arisierung“ und fiskalische Ausplünderung vor Gericht, in: C ONSTANTIN G OSCHLER / J ÜR- GEN L ILLTEICHER (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 127-188. -: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2007. M ALEK , C ORINNA : Entnazifizierung in Kaufbeuren, Thalhofen 2016. N IETHAMMER , L UTZ : Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 1982. S CHARFFENBERG , H EIKO : Sieg der Sparsamkeit. Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein, Bielefeld 2004. S CHWARZ , W ALTER : Rückerstattung nach den Gesetzen der Alliierten Mächte, München 1974. W INSTEL , T OBIAS : Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland, München 2006. W IRSCHING , A NDREAS : Jüdische Friedhöfe in Deutschland 1933-1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), 1-40. Internet Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten, Riedmiller Lorenz, www.reichstag-abgeordnetendatenbank.de/ select.html? pnd=130055492 (Zugriff am 28.5. 2018). <?page no="168"?> Katrin Holly 168 Haus der Bayerischen Geschichte, Themen und Suche, Parlamentarismus, Geschichte des Bayerischen Parlaments seit 1819, Personen nach Namen, Riedmiller Lorenz, www.hdbg.de/ parlament/ content/ persDetailPrint.php? id=4673 (Zugriff am 28.5.2018). Stadtarchiv Memmingen, Publikationen, Dokumentation Räte, Ratsmitglieder 1919-1945 (Stadtrat), Fey, Georg, https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetterkataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Ratsmitglieder-1919-1945#page_12 (Zugriff am 15.5.2018). Stadtarchiv Memmingen, Publikationen, Dokumentation Räte, Ratsmitglieder 1946-2014 (Stadtrat), Rauh, Wilhelm Alfred, https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetterkataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Ratsmitglieder-1946- 2014#page_142 (Zugriff am 15.5.2018). Stadtarchiv Memmingen, Publikationen, Dokumentation Räte, Ratsmitglieder 1946-2014 (Stadtrat), Fey, Georg, https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetterkataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Ratsmitglieder-1946-2014#page_50 (Zugriff am 15.5.2018). Stadt Memmingen, Aktuell, Presse, Archiv, Pressemeldung vom 18.10.2013 (zu Riedmiller Lorenz): www.memmingen.de/ 370.html? &L=1&tx_ttnews%5Btt_ news%5D=4010&cHash=deb91801643e30756b360703afd61879 (Zugriff am 28.5.2018). <?page no="169"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen Maren Janetzko 1. Historische Umstände der Restitution Im Zuge der „Arisierung“ jüdischen Vermögens unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung hatten unzählige Unternehmen den Besitzer gewechselt. In den Rückerstattungsverfahren trafen „Ariseure“ und „Arisierungsopfer“ erneut aufeinander - eine für beide Seiten häufig unangenehme Konfrontation. Für die jüdischen Antragsteller bedeutete es, dass sie erneut mit der erlittenen Verfolgung konfrontiert wurden. Andererseits war die Restitution für sie die erste Möglichkeit, eine Kompensation für diese Verfolgung zu erlangen. 1 Entsprechend hoch waren die Erwartungen, zum einen an eine moralische Anerkennung ihres Leidens, zum anderen an eine materielle Entschädigung. Die materiellen Erwartungen wurden in der Regel noch dadurch gesteigert, dass die Lebensumstände der meisten Antragsteller erheblich schlechter waren als vor Beginn der NS-Verfolgung. Diese Rahmenbedingungen führten bei vielen Antragstellern zu dem Versuch, im Rückerstattungsverfahren möglichst hohe Ansprüche durchzusetzen. Für die Rückerstattungspflichtigen stellte sich die Situation nicht weniger problematisch dar: Aufgrund der Folgen des Krieges war ihre wirtschaftliche Lage meist ebenfalls eher schlecht. Zu einer moralischen Anerkennung von Verantwortung oder gar Schuld waren viele nicht bereit. In einer Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts im August 1949 beantworteten gerade einmal 54 Prozent der Befragten die Frage „Glauben Sie, dass Deutschland gegenüber den noch lebenden deutschen Juden die Pflicht zur Wiedergutmachung hat? “ mit Ja. Konkret nach der Rückerstattung befragt, fielen die Antworten noch zögerlicher aus. Die Frage lautete: „Wenn ein Nichtjude nach 1933 ein jüdisches Geschäft gekauft hat, und der frühere Besitzer verlangt nun die Rückgabe unter den gleichen Bedingungen: würden Sie sagen, seine Ansprüche bestehen zu Recht oder zu Unrecht? “ Nur 39 Prozent der Befragten hielten die Ansprüche für berechtigt, vorausgesetzt, das NS-Regime sei die eindeutige Ursache des Verkaufs. 2 Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass 1 Einen guten Überblick über die verschiedenen Bereiche der sogenannten „Wiedergutmachung“ bietet H OCKERTS , Wiedergutmachung. Eine umfassende Darstellung liefert G OSCH- LER , Schuld. 2 Vgl. G OSCHLER , Wiedergutmachung, 211f. Zur Reaktion der Rückerstattungspflichtigen vgl. auch S CHWARZ , Rückerstattung, 69-74. <?page no="170"?> Maren Janetzko 170 viele Pflichtige versuchten, Rückerstattungsansprüche so weit wie möglich abzuwehren. In vielen Fällen spiegelt das Verhältnis der beiden Parteien im Rückerstattungsverfahren ihr Verhalten und ihre Beziehung während der „Arisierung“. Zum Teil traten allerdings auch die Erben bzw. Rechtsnachfolger der früheren jüdischen Besitzer als Antragsteller auf, was die Rekonstruktion der Fakten häufig noch schwieriger machte. Daneben spielten auch die rechtlichen Vorgaben des Rückerstattungsgesetzes eine wichtige Rolle für den Verlauf der Verfahren. Einige typische Verläufe von Rückerstattungsverfahren sollen anhand der folgenden Fallbeispiele aufgezeigt werden. 2. Die Weberei M.S. Landauer in Augsburg: Ein Vergleichsabschluss vor der Wiedergutmachungsbehörde Alle Rückerstattungsverfahren wurden zunächst vor der regional zuständigen Wiedergutmachungsbehörde verhandelt. Sie war als Schiedsinstanz konzipiert, die den Parteien beim Abschluss eines Vergleichs behilflich sein sollte. Dies sollte einer zügigen Abwicklung dienen, was auch tatsächlich gelang: 71 % der bis zum 31. Oktober 1957 in der US-Zone entschiedenen Fälle wurden bereits in dieser Instanz abgeschlossen. 3 Das Rückerstattungsverfahren um die Weberei M.S. Landauer in Augsburg soll als Beispiel für eine rasche Einigung der Parteien dienen. 4 Der 1868 gegründete Familienbetrieb befand sich zuletzt im Besitz der drei Vettern Otto, Paul und Julius Fritz Landauer. Er wurde am 28. Januar 1938 an die Firma C.F. Ploucquet in Heidenheim/ Brenz, ebenfalls ein traditionsreiches Familienunternehmen, verkauft. Zwischen beiden Firmen bestanden bereits zuvor enge Geschäftsbeziehungen. Die Firma Ploucquet betrieb neben einer Weberei eine Färberei und Appreturanstalt, deren Umfang bedeutend größer war als der der Weberei. Daher suchte sie nach einer Erweiterung ihres Betriebs durch den Zukauf einer anderen Weberei. Durch eine Zeitungsannonce wurde sie darauf aufmerksam, dass die Firma M.S. Landauer zum Verkauf stand. Der Kaufpreis wurde in ausführlichen Verhandlungen ausgehandelt und die einzelnen Posten sehr sorgfältig bewertet. Als Beweis für die Fairness der Erwerber kann gelten, dass sie nach der Vermessung der übernommenen Grundstücke Ende November 1938 noch gut 1.000 RM nachzahlten, weil sich eines der Grundstücke als größer herausstellte, als zuvor angenommen worden war. Zu dieser Zeit nutzten viele andere Erwerber jüdischer Unternehmen die verschärfte Verfolgungssituation nach den Novemberpogromen, um Kaufpreise nachträglich herabzusetzen. 3 Vgl. S CHWARZ , Rückerstattung, 349. 4 Zur „Arisierung“ der Firma M.S. Landauer vgl. J ANETZKO , „Arisierung“, 211-214. <?page no="171"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 171 Die Veräußerer konnten alle emigrieren und traten daher selbst als Antragsteller im Rückerstattungsverfahren auf. Sie bescheinigten den Inhabern der Firma Ploucquet, sie hätten „in fairer Weise und mit guten Formen“ verhandelt. Dennoch hätten sie auch als Kaufleute verhandelt, „die im Interesse ihrer eigenen Firma von der Tatsache profitierten, dass infolge der Bedrängung der Juden und der immer größer werdenden Gefahren für diese eine sehr große Anzahl von Firmen mit jüdischen Inhabern ihre Betriebe anboten, jedem Preisdruck nachgaben und dadurch ein Preisniveau herbeiführten, wie es so niedrig ohne die Tatsache der Judenverfolgungen nie entstanden wäre.“ 5 Otto Landauer trat als Vertreter aller früheren Firmenbesitzer auch in persönliche Korrespondenz mit den Inhabern von C.F. Ploucquet. In seinem ersten Schreiben bekannte er offen, wie viel Überwindung ihn dieser Schritt gekostet hatte: „Ich gestehe Ihnen offen, dass ich bisher die inneren Hemmungen gegen einen Schriftwechsel mit Ihnen nicht zu überwinden vermochte, obwohl ich gerne zugebe, dass die für uns so schmerzlichen Abwicklungen anlässlich des erzwungenen Verkaufs unseres Werks […] in fairer Form geführt wurden.“ 6 Als Grund für seinen inneren Widerstand nannte Otto Landauer das Schicksal der Juden in Deutschland, das sich unter den Augen und der Duldung „auch der menschlich denkenden Deutschen“ abgespielt habe. 7 Die Vettern Landauer hielten im Nachhinein einen Übernahmepreis von 1,4 Mio. RM für angemessen. Vereinbart worden waren damals knapp 980.000 RM, die vom zuständigen Gauwirtschaftsberater der NSDAP noch um 40.000 RM herabgesetzt worden waren. Die Firma Ploucquet ging bereitwillig auf die Restitutionsforderungen der jüdischen Vorbesitzer ein, so dass es schon am 17. Dezember 1948 zu einer Vergleichsvereinbarung kam, also noch vor Ablauf der Anmeldefrist (31. Dezember 1948) und damit lange vor Beginn der eigentlichen Rückerstattungsverfahren. Die Firma Ploucquet behielt die Weberei, gab aber die 1938 übernommenen Werkwohngebäude und alle unbebauten Grundstücke an die Vettern Landauer zurück. 8 Der Streitwert dieser Grundstücke wurde von der Wiedergutmachungsbehörde auf 623.985 DM angesetzt. Zusätzlich leistete die Firma Ploucquet eine Nachzahlung von 35.000 DM in bar. Am 24. Mai 1949 wurde dieser Vergleich auch vor der Wiedergutmachungsbehörde protokolliert und damit nach dem Rückerstattungsrecht wirksam. 9 Die Vettern Landauer hatten zuvor um eine rasche Bearbeitung ihres Falls 5 Staatsarchiv Augsburg (StAA), WB V a 979, Beilage III zur Anmeldung durch Otto Landauer vom 15.11.1948, F. 12. 6 Firmenarchiv C.F. Ploucquet, Heidenheim, B.17.1., Schreiben von Otto Landauer vom 11.3.1947. Ich danke der Firma C.F. Ploucquet, insbesondere Herrn Erwin Saur, für die unkomplizierte Einsichtnahme in ihr bestens geordnetes Archiv. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. StAA, WB V a 979, Vertrag vom 17.12.1948, F. 19. 9 Vgl. StAA, WB V a 979, Niederschrift des Vergleichs vom 24.5.1949, F. 37. <?page no="172"?> Maren Janetzko 172 gebeten, da eine Einigung mit der Gegenseite bereits vorliege und sie aufgrund ihrer finanziellen Lage die Einnahmen aus der Vermietung und Verpachtung der zurückzugebenden Grundstücke dringend benötigten. 10 Gegenüber dem Direktor der Dresdner Bank Filiale Augsburg, Paul Vetter, der bei den Vergleichsverhandlungen zwischen den beiden Parteien vermittelt hatte, bezeichnete Otto Landauer die getroffenen Vereinbarungen als „anständigen Vergleich, der beide Teile befriedigt. Von dem Ihnen bekannten Gesichtspunkt ausgehend, dass es besser ist, sich in seinen Forderungen zu beschränken und auf ein Mindestmaß zurückzugehen, als Wiedergutmachungsforderungen auf dem gesetzlichen Wege auszutragen mit allen Unannehmlichkeiten, Unsicherheiten und Schwierigkeiten, ist der Abschluss möglich geworden und schon verbrieft.“ 11 Daraus spricht Realitätssinn, vielleicht aber auch eine gewisse Resignation über die begrenzten Möglichkeiten der Rückerstattung, die den früheren Firmeninhabern in der Regel keinen angemessenen Ersatz für den Verlust ihrer beruflichen - und damit in der Regel auch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen - Existenz bieten konnte. 3. Die Weiß- und Wollwarengroßhandlung Julius Guggenheimer in Memmingen: Der Versuch einer Widerlegung der Entziehungsvermutung Trotz aller Unzulänglichkeiten versuchte das Rückerstattungsrecht, der früheren Verfolgungssituation der Antragsteller gerecht zu werden. Deshalb genügte es nicht, auf Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zurückzugreifen, sondern es mussten neue Regelungen geschaffen werden, die der besonderen Art der Entziehung angemessen waren. 12 So sollte den Antragstellern erspart werden, selbst beweisen zu müssen, dass es sich bei der Veräußerung ihres Vermögens tatsächlich um eine Entziehung im Sinne des Gesetzes, also um eine Wegnahme oder Weggabe unter Zwang handelte. Deshalb ging das US-Rückerstattungsgesetz von einer allgemeinen Entziehungsvermutung aus. 13 Danach galt ein in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 abgeschlossenes Rechtsgeschäft grundsätzlich als Entziehung, wenn der Veräußerer selbst verfolgt wurde oder einer verfolgten Gruppe angehörte. 10 Vgl. StAA, WB V a 979, Schreiben von Otto Landauer vom 25.4.1949, F. 32. 11 Historisches Archiv der Dresdner Bank, Bestand 89. Filiale Augsburg, Nr. 3531-2000, Schreiben von Otto Landauer vom 17.12.1948. 12 Insbesondere deckt das BGB die besondere Situation des Kollektivzwangs, der durch die nationalsozialistische Judenverfolgung entstanden war, nicht ab. Vgl. S CHWARZ , Rückerstattung, 97-99. 13 Vgl. ebd., 145f. <?page no="173"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 173 Diese Entziehungsvermutung konnte vom Rückerstattungspflichtigen widerlegt werden. Für ein Rechtsgeschäft, das vor dem Erlass der Nürnberger Gesetze stattgefunden hatte, genügte dabei der Nachweis, dass der Erwerber einen angemessenen Kaufpreis gezahlt hatte, der in die freie Verfügung des Veräußerers gelangt war. 14 Als angemessener Kaufpreis, mit dessen Ermittlung in vielen Fällen Sachverständige beauftragt wurden, wurde derjenige angenommen, der ohne die Verfolgungssituation zwischen einem Verkaufswilligen und einem Kaufinteressenten zustande gekommen wäre. Im Falle von Unternehmen wurde ausdrücklich bestimmt, dass der Goodwill, also der immaterielle Unternehmenswert, berücksichtigt werden musste, den das Unternehmen in den Händen einer nicht verfolgten Person gehabt hätte. Zur Berechnung wurde in der Regel der Durchschnitt zwischen Substanzwert und Ertragswert als angemessener Kaufpreis angenommen. Beide Werte waren aufgrund des zeitlichen Abstands und der kriegsbedingten Veränderungen oft sehr schwer zu ermitteln. 15 Die Gutachter standen also vor einer äußerst schwierigen Aufgabe, die sie im Einzelfall sehr unterschiedlich lösten. Für Rechtsgeschäfte, die erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze abgeschlossen worden waren - und dies betraf die Mehrzahl der „Arisierungen“ 16 -, genügte der Nachweis eines angemessenen und zur freien Verfügung gelangten Kaufpreises nicht. In diesen Fällen musste der Erwerber darüber hinaus nachweisen, dass a) das Rechtsgeschäft auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus in dieser Form abgeschlossen worden wäre, oder b) dass er die Vermögensinteressen des Berechtigten in besonderer Weise und mit wesentlichem Erfolg wahrgenommen hatte. 17 Die Ansprüche der Gerichte an diese besondere Wahrnehmung der Vermögensinteressen waren sehr hoch, so dass der Nachweis nur in wenigen Fällen gelang. 18 Viele Rückerstattungspflichtige führten an, sie hätten durch den Erwerb eines jüdischen Unternehmens dem Inhaber die flüssigen Mittel für dessen Auswanderung beschafft und damit zur Rettung seines Lebens beigetragen. Dies genügte den Gerichten nicht. Erwerber, die sich auf diesen Ausnahmepassus berufen wollten, mussten z.B. dem Veräußerer bei der Verbringung seines Vermögens ins Ausland geholfen oder 14 Vgl. ebd., 147. Dabei setzte man den Erlass der Nürnberger Rassengesetze als Zäsur an, die für den rechtlichen Status der Juden von einschneidender Bedeutung waren. Erst im Verlauf der späteren Forschung stellte sich heraus, dass diese Gesetze den Verlauf der wirtschaftlichen Judenverfolgung nicht entscheidend beeinflussten. Für den wirtschaftlichen Verdrängungsprozess werden seit B ARKAI , Boykott, die Jahre 1934-1937 zu einer Phase zusammengefasst. 15 Vgl. S CHWARZ , Rückerstattung, 160. 16 Zum quantitativen Verlauf der wirtschaftlichen Verdrängung jüdischer Unternehmer vgl. J A- NETZKO , „Arisierung“, 178-182, 322-326. 17 Vgl. S CHWARZ , Rückerstattung, 147. 18 Vgl. ebd., 162f. <?page no="174"?> Maren Janetzko 174 einen wesentlichen Anteil des Kaufpreises als Schwarzgeld bezahlt haben. Solche Transfers bedeuteten allerdings einen gravierenden Rechtsverstoß und waren daher mit einem großen Risiko verbunden, das nur extrem wenige Erwerber jüdischer Unternehmungen einzugehen bereit waren. Deshalb versuchten es viele Rückerstattungspflichtige mit der anderen Ausnahmebestimmung, also dem Nachweis, dass das Rechtsgeschäft auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus in dieser Form zustande gekommen wäre. Oft wurde in diesem Fall darauf verwiesen, das Geschäft sei nicht unter Druck zustande gekommen, da ja der Veräußerer selbst das Unternehmen dem Erwerber angeboten und diesen zum Kauf gedrängt habe. Der Veräußerer habe sich später auch gegenüber Dritten sehr zufrieden über das Geschäft geäußert und weiterhin guten Kontakt zum Erwerber unterhalten. Das mag in vielen Fällen tatsächlich so gewesen sein. Allerdings wird bei dieser Argumentation ausgeblendet, dass der jüdische Unternehmer nur aufgrund seiner Verfolgung seinen Betrieb überhaupt zum Kauf angeboten hatte und gezwungen gewesen war, auftretende Interessenten zum Erwerb zu drängen. Ein typisches Beispiel für eine solche Argumentation im Hinblick auf die Widerlegung der Entziehungsvermutung liefert das Rückerstattungsverfahren um die Memminger Weiß- und Wollwarengroßhandlung Julius Guggenheimer. Diese war am 16. März 1938 an Georg Durner verkauft worden. 19 Julius Guggenheimer und seine Frau Nelly wurden nach Auschwitz deportiert und vermutlich dort ermordet. Den Rückerstattungsantrag stellten ihre Kinder Friedrich und Lore. Er zielte vor allem auf eine Nachzahlung des 1938 nicht gezahlten immateriellen Unternehmenswertes. 20 Durner antwortete: „Das Großhandelsgeschäft des verstorbenen Kaufmanns Julius Guggenheimer, Memmingen, wurde mir von demselben ungefähr im Dezember 1937/ Januar 1938 mehrmals freiwillig angeboten und der Verkauf und Kauf erfolgte ebenfalls auf beiderseitig freiwilliger Basis. Ich habe nach bester Überzeugung das Geschäft nach den Richtlinien des ehrbaren Kaufmannes erworben und den Kaufbetrag gemäß des Kaufvertrages restlos bezahlt. Sowohl die Werte des Warenlagers, als die der Einrichtungsgegenstände wurden von dem Verkäufer selbst bestimmt bzw. durch vereidigte Sachverständige bewertet, die der Verkäufer bestellte. Der Verkauf und Kauf wurde ohne jede Zuhilfenahme einer Parteistelle, nur zwischen dem Verkäufer und mir abgeschlossen. Außer dem erwähnten Warenlager und Einrichtungsgegenständen habe ich auf besonderen Wunsch des Verkäufers dessen Außenstände übernommen und hundertprozentig bezahlt, da derselbe der Über- 19 Vgl. J ANETZKO , „Arisierung, 192-194. 20 Vgl. StAA, WB V A 943, Rückerstattungsantrag für Fred Grant (vormals Fritz Guggenheimer) vom 27.12.1948, F. 1-3. <?page no="175"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 175 zeugung war, dass er als jüdischer Kaufmann dieselben doch nicht mehr hereinbekomme. Die Übernahme erfolgte aus reiner Gefälligkeit, um dem Verkäufer die Möglichkeit zur Auswanderung zu erleichtern.“ 21 Es ist deutlich erkennbar, wie die Argumentation auf die Widerlegung der Entziehungsvermutung zielt. Dabei muss Durner zugestanden werden, dass einiges den Tatsachen entspricht: die faire Bewertung der verkauften Sachwerte ebenso wie die für den Verkäufer vorteilhafte Übernahme der Außenstände. Allerdings betraf dies nur die guten Außenstände, und es stimmt auch nicht ganz, dass Durner diese „hundertprozentig“ bezahlt hat. Denn als später einige Forderungen uneinbringlich wurden, zwang er Guggenheimer, einem Kaufpreisnachlass für Zahlungsausfälle zuzustimmen. 22 Nicht zutreffend ist außerdem die Behauptung, es seien keine Parteistellen beteiligt gewesen: Man kann Durner zugutehalten, dass er offenbar nicht die Unterstützung der Parteistellen suchte, um den Kaufpreis zu drücken. Eine Beteiligung des Memminger Kreisleiters an den Vertragsverhandlungen ist jedoch mithilfe der Akten nachzuweisen. 23 Durner hatte sich während der Verhandlungen als entgegenkommender Erwerber gezeigt, führte jedoch nach Vertragsabschluss mehrere Auseinandersetzungen mit Guggenheimer und pochte dabei auf einer Vertragsauslegung zu seinen eigenen Gunsten. Im Rückerstattungsverfahren stritt er nicht mit den Erben, sondern stimmte zügig einem Vergleich zu, der eine Nachzahlung Durners in Höhe von 25.000 DM vorsah. In der schriftlichen Niederlegung des Vergleichs akzeptierte Durner auch die Formulierung, der Verkauf im Jahr 1938 sei „unter der Einwirkung der nationalsozialistischen Gesetzgebung“ zustande gekommen. 24 4. Strumpfwarenfabrik J. Gutmann, Memmingen: Ein Verfahren über mehrere Instanzen Wie schwierig - und nach subjektivem Empfinden auch ungerecht - die Suche nach Gerechtigkeit mit den Mitteln des Rückerstattungsrechts sein konnte, zeigt das langwierige Verfahren um die Strumpfwarenfabrik J. Gutmann in Memmingen. Das Unternehmen wurde bis 1938 als GmbH betrieben, deren Gesellschafter alle Juden waren. Die Hauptanteile lagen bei Julius Gutmann als Leiter des Betriebs sowie Ignaz Gutmann und Ernst Löwenstein, die beide als Reisende für die Firma tätig waren. 21 StAA, WB V A 943, Schreiben von Georg Durner vom 11.7.1949, F. 10. 22 Vgl. J ANETZKO , „Arisierung, 192-194. 23 Vgl. ebd., 192. 24 StAA, WB V a 943, Vertrag vom 15.11.1949, F. 32-34. <?page no="176"?> Maren Janetzko 176 Die übrigen, etwas niedrigeren Anteile lagen bei drei weiblichen Verwandten. Der Betrieb wurde am 8. Juli 1938 an Rudolf Gumpp verkauft, der seit 1919 als Angestellter dort tätig war, zuletzt als Prokurist und stellvertretender Betriebsleiter. 25 Julius Gutmann, der die Verhandlungen geführt und den Kaufvertrag entworfen hatte, wurde zusammen mit seiner Frau Ida im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1947 für tot erklärt. Der Rückerstattungsantrag wurde von Ignaz Gutmann und Ernst Löwenstein, der sich jetzt Ernest Livingstone nannte, gestellt. Die beiden Antragsteller untermauerten die Entziehungsvermutung, indem sie darauf hinwiesen, dass der Memminger Kreiswirtschaftsberater der NSDAP, Heinrich Krumm, Julius Gutmann mehrfach telefonisch zum Verkauf aufgefordert habe. 26 Rudolf Gumpps Argumentation zielte dagegen darauf zu zeigen, dass im Kaufvertrag keine Spuren von Verfolgung sichtbar wurden, sondern dass er Julius Gutmann bei den Konditionen entgegengekommen sei. 27 Während Gumpp deshalb der Ansicht war, sich korrekt verhalten zu haben, pochten die Antragsteller auf ihre Ansprüche. Das Verfahren zog sich in die Länge und wurde im Oktober 1949 von der Wiedergutmachungsbehörde an die nächsthöhere Instanz, die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Augsburg, verwiesen, da eine Einigung auf einen Vergleich nicht in Sicht war. 28 Die Wiedergutmachungskammer machte von ihrer Möglichkeit Gebrauch, Zeugen zu befragen und Gutachter zu beauftragen. 29 Tatsächlich zeigen die nun zusammengetragenen Fakten, ergänzt durch andere verfügbare Quellen, dass beide Seiten recht hatten: Tatsächlich hatte der Kreiswirtschaftsberater Druck auf Gutmann ausgeübt. Nachdem die Verhandlungen mit anderen Interessenten gescheitert waren, hatte Julius Gutmann den Betrieb Rudolf Gumpp zum Kauf angeboten. Der Kaufvertrag enthielt einige Bestimmungen, die bei anderen „Arisierungen“ zu dieser Zeit nicht mehr akzeptiert wurden, weil sie den jüdischen Verkäufern zugutekamen. 30 Dabei spielte es möglicherweise eine Rolle, dass die nichtjüdische Ehefrau des Mitinhabers Ignaz Gutmann mit einem örtlichen NS-Funktionär, dem Kreisamtsleiter des Amts für Handel und Handwerk Willy Kerler, verschwägert war. So wurde für die verhältnismäßig alten Maschinen ein recht hoher Preis vereinbart. Zudem behielten sich die Verkäufer ein Eigentumsrecht an einigen Maschinen vor, bis diese vollständig bezahlt seien. Der Käufer erklärte sich bereit, die Außenstände unentgeltlich einzuziehen. Der von der Wiedergutmachungskammer beauftragte Gutachter machte 25 Vgl. J ANETZKO , „Arisierung“, 194-196. 26 Vgl. StAA, WB V a 211, Rückerstattungsantrag vom 14.8.1948, F. 2f. 27 Vgl. StAA, WB V a 211, Schreiben von Ferdinand Voigt vom 17.02.1949, F. 29-47. 28 Vgl. StAA, WB V a 211, Beschluss der Wiedergutmachungsbehörde vom 3.10.1949, F. 130. 29 Vgl. StAA, WB V a 211, WKV 33/ 49, diverse Verhandlungsprotokolle. 30 Vgl. J ANETZKO , „Arisierung“, 195f. <?page no="177"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 177 deutlich, dass Gumpp sich durch den Kauf des Unternehmens nicht besser gestellt habe, als wenn er dessen Angestellter geblieben wäre. 31 Damit ist verständlich, warum sich Gumpp beharrlich gegen die Restitutionsansprüche wehrte. Die Wiedergutmachungskammer räumte ein, dass der Kaufpreis angemessen gewesen sei. Dies genügte nach Rechtslage allerdings nicht zur Widerlegung der Entziehungsvermutung. Die Kammer erkannte andererseits auch an, dass ein Zusammenhang des Verkaufs mit der Verfolgungssituation bestanden habe und sah keine besondere Wahrnehmung der Vermögensinteressen der Veräußerer durch Gumpp. 32 Im März 1952 kam es zu einem Vergleich zwischen beiden Parteien: Gumpp gab das Anlagevermögen des Unternehmens mit Ausnahme eines Opel aus dem Jahr 1936 zurück und leistete eine Nachzahlung von 10.000 DM. 33 5. Fa. J. Kleofass & Knapp, Hoch- und Tiefbauunternehmen in Augsburg: Ein Fall von „schwerer Entziehung“ Das Rückerstattungsgesetz der US-Zone enthielt im Vergleich zu den übrigen westlichen Zonen eine Besonderheit, die noch stärker als andere Bestimmungen darauf zielte, den Umständen der „Arisierung“ jüdischen Vermögens Rechnung zu tragen. Um jenen Fällen, in denen Juden ihr Vermögen unter Anwendung von Drohungen bzw. Gewalt entzogen wurde, besser gerecht zu werden, unterschied das US-Rückerstattungsgesetz zwischen einfacher und schwerer Entziehung. Unter schwerer Entziehung verstand das Gesetz ein gegen die guten Sitten verstoßendes Rechtsgeschäft bzw. die Erlangung des Vermögensgegenstands durch eine vom Erwerber oder zu seinen Gunsten ausgeübte Drohung oder durch widerrechtliche Wegnahme oder sonstige unerlaubte Handlung. Erkannte das Gericht auf schwere Entziehung, so trafen den Erwerber umfassendere Schadensersatzansprüche des Veräußerers als im Falle einer einfachen Entziehung. Diese Rechtskonstruktion trug eindeutigen Strafcharakter. 34 Da die Feststellung einer schweren Entziehung weitreichende Konsequenzen für die Haftung des Erwerbers hatte, gab es darüber in vielen Verfahren hartnäckige Auseinandersetzungen. Viele Veräußerer schilderten ihren Fall als schwere Entziehung, 31 Vgl. StAA, WB V a 211, WKV 33/ 49, Schreiben von Ernst Pfänder vom 25.5.1950, F. 64- 67. 32 Vgl. StAA, WB V a 211, WKV 33/ 49, Beschluss der Wiedergutmachungskammer vom 17.11.1950, F. 80-89. 33 Vgl. StAA, WB V a 211, WKV 33/ 49, Protokoll der Wiedergutmachungskammer vom 10.3.1952, F. 212-214. Das Verfahren hatte sich hingezogen, weil der o.g. Beschluss der Wiedergutmachungskammer wegen eines formalen Fehlers zwischenzeitlich vom Wiedergutmachungssenat beim Oberlandesgericht München wieder aufgehoben worden war. 34 Vgl. S CHWARZ , Rückerstattung, 147-153. <?page no="178"?> Maren Janetzko 178 obwohl er nicht den gesetzlichen Kriterien entsprach. In diesem Punkt zeigt sich deutlich die Schwierigkeit, dem subjektiv empfundenen Druck der Verfolgten in einem gerichtlichen Verfahren gerecht zu werden. Zudem spielte auch das Motiv, möglichst hohe Forderungen durchzusetzen bzw. abzuwehren, bei der Frage der schweren Entziehung eine Rolle. Gerade die Ermittlungen zur Frage der schweren Entziehung brachten viele Details über das Verhalten der „Ariseure“ ans Licht, die sonst im Verborgenen geblieben wären. Dies gilt auch für den Fall des Augsburger Hoch- und Tiefbauunternehmens J. Kleofaas & Knapp. 35 Es befand sich bis November 1938 im Besitz der Brüder Max und Franz Knapp und ihres Cousins Fritz Sänger, wobei Franz Knapp bereits emigriert war und seinem Bruder Max eine Vollmacht erteilt hatte. Als Kaufinteressent trat Hans Korte auf, der von der Augsburger NSDAP-Elite massiv unterstützt wurde. Er sorgte dafür, dass nach dem Novemberpogrom Max Knapp und Fritz Sänger inhaftiert wurden, während er selbst von der Kreisleitung als kommissarischer Betriebsleiter eingesetzt wurde. Max Knapp und Fritz Sänger wurden erst nach der Unterzeichnung der Kaufverträge wieder freigelassen. Zur Abwicklung der Firma J. Kleofaas & Knapp und zur Veräußerung der Betriebsgrundstücke aus dem Besitz der Familien Knapp und Sänger wurde auf Kortes Veranlassung ein Treuhänder eingesetzt. Dieser setzte die Preise bewusst so niedrig an, dass die Einnahmen nur zur Begleichung aller offenen Forderungen reichten. Die jüdischen Besitzer erhielten also keinerlei Erlös. Als Knapp und Sänger es daraufhin wagten, sich bei der Regierung von Schwaben über das Verhalten des Treuhänders zu beschweren, äußerte sich Korte in einer Stellungnahme empört: „In diesem […] leider immer noch nicht abgeschlossenen Verfahren tauchen nun zu unserer großen Überraschung die Juden mit ihrer Regierungseingabe plötzlich wieder auf und zwar in der Art einer Vertragspartei. […] Wir lehnen jedenfalls nach unserer Weltanschauung die Juden als Vertragspartner, mit denen man sich auseinandersetzt, ab.“ 36 Für Hans Korte wurde es eine bittere Erfahrung, als er sich nach Kriegsende erneut mit den früheren Besitzern seines Unternehmens auseinandersetzen musste. Vermutlich ahnte er frühzeitig, dass die von ihm betriebene „Arisierung“ ihn in Schwierigkeiten bringen würde, denn er versuchte im Oktober 1945, die Firma an einen US- Amerikaner weiterzuverkaufen. Da dieser jedoch nicht berechtigt war, deutsches Vermögen zu erwerben, musste der Vertrag rückgängig gemacht werden. 37 Max Knapp, der mit Hilfe seiner Verwandten noch rechtzeitig hatte auswandern können, stellte zusammen mit seinem Bruder Franz einen Rückerstattungsantrag. 35 Zur komplizierten „Arisierung“ vgl. J ANETZKO , „Arisierung“, 226-231. 36 StAA, WB V a 812, Schreiben der Fa. Korte & Vogel vom 18.7.1939, F. 54f. 37 Vgl. StAA, WB V a 812, Schreiben von Hans Korte vom 1.6.1946 (Anlage zu F. 105). <?page no="179"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 179 Fritz Sänger hatte die Shoah nicht überlebt. 38 Noch bevor überhaupt das Rückerstattungsgesetz erlassen wurde, versuchte Franz Knapp, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Er kehrte nach Augsburg zurück und erreichte bei der US-Militärregierung, dass er als Mitgeschäftsführer seiner alten Firma eingesetzt wurde. Als Korte sich über die Art seiner Treuhänderschaft bei der Militärregierung beschwerte, 39 veranlasste Franz Knapp die Wiederaufnahme von Kortes Spruchkammerverfahren: Korte war zunächst als Mitläufer eingestuft worden, hatte jedoch, wie Franz Knapp offenbar herausgefunden hatte, seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS verschwiegen. Daraufhin wurde Korte in die Gruppe der Belasteten eingestuft und sein Vermögen eingezogen. Zudem wurde er wegen Fragebogenfälschung zu zehn Jahren Haft verurteilt. 1948 konnte er nachweisen, dass seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS nur formaler Natur war, weil er als Bauingenieur an der Operation Todt beteiligt gewesen war. Er wurde nun erneut als Mitläufer eingestuft. 40 Sein Verhalten in der „Arisierung“ spielte offenbar erstaunlicherweise vor der Spruchkammer keine Rolle. Als die Brüder Knapp 1948 ihre Rückerstattungsansprüche geltend machten, beschwerte sich Korte beim Zentralanmeldeamt über Franz Knapp: „Menschen zu verfolgen, sie verurteilen zu lassen und weiter zu verfolgen, auszuplündern, deren Privateigentum sich anzueignen und einen volkswirtschaftlich wertvollen Betrieb an den Abgrund ‚treuhänderisch‘ zu steuern, nur aus der Festigung einer gewünschten eigenen Position und der persönlichen Bereicherung, das sind die wirklichen Motive des Herrn Knapp und so handelt eben nur ein Mann, der sich im Unrecht weiß.“ 41 Ihm kann nicht bewusst gewesen sein, dass er mit diesen Worten sein eigenes Verhalten während der „Arisierung“ treffend charakterisierte. Die Wiedergutmachungskammer dagegen erhob umfangreiche Zeugenaussagen und Gutachten über den Verlauf der „Arisierung“ und entschied im Juni 1952 auf schwere Entziehung. Unternehmen und Grundstücke mussten zurückgegeben werden und umfangreiche Nachzahlungen zur Abgeltung des zwischenzeitlich erzielten Profits geleistet werden. 42 Hans Korte fühlte sich weiterhin ungerecht behandelt. Im Jahr 1980 ließ er ein Beschwerdeverfahren nach dem Reparationsschädengesetz einleiten, das erst 1989 abgeschlossen wurde, denn gegen die Entscheidung der Ausgleichsverwaltung hatte Korte erneut Beschwerde eingelegt. 43 1989 war er 80 Jahre alt. 38 Vgl. StAA, WB V a 812, Rückerstattungsantrag vom 24.12.1948, F. 1f. 39 Vgl. StAA, WB V a 812, Schreiben von Hans Korte vom 1.6.1946 (Anlage zu F. 105). 40 Vgl. StAA, WB V a 812, Mappe „Beweismaterial gegen Erben Knapp“. 41 StAA, WB V a 812, Schreiben von Hans Korte vom 1.9.1948 (Anlage zu F. 105). 42 Vgl. StAA, WB V a 812, Beschluss der Wiedergutmachungskammer vom 11.6.1952, F. 105. 43 Vgl. StAA, WB V a 435. <?page no="180"?> Maren Janetzko 180 6. Die Butter- und Käsegroßhandlung Wilhelm Rosenbaum, Memmingen: Die Ablehnung eines Rückerstattungsantrags Vergeblich versuchte der frühere Memminger Käsegroßhändler Wilhelm Rosenbaum, auf dem Wege der Rückerstattung sein Geschäftshaus mitsamt der Betriebseinrichtung wiederzuerlangen. An diesem Fall wird deutlich, dass das Rückerstattungsrecht - mangels vorliegender Forschungen zu diesem frühen Zeitpunkt - nicht alle Mechanismen der wirtschaftlichen Verfolgung erfasste und daher manchen Fällen nicht gerecht werden konnte. Wilhelm Rosenbaum war bereits im Jahr 1921 das Opfer antisemitischer Ausschreitungen in Memmingen geworden. 44 1933 gehörte er zu jenen jüdischen Geschäftsleuten, die am 31. März im Vorfeld des Boykotttags in Schutzhaft genommen wurden. 45 Er blieb bis zum 29. Mai im Memminger Landgerichtsgefängnis und wurde dann als einziger Memminger Jude in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Dort wurde er so schwer misshandelt, dass ihn seine damals 15-jährige Tochter später kaum wiedererkannte. Rosenbaum kehrte nicht mehr nach Memmingen zurück. Seine Familie war gewarnt worden, dass er dort sofort wieder in Schutzhaft genommen werden würde. Mit Hilfe von Verwandten floh er in die Niederlande; später emigrierte er nach Israel. Noch während seiner Inhaftierung leitete die Stadtsparkasse Memmingen, bei der Rosenbaum hoch verschuldet war, ein Zwangsversteigerungsverfahren über sein Firmenanwesen ein und verschärfte seine Lage im Juli durch die Kündigung sämtlicher Kredite. Aufgrund seiner Verfolgung und der dadurch bedingten Flucht ins Ausland konnte sich Rosenbaum gegen diese Maßnahmen nicht wehren. Im Gegenteil erwirkten die deutschen Behörden sogar unter dem Vorwurf eines „betrügerischen Bankrotts“ seine Inhaftierung in den Niederlanden und stellten ein Auslieferungsgesuch. Bei der Prüfung der Akten erkannten die niederländischen Behörden allerdings den politischen Charakter der erhobenen Anschuldigungen und ließen Rosenbaum frei. Am 14. Dezember 1933 erwarb die Sparkasse Memmingen bei der Zwangsversteigerung das Geschäftshaus mit allen Einrichtungen zum Preis von knapp 67.000 RM. Das Gewerbe war bereits zum 12. August abgemeldet worden. Wilhelm Rosenbaum stellte 1948 selbst einen Rückerstattungsantrag bezüglich des Geschäftshauses mitsamt der Betriebseinrichtung. 46 Das Verfahren dauerte bis 1956 und führte durch alle Instanzen bis vor das Oberste Rückerstattungsgericht, jedoch wurde der Antrag von allen Gerichten zurückgewiesen. Nach dem Studium der Akten des Zwangsversteigerungsverfahrens sowie des Verwaltungsrats der Sparkasse 44 Vgl. H OSER , Geschichte, 119-124. 45 Zum Folgenden J ANETZKO , „Arisierung“, 70f. 46 Vgl. StAA, WB V a 653 (1), Rückerstattungsantrag vom 10.11.1948, F. 1-3. <?page no="181"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 181 Memmingen folgten die Gerichte der Argumentation der Sparkasse, Rosenbaum sei bereits vor 1933 überschuldet gewesen. Aus rechtlicher Sicht lag damit keine Entziehung vor. 47 Aus heutiger Sicht und Aktenkenntnis stellt sich die Lage anders dar: Zwar war Rosenbaum verschuldet, jedoch war die Memminger Stadtsparkasse keineswegs zur Aufkündigung der Kredite und zur Einleitung des Zwangsversteigerungsverfahrens gezwungen. Sie besaß hier durchaus Ermessensspielräume, die sie im Fall Rosenbaum konsequent zu Ungunsten des jüdischen Unternehmers nutzte. Dies wird vor allem im Vergleich mit einem anderen Fall deutlich: Die wesentlich höher verschuldete und sogar zahlungsunfähige Firma Kerler entging einem Zwangsversteigerungsverfahren wohl deshalb, weil es sich bei den Söhnen der Inhaberin um zwei engagierte Parteigenossen handelte. Seit der „Gleichschaltung“ war der Verwaltungsrat der Sparkasse nur noch mit Parteimitgliedern besetzt. 48 Das grobe rechtliche Raster der Rückerstattungsverfahren und seine Orientierung vor allem an wirtschaftlich-finanziellen Fakten waren für die Auslotung solcher Verflechtungen und Entscheidungsspielräume wenig geeignet. 7. Bilanz Ganz pragmatisch sollte die Rückerstattung in den Nachkriegsjahren zu einer Wiederherstellung sicherer Eigentumsverhältnisse führen, die eine Grundvoraussetzung für das Vertrauen in das Funktionieren des Wirtschaftssystems darstellte. 49 Das Rückerstattungsgesetz der US-Militärregierung, die auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle einnahm, sollte darüber hinaus insbesondere dazu dienen, die Arisierungsopfer, so weit es ging, wieder in den Besitz ihres früheren Vermögens zu bringen und eine gewisse Kompensation für das erlittene Unrecht zu leisten. 50 Zugleich enthielt es, insbesondere in Form des Tatbestands der „schweren Entziehung“ und der damit verbundenen strengen Haftung auch die Tendenz einer Bestrafung der Täter. Hinter dem Rückerstattungsrecht stand also ein hoher moralischer Anspruch, der gewürdigt werden sollte. Immerhin bemühten sich die Gerichte, der Wahrheit durch die Einholung von Gutachten und die Befragung von Zeugen nahe zu kommen, zum Beispiel in der Frage der Ermittlung eines angemessenen Kaufpreises. Da 47 Vgl. StAA, WB V a 653 (1), WKV 157/ 50, Beschluss des Obersten Rückerstattungsgerichts vom 22.3.1956, F. 74-84. 48 Vgl. H OSER , Geschichte, 185, 210. 49 Vgl. G OSCHLER , Schuld, 102. 50 Dies zeigt auch die Zulassung der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) als Antragsteller für erbenloses Vermögen, vgl. ebd., 110. <?page no="182"?> Maren Janetzko 182 im Falle der Rückerstattung - anders als bei der Entschädigung 51 - die Behörde, die über die Höhe der Ansprüche entschied, nicht zugleich diejenige war, die diese Ansprüche zu erfüllen hatte, lag eine Minderung der Rückerstattungsansprüche nicht im Interesse der Gerichte. Die Fallbeispiele zeigen andererseits, dass die gefundenen juristischen Regelungen dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden und der Biographie der Verfolgten wie auch der Pflichtigen nur schwer gerecht werden konnten. Die Grundlagen für diese Unzulänglichkeit hatte zum Teil bereits das NS-Regime gelegt: Der von ihm geschürte Antisemitismus war nicht bei Kriegsende einfach verschwunden und offenbarte sich in den Äußerungen manch eines Rückerstattungspflichtigen. Der von Hitler begonnene Krieg hatte dazu geführt, dass zunächst kein Staat mehr vorhanden war, der von den Verfolgten und Ausgeplünderten zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Eine gravierende Vorbelastung der Restitution war zudem der scheinlegale Charakter, den der nationalsozialistische Staat der Ausplünderung der Juden gegeben hatte: Für jede Maßnahme gab es ein Gesetz, für jeden Vermögenstransfer einen Kaufvertrag oder eine Quittung. 52 Dieser Umstand erschwerte sowohl die juristische als auch die psychische Aufarbeitung. In der deutschen historischen Forschung dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis die „Arisierung“ auf breiter Basis als das erkannt und bezeichnet wurde, was sie war: ein Raubzug gigantischen Ausmaßes mit unzähligen Profiteuren. 53 Umso mehr Respekt gebührt den westlichen Alliierten, die mit der Konstruktion ihrer Rückerstattungsgesetze bereits kurz nach Kriegsende auf einem noch geringen Kenntnisstand versucht hatten, den Mechanismen der Verfolgung Rechnung zu tragen. Quellen und Literatur Archive Firmenarchiv C.F. Ploucquet - Bestand B.17.1 51 Vgl. als Überblick H EßDÖRFER , Entschädigungspraxis. 52 Auch L ILLTEICHER , Rechtsstaatlichkeit, 156, weist darauf hin, dass die wirtschaftliche Judenverfolgung „das Grundprinzip der bürgerlichen Eigentumsordnung nicht in Frage“ stellte. Er zieht eine sehr kritische Bilanz der Rückerstattung, da diese nicht darauf abgezielt hatte, „alle Erscheinungen der wirtschaftlichen Existenzvernichtung der Juden einer Revision zu unterziehen, sondern nur solche, die mit den Grundsätzen privatwirtschaftlichen Handelns und einer liberalen Wirtschaftsordnung nicht mehr vereinbar waren.“ Ebd., 157. 53 Früher und wegweisend: A DLER , Mensch; später (in Auswahl): A LY , Volksstaat; B AJOHR , „Arisierung“; D REßEN , „Aktion 3“; K ENKMANN / R USINEK , Verfolgung. <?page no="183"?> Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen 183 Historisches Archiv der Dresdner Bank (HADB) - Bestand 89. Filiale Augsburg. Staatsarchiv Augsburg (StAA) - Bestand Wiedergutmachungsbehörde V. Literatur A DLER , H.G.: Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974. A LY , G ÖTZ : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005. B AJOHR , F RANK : „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1997. B ARKAI , A VRAHAM : Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943, Frankfurt am Main 1987. D REßEN , W OLFGANG : Betrifft „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998. G OSCHLER , C ONSTANTIN : Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. -: Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-1954), München 1992. H EßDÖRFER , K ARL : Die Entschädigungspraxis im Spannungsfeld von Gesetz, Justiz und NS-Opfern, in: L UDOLF H ERBST / C ONSTANTIN G OSCHLER (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, 231-248. H OCKERTS , H ANS G ÜNTER : Wiedergutmachung in Deutschland: Eine historische Bilanz 1945-2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), 167-214. H OSER , P AUL : Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945, Stuttgart 2001. J ANETZKO , M AREN : Die „Arisierung“ mittelständischer jüdischer Unternehmen in Bayern 1933-1939. Ein interregionaler Vergleich, Ansbach 2012. K ENKMANN , A LFONS / R USINEK , B ERND -A. (Hrsg.): Verfolgung und Verwaltung: Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden, Münster 1999. L ILLTEICHER , J ÜRGEN : Rechtsstaatlichkeit und Verfolgungserfahrung. „Arisierung“ und fiskalische Ausplünderung vor Gericht, in: C ONSTANTIN G OSCHLER / DERS . (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 127- 159. S CHWARZ , W ALTER : Rückerstattung nach den Gesetzen der Alliierten Mächte, München 1974. <?page no="185"?> III. Kunstraub <?page no="187"?> Rettung oder Raub? Die Rolle städtischer Funktionsträger in Augsburg bei Übernahme und Erwerb von Kunstgegenständen aus jüdischem Besitz 1939 bis 1945 für die Städtischen Kunstsammlungen Katrin Holly Am 9. Dezember 1939 wurden im Zugangsbuch des Maximilianmuseums der Stadt Augsburg 22 Rimonim, 37 Thoraschilder, ein Chanukkaleuchter, ein Deckelkrug, drei Leuchter und weitere 20 kleinere Kultgegenstände - alles Silber- und Goldarbeiten überwiegend aus dem Barock und dem Klassizismus - eingetragen. 1 Die jüdischen Kultgeräte waren von der Gestapo beschlagnahmt und dem Augsburger Leihamt zum Einschmelzen übergeben worden. 2 Sie wurden vom Museum zum Metallwert für 2.964,90 RM erworben; hierfür wurde extra der Ankaufsetat erhöht. 3 Zudem übernahm die Stadt Augsburg zahlreiche Silbergegenstände, die im Februar/ März 1939 aufgrund einer Verordnung 4 von der jüdischen Bevölkerung im Leihamt abgeliefert worden waren. Die Kommunikation zwischen den städtischen Stellen lief nicht reibungslos. Der Leiter der Städtischen Kunstsammlungen, Hans Robert Weihrauch, beschwerte sich später, dass er viel zu spät davon erfahren habe und die Kunsthändler zu diesem Zeitpunkt bereits die besten Stücke aufgekauft hätten. 5 In seinem Spruchkammerverfahren stellte Weihrauch diesen Vorgang so dar: „2. Antifaschistische Tat. Im Juli/ August 1939 rettete ich die gesamten silbernen Kultgeräte (92 Stück) der jüdischen Kultusgemeinde Augsburg, die von der Gestapo beschlagnahmt und dem Städt. Leihamt mit dem strikten Befehl der sofortigen Einschmelzung übergeben waren, vor der Vernichtung, indem ich sie von dort auf meine Verantwortung ins Museum übernahm, sorgsam inventarisierte und verbarg. […] 1 StdA 50, 1764, Vormerkung Maichle, 9.12.1939. 2 StdA, Nachlass Kleindinst, 6, Bestätigung Kleindinst über die Tätigkeit Robert Weihrauchs als Direktor der Städtischen Kunstsammlungen, 25.6.1949. 3 StdA 50, 1764, VM Kleindinst an Referat 1, 23.11.1939: Er bittet darum, den Ankaufsetat zu erhöhen, weil die Kultgegenstände überwiegend Augsburger Kunsthandwerk seien, von dem das Museum wenig besäße und sie ansonsten nach Berlin kämen. Vgl. auch ebd., Referat 1, Mayr, an die Stadthauptkasse, 28.11.1939 (Anweisung, den Ankaufsetat zu verstärken). 4 Dritte Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 21.2.1939, in: RGBl I (1939), 282. 5 StdA 50, 1764, Weihrauch über Referat 6 (Kleindinst) an Oberbürgermeister Mayr, 28.2.1941. <?page no="188"?> Katrin Holly 188 Wohlbehalten konnten die Geräte auf meine Veranlassung nach meiner Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft, im Sept. 1945 an die jüdische Gemeinde zurückgegeben werden.“ Als Zeugen benannte er unter anderem Rechtsrat Kleindinst von Augsburg. 6 Dr. Ferdinand Kleindinst war als Kunstreferent Weihrauchs Vorgesetzter gewesen und hatte tatsächlich den Übernahmevorgang bestätigt, aber nicht in der Weise, wie das Weihrauch darstellte. 7 Interessanterweise hat ein dritter Beteiligter, Norbert Lieb, Vorgänger von Weihrauch, den Vorgang in seinem Spruchkammerverfahren mit keinem Wort erwähnt. Lieb war für den wegen Wehrdienst abwesenden Weihrauch eingesprungen und hatte offenbar auf Bitte von Kleindinst die Objekte im Leihamt gesichtet, bewertet, ausgewählt und der Stadt zum Ankauf empfohlen. 8 In diesem Beitrag wird danach gefragt, auf welchen Wegen Kunstbesitz aus jüdischem Eigentum in den Besitz der Kunstsammlungen der Stadt Augsburg gelangte. Wer waren die Akteure, welche Rolle spielten sie innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems bei der Judenverfolgung und welche Motivation trieb sie an? Zunächst werden die vier handelnden Hauptpersonen, Norbert Lieb, Hans Robert Weihrauch, beide nacheinander die Leiter der Städtischen Kunstsammlungen, der Kulturreferent Josef Ferdinand Kleindinst und Oberbürgermeister Josef Mayr vorgestellt. Es folgt eine dichte Schilderung der Vorgänge. Zum Schluss wird noch einmal die Frage nach der Motivation der Akteure, ihrer Rolle im Kunstraub und der Judenverfolgung und somit im Herrschaftssystem des NS-Staats aufgeworfen. 1. Die Akteure: Norbert Lieb, Hans Robert Weihrauch, Ferdinand Josef Kleindinst und Josef Mayr 1.1. Der Kunsthistoriker Norbert Lieb 9 Der Kunsthistoriker Norbert Lieb kam in einer stürmischen Phase zu den Städtischen Kunstsammlungen, nachdem sein Vorgänger und dessen engster Mitarbeiter wegen 6 Staatsarchiv München (StAM), Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Anlage zum Meldebogen, Ziffer 14, Hans. R. Weihrauch, undatiert. 7 Ebd., Bestätigung von Josef Fr. Kleindinst, 18.6.1946 (beglaubigte Abschrift). Zur Dekonstruktion der von Weihrauch geschilderten Darstellung des Vorgangs vgl. den Schluss dieses Beitrags. 8 StdA 50, 1764, Städt. Kunstsammlung, i.V. Maicher, 23.11.1939, an Referat 6. 9 Die folgenden Ausführungen beruhen auf den im Anhang aufgelisteten Archivbeständen im Stadtarchiv Augsburg, Staatsarchiv Augsburg, Bayerischen Hauptstaatsarchiv und im Universitätsarchiv München. Die Nachlässe von Norbert Lieb konnten nicht eingesehen werden, weil sie noch nicht erschlossen sind: vgl. hierzu die Informationen unter https: / / www.bundesarchiv.de/ nachlassdatenbank; Laut Auskunft von Dr. Thomas Paringer (Mail vom <?page no="189"?> Rettung oder Raub? 189 Betrugsverdacht vom Dienst suspendiert worden waren. Diese hatten Chaos im Museum hinterlassen. 10 Der 1931 promovierte Wissenschaftliche Hilfsarbeiter Lieb wurde 1932 deshalb aus München vom Bayerischen Nationalmuseum abgestellt, um als kommissarischer Leiter im Maximilianmuseum zusammen mit einem Verwaltungsinspektor der Stadt Augsburg Ordnung zu schaffen. 11 Lieb war kein bekennender Nationalsozialist. Deshalb machten 1933 nationalsozialistische Kreise aus München Druck, die Leitungsstelle durch einen Kandidaten mit einem klaren nationalsozialistischen Profil zu besetzen. 12 Letztendlich betraute die Augsburger Stadtregierung jedoch Norbert Lieb mit dem Direktionsposten, weil nach der Suspendierung des altgedienten Museumspersonals und dem Personalwechsel im Kulturreferat sich im Museum als einziger noch Norbert Lieb auskannte. 13 Obwohl Lieb keine dezidiert nationalsozialistische „deutsche“ Kunstwissenschaft und Museumspolitik betrieb, war seine Fachkompetenz auch bei der nationalsozialistischen Stadtregierung unbestritten. Im Juli 1937 trat er in die NSDAP ein, nach eigener Aussage nach „langen Zögern“ 14 und weil er sich unter Druck gesetzt gefühlt habe. Lieb gab in seiner Spruchkammerakte an, in den laufenden Geschäften so weit wie möglich die 8.1.2020) soll der Nachlassteil aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv demnächst an das Germanische Nationalmuseum abgegeben werden. Die Durchsicht der Akten der Städtischen Kunstsammlungen hat keine zusätzlichen Erkenntnisse über Norbert Lieb ergeben. 10 Die Inventarisierung war völlig vernachlässigt, die Bücher waren schlampig geführt und in vielen Fällen die Eigentumsverhältnisse der im Museum lagernden Objekte unklar. Dazu StdA 35, 73, Vormerkung Ackermann, 9.4.1932 und 11.4.1932, sowie Ackermann an den Untersuchungsrichter I beim Landgericht Augsburg (Abschrift), 10.5.1932, sowie Städt. Revisionsamt, Leykam, an das Direktorium 15.6.1932 (Abschrift) und Dr. Halm an den Untersuchungsrichter A beim Landgericht Augsburg, 10.8.1932. 11 StdA 35, 73, Kunstausschuss-Beschluss, 7.7.1932. 12 StdA 35, 84, Schreiben Buttmann an Karl Wahl, 10.5.1933, und Weiterleitung des Schreibens durch Karl Wahl an den 2. Bürgermeister [NSDAP, Josef Mayr, der spätere Oberbürgermeister], 13.5.1933 mit der Aufforderung: „Mit der Bitte zu veranlassen, dass dieser junge Mann, der angebliche Günstling des Herrn Bürgermeisters Bohl, nach Ablauf seiner Probezeit durch den von Dr. Buttmann vorgeschlagenen Pg. Wengenmayer ersetzt wird.“ Mit Ablauf der Probezeit von Lieb stand theoretisch die Stelle zur Disposition. Wengenmayer ist einer der hartnäckigsten Bewerber mit guten nationalsozialistischen Beziehungen. Die Besetzungsfrage fiel jedoch in die Phase der nationalsozialistischen Machtergreifung und -konsolidierung in Augsburg und wurde wohl deshalb erst im Februar 1934 entschieden. 13 Ebd., Stadtrat Augsburg, Seufert, Kleindienst, an den Ministerpräsidenten und Staatsminister der Finanzen Ludwig Siebert, 2.3.1934. Sie begründen darin die Einstellung von Norbert Lieb. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass überhaupt beim Ministerpräsidenten diese Personalie begründet werden muss, was offenbar auf den Störmanövern von Seiten nationalsozialistischer Bewerber beruht. 14 StAA, Spruchkammer III Augsburg, L-331, Erklärung von Norbert Lieb zum Meldebogen, 4.10.1946. <?page no="190"?> Katrin Holly 190 direkte Kommunikation mit der Augsburger Stadtverwaltung außerhalb des Kulturreferats vermieden zu haben, weil er als nicht überzeugter Nationalsozialist bekannt und deshalb mit Misstrauen beäugt worden sei. Er versuchte angeblich, im Stillen und unter Kontaktvermeidung zu nationalsozialistischen städtischen Stellen qualitativ hochwertige Arbeit zu leisten. 15 Sein Verhältnis zum Kulturreferenten Kleindinst war jedoch gut. Als Lieb die Tochter Dorothee des renommierten Verlegers und Kommerzienrats Paul Haas heiratete, 16 nutzte er 1938 die Gelegenheit zur Kündigung, um sich „frei von allen Bindungen kunstgeschichtlichen Forschungen und Arbeiten widmen zu können.“ 17 Er schied Ende September 1938 aus dem städtischen Dienst aus und arbeitete seitdem im Verlag. Lieb war aber weiterhin in der Stadtverwaltung omnipräsent. Zum einen erhielt er von der Stadt einen Forschungsauftrag, 18 zum anderen wurde er, vor allem als sein Nachfolger bei der Wehrmacht war, regelmäßig von Kleindinst zu Begutachtungen für Kunstankäufe herangezogen. 19 Außerdem gehörte er einer vom Landesamt für Denkmalpflege aufgestellten städtischen Kunstschutzkommission an, welche vor und nach den Luftangriffen die historische Bausubstanz Augsburgs aufnahm und bewertete. 20 Alle diese Tätigkeiten erwähnte er in seinem Spruchkammerverfahren mit keinem Wort. 1947 trat er erneut die Stelle als Leiter der Städtischen Kunstsammlungen an. Seit 1959 lehrte er als Honorarprofessor in München. 1963 wurde Lieb in die Kommission für bayerische Landesgeschichte gewählt und zum Inhaber des neugegründeten Lehrstuhls für bayerische Kunstgeschichte an der Universität München berufen. 21 Lieb war eine unbestrittene Koryphäe der bayerischen und schwäbischen Kunstgeschichte, dessen Leistung bis in die heutige Zeit ausstrahlt. Das Gründungsmitglied der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 15 Ebd., Erklärung von Norbert Lieb zum Meldebogen, 4.10.1946. 16 Zu Paul Haas Biographie in: K RAUSS , Kommerzienräte, 472f. 17 StAA, Spruchkammer III Augsburg, L-331, Erklärung von Norbert Lieb zum Meldebogen, 4.10.1946. 18 StdA, Nachlass Kleindinst, 9, Kriegstagebuch Referat 6, Eintrag vom 17.6.1941. 19 Neben den im Beitrag nachfolgend beschriebenen Begutachtungen kümmerte sich Lieb beispielsweise um die Begutachtung zweier Bilder in München (StdA 35, 102, Vormerkung Kleindinst, 23.4.1940) oder eines Bildes, das aus Amsterdam als von Georg Bergmüller geschaffen angeboten wurde (ebd., Vormerkung Norbert Lieb an Referat 6, 10.5.1944), oder die Bilder, die von dem Kunsthändler Carl Nicolai angeboten wurden (ebd., Vormerkung Lieb an Referat 6, 1.4.1944). 20 StdA 35, 102, Bestätigung des Oberbürgermeisters, gez. i.V. Kleindinst, 22.3.1944. Lieb war seit 1939 vom Landesamt für Denkmalpflege als Vertrauensmann wegen Sicherung der Kunstdenkmäler in Augsburg und Umgebung aufgestellt, vgl. BHStA, Landesamt für Denkmalpflege, 932, Georg Lill an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, 28.9.1939. 21 Zum universitären Werdegang von Lieb vgl. auch die Akten UAMü, E-II-2273, sowie FakGuK-IX-13, sowie O-XV-2n, Bd. 1 und Sen-I-173. Die Akten des Universitätsarchivs enthalten keine Unterlagen zu Liebs Tätigkeit in Augsburg; vgl. auch K RAUS , Nachruf Norbert Lieb, 979. <?page no="191"?> Rettung oder Raub? 191 war von 1956 bis 1979 auch deren wissenschaftlicher Vorstand. Lieb erhielt den Bayerischen Verdienstorden, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und den Kulturpreis der Bayerischen Landesstiftung. Er verstarb hochgeachtet 1994. 22 1.2. Der Kunsthistoriker Hans Robert Weihrauch Hans Robert Weihrauch trat nach der Kündigung von Norbert Lieb am 1. Juli 1939 als Dreißigjähriger seinen Dienst als Leiter der Städtischen Kunstsammlungen in Augsburg an. 23 Der Kunsthistoriker hatte in Frankfurt studiert und dort 1933 promoviert. Vom 1. Oktober 1933 bis 30. November 1935 war er außerplanmäßiger Assistent am dortigen Kunsthistorischen Institut. 24 Für sein Spruchkammerverfahren nach 1945 schilderte er - unter Bestätigung seines ehemaligen Professors und weiterer Frankfurter Weggefährten - einen Konflikt mit dem nationalsozialistischen Regime: Er habe gegen die Schließung der Abteilung für moderne Kunst im Städelschen Museum 1934 Unterschriften bei Studenten gesammelt und deshalb ein disziplinarisches Verfahren durchstehen müssen. Dabei sei angedroht worden, dass er vom Habilitationsverfahren ausgeschlossen werde, und sei anschließend beständiger Bespitzelung ausgesetzt gewesen. 25 Dieser Sachverhalt konnte vom Universitätsarchiv Frankfurt nicht bestätigt werden. 26 Trotz der Bestätigung von anderen Zeitgenossen bleiben Zweifel an Weihrauchs Darstellung, weil erst ab 1937 in den Frankfurter Museen sogenannte „entartete“ Kunst systematisch separiert und entfernt wurde. 27 Nach einer 22 K RAUS , Nachruf Norbert Lieb, 979; F RIED , 50 Jahre, 254. 23 StdA 35, 84, Der Oberbürgermeister, i.V. Kellner, an den Generaldirektor Dr. Buchner der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, an den Direktor Dr. Buchheit vom Bayerischen Nationalmuseum und an das Landesamt für Denkmalpflege, 4.7.1939. 24 BayStaMinKu, Personalakt Hans R. Weihrauch, Personalbogen vom 1.2.1954. 25 StAM, Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909: Anlage zum Meldebogen vom 1.1.1947, Ziffer 14, Erklärung von Hans R. Weihrauch, undatiert; sowie Antrag von Hans R. Weihrauch vom 22.6.1947; bestätigt wurde seine Schilderung ebd. durch: Erklärung von Prof. Jantzen, Kunsthistorisches Seminar der Universität München, ord. Prof. der Kunstgeschichte an der Uni München, 6.1.1946 (beglaubigte Abschrift) und Erklärung von Dr. A. Wolters, Museumsdirektor Frankfurt am Main, Städtische Galerie, 14.3.1946 (beglaubigte Abschrift). 26 Auskunft von Dr. Michael Maaser, 16.9. und 24.9.2014, Universitätsarchiv Frankfurt am Main: in der Personalakte sei kein Hinweis auf ein Disziplinarverfahren und einen Ausschluss vom Habilitationsverfahren zu finden. Im Rektoratsbestand sei in den Disziplinarakten, die allerdings nicht lückenlos überliefert seien, keine Akte zu Weihrauch zu finden. 27 Eine Schließung der Abteilung für moderne Kunst in der Städtischen Galerie im Städele 1934 konnte über die Literatur nicht bestätigt werden. Der damalige Direktor war allerdings schon ab 1933 schweren Vorwürfen wegen seiner Protegierung sogenannter „entarteter“ Kunst ausgesetzt, wurde als Direktor der Städtischen Galerie abgesetzt und blieb nur als Direktor des privaten Städelschen Kunstinstituts noch bis 1938 im Amt. Dass „entartete“ Kunst tatsächlich aus dem Museum entfernt werden könnte, wurde dort am 17. Dezember 1935 bekannt, 1936 <?page no="192"?> Katrin Holly 192 Tätigkeit im Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege und den Staatlichen Graphischen Sammlungen in München trat Weihrauch am 1. März 1937 eine Stelle als Volontär im Bayerischen Nationalmuseum an, wo er ab 2. September 1937 als Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter tätig war. 28 1938 trat er nach Selbstauskunft zwangsweise in die NSDAP ein, 29 am 1. Juli 1939 wurde er schließlich Nachfolger von Norbert Lieb in Augsburg. 30 Im Krieg war er wegen einer alten Knieverletzung nicht im Feld, sondern bis Februar 1943 im Kraftfahrer-Korps im Innendienst eingesetzt. Vom 15. Februar 1943 bis zum Kriegsende war er in die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ abkommandiert 31 - was er in seinem Spruchkammerverfahren erfolgreich verschwieg. 32 Dort war er neben der Kuratierung von Ausstellungen für das Militär offenbar bei der Transportlogistik beschlagnahmter Kunstgegenstände aus polnischer und anderer osteuropäischer Provenienz beteiligt. 33 Nach seiner Entlassung aus englischer Gefangenschaft verlor er seinen Direktionsposten in Augsburg und wurde letztendlich im Entnazifizierungsverfahren mit Sühnebescheid vom 12. April 1947 als Mitläufer eingestuft. Offenbar hatte ihm die Spruchkammer seine angeblichen Widerstandshandlungen geglaubt: wurden entsprechende Werke für die Ausstellung über „entartete“ Kunst aus der Galerie verwendet. Die ersten Beschlagnahmungen fanden ab 1937 statt: B AENSCH , Museum, 68-74, und R OTH , Verstümmelung, 201-217. 28 BayStaMinKu, Personalakt Hans Weihrauch, Personalbogen für Beamte, Pkt. VI.3. 29 BayHStA, StK-BayVO, Nr. 2276, CD-Auskunft: Berlin Document Center, U.S. Mission Berlin APO 09742, am 21.9.1973, Nr. 1779063, dort wird der Parteieintritt mit dem 1. Mai 1937 angegeben. Laut Weihrauch sei er angeblich als NSKK-Mitglied „zwangsläufig“ in die Partei 1938 übernommen worden. Der Parteieintritt sei dann auf den 1. Mai 1937 zurückdatiert worden: StAM, Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Anlage zum Meldebogen (undatiert). Weihrauch beruft sich hier auf die oft bemühte angebliche Sammelmitgliedschaft. 30 StAM, Spruchkammerakten, Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Mitteilung des Arbeitsamts München auf dem Arbeitsblatt des öffentlichen Klägers bei der Spruchkammer vom 20.3.1947. Der Dienstantritt in Augsburg wird dort auf den 1. Juli 1939 datiert. 31 Einen ersten Hinweis auf den Einsatz in dieser Dienststelle lieferte mir der Personalakt von Weihrauch: BayStaMinKu, Personalakt Hans Weihrauch, Vormerkungsbogen zum Personalbogen vom 1.2.1954, A. Militärdienst. Neben dem Eintrag steht: „Nachweise wurden abgenommen“. Katharina Maria Kontny hat in ihrer Magisterarbeit die Tätigkeit Weihrauchs als Mitglied der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ erforscht: K ONTNY , Recherchen, 63-80; vgl. auch den Beitrag K ONTNY in diesem Band. 32 Der einzige Hinweis auf diese Tätigkeit findet sich in BayStaMinKu, Personalakt Hans Weihrauch, Vormerkungsbogen zum Personalbogen vom 1.2.1954, A. Militärdienst. Laut Auskunft von Katharina Maria Kontny, die Weihrauchs Nachlass im Bayerischen Nationalmuseum durchgesehen hat, gibt es auch dort keine Hinweise auf diese Position. 33 Zu Hans Weihrauchs Tätigkeit während seiner Dienstzeit beim Chef der Heeresmuseen: Beitrag K ONTNY in diesem Band. <?page no="193"?> Rettung oder Raub? 193 „Trotz der günstigen Vermögensverhältnisse erschien die Sühne hinreichend in Ansehung der erheblichen Widerstandshandlungen, die der Betroffene nachgewiesen hat und die an die Grenze der Entlastung führen.“ 34 Weihrauch hatte die Zeit mit einigen Hilfsposten überbrückt, unter anderem war er von der Militärregierung bei den Staatlichen Graphischen Sammlungen und im Bayerischen Nationalmuseum beschäftigt worden. 1947 wurde er Kustos im Bayerischen Nationalmuseum, stieg zum Stellvertreter des Generaldirektors auf, bevor er selbst am 1. November 1968 dort Generaldirektor wurde. 35 Als er 1974 in Pension ging, erhielt er den Bayerischen Verdienstorden. 36 Er verstarb 1980. 1.3. Der Kulturreferent Ferdinand Josef Kleindinst Dr. Ferdinand Josef Kleindinst, Jahrgang 1881, legte 1909 sein juristisches Staatsexamen ab, promovierte 1910 und war seit 1913 in der Stadtverwaltung Augsburg tätig. Der brillante Jurist und versierte Verwaltungsfachmann wurde 1919 Stadtrechtsrat und war von 1921 bis 1945 als hauptberuflicher Stadtrat, also Referent, in verschiedenen Sachgebieten tätig. 37 Während des Nationalsozialismus verantwortete Kleindinst ab September 1933 die Bereiche Kunst und Soziales und war somit zuständig für die Städtischen Kunstsammlungen. 38 Kleindinst war nationalem Denken nicht abgeneigt. Er ist in den katholischen Konservativismus einzuordnen. Wie nahe er damals dem aktiven politischen Katholizismus stand, muss offenbleiben. Er war jedenfalls bis 1945 in keiner Partei Mitglied, konnte sich auch der NSDAP entziehen. Nach dem Krieg wurde er im April 1946 als Ankläger in der Spruchkammer ernannt. 39 Er war bis Juli 1945 kurzfristig Personalreferent und Leiter des Wirtschaftsamtes Augsburg. Die Militärbehörde entließ ihn wegen Differenzen in der Amtsauffassung. Von 1945 bis 1948 war er Fürsorge- und Personalreferent der Regierung von Schwaben und Neuburg. 40 Sein eigenes Spruchkammerverfahren endete im Juni 1948 nach zwei 34 StAM, Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Spruchkammer München X, Sühnebescheid vom 12.4.1947. 35 BayStaMinKu, Personalakt Hans Weihrauch, Urkunde vom 17.9.1968 (Entwurf), gez. Hundhammer. Vgl. auch L AUTERBACH , Kunstgeschichte, 81. 36 BayHStA, StK-BayVO, 2276, Bayerische Staatskanzlei, Leiter der Protokollabteilung i.V. Dr. Mölter, an Weihrauch, 8.5.1974. 37 StdA, Nachlass Kleindinst, 8, Oberbürgermeister Müller an Kleindinst, 26.8.1948. 38 G OTTO , Kommunalpolitik, 62f. 39 StdA, Nachlass Kleindinst, 8, Ernennungsurkunde zum Ankläger in der Spruchkammer vom 16.4.1946. 40 Ebd., Oberbürgermeister Müller an Kleindinst, 26.8.1948. <?page no="194"?> Katrin Holly 194 Berufungen von seiner Seite mit der Einstufung als „überhaupt nicht belastet.“ 41 Danach erfolgte 1948 die Wiedereinstellung bei der Stadt Augsburg mit sofortiger Ernennung zum Stadtrechtsrat und gleichzeitiger Versetzung in den Ruhestand. 42 Nach 1945 war er Mitbegründer der CSU in Augsburg, 1948 bis 1949 Mitglied des Parlamentarischen Rates des Bayerischen Landtags und dort an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt sowie von 1949 bis 1957 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1955 erhielt er das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland. Kleindinst starb hochgeehrt am 8. September 1962. 43 Er gehörte, obwohl unehelich geboren, in Augsburg zur gesellschaftlichen Elite. Seit 1920 war er Mitglied im „Gesellschaft Club“, der 1829 als Zusammenschluss der sich im 19. Jahrhundert formierenden wirtschaftlichen und bürgerlichen Elite Augsburgs gegründet worden war. 44 Außerdem war Kleindinst Gründungsmitglied des sogenannten Deutschen Club Augsburg, 45 ein Augsburger Ableger der deutschlandweit gegründeten konservativen Herrenclubs: eine geschlossene Herrengesellschaft. Sie setzte sich mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in einer exklusiven Vortragsreihe auseinander und feierte alljährlich den Sedanstag. 46 Er war Mitglied in der Deutschen Akademie Schwaben, die sich die wissenschaftliche Erforschung und Pflege des Deutschtums auf die Fahnen geschrieben hatte. 47 Kleindinst schätzte Norbert Lieb. Etwas distanzierter erscheint das Verhältnis zu Hans Robert Weihrauch, er hat sich aber auch mit ihm gut verstanden, was die Nachkriegskorrespondenz im Nachlass von Kleindinst nahelegt. Auch in den Akten der Stadtverwaltung erscheint die Zusammenarbeit als reibungslos. Weihrauch war in seiner Amtszeit in Augsburg häufig zum Wehrdienst abgestellt. In seiner Abwesenheit übernahm die Verwaltung ein Verwaltungsinspektor, der auch die praktische Umsetzung der Kunstauslagerung durchführte. Die fachliche Leitung lag in diesen Zeiten 41 StAA, Spruchkammer Augsburg-Land, K-148, Spruch der Berufungskammer Augsburg, 10.6.1948. 42 Ebd., Oberbürgermeister Müller an Kleindinst, 26.8.1948, und Ernennungsurkunde zum Stadtrechtsrat für Kleindinst vom 12.8.1948. 43 B AER , Kleindinst. 44 StdA, Nachlass Kleindinst, 8, Aufnahms-Karte in die Gesellschaft Club zu Augsburg vom 15.11.1920. Zu diesem Club StdA, Vereine V1, 308; sowie Vereinsakten V1, 1390. 45 StdA, Nachlass Kleindinst, 13, Schreiben des vorbereitenden Ausschusses zur Gründung eines Augsburger Ablegers des Deutschen Klubs an Kleindienst, Januar 1922. 46 Das Vortrags- und Veranstaltungsverzeichnis hat sich im Archiv des heute noch existierenden Augsburger Clubs erhalten. Der heutige Augsburger Club ist eine Nachkriegsneugründung, in der die ehemaligen Mitglieder von der „Gesellschaft Club“ und dem „Deutschen Klub Augsburg“ zusammengeführt wurden. 47 StdA, Nachlass Kleindinst, 8 (darin zahlreiche Unterlagen zur Deutschen Akademie Schwaben, auch Mitgliederverzeichnisse). <?page no="195"?> Rettung oder Raub? 195 bei Kleindinst. Er führte bei den Ankäufen für die Kunstsammlungen die Verhandlungen und sorgte auch für die fachliche Begutachtung der Objekte, mit denen er besonders häufig Norbert Lieb beauftragte. War Lieb nicht erreichbar, bat Kleindinst Münchner Kunsthistoriker um Hilfe. 1.4. Oberbürgermeister Josef Mayr Der Dienstherr dieser drei Persönlichkeiten und vierte an den in diesem Beitrag dargestellten Maßnahmen direkt Beteiligte war Josef Mayr, seit Dezember 1934 Oberbürgermeister der Stadt Augsburg. 48 Der 1900 geborene Mayr hatte als 18-jähriger noch am Ersten Weltkrieg teilgenommen. In der nachfolgenden Revolutionszeit war er Mitglied eines Freikorps. Er gehörte somit zur sogenannten jungen Frontgeneration, geprägt durch das Massensterben im Krieg, die Revolution, wirtschaftliche Krise der Inflationsjahre und Auflösung bisher geltender kultureller und bürgerlicher Normen. Mayr kümmerte sich aber auch um seine Berufsausbildung und Karriere. 1917 trat er in die Stadtverwaltung Augsburg ein, wohin er nach der Kriegsteilnahme und dem Intermezzo beim Freikorps wieder zurückkehrte. Der junge Mann, seit 1920 Beamtenanwärter und ab 1921 in der Stadtkämmerei eingesetzt, arbeitete sich im staatlichen mittleren Gemeinde- und Verwaltungsdienst hoch und wurde 1926 zum Oberstadtsekretär ernannt. Bis 1929 besuchte Mayr zielstrebig Fortbildungskurse der Verwaltungsakademie. Nebenbei engagierte er sich politisch. Im Oktober 1922 trat er in die NSDAP ein. „Damit gehörte er zu den frühesten Vertretern des völkischnationalistischen Milieus in Augsburg, die sich für Hitler entschieden.“ 49 Er hielt sich jedoch von der gewaltbereiten SA fern. Aus „Mayrs Verhalten spricht […] Respekt vor der gesetzmäßigen Ordnung und der Kommunalbehörde als institutioneller Verkörperung des Staates.“ 50 Er engagierte sich vor allem in den politischen Gremien der schwäbischen NSDAP. „Rasch stieg Mayr vom Gauredner und Kassenwart der Augsburger Ortsgruppe zum Gauschatzmeister und sogar zum Gaupropagandaleiter auf, außerdem leitete er die kommunalpolitische und die Beamtenabteilung der Gauleitung.“ 51 Eng war sein Verhältnis zum Gauleiter Karl Wahl. Seit 1929 vertrat er mit zwei weiteren Parteigenossen die NSDAP im Augsburger Stadtrat. Mayrs Fachgebiet war die kommunale Finanz- und Personalpolitik. Nach der Machtergreifung wurde er zunächst Zweiter Bürgermeister und Finanzreferent und schließlich im Dezember 1934 zum Oberbürgermeister ernannt. Mayr agierte in dieser Position ausgesprochen pragmatisch. Er stand unzweideutig für die nationalsozialistische Ideologie und Poli- 48 Alle weiteren Ausführungen zu Josef Mayr folgen G OTTO , Oberbürgermeister, 89-125. 49 Ebd., 92. 50 Ebd., 94. 51 Ebd., 93. <?page no="196"?> Katrin Holly 196 tik in Stadtregierung und -verwaltung, ließ aber keine gewalttätigen Exzesse zu. Insbesondere hielt er sachverständige Experten auch in Schlüsselpositionen, selbst wenn diese keine überzeugten Nationalsozialisten aber deren fachliche Kompetenzen für seine Ziele unbestritten nützlich waren. 52 Mayr agierte hier wie viele schwäbische Nationalsozialsozialisten, die ideologisch dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüberstehende Personen lieber durch Integrationsangebote als durch Zwang einbanden. 53 Das erklärt die nahtlose Übernahme von Ferdinand Kleindinst, sein pragmatisches Verhältnis zu Norbert Lieb, aber auch die Einstellung von Weihrauch. Das Verhältnis von Weihrauch und Mayr ist in den Quellen nirgendwo ausdrücklich thematisiert. Die studierten Akten zeigen in ihrer Gesamtheit, dass Weihrauch im Gegensatz zu Lieb keine Berührungsängste mit der städtischen Verwaltung und seinem obersten Dienstherren Mayr hatte. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass Kleindinst als direkter Vorgesetzter von Lieb und Weihrauch eine Art Puffer zwischen ihnen und Stadtverwaltung bzw. Oberbürgermeister bildete. Mayr hatte durchaus Sinn für die Geschichte der Stadt Augsburg und ihre kulturellen Institutionen. Neben ihrer Bedeutung für die Identitätsbildung in der Stadt schätzte er auch deren repräsentative Wirkung. Unter ihm wurde das städtische Musikwesen intensiv gefördert. Große Investitionen in die kulturellen Institutionen von 1933 bis 1945 waren allerdings nicht möglich. Die Stadt litt stark unter den Nachwehen der kommunalen Finanzkrise der Jahre 1929 bis 1933, der nur langsamen Konsolidierung der Finanzen 54 und schließlich unter dem Krieg. 55 Der Plan, die staatliche Galerie zu einer schwäbischen Gemäldegalerie (auch „Heimatgalerie“ genannt) umzugestalten, scheiterte an Geldmangel und dem fehlenden Gebäude. 56 Hinzu kam, dass sich die städtische Kulturpolitik im Rahmen der von Hitler angeregten sogenannten „Neugestaltung der Stadt Augsburg“ vor allem auf das Stadttheater fokussierte. Trotzdem erkannte Mayr die Zeichen der Zeit und war bereit, den Ausbau der Städtischen Kunstsammlungen mit außerordentlichen Finanzmitteln zu fördern, als sich unwiederbringlich günstige Gelegenheiten boten, wie nachfolgend noch gezeigt wird. 52 G OTTO , Kommunalpolitik, 100-139, insb. 129-132. Auch Hitler verlangte von Kunsthistorikern kein ausdrückliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus mit einem Eintritt in die Partei, solange sie ihm ihre Fachkompetenz für seine kulturpolitischen Interessen zur Verfügung stellten: H EUSS , Kunst- und Kulturgutraub, 53f. 53 Zu den ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus in Schwaben und seinen Nuancierungen S TEBER , Volksgemeinschaft, 61-73. Im kulturellen Bereich griff hier insbesondere das Integrationsangebot über einen spezifischen Heimatbegriff, ebd., 67-70. 54 Zur kommunalen Finanzkrise H OLLY , Gestaltungsspielräume, 249-263; DIES ., Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 55 Die Augsburger Kulturpolitik ist in ihrer Gesamtheit für die Jahre der Weimarer Republik und den Nationalsozialismus noch ein Forschungsdesiderat. Es liegen bisher nur zu Einzelaspekten verstreute Erkenntnisse vor. 56 StdA 35, 132. <?page no="197"?> Rettung oder Raub? 197 2. Die Erwerbungen der Städtischen Kunstsammlungen aus jüdischer Provenienz Im Dezember 1938 wurde Kleindinst von einem ehemaligen Mitarbeiter des Museums auf die Abwanderungspläne von Paul Landauer hingewiesen, offenbar aufgeschreckt von den Ereignissen der Reichskristallnacht. 57 Es drohe die Gefahr, dass die Augustana-Sammlung des in Augsburg wohlbekannten Juden, mit dem schon früher Geschäftsbeziehungen bestanden hatten, 58 für die Stadt verloren gehen könnte. Kleindinst informierte am 19. Dezember 1938 Oberbürgermeister Mayr, dass jüdische Familien in Augsburg Augustana gesammelt hätten, deren Auswanderung bevorstehe und deshalb demnächst die Möglichkeit bestünde, Kunstwerke und Bücher zu erwerben. 59 Mayr äußerte sich mit „grundsätzlicher Zustimmung.“ 60 Seit 1939, zu einem Zeitpunkt als die Städtischen Kunstsammlungen nach dem Weggang von Lieb nur unter kommissarischer Führung eines Wissenschaftlichen Hilfsarbeiters standen, boten tatsächlich auswanderungswillige jüdische Bürger der Stadt Augsburg Kunstwerke zum Kauf an. So erwarben die Kunstsammlungen 1939 57 StdA 50, 1764, Albert Hämmerle an Kleindienst, undatiert (weitergeleitet mit Vormerkung von Kleindinst am 29.11.1938 an den Oberbürgermeister) [kursives im Original unterstrichen]: „ Ich möchte z.B. auch keineswegs den Anlaß dazu bilden, daß Herr Landauer in seinem Besitz gestört wird. Andererseits besteht natürlich eine gewisse Gefahr, daß im Zusammenhange mit den augenblicklichen Vorgängen, die Stücke für Augsburg verloren gehen könnten. Vielleicht besteht die Möglichkeit und wissen Sie einen Weg, die für Augsburg wichtigen Stücke der Stadt zu erhalten z.B. durch einen Ankauf , besonders soferne etwa die Dinge einen Lauf nehmen sollten, der es wünschenswert erscheinen ließe, anderen Zugriffen vorzugreifen .“ 58 Die Städtischen Kunstsammlungen hatten in den Jahren vor 1933 immer Kontakte zu Augsburger Juden, die selbst Augustana-Sammlungen besaßen und dem Maximilianmuseum mit Kontaktvermittlungen, Spenden und Leihgaben verbunden waren. So hat beispielsweise Paul Landauer dem Museum über seine Kontakte zum Kunsthandel Objekte vermittelt: StdA 35, 97, Maximilianmuseum an Paul Landauer, 1.12.1926, und an Fa. Seuffer & Willi in München, 3.12.1926. Er hat offenbar auch 1927 mit Hilfe einer Spende den Erwerb eines Pokals ermöglicht: StdA 35, 95: Städtische Kunstsammlungen an Paul Landauer, 30.4.1927. Kleindinst selbst verkehrte vor 1933 im Haus Otto Landauer, dem Bruder von Paul Landauer: StdA, Rechtsamt, 6, Vormerkung Norbert Lieb an das Stadtrechtsamt, 27.12.1951. 59 StdA 50, 1764, Kleindinst an Oberbürgermeister Mayr, 19.12.1938: „Da mehrere Familien in das Ausland gehen, besteht die Möglichkeit zur Erwerbung. Große Mittel sind dazu nicht erforderlich. Ich berichte über diese Möglichkeit, da ich in den nächsten Wochen möglicherweise Anträge auf Erwerbung von Kunstwerken und Büchern stellen werde.“ 60 Ebd., Vormerkung Oberbürgermeister Mayr unter dem Schreiben von Kleindinst an Mayr, 19.12.1938. <?page no="198"?> Katrin Holly 198 von Artur Arnold Druckwerke zur Augsburger Stadtgeschichte und Graphische Sammelmappen für 200 RM. 61 Von Gertrud Raff wurden im Februar 1939 Kupferstiche und Radierungen angeboten, 62 die für 30 RM angekauft wurden. 63 Aus dem Leihamt erwarben die Kunstsammlungen schon vor der bereits anfangs beschriebenen Aktion mit den Kultgegenständen Objekte, von denen sie wussten, dass sie aus jüdischem Besitz stammten. Sie waren im Rahmen der erzwungenen Ablieferungsaktionen von Edelmetall und Schmuck der jüdischen Bevölkerung dort abgegeben worden. 64 So wurde im April 1939 ein Deckelkrug vom Danziger Goldschmied Ernst Kaudau I erworben, der um 1650 entstanden war. Weil die Direktorenstelle noch nicht besetzt war, wurde Lieb für die Begutachtung herangezogen. Lieb bewertete die Arbeit mit mindestens 800 RM, erworben wurde sie für 250 RM. Weil der Krug nicht in den Sammlungskontext des Museums passte, war er von vornherein als Tauschobjekt für Augsburger Gold- und Silberschmiedearbeiten oder als Geschenk für politische Anlässe vorgesehen. Die Stadt verschenkte ihn noch 1939 an den Reichsschatzmeister der NSDAP Franz Schwarz. 65 Ebenfalls im April kaufte das Maximilianmuseum eine Augsburger Goldschmiedearbeit aus der Zeit um 1650 an, die sogenannte Batzer-Brosche. Auch hier hatte Lieb das Stück begutachtet und zum Ankauf empfohlen. Ein Goldschmied schätzte den Wert auf 350 bis 400 RM, Kleindinst setzte den Preis auf 200 RM fest. 66 Im September suchte schließlich Weihrauch beim Leihamt 91 Silberbesteck- und Geschirrteile aus, die zum Metallwert von 664,60 RM angekauft wurden. Kleindinst vermerkte: „Der Wert der Gegenstände ist als wesentlich höher anzunehmen.“ 67 Parallel zur Übernahme der Kultgegenstände erwarb die Stadt noch 15 Silberbecher, die ebenfalls Weihrauch ausgesucht hatte. 61 Ebd., Vormerkung Kleindinst an das Referat 1, 17.1.1939. 62 Ebd., Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, Dr. Eberlein, an Referat 6, 3.2.1939 und 10.2.1939. 63 Ebd., Vormerkung vom 17.2.1939 unter der Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, Dr. Eberlein, an Referat 6, 10.2.1939. 64 Dritte Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden, 21.2.1939: RGBl. I (1939), 282. Allgemein dazu R UDOLPH , „Rechtsgrundlagen“. Vgl. dazu auch die Vorgänge u.a. in München (S EELIG , Zwangsablieferung), Nürnberg (R ADLMAIER , Edelmetallablieferung) und Hannover (F LEITER , Verwertung). 65 StdA 50, 95, Vormerkung Bürgermeister Kellner über Referat 6 an die Verwaltung der Städtischen Kunstsammlungen, 28.8.1939, und StdA, 50, 1764, Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, i.A. Maicher, an Referat 6, 24.4.1939, sowie StdA, Rechtsamt, 3, Barbara Sperlein, Stadtrechtsamt, an die Oberfinanzdirektion München, Zweigstelle Augsburg, 9.1.1954. Für den Krug musste die Stadt nach dem Krieg im Restitutionsverfahren 350 DM nachzahlen: ebd., Wiedergutmachungsbehörde I Oberbayern, Niederschrift am 23.7.1954. 66 Bemerkenswert ist die Art und Weise der Preisfestsetzung. In einer Vormerkung von Kleindinst vom 26.4.1939, StdA 50, 1764, wird erst der Schätzpreis des Goldschmieds vermerkt. Dort schreibt Kleindinst danach lapidar: „Ich genehmige deshalb den Ankauf um 200 RM.“ 67 Ebd., Vormerkung Kleindinst an Referat 1, 13.9.1939. <?page no="199"?> Rettung oder Raub? 199 Kleindinst musste wie schon vorher für diesen Ankauf die Erhöhung des Etats beim Oberbürgermeister beantragen. Er wies explizit auf den günstigen Preis von 204 RM hin, bei „dem der Kunstwert willig außer Betracht bleibt.“ 68 Bemerkenswert ist der Vorgang der Übergabe der von der Gestapo beschlagnahmten, umfangreichen Graphiksammlung aus dem Besitz von Otto Landauer 69 an die Stadt im Jahr 1940. Im Januar 1939 traf ein Schreiben von Otto Landauer aus Israel bei der Stadt ein. Die Gestapo habe seine 1938 beschlagnahmte Graphiksammlung bei seiner Auswanderung zurückgehalten: „Bezüglich der Graphiksammlung wurde mir […] mitgeteilt, dass die Stadt Augsburg sich ev. für einzelne Blätter interessiere. Ich war hierdurch nicht in der Lage, die Sammlung mit meinem übrigen Umzugsgut mitzunehmen.“ 70 Er müsse nach den gesetzlichen Bestimmungen innerhalb von drei Monaten sein Umzugsgut nach Israel bringen. Deshalb wolle er von der Stadt möglichst rasch wissen, für welche Blätter sie sich interessiere, damit er den Rest möglichst schnell nach Israel holen könne. Ein Kunstsachverständiger solle den Tageswert feststellen lassen. 71 Kleindinst wies das Personal der Kunstsammlungen am 21. Januar an, die Graphiksammlung zu besichtigen und festzustellen, welche Blätter übernommen werden sollen. 72 Deshalb schrieb Oberbürgermeister Mayr am 28. Januar 1939 an die Staatliche Polizeistelle Augsburg und meldete das Kaufinteresse der Stadt Augsburg an. 73 Weil die Zollfahndungsstelle die Sammlung noch nicht freigegeben hatte, konnte die Gestapo keinen zeitnahen Schätzungstermin anbieten. 74 Am 7. Februar 1939 wurde vorsorglich der Ankaufsetat um 1.000 RM erhöht. 75 Daraus wurden zunächst die oben geschilderten Erwerbungen von Artur Arnold und Gertrud 68 Ebd., Vormerkung Kleindinst an Referat 1, 30.11.1939. 69 Otto Landauer bereitete seine Auswanderung bereits vor, als er aufgrund der sogenannten Reichskristallnacht 1938 verhaftet wurde. Während seiner Haftzeit suchte die Gestapo seine Wohnung auf und beschlagnahmte in Anwesenheit seiner Gattin seine Graphiksammlung. Als er auswanderte, bekam er diese Sammlung nicht mit und versuchte deshalb vergeblich von Israel aus, sie wieder zu erhalten. In dieser Sammlung waren, wie sich im Restitutionsverfahren herausstellte, auch einige Objekte aus dem Besitz seines Bruders Paul Landauer enthalten: StdA, Rechtsamt, 6, Anmeldung von Otto Landauer an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 15.11.1948 und 24.7.1948 (Abschrift) und Vormerkung Barbara Sperlein, Stadtrechtsamt (Verhandlungsbericht), 25.2.1952. 70 StdA 50, 1764, Schreiben Otto Israel Landauer an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, 15.1.1939. Zu den gesetzlichen Grundlagen zu dem Vorgang auch R UDOLPH , „Rechtsgrundlagen.“ 71 StdA 50, 1764, Schreiben Otto Israel Landauer an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, 15.1.1939. 72 Ebd., Vormerkung Kleindinst an die Museumsleitung der Städtischen Kunstsammlungen, 21.1.1939. 73 Ebd., Schreiben Oberbürgermeister Mayr an die Staatliche Polizeistelle Augsburg, 28.1.1939. 74 Ebd., Geheime Staatspolizei Augsburg an den Oberbürgermeister, 2.2.1939. 75 Ebd., Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, i.V. Dr. Eberlein, 10.2.1939. <?page no="200"?> Katrin Holly 200 Raff finanziert. Erst im März 1940 konnte Weihrauch die Graphiksammlung sichten. Er taxierte sie auf 2.000 RM und bemerkte, dass einige der Graphiken schon in der städtischen Sammlung vorhanden seien. Trotzdem „wäre die Übernahme [...] sehr zu empfehlen,“ weil die Doubletten auch anderweitig verwendet werden könnten, „zumal die Blätter im Handel nur schwer zu bekommen und meist bedeutend teurer sind. [...] Zusammenfassend würde ich empfehlen, die ganze Sammlung Landauer zu dem obengenannten Minimalpreis zu übernehmen, im Laufe der nächsten Zeit die überschüssigen Stücke auszuscheiden (sehr viele Kupferstiche schlechter Druckqualität werden durch die besseren Landauer-Exemplare ersetzt werden können), um damit später einmal den Ausbau der Städt. Graph. Slg. durch die Erwerbung wirklich wertvoller Druckgraphik, z.B. Holzschnitten Burgkmairs, zu ermöglichen.“ 76 Bemerkenswerterweise sagte Weihrauch 1951 bei einer Vernehmung vor der Wiedergutmachungskammer aus, dass er die Sammlung damals auf 2.500 bis 2.700 RM geschätzt habe. 77 Am 22. Januar 1940 vermerkte der Verwaltungsinspektor des Maximilianmuseums, dass die Gestapo die Kunstsammlung Landauers „kostenlos“ [sic] an die Stadt Augsburg übergeben habe. 78 Die Gestapo wünschte sich im Gegenzug für ihre Beamt- 76 StdA 50, 1753, Vormerkung Weihrauch, 19.3.1940. 77 StdA, Rechtsamt, 6, Protokoll der öffentlichen Sitzung der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Augsburg, 19.6.1951. 78 StdA 50, 1764, Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, i.A. Maicher an Referat 6, 22.1.1940. Der Bestand wurde nach dem Krieg an Otto Landauer zurückgegeben, bis auf die Stücke, die durch Plünderung am Auslagerungsort verloren gegangen waren. Für diese musste die Stadt Augsburg im Restitutionsverfahren eine Nachzahlung leisten. Die von Otto Landauer übernommene Graphiksammlung wurde offenbar nur im Zugangsbuch des Museums verzeichnet aber nie inventarisiert - im Gegensatz zu allen anderen aus jüdischer Provenienz erworbenen Objekte. Die Objekte wurden so verwahrt, wie sie übernommen worden waren. Diese Tatsache und dass sie von der Stadt nicht gekauft worden waren, wurde nach dem Krieg im Restitutionsverfahren gegenüber der Wiedergutmachungsbehörde bzw. -kammer von der Stadt so dargestellt, als ob man diese Sammlung vor den Nationalsozialisten für Otto Landauer habe retten wollen. Dass dies eine nicht der Wahrheit entsprechende Verteidigungskonstruktion war, formulierte sogar die Juristin Barbara Sperlein des Stadtrechtsamts klar in einer internen Vormerkung. Norbert Lieb argumentierte 1951, dass Kleindinst, der vor 1933 freundschaftlich bei Landauers verkehrt hatte, die Sammlung verborgen haben wollte. Gegen diese Narrative spricht, dass die Stadt, wie aus den hier geschilderten Vorgängen klar wird, den Ankauf geplant und die Sammlung hoch offiziell in Einbindung mit dem nationalsozialistischen Oberbürgermeister übernommen hatte: StdA, Rechtsamt, 6, Vormerkung Norbert Lieb an das Stadtrechtsamt, 27.12.1951; Vormerkung Barbara Sperlein, Stadtrechtsamt, (Verhandlungsbericht), 5.12.1951 und 25.2.1952. Eine Aussage von Kleindinst zu diesen Vorgängen konnte ich nicht auffinden. <?page no="201"?> Rettung oder Raub? 201 en freien Eintritt in die Sonderausstellungen der Kunstsammlungen. 79 Im Zuge dieser Schenkungsaktion kamen darüber hinaus fünf Stammbücher und ein gebundener adeliger Stammbaum aus jüdischem Vorbesitz, deren genaue Herkunft nicht mehr verifiziert werden konnte, in den Besitz der Stadt. 80 Dass den städtischen Funktionären die allgemeine Zwangslage der Juden sehr wohl bewusst war, zeigt ein weiteres Beispiel. Im Juli 1939 teilte Weihrauch Kleindinst mit, dass aus einem „nichtarischen Besitz [...] den Städt. Kunstsammlungen ein zeitgenössisches Bildnis des Bronzebildhauers Adrian de Vries angeboten“ wurde. Den niedrigen Preis von 325,00 RM erklärte er damit, „dass der historische Wert des Bildes den künstlerischen überwiegt, doch ist es in jedem Falle als eine gute und solide Arbeit um 1600 anzusprechen, die eine wesentliche Bereicherung unserer stadtgeschichtlichen Bildnissammlung bedeuten würde.“ 81 Kleindinst betonte in seinem Antrag auf Ankauf an den Oberbürgermeister die Herkunft aus „freiem“ nicht-arischen Besitz. 82 Diese Kennzeichnung als „frei“ weist darauf hin, dass das Objekt nicht beschlagnahmt worden war und sich noch im Eigentum des jüdischen Anbieters befand. 83 Weihrauch war mit der Gesamtsituation unzufrieden. Er beklagte, dass der Stadt zu viele Kunstobjekte, die für das Museum interessant wären, verloren gingen. In einem Brief an den Oberbürgermeister am 28. Februar 1941 wies er von sich aus darauf hin, dass in anderen Städten wie München, Frankfurt und Wien die Gestapo „die Interessen der Museen wahrnimmt und mit ihnen zusammenarbeitet, indem sie den Emigranten verbietet die Kunstwerke mitzunehmen, bevor sie sie nicht dem Museum zum Kauf angeboten haben.“ 84 In Augsburg sei das nicht der Fall. Er sei auf Hinweise von Kunsthändlern in Augsburg angewiesen. Da die Juden aber die Kunstgegenstände nicht mit über die Grenze nehmen dürften, kämen die interessanten Augustana irgendeiner Grenzstadt zugute. Auch von dem Silber aus dem Leihamt habe er im August 1939 nur durch Zufall erfahren; die Kunsthändler hätten damals schon die „besten und wertvollsten Goldschmiedearbeiten weggekauft. Die Graphiksammlung Otto 79 StdA 50, 1764, Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, i.A. Maicher an Referat 6, 13.8.1940, und Kleindinst an Oberbürgermeister Mayr, 23.11.1940. 80 Ebd., Vormerkung Städtische Kunstsammlungen, i.A. Maichle an Referat 6, 22.1.1940. 81 StdA 35, 102, Weihrauch an Referat 6, Kleindinst, 31.7.1939. 82 Ebd., Kleindinst an Oberbürgermeister Mayr, 31.7.1939. 83 Über Details zum Erwerbsvorgang und zur Provenienzrecherche vgl. Beitrag K EßLER in diesem Band. 84 StdA 50, 1764, Weihrauch an Oberbürgermeister Mayr, 28.2.1941. Weihrauch bezieht sich hier auf die Beschlagnahmung jüdischen Kunstbesitzes in Österreich bei der Eingliederung an das Deutsche Reich und auf die Beschlagnahmungen jüdischen Kunstbesitzes in München im Gefolge der „Reichskristallnacht“ 1938, die er als Mitarbeiter des Bayerischen Nationalmuseums, das dabei involviert war, kennen gelernt hatte: S CHLEUSENER , Raub, 45-55 (Wien) und 56-88 (München). <?page no="202"?> Katrin Holly 202 Landauer ist zwar in Städtischen Besitz übergegangen, jedoch die Gemälde, darunter zwei prachtvolle Rugendas, sind spurlos verschwunden, weil keine Sicherstellung erfolgt war. Diese Sicherstellung [...] stellt keinerlei vermögensrechtlichen Eingriff dar, sondern nur einen Schutz gegen kulturelle Schädigung der Stadt.“ 85 Das Zitat beweist, dass Weihrauch im Gegensatz zu seinen eingangs zitierten Darstellungen im Entnazifizierungsverfahren nicht an einer Sicherstellung der Kulturgüter für die jüdischen Eigentümer, sondern nur für die kunsthistorischen Sammlungen interessiert war. Das erklärt auch seine weiteren Aktionen. Weihrauch hatte sich schon bei der Augsburger Gestapo erkundigt, wie man der Abwanderung der jüdischen Kunstgegenstände aus Augsburg einen Riegel vorschieben könne. Die Gestapo empfahl einen Antrag vom Oberbürgermeister. Weihrauch bat diesen, den Antrag so zu formulieren, dass die Juden ihre Objekte „der Augsburger Kunst- und Kulturgeschichte vor der Mitnahme bzw. Veräußerung an Dritte dem Museum zur Erwerbung anbieten müssen.“ 86 Der Oberbürgermeister wandte sich wunschgemäß im März 1941 an die Gestapo. 87 Er fragte aber auch bei Weihrauch noch mal nach den Mechanismen der Beschlagnahmung jüdischen Kunstbesitzes nach. Mayr vermerkte die Erklärung Weihrauchs, „daß die Erfassung des jüdischen Kunstbesitzes im Jahr 1938, als Dr. Lieb noch die Leitung der Städtischen Kunstsammlungen hatte, im Wege einer geheimen staatspolizeilichen Anordnung erfolgte. In München seien aber dennoch gemischte Beschlagnahmekommissionen, bestehend aus je 1 Kriminalbeamten, 1 Kunsthistoriker und 1 Kunsthändler, dem die Schätzung der Kunstwerte übertragen war, gebildet worden. 88 Es hätte sich aber trotzdem nicht vermeiden lassen, daß Kunstwerke von bedeutendem Wert mit Hilfe von Händlern verschwunden seien. Er habe angenommen, daß in Augsburg die Zusammenarbeit von Polizei, Museum und Kunsthandel in ähnlicher Weise geregelt sei, durch seine Einberufung sei er aber gehindert gewesen, der Angelegenheit weiter nachzugehen. Bis zu seiner Entlassung aus dem Wehrdienst sind die Juden zum großen Teil abgewandert gewesen. In Augsburg hat der private Kunstbesitz und der Kunsthandel nicht die Bedeutung wie in München. Immerhin waren hier in jüdischen Kreisen, in denen zum Teil auch sehr kunstverständige Juden waren, beachtliche Kunstwerte und Sammlungen. Der örtliche, unbedeutende Kunsthandel zeigte bisher im allgemeinen wenig Verständnis für die städtischen Kunstsammlungen und hat zu ihnen auch keine Verbindung gehalten. Dr. Weihrauch hat aber zu ihm die im Interesse des Museums gebotene Verbindung aufgenommen, und dabei hat er auch erst erfahren, daß eine 85 StdA 50, 1764, Weihrauch an Oberbürgermeister Mayr, 28.2.1941. 86 Ebd. 87 Ebd., Oberbürgermeister Mayr an den Polizeipräsidenten in Augsburg, 4.3.1941. 88 Weihrauch hat offenbar in seiner Zeit in München die dortigen Beschlagnahmungsaktionen der Gestapo in Zusammenarbeit mit staatlichen Museumsfachleuten erlebt. Zur Aktion in München S CHLEUSENER , Raub, 56-88. <?page no="203"?> Rettung oder Raub? 203 jüdische Miniaturensammlung mit der Abwanderung eines Juden Augsburg verloren gehen soll.“ 89 Die Gestapo Augsburg wies darauf hin, dass die Leitung in dem zentralisierten Vermögensentzugsverfahren bei der Oberfinanzdirektion München liege, und deshalb nur zufällig bei angeordneten Durchsuchungen von Augsburger Kunstwerken erfahre. In diesen Fällen habe sie auch die Kunstsammlungen auf die Objekte hingewiesen. Der Polizeipräsident habe nun aber den Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg angewiesen, alle Juden in Augsburg darüber zu informieren, „daß Gegenstände mit künstlerischem oder kulturellem Wert ohne Unterschied der Preisgrenze dem Leiter der Städt. Kunstsammlungen in Augsburg anzubieten sind, ehe sie an Privat verkauft oder sonstwie abgestoßen werden. Eine ähnliche Regelung wird in den nächsten Tagen inbezug auf die übrigen im Regierungsbereich Schwaben ansässigen Juden getroffen. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob die Verpflichtung der Juden zum Angebot von Kulturwerten an die Stadt Augsburg nicht bei anderen kommunalen Behörden Widerspruch auslösen wird, denn soviel ich unterrichtet bin, bemühen sich mehrere Bürgermeister früherer kreisunmittelbarer Städte nach der Richtung für die eigenstädtischen Sammlungen derartige Gegenstände zu erfassen. 90 Ich erachte daher für zweckmäßig, die Anweisung an die Juden außerhalb Augsburg so zu formulieren, daß das Angebot von Kulturwerten an die Stadt Augsburg oder , soweit eine ehem. kreisumittelbare Stadt als ständiger Wohnsitz eines Juden in Frage kommt, dem Bürgermeister derselben zu machen ist.“ 91 Nach einer Erkundigung bei der Gestapo in München, welche die Darstellung der Rechtslage der Augsburger Dienststelle bestätigte und dass dies auch derzeit das in München übliche Verfahren sei, 92 wurde dem Vorschlag der Augsburger Gestapo zugestimmt. 93 Diese wies Weihrauch darauf hin, dass die auswandernden Juden in der Devisenstelle München eine Umzugsgutliste vorlegen müssten. Dort angegebene Kunstgegenstände würden von dem amtlichen Gutachter Weinmüller 94 in München 89 StdA 50, 1764, Vormerkung Oberbürgermeister Mayr, 4.3.1941. 90 So zum Beispiel der Memminger Erste Bürgermeister Berndl: Stadtarchiv Memmingen, EAPL B1, 333(R), (Juden-Aktion am 10. Nov. 1938), Berndl an Geheime Staatspolizei Augsburg, 9.1.1939, und Geheime Staatspolizei Augsburg an Berndl, 18.1.1939. 91 StdA 50, 1764, Schreiben der Gestapo, SS-Brigadeführer und Polizeipräsident, an Oberbürgermeister Mayr, 12.3.1941. 92 Ebd., Weihrauch an Oberbürgermeister Mayr, 4.4.1941. Weihrauch war aufgefordert worden, diese Recherche vorzunehmen: Vormerkung Referat 6 an Weihrauch, 25.3.1941. 93 Ebd., Oberbürgermeister Mayr an den Polizeipräsidenten Augsburg, 15.4.1941. 94 Adolf Weinmüller war ein Münchner Kunsthändler, der in großem Stil Kunstgegenstände aus jüdischem Besitz begutachtete, über sein Unternehmen in Umlauf brachte und in den Kunsthandel mit NSDAP-Funktionären und dem nationalsozialistischen Staat stark verwickelt war. Zu Weinmüller H OPP , Kunsthandel. <?page no="204"?> Katrin Holly 204 beurteilt und anschließend dort versteigert. Das sei auch der Grund, warum der Stadt Augsburg diese Kunstobjekte bisher entgangen seien. Die Devisenstelle sei jedoch bereit, in Zukunft die Augsburger von einem beabsichtigten Umzug in Kenntnis zu setzen, wenn der Oberbürgermeister bei ihnen einen entsprechenden Antrag einreiche. „Die Stelle gibt jedoch zu, daß ein Verkauf unter der Hand vor Einreichung der Liste auf diese Weise nicht verhindert werden kann.“ 95 Die Devisenstelle in München entsprach dem Antrag 96 des Oberbürgermeisters. Weihrauch wurde am 14. Mai 1941 gestattet, die vorliegenden Umzugsgutlisten durchzusehen und festzustellen an welchen Objekten die Stadt Interesse habe. 97 Am 28. Mai stellte Weihrauch fest, dass aufgrund einer Verordnung des Reichswirtschaftsministeriums vom 25. April 1941 die Sicherstellung und der Ankauf nun der Reichskammer für bildende Künste übertragen worden sei 98 und man nun auch diese Stelle einbinden müsse. Resigniert konstatierte er zu dieser Zeit das Ergebnis des Besuchs von fünf jüdischen Haushalten. Es sei kaum mehr mit größeren Werten zu rechnen, die Juden hätten seit der „Kristallnacht“ zweieinhalb Jahre die Gelegenheit gehabt, „ihren Kunstbesitz unter der Hand zu verkaufen.“ 99 Die Stadt Augsburg hatte viel zu spät reagiert. Die Stadt nahm trotzdem Kontakt mit der Reichskammer der bildenden Künste auf und bat erfolgreich um Einbindung. 100 In Zukunft bot der Landesleiter der Reichskammer der bildenden Künste beim Landeskulturwalter Gau Schwaben, Freyberger, der Stadt Augsburg Kunstobjekte aus jüdischem Besitz aus Augsburg und Bayerisch-Schwaben an. Freyberger war hauptberuflich Oberbaurat der Stadt Augsburg. Die meisten Objekte stellten sich jedoch als nicht in den Sammlungskontext passend oder als minderwertig heraus. Sowohl als die jüdische Bevölkerung 1942 in eine Sammelunterkunft umquartiert und deren Wohnungen zwangsgeräumt wurden, als auch nach der Deportation der Bewohner aus diesen Sammelunterkünften, beschlagnahmte das Finanzamt Augsburg Wohnungsinventar. Diesem kaufte das Wohlfahrtsamt der Stadt Augsburg viele Möbel und Hausratsgegenstände ab und befüllte damit sein Sammellager, um damit Bedürftige und Bombengeschädigte ausstatten zu können. Aus diesem Fundus erwarb das Maximilianmuseum wertvollere Barock- und Renaissancemöbel und Gemälde. 101 95 StdA 50, 1764, Weihrauch an Referat 6, 5.5.1941. 96 Ebd., Bürgermeister Kellner an Devisenstelle München, 8.5.1941; nachrichtlich übermittelt am 8.5.1941 auch an Gestapo Stelle Augsburg. 97 Ebd., Devisenstelle München an Oberbürgermeister Mayr, 14.5.1941. 98 Ebd., Vormerkung Weihrauch an Referat 6, 28.5.1941. Zur Reichskammer der bildenden Künste F AUSTMANN , Reichskulturkammer, 170-183, allerdings ohne Thematisierung der Rolle der Kammer beim Kunstraub aus jüdischer Provenienz. 99 StdA 50, 1764, Vormerkung Weihrauch an Referat 6, 28.5.1941. 100 Ebd., Bürgermeister i.V. an Reichskammer der bildenden Künste, 31.5.1941. 101 StdA 50, 1764, Kleindinst an Landesleiter der Reichskammer für bildende Künste beim Landeskulturwalter Gau Schwaben, 11.11.1942; Sailer (Wohlfahrtsamt) an Referat 6, 18.5.1943, <?page no="205"?> Rettung oder Raub? 205 Weihrauch versuchte sein Glück auf anderen Wegen. Bereits im Oktober 1940 stellte er einen Antrag auf Dienstreise nach Berlin anlässlich einer Auktion bei dem Antiquitätenhaus Hans W. Lange, 102 in der Augsburger Goldschmiedearbeiten des 18. Jahrhunderts angeboten wurden: „Im Hinblick auf die Versäumnisse früherer Zeit wäre es sehr wünschenswert, diese Gelegenheit zu benützen und durch den Erwerb einiger nahmhafter Stücke den Ausbau unserer Gold- und Silbersammlung zu fördern. Ein systematischer Ausbau gerade dieser Abteilung unseres Verhältnis zu dem Ruf steht, den die Augsburger Goldschmiede in früheren Jahrhunderten in aller Welt genoss.“ 103 Es sei günstiger, die Stücke auf der Auktion zu erwerben, als zu warten, bis dort einkaufende Kunsthändler diese dann zu einem wesentlich höheren Preis der Stadt anböten. 104 Weihrauch musste jedoch zu seinem Bedauern erleben, dass bei der Auktion die Preise für die Augsburger Gold- und Silberschmiedearbeiten derart in die Höhe getrieben wurden, dass er auf einen Ankauf verzichten musste. 105 Erfolgreicher war seine Tour bei den Berliner Kunsthändlern. Er besichtigte dort eine „besonders kunstvolle Arbeit, wie sie sonst nur im Grünen Gewölbe in Dresden, oder in Wien zu sehen ist.“ 106 Es handelte sich um eine als Trinkschale verwendbare Ziermuschel mit der Darstellung eines im Triumph zwischen Krieg und Frieden einherfahrenden Fürsten, getragen von Gefangenen aus Türkenkriegen. Die um 1700 entstandene Muschel war eine Arbeit des Michael Mair. Der Kunsthändler verlangte dafür 3.000 RM. Weihrauch wollte ihn noch ein bisschen herunter handeln. Zur Provenienz stellt darunter Vormerkung Kleindinst 4.5.1945 über die Inventarisierung. Aus Korrespondenz, die im Staatsarchiv Augsburg vorliegt, geht hervor, dass sowohl die NSV als auch das Wohlfahrtsamt aus diesem Fundus Möbel übernommen hatte. Es hat offenbar zwei Verwertungsstufen des jüdischen Hausrats gegeben. Zum einen wurde 1942 der Hausrat, den die in die Sammelunterkünfte verfrachteten Juden nicht mitnehmen konnten, verwertet. Nach der Deportation der letzten Juden aus den städtischen Sammellagern 1943 wurde auch deren letzter Hausrat übernommen. Es existieren noch sogenannte Lieferscheine vom Finanzamt Stadt Augsburg, die in den Restitutionsverfahren von der Stadt Augsburg verwendet wurden (StdA, Rechtsamt, 1-18). Vgl. dazu ähnliche Vorgänge in Nürnberg: T OBIAS , Aktion 3, 162, 164, und B RAUN , Stadtverwaltung, 133f. 102 Hans Wolfgang Lange (1904-1945) hatte sein Geschäft als Mitarbeiter von dem jüdischen Vorinhaber Paul Graupe 1937 übernommen. Er führte kurz danach die Versteigerung des Nachlasses von Emma Budge durch und war bekanntermaßen intensiv am Kunsthandel aus jüdischer Provenienz beteiligt: F LICK , Hans W. Lange; DIES ., Geschick; DIES ., Übernahme. 103 StdA 35, 95, Weihrauch über Referat 6 an Oberbürgermeister Mayr, 8.10.1940. 104 Ebd. 105 Tatsächlich führte die Tatsache, dass auf dem Kunstmarkt verstärkt Kunstgegenstände jüdischer Provenienz angeboten wurden, nicht zu einem Preisverfall, sondern von 1940 bis 1943 wegen der Flucht vermögender Käufer in Sachwerte nicht nur in Berlin zu erhöhten Preisen. Vgl. E NDERLEIN , Berliner Kunsthandel, 127-137. 106 Ebd., Weihrauch an Referat 6, 23.10.1940 (Bericht über die Berliner Reise). <?page no="206"?> Katrin Holly 206 Weihrauch fest, dass sich die Muschel „jahrzehntelang im Schatz der Rothschild’s in Paris und Frankfurt a. M. befunden hatte.“ 107 Letztendlich erwarb die Stadt das Objekt für 2.800 RM. 108 Es stammte aus der von den Nationalsozialisten erzwungenen, in Berlin durchgeführten Versteigerung des Nachlasses des Hamburger jüdischen Ehepaares Budge. 109 Dass Weihrauch inzwischen seine Kontakte zum Münchner Kunsthandel intensiviert hatte, zeigt die Tatsache, dass er zur selben Zeit von einem Münchner Kunsthändler ein silbernes Madonnenrelief mit einem silbervergoldeten Zierrahmen vom Ende des 16. Jahrhunderts für 1.400 RM erwerben konnte. 110 Weihrauch erhoffte sich von einer im Winter 1940 angetretenen Reise nach Paris Funde für das Museum. Dass er wissentlich in Kauf nahm, Raubkunst zu erwerben, 111 bzw. bewusst die durch das massenhafte Angebot günstigen Preise ausnutzen wollte, zeigt sein Reisebericht vom Dezember 1940. Er stellte zunächst fest, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt „wenig wirklich wertvolle Kunstwerke z. Zt. nur in sehr geringem Umfang auf dem Markt sind, da die Händler dieselben - übrigens mit ausdrücklicher Genehmigung der deutschen Kunstschutzbehörde beim Chef der Militärverwaltung in Frankreich - bis auf weiteres an Bergungsorten der Provinz zurückhalten. 112 Diese Kunstwerke, Gemälde, Plastik, Goldschmiedearbeiten usw. werden erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Vorschein kommen und können dann wegen des starken Angebots zu voraussichtlich sehr günstigen Bedingungen erworben werden.“ 113 Allerdings brachte er einen großen Bestand qualitätsvoller Graphik aus dem Pariser Kunsthandel mit. Darunter befanden sich Blätter von Dürer, Hans Weiditz, Hans Burgkmair, Mathias Gerin, Daniel Hopfer, Kilian, Ridinger, Kirkall, G. Phil. Rugendas d. Ä., sowie zahlreiche Theaterprospekte und Guckkastenbilder. 114 Er betonte in seinem Bericht den günstigen Preis. In Deutschland hätte er für die Stücke 107 Ebd., Weihrauch an Oberbürgermeister Mayr, 30.10.1940. 108 Ebd., Vormerkung Kleindinst vom 9.12.1940. Verkäufer war die Antiquitätenhandlung Ferdinand Knapp, Berlin. Knapp hat unter anderem zusammen mit dem Auktionshaus Hans W. Lange Kunstobjekte aus jüdischer Provenienz vermarktet: F LICK , Geschick, 13. 109 Dazu Beitrag K EßLER in diesem Band. Zum Schicksal der Sammlung Budge H EUSS , Vernichtung, 99-101. 110 StdA 35, 95, Weihrauch an Oberbürgermeister Mayr, 30.10.1940, und Vormerkung Kleindinst, 9.12.1940. 111 Zum Kunstraub in Frankreich H EUSS , Kunst- und Kulturgutraub, 54-147, I SELT , Sonderbeauftragter, 287-298. 112 Zur Situation des militärischen Kunstschutzes und der dazu konträren Interessen anderer nationalsozialistischer Personen und Institution in Frankreich P ETROPOULOS , Kunstraub, 164- 180; zur Situation ab Herbst 1940, ebd. 174. 113 StdA 35, 95, Weihrauch über Referat 6 an Oberbürgermeister Mayr, 9.12.1940. 114 Ebd. <?page no="207"?> Rettung oder Raub? 207 mindestens das dreibis 30-fache bezahlen müssen; er habe nur 1.084,75 RM ausgegeben. Der Ankauf stammte offenbar komplett aus jüdischem Besitz, der 1947 restituiert werden musste. 115 Weil er in Berlin und Paris keine für die Kunstsammlungen geeigneten Gemälde finden konnte, hielt er weiter im Münchner Kunsthandel Ausschau. So wurde er offenbar auf ein Gemälde in der Galerie Almas in München aufmerksam, ein Frühwerk des Christoph Amberger: das Bildnis des Mannes in Pelzbarett und Schaube. Dieses Bild hatte jedoch der Dresdner Direktor der Gemäldegalerie Hans Posse 116 für das „Führermuseum“ in Linz reservieren lassen. 117 Als Hans Posse auf Anfrage von Weihrauch erklärte, dass er das Bild nicht für das Führermuseum vorgesehen habe, versuchte Weihrauch das Gemälde für Augsburg zu sichern. 118 Unterdessen hatte angeblich „der Führer“ das Bild trotzdem erworben. Mit dem Tod von Posse wurde die Angelegenheit zurückgestellt. 119 Anscheinend setzte sich Gottfried Reimer, 120 Referent des Sonderauftrages Linz auch unter dem Nachfolger Posses, Hermann Voss, 121 115 Ebd., Vormerkung Lieb, 17.9.1948. 116 Hans Posse (1879-1942) wurde 1910 als Direktor der Gemäldegalerie Dresden berufen. Wegen seiner Protektion moderner expressionistischer Kunst wurde er von den Nationalsozialisten unter Druck gesetzt, sodass er im Frühjahr 1938 seine Pensionierung beantragte. Hitler setzte ihn wieder in sein Amt ein und ernannte ihn ab 1. Juli 1939 zum Sonderbeauftragten mit dem Aufbau der Sammlung des „Sonderauftrags Linz“. Bis zu seinem Tod trug Posse unermüdlich eine beachtliche Sammlung für dieses Museum zusammen, die sich neben Hitlers Gemäldesammlung aus beschlagnahmten Kunstwerken von Juden und europaweiten Ankäufen zusammensetzte. Er verteilte zudem die Raubkunst, welche die Nationalsozialisten in Deutschland, Österreich und dem besetzten Ausland konfisziert hatte, auf deutsche Museen (Gebiet Großdeutsches Reich). Zur Rolle von Posse u.a. H EUSS , Kunst- und Kulturgutraub, 47-51 (Biographie) und passim. S CHWARZ , Befehl, insbesondere 47-238. 117 StdA 35, 102, Weihrauch an Hans Posse, 5.4.1941. 118 Ebd., Weihrauch an Galerie Almas, 23.5.1941; Galerie Almas, Maria Dietrich, an Weihrauch, 26.5.1941. 119 Ebd., Vormerkung, gez. unleserlich, 15.6.1943. 120 Gottfried Reimer (1911-1987) war seit 1939 wissenschaftlicher Assistent bei Hans Posse. Am 1. Juni 1941 wurde er Referent des „Sonderauftrags Linz“, er behielt die Funktion auch unter Hermann Voss, dem Nachfolger von Hans Posse, bei. Er verantwortete Auswahl, Ankauf und Erfassung von Kunstwerken für das Führermuseum in Linz: H EUSS , Kunst- und Kulturgutraub, 50; S CHWARZ , Befehl, 12, 133, 234, 238-257. 121 Hermann Voss (1884-1969) erhielt nach dem Tod Posses 1943 zusätzlich zu seiner Leitungsfunktion der Städtischen Kunstsammlung am Nassauischen Landesmuseum in Wiesbaden auch die Direktorenstelle der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und den „Sonderauftrag Linz“. Voss hatte sich bereits bereitwillig an die nationalsozialistische Kunst- und Museumspolitik angepasst. Auch er bediente sich umfangreich bei Raubkunst jüdischer Provenienz und ausländischer Museen in von Deutschen besetzten Gebieten. Er arbeitete intensiv mit dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt zusammen: I SELT , Sonderbeauftragter. <?page no="208"?> Katrin Holly 208 noch mal für die Augsburger Belange in dieser Angelegenheit vermittelnd ein. 122 Das Bild musste aber in Devisen bezahlt werden, 123 wofür das Reichswirtschaftsministerium die Genehmigung versagte. Die Erwerbung kam nicht zustande. 124 Im Juni 1941 sondierte Weihrauch anlässlich einer Auktion den Markt in Wien. Er besuchte auch dort die Wiener Kunsthändler, es ergaben sich aber keine Ankäufe. Aufschlussreich ist sein Bericht über den Besuch bei dem wohlhabenden Juden E. Pollack, 125 der eine „hervorragende Augsburger Goldschmiedearbeit, Diana auf dem Hirsch von Matthäus Wallbaum“, besaß. Pollack hatte für das Stück, das er anscheinend vor dem Ersten Weltkrieg erworben hatte, 34.000 Schweizerfranken bezahlt. Den Besuch hatte das Wiener Institut für Denkmalpflege 126 vermittelt. Weihrauch wollte nach eigenen Worten „ergründen, warum er trotz des Einverständnisses des Denkmalamts und des Finanzamts nicht gewillt ist, das Kunstwerk zu verkaufen.“ Weihrauch musste feststellen, dass Pollack es aufgrund seiner Vermögenslage nicht nötig hatte, zu verkaufen. „Er wäre im Gegenteil sogar bereit, die Diana und seine sonstigen großen Sammlungen schenkungsweise herzugeben unter einer gewissen, auch sein Alter berücksichtigenden Bedingung, über die ich mündlich berichtet habe.“ 127 Über die erwähnten Bedingungen Pollaks findet sich nirgends eine schriftliche Niederschrift. Ob weitere Verhandlungen stattfanden, ist nicht überliefert. Die Goldschmiedearbeit wurde nicht erworben. Stattdessen ersteigerte die Stadt auf einer Auktion im Wiener Pfand- und Auktionshaus Dorotheum in Wien im Februar 1942 einen sehr schönen frühbarocken Deckelbecher für 4.500 RM und 10 Prozent Aufgeld. 128 Angeblich wussten die Augsburger nicht, dass er aus jüdischem Besitz stammte. Es war jedoch ziemlich blauäugig 122 StdA 35, 102, Staatliche Gemäldegalerie Dresden, Der Referent für den Sonderauftrag Linz, gez. Gottfried Reimer, an Oberbürgermeister Mayr, 26.8.1943. 123 Ebd., Der Oberbürgermeister, i.V. Stadtschulrat Zwisler, an das Bayerische Nationalmuseum, Direktor Dr. Buchheit, 26.10.1943. 124 Ebd., Vormerkung Lieb, 17.7.1947. 125 In der Augsburger Quelle wird der Name E. Pollak geschrieben. Es handelte sich um Kommerzialrat Ernst Pollack (die Schreibweise des Familiennamens war 1905 auf Pollack geändert worden), einen wohlhabenden Industriellen, der zusammen mit seiner Frau eine bedeutende Kunstsammlung aufgebaut hatte, die bei der Vermögensanmeldung im Jahr 1938 auf rund 168.000 RM geschätzt wurde und unter Denkmalschutz stand. Darunter befanden sich zahlreiche Silbergegenstände. Diese waren aufgrund der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens ablieferungspflichtig und beschlagnahmt. Vgl. K ONTNY , Recherchen, 53f. 126 Damit war die Zentralstelle für Denkmalschutz in Wien gemeint, die sämtliche aus jüdischem Besitz beschlagnahmten Kunstwerke, die in Wien verwahrt wurden, zentral verwaltete. Dazu P ETROPOULOS , Kunstraub, 118, ausführlicher S CHWARZ , Befehl, 64-70. 127 StdA 35, 102, Vormerkung Weihrauch, 23.6.1941 (Bericht über die Dienstreise nach Wien). 128 Ebd., Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie in Wien, gez. Gert Adriani, an die Direktion der Städtischen Kunstsammlungen Augsburg, 27.2.1942. Der Leiter der Wiener Gemäldegalerie Adriani ersteigerte im Auftrag der Stadt den Pokal. <?page no="209"?> Rettung oder Raub? 209 anzunehmen, dass er nichtjüdischer Herkunft war, war das Dorotheum doch für seinen umfangreichen Umsatz von Kunstwerken aus jüdischer Provenienz bekannt, denn es „war seit Beginn des Jahres 1939 eine öffentliche Ankaufstelle für Kunstgegenstände, die unter die Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 fielen.“ 129 Zu ihrem großen Schrecken mussten die Augsburger den Deckelpokal nach dem Krieg restituieren. 130 Im August 1943 wurden die Augsburger auf ein oberschwäbisches gotisches Tafelbild, das die Apostel Petrus und Paulus zeigte, von Gottfried Reimer aufmerksam gemacht. Das Bild bot der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt 131 an, der 20.000 RM forderte. Reimer bezeichnete den Preis als angemessen. 132 Kleindinst übernahm - offenbar im Auftrag des Oberbürgermeisters - die Verhandlungen für den abwesenden Weihrauch. Am 22. September wurde die Angelegenheit mit den Beiräten für die Kunstsammlungen, den nationalsozialistischen Ratsherren Geßwein, Nowotny und Schmidt beraten. Diese befürworteten den Ankauf und die Bereitstellung der Gelder. 133 Kleindinst teilte Gurlitt nach der Begutachtung des Objekts durch Direktor Buchheit vom Bayerischen Nationalmuseum mit, dass die Stadt sein Angebot annehme (20.000 RM, davon 2.000 RM Provision für Gurlitt). In diesem Schreiben stellte Kleindinst erstmals die Frage nach der Herkunft. 134 Auch auf eine weitere Nachfrage 135 - nachdem sich die Tafel schon im Besitz der Stadt befand - bekam er keine Antwort. Dass sie aus jüdischem Besitz gekommen war, stellte sich rasch nach dem Krieg heraus. 136 Aus den Nachfragen von Kleindinst zu schließen, dass er eine jüdische Provenienz ausschließen wollte, wäre eine falsche Schlussfolgerung. Kleindinst wollte wahrscheinlich eher etwas über den unbekannten Maler der Tafel, die offenbar Bernhard Strigel einmal fälschlich zugeschrieben worden war, herausfinden. 129 S CHWARZ , Befehl, 68. Zur Rolle des Dorotheums L OITFELLNER , NS-Kunstraub, 19-21; zum Aufkauf französischer Raubkunst durch das Dorotheum I SELT , Sonderbeauftragter, 292. 130 StdA 50, 1764, Vormerkung Lieb 30.8.1948, sowie Office of Military Government for Bavaria, Monuments, Fine Arts and Archives Sektion, an Museum Augsburg, Bayern, gez. Herbert Leonhard, 15.9.1948, sowie Schreiben von Norbert Lieb an Herbert S. Leonard, Central Collecting Point München, 23.10.1948. 131 Zu Hildebrand Gurlitt und seiner Beteiligung beim Umschlag von Raubkunst in Frankreich und seiner Position als „Chefeinkäufer“ für das Führermuseum H OFFMANN / K UHN , Hitlers Kunsthändler, 207-222; I SELT , Sonderbeauftragter, 292-298. 132 StdA 35, 102, Staatliche Gemäldegalerie Dresden, Der Referent für den Sonderauftrag Linz, gez. Dr. Gottfried Reimer, an Oberbürgermeister Mayr, 26.8.1943. 133 Ebd., Niederschrift über die Beratung mit den Beiräten Ratsherren Geßwein, Novotny, Schmidt am 22.9.1942, gez. Kleindinst. 134 Ebd., Kleindinst an Hildebrand Gurlitt, 17.11.1943. 135 Ebd., Kleindinst an Hildebrand Gurlitt, 21.12.1943. 136 Zu diesem Tafelbild vgl. den Beitrag K EßLER in diesem Band. <?page no="210"?> Katrin Holly 210 Geradezu kriminalistischen Spürsinn erforderte die Jagd nach einem Gemälde, die sich vom April 1941 bis August 1942 hinzog. Die Stadt Augsburg wurde 1941 in einem Schreiben an den Oberbürgermeister auf die Existenz eines Gemäldes Augsburger Provenienz hingewiesen, das sich im Besitz eines Juden in Garmisch-Partenkirchen befand, der nach Auskunft des Informanten inzwischen seinen Besitz aufgeben musste und dessen Vermögen beschlagnahmt worden sei. 137 Weil sich das Gemälde nicht mehr in dem Garmischer Gebäude befand, startete Kleindinst im Auftrag des Oberbürgermeisters eine akribische Suche. Der umfangreiche von Kleindinst geführte Briefwechsel führt über den Bürgermeister und die Gestapo von Garmisch- Partenkirchen nach München. Es stellte sich schließlich heraus, dass das Bild eine Verwandte des jüdischen Besitzers geerbt hatte, die es für erbrachte Dienstleistungen ihrem Anwalt geschenkt hatte. 138 Dieser hatte es gegen ein modernes Bild getauscht. Der nunmehrige Besitzer wollte es nicht verkaufen. 139 3. Motivation der Akteure und deren Rolle im nationalsozialistischen Herrschaftssystem Die Kunstpolitik der Stadt Augsburg war auch dem nationalsozialistischen Oberbürgermeister Mayr ein wichtiges Anliegen. Mayr war sich des alten Glanzes und der Geschichte der Reichsstadt bewusst und immer bestrebt, Augsburgs alten Glanz trotz knapper Kassen in der Öffentlichkeit angemessen zu präsentieren. So kam es ihm entgegen, dass sich kostengünstige Chancen zum Ausbau des Maximilianmuseums mit Kunstgegenständen, die die Leistungen der alten Reichsstadt dokumentierten, boten. Die laufenden Etaterhöhungen für die Ankäufe jüdischer Provenienz sind bemerkenswert, vor allem, wenn man bedenkt, dass spätestens seit der Finanzkrise Anfang der 1930er Jahre der Ankaufsetat des Maximilianmuseums praktisch eingefroren war. Dass Mayr als überzeugter Nationalsozialist die Sammlung des Museums auf Kosten der Juden ausbauen wollte, überrascht nicht. Mayr war der Adressat vieler Briefe und Angebote, die er an Kleindinst und Weihrauch zur Bearbeitung weitergab. Kleindinst musste den Weisungen Mayrs folgen. 140 Es ist nirgends nachzuweisen, dass er Verhandlungen verschleppt oder versucht hätte, diese einschlafen zu lassen. Von Kleindinst selbst gibt es nur ganz wenige Äußerungen über die Erwerbungen jüdischer Provenienz. In seinem Nachlass im Augsburger Stadtarchiv ist keine wertende Bemer- 137 StdA 35, 102, Otto Luft, München, an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, 22.4.1941. 138 Ebd., Kleindinst an Johann Bergmeier, München, 10.6.1942. 139 Ebd., Robert Kraus an die Städtischen Kunstsammlungen Augsburg, 6.8.1942. 140 Zum Führungsstil von Oberbürgermeister Mayr G OTTO , Kommunalpolitik, 100-105. <?page no="211"?> Rettung oder Raub? 211 kung hierzu aus seiner Feder zu finden, nicht einmal in seinem Bericht über die Städtischen Kunstsammlungen für den Zeitraum 1939 bis 1952. 141 Dass ihm die moralische Fragwürdigkeit dieser Erwerbungen bewusst war, zeigt die Tatsache, dass entsprechende Vorgänge von ihm in Entnazifizierungsverfahren thematisiert wurden. So stellte er 1949 Weihrauch ein Zeugnis für dessen Tätigkeit an den Städtischen Kunstsammlungen aus, in dem er diesem attestierte, die jüdischen Kultgeräte „gerettet“ zu haben. Allerdings behauptete Kleindinst nicht, dass die Rettung für die jüdischen Besitzer, sondern dass sie „für das Maximilianmuseum“ erfolgt sei, allerdings dadurch auch ihre spätere Rückgabe ermöglicht habe. 142 In seinem eigenen Spruchkammerverfahren erwähnte Kleindinst die Übernahme der Landauer-Sammlung von der Gestapo, die erfolgt sei, „um sie dem überdies gut bekannten Besitzer zu retten.“ 143 Außerdem seien die jüdischen Kultgeräte vor dem Einschmelzen bewahrt worden und hätten deshalb an die jüdische Kultusgemeinde 1945 zurückgegeben werden können. 144 Norbert Lieb vermerkte in der Nachkriegszeit, dass Kleindinst, der vor 1933 regelmäßig in Landauers Haus verkehrt habe und mit dessen Kunstsammlung vertraut gewesen sei, „daran gelegen war, die Sammlung Landauer auf alle Fälle von der Gestapo zu erhalten, um sie vor der Verschleuderung und Zerreißung zu retten.“ 145 Landauers Sammlung sei deshalb nie inventarisiert, sondern im Gegenteil gesondert und mit einem Stempel als Besitz Landauers gekennzeichnet worden. 146 Hintergrund sei 141 StdA, Nachlass Kleindinst, 2, Städtische Kunstsammlungen Augsburg: Bericht für die Jahre 1939-1952, undatiert. Er zählte darin die Erwerbungen aus jüdischer Provenienz und den Stand der Restitution auf, äußerte sich aber nicht wertend zu dem Sachverhalt. 142 Ebd., Bestätigung von Kleindinst über die Tätigkeit Dr. Robert Weihrauchs als Direktor der Städtischen Kunstsammlungen Augsburg, 25.6.1949. Die entscheidende Passage lautet: „[…] hat Dr. Weihrauch sie [die jüdischen Kultgeräte] durch geschickte Verhandlungen für das Maximilianmuseum gerettet, vor dem Einschmelzen bewahrt, und dadurch ihre spätere Rückgabe ermöglicht.“ In einer Bestätigung für das Entnazifizierungsverfahren von Weihrauch wählte er jedoch eine leicht abgeänderte Formulierung, die es Weihrauch ermöglichte, das Narrativ von der Rettung jüdischen Kulturgutes für die Juden zu stricken: „Dr. Weihrauch hat auch zahlreiche jüdische Kultgeräte, die von der Geheimen Staatspolizei beschlagnahmt waren, vor der Einschmelzung gerettet und 1945 die Rückgabe an den Vertreter der jüdischen Gemeinschaft eingeleitet.“ StAM, Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Schreiben von Josef F. Kleindinst, 18.6.1949 (beglaubigte Abschrift). 143 StAA, Spruchkammer Augsburg-Land, K-148, Kleindinst an Spruchkammer Augsburg-Land, 1.6.1947. 144 Ebd. 145 StdA, Rechtsamt, 6, Vormerkung Norbert Lieb an das Stadtrechtsamt, 27.12.1951. 146 Eine Folge der Aufarbeitung des Museumsskandals unter Ohlenroth (vgl. hierzu Anm. 10) war die strikte Festschreibung der Prozesse im Museum, insbesondere im Erwerbungsvorgang. Dazu gehörte, dass Museumsleitung und Kulturreferent nur durch den Kunstbeirat genehmigte Ankäufe vornehmen konnten und die ordentliche Inbesitznahme durch Inventarisation nachzuweisen war. Grundsätzlich galt die Inventarisationspflicht auch für Schenkungen und <?page no="212"?> Katrin Holly 212 gewesen, dass Kleindinst nie an den Bestand des Dritten Reiches geglaubt habe. 147 Das bedeutet aber auch, dass Kleindinst damit rechnete, dass die aus jüdischer Provenienz stammenden Kunstwerke alle wieder zurückgegeben werden mussten. Sicher ist, dass, wie bereits dargestellt, sein Kunstammlungsleiter Weihrauch nicht daran dachte die Sammlung geschlossen für Landauer zu erhalten und in die Kunstsammlungsbestände integrieren wollte. Er schlug sogar vor, einzelne bereits in den Kunstsammlungen vorhandene minderwertige Doubletten gegen die höherwertigen graphischen Blätter der Landauersammlung auszutauschen. 148 Ein Widerspruch von Kleindinst ist dazu nicht überliefert. Auffällig ist, dass die Erwähnung des Erwerbs der Landauer-Sammlung und der Kultgeräte in dem Spruchkammerverfahren von Kleindinst innerhalb seiner gesamten Entlastungsargumentation geradezu als Marginalien erscheinen. Denn Kleindinst legte in erster Linie Wert darauf, sich als ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung darzustellen, der immer versucht habe, Sand im Getriebe zu sein, indem er den Parteieinfluss auf die Verwaltung in seinem Zuständigkeitsbereich minimiert habe. 149 Vor allem habe er nach Möglichkeit aktive Parteigenossen in seinem Referat nicht toleriert bzw. deren Einstellung unterbunden. So auch beim Besetzungsverfahren für die Leitung des Maximilianmuseums, wo er bewusst Weihrauch als nicht aktiven Parteigenossen durchgesetzt und die Einstellung eines von hohen Parteidienststellen empfohlenen Bewerbers verhindert habe. 150 „Diese Zusammenarbeit mit inneren Gegnern der Partei hat das weitere Eindringen radikaler Kreise in die Verwaltung verhindert und eine weitere sachliche Arbeit unter Ausschaltung jeder Parteipropaganda ermöglicht.“ 151 An anderer Stelle begründete er das Ausharren in seiner Position: „Ich hätte ohne Familie 1933 zurücktreten können, glaubte aber an einen Zusammenbruch und hielt deshalb enge Verbindung und einen Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten […]. Der Zusammenbruch drohte seit 1934 ständig […]. Jede energische Intervention des Auslandes hätte die Herrschaft Hitlers zum Einsturz gebracht. Für die Aufgaben der Überleitung wollten wir bereit stehen.“ 152 Leihgaben. Aber in diesem Fall war es leichter, eine Inventarisation zu umgehen, weil der Kämmerei keine Kaufbelege vorgelegt werden mussten. 147 StdA, Rechtsamt, 6, Vormerkung Norbert Lieb an das Stadtrechtsamt, 27.12.1951. Lieb beruft sich auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern von Kleindinst. 148 StdA 50, 1753, Vormerkung Weihrauch, 19.3.1940. 149 Beispielsweise StAA, Spruchkammer Augsburg-Land, K-148, Kleindinst an die Spruchkammer Augsburg-Land, 5.9.1946, Punkt 5, 6; Kleindinst an die Spruchkammer Augsburg-Land, 1.6.1947. 150 StAA, Spruchkammer Augsburg-Land, K-148, Kleindinst an die Spruchkammer Augsburg- Land, 1.6.1947 (im Nachtrag); Bestätigung von Dr. Buchheit vom 25.4.1946. 151 StAA, Spruchkammer Augsburg-Land, K-148, Kleindinst an die Spruchkammer Augsburg- Land, 1.6.1947. 152 Ebd., Punkt 2; ähnlich ebd., Kleindinst an die Spruchkammer Augsburg-Land, 22.3.1948. <?page no="213"?> Rettung oder Raub? 213 Es ist glaubhaft, dass Kleindinst keinen einfachen Stand in der Stadtverwaltung hatte und Anfeindungen von Parteistellen ausgesetzt war, weil seine distanzierte und kritische Haltung den Nationalsozialisten gegenüber bekannt war. Aber in der Realität des administrativen Alltags war Kleindinst doch tiefer in das nationalsozialistische Herrschaftssystem verwickelt, als er selbst wahrhaben wollte. Dass „sachliche Arbeit unter Ausschaltung jeder Parteipropaganda“ 153 trotzdem bedeutete, dass er seine Fachkenntnis und Arbeitskraft einer Verwaltung zur Verfügung stellte, die unmittelbar nationalsozialistische Herrschaft ausübte, blendete er aus. Kleindinst selbst war ein korrekter Verwaltungsfachmann, der seine Zuständigkeitsbereiche im Griff hatte und für einen gut organisierten administrativen Ablauf sorgte. Im Fall der Städtischen Kunstsammlungen bemühte er sich bei Abwesenheit des Museumsleiters selbst gewissenhaft mit Hilfe der Einbindung von Lieb und anderen Experten für einen reibungslosen Geschäftsgang. Er war ein versierter Kenner der Augsburger Geschichte und kunstinteressiert. Der Ausbau der Städtischen Kunstsammlungen war ihm ein Herzensanliegen. Für das Maximilianmuseum war erst in den 1920er Jahren ein Konzept mit dem Fokus auf Augsburger und bayerisch-schwäbisches Kunsthandwerk entwickelt worden. Die Museumssammlung war in dieser Hinsicht nicht üppig bestückt und gerade in den Spitzenstücken der berühmten Augsburger Gold- und Silberschmiedekunst, der Graphik und Malerei ausbaufähig. Kleindinst unterstützte deshalb die Ankäufe Weihrauchs im Kunsthandel und im Ausland, von denen klar war, dass damit „Raubkunst“ ins Haus kam. 154 Diese Vorgänge verschwieg er in seinem Spruchkammerverfahren, denn sie konnten nicht der Entlastung dienen. Kleindinst hat auch in seiner Funktion als Wohlfahrtsreferent nationalsozialistische Vorstellungen einer völkisch und rassisch orientierten Wohlfahrtspolitik umgesetzt, weil sie zu seiner schon in der Weimarer Republik praktizierten Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Bedürftigen passte. 155 Es bleibt zu klären, warum im Kulturreferat ein Akt mit dem Titel „Jüdischer Kunstbesitz“ 156 angelegt wurde. Er reiht sich in das Konvolut der Erwerbungsakten von Museumsobjekten ein, die einerseits nach Sachgruppen bzw. Sammlungskontext 153 StAA, Spruchkammer Augsburg-Land, K-148, Kleindinst an die Spruchkammer Augsburg- Land, 1.6.1947. 154 So beispielsweise StdA 35, 95, Vormerkung Kleindinst 10.10.1940 unter der Vormerkung Weihrauchs über Referat 6 an den Oberbürgermeister Mayr vom 8.10.1940: „Mit der Befürwortung der Dienstreise von Dr. Weihrauch nach Berlin. Wir sind im Museum gerade mit Silber schlecht versehen, das von Augsburg in die ganze Welt ging. Mittel zum Ankauf sind im Haushalt vorhanden. Ich ersuche Dr. Weihrauch einen Vorschuss auf die Reisekosten anweisen zu wollen.“ 155 G OTTO , Kommunalpolitik, 174-213, insbesondere 193. 156 StdA 50, 1764. <?page no="214"?> Katrin Holly 214 der Objekte, 157 andererseits nach der Herkunft der Kunstwerke gegliedert waren. 158 Dieser Akt beginnt mit dem Hinweis des ehemaligen Museumsmitarbeiters auf die drohende Abwanderung der Sammlung Landauer aus Augsburg vom Dezember 1938. 159 Bis zum Kriegsende sind dort Erwerbungen und Erwerbungsangebote aus dem Besitz Augsburger Juden und vereinzelt bayerisch-schwäbischer Juden abgelegt. Bisher ließen sich nirgends Hinweise finden, warum dieser Akt angelegt wurde. Man könnte annehmen, dass damit eine spätere Rückgabe dieser Erwerbungen erleichtert werden sollte. Allerdings ist auffällig, dass sämtliche Erwerbungen aus jüdischen Kontext außerhalb Augsburgs und Bayerisch-Schwabens, egal ob aus Privatbesitz, Kunsthandel oder Auktionen, wie die aus Paris und Wien, in diesem Akt nicht dokumentiert sind, sondern nur in den anderen Erwerbungsakten. Sind diese Erwerbungen als nicht rückgabewürdig eingestuft worden? Wurde die Übernahme der Objekte von nicht einheimischen Juden als nicht so moralisch fragwürdig betrachtet, wie die von Augsburger Juden? Oder ist der Akt „Jüdischer Kunstbesitz“ aus anderen Gründen angelegt worden? War es ein rein verwaltungstechnischer Vorgang? Letztere Annahme wird wohl richtig sein, denn in keiner der bisher durchgesehen Unterlagen der Nachkriegszeit 160 wird jemals die Existenz dieses Aktes als Rechtfertigung dafür angeführt, dass die darin dokumentierten Erwerbungen als Unrecht betrachtet worden seien und man damit eine Rückgabe an die ursprünglichen Besitzer hätte erleichtern wollen. Weihrauch handelte als leidenschaftlicher Kunsthistoriker. Die Tatsache, dass er sogenannte entartete Kunst schätzte und der „deutschen“ Kunstpolitik der Nationalsozialisten ablehnend gegenüber stand, 161 sagt lediglich etwas über seine fachliche Kompetenz als Kunsthistoriker aus. Gerade deshalb wollte er es offenbar nicht zulassen, dass Augsburger Kunsthandwerk mit der Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung der Juden aus Augsburg verschwand. Dass der Kunstmarkt aufgrund der Raubzüge der Nationalsozialisten kostengünstige Chancen bot, war ihm willkommen. Von 157 So beispielsweise StdA 35, 93: Maximilianmuseum, Erwerbung von Kunstgegenständen: Zinn, oder ebd. 35/ 95 Maximilianmuseum, Erwerb von Kunstgegenständen: Gold, Silber. 158 Zum Beispiel StdA 35, 88 und 89 (Vermächtnisse), 90 (Schenkungen), 92 (aus dem Nachlass von Pfründnern in städt. Anstalten). 159 StdA 50, 1764: Schreiben von Albert Hämmerle an Kleindienst, undatiert, von Kleindinst mit VM an OB weitergeleitet am 29.12.1938. 160 Die Sichtungen waren umfangreicher, als hier im Anhang angegeben, weil dort nur die letztendlich in diesem Aufsatz zitierten Akten aufgeführt werden. 161 So die Bestätigungsschreiben im Entnazifizierungsverfahren von Weihrauch: StdM, Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Wolf Panizza, 14.4.1946, Professor Jantzen (Kunstgeschichte an der Universität München), 6.1.1946, und Dr. A. Wolters (Museumsdirektor Frankfurt am Main, Städtische Galerie), 14.3.1946 (alles beglaubigte Abschriften); vgl. auch StdA, Nachlass Kleindinst, 2, Bestätigung von Kleindinst über die Tätigkeit Dr. Robert Weihrauchs als Direktor der Städtischen Kunstsammlungen Augsburg, 25.6.1949. <?page no="215"?> Rettung oder Raub? 215 einer Rettung von Kunstgegenständen für ihre jüdischen Besitzer kann keine Rede sein. Die berufliche Begeisterung des Kunsthistorikers ließ keinen Raum für moralische Bedenken, wenn er aus dem Besitz von Menschen Kunstwerke übernahm, deren Auswanderung oder Untergang gewiss war. Nur so kann auch die aktive Erwerbungspolitik Weihrauchs verstanden werden. Dieselben Motive waren auch für Norbert Lieb handlungsleitend. Ihm kann zugutegehalten werden, dass er in seiner Zeit als Leiter der Kunstsammlungen von sich aus keine aktive Erwerbungspolitik von Kunstwerken jüdischer Herkunft eingeleitet hatte; denn zum einen kamen die ersten Angebote erst nach seinem Ausscheiden, zum anderen ist ihm, bedingt durch seine mageren Kontakte zu den einschlägigen Dienststellen, vermutlich einiges entgangen. Er hatte seine Stelle gekündigt, weil er sich dem politischen Druck entziehen und unabhängig von einer nationalsozialistischen Kunstauffassung seiner Wissenschaft nachgehen wollte. Er trennte sich deshalb formell von der nationalsozialistischen Stadtverwaltung, aber ideell und faktisch blieb er dem Kulturreferenten und dem Museum persönlich verbunden. Dies erklärt seine nachfolgende ehrenamtliche und freiberufliche Tätigkeit für die Stadt. Die Begutachtungen und Empfehlungen, die er im Auftrag der Stadt im vollen Wissen um die jüdische Herkunft der Kunstwerke als freier Wissenschaftler durchführte und aussprach, waren offenbar nicht nur ein Freundschaftsdienst für Kleindinst, 162 vielmehr erhoffte er sich vermutlich auch von diesem vermittelte Forschungsaufträge. Seine Unabhängigkeit von der Stadt Augsburg war nach seiner Kündigung bei weitem nicht so groß, wie er in seinem Spruchkammerverfahren suggerierte. Weil Weihrauchs Nachkriegsnarrative, welche die Übernahme der Kultgeräte als antifaschistisches widerständiges Handeln beschreiben, so erfolgreich waren, sollen sie auf dem Wissenshintergrund dieses Beitrags noch einmal analysiert werden. Seine Darstellung lautete: „2. Antifaschistische Tat. Im Juli/ August 1939 rettete ich die gesamten silbernen Kultgeräte (92 Stück) der jüdischen Kultusgemeinde Augsburg, die von der Gestapo beschlagnahmt und dem Städt. Leihamt mit dem strikten Befehl der sofortigen Einschmelzung übergeben waren, vor der Vernichtung, indem ich sie von dort auf meine Verantwortung ins Museum übernahm, sorgsam inventarisierte und verbarg.“ 163 Die Behauptung „auf meine Verantwortung“ ist widerlegt. Norbert Lieb hatte die Stücke begutachtet und zur Übernahme empfohlen. Weihrauch kaufte sie mit Billigung des Kulturreferenten, der zuvor beim Oberbürgermeister dafür gesorgt hatte, dass auch ein Budget zur Verfügung stand. Damit war der offizielle Dienstweg 162 Es konnten bisher keine Hinweise gefunden werden, dass er für die Begutachtungen ein Honorar erhielt. 163 StAM, Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909, Anlage zum Meldebogen, Ziffer 14, Hans. R. Weihrauch, undatiert [Sperrung im Original]. <?page no="216"?> Katrin Holly 216 eingeschlagen, die Erlaubnis der Vorgesetzten eingeholt und die Erwerbung nicht auf alleinige Verantwortung Weihrauchs erfolgt. Die Bezahlung der Kultgeräte war ein Verwaltungsakt mit regulärem Dienstweg und konnte gar nicht im Verborgenen ablaufen. Damit ist ein weiterer Sachverhalt widerlegt: Weihrauchs Darstellung suggeriert unterschwellig, dass die Vorgesetzten mit seiner Aktion nicht einverstanden gewesen wären. Dass Weihrauch nicht im Geringsten davon ausging, beweist auch sein bereits zitiertes Schreiben an Mayr, in dem er das Versagen der städtischen Kommunikation bei diesem Vorgang beklagte. Die Formulierung „sorgsam inventarisierte und verbarg“ ist ein Widerspruch in sich. Hätte er die Objekte tatsächlich verbergen und für die Juden retten wollen, dann wäre die Übernahme heimlich erfolgt und die Stücke in einem unzugänglichen Versteck des Museums untergebracht, aber nicht so sorgfältig inventarisiert worden. Eine Inventarisation ist ein für jedermann nachvollziehbarer offizieller Akt der Inbesitznahme. 164 Dass er die Kultgeräte vor der „Vernichtung“ bewahrte, stimmt vermutlich. Sie wären wohl tatsächlich eingeschmolzen worden, wenn sich die Stadt nicht dafür interessiert hätte. Aber der Vorgang war keine Rettung für die jüdischen Besitzer, sondern im Interesse der kunsthistorischen Sammlung der Stadt, wie sogar das Zeugnis von Kleindinst für Weihrauch eindeutig belegt. 165 Mit der Wendung „die von der Gestapo beschlagnahmt und dem Städt. Leihamt mit dem strikten Befehl der sofortigen Einschmelzung übergeben waren“ suggerierte Weihrauch ein widerständiges Handeln gegen die gefürchtete Gestapo. Er rückte sich damit geradezu in die Nähe eines Widerstands, deshalb auch seine Betitelung des gesamten Vorgangs als „antifaschistische Tat.“ Dass er die Gestapo in Wirklichkeit nicht fürchtete, sondern die Zusammenarbeit mit ihr suchte, ist bereits ausführlich dargestellt worden. Dass der Einschmelzungsbefehl nicht so strikt war, zeigt, dass das Leihamt den Kunsthändlern Objekte verkauft und der Stadt ihre ausgesuchten Stücke zum Metallwert abgegeben hat. Das Leihamt handelte auf Rechnung des Deutschen Reichs. Dem Deutschen Reich war das wirtschaftliche Ergebnis wichtig, nicht das Objekt an sich. Die Übernahme der jüdischen Kultobjekte war Raub, keine Rettung. Weihrauch hat eine sich stetig perfektionierende Karriere als Jäger nach Raubkunst durchlaufen. Die Aktionen in München hat er offensichtlich in seiner Zeit als Mitarbeiter am Bayerischen Nationalmuseum kennengelernt und versucht, so weit 164 Auch in einer Vernehmung vor der Wiedergutmachungskammer 1951 sagte Weihrauch aus, dass alle aus jüdischem Besitz erworbenen Gegenstände bis zu ihrer Verlagerung separat aufbewahrt worden seien. Vgl. StdA, Rechtsamt, 6, Protokoll der Wiedergutmachungskammer Landgericht Augsburg, 19.6.1951. Lieb sagte in derselben Vernehmung das Gegenteil, allerdings kannte er nur den Nachkriegsstand. Die einzige weitere Person, die den Sachverhalt hätte bestätigen können, Verwaltungsinspektor Maicher, war vor Kriegsende verstorben. 165 StdA, Nachlass Kleindinst, 2, Bestätigung von Kleindinst über die Tätigkeit Dr. Robert Weihrauchs als Direktor der Städtischen Kunstsammlungen Augsburg, 25.6.1949. <?page no="217"?> Rettung oder Raub? 217 es der Wehrdienst zuließ, sie auch in Augsburg umzusetzen. Als vor Ort die Möglichkeiten ausgereizt waren, suchte er sein Glück im nationalen und internationalen Kunsthandel. Er nahm Kontakt mit Personen und Institutionen auf, die in zentraler Position den Kunstraub für das Deutsche Reich, Hitler und seine Umgebung organisierten und durchführten. Und in seiner Tätigkeit bei der Abteilung „Chef der Heeresmuseen“ war er zumindest an der Transportlogistik des Kunstraubs in Osteuropa beteiligt. Er hat im Spruchkammerverfahren seine dortige Tätigkeit in keiner Weise erwähnt, weil der Aufbau des Fragebogens ihm die Möglichkeit dazu bot. Nur in seinem Personalfragebogen bei der Einstellung im Bayerischen Nationalmuseum gab er seine Zeit beim „Chef der Heeresmuseen“ an, hat sie aber ansonsten weiterhin systematisch verschwiegen. Es ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, ob Norbert Lieb sich seiner Rolle bewusst war. In seinem Spruchkammerverfahren argumentierte er wie eingangs dargestellt, dass er den Nationalsozialisten distanziert gegenübergestanden, ihrer kunstpolitischen Linie nicht gefolgt sei und sie ihn nur mangels Alternative widerwillig auf seinem Posten belassen hätten. Die Akten des Stadtarchivs Augsburg bestätigen diesen Sachverhalt. Lieb stellte weiter dar, dass sein Parteieintritt dem Druck der Parteikader in der Stadtverwaltung geschuldet gewesen sei. Mit seiner Kündigung habe er sich den Nationalsozialisten entziehen wollen. Lieb war zur Zeit der großen Kunstbeschlagnahmungen im Umfeld der „Reichskristallnacht“ schon nicht mehr im Amt. So konnte er nicht als Museumsleiter in diese Aktionen eingebunden werden. Norbert Liebs Spruchkammerakt ist allerdings ein Paradebeispiel dafür, wie durch dezente Lücken im Lebenslauf Nebelschwaden verbreitet werden. Die geschickte Konstruktion seiner Entnazifizierungsstrategie wird erst deutlich, wenn man sein Schweigen über die freiberufliche Tätigkeit für die Stadt Augsburg nach seiner Kündigung von 1938 bis 1945 einbezieht. Diese Fehlstelle lässt aber die Deutung zu, dass er ein Gespür dafür hatte, an moralisch fragwürdigen Aktivitäten beteiligt gewesen zu sein. Seine Strategie setzte Lieb auch bei einer Vernehmung vor der Wiedergutmachungskammer 1951 fort: Er habe die jüdischen Kultgeräte zwar im Frühjahr 1939 bei der Gestapo auf ihre Verwertungsmöglichkeit beurteilen sollen, habe sich „aber aus der Sache heraushalten koennen“ und wisse nicht, was mit den Gegenständen später geschah. 166 Er verschwieg, dass er im November 1939 die im Leihamt gelandeten Kultgeräte bewertete und aussuchte. 167 In Zusammenarbeit mit dem städtischen Rechtsamt restituierte 166 StdA, Rechtsamt, 6, Protokoll aufgenommen in der öffentlichen Sitzung der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Augsburg, 19.6.1951: „Im Fruehjahr 1939 bin ich mit Bibliotheksdirektor Dr. Schmidbauer zur Gestapo gerufen worden. Wir sahen dort ein Zimmer mit einer grossen Zahl von juedischen Kultgeraeten aus Silber angefuellt. Wir sollten uns zu der Frage der Verwertbarkeit aeussern. Ich habe mich aus der Sache heraushalten koennen und weiss auch nicht, was mit den Gegenstaenden spaeter geschehen ist.“ 167 StdA 50, 1764, Städt. Kunstsammlungen, i.V. Maicher an Referat 6, 23.11.1939. <?page no="218"?> Katrin Holly 218 der nach dem Krieg wieder eingestellte Norbert Lieb die aus jüdischem Eigentum stammenden Kunstwerke, darunter die Landauer-Sammlung und die Pariser Erwerbungen. Während er anscheinend vielen Objekten nicht übermäßig nachtrauerte, war er entsetzt, als aus Österreich 1948 die Aufforderung kam, den auf der Auktion im Dorotheum erworbenen kostbaren Deckelkrug an die ursprünglichen jüdischen Eigentümer zurückzugeben, und dieser abgeholt wurde. Er wollte das Kunstwerk zurückbekommen, denn der Stadt sei die jüdische Provenienz zum Zeitpunkt des Erwerbs nicht bekannt gewesen. 168 Er verschwendete offenbar keinen Gedanken darauf, dass auch bei einer angeblichen Unkenntnis über die Herkunft der Erwerb nicht nur im Sinn der Restitutionsvorschriften des Militärregierungsgesetzes Nr. 59, sondern auch moralisch nicht gerechtfertigt war. Selbst wenn die Stadt Augsburg heute von Glück sprechen kann, dass sie spät und mit relativ mäßigem Erfolg in die Jagd nach Raubkunst aus jüdischem Besitz einstieg, reihte sich das Handeln ihrer Funktionsträger in das anderer Akteure kommunaler und staatlicher Kulturinstitutionen ein. 169 Die Haltung von Oberbürgermeister Mayr, der ein überzeugter Nationalsozialist war, überrascht nicht. Aber ein ausdrückliches oder gar glühendes Bekenntnis zum Nationalsozialismus war für die übrigen Akteure Hans Robert Weihrauch, Norbert Lieb und Josef Ferdinand Kleindinst gar nicht notwendig. Es reichte völlig aus, dass die nationalsozialistische Politik ihre beruflichen, museumspolitischen und kunsthistorischen Interessen partiell bediente. Hinzu kam eine Gemengelage aus persönlicher und dienstlicher Loyalität. Obwohl sie von sich selbst überzeugt waren, dem Nationalsozialismus gegenüber kritisch oder oppositionell eingestellt gewesen zu sein, stellten sie ihre Fachkompetenz einer Kommune zur Verfügung, die nationalsozialistische Herrschaft ausübte und trugen auf diese Weise zum Funktionieren eines Unrechtssystems bei. Weihrauch, Lieb und Kleindinst sind in eine Reihe mit jenen deutschen Kunsthistorikern, Museumsleitern und verwaltungspolitischen Funktionären einzuordnen, die durch ihre Erwerbungspolitik und Mitarbeit am Kunstraub im In- und Ausland die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung als integrativen Bestandteil der Judenverfolgung und -vernichtung stützten. 170 168 Ebd., Norbert Lieb an Herbert S. Leonard, Central Collecting Point München, 23.10.1948. 169 Hier nur ein paar Hinweise: u.a. zu verschiedenen Münchner kommunalen und staatlichen Museen S CHLEUSENER , Raub (dort ist auch die weitere einschlägige Literatur zu Institutionen in München verzeichnet); zum Bayerischen Nationalmuseum W ENIGER , Sammlungen; zum Lenbachaus N ETTA , Provenienzen, und zur Bayerischen Staatsgemäldesammlung S CHULZ - H OFFMANN , Gesucht; in Bamberg: K ULLER , Geschäft, und S AALMANN / S CHNEIDER , Sammlungen; in Nürnberg: R ADLMAIER , Edelmetallablieferung; in Straßburg: R OSEBROCK , Kurt Martin, 95-174; in Frankfurt: B AENSCH , Museum, 74, 82; M ONGI -V OLLMER , Alltägliches Recht, insb. 162-191; in Hannover: F LEITER , Verwertung. 170 Ziemlich deutlich urteilt auch Tanja Baensch über Alfred Wolters, den Direktor der Städtischen Galerie im Städele in Frankfurt, der im Gegensatz zu Weihrauch, Lieb und Kleindinst <?page no="219"?> Rettung oder Raub? 219 Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) - StK-BayVO, 2276 - Landesamt für Denkmalpflege, 932 Bayerisches Staatsministerium für Kultus (BayStaMinKu), Registratur - Personalakt Hans R. Weihrauch Staatsarchiv Augsburg (StAA) - Spruchkammer III Augsburg: L-331 (betrifft Norbert Lieb) - Spruchkammer Augsburg-Land: K-148 (betrifft Josef Ferdinand Kleindinst) Staatsarchiv München (StAM) - Spruchkammerakten Karton 1927, Weihrauch Hans Robert *13.02.1909 Stadtarchiv Augsburg (StdA) - Bestand 35: 73, 84, 88, 89, 90, 93, 95, 97, 102, 132 - Bestand 50: 1753, 1764 - Nachlass Kleindinst: 2, 6, 8, 9, 13 - Rechtsamt: 3, 6 - Vereine V1, 308 - Vereinsakten V1, 1390 Stadtarchiv Memmingen - EAPL B1, 333(R) (Juden-Aktion am 10. 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Der Oberbürgermeister ließ ihn in seiner konträren Kunstauffassung gewähren, so dass Wolters sich im kulturpolitischen Räderwerk des ‚Dritten Reiches‘ in Frankfurt trotzdem instrumentalisieren ließ und letztlich funktionierte.“ B AENSCH , Museum, 76-83, Zitat 83. <?page no="220"?> Katrin Holly 220 Gedruckte Quellen Reichsgesetzblatt (RGBl.) I (1939) Literatur B AENSCH , T ANJA : Das Museum als „lebendiger Körper“ - Die Geschichte der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut bis 1945, in: U WE F LECKNER / M AX H OLLEIN (Hrsg.), Museum im Widerspruch. Das Städel und der Nationalsozialismus, Berlin 2011, 25-92. B AER , W OLFRAM : Kleindinst, Josef Ferdinand, in: G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / G ÜN- TER H ÄGELE / R UDOLF F RANKENBERGER (Hrsg.), Stadtlexikon der Stadt Augsburg, Augsburg 1998, 563. B RAUN , M ATTHIAS K LAUS : Die Stadtverwaltung Nürnberg und ihre Beteiligung an der Arisierung, in: M ATTHIAS H ENKEL / E CKART D IEZFELBINGER (Hrsg.), Entrechtet. Entwürdigt. Beraubt. 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Die Anfänge der Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg Nachdem sich im Jahr 1999 der amerikanische Historiker Jonathan Petropoulos öffentlich und bei der Stadt Augsburg darüber beschwert hat, für die Forschungsarbeiten zu seiner Publikation „The Faustian Bargain“ keinen Zugang zu den Unterlagen des Kunsthändlers Karl Haberstock zu erhalten, hat sich die Stadt Augsburg dazu entschlossen, den Nachlass Haberstocks, der einer der bedeutendsten Kunsthändler im Dritten Reich war, aufzuarbeiten und somit relativ früh nach der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 und der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ von 1999, bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg mit der Provenienzforschung/ -recherche zu beginnen. 1 Die Aufarbeitung des Nachlasses Haberstock zog sich über sieben Jahre hin und endete 2008 vorläufig mit der Publikation „Karl Haberstock. Umstrittener Kunsthändler und Mäzen.“ 2 Vorläufig deshalb, weil nicht alle Recherchen zu den etwas mehr als 100 Kunstobjekten und Objektgruppen aus dem Stiftungsbestand vollständig abgeschlossen werden konnten. Die Recherchen zu einzelnen Objekten dauern gegenwärtig immer noch an und werden sich wahrscheinlich aufgrund zum Teil immer noch nicht vollständig oder nur teilweise zugänglicher Quellen und der momentanen Stellensituation im Bereich Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg weiter hinziehen. Neben der Aufarbeitung des Haberstock-Nachlasses haben die Kunstsammlungen und Museen Augsburg bei der „Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/ -forschung“ in Berlin, die inzwischen der „Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste“ in Magdeburg angegliedert ist, einen Antrag zur Aufarbeitung der Objekte aus dem hauseigenen Bestand gestellt, die zwischen 1933 und 1945 bei den Kunstsammlungen eingegangen waren. Der Antrag wurde genehmigt und die Arbeiten hierzu in den 1 Jonathan Petropoulos hat um die Jahrtausendwende zwei für die Provenienzforschung einschlägige Publikationen verfasst: P ETROPOULOS , Bargain; DERS ., Kunstraub. 2 K EßLER , Haberstock. <?page no="226"?> Horst Keßler 226 Jahren 2010 und 2011 von der Kunsthistorikerin Verena Larbig und dem Autor durchgeführt. Die Kunstsammlungen und Museen Augsburg haben sich bei diesem Projekt zum Ziel gesetzt, die Provenienzen von Objekten, die in den Jahren 1933 bis 1945 und den sogenannten Altbestand, der bis zur Neuorganisation und Umstrukturierung mit der Vereinigung der gesamten Augsburger Kunstmuseen unter der Bezeichnung „Städtische Kunstsammlungen Augsburg“ im Jahr 1964 erfolgte, zu untersuchen und nach Möglichkeit zu vervollständigen bzw. zu klären. Ziel war, zu allen kritischen Eingängen in dieser Zeit Dossiers zu erstellen, um einerseits bei potentiellen Restitutionsforderungen die entsprechenden Informationen zu den Objekten vorliegen zu haben. Andererseits hat man sich bei den Kunstsammlungen und Museen auf die Fahnen geschrieben, bei der Entdeckung offensichtlich nicht rechtmäßig in den Bestand gelangter Erwerbungen die rechtmäßigen Eigentümer bzw. deren Nachfahren zu ermitteln und mit diesen eine faire und gerechte Lösung im Umgang mit den Objekten herbeizuführen. An dieser Stelle soll in Kürze die Vorgehensweise bei der Aufarbeitung dieses Bestands erläutert werden. Zunächst wurden mit Hilfe der hauseigenen Inventarbücher und -karten diejenigen Objekte herausgefiltert, die lückenhafte bzw. ungenaue oder zweifelhafte Provenienzen vor allem im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 aufwiesen. In den Inventarbüchern der Kunstsammlungen und Museen Augsburg sind in den Jahren 1933 bis 1945 insgesamt über 3.000 Objekte als Eingänge verzeichnet. Die Inventarbücher wurden allerdings nicht kontinuierlich geführt, sodass durch Nacherfassung unter anderem auch Objekte, die vor 1933 eingegangen sind, mit aufgenommen wurden. Diese mussten zunächst herausgefiltert werden. Insgesamt konnten schließlich 1.305 Objekte für den angegebenen Zeitraum festgestellt werden, die keine oder unvollständige Herkunftsangaben aufwiesen oder aus Privatbesitz durch Schenkung bzw. Stiftung oder auf sonstige Weise eingegangen sind. Bei letzteren Angaben war zu klären, ob sich darunter auch Objekte aus jüdischem Besitz befinden. Aus diesen gut 1.300 Objekten konnte wiederum eine relativ große Anzahl herausgefiltert werden. So zum Beispiel ein großes Fundkonvolut, das dem Augsburger Anna- Gymnasiums zugeordnet werden konnte und etliche Objekte, die nach dem Luftangriff am 25./ 26.2.1944 auf Augsburg als Aufträge an Künstler vergeben wurden oder nach einer näheren Prüfung einem früher erstellten „Ur- und Frühverzeichnis“ zugeordnet werden konnten. Durch das Filtern derjenigen Objekte, die eindeutig zugeordnet werden konnten, wurden letztlich 513 Objekte festgestellt, die es weiter näher zu untersuchen galt. Aus diesen 513 Objekten wurden wiederum insgesamt 140 Objekte gefiltert, bei denen Verdachtsmomente auf möglichen unrechtmäßigen Erwerb festgestellt wurden. <?page no="227"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 227 Für jedes dieser 140 ausgewählten Objekte wurde ein Datensatz angelegt. Des Weiteren wurde zu den Vorbesitzern der Objekte, soweit diese festgestellt werden konnten, Recherchen angestellt. In einem nächsten Schritt wurden an verschiedenen Orten im Haus vorhandene Akten und Unterlagen der 1930er bis 1950er Jahre zusammengetragen, gesichtet, sortiert und aufgearbeitet. Es handelt sich bei diesen Unterlagen um Schriftwechsel mit Einzelpersonen, Behörden, wissenschaftlichen Instituten und öffentlichen Körperschaften und um Korrespondenz zu Erwerbungen und sonstigem Zugang sowie zum Tausch und Verkauf von Werken. In einem weiteren Schritt erfolgte die Durchsicht des Abgangsbuchs sowie des Verwahrbuches. Diejenigen Dokumente, die eindeutig den einzelnen „verdächtigen“ Objekten zugeordnet werden konnten, wurden aufgenommen, um sie später den Dossiers über die Objekte beifügen zu können. Im Augsburger Stadtarchiv wurde zu den mit den Objekten in Beziehung stehenden Personen recherchiert bzw. Informationen aus Familienund/ oder Meldebögen eingeholt und die damit einhergehenden biographischen Daten erfasst. Die Datensätze wurden mit den hauseigenen Stückakten der Kunstsammlungen und Museen Augsburg abgeglichen und mit den darin enthaltenen zusätzlichen Informationen ergänzt. Ab Januar 2011 erfolgte sodann der Abgleich der Objekte mit der in den Kunstsammlungen und Museen vorhandenen Fotokartei. Zu einigen Objekten wurden in Zusammenarbeit mit den Restauratoren und dem Depotverwalter neue Fotografien angefertigt, die zum Teil, meist über die Rückseiten von Gemälden, die sich unter den untersuchten Objekten befanden, neue Informationen zu den betreffenden Objekten lieferten. Alle bis Juni 2011 gewonnenen Forschungserkenntnisse wurden in diese Datensätze eingearbeitet, sodass für jedes untersuchte Objekt ein Kurzdossier erstellt werden konnte. Die einzelnen Dossiers wurden ausgedruckt und nach Inventarnummern mit aufgeführter Gattung, Künstler und Titel in einem Aktenordner abgelegt, der den jeweiligen Kuratoren der einzelnen Sammlungen zur Verfügung gestellt wurde. Inhaltsverzeichnisse und ein Leitfaden zur Dokumentauffindung des zweijährigen Projektes wurden erstellt, sodass bei einer möglichen Fortführung des Projektes eine schnelle Einarbeitung sichergestellt werden konnte. Bei einigen der insgesamt 140 eingehender untersuchten Objekten wurden lediglich rudimentäre Recherchen bzw. Abgleiche mit Akten durchgeführt. Die untersuchten Objekte unterteilen sich in folgende Gattungen: 64 Gemälde, 11 Grafiken und 65 kunsthandwerkliche Objekte, darunter 5 Skulpturen, 2 Reliefs, 3 Möbelstü- <?page no="228"?> Horst Keßler 228 cke und 2 Musikinstrumente. Während der Recherchen konnte ein Kriegsverlust festgestellt werden, der nun im Abgangsbuch der Kunstsammlungen und Museen verzeichnet wurde. 3 Für die Zeit nach 1945 konnten acht Restitutionen an Einzelpersonen und drei Restitutionen an den Freistaat Bayern sowie weitere Rückgaben an kirchliche Institutionen verzeichnet werden. Ein großes Konvolut an jüdischen Kultgegenständen, Kerzenleuchtern etc. wurde mit Verfügung des Kulturreferats vom 23. November 1945 an die jüdische Vereinigung Augsburg an deren Vertreter Direktor Leo Gutmann und Hugo Schwarz (Israelitische Kultusgemeinde) zurückgegeben. Basis hierfür war ein Antrag der Jüdischen Vereinigung auf Rückgabe sowie ein aufgefundenes Verzeichnis mit Inventarnummern. Die Objekte stellten insgesamt einen Wert von 2.963,90 RM dar und waren von den Städtischen Kunstsammlungen am 9. Dezember 1939 über das Städtische Leihamt zum Metallwert übernommen worden. Parallel zu den Recherchearbeiten an den Objekten, die aus jüdischem Besitz in den Jahren 1939 bis 1945 in die Bestände der Kunstsammlungen aufgenommen wurden, wurden die Gemälde der Barockgalerie im Schaezlerpalais untersucht. Die Unterlagen zu den Untersuchungen wurden ebenfalls dem zuständigen Kurator übergeben. Zu diesen Gemälden, die auch Leihgaben der Stadtsparkasse Augsburg, der Hypo-Vereinsbankgruppe, der Freunde und Förderer der Kunstsammlungen Augsburg und anderen Leihgebern und Sponsoren enthalten, erschien 2016 ein Bestandskatalog, in dem die bisherigen Rechercheergebnisse teilweise eingeflossen sind. 4 2. Provenienzforschung in der Praxis An dieser Stelle soll etwas näher auf die praktische Arbeit in der Provenienzforschung und die Umstände eingegangen werden, die die Recherchen zu möglicherweise NSverfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut erschweren. Zunächst einige Informationen zur Quellenlage: Oft sind in den Inventarkarten und Inventarbüchern Herkunftsangaben unterschiedlich oder jeweils nur kryptisch angegeben. Deshalb müssen nach der Sichtung dieser Materialien zwingend die im Haus liegenden Korrespondenzakten, sofern diese vorhanden sind, herangezogen werden. Bereits hier tun sich die ersten Schwierigkeiten auf. Diese Unterlagen, die oft wichtige Hinweise zu Erwerbungsumständen enthalten, wurden in den meisten Häusern nach dem Krieg eher vernachlässigt. Sie wurden zwar zum Großteil aufbewahrt, sind aber, nicht nur wie es bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg der Fall 3 KMA, Inv. Nr. 9216. 4 T REPESCH (Hrsg.), Die deutsche Barockgalerie. <?page no="229"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 229 war, kaum zugänglich, geschweige denn in irgendeiner Form erschlossen. Meist wurden sie, da jahrelang niemand dafür Interesse gezeigt hatte, unbeachtet in einem Speicher oder einem Lagerraum aufbewahrt, da sie für die vorgesehene Abgabe an das Stadtarchiv nicht relevant genug erschienen. Mit viel Glück und Geduld lassen sich in diesen Akten Unterlagen zu den Erwerbungsumständen von Objekten finden, die allein deshalb für die Herkunftsforschung wichtig sind, weil häufig Inventarisierungsdaten und Erwerbungsdaten weit auseinanderliegen. Um letztendlich festzustellen, welche Objekte möglicherweise aus NS-verfolgungsbedingtem Erwerb stammen sind folgende Sachverhalte zu prüfen: - Fand im Erwerbungszeitraum zwischen 1933 und 1945 ein Eigentümerwechsel statt? - Wie gestalteten sich die Erwerbungsumstände? Wann und wo wurde ein Objekt erworben? Bei der Frage „Wo? “ sind insbesondere folgende Kriterien zu berücksichtigen: - Wurde das Objekt in einem durch Deutschland besetzten Land oder Gebiet erworben? - Fand die Erwerbung über ein Pfandleihamt, ein Finanzamt oder - wie in einer Großzahl von Fällen in Augsburg - über das Wohlfahrtsamt statt? - Kamen Objekte aus sogenannten „Judenauktionen“ oder aus Auslagerungsorten in den Bestand? - Wer waren die beteiligten Personen? Eine weitere große Hilfe bei der Ermittlung von Provenienzen der Objekte aus den Kunstsammlungen und Museen Augsburg stellen die Unterlagen im Augsburger Stadtarchiv dar. Hier finden sich mehrere Bestände, in denen Auskünfte zu ehemals jüdischem Besitz ausgemacht werden können: Einer der wichtigsten Bestände dort ist im Bestand 50 der Akt mit der Nummer 1764 und dem Titel „Jüdischer Kunstbesitz“ sowie der Bestand Rechtsamt, Wiedergutmachungsakten. 5 Darin befinden sich etliche Kopien von „Wiedergutmachungs“- und Rückerstattungsakten, von denen sich teilweise Originale im Staatsarchiv München bzw. Augsburg finden. In diesen Akten sind ebenso Unterlagen zu den Anträgen der JRSO (Jewish Restitution Successor Organization) vorhanden, auf die später noch näher eingegangen wird. Daneben sind 5 StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Jüdischer Kunstbesitz; StdAA, Bestand Rechtsamt, Wiedergutmachungsakten 101-119. Hier finden sich insbesondere Unterlagen zu Erwerbungen der Städtischen Kunstsammlungen aus jüdischem Besitz, Verzeichnisse von aus jüdischem Besitz erworbenen Gegenständen, Namenslisten jüdischer Einwohner, von denen Kulturgut erworben bzw. übernommen wurde, Korrespondenzen der Stadt Augsburg mit anderen Ämtern und Behörden wie Finanzamt und Wohlfahrtsamt und etliche weitere relevante Unterlagen, die im Zusammenhang mit der Übernahme und dem Erwerb sowie der späteren Rückerstattung von Kulturgut aus jüdischem Besitz stehen. <?page no="230"?> Horst Keßler 230 natürlich auch die Personenstandsregister und Meldekarteien für die Personenrecherche von Bedeutung. Neben den Erwerbungen zwischen 1933 und 1945 sind auch die Erwerbungen nach 1945 und deren Provenienzen zwischen 1933 und 1945 klärungsbedürftig. In den nachfolgenden Ausführungen soll aber in erster Linie auf die Erwerbungen zwischen 1933 und 1945 bei den Städtischen Kunstsammlungen eingegangen werden. Zunächst folgen einige Anmerkungen zum regionalhistorischen Kontext hinsichtlich der Beschlagnahmungen in den 1930er und 1940er Jahren in Augsburg. 3. Zum regionalhistorischen Kontext: Die „Judenaktion“ in Augsburg Bei den Recherchen im Stadtarchiv Augsburg zu den unter Verdacht auf unrechtmäßigen Erwerb stehenden Einzelobjekten, stößt man auf etliche Dokumente, die Auskunft darüber liefern, welche die innerstädtischen Strukturen und die Maßnahmen gegen die Augsburger Juden vor allem ab dem Jahr 1939 näher beleuchten. 6 So fanden zwischen 1939 und 1943 in Augsburg vier sogenannte „Judenaktionen“ statt. 7 Die Juden wurden in einem ersten Schritt nach der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 und der am 16. Januar 1939 darauf folgenden Durchführungsverordnung aufgefordert, ihre Schmuckgegenstände bei den in den gemeindlichen Pfandleihanstalten errichteten Ankaufsstellen abzugeben. In einem zweiten Schritt wurden den Juden ihre anderen Wertgegenstände wie Gemälde, wertvolle Möbel, Altertümer etc. entzogen. Basis hierfür war die 5. Verordnung zur Durchführung über den Einsatz jüdischen Vermögens und die Verfahrensordnung der Reichskammer der Bildenden Künste. 8 Die Reichskammer wurde hierbei als Ankaufsstelle bestimmt, wobei sie sich der Mitarbeit der zugelassenen ortsansässigen Kunst- und Antiquitätenhändler bediente. In Stufe drei wurden die jüdischen Bürger 1942 aus ihren Wohnungen ausquartiert und in Sammelunterkünfte verbracht. Das waren die sogenannten Augsburger 6 Zur Situation der Augsburger Juden und zur „Arisierung“ in Augsburg allgemein S CHÖNHA- GEN , Situation der Augsburger Juden; J ANETZKO , Anfänge der „Arisierung“; DIES ., „Arisierung“ mittelständischer jüdischer Unternehmen. 7 StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Schreiben vom Stadtrechtsamt Augsburg an Rechtsanwalt Dr. Philipp Roßteuscher vom 23.2.1950. In diesem Schreiben werden die Entziehungsvorgänge des jüdischen Vermögens, die in insgesamt vier Aktionen in Augsburg stattgefunden haben, ausführlich dargelegt. Im Folgenden werden diese Vorgänge basierend auf diesem Schreiben verkürzt wiedergegeben. 8 Vgl. hierzu die 5. Verordnung zur Durchführung der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 25.4.1941, in: Reichsgesetzblatt (RGBl) I, 1941, 218; sowie die Verfahrensordnung der Reichskammer der Bildenden Künste vom 6.5.1941, in: ebd., 245. <?page no="231"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 231 „Judenhäuser“ in der Bahnhofsstraße, Hallstraße, Geißbergstraße, Ulmerstraße und der Mozartstraße. Dabei wurden ihnen ihre restlichen Möbel abgenommen, die dann über das Finanzamt an das städtische Wohlfahrtsamt weiterveräußert wurden. Schließlich wurden die Möbel von dort in verschiedenen Sammellagern untergebracht, z.B. in der Augsburger Dominikanerkirche, in der bis vor kurzem das Römische Museum untergebracht war. Von dort aus wurden die wertvolleren Stücke zunächst den Kunstsammlungen angeboten. 9 Die restlichen Möbel wurden an bedürftige bzw. kriegsgeschädigte Haushalte teils gegen Entgelt, teils unentgeltlich abgegeben. 10 Die bei Kriegsende noch vorhandenen Gegenstände wurden bis auf wenige Stücke, die an die damaligen Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde zurückgegeben wurden, restlos geplündert. In der vierten und letzten Aktion wurden die in den Sammelunterkünften lebenden Juden mit Transporten in verschiedene Internierungs- oder Vernichtungslager verbracht. Im Anschluss daran wurden die Baracken zerstört. 11 Nach der Einziehung der Schmuckgegenstände, die nach Maßgabe zweier Schnellbriefe des Reichswirtschaftsministers Anfang 1939 erfolgte, wurde durch den Leiter des Leihamtes der Stadt Augsburg bestätigt, dass Veräußerungen der Gegenstände an Innungsangehörige, private Personen und unter anderem an die Kunstsammlungen stattgefunden haben und dass diese Veräußerungen ausdrücklich angeordnet und erlaubt waren. 12 Die entzogenen Möbel wurden unter Verwaltung des Finanzamtes gestellt und zwischen Herbst 1942 und Ende 1944 nach und nach vom Wohlfahrtsamt der Stadt Augsburg zu einem Gesamtbetrag von knapp 140.000 RM angekauft. Ein geringer Teil dieser Möbel ging ebenfalls - wie oben bereits erwähnt - an die städtischen Kunstsammlungen. Die Herkunft dieser Objekte nachzuverfolgen gestaltet sich als äußerst schwierig. Es war bis vor kurzem in den meisten Fällen nicht mehr eindeutig 9 Siehe u.a. StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Schreiben der Städtischen Kunstsammlungen an das Referat 6 der Stadt Augsburg vom 4.5.1943. In diesem Schreiben wird bestätigt, dass der Stadt Augsburg vom Finanzamt über das Wohlfahrtsamt der Stadt vier Ölgemälde aus jüdischem Besitz zur Erwerbung angeboten und gekauft wurden. Diese Bilder wurden an die Erben des ehemaligen Eigentümers Karl Kohn am 25.11.1949 restituiert, vgl. ebd., Schreiben von Dr. Norbert Lieb an das Stadtrechtsamt vom 29.12.1953. 10 Siehe hierzu u.a. StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Schreiben der Geheimen Staatspolizei an Dr. Kleindienst und den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg vom 27.11.1941. 11 StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Schreiben vom 22.5.1948 von Ludwig Dreifuß, Bürgermeister der Stadt Augsburg an Oberstaatsanwalt Gg. Hohner, Augsburg, sowie Schreiben vom 23.2.1950 vom Stadtrechtsamt an Dr. Philipp Roßteuscher, Rechtsanwalt Augsburg. 12 Grundlage hierfür war die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens, RGBl I, 1938, 1709. Siehe auch StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Schreiben vom Stadtrechtsamt an Dr. Philipp Roßteuscher vom 23.2.1950. <?page no="232"?> Horst Keßler 232 feststellbar, aus wessen Besitz die noch erhaltenen Gegenstände stammten, da die Unterlagen, d.h. Abgabescheine und Verzeichnisse des Finanzamtes Augsburg-Stadt und des Städtischen Wohlfahrtsamtes, bei einem Fliegerangriff am 25./ 26. Februar 1944 nahezu vollständig verbrannt sind. 13 Zum anderen waren die ursprünglich angebrachten Herkunftsbezeichnungen an den Gegenständen in den Depots abgefallen oder unleserlich geworden. Die Städtischen Kunstsammlungen haben Gegenstände aus bekanntem und unbekanntem jüdischem Besitz erworben und zwar entweder gemäß Angebot der Betroffenen oder nach Angebot der Ankaufsstelle des Leihamts bzw. des Wohlfahrtsamts und des Finanzamts Augsburg-Stadt. Aus jüdischem Kunstbesitz wurden während des Krieges Möbel, Silbergegenstände und Graphiken erworben, und zwar direkt aus jüdischem Besitz für 230 RM, über das Finanzamt Augsburg-Stadt, das den beschlagnahmten jüdischen Besitz verwertete, für 10.225 RM und über das Leihamt, das die Gegenstände aus Edelmetall verwertete für 3.828,40 RM. 14 Dem Bayerischen Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung wurde am 31. Juli 1947 drei Verzeichnisse mit Kunstgegenständen übergeben, welche die Stadt Augsburg aus jüdischem Besitz erworben haben soll. Bei der Erfassung dieser in den Verzeichnissen aufgeführten Kunstgegenstände, 15 die während der NS-Zeit erfolgte, hat die Leitung der Städtischen Kunstsammlungen versucht, mit der örtlichen Leitung der Reichskammer der bildenden Künste eine Vereinbarung zu 13 Ende 2015 tauchten in der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben Inventarverzeichnisse des Finanzamtes Augsburg-Stadt aus den Jahren 1942-1944 auf, bei denen es sich offensichtlich um Abschriften der als verbrannt gegoltenen Unterlagen des Finanzamtes handelt. Vgl. Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben (Archiv IKG), Inventarverzeichnisse des Finanzamtes Augsburg-Stadt 1942-1944. Diese Dokumente müssen noch eingehend gesichtet und mit den Verzeichnissen im Stadtarchiv Augsburg und den Unterlagen in den Kunstsammlungen und Museen Augsburg verglichen werden. 14 Eine Auflistung der von den Städtischen Kunstsammlungen aus jüdischem Besitz erworbenen Gegenstände findet sich u.a. in einem Schreiben in StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 117, Schreiben vom 15.6.1948 mit dem Titel „Verzeichnis der aus jüdischem Besitz erworbenen Gegenstände“. 15 Ebd.; vgl. auch StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 117, Schreiben vom 9.11.1955 von Dr. Lietzmann, Finanzamt Augsburg-Stadt, der die Übernahme von 119 silbernen Besteckteilen und Bechern Inv. Nr. 8992ff. bestätigt. Ein weiterer Nachweis hierzu als Korrespondenz in StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 115 bzw. auch Nr. 101-103, Rechtsamt (Dr. Sperlein? ) an die Städt. Kunstsammlungen vom 28.6.1954, sowie Vergleich der Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern vom 23.6.1954, Abholung der 119 Besteckteile und Becher durch das Land Bayern; StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Verzeichnis über das Eigentum der Städtischen Kunstsammlungen, erworben aus jüdischem Besitz. Rückgabe an die Jüdische Vereinigung, Augsburg, Basis: Antrag der Jüdischen Vereinigung auf Rückgabe. Auftrag zur Übergabe von Referat 5 (Schulrat Schwister) 23.11.45 mit Empfangsquittungen (Direktor Gutmann) 26.10.1945 und 27.9.1945. <?page no="233"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 233 treffen, die beinhaltete, dass den Kunstsammlungen vor Veräußerung an Privatpersonen diese Kunstgegenstände angeboten werden sollten, damit auf diese Weise der in Bezug zu Augsburg stehende Kunstbesitz für die Stadt gesichert würde. Der Großteil der Kunstgegenstände war aber zum Zeitpunkt dieser Vereinbarung bereits nicht mehr in Augsburg, sondern als Büroschmuck zur Ausstattung der Behörden in die besetzten Ostgebiete verbracht oder an Parteidienststellen bzw. namhafte Persönlichkeiten der Partei übergeben worden. Mit der Verwertung der Kunstgegenstände wurde der Augsburger Auktionator Fritz Petzold beauftragt. 16 Die Stadt Augsburg konnte dennoch einige Objekte erwerben. Der Kaufpreis hierfür musste an das Finanzamt Augsburg-Stadt entrichtet werden. Die Voreigentümer der Objekte blieben den Kunstsammlungen nach Aussage der damaligen dortigen Mitarbeiter unbekannt. Sie lassen sich allerdings zumindest teilweise unter Zuhilfenahme der kürzlich im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben entdeckten Unterlagen des Finanzamtes Augsburg-Stadt feststellen. 17 Die gemeldeten Gegenstände aus jüdischem Besitz wurden 1947 aufgrund der oben genannten Meldung des Bayerischen Landesamtes für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung unter Vermögensaufsicht gestellt. 4. Ablauf der Beschlagnahmungen 1939 und der Rückerstattungen in Augsburg nach 1945 Der Entzug der Vermögenswerte erfolgte durch die Dienststelle für Vermögensverwaltung am Finanzamt Augsburg-Stadt. Edelmetalle und Schmuck gingen im Zuge der sogenannten „Silberablieferung“ im Frühjahr 1939 an das Städtische Leihamt, das die eingegangenen Bestände an die staatliche Münze in Berlin weiterleitete. Vermögenswerte unter 300 RM (später unter 150 RM) blieben vor Ort. Deren Verwertung erfolgte in nicht öffentlichen Versteigerungen, zu welchen die Innungsmitglieder der Goldschmiede eingeladen wurden. Die Objekte wurden gewöhnlich von einzelnen Goldschmieden ersteigert, die sie nicht für die Innung, sondern für sich selbst erwarben. Der Erwerb erfolgte mit der ausdrücklichen Auflage, dass die Gegenstände eingeschmolzen werden müssen. 18 16 Siehe StdAA, Bestand 50, Nr. 1764, Stadtrechtsamt Augsburg an Rechtsanwalt Dr. Philipp Roßteuscher vom 23.2.1950, sowie Schreiben der Geheimen Staatspolizei an Dr. Kleindienst und den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg vom 27.11.1941. 17 Vgl. Archiv IKG, Inventarverzeichnisse des Finanzamtes Augsburg-Stadt 1942-1994. 18 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 112, Schreiben von C. F. Schmedding an die Stadtverwaltung Augsburg vom 22.1.1949. <?page no="234"?> Horst Keßler 234 Die von den Kunstsammlungen übernommenen Kunst- und Kultgegenstände wurden zum Großteil inventarisiert und somit in den Bestand der Kunstsammlungen eingegliedert. Die Unterlagen des Städtischen Wohlfahrtsamtes und die Aufzeichnungen des Finanzamts sind - wie oben bereits erwähnt - durch Brand vernichtet worden. Es sind jedoch einige Abschriften der Listen der beschlagnahmten Güter aus jüdischem Besitz in den Wiedergutmachungsakten erhalten, aus denen sich einige wichtige Informationen zu den Beschlagnahmungen entnehmen lassen können. 4.1. Restituierte Objekte bei den Städtischen Kunstsammlungen Augsburg aus Augsburger jüdischem Besitz Laut einer Aufstellung von Norbert Lieb, die er am 15. Juni 1948 angefertigt hatte, 19 sind während des Zeitraums von 1938 bis 1943 Objekte aus bekanntem und unbekanntem Besitz Augsburger Juden in einem Gesamtvolumen von 25.937,40 RM von den Städtischen Kunstsammlungen angekauft bzw. ihnen übertragen worden. Davon wurden vom Leihamt etliche Silberobjekte aus unbekanntem jüdischem Besitz sowie jüdische Kultgeräte der israelitischen Kultusgemeinde in Höhe des Metallwerts von 4.032,40 RM gegen Bezahlung und Zinngegenstände im Wert von 50 RM ohne Bezahlung übernommen. Ebenso wurde ein silbervergoldeter Deckelkrug aus unbekanntem jüdischen Besitz zum Preis von 250 RM vom Leihamt angekauft, der auf Weisung des Oberbürgermeisters an Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz der NSDAP als Geschenk abgegeben wurde. Vom Finanzamt-Stadt wurden insbesondere Möbel (Schränke, Tische, Kommoden etc.) und Gemälde im Wert von 10.225 RM erworben. Ein Teil dieser Objekte wurde über das Städtische Wohlfahrtsamt übernommen, der Kaufpreis aber wurde - wie oben erwähnt - an das Finanzamt entrichtet. 20 Neben dem Deckelkrug, der an Reichsschatzmeister Schwarz ging, den Kultgeräten, die bereits 1945 an die jüdische Gemeinde zurückgegeben wurden und einem der Schränke aus dem Besitz der Hedwig Uhlmann, Witwe des bereits 1932 verstorbenen Landgerichtsdirektors Alfred Uhlmann, der an einen Kreisamtsleiter der NSDAP weiterverkauft wurde, befanden sich im Juni 1948 alle Objekte noch bei den 19 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 117. 20 Über weitere Erwerbungen aus jüdischem Privatbesitz, wie den Objekten von Artur Arnold, Teilhaber der Spinnerei und Weberei Kahn & Arnold am Sparrenlech, und Gertrud Raff sowie von den von der Gestapo den Kunstsammlungen übergebenen Grafikmappen von Otto Landauer und den Stammbüchern des Adelsgeschlechts von Emmershofen aus unbekanntem jüdischen Besitz siehe den Beitrag von Katrin Holly in diesem Band. <?page no="235"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 235 Kunstsammlungen. 21 Der gesamte jüdische Kunstbesitz wurde von der Militärregierung beschlagnahmt und dem Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, das einen Treuhänder dafür aufgestellt hat, zur Verfügung gestellt. Bis auf einige wenige dieser Kunstobjekte und Möbel sind die meisten mit Beschlüssen der Wiedergutmachungsbehörde bis 1954 restituiert worden. Für die nicht mehr auffindbaren bzw. vorhandenen Objekte wurde von der Stadt Augsburg Schadenersatz geleistet. 22 4.2. JRSO - Rückgabe von Kultgegenständen Im Folgenden sollen einige Beispiele zu Einzelobjektrecherchen vorgestellt werden. Zuvor muss über einen kurzen Exkurs zur Jewish Restitution Successor Organisation (JRSO) und deren Abkommen mit dem Freistaat Bayern etwas weiter ausgeholt werden. Die JRSO war eine jüdische Restitutions-Nachfolgeorganisation mit Sitz in New York und wurde 1948 von verschiedenen amerikanischen und internationalen jüdischen Organisationen gegründet. Ziel der JRSO war es, in Restitutionsverfahren in der amerikanischen Besatzungszone sowie im amerikanischen Sektor in Berlin die Restitution des erbenlosen Vermögens von Privatpersonen sowie des Vermögens von Institutionen und Organisationen zu betreiben, welche als „jüdisch“ rassisch verfolgt und enteignet worden und später ermordet bzw. aufgelöst worden waren. Das auf diesem Wege erworbene Vermögen verteilte die JRSO an jüdische Institutionen und Organisationen vor allem in den USA und in Israel. Geschädigte, deren Kunst- und Kulturobjekte während der Herrschaft der Nationalsozialisten beschlagnahmt bzw. entwendet worden waren, konnten bis 31. Dezember 1948 einen Antrag auf Rückerstattung bzw. Entschädigung beim Zentralmeldeamt in Bad Nauheim stellen. Bei nicht erfolgter fristgerechter Anmeldung durch Geschädigte bis zu diesem Termin konnte die JRSO eine Anmeldung (eine sog. Kurzanmeldung) von entzogenem Kulturgut auf erbloses Vermögen im Zentralmeldeamt in Bad Nauheim stellen. Waren Geschädigte oder deren Nachkommen mit ihrem Antrag nicht in dieser Frist, hatten sie die Beweislast dafür, dass die Anmeldung danach fristgerecht erfolgt ist. Das heißt: Wer sein verlorenes Vermögen nicht bis Ende 1948 in der Zentralstelle in Bad Nauheim angemeldet hatte, ging unter Umständen leer aus. Diese Regelung galt bis Mitte 1952. Am 29. Juli 1952 ging dann die JRSO mit dem Freistaat Bayern das sogenannte Globalabkommen ein. In diesem Globalabkommen übertrug die JRSO ihre Rechte an erblosem jüdischem Kulturgut an den 21 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 117. 22 Zu den Schadensersatzleistungen der Stadt Augsburg u.a. StdAA, Bestand Rechtsamt, Einzelfälle. <?page no="236"?> Horst Keßler 236 Freistaat Bayern. Die JRSO trat also alle Rechte an NS-verfolgungsbedingt entzogenen und erbenlosen Vermögenswerten gegen eine Zahlung in Höhe von 20 Millionen DM an den Freistaat Bayern ab. 23 4.3. Die JRSO und die israelitische Kultusgemeinde Augsburg Die JRSO meldete laut einem ihr nicht vorliegenden Verzeichnis für die Israelische Kultusgemeinde Augsburg jüdische Kultgeräte, die an das Städtische Leihamt Augsburg abgeliefert werden mussten und mit 2.963,90 RM übernommen wurden, Rückerstattungsansprüche an. 24 Wie oben erwähnt, hatte die JRSO bereits 1952 ihre Rechte auf entzogenes Kulturgut an den Freistaat Bayern abgetreten. Nach Entscheidung des Court of Restitution Appeals (CORA Entscheid 442) wurde der Anspruch auf jüdische Kultgeräte nicht an den Freistaat Bayern übertragen, da laut Vereinbarung in dem Globalabkommen die Ansprüche für Kultgegenstände bei der JRSO verbleiben. Es kam schließlich zu einer Auseinandersetzung zwischen der JRSO und der jüdischen Gemeinde Augsburg. Philipp Auerbach, Staatskommissar für die Opfer des Faschismus in Bayern, setzte sich in dieser Auseinandersetzung für die jüdische Gemeinde Augsburg ein. Die jüdische Gemeinde Augsburg hatte vor Gericht auf Rückerstattung von rund 800.000 DM geklagt. Dieses Geld sollte der einst 1.000 nun aber nur noch 50 Mitglieder zählenden Gemeinde zukommen. Entgegen dem Judikat der Augsburger Wiedergutmachungskammer, hatte das CORA die JRSO als Rechtsnachfolgerin anerkannt, den Gemeinden allerdings einen entsprechenden Geldanteil zugesprochen. Die JRSO hatte daraufhin von den ihr zugeschriebenen insgesamt 8,5 Mio. DM den Gemeinden 3,5 Mio. DM ausbezahlt, wovon ein Teil an die jüdische Gemeinde Augsburg ging. 25 Dass die Zusammenarbeit der JRSO mit den Israelitischen Kultusgemeinden nicht wirklich funktioniert hat, zeigt das Beispiel Augsburg sehr deutlich. In dem 1954 gestellten Antrag der JRSO an die Stadt Augsburg bittet die JRSO um Auskunft über die entzogenen Kultgegenstände und tritt dort als Anspruchsteller für die Israelitische Kultusgemeinde als Verfolgte auf, offenbar ohne sich zuvor bei der dortigen Kultusgemeinde zu informieren. Die von der JRSO angefragten Kultgegenstände waren von Robert Weihrauch, dem damaligen Leiter der Kunstsammlungen im Dezember 1939 vom Städtischen Leihamt zum Metallwert übernommen und an die Kunstsammlungen weitergegeben worden. Diese hatten die Kultgegenstände - es handelt 23 Ausführlicher zur JRSO und deren Globalabkommen mit dem Freistaat Bayern u.a. W INSTEL , Gerechtigkeit, 237-268. 24 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 116, Schreiben der JRSO an das Städtische Leihamt Augsburg vom 8.12.1954. 25 W INSTEL , Gerechtigkeit, 366-368. Siehe auch: H ENTZSCHEL , Ursprung 68f. <?page no="237"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 237 sich hierbei um die oben bereits erwähnten 65 jüdische Kultgegenstände - mit Verfügung des Kulturreferats der Stadt Augsburg vom 23. November 1945 bereits am 27. November 1945 an Direktor Gutmann und Hugo Schwarz, Vorsitzende der Israelitische Kultusgemeinde ohne Vergütung zurückgegeben. 26 5. Fallbeispiele Im Folgenden werden einige Fallbeispiele aus der Praxisarbeit im Bereich Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg vorgestellt. Das erste Beispiel steht im Zusammenhang mit der im obigen Exkurs erwähnten JRSO und deren Globalabkommen mit dem Freistaat Bayern. 5.1. Der Fall Karl Kohn Karl Kohn (1876-1943) war Inhaber und Teilhaber der Tuchgroßhandlung Heinrich Kohn, die in Augsburg in der Grottenau ansässig war. Im Zuge der Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung musste Kohn sein Geschäft aufgeben und im Dezember zusammen mit seiner Ehefrau Erna Kohn im „Judenhaus“ in der Augsburger Bahnhofstraße 18 1/ 5 eine Wohnung beziehen. Karl Kohn nahm sich am 7. März 1941 das Leben. Seine Ehefrau Erna, geb. Haimann (1886-1943), wurde deportiert und während des Krieges in Auschwitz ermordet. 27 Die JRSO hatte mit einer „Kurzanmeldung“ Ansprüche für den jüdischen Verfolgten Karl Kohn angemeldet, da nach deren Erkenntnissen bis Ende Dezember 1948 keine Anmeldung von dessen Erben erfolgte. Es war allerdings bereits am 9.12.1948, also fristgerecht, von den Erben Karl Kohns ein Individualverfahren zu vier Gemälden, die die Kunstsammlungen Augsburg erworben hatten, eingeleitet worden. 28 Das Verfahren wurde 1949 abgeschlossen und die Gemälde an die Erben restituiert. 29 Die Ansprüche auf die anderen Objekte, auf die kein fristgerechter Antrag durch die Erben gestellt worden war, weil sie zum Teil gar nicht mehr wussten, 26 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 109, Schreiben des Rechtsamts der Stadt Augsburg an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben vom 20.3.1950. 27 The Central Database of Shoa Victims’ Names: http: / / yvng.yadvashem.org/ index.html? language=en&s_lastName=Kohn&s_firstName=Erna&s_place=Augsburg (Zugriff am 14.6. 2016). 28 Eine Anmeldung von Rückerstattungsansprüchen musste, wie im Exkurs zur JRSO erwähnt, beim Zentralmeldeamt in Bad Nauheim fristgerecht bis spätestens 31.12.1946 eingereicht werden. 29 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 116, Beschluss der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben vom 25.11.1949, sowie Schreiben des Rechtsamts der Stadt Augsburg an die Oberfinanzdirektion München, Zweigstelle Augsburg vom 18.11.1954. <?page no="238"?> Horst Keßler 238 dass diese Objekte Familienbesitz waren, gingen durch eine Kurzanmeldung auf die JRSO über. Durch das Globalabkommen vom 29. Juli 1952 gingen die Ansprüche auf diese Objekte dann an den Freistaat Bayern über, der wiederum in einem Verfahren vor der Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern Antrag auf Rückerstattung bzw. Ausgleich der bei Karl Kohn beschlagnahmten Güter stellte. Es existiert eine auf den 15. März 1943 datierte Abschrift einer Liste der vom Finanzamt Augsburg durch das Städtische Wohlfahrtsamt erworbenen Gegenstände. Diese umfasst 51 Positionen mit Einrichtungs- und Kunstgegenständen, die in der Wohnung von Karl Kohn in der Augsburger Bahnhofstraße von der Gestapo beschlagnahmt worden waren. 30 Darunter befanden sich 11 Gemälde bzw. Aquarelle und Zeichnungen. Unter den restlichen 40 Positionen sind Möbel, Teppiche, Geschirr, Lüster und Lampen aufgeführt. Alle diese Gegenstände waren von der Stadt Augsburg zu einem Preis von 9.447 RM erworben worden, die den Betrag an das Finanzamt Augsburg bezahlt hatte. Vier der Gemälde waren von den Kunstsammlungen ausgesucht und über das Wohlfahrtsamt der Stadt Augsburg angekauft worden. 31 Diese wurden dann am 25. November 1949 in dem oben genannten Individualverfahren an die Erben von Karl Kohn, Walter Kohn und Erwin Kent, die inzwischen in Kalifornien lebten, zurückgegeben. 32 Vier weitere Gemälde wurden unmittelbar nach Kriegsende auf Anforderung der israelitischen Kultusgemeinde herausgegeben. Ein Teil der Mobilien wurde ebenfalls nach Kriegsende auf Weisung des US-Stadtkommandanten und des Wohlfahrtsoffiziers zusammen mit anderen Mobilien aus nichtjüdischem Besitz der jüdischen Vereinigung Augsburg und anderen jüdischen Organisationen zurückgegeben. Einen Teil der bei Karl Kohn beschlagnahmten und von der Stadt über das Finanzamt angekauften Mobilien hatte die Stadt vor Kriegsende an dritte Personen weiterveräußert. Auch diese Gegenstände haben die eben genannten Organisationen von den noch bekannten Nacherwerbern zurückbekommen und an die Erbberechtigten nach Karl Kohn weitergegeben. In einem Vergleich der Wiedergutmachungsbehörde I Oberbayern zwischen dem Freistaat Bayern und der Stadt Augsburg vom 23. Juni 1954 verpflichtet sich die Stadt Augsburg zur Abgeltung der restlichen Rückerstattungsansprüche wegen der laut Lieferschein vom 15. März 1943 aus dem Vermögen von Karl Kohn erworbenen 30 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 106, Abschrift eines Verzeichnisses der durch das Städtische Wohlfahrtsamt im Jahr 1943 vom Finanzamt Augsburg-Stadt erworbenen, aus dem Besitz des Karl Kohn […] stammenden Vermögensgegenstände. 31 Ebd., sowie StdAA, Bestand 50, Nr. 1764. 32 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 116, Beschluss der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben vom 25.11.1949; KMA, Inventarkarte, Nr. 9483. <?page no="239"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 239 Mobilien, soweit diese nicht bereits Gegenstand des Individualverfahrens Va 556 waren, 33 an den Freistaat Bayern eine Abfindungssumme in Höhe von 4.790 DM zu bezahlen. Dies bedeutet: Die Stadt Augsburg hat im Fall Kohn alle Objekte, die sich noch in deren Besitz befanden sowie diejenigen, die sie weiterveräußert und wieder zurückbekommen hatte, an die Erben Karl Kohns zurückerstattet. Für diejenigen Objekte, die nicht mehr auffindbar bzw. zerstört waren, hat die Stadt Augsburg im Jahr 1954 „Wiedergutmachungs“-Zahlungen geleistet. Diese Zahlungen gingen allerdings nicht an die Erbberechtigten, sondern letztendlich an den Freistaat Bayern, an den die Ansprüche über das Globalabkommen von der JRSO abgetreten worden waren. 5.2. Die Recherchen zum Ankauf des Bildnisses von Adriaen de Vries Bei diesem Beispiel handelt es sich um das (Abb. 1) Bildnis des Bildhauers Adriaen de Vries (1556-1626), der die berühmten Augsburger Prachtbrunnen (Herkules und Merkur) um 1600 gestaltete. 34 Sowohl in den Inventarbüchern wie auch in der Inventarkarte findet sich zu diesem Objekt nichts weiter als der Eintrag „Erworben mit Genehmigung vom 11.8.1939 von Heinrich Werner, München 13, Ainmüllerstr. 34“. 35 Hier ist zunächst kein Hinweise auf jüdische Herkunft zu erkennen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass man sich bei der Herkunftsforschung nicht unbedingt auf die Eintragungen in den Inventaren verlassen kann. Um an weitere Informationen zum Ankauf des Gemäldes zu gelangen, wurden die hauseigenen Unterlagen und Korrespondenzen, die sich auf die 1930er Jahre beziehen durchgesehen. In den vorhandenen Korrespondenzen konnte allerdings ebenfalls kein weiterer Hinweis zum Ankauf des Gemäldes gefunden werden. Schließlich konnte in den von den Kunstsammlungen an das Stadtarchiv abgegebenen Akten über die Korrespondenz zu Ankäufen für das Maximilianmuseum ein Schreiben gefunden werden, dass mehr Auskunft über den Erwerb des Gemäldes lieferte. In einem Schreiben von dem damaligen Museumsdirektor Hans Robert Weihrauch an das Referat 6, empfiehlt dieser den Ankauf des Gemäldes für das Museum. 36 In dem Schreiben heißt es: „Aus nicht- 33 Es handelt sich hierbei um das Verfahren mit dem Aktenzeichen V 97786 -a 13488/ 556, in StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 116, Beschluss der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben vom 25.11.1949. 34 K OMMER , de Vries, 182. Ausführlicher zu Adriaen de Vries, sein Leben und Werk ebd. und in den dort verzeichneten Quellen- und Literaturangaben. 35 KMA, Inventarkarte zum Bildnis des Adriaen de Vries, Inv. Nr. 8876. 36 KMA, Ordner VI/ 542 ff., VI/ 55, Schreiben von Hans Robert Weihrauch an das Referat 6 der Stadt Augsburg vom 31.7.1939. Siehe auch StdAA, Bestand 35, Nr. 102. <?page no="240"?> Horst Keßler 240 Abbildung 1: Porträt des Adriaen de Vries, unbekannter Maler, um 1600. Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Inv. Nr. 8876. <?page no="241"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 241 arischem Besitz wurde den Städtischen Kunstsammlungen ein zeitgenössisches Bildnis des Bronzebildhauers Adriaen de Vries angeboten.“ 37 Dann folgt eine Begründung, warum der Erwerb des Gemäldes für die Stadt Augsburg wichtig wäre, und eine kurze Beschreibung sowie Angaben zur bisherigen Provenienz und Ausstellungen. Weihrauch schreibt weiter: „Es [das Gemälde] gehört heute Herrn Heinrich Werner, München 13, Ainmillerstraße 34 Gartenhaus, in dessen Auftrag es von Herrn Feist dem Museum angeboten wurde“. Aus dem Schreiben geht weiterhin hervor, dass Heinrich Werner Jude war. Rückseitig ist auf dem Schreiben mit dem Datum 12. August 1939 vermerkt: „Das Bild wurde mit Befürwortung des Beirates angekauft, die Rechnung vom 14.8.39 zur Zahlung angewiesen. Es ist in der Nr. 8876 inventarisiert.“ 38 Durch das Schreiben von Weihrauch erhalten wir zwei für die weiteren Nachforschungen zu dem Gemälde wichtige Informationen, die wir aus der Inventarkarte bzw. dem Inventarbuch nicht entnehmen konnten. Wir erfahren zum einen, dass Heinrich Werner jüdischer Abstammung war, zum anderen, dass das Gemälde durch einen nicht näher bezeichneten Herrn Feist den Kunstsammlungen angeboten wurde. Über Heinrich Werner wurden über eine Anfrage an das Stadtarchiv München Informationen eingeholt. Dort wurde ermittelt, dass eine Meldekarte von Heinrich Werner nicht vorhanden ist. Sein Name taucht allerdings über die angegebene Adresse in den Hausbögen des Stadtarchivs München auf. Dort wird der Hinweis geliefert, dass Heinrich Werner Fabrikdirektor war und mit Gerta (keine weiteren Angaben) verheiratet war. Beide sind zwischen Oktober 1934 und Oktober 1943 unter der Adresse Ainmillerstraße eingetragen. Ab Oktober 1943 sind sie dann in die Münchner Elisabethstraße 44 umgezogen. Ab September 1945 ist Gerta Werner als Witwe in der Renatastraße gemeldet. 39 Heinrich Werner ist also vermutlich zwischen Oktober 1943 und September 1945 verstorben. Nähere Auskünfte über Heinrich Werner konnten bis zur Beendigung des Projekts nicht erhalten werden. Hier müssen noch weitere Untersuchungen angestellt werden. Nun zur zweiten Person, die mit dem Erwerb bzw. Verkauf des Gemäldes in Verbindung stand: Hans Robert Weihrauch erwähnt in seinem Schreiben an das Referat 6 der Stadt Augsburg vom August 1939, dass das Gemälde über einen gewissen „Herrn Feist“ (ohne Vornamen) im Auftrag von Heinrich Werner den Kunstsammlungen angeboten wurde. In den hauseigenen Unterlagen finden sich zwei Abschriften von Schreiben, die von den Kunstsammlungen an diesen Herrn Feist gerichtet sind, 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Freundliche Mitteilung von Herrn Dr. Andreas Heusler, Stadtarchiv München vom 16.3.2011. <?page no="242"?> Horst Keßler 242 ebenfalls ohne Vornamen. Wir erfahren hier lediglich, dass Herr Feist wohl irgendwann Anfang 1941 von der Augsburger Elisenstraße in die Wertachstraße umgezogen ist. Über das Stadtarchiv konnten bislang über Meldebögen keine weiteren Informationen zu Herrn Feist eingeholt werden. Die weiteren Recherchen zu „Herrn Feist“ im Internet gestalteten sich schwierig, da nur sehr karge Informationen über ihn vorhanden waren. Mehr oder weniger durch Zufall stieß ich über die tschechische Internetseite www.holocaust.cz in der Datenbank der digitalisierten Dokumente auf eine Todesfallanzeige aus dem Ghetto Theresienstadt vom Dezember 1942, in der eine Ärztin den Tod eines Richard Feist am 21. Dezember 1942 durch Lungenentzündung bestätigt. 40 Hier erfahren wir auch den Vornamen Richard und dessen Geburtsdatum (14.9.1874). Als letzter Wohnort von Richard Feist ist die Heldenstr. 8 in Augsburg angegeben. Da es in Augsburg keine Heldenstraße gibt und auch nicht gab, muss es sich hier um eine Verwechslung bzw. einen Übertragungsfehler handeln. Gemeint ist die Halderstraße in Augsburg. In dem Gebäudekomplex der im November 1938 zerstörten Synagoge wurden 1942 im Zuge der eingangs erwähnten Ausquartierung der jüdischen Bürger aus ihren Wohnungen in Sammelunterkünfte einige Schutzsuchende dort versorgt und untergebracht. In den Augsburger Adressbüchern konnte Richard Feist ebenfalls nachgewiesen werden. Er ist dort als Großhändler und Beteiligter der Firma Gebr. Feist & Götz eingetragen, bis 1937 noch wohnhaft in der Gesundbrunnenstraße 1. 41 Von der Halderstraße wurde Richard Feist nach München verbracht und von dort mit dem Transport II/ 21 am 1. August 1942 nach Theresienstadt deportiert. 42 In den Rechtsamtsakten des Stadtarchiv Augsburgs finden sich Unterlagen der Wiedergutmachungsbehörde zum Fall Feist. Darin befindet sich eine beglaubigte Abschrift des Finanzamts Augsburg-Stadt über einen Lieferschein „des Juden (J.) Richard Feist […] geb. 14.9.74 in Augsburg, bisher Halderstr. 6“ über 42 Möbel, Einrichtungsgegenstände und Wäsche im Wert von insgesamt 1.092 RM. 43 Der Schätzwert entspricht hierbei dem Handelswert mit dem Preisniveau von 1936. Die Gegenstände wurden bei Richard Feist Anfang 1941 von der Gestapo beschlagnahmt. 40 Tschechische Datenbank der Holocaust Opfer, Datenbank der digitalisierten Dokumente, unter www.holocaust.cz/ de/ datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/ dokument/ 90657feist-richard-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/ (Zugriff am 14.6.2016). 41 Einwohnerbuch der Stadt Augsburg 1936, 64f. und 1937, 65. 42 Tschechische Datenbank der Holocaust Opfer, Opferdatenbank, unter www.holocaust.cz/ de/ opferdatenbank/ opfer/ 10202-richard-feist/ (Zugriff am 14.6.2016). 43 StdAA, Bestand Rechtsamt, Nr. 104, Rückerstattung - F, 2.Teil. <?page no="243"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 243 Einen Schrank aus diesem Konvolut wollten die Städtischen Kunstsammlungen zunächst erwerben, haben aber dann entschieden, ihn nicht anzukaufen. 44 Auf die gesamten Gegenstände aus der Beschlagnahmung Feist hatte der Freistaat Bayern 1954 unter dem Aktenzeichen Q 1490-V1 (13) ein Rückerstattungsverfahren eingeleitet. „Betreff: Rückerstattungsverfahren Freistaat Bayern (fr. JRSO für Feist Richard) ./ . Stadt Augsburg“. 45 Als weiteres Aktenzeichen ist BJR 1356 der Oberfinanzdirektion München angegeben. Die Stadt hatte diese vom Freistaat Bayern zurückverlangten Gegenstände am 19. Oktober 1942 von der Dienststelle für Vermögensverwertung des Finanzamts Augsburg erworben. Dieser Anspruch wurde jedoch abgewiesen, da in dieser Angelegenheit bereits ein Rückerstattungsverfahren von Werner und Helmuth Feist, den Söhnen Richard Feists, anhängig war und sich die Stadt Augsburg durch Vergleich vor der Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern vom 5. Oktober 1953 zur Bezahlung eines Schadenersatzbetrags in Höhe von 1.092 DM verpflichtet hatte. 46 Weitere Recherchen zu der Verbindung Richard Feists mit Heinrich Werner und der damit in Verbindung stehenden Kaufempfehlung des Gemäldes „Porträt des Adriaen de Vries“ konnten bisher noch nicht vorgenommen werden. Das Gemälde gilt als belastet und ist bei den Kunstsammlungen und Museen mit hoher Prioritätsstufe eingestuft. Im Vorangegangenen wurde anhand zweier Beispiele versucht einen exemplarischen Eindruck zu Objekten zu vermitteln, die Augsburger Juden im Zuge der „Judenaktionen“ weggenommen wurden. Ich möchte nun zwei weitere Beispiele für Erwerbungen der Städtischen Kunstsammlungen aus jüdischem Besitz anführen, die über den Kunsthandel, sowohl den nationalen wie auch den Internationalen, erworben wurden. 5.3. Die Recherchen zum Ankauf des Gemäldes „Apostel Petrus und Paulus“ Der nächste Fall bedarf für die Kunstsammlungen und Museen Augsburg eigentlich keiner weiteren Untersuchung mehr, da er 1947 bereits abgeschlossen war, zumindest was die Kunstsammlungen betrifft. Er soll lediglich als Beispiel dafür dienen, dass durch die intensive Provenienzforschung zu einzelnen Objekten bestimmte für die Einkaufspolitik und die Hausgeschichte der Kunstsammlungen und Museen interessante Gegebenheiten dokumentiert werden. 44 KMA, IV/ 343, Schriftwechsel mit Einzelpersonen bis 31.12.1946 sowie IV/ 3431, zwei Schreiben der Kunstsammlungen an Richard Feist vom 11.3. und 21.4.1941. 45 Ebd. 46 Ebd. <?page no="244"?> Horst Keßler 244 Abbildung 2: Die Apostel Petrus und Paulus, unbekannter Maler, um 1500. Aus der Datenbank des Deutschen Historischen Museums zum „Central Collecting Point München“, Münchner Nummer 41600. <?page no="245"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 245 Es handelt sich um das Gemälde „Die Apostel Petrus und Paulus“ eines unbekannten Künstlers, das früher dem Memminger Maler Bernhard Strigel (1460-1528) zugeschrieben wurde. ( Abb. 2 ) Die Stadt Augsburg erwarb das Gemälde im November 1943 von dem niederländischen Kunsthändler Theo Hermssen, der in Paris wohnhaft war und unter anderem als Agent für den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt tätig war. 47 Der Augsburger Stadtrat und Kulturreferent Josef Kleindinst übernahm, offenbar im Auftrag des Oberbürgermeisters, die Verhandlungen für den zu dieser Zeit abwesenden Leiter der Kunstsammlungen Hans Robert Weihrauch. Am 22. September 1942 wurde die Angelegenheit mit den Beiräten für die Kunstsammlungen, den nationalsozialistischen Ratsherren Geßwein, Nowotny und Schmidt beraten und die Gelder für den Ankauf bereitgestellt. Kleindinst teilte nach der Begutachtung des Objekts durch Direktor Buchheit vom Bayerischen Nationalmuseum Gurlitt mit, dass die Stadt sein Angebot annehme. In dieser Mitteilung stellte Kleindinst erstmals die Frage nach der Herkunft. Auch auf eine weitere Nachfrage, nachdem sich die Tafel schon im Besitz der Stadt befand, bekam er darauf keine Antwort. Dass sie jüdischer Herkunft war, stellte sich rasch nach dem Krieg heraus. 48 Bei den Verhandlungen zum Erwerb dieses Gemäldes werden die Verknüpfungen im internationalen Kunsthandel sehr deutlich. Der Agent Hildebrand Gurlitts, Theo Hermssen nämlich, pflegte wiederum Geschäftsverbindungen unter anderem mit Hugo Engel, einem Agenten Karl Haberstocks sowie J.O. Leegenhoek, einem in Brügge geborenen und ebenfalls in Paris lebenden Restaurator und Kunsthändler, von dem bekannt ist, dass er unter anderem an Walter Hofer, Bruno Lohse, Hans Wendland, Adolf Wuester und ebenfalls Karl Haberstock (allesamt Personen, die im internationalen Kunsthandel vor allem in Frankreich und in der Schweiz tätig waren) verkauft hat. 49 Laut der Property Card des Collecting Point München ist auf der Rückseite des Gemäldes der Name Leegenhoek verzeichnet. 50 Vermutlich wurde das Gemälde von ihm an Hermssen verkauft, der es dann 1943 der Stadt Augsburg zu einem Preis von 20.000 RM angeboten und verkauft hatte. 51 Die Stadt musste das 47 Deutsches Historisches Museum, Sammlung & Forschung, Provenienzforschung, Datenbank zum „Central Collecting Point München“ (CCP), Münchner Nr. 41600 (Gemälde „Die Apostel Petrus und Paulus“). Die meisten nachfolgenden Informationen zur Provenienz des Gemäldes sind in dieser Datenbank abrufbar. 48 StdA, Bestand 35, Akte 102. 49 Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste (www.lostart.de), Modul Provenienzrecherche, NS- Raubkunst, Beteiligte Privatpersonen und Körperschaften am NS-Kulturgutraub, zu M.O. Leegenhoeck. 50 Deutsches Historisches Museum, Sammlung & Forschung, Provenienzforschung, Datenbank zum „Central Collecting Point München“ (CCP), Münchner Nr. 41600 (Gemälde „Die Apostel Petrus und Paulus“). 51 KMA, Inventarkarte zur Inv. Nr. 9511. <?page no="246"?> Horst Keßler 246 Gemälde nach dem Krieg am 5. Februar 1947 an die US-Militärregierung von Bayern, Section of Monuments, Fine Arts & Archives, nach München an den Central Collecting Point abgeben. 52 Von dort aus wurde das Gemälde am 25. März 1947 nach Frankreich restituiert. Das Gemälde wurde durch das Office des Biens et Intérêts Privés 1950 dem Louvre zugesprochen, der es 1952 dem Musée des Beaux-Arts in Dijon weitergab. 53 Dieses Beispiel veranschaulicht die Vernetzungen unter den Kunsthändlern besonders deutlich, es belegt, dass nicht nur die großen Museen durch die internationalen Verflechtungen innerhalb der Kunsthandelsszene profitierten, sondern auch relativ kleine Häuser wie die Augsburger Städtischen Kunstsammlungen. 5.4. Die Recherchen zu einem Objekt aus der Kunstsammlung Budge Am nächsten Beispiel möchte ich einen Fall vorstellen, der im Jahr 2013 durch eine gütliche Einigung mit der Erbengemeinschaft der Betroffenen abgeschlossen werden konnte. Es verdeutlicht, dass und wie sich die Vernetzung mit anderen Provenienzforschern, sowohl mit den wenigen, die an Museen beschäftigt sind, als auch mit den freien, die sich in dem seit 2001 bestehenden „Arbeitskreis Provenienzforschung“ organisiert haben, auszahlen kann. Es handelt sich hierbei um ein Objekt aus der Sammlung Emma Budge. (Abb. 3) Die Recherchen zu diesem Objekt waren relativ einfach, da etliche Objekte aus der Sammlung Budge auf unterschiedlichen Wegen an verschiedene Museen gelangten, unter anderem an das Schlossmuseum Berlin, das Focke-Museum, Bremen, das Staatliche Museum Schwerin und das Hamburger Gewerbemuseum. An diesen Häusern wurden bereits ausführliche Vorarbeiten geleistet, die wir für die Recherchen des im Bestand der Kunstsammlungen und Museen Augsburg befindlichen Objekts nutzen konnten. Heinrich (Henry) Budge (1840-1928) war Sohn eines jüdischen Frankfurter Wertpapierhändlers. 1866 wanderte er in die USA aus und kehrte mit seiner Frau Emma Ranette, geb. Lazarus (1852-1937), Tochter einer jüdischen Hamburger Kaufmannsfamilie, als mehrfacher Millionär 1903 in deren Heimatstadt Hamburg zurück. 54 Budge besaß eine herausragende Sammlung von kunstgewerblichen Objekten. Ursprünglich hatten die Eheleute Budge die Stadt Hamburg als Erbin ihrer Kunstsammlung eingesetzt. Nach dem Tod ihres Mannes änderte Emma Budge im Oktober 1933 das Testament. Sie setzte - da die Budges kinderlos waren - neben der 52 Ebd., sowie Bundesarchiv Koblenz, Bestand 323, B323/ 686, Property Card zu München Nr. 41600. 53 Musées Nationaux Récupération, Site Rose-Valland. 54 Ausführlicher zur Sammlung Budge und den Restitutionen im Zusammenhang mit der Sammlung Wikipedia, Emma Budge. <?page no="247"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 247 Abbildung 3: Ziergefäß in Form einer Muschel, Michael Mair, um 1700. Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Inv. Nr. 9179. jüdischen Gemeinde Hamburg und dem amerikanischen Volk vor allem ihre (Groß-)Nichten und Neffen als Erben ein. Die Entscheidung darüber, wie die Verteilung der Kunstsammlung von statten gehen sollte, überlies Emma Budge letztendlich den von ihr eingesetzten vier Testamentsvollstreckern, die laut geändertem Testament von 1935 alle jüdischer Herkunft sein mussten. Sie wurden als Verwalter des Budge-Vermögens bestimmt. Emma Budge starb am 14. Februar 1937. Die von ihr eingesetzten Testamentsvollstrecker wurden von den Nationalsozialisten unter Druck gesetzt und sahen keine andere Verwertungsmöglichkeit als die Kunstsammlung von <?page no="248"?> Horst Keßler 248 Abbildung 4: Ausschnitt: Auktionskatalog Graupe: Die Sammlung Frau Emma Budge, Hamburg, Versteigerung am 27., 28. und 29. September 1937, Berlin 1937, S. 52, Los Nr. 220, Tafel 52. Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Haberstock-Archiv. dem angesehenen Berliner Auktionshaus Paul Graupe versteigern zu lassen. Die Auktion aus dem Nachlass Budge fand im Oktober 1937 statt. 55 Das bei den Kunstsamm- 55 G RAUPE , Budge, S. 52, Los Nr. 220, Abb. Tafel 52. <?page no="249"?> Provenienzforschung bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg 249 lungen und Museen befindliche Stück mit der Inv. Nr. 9179 wurde unter der Losnummer 220 mit einer ganzseitigen Abbildung (Tafel 52) im Auktionskatalog zur Versteigerung angeboten und durch einen sogenannten Stützkauf von einem der Testamentsvollstrecker erworben. 56 (Abb. 4) In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass im Fall der Erbengemeinschaft Budge das Geld aus der Versteigerung den Erben nicht zur freien Verfügung stand, sondern auf Sperrkonten überwiesen wurde, auf das sie keinen Zugriff hatten. Der Käufer des Objekts, Ludwig Bernstein, war, wie alle von Emma Budge eingesetzten Erbenverwalter, jüdischer Herkunft; er bereitete zum Zeitpunkt der Auktion bereits seine Emigration vor. Vermutlich wurde Bernstein im Nachgang der Auktion von dem Kunsthändler Ferdinand Knapp aus Berlin, der ebenfalls auf der Auktion einige Stücke erworben hatte, angesprochen. Bernstein verkaufte dann das Objekt zwischen Oktober 1937 und August 1938 an Knapp. Der Verkaufspreis bei der Auktion betrug 1.800 RM. Der Schätzwert des Objekts lag bei 4.000 RM. Knapp verkaufte das Stück den Augsburger Kunstsammlungen mit Verfügung vom 9. Dezember 1940 dann zum Preis von 2.800 RM. 57 Aufgrund der dargestellten Tatsachen und der Erwerbungsumstände des Objekts setzte sich die Stadt Augsburg mit dem Anwalt der Erbengemeinschaft Budge in Verbindung, um zu einer fairen und gerechten Lösung in diesem Fall beizutragen. Im Fall Budge erfolgte keine Restitution, vielmehr einigte man sich mit der Erbengemeinschaft auf eine Zahlung in Höhe von 120.000 EUR, um die Trinkschale, die für die Kunstsammlungen ein wichtiges Sammlungsobjekt darstellt, im Hause behalten zu können. 58 Mit diesem für die Provenienzforschung einigermaßen erfreulichen, weil relativ schnell zu lösenden Fall, soll darauf hingewiesen werden, dass die Recherchen zu den bisher nur lückenhaft untersuchten Objekten bei den Kunstsammlungen und Museen weiter fortgeführt werden. Quellen und Literatur Archive Archiv der israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben (Archiv IKG) - Inventarverzeichnis des Finanzamtes Augsburg-Stadt 1942-1944 Bundesarchiv Koblenz - Bestand 323, Nr. 686. Kunstsammlungen und Museen Augsburg (KMA) - Archiv, Aktenbestand, IV/ 343, Schriftwechsel mit Einzelpersonen bis 31.12.1946. 56 Ebd. 57 KMA, Inventarkarte zu Inventarnummer 9179. 58 Augsburger Allgemeine vom 15.4.2013. <?page no="250"?> Horst Keßler 250 - Inventarbuch. - Inventarkarten. - Fotoarchiv. Stadtarchiv Augsburg (StdAA) - Bestand 35. - Bestand 50, Nr. 1764, Jüdischer Kunstbesitz. - Bestand Rechtsamt, Wiedergutmachungsakten 101-119. Gedruckte Quellen G RAUPE , P AUL (Hrsg.): Die Sammlung Frau Emma Budge, Hamburg, Versteigerung am 27., 28. und 29. September 1937, Berlin 1937. Einwohnerbuch der Stadt Augsburg 1936 und 1937. Reichsgesetzblatt (RGBl) I, 1938 und 1941. Literatur H ENTZSCHEL , J AN -P HILIPP : Ursprung und Entstehung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut, die Anfänge der Restitution und ihre Bearbeitung aus heutiger Sicht am Beispiel der ULB Münster und der USB Köln, Bachelorarbeit der Fachhochschule Köln, vorgelegt am 1.2.2013. 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Internet Deutsches Historisches Museum, Sammlung & Forschung, Provenienzforschung, Datenbank zum „Central Collecting Point München“ (CCP), Münchner Nr. 41600 (Gemälde „Die Apostel Petrus und Paulus) - www.dhm.de/ datenbank/ ccp/ dhm_ccp.php? seite=6&fld_1=41600&fld_3=&aus wahl=6&fld_4=&fld_4a=&fld_5=&fld_6=&fld_7=&fld_8=&fld_9=&fld_10= &suchen=Suchen (Zugriff am 14.6.2016), - www.dhm.de/ datenbank/ ccp/ prj_dhm_ccp/ displayimg.php? laufnrid=cp104896 _0&prj_short=dhm_ccp&format=gr&folder=ccp (Zugriff am 13.3.2018). Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste (www.lostart.de), Modul Provenienzrecherche, NS-Raubkunst, Beteiligte Privatpersonen und Körperschaften am NS-Kulturgutraub, zu M.O. Leegenhoeck, www.lostart.de/ Content/ 051_ProvenienzRaubkunst/ DE/ Beteiligte/ L/ Leegenhoek,%20M.%20O..html? nn=5150& cms_lv2=95552&cms_lv3=83434 (Zugriff am 14.6.2016). Musées Nationaux Récupération, Site Rose-Valland, unter www.culture.gouv.fr/ public/ mistral/ mnrbis_fr? 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Wikipedia, Emma Budge: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Emma_Budge (Zugriff am 1.2.2018). <?page no="253"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 1 Katharina Maria Kontny Der Name Hans Robert Weihrauch ist heute außerhalb von kunsthistorischen Fachkreisen weitgehend unbekannt. Auch in Augsburg, wo Dr. Weihrauch von September 1939 bis Oktober 1946 als Direktor der Städtischen Kunstsammlungen tätig war, weiß man heute wenig über seine Amtszeit. Dabei trug Weihrauch während der NS- Zeit unter anderem Mitverantwortung für die systematische Enteignung jüdischer Sammler vornehmlich mit dem Ziel, den Bestand einer geplanten „Schwäbischen Heimatgalerie“ aufzustocken. 2 Zu diesem Zweck verfasste er auch einen brisanten Brief, in dem er den damaligen Oberbürgermeister Josef Mayr explizit dazu aufforderte, jüdische Bürger der Stadt bzw. aus dem gesamten Bezirk Schwaben, die aus Nazi-Deutschland fliehen wollten, mittels polizeilicher Gewalt zu zwingen, ihre Kunstgegenstände mit Augsburg-Bezug dem Museum anzubieten, als Maßnahme zum „Schutz vor kultureller Schädigung.“ 3 In meiner Magisterarbeit habe ich mit Weihrauch und seiner Tätigkeit als Kunsthistoriker beschäftigt. Dabei machte mich Katrin Holly auf den Personalakt Weihrauchs im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus aufmerksam, dem zu entnehmen ist, dass Weihrauch im Zeitraum vom 15. Februar 1943 bis 7. September 1945 bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ tätig war. 4 Weil diese Dienststelle immer noch als Forschungsdesiderat gilt, stelle ich hier die Ergebnisse meiner Recherche dazu vor. Zunächst folgt ein kurzer Überblick über den bisherigen Stand der Wissenschaft. 1. Die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ Im Wesentlichen existieren zwei Publikationen zu dem Thema: eine von Lars Thümmler (2003), die andere von Tessa Rosebrock (2012). Thümmlers Publikation ist online nicht mehr verfügbar. Nach mir vorliegenden Informationen ist bei ihm 1 Der vorliegende Aufsatz beruht auf dem Recherchestand von 2015. 2 K ONTNY , Weihrauch, 96. Zum Beispiel die Fälle Budge, Landauer und Pollack. Zum Fall Budge vgl. den Beitrag von Horst Keßler und zum Fall Landauer den Beitrag von Katrin Holly in diesem Band. 3 Stadtarchiv Augsburg, Bestand 50, 1764, Jüdischer Kunstbesitz, Schreiben von Weihrauch via Referat 6 an den Oberbürgermeister, 28.2.1941. 4 BayKuMin, Registratur, Personalakt Hans Robert Weihrauch, „Vormerkungsbogen“. <?page no="254"?> Katharina Kontny 254 eine „knappe allgemeine Beschreibung“ 5 zu lesen. 6 Die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ habe seit Kriegsbeginn die unbürokratische Aufteilung der Beutestücke auf alle Museen koordiniert. 7 Fuhrmeister führt dazu aus: „Gemeint waren damit nicht nur das Sächsische Armeemuseum in Dresden und das Bayerische Armeemuseum München, sondern auch zahlreiche Garnisons- und Regimentsmuseen (etwa Oppeln sowie, nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs, das Pioniermuseum Klosterneuburg, ‚drei Museen in Graz, das Regimentsmuseum der Tiroler Kaiserjäger Innsbruck und des Regiments Erzherzog Rainer in Salzburg‘). Auch die Heeresmuseen in den besetzten Gebieten wurden in der Dienststelle verwaltet, wie das Heeresmuseum Prag und die Festungsmuseen Straßburg und Metz. Das Badische Armeemuseum Karlsruhe erwähnt Thümmler in diesem Zusammenhang nicht.“ 8 Der Hausarchivar des Deutschen Historischen Museums Berlin, Jörg Rudolph, stellt einschränkend fest, dass Thümmler nicht alle Akten ausgewertet habe. 9 Rosebrock widmet der Struktur der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ nur ein Unterkapitel im Rahmen ihrer Monographie zu Kurt Martin. Sie skizziert die Dienststelle kurz in ihren Anfängen. Vor der Einrichtung dieser Stelle waren zunächst bis 1918 alle Heeresmuseen im Deutschen Reich vom Militär verwaltet worden. 10 In der Weimarer Republik unterstanden sie sodann den Kultusministerien der Länder. Nach Machtantritt der Nationalsozialisten sollten die Heeresmuseen wieder stärker von den Militärs geführt werden; so ersetzte Konteradmiral Hermann Lorey den Kunsthistoriker Moritz Julius Binder als Direktor des Berliner Zeughauses. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 musste die Verwaltung der Heeresmuseen neu geregelt werden. So veranlasste Hitler am 21. Juni 1939 „eine zentrale Betreuung der Militärmuseen. Die wehrgeschichtlichen Ausstellungshäuser in Berlin, Dresden, München und Wien wurden dem Oberkommando der Heeresmuseen (OKH) unterstellt und hießen von da an einheitlich Heeresmuseen. Mit Wirkung vom 1. November 1939 ging die Zuständigkeit von den Ländern an das ‚Reich‘ über. Dazu wurde eine eigene Dienststelle des 5 F UHRMEISTER , Der Deutsche Militärische Kunstschutz, Fußnote 651. In der 2019 erschienenen Druckfassung (F UHRMEISTER , Abteilung „Kunstschutz“) dieser Habilitation ist diese Anmerkung nicht vorhanden. 6 T HÜMMLER , Zeughaus; zit. im Folgenden aus F UHRMEISTER , Der Deutsche Militärische Kunstschutz, Fußnote 651. Zur Druckfassung vgl. Anm. 5. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Vgl. E-Mail-Korrespondenz zwischen Jörg Rudolph und Christian Fuhrmeister vom 20.6.2013. 10 Hierzu und zum folgenden Absatz R OSEBROCK , Martin, 214. <?page no="255"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 255 „Chefs der Heeresmuseen“ eingerichtet, zu deren Leiter der General der Infanterie Friedrich Roese bestimmt wurde.“ 11 Zeitweise wurde Roese von Herman Lorey vertreten, da Roese zur Kriegszeit auch weitere Aufgaben übernehmen musste. Die Lücken in den Akten von Lorey in Berlin scheinen jedoch laut Rudolph „sehr groß“ 12 zu sein. In Bezug auf jene Zeiten, in denen Lorey für Roese eingesprungen ist, kann Rudolph ergänzen: Lorey habe Roese in dessen Amt bis circa 1942 vertreten, die Unterlagen zur Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ aus dieser Zeit seien jedoch vermutlich nach Wien ausgelagert worden. 13 Aus einer Monographie über das Heeresgeschichtliche Museum Wien von Manfried Rauchensteiner (2005) sowie aus einem Eintrag über die Mitglieder der Wehrmacht geht hervor, dass ab dem 1. Oktober 1943 bis zum Ende des Krieges Generalleutnant Albrecht Brand (14.1.1888-21.12.1969) der Nachfolger Roeses als „Chef der Heeresmuseen“ wurde. 14 Rauchensteiner erläutert darüber hinaus die Abhängigkeit des Heeresgeschichtlichen Museums Wien vom „Chef der Heeresmuseen“: de facto habe es „keine Eigenständigkeit“ 15 besessen. Es gibt im Zusammenhang mit „Kunstschutz“ bzw. Kunstraub auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion Untersuchungen durch ein Forschungsprojekt der Stiftung der Länder von Kuhr-Korolev und Schmiegelt-Rietig, die aber bisher noch nicht veröffentlicht sind. 16 2. Zur Struktur der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ Aus der missverständlichen Formulierung in Weihrauchs Personalakt im Bayerischen Ministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst könnte man schließen, dass Weihrauch selbst Chef der Heeresmuseen und damit aller Heeresmuseen gewesen sei. 17 Es gibt aber Quellen, welche belegen, dass dies nicht zutrifft. Demnach verhält es sich wie folgt: Zunächst einmal war Weihrauch 1943 gerade einmal 35 Jahre 11 Ebd., 214f. 12 E-Mail-Korrespondenz zwischen Jörg Rudolph und Christian Fuhrmeister am 20.6.2013. 13 Vgl. ebd. In diese Richtung müsste in Wien weiter recherchiert werden. 14 R AUCHENSTEINER , Phönix, 14. Vgl. außerdem im Lexikon der Wehrmacht, Artikel zu Brand, Albrecht. 15 R AUCHENSTEINER , Phönix, 14. 16 Stand Februar 2018. Nachtrag von 2019: Inzwischen wurde die Forschung publiziert, vgl. K UHR -K OROLEV / S CHMIEGELT -R IETIG / Z UBKOVA / E ICHWEDE , Raub und Rettung. 17 BayKuMin, Registratur, Personalakt Weihrauch: Dort ist im sogenannten Vormerkungsbogen, datiert auf dem 1.2.1954, unter Punkt 2. Kriegsdienstzeit als letzter Eintrag „Chef der Heeresmuseen“ für den Zeitraum vom 15.2.1943 bis 7.9.1945 vermerkt. Damit ist jedoch nicht das Amt, sondern die Tätigkeit für die Dienststelle gemeint. <?page no="256"?> Katharina Kontny 256 alt, und damit viel zu jung für diesen Posten. Zum anderen war er kein Militär, was für die Bekleidung des Amtes während der Zeit des Nationalsozialismus jedoch eine Voraussetzung gewesen sein dürfte. Auch Angaben des Berlin Document Center zu Weihrauchs Kriegsdienstzeit widersprechen der Annahme, dass Weihrauch Chef der Heeresmuseen, also oberster Leiter aller Heeresmuseen des Reiches gewesen sei. 18 Der Sprung vom Kraftfahrer zum Chef der Heeresmuseen auf der Karriereleiter wäre äußerst unwahrscheinlich. Das schlagende Argument liefert das „Itinerar“ von Weihrauchs Kunsthistorikerkollegen Alexander Freiherr von Reitzenstein. Reitzenstein, wie Weihrauch bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ tätig, verfasste ein Itinerar über die Jahre 1940 bis 1948, das erst 2004 durch den Kunsthistoriker Tilmann Breuer herausgegeben wurde. Anhand dieses Reisetagebuchs kann klar falsifiziert werden, dass Weihrauch Chef der Heeresmuseen gewesen sei. Reitzenstein benennt Weihrauch in einem Eintrag vom 29. Mai 1944 als „Uffz.“, also als Unteroffizier. 19 Im Eintrag vom 3. November 1944 nennt er Weihrauch einen „Schreiber“: „Die ‚Einheit‘, als deren ‚Vorkommando‘ ich hier bin, besteht nun aus 1) Solms (Leiter), 2) Reitzenstein (Gehilfe), 3) Weihrauch (Schreiber), 4) Corts (Photograph), 5) Löwe (für alles).“ 20 Somit kann festgehalten werden, dass Weihrauch wohl für die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ tätig war, nicht aber als deren Chef fungierte. 3. Die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ und das „Itinerar“ Reitzensteins Weihrauch und Reitzenstein waren Kunsthistoriker. Daher kommt die Frage auf, was die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ mit bildender Kunst zu tun hatte. Rudolph sagt dazu: „Kunstwerke […] [seien,] sofern keine militärischen Hintergründe erkennbar [gewesen waren,] nicht im Interesse von Lorey und seinem Amtsnachfolger [gewesen], sondern Kanonen, Uniformen, Ausrüstungsgegenstände.“ 21 18 BayHStA, StK, Bayerischer Verdienstorden, Nr. 2276. 19 R EITZENSTEIN , Itinerar, 58. 20 Ebd., 98f. 21 Vgl. E-Mail Jörg Rudolphs an Christian Fuhrmeister vom 20.6.2013. Diese Einschätzung widerspricht jedoch einem Eintrag Reitzensteins, bei dem die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ sich um den Abtransport der Bibliothek eines landwirtschaftlichen Instituts in Gorki kümmerte; dazu R EITZENSTEIN , Itinerar, 42; auch die Objekte aus Schloss Wilanow werden nicht alle von militärischem Interesse gewesen sein. Aussichtsreich könnte in Bezug auf die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ die Sichtung des schmalen Bestands zum „Chef der Heeresmuseen“ im Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg im Breisgau, sein. Dieser Bestand ist nach meinen Informationen noch gar nicht ausgewertet worden, ebenso Unterlagen im Zeughaus Berlin. <?page no="257"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 257 Dies leitet zu der Frage über, worin genau die Tätigkeitsbereiche von Weihrauch und Reitzenstein bei der Dienstelle „Chef der Heeresmuseen“ bestanden. Auch hierzu gibt Reitzensteins Itinerar wichtige Hinweise auf seine und Weihrauchs Tätigkeit, auf weitere Personen der Dienststelle und auf den Aktionsradius der Einheit. Es ist zudem ein glücklicher Umstand, dass Weihrauchs Tochter Dorothea im Besitz von Minikalendern ihres Vaters ist, die er wohl den Großteil seines Lebens führte und in denen er stichwortartig Orte, Personen und Ereignisse festhielt. Für den Minikalender der Jahre 1940 bis 1948 machte mir Dorothea Weihrauch auszugsweise Abschriften zu Tagen, die mir durch Reitzensteins „Itinerar“ relevant schienen, sodass entweder durch Itinerar oder Minikalender oder durch deren Abgleich folgendes Bild vor allem des Tätigkeitsspektrums beim „Chef der Heeresmuseen“ entstanden ist: Zunächst ist zu vermuten, dass sich Weihrauch und Reitzenstein bereits seit 1940 kannten. In einem Eintrag vom 30. April 1940 schreibt Reitzenstein, er sei „seit 20. April als Freiwilliger in der Max II Kaserne, Kraftf. Ers. Abt. 7, 1. Kompanie.“ 22 Da Weihrauch laut seinem Personalakt seit Februar 1940 ebenfalls zur „Krf. Ers. Abt. 7 München“ gehört und die beiden später gemeinsam für die Stelle „Chef der Heeresmuseen“ arbeiten, ist es möglich, dass sie sich schon aus dieser Zeit kannten und zusammen gearbeitet haben. Reitzenstein sucht in den Jahren seit 1940 immer wieder ranghohe Mitglieder der Dienststelle auf, so zum Beispiel am 12. Juni 1940 Admiral Lorey. Am 24. Juli hat er eine „Besprechung, Chef der Heeresmuseen“ in München. Am 1. April 1943 notiert er „Mittags in Berlin. Besuch Chef der Heeresmuseen (Pühringer).“ 23 Mit Pühringer ist der österreichische Offizier und Kunsthistoriker Oberst Dr. Rudolf Pühringer gemeint, der nach dem „Anschluss“ Österreichs Sachbearbeiter bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ in Berlin wurde. „Was Pühringer in dieser Eigenschaft für sein altes Museum getan hat, beziehungsweise von diesem abgewendet hat, lässt sich heute nur noch in Umrissen erahnen.“ 24 Pühringer war nicht Leiter der Dienststelle Wien „Chef der Heeresmuseen“, dieses Amt des „General-Kustos“ 25 hatte damals Dr. Alfred Mell inne. Doch Pühringer war trotzdem ein Mann, der einigen Einfluss gehabt haben muss. Nachdem sich beispielsweise die Zerstörung durch Bombenangriffe auf das Heeresgeschichtliche Museum Wien Anfang Februar 1945 auf das Kommandogebäude am Franz-Josephs-Kai ausgeweitet hatte, war er es, der den Ersten Direktor des Kunsthistorischen Museums, Dr. Fritz Dworschak, überzeugte, „der Leitung des Heeresmuseums bis auf Widerruf 22 R EITZENSTEIN , Itinerar, 1. 23 Ebd., 33. 24 A LLMAYER -B ECK , Rudolph Pühringer. 25 R AUCHENSTEINER , Phönix, 17. <?page no="258"?> Katharina Kontny 258 vier Säle samt Nebenräumen im gartenseitigen Trakt der Neuen Hofburg zu überlassen.“ 26 Mell war mit demselben Anliegen zuvor gescheitert. Von seiner Stellung in Berlin aus hatte Pühringer also „offenbar genügend Einfluss, um der Direktion des Heeresmuseums Wien ein Quartier zu verschaffen.“ 27 Der sich hier abzeichnende Einfluss Oberst Pühringers gibt Anlass zur Vermutung, dass Reitzenstein, indem er selbst wiederholten Kontakt zur höher gestellten Etage innerhalb der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ pflegte, eine zentralere Position innerhalb der Dienststelle eingenommen hat als Weihrauch. Ein Kontakt zwischen Weihrauch und Pühringer kann dagegen bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden. Im Folgenden sollen anhand von Reitzensteins Itinerar die Tätigkeiten der Einheit um Reitzenstein und Weihrauch für die Heeresgruppe Ost in chronologischer Folge aufgeführt werden. Darüber hinaus habe ich mich in Reitzensteins Itinerar auf Einträge zur Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ konzentriert und versucht, die Strukturen dieser Dienststelle, die sich anhand seiner Notizen abzeichnen, festzuhalten. Dadurch möchte ich in Bezug auf Weihrauch nachvollziehen, in welchem Machtgefüge er sich innerhalb der Dienststelle bewegte und was seine Aufgabenbereiche waren. „Kurz vor Ostern zog die Einheit, nun ‚Chef der Heeresmuseen Einsatzgruppe I ʽ betitelt, in eine geräumigere Unterkunft.“ 28 In diesem Eintrag vom 14. Juni 1944 bezieht sich Reitzenstein auf eine Unterkunft in Minsk. Hier wird der Name seiner Einheit benannt und erwähnt, dass diese offenbar kurz zuvor umbenannt worden ist. Weihrauchs Kalender ist indirekt die Bestätigung zu entnehmen, dass er mit zu dieser Einheit gehörte. Für den Vortag, den 13. Juni 1944, notiert er: „Abends Spaziergang m. v.[on] R.[eitzenstein] botan. Garten.“ 29 Für den 14. Juni schreibt er laut Dorothea Weihrauch: „Ausst. Endspurt m. Nervosität.“ Bei dieser Ausstellung wird es sich um die Ausstellung „Von Poltawa bis Tannenberg“ gehandelt haben, zu der mir auch zwei Fotos Weihrauchs zugänglich gemacht wurden. 30 In dem Eintrag vom 17. Juni 1944 erwähnt Reitzenstein auch diese Ausstellung, und ein Tätigkeitsbereich der Einsatzgruppe I wird deutlich: „Währenddessen bauen wir eine kleine Ausstellung auf: Von Poltawa bis Tannenberg. Eine Buch- und Bilderschau zur russischen Heeresgeschichte. […] Der und jener stellt dann wohl die Frage: Und woher habt ihr das alles? Und wir sagen: wir 26 Ebd., 19. 27 R AUCHENSTEINER , Phönix, 19. 28 R EITZENSTEIN , Itinerar, 59, Eintrag vom 14.6.1944. 29 Dies diktierte mir Dorothea Weihrauch telefonisch am 6.3.2015. 30 Die Abzüge befinden sich beim Bruder von Dorothea Weihrauch. Sie hat mir Scans von diesen Fotos zukommen lassen. <?page no="259"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 259 haben das alles aus russischen Bibliotheken sichergestellt. Wir sagen auch: aus gefährdeten russischen Bibliotheken. Müssen wir uns entschuldigen? Ein böses Gewissen haben wir nicht. Einmal ist es doch sehr fraglich, ob diese Bibliotheken diesen noch nicht an seinem Ende angelangten Krieg überdauern werden. Noch heute Nacht können sie zerworfen werden. Und dann weil (ich habe es wohl schon einmal gesagt) wir nicht mehr viel Gewissen in uns haben. Wir d. h. wir alle. Und nicht nur wir Deutsche. Wenn der Gegner nur noch Bestie ist, sein darf, sein muß, hört ja zwangsläufig jegliche Schonung auf.“ 31 Die Gruppe, bei der Reitzenstein und Weihrauch tätig waren, hat also eine Ausstellung zur russischen Heeresgeschichte organisiert, und zwar in Minsk, da seit dem Eintrag vom 14. Juni, bei dem Minsk explizit als derzeitiger Standort genannt wird, kein Ortswechsel bei Reitzenstein vermerkt wird und auch laut Weihrauch Minsk die letzte Ortserwähnung der Einheit ab dem 1. Juni 1944 ist. Da es sich bei den Exponaten der Ausstellung um „sichergestellte“ Kulturgegenstände aus Russland handelt, könnte es sein, dass diese zuvor gar nicht erst in das „Reich“ überführt worden waren, sondern quasi direkt in osteuropäischem Gebiet ausgestellt wurden. Aus dieser Annahme kann abgeleitet werden, warum es nötig war, Kunsthistoriker zum Einsatz zu bringen, die ja nicht per se Experten für Bücher oder Waffen sind. Für die im Museumskontext tätigen Kunsthistoriker wird es kein Problem gewesen sein, Ausstellungen auch relativ spontan zu kuratieren. Dies kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht überprüft werden. „[K]urz nach Mittag, rückten wir, im Anschluß an die Techn. Kompanie, mit der wir das Haus in der Moskauer Straße geteilt hatten, ab. Was unser kleiner LKW Opel Blitz fassen konnte, wurde geladen.“ 32 In diesem Eintrag vom 28. Juni 1944 beschreibt Reitzenstein nicht, was konkret in den LKW geladen wurde. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass es sich um die Objekte der Ausstellung „Von Poltawa bis Tannenberg“ oder weitere Beutekunst gehandelt haben könnte. Unterwegs war Reitzenstein laut seiner Beschreibung in einem PKW zur „Rollbahn Borissow-Wilna“ mit Unteroffizier Mayerhoff, dem Maler Wilh. Eigener, einer russischen Haushaltshilfe mit Namen Bronja, dem abermals als Schreiber bezeichneten Unteroffizier Weihrauch und dem leitenden, aber schwer erkrankten sowie zum jetzigen Zeitpunkt nicht näher identifizierbaren Major B. Als sie den besagten Opel Blitz-LKW verloren hatten, hätten sie einige Kilometer zurückfahren müssen, um ihn zu suchen. Hier wird deutlich, dass die Einheit „Chef der Heeresmuseen, Einsatzgruppe I“ aus etwa sieben bis acht Personen bestanden haben muss, wenn man davon ausgeht, dass noch der Fahrer des LKWs mit eventuell einer weiteren Begleitperson dazu zählte. 31 R EITZENSTEIN , Itinerar, 60. 32 Ebd., 61, Eintrag vom 28.6.1944. <?page no="260"?> Katharina Kontny 260 Als Major B.s gesundheitlicher Zustand es nicht mehr zulässt, bei der Einheit zu bleiben, und er sich in ein Lazarett begibt, überträgt er Reitzenstein „die Verantwortung für die kleine Gesellschaft.“ 33 Also war Reitzenstein nach Major B. das ranghöchste Mitglied der Einsatzgruppe. Nachdem der LKW wiedergefunden worden war, fahren sie, aus Grodno kommend, „nun wieder im Geleit der glücklich eingeholten Transportkolonne, nach Druskiniki weiter“. 34 Interessant ist der Befund, dass sich die Einsatzgruppe im Rahmen der größeren Transportkolonne bewegte. Das wirft die Frage auf, wer zu dieser Kolonne gehörte, was ihre Aufgabe war und ob sie noch mehr (Kultur-)Gegenstände (ab)transportierte. Laut Reitzenstein war ein Offizier der Heeresgruppe mit der „Quartierzuteilung“ 35 betraut. Des Weiteren wird namentlich der „Kommandeur der Propaganda- Abteilung-W.“, 36 ein Major Kost genannt. Am 4. Juni 1944 erhält die Einsatzgruppe die Nachricht, dass Wilna geräumt werden soll und Minsk schon in russischer Hand sei. 37 Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Einsatzgruppe I in Randzize, wo sie bei einem namentlich nicht genannten Amtskommissar einquartiert wurden. Reitzenstein, W[eihrauch] und M[ayerhoff] 38 wurden spontan zur Geburtstagfeier der Tochter dieses Amtskommissars geladen. Nun ist es das Ziel, über Bialystock nach Lötzen zu gelangen. Lötzen wird an anderer Stelle als zentrale Annahmestelle für Beute aus Riga dargestellt werden und ist daher von besonderer Relevanz. In Bialystock vermerkt Reitzenstein, dass er einen Spaziergang mit Weihrauch macht, was auf eine gewisse Vertrautheit der beiden hinweist. Im Eintrag vom 10. Juli 1944 notiert Reitzenstein, dass er nach Wien zur Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“, beordert worden ist. 39 Die Ortskommandantur des „Chefs der Heeresmuseen“ in Wien befindet sich in der Universitätsstraße, wo Reitzenstein am 11. Juli eintrifft, um im „Erz[herzog] Karl Quartier zu beziehen, wo zur gleichen Zeit Major Dr. Georg Poensgen logiert,“ 40 den er als „‚Sammeloffizier Heimat‘ des Chefs der Heeresmuseen“ bezeichnet. 41 Reitzensteins Einträge werfen also 33 Ebd., 61. 34 Ebd. 35 Ebd., 62. 36 Ebd. 37 Ebd., 63. 38 Reitzenstein benutzt im Itinerar häufig Abkürzungen mit einem Buchstaben für Personen, wie auch hier. 39 Ebd., 64. 40 Ebd. 41 Es ist nicht klar, ob es sich um das Palais, das Hotel oder die Straße handelt. Ich vermute jedoch, dass es sich um das Palais oder das Hotel gehandelt hat, da hier Poensgen „logiert“ haben könnte. <?page no="261"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 261 ein Schlaglicht auf die handelnden Personen der Dienststelle sowie die Routen der Einsatzgruppe. 42 Was in Wien konkret besprochen wurde, belässt Reitzenstein jedoch im Dunkeln: „Was über den nunmehrigen ‚Einsatz‘ der Gruppe besprochen wurde, bleibe beiseite, es ist ja belanglos genug.“ 43 Aus einem späteren Eintrag geht hervor, dass Reitzenstein eine Ausstellung, die sich zu dem Zeitpunkt in Reichenberg-Böhmen befindet, nach München oder in eine andere Stadt in Bayern, überführen soll. 44 Ein wichtiger Tätigkeitsbereich der Einsatzgruppe I scheint also die Betreuung von Ausstellungen gewesen zu sein. Dann soll er nach Lötzen fahren, um seine Gruppe nach München zu bringen, dann nach Riga, „um etwaige Einsatzmöglichkeiten im Bereich der Heeresgruppe Nord auszumitteln,“ 45 danach seien München, Wien und Reichenberg geplant. Es ist anzunehmen, dass sich Reitzenstein in Wien wieder bei der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ melden musste. Zunächst ist Reitzenstein jedoch wieder in Lötzen. Er vermerkt für den 16. Juli 1944: „Übermorgen will ich mit W[eihrauch] nach Riga. (Wozu eigentlich? ) Einen Waggon zur Abbeförderung der Fahrzeuge nach München habe ich angefordert.“ 46 Die Fahrzeuge, die ihnen bislang zur Verfügung standen, sollen also nach München abtransportiert werden. Mit welchem bzw. ob überhaupt mit Frachtgut ist nicht belegt. Für den 18. Juli vermerkt er: „6.30 Uhr verlasse ich mit Weihrauch Lötzen in der Annahme, es nicht wiederzusehen.“ 47 M[ayerhoff] und H. 48 sollen jedoch bereits zwei Fahrzeuge auf die Bahn setzen und sich selbst auf den Weg nach München machen, wo Reitzenstein sie wieder treffen will. Reitzenstein sieht also wenig Sinn in dem geplanten Programm der Einheit. Dann trifft er auf den Chef der Heeresmuseen, General Brand, der ihm einen neuen Auftrag erteilt: 49 „Ich erhielt von ihm die mehr als erwünschte Weisung, die Einheit gleich nach Reichenberg zu führen und dort zunächst die Verpackung der eben dort befindlichen Kriegsausstellung, die mit dem 28.VII schließen wird, zu übernehmen.“ 50 42 Inwieweit Weihrauch auch in dieses Netzwerk der höherrangigen Mitarbeiter der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ integriert war, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht festgestellt werden. 43 R EITZENSTEIN , Itinerar, 64, Eintrag zum 12.7.1944. Hier wäre noch zu ermitteln, ob sich Weihrauch zu diesem Zeitpunkt auch in Wien befand. 44 Ebd., 64, Eintrag zum 12.7.1944. 45 Ebd., 64f. 46 Ebd., 66, Eintrag vom 16.7.1944. 47 Ebd., 67. 48 Mit „M“ ist höchstwahrscheinlich Mayerhoff gemeint. Mit „H.“ könnte General Heidkemp gemeint sein, was jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht belegt werden kann. 49 Diesmal ist also der tatsächliche Chef der Heeresmuseen und nicht die Dienststelle gemeint. 50 R EITZENSTEIN , Itinerar, 67. <?page no="262"?> Katharina Kontny 262 Für den 23. Juli 1944 notiert Reitzenstein: „Mit dem grauenden Tag rollt ein mit dem Ziel Schlauroth zusammengestellter Bandwurmgüterzug ab. Kohlfurt, Görlitz, Schlauroth. Nun die letzte kleine Strecke, überlasse ich den Transport den beiden Fahrern, nehme mit Weihrauch die Straßenbahn nach Görlitz [um dann] einen Bummelpersonenzug nach Reichenberg zu nehmen.“ 51 Was genau auf dem Güterzug geladen war, ist wieder ungewiss. Ebenso welches Transportgut Reitzenstein selbst den Großteil der Strecke überwacht, bevor er mit Weihrauch nach Görlitz fährt. Es ist möglich, dass der Transportweg Kohlfurt, Görlitz, Schlauroth auch von anderen Einheiten genutzt wurde und eine etablierte Strecke mindestens bei den Gruppen „Chef der Heeresmuseen“ gewesen sein könnte. In Schlauroth ist die Einsatzgruppe um Reitzenstein wiederum für eine Ausstellung zuständig, und zwar für den „Abbau, Abtransport und Wiederaufbau“ 52 von „Landeseigene Verbände kämpfen im Osten“, die im Gewerbemuseum Schlauroth unter der Leitung eines Dr. Olles aus Köln präsentiert worden war. Dafür wurden „Transport“ 53 -Fahrzeuge und eine Verladerampe benötigt, die Reitzenstein erwähnt. Es ist einigermaßen erstaunlich, dass im Sommer 1944, also mitten im Krieg, noch Ausstellungen stattfanden, die dann von einer Einsatzgruppe der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ umgeladen werden mussten. Für den 24. Juli 1944 notiert Reitzenstein darüber hinaus, dass Weihrauch ein Telegramm seiner Ehefrau erhalten hat mit der Nachricht, dass sie ausgebombt worden seien. Reitzenstein beurlaubt Weihrauch daraufhin für zehn Tage, sodass Weihrauch bis zum 3. August nicht an Aktionen der Einsatzgruppe beteiligt war. 54 Wenn es Reitzenstein war, der Weihrauch beurlaubte, scheint er demnach zu diesem Zeitpunkt immer noch die Befehlsgewalt über die Gruppe gehabt zu haben. Am 15. August ist Alexander von Reitzenstein wieder bei der Dienststelle in Wien. Dort erhält er den Befehl, mit „der Einheit zur Heeresgruppe Süd Ukraine […] zu gehen“, 55 die sich damals in Rumänien, in Marasesti befand. Als er am 19. August in Marasesti ankommt, notiert er lediglich: „Abtransport der Ausstellung übernimmt Armeemuseum München.“ 56 Um welche Ausstellung es sich hierbei handelt, wird 51 Ebd., 68, Eintrag vom 23.7.1944. Möglicherweise liegt in der Edition ein Übertragungsfehler vor: Es könnte „Nur“ statt „Nun“ heißen. 52 Ebd., 69. Reitzenstein erwähnt lediglich: „Transport glücklich eingelaufen.“ Um wie viele Fahrzeuge es sich dabei handelt, ist jedoch ungewiss. In seiner Notiz vom folgenden Tag, dem 24.7.1944, nennt Reitzenstein „die beiden Fahrzeuge“. Daher ist anzunehmen, dass er entweder mit „Transport“ eben diese beiden Fahrzeuge meinte oder mit dem zweiten Fahrzeug lediglich der PKW der Einsatzgruppe gemeint war. 53 Ebd., 69. 54 Vgl. ebd., 73, Eintrag vom 3.8.1944: „Abends meldet sich W. zurück.“ 55 Ebd., 77, Eintrag vom 15.8.1944. 56 Ebd., Eintrag vom 19.8.1944. <?page no="263"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 263 nicht erwähnt. Hier scheint jedoch eine Kompetenzüberschneidung vorzuliegen. Der Befund ist festzuhalten, dass das Armeemuseum München während der Kriegsjahre auch für den Abtransport von Ausstellungen aus den „neuen Ostgebieten des Reiches“ zuständig war, vielleicht auch, um die Stücke in die eigenen Bestände zu überführen. Reitzensteins Einheit sollte bald eine neue Leitung unter Ernstotto Graf zu Solms-Laubach erhalten. Solms-Laubach war Kunsthistoriker und vor dem Einzug zur Wehrmacht Museumsdirektor des Historischen Museums in Frankfurt gewesen. Im Krieg war er unter anderem am Abtransport des Bernsteinzimmers beteiligt. 57 Nachdem „Major B.“ am 28. Juni den Befehl über die Einheit an Alexander von Reitzenstein übergeben hatte, 58 scheint es, als habe Reitzenstein diese Position bis über den 21. August 1944 hinaus inne gehabt. Für den 21. August notiert er im Itinerar: „Meldung bei Chef Heeresmuseen. Besprechung mit Rittmeister Graf Solms-Laubach, der die Einheit als geschickter Unterhändler bei Heeresgruppe Süd einführen und später übernehmen soll.“ 59 Dieser Eintrag wirft Fragen auf. Wieso ist bei der Einführung in die Heeresgruppe Süd ein „Unterhändler“ nötig? Warum wollte die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ in Wien die Einheit um Reitzenstein und Weihrauch bei der Heeresgruppe Süd einführen? Was war der Auftrag? Und änderte sich mit der Übernahme durch Solms-Laubach auch der Tätigkeitsbereich und Aktionsradius der Gruppe? Es scheint sich seit der Leitung Solms-Laubachs in der Tat etwas verändert zu haben: Im Eintrag vom 20. Oktober 1944 notiert Reitzenstein zunächst, dass sie sich in Oertelsburg befinden. Reitzenstein bezeichnet Oertelsburg als „Standort des OK der Heeresgruppe Mitte.“ 60 Dort würden „Verhandlungen mit der Heeresgruppe“ geführt, die offenbar zum Ziel hatten, dass die Einsatzgruppe von ihnen angenommen wird, was offenbar auch erreicht wird. „Am 1.XI“, also am 1. November, so Reitzenstein, „soll das neue Leben hier beginnen, diesmal im engsten Anschluß an die Führungsabteilung.“ 61 Mit Solms-Laubach scheint die Einheit also enger an die Führungsriege gerückt zu sein. Es ist möglich, dass die Teilnahme der Gruppe an Aktionen, die noch folgen werden, wie die Plünderung eines Schlosses bei Warschau im Dezember 1944, im 57 Zu Ernstotto Graf zu Solms-Laubach K LEE , Kulturlexikon, 518; H EUSS , Kunst- und Kulturgutraub, 168f. (biographische Daten in Anm. 28), 171. 58 Vgl. ebd., 61. 59 Ebd., 77f., Eintrag vom 21.8.1944. 60 Ebd., 97, Eintrag vom 20.10.1944. Oertelsburg = Ortelsburg 61 Ebd. Randnotiz: In der Notiz vom 27. Oktober 1944, als sich Reitzenstein in München befand, notiert er den Besuch Buchheits. Für den 27. September 1944 vermerkt er eine frühere Erinnerung an Carl Theodor Müller. Das Netzwerk, in dem sich Reitzenstein und Weihrauch bewegten, beruht offenbar auf Kontakten, die schon vor dem Krieg entstanden, im Krieg weiter gepflegt wurden und auch danach wohl in ihrer gesamten Laufbahn bestanden. Zu Weihrauch vgl. auch den Beitrag von Katrin Holly in diesem Band. <?page no="264"?> Katharina Kontny 264 direkten Zusammenhang mit dem durch Solms-Laubauch entstandenen Näherrücken an die Führungsspitze der Dienststelle steht. Für den 3. November 1944 notiert Reitzenstein, er befinde sich seit dem Morgen in Oertelsburg, gemeinsam mit dem Unteroffizier (Richard) Otte und einem Obergefreiten namens Löwe. Reitzenstein bezeichnet sich selbst als „Vorkommando“ der „Einheit.“ 62 Am 16. November 1944 ist die Einheit in Insterburg, das von jenem Otte bei einem Verhör durch die Amerikaner neben Lötzen als Knotenpunkt für Beute bezeichnet wird, die dann weiter zu Weihrauch nach Sachsen übermittelt wird. Als Zweck des Aufenthalts im Herbst 1944 gibt Reitzenstein die „Besichtigung einer Sammlung von Uniformen (ostpr. Kavallerieregiment) im Heimatmuseum“ 63 an, sowie „einleitende Maßnahmen zu ihrer Bergung.“ 64 Hier geht es also nicht um den Transport einer Ausstellung, sondern es ist fachkundliches Wissen gefragt, wenn auch bei der Beurteilung von Uniformen nicht direkt kunstgeschichtliches Fachwissen, sondern eher heereshistorisches, uniformkundliches Wissen vonnöten war. Dies stellt also eine weitere Facette des Aufgabenbereichs einer Einheit der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ dar. Am 24. November 1944 war laut Reitzenstein die Einheit mit der „Verpackung der Rauchhaupt’schen Uniformsammlung und eines kleines Teiles des Heimatmuseums im Schloß“ 65 in Insterburg beauftragt gewesen. Bei der Rauchhaupt’schen Sammlung handelt es sich um ostpreußische Kavallerie-Uniformen aus dem früheren Armeemuseum Berlin, dem späteren Zeughaus, dessen Kommandant kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges Wilhelm Volrad von Rauchhaupt werden sollte. 66 Hierbei und vermutlich auch bei der Teilsammlung aus dem Heimatmuseum handelte es sich also nicht um neue „Beute“, sondern um Kulturgegenstände, die sich bereits im Besitz des Deutschen Reichs befanden und nun vor der anrückenden Roten Armee in Sicherheit gebracht werden sollten. Anders erscheint der Fall, den Reitzenstein am 8. Dezember notiert: Er befindet sich mit einem „Kurierfahrzeug der Heeresgruppe“ 67 in Lötzen. Hier soll er die „Verladung der auf der Feste Boyen und in der Vaterländischen Gedenkhalle hinterstellten Kunstschätze des Pleskau-Rigaer Museums und eines Teils der Breslauer Ausstellung der Heeresgruppe Nord“ 68 verladen. Bei den Kunstwerken aus Riga scheint es sich um neu angeeignete Kunstgegenstände zu handeln. Wann und in welchem Rahmen 62 Ebd., 98, Eintrag vom 3.11.1944. 63 Ebd., 99, Eintrag vom 16.11.1944. 64 Ebd. 65 Ebd., 100, Eintrag vom 24.11.1944. 66 Vgl. R AUCHHAUPT , Schlips, 15-21. 67 R EITZENSTEIN , Itinerar, 101, Eintrag vom 8.12.1944. 68 Ebd. <?page no="265"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 265 die Heeresgruppe Nord die Stücke für die Breslauer Ausstellung zusammengetragen hat, lässt sich anhand dieses Eintrags jedoch nicht nachvollziehen. 4. Plünderung des Schlosses Wilanow bei Warschau Besonders schwer wiegt der bereits erwähnte Raub von Kulturgut aus dem Schloß Wilanow bei Warschau im Dezember 1944, dem Reitzenstein in seinem Itinerar wenige Zeilen widmet. Das Geschehen war mir bereits aus einem Bericht der Art Intelligence von 30. Juni 1946, der über die Datenbank fold3 - Holocaust Collection, die digitalisierten Sammlungen der US-amerikanischen Nationalarchive und des United States Memorial Museum, zugänglich ist, bekannt. Denn hier taucht der Name Hans Robert Weihrauch im Rahmen des protokollierten Verhörs Ottes zu eben dieser Plünderung auf. 69 Der damalige SA-Obergefreite Otte gibt an, er sei zu diesem Zeitpunkt Mitglied der „German Army Museum Collecting Group“ gewesen und habe mit der „Eastern Front Group of the German Army Museum,“ die ich mit „Heeresgruppe Ost“ übersetze, im Dezember 1944 die Kunstschätze aus Schloss Wilanow geplündert. Dabei macht er spezifische Angaben über die „Beute“. Es habe sich um „ca. 80 paintings, a number of old weapons, about 8 bronze statues possibly Venitian, and a considerable amount of furniture“ 70 gehandelt. Als einziges Gemälde konnte ein Davidporträt der Vorfahren der Wilanows identifiziert werden. Bei dieser Plünderung sei ein „Major Weihrauch“ „receiving agent“ für eine Wagenladung „amounting to a railroad car full“ gewesen, und zwar auf einem kleinen Güterbahnhof in Sachsen. „Major“ Weihrauch habe laut Otte dort zu dieser Zeit zwei weitere „wagonloads of looted art treasures“ entgegengenommen. Diese seien aus Insterburg und Lötzen in Ostpreußen gekommen, eventuell aus dem dortigen Heimatmuseum. Als weiteren Ursprungsort gibt Otte Riga an, weil Lötzen ein „receiving depot for goods“ aus Riga gewesen sei. 71 Zunächst einmal besteht kein Zweifel, dass es sich bei jenem „Major Weihrauch“ um Hans Robert Weihrauch gehandelt hat. Laut Protokoll gibt Otte an: „Major Weihrauch may possibly be found at present at Munich, Gentzstr. 1; or at the home of his family, Waging bei Traunstein, Ob[er]bayern, Salzburgerstr. 77; 69 NARA, M1946, Ardelia Hall Collection: Munich Central Collecting Point, 1945-1951, Administrative records, correspondence, denazification orders, custody receipts, property cards, Jewish restitution claim records, property declarations, and other records from the Munich CCP (1945-1950). 70 Ebd. 71 Alle Zitate ebd. <?page no="266"?> Katharina Kontny 266 or else at Augsburg at the Staedtische Kunstsammlungen, where he was formerly director.“ 72 Mit diesen Adress- und Berufsangaben ist Hans Robert Weihrauch eindeutig identifiziert. Die Titelbezeichung „Major“ wirft jedoch Fragen bezüglich Weihrauchs Position innerhalb der Eastern Front Group of the German Army Museum auf. Solche Titel können schlicht einem Übersetzungsfehler vom Deutschen ins Englische bei der Protokollierung des Verhörs Ottes entsprungen sein. Wenn Weihrauch tatsächlich Major gewesen wäre, hätte er vermutlich eine Verfügungsgewalt im Rahmen der Plünderungen besessen. Weihrauchs Funktion als „receiving agent“ im Rahmen der Heeresgruppe Ost ist als wichtiger Befund festzuhalten. Laut Otte stellt es sich also so dar, dass Hans Robert Weihrauch an dem Güterbahnhof in Sachsen die geplünderten Gegenstände zur weiteren Verschickung entgegengenommen hat. Hier kommt die Frage auf, was genau in Weihrauchs Tätigkeitsbereich als „receiving agent“ gefallen ist. Gehörte dazu auch eine weitere Sichtung der „Beute“ und die Entscheidungsgewalt darüber, wohin sie weiter verschickt wurde? War für diese Arbeit sein kunsthistorisches Know-how von Bedeutung? Oder war dieser Schritt schon in Gänze am ursprünglichen Verschickungsort vollzogen worden? Diese Fragen müssen zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund fehlender Quellen offen bleiben. Darüber hinaus ist die Logistik der deutschen Plünderungen von Osteuropa ins „Deutsche Reich“, die hier aufblitzt, von historischem Erkenntnisinteresse. Über die genauen Wege der Raubkunst ist in der bisherigen Forschung wenig bekannt. Es ist also festzuhalten, dass zum einen Beutegut aus Riga den Weg über Lötzen genommen hat und Lötzen und Insterburg vermutlich Knotenpunkte waren, mindestens für Beutekunst aus Polen, die offenbar zunächst über Sachsen weiter ins „Reich“ geleitet werden sollte. Aus Weihrauchs Kalendereinträgen für Dezember 1944 geht hervor, dass er sich am 17. Dezember im nordsächsischen Ammelgoßwitz befunden hat. Für den 18. Dezember liegt folgender Eintrag vor: „1. Wagon eingelaufen. Tel m. Dresden nicht durchgekommen. Tel. m. Landrat Torgau. Nachm. 3 Wagen voll (2 Fuhren).“ 73 Woher die Ladungen kamen, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklärt werden, ebenso nicht für den 19. Dezember, zu dem Weihrauch laut Dorothea Weihrauch geschrieben hat: „Hab’ unerwartet 2. Wagen! Riesenlamento über die Einlagerung im Haus. Vorm. 1, nachm. 2 Fuhren.“ 74 Für den Zeitraum der Plünderung des Schlosses 72 Ebd. 73 Vgl. Abschrift Dorothea Weihrauch aus dem Minikalender ihres Vaters von 1940-1948. 74 Ebd. <?page no="267"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 267 Wilanow war Weihrauch laut Kalender in Dresden. Aus geographischen und zeitlichen Gründen müsste es sich um einen Güterbahnhof in Dresden gehandelt haben, von dem Otte bei seinem Verhör über die Plünderung Wilanows berichtet hat. Reitzenstein vermerkt in einem Eintrag vom 17. Dezember 1944, dass seine Einheit von Sochaczew nach Zyrardow reiste und dies vermutlich von Hohenburg aus und immer noch in Begleitung von Unteroffizier Otte, was aus dem Eintrag vom Vortag zu entnehmen ist. 75 In Zyrardow habe er sich „bei Ic des AOK 9“ 76 gemeldet und „[s]ein Anliegen“ 77 vorgetragen, nämlich jene „Bergung der noch in Schloß Wilanow vorhandenen Kunstschätze.“ 78 Am 18. Dezember geht es zunächst mit einem „Personenzug über Warschau- West nach Piaseczno“ und von dort mit einem PKW nach Wilanow. 79 Dazu notiert Reitzenstein: „Besichtigung des Schlosses, dessen wichtigste Kunstschätze zu bergen ich hier bin.“ 80 Was dann geschieht, bleibt weitestgehend im Dunkeln. Reitzenstein notiert in einem gebündelten Kurzeintrag für den „19.-21. Dez[ember]“ lediglich: „Kalte Tage. Immer, solange nur Licht, im Schloß.“ Er war demzufolge, solange es hell war, die gesamte Zeit der drei Tage mit der „Bergung“ der Kunstschätze des Schlosses beschäftigt. Diese wurden am 22. Dezember mit der Kleinbahn von Wilanow nach Piaseczno verladen. 81 Der weitere Transportweg scheint wie folgt zu verlaufen: Am 23. Dezember wird die Beute in einen „Waggon der Normalbahn“ 82 umgeladen. Reitzenstein nimmt am Nachmittag eine Lok nach Warschau-W.[est], vermutlich hier bereits ohne die Schätze aus Schloss Wilanow. Er reist über Skiernewicze nach Kolschi, im Schnellzug nach Posen, Allenstein und kommt schließlich in Ortelsburg an, wo er gemeinsam mit Otte, Corts und Löwe Weihnachten feiert. Solms befinde sich zu Hause, Weihrauch „vermutlich irgendwo in Sachsen, wo er sich eben aufhält, um den Lötzener Transport - also die Schätze aus Wilanow - zu übernehmen.“ 83 Von Interesse ist des Weiteren die kurze Notiz, dass Reitzenstein Wilanow offenbar bereits in einem stark ausgeplünderten Zustand vorgefunden habe: „Aber in den hellen Stunden der kurzen Tage stets mit der Sichtung seines [Schloss 75 Vgl. R EITZENSTEIN , Itinerar, 101, Eintrag vom 16.12.1944. 76 Ebd., 102, Eintrag vom 17.12.1944. 77 Ebd. Reitzenstein bezeichnet die Bergung als „mein Anliegen“. Inwieweit es sein persönliches Anliegen war oder eher das der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“, lässt sich nicht eindeutig klären. Vermutlich wird er selbst jedoch nicht in der Position gewesen sein, einen solchen Vorschlag selbst vorzubringen. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd., 102, Eintrag vom 18.12.1944. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd., 102, Eintrag vom 22.12.1944. 82 Ebd., 102, Eintrag vom 23.-24.12.1944. 83 Ebd. <?page no="268"?> Katharina Kontny 268 Wilanows] (übrigens schon stark gelichteten) Inventars beschäftigt […].“ 84 Wen er als verantwortlich für die vorherigen Beutezüge ansieht, geht aus seinen Notizen nicht hervor. Zur polnischen Gegenüberlieferung der Geschehnisse in Schloss Wilanow habe ich bisher nur ganz wenige Informationen zusammentragen können. Nach meiner Kenntnis hat die polnische Provenienzforschung zu dem Raubzug in Schloss Wilanow lediglich Hinweise auf eine Beteiligung Schellenbergs, Polhammers und „Weitzensteins“. 85 Bei Weitzenstein gehe ich davon aus, dass Alexander von Reitzenstein gemeint ist. Zu Polhammer tauchte in der fold3-Datenbank der Name Karl Polhammer auf, ein ca. 1891 geborener österreichischer Kunsthistoriker und Restaurator, „[o]ne of the comissions which came to Poland to direct the transport of scientific collections and libraries.“ 86 Bei Schellenberg handelt es sich vermutlich um den SS-Brigadeführer Walter Schellenberg. 87 5. Zusammenfassung und Forschungsdesiderate Als zentrale Aktionen der Einheit um Reitzenstein konnten der Raub der Bibliothek des landwirtschaftlichen Instituts in Gorki am 5. November 1943 und der Raub der Schätze aus Schloss Wilanow im Dezember 1944 ausgemacht werden. In beiden Fällen sind weitergehende Recherchen vonnöten. In Bezug auf die Bibliothek wäre wichtig zu recherchieren, welche weiteren Personen beteiligt waren, von Seiten der polnischen Provenienzforschung die Gegenüberlieferung und - wenn möglich - Verzeichnisse der verschwundenen Bücher zu erhalten, um deren Spur aufnehmen zu können. Im Hinblick auf Schloss Wilanow konnten außer Reitzenstein die Namen Karl Polhammer und Walter Schellenberg ermittelt werden. Zu den beiden letzteren stehen weitergehende Recherchen noch aus. Weihrauch war an der Annahme und Weiterleitung der Gegenstände an einem Güterbahnhof in Sachsen beteiligt. Die Aktion Schloss Wilanow geschah zu einem Zeitpunkt, als die Einheit um Reitzenstein und Weihrauch unter der Leitung von Solms-Laubach stand (der Zeitpunkt der Befehlsübernahme durch Solms liegt zwischen Sommer und Herbst 1944), womit Reitzenstein ein engeres Heranrücken an die Führungsriege der Dienststelle „Chef der 84 Ebd. 85 Dies teilte mir Christian Fuhrmeister nach Rücksprache mit der polnischen Provenienzforschung im Frühjahr 2015 mit. 86 NARA, M1944, Records of the American Commission for the Protection and Salvage of Artistic and Historical Monuments in War Areas (The Roberts Commission), 1943-1946. 87 Hier müssten noch weitere Forschungen betrieben werden. <?page no="269"?> Hans Robert Weihrauch und die Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ 269 Heeresmuseen“ verknüpft. Hier muss sich eine Recherche zu Solms-Laubach anschließen, vor allem zu seinen Tätigkeiten und seinem Werdegang beim „Chef der Heeresmuseen“. In Reitzensteins Itinerar wurden die Heeresgruppe Nord, Süd und Mitte genannt, mit denen seine Einheit interagierte. Ich möchte in Frage stellen, dass seine Gruppe der Heeresgruppe Ost angehörte, was man aus Ottes Aussagen herauslesen könnte. Vielmehr erscheint es so, dass die Einsatzgruppe I um Reitzenstein und Weihrauch vornehmlich eine Einheit der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ war, die sich frei zwischen den unterschiedlichen Heeresgruppen bewegte und je nach Auftrag, zu der einen oder anderen Heeresgruppe geschickt wurde, wie zum Beispiel als Reitzenstein am 15. August den Befehl erhielt, mit der Einheit zur Heeresgruppe Süd in die Ukraine zu gehen, oder als Solms die Einheit bei der Heeresgruppe Süd einführen sollte. Dann wäre im Fall Wilanow Ottes Aussage so zu interpretieren, dass zu diesem Zeitpunkt die Einsatzgruppe I bei der Heeresgruppe Ost arbeitete, nicht aber einen festen Bestandteil der Heeresgruppe bildete. Dies sind zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nur Vermutungen, für welche die genannten Indizien sprechen. Hier ist zentral, zu ermitteln, wie sich Gruppen, wie die um Reitzenstein und Weihrauch, im Verhältnis zu den Heeresgruppen verhielten und welcher Art die Verbindung und Hierarchie zur Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ war. Zu den im Umkreis von Reitzenstein und Weihrauch handelnden Personen, also Unteroffizier Mayerhoff, dem Maler Wilhelm Eigener, General Heidkemp und dem nicht näher identifizierbaren Major B., der die Einsatzgruppe etwa bis zum Sommer 1944 leitete, stehen weitere Recherchen noch aus. Weihrauchs und Reitzensteins Tätigkeiten können als Fallbeispiele für die Aufgaben von Mitarbeitern der Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ gesehen werden. Der für mich wesentliche Anknüpfungspunkt für weitergehende Forschungen, der sich aus den bisherigen Ergebnissen ergibt, ist eine vertiefte Recherche zu den Geschehnissen in Schloss Wilanow, im Idealfall in Zusammenarbeit mit der polnischen Provenienzforschung. Nicht nur die Ergebnisse dieser Arbeit in Bezug auf Weihrauch, Reitzenstein und die Transportwege des entzogenen Kulturgutes müssen an die polnische Provenienzforschung übermittelt, den Spuren zu Karl Polhammer und Walter Schellenberg muss dringend weiter nachgegangen werden. Die deutsche Provenienzforschung, die in vielerlei Hinsicht noch an ihrem Anfang steht, hat die Pflicht, verstärkt den Blick auf Polen und das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu richten und in diesem Bereich zu forschen. <?page no="270"?> Katharina Kontny 270 Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) - StK, Bayerischer Verdienstorden, Nr. 2276. Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus (BayKuMin) - Registratur, Personalakt Hans Robert Weihrauch. Privatbesitz Dorothea Weihrauch - Minikalender (Tagebuch) von Hans Robert Weihrauch 1940-1948 Stadtarchiv Augsburg - Bestand 50, 1764, Jüdischer Kunstbesitz. Gedruckte Quellen R EITZENSTEIN , A LEXANDER VON : Itinerar durch Krieg und Kunst. 1940-1948, Stollberg 2004. Literatur A LLMAYER -B ECK , J OHANN C HRISTOPH : Rudolph Pühringer, in: Mitteilungsblatt der Museen Österreichs 19 (1970), Heft 1/ 2, 25-29. F UHRMEISTER , C HRISTIAN : Der Deutsche Militärische Kunstschutz in Italien 1943- 1945 als kunsthistorisches Praxisfeld. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunstgeschichte in den Jahren 1936-1963, Habilitation Masch., München 2013. -: Die Abteilung „Kunstschutz“ in Italien. Kunstgeschichte, Politik und Propaganda 1936-1963, Köln 2019. H EUSS , A NJA : Kunst- und Kulturgutraub. 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Einzelfälle <?page no="275"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger Paul Hoser 1. Erlangers Leben bis zum Ersten Weltkrieg Hugo Erlanger, dessen Schicksal hier beleuchtet werden soll, 1 wurde am 19. April 1881 als Sohn jüdischer Eltern in Augsburg geboren. 2 Erlangers Vater Jakob stammte aus Buchau in Württemberg, seine Mutter Emilie, eine geborene Neuburger, aus Fischach im bayerischen Bezirksamt Zusmarshausen. 3 In beiden Orten bestand eine jüdische Gemeinde. 4 Jakob Erlanger, der in Augsburg am Schmiedberg C 160-162 wohnte, betrieb dort eine Woll-, Weiß-, Kurz- und Schnittwarenhandlung. 5 Sein Sohn besuchte nach der Volksschule vier Jahre das humanistische Gymnasium St. Stephan und wechselte dann auf das Realgymnasium über, das er nach weiteren drei Jahren verließ. 6 Warum er nicht weiter dort bis zum Abitur blieb, ist nicht bekannt. Seit dem 4. Oktober 1898 lebte er nachweisbar in München, wohin er nach dem Ende der Schulzeit gekommen war. 7 Hier wechselte er bis 1909 nach seiner ersten 1 Der vorliegende Beitrag befasst sich in erster Linie mit dem „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger. Bereits erschienen ist mein Aufsatz: H OSER , Thierschstraße. Darin geht es in erster Linie um Hitler und seine Aktivitäten und Begegnungen in Erlangers Haus. 2 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), LEA 10512, Kopie der Meldung Jakob Erlangers an das Standesamt Augsburg vom 22.4.1881. 3 BayHStA, LEA 10512, Eidesstattliche Erklärung Hugo Erlangers vom 5.10.1945; Jakob Erlanger (geb. 4.12.1852, gest. 26.2.1922 Mainz), Emilie Erlanger (geb. 9.3.1861, Fischach, gest. 22.1.1926, Augsburg). Erlanger hatte noch drei jüngere Schwestern: Ida Wolfrum, geb. Erlanger, Dr. Berta Erlanger und Adele Ebner, geb. Erlanger. Staatsarchiv Augsburg (StAA), Amtsgericht Augsburg, Geschäftsjahr 1922, Nachlassregister Nr. 109, Ortsgericht Mainz an Amtsgericht Mainz, 28.2.1922 und Todesanzeige der Verwaltung des städtischen Krankenhauses Augsburg vom 23.3.1926. Den Hinweis auf die Nachlassakte verdanke ich Dr. Günther Eckardt. 4 Zur jüdischen Gemeinde in Fischach: O PHIR / W IESEMANN , Die jüdischen Gemeinden in Bayern, 466-468; Pi LLER , Fischach; A LICKE , Lexikon der jüdischen Gemeinden, 1224-1228; zur jüdischen Gemeinde in Buchau bzw. Bad Buchau: S AUER , Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, 31-36; A LICKE , Lexikon der jüdischen Gemeinden, 208-213. 5 Adreß-Buch der Stadt Augsburg, 37. 6 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk vom 25.4.1918; Stadtarchiv München (StdAMü), Judaica/ Volkskarteikarte 742, Kennkartenkopie Erlangers vom 11.8.1939. 7 Stadtarchiv München (StdAMü), PMB Hugo Erlanger. <?page no="276"?> Paul Hoser 276 Unterkunft sechsmal den Wohnsitz. Bis Dezember 1908 war er offenbar stets nur Untermieter. Über seinen folgenden beruflichen Werdegang gibt es keine Details. 1903 wohnte er im Haus Landwehrstraße 43, das der Firma „L & E Kronheimer“ gehörte. 8 Emanuel und Ludwig Kronheimer hatten in der Schwanthalerstraße 3 ein Kurz-, Weiß-, Wollwaren und Wäschegeschäft. 9 Vermutlich gab es einen Zusammenhang zu Erlangers Tätigkeit als Textilvertreter. Am 1. Oktober 1901 war er als Einjährigen-Freiwilliger zur 11. Kompanie des in Lindau stationierten 20. Infanterieregiments eingerückt, jedoch schon am 25. November desselben Jahres als dienstunbrauchbar entlassen worden. 10 Er war beruflich offenbar erfolgreich. Als Soldat im Krieg gab er im April 1918 an, er sei angestellter Vertreter und Teilhaber der Korsettfabrik „Rosenthal Fleischer & Cie“ im württembergischen Göppingen. Er bezog ein festes Gehalt von 12.000 Mark jährlich; dazu kamen Tantiemen in wechselnder Höhe. Sein Vermögen bezifferte er auf 30.000 Mark. 11 1907 waren 2.127 von 4.722, d.h. 45 Prozent der Münchner erwerbstätigen Juden im Handel beschäftigt. 12 Einer von ihnen war Erlanger. Die bayerische Landeshauptstadt hatte traditionell eine große Sogwirkung auf schwäbische Juden. 13 Als Erlanger 1898/ 99 zuwanderte, war überdies ein Wirtschaftsboom zu verzeichnen. 14 Bereits am 17. März 1910 war Erlangers Sohn Hugo Klemens in München geboren worden, fast zehn Jahre später, am 4. Februar 1920, der zweite Sohn Egon Ehrlich. Erst am 5. Mai 1920 heiratete Erlanger die Mutter seiner Kinder, Anna Eckl, eine katholische Münchnerin. 15 8 StdAMü, Adressbuch von München 1904, 404. 9 Ebd., 643. 10 Er litt unter einem Leistenbruch. BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Personalbogen und Kriegsstammrolle; militärärztliches Zeugnis vom 9.2.1918. 11 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Bericht des Majors und Kompanieführers von Stegemann (Augsburg) vom 26.4.1918. 12 F LEISCHER / N EUMEIER , Jüdische Akademiker und Unternehmer, 90. 13 Ebd., 103. 14 Ebd., 121. Zu den Juden in München in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: A NGERMAIR , Eine selbstbewußte Minderheit, 110-136. 15 Auskunft des StdAMü zu den beiden Söhnen, 30.7.2015; ferner StdAMü, Judaica/ Volkskarteikarte 742, Kennkartenkopie Erlangers, 11.8.1939 und Bestand Standesamt München II, M II B 1920/ 697. Anna Erlanger war am 31.12.1886 in München geboren und starb dort am 18. März 1950. Sie gehörte der katholischen Pfarrei St. Ursula an. BayHStA Abt. II, LEA 10512, Aktenvermerk, 5.6.1954, fol. 103, und Todesanzeige in: Süddeutsche Zeitung vom 20.3.1950. <?page no="277"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 277 2. Soldat im Ersten Weltkrieg Am 2. August 1914 meldete sich der inzwischen 35-jährige Erlanger als Kriegsfreiwilliger. Am 20. August kam er zur Ersatz Eskadron des 1. Schweren Reiter Regiments in München und wurde acht Tage später zum Unteroffizier befördert. Seine Einheit war in Frankreich eingesetzt. Am 16. Juni 1915 stieg er zum überzähligen, d.h. nicht planmäßigen Vizewachtmeister auf. Vom 27. Juli 1916 bis zum 6. Oktober dieses Jahres war er zum Divisionsstab der 12. Bayerischen Infanteriedivision ins Feld abkommandiert. Vom 6. bis zum 19. Oktober dieses Jahres war er bei der Ersatz Eskadron des 2. Schweren Reiter Regiments stationiert, am 20. wurde er zu der des 1. versetzt. Ab 21. September 1917 kam er auf eigenen Wunsch zum Ersatzdepot des 4. Chevauleger-Regiments in Augsburg. Er litt unter chronischen Gichtanfällen in den Gelenken der großen Zehen. 16 Deshalb war er auch vom Regimentsstab zum Ersatztruppenteil zurückversetzt worden. 17 Von seiner Augsburger Einheit aus wurde seine Beförderung zum Reserveleutnant beantragt. Schon 1916 war er wegen ganz besonderer Verdienste für einen Orden vorgeschlagen worden. Er erhielt dann auch das bayerische Militärverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern. Am 25. Januar 1918 wurde er zunächst mit Genehmigung des Leiters des stellvertretenden Generalkommandos beim I. Armeekorps, General Luitpold von der Tann, zum Offiziersaspiranten ernannt. 18 Schon am 19. September 1917 hatte ihm sein militärischer Vorgesetzter bei der Ersatz-Eskadron des 1. Schweren Reiter Regiments ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt. Er sei sehr fleißig, zuverlässig und sehr verwendbar gewesen. 19 Im Frontdienst war er als Remontereiter zur Dressur von Pferden eingesetzt. Als Wachtmeister habe er sich besondere Verdienste bei der Zusammenstellung und bei der Beförderung zahlreicher für das Feldregiment bestimmter Mannschaftspferde und Materialtransporte erworben. Seine Leistungen seien über den Rahmen gewöhnlicher Pflichterfüllung hinausgegangen. Wiederholt habe er Transporte in die vorderste Kampflinie geschafft. Bei der Aufstellung neuer Formationen habe er sich als gewissenhafter und eifriger Mitarbeiter erwiesen. Auch hatte er sich durch Werbetätigkeit für das Zeichnen von Kriegsanleihen bei seiner Einheit hervorgetan. Die günstigen Ergebnisse seien nicht zuletzt ihm zu verdanken gewesen. Allerdings erhoben sich von Anfang an Widerstände gegen die Beförderung Erlangers zum Offizier. Sie kamen nicht aus den Reihen der Ersatzeinheit in Augsburg, 20 bei der Erlanger stationiert war, sondern aus denen der Offiziere der Feldregimenter. 16 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Militärärztliches Zeugnis vom 9.2.1918. 17 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Beurteilung vom 19.9.1917. 18 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk von der Tanns vom 25.6.1918. 19 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Beurteilung vom 19.9.1917. 20 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, das positive Zeugnis vom 11.2.1918. <?page no="278"?> Paul Hoser 278 Ein Widersacher war der Rittmeister Klemens Graf Schenk von Stauffenberg 21 vom Stab des 1. Schweren Reiterregiments. Die Tatsache, dass Erlanger im Herbst 1914 für dessen Ersatzeinheit einen Bekleidungstransport unter schwierigen Verhältnissen in der Gegend von Wervicq (Belgien) bis dicht hinter die Gefechtslinien geführt habe, könne nicht als besonderer Verdienst anerkannt werden, weshalb seine Ernennung zum Offizier abzulehnen sei. 22 Dass Erlanger unter den Personen, die über ihn Auskunft geben konnten, auch den aus Göggingen stammenden liberalen Reichs- und Landtagsabgeordneten und Hauptmann der Reserve Dr. Friedrich Thoma 23 genannt hatte, der damals dem Stab des bayerischen Militärbevollmächtigten in Berlin angehörte, hatte offenbar keinen der Offiziere beeindruckt. 24 Auch im Offizierskorps des im Feld stehenden 4. Chevaulegerregiments wurde Widerstand spürbar. 25 Sein militärischer Vorgesetzter informierte ihn über die gegen ihn in den Offizierskreisen herrschende Stimmung. Man unterstellte ihm, er habe sich zum Ersatzdepot des 4. Chevaulegerregiments in Augsburg versetzen lassen, weil er gehofft habe, dort die Ernennung zum Offizier leichter zu bekommen als beim 1. Schweren Reiterregiment in München. Erlanger erklärte, unter diesen Umständen verzichten zu wollen und sich mit der weniger angesehenen Beförderung zum Offizier der Landwehr I des Trains zu begnügen. 26 Beim stellvertretenden Generalkommando kannte man allerdings den wahren Grund für den Widerstand gegen ihn: „Bei beiden Rgtrn. [Regimentern] ist der Grund zur Ablehnung darin zu suchen, dass E. Jude ist.“ 27 Auch 21 Zu Klemens Graf Schenk von Stauffenberg: Genealogisches Handbuch der Gräflichen Häuser, A, Bd. II, 392; Rangliste der Offiziere, 100. 22 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk Stauffenbergs vom 2.1.1918. 23 Er war von Beruf Rechtsanwalt und vertrat im Landtag den Stimmkreis Augsburg, im Reichstag den Wahlkreis Immenstadt. Im Krieg trat er für Durchhalten und einen Siegfrieden ein und verwarf wie die Nationalliberale Partei die Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917. Noch im September 1918 hielt er den Krieg nicht für verloren. Zu Friedrich Thoma: Haus der Bayerischen Geschichte, Internetportal: http: / / www.hdbg.de/ parlament/ content/ persDetail.php? id=2313&popH=864 (Zugriff am 16.11.2016); zu den Reichstagsprotokollen unter http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ bsb00003460/ images/ index. html? nativeno=388 (Zugriff am 16.11.2016); Augsburger Neueste Nachrichten vom 28.9. 1917; Tag- und Anzeigeblatt für Kempten und das Allgäu vom 10.9.1918. 24 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Ersatzdepot des 4. Chevaulegerregiments Augsburg an das Bezirkskommando München, 31.1.1918. 25 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk von der Tanns vom 25.6.1918. 26 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Bericht des Majors und Kompanieführers von Stegemann (Augsburg) vom 26.4.1918. 27 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk vom 6.7.1918. Zum Antisemitismus in dem von Adligen dominierten bayerischen Offizierskorps und zum Widerstand auch gegen die Beförderung von Juden zu Reserveoffizieren: R UMSCHÖTTEL , Das bayerische Offizierskorps, 238- 254. <?page no="279"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 279 General von der Tann bemerkte, der wahre Ablehnungsgrund sei „allzu offenkundig“. 28 Es sei ein Missgriff des Vorgesetzten von Erlanger gewesen, dass er diesen informiert habe, statt vorher nach oben zu berichten und um eine Entscheidung zu bitten. Es bestehe jetzt die Gefahr, dass, auch ohne Erlangers Zutun, die Sache öffentlich bekannt werde und zu unliebsamen Erörterungen in der Öffentlichkeit führe. Wegen seiner außerordentlichen Verdienste sei es nur recht und billig, dass er beim 1. Schweren Reiterregiment Offizier werde und zwar mit der Uniform, wie sie die aktiven Offiziere dieses Regiments trugen, da es in Bayern keine Uniform der Landwehrkavallerie, also für Reserveoffiziere, gebe. Er solle deshalb wieder zur Ersatzeskadron des 1. Schweren Reiterregiments zurückversetzt werden, 29 falls das Kriegsministerium zustimme. Der Personalchef des Kriegsministeriums 30 gab die Weisung, seine Beförderung beim König zu beantragen. Sobald sie beschlossen war, sollte er wieder nach Augsburg kommandiert werden. Am 30. Juli 1918 erhielt Erlanger dann den Offiziersstatus. Sein Vorgesetzter beurteilte ihn im Januar 1919 sehr günstig: „Während seiner Zugehörigkeit zu meiner Formation war die Verwendung des Erlanger eine vielseitige. Er war sowohl in der Ausbildung von Mannschaften, als stellvertretender Adjutant und als Demobilmachungs-Offizier tätig. In jeder dieser Verwendungen leistete er stets vorzügliches und unterstützte mich in meiner verantwortungsvollen Stellung auf’s beste. Durch sein liebenswürdiges, entgegenkommendes und respektvolles Wesen, verbunden mit tadellosen Umgangsformen, war er im Offizierslager ein sehr beliebter Kamerad.“ 31 3. Erlanger als Textilkaufmann und Hausbesitzer 1919-1934 Erlangers materielle Lage war nach seinem Ausscheiden beim Militär zunächst alles andere als günstig. Am 11. Februar 1919 bestätigte die Korsettfabrik „Rosenthal Fleischer & Cie“, dass sie ihm als ihrem langjährigen Vertreter für die nächsten Monate wegen des Rohstoffmangels keine aussichtsreiche Tätigkeit bieten könne. 32 So blieb ihm nichts anderes übrig, als bei der Militärverwaltung einen Antrag auf Zahlung des 28 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk von der Tanns vom 25.6.1918. 29 Dies war am 13. Juli 1918 der Fall. 30 Maximilian Freiherr von Speidel. Zu ihm: H ACK , Bayerische Kriegsakademie, 578. D ERS ., Der bayerische Generalstab, 366. 31 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Zeugnis von Stegemanns vom 31.1.1919. 32 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Bescheinigung der Firma „Rosenthal Fleischer & Cie“ vom 11.2.1919. <?page no="280"?> Paul Hoser 280 halben Solds zu stellen, der in solchen Fällen üblicherweise gewährt wurde. 33 Es handelte sich um monatlich 112 M. 34 Erlanger gab im März 1919 an, während des Kriegs seine Ersparnisse völlig aufgebraucht zu haben und zurzeit ohne jeden Verdienst zu sein. Er lebe von den geringen Zuschüssen, die er von seinen Eltern erhalte. Es scheint aber, dass er bald wieder erfolgreich in seinem Beruf Fuß fassen konnte und nicht auf den Sold angewiesen war. 35 Schon ab 1. April 1919 war er wieder berufstätig. 36 Seit 1. Oktober 1919 hatte er im Erdgeschoss des Mietshauses Thierschstraße 41 im Stadtteil Lehel eine Niederlassung, in der er mit Herrenbekleidung und Sportartikeln handelte. 37 Am 31. Oktober 1921 kaufte er das Haus von der Witwe des Kupferschmieds Karl Schweyer, Anna Schweyer, der es seit 1899 gehörte. 38 1870 war für das Lehel noch seine arme Bevölkerung typisch. 39 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen aber eine Reihe von staatlichen Verwaltungseinrichtungen dort ihren Sitz. Dazu gesellten sich einige hochspezialisierte Firmen von internationalem Rang und Kunst- und Antiquitätenhändler in der Maximilianstraße. Die Gewerbedichte sank von 1895 bis 1907 und war eher unterdurchschnittlich. Das Baugewerbe war abgewandert. Die hochwertige Industrie, darunter auch die Bekleidungsindustrie, verdrängte die Billigindustrie. Typisch war auch die starke Zunahme des Versicherungsgewerbes. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Lehel praktisch das Versicherungsviertel Münchens. Als Wohnviertel war es von Angehörigen der Oberschichten und oberen Mittelschichten geprägt. Es war insbesondere ein bevorzugter Wohnstandort von Witwen aus der Oberschicht und von Privatiers sowie Angehörigen des Bildungsbürgertums. 33 BayHStA, Abt. IV, OP 19069, Vermerk vom 22.3.1919. 34 Das war etwa ein Zehntel seines Vorkriegsgehalts, wobei die Geldentwertung nicht berücksichtig ist. 35 Zur Lage der Juden in München in der Zeit der Weimarer Republik: S PECHT , Zerbrechlicher Erfolg, 137-160. 36 BayHStA, LEA 10512, fol. 26, Antrag auf Bewilligung eines Darlehens vom 25.3.1952. 37 StdAMü, PMB Hugo Erlanger. 38 Staatsarchiv München (StAM), Kataster 12655, Bl. 936 1/ 5. Der Eintrag ins Grundbuch erfolgte am 8. November 1921. Zu dem heute unter der Nummer D-1-62-000-6909, 776, in die Liste der Münchner Baudenkmäler eingetragenen Haus vgl. unter Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Baudenkmäler München: http: / / geodaten.bayern.de/ denkmal_static_data/ externe_denkmalliste/ pdf/ denkmalliste_merge_162000.pdfBayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Baudenkmäler München (Zugriff am 16.11.2016); ferner StdAMü, KA 3988, Erlanger an Thomas Wimmer, 3.3.1952, sowie Städtisches Bewertungsamt für Anwesen, Grundstücke, Mieten und Pachten an Referat 10, 29.2.1953, sowie Antrag des Rechtsanwalts Neuland an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim vom 14.9.1948, Punkt 39 b; ebd. und auch in StAM, WB I a 773, fol. 2. 39 Zum Folgenden: N EUMEIER , München um 1900, 141-146. <?page no="281"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 281 1910 waren im Lehel 5,1 Prozent der Bevölkerung Juden. Nur das Kreuzviertel und das Wiesenviertel hatten einen noch höheren Anteil. 40 Erlanger war nicht der einzige jüdische Hausbesitzer in der Thierschstraße. Das Haus Nummer 4 gehörte dem Kaufmann Leonhard Arnold, 41 Nummer 5 dem Kaufmann Sigmund Bacharach, 42 Nummer 7 Therese Mohr, 43 Nummer 8 der Firma A. Rothenheim OHG, einer Farbenfabrik, 44 Nummer 11 den Inhabern dieser Fabrik, Julius und Siegfried Rothenheim, Nummern 22 und 24 dem Arzt Dr. August Feuchtwanger und dem Rechtsanwalt Dr. Emil Fränkel 45 und Nummer 25 dem Kaufmann und Großhändler Kommerzienrat Siegfried Fränkel. 46 Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger lebte nach 1915 zeitweise in der Thierschstraße 44. 47 In dieser Straße wohnten und arbeiteten eine Reihe jüdischer Geschäftsleute, denen man unter der Herrschaft des Nationalsozialismus die Existenzgrundlage nahm: 48 im Haus Nummer 22/ III der Textilvertreter Jakob Münster, der 1941 in Kaunas ermordet wurde, im selben Haus im ersten Stock Abraham Hofmann, Mitinhaber des Bankgeschäfts Hofmann und Wechsler KG, dem die Emigration nach England gelang, auf 4/ I Hermann Maas, Großhändler für Textilwaren Fertigfabrikate und Rohstoffe, dem man in Dachau die Zustimmung zur Liquidierung seines Geschäfts durch 40 Ebd., 246, 250. In München waren 1907 insgesamt 54,04 Prozent der jüdischen Erwerbstätigen im Bereich Handel und Verkehr tätig, 1933 waren es 51,1 Prozent; vgl. R APPL , „Arisierungen“ in München, 127. 41 StAM, Kataster 12655, Bl. 197-199. 1924 erbte seine Witwe Johanna, geb. Dispecker, das Haus, das die Reichsfinanzverwaltung am 16.6.1942 einzog. Sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden, Bd. 1, 63. 42 StAM, Kataster 12655, Bl. 1095. Seine Witwe verkaufte das Haus 1939. 43 StAM, Kataster 12655, Bl. 1090. 1939 erbten das Haus Frieda Mohr und Paula Lebermann. Frieda Mohr wurde 1943 in Theresienstadt umgebracht (Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden, Bd. 2, 120f.), die in Augsburg lebende Paula Lebermann in Auschwitz. Zu Paula Lebermann: Bundesarchiv, Gedenkbuch unter https: / / www.bundesarchiv.de/ gedenk buch/ directory.html.de? result#frmResults (Zugriff am 16.11.2016). 44 StAM, Kataster 12655, Bl. 1090. Im Zug der „Wiedergutmachung“ erhielt die Firma 1952 das 1939 verkaufte Haus zurück. 45 StAM, Kataster 12655, Bl. 186. Beide verkauften das Haus 1934. Dr. August Feuchtwanger emigrierte und starb 1938 in Jerusalem, J ÄCKLE , Schicksale, 64. Justizrat Dr. Emil Fränkel wanderte ebenfalls nach Palästina aus und starb 1942 in Haifa: W EBER , Schicksal, 230. 46 StAM, Kataster 12655, Bl. 1090. Seine Witwe Charlotte verkaufte es 1934. 47 H EUSLER , Lion Feuchtwanger, 82; Lion Feuchtwangers Familie wohnte vor der Jahrhundertwende am St. Annaplatz, den die Thierschstraße kreuzt, auf Nummer 2, ebd., 36f.; vgl. S PECHT , Die Feuchtwanger Familie, 96, 171f., 401. Im Lehel wohnten diverse Angehörige der Familie Feuchtwanger. Dazu W EYERER , München 1919-1933, 60f. 48 S ELIG , „Arisierung“ in München, 120, 143f., 405f., 661f., 680f., 690. Bei sämtlichen der genannten Häuser waren die Eigentümer Juden. <?page no="282"?> Paul Hoser 282 Treuhänder abpresste, 49 und auf Nummer 5/ III Samuel Hahn, der seine Agentur für Textilwaren abmelden musste und dann nach Palästina emigrierte. In diesem Haus wohnte zeitweise auch Moritz Bender, der sich ohne festen Beruf durchschlug und 1942 in Piaski umkam. Ebenso lebte Isaak Nördlinger, dem die Weiterführung seiner Tabakwarenagentur untersagt wurde, zeitweise in einem Haus in der Thierschstraße. Der Kaufpreis für Erlangers Haus betrug 205.000 M. 50 Auf dem Anwesen lag schon seit 1896 eine Hypothekenschuld von 96.000 M zugunsten der Stadtgemeinde München, die Erlanger übernahm. 51 Er zahlte sie aber auf dem Höhepunkt der Inflation im August 1923 zurück. Auf Grund des Aufwertungsgesetzes war sie allerdings nicht völlig getilgt, sondern betrug noch 23.410,87 Goldmark. 1922 gewährte die Stadt Erlanger zusätzlich ein Darlehen von 34.000 M gegen eine hypothekarische Absicherung. Dieses zahlte er mit 25 Prozent des Goldmarkbetrages, d.h. 200 Goldmark, im September 1924 zurück. Vor dem Ende der Inflation lasteten also 130.000 M Schulden auf dem Haus. Danach nahm Erlanger weitere Kredite bei der Darmstädter Bank und bei der städtischen Sparkasse auf. Der Kredit der Sparkasse betrug 15.000 RM. Im November 1925 gewährte diese Erlanger eine Hypothek an erster Stelle in Höhe von 50.000 RM. 52 Ausgezahlt wurden nur 93 Prozent, der Zinssatz war mit zehn Prozent sehr hoch, wurde aber auf Erlangers Antrag vom 1. März 1927 ermäßigt. Er sollte ab 1. Juli nur noch eineinhalb Prozent über dem jeweiligen Reichsbankdiskontsatz für Zinsen liegen. 53 Mit diesem neuen Darlehen zahlte Erlanger alle bisherigen Hypotheken zurück. 54 1927 nahm Erlanger zu der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Hypothek ersten Rangs von 50.000 RM noch eine Weitere von 20.000 RM zweiten Rangs aus Fondsmitteln der Stadt München auf. Eine zusätzliche Briefgrundschuld dritten Rangs in Höhe von 15.000 RM bestand noch zugunsten des Bankhauses Schneider & Münzing, sodass also insgesamt 85.000 RM Belastung vorhanden waren. 49 Einzige Konzession war, dass an deren Stelle seine nicht jüdische Ehefrau die Abwicklung vornehmen konnte. 50 Nach dem Katastereintrag StAM, Kataster 12665, Bl. 936 1/ 5. Im späteren Schreiben des Rechtsanwalts Siegfried Neuland vom 14.9.1948 an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim ist von 229.000 M die Rede, StAM, WB I a 773, fol. 2, und StdAMü, KA 3988. Dagegen ist die Summe in dem Schreiben des Oberrechtsrats der Landeshauptstadt München, Dr. Heinz Sauter, vom 12.4.1949 an die Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern (ebd.) korrekt mit derselben Höhe wie im Kataster angegeben. 51 Zum Folgenden: StdAMü, KA 3988, Sauter an Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 12.4.1949. 52 Zum Folgenden: StdAMü, KA 3988, Übersicht bezüglich der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 [Darstellung der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949]. 53 Zum jeweiligen Reichsbankdiskontsatz zwischen 1927 und 1930: P ETZINA / A BELSHAUSER / F AUST , Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, 71f. 54 Die Rückzahlung der Aufwertungshypothek von 23.410,87 Mark kostete ihn entsprechend dem Aufwertungsgesetz nur 18.227,70 RM. <?page no="283"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 283 Erlanger hatte zusätzliches Geld gebraucht, nicht nur um den Kaufpreis aufzubringen, sondern auch, um das Haus instand zu setzen, an dem zwanzig Jahre keine Reparaturen mehr vorgenommen worden waren. 55 Er ließ die Läden und Werkstätten ausbauen, die Wohnungen verbessern, elektrisches Licht im Rückgebäude installieren, neue Waschkessel im Waschhaus setzen, die Metalldächer und das Treppenhaus neu streichen und zusätzlich ein Glasdach anbringen. Erlanger verfügte zunächst über genug Einkommen und Mieteinnahmen, sodass er Zinsen und Tilgung regelmäßig bezahlen konnte. Er selbst bezog am 1. März 1922 eine Wohnung in seinem Haus, in dem er ohnehin schon vor dem Kauf den Laden gemietet hatte. 56 Er war Alleininhaber der Firma „Hugo Erlanger“, mit der er Vertretungen für Sport-, Mode und Reiseartikeln übernommen hatte und ein Musterlager führte. Mit all diesen Artikeln betrieb er einen Großhandel. Schon vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise geriet Erlanger in finanzielle Schwierigkeiten. Bereits Anfang 1928 war er mit den Zinszahlungen für die Hypothekendarlehen im Rückstand. Die Krise untergrub die Existenz vieler im Großhandel tätiger Kaufleute. Erlanger wurde immer mehr in ihren Strudel hineingezogen. 57 Am 10. Januar 1930 wurde vor dem Amtsgericht München über sein Vermögen das Konkursverfahren eröffnet, und der Rechtsanwalt Dr. Stephan Ulrich zum Konkursverwalter bestellt. 58 Erlanger konnte natürlich auch die Hypothekenzinsen nicht mehr begleichen, zumal angesichts der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse die grossen Wohnungen des Hauses zum Teil nicht vermietbar waren. 59 Es gelang ihm immerhin, seine übrigen Gläubiger in einem Zwangsvergleich abzufinden, wonach das 55 StAM, WB I a 773, Antrag Neulands an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim vom 14.9.1948, Punkt 27, und StdAMü, KA 3988. 56 StdAMü, PMB Hugo Erlanger. 57 StdAMü, KA 3988, Finanzreferat der Stadt München an die Aussenstelle des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, München, 7.1.1948. 58 Zeitungsnotiz in: StdAMü, PMB Hugo Erlanger. Im Vermerk des Referats 10 der Stadt München vom 18.12.1945, StdAMü, KA 3988, ist dagegen ein Dr. Urban genannt. Die auf das Haus bezüglichen Schulden betrugen zum Zeitpunkt des Konkurses in Reichsmark: Stadtfondskasse 20.958,33 Sparkasse 50.681,33 Kontokorrentforderung der Sparkasse gesichert durch Grundschuld von 4.500 (aus einem am 19.5.1926 bewilligten Wechselobligo von 2.500) 1.024,58 Schneider & Münzing 18.000,00 Finanzamt wegen rückständiger Grund- und Haussteuer 3.821,25 2.046,00 StdAMü, KA 3988, Übersicht der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 (nach Angaben der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949). 59 Ebd. sowie Vortrag des Stadtrats Erhart vor dem Stadtrat vom 19.7.1949 und Ratsprotokolle 722/ 3, fol. 3133f. <?page no="284"?> Paul Hoser 284 Konkursverfahren am 21. Juli 1931 aufgehoben wurde. 60 Die Hypothekenforderungen waren nicht Teil der Konkursmasse. Die Stadt München erklärte sich durch Beschluss des Hauptausschusses des Stadtrats vom 5. März 1931 bereit, den Zinssatz auf sechs Prozent zu ermäßigen, wofür der Zwangsvergleich Voraussetzung gewesen war. 61 Da die Stadt angesichts der Krise mit einem schlechten Ertrag rechnete, hatte sie noch keine Zwangsversteigerung beantragt, obwohl sie schon im Frühjahr 1931 diesen Weg erwogen hatte. Auch war das Bankhaus Schneider & Münzing auf Grund der Vereinbarung mit dem Konkursverwalter nicht dazu bereit; die bis dahin bestehenden Hypothekenrechte der Stadt und ihrer Sparkasse wären durch das Verfahren nicht mehr gesichert gewesen. 62 Der Konkursverwalter hatte Josef Miedanner als Hausverwalter eingesetzt. 63 Dieser informierte im Herbst die Sparkasse, dass Erlanger auch die Miete für die von ihm im Haus selbst genutzten Räume schon längere Zeit schuldig geblieben sei. 64 Die von Miedanner vorgelegten Auszüge über die monatlichen Mietzahlungen wurden von der Stadt nicht geprüft. Es stellte sich schließlich heraus, dass er das Geld für die Hauszinssteuer unterschlagen hatte. Als dies aufflog, beging er Selbstmord. 65 Erlanger haftete nach seiner Aussage für die auf rund 5.200 RM angewachsene Steuersumme, für die die Stadt die Verantwortung ablehnte. 66 Nach Miedanners Tod beschloss der Stadtrat am 3. Dezember 1931, die Verwaltung wieder an Erlanger zurückzugeben. 67 Auch der Sparkassenausschuss entschied am 18. Februar 1932 in diesem Sinn. 68 Er war ferner bereit, den Zins zu ermäßigen, die Tilgung vorläufig auszusetzen und auf den noch ausstehenden Verwaltungskostenbeitrag zu verzichten. 60 Zeitungsnotiz in: StdAMü, PMB Hugo Erlanger. 61 StdAMü, KA 3988, Übersicht der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 (nach Angaben der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949). Da der Reichsbankdiskont, nach dem sich der von Erlanger zu zahlende Zins richtete, damals fünf Prozent betrug, Erlanger also 6,5 Prozent zu zahlen hatte, betrug die Senkung ein halbes Prozent. 62 Ebd. 63 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 der Stadt München vom 18.12.1945 und Übersicht der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 (nach Angaben der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949). Zu Josef Miedanner, dessen Geschäft Hausverwaltungen sowie Immobilien- und Hypothekenvermittlungen waren: Adreßbuch der Stadt München und Umgebung 1929, 626. 64 StdAMü, KA 3988, Übersicht der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 (nach Angaben der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949). 65 StdAMü, KA 3988, Eidesstattliche Erklärung Erlangers vom 9.6.1949. 66 Ebd. und StdAMü, KA 3988, Vortrag des Stadtrats Erhart vor dem Stadtrat vom 19.7.1949; auch in: StdAMü, Ratsprotokolle 722/ 3, fol. 3133f. 67 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 der Stadt München vom 18.12.1945. 68 StdAMü, KA 3988, Übersicht der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 (nach Angaben der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949). <?page no="285"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 285 Dennoch besserte sich die Lage nicht. Bis 1. Juli 1932 hatten sich 2.700 RM Schulden Erlangers bei der städtischen Fondskasse und 9.131,79 RM bei der Sparkasse angehäuft. 69 Auf Antrag der Sparkasse erwirkte die Stadt am 19. November 1932 die Zwangsverwaltung des Hauses. Auch der neue Zwangsverwalter konnte keine nennenswerten Zahlungen für die Verringerung der Schulden leisten, da für die Teilung einer großen Wohnung zur besseren Vermietbarkeit Mittel aufgewendet werden mussten. 70 Zeitweise standen 1932 außer Erlangers eigener alle Wohnungen im Haus leer. 71 Am 26. September 1933 beliefen sich die Rückstände der Zinszahlungen für das Sparkassendarlehen auf 10.525,54 RM. Es hätte nach dem damaligen Stand der laufenden Einnahmen, von denen nach Abzug der Verpflichtungen noch ein monatlicher Betrag von 500 RM übrig blieb, zwanzig Jahre gedauert, bis die Rückstände getilgt gewesen wären. 4. Die Zwangsversteigerung von Erlangers Haus im Jahr 1934 Die Stadt betrieb schließlich nach einem Beschluss des Stadtrats vom 23. November 1933 doch die Zwangsversteigerung. 72 Nach Prüfung durch das Notariat München XV vom 15. März 1934 wurde sie auch genehmigt. Erlanger schaltete den Rechtsanwalt Dr. Michael Siegel ein, 73 der am 21. März 1934 beim Amtsgericht München dagegen Einspruch erhob. Die inzwischen von den Nationalsozialisten beherrschte Stadtverwaltung erwiderte am 12. April: „Mit Entschiedenheit müssen wir uns gegen 69 StAM, WB I a 773, fol. 15, Dr. Heinz Sauter an die Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 12.4.1949 sowie StdAMü, KA 3988; nach dem Schreiben des Finanzreferats der Stadt München (Kämmerer Hielscher) an die Aussenstelle des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, München, 7.1.1948, ebd., bestand der erstgenannte Schuldbetrag zum 7.9.1932, der zweite zum 21.11.1932. 70 StdAMü, KA 3988, Vortrag des Stadtrats Erhart vor dem Stadtrat vom 19.7.1949, auch in: StAMü, Ratsprotokolle 722/ 3, fol. 3133f. Aus Erlangers Sicht gingen diese kostspieligen Umbauten zweier Stockwerke zu seinen Lasten, während kleine Veränderungen genügt hätten, um die leerstehenden Wohnungen vermieten zu können. StdAMü, KA 3988, Eidesstattliche Erklärung Erlangers vom 9.6.1949. 71 StAM, WB I a 773, fol. 15, Dr. Heinz Sauter an die Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 12.4.1949 und StdAMü, KA 3988. 72 StAM, WB I a 773, Referat 10 der Stadt München (Rechtsabteilung) an Finanzreferat, 4.10.1945. 73 Zu Michael Siegel: W EBER , Schicksal, 259. Siegel war bereits am 10. März 1933 misshandelt und von SS-Leuten barfuß und mit einem umgehängten Schild durch die Stadt getrieben worden, weil er bei der Polizei für seinen Klienten Max Uhlfelder gegen die Verwüstung und Plünderung von dessen Kaufhaus protestiert hatte. <?page no="286"?> Paul Hoser 286 eine derartige undeutsche Umstellung des Sachverhalts wenden.“ 74 Siegel hatte die Höhe der von der Stadt geforderten Zinsen beanstandet. Am 28. September 1934 erfolgte die Zwangsversteigerung. Es waren sieben Interessenten anwesend, darunter auch die beiden Inhaber des Bankhauses Schneider & Münzing. 75 Nach dem Krieg behauptete die neue Stadtverwaltung, dass keiner von ihnen ein Gebot abgegeben habe; auch die Stadt selbst habe das Objekt nur notgedrungen eingesteigert, um ihre Forderung zu retten. Nach Erlangers Schilderung hatten dagegen die Privatbankiers Schneider und Münzing sehr wohl Interesse an dem Haus gezeigt. Dr. Christian Müller, habe ihnen aber seitens der Stadtverwaltung kurz vor der Versteigerung mitgeteilt, dass die Stadt es unter allen Umständen haben wolle, so dass ein Gebot ihrerseits zwecklos sei. Würde ein anderer das Objekt ersteigern, werde man sofort die Hypotheken fällig stellen. 76 Der Versteigerungserlös, den die Stadt aufzubringen hatte, betrug 61.084,80 RM. 77 Nach Abzug der Zinsrückstände etc. blieben noch 20.961,37 RM. Die Hypothek der Sparkasse blieb bestehen und wurde von der Stadt übernommen. 78 Sie wurde bis Kriegsende mit Hilfe der Einnahmen aus dem Haus reduziert, die Hypothek aus den Fondsmitteln lastete dagegen in voller Höhe weiter auf dem Anwesen. 79 Seit dem 22. März 74 Vermerk des Referats 10 der Stadt München vom 18.12.1945; Neuland an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 14.9.1948, Punkt 31. StAM, WB I a 773. Beides auch in: StdAMü, KA 3988. 75 StdAMü, KA 3988, Vermerk des berufsmäßigen Stadtrats Herrenberg (Werk- und Fiskalreferat der Stadt München) vom 18.5.1949. 76 StdAMü, KA 3988, Eidesstattliche Erklärung Erlangers vom 9.6.1949; StAM, KA 3988, Vortrag des Stadtrats Erhart vor dem Stadtrat vom 19.7.1949, auch in: StdAMü, Ratsprotokolle 722/ 3, fol. 3133-3135. StAM, WB I a 733, fol. 24f., Neuland an Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 28.5.1949. 77 Die hypothekarischen Belastungen zum Zeitpunkt der Versteigerung (ohne Zins- und Steuerrückstände) waren unverändert gegenüber 1930. StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 vom 13.6.1949. Die Mittel für die Bezahlung der Einsteigerungskosten stammten aus der „Rücklage zur Rückversicherung der Stadt beim Versorgungsverband“, später „Rücklage zur Schaffung eines Erholungsheims für Beamte, Angestellte und Arbeiter“. StdAMü, KA 3988, Finanzreferat der Landeshauptstadt München an Referat 10, 2.11.1945. 78 Sie betrug noch 44.772,45 RM. StdAMü, KA 3988, Übersicht der Entwicklung der fortschreitenden Verschuldung des Hugo Erlanger seit dem Jahre 1930 (nach Angaben der Städtischen Sparkasse vom 4.4.1949). 79 An Mieteinnahmen hatte die Stadt für das Haus Thierschstraße 41 vom 1.10.1934 bis 30.6.1948 90.552 RM, an Aufwendungen, wobei der größte Posten die Steuern waren, sodass ein Plus von 4.448 RM blieb. Am 9.1.1948 betrug die Sparkassenhypothek noch 34.064,22 RM, die Stiftungshypothek 20.000 RM. Für Kapitalrückzahlung, alte Zinsrückstände vor der Versteigerung und damals angefallene Strafgelder sowie die nach der Versteigerung angefallenen Zinsen hatte die Stadt 67.224,26 RM aufgewendet, was nach der Währungsreform <?page no="287"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 287 1935 war die Stadtgemeinde München als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen. 80 Für Erlanger war von dem Haus nichts geblieben. 81 Während des Kriegs erlitt es im Oktober 1943 einen Fliegerschaden von 20 Prozent und am 25. Februar 1945 einen noch schwereren von 50 Prozent. 82 Im Frühjahr 1946 war es teilweise wieder instandgesetzt, sodass der Schaden nur mehr auf 20 Prozent geschätzt wurde. 83 5. Erlangers Schicksal zur Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus In den ersten Jahren des Nationalsozialismus hatte Erlanger seine Geschäfte einstweilen weiterbetreiben können. Die Stadt kündigte ihm aber im Sommer 1938 auch die Wohnung in der Thierschstraße 41. 84 Den dortigen Laden hatte er offenbar schon früher aufgeben müssen. Er zog zu seinem gleichnamigen Sohn in die Simmernstraße 12. Dieser war wie er selbst Handelsvertreter für Textilwaren 85 und hatte einen Laden in der Thierschstr. 19. Ein Umzug galt als Neugründung einer Firma, die nur mit einer Sondergenehmigung der Regierung von Oberbayern möglich war. Am 9. August 1938 ließ Hugo Erlanger Sen. beim Registergericht seine Firma „Hugo Erlanger“ löschen. Die Regierung von Oberbayern begnügte sich aber nicht mit der Aufgabe 6.722,43 DM ausmachte; StdAMü, KA 3988, Abrechnung vom 1.10.1934-30.6.1947, Vermerk des Referats 10 vom 13.6.1949, vgl. auch ebd. die Aufstellung der Kosten und der Einnahmen von 1941-1947 vom 27.3.1947. 80 StAM, Kataster 12665, fol. 936 1/ 5. 81 Nach seiner Darstellung verlangte die Stadt weiterhin die Zahlung der Hypothekenzinsen von ihm. StdAMü, KA 3988, Eidesstattliche Erklärung Hugo Erlangers vom 1.10.1945. Diese Zahlungen tauchen in den Aufstellungen der Stadt nach 1945 nicht auf. 82 Wahrscheinlich handelte es sich um den Großangriff der Royal Air Force in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1943. Den Angriff vom 25. Februar 1945 führte die US Air Force durch. P ERMOOSER , Luftkrieg, 175-178, 331-333, 380f. und 386f. 83 StdAMü, Rechtsamt 342, Betr. Erstattung von Anzeigen gemäß Gesetz Nr. 59 der Militärregierung über die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände, 3.5.1948. 84 Zum Folgenden: S ELIG , Rassenwahn, 258f.; DERS ., „Arisierung“ in München, 101f. Die dort genannte Signatur Gewerbeamt 177 b ist offenbar nicht mehr gültig. In die Wohnung zog der SS-Standartenführer Bruno Rach. W EYERER , München 1919-1933, 56; Rach war Postsekretär und Spezialist für Nachrichtentechnik. Die SS erwirkte seine laufende Freistellung und ließ ihn am 1. Januar 1938 von Dresden nach München dem Stab des SS-Oberabschnitts Süd als Nachrichtenverbindungsreferenten zuteilen. Da er in München zunächst keine Wohnung fand, sorgte die SS dafür, dass er die von Erlanger erhielt. Zum 1. Dezember 1939 wurde er nach Berlin versetzt. StAM Spruchkammern, K 1367, Bruno Rach, Lebenslauf Rachs vom 10.5.1948. 85 Er hatte eine Provisionsvertretung in Textilwaren und einen Großhandel mit Herrenkragen und Sportstrümpfen und agierte in enger Zusammenarbeit mit seinem Vater. <?page no="288"?> Paul Hoser 288 seines Status als Firmeninhaber und Einzelkaufmann. 86 Sie verlangte auch die Abmeldung seiner Tätigkeit als Gewerbetreibender, die am 17. September 1939 rückwirkend zum 1. Juli 1938 erfolgte. 87 Die Regierung beschloss dann jedoch, den Fall wegen der Grundsätzlichkeit der Frage des Wohnungswechsels von Vertretern dem Reichswirtschaftsministerium zur Entscheidung vorzulegen. Bis dahin durfte Erlanger seine Gewerbetätigkeit vorläufig wieder anmelden, was er am 30. August tat. 88 Das Reichswirtschaftsministerium entschied am 12. Oktober 1938, dass eine Wohnungsänderung dann keine Verlegung eines Gewerbebetriebs bedeute, wenn das Gewerbe außerhalb der Wohnung ausgeübt werde. Es sei zu prüfen, ob Erlanger einen Wandergewerbeschein, einen Stadthausierschein oder eine Legitimationskarte benötige. 89 Die Direktion der städtischen Bezirksinspektion meldete aber am 29. Dezember 1938, dass Erlanger keiner gewerblichen Tätigkeit mehr nachgehe. Vom 1. Oktober bis zum 10. November 1938 habe er sein Gewerbe nur noch gelegentlich und auch nur innerhalb Münchens ausgeübt. Er halte seit diesem Tag jede gewerbliche Tätigkeit seinerseits für aussichtslos. Seine Gewerbelegitimationskarte hatte er bereits dem Gewerbeamt zurückgeschickt, die Abmeldung des Gewerbes wollte er in den nächsten Tagen durchführen. 90 Er war nun gänzlich auf den Unterhalt durch seinen Sohn angewiesen. 91 Die zuständige Bezirksinspektion beabsichtigte, auch dessen Betrieb lahmzulegen. Dies schien ihr zufolge geboten, wenn ein wesentlicher Teil des Umsatzes aus der Vertretung einer jüdischen Firma stammte, was bei Erlanger der Fall sei. 92 Der Gauwirtschaftsberater der Gauleitung der NSDAP München-Oberbayern stellte jedoch fest, Erlanger jun. sei jüdischer Mischling ersten Grades. Er habe glaubhaft versichert, 86 Zur Unterbindung der wirtschaftlichen Aktivität von Juden in München allgemein: S CHOTT , Ausschaltung 149-161; R APPL , „Arisierungen“ in München. Zu Deutschland insgesamt: G ENSCHEL , Verdrängung der Juden; B ARKAI , Boykott; L UDWIG , Boykott; M ÖNNINGHOFF , Enteignung. 87 StdAMü, Gewerbeamt, Akte Hugo Erlanger sen., Vormerkung vom 7.10.1938 (offenbar Erlanger zur Kenntnis vorgelegt und von ihm unterschrieben). 88 StdAMü, Gewerbeamt, Akte Hugo Erlanger sen., Gewerbeamt an Regierung von Oberbayern, 7.10.1938. 89 StdAMü, Gewerbeamt, Akte Hugo Erlanger sen., Vormerkung des Gewerbeamts der Stadt München vom 17.12.1938. 90 Seit Januar 1938 hatte sich die Stadt München generell geweigert, die Gewerbelegitimationskarten von Juden zu verlängern. München war damit vorgeprescht, denn es gab noch keine gesetzliche Grundlage dafür. R APPL , Arisierungen, 147f. 91 StdAMü, Gewerbereferat, Akte Hugo Erlanger sen., Vermerk der Bezirksinspektion des 27. Stadtbezirks vom 29.12.1938. 92 StdAMü, Gewerbereferat, Akte Hugo Erlanger jun., Vormerkung der Bezirksinspektion des 13. Stadtbezirks vom 3.10.1938. <?page no="289"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 289 dass sein Vater seine geschäftliche Tätigkeit nicht bestimme. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass er unter beherrschendem jüdischen Einfluss stehe. 93 In diesem Sinn argumentierte auch die Industrie- und Handelskammer München. 94 Mit Hilfe eines Rechtsanwalts konnte Hugo Erlanger jun. auch erreichen, dass die Eintragung in die Liste der jüdischen Gewerbebetriebe rückgängig gemacht wurde. 95 Hugo Erlanger sen. hatte guten Grund, den 10. November 1938 als das Datum zu nennen, seit dem er ein erfolgreiches Weiterarbeiten für aussichtslos hielt: An diesem Tag war er um 13.30 Uhr von der Münchner Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau geschafft worden. 96 Einen Monat später, am 10. Dezember 1938, wurde er wegen seiner Vergangenheit als Frontkämpfer wieder entlassen. Auch 93 StdAMü, Gewerbereferat, Akte Hugo Erlanger jun., Gauwirtschaftsberater Dr. Buchner an städtisches Gewerbeamt München, 10.10.1938. 94 StdAMü, Gewerbereferat, Akte Hugo Erlanger jun., Industrie und Handelskammer München an städtisches Gewerbeamt, 10.10.1938. 95 StdAMü, Gewerbereferat, Akte Hugo Erlanger jun., Rechtsanwalt Dr. Josef Grünwald an städtisches Gewerbeamt, 8.12.1938 und Stadtverwaltung an Dr. Josef Grünwald, 23.3.1939. 96 Erlanger gab an, er sei am 9.11.1938 auf Grund der „Judenaktion“ von Goebbels um 13.30 Uhr verhaftet worden. Dies kann aber nicht stimmen. Um 16.30 Uhr war der Botschaftssekretär vom Rath als Folge des Revolverattentats von Herschel Grynszpan in Paris gestorben. Hitler, der sich in München aufhielt, wurde sofort telefonisch verständigt. Nach der antijüdischen Hetzrede von Goebbels im Bürgerbräukeller gegen 22.30 Uhr setzten dann in München die vom ehemaligen Stoßtrupp Hitler organisierten Ausschreitungen und Zerstörungen ein. Heydrich befahl um 1.20 Uhr nachts möglichst viele, nicht zu alte, wohlhabende Juden zu verhaften und ins Konzentrationslager zu bringen. Die Gestapo hielt sich nicht daran, sondern nahm wahllos in der Nacht 200 Juden fest. Im Lauf des Tages kamen noch weitere 700 dazu. Vermutlich lagen der Gestapo Listen der Münchner Juden vor, sodass es der von Erlanger angenommenen Denunziation nicht bedurfte. Erlanger spricht von einem Gericht, das ihn ohne Verteidiger und Zeugen verurteilt habe, wobei die Strafhöhe nicht festgestanden habe. Eine Zuziehung der Strafgerichtsbarkeit ist in dem Zusammenhang sehr unwahrscheinlich. Für das Datum des 10. November spricht auch die Auskunft des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes in Arolsen, die sich auf Zu- und Abgangsbücher des Konzentrationslagers Dachau stützt und diesen Tag als Einlieferungstag nennt. Erlanger war im Konzentrationslager als Häftling im Block 8/ II. BayHStA, LEA 10512, Eidesstattliche Erklärung Erlangers vom 5.10.1945; dazu auch ebd. Antrag Erlangers auf Ausstellung eines Ausweises für ehemalige Konzentrationslagerinsassen [o.D.] und Erlanger an das Bayerische Landesamt für Wiedergutmachung, 9.12.1949. Zu den Vorgängen des 9. und 10. November 1938 in München: Erinnerungen Alfred Neumeyer Teilabdruck in: R ICHARZ , Jüdisches Leben, 360-363; H ANKE , Geschichte der Juden, 211-221; O PHIR / W IESEMANN , Die jüdischen Gemeinden in Bayern, 51-53; S ELIG , Richard Seligmann, 50-60; B OKOVOY , Verfolgung, 245-250; H EUSLER / W E- GER , „Kristallnacht“; R APPL , „Arisierungen“ in München, 166f.; S EIDEL , jüdische Gemeinde, 47-41; H EUSLER , Vernichtung, 174-177; H ERMANN , Hitler; S TEINWEIS , Kristallnacht, 47, 59-62, 84-87, 101-107; zur Zerstörung der Synagoge und des Schulhauses in der Herzog- Rudolf-Straße: W AGNER , Lehel, 109; Beth ha-Knesseth, 156-158; S CHRAFSTETTER , Flucht, 28-30. <?page no="290"?> Paul Hoser 290 danach stand er unter Beobachtung der Gestapo und musste mehrere Haussuchungen über sich ergehen lassen. Im Frühjahr 1941 wurde an der Knorrstraße in Milbertshofen ein Barackenlager für Münchner Juden errichtet. 97 Vorher waren Juden schon in sogenannten „Judenhäusern“ konzentriert worden. Der fast sechzigjährige Erlanger erhielt am 27. März 1941 von der jüdischen Gemeindeverwaltung die Aufforderung, sich wegen eines Arbeitseinsatzes zu melden. 98 Man teilte ihm dort mit, dass er zu Arbeiten im Lager Milbertshofen eingeteilt werde. Am 3. April 1941 geschah dies durch den Beauftragten der Gauleitung für das Lager, Franz Mugler. Der jüdische Lagerleiter Hugo Railing, der im April 1942 deportiert und ermordet wurde, 99 bestimmte ihn zunächst für die zum Aufbau des Barackenlagers notwendigen Erdarbeiten als Hilfsarbeiter. Mit dem Bau des Lagers war der Österreicher Gebhard Hinteregger beauftragt. 100 Die jüdischen Zwangsarbeiter mussten einen Vertrag mit ihm unterschreiben, dass sie sich freiwillig und ohne Entlohnung an der Arbeit beteiligten, da der Bau des Lagers ausschließlich der Israelitischen Kultusgemeinde und deren Mitgliedern zugutekomme. 101 Nachdem es fertiggestellt war, war Erlanger für den Kauf und die Heranschaffung sämtlicher Lebensmittel für das Lager verantwortlich. Sie wurden teilweise gegen Bezugsscheine abgegeben, teilweise bei den Gärtnern direkt gekauft. Ein perfides System zwang die jüdische Lagerverwaltung zur Mitwirkung an der Vorbereitung der Deportationen. Sie wies Erlanger die Aufgabe der Einteilung des Gepäcks der Abzutransportierenden zu. Bei fast allen Transporten war er überdies als Gepäckträger eingesetzt. Nach Erlangers Erinnerung wurde das Lager nach einem letzten Transport der darin noch lebenden Insassen, der nach Theresienstadt ging, von der Gauleitung an die Bayerischen Motorenwerke verkauft, die es für ausländische Zwangsarbeiter nutzten. 102 Aufgelöst wurde es am 19. August 1942. 103 Erlanger kam dann in das Kloster der Vincentinerinnen in Berg am Laim aufgezogene Lager für Juden, die sogenannte „Heimanlage“. 104 Wieder war er für die Be- 97 S TRNAD , Zwischenstation, 29. 98 StAM, Spruchkammern K 713, Gebhard Hinteregger, blaue fol. 9, Erlanger an den Staatskommissar für die Betreuung der Juden, 17.5.1946, auch den Eintrag in der undatierten Liste über die Dauer seiner Beschäftigung im Lager Milbertshofen. 99 S TRNAD , Zwischenstation, 52. 100 Ebd., 33. 101 Vertragsschema: StAM, Spruchkammern K 713, Gebhard Hinteregger, blaue fol. 8; S TRNAD , Zwischenstation, 83-85. 102 W ERNER , Kriegswirtschaft, 229, erwähnt ein Lager der BMW in der Knorrstraße, von dem im März und Oktober 1943 erhebliche Teile durch Bombenangriffe zerstört wurden; dazu auch P ERMOOSER , Luftkrieg, 153f., 378. 103 K ASBERGER , Heimanlage, 363. 104 Zu diesem Lager: K ASBERGER , Heimanlage; B EHREND -R OSENFELD / R OSENFELD , Leben in zwei Welten. <?page no="291"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 291 schaffung von Lebensmitteln zuständig. Auch von dort aus gingen Transporte in die Vernichtung. Dieses Lager wurde am 1. März 1943 ebenfalls aufgegeben. 105 Erlanger zufolge ging es danach an die Wehrmacht über. Dank seiner „privilegierten“ Mischehe mit einer nicht jüdischen Frau hatte er nicht in den Lagern wohnen müssen. 106 Eine Bezahlung für seine Arbeit in den beiden Lagern hatte er nie erhalten. Vom 1. Juli bis zum 4. Dezember 1943 musste er sodann bei der Bauspenglerei Florian Streicher in der Reichenbachstraße 27 arbeiten, vom 18. Dezember 1943 bis zum 5. Mai 1945 beim Hofgartencafe Annast. 107 Der Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde schickte Streichers Betrieb zahlreiche jüdische Arbeiter, die nach den Angaben einer früheren Angestellten gut behandelt wurden. 108 Seine Akte enthält allerdings auch diverse Aussagen von Arbeitern, die belastende Angaben machten. Bei Annast fühlte sich Erlanger offenbar in guten Händen. Er bestätigte diesem in dessen Spruchkammerverfahren, „dass sowohl die Behandlung, wie auch die Bevorzugung der Beschäftigten die denkbar beste und anständigste war, was auch jeder, der in gleicher Lage wie ich war, bestätigen muss und kann.“ 109 Erlanger war offiziell als Spüler und auch als Ausgeher beschäftigt, doch ließ ihn Annast wegen seiner kaufmännischen Kenntnisse ohne Wissen der Gestapo im Büro arbeiten. Auch weitere Juden arbeiteten bei Annast, darunter der ehemalige Rechtsanwalt Alfred Hartmann, 110 den Erlanger wohl schon vom Lager Milbertshofen her kannte und der nach 1945 Senatspräsident beim Oberlandesgericht München wurde. 111 105 K ASBERGER , Heimanlage, 366. 106 Erlanger wies später selbst darauf hin, dass er zu den privilegierten Juden gehörte. BayHStA, LEA 10512, Erlanger an die Regierung von Oberbayern, Generalanwaltschaft der rassisch, religiös und politisch Verfolgten, 16.2.1950. Nach Sigrid Lekebusch war eine privilegierte Mischehe die Ehe eines deutschblütigen Mannes mit einer jüdischen Frau. Offenbar galt dies aber auch, wenn der Mann jüdisch und die Frau nichtjüdisch war. L EKEBUSCH , Mischehe. 107 BayHStA, LEA 10512: Abschrift aus dem Arbeitsbuch von Hugo Israel Erlanger vom 13.12.1943 und eidesstattliche Erklärung Wilhelm G’s vom 31.8.1949. 108 StAM, Spruchkammern, K 1798, Florian Streicher, eidesstattliche Erklärung von Berta Sch. vom 13.12.1946. 109 StAM, Spruchkammern, K 29, August Annast, Erklärung Erlangers vom 23.6.1948. 110 Zu Hartmann: W EBER , Rechtsnacht, 152f. 111 BayHStA, LEA 10512, Erlanger an die Generalanwaltschaft der rassisch, religiös und politisch Verfolgten, 16.2.1950; StAM, Spruchkammern K 713, Gebhard Hinteregger, blaue fol. 9, Hartmann steht wie Erlanger auf der undatierten Liste mit der Beschäftigungsdauer im Lager Milbertshofen. <?page no="292"?> Paul Hoser 292 6. Der Neubeginn und das Ringen um die Rückerstattung seines Hauses Nach dem Ende des Kriegs war Erlanger 64 Jahre alt und arbeitslos. Fast schon im Rentenalter wollte er sich noch einmal eine Existenz aufbauen, entweder als selbständiger Inhaber einer Textil- oder Bekleidungsfirma oder zumindest als kommissarischer Leiter einer solchen. 112 Eigentlich hätte er die idealen Kenntnisse gehabt, um als Treuhänder für eine der von der amerikanischen Militärregierung unter Vermögenskontrolle gestellten Firmen in diesem Bereich bestellt zu werden. Man scheint aber nicht an ihn gedacht zu haben. Seit 1946 arbeitete er als Reisender für Wäsche, Strick- und Wirkwaren und Korsetts. Er legte sich einen Wagen der Firma Borgward zu, die damals Autos der Oberklasse baute. 113 Die Umsätze, die er erzielte, waren, wie die Bayerische Staatsbank 1953 feststellte, „befriedigend“, sodass sie ihm 1950 einen Kontokorrentkredit zur Verfügung gestellt hatte. 114 Seit 30. November 1949 war er beim Arbeitsamt wieder als selbständiger Großhändler registriert. 115 Im Großhandel erzielte er allerdings keine Erfolge, da seine Betriebsmittel für einen entsprechenden Warenvorrat und die notwendige Absatzfinanzierung nicht ausreichten. Bereits im April 1945 hatten die Amerikaner die Besatzungsdirektive JCS 1067 erlassen, wonach das in Deutschland geraubte Vermögen sichergestellt werden und den rechtmäßigen Besitzern zurückerstattet werden sollte. Im Oktober legte das bayerische Justizministerium einen ersten „Entwurf eines Gesetzes zur vorläufigen Wiedergutmachung der aus Gründen der Rasse, Religion oder des politischen Bekenntnisses zugefügten Vermögensschädigungen“ vor. 116 Schon am 1. Oktober 1945, noch bevor die gesetzlichen Grundlagen gelegt, die entsprechenden Bestimmungen ausgearbeitet und der erforderliche Verwaltungsapparat aufgebaut waren, bemühte sich Erlanger um Rückgabe seines Hauses. 117 Zuerst 112 BayHStA, LEA 10512, Eidesstattliche Erklärung Hugo Erlangers vom 5.10.1945. 113 BayHStA, LEA 10512, fol. 32-35, Vorlage der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung für den Vorstand vom 30.8.53. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Wagen der „Hansa-Reihe“, die 1952 auf den Markt kam. R OLAND , Borgward-Automobile. 114 BayHStA, LEA 10512, fol. 22, Bayerische Staatsbank an Bayerisches Landesentschädigungsamt, 19.5.1953, eidesstattliche Erklärung Hugo Erlangers vom 5.10.1945. 115 BayHStA, LEA 10512, Arbeitsamt München an Bayerisches Hilfswerk, München 2.12.1949. 116 W INSTEL , Gerechtigkeit, 19. Winstel ist für Bayern grundlegend. Weitere Arbeiten zu der Wiedergutmachungsproblematik allgemein sind: P ROSS , Wiedergutmachung; H ERBST / G OSCHLER , Wiedergutmachung; G OSCHLER , Westdeutschland; G OSCHLER / T HER , Raub und Restitution; D OEHRING / F EHN / H OCKERTS , Jahrhundertschuld; H OCKERTS / K ULLER , Nach der Verfolgung; L ILLTEICHER , Raub; G OSCHLER , Schuld und Schulden; F REI / B RUNNER / G OSCHLER , Praxis der Wiedergutmachung. 117 Das Schreiben findet sich nicht in den Akten. <?page no="293"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 293 war von einem Rückkauf die Rede. Das Finanzreferat der Stadt München wandte sich dagegen, da „wegen der gegenwärtig noch nicht zu überblickenden Entwicklung des Geld- und Grundstücksmarktes Anwesensverkäufe nur in den dringendsten Fällen angebracht erscheinen.“ 118 Auch das Hochbaureferat lehnte ab, da sich das Haus gut als Tauschobjekt für den geplanten Park- und Verkehrsring eigne. 119 Die Abteilung Grundstücksverkehr des Kommunalreferats erinnerte am 12. Oktober 1945 daran, dass es zur Zwangsversteigerung gekommen sei, weil Erlanger die ausstehenden Zinsen nicht bezahlt habe. Erlangers Feststellung, die Zwangsversteigerung sei mit besonderem Nachdruck betrieben worden, weil sein Anwalt Dr. Siegel für die Nationalsozialisten ein rotes Tuch gewesen sei, wies das Referat als „vollkommen unbegründet“ zurück. 120 Durch die Property Control der Militärregierung wurde zunächst festgelegt, dass den neuen Eigentümern von voraussichtlich rückerstattungspflichtigem Vermögen die Verfügungsberechtigung bis zum endgültigen Entscheid entzogen wurde. 121 Dies galt auch für Vermögen der NSDAP oder belasteter Nationalsozialisten. Die Property Control entwickelte sich zum größten Zweig des Apparats der Militärregierung. Bereits im Mai 1946 wurde die Verantwortung für die Vermögenskontrolle den Ministerpräsidenten der Länder der US-Zone übertragen. Im Juli 1946 entstand in Bayern das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, das nach der Überführung des Staatskommissariats in seinen Bereich im November 1948 dem Finanzministerium unterstellt wurde. 122 Es fasste Vermögenskontrolle und Rückerstattung zusammen. Äußerst unpopulär war in der Bevölkerung die durch ein Gesetz vom 19. Juli 1947 beschlossene Einsetzung von Treuhändern für die konfiszierten Vermögen. Für Erlanger bedeutete diese Entwicklung eine Verbesserung seiner Position gegenüber der Stadtverwaltung. Im Frühjahr 1946 schaltete er den Rechtsanwalt Siegfried Neuland 123 ein. Die Stadtverwaltung hatte Erlanger am 22. Dezember 1945 geantwortet, er solle sich bis zum Erlass eines erwarteten Sondergesetzes über die Behandlung ehemaliger jüdischer Vermögen gedulden. Dazu schrieb Neuland: 118 StdAMü, KA 3988, Finanzreferat der Stadt München an Referat 10, 26.10.1945. 119 StdAMü, KA 3988, Hochbaureferat an Referat 10, 10.11.1945. 120 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 der Stadt München vom 18.12.1945. Den möglichen Kaufpreis bezifferte man mit 110.000 RM. Ebd., Vermerk vom 21.12.1945. 121 W INSTEL , Gerechtigkeit, 20-26, 72. 122 Im November 1949 trat an seine Stelle das „Bayerische Landesentschädigungsamt“. Davon unabhängig bestand anstelle des „Bayerischen Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung“ das „Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung“. Das Staatskommissariat hieß von da an „Bayerisches Landesamt für Wiedergutmachung“. H EYDENREUTER , Office, 271; W INSTEL , Gerechtigkeit, 42f., 72, 76-82. 123 Zu Siegfried Neuland: http: / / www.hdbg.de/ parlament/ content/ persDetail.php? id=3598 <?page no="294"?> Paul Hoser 294 „Der Erlaß dieses Gesetzes wird zwar allgemein erwartet, ich habe aber die Auffassung, dass es noch längere Zeit dauern wird[,] bis ein solches Gesetz erscheinen wird. Die Amerikanische Militärregierung (Property Control) hat, wie Ihnen bekannt ist, für die Zwischenzeit das Verfahren eingeschlagen, den ehemaligen jüdischen Wohnbesitz unter Eigentumskontrolle zu nehmen. Dies würde für unseren Fall bedeuten, dass die Mieteingänge auf ein Sonderkonto bei der Reichsbank zu nehmen wären und hieraus die laufenden Verbindlichkeiten des Grundstücks zu decken wären. Ich will nicht beurteilen, ob es notwendig sein wird, ein solches Verfahren einzuschlagen, um Herrn Erlanger in gewissem Sinne jetzt schon in den Genuß der Früchte des Grundstücks wenigstens kontomäßig zu bringen, denn ich habe den Wunsch, den Gedankengang der Stadtverwaltung zu diesem Punkte zu erfahren. Vielleicht auch in der Richtung, ob sich nicht die Stadt jetzt schon entschließen kann, das Anwesen wieder zurückzugeben.“ 124 Der Leiter des Kommunalreferats, Stadtrat Karl Erhart, ein dem damaligen zweiten Bürgermeister und späteren Oberbürgermeister Thomas Wimmer nahestehender Sozialdemokrat, 125 machte sich die Ansicht der Verwaltung zu eigen, die Zwangsversteigerung sei nicht deshalb erfolgt, weil Erlanger Jude sei, sondern weil er seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllt habe. Auch jeder andere Grundeigentümer wäre in solch einem Fall betroffen gewesen. 126 Dies bekräftigte auch die Städtische Treuhandstelle. 127 Im September 1946 rief Neuland bei der Abteilung Grundstücksverkehr des Referats 10 an und informierte den Referenten, den rechtskundigen Stadtdirektor Dr. Christian Müller, der 1934 die treibende Kraft bei der Versteigerung von Erlangers Haus gewesen und nach Kriegsende offenbar problemlos in der Verwaltung übernommen worden war, dass er für seinen Mandanten Erlanger das Haus Thierschstraße 41 unter Eigentumskontrolle stellen lassen wolle. Er wolle wissen, wie sich die Stadt dazu (Zugriff am 16.11.2016). Er war von 1951 bis 1969 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München. Neuland war Spezialist für „Wiedergutmachungsfälle.“ Er war der Vater der gegenwärtigen Präsidentin der Münchner Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch. W INSTEL , Gerechtigkeit, 353. 124 StdAMü, KA 3988, Neuland an Referat 10, Abteilung Grundstücksverkehr der Stadt München, 11.5.1946 [höchstwahrscheinlich falsche Datierung des Briefs, wie ein über dem Monat eingetragenes Fragezeichen nahelegt. Der Eingangsstempel ist auf den 14.6. datiert]. 125 Zu Karl Erhart: P ILWOUSEK , Verfolgung, 142f.; H ANKO , Sozialdemokraten, 14, 24f., 28. Bei H ANKO ist Erhart als berufsmäßiger Stadtrat und Leiter des Wirtschaftsreferats genannt, nach Chronik der Stadt München 1945-1948, 74, 179 und 390, war und blieb er dagegen seit 4.9.1945 Leiter des Kommunalreferats. 126 StdAMü, KA 3988, Erhart an Referat 10 - Treuhandstelle für Haus- und Grundbesitz, 19.6.1946. 127 StdAMü, KA 3988, Rechtsrat Dr. Stockmayr (Städtische Treuhandstelle) an Referat 10, 24.6.1946. <?page no="295"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 295 verhalte. Dr. Müller antwortete, er sei zu einer Erklärung nicht befugt, doch vertrete die städtische Treuhandstelle für Haus- und Grundbesitz den Standpunkt, dass die Voraussetzungen für eine Eigentumskontrolle nicht vorlägen: „Das Anwesen ist im Jahre 1934 auf Antrag der Stadt deshalb zwangsversteigert worden, weil Erlanger seine Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen ist. Der Umstand, dass Herr Erlanger Jude sei, habe hiebei keine Rolle gespielt.“ 128 Neuland war gegenteiliger Auffassung und äußerte, er könne aus seinen Unterlagen schließen, dass in einem anderen Fall eine Zwangsversteigerung wohl nicht erfolgt sei und dass auch die Aufhebung des Mietverhältnisses Erlangers auf dessen Abstammung zurückzuführen sei. Neuland hatte auch erfahren, dass in den Laden im Haus ein Metzger einziehen werde, wogegen Erlanger größten Wert darauf lege, ihn selbst zu mieten. Er ersuchte dringend darum, ihn seinem Mandanten zu überlassen. Das städtische Liegenschaftsamt gab darauf an, der Laden sei mit einem Vertrag vom 3. Juli 1946 bereits vermietet worden. Man habe dies Neuland schon bei dessen Besuch im Amt im August wissen lassen. Sein Gesuch könne nicht berücksichtigt werden. 129 Am 26. Oktober 1945 hatte Ministerpräsident Dr. Wilhelm Hoegner ein Staatskommissariat für die Betreuung der Juden in Bayern geschaffen. 130 Dessen Aufgabe war es, den in Bayern lebenden Juden Hilfe zu Teil werden zu lassen. Dazu kam am 1. November 1945 das Bayerische Hilfswerk für die durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen als Körperschaft des öffentlichen Rechts, das dem Staatskommissar unterstellt war. 131 Es betreute die rund 18.000 Juden, die sich nach Kriegsende in Bayern aufhielten. Am 26. März 1946 war auch ein eigener Staatskommissar für die Betreuung der politisch Verfolgten bestellt worden. Die Militärregierung verlangte die Zusammenlegung der beiden Staatskommissariate und ihre Eingliederung in das Innenministerium. Im September 1946 gliederte man daher das neue Staatskommissariat dem für die Betreuung der Juden als Dienststelle an. Leiter des gesamten Staatskommissariats war seit 15. September 1946 Philipp Auerbach. 132 Das Bayerische Hilfswerk interessierte sich schließlich auch für Erlangers Angelegenheit und forderte vom ersten Münchner Oberbürgermeister der Nachkriegszeit, Karl Scharnagl, Auskunft darüber, wer der gegenwärtige Besitzer des Hauses sei. 133 128 StdAMü, KA 3988, Vermerk Dr. Müllers vom 5.9.1946. 129 StdAMü, KA 3988, Vermerk des städtischen Liegenschaftsamts (Direktor Hans Braun) vom 9.9.1946. Später scheint sich Erlanger für den Laden nicht mehr interessiert zu haben, da er in den Adressbüchern seit 1951 nur mehr als Hausbesitzer auftaucht. 130 W INSTEL , Gerechtigkeit, 28-30. 131 Ebd., 28, 86f. 132 Zu Philipp Auerbach: G OSCHLER , Philipp Auerbach; F ÜRMETZ , Neue Einblicke; DERS ., Staatskommissar; L UDYGA , Philipp Auerbach. 133 StdAMü, KA 3988, Bayerisches Hilfswerk an Scharnagl, 29.8.1946. <?page no="296"?> Paul Hoser 296 Namens des Stadtrats antwortete der Leiter des Finanzreferats, Stadtrat Erwin Hielscher, 134 dem Bayerischen Hilfswerk: Das Anwesen Thierschstraße 41 sei Eigentum der Stadt München. Sie habe es am 28. September 1934 einsteigern müssen, um das Sparkassendarlehen von 50.000 RM und die Stiftungshypothek von 20.000 RM soweit als möglich zu retten. Das Haus sei vollkommen korrekt und ohne Rücksicht auf die Rassenzugehörigkeit des Voreigentümers erworben worden. 135 Die Stadt konnte aber Erlangers Ansprüche nicht endgültig abwehren. Schon am 8. Januar 1947 stellte der Vizepräsident des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung fest, bei dem Haus handle es sich um Raubvermögen. Die Stadt München habe die unverschuldete Notlage des zahlungswilligen Erlangers für sich ausgenutzt. 136 Am 2. Juni 1947 stellte die Außenstelle München-Stadt der Zweigstelle Oberbayern des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung das Haus unter die Kontrolle des Treuhänders August Fink. 137 Das Liegenschaftsamt im Kommunalreferat wurde am 10. Juni 1947 davon informiert. 138 Die Stadt München beantragte ihrerseits am 7. Januar 1948, das Anwesen wieder freizugeben, wobei sie auf der bisherigen Linie argumentierte. 139 Rechtsanwalt Neuland erinnerte am 10. März 1948 die Stadtverwaltung daran, dass sie im Dezember 1945 Erlanger vorgeschlagen hatte abzuwarten, bis ein Sondergesetz über die Behandlung ehemaliger jüdischer Vermögen erlassen sei: „Da nun dieses Gesetz erschienen ist, frage ich hiermit an, ob die Stadt der Auffassung ist, die Angelegenheit solle in dem durch das Gesetz Nr. 59 vorgeschriebenen Verfahren erledigt werden.“ 140 Das Gesetz Nr. 59 der Militärregierung vom November 1947 regelte die Restitution geraubten oder abgepressten jüdischen Eigentums. Die deutsche Seite hatte zwar die Möglichkeit zur Mitwirkung an dem Zustandekommen dieses Gesetzes gehabt, doch war die letzte Entscheidung darüber bei den Amerikanern gelegen. 141 134 Hielscher gehörte ebenfalls zur Riege alter aktiver SPD-Mitglieder aus der Zeit vor 1933. H ANKO , Sozialdemokraten, 14, 28f.; zu Erwin Hielscher ferner: Haus der Bayerischen Geschichte, Internetportal: http: / / www.hdbg.de/ parlament/ content/ persDetail.php? id=888& popH=864 (Zugriff am 16.11.2016). 135 StdAMü, KA 3988, Hielscher an Bayerisches Hilfswerk, 8.10.1946. 136 StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, Feststellung des Vizepräsidenten Dr. Josef Oesterle vom 8.1.1947. 137 StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, Vermerk vom 10.6.1947. 138 StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, BLVW, Außenstelle München-Stadt an Referat 10 (Liegenschaftsamt) der Stadt München, 10.6.1947; StdAMü, KA 3988, Vermerk des Liegenschaftsamts vom 7.7.1947. 139 StdAMü, KA 3988, Finanzreferat der Stadt München an die Außenstelle des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, München, 7.1.1948 und 13.1.1948. 140 Ebd., Neuland an Referat 10, Abt. Grundstücksverkehr, 10.3.1948. 141 G OSCHLER , Wiedergutmachung, 122-128; W INSTEL , Gerechtigkeit, 25f. <?page no="297"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 297 Neuland ließ die Rolle, die die Stadt 1933/ 34 gegenüber Erlanger gespielt hatte, in ganz anderem Licht erscheinen, als es die von Sozialdemokraten geleitete Stadtverwaltung der Nachkriegszeit glaubhaft zu machen versuchte: „Obwohl alle Voraussetzungen der Verordnung vom 26. Mai 1933 vorlagen, 142 ist dem Herrn Erlanger nicht die Möglichkeit gegeben worden, sich sein Eigentum zu erhalten, sondern die Stadt drängte auf die Durchführung der Zwangsversteigerung. Keinerlei Rücksicht wurde diesem jüdischen Manne damals gewährt. Die genannte Verordnung sollte gerade den Schuldnern helfen, die infolge eines wesentlichen Rückgangs ihres Arbeitseinkommens ohne ihr Verschulden zur Zahlung ausserstande waren. Jedem anderen wäre damals Entgegenkommen gewährt worden. Aber einen Juden behandelte die damalige Stadtverwaltung rikoros [sic]. Vielmehr hat die frühere Stadtverwaltung die unverschuldete Notlage Erlangers zu ihren Gunsten ausgenutzt, daher ist das Anwesen Thierschstr. 41 Raubvermögen der Stadt geworden.“ 143 Neulands Argumentation bewirkte zunächst aber nichts. Am 14. September 1948 stellte er deshalb einen offiziellen Rückerstattungsantrag an das Zentralanmeldeamt in Bad Nauheim. 144 Dieser Antrag wurde am 3. März 1949 in das vom Amtsgericht München geführte Grundbuch eingetragen. 145 Die Rechtsabteilung der Stadt München legte Widerspruch ein, 146 ebenso das Werk- und Fiskalreferat für die Städtische Sparkasse. 147 Die Argumentationslinie blieb die gleiche wie bisher. Neuland hielt wieder dagegen: „Gleichgültig ob Christ oder Jude, eine Zwangsversteigerung hätte stattgefunden. So sagt die Stadtverwaltung heute. Damals hat sie anders gedacht und mit Unterschied gehandelt […] In den Jahren 1931 und 1932 gab es viele Konkurse und Zwangsversteigerungen, die Verordnung vom 26.5.1933 wollte hier Einhalt gebieten […] Nun möchte ich an die Stadtverwaltung München folgende Frage richten: ‚Wie viele Zwangsversteigerungen hat die damalige Hauptstadt der Bewegung gegen Parteigenossen oder Nichtjuden nach dem 26.5.1933 durchgeführt? ‘“ 148 142 Reichsgesetzblatt, Teil I, 29.5.1933, Nr. 56, Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung vom 26.5.1933, 302-209. Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang insbesondere § 5 über die einstweilige Einstellung von Zwangsversteigerungen. 143 StdAMü, KA 3988, Neuland an Referat 10, Abt. Grundstücksverkehr, 10.3.1948. 144 StAM, WB I a 773, fol. 2, Neuland an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim, 14.9.1948 und StdAMü, KA 3988. Zu dieser Behörde: W INSTEL , Gerechtigkeit, 75. 145 StdAMü, KA 3988, Amtsgericht München an Stadt München, 3.3.1949; StAM, WB I a 773, fol. 18, Grundbuchauszug. 146 StdAMü, KA 3988, Rechtsabteilung der Stadt München an Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 12.4.1949. 147 StdAMü, KA 3988, Werk- und Fiskalreferat der Stadt München an Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 13.4.1949. 148 StAM, WB I a 773, fol. 24f., Neuland an Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern, 28.5.1949; auch in StdAMü, KA 3988. <?page no="298"?> Paul Hoser 298 Bei gutem Willen hätte, so Neuland, die „Hauptstadt der Bewegung“ eine Sanierung Erlangers ermöglichen können. Dass es ihr letztlich auch nicht um den Ertrag gegangen sei, habe ihr Verhalten bei der Versteigerung gezeigt, wo sie mit der Drohung, die Hypotheken sofort fällig zu stellen, andere Bieter abgeschreckt habe. Neuland wies auch nochmals eigens auf den Vorwurf „undeutschen“ Verhaltens gegen Rechtsanwalt Dr. Siegel hin. Auch der Präsident des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung betrachte das Haus als Raubvermögen, weshalb es schließlich unter Vermögenskontrolle gestellt worden sei: „Die heutige Stadtverwaltung sollte es sich zur Ehre gereichen lassen, anstatt den Rückerstattungsantrag zu bestreiten einem Juden sein Eigentum zurückzugeben, das er nur verloren hat, weil er Jude ist.“ 149 Im Juni 1949 war die Stadt dann endlich bereit, ihren Kurs zu ändern. Man einigte sich gütlich in einem Vergleich. 150 Die Stadt München erklärte sich willens, das Haus zurückzugeben, während Erlanger sich verpflichtete, als persönlicher Schuldner alle Belastungen, wie sie am Tag der Versteigerung, also dem 28. September 1934, bestanden hatten, zu übernehmen. 151 Gerade deshalb stellte sich aber bald heraus, dass er einen Pyrrhussieg errungen hatte. Die Zahlungsverpflichtungen sollten ihm sehr lange wie ein Mühlstein um den Hals hängen. Am 19. Juli rechtfertigte Stadtrat Erhart vor dem Stadtrat die Rückerstattung. 152 Erlanger habe sich verpflichtet, nicht nur die Schulden, wie sie am Tag der Versteigerung bestanden hatten, zu übernehmen, sondern auch für die Mehraufwendungen aufzukommen, die der Stadt nach der Ersteigerung durch den Bauunterhalt entstanden waren. Auch sollte der Einsteigerungsbetrag verzinst werden. Dies mache insgesamt zusätzliche 7.000 DM aus. 153 Eigentlich wäre es üblich und angebracht gewesen, den Fall erst dem Hauptausschuss des Stadtrats vorzutragen, da aber die Verbindlichkeit der Vereinbarung schon am 20. Juli 1949 in Kraft treten sollte, hatte die Zeit dazu nicht mehr gereicht. Es wurde keinerlei Widerspruch laut. Am 23. August 1949 149 Ebd. 150 Dies hatte auch die Außenstelle München-Stadt des Bayerischen Landesamts für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung schon im Januar 1948 empfohlen. StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, BLVW Aussenstelle München-Stadt an Finanzreferat der Stadt München (Entwurf), 22.1.1948. 151 StAM, WB I a 773, fol. 32, Niederschrift, aufgenommen in nicht öffentlicher Sitzung vor einem Mitglied des Güteausschusses (Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern) vom 13.6.1949. In einer ergänzenden Sitzung vom 19.7.1949 wurden die finanziellen Verpflichtungen noch detaillierter geregelt; beide Dokumente auch in StdAMü, KA 3988. 152 StdAMü, Ratsprotokolle 722/ 3, fol. 3133-3137, Vortrag des Stadtrats Erhart vor dem Stadtrat vom 19.7.1949. 153 Die Stadt war am 27.8.1949 nach einer nochmaligen Überprüfung bereit, den Betrag auf 5.900 DM herabzusetzen. StdAMü, KA 3988, Vermerk Dr. Heinz Sauters, Rechtsabteilung des Referats 10, vom 30.1.1951. <?page no="299"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 299 wurde die Stadt als Eigentümerin im Grundbuch gelöscht. 154 Schon am 1. August war auch die Vermögenskontrolle aufgehoben worden. 155 7. Erlangers schwierige Lage nach der Rückgabe des Hauses Erlanger bekam das Haus nicht in bestem Zustand zurück. Die Fliegerschäden, die inzwischen auf mindestens 30 Prozent geschätzt wurden, hatten nicht behoben werden können. Lediglich der Schutt war weggeräumt worden. Die Kosten dafür waren sehr hoch gewesen, da er zum größten Teil mit der Hand aus dem Keller herausgeschafft werden musste. Durch den auf dem Nachbargrundstück lagernden Schutt war in das Vorderhaus und in das Rückgebäude sehr viel Feuchtigkeit eingedrungen, worunter das Haus stark gelitten hatte. Die Aufforderungen an den Besitzer des Nachbarhauses, den Schutt wegräumen zu lassen, hatten keinen Erfolg gehabt. 156 Das Rückgebäude war immerhin voll benutzbar und bis auf kleinere Schäden intakt. 157 Dagegen war das Seitengebäude, das Vorder- und Rückhaus miteinander verband und für die Unterbringung einer Werkstatt diente, zerstört und bis auf die Kellermauern abgetragen. Das Vordergebäude wies noch größere Schäden auf. In sämtlichen Stockwerken fehlte bei den rechts gelegenen Wohnungen jeweils ein Raum. Der Dachstuhl musste völlig neu gedeckt werden. Auch Fenster und Türen erforderten grössere Instandsetzungsarbeiten, ebenso die Vorder- und Rückfassade. Noch während der Zeit der Vermögenskontrolle hatte Erlanger erneut seinen Anspruch auf den Laden im Haus angemeldet, den er brauchte, um seinen früheren Betrieb wieder aufnehmen zu können. 158 Er bezog ihn dann aber doch nicht wieder. Es gelang Erlanger, am 25. November 1949 von der Sparkasse München eine Zusatzhypothek von 37.500 DM für den Wiederaufbau seines schwer beschädigten Hauses zu bekommen. 159 Der Betrag reichte aber entgegen dem Voranschlag nicht zur Behebung aller Schäden aus. Es waren noch etwa 15.000 DM zusätzlich erforderlich. Da Erlanger diesen Betrag zunächst nicht auftreiben konnte, entnahm er die 154 StdAMü, KA 3988, Schreiben des Amtsgerichts München (Grundbuchamt) vom 23.8.1949. Auch der Rückerstattungsvermerk wurde gelöscht. StAM, WB I a 773, fol. 38, Mitteilung des Amtsgerichts München (Grundbuchamt) an BLV, 25.8.1949. 155 StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, Freilassungsverfügung vom 1.8.1949. 156 StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, Schlussbericht des Treuhänders August Fink vom 23.9.1949. 157 StdAMü, KA 3988, Bericht des Liegenschaftsamts vom 5.7.1949 für die Rechtsabteilung des Referats 10 und Bericht der Rechtsabteilung des Referats 10 vom 6.7.1949. 158 StAM, Vermögenskontrolle München-Stadt 1094, Neuland an BLVW, 20.2.1947. 159 StdAMü, KA 3988, Auszug aus dem Grundbuch für St. Anna Vorstadt, Bd. 10, Bl. 100, 37. <?page no="300"?> Paul Hoser 300 notwendigen Mittel laufend seinem Betrieb. Dies war bedenklich, da die Geschäftslage zu der Zeit miserabel war. Er gefährdete damit seine Existenz. Am 19. Mai 1950 gelang es ihm aber, eine weitere Hypothek von 16.500 DM bei der Bayerischen Staatsbank aufzunehmen. Schon am 2. Mai 1950 bat er die Stadtverwaltung um unbefristete Aussetzung der Tilgungsraten. Diese war nur dazu bereit, dies für ein Jahr zu bewilligen. 160 Die halbjährlichen Zinsraten von je 1.230 DM sollten dagegen weiter zu den vereinbarten Terminen geleistet werden. 161 Die Zinsen für April 1950 bezahlte er jedoch dreieinhalb Monate zu spät. Am 4. September 1951 ersuchte er beim städtischen Renten- und Hinterlegungsamt nachträglich um Stundung der zum 1. April 1951 fällig gewesenen halbjährlichen Zinszahlung für die städtische Hypothek von 20.000 DM. Es handelte sich um einen Betrag von 1.230,32 DM. Erlanger bat außerdem um Erlass der dafür angefallenen Verzugszinsen. Die Rechtsabteilung ließ ihn wissen, dass sie in seine Zusicherung, seinen Verpflichtungen pünktlich nachkommen zu wollen, kein volles Vertrauen mehr setzen könne. Sie verlangte jetzt von Erlanger, ihr eine Wirtschaftlichkeitsberechnung für das Haus vorzulegen. Im Oktober 1951 hatte er von den im April fälligen 1.230 DM mindestens 930 DM bezahlt, eine Wirtschaftlichkeitsberechnung aber immer noch nicht vorgelegt, sodass die Stadtverwaltung ihrerseits auch auf die 48,87 DM Verzugszinsen nicht verzichten wollte. 162 Erlanger zahlte sie dann auch. 163 Doch konnte er die Oktoberrate nicht aufbringen. Die Stadt bewilligte ihm eine Zahlung in vier Raten von je 300 DM bis zum März 1952. 164 Im April 1953 geriet Erlanger wieder in Schwierigkeiten und bat darum, einen schuldigen Betrag von 1.560 DM in monatlichen Raten von je 300 DM abstottern zu dürfen. Als Grund seiner Schwierigkeiten gab er laufende Verpflichtungen an, insbesondere fällige Reparaturen am Haus. Auch seien die Geschäftsverhältnisse weiter schlecht. 165 Das Rentenamt zeigte sich entgegenkommend. 166 Doch war im September 1953 die 160 StdAMü, KA 3988, Rechtskundiger Stadtdirektor Dr. Schaber (Rechtsabteilung) an Rechtsanwalt Dr. Willy Fiedler, 26.6.1950. 161 StdAMü, KA 3988, Rechtsanwalt Dr. W. Fiedler an Stadtkämmerei, 2.5.1950, und Dr. Sauter an Erlanger, 13.9.1951. 162 StdAMü, KA 3988, Vormerkung vom 5.10.1951 und Städtisches Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, an Erlanger, 15.10.1951; BayHStA, LEA 10512, fol. 10, Vermerk vom 20.2.1952. 163 StdAMü, KA 3988, Vermerk des städtischen Rentenamts vom 12.11.1951. 164 StdAMü, KA 3988, Referat 10, Rechtsabteilung an Rechtsanwalt Dr. W. Fiedler, 29.11.1951. 165 StdAMü, KA 3988, Erlanger an das städtische Renten- und Hinterlegungsamt, 21.4.1953. 166 Der genaue Betrag belief sich auf 1462,24 DM. StdAMü, KA 3988, Vermerk vom 28.4.1953 und Rechtsabteilung des Referats 10 (Oberrechtsrat Dr. Fischer) an Erlanger, 18.6.1953. <?page no="301"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 301 Aprilrate immer noch nicht voll bezahlt. 167 Im Oktober 1953 bewilligte man Erlanger, die laufenden Zinsverpflichtungen weiter in Monatsraten von je 300 DM zu bezahlen. Er kam aber erneut in Verzug. 168 Den für 25. November 1953 fälligen Betrag hatte er erst nach einer Mahnung am 31. Dezember beglichen. Am 24. März 1954 wurden ihm bereits Zwangsmaßnahmen angedroht, wenn er den rückständigen Gesamtbetrag nicht bis 1. Juni 1954 bezahlt habe. Erlanger bemerkte, der Grund für die nicht erfolgte Zahlung sei eine dringende Reparatur gewesen. Die Neubedachung des Hinterhauses habe 6.956 DM gekostet und sofort bezahlt werden müssen. Der Baumeister habe seinerzeit beim Neuaufbau des Vorderhauses diese Reparatur ebenfalls zugesichert, aber nicht ausgeführt, obwohl er bereits dafür bezahlt worden sei. 169 Dr. Fischer vom Kommunalreferat schrieb dem zuständigen Rentenamt des Städtischen Renten- und Hinterlegungsamts, er sei wie dieses der Auffassung, dass Erlanger zahlen könnte, es ihm aber am Willen fehle, weshalb er das Schreiben vom 24. März 1954 schärfer formuliert habe: „Auch diesmal hat er wieder andere Verpflichtungen erfüllt, die Stadt dagegen läßt er mit ihren berechtigten Forderungen warten.“ 170 Erlanger zahlte bis zu der ihm gesetzten Frist vom 1. Juni 1945 wieder nur einen Teilbetrag. 171 Das Städtische Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, empfahl jetzt, die vertraglich vorgesehenen Zwangsmaßnahmen, d.h. die Zwangsvollstreckung, einzuleiten. Zuvor schickte man Erlanger noch eine letzte Aufforderung, bis 1. September 1954 zu bezahlen. 172 Er brachte schließlich einen Teilbetrag von 830 DM auf, blieb aber immer noch 400 DM schuldig. 173 Man bewilligte ihm wieder, diese Summe in monatlichen Raten von 100 DM abzutragen. Auch danach war Erlanger wiederum mit seinen Zahlungen im Rückstand. Man hatte bei der Stadt erkannt, dass er auch durch Androhung von Zwangsmaßnahmen nicht dazu gebracht werden konnte, die geschuldeten Beiträge termingerecht zu leisten und die Rückstände auszugleichen. 174 Erlanger erschien am 29. März 1955 persönlich in der 167 StdAMü, KA 3988, Städtisches Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, Erlanger, 15.9.1953. Die gesamten Rückstände betrugen damals 3757,53 DM. BayHStA, LEA 10512, Notiz ohne Datum [August/ September 1953]. 168 StdAMü, KA 3988, Städtisches Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, an Referat 10, Rechtsabteilung, 17.3.1954, und Dr. Fischer an Erlanger, 24.3.1954. 169 StdAMü, KA 3988, Erlanger an Dr. Fischer, 26.4.1954; BayHStA, LEA 10512, fol. 47, Bayerische Landesanstalt für Aufbaufinanzierung an Bayerisches Landesentschädigungsamt, 1.7.1954. 170 StdAMü, KA 3988, Dr. Fischer an Städtisches Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, 31.4.1954. 171 StdAMü, KA 3988, Städtisches Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, an Referat 10, Rechtsabteilung, 16.7.1954. 172 StdAMü, KA 3988, Dr. Fischer an Erlanger, 30.7.1954. 173 StdAMü, KA 3988, Dr. Fischer an Erlanger, 2.9.1954. 174 StdAMü, KA 3988, Städtisches Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, an <?page no="302"?> Paul Hoser 302 Rechtsabteilung des Kommunalreferats im Rathaus und brachte vor, dass es ihm wegen des geringen Geschäftsgangs und wegen Krankheit unmöglich sei, den Rückstand abzudecken. Er erklärte sich aber bereit, weiter jeden Monat 100 DM zu leisten. 175 Man kam ihm entsprechend entgegen. 176 Die vertraglich vorgesehen Zwangsmaßnahmen anzuwenden, hielt man zu diesem Zeitpunkt nicht für zweckmäßig und gerechtfertigt. Danach kamen keine Mahnungen der Stadt mehr; offenbar konnte Erlanger jetzt regelmäßig termingerecht zahlen. Schon 1952 empfand er offenbar das Haus weniger als Vorteil denn als Last. Er konnte im Alter von 71 Jahren seinen Großhandel mit Textilien und seine Generalvertretungen nicht mehr voll ausüben und seine Zinsen und Steuern nicht mehr termingerecht aufbringen. Er schrieb deshalb dem damals amtierenden Oberbürgermeister Thomas Wimmer und bot der Stadt an, das Haus der Stadt gegen eine Leibrente abzutreten. 177 Das Haus sei von der Sparkasse auf 195.000 DM geschätzt worden und werde ab 1. April 1952 rund 1.200 DM Miete monatlich abwerfen. 178 Das städtische Liegenschaftsamt äußerte sich ablehnend. Zwar stimmte seine Information nicht, dass die Behebung der Fliegerschäden noch 34.750 DM erfordern würde, da die Reparaturen schon durchgeführt waren. 179 Doch rechnete man nach Schätzung der technischen Abteilung mit jährlich 2.500 DM Kosten für den Bauunterhalt. Auch neigten Mieter bei von der Stadt neu erworbenen Anwesen sehr zur Geltendmachung von Ersatz- und Mietminderungsforderungen, die sie, solange ein Anwesen Privateigentum sei, zurückstellten. 180 Das Stadtplanungsamt zeigte aus seiner Sicht ebenfalls kein Interesse. 181 Referat 10, Rechtsabteilung, 14.3.1955. 175 StdAMü, KA 3988, Vormerkung vom 29.3.1955, unterschrieben von Dr. Fischer und Erlanger. 176 StdAMü, KA 3988, Referat 10 an Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, 5.4.1955, und Vormerkung Renten- und Hinterlegungsamt, Abteilung Rentenamt, vom 27.4.1955. 177 StdAMü, KA 3988, Erlanger an Wimmer, 3.3.1952. 178 Nach einer von Erlanger vorgelegten Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben von Anfang Februar 1953 beliefen sich die monatlichen Mieteinnahmen tatsächlich nur auf 1.068,95 DM: StdAMü, KA 3988. 179 StdAMü, KA 3988, Städtisches Bewertungsamt für Anwesen, Grundstücke, Mieten und Pachten an Referat 10, 29.2.1953. 180 StdAMü, KA 3988, Vormerkung des Liegenschaftsamts der Stadt München vom 15.4.1952. 181 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 13, Stadtplanungsamt vom 13.5.1952. <?page no="303"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 303 Das Kommunalreferat rechnete ferner mit einem Anfallen des zu zahlenden Lastenausgleichs. Erlanger war der Ansicht, dass dieser ihn nicht betreffe, da er am Stichtag nicht Eigentümer gewesen sei. 182 Tatsächlich bestimmte das Lastenausgleichsgesetz, dass das Vermögen von Rückerstattungsberechtigten nur heranzuziehen war, soweit es den Wert von 150.000 DM überstieg. 183 Im Kommunalreferat war man der Ansicht, dass selbst wenn der Lastenausgleich wegfiele, für das Objekt höchstens eine Leibrente von 500 DM tragbar sei und nicht eine von 750 DM, wie Erlanger sie sich vorstellte. Er hätte sich auch mit 600 DM und schließlich sogar mit 500 DM zufrieden gegeben. 184 Nach dem Schätzgutachten lag der Verkehrswert des Hauses aber nur bei 104.000 DM, während die Gesamtbelastung 93.000 DM ausmachte. 185 So blieb nur noch ein Vermögenswert von 11.000 DM. 186 Die Stadt teilte Erlanger am 1. Juni 1953 mit, dass sie an einem Kauf kein Interesse habe. 187 Erlanger macht der Stadt 1956 noch einmal ein Kaufangebot. 188 Die Mieteinnahmen waren inzwischen auf 1.227,47 DM monatlich, 189 der Verkehrswert auf 133.000 DM gestiegen. 190 Danach war Erlanger aber nicht mehr am Verkauf interessiert. 191 1960 gelang es ihm, das Haus mit einer weiteren Hypothek von 25.000 DM zugunsten der Städtischen Sparkasse zu belasten. 192 Überdies leistete er eine Bürgschaft von 30.000 DM zugunsten seines Sohnes Hugo. Die Münchner Bank sicherte ihre Forderung gegen diesen durch eine entsprechende Grundschuld ab. 193 Nach Erlangers Tod im April 1964 verkaufte der Testamentsvollstecker am 2. Juli 1965 das Haus an den Metzgermeister Franz Götz. 194 Der Geschäftswert ohne Belastungen betrug 1966 310.000 DM. 195 182 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 vom 12.3.1953. 183 Bundesgesetzblatt 1952, Teil I, § 26 (2) des Gesetzes über den Lastenausgleich vom 14.8.1952, 456. 184 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 vom 7.4.1953 und weiterer undatierter Vermerk. 185 Im August 1953 waren es 84.433,40 DM. BayHStA, LEA 10512, Streng vertrauliche Vorlage für den Vorstand der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung vom 30.8.1953. 186 StdAMü, KA 3988, Vermerk des Referats 10 vom 15.4.1953. 187 StdAMü, KA 3988, Rechtskundiger Stadtdirektor Dr. Schaber an Erlanger, 1.6.1953. 188 StdAMü, KA 3988, Vormerkung vom 4.1.1956. 189 StdAMü, KA 3988, Aufstellung der Mieteinnahmen vom 31.1.1956. 190 StdAMü, KA 3988, Städtisches Bewertungsamt für Anwesen, Grundstücke, Mieten und Pachten an Referat 10, 16.3.1956. Die Gesamtbelastung lag 1955 bei 99.223 DM. StdAMü, KA 3988, Aufstellung Erlangers vom 31.1.1956. 191 StdAMü, KA 3988, Vormerkung des Kommunalreferats vom 9.5.1963. 192 StdAMü, KA 3988, Grundbuchauszug mit Angabe der Belastungen seit 1926. 193 StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, Testament Erlangers vom 16.11.1962. 194 StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, fol. 33f., Dr. Rolf Fiedler an Amtsgericht München, 7.9.1970. 195 Götz wurde am 31.10.1966 ins Grundbuch eingetragen. StAM, Kataster 12655, Bl. 936 1/ 5. <?page no="304"?> Paul Hoser 304 8. Der Anspruch auf „Wiedergutmachung“ Im August 1949 war noch unter der Ägide der amerikanischen Militärregierung das „Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz)“ rückwirkend zum 1. April in Kraft getreten. 196 Es sah unter anderem Entschädigung für Schäden an Freiheit und am wirtschaftlichen Fortkommen vor. Beides konnte Erlanger geltend machen und stellte am 9. Dezember 1949 beim Bayerischen Landesamt für Wiedergutmachung einen entsprechenden Antrag. 197 Er machte einen Monat Haft im Konzentrationslager und 50 Monate Zwangsarbeit geltend. Vorab bekam er eine Soforthilfe in Höhe von 1.870,99 DM zugebilligt, deren Auszahlung aber auf sich warten ließ. Außerdem meldete Erlanger Entschädigungsansprüche für Schaden im wirtschaftlichen Fortkommen in Höhe von 85.000 RM an. 198 Als problematisch erwies sich der bürokratisierte Weg. Schon am 5. Oktober 1945 hatte Erlanger bei der Abteilung für politisch Verfolgte des Bayerischen Roten Kreuzes im Städtischen Hauptwohlfahrtsamt eine eidesstattliche Erklärung mit Angaben über seine Haft in Dachau gemacht. 199 1946 gab er seine persönlichen Daten dem Bayerischen Hilfswerk in einem Fragebogen an. 200 Als einen der beiden Zeugen, die sie bestätigen könnten, nannte er den Kinderarzt Dr. Julius Spanier, der wie er im Lager Berg am Laim hatte arbeiten müssen, dann am 12. Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert worden war und erst im August 1945 nach München zurückkehren konnte. 201 Spanier wurde noch im selben Jahr Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde und blieb es bis 1952. 202 Voraussetzung für Erlangers Antrag war die Ausstellung eines landeseinheitlichen Ausweises. Die Generalanwaltschaft der rassisch, religiös und politisch Verfolg- 196 W INSTEL , Gerechtigkeit, 43. 197 BayHStA, LEA 10512, Antrag Erlangers vom 9.12.1948. 198 BayHStA, LEA 10512, fol. 11, LEA (Dr. von Fischer) an Finanzamt München-Nord, 15.9.1950. 199 BayHStA, LEA 10512, Eidesstattliche Erklärung Hugo Erlangers vom 5.10.1945. 200 BayHStA, LEA 10512, Fragebogen des Bayerischen Hilfswerks vom 2.4.1946. 201 Spanier hatte im Lager Berg am Laim die Aufgabe, als Arzt zu beurteilen, wer für die Deportation transportfähig war. Er sagte im Spruchkammerverfahren gegen Koronczyk aus, niemand von der jüdischen Lagerleitung habe gewusst, wohin die Transporte gingen und was mit den Deportierten geschehe. Gleichzeitig sagte er aber aus, es sei der Leitung immer gesagt worden, dass Theresienstadt ein Getto und kein Vernichtungslager sei. Damit räumte er ein, dass sie um die Existenz solcher Lager wusste. StAM, Spruchkammern K 939, Theodor Koronczyk, 1. Serie, blaue fol. 41f., (16f. des Protokolls), Protokoll der öffentlichen Sitzung der Spruchkammer München X vom 29./ 30.10.1947. 202 S PIES , Erinnerungen; J ÄCKLE , Schicksale, 124f.; D OLLINGER , München, 185; K ASBERGER , Heimanlage, 348; B EHREND -R OSENFELD / R OSENFELD , Leben in zwei Welten, 146, 184. <?page no="305"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 305 ten bei der Regierung von Oberbayern teilte Erlanger mit, er solle sich im Polizeipräsidium seine Haftzeiten bestätigen lassen. Erlanger war aber sowohl im Lager Milbertshofen als auch im Lager Berg am Laim nicht inhaftiert gewesen, sondern hatte als privilegierter Jude zu Hause gewohnt. Daher gab es keinen entsprechenden Eintrag bei der Polizei. Erlanger klagte: „Trotz großem Entgegenkommen der infrage kommenden Beamten beim Einwohnermeldeamt lässt sich auch diese Feststellung 203 nicht möglich machen, wie dies auch sehr natürlich erscheint, da die fraglichen Unterlagen s. z. an die Gestapo gelangt sind und da auch nicht mehr zum Vorschein kommen dürften.“ 204 Er nannte eine Reihe von Personen, die wie er im Lager Berg am Laim Zwangsarbeit geleistet hatten und deren Zeugnis aus seiner Sicht genügen sollte: Der prominenteste war Heinz Meier. 205 Des Weiteren könnten auch viele andere ehemals privilegierte Juden, darunter Senatspräsident Hartmann und Ministerialdirigent Heinrich Brunner 206 über seine Tätigkeit Zeugnis ablegen. 207 203 Zu seiner Zeit in Berg am Laim; vorher hatte er sich schon vergeblich über die Bestätigung zu der in Milbertshofen bemüht. 204 BayHStA, LEA 10512, Erlanger an die Regierung von Oberbayern, Generalanwaltschaft der rassisch, religiös und politisch Verfolgten, 16.2.1950. 205 Bei Erlanger „Maier“ geschrieben. Heinz Meier war auch im Konzentrationslager Dachau in Haft gewesen. Meier war Direktor des Bayerischen Hilfswerks und seit 1.10.1951 Vizepräsident des Bayerischen Landesamts für Entschädigung und Wiedergutmachung; 1967-1980 war er Präsident des Amts und galt als dessen starker Mann. Außerdem war er zuerst Vizepräsident, dann Präsident des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Neuland trat als Vorsitzender der Münchener Israelitischen Kultusgemeinde 1959 gegen eine Einengung von Meiers Kompetenzen ein; BayHStA, LEA Personalakte Heinz Meier; W INS- TEL , Gerechtigkeit, 124f., 132; S TRNAD , Zwischenstation, 103; Münchener Prominenz, 238. Von den übrigen, die er nannte, sind Siegfried Bauer und Hermann Strauß bei S TRNAD , Zwischenstation, 50, 72, 102, 114 und 141 erwähnt. Zu Bauer: B EHREND -R OSENFELD / R OSEN- FELD , Leben in zwei Welten, 188; zu Strauß: ebd., 149, 158f., 178, 192f., 197, 199. 206 Von Erlanger als „Ministerialdirektor Prunner“ erwähnt. Zu Heinrich Brunner: G ELBERG , Kabinett Ehard II, Bd. 3, 114, Anm. 2. 207 Von den Genannten hatten Brunner, Fritz Ganz, und Hartmann Zwangsarbeit bei der Errichtung des Lagers Milbertshofen geleistet. Liste in StAM, Spruchkammern K 713, Gebhard Hinteregger, blaue fol. 9; ferner ist in dieser Akte Max Penzias genannt, den Erlanger ebenfalls als Zeugen erwähnte, der ihn kenne, ebd., Rapport vom 17.10.19. Zu Penzias, der ebenfalls Provisionsvertreter für Textilwaren gewesen war: S ELIG , Rassenwahn, 159-162; Erlanger nennt auch einen Mann namens Seligmann. Vermutlich meinte er Max Seligmann, der ebenfalls im Lager Milbertshofen arbeitete, Zu diesem: StAM, Spruchkammern K 713, Gebhard Hinteregger, Rapport vom 24.10.1941; Max Seligmann war Zeuge für Erlangers Arbeits- und Einkommensverhältnisse, Liste dazu in: BayHStA, LEA 10512; bei S TRNAD , Zwischenstation, sind erwähnt: Brunner, 80, 83f., 116; Ganz, 71; Hartmann, 74, 96, 116f., 126, 132 und David Holzer, 100. <?page no="306"?> Paul Hoser 306 Erlanger musste zu seiner Enttäuschung erfahren, dass seine Zeiten in den Lagern Milbertshofen und Berg am Laim nicht anerkannt werden konnten, da er nicht in den Lagern gewohnt hatte. 208 Seine Steuerakten für die Zeit von 1930 bis 1944 waren nach Auskunft des Finanzamts München-Nord während des Kriegs vernichtet worden. 209 Erlanger war es offenbar unangenehm, Bekannte als Zeugen in Anspruch zu nehmen, die von früher her über seine geschäftlichen Verhältnisse Kenntnis hatten. Man bedeutete ihm aber im Landesentschädigungsamt, dass Unterlagen zur Bearbeitung seines Schadensfalls unerlässlich seien. 210 So musste er in den saueren Apfel beißen: Der frühere Geschäftsführer des Warenhauses Hermann Tietz bestätigte ihm auf seine Bitte, dass sein Durchschnittsverdienst von 1930 bis 1938 jährlich 15.000 bis 18.000 RM betragen habe. 211 Demnach war Erlanger einer der bekanntesten Vertreter der ersten führenden Häuser gewesen. 212 Man kann allerdings angesichts des Konkurses Erlangers im Jahr 1930 und seiner Unfähigkeit, seine Verpflichtungen für das Haus in der Thierschstraße zu erfüllen, Zweifel haben, ob er damals wirklich so gut verdiente. 213 Das Haus machte ihm jetzt wieder Schwierigkeiten, sodass er bereit war, wegen der Entschädigung einen Vergleich abzuschließen, weil er dringend Geld benötigte und seine ganze Existenz gefährdet sah. 214 Er war mit den Zahlungen für die Sparkassenhypothek im Rückstand, ferner mit der Rückzahlung eines durch eine Grundschuld abgesicherten Kredits von 18.000 DM, den er 1948 vom Bankhaus Seiler erhalten hatte. Eine Grundsteuerzahlung für 1951 war ihm gestundet worden. Auch verdiente er damals als Vertreter für Textilwaren nur 500 DM im Monat, die er gänzlich für seinen Lebensunterhalt brauchte. 215 208 BayHStA, LEA 10512, Vermerk vom 8.11.1951, fol. 3. 209 BayHStA, LEA 10512, Dr. W. Fiedler an Erlanger, 8.2.1952, fol. 5. 210 BayHStA, LEA 10512, Vermerk vom 6.2.1952, fol. 4. 211 BayHStA, LEA 10512, Erlanger an Paul H., 12.2.1952, mit Unterschrift des Zeugen, fol. 6. 212 Genannt sind die Fabriken Stromeyer & Co Konstanz, Hermann Dietrich, Ober-Frohna, August Schweighart, München, Robert Kern, Stuttgart, Paul Stelzmann, Limbach, E. Richter, Limbach und Strickwarenfabrik Walter, Chemnitz; dazu in BayHStA, LEA 10512, die Bestätigung August Schweigharts vom 13.2.1952, fol. 9. 213 Vgl. auch Erlangers Angaben in seinem noch ohne Belege eingereichten Antrag. Danach hatte er 1935 bis 1937 weiter in dieser Größenordnung verdient, 1946 nur noch 1.200 und 1947 schon wieder 11.000 RM. Heinz Meier, Max Seligmann und Oberregierungsrat Bachmann bezeugten, dass er aus rassischen Gründen seine Geschäftstätigkeit hatte aufgeben müssen. BayHStA, LEA 10512, Antrag o. D. [Anfang 1950]. 214 BayHStA, LEA 10512, Vermerk vom 20.2.1952, fol. 10. 215 Aufstellung der Einnahmen Erlangers für 1950 bis 1952 in: BayHStA, LEA 10512, streng vertrauliche Vorlage für den Vorstand der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung vom 30.8.1953. <?page no="307"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 307 Der Vizepräsident des Landesentschädigungsamts, Heinz Meier, befürwortete gegenüber dem allgemeinen Vertreter des Landesinteresses 216 einen Vergleich. Das Landesamt wollte die von Erlanger geforderte Summe von 85.000 RM aber nicht anerkennen, sondern nur 72.000 RM, d.h. umgerechnet 14.500 DM. Durch den Vergleich sollte Erlanger 7.400 DM sofort ausbezahlt bekommen und auf den Rest verzichten. Meier beurteilte Erlanger sehr positiv: „Der Antragsteller, ein seit vielen Jahren in München ansässiger und geachteter Geschäftsmann ist sowohl dem diesamtlichen Sachbearbeiter wie auch mir selbst als durchaus vertrauens- und glaubwürdig bekannt, ebenso habe ich Einblick in seine ernstlich bedrohte wirtschaftliche Lage.“ 217 Der allgemeine Vertreter des Landesinteresses wollte keine Stellungnahme beziehen, solange das Finanzministerium nicht grundsätzlich einen Vergleich genehmigt habe. 218 Meier kontaktierte daraufhin auch das Ministerium. 219 Im Entwurf der Dritten Verordnung zum Entschädigungsgesetz waren in den Paragraphen 32 und 33 Vergleichsgehälter für die Ausgleichsentschädigung angeführt. Meier schlug als Vergleichsgehalt den höheren Dienst mit einem Jahresgehalt von 9.000 RM vor. Dies lag noch deutlich unter dem von Erlanger angegebenen Verdienst von 12.000 bis 15.000 RM. Dennoch war der Vertreter des Finanzministeriums damit nicht so recht einverstanden. Höhere Beamte wie er hielten es ihrer Mentalität nach für eine Anmaßung, mit normalen Bürgern gleichgesetzt zu werden. Er verlangte eine Prüfung, ob Erlangers Berufsausbildung eine Einstufung in die Klasse der höheren Beamten rechtfertige. 220 Meier antwortete, dass nicht nur die Berufsausbildung, sondern auch die wirtschaftliche und soziale Stellung des Betreffenden eine Rolle spiele. Ohnehin habe er fast das Doppelte des Vergleichsgehalts verdient. Es wäre eine unbillige Härte, wollte man ihm dieses nicht zubilligen: „Es handelt sich […] um Wiedergutmachung gegenüber einem 71jährigen deutschen Juden, der als wohlgeachteter Kaufmann sich vor der Verfolgung eine gesicherte Existenz aufbauen konnte und sich nun zweifellos in einer äusserst bedrängten und gefahrvollen wirtschaftlichen Lage befindet.“ 221 216 Dies war der Oberregierungsrat beim Oberfinanzpräsidium, Dr. Georg Blessin. Über diese Institution konnte sich das Finanzministerium kontrollierend in die Tätigkeit des Vorsitzenden des LEA, Auerbach, einschalten. W INSTEL , Gerechtigkeit, 82f., 316; L UDYGA , Philipp Auerbach, 100f. 217 BayHStA, LEA 10512, Meier an den Vertreter des Landesinteresses, 10.3.1952, fol. 11. 218 BayHStA, LEA 10512, Vertreter des Landesinteresses an Meier, 12.3.1952, fol. 13. 219 BayHStA, LEA 10512, Meier an Staatsministerium der Finanzen, 17.3.1952, fol. 14. 220 BayHStA, LEA 10512, Dr. Hebeda (Staatsministerium der Finanzen) an LEA, 4.4.1952, fol. 16. 221 BayHStA, LEA 10512, Meier an den Vertreter des Landesinteresses, 15.4.1952, fol. 14. <?page no="308"?> Paul Hoser 308 Der allgemeine Vertreter des Landesinteresses gab sodann ebenso wie das Finanzministerium seine Zustimmung zu einer Zahlung von 7.400 DM auf dem Weg des Vergleichs. 222 Erlanger verzichtete damit auf alle weiteren Entschädigungsansprüche. Doch reichte das Geld bei weitem nicht aus, um ihm aus seiner finanziellen Misere herauszuhelfen. Er bemühte sich im Mai 1953 um ein Darlehen der Bayerischen Staatsbank in Höhe von 10.000 DM, um die Verbindlichkeiten abdecken zu können, die sein Haus verursacht hatte. 223 Das Darlehen sollte nach den günstigen Bedingungen der Dritten Durchführungsverordnung zum Entschädigungsgesetz vom 23. August 1952 gegeben werden. 224 Inzwischen hatte Erlanger sogar sein Auto der Sparkasse für einen Kredit von 1.000 DM verpfändet. 225 Für die Genehmigung eines Darlehens war die Mitwirkung der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung 226 erforderlich. Während das Landesentschädigungsamt den Antrag befürwortet hatte, 227 reagierte diese ablehnend. 228 Erlanger erwirtschaftete zwar aus seiner Berufstätigkeit ausreichende Einnahmen für seinen Lebensunterhalt. Er hatte aber aus seinem Betrieb Mittel gezogen, um das Haus sanieren zu können. Daraus resultierten die Schwierigkeiten seines Geschäfts. Er wollte jetzt das Darlehen für seinen Betrieb erlangen. Das Gesetz sah aber nur Hilfe für den Fall vor, dass ein Geschäft wegen Notlagen, die direkt aus der Verfolgung im Dritten Reich resultierten, in Bedrängnis gekommen war. 229 Auch war nach Ansicht der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung der Antragsteller wegen seines hohen Alters in seiner Kreditwürdigkeit beschränkt. Das Landesentschädigungsamt schloss sich deren Ablehnung an. 230 1955 hatte Erlanger nur noch ein monatliches Nettoeinkommen von 100 DM. 231 Im Jahr zuvor hatte sein Geschäft überhaupt nichts abgeworfen. Er ersuchte deshalb um eine Zuwendung von 3.000 DM aus dem für solche Fälle vorgesehen 222 BayHStA, LEA 10512, Vertreter des Landesinteresses an LEA, 17.4.1952, fol. 18. 223 BayHStA, LEA 10512, Bayerische Staatsbank an LEA, 19.5.1953, fol. 24. 224 Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt vom 28.4.1952, Nr. 24, 251-153. 225 BayHStA, LEA 10512, Darlehensantrag Erlangers vom 25.3.1953, fol. 26. 226 Zu diesem staatlichen Institut zur Vermittlung von Fördermitteln für die gewerbliche Wirtschaft: W INKLER , Bayerische Landesanstalt. 227 BayHStA, LEA 10512, Meier an Bayerische Landesanstalt für Aufbaufinanzierung, 22.5.1953. 228 BayHStA, LEA 10512, Streng vertrauliche Vorlage für den Vorstand der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung vom 30.8.1953, fol. 32-35. 229 BayHStA, LEA 10512, Vermerk Meiers vom 9.5.1954, fol. 52. 230 BayHStA, LEA 10512, Anwalt des öffentlichen Rechts an LEA, Vermerk Meiers vom 15.9.1953, fol. 42. 231 BayHStA, LEA 10512, Adele St., Helfer in Steuersachen an Erlanger, 12.7.1955, fol. 66. <?page no="309"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 309 Härteausgleich des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 18. September 1953 232 und fügte ein ärztliches Zeugnis über seinen schlechten Gesundheitszustand bei. 233 Es wurden ihm schließlich 2.000 DM bewilligt. Erst jetzt erfuhr er, dass er seinerzeit bei Abschluss des Vergleichs anstelle der Kapitalentschädigung auch den Anspruch auf eine Rente gehabt hätte, worüber man ihn nicht informiert hatte. Deshalb entschloss er sich, den Vergleich vom 22. April 1952 anzufechten und die Rente zu beantragen. 234 Nach Paragraph 33 Absatz 2 des Bundesentschädigungsgesetzes hatte er das Recht auf eine Rente in Höhe von zwei Dritteln der Versorgungsbezüge eines vom Einkommen her vergleichbaren Beamten. 235 Der Vergleich wurde für unwirksam erklärt. Erlanger erhielt rückwirkend ab 1. November 1953 eine Rente auf Lebenszeit. Die Entschädigungszahlung aus dem Vergleich von 1952 und die Härteausgleichszahlung wurden von den Rentenansprüchen abgezogen. Die Rente betrug ab 1. Januar 1956 468 DM. Doch hatte man versäumt, ihn in die Vergleichsgruppe der höheren Beamten einzustufen, sodass er erst durch einen Änderungsbescheid vom 7. März 1961 ab 1. April 1961 630 DM bezog. 236 Dazu kam eine Nachzahlung von 14.574 DM, da man davon ausging, dass er bereits ab 1. November 1953 600 DM hätte erhalten müssen. Die Rente stieg bis zum 1. Juli 1962 auf 730 DM. 237 Seit 1959 hatte Erlanger wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr arbeiten können 238 und wohl im Wesentlichen von der Rente gelebt. 9. Die Besonderheiten des Falls Hugo Erlanger Erlangers Lage war endlich erleichtert. Zu Wohlstand war er aber nicht mehr gelangt. Immerhin lebte er nicht wie viele Juden in der Nachkriegszeit in äußerster sozialer Not. 239 Sein Sohn Hugo, auf den er schon im Krieg angewiesen war, hatte ihn wohl 232 Bundesgesetzblatt vom 21.9.1952, Teil I, Nr. 42, 1387-1408, hier 1403 (§ 79). 233 BayHStA, LEA 10512, Dr. W. Fiedler an LEA, 9.3.1955 und fachärztliches Zeugnis des Orthopäden Dr. H. F. vom 2.3.1955, fol. 58f. 234 BayHStA, LEA 10512, Protokoll vom 8.7.1955, fol. 65. 235 BayHStA, LEA 10512, Entscheidung vom 12.7.1955, fol. 69; Bundesgesetzblatt vom 21.9.1952, Teil I, Nr. 42, 1396. 236 BayHStA, LEA 10512, Änderungsbescheid vom 7.3.1961, fol. 88. 237 BayHStA, LEA 10512, Rentenänderungsbescheid, fol. 99. 238 StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, Dr. Rolf Fiedler an Nachlassgericht, 9.6.1965, fol. 21. 239 Dazu W INSTEL , Gerechtigkeit, 271. Offenbar hatte er an seinem Sohn eine Stütze. Vom 1.7.1938 bis zum 1.6.1945 wohnte er bei diesem in der Simmernstraße 12. BayHStA, LEA 10512, Fragebogen des Bayerischen Hilfswerks vom 2.4.1946. <?page no="310"?> Paul Hoser 310 auch in der ersten Zeit nach dem Ende des Krieges unterstützt. Sein zweiter Sohn Egon hatte sich am 30. September 1938 nach Athen abgemeldet und war seitdem verschollen. 240 Erlanger waren sein Haus, seine darin gelegene Wohnung, sein Laden und seine berufliche Existenzgrundlage genommen worden. Außerdem war er einen Monat im Konzentrationslager Dachau in Haft gewesen und hatte in den Lagern Milbertshofen und Berg am Laim arbeiten müssen. Er war Zeuge der Deportationen von Juden, die nicht wie er geschützt waren, und wird geahnt haben, was diesen bevorstand. 241 Auch er musste in ständiger Angst leben, weil niemand wissen konnte, ob die Nationalsozialisten den relativen Schutz für Juden in Mischehe auf Dauer beibehalten würden. Auch er hatte zwangsweise den Zusatzvornamen „Israel“ erhalten, 242 brauchte allerdings den Judenstern nicht zu tragen. 243 Erlanger war in der Israelitischen Kultusgemeinde in München gut vernetzt, wie seine Verbindungen zu Julius Spanier, Heinz Meier und Siegfried Neuland zeigen. Er hatte als Mitglied der Kultusgemeinde, die ihm noch kurz vor seinem Tod zu seinem 83. Geburtstag gratulierte, die Nummer 100. 244 Eine Verbindung bestand aber auch zu einem Juden, der wegen seines Verhaltens ins Zwielicht geraten war: Erlangers Sohn Hugo heiratete am 17. Juni 1943 die Tochter von Theodor Koronczyk, Jutta Koronczyk. 245 Am 1. März 1943 war das Lager Berg am Laim aufgelöst worden. Koronczyk war Vorsitzender der Bezirksstelle der Reichsvereinigung der Juden in München, die im Juni 1942 von den Nationalsozialisten dazu bestimmt worden war, die Israelitische Kultusgemeinde zu ersetzen. Er lebte wie Erlanger in einer Mischehe. Die Bezirksstelle wurde im Juni 1943 aufgelöst, an ihre Stelle trat der Vertrauensmann der Reichsvereinigung. Diese Funktion hatte ebenfalls Koronczyk inne. 246 Er konnte sich der Beteiligung an der Deportation der 240 Auskunft von Frau Brigitte Schmitt vom 30.7.2015 (Datenbank zum biographischen Gedenkbuch der Münchner Juden im StdAMü); StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, Testament Erlangers vom 16.11.1962. 241 H ANKE , Geschichte der Juden, 288-297; H EUSLER , Fahrt, 13-24. 242 StdAMü, Judaica/ Volkskarteikarte 742, Hugo Erlanger, vom Polizeipräsidium München ausgestellter Ausweis Erlangers mit J-Stempel vom 9.3.1939. 243 BayHStA, LEA 10512, Fragebogen des Bayerischen Hilfswerks vom 2.4.1946. 244 Münchener Jüdische Nachrichten vom 24.4.1964, 6. 245 StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, Vollmacht für Käthe Erlanger für Dr. Rolf Fiedler, fol. 4. Jutta Koronczyk arbeitete bis Kriegsende als Sekretärin des Rechtsanwalts Dr. Franz J. Pfister, der Koronczyk dann im Spruchkammerverfahren verteidigte. StAM, Spruchkammern, K 939, Theodor Koronczyk, 8.11.1945, 2. Serie, Dr. Franz J. Pfister an Israelitische Kultusgemeinde München, blaue fol. 1. 246 S TRNAD , Zwischenstation, 136f.; K ASBERGER , Hans Wegner, 238-244. <?page no="311"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 311 Juden nicht entziehen. 247 Seit Juni 1946 arbeitete er als Vertreter für Erlangers Sohn. 248 Im Falle seiner Entschädigungsansprüche fand Erlanger ein günstiges Klima vor. Der ihm bekannte Heinz Meier behandelte als Vizepräsident des Landesentschädigungsamts seinen Fall sehr wohlwollend. Auch bei der Anerkennung eidesstattlicher Versicherungen, bei der die Sachbearbeiter einen größeren Ermessensspielraum hatten, 249 ging man in seinem Fall großzügig vor. Bei der Rückerstattung lieferte dagegen die Stadtverwaltung einen zähen Kampf. Erlangers Fall war nicht der einzige, in dem die Stadt jüdischen Grundbesitz an sich gebracht hatte. 250 Der Hebel der Zwangsversteigerung war auch sonst ein beliebtes Mittel. 251 Am 18. März 1950 starb Erlangers Frau Anna, geborene Eckl. 252 1954 heiratete er im Alter von 72 Jahren nochmals. Seine zweite Frau war Katharina Koller. 253 Sie war 18 Jahre jünger. Hugo Erlanger selbst starb am 29. April 1964 im Alter von 83 Jahren in München. 254 Obwohl Erlanger laut seinem Testament keine öffentliche Todesanzeige wünschte, setzten die Hinterbliebenen dennoch eine in die „Süddeutsche Zeitung“. 255 247 K ASBERGER , Heimanlage, 364; B EHREND -R OSENFELD / R OSENFELD , Leben in zwei Welten, 141, 193, 197. 248 StAM, Spruchkammern, K 939, Theodor Koronczyk, 1. Serie, Arbeitsblatt vom 2.5.1957, blaue fol. 5. 249 W INSTEL , Gerechtigkeit, 170. 250 Eine Aufstellung des StadtArchivs München listet 133 Fälle auf. 53 Objekte wurden weiterverkauft, darunter 27 an das Deutsche Reich. StdAMü, Rechtsamt 342, Verzeichnis der an das Zentralmeldeamt in Bad Nauheim erstatteten Anzeigen, Sept. 1948. 251 In Memmingen kündigte die Sparkasse dem Käsegroßhändler Wilhelm Rosenbaum, der Anfang 1932 in Zahlungsschwierigkeiten geraten war, im Juli 1933 sämtliche Kredite. Am 14.12.1933 wurde das Anwesen öffentlich versteigert und fiel der Stadtsparkasse in die Hand. H OSER , Stadt Memmingen, 210. 252 BayHStA, LEA 10512, Aktenvermerk vom 5.6.1954, fol. 103; StdAMü, Judaica/ Volkskarteikarte 742, Kennkartenkopie Erlangers vom 11.8.1929. Anna Eckl war am 31. Dezember 1886 geboren. StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, a. Bescheinigung der Landeshauptstadt München vom 9.7.1964. 253 Katharina Koller war am 28.11.1898 in München geboren. Sie starb am 6.2.1979. BayHStA, LEA 10512, Vermerk vom 18.1.1977; Angaben ihres Sohnes Hans Koller, fol. 149, 154. Ein Grund für die Heirat könnte gewesen sein, dass ihr damit eine Witwenrente zustand. 254 BayHStA, LEA 10512, Eintrag des Standesamts I München Nr. 1766/ 1964, fol. 108. Die Verbindlichkeiten nach seinem Tod beliefen sich auf 71.353,13 DM. Der Verkaufswert des Hauses wurde auf 300.000 DM geschätzt. StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger, Angaben Dr. Rolf Fiedlers vom 4.3.1965, fol. 16. 255 Süddeutsche Zeitung vom 2.6.1964. Als Hinterbliebene erscheinen Katharina Erlanger, Hugo und Jutta Erlanger und der verschollene Sohn Egon Erlanger. StAM, AG München Nr. 1964/ 4419, Nachlass Hugo Erlanger Testament Erlangers vom 16.11.1962. <?page no="312"?> Paul Hoser 312 Hinzuweisen ist zum Schluss noch auf eine Tatsache, die den Fall Erlangers aus der Masse der anderen Fälle heraushebt. Rechtsanwalt Neuland machte sie am 14. September 1948 im Kampf um die Rückerstattung des Hauses Thierschstraße 41 geltend. Demnach hatte die Stadt die Zwangsversteigerung nicht eingeleitet, „weil Rückstände bestanden, sondern weil der Jude Erlanger als Hauseigentümer verschwinden sollte. In dem Hause hatte Adolf Hitler gewohnt. Das Haus sollte als ‚geheiligte‘ Stätte gelten, und sollte unter Denkmalschutz kommen, was dann auch geschehen ist. 256 Bis zum Jahre 45 war ja auch eine Gedenktafel für Hitler am Haus angebracht. Also musste der Jude als Hauseigentümer beseitigt werden. Niemals wäre das Haus zur Zwangsversteigerung gekommen, wenn nicht ein Jude Eigentümer gewesen wäre. “ 257 Erlanger präzisierte das Ganze nochmals über ein dreiviertel Jahr später in einer eidesstattlichen Erklärung vom 9. Juni 1949: „Hitler wohnte während der sogenannten Kampfzeit 9 Jahre im Haus. Bereits vor 1933 hatte sich inländische Presse, später zahlreiche ausländische Presse, dieses immerhin nicht uninteressanten Umstandes bemächtigt und erschienen Abbildungen des Hauses. Es steht fest, dass zu Lebzeiten Hitlers keine Erinnerungstafeln für diesen angebracht werden durften. Im vorstehenden Falle wurde eine Ausnahme geschaffen und sofort nach Besitzergreifung durch die Stadt eine Gedenktafel angebracht. Es wurde auch bei den Geburtstagen Hitlers die Ausschmückung des Hauses verlangt und zwar von der Ortsgruppe [der NSDAP], was sehr kostspielig war und von dem Anwesensbesitzer bezahlt werden musste. Die Ausschmückung kam jedes Mal auf ca. 500 RM.“ 258 Stadtrat Erhart räumte auf der Stadtratssitzung vom 19. Juli 1949 ein, die Tatsache, „dass die Stadt sofort nach der Erwerbung des Hauses eine Gedenktafel für Adolf Hitler an diesem Haus anbrachte, [spricht] sehr dafür, dass die damalige Stadtverwaltung es unter allen Umständen in ihren Besitz bringen wollte.“ 259 Die Stadt 256 Auch Erlanger sprach in seinem Verkaufsangebot an Thomas Wimmer davon, das Haus sei jahrelang unter Denkmalschutz gestanden. StdAMü, KA 3988, Erlanger an Thomas Wimmer, 3.3.1952. Nach Auskunft von Dr. Burkhard Körner vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege vom 14.9.2015 gibt es bei dieser Behörde keine Unterlagen, die dies belegen könnten. 257 [Kursive Passage im Original unterstrichen]. StAM, WB I a 773, fol. 2, Antrag Neulands an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim vom 14.9.1948, Punkt 31; auch in StdAMü, KA 3988; in BayHStA, LEA 10512, in der Vorlage der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung für den Vorstand vom 30.8.53, fol. 34, ist von zwölf Wohnungen die Rede. Dass Hitler im Haus von Erlanger wohnte, ist erstmals Weyerer aufgefallen, der auch auf die Gendenktafel hingewiesen hat. Der von ihm zitierte Text lautete: „In diesem Hause wohnte Adolf Hitler vom 1. Mai 1920 bis 5. Oktober 1929“. W EYERER , München 1919-1933, 56f. 258 StdAMü, KA 3988, Eidesstattliche Erklärung Erlangers vom 9.6.1949. 259 StdAMü, Ratsprotokolle 722/ 3, Vortrag des Stadtrats Erhart vor dem Stadtrat vom 19.7.1949, fol. 3136. <?page no="313"?> Der „Wiedergutmachungs“- und Entschädigungsfall Hugo Erlanger 313 nahm den Vergleichsvorschlag der Wiedergutmachungsbehörde an, da der Vergleichsvorschlag günstig war. Vielleicht fürchtete sie auch unliebsame Effekte, falls der Fall in der Öffentlichkeit bekannt würde. 260 Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abt. II (BayHStA) - LEA 10512. - Abt. IV, OP 19069. Staatsarchiv Augsburg (StAA) - Amtsgericht Augsburg, Geschäftsjahr 1922, Nachlassregister Nr. 109. Staatsarchiv München (StAM) - AG München Nr. 1964/ 4419. - Kataster 12655. - Spruchkammern, K 29, August Annast, K 713, K 939, Theodor Koronczyk, Gebhard Hinteregger, K 1367, Bruno Rach, K 1798, Florian Streicher. - Vermögenskontrolle München-Stadt 1094. Stadtarchiv München (StdAMü) - Gewerbeamt, Akte Hugo Erlanger jun., Akte Hugo Erlanger sen. - Judaica/ Volkskarteikarte 742. - KA 3988. - PMB Hugo Erlanger. - Ratsprotokolle 722/ 3. - Standesamt München II, M II B 1920/ 697. Gedruckte Quellen „…verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941, Zürich u.a. 2000 [darin Teil: Dokumente]. Adreß-Buch der Stadt Augsburg nebst Häuser-Verzeichnis 1888, Augsburg 1888. Adreßbuch der Stadt München und Umgebung 1929, München 1929. Adressbuch von München 1904, München 1904. A LICKE , K LAUS -D IETER : Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Bd. 1, Gütersloh 2008. Augsburger Neueste Nachrichten vom 28.9.1917. 260 Näheres zu Hitler als Bewohner von Erlangers Haus in: H OSER , Thierschstraße. <?page no="314"?> Paul Hoser 314 Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945, Bd. 1 und 2, München 2003 und 2007; auch unter http: / / www.muenchen.de/ rathaus/ gedenkbuch/ gedenkbuch.html (Zugriff am 9.12.2017). Chronik der Stadt München 1945-1948, München 1980. D OLLINGER , H ANS (Hrsg.): München im 20. Jahrhundert. Eine Chronik der Stadt von 1900 bis 2000, München 2001. G ELBERG , U LRICH (Bearb.): Die Protokolle des Bayerischen Ministerrats 1945- 1954. Das Kabinett Ehard II. 20. September 1947 bis 18. Dezember 1950, Bd. 3: 5.1.1950-18.12.1950, München 2010. Genealogisches Handbuch der Gräflichen Häuser, A, Bd. II, Glücksburg 1955. H EYDENREUTER , R EINHARD : Office of Military Government for Bavaria, in: C HRIS- TOPH W EISZ (Hrsg.), OMGUS-Handbuch. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949, München 1995, 143-316. 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Die Verwertung der letzten Habseligkeiten der in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportierten Juden spülte Millionenbeträge in die Staatskasse. 1 Allein in Nürnberg betrug das geraubte Vermögen der jüdischen Gemeindemitglieder etwa 400 Mio. RM. Davon vereinnahmte das Reich Werte in Höhe von 94,5 Mio., fünf Mio. der Bayerische Staat, die Kommunen oder öffentliche Körperschaften, drei Mio. die NSDAP und ihre Gliederungen sowie 297,5 Mio. RM ergaunerten Privatpersonen. 2 1. Fiskalische „Arisierung“ Das System war auf die Bereicherung der „arischen“ Volksgenossen ausgelegt. Bei öffentlichen Versteigerungen von jüdischem Eigentum stürzten sich die „Volksgenossen wie die Aasgeier auf die warmen Judensemmeln,“ vermerkt ein Protokoll der Oberfinanzdirektion Nürnberg von 1941. 3 Durch die materielle Verwertung des Eigentums der jüdischen Nachbarn wurden aber auch deren letzte Spuren getilgt. Die Finanzämter befanden sich dabei in „vorderster Front im Kampf gegen das Judentum,“ wie 1 Ausführlicher dazu T OBIAS , „... zugunsten des Reiches vereinnahmt.“ 2 OFD Nürnberg, VV 6000 A 136, Schreiben des Finanzamtes Nürnberg-Augustinerstraße, 8.10.1946, Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen Berlin (Bundesamt Berlin). 3 StAN, OFD-Nürnberg (Bund) 15472, Protokoll Besprechung mit Regierungsrat Dr. Schwarzat, 6.11.1941. <?page no="322"?> Jim G. Tobias 322 ein Beamter aus dem Reichfinanzministerium 1939 in der „Deutschen Steuerzeitung“ schrieb. 4 Nach Mai 1945 saßen die ehemaligen Arisierungsfachleute weiterhin in den Finanzämtern und waren nun für die Entschädigung oder Rückerstattung des Raubgutes zuständig. Wie verhielten sich nun die scheinbar „entnazifizierten“ Mitarbeiter der Behörden? Waren sie gewillt, die teilweise von ihnen forcierte wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden als moralisch und rechtlich verwerflich anzuerkennen und dafür Sorge zu tragen, den geraubten Besitz zurückzugeben? Keineswegs: Mit offensichtlichen Falschauskünften und Erinnerungslücken verschleppten sie die Wiedergutmachungsverfahren und versuchten, die Ansprüche der rechtmäßigen Eigentümer oder Erben als Raffgier zu diffamieren. 5 Über ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bis die Skrupellosigkeit der NS- Finanzbürokratie öffentlich bekannt wurde und die bayerische Archivbzw. Finanzverwaltung die brisanten Dokumente, die das schwärzeste Kapitel der Steuerbehörden belegen, zur Einsicht freigaben. Das geschah allerdings erst auf Druck von Historikern und Journalisten, der die politisch Verantwortlichen in Bayern bewegte mittels eines juristischen Kniffs die gesperrten Akten für die Forschung freizugeben. Das Bayerische Wissenschafts- und Finanzministerium sowie das Bundesarchiv erklärten rückwirkend die Verwertung von eingezogenem jüdischem Eigentum „als besondere Form der Vermögensabgabe.“ Damit waren die vorher als Steuerakten betrachteten Dokumente, wie etwa der „Wiedergutmachungsfall“ Schneider/ Kupferberg gegen die Oberfinanzdirektion (OFD) Nürnberg, nunmehr einsehbar. Jedoch wiesen die Behörden darauf hin, dass „schutzwürdige Belange Dritter oder staatliche Interessen nicht gefährdet“ werden dürften. 6 Ein Jahrzehnte lang vertuschtes und verdrängtes Kapitel der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte konnte nun wissenschaftlich untersucht werden. Noch bevor die Universität München im Sommer 2001 mit dem Forschungsprojekt „Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern“ begann, erhielt der Verfasser Zugang zu den fiskalischen Arisierungsakten, in denen die letzten Spuren vieler ermordeten Nürnberger Juden dokumentiert sind. 4 In Anlehnung an das Zitat von Walter Donanth, Beamter im Reichsfinanzministerium, der in einem Artikel schrieb: „Die Finanzämter sind damit im Kampf gegen das Judentum in vorderster Front eingesetzt.“ Vgl. D ONANTH , Die Judenvermögensabgabe, 79. 5 Dazu L ILLTEICHER , Raub; F RIEDENBERGER , Fiskalische Ausplünderung. 6 nurinst-archiv, Schreiben Generaldirektion der Staatlichen Archive an den Verfasser, 20.7.1999. <?page no="323"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 323 2. Eine jüdische Familie in Nürnberg Leo und Katharina Schneider waren zwei von ihnen; sie gehörten zur gutsituierten Bürgerschaft in Nürnberg. Ein Wohnhaus mit Möbelgeschäft in der Nürnberger Südstadt war zum Teil in ihrem Besitz. 7 Leo war 1879 im polnischen Klasno geboren, seine Ehefrau Katharina 1888 in Berlin. Das Paar lebte zunächst in Mährisch-Ostrau und übersiedelte im Juli 1909 nach Nürnberg. Aus der Ehe gingen die beiden Töchter Eva, geb. 1912 und Lisa, geb. 1922 hervor. Aufgrund der polnischen Staatsangehörigkeit des Vaters waren auch die Kinder polnische Staatsangehörige. 8 Leo Schneider wurde Ende Oktober 1938 aufgrund der nationalsozialistischen „Polenaktion“ ausgewiesen. 9 Reichsweit waren etwa 18.000 sogenannte Ostjuden, auch wenn sie in Deutschland geboren oder aufgewachsen waren und kein Wort polnisch sprachen, von dieser Maßnahme betroffen. 10 Ehefrau Katharina folgte ihrem Mann nach; das Paar fand Unterschlupf bei Verwandten in Krakau. Im Juli 1939 durften sie zur Liquidation des Geschäftes zurückkehren. 11 Tochter Lisa war bereits im Sommer 1938 zu ihrer Schwester, die in Frankreich verheiratet war, nach Strasbourg geschickt worden. Beide konnten sich nach dem deutschen Überfall auf Frankreich in die Schweiz retten. 12 Bei seiner Rückkehr nach Nürnberg 1939 musste das Ehepaar Schneider feststellen, „dass während ihrer Abwesenheit der größte Teil der Möbeleinrichtung aus ihrer Wohnung in der Sandstraße 22 entfernt wurde“, wie es in einem Schriftsatz der Wiedergutmachungskammer heißt. 13 Deshalb musste sich das Paar eine neue Unterkunft in der Veillodterstraße suchen. 14 Offensichtlich von hier wurde Leo Schneider kurz nach Kriegsbeginn nach Dachau verschleppt, wo er am 23. Mai 1941 zu Tode kam. 7 Leo Schneider gehörte zu einer fünfköpfigen Eigentümergemeinschaft von Familienmitgliedern, der die Hälfte des Anwesens gehörte. StAN, AG Nürnberg, GB Tafelhof, Nr. 6, Blatt 212, Grundbuchauszug, Gemarkung Nürnberg-Tafelhof. 8 nurinst-archiv, Interviews des Verfassers mit Lisa Schneider, Juni 1997 (Nürnberg), April 2000 (Los Angeles); StdAN, C21/ III, Nr. 1985, Meldekarte Leo Schneider. 9 OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo, Schreiben Städtisches Polizeipräsidium Nürnberg an das Finanzamt Nürnberg-Nord, 18.11.1954. 10 Zur „Polenaktion“ G UTMAN , Enzyklopädie, 1622f. 11 OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo, Polizeipräsidium an Finanzamt Nürnberg-Nord, 18.11.1954. 12 nurinst-archiv, Interviews des Verfassers mit Lisa Schneider, Juni 1997 (Nürnberg), April 2000 (Los Angeles). 13 OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo, Vergleichsvorschlag der Wiedergutmachungskammer für Ober- und Mittelfranken beim Landgericht Nürnberg-Fürth, 22.3.1955, ausgefertigt 30.3.1955. 14 Ebd., Schriftsatz Rechtsanwälte Ludwig Franz/ Karl Müller, 12.10.1954. <?page no="324"?> Jim G. Tobias 324 Der genaue Zeitpunkt seiner Inhaftierung ist auf der Meldekarte des Nürnberger Ausländeramtes nicht vermerkt. Seine Ehefrau, Katharina Schneider, musste am 15. Oktober 1941 die Wohnung verlassen und wurde für einige Wochen zwangsweise in ein sogenanntes Judenhaus einquartiert. Am 29. November 1941 erfolgte ihre Deportation nach Riga. 15 Dort verlieren sich ihre Spuren. Das noch verbliebene Vermögen der Familie Schneider wurde gemäß Verfügung der Geheimen Staatspolizeileitstelle Nürnberg-Fürth eingezogen und vom Oberfinanzpräsidenten Nürnbergs „als Verfallen“ erklärt. 16 3. Wer bekam das Haus? Über den Verbleib der Immobilie in der Celtisstraße 10, ein Wohnhaus mit Möbelgeschäft, geben die Finanzamtsakten keine Auskunft. Gleichwohl ist eine Abschrift des Grundbuchauszuges vorhanden, die als Eigentümer Leo und Katharina Schneider nennt und den Einheitswert des Hauses für 1935 mit 102.400 RM angibt. 17 Jedoch ist für den Besitz eine „kommissarische Verwaltung“ angegeben, die am 2. Mai 1941 ins Grundbuch“ eingetragen wurde. 18 Auf Nachfrage, wer das Haus in der Nazizeit übernommen habe oder ob es verkauft wurde, konnten Eva Kupferberg und Lisa Schneider keine Angaben machen, sie vermuteten jedoch, dass die Immobilie „arisiert“ worden sei. Da sie jedoch keinerlei Nachweise hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse vorweisen konnten, stellten sie auch keine Restitutionsansprüche. 19 Allerdings ist im Grundbuch vermerkt, dass am 6. Oktober 1950 ein „Rückerstattungsanspruch“ angemeldet wurde. 20 Antragsteller war offensichtlich David Schneider (Los Angeles), der Bruder von Leo Schneider. Obwohl der Dachstuhl des Anwesens Celtisstraße 10 durch einen Luftangriff im Januar 1945 schwer beschädigt worden war, das Hinterhaus sogar gänzlich ein Opfer der Bomber wurde, 21 soll es zu einer Entschädigungszahlung an ihn gekommen sein. Über die Höhe ist allerdings nichts bekannt. Auf Anfrage erklärte die Nichte von Lisa 15 Ebd., Städtisches Polizeipräsidium Nürnberg an Finanzamt Nürnberg-Nord, 18.11.1954. 16 Ebd., Finanzamt Nürnberg-Ost an OFD Nürnberg, 2.12.1954. 17 Ebd., Grundbuchauszug, AZ 11 198, o. D. (vermutlich Sommer 1942). 18 StAN, AG Nürnberg, GB Tafelhof, Nr. 6, Blatt 212, Grundbuchauszug, Gemarkung Nürnberg-Tafelhof. 19 nurinst-archiv, Interviews des Verfassers mit Lisa Schneider, Juni 1997 (Nürnberg), April 2000 (Los Angeles). 20 StAN, AG Nürnberg, GB Tafelhof, Nr. 6, Blatt 212, Grundbuchauszug, Gemarkung Nürnberg-Tafelhof. 21 nurinst-archiv, Email-Auskunft des Stadtarchivs Nürnberg, 23.5.2017; StdAN, Bestand C52/ II, Kriegsschädenamt/ Nutzungs-und Gebäudeschadensakten Nr. 51, Laufzeit 1947/ 48- 1960. <?page no="325"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 325 Abbildung 1: Die Abschrift des Grundbuches aus dem Jahre 1955 befindet sich in der Wiedergutmachungsakte (OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo). Die Eheleute Schneider sind als Eigentümer des Anwesens in der Celtisstraße 10 eingetragen. Repro: nurinst-archiv. <?page no="326"?> Jim G. Tobias 326 Schneider, Monica Haven, dass ihr Großvater David Schneider eine „Summe ausbezahlt bekam, die er dann mit seinen noch lebenden Geschwistern und ihren Nachfolgern teilte; wofür und wieviel, habe ich keine Ahnung.“ 22 Der Grundbucheintrag für das Haus in der Celtisstraße wurde am 30. August 1951 „gelöscht“. 23 Aus Akten des Amtes für Wohnungs- und Siedlungswesen der Stadt Nürnberg geht hervor, dass Teile des Gebäudes bis 1966 genutzt wurden. Weitere Einzelheiten dazu seien in einem Bauakt zu finden, wie das Stadtarchiv Nürnberg mitteilte, jedoch ist dieser Akt bis 2032 gesperrt. 24 Einem im Sommer 1945 erstellten Bericht über die Tätigkeit der Arisierungsstelle Nürnberg ist zu entnehmen, dass die Gebäude, in dem die Arisierungsstelle untergebracht war, durch „Feuer zerstört“ wurden und die stählernen Aktenschränke „ausglühten.“ Ferner wurden die „Büroeinrichtung, der größte Teil der Akten mit den Erfassungs- und Verkaufsverträgen sowie sämtliche Buchungsbelege, Korrespondenz und Karteien vernichtet.“ Auch die in „einem Panzerschrank des Polizeipräsidiums Ludwigstraße 36 in Nürnberg hinterlegt gewesenen Schriftstücke und Belege, darunter auch die Übersichten über die Verkaufstätigkeit der Arisierungsstelle, sind in den Apriltagen 1945 zu Verlust gekommen.“ 25 4. Entschädigungsverfahren nach 1945 Ab 1950 bemühte sich der polnische Staat um eine Entschädigung für das eingezogene Vermögen, hauptsächlich Kleidung, Schmuck und Hausrat, des Leo Schneider. Er ging davon aus, dass keine Erben mehr am Leben wären beziehungsweise ausfindig zu machen sind. 26 Die Anfragen hinsichtlich etwaiger Ansprüche wurden von der Oberfinanzdirektion mit der Feststellung zurückgewiesen, dass „im Adressbuch der Stadt Nürnberg vom Jahre 1938 unter der angegebenen Adresse kein Leo Schneider eingetragen ist.“ Auch unter der letzten Meldeadresse der Ehefrau, im sogenannten Judenhaus in der Sulzbacher Straße 48, wäre kein Leo Schneider gemeldet, so habe eine telefonische Anfrage beim Einwohnermeldeamt ergeben. 27 22 nurinst-archiv, Email von Monica Haven an den Verfasser, 23.5.2017. 23 StAN, AG Nürnberg, GB Tafelhof, Nr. 6, Blatt 212, Grundbuchauszug, Gemarkung Nürnberg-Tafelhof. 24 nurinst-archiv, Email-Auskunft des Stadtarchivs Nürnberg, 23.5.2017. 25 Bericht über die Tätigkeit der Arisierungsstelle Nürnberg, WGM 66, 3.7.1945, Bundesamt Berlin. 26 OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo, Schreiben des vom Amtsgericht Lodz eingesetzten Abwesenheitspflegers Pawel Lichnerowicz an Wiedergutmachungsbehörde Mittel- und Oberfranken, 5.12.1950. 27 Ebd., Finanzamt Nürnberg-Nord an OFD Nürnberg, 21.11.1950. <?page no="327"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 327 Das Bayerische Staatsministerium der Finanzen führte aus, dass der von einem polnischen Gericht bestellte „Abwesenheitspfleger“, der die Interessen des polnischen Staatsbürgers Leo Schneider wahrnehmen sollte, nicht gleichzeitig als Vertreter des Polnischen Roten Kreuzes agieren könne, da das Polnische Rote Kreuz nicht als zugelassene Nachfolgeorganisation von der Militärregierung anerkannt sei. Zudem war das Finanzministerium der Meinung, dass der beanspruchte Betrag von 1.800 RM „für heute nicht mehr auffindbares bewegliches Vermögen, Hausrat, Kleidung und Schmuck“ nicht erstattungsfähig sei. Die Vermögensbeschlagnahmung erfolgte nämlich aufgrund der Verordnung „über die Behandlung von Vermögen der Angehörigen des ehemaligen polnischen Staates vom 17. September 1940 (RGBI/ 1270).“ Diese Beschlagnahmungen könnten jedoch „grundsätzlich nicht als Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des REG (Rückerstattungsgesetz) erachtet“ werden. „Sie sind vielmehr als Maßnahmen anzusehen, die unter anerkannten Regeln des Völkerrechts üblicherweise gegen Vermögen von Staatsangehörigen feindlicher Länder zulässig erscheinen.“ 28 Ein bereits im Frühjahr 1950 gestellter Antrag der JRSO (Jewish Restitution Successor Organization) diente offensichtlich nur dazu, die Ansprüche des Polnischen Roten Kreuzes abzuwehren. Der Regionaldirektor der JRSO schrieb: „Es wird in Abrede gestellt, dass die Voraussetzungen einer Pflegschaft vorgelegen haben und vorliegen, sowie die Bestellung einer solchen nach deutschen Gesetzen ordnungsgemäß ist.“ 29 Offensichtlich war die Eingabe erfolgreich. Der vom Amtsgericht Lodz bestellte Abwesenheitspfleger zog alsbald seine Rückerstattungsansprüche zurück, da er von der zuständigen Wiedergutmachungsbehörde unterrichtet wurde, dass Leo Schneider zwei Töchter und damit Erben habe, nämlich Eva Kupferberg, Strasbourg, und Lisa Schneider, Los Angeles. „Bei dieser Sachlage erklärte ich hiermit, dass der von mir angemeldete Rückerstattungsanspruch gemäß 56 Zif. 4 REG zu Gunsten der wahren Berechtigten wirken soll,“ so der Abwesenheitspfleger. 30 Nun war der Weg für die rechtmäßigen Erben frei, ihre Ansprüche geltend zu machen. Wie aus den nur unvollständig vorliegenden Akten zu entnehmen ist, konnte keine Einigung zwischen den Erben und der verklagten Oberfinanzdirektion herbeigeführt werden. „Nachdem bis jetzt die Erfolglosigkeit einer gütlichen Einigung nicht erkennbar ist, muss der Versuch einer gütlichen Einigung gem. Art. 62, Abs. 3 gemacht werden“, so ein Schreiben der Wiedergutmachungsbehörde; man lud für den 28 Ebd., Schreiben Bayerisches Staatsministerium der Finanzen an Wiedergutmachungskammer beim LG Nürnberg-Fürth, 8.10.1950. 29 Ebd., Schreiben JRSO, Nuernberg Regional Office, 6.3.1950. 30 Ebd., Schreiben des polnischen Abwesenheitspflegers an Wiedergutmachungskammer, 10.5.1952. <?page no="328"?> Jim G. Tobias 328 14. September 1954 zur Güteverhandlung. 31 Bei diesem Termin wurde ein Erbschein des Amtsgerichts Nürnberg aus dem Jahre 1950 vorgelegt. „Der verstorbene Möbelhändler Leo Schneider [ist] von seiner Witwe Katharina Schneider zu einem Viertel und von seinen beiden Töchtern Eva Kupferberg und Lisa Schneider zu je drei Achtel“ sowie demzufolge „Frau Katharina Schneider von ihren beiden Töchtern Eva Kupferberg und Lisa Schneider je zur Hälfte beerbt worden.“ Der OFD-Vertreter erklärte sich „im Prinzip in der Sache vergleichsbereit“; das Verfahren wurde auf Anfang November 1954 vertagt. 32 Einen Monat zuvor hatten die Anwälte von Lisa Schneider und Eva Kupferberg einen Schriftsatz mit einer von Eva Kupferberg gemachten eidesstattlichen Auflistung des enteigneten Mobiliars und Hausrates vorgelegt. „Da meine Eltern eine Möbelhandlung hatten“, führte Eva Kupferberg aus, „waren sie sehr gut eingerichtet, besonders hatte das Herrenzimmer einen großen Wert.“ Die Wohnung umfasste insgesamt fünf Zimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Speisezimmer, Herrenzimmer, Mädchenzimmer und eine Küche. Die Möbel bestanden zumeist aus Kirsch- oder Nussbaumholz sowie Eiche, teilweise mit Schnitzereien. „Außerdem waren noch vorhanden: 2 Perserteppiche, 3 x 4 Meter und 3 Perserbrücken, Wäsche, Geschirr und Kristalle, Bestecke in Silber für 12 Personen, Lampen, eine Nähmaschine, 1 Radio, Steppdecken, Wolldecken etc. und eine wertvolle Bibliothek.“ Obwohl die Erbin einräumte, keine genaue Bewertung der Wohnungseinrichtung abgeben zu können, da sie sich zum Zeitpunkt der Enteignung bereits im Ausland aufhielt, gab sie jedoch eine grobe Schätzung ab. Für das Schlafzimmer veranschlagte sie 1.250 DM, Wohnzimmer 800 DM, Speisezimmer 1.200 DM, Herrenzimmer 3.000 DM, Mädchenzimmer 800 DM und Küche 300 DM. Den Wert der Teppiche, Bücher, Silber und Wäsche bezifferte sie mit 8.500 DM, sodass sich eine Gesamtsumme von 15.850 DM ergab. 33 Diese Aufstellung wurde in einer Sitzung am 16. Dezember 1954 in das Verfahren eingebracht. Die OFD bezeichnete die Forderungen als „enorm hoch, zumal sie das Vielfache dessen betragen“ was zunächst für Hausrat und Kleidung angegeben wurde. Dabei bezog sich die Finanzbehörde auf die Summe von 1.800 RM die von polnischer Seite als Entschädigungssumme für Leo Schneider eingeführt worden war. Die Finanzbehörde wäre „unter Umständen bereit, einen Betrag bis zum Doppelten des anzuer- 31 Ebd., Ladung der Wiedergutmachungsbehörde in Sachen Kupferberg Eva/ Schneider Lisa, 18.8.1954. 32 Ebd., Protokoll der Sitzung der Wiedergutmachungskammer, 14.9.1954. 33 Ebd., Aufstellung bezüglich Hausrat, Anlage zum Schriftsatz RAe Ludwig Franz/ Karl Müller an die Wiedergutmachungsbehörde, 12.10.1954, sowie eidesstattliche Erklärung von Eva Kupferberg, 10.12.1954. <?page no="329"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 329 kennen, was in der Anmeldung als Wert aufgeführt wurde.“ Da die Antragsteller diesen Vorschlag ablehnten, wurde die Sache an die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Nürnberg verwiesen. 34 Zwischenzeitlich erkundigte sich die OFD bei der Commerz- und Credit Bank in Nürnberg, ob dort noch Kontounterlagen von Leo Schneider archiviert seien. „Leider müssen wir Ihnen mitteilen“, antwortete die Bank, „dass wir nicht mehr feststellen können, ob wir für den Angefragten ein Konto bzw. Depot unterhielten und durch welche Transaktionen ein solches ausgeglichen wurde, da uns durch Kriegseinwirkung alle erforderlichen Unterlagen vernichtet wurden.“ 35 Allerdings taucht nun eine beglaubigte Vermögensaufstellung des kommissarischen Verwalters auf, indem erneut die Immobilie der Familie Schneider mit einem Einheitswert von 102.400 RM aufgeführt wird. Zudem sind neben den 1.800 RM für Hausrat und Schmuck Guthabensbeträge von 88 RM bei der Commerzbank Nürnberg (Stichtag 17. Februar 1941) und 380 RM beim Bankhaus Kohn aufgelistet (Stichtag 10. Juli 1942). 36 Am 25. Januar 1955 erging Ladung an die Parteien, die Verhandlung vor der Wiedergutmachungskammer wurde für den 11. Februar 1955 anberaumt. 37 Die OFD beharrte auf ihrem Angebot, den Gegenwert von 1.800 RM zu zahlen. Da die Erben keine weiteren Beweise für die von ihnen genannten entzogenen Gegenstände vorlegen konnten, erklärten sich die Parteien „damit einverstanden, dass das Gericht einen Vergleichsvorschlag macht.“ 38 Einem internen Aktenvermerk der OFD vom Februar 1955 ist zu entnehmen, dass die Finanzbehörde von einem Vergleichsvorschlag zwischen 4.000 und 4.500 DM ausging, „ein Betrag, der auch dem Vernehmen nach bei der Verurteilung zu erwarten wäre,“ so der zuständige Beamte. 39 Ob nun die OFD über hellseherische Fähigkeiten verfügte oder diverse Absprachen stattfanden, ist nicht zu klären. Die Kammer unterbreitete folgenden Vergleichsvorschlag: „Die Parteien sind darüber einig, dass das Deutsche Reich verpflichtet ist, wegen der Entziehung von Hausrat und Schmuck im Jahre 1941 Schadensersatz zu leisten, dem ein Ersatzbetrag von 4.500 Deutsche Mark [...] zugrunde zu legen ist.“ 40 Die Kammer bezweifelte nicht, dass Leo und Katharina Schneider nach Polen ausgewiesen worden waren und nach ihrer Rückkehr nach Nürnberg später dem nationalsozialistischen Rassenmord zum Opfer fielen. Zudem gingen die Richter davon 34 Ebd., Protokoll der Sitzung der Wiedergutmachungsbehörde, 16.12.1954. 35 Ebd., Schreiben Commerz- und Credit-Bank Nürnberg, 17.12.1954. 36 Ebd., Beglaubigte Abschrift einer Vermögensaufstellung aus den 1940er Jahren (ohne Datum), 11.2.1955. 37 Ebd., Ladung der Wiedergutmachungskammer, 25.1.1955. 38 Ebd., Protokoll der Sitzung der Wiedergutmachungskammer, 11.2.1955. 39 Ebd., Aktennotiz OFD Nürnberg, 15.2.1955. 40 Ebd., Protokoll der Sitzung der Wiedergutmachungskammer, 22.3.1955. <?page no="330"?> Jim G. Tobias 330 aus, dass die Eltern der Antragsteller „die angemeldeten Vermögensgegenstände offenbar in zwei Phasen“ verloren: Den größten Teil der Möbeleinrichtung anlässlich ihrer Ausweisung nach Polen, den restlichen Hausrat und Schmuck durch Beschlagnahmung durch die Gestapo am 27. November 1941 und die spätere Verfallserklärung. Allerdings sei nicht erwiesen, dass das Deutsche Reich an den fraglichen Gegenständen (Möbel) die „während der Abwesenheit der Verfolgten abhandengekommen sind“ eine „Eigentümerstellung“ erlangt habe. Zudem „erscheinen die Ansprüche der Antragsteller sehr zweifelhaft“, da sie über die Umstände des „Abhandenkommens“ keine Angaben machen konnten. Bei den schließlich für verfallen erklärten Gegenständen aus der letzten Wohnung von Katharina Schneider räumte das Gericht jedoch eine „eigentümergleiche Stellung“ ein. Was darüber hinaus zwischen 1938 und 1941 noch abhandengekommen wäre, könne nicht geklärt werden. 41 Als Grundlage für den Vergleichsvorschlag bezog sich die Kammer auf die seinerzeit vom kommissarischen NS-Verwalter genannte Wertangabe von 1.800 RM für entzogenen Hausrat und Schmuck. Da die „seinerzeitigen Schätzungen erfahrungsgemäß stets erheblich unter dem wirklichen Wert der geschätzten Gegenstände blieben“, wäre, so die Kammer, „der zweieinhalbfache Schätzungsbetrag in Ansatz zu bringen“. Als Grund für die damalige geringe Bewertung nannte das Gericht das große Angebot jüdischen Hausrats und die „verbreitete Abneigung gegen jüdisches Mobiliar.“ 42 Trotz des für die Nachfolger des beklagten Deutschen Reiches billigen Vergleichs wollte die OFD den Kompromiss nun doch nicht annehmen. Der Grund: Der NS- Verwalter hatte angegeben, dass die von ihm geschätzten Sachen bis zum 26. März 1945 noch nicht versteigert worden wären. „Es ist sehr fraglich, ob eine Verwertung nach diesem Zeitpunkt überhaupt noch erfolgt ist, oder ob die Sachen im Zuge des seinerzeitigen Kriegsgeschehens untergegangen sind. Bei dieser Sachlage besteht hierseits keine Möglichkeit zu einer vergleichsweisen Erledigung.“ 43 Daraufhin drängten auch die Erben auf eine gerichtliche Entscheidung. Das führte wiederum dazu, dass sich die OFD „nach Überprüfung der Sachlage und in Anbetracht des Wahrscheinlichkeitsfaktors eines Verfalls der begehrten Gegenstände zugunsten des Deutschen Reiches, [...] mit einer vergleichsweisen Bereinigung des Falles im Sinne des Vergleichsvorschlages der Kammer vom 22. März 1955 einverstanden“ erklärte. 44 Am 8. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd., Schreiben OFD Nürnberg an Wiedergutmachungskammer, 7.4.1955. 44 Ebd., Schreiben OFD Nürnberg an Wiedergutmachungskammer, 17.5.1955. <?page no="331"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 331 Juli 1955 wurde der Vergleich während einer Sitzung der Wiedergutmachungskammer vereinbart und zu Protokoll gegeben; Lisa Schneider und Eva Kupferberg erhielten einen Schadensersatz in Höhe von 4.500 DM zugesprochen. 45 5. Finanzverwaltung lügt und verschleiert Aufgrund neuerlicher Erkenntnisse fragten die Anwälte von Lisa Schneider und Eva Kupferberg beim Finanzamt im Oktober 1957 nach, ob noch Unterlagen bezüglich „Judenvermögensabgabe“ oder andere Zwangsabgaben vorlägen. Auch sei aus einem Kontoauszug des Bankhauses Kohn vom März 1939 ersichtlich, dass das Finanzamt Nürnberg-Ost gepfändet hatte. „Auf diese Pfändung wurden vom Bankhaus Kohn aus dem Konto Leo Schneider am 10. März 1939 RM 753,40 und am 25. April 1939 RM 502,00 an das Finanzamt Nürnberg-Ost überwiesen. Am 8. Januar 1940 hat das Finanzamt Nürnberg-Ost laut Mitteilung an das Bankhaus Kohn die Pfändung aufgehoben,“ trugen die Anwälte vor. Abschließend wurde darum gebeten, mitzuteilen, für welche Steuern die Pfändungsverfügung und die darauf geleistete Zahlung gemacht wurden. 46 Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass für Herrn Schneider keine Steuerakten oder andere Unterlagen mehr vorhanden sind,“ schrieb der Finanzbeamte. 47 Schon im Zuge des Wiedergutmachungsverfahrens hatten die Finanzbehörden eine ähnliche Auskunft gegeben. „Alle Ermittlungen hinsichtlich Steuerunterlagen blieben im Wesentlichen ergebnislos,“ konstatierten sie. Nur ein Vermerk tauchte auf: demnach wurde die Steuerakte von Leo Schneider am „5. September 1939 ausgereiht.“ 48 Erst rund 60 Jahre später überführte ein Aktenfund im Staatsarchiv Nürnberg die Finanzbehörde der Lüge. Eine vom Zentralfinanzamt angefertigte Karteikarte verzeichnete die letzten Habseligkeiten der „abgeschobenen Jüdin Katharina Sara Schneider.“ Fein säuberlich wurde dort der Verwertungsgewinn für Hausrat in Höhe von 611 RM und 28,13 RM für Silber aufgelistet. Dazu kam eine Eigenentnahme von 150 RM durch den Oberfinanzpräsidenten. Von der dem Deutschen Reich zustehenden Einnahmen mussten noch Schätzkosten in Höhe von 15,22 RM sowie 35 RM 45 Ebd., Wiedergutmachungskammer für Ober- und Mittelfranken, Niederschrift des Vergleichs, 8.7.1955. 46 StAN, Finanzamt Nürnberg-Ost, Nr. 4918, Schreiben Rechtsanwälte Franz und Müller an Finanzamt Nürnberg Ost, 29.10.1957. 47 Ebd., Schreiben Finanzamt Nürnberg-Ost an RAe Ludwig Franz/ Karl Müller, 18.11.1957. 48 OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo, Schreiben Finanzamt Nürnberg-Ost an OFD Nürnberg, 2.12.1954. <?page no="332"?> Jim G. Tobias 332 Abbildung 2: OFD-Kontokarte von Katharina Schneider mit den Einträgen ihres letzten Besitzes. Repro: nurinst-archiv. <?page no="333"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 333 Abbildung 3: Mit diesem Begleitschreiben der OFD wurden 83 Kontenkarten an das Finanzamt weitergeleitet. Nach über einem halben Jahrhundert tauchten im Staatsarchiv Nürnberg über 500 dieser Karten auf, die belegen, wie sich der Fiskus am jüdischen Eigentum bereichert hatte. Repro: nurinst-archiv. Bürgersteuer abgezogen werden; das heißt, die OFD erhielt 738,91 RM als „Überschuss aus der Vermögensverwertung.“ 49 Im Jahr 2000 sprach Lisa Schneider bei der Nürnberger Oberfinanzdirektion vor, konfrontierte die Behörde mit dem Kontenblatt und forderte eine Entschädigung. Wortreich bekundeten die Beamten ihr Bedauern und verwiesen auf den Vergleich vom 8. Juli 1955. Darin hatten Lisa Schneider und ihre Schwester Eva Kupferberg erklärt: „Mit der Erfüllung dieses Vergleiches sind alle Ansprüche wegen der hier verglichenen Vermögenswerte zwischen allen am Verfahren Beteiligten abgegolten.“ 50 Als kleine „Entschädigungsgeste“ erhielt Lisa Schneider jedoch ihre „Akte“ aus dem Wiedergutmachungsverfahren. 49 StAN, Zentralfinanzamt Nürnberg (ZFA) Nr. 5165, Kontenkarte Schneider, Katharina Sara, OFD Nürnberg. 50 OFD Nürnberg, 05400-2004, Rückerstattungsverfahren Akte Schneider Leo, Wiedergutmachungskammer für Ober- und Mittelfranken, Niederschrift des Vergleichs, 8.7.1955. <?page no="334"?> Jim G. Tobias 334 Abbildung 4: Sommer 2000: Nach einem Besuch bei der Oberfinanzdirektion Nürnberg erhält Lisa Schneider eine Kopie ihrer Wiedergutsmachungsakte. Foto: nurinst-archiv. Da die Unterlagen auch Dokumente aus der NS-Zeit enthalten, wurde die OFD erneut der Lüge überführt. Hatte die Behörde doch auf Anfrage des Verfassers im Dezember 1998 erklärt: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass über die von Ihnen angefragten Sachverhalte der Beschlagnahmung und Verwertung von jüdischem Eigentum [...] bei den Finanzämtern und auch bei der Oberfinanzdirektion keine Akten vorliegen. Solche Vorgänge sind offensichtlich in den Wirren der letzten <?page no="335"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 335 Kriegstage und der Nachkriegszeit verloren gegangen.“ 51 Damit orientierte man sich offensichtlich an einer Stellungnahme aus dem Jahre 1955, in der die OFD erklärte: „Die Oberfinanzkasse hat infolge der mehrfachen Verlagerung während des Krieges, der erfolgten Vernichtung von Büchern und Unterlagen beim Einmarsch der Amerikaner [...] sowie der jahrelangen Absperrung des Dienstgebäudes in Nürnberg durch die Besatzungsmacht keinerlei Unterlagen mehr aus der Zeit vor 1945.“ 52 6. Resümee Aufgrund der zahlreichen Aktenfunde des Verfassers sowie der veröffentlichten, daraus resultierenden Erkenntnisse hatte die Finanzverwaltung bereits im Lauf des Jahres 1999 einräumen müssen, dass in München und Nürnberg über eine Million Akten eingelagert seien, die Hinweise auf Verwertung jüdischen Eigentums enthalten könnten. 53 Diese Unterlagen belegen eindrücklich, dass die Finanzbehörden ein wesentliches Glied in der Behördenkette waren, die zur bürokratischen Umsetzung des fiskalischen Tods, der Vernichtung der wirtschaftlichen und sozialen Existenz der deutschen Juden, benötigt wurde. Die Finanzverwaltung kam daher nicht umhin, sich der Sache anzunehmen; der Bayerische Finanzminister Kurt Faltlhauser übernahm die Rolle des Chefaufklärers: „Auf meine Initiative hin hat ein Team von Wissenschaftlern des Historischen Seminars der Ludwig-Maximilians-Universität München, die Rolle der bayerischen Finanzbehörden bei der Verfolgung der Juden in Bayern und die Rückerstattungs- und Entschädigungspraxis nach 1945 untersucht,“ erklärte er 2004 nach Beendigung des dreijährigen Projektes dementsprechend stolz im Vorwort des Abschlussberichtes. 54 Weitere vier Jahre gingen ins Land, bis die umfangreiche Studie „Finanzverwaltung und Judenverfolgung“ der Historikerin Christiane Kuller vorlag, in der sie den fiskalischen Raubzug detailliert und sachkundig nachzeichnet. 55 Überdies erschien wenig später der Band „Der Fiskus als Verfolger“ von Axel Drecoll. Hier beschreibt der Autor auch die individuellen Initiativen und die Entscheidungen einzelner Beamter, denen es unter anderem darum ging, jüdisches Vermögen fantasievoll auf vermeintlich legalem Weg in die Kassen des Reiches und seiner Verwaltung zu transferieren. 56 51 nurinst-archiv, Schreiben der OFD Nürnberg an den Verfasser 8.12.1998. 52 StAN, Finanzamt Nürnberg-Ost, Nr. 4494, Rückerstattungsverfahren Martha Künstler, Erklärung der OFD Nürnberg, 1.2.1955. 53 T OBIAS , Späte Recherchen; DERS ., Datenschutz; DERS .; Steuergeheimnis; DERS ., Akten. 54 H OCKERTS / K ULLER / D RECOLL / W INSTEL , Finanzverwaltung, 9. 55 K ULLER , Finanzverwaltung. 56 D RECOLL , Fiskus. <?page no="336"?> Jim G. Tobias 336 Für Lisa Schneider und Eva Kupferberg hatten diese Enthüllungen der fiskalischen Enteignung während des NS-Regimes und ihrer Verschleierungen danach keine Bedeutung mehr - sie wurden schlichtweg um ihr Erbe betrogen. Denn die sogenannte „Wiedergutmachung,“ die ihnen in einem rechtförmigen Verfahren zugesprochen wurde, blieb deutlich unter dem, was der deutsche Staat ihrer Familie geraubt hatte. Quellen und Literatur Archive Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen - WGM 66 - VV 6000 A 136 Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts (nurinst-archiv) - Korrespondenz - Interviews Oberfinanzdirektion Nürnberg (OFD Nürnberg) - 05400-2004 (Rückerstattungsakte Leo Schneider) Staatsarchiv Nürnberg (StAN) - AG Nürnberg, GB Tafelhof - Finanzamt Nürnberg-Ost, Nr. 4918 - Oberfinanzdirektion (OFD)-Nürnberg (Bund), Nr. 15472 - Finanzamt Nürnberg-Ost, Nr. 4494 - Zentralfinanzamt Nürnberg (ZFA), Nr. 5165 Stadtarchiv Nürnberg (StdAN) - C21/ III, Nr. 1985 - C52/ II, Nr. 51 Gedruckte Quellen D ONANTH , W ALTER : Die Judenvermögensabgabe, in: Deutsche Steuerzeitung, 28.1.1939, 79. Literatur D RECOLL , A XEL : Der Fiskus als Verfolger. Die steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern 1933-1941, München 2009. <?page no="337"?> Ausgeplündert, verfolgt und belogen 337 F RIEDENBERGER , M ARTIN : Fiskalische Ausplünderung. Die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung und die jüdische Bevölkerung 1933-1945, Berlin 2008. G UTMAN , I SRAEL (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, Bd. III, Berlin 1993. H OCKERTS , H ANS G ÜNTER / K ULLER , C HRISTIANE / D RECOLL , A XEL / W INSTEL , T OBIAS : Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern. Bericht über ein Forschungsprojekt der LMU München, München 2004. K ULLER , C HRISTIANE : Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, München 2008. L ILLTEICHER , J ÜRGEN : Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2007. T OBIAS , J IM G.: Späte Recherchen über den Raubzug des Fiskus, in: Süddeutsche Zeitung, 12.4.1999. -: Datenschutz für Nazi-Unrecht, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 8.7.1999. -: Steuergeheimnis im Behördenkeller, in: AUFBAU, 23.7.1999. -: Akten belegen die Raubzüge des Finanzamts, in: Nürnberger Nachrichten, 24.8.1999. -: „... zugunsten des Reiches vereinnahmt.“ Die fiskalische „Arisierung“ in Nürnberg. Eine Spurensuche mit Hindernissen, in: J IM G. T OBIAS / P ETER Z INKE (Hrsg.), nurinst 2008. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2008, 29-47. <?page no="339"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? Der Fall Bernheim in Augsburg Karl Borromäus Murr „So kam ich am 28. November 1938 nach Zuerich. Ich verliess Deutschland mit dem ganzen Gefuehl des Abscheus und des Ekels, aber ebenso sehr mit einer tiefen Trauer im Herzen.“ 1 Mit diesen gleichermaßen verbitterten wie nachdenklichen Worten blickte der jüdische Unternehmer Willy Bernheim nach dem Zweiten Weltkrieg auf seine Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland zurück, vor dessen antisemitischer Verfolgung er sich kurz nach den Novemberpogromen ins Ausland gerettet hatte. Nur noch körperlich unversehrt, stand der ehedem wohlhabende Unternehmer nun in der Schweiz vor den Scherben seiner beruflichen wie privaten Existenz. Bereits am 5. Februar 1933 - nur wenige Tage nach der nationalsozialistischen Machtergreifung - hatten die staatlichen Devisen- und Zollfahndungsstellen ein Verfahren gegen das in Augsburg ansässige Familienunternehmen „R. Bernheim“ wegen möglicher Steuer- und Devisenvergehen eingeleitet, das gut zwei Wochen später zur Inhaftierung von Willy Bernheim führte. Die in Gang gesetzten Untersuchungen, die auch die weiteren Familienmitglieder ins Visier nahmen, schienen die Existenz des Unternehmens im Kern zu bedrohen. Im Trubel dieser Ereignisse kam es dann schon Ende März 1933 zu einer Übernahme des Bernheimschen Betriebs durch eine Auffanggesellschaft. Diese neunköpfige Gesellschaft rekrutierte sich, von einer Person abgesehen, vollständig aus ehemaligen Mitarbeitern und Vertretern des Bernheimschen Unternehmens, das diese in „Chemische Fabrik Pfersee“ umbenannten. Die staatlichen Behörden beschlagnahmten darüber hinaus das Vermögen der Firma wie auch das der Familie. Der für öffentliches Aufsehen sorgende Strafprozess im Februar 1934 trug Willy Bernheim eine mehr als zweijährige Haftstrafe ein. Alle Klageanstrengungen der Familie in den Jahren der NS-Herrschaft, ihr Unternehmen zurück zu gewinnen, scheiterten. Vielmehr gelang es den neuen Fabrikherren in jener Zeit, das gesamte Unternehmen an sich zu bringen. Unter diesen Umständen kam es schließlich zur Scheidung der ohnehin schon stark zerrütteten Ehe von Willy Bernheim mit seiner Frau Gisela, die das Sorgerecht für die beiden Söhne erhielt. Im Ungewissen über 1 PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie, 18. Ich danke sehr herzlich Dr. Michael Bernheim für den Zugang zu dem unveröffentlichten maschinenschriftlichen Manuskript der Autobiografie von Willy Bernheim. Dass dieser seine Erinnerungen offenbar mit einer französischen Schreibmaschine niederschrieb, erklärt, weshalb im originalen Manuskript sämtliche Umlaute ausbuchstabiert sind und warum auch das „ß“ fehlt. <?page no="340"?> Karl Borromäus Murr 340 das weitere Schicksal seiner Familie zog es den vormaligen Unternehmer auf seiner Flucht von der Schweiz weiter nach Frankreich. Die heimische Chemische Fabrik Pfersee wiederum, die in den Jahren der NS-Herrschaft und vor allem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Produktion von rüstungsrelevanten Textilchemikalien entsprechend prosperierte, fiel Anfang 1945 jedoch zu großen Teilen alliierten Bombardements zum Opfer. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzten die Bernheims alles daran, das 1933 verloren gegangene Unternehmen wieder zurück zu erlangen. Als die US-amerikanische Besatzungsmacht am 19. Oktober 1945 das Unternehmen unter „property control“ stellte, verband sich mit dem eingeleiteten Entnazifizierungsverfahren unweigerlich die Frage, die zugleich die Leitfrage des vorliegenden Beitrages darstellt: ob nämlich der schon 1933 erfolgte Eigentumsübergang der Bernheimschen Firma an die genannte Auffanggesellschaft nach aktueller Rechtsauffassung als ein „Arisierungsfall“ zu werten sei, der - im Falle der gerichtlichen Bestätigung eines solchen Befundes durch die Wiedergutmachungsbehörde - dann selbstverständlich in eine Rückerstattung münden musste. Angesichts der möglichen Unrechtsdimension verdient jeder einzelne „Arisierungsfall“ seine eigene historiographische Aufmerksamkeit. Die folgende Untersuchung verfolgt deshalb das Ziel, die Spezifik der mutmaßlichen „Arisierung“ des Bernheimschen Unternehmens herauszuarbeiten. Dazu gilt es zunächst, die angedeuteten Ereignisse kurz nach der Machtergreifung zu rekonstruieren, sodann den 1934 folgenden Steuer- und Devisenprozess gegen die Bernheims näher zu beleuchten und schließlich die weiteren in der NS-Zeit erfolgten juristischen Auseinandersetzungen zu analysieren, die zwischen den Streitparteien am Landgericht Augsburg und am Oberlandesgericht München in den Jahren 1935 und 1936 erfolgten. Bei all diesen Punkten geht es insbesondere darum, die jeweiligen Perspektiven der in Opposition zueinander handelnden Akteure, der Bernheims einerseits und der Auffanggesellschaft andererseits, in den Blick zu nehmen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung rücken die Beurteilungen des gesamten Sachverhalts durch die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben in den Mittelpunkt, die sich noch bis 1949 hinzogen. Abschließend sollen die Untersuchungsergebnisse in den weiteren Kontext der Arisierungs- und Wiedergutmachungsforschung eingeordnet werden. Als Quellenbasis dienen der Untersuchung neben dem vorhandenen amtlichen Schriftgut die zeitgenössische Publizistik sowie die unveröffentlichte Autobiografie von Willy Bernheim. 2 2 PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie. Vgl. auch die autobiografischen Erinnerungen von Willys älterem Sohn, die von Gernot Römer herausgegeben wurden: R ÖMER , „Halbjude“. <?page no="341"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 341 1. Das Ende von R. Bernheim - der Anfang der Chemischen Fabrik Pfersee Bei der Appretur- und Schlichtemittelfabrik R. Bernheim handelte es sich um ein 1888 von Isaak Bernheim gegründetes Unternehmen, das Chemikalien für die Textilindustrie herstellte. Die Gründung der Firma erfolgte in Pfersee, einem Vorort Augsburgs, der 1911 in die Fuggerstadt eingemeindet werden sollte. Obgleich zunächst nur mit wenigen Beschäftigten operierend, entstanden bald nach dem Ersten Weltkrieg Tochterfirmen in Zürich (Erba AG) und West Warwick (Warwick Chemical Co) in Rhode Island. Die Firmengeschichte begann sich dynamischer zu entwickeln, als der im Jahr 1900 geborene Willy Bernheim, der seine Ausbildung im Staatlichen Technikum Reutlingen genossen hatte, 1922 in das Familienunternehmen eintrat. Anders als sein um drei Jahre älterer Bruder Curt nahm Willy, obwohl noch nicht offiziell in der Verantwortung, schon bald aktiv Einfluss auf den Fortgang des Unternehmens. Infolgedessen professionalisierte sich die elterliche Firma, die nun erstmals Chemiker und Textiltechniker einstellte. Seitdem sich Willys Vater, Siegfried Bernheim, 1923/ 24 aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, bestimmte dessen Schwager Rudolf Nathan in rigider Manier die Geschicke des Unternehmens. 1924 erfolgte der Kauf eines Fabrikgrundstücks im anhaltinischen Jeßnitz. In den Jahren 1925/ 26 kam es zur Gründung einer weiteren Auslandsniederlassung in Mailand (Iterba). Der wirtschaftliche Aufstieg der Firma verbindet sich dann vor allem mit der Erfindung von Imprägnol im Jahr 1928. Dieses chemische Produkt verlieh textilen Stoffen eine wasserabweisende, wenn nicht sogar wasserundurchlässige Eigenschaft. Die volle Verantwortung für das Unternehmen erhielt Willy Bernheim 1931, nachdem sein Onkel Rudolf Nathan als Teilhaber aus der Firma ausgeschieden und in die Schweiz gezogen war. In das Jahr 1932 fiel dann die Ausgründung einer weiteren Niederlassung, nämlich in Paris (Protex). Die Belegschaft wuchs bis 1933 auf etwa 100 Beschäftigte an. Der Export nahm bedeutend zu. Der Jahresumsatz betrug in jener Zeit etwa 1,5 Mio. RM, wovon ein jährlicher Gewinn von etwa 180.000 RM abfiel. 3 Diese wirtschaftliche Situation ermöglichte der Unternehmerfamilie einen großbürgerlichen Lebensstil, den Willy Bernheim zweifelsohne pflegte. Letzterer sah den Wohlstand seiner Familie geprägt von „einem grossen Haushalt mit Automobil, Pferden und grossen Reisen etc.“ 4 3 StAA, Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben a-Akten 104, Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichtes München unter dem Vorsitzenden Hans Ehard, verkündet am 28.5.1936. 4 PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie, 4. <?page no="342"?> Karl Borromäus Murr 342 Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so begegnet die Generation von Willy Bernheim als weitgehend säkulares bzw. akkulturiertes Judentum mit gelegentlichen Synagogenbesuchen. Willy Bernheim war 1922 eigens zum Katholizismus konvertiert, um seine Frau Gisela, geborene Büttner, heiraten zu können. 5 Sein Schwiegervater, Erhard Büttner, sollte bei dem Eigentumsübertrag der Bernheimschen Firma an die Auffanggesellschaft eine ganz eigene, später noch näher zu beleuchtende, Rolle spielen. Anfang Februar 1933 begann sich - wie einleitend angedeutet - auf einen Schlag das Schicksal der wohl situierten Familie Bernheim zu wenden. Nachdem am 5. Februar Beamte des bayerischen Landesfinanzamts eine Untersuchung des Finanzgebarens des international tätigen Unternehmens eröffnet hatten, folgte wenig später die Einleitung eines Strafverfahrens aufgrund des Verdachts von Steuerhinterziehungen und Devisenvergehen. Die Vorwürfe wogen so schwer, dass die Polizei bereits am 22. Februar Willy Bernheim in Untersuchungshaft nahm. Am 3. März verfügte das Amtsgericht Augsburg eine Vermögensbeschlagnahmung gegen die Firma. Schließlich nahmen die Behörden am 20. März auch Curt Bernheim in polizeilichen Gewahrsam, aus dem dieser am 2. Juni wieder entlassen wurde. Der ebenfalls in Verdacht geratene Siegfried Bernheim, de jure noch der Eigentümer des Familienunternehmens, entging wohl aus Gesundheitsgründen einer Verhaftung. Ende März 1933 spitzte sich jedoch die prekäre Lage des führungslos gewordenen Unternehmens dramatisch zu. Nachdem Willy Bernheim aus der Untersuchungshaft heraus versuchte, einschneidende Sparmaßnahmen einzuleiten, um einer befürchteten Illiquidität vorzubeugen, formierte sich aus der Mitarbeiterschaft der Firma heraus Widerstand. Als Mittelsmann zwischen der obstinaten Firmenbelegschaft und der Eigentümerfamilie trat Erhard Büttner, der Schwiegervater Willy Bernheims, auf. Diesen hatte Siegfried Bernheim, der von der aktuellen Sachlage völlig überfordert war und sich vom operativen Geschäft ohnehin weit entfernt hatte, zum Generalbevollmächtigten des Unternehmens bestimmt. Der Widerstand von leitenden Mitarbeitern, die nach eigenem Bekunden den „völligen Ruin der Firma, sowohl in finanzieller als auch in moralischer Hinsicht“ 6 befürchteten, resultierte Ende März 1933 in ein unmissverständliches Ultimatum. Dieses sah vor, das angeschlagene Unternehmen einschließlich aller Patente mit einer Auffanggesellschaft, in der sich leitende Mitarbeiter und Vertreter der Firma konstituierten, unter diktierten Bedingungen von den Bernheims zu übernehmen. Den möglichen Konkurs ihres Unternehmens mit seinen sozialen Folgen vor Augen, fügte sich die Eigentümerfami- 5 Ebd., 3. 6 StAA, Spruchkammer Augsburg Stadt II und IV Akten, St 415, Horst Steiner an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, Ludwig Dreifuß, Prüfungsausschuss, 22.4.1946. <?page no="343"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 343 lie - allen voran Willy Bernheim - dem massiven Druck, den von der Auffanggesellschaft kompromisslos unterbreiteten Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag mit zehnjähriger Laufzeit anzunehmen. Dieser versprach den Bernheims zumindest einen, wenngleich niedrigen, Ablösezins von vier Prozent und der Firma den Erhalt der bedrohten Arbeitsplätze. So ging vom 31. März zum 1. April 1933 - gleichsam über Nacht - ein bis dahin wirtschaftlich erfolgreiches Augsburger Unternehmen aus der Hand der Bernheims in das schrittweise Eigentum von nun neun Gesellschaftern über. Diese aus der Auffanggesellschaft hervorgehenden Gesellschafter hoben mit einer finanziellen Einlage von nur 150.000 RM die Chemische Fabrik Pfersee aus der Taufe. Die Bernheims selbst gerieten infolge des Strafverfahrens, das mit fast 400.000 RM hohe Geldstrafen nach sich zog, und aufgrund des faktischen Verlusts der Firma an den Rand des Existenzminimums. Der abgeschlossene Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag verbaute zudem den Bernheimschen Familienmitgliedern jegliche weitere berufliche Perspektive im angestammten Bereich der Textilchemie, da er ihnen verbot, künftig privatwirtschaftlich mit der Chemischen Fabrik in Konkurrenz zu treten. Der Familie blieb in der Folge nur noch die Beantragung des Armenrechts, das ihr allerdings verwehrt blieb. 2. Einvernehmliche Übereignung oder erzwungene „Arisierung“? Noch im Laufe des Jahres 1933 setzte sich bei den Bernheims die nüchterne Einsicht durch, dass die Familie ihr Unternehmen schlichtweg zu Unrecht und weit unter Wert an die Auffanggesellschaft verloren hatte. Diese Einsicht gründete auf einer völlig anderen Einschätzung der Zwangslage, die Ende März 1933 zur Ablösung der Firma durch die Auffanggesellschaft geführt hatte. Mit der Anstrengung einer Klage zur Anfechtung des Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags setzte für die ehemalige Eigentümerfamilie ein erbitterter Kampf um die Rückgewinnung des Unternehmens ein, der sich vor allem als ein Kampf um die Deutung der fraglichen Übereignung darstellte. Denn anstelle einer ökonomischen Notwendigkeit machten die Bernheims schon im Januar 1934 vor allem ein politisches Motiv für den Verlust ihrer Firma namhaft. Der Vorwurf lautete unumwunden, dass die tonangebenden Personen der Auffanggesellschaft sich den herrschenden Antisemitismus der Zeit zu eigen und zunutze gemacht hätten, um die Firma an sich zu bringen. Damit stellt sich unweigerlich die Frage, ob es sich de facto um einen „Arisierungsfall“ handelte, der zu den frühesten Enteignungen im Dritten Reich zählen würde? Zur Beantwortung dieser Frage ist die geschichtliche Betrachtung des fraglichen Eigentumsübergangs um mehrere Perspektiven zu erweitern. Dies soll im Sinne einer <?page no="344"?> Karl Borromäus Murr 344 vertiefenden historischen Kontextualisierung auf drei Ebenen geschehen. Wie kommentierte erstens die Augsburger Presse den Fall Bernheim, der mit dem Strafprozess gegen die Familie im Februar 1934 eine sehr hohe öffentliche Aufmerksamkeit erregte? Lassen sich zweitens antijüdische Motive bei den Mitgliedern der Auffanggesellschaft nachweisen? Und wie stellte sich drittens in der Selbstwahrnehmung der Bernheims der Antisemitismus rund um die Firmenübertragung dar? Dass bereits die staatlichen Devisen- und Zollfahndungsstellen, die ihre Untersuchung gegen die Bernheims Anfang Februar 1933 eingeleitet hatten, antijüdischen Motiven folgten, steht zu vermuten, lässt sich jedoch nicht konkret belegen. Bei der Augsburger Polizei als der zuständigen Verfolgungsbehörde äußerte sich jedoch gegenüber dem in Haft genommenen Willy Bernheim ein offener Antisemitismus. Ein solcher brach sich unverhohlen auch an anderer Stelle Bahn. Untersucht man nämlich die Schlagzeilen der „Neuen National-Zeitung“, des offiziellen Publikationsorgans der Nationalsozialisten in Bayerisch-Schwaben, so lässt sich dort in den ersten Monaten nach der „Machtergreifung“ eine ungemein aufgeheizte antisemitische Propaganda vernehmen, die mit dem notorischen Repertoire von Stereotypen und Verschwörungstheorien operierte. Bereits am 2. März 1933 griff das Blatt den Fall Bernheim auf. 7 Für den Autor des Beitrags hingen die fraglichen Vorgänge selbstverständlich mit dem „jüdisch-marxistischen System“ zusammen, dessen Vertreter sich in der Weimarer Republik im „Sumpfe der Korruption und Schiebung“ gesuhlt hätten. 8 Die Juden seien als „besonders vorsichtige Spekulanten“ bekannt, die - gegen Deutschland gerichtet - dafür sorgten, „daß für sie im Auslande jederzeit eine Zufluchtstätte bereitstand.“ 9 Bereitwillig wiederholte der Artikel haltlose Spekulationen: „Eine ganze Million Steuergelder sei hinterzogen worden; Bernheim habe in Kalifornien große Farmen aufgekauft usw.“ 10 In klischeehafter Weise diffamierte der Autor das Ansehen der Bernheims, die doch „zu den reichsten Leuten Augsburgs“ 11 zählten. Sie hätten „es also nicht nötig“ gehabt, „den Staat, der ihnen die Möglichkeit gab, sich Reichtümer zu erwerben, um die Steuern zu betrügen.“ 12 Schließlich unterstellte die Zeitung den Bernheims schlichtweg „Haß gegen einen Staat, der sich von Tag zu Tag mehr seiner nationalen Pflichten bewußt wurde und damit in immer schärferen Gegensatz zum internationalen Judentum“ 13 geriet. 7 Vgl. „Steuerhinterziehung einer Augsburger jüdischen Firma. Finanzamt um Hunderttausende geschädigt“, in: Neue National-Zeitung, 2.3.1933. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. <?page no="345"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 345 Der publizistische Antisemitismus in der „Neuen National-Zeitung“ spitzte sich bis zum 1. April 1933 noch weiter zu - einem Tag, für den das von Julius Streicher, dem Herausgeber des berüchtigten Hetzblattes „Der Stürmer“, geleitete „Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Greuel-und Boykotthetze“ zu einem reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte aufgerufen hatte. An dieser Stelle seien einige Schlagzeilen aus dem Fuggerstädter NS-Organ herausgegriffen, die die im März 1933 deutlich anschwellende antijüdische Propaganda belegen, wie sie die Augsburger Öffentlichkeit regelrecht penetrierte. Dabei richtete sich die publizistische Agitation, die vor Pogromandrohungen nicht zurückschreckte, vor allem gegen das wirtschaftliche Gebaren jüdischer Unternehmer oder Geschäftsinhaber. Die folgenden Schlagzeilen bieten eine Auswahl vom 1. März bis 3. April 1933: „Bayern - das Eldorado der Juden“ 14 , „Schließung der jüdischen Warenhäuser“ 15 , „Bei einem Attentat auf Adolf Hitler Judenpogrome zu erwarten“ 16 ; „Eine öffentliche Anfrage. Wie steht es mit den Steuerschulden der [Augsburger] Juden Kuhn und Landauer“ 17 , „Schließung sämtlicher jüdischer Warenhäuser u. Einheitspreisgeschäfte“ 18 , „Mobilisiert den Abwehrkampf gegen die Juden“ 19 , „Wir erklären Alljuda den Krieg“ 20 , „Deutsche, schämt Euch, bei Juden zu kaufen! “ 21 , „Deutsche, boykottiert die Juden! “ 22 , „Meidet jüdische Aerzte und Rechtsanwälte! 23 , „Jetzt beginnt der Kampf gegen das Judentum mit allen Mitteln! “ 24 , „Der Jude lügt“ 25 oder „Augsburgs Juden unter Boykott.“ 26 14 Neue National-Zeitung, 1.3.1933. 15 Neue National-Zeitung, 9.3.1933. 16 Neue National-Zeitung, 14.3.1933. 17 Neue National-Zeitung, 17.3.1933. Vgl. auch „Noch nie erlebte Massenmorde und Judenpogrome, wenn ein verbrecherischer Schuß auf Adolf Hitler fällt“, in: Neue National-Zeitung, 21.3.1933. 18 Neue National-Zeitung, 24.3.1933. 19 Neue National-Zeitung, 28.3.1933. 20 Neue National-Zeitung, 28.3.1933. Vgl. auch „Der Kampf gegen Alljuda beginnt“ und „Gebt den Juden auf ihre Hetze Antwort! “. Beide Artikel in: Ebd. 21 Neue National-Zeitung, 28.3.1933. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Neue National-Zeitung, 29.3.1933. Vgl. auch „Ein jüdischer Krieg gegen Deutschland trifft das Judentum in Deutschland mit voller Schärfe“, in: Neue National-Zeitung, 30.3.1933. 25 Neue National-Zeitung, 31.3.1933. Vgl. auch „Der Kampf gegen Alljuda“, in: Ebd. Die letztere Schlagzeile findet sich auch einen Tag später, in: Neue National-Zeitung, 1.4.1933. Vgl. auch „Der heilige Krieg gegen Juda! “, in: Neue National-Zeitung, 1.4.1933. Vgl. auch „Jüdischer Greuelhetzer zu einem Jahr Gefängnis verurteilt“, in: Ebd. 26 Neue National-Zeitung, 3.4.1933. Vgl. auch „Deutschlands Triumph über das Judentum! “, in: Neue National-Zeitung, 4.4.1933 und: „Wie die Juden die Welt belügen. Der Bayerische Staat und die Juden“, in: Neue National-Zeitung, 6.4.1933. <?page no="346"?> Karl Borromäus Murr 346 Da mit dem 1. April 1933 der erste offizielle antijüdische Boykott des Dritten Reichs zeitlich mit dem Abschluss des Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags der Bernheimschen Firma zusammenfiel, mag die allgemeine antisemitische Hetze, wie sie die „Neue National-Zeitung“ anheizte, auch die Wahrnehmung respektive Beurteilung der im Mittelpunkt stehenden jüdischen Industriellenfamilie beeinflusst haben, die man doch eines - für die nationalsozialistische Ideologie - stereotypen Verbrechens, nämlich eines Steuer- und Devisenvergehens, schuldig glaubte. 27 Richtet sich das Interesse unserer Untersuchung auf mögliche antisemitische Motive, die die Gründer der Auffanggesellschaft zu einem Agieren gegen die Familie Bernheim veranlasst haben könnten, so ist zu konstatieren, dass nachweislich sechs der insgesamt neun Personen der Auffanggesellschaft Mitglieder der NSDAP gewesen sind. Ins Auge fällt, dass Horst Steiner just zum 1. April 1933 der Partei beitrat ebenso wie Albert Patuschka und Alfred Lorentz, 1935 folgte Herbert Scharf. Aus dem Personenkreis der Gesellschafter seien gegen Ende März 1933 aber vor allem der damals dritte Prokurist Steiner, dann Patuschka, Scharf sowie Walter Zetzsche - letzterer trat jedoch nicht der NSDAP bei - durch ihre besonders harte Haltung gegenüber der Familie Bernheim bei den Vertragsverhandlungen hervorgetreten. Der Generalbevollmächtigte Büttner, den Siegfried Bernheim am 27. März 1933 mit dem Schicksal des Unternehmens betraut hatte, sah in Steiner und Scharf die entscheidenden Rädelsführer, die sich in den fraglichen Märztagen zum Sprachrohr des Unternehmens aufgeschwungen und ungeheuren Druck gegenüber der Bernheimfamilie aufgebaut hätten. Die beiden Genannten schilderten in ihren Verhandlungen mit Büttner offensichtlich die ökonomische Situation des Unternehmens in dunkelsten Farben, als ob dessen Bankrott unmittelbar bevorstünde. Darüber hinaus erklärten sie unzweideutig, „dass sie auf keinen Fall für [die Familie Bernheim] weiter arbeiten würden und sie geschlossen […] die Arbeit niederlegen, auch dann, wenn der prekäre Finanzstatus nicht existieren würde.“ 28 In diesem Zusammenhang sei dahingestellt, ob die Mitglieder der Auffanggesellschaft ihre moralisch begründete Ablehnung, für die Familie Bernheim weiterhin tätig zu sein, auch gegenüber einem nicht-jüdischen Unternehmer aufgebracht hätten. Wie weit der auch die Bernheims betreffende Antisemitismus in der Chemischen Fabrik in jener Zeit über die Führungsriege hinaus verbreitet war, belegt eine umfangreiche Zeugenaussage, die der ehemalige Vorarbeiter Alfred Zacherl nach dem Zweiten Weltkrieg zu Protokoll gab. 29 27 Vgl. allgemein: B AJOHR , „... Die hatten immer das meiste Geld“. 28 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. 29 Vgl. StAA, Spruchkammer Augsburg-Stadt II und IV Akten, St 415, Zeugenaussage von Alfred Zacherl vom 2.6.1946. <?page no="347"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 347 Büttner selbst hatte am 31. März 1933 seinen in Untersuchungshaft sitzenden Schwiegersohn Willy Bernheim mit dem überaus nachteiligen Vertragsangebot der bereitwilligen Auffanggesellschaft konfrontiert. „Die Leute haben mir einen Vertrag vorgelegt, den sie als Ultimatum bezeichnen. Es ist schrecklich und Ihr verliert Alles.“ 30 Um Gefahr für Leib und Leben abzuwenden, bliebe keine andere Alternative, so Büttner, als den Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag anzunehmen, „weil die Folgen einer Weigerung unabsehbar wären.“ 31 In dieser repressiven Lage hielt Büttner eine Lynchjustiz gegen die Familie seines Schwiegersohns durchaus für möglich. „Stell’ Dir nur vor“, so Büttner gegenüber Willy Bernheim, „wenn [Steiner] am Montag den Bankrott erklären lässt, und die Angestellten brotlos werden, dann müsst Ihr damit rechnen, dass die Strasse gegen Euch mobil gemacht wird, Eure Wohnungen gestürmt werden und Ihr damit Eure Frauen und Kinder in Lebensgefahr bringt.“ 32 Der enorme Druck, der solchermaßen von Mitgliedern der Auffanggesellschaft ausging, musste auf Willy Bernheim umso realer wirken, als sich die nationalsozialistische Regierung die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Beginn an auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Das von Steiner und seinen Kollegen heraufbeschworene Menetekel von der bevorstehenden Brotlosigkeit der Bernheimschen Beschäftigten, das sich doch gegen die Eigentümerfamilie gewaltsam entladen könnte, 33 fügte sich in die allgemeine Drohkulisse brauner Politik, die sich von jüdischen Unternehmern keinesfalls Arbeitsplätze aufs Spiel setzen lassen wollte. Gegen Steiner sollten sich dann auch die Vorwürfe nach dem Zweiten Weltkrieg häufen. Die Spruchkammer IV (Augsburg Stadt) stufte ihn anfangs in die Gruppe der „Nutznießer und Aktivisten“ ein. 34 Denn der Betroffene, so die Begründung, führte 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Auch Zetzsche habe bei einer Verhandlung den Bernheims gedroht, dass der Auffanggesellschaft noch ganz andere Mittel zur Verfügung stünden, um die alten Eigentümer zur Annahme des Vertrages zu zwingen. Vgl. StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 3, Spruchkammer gegen Steiner Horst, 6.8.1947, Abschrift. Eine Gewaltandrohung gegenüber der Familie Bernheim ist auch von anderer Seite her überliefert. So forderten Mitglieder der Auffanggesellschaft vom Direktor des Bernheimschen Tochterunternehmens in Zürich die Übertragung auch der Schweizer Patente an die neue Chemische Fabrik Pfersee, indem sie drohten, „dass im Falle einer Absage das Leben der Herren Bernheim in Gefahr schwebe“. StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Erba Fabrik Chemische Produkte, Spezialitäten für Textilindustrie, an L.W. Jefferson, Chief Property Control Branch, Finance Division, 12.11.1946, Abschrift. 34 Vgl. StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 2. <?page no="348"?> Karl Borromäus Murr 348 nach Übernahme der Bernheimschen Firma „den Betrieb und zwar nur nach Nazimethoden. Es durfte auf Anordnung des Beschuldigten im Betrieb nur mit ‚Heil Hitler‘ gegrüsst werden.“ Auch hätte der Betroffene einen Anschlag heraus gegeben, „wonach jedem Gefolgschaftsmitglied verboten ist, sich mit den Bernheim’s in irgendeiner Form in Verbindung zu setzen. Nichtbefolgung des Anschlags wird mit Entlassung und Anzeige bei der Gestapo bestraft.“ 35 Steiner hätte auch Gegnern des Nationalsozialismus im Unternehmen stark zugesetzt. So wurde etwa einem Mitarbeiter „mit allen Raffinessen und Schikanen das Leben im Betrieb verekelt und zuletzt wurde er entlassen.“ 36 Als dieser Beschäftigte „schon in anderem Betriebe“ tätig war, sei „er noch von dem Betroffenen verfolgt und arbeitslos gemacht“ 37 worden. Neben Steiner kannten aus dem Personenkreis der Auffanggesellschaft offenbar auch Patuschka und Scharf keine Skrupel, mit Berufung auf die NSDAP gehörigen Druck auf den zuständigen Dezernenten Hofmann des Landesfinanzamts München auszuüben, der qua Amt den Übernahmevertrag zu prüfen und diesem gegebenenfalls zuzustimmen hatte. Hofmann, der das Vertragswerk als eindeutige Übervorteilung der Familie Bernheim ansah und deshalb einen doppelt so hohen Ablösungszins forderte, fügte sich jedoch der erpresserischen Repression. So bekannte er später gegenüber Willy Bernheim: „Gegen solche Gangstermethoden war ich natürlich machtlos.“ 38 Erst mit der Unterschrift Hofmanns war die Auffanggesellschaft auch in den Besitz der Bernheimschen Mobilwerte gelangt, deren Verlust die Bernheimfamilie an den Rand der Armut beförderte. Bei der Suche nach antijüdischen Motiven bei der Übernahme des Bernheimschen Industrieunternehmens ist schließlich auch die Rolle des Generalbevollmächtigten Büttner kritisch zu hinterfragen, des Schwiegervaters von Willy Bernheim. Inwieweit Büttner die ökonomische Situation der Firma treffend eingeschätzt oder ob er vielmehr die Brisanz der Lage beim Haftbesuch seines Schwiegersohns vorbedacht zugespitzt hat, um das in Rede stehende Unternehmen in „arische“ Hände zu bringen, lässt sich nicht mit Sicherheit klären. Curt Bernheim äußerte nach dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls den Verdacht, dass Büttner, der Schwiegervater seines Bruders, angesichts des an die Macht gelangten Nationalsozialismus versucht habe, „den Makel einer plötzlich anrüchig gewordenen jüdischen Verwandtschaft so nachdrücklich wie möglich abzustreifen und sich durch eine grosse Geste auf unsere Kosten gegenüber 35 StAA, Spruchkammer Augsburg-Stadt II und IV Akten St 415, Klageschrift gegen Steiner Horst. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. <?page no="349"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 349 der neuen Herren zu legitimieren.“ 39 Weit schärfer noch kritisierte Willy Bernheim die antijüdische Einstellung seines Schwiegervaters. „Büttner war immer ein Anhänger der Äussersten-Rechten der Deutschnationalen und ein starker Antisemit. Er widersetzte sich lange Zeit meiner Verlobung mit seiner Tochter, mit der Behauptung, man heirate weder Neger noch Juden. Beim Aufkommen des Nationalsozialismus schwenkte er dann in deren Lager über. Er pöbelte mich noch im Gefängnis rassisch an, und die Tatsache, dass er förderndes Mitglied der SS wurde, führte zum völligen Bruch zwischen uns.“ 40 Aus der Sicht der Familie Bernheim hingegen lag der ausschlaggebende Beweggrund für den Verlust ihrer Firma inzwischen klar auf der Hand. Demnach nutzten leitende Angestellte der Bernheims vorsätzlich die antisemitische Stimmung, die spätestens mit der strafrechtlichen Verfolgung der Familie im Februar 1933 eingesetzt und sich bis Ende März hochgeschaukelt hatte, um letztlich die Fabrik an sich zu bringen. „Unsere Angestellten“, so Willy Bernheim, „hatten die Konjunktur rasch gewittert und setzten sich, beschleunigt durch Drohung und Betrug, gestützt durch die nationalsozialistischen Untersuchungsbeamten, in den Besitz der Werke.“ 41 Für Willy Bernheim stellte deshalb der Verlust des Unternehmens einen augenfälligen „Treubruch unserer ehemaligen Geschaeftsangestellten“ dar, „der sich bis zum Diebstahl unseres Vermoegens steigerte“ 42 . In der Tat nutzten die Initiatoren der Auffanggesellschaft nationalsozialistischen, d.h. politisch motivierten Druck, den sie offensichtlich auf verschiedenen Ebenen auszuüben verstanden, um zu äußerst fragwürdigen Konditionen an das Bernheimsche Unternehmen zu kommen. Dass die Bernheims in dem auf zehn Jahre angelegten Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag einen Pachtzins erhielten, verschleiert die Tatsache, dass dieser Zins angesichts des Pachtgegenstands viel zu niedrig ausfiel. Es steht überdies zu vermuten, dass die Profiteure dieses Vertrages in der Endphase der Verhandlungen mit den Bernheims die betriebswirtschaftliche Situation des Unternehmens dramatisiert haben, um den Druck auf die alten Firmeninhaber deutlich zu erhöhen - was auch nach damaligem Zivilrecht als arglistige Täuschung einzustufen wäre. Die kompromisslosen Verhandlungsführer der Übernahmepartei 39 StAA, Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben a-Akten 104, Exposé von Curt Bernheim über den Verlust des Familienunternehmens, beglaubigt in Zürich am 31.5.1948, 2. Vgl. auch R ÖMER , „Halbjude“, 13. 40 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. 41 PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie, 11. 42 Ebd., 11f. <?page no="350"?> Karl Borromäus Murr 350 schreckten zudem nicht davor zurück, der Familie Bernheim Gewalt anzudrohen, falls diese sich nicht auf das Vertragsangebot einließe. 43 Der Fall Bernheim verweist über die in der Auffanggesellschaft vorhandene antijüdische Haltung hinaus zudem auf einen - wie bereits angedeutet - mehr oder weniger latenten Antisemitismus staatlicher Behörden, die in ihrer Verwaltungspraxis dem diskriminierenden Verhalten der „Ariseure“ entweder in passiver Manier nichts entgegensetzten oder ihm aktiv Vorschub leisteten und zum Teil - wie im vorliegenden Zusammenhang - äußerst rabiat gegen die Verdächtigten wie Willy Bernheim vorgingen. 44 Dieser berichtet, dass er im Untersuchungsgefängnis „zum ersten mal einem mit allen Abzeichen der Partei dekorierten Beamten gegenuebergestellt“ wurde, „der sich sofort in den wuestesten Ausfaellen von Volksschaedling, Genickbrechen“ 45 oder auch „Judenbande“ 46 erging. Der hier aufscheinende systemische Antisemitismus betraf auch die Bernheimschen Anwälte, aus deren Kreis Theodor Löwenstein beim Besuch des inhaftierten Unternehmers bekannte: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid Sie mir tun, denn es werden sehr schwarze Tage für Sie kommen, und ich befürchte das Schlimmste. Ich muss fliehen, denn sonst werde ich erschlagen.“ 47 Nachdem ein weiterer Untersuchungsbeamter Willy Bernheim sogar vortäuschte, man hätte inzwischen selbst dessen Frau verhaftet, verwundert es nicht mehr, dass angesichts solcher Pressionen der in Haft Genommene schließlich in das fragliche Übernahmeangebot einwilligte. 48 So lässt sich nach sorgfältigem Abwägen der vorhandenen Quellen das Vorgehen der Auffanggesellschaft, das Bernheimsche Unternehmen in ihren Besitz zu bringen, letztlich als ein Fall von „Arisierung“ einstufen, die in der Spielart einer schleichenden Enteignung daherkam. Seinen besonderen Charakter gewinnt dieser Fall durch den außergewöhnlich frühen Zeitpunkt, der vor allen späteren gesetzlichen Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates zur Verdrängung von Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben lag. Deshalb formulierte Franz Reichenbach, der Anwalt von Curt 43 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Erba Fabrik Chemische Produkte, Spezialitäten für Textilindustrie, 12.11.1946 an L.W. Jefferson, Chief Property Control Branch, Finance Division, Abschrift. 44 Vgl. allgemein K ULLER , Bürokratie, 11-29. 45 PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie, 5. 46 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. Zum systemischen Antisemitismus der Behörden die Beobachtung des Anwalts der Familie Bernheim nach dem Zweiten Weltkrieg: StAA, Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben a-Akten 104, Otto Leibrecht an die Wiedergutmachungsbehörde Schwaben, 12.3.1949. 47 Ebd. Vgl. auch PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie, 12. 48 Vgl. ebd., 6. <?page no="351"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 351 Bernheim, im Juni 1945 zu Recht, dass der Verlust des Familienunternehmens „eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ 49 darstellte. Demnach begannen die antisemitisch motivierten Akteure schon unmittelbar nach der „Machtergreifung“ auf jüdische Vermögen zuzugreifen, was die NS-Ideologie über Jahre vorbereitetet hatte. Im Fall Bernheim spielte die antijüdische Diskriminierung ohne Zweifel bereits im März 1933 eine entscheidende Rolle. Die Mitglieder der Auffanggesellschaft nutzten dabei die antisemitische Gunst der Stunde, um - jenseits von konkreten staatlichen oder parteilichen Weisungen - privatwirtschaftliches Eigentum der Familie Bernheim in ihren Besitz zu bringen. Der umstrittene Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag bemäntelte lediglich einen kapitalen Rechtsbruch, der als kontraktmäßige und verwaltungstechnische Normalität erscheinen sollte. Der fragliche Vertrag, in den die Bernheims zunächst eingewilligt hatten, erweckt den Eindruck einer freiwilligen „Arisierung“, obwohl er doch nur unter großem Zwang zustande gekommen war. Mit der Drohung, künftig nicht mehr für die „unsittlichen“ Bernheims arbeiten zu wollen, stellte sich jedenfalls die Auffanggesellschaft, ohne den Ausgang des Strafprozesses überhaupt nur abzuwarten, moralisch über die jüdischen Eigentümer der begehrten Fabrik. Diese moralische Überheblichkeit implizierte ein rassistisches Momentum, das dazu diente, den erpresserischen Druck auf die Bernheims noch zu erhöhen. Auch wenn dieser Druck aktiv nur von manchen Mitgliedern der Auffanggesellschaft ausgegangen sein mochte, die sich mit ihren NSDAP-Parteieintritten eindeutig positionierten, schlugen letztlich sämtliche neun Gesellschafter daraus ihr Kapital, wurden mithin zu Nutznießern eines politischen Kalküls, das vom Nationalsozialismus profitierte. 3. Die Verquickung des Strafverfahrens mit der Enteignung der Bernheims Was die „Ariseure“ der Auffanggesellschaft kausal miteinander verknüpften, nämlich die den Bernheims zur Last gelegten Straftatbestände einerseits und die davon abgeleitete quasi-Enteignung der Firma andererseits, sind juristisch jedoch als zwei streng voneinander zu trennende Sachverhalte zu betrachten. Die „Ariseure“ verquickten jedoch beide Materien auf das engste miteinander, um ihr unrechtmäßiges Handeln zu rechtfertigen. Aus der wirtschaftlich prekären Lage, in die die Bernheims im Gefolge 49 PA M. Bernheim, Franz Reichenbach an die Amerikanische Gesandtschaft, Bern, 27.6.1945, Abschrift. Im StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1 findet sich die englische Version des Schreibens. <?page no="352"?> Karl Borromäus Murr 352 des im Februar 1933 eingeleiteten Strafverfahrens zweifellos geraten waren, den ungenierten Zugriff auf das Privateigentum der Unternehmerfamilie abzuleiten, genügte den Mitgliedern der Auffanggesellschaft indes nicht. Es bedurfte darüber hinaus der gesinnungsmäßigen Anklage des Versagens der Bernheims „auch [in] moralischer Sicht“ 50 , um das fragwürdige Vorgehen der „Ariseure“ vollends zu legitimieren. In dieser Hinsicht erscheint dann auch die Untersuchung des im Februar 1934 gegen die Bernheims geführten Strafprozesses von Interesse, der doch über den Eigentumsübergang des Familienunternehmens überhaupt nicht zu befinden hatte. Dass zwei Mitglieder der Auffanggesellschaft im Strafprozess, der am Landgericht Augsburg verhandelt wurde, als Zeugen auftraten, darf als besondere Pikanterie eines an sich berechtigten Verfahrens gewertet werden, das die „Ariseure“ für ihre Zwecke missbrauchten. 51 Gegen die richterliche Bewertung der Straftaten der Bernheims, die nach geltendem Recht nicht unerhebliche Steuer- und Devisenvergehen begangen hatten, lässt sich, sobald das Strafverfahren erst einmal eröffnet war, formal-juristisch - bis hin zum Strafmaß - wenig einwenden. Allein dass solcherart Verfahren sich vornehmlich gegen jüdische Steuersünder richteten, die unter erhöhter Beobachtung der fiskalischen Behörden standen, 52 legt das tiefere Motiv des nationalsozialistischen Staates offen, kurz nach der Machtergreifung jüdische Unternehmer zu inkriminieren und eines staatsfeindlichen Handelns zu überführen. Es erscheint deshalb nicht vermessen zu vermuten, dass sich die Ermittlungsbehörden - ganz im Geist des neuen Regimes - bewusst des Falles Bernheim bemächtigten, um daran ein Exempel zu statuieren, das vollends den ideologischen Erwartungen nationalsozialistischer Verschwörungstheorie entsprach. In diesem Sinne stellte dann auch die öffentliche Verhandlung des Falles Bernheim im Februar 1934 kein herkömmliches Strafverfahren dar, sondern vielmehr einen Schauprozess, der großes öffentliches Interesse auf sich zog. 53 So erklärte die nationalsozialistisch gesinnte „Neue National-Zeitung“, über den „Bernheim-Prozeß, 50 StAA, Spruchkammer Ausburg-Stadt II und IV Akten St 415, Horst Steiner an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, Prüfungsausschuss, 22.4.1946. 51 Neue Augsburger Zeitung, 12.2.1934. 52 Vgl. D RECOLL , Fiskus, 175f. Aufgrund der kapitalkräftigeren Finanzlage jüdischer Unternehmer gerieten sie schon aus strukturellen Gründen vermehrt in das Fadenkreuz der Ermittler. Konkrete antisemitische Motive bei einzelnen Beamten lassen sich nicht einfach nachweisen. Im Lauf der Jahre der Verfolgung treten sie gleichwohl immer stärker in den Vordergrund. Vgl. ebd., 205. 53 Vgl. PA M. Bernheim, Willy Bernheim, Autobiografie, 8: „Die Presse bemaechtigte sich unsers Falles und pries in den gluehendsten Farben die Gerechtigkeit des nationalsozialistischen Staates, der nicht nur die Kleinen, sondern auch die Grossen traf, und der nach einem Jahr Untersuchungshaft in Scene gesetzte Prozess, der ein wahres Schauspiel fuer die ganze Stadt war, wurde in theatralischen [sic] Ausmasse aufgezogen. Es waren wirklich ‚Circenses‘.“ <?page no="353"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 353 der weit über Augsburgs Mauern hinaus Aufsehen erregte“ 54 : „Der Prozeß nahm eine Sonderstellung ein, da man auch - wie Regierungsrat Schütz vom Finanzamt Augsburg Stadt im Lauf der Verhandlung mitteilte - bei der Reichsfinanzverwaltung und bei anderen Regierungsstellen an dem Ausgang dieses Prozesses in besonderem Maße interessiert ist.“ 55 Willy Bernheim nahm die nationalsozialistische Vereinnahmung des fraglichen Prozesses treffend wahr. „Meine Verteidigung, die sich zur Hauptsache der politischen Seite zuwandte, wurde, da ich Jude war, nicht anerkannt.“ 56 Das Plädoyer des Staatsanwalts im Bernheim-Prozess spiegelte zugleich die neuen Grundlinien des nationalsozialistischen Rechtsverständnisses wider. Anders als die liberale bzw. individualistische Rechtstheorie, wie sie noch in der Weimarer Republik vorherrschte, berief sich der nationalsozialistisch gesinnte Staatsanwalt auf den „Wirtschaftsgrundsatz ‚Gemeinnutz vor Eigennutz‘“ 57 . Geldmittel vor dem heimischen Fiskus verborgen ins Ausland zu schaffen, wertete der Staatanwalt nun nicht mehr nur als ein Vergehen gegen das staatliche Gemeinwesen, sondern auch gegen das deutsche Volk. In diesem Sinne hätten sich die Angeklagten Bernheim vor allem „des Volksbetruges schuldig gemacht“ 58 - eines Verdiktes, das umso leichter fiel, als die nationalsozialistische Ideologie Juden von vornherein aus der sogenannten Volksgemeinschaft ausschloss. Und so resümierte die „Neue National-Zeitung“ die politische Bedeutung des Bernheim-Prozesses, dass der neue Staat „auch dafür sorgen“ werde, „daß sich solche Vergehen gegen Volk und Staat nicht mehr wiederholen können.“ 59 4. Die Anfechtung des Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags durch die Bernheims Als im zeitlichen Umfeld des Bernheim-Prozesses die Nachricht an die Öffentlichkeit drang, dass die Unternehmerfamilie den umstrittenen Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag mit der Begründung eines Verstoßes gegen die guten Sitten anfechten wolle, wozu dem einzig handlungsfähigen Curt Bernheim die finanziellen Mittel fehlten, 60 lancierte die Chemische Fabrik Pfersee in der „Neuen National-Zeitung“ einen 54 Neue National-Zeitung, 14.2.1934. 55 Ebd. 56 PA M. Bernheim, Willy Bernheim Autobiographie, 6. 57 Neue National-Zeitung, 14.2.1934. 58 „Das Urteil im Bernheimprozeß“, in: Neue Augsburger Zeitung, 15.2.1934. 59 Neue National-Zeitung, 14.2.1934. 60 Vgl. PA M. Bernheim, Reichenbach an Amerikanische Gesandtschaft, Handelsattaché, Bern, 5.1.1947. Im StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1 befindet sich eine englische <?page no="354"?> Karl Borromäus Murr 354 Artikel, der unverhohlen Stimmung gegen die Bernheims machte. 61 Wiederum rechtfertigten die neuen Besitzer der Fabrik ihr Vorgehen gegen die Bernheims als moralisch legitim. „Unsittlich war […] allein das Verhalten der Herren Bernheim. Durch die volkschädigenden Machenschaften der Herren Bernheim wurde die Existenz der Arbeiter und Angestellten der Firma R. Bernheim in leichtfertiger Weise auf’s Spiel gesetzt.“ 62 Dieses als „Volksschädigung“ deklarierte Verhalten hätte die Auffanggesellschaft in das Recht versetzt, das Bernheimsche Eigentum im Sinne des Fortbestands der Beschäftigten gleichsam zu vergemeinschaften. Würden die Bernheims hingegen ihr Unternehmen zurückerhalten, so vergingen sie sich dadurch aufs Neue am „deutschen Volksvermögen“ 63 , auf das die jetzt „arischen“ Eigentümer der Chemischen Fabrik Pfersee in rassistischer Ausgrenzung exklusiven Anspruch zu haben glaubten. Die in der „Neuen National-Zeitung“ zum Ausdruck gekommene antisemitische Haltung fand sich durchaus in der Belegschaft des Pferseer Unternehmens verwurzelt, die fast einmütig eine gegen die Bernheims gerichtete Resolution unterzeichneten. Wer sich aus der Belegschaft nicht in diese Resolution fügte, wurde wie der offenbar sozialdemokratisch gesinnte Alfred Zacherl als „Judenknecht“ 64 beschimpft. Bevor die Bernheims finanziell überhaupt dazu in der Lage waren, das umstrittene Vertragswerk juristisch anzufechten, erhob die Chemische Fabrik Pfersee am 14. Juni 1934 Klage beim Landgericht Augsburg mit dem Ziel, die Rechtsgültigkeit des fraglichen Kontrakts gegen mögliche Einsprüche abzusichern. Dieser Schritt veranlasste die Bernheimsche Partei zur prompten Widerklage, verbunden mit der Forderung, das verloren gegangene Unternehmen zurückzuerstatten. Als die Chemische Fabrik Pfersee dieses Ansinnen mit dem Versuch konterte, die Widerklage abzuweisen, mussten endgültig die Gerichte entscheiden. Aber weder vor dem Landgericht Augsburg, das am 6. Februar 1935 die Bernheimsche Anfechtung ablehnte, noch beim Oberlandesgericht München, das nach eingelegter Berufung am 28. Mai 1936 das Urteil der vorigen Instanz bestätigte, konnten die früheren Eigentümer mit ihrer Rückforderung durchdringen. Da das Oberlandesgericht auch in seiner Argumentation dem Landgericht folgte, lassen sich beide Verfahren zusammenfassen. Wie begründeten die Bernheims ihre Anfechtung des fraglichen Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags vor Gericht? 65 Die Bernheimschen Anwälte machten Version des Schreibens. 61 Neue National-Zeitung, 14.2.1934. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 StAA, Spruchkammer Augsburg-Stadt II und IV Akten St 415, Zeugenaussage von Alfred Zacherl vom 2.6.1946. Die in Rede stehende Resolution hat sich leider nicht erhalten. 65 StAA, Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben a-Akten 104, Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichtes München unter dem Vorsitzenden Hans Ehard, verkündet am 28.5.1936. <?page no="355"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 355 den Antisemitismus als ein zentrales Motiv der Firmenübernahme durch die Auffanggesellschaft verantwortlich - eine handlungsleitende Ideologie, die sie juristisch für äußerst zweifelhaft hielten. Sie führten deshalb ins Feld, „dass es gerade in der heutigen Zeit als ein Verstoss gegen die guten Sitten angesehen werden müsse, wenn jemand, der einen Juden bekämpfe und für einen Juden nicht mehr weiterarbeiten wolle, sich von einem Juden derartige Vermögensvorteile geben lasse ohne jede entsprechende Gegenleistung.“ 66 Die antijüdische Zwangslage, in die die Bernheims in den Monaten Februar und März 1933 geraten waren, hätte - umgekehrt - für Mitglieder der Auffanggesellschaft als „Arier“ überhaupt keine Rolle gespielt. Die urteilenden Richter teilten - paradoxer Weise - bis zu einem gewissen Grad sogar die Auffassung der Bernheims, indem sie in den „politischen Verhältnisse[n]“ 67 einen wesentlichen Einflussfaktor auf die Ereignisse zwischen Ende März und Anfang April 1933 erkannten. Wiederholt wiesen sie auf den nicht zu leugnenden Einfluss „des in den Tagen vor dem 31. März 1933 angekündigten und am 1. April 1933 in ganz Deutschland einsetzenden politischen Boykotts gegen die jüdischen Geschäfte“ 68 hin. Während die Bernheims in dem Judenboykott, mit dem sich Mitglieder der Auffanggesellschaft offenbar solidarisierten, 69 eine unrechtmäßige Benachteiligung für die Bewertung der Sachlage Ende März 1933 erkannten, erklärten die Gerichte die genannte Bedrohung zu einem unvermeidlichen Sachzwang, aus dem sich kein Rechtsanspruch für die ehemaligen Eigentümer der Fabrik ableiten ließe. Obgleich die Richter die für die Bernheims bestandene politische Zwangslage ausdrücklich bestätigten, die dann die Auffanggesellschaft mit ihren antisemitischen Sympathien trefflich auszunutzen wusste, sahen sie in ihrer abschlägigen Urteilsbegründung darin schlechterdings kein Unrecht. Dementsprechend verneinte der Senat des Oberlandesgerichtes in seinem abschließenden Urteil, dass „der in Frage stehende Vertrag, nach Inhalt, Beweggrund und Zweck gegen das gesunde Volksempfinden“ und „gegen die guten Sitten“ verstoße. 70 Die Berufung des Obersten Landesgerichts München in seinem Urteil vom 28. Mai 1936 auf das erst ein Jahr zuvor in das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommene „gesunde Volksempfinden“ unterstrich den gewachsenen Interpreta- 66 Ebd., 24. 67 Ebd., 43. 68 Ebd. 69 In der Tat hatten die Sprecher der Auffanggesellschaft gedroht, das Bernheimsche Unternehmen zu boykottieren, als sie erklärten, künftig nicht mehr für die der Unmoral bezichtigte Familie arbeiten zu wollen. 70 StAA, Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben a-Akten 104, Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichtes München unter dem Vorsitzenden Hans Ehard, verkündet am 28.5.1936, 59. <?page no="356"?> Karl Borromäus Murr 356 tionsspielraum, den die nationalsozialistische Rechtsprechung zur ebenso systematischen wie rassistischen Ausgrenzung jüdischer Ansprüche willfährig nutzte. 71 Seit der Einleitung der strafrechtlichen Untersuchung gegen die Bernheims im Februar 1933 hatte sich zudem die Gesetzeslage bedeutend verändert, die auf die Einschätzung der Richter gewirkt haben mag. Denn bis hin zur Verhandlung am Münchner Oberlandesgericht Ende Mai 1936 waren mehr als drei Jahre verstrichen, die die nationalsozialistische Legislative dazu nutzte, um eine Reihe von diskriminierenden Gesetzen zu erlassen, die den Rechtsstatus jüdischer Mitbürger substantiell verschlechterten. 72 Das „Gesetz gegen den Verrat der deutschen Volkswirtschaft“ vom 12. Juni 1933, dann das „Gesetz über die Devisenbewirtschaftung“ vom 4. Februar 1935 sowie die „Nürnberger Gesetze“ („Reichsbürgergesetz“ und „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“) 73 vom 15. September 1935 schlossen die Juden planmäßig aus der deutschen „Volksgemeinschaft“ aus und legalisierten immer weiter ausgreifend den staatlichen Zugriff auf jüdisches Vermögen. Als der größte Profiteur im Fall Bernheim trat jedoch nicht der nationalsozialistische Staat hervor, der gleichwohl fast 400.000 RM Geldstrafe für die Steuer- und Devisenvergehen erhielt, sondern die privaten Gesellschafter der Auffanggesellschaft: die „Ariseure“. Die Gerichte, die die Anfechtung des umstrittenen Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags abschlägig beurteilten, legalisierten im Nachhinein die schrittweise Entziehung jüdischen Vermögens durch die Auffanggesellschaft, die im Fortgang der nationalsozialistischen Rechtsentwicklung zunehmend mit dem neuen Rechtsverständnis übereinkam. Die Urteile des Landgerichts Augsburg und des Oberlandesgerichts München können deshalb abschließend nur als politisch-tendenziös gewertet werden. Der herrschende Antisemitismus hatte es den Bernheims im Laufe der beiden Prozesse überdies immer schwerer gemacht, für ihre Verfahren überhaupt noch Anwälte zu finden, „die das Risiko ihrer Buerozertruemmerung weil sie fuer Juden eintraten, auf sich nehmen wollten.“ 74 5. Das weitere Schicksal der Bernheims bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Willy Bernheim, der am 14. März 1935 aus der Haft in Landsberg entlassen worden war, schätzte sich zunächst glücklich, dass er von dort nicht direkt in das Konzentrationslager Dachau transferiert wurde. Auf die von seiner Familie geführten Prozesse 71 Vgl. B ARTSCH , Volksempfinden. Vgl. zu dem am 28.6.1935 eingeführten Rechtsbegriff R ÜCKERT , Volksempfinden; K LEINZ , Individuum und Gemeinschaft. 72 Vgl. allgemein: A DAM , Judenpolitik. 73 Vgl. E SSNER , Nürnberger Gesetze. 74 PA M. Bernheim, Willy Bernheim Autobiographie, 12. <?page no="357"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 357 1935 und 1936 vermochte er keinen Einfluss zu nehmen. Er zog vielmehr mit seiner Frau und den beiden Söhnen nach München, wo er für kurze Zeit bei einem jüdischen Freund Beschäftigung fand. Jedoch erlebte er in der bayerischen Landeshauptstadt, wie die antisemitischen Diskriminierungen mit der Zeit zunahmen. Diese kaprizierten sich nicht zuletzt auf den als „Volkschaedling“ 75 gebrandmarkten Willy Bernheim selbst. Dieser suchte, der zunehmenden Gefahr, in ein Konzentrationslager eingeliefert zu werden - denn der NS-Staat stellte immer stärker bereits einmal straffällig gewordenen Juden nach -, 76 durch wiederholtes Untertauchen zu entkommen. Mit juristischen Winkelzügen war die Scheidung des konvertierten Juden von seiner katholischen Frau Gisela verbunden - eine Scheidung, die Willy Bernheim das Sorgerecht der beiden Kinder entzog. 77 Auch Willys Eltern waren inzwischen nach München gezogen, wo der Vater Siegfried, gesundheitlich schwer angeschlagen, im April 1937 verstarb. Beklemmend wirken die Beschreibungen Willy Bernheims vom immer weiter eskalierenden Antisemitismus, der ihn am Höhepunkt der Novemberpogrome 1938 bei seinen jüdischen Freunden in Form von Telefonterror einholte. „Bist Du denn immer noch da, Du Saujud? Wenn Du nicht in einer Stunde aus Deutschland verschwindest, reissen wir Dir die Zunge heraus und haengen Dich am Nabel auf.“ 78 Willy versteckte sich, die nervliche Anspannung für die Familie war ungemein bedrückend. Nachdem er wie auch sein Bruder Curt zunächst noch untergetaucht war, flüchteten beide am 28. November aus Deutschland in die Schweiz. Ihre Kinder mussten sie unweigerlich zurücklassen, auch wenn die Kinder Curts - mit Ausnahme von Wolfgang - später in die Schweiz nachfolgen sollten. Auch ihre Mutter, Maria Bernheim, verblieb in Deutschland. Sie sollte nach ihrer Deportation am 14. Januar 1944 in Theresienstadt dem Holocaust zum Opfer fallen. 79 Während Curt Bernheim nach seiner Flucht in der Schweiz verblieb, führte der abenteuerliche Weg seines Bruders Willy zunächst in den Dienst der Fremdenlegion und später der französischen Armee. Als Soldat der alliierten Truppen schickte er sich schließlich im Juni 1944 an, von der Normandie aus Deutschland vom Nationalsozialismus zu befreien. Aber selbst Willys ältester Sohn Erhard war noch 1944 in die Fänge der nationalsozialistischen Verfolgung geraten. Aus dem Zwangsarbeitslager in Tiefenort an der Werra in Thüringen gelang diesem jedoch im Januar 1945 die Flucht. 80 75 Ebd., 13. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. ebd, 15. 78 Ebd., 16. 79 R ÖMER , „Halbjude“, 32f. 80 Vgl. ebd., 46-48. <?page no="358"?> Karl Borromäus Murr 358 6. Der Fall Bernheim in der Beurteilung der Wiedergutmachungsbehörde Den Verlust des Unternehmens als „Arisierungsfall“ einzustufen, ist das Ergebnis gegenwärtiger historiographischer Rekonstruktion, folgt mithin der heutigen geschichtswissenschaftlichen Auffassung. Der nun folgende Abschnitt untersucht dagegen, wie das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung in der Auseinandersetzung mit den beiden Streitparteien den in Rede stehenden Fall bewertete. 81 Die Bernheims waren bereits unmittelbar nach Kriegsende daran gegangen, die Rückerstattung ihres ehemaligen Unternehmens anzustrengen. Als handelnde Personen aus dem Kreis der Familie traten zum einen die Brüder Curt und Willy Bernheim hervor, die von der Schweiz und Frankreich aus tätig wurden, und zum anderen Willys älterer Sohn Erhard, der von Augsburg aus agierte. Letzterer brachte sich trotz seiner jungen Jahre als künftige Führungskraft des Unternehmens ins Spiel. Die Militärregierung ließ sich in der Tat auf den unerfahrenen Erhard Bernheim ein. Sie stellte diesem allerdings Zetzsche als Treuhänder zur Seite, der nicht durch eine NSDAP-Parteimitgliedschaft belastet war. Als allerdings ruchbar wurde, dass Zetzsche der ursprünglichen Auffanggesellschaft der Chemischen Fabrik Pfersee angehört hatte, ersetzte ihn die Militärregierung am 24. Mai 1946 mit dem Münchner Justizrat Ernst Seidenberger, der zugleich die Familie Bernheim anwaltlich vertrat. In seiner anwaltlichen Funktion hatte Seidenberger kurz zuvor die Gesellschafter der Chemischen Fabrik Pfersee dazu aufgefordert anzuerkennen, dass es sich beim Fall Bernheim um ein Wiedergutmachungsverfahren handelte. 82 Erst nach dieser Anerkennung würden die Bernheims in Vergleichsverhandlungen eintreten. Für die Gesellschafter wiederum hätte eine solche Anerkennung ein Schuldeingeständnis bedeutet, wogegen sie sich mit allen juristischen Mitteln zu wehren gedachten. Steiner, einer der Wortführer der Gesellschafter, fühlte sich schon seit Ende November 1945 dazu bemüßigt, sich vor dem Prüfungsausschuss der Stadt Augsburg gegen mögliche Vorwürfe des Antisemitismus zu wappnen, die er schon damals seitens der Familie Bernheim befürchtete. In einem Schreiben, das Steiner einen Monat zuvor an den jüdischen Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, Ludwig Dreifuß, gerichtet hatte, stritt jener jegliche unrechtmäßige Einflussnahme auf das Vertragswerk 81 Vgl. allgemein W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit. 82 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, R. Krieger an das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, 28.4.1947. Dort der Hinweis auf den 9.5.1946. <?page no="359"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 359 von 1933 ab, das die Bernheims doch in ungetrübter Freiwilligkeit abgeschlossen hätten. „Der Vertragsabschluss erfolgte […] in vollem beiderseitigen Einvernehmen nach mündlichen Verhandlungen, in denen von beiden Seiten alles für und wider eingehend vorgetragen wurde und zwar ohne jeden Druck von aussen, insbesondere ohne jeglichen Druck durch Parteistellen oder auf Grund rassenmässiger Einstellung.“ 83 Steiner betonte vielmehr, „dass es sich damals um den Abschluss eines normalen Übernahmevertrages hinsichtlich des Geschäftes der Firma Bernheim auf die Chemische Fabrik Pfersee handelte und in gar keiner Weise um ein sogenanntes Arisierungsverfahren.“ 84 Er verstieg sich sogar zu der Bemerkung, dass die Auffanggesellschaft die „Bernheims, die vom 3. Reich verfolgt wurden, gerettet und geschützt“ 85 hätte. Der ehemalige Wortführer der Auffanggesellschaft stritt nicht nur jedweden Antisemitismus ab, sondern sprach den Bernheims darüber hinaus jegliche Legitimität ab, über einen möglichen Antisemitismus seinerseits überhaupt befinden zu können. Dagegen wiederholte er seinen Vorwurf gegenüber der ehemaligen Eigentümerfamilie, dass sie den „den völligen Ruin der Firma, sowohl in finanzieller als auch moralischer Hinsicht“ 86 herbeigeführt hätten. Ähnlich wie Steiner äußerten sich wenig später, im Mai 1946, sämtliche Gesellschafter der Chemischen Fabrik Pfersee gegenüber der amerikanischen Militärregierung und im November 1946 gegenüber dem Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung - mit dem Ziel, ein mögliches Arisierungsverfahren abzuwenden respektive niederzuschlagen und die in „property control“ befindliche Chemische Fabrik Pfersee wieder zurück in die Hand der neun Gesellschafter zu bringen. Willy Bernheim hingegen brachte in seiner Zeugenaussage vom 20. März 1947 die Position der Bernheims auf den Punkt: „Nicht der Devisenprozess, sondern der zur Macht gekommene Nationalsozialismus ist schuld am Verlust unserer Fabrik.“ 87 Und mit Hinweis auf den administrativen Antisemitismus der NS-Finanzverwaltung fuhr Willy Bernheim fort: „Wären wir Arier gewesen, so wäre das gesamte Steuerstrafverfahren überhaupt nicht aufgerollt worden.“ 88 Für Willy Bernheim lagen die politischen Motive für den Verlust des Familienunternehmens auf der Hand. „Nur unsere Paria-Sonderstellung im Dritten Reich bildete überhaupt erst die Kulisse für die nun 83 StAA, Spruchkammer Augsburg-Stadt II und IV Akten, St 415, Horst Steiner an den Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, Ludwig Dreifuß, Prüfungsausschuss, 22.4.1946. 84 Ebd. 85 Ebd., Ausführungen von Horst Steiner. 86 Ebd. 87 Vgl. StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. 88 Ebd. <?page no="360"?> Karl Borromäus Murr 360 eintretenden Ereignisse, die den Boden für die wildeste und skrupelloseste Nutzniessung und Ausbeutung durch unsere Angestellten schufen.“ 89 Nun lag es an der Spruchkammer IV (Augsburg Stadt), den Fall Bernheim zu entscheiden, die nur über die in der amerikanischen Besatzungszone lebenden Mitglieder der Auffanggesellschaft urteilen konnte. Nach Ende der Beweisaufnahme kam die Spruchkammer am 6. August 1947 zu dem Schluss, den Verlust des Bernheimschen Unternehmens als „Arisierung“ einzustufen. So hätte „mit der Übernahme der Firma R. Bernheim jeder Gesellschafter der Chem. Fabrik G.m.b.H. auf Kosten rassischer Verfolgte im Zusammenhang mit der Zwangsverpachtung und dem Zwangsverkauf übermässige Vorteile für sich erlangt.“ 90 Als Hauptschuldigen aus dem Personenkreis der Auffanggesellschaft von 1933 machte die Spruchkammer Steiner aus, den sie als Aktivist und Nutznießer, d.h. als belastet (Kategorie II), einstufte. Mit diesem Urteil der Spruchkammer drohten Steiner neben dem Einzug seines Vermögens bis auf 15.000 RM unter anderem die Ableistung von 2000 Arbeitsstunden über zwei Jahre bei der Trümmer- und Schuttverwertung der Stadt Augsburg. 91 Zetzsche und Adalbert Müller reihte die Spruchkammer hingegen in die Gruppe der Minderbelasteten (Kategorie III) ein. „Die Herren“, so das Spruchkammerurteil über sämtliche Gesellschafter, „erkannten damals die Zeichen der Zeit, d.h. das politische und wirtschaftliche Abwürgen der Juden, und wollten sie nützen, um mit wenig Geld zu grossem finanziellen Vorteil zu gelangen.“ 92 Die Spruchkammer hielt es für erwiesen, dass im Fall Bernheim „der politische Druck“ eine entscheidende Rolle gespielt hätte: „denn kein vernünftiger Geschäftsmann wird auf solche Weise alle seine Rechte aufgeben, solange noch ein Funken Rettung besteht, und der bestand in ausreichendem Masse.“ 93 Damit zerschlug die Spruchkammer die zentrale Argumentation, mit der die Auffanggesellschaft seit 1933 ihren Zugriff auf die Bernheimsche Firma rechtfertigte, dass sie nämlich das Familienunternehmen vor dem drohenden Konkurs gerettet hätte. Die Ermittlungen der Wiedergutmachungsbehörde ergaben, dass im März 1933 bei der Bernheimschen Firma, wie auch Willy Bernheim immer wieder betonte, „weder Zahlungsunvermögen noch Überschuldung vorlag.“ 94 Die Bernheims konnten vielmehr nachweisen, dass zum fraglichen Zeitpunkt sogar noch zusätzliche 89 Ebd. 90 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 3, Spruchkammer IV, Augsburg Stadt, Verfahren gegen Horst Steiner, 6.8.1947, Abschrift. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Vgl. StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. <?page no="361"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 361 50.000 RM zur Verfügung gestanden hätten, weshalb die von der Auffanggesellschaft unterstellte Illiquidität des Unternehmens überhaupt keine reale Gefahr darstellte. 95 Nach Auffassung der Kammer „war die Firma nicht konkursreif und hätte gehalten werden können, wenn die leitenden Angestellten ein Interesse daran gehabt hätten.“ 96 Die Wiedergutmachungsbehörde unterschied analytisch treffend die beiden Tatbestände, die die Gesellschafter der Chemischen Fabrik Pfersse unentwegt miteinander vermengten: nämlich das Strafverfahren gegen die Bernheims einerseits und den Abschluss des Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags von 1933 andererseits, der die unrechtmäßige Übernahme der Firma besiegelte. Es hätte überhaupt keine juristische Handhabe vorgelegen, die Bernheims gewissermaßen zu enteignen. Die Gesellschafter der Chemischen Fabrik Pfersee hätten jedoch „nie daran gedacht“, eine „Auffanggesellschaft im Interesse des Hauses Bernheim zu gründen und zu führen, um bei gegebener Gelegenheit den übernommenen Besitz wieder an die früheren Inhaber bzw. dessen [sic] Erben zurückzugeben. Sie arbeiteten nur für ihre eigenen Interessen.“ 97 Die Spruchkammer rügte darüber hinaus, dass die Auffanggesellschaft über den odiösen Vertrag hinaus „auch noch den Verkauf der Immobilien“ 98 von der Familie Bernheim erzwang. Der unmittelbaren und vollständigen Rückerstattung der Bernheimschen Firma stand nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings entgegen, dass die Mitglieder der Auffanggesellschaft nicht nur eigenes Geld in das Unternehmen eingebracht, sondern auch aus dessen Gewinn den Bernheims über zehn Jahre einen - wenngleich viel zu niedrigen - Ablösezins erstattet hatten. Den Bernheims waren dadurch über die Jahre gewisse Mittel zugeflossen, die in irgendeiner Weise in Rechnung zu stellen waren. Abgesehen davon kehrte sich der moralische Druck, der in der NS-Zeit auf die Juden Bernheim eingewirkt hatte, in der Nachkriegszeit in Teilen um. Denn an die gerichtliche Anerkennung des Bernheimschen Arisierungsverfahrens war die Verurteilung vor allem von Steiner, aber auch von Müller und Zetzsche durch die Spruchkammer geknüpft. In dieser Situation ging Willy Bernheim am 21. Mai 1948 einen für ihn bemerkenswerten Schritt auf die Gesellschafter zu. Denn er versicherte mit seinem Ehrenwort, im Falle eines Vergleichsabschlusses im Sinne seiner Familie den Vorwurf der 95 Vgl. ebd., Erhard Bernheim an Karstedt, Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Aussenstelle Augsburg Stadt/ Land, 22.4.1947. Darin findet sich ein Brief von Curt Bernheim an Erhard Bernheim zitiert vom 1.4.1947. 96 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 2, Spruchkammer IV, Verfahren gegen Horst Steiner, 6.8.1947, Abschrift. 97 Ebd. 98 Ebd. <?page no="362"?> Karl Borromäus Murr 362 „Arisierung“ fallen zu lassen - eine Beteuerung, die allerdings den faktischen Rückerstattungsanspruch nicht antastete. Diese Versicherung, der sich offensichtlich auch die weiteren anspruchsberechtigten Mitglieder der Familie Bernheim anschlossen, machte vor allem den Weg frei einerseits für eine Neubewertung der politischen Verstrickung der Gesellschaftsmitglieder Steiner, Müller und Zetzsche in nationalsozialistische Verbrechen und andererseits für einen erfolgreichen Abschluss der Vergleichsverhandlungen. Der erste Vergleichsvorschlag, der offensichtlich nicht verfangen hatte, sah eine Umkehrung des Vertrages von 1933 vor, nämlich die Chemische Fabrik Pfersee an die Familie Bernheim zurück zu übertragen mit dem Modus, den jetzigen Gesellschaftern über zehn Jahre vier Prozent des Unternehmensgewinns zukommen zu lassen. Der schließlich von beiden Parteien akzeptierte Vergleich, der dann am 18. März 1949 vor der Wiedergutmachungsbehörde formell geschlossen wurde, verpflichtete die neun Gesellschafter, jeweils 50 Prozent ihres Eigentums an der Chemischen Fabrik Pfersee an die Familie Bernheim zurück zu übertragen. Der mit der Rücknahme des Arisierungsvorwurfs angebahnte Vergleich hatte bereits im Oktober 1948 zur Neubewertung der politischen Belastung der drei oben genannten Gesellschaftsmitglieder geführt, die von der Berufungskammer allesamt in die Gruppe der Mitläufer eingestuft wurden. So zeigte auch der Fall Bernheim die „Mitläuferfabrik“ 99 in vollem Gange. Aus dem im März 1949 geschlossenen Vergleich folgte jedenfalls, dass das Handeln der Auffanggesellschaft zumindest in formaljuristischer Hinsicht nun nicht mehr mit dem Odium des nationalsozialistischen Verbrechens behaftet war. 7. Paradoxie und Pragmatik des rechtlichen Vergleichs Mit dem Vergleich endete das existentielle Ringen um die treffende Bewertung der 1933 erfolgten Übertragung des Bernheimschen Familienunternehmens in das Eigentum einer Auffanggesellschaft in einem Kompromiss der beteiligten Parteien, der allerdings einer weiteren Interpretation bedarf. Denn dieser Kompromiss, wenngleich er die Hälfte der Chemischen Fabrik der Familie Bernheim erfolgreich restituierte, spiegelte doch ein veritables Paradox. Nachdem die Familie über anderthalb Jahrzehnte unter teils schwierigsten Bedingungen und lange Zeit vergebens darum gekämpft hatte, den Verlust ihres Unternehmens als politisch motiviertes Unrecht bzw. als „Arisierung“ anzuerkennen, ließ sie, nachdem die Spruchkammer 1947 ihrer Klage endlich stattgegeben hatte, nur ein Jahr später den Arisierungsvorwurf fallen. So hatte ein und derselbe Vorgang seit 1933 nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch von Seiten der Familie Bernheim diametral unterschiedliche Bewertungen erfahren. 99 Vgl. N IETHAMMER , Mitläuferfabrik. <?page no="363"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 363 Diese überraschende Wendung im Fall Bernheim fordert dazu heraus, anhand des vorgestellten Beispiels ganz verschiedene Dimensionen von „Arisierung“ noch einmal zu reflektieren und gegeneinander abzuwägen. Dabei geriet ein Vorgang, nämlich die steuer- und devisenrechtliche Verfolgung der Bernheims, die 1934 bittere Strafen für die Familie nach sich gezogen hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einmal zum Anklagepunkt der Wiedergutmachungsbehörden. Denn die strafrechtliche Verfolgung der Unternehmerfamilie, die aufgrund ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit eine strukturelle Ungleichbehandlung erfahren hat, kann durchaus als ein Fall fiskalischer „Arisierung“ durch die nationalsozialistische Finanzadministration gewertet werden. Auf diesen Tatbestand hat Willy Bernheim sowohl in seiner Autobiografie als auch in seiner Zeugenaussage im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens sehr deutlich hingewiesen. 100 Zur Anklage gebracht hat er ihn allerdings nicht. Dadurch dass die faktisch nicht zu bezweifelnden Devisen- und Steuervergehen geradezu klischeehaft in das nationalsozialistische Weltbild passten, zeigten sich die Gerichte, die 1935 und 1936 über die Anfechtung des umstrittenen Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrags von 1933 zu befinden hatten, nicht dazu in der Lage, die Anfechtungsklage vom stereotypen Bild des jüdischen Finanzverbrechers zu trennen. Nach dem Stand der heutigen historischen Forschung ist gerade dieser fragliche Vertrag als ein Dokument zu werten, das eine schrittweise „Arisierung“ begründete - ein Unrecht, das mit dem später erzwungenen Verkauf der Bernheimschen Immobilien umso schwerer wog. Diese als Unrecht wahrgenommene Position, für deren Akzeptanz die Familie Bernheim so lange stritt, bis sie die Wiedergutmachungsbehörde schließlich anerkannte, wurde mit dem Vergleichsabschluss vom März 1949 zumindest formal obsolet. Auch wenn der angesprochene Vergleich den unrechtmäßigen Übereignungs-, Miet- und Abtretungsvertrag gewissermaßen im Nachhinein legalisierte, ist gleichwohl davon auszugehen, dass die Bernheims den 1933 erfolgten Verlust ihres Unternehmens immer noch - zumindest moralisch - als „Arisierung“ empfanden. Das Strafverfahren von 1933/ 34 hatte doch nur den Anfangspunkt der antijüdischen Handlungen des nationalsozialistischen Staates gesetzt, der schließlich die Brüder Willy und Curt in die Flucht bzw. Emigration trieb, der ihre Mutter Maria in Theresienstadt dem Holocaust auslieferte und der selbst noch deren Enkel Erhard in einem Zwangsarbeiterlager inhaftierte. Weshalb, so ist deshalb zu fragen, haben die Bernheims 1948 ihren berechtigten Arisierungsvorwurf nicht mehr aufrechterhalten? 100 PA M. Bernheim, Willy Bernheim Autobiografie, 7; StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. <?page no="364"?> Karl Borromäus Murr 364 Die Antwort auf diese Frage dürfte in einem Pragmatismus zu suchen sein, der den Arisierungsvorwurf zugunsten der langfristigen Perspektive der konkreten Weiterführung der Chemischen Fabrik Pfersee hintanstellte. Denn aufgrund des finanziellen Engagements der neun Gesellschafter seit der Übernahme der Firma 1933 war für die Wiedergutmachungsbehörde an eine vollständige Rückerstattung nicht zu denken - eine Auffassung, die offensichtlich auch die Familie Bernheim teilte. Deshalb konnte eine mögliche Einigung nur über die bestehenden Gesellschafter laufen, die einstimmig über jegliche Art von Rückübereignung zu befinden hatten. Diese Einstimmigkeit zu erzielen, fiel umso schwerer, als manche Gesellschafter in der britischen sowie sowjetischen Besatzungszone und sogar in der Tschechoslowakei lebten. Das Bernheimsche Zugeständnis, vom Arisierungsvorwurf abzurücken, hat nicht nur einen Vergleich erst möglich gemacht. Dadurch ist zugleich den nicht in der amerikanischen Besatzungszone lebenden Gesellschaftern ein mögliches Arisierungsverfahren erspart sowie Steiner, Müller und Zetzsche eine Herabstufung zu Mitläufern eröffnet worden. Die These vom Pragmatismus der Bernheimschen Entscheidung erhält weitere Nahrung, wenn man sich vor Augen führt, dass Willy und Curt Bernheim bereits am 7. Juli 1948 ihr Einverständnis erklärten, den Gesellschafter Müller, den die Spruchkammer noch ein Jahr zuvor in die Gruppe der Minderbelasteten eingereiht hatte, weiter in der Chemischen Fabrik Pfersee zu beschäftigen. Mit dem Vergleichsabschluss im März 1949 avancierte Müller schließlich zum Geschäftsführer der Chemischen Fabrik Pfersee an der Seite des jungen Erhard Bernheim. Den erfahrenen Müller, der vor allem als ein findiger und erfolgreicher Textilchemiker bekannt war, in die Geschäftsleitung zu berufen, entsprach der Intention der Bernheims, der Chemischen Fabrik Pfersee fachlich wie personell den Weg in die Zukunft zu weisen und damit dem Gestaltungswillen Erhard Bernheims eine inhaltliche Richtung und Führung zu geben. Selbst dem ehemaligen Wortführer der Auffanggesellschaft, Steiner, kamen die Bernheims entgegen, deren Anwalt sich für eine monatliche Pension für den ehemaligen Geschäftsführer einsetzte. Es bestünde allerdings „nicht die Absicht“, wie Anwalt Seidenberger klarmachte, „ihn in seine frühere oder in eine seiner früheren Position ähnliche Stellung wiedereinzusetzen.“ 101 8. Zur weiteren Einordnung des Falles Bernheim Ungeachtet des rechtsgültigen Vergleichs von 1949 soll abschließend der Fall Bernheim vor dem Hintergrund der geweiteten Perspektive der deutschen Geschichte von 101 StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 2, Seidenberger an Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, 10.1.1949. <?page no="365"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 365 „Arisierung“ und Wiedergutmachung betrachtet werden, um dadurch die besondere Charakteristik der Causa Bernheim noch treffender in den Blick zu bekommen. 102 Auch wenn jeder einzelne Vorgang von Raub und Restitution seine eigene historiographische Wertigkeit beanspruchen kann, ist darüber hinaus zu fragen, wie sich der hier untersuchte Fall, der doch nur einen Fall unter Hunderttausenden allein in Bayern repräsentiert, in den Entwicklungsverlauf der Arisierungs- und Wiedergutmachungsgeschichte einordnen lässt, die ohnehin nicht linear verlief. 103 Welche erfahrungs- oder mentalitätshistorischen Dimensionen zeigt der betrachtete Wiedergutmachungsprozess? Wie sind Anbahnung und Abschluss des Vergleichs zwischen ehemaligen Tätern und Opfern zu bewerten? Lassen sich vielleicht sogar allgemeine Erkenntnisse aus der Mikroperspektive des betrachteten Einzelfalles gewinnen? Richtet man im Fall Bernheim den Fokus auf das Thema „Arisierung“, so sind zwei Sachverhalte analytisch voneinander zu unterscheiden. Der erste Sachverhalt zeigt ein gegen die Bernheims gerichtetes steuer- und devisenrechtliches Verfahren, bei dem der Staat mit manchen seiner Akteure durch antijüdisches Verhalten hervortrat. Noch bevor gesetzliche Regelungen getroffen wurden, handelten manche der verfolgenden Behörden nachweislich aus antisemitischen Motiven heraus. Diese Feststellung ist bemerkenswert, denn sie verweist auf ein „arisierendes“ Verhalten, ehe die nationalsozialistische Legislative dafür normative Grundlagen bereitstellte. Solcherart fiskalische Diskriminierung lässt sich deshalb trefflich als eine staatliche „Arisierung“ „von unten“ beschreiben. 104 Nur wenige Tage nach der „Machtergreifung“ hatten manche Augsburger Behördenangehörige die nationalsozialistische Ideologie insoweit verinnerlicht, dass diese im Sinne eines bürokratischen Antisemitismus handlungsleitend werden konnte. Der Fall Bernheim offenbart mithin eine nationalsozialistische Verwaltungspraxis, die sich mühelos mit den juristischen Mitteln der Weimarer Republik Bahn brach. Erst die Untersuchung der Rechtspraxis - und nicht der rechtlichen Rahmenbedingungen - förderte die rassistische Motivlage eines solchen administrativen Vorgehens zutage, das nicht zuerst aus ökonomischen, sondern aus ideologischen Motiven heraus operierte. Den Stellenwert schließlich der nationalsozialistischen Verfolgung der Bernheims schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt des 102 Die historische Forschung zu dem Themenkreis „Arisierung“ und Wiedergutmachung hat erst in den letzten beiden Jahrzehnten an Dichte und Kontur gewonnen. Vgl. G OSCH- LER / H ERBST ,Wiedergutmachung; G OSCHLER , Westdeutschland; B AJOHR , „Arisierung“; G OSCHLER / L ILLTEICHER , „Arisierung“ und Restitution; G OSCHLER / T HER , Raub und Restitution; G OSCHLER , Schuld und Schulden; W INSTEL , Verhandelte Gerechtigkeit; L ILLTEI- CHER , Raub; K ULLER , Finanzverwaltung; DIES ., Bürokratie; F RIEDENBERGER , Ausplünderung. 103 Vgl. B AJOHR , „Arisierung“, 12. 104 Frank Bajohr hat darauf hingewiesen, „Arisierung“ nicht nur als eine Enteignung und Entrechtung „von oben“, sondern auch als eine Herrschaftspraxis „von unten“ zu begreifen. Vgl. B AJOHR , „Arisierung“, 17. <?page no="366"?> Karl Borromäus Murr 366 Hitlerregimes erhellt die zeitgenössische Beobachtung des Strafprozesses vom Februar 1934, der von offizieller Seite offenbar als Schauprozess aufgefasst worden ist. Demnach maßen NS-Verantwortliche dem Fall Bernheim Pilotcharakter zu, an dem beispielhaft die rassistische Rechtsauffassung durchexerziert werden konnte. Der zweite Sachverhalt von „Arisierung“, dem in der vorliegenden Untersuchung das Hauptaugenmerk galt, offenbarte antisemitische Beweggründe von privater Seite der Auffanggesellschaft, die die rassistische Ideologie in den Dienst des persönlichen ökonomischen Vorteils stellten. Denn die Auffanggesellschaft nutzte die antijüdische Stimmung der Zeit, die im Boykott vom 1. April 1933 einen ersten Kulminationspunkt fand, um mit einem rechtlich wie moralisch äußerst fragwürdigen Vertragsmodell die Bernheimsche Firma an sich zu bringen. Dass das Unternehmen weit unter Wert den Eigentümer wechselte, nimmt die gängige Praxis der späteren, staatlich verordneten „Arisierung“ von Unternehmen vorweg. Noch weniger als das zuvor angesprochene Steuer- und Devisenverfahren entsprang das Vorgehen der Auffanggesellschaft einer planmäßigen Vorgabe „von oben“, sondern erscheint vielmehr als eine „Arisierung“ „von unten“, als eine „Arisierung“ der günstigen Gelegenheit, in der sich der politisch-moralische Druck auf die Familie Bernheim für einen Moment maximal erhöhte. So begegnen bei der Übernahme der Firma durch die Auffanggesellschaft wie schon beim Steuer- und Devisenverfahren gesellschaftliche Träger einer „Arisierung“, die jenseits von nationalsozialistischen Direktiven ihren Antisemitismus zum Austrag brachten. Um es jedoch nochmals unmissverständlich festzuhalten: Aus der Perspektive der Bernheims hatte es im März 1933 schlichtweg keinen juristischen Grund gegeben, geschweige denn eine Notwendigkeit, das Unternehmen an eine Auffanggesellschaft abzugeben, ganz gleich, ob der Betrieb zum fraglichen Zeitpunkt vom Konkurs bedroht war oder nicht. Der viel diskutierte Vertrag bemäntelte lediglich juristisch die mehrfach bezeugte Erpressung der Bernheims, die ihm vorausgegangen war. Diese Erpressung schreckte nicht vor der unverhohlenen Androhung einer gewaltsamen Ausschreitung zurück, die sich auf sämtliche Bernheimschen Familienmitglieder ausweiten konnte. Dass die Mitglieder der Auffanggesellschaft die Sorge um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze umtrieb, ist dabei gar nicht zu bestreiten. Diese Sorge rechtfertigte gleichwohl nicht im Mindesten das zweifelhafte Handeln, das die „Ariseure“ an den Tag legten. Dass Mitglieder der Auffanggesellschaft dazu in der Lage waren, selbst auf einen Beamten des Münchner Landesfinanzamts Druck auszuüben, um sich den offiziellen Segen für die Übernahme der Firma abzuholen, verweist auf die kriminelle Energie, mit der die neuen Eigentümer vorgingen. 105 105 Willy Bernheim ging dem Verdacht nach, dass die „Ariseure“ über NSDAP-Kontakte Druck auf das Landesfinanzamt ausübten. Vgl. StAA, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwal- <?page no="367"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 367 Wenngleich der nationalsozialistische Staat der hier in Rede stehenden „Arisierung“ gesetzlich nicht den Weg bereitete, was erst später maßgeblich werden sollte, schritt er doch auch nicht in Form seiner Gerichte, die 1935 und 1936 über die Anfechtungsklage der Bernheims zu entscheiden hatten, gegen die fragliche Enteignung ein, sondern besiegelte sie vielmehr. Auch wenn beiden urteilenden Richtern, nämlich dem Augsburger Landgerichtspräsident Theodor Dörfler 106 , der der Bekennenden Kirche nahestand, und dem Senatspräsidenten am Oberlandesgericht, Hans Ehard, der als politisch Unbelasteter nach dem Zweiten Weltkrieg sogar das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten erlangen sollte, keine aktive nationalsozialistische Gesinnung nachgesagt werden kann, bestätigten sie doch den im justiziellen System der damaligen Zeit angelegten Antisemitismus, für den sie sich blind zeigten. Dass beide Richter den politischen Druck, wie er auf die Bernheims im Zuge des antijüdischen Boykotts vom 1. April 1933 ausgeübt worden war, sogar expressis verbis anerkannten, ihn aber nicht als unrechtsmäßig befanden, bekräftigt nur diesen Eindruck. Infolge des Strafverfahrens und des Firmenverlustes erlitten zumindest die beiden Brüder Curt und Willy Bernheim, deren wirtschaftliche Existenz dadurch schlichtweg vernichtet wurde, die von Hans G. Adler einst als „Finanztod“ bezeichnete ökonomische Liquidierung der Juden 107 . Dem möglichen Tod im Konzentrationslager konnten sie sich allerdings - anders als ihre Mutter - durch die rechtzeitige Flucht ins Ausland entziehen. Diese Betrachtungsweise lässt den schon von Raul Hilberg hervorgehobenen funktionalen Zusammenhang von wirtschaftlicher Liquidierung und tatsächlicher Vernichtung der Juden im Holocaust erahnen. 108 Dass der Fall Bernheim so früh vor die Wiedergutmachungsbehörde gelangte, ist wohl vor allem Erhard Bernheim zu verdanken, dem Vertreter der damals jüngsten Generation der Familie. Das eingeleitete Verfahren kehrte die Rollen der beteiligten Parteien aus der NS-Zeit gewissermaßen in ihr Gegenteil. Aus den damaligen Tätern und Opfern, aus den ehemaligen Verfolgern und Verfolgten wurden unter umgekehrten juristischen Vorzeichen, wie sie mit einem demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren einhergingen, nun Angeklagte und Kläger, Pflichtige und Anspruchsberechtigte. Die Umkehrung der Rollen fand aber nicht nur auf dem Feld der Justiz, sondern auch auf dem der Moral statt, auch wenn es schwierig blieb, eine moralische Restitution auch nur zu ermessen, geschweige denn einzufordern. Als sich herausstellte, dass die Bernheims einen Rückerstattungsanspruch würden durchsetzen können, wehrten sich die in der amerikanischen Besatzungszone lebenden Gesellschafter der Chemischen Fabrik Pfersee mit allen juristischen Mitteln, ihre Firmenübernahme von 1933 als tung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, Zeugenaussage von Willy Bernheim, 20.3.1947. 106 B OBERACH / N ICOLAISEN / P APST , Handbuch, 73, 113. 107 A DLER , Mensch, 166; S CHMID , „Finanztod“. 108 Vgl. H ILBERG , Vernichtung. <?page no="368"?> Karl Borromäus Murr 368 „Wiedergutmachungsfall“ anzuerkennen. Von Seiten der Gesellschafter sind auch dann nach dem Zweiten Weltkrieg keinerlei Schuldbewusstsein oder Einsicht in das an der Familie Bernheim begangene Unrecht aktenkundig geworden, selbst dann nicht, als die Beweisaufnahme einen Restitutionsanspruch der übervorteilten Familie bestätigte - eine Beweisaufnahme, die vornehmlich Steiner schwer belastete. Vor allem dessen Verteidigungsschrift bewegte sich gänzlich im Fahrwasser der schon zu NS-Zeiten vertretenen Position. Sie rekapitulierte zur Stärkung der eigenen Argumentation lediglich die doch strukturell befangenen Urteile der NS-Gerichte. Dass mit dem Vergleich von 1949 der angesprochene Rollentausch zumindest auf der rechtlichen Ebene eine Relativierung erfuhr, indem damit der gegen die Gesellschafter - doch zu Recht - erhobene Arisierungsvorwurf ad acta gelegt und in der Folge etwa ein zunächst als Aktivist und Nutznießer verurteilter Steiner zum Mitläufer herabgestuft wurde, erledigt nicht die Frage nach der moralischen Dimension der „Wiedergutmachung“ im Fall Bernheim. Es ist vor diesem Hintergrund zumindest beachtenswert, dass aus der Riege der Gesellschafter, die 1933 das Unternehmen übernommen hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg allein Müller wieder in der Firma Beschäftigung fand, der doch in der Familienüberlieferung der Bernheims als unbelastet galt und der auch in den Zeugenbefragungen der Wiedergutmachungsbehörde keine weiteren Klagen auf sich zog. Auf der anderen Seite war es die fachliche Expertise von Müller, auf die Chemische Fabrik Pfersee in der Nachkriegszeit besonders angewiesen war. Dies führt unsere Betrachtung wieder zurück zur Perspektive des Pragmatismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg trotz aller rechtlicher und moralischer Schuld der „Ariseure“ deren Opfer zu allerhand Kompromissen mit den damaligen Tätern nötigte. Hierin ist die Spezifik des Bernheimschen Wiedergutmachungsprozesses zu sehen, dass dieser letztlich nicht ein Schwarz-Weiß-Schema von Tätern und Opfern erzeugte, sondern mit dem abgeschlossenen Vergleich zwei im Grunde konträre Ansprüche bzw. verschiedene Interessen in einer Art Graubereich miteinander vermittelte respektive vermengte. Denn der Vergleich relativierte zumindest auf rechtlicher Ebene nicht nur die eindeutige Zuschreibung von „Ariseuren“ und „Arisierten“ für die Vergangenheit, sondern zwang mit der Entscheidung, das Eigentum am Unternehmen beiden Parteien zu gleichen Teilen zuzusprechen, Pflichtige und Berechtigte für die Zukunft in ein- und dasselbe Boot. Dieser hybride Ausgang des Wiedergutmachungsvorgangs demonstriert die ganze Ambivalenz des historischen Phänomens der Entnazifizierung. Einerseits kristallisierte sich darin der juristisch und moralisch bedeutsame Vollzug von Recht und Gerechtigkeit, indem die frühe Bundesrepublik öffentlich Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung übernahm. Andererseits stellte die Entnazifizierung jedoch weder ein reinigendes Gewitter noch einmalige Katharsis dar, sondern trug allenfalls dazu bei, Spannungen zu kanalisieren, zu <?page no="369"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 369 relativieren und dadurch teilweise abzubauen, die aber vielfach noch über Jahrzehnte fortlebten. In seinem Weg der „Wiedergutmachung“ zeugt der Fall Bernheim deshalb von einer häufig zu beobachtenden Realität der deutschen Nachkriegsgeschichte: Neben der öffentlichen Rehabilitation von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus, wie sie Restitution und Entschädigung zweifelsohne leisteten, traten auch verschiedentliche Kontinuitäten „braunen“ Erbes zutage, das in der Wirtschaft, öffentlichen Verwaltung und Politik fortwirkte. Allerdings ermöglichte der Pragmatismus, von dem oben die Rede war, nicht, nationalsozialistische Verbrechen ungeschehen zu machen, sondern lediglich ein Arrangement mit der gesellschaftlichen Situation, ökonomischen Praxis und politischen Lebenswirklichkeit im „Land der Täter“ zu finden, das in seiner mehr oder weniger gelungenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf die Zukunft gerichtet war. Im Fall Bernheim - wie im Grunde bei den allermeisten jüdischen Opfern nationalsozialistischer Verfolgung - hätte keine noch so wohlwollende „Wiedergutmachung“ dasjenige egalisieren können, was den Familienmitgliedern im Nationalsozialismus an Leid widerfahren oder an Chancen verwehrt geblieben war. Und trotzdem einigte sich die Familie nach dem Krieg vergleichsweise rasch auf den Kompromiss eines Vergleichs, der die Chemische Fabrik im März 1949 aus der „property control“ entließ und damit die von der amerikanischen Besatzungsmacht verhängte Treuhänderschaft beendete. Der Vergleich war wohl nicht zuletzt deshalb auf so pragmatische Weise zustande gekommen, weil die am stärksten von den nationalsozialistischen Verfolgung Betroffenen, nämlich die beiden Brüder Willy und Curt Bernheim, nach dem Krieg ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr zurück nach Deutschland verlegten. Curt hatte seit seiner Flucht 1938 seine Heimat in Zürich gefunden, und Willy ließ sich nach dem Krieg dauerhaft in Paris nieder. Die Wiedergutmachungsverhandlungen vom Ausland aus zu führen, schuf eine räumliche und politische Distanz, die es den beiden ermöglichte, den „Ariseuren“ von damals physisch aus dem Weg zu gehen. 109 Einen solchen Abstand zu wahren, erschien umso bedeutungsvoller, als sich abzeichnete, dass eben jene „Ariseure“ auch in Zukunft als Gesellschafter am Unternehmen beteiligt sein würden. Es lässt sich nur erahnen, welche inneren Spannungen etwa in dem auch nach dem Krieg immer noch sehr vitalen Willy Bernheim vorherrschten - Spannungen, die ihn dazu bewogen, in Paris zu verbleiben und die Verantwortung für das Augsburger Familienunternehmen an die nächste Generation vor Ort zu übergeben. 109 Dass Willy Bernheim just in der Nacht nach dem Abschluss des Vergleiches einen schweren Herzanfall erlitt, verdient angesichts der Dramaturgie der Ereignisse besondere Erwähnung, selbst wenn man darin nicht mehr als einen Zufall erkennt. Vgl. PA M. Bernheim, Referat von Herrn Erhard Bernheim zur Geschichte der Chemischen Fabrik Pfersee GmbH anläßlich des Endes seiner Geschäftsführerzeit am 28.10.1988, Manuskript, 3. Ich danke Dr. Michael Bernheim herzlich für die Einsicht in dieses Manuskript. <?page no="370"?> Karl Borromäus Murr 370 Das eingangs zitierte Gefühl des Abscheus und des Ekels vor dem nationalsozialistischen Deutschland stellten ebenso wie die „tiefe Trauer im Herzen“ Empfindungen dar, 110 die sich allzu leicht auch auf die neue Bundesrepublik übertragen mochten. Eine gewisse Reserviertheit gegenüber Deutschland ging auch auf die nächste Generation der Familie über. Gleichwohl blieben sowohl Willy als auch Curt von Frankreich und der Schweiz aus für die Chemische Fabrik Pfersee tätig, die in den Nachkriegsjahrzehnten einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufstieg erleben sollte, der sich allein in einem Anstieg der Beschäftigten auf etwa 600 Personen in den 1970er Jahren dokumentierte. Als 1952 mit Müller der technische Geschäftsführer gestorben war, spielte Willy Bernheim kurz noch einmal mit dem Gedanken, in die alte Augsburger Position zurückzukehren, was sich jedoch nicht realisieren ließ. Auch wenn es Erhard Bernheim bis 1957 gelang, die Familie wieder in die Majorität zu führen, fungierten alte Gesellschafter bzw. ihre Rechtsnachfolger weiterhin als Teilhaber der Firma. Dies änderte sich erst im Jahr 1966, als Erhard Bernheim mit dem Schweizer Unternehmen Geigy, das 1970 mit Ciba zu Ciba-Geigy fusionierte, einen finanzstarken Partner für die Augsburger Firma hinzugewann, um sich für die wachsenden Herausforderungen auf dem globalen Markt zu rüsten. 111 Für Erhard Bernheim, der 1988 aus dem Unternehmen ausscheiden sollte, waren jedoch nicht nur ökonomische Gründe ausschlaggebend, sich an Geigy anzuschließen, sondern auch politische, denn er wollte „nach den Erfahrungen des Dritten Reichs lieber mit den Schweizern kooperieren als mit den Deutschen.“ 112 Quellen und Literatur Archive Staatsarchiv Augsburg (StAA) - Wiedergutmachungsbehörde V für Schwaben a-Akten 104. - Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außenstelle Augsburg, Vermögenskontrollakten 204/ 1, 204/ 2, 204/ 3. - Spruchkammer Augsburg-Stadt II und IV Akten St 415. Privatarchiv Michael Bernheim (PA M. Bernheim) - Willy Bernheim, Autobiografie [1945/ 46]. 110 Zitate in: PA M. Bernheim, Willy Bernheim Autobiografie, 18. 111 PA M. Bernheim, Referat von Herrn Erhard Bernheim zur Geschichte der Chemischen Fabrik Pfersee GmbH anläßlich des Endes seiner Geschäftsführerzeit am 28.10.1988, Manuskript, 6. 112 Ebd. <?page no="371"?> „Eines der ersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“? 371 - Referat von Herrn Erhard Bernheim zur Geschichte der Chemischen Fabrik Pfersee GmbH anläßlich des Endes seiner Geschäftsführerzeit am 28.10.1988, Manuskript. Gedruckte Quellen R ÖMER , G ERNOT (Hrsg.): „Halbjude“ im Dritten Reich. Die Erinnerungen des Augsburger Fabrikanten Erhard Bernheim, Augsburg 2000. Periodika Neue Augsburger Zeitung, Jg. 1934. Neue National-Zeitung, Jg. 1933, 1934. Literatur A DAM , U WE D IETRICH : Judenpolitik im Dritten Reich, unveränderter Nachdruck von 1972, Düsseldorf 2003. A DLER , H ANS G.: Der verwaltete Mensch. 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Bundesgesetzblatt BLV Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung BLVW Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung BMW Bayerische Motorenwerke BRD Bundesrepublik Deutschland BRüG Bundesgesetz zur Regelung der rückerstattungsrechtlichen Geldverbindlickeiten des Deutschen Reichse und gleichgestellter Rechtsträger BZK Bundesezentralkartei bzw. beziehungsweise Cora Court of Restitution Appeals CSU Christlich Soziale Union d. Ä. der Ältere DDR Deutsche Demokratische Republik ders. derselbe dies. dieselben Dir. Direktor Ebd. Ebendort EG Entschädigungsgesetz etc. et cetera EUR Euro FDP Freie Deutsche Partei Gestapo Geheime Staatspolizei gez. gezeichnet Graph. Slg. Graphische Sammlung <?page no="374"?> Abkürzungsverzeichnis 374 Hrsg. Herausgeber i. A. im Auftrag IHK Industrie- und Handelskammer insb. insbesondere i. V. in Vertretung JCC Conference on Jewisch Material Claims Against Germany (auch: Claims Conference; auch: Jewish Claims Conference) JRSO Jewish Restitution Successor Organization LG Landgericht LEA Bayerisches Landesentschädigungsamt Mio. Millionen MRG Militärregierungsgesetz Nr. 59 NS Nationalsozialismus / nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NS-Hago Nationalsozialistische Handwerks-, Handels- und Gewerbeorganisation NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt OB Oberbürgermeister OFD Oberfinanzdirektion OLG Oberlandesgericht OK Oberkommando Pg. Parteigenosse RA Rechtsanwalt REG Rückerstattungsgesetz (gemeint ist das MRG 59) RGBl. Reichsgesetzblatt RM Reichsmark SA Sturmabteilung sel. selig(e) SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutzstaffel Städt. Städtisch s. Zt. seiner Zeit US United States USA United States of Amerika US-EG Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, erlassen von der amerikanischen Militärregierung zum 1.4.1949 vgl. vergleiche VM Vormerkung VO Verordnung <?page no="375"?> Autoren und Herausgeber Dr. Peter Fassl, Studium der kath. Theologie (Diplom) und Geschichte (M.A.), 1986 Promotion. Seit 1987 Heimatpfleger des Bezirks Schwaben. Gerhard Fürmetz, M.A., geb. 1966, Archivdirektor und seit 2013 Leiter der Abteilung II Neuere Bestände im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Vorsitzender der GeschichtsWerkstatt Augsburg e.V., Lehrbeauftragter an der Universität Augsburg und ehrenamtliches Mitglied der Kommission Erinnerungskultur der Stadt Augsburg. Forschungsschwerpunkte u.a. im Bereich der Polizei- und Protestgeschichte und der Geschichte von Wiedergutmachung und Erinnerungspolitik in Bayern nach 1945, ferner der Militärgeschichte Augsburgs. Dr. Tim Benedikt Hessling, Rechtsanwalt, geb. 1980 in München, Studium der Rechtswissenschaften in Augsburg, Lissabon und München, Referendariat am OLG München und am Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Edinburgh , seit 2017 Leiter der Rechtsabteilung der Silvius Dornier Holding. Heinz Högerle, seit 2003 Vorstandsmitglied im Träger- und Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen. Intensive Beschäftigung mit der Geschichte der jüdischen Gemeinden der heutigen Großen Kreisstadt Horb am Neckar. Katrin Holly, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bezirksheimatpflege Schwaben und freiberufliche Historikerin. Forschungen zu Bayerisch-Schwaben und Oberfranken u.a. zur Geschichte der Kommunen im 20. Jahrhundert, zum Nationalsozialismus, zur Finanpolitik von Memmingen und Augsburg von 1930 bis 1945, zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zur Geschichte der Elektrizitätsversorgung. Dr. Paul Hoser, geb. 1947 in Günzburg/ Donau, freier Historiker, Mitglied der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft e. V., Augsburg, und des Kuratoriums des Instituts für bayerische Geschichte an der Universität München, Veröffentlichungen zur bayerischen Regionalgeschichte und zur deutschen und europäischen Geschichte. Dr. Maren Janetzko, Studium an der Universität Erlangen, Promotion über die „Arisierung“ mittelständischer jüdischer Unternehmen in Bayern an der Universität Bochum, Lehrkraft für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde am Hermann-Kesten-Kolleg Nürnberg. <?page no="376"?> Autoren und Herausgeber 376 Rainer Jedlitschka, M.A., geb. 1972 in Augsburg, Studium Geschichte und Germanistik für Lehramt an Gymnasien in München, 2000 Visiting Scholar an der Universität Berkeley/ USA, 2003-2005 Bayerische Archivschule, seit 2005 am Staatsarchiv Augsburg, 2012 Archivoberrat, Lehrbeauftragter an der Universität Augsburg. Horst Keßler, M.A., Historiker. Seit 2001 bei den Kunstsammlungen und Museen Augsburg als Provenienzforscher tätig. Hauptsächlich mit der Aufarbeitung und Betreuung des Nachlasses des Kunsthändlers Karl Haberstock Archivs befasst. Katharina Maria Kontny, M.A., Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Anglistik an der Universität Augsburg, abgeschlossen mit einer Magisterarbeit über den Kunsthistoriker Hans Robert Weihrauch. Seit 2018 redaktionelle Mitarbeiterin beim SWR Fernsehen in Stuttgart, wo sie u. a. an Spiel- und Dokumentarfilmen über den Nationalsozialismus arbeitet. Dr. Karl Borromäus Murr, Studium der Geschichte, Philosophie und Ethnologie an der Hochschule für Philosophie (München), Ludwig-Maximilians-Universität, München, der Oxford University, der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Harvard University. Seit 2009 Direktor des Staatlichen Textil- und Industriemuseums Augsburg. Lehrbeauftragter der LMU und der Universität Augsburg; Vorstandsmitglied der European Museum Academy. Dr. Michael Niemetz, geb. 1973 in Ellwangen, Historiker, Leiter des Laupheimer Museums zur Geschichte von Christen und Juden. Florian Schwinger, Rechtsanwalt und Syndikusrechtsanwalt, seit 2014 u.a. Erstellung einer Dissertation zu dem Thema „Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Bayerisch Schwaben zur Zeit des Nationalsozialismus“. Jim G. Tobias, Historiker und freier Journalist. Er leitet das von ihm mitbegründete Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts (www.nurinst.org). Er dreht TV-Dokumentationen und publiziert über den Nationalsozialismus sowie die jüdische Zeitgeschichte, wobei das Kapitel der jüdischen Displaced Persons (DPs) im Nachkriegsdeutschland im Mittelpunkt seiner Forschungen steht. Zahlreiche Buchveröffentlichungen und Webangebote, wie etwa das Internetlexikon www.after-the-shoah.org, in dem über 250 jüdische DP-Camps und Gemeinden in der US-Zone verzeichnet sind. Derzeit erforscht Tobias die Geschichte der oberbayerischen DP Children’s Center Prien und Bayerisch Gmain. <?page no="377"?> Geographisches Register Es wurde die Schreibweise in den Aufsätzen übernommen. In eckigen Klammern wurde nur bei den osteuropäischen Orten bzw. Regionen die heutige Schreibweise bzw. der heutige Ortsname hinzugefügt. In runden Klammern wird bei deutschen Ortschaften die heutige Landkreiszugehörigkeit und danach bei Ortsteilen die heutige Gemeindezugehörigkeit angegeben. Bei Orten im Ausland wird die heutige Staatszugehörigkeit angegeben. Abkürzungen: Lk = Landkreis - A - Allenstein [Olsztyn] (Polen) 267 Amerika vgl. USA Ammelgoßwitz (Lk Nord-Sachsen, Belgern-Schildau) 266 Amsterdam (Niederlande) 190 Ansbach 39, 41, 43 Athen (Griechenland) 310 Augsburg 16-19, 22-25, 33-49, 55- 58, 70-76, 115-130, 140, 169- 172, 176-179, 187-218, 225- 249, 253, 266, 275, 277-279, 339-370 Auschwitz, Konzentrationslager (Polen) 123, 174, 237 - B - Bad Nauheim (Lk Wetteraukreis) 39, 55, 235, 237 Baden-Württemberg 16f., 79 Baisingen (Lk Tübingen, Rottenburg am Neckar) 93-95, 102 Baltikum 117 Bayerisch-Schwaben (auch Regierungsbezirk Schwaben) 20, 25, 33-49, 58f., 71, 196, 204, 213f., 340, 344 Bayern, Königreich, Freistaat 33, 35-44, 56, 65, 153, 228, 235- 239, 243, 246, 261, 279, 292, 295, 321f., 335, 345, 365 Belgien 69, 278 Berg am Laim (München) 290, 304-306, 310 Berlin 66, 89, 101, 187, 205, 207, 213, 225, 233, 246, 248f., 255- 258, 264, 278, 323 Besatzungszone, amerikanisch 34, 63, 65f., 134 -, britisch 64f. -, französisch 65f. -, sowjetisch 65, 364 Bialystock (Polen) 260 Binswangen (Lk Dillingen a.d. Donau) 25 Borrissow [Baryssau] (Weißrussland) 159 Boyen, Feste (Polen) 264 Bremen 65, 246 Breslau [Wroclaw] (Polen) 264f. Brügge (Belgien) 245 Buchau [Bad Buchau] (Lk Biberach) 275 <?page no="378"?> Geographisches Register 378 Bundesrepublik Deutschland 33f., 45, 63, 66-69, 75f., 160, 194, 336, 369f. Buttenwiesen (Lk Dillingen a.d. Donau) 11 - C - Chemnitz 306 - D - Dachau, Konzentrationslager (Lk Dachau) 30, 138, 180, 289, 304, 310, 323, 356 Dänemark 69 Danzig [Gdańsk] (Polen) 198 Deutsche Demokratische Republik 65 Deggendorf (Lk Deggendorf) 136 Dettensee (Lk Freudenstadt, Horb am Neckar) 79 Deutsches Reich 68, 70-72, 80, 100, 206, 217, 264, 266, 321, 329f., 357, 370 Dijon (Frankreich) 246 Dillingen a.d. Donau (Lk Dillingen a.d. Donau) 39 Donauwörth (Lk Donau-Ries) 15, 39, 44, 48 Dresden 207, 254, 266f. Druskiniki [Druskininkai] (Litauen) 260 Duisburg 59 Düsseldorf 59, 155f. - E - England, vgl. Großbritannien Erlangen 70 - F - Fellheim (Lk Unterallgäu) 15f. Fischach (Lk Augsburg) 275 Frankfurt am Main 191, 201, 206, 218f., 263 Frankreich 23, 69, 206, 209, 245f., 277, 323, 340, 358, 370 Freiburg im Breisgau 256 Freudenstadt (Lk Freudenstadt) 93 Fürth 39, 324 Füssen (Lk Ostallgäu) 39 - G - Garmisch-Partenkirchen (Lk Garmisch-Partenkirchen) 210 Göggingen (Augsburg) 278 Göppingen (Lk Göppingen) 276 Gorki [Horki], Weißrussland 268 Görlitz (Lk Görlitz) 262 Graz (Österreich) 254 Griechenland 69 Grodno [Hrodna] (Weißrussland) 260 Großbritannien (auch England) 21, 69, 101, 123 Günzburg (Lk Günzburg) 39, 44f. Gunzenhausen (Lk Weißenburg- Gunzenhausen) 18 - H - Hainsfarth (Lk Donau-Ries) 25 Hamburg 146f., 246f. Heidenheim an der Brenz (Lk Heidenheim) 170 Herford (Lk Herford) 40 Herrenberg (Lk Böblingen) 94 Hessen 65 Hirsau (Lk Calw, Calw) 93 Holland, vgl. Niederlande <?page no="379"?> Geographisches Register 379 Horb am Neckar (Lk Freudenstadt) 16, 79-105 - I - Ichenhausen (Lk Günzburg) 15, 25, 45 Illertissen (Lk Neu-Ulm) 39, 44f., 47 Immenstadt im Allgäu (Lk Oberallgäu) 278 Innsbruck (Österreich) 254 Insterburg [Tschernjachowsk], Russland 264-266 Israel 41, 65, 70, 76, 105, 141, 180, 199, 235 Italien 23, 69 - J - Jeßnitz (Lk Anhalt-Bitterfeld, Raguhn-Jeßnitz) 341 Jungfernhof, Gut, Lager (Lettland) 79 - K - Kalifornien (USA, Bundesstaat) 238 Karlsruhe 254 Kaufbeuren 39 Kempten 15, 20, 22, 39, 44 Killesberg (Stuttgart), Sammellager 89 Klasno (Polen, Wieliczka) 323 Kleinerdlingen (Lk Donau-Ries, Nördlingen) 22 Klosterneuburg, Pioniermuseum (Österreich) 254 Kohlfurt [Węgliniec] (Polen) 262 Köln 138, 262 Kolschi [Powiat Kolski] (Polen) 267 Konstanz (Lk Konstanz) 306 Krakau [Kraków] (Polen) 323 Krumbach (Schwaben) (Lk Günzburg) 15, 39, 44 - L - Landsberg am Lech (Lk Landsberg am Lech) 356 Landshut 43 Laupheim (Lk Biberach) 17, 109- 111 Limbach (Lk Zwickau, Limbach- Oberfrohna) 306 Lindau (Bodensee) (Lk Lindau (Bodensee)) 44, 276 -, (Landkreis) 59 Linz (Östererich) 207 Litzmannstadt, Ghetto (auch Ghetto Lodsch) [Łódż] (Polen) 94 Lochau (Österreich) 94 Lodz [Łódż] (Polen) 327 Los Angeles (USA) 324, 327 Lötzen [Giżycko] (Polen) 260f., 264-267 Luxemburg 69 - M - Magdeburg 225 Mährisch-Ostrau [Ostrava] (Tschechien) 323 Mailand (Italien) 341 Marasesti [Mărășești] (Rumänien) 262 Marktoberdorf (Lk Ostallgäu) 39 Memmingen 17f., 20f., 24, 39, 46- 48, 133-165, 169, 172-177, 180-182, 245, 311 Metz (Frankreich) 254 Milbertshofen (München) 290f., 305f., 310 <?page no="380"?> Geographisches Register 380 Mindelheim (Lk Unterallgäu) 39, 44, 136, 138 Minsk [Мінск] (Weißrussland) 19, 258-260 Mittelfranken 37, 39 Mötzingen (Lk Böblingen) 94 Mühlen am Neckar (Lk Freudenstadt, Horb am Neckar) 79 Mühringen (Lk Freudenstadt, Horb am Neckar) 79, 93 München 11, 22, 24, 35, 37, 39-41, 43-45, 49, 55-57, 70, 72, 75, 135, 177, 189-190, 192, 195, 201-203, 206f., 210, 216, 239, 241-243, 245f., 254, 257, 261- 263, 265, 275-313, 322, 335, 340, 348, 354-357 - N - Neuburg a.d. Donau (Lk Neuburg- Schrobenhausen) 39, 43 Neuenbürg (Lk Enzkreis) 99 Neu-Ulm (Lk Neu-Ulm) 39, 44, 47 New York (USA) 41, 235 Niederbayern 37, 39 Niederlande (auch Holland) 20, 69, 147, 180 Nördlingen (Lk Donau-Ries) 20, 22, 39, 44-46 Nordrhein-Westfalen 59 Nordstetten (Lk Freudenstadt, Horb am Neckar) 79 Normandie 357 Norwegen 69 Nürnberg 12, 18, 23, 37, 40f., 321- 336 - O - Oberbayern 37, 39-41, 57, 238, 265, 287f., 296, 305 Oberfranken 37, 39 Ober-Frohna [Oberfrohna] (Lk Zwickau, Limbach-Oberfrohna) 306 Oberndorf am Neckar (Lk Rottweil) 94 Oberpfalz 37, 39 Oertelsburg vgl. Ortelsburg Oettingen i. Bay. (Lk Donau-Ries) 20-22 Onstmettingen (Lk Zollernalbkreis, Albstadt) 98 Oppeln [Opole] (Polen) 254 Ortelsburg [Szczytno] (Polen) 263f., 267 Österreich 69, 201, 207, 218, 254, 257, 268 Osteuropa 19, 69, 117, 192, 217, 233, 259, 263, 266 Ostpreußen 265 - P - Palästina 65, 101f., 282 Paris (Frankreich) 206f., 214, 218, 245, 341, 369 Pfersee (Augsburg) 23f., 339-370 Piaseczno (Polen) 267 Piaski (Polen) 282 Pleskau [Pskow] (Russland) 264 Polen 69, 117, 192, 266, 268f., 323, 329f. Poltawa (Ukraine) 258f. Posen [Poznań] (Polen) 267 Prag [Praha] (Tschechien) 254 - R - Regensburg 39, 43 Regierungsbezirk Schwaben vgl. Bayerisch-Schwaben <?page no="381"?> Geographisches Register 381 Reichenberg [Liberec] (Tschechien) 261f. Reutlingen (Lk Reutlingen) 341 Rexingen (Lk Freudenstadt, Horb am Neckar) 16, 79-105 Rhode Island (USA, Bundesstaat) 341 Riga [Rīga] (Lettland) 19, 79, 102, 260f., 264-266, 324 Rottenburg am Neckar (Lk Tübingen) 94 Rottweil (Lk Rottweil) 79, 93 Rumänien 262 Russland (auch Russische Föderation) 69, 259 - S - Sachsen 264-268 Schawe Zion (Israel) 102 Schlauroth (Lk Görlitz, Görlitz) 262 Schwabmünchen (Lk Augsburg) 39 Schweden 69 Schweiz 23, 69, 104, 245, 323, 340f., 357f., 370 Schwerin 246 Shavei Zion vgl. Schawe Zion Sigmaringen (Lk Sigmaringen) 79 Skierniewicze (Polen) 267 Slowenien 99 Sobibor [Sobibór] (Polen), Vernichtungslager 21 Sochaczew (Polen) 267 Sonthofen (Lk Oberallgäu) 39 Sowjetunion 255, 269 Straßburg (Frankreich) 154, 323, 327 Stuttgart 63f., 81, 83, 87, 90, 94, 100, 105, 306 Südafrika 105 - T - Tannenberg, Schlacht bei [Stębark] (Polen, Grunwald) 258f. Thalhofen an der Gennach (Lk Ostallgäu, Stötten) 12 Theresienstadt, Ghetto [Terezín] (Tschechien) 16, 72, 74, 123, 128, 176, 242, 290, 304, 357 Tiefenort (Lk Wartburgkreis, Bad Salzungen) 357 Torgau (Lk Nordsachsen) 266 Triest (Italien) 12 Tschechien 242 Tschechoslowakei 364 Tübingen (Lk Tübingen) 79 Tuttlingen (Lk Tuttlingen) 93 - U - Ukraine 262, 269 Unterfranken 37, 39 USA (auch Amerika) 23, 41, 63, 70, 105, 109, 142, 235, 246f., 265 Uster (Schweiz) 105 - W - Waging a. See (Lk Traunstein) 265 Warschau [Warszawa] (Polen) 19, 263, 265 Weißrussland 69 Wertingen (Lk Dillingen a.d. Donau) 39, 44f. -, Altlandkreis 11 Wervicq (Belgien) 278 West Warwick (USA) 341 Wien (Österreich) 201, 208, 214, 254f., 257f., 260-263 Wiesbaden 207 Wilanow, Schloss [Wilanów] (Polen, Waschau) 19, 256, 265-269 <?page no="382"?> Geographisches Register 382 Wilna [Vilnius] (Litauen) 159, 260 Württemberg(-Hohenzollern) 65, 80f., 87, 90, 275 Würzburg 39, 43 - Z - Zürich (Schweiz) 105, 341, 369 Zusmarshausen, Bezirksamt 275 Zyrardow [Żyrardów] (Polen) 267 <?page no="383"?> Personen- und Firmenregister - A - Almas, Galerie (Almas-Dietrich, Maria, Kunsthandel, München) 207 Amberger, Christoph (Maler) 207 Arnold, Art(h)ur (Fabrikbesitzer, Augsburg) 198f., 234 Auerbach, Philipp (Staatskommissar, Bayern) 36, 236, 295, 307 - B - Bacharach, Sigmund (Kaufmann, München) 281 Bachmann, Oberregierungsrat 306 Baur, Angelika (Günzburg) 43 -, Otto (Günzburg) 43 Bender, Moritz (München) 282 Berndl, Heinrich (Erster Bürgermeister, Memmingen) 18, 20, 133, 135-138, 142, 144, 146, 148, 150, 152f., 156-160, 203 Bernheim, Curt (Augsburg) 341, 348, 350f., 353, 357f., 363f., 367, 369, 370 -, Erhard (Augsburg) 23f., 357f., 364, 367, 370 -, Familie (Augsburg) 340, 343f., 346-352, 354-356, 358-363 -, Gisela, geb. Büttner (Augsburg) 342, 357 -, Isaak (Augsburg) 341 -, Maria (Augsburg) 357 -, Siegfried (Augsburg) 341f., 346, 357 -, Willy (Augsburg) 23f., 340-344, 347f., 350, 353, 356-361, 363f., 367, 369, 370 -, Wolfgang (Augsburg) 357 Binder, Moritz Julius (Kunsthistoriker, Direktor Zeughaus Berlin) 254 Blessin, Georg (Oberregierungsrat Oberfinzanzpräsidium) 307 Bohl, Otto (Oberbürgermeister, Augsburg) 189 Brand, Albrecht (Generalleutnant, Chef der Heeresmuseen) 255 Brunner, Heinrich (Ministerialdirigent) 305 Buchheit, Hans (Direktor Bayerisches Nationalmuseum, München) 209 Budge, Ehepaar (Hamburg) 206, 246 -, Emma Ranette, geb. Lazarus (Hamburg) 205f., 246f., 249 -, Erbengemeinschaft 249 -, Heinrich (Henry) (Hamburg) 246 -, Kunstsammlung (Hamburg) 246- 249 Büttner, Erhard (Augsburg) 342, 346-348 Burgkmair d. Ä., Hans (Maler) 206 Butter- und Käsegroßhandlung Wilhelm Rosenbaum (Memmingen) 180-181, vgl. auch Rosenbaum, Wilhelm Buttmann, Rudolf (Direktor Bayerische Staatsbibliothek, München) 189 <?page no="384"?> Personen- und Firmenregister 384 - C - Chemische Fabrik Pfersee (Augsburg) 23, 339-370 Ciba-Geigy AG, Chemiefabrik (Schweiz) 370 Corts (Fotograf, Mitglied „Chef der Heeresmuseen“) 256, 267 - D - Denk, Lieselotte (Schriftsstellerin) 11f. Denny, Sara Deborah (Memmingen) 20 Dietrich, Hermann, Fabrik (Oberfrohna) 306 Dörfler, Theodor (Präsident des Landgerichts Augsburg) 367 Dorothäum, Pfand- und Auktionshaus (Wien) 208f., 218 Dreifuß, Ludwig (Rechtsanwalt, Augsburg) 16, 63, 70-76, 358 Dürer, Albrecht (Maler) 206 Durner, Georg (Memmingen) 174f. Dworschak, Fritz (Erster Direktor Kunsthistorisches Museum Wien) 257 - E - Ebner, Adele, geb. Erlanger (Augsburg) 275 Ehard, Hans (Senatspräsident am Oberlandesgericht) 367 Eigener, Wilhelm (Maler, Mitglied Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“) 259, 269 Einstein, Paula (Pauline) (Memmingen) 139, 142, 161 -, Siegfried (Memmingen) 139f., 159, 161 Emmershofen, von, Adelsgeschlecht 234 Engel, Hugo (Kunstagent) 245 Erba AG (Zürich) 341 Erhart, Karl (Stadtrat, Leiter Kommunalreferat Stadt München) 294, 298, 312 Erlanger, Anna, geb. Eckl (München) 276, 311 -, Berta (Augsburg) 275 -, Egon Ehrlich (München) 276, 310 -, Emilie, geb. Neuburger (Fischach, Lk Augsburg) 275 -, Hugo Klemens jun. (München) 276, 287, 289, 303, 309-311 -, Hugo sen. (München) 22, 275- 313 -, Jakob (Augsburg) 275 -, Jutta, geb. Koronczyk (München) 310 -, Katharina, geb. Koller (München) 311 Esslinger, Alice (Horb am Neckar) 79, 85, 104 -, Familie (Horb am Neckar) 90, 95, 104, 106 -, Fritz (Schweiz) 104f. -, Helmut (Horb am Neckar) 104 -, Hugo 105 -, Lotte 105 -, Viktor (Horb am Neckar) 79, 85, 104 - F - Fa. Gebr. Rheineck (Textilhandel der Familie Pick, Memmingen) 154, 164, vgl. auch Pick Faltlhauser, Kurt (Finanzminister, Bayern) 335 <?page no="385"?> Personenregister 385 Feist, Richard (Augsburg) 241-243 Feuchtwanger, August (Arzt, München) 281 Fey, Georg (Erster Bürgermeister, Memmingen) 137-140, 142, 151, 156-159 Fink, August (München) 296 Firma A. Rothenheim OHG, Farbenfabrik (München) 281 Firma C.F. Ploucqet (Heidenheim/ Brenz) 170 Firma Gebr. Feist & Götz (Augsburg) 242 Firma L. & E. Kronheimer (München) 276 Firma Max Guggenheimer (Memmingen) 47, 135, 149, 162f., vgl. auch Guggenheimer, Max Fischer, Dr. (Kommunalreferat München) 301 Fränkel, Emil (Rechtsanwalt, München) 281 -, Siegfried (Kommerzienrat, München) 281 Fraunholz, Anton (Rechtsanwalt, Augsburg) 70 Freyberger, Walter (Landeskulturwalter Gau Schwaben, Oberbaurat Stadt Augsburg) 204 Frick, Wilhelm (Reichsinnenminister) 81 Fröhlich, Simon (Rexingen) 102 - G - Gaiser (Finanzbeamter, Horb am Neckar) 88 Geigy J. R., Chemiefabrik(Schweiz) 24, 370 Gerin, Mathias (Künstler) 206 Geßwein, Hans (Ratsherr, Augsburg) 209, 245 Goebbels, Joseph (Reichsminister für Propaganda und Volksaufklärung) 289 Göring, Hermann (Reichswirtschaftsminister) 83, 85 Götz, Franz (Metzgermeister, München) 303 Grant, Nikolaus 20 Graupe, Paul (Kunsthändler, Berlin) 205, 248 Grynszpan, Herschel 289 Günzburger, Hugo (Memmingen) 135, 138, 157 Guggenheimer, Fritz (Friedrich) (Memmingen) 20f., 174 -, Julius (Memmingen) 20f., 155f., 159, 161f., 172-175 -, Lore (Memmingen) 20f., 174 -, Max (Memmingen) 47, 135f., 145, 162 -, Nelly (Memmingen) 155f., 159, 161f., 174 -, Regina (Memmingen) 20f. -, Rosa (Memmingen) 136, 162 Gumpp, Rudolf (Memmingen) 176f. Gurlitt, Hildebrand (Kunsthändler) 14, 207, 209, 245 Gutmann, Ida (Memmingen) 176 -, Ignaz (Memmingen) 175, vgl. auch Strumpfwarenfabrik J. Gutmann -, Julius (Memmingen) 175, vgl. auch Strumpfwarenfabrik J. Gutmann -, Leo (Israelitische Kultusgemeinde, Augsburg) 228, 237 <?page no="386"?> Personen- und Firmenregister 386 - H - Haarfabrik Bergmann (Laupheim) 110 Haberstock, Karl (Kunsthändler) 19, 225, 245 Hahn, Samuel (Agentur für Textilwaren, München) 281f. Harnisch, Josef (Jurist, Düsseldorf) 155f., 158 Hartmann (Senatspräsident) 305 -, Alfred (Rechtsanwalt, München) 291 Haven, Monica (Nichte von Schneider, Lisa) 326 Heidkemp (General, Mitglied Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“), 261, 269 Hermann, Agnes (Horb am Neckar) 104f. Hermssen, Theodor (Kunsthändler, Niederlande) 245 Heydrich, Reinhard (Leiter Reichssicherheitshauptamt u.a.) 189 Hielscher, Erwin (Stadtrat, Leiter Finanzreferat Stadt München) 296 Hilk, Gustav (Stadtsyndikus, Memmingen) 135-137, 140, 151, 159 Hinteregger, Gebhard (Bau Lager Milbertshofen, München) 290 Hitler, Adolf 22, 195f., 207, 217, 254, 275, 289, 312 Hoegner, Wilhelm (Ministerpräsident, Bayern) 35, 295 Höß, Josef (Oberbürgermeister Kempten) 22 Hofer, Walter (Kunsthändler) 245 Hofgartencafe Annast (München) 291 Hofmann (Dezernet Landsfinanzamt München) 348 -, Abraham (München) 281 Hofmann und Wechsler KG, Bankgeschäft (München) 281 Hopfenhandel Steiner (Laupheim) 110 Hopfer, Daniel (Radierer, Holzschneider) 206 Hugo Erlanger, Firma (München) 283, 287, vgl. auch Erlanger, Hugo sen. - I - Iterba, Fabrik (Mailand) 341 - J - J. Kleofass & Knapp (Hoch- und Tiefbauunternehmen, Augsburg) 18, 177-179 - K - Kadau I, Ernst (Goldschmied, Danzig) 198 Kahn & Arnold, Spinnerei und Weberei am Sparrenlech (Augsburg) 234 Kahn, Julius (Baisingen) 94 -, Klara (Baisingen) 93 Kaufhaus D.M. Einstein (Laupheim) 110f. Keats, Tara Diane (Memmingen) 20 Kerler, Firma von Fritz und Willi Kerler (Memmingen) 181 -, Willy (Kreisamtsleiter, Memmingen) 176 Kern, Robert, Fabrik (Stuttgart) 306 Kilian, Wolfgang (Kupferstecher) 206 Kirkall (Kupferstecher) 206 <?page no="387"?> Personenregister 387 Kleindinst, Ferdinand Josef (Stadtrechtsrat, Augsburg) 18f., 188, 190, 193-200, 209-213, 215, 218, 245 Knapp, Ferdinand (Kunsthändler, Berlin) 206, 249 -, Franz (Augsburg) 178f., vgl. auch J. Kleofass & Knapp, Hoch- und Tiefbauunternehmen -, Max (Augsburg) 178f., vgl. auch J. Kleofass & Knapp, Hoch- und Tiefbauunternehmen Kohn, Erna, geb. Haimann (Augsburg) 237 -, Heinrich, Tuchgroßhandlung (Augsburg) 237 -, Karl (Augsburg) 237 Koronczyk, Theodor (Vorsitzender der Reichsvereinigung der Juden, München) 310f. Korte, Hans (Augsburg) 178f. Kost (Major) 260 Kremmer, Krescenz (Centa) (Memmingen) 139, 159 Kronheimer, Emanuel (München) 276 -, Ludwig (München) 276 Kupferberg, Eva, geb. Schneider (Nürnberg) 321-324, 328, 331, 333 - L - Laemmle, Carl (Laupheim) 109 Landauer, Fritz (Augsburg) 170f. -, Graphiksammlung (von Landauer Otto und Paul), 199-201, 211f., 214, 218, 234 -, Julius (Augsburg) 170f. -, Otto (Augsburg) 170-172, 197, 199-201, 211, 234 -, Paul (Augsburg) 170f., 197, 199 Lange, Hans Wolfgang (Kunsthändler, Berlin) 205f. Laupheimer Werkzeugfabrik (Laupheim) 110 Leegenhoeck, J. O. (Kunsthändler, Restaurator, Paris) 245 Lemberger, Isidor (Rexingen) 102 Leonhard, Arnold (Kaufmann, München) 281 Levi, Samuel (Rexingen) 97 -, Senta (Rexingen) 94, 97 Lieb, Dorothee, geb. Haas (Augsburg) 190 -, Norbert (Leiter Städtische Kunstsammlungen Augsburg) 18f., 188-192, 194-198, 200f., 211, 213, 215-218, 234 Löwe (Mitglied „Chef der Heeresmuseen“) 256, 267 Löwenstein, Ernst (Livingstone, Ernest) (Memmingen) 175, vgl. auch Strumpfwarenfabrik J. Gutmann -, Theodor (Rechtsanwalt) 350 Lohse, Bruhne (Kunsthändler) 245 Lorentz, Alfred (Augsburg) 346 Lorey, Hermann (Konteradmiral, Direktor Zeughaus Berlin) 254- 257 - M - Maas, Hermann (Großhändler, München) 281 Madlener, Josef (Maler) 21 Magris, Claudio (Schriftsteller) 12f. Mair, Michael (Goldschmied, Augsburg) 205 <?page no="388"?> Personen- und Firmenregister 388 Martin, Kurt (Direktor Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Generalbevollmächtigter für die Museen im Elsass und in Baden) 254 Marxer, Ludwig (Bürgermeister, Laupheim) 110 Mayerhoff (Unteroffizier, Mitglied Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“) 259-261, 269 Mayr, Josef (Oberbürgermeister, Augsburg) 188, 195-197, 199- 202, 204, 209f., 215f., 218, 234, 245, 253 Meier, Heinz (Präsident des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern) 305- 307, 310f. Mell, Alfred (General-Kustos von Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“ Wien) 257f. Miedanner, Josef (Hausverwaltung und Immobilienvermittlung, München) 284 Mohr, Therese (München) 281 Müller, Adalbert (Augsburg) 360, 362, 364, 368 -, Christian (Stadtdirektor Stadtverwaltung München) 286, 294f. Münster, Jakob (Textilvertreter, München) 281 Mugler, Franz (Beauftragter der Gauleitung für das Lager Milbertshofen, München) 290 - N - Nathan, Familie (Memmingen) 145, 163 -, Karl (Memmingen) 146, 163 -, Rudolf (Augsburg) 341 -, Sara (Memmingen) 146, 163 -, Siegfried (Memmingen) 146 Neuland, Siegfried (Rechtsanwalt, München) 22, 293-298, 305, 310, 312 Nördlinger, Isaak (Tabakwarenagentur, München) 282 Nowotny, Otto (Ratsherr, Augsburg) 209, 245 - O - Ohlenroth, Ludwig (Kustos Maximilianmuseum Augsburg) 211 Olles, Dr. (Köln) 262 Otte (SA-Obergefreiter) 265, 267, 269 - P - Patuschka, Albert (Augsburg) 346, 348 Paul Haas (Kommerzienrat, Verleger, Augsburg) 190 Petropoulos, Jonathan (Historiker, USA) 225 Petzold, Fritz (Kunsthändler, Auktionator, Augsburg) 233 Pick, Edgar (Memmingen) 135, 140, 150f. -, Familie (Memmingen) 135, 140f., 145, 147-155 -, Hermann (Memmingen) 143f., 154, 163f. -, Ida (Memmingen) 150, 155, 164 Poensgen, Georg (Major, Mitglied Dienststelle „Chef der Heeresmuseen“, Wien) 260 Pohlhammer, Karl (Kunsthistoriker, Restaurator) 268f. Pollack, Ernst (Kommerzienrat, Wien) 208 <?page no="389"?> Personenregister 389 Posse, Hans (Direktor Gemäldegalerie Dresden, Sonderbeauftragter Linz) 207 Protex, Firma (Niederlassung von R. Bernheim, Paris) 341 Pühringer, Rudolf (Kunsthistoriker, Offizier, Mitglied „Chef der Heeresmuseen“) 257f. - R - R. Bernheim, chemische Fabrik (Augsburg-Pfersee) vgl. unter Chemische Fabrik Pfersee Raff, Gertrud (Augsburg) 198f., 234 Railing, Hugo (Leiter Lager Milbertshofen, München) 290 Rauchhaupt, Wilhelm Volrad von (Armeemuseum bzw. Zeughaus Berlin) 264 Rauh, Wilhelm (Rechtsanwalt, 2. Bürgermeister, Memmingen) 137, 140, 142f., 153 Reichenbach, Franz (Rechtsanwalt) 350 Reimer, Gottfried (Referent Sonderbeauftragter Linz) 207, 209 Reitzenstein, Alexander Freiherr von (Kunsthistoriker, Mitglied „Chef der Heeresmuseen“, Direktor Bayerisches Armeemuseum) 256-269 Richter, E., Fabrik (Limbach) 306 Ridinger, Johann Elias (Kupferstecher) 206 Riedmiller, Lorenz (Erster Bürgermeister, Memmingen) 137f., 159 Römer, Gernot 25 Roese, Friedrich (General, Chef der Heeresmuseen) 255 Rosenbaum, Benno (Memmingen) 135, 145, 159, 164 -, Wilhelm (Käsehändler, Memmingen) 18, 135, 140, 142, 145-148, 165, 180f. vgl. auch Butter- und Käsegroßhandlung Wilhelm Rosenbaum Rosenthal Fleischer & Cie., Korsettfabrik (Göppingen) 276, 279 Rothenheim, Julius (München) 281 -, Siegfried (München) 281 Rothschild, Familie (Paris, Frankfurt am Main) 206 Rugendas, Johann Moritz (Maler) 202 -, Georg Philipp d. Ä. (Maler) 206 - S - Sänger, Fritz (Augsburg) 178f., vgl. auch J. Kleofass & Knapp Scharf, Herbert (Augsburg) 346, 348 Scharnagl, Karl (Oberbürgermeister München) 295 Schellenberg, Walter (SS-Brigadeführer) 268f. Schmidbauer, Richard (Direktor Staats- und Stadtbibliothek Augsburg) 217 Schmidt, Wilhelm (Ratsherr, Augsburg) 209, 245 Schneider & Münzing, Bankhaus (München) 284, 286 Schneider, David (Los Angeles) 324, 326 -, Familie (Nürnberg) 324, 329 -, Katharina (Nürnberg) 23, 323, 325, 328-332 -, Leo (Nürnberg) 23, 323, 325- 329, 331 <?page no="390"?> Personen- und Firmenregister 390 -, Lisa (Nürnberg) 321-324, 328, 331, 333f. Schwarz, Franz Xaver (Reichsschatzmeister der NSDAP) 198, 234 -, Hugo (Israelitische Kultusgemeinde, Augsburg) 228, 237 -, Wilhelm (Kreisleiter, Memmingen) 150 Schweighart, August, Fabrik (München) 306 Schweizer, Berthold (Baisingen) 102 -, Salomon (Baisingen) 94 Schweyer, Anna (München) 280 -, Karl (München) 280 Seidenberger (Rechtsanwalt) 364 Seligmann, Max 306 Siegel, Michael (Rechtsanwalt, München) 285, 293, 298 Solms-Laubach, Ernstotto Graf zu (Direktor Historisches Museum Frankfurt a. Main, Mitglied „Chef der Heeresmuseen“) 256, 263f., 267f. Spanier, Julius (Kinderarzt, München) 304, 310 Sperlein, Barbara (Stadtjuristin, Augsburg) 200 Stauffenberg, Klemens Graf Schenk von (Rittmeister) 278 Steiner, Horst (Augsburg) 346-348, 358, 360, 362, 364, 368 Stelzmann, Paul, Fabrik (Limbach) 306 Stern, Auguste (Baisingen) 93 Streicher, Florian, Bauspenglerei (München) 291 -, Julius (Herausgeber „Der Stürmer“) 345 Strickwarenfabrik Walter (Chemnitz) 306 Strigel, Bernhard (Maler) 209, 245 Stromeyer & Co. Konstanz, Fabrik 306 Strumpfwarenfabrik J. Gutmann (Memmingen) 175-177 - T - Tann, Luitpold von der (General, bayerisch) 277, 279 Thoma, Friedrich (Rechtsanwalt, MdL Bayern, MdR, Hauptmann der Reserve, Augsburg) 278 Thomas Wimmer (Zweiter Bürgermeister/ Oberbürgermeister München) 294, 302, 312 Tietz, Hermann, Warenhaus 306 - U - Ulrich, Stephan (Rechtsanwalt, München) 283 Urban, Dr. (Rechtsanwalt, München) 283 - V - Vetter, Paul (Direktor, Dresdner Bank Filiale Augsburg) 172 Voss, Hermann (Direktor Staatliche Kunstsammlung Dresden, Sonderbeauftragter Linz) 207 Vries, Adrian de (Maler) 201, 239- 241, 243 - W - Wahl, Karl (Gauleiter, Augsburg) 195 Wallbaum, Matthäus (Goldschmied, Augsburg) 208 <?page no="391"?> Personenregister 391 Warwick Chemical Co. (West Warwick, USA) 341 Weberei M.S. Landauer (Augsburg) 170-172 Weiditz, Hans (Graphiker) 206 Weihrauch, Hans Robert (Leiter Städtische Kunstsammlungen Augsburg) 18f., 57, 187f., 191- 193f., 196, 198f., 202-218, 236, 239, 241, 245, 253-269 Weinmüller, Adolf (Kunsthändler, München) 203 Weiß- und Wollwarengroßhandlung Julius Guggenheimer (Memmingen) 172-175, vgl. auch Guggenheimer, Julius Wendland, Hans (Kunsthändler) 245 Wengenmayer (Kunsthistoriker) 189 Werner, Gerta (München) 241 Werner, Heinrich (Fabrikdirektor, München) 239, 241, 243 Wolfrum, Ida, geb. Erlanger (Augsburg) 275 Wolters, Alfred (Direktor Städtische Galerie Städele, Frankfurt a. Main) 218f. Wuester, Adolf (Kunsthändler) 245 - Z - Zetzsche, Walter (Augsburg) 346f., 360, 362, 364 <?page no="392"?> Irseer Schriften Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker - Schwabenakademie Irsee www.uvk.de Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. : Weiterlesen Band 1 Markwart Herzog, Rolf Kießling, Bernd Roeck (Hg.) Himmel auf Erden oder Teufelsbauwurm? Wirtschaftliche und soziale Bedingungen des süddeutschen Klosterbarock 2002, 352 Seiten, 50 sw-Abb., Broschur ISBN 978-3-89669-994-7 Band 2 Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Vorindustrielles Gewerbe Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit 2004, 260 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-692-2 Band 4 Markwart Herzog, Cecilie Hollberg (Hg.) Seelenheil und irdischer Besitz Testamente als Quellen für den Umgang mit den »letzten Dingen« 2007, 242 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-630-4 Band 5 Markwart Herzog, Huberta Weigl (Hg.) Mitteleuropäische Klöster der Barockzeit Vergegenwärtigung monastischer Vergangenheit in Wort und Bild 2011, 400 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-189-0 Band 6 Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Praktiken des Handels Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit 2010, 688 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-203-3 Band 7 Peter Fassl, Markwart Herzog, Jim G. Tobias (Hg.) Nach der Shoa Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951 2011, 140 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-341-2 <?page no="393"?> www.uvk.de Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. : Weiterlesen Band 9 Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Materielle Grundlagen der Diplomatie Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit 2013, 294 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86496-300-1 Band 10 Peter Fassl, Wilhelm Liebhart, Wolfgang Wüst (Hg.) Groß im Kleinen - Klein im Großen Beiträge zur Mikro- und Landesgeschichte Gedenkschrift für Pankraz Fried 2014, 472 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-365-8 Band 11 Peter Fassl, Friedmann Harzer, Berndt Herrmann (Hg.) Jüdische Literaturgeschichte in Schwaben Eine Spurensuche 2016, 410 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-674-1 Band 12 Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.) Psychiatrie im Ersten Weltkrieg 2018, 460 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-801-1 Band 13 Markwart Herzog, Alois Schmid (Hg.) Katholische Aufklärung im Benediktinerreichsstift Irsee 2018, 424 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-814-1 Irseer Schriften Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker - Schwabenakademie Irsee <?page no="395"?> Irseer Schriften Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte Hrsg. von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee Die Verfolgung der jüdischen Bürger während der nationalsozialistischen Herrschaft ging einher mit dem Raub ihres Eigentums, der von alltäglichen Haushaltsgegenständen über Kunstwerke, Geld- und Anlagevermögen sowie Immobilien bis hin zu ihren Firmen reichte. Am Raub und der Bereicherung waren neben den Funktionären der NSDAP zahlreiche weitere Personengruppen und Institutionen beteiligt, darunter staatliche und kommunale Behörden, vor allem die Finanzverwaltung und Museen, Kunsthistoriker, Kunsthändler, Firmeninhaber und Angestellte sowie Arbeitskollegen und Nachbarn. Die Restitution des Eigentums der Verfolgten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war für die Berechtigten schmerzvoll, das Ergebnis selten befriedigend. Oft mussten sie die Verfolgung erneut durchleben. Häufig waren ihre Verhandlungspartner die Täter, die ihre eigene Rolle im Raubgeschehen verharmlosten, im Extremfall sogar Beweismaterial zurückhielten oder die Berechtigten schlichtweg anlogen. An Beispielen überwiegend aus Schwaben, darunter aus Augsburg und Memmingen, werden in diesem Band solche Raubszenarien und die Restitution vorgestellt. Akteure werden benannt, Abläufe rekonstruiert, darüber hinaus wird die Quellenlage für die Raub- und Restitutionsforschung in Bayerisch-Schwaben vorgestellt. ISBN 978-3-7398-3103-9 www.uvk.de