Aus Sorge um die Gesundheit
Geschichte der Medizin in der Region
1213
2021
978-3-7398-8176-8
978-3-7398-3176-3
UVK Verlag
Peer Frieß
Dietmar Schiersner
Die Medizingeschichte hat sich in der Vergangenheit geweitet zu einer Kulturgeschichte des Medikalen. Erforscht werden zwar weiterhin aufsehenerregende Krankheiten und Seuchen, die ganze Generationen und Gesellschaften fest im Griff hatten, berühmte Ärzte, Heiler oder auch Patienten und deren Biographien, medizinische Einrichtungen vom Operationssaal bis zum Sanatorium und mehr oder weniger erfolgreiche Therapien. Indes haben sich die Perspektiven auf die Phänomene verändert. So gilt heute das Interesse vor allem den Einstellungen und Praktiken, die mit Gesundheit und Krankheit zu tun hatten, sowie dem Prozess der "Medikalisierung".
Für solche prozessbezogenen Aspekte ist ein epochenübergreifender regionalgeschichtlicher Ansatz besonders ergiebig. Umgekehrt weitet eine Kulturgeschichte des Medikalen auch den Horizont für neue regionalhistorische Fragen, etwa danach, wie medikale Regionen und Räume entstanden und entstehen und wie sie sich mit anderen vergleichen lassen. Der Tagungsband widmet sich diesen Fragestellungen in Längsschnitten vom (späten) Mittelalter bis in die Zeitgeschichte.
<?page no="0"?> Aus Sorge um die Gesundheit Peer Frieß, Dietmar Schiersner (Hg.) Geschichte der Medizin in der Region 14 Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen FORUM SUEVICUM <?page no="1"?> Peer Frieß, Dietmar Schiersner (Hg.) Aus Sorge um die Gesundheit <?page no="2"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 14 <?page no="3"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 14 Aus Sorge um die Gesundheit Geschichte der Medizin in der Region Herausgegeben von Peer Frieß und Dietmar Schiersner UVK Verlag · München <?page no="4"?> Einbandmotiv: ‚Die Impfstube‘. Gemälde von Reinhard Sebastian Zimmermann (1815-1893). Zeppelin Museum Friedrichshafen, Leihgabe der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke. Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen und der Sparkasse Memmingen-Lindau-Mindelheim. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d n b.de abrufbar. © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-7398-3176-3 (Print) ISBN 978-3-7398-8176-8 (ePDF) <?page no="5"?> IN MEMORIAM ROLF KIEßLING (1941-2020) <?page no="7"?> 7 Vorwort Selten war es offensichtlicher, dass der analytische Blick in die Geschichte besser verstehen lässt, was in der Gegenwart vor sich geht. In unserem Jahrhundert, zu Beginn des dritten Jahrzehnts, gewann die Sorge um Gesundheit eine Wirkungsmacht, wie dies kaum jemand erwartet hätte. Der gesunde, leistungsfähige und in jeder Hinsicht optimierte Mensch ist seit Jahrzehnten ein zentrales Leitbild unseres Verhaltens, auf das Politik und Märkte eingestellt sind, vom Verbraucherschutz bis zum Bioprodukt aus dem Discounter. Medizinische Dienstleistungen werden nachgefragt wie nie. Gleich nach der Feuerwehr genießen Ärzte, dann Kranken- und Altenpfleger seit vielen Jahren kontinuierlich höchstes Ansehen unter den Berufen. Dass sich solche Rankings nicht unbedingt in der Entlohnung bemerkbar machen oder dass beispielsweise die Zahl der übergewichtigen Kinder in Europa und den USA ständig zunimmt, ist als Problem identifiziert und bewegt Interessenverbände, Aktivisten und Öffentlichkeit. Indes nimmt im Zeichen der Pandemie die Bedeutung des Medikalen nicht einfach nur weiter zu, sondern erfährt eine Steigerung, die die gesellschaftlichen Subsysteme in ein neues Verhältnis zueinander bringt: religiöse Deutungsmuster haben ihre öffentliche Relevanz nahezu vollkommen verloren, selbst ökonomische Interessen müssen sich einem effizienten Seuchenschutz unterordnen - jedenfalls solange staatliche Hilfen für Akzeptanz sorgen, in vielen Fällen auch darüber hinaus. Die einen sehen eine Stärkung traditioneller familialer Rollenmuster, die anderen eine Schwächung bürgerschaftlicher Sozialität in Nachbarschaft und Vereinswesen. Freiheitsrechte werden von manchen, ob zutreffend oder nicht, als prekär empfunden. Die Pandemie legt jenen, die sonst kaum Gehör fänden, Worte in den Mund. Medien nehmen Konflikte auf, arbeiten an der Polarisierung der Meinungen und werden selbst zu Getriebenen. Kurzum: Die Gesellschaft als Ganzes ist unter disruptive Spannungen geraten und verändert sich nachhaltig. Möglicherweise ist, was aber erst in der historischen Rückschau greifbar werden kann, damit auch ein langfristiger Mentalitätswandel verbunden. Solche Phänomene sind freilich nicht neu: Gravierende Folgen ebenso für Frömmigkeit und Religiosität wie für die wirtschaftlichen Strukturen in Oberitalien einerseits und Oberdeutschland andererseits werden der spätmittelalterlichen Pest zugeschrieben; die frühneuzeitliche Syphilis wird mit einem tiefgreifenden Wandel des Zeitbewusstseins in Verbindung gebracht - um nur zwei Beispiele zu nennen. Dabei ist es nicht einmal so entscheidend, welche tödliche Gewalt von Krankheiten tatsächlich ausging oder ausgeht; es ist nicht zuletzt die von der Mortalität allerdings <?page no="8"?> 8 nicht zu trennende Sorge ums Gesundbleiben, die Wirkung und Macht entfaltet(e). Sie trug bei zur Sakralisierung spätmittelalterlicher Reichsstädte oder barocker Landschaften, ließ ein ausdifferenziertes Hospitalwesen und vielfältiges medizinisches Angebot in den Städten entstehen, half dabei, ganze Länder und Staaten politisch zu integrieren, und machte sogar Dörfer zu Kurmetropolen. Damit sind jene Themen angesprochen, die den Schwerpunkt der 17. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. vom 15. bis 17. November 2019 bildeten. Zuallererst den Vortragenden ist an dieser Stelle dafür zu danken, dass sie sich auf das Unternehmen, vielfältigen Formen und Beispielen medikaler ›Regiogenese‹ nachzugehen, einließen und - mit einer Ausnahme - ihre Beiträge für den vorliegenden Sammelband verschriftlicht haben. Angela Schlenkrich M. A. sei für ihr wie stets versiertes Lektorat und die angenehme Zusammenarbeit, Uta C. Preimesser vom inzwischen in München ansässigen UVK-Verlag für die gewohnt souveräne Begleitung der Drucklegung und dem Memminger Medien- Centrum für den qualitätvollen und zuverlässigen Druck des Buches gedankt. Die Finanzierung des Tagungsbandes wurde maßgeblich ermöglicht durch die Unterstützung der Stadt Memmingen. Mit dem historischen Rathaussaal wurde den Teilnehmern zudem die passende Umgebung für die Tagung zur Verfügung gestellt, die vom Geschäftsführer des Memminger Forums und Kulturamtsleiter Dr. Hans- Wolfgang Bayer und dessen Mitarbeiterinnen auf bewährte Weise organisiert wurde. Oberbürgermeister Manfred Schilder und dem Memminger Stadtrat gebührt unser Dank, ebenso der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau und ihrem Vorstandsvorsitzenden Dipl.-Volkswirt Thomas Munding für deren namhaften Beitrag zur Drucklegung des Buches. - Möge es den Leserinnen und Lesern Einsichten vermitteln und Freude bereiten. * Die Herausgeber widmen diesen 14. Tagungsband in der Reihe Forum Suevicum Prof. Dr. Rolf Kießling (1941-2020). Der leider viel zu früh verstorbene langjährige Vorsitzende des Memminger Forums (1996-2011) trug entscheidend dazu bei, wenn die Tagungen und Publikationen des Forums heute auch über die landesgeschichtliche Disziplin hinaus als wichtige Beiträge historischer Forschung und Diskussion gelten dürfen. Rolf Kießling hat die Planungen zur medizinhistorischen Tagung vom Herbst 2019 noch begleiten können und die Diskussionen auf der Konferenz bereichert. Die in allen Beiträgen zum Tragen kommende Berücksichtigung der Raumwirksamkeit - hier: medikaler Prozesse - war im zeitlebens ein zentrales Anliegen. Dem Andenken des Forschers, Lehrers und Freundes sei dieses Buch gewidmet. Zorneding und Weingarten im September 2021 Peer Frieß und Dietmar Schiersner <?page no="9"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 11 P EER F RIESS / D IETMAR S CHIERSNER Einführung 13 I. Städtisches Gesundheitswesen S TEFAN D IETER Heilige Helfer. Frömmigkeit und Krankheit im spätmittelalterlichen Kaufbeuren 23 P ATRICK S TURM Flucht und Meidung. Reaktionen auf die Pest in spätmittelalterlichen Reichsstädten 57 A NNEMARIE K INZELBACH Reichsstädtische Hospitäler und Region in der Vormoderne 83 M ICHAEL B AUMANN Da man weder Doctores noch Apotecken hat. Selbstmedikation mit den Rezepten des Ulmer Buntschriftstellers Martin Zeiller 113 P EER F RIESS Der Memminger Gesundheitsmarkt in der Frühen Neuzeit 141 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Segner oder gelehrter Mediziner? Die medizinische Tätigkeit der frühneuzeitlichen Scharfrichter im Bodenseeraum und in Oberschwaben 185 II. Medizin auf dem Land C LAUDIA R IED Chance zur gegenseitigen Annäherung? Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in christlich-jüdischen Gemeinden Bayerisch-Schwabens während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 213 <?page no="10"?> 8 E LENA T ADDEI Die Verwaltung des ›Irrsinns‹ im Kronland Tirol am Beispiel des Landarztes Franz von Ottenthal (1818-1899) 233 R ALPH H ÖGER Orte der Heilung? Die württembergischen Irrenanstalten Schussenried und Zwiefalten (1875-1914) 253 M ARIA C HRISTINA M ÜLLER -H ORNUF Religiöser Wahn. Zur Deutung religiöser Praktiken am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg 289 S ARAH W ALTENBERGER Kneipps Wörishofen. Ein Dorf wird Kurort 317 III. Übergreifende Gesundheitspolitiken C HRISTINE R OGLER Vormoderne Daseinsvorsorge? Ländliche Badestuben im Kurfürstentum Bayern 343 W OLFGANG P ETZ Die Einführung der Pockenschutzimpfung in der bayerischen Provinz Schwaben 367 C HRISTINE W ERKSTETTER Stillen, Nichtstillen und Säuglingssterblichkeit im Jahrhundert der Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt 403 Autorenverzeichnis 439 Nachweis der Abbildungen 441 <?page no="11"?> 11 Abkürzungsverzeichnis ADB Allgemeinde Deutsche Biographie BA Bezirksamt BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv BSB Bayerische Staatsbibliothek CAHJP The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem Diss. Dissertation DStChr Die Chroniken der Deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert FA Fürstlich und Gräflich Fuggersches Familien- und Stiftungsarchiv fl. Gulden FS Festschrift GVBl. Gesetz- und Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern HAB Historischer Atlas von Bayern HBG Handbuch der Bayerischen Geschichte HistA BKH KF Historisches Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren HRR Heiliges Römisches Reich k. A. Keine Angabe kr. Kreuzer LCI Lexikon der christlichen Ikonographie LG Landgericht LK Landkreis LMA Lexikon des Mittelalters MGbl Memminger Geschichtsblätter MInn Ministerium des Innern NDB Neue Deutsche Biographie NF Neue Folge RP Ratsprotokolle Sp. Spalte StA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv SUB Staats- und Universitätsbibliothek SuStBA Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Univ. Universität Veröff. Veröffentlichung(en) <?page no="12"?> 12 Veröff. KfgLK BW Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Veröff. SFG Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft e. V. VLA Vorarlberger Landesarchiv ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben ZWLG Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte <?page no="13"?> 13 P EER F RIESS / D IETMAR S CHIERSNER Einführung Wer auch nur oberflächlich die Forschungsaktivitäten im deutschsprachigen Raum zur Kenntnis nimmt, der bemerkt: Medizingeschichte boomt - und das nicht erst, seit die Corona-Pandemie die ›Sorge um die Gesundheit‹ ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt hat. In Deutschland, Österreich und der Schweiz beschäftigen sich über 40 Institute schwerpunktmäßig mit medizingeschichtlichen Fragestellungen. 1 Mehr als 100 Museen und Sammlungen widmen sich der Medizin im allgemeinen bzw. der bunten Vielfalt medizinhistorischer Themen von der Anästhesie bis zur Psychiatrie im besonderen. 2 Eine Vielzahl von Ausstellungen und wissenschaftlichen Tagungen belegen die Produktivität der medizinhistorischen Forschung auf nationaler und internationaler Ebene. 3 In den letzten Monaten wurden knapp 50 Symposien zu den unterschiedlichsten medizinhistorischen Fragestellungen organisiert. Die Bandbreite der Themen reichte von ›Objekte als Quellen der Medizingeschichte‹ über ›Hof- und Leibärzte in der Frühen Neuzeit‹ bis zu ›Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland‹. Dieser kursorische Überblick belegt nicht nur die gegenwärtige Attraktivität medizinhistorischen Forschens insgesamt; er zeigt auch ausschnitthaft die Vielfalt der Perspektiven - denen im übrigen viele weitere aktuelle hinzuzufügen wären. Sieht man sich die einzelnen Beiträge dieser Tagungen an, wird außerdem deutlich, wie die im Grunde klassischen Themen der Sachkultur und Personengeschichte eine innovative Richtung bekommen. Gerade als Körpergeschichte nimmt die Medizingeschichte, um hier nur noch einen Aspekt zu nennen, gendergeschichtliche Ansätze seit Jahren sehr gewinnbringend auf. Die Medizingeschichte hat sich offenkundig längst geweitet zu einer Kulturgeschichte des Medikalen. Erforscht werden zwar weiterhin aufsehenerregende Krankheiten und Seuchen, die ganze Generationen und Gesellschaften fest im Griff hatten, berühmte Ärzte und Ärztinnen, Heiler oder auch Patientinnen und Patienten 1 https: / / www.fachverband-medizingeschichte.de/ kopie-von-datenbanken (aufgerufen am 1.9.2021). 2 https: / / www.fachverband-medizingeschichte.de/ copy-of-institute (aufgerufen am 1.9.2021). 3 Ausweislich der Auflistung des Internet-Fachportals H-Soz-Kult wurden in den vergangenen 20 Jahren knapp 400 medizinhistorische Tagungen durchgeführt. Als Beispiele für jüngere Ausstellungen seien genannt ›Eine göttliche Kunst. Medizin und Krankheit in der Frühen Neuzeit‹ (Gotha 2019), ›Medicus. Die Macht des Wissens‹ (Speyer 2019/ 20), ›Pest. Eine Spurensuche‹ (Herne 2019/ 20). <?page no="14"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 14 und deren Biographien, medizinische Einrichtungen vom Operationssaal bis zum Sanatorium und mehr oder weniger erfolgreiche Therapien. Indes haben sich die Perspektiven auf diese Phänomene verändert. So gilt heute das Interesse ganz im Sinne der Neuen Kulturgeschichte oder der Historischen Anthropologie vor allem den Einstellungen und Praktiken, die mit Gesundheit und Krankheit zu tun hatten, sowie dem Prozess der sog. ›Medikalisierung‹. Bezeichnet wird damit einerseits ein spezieller Aspekt von obrigkeitlicher bzw. staatlicher ›Biopolitik‹, 4 andererseits aber auch der generelle säkulare Bedeutungszuwachs, den medikale Diskurse im Alltag der ›westlichen‹ Zivilisationen über Jahrhunderte hinweg gewannen, während religiöse Bewertungen und Strategien ihren Stellenwert verloren. 5 Nicht nur der ökonomische Rang, sondern auch die mentale Präsenz, den bzw. die das medizinische System gegenwärtig bei uns hat, ist vorläufiges Ergebnis einer langfristigen Entwicklung. 6 ›Medikalisierung‹ schließt dementsprechend auch politisch-fiskalische, ökonomische, soziale oder mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen mit ein. Die Einführung einer Impfung etwa ist nicht nur im Hinblick auf deren medizinhistorische Genese und Wirkungsgeschichte von Interesse. Vielmehr lässt sich z. B. auch fragen, welche Effekte die Maßnahmen für die Bürokratie, die ggf. schichten- oder gruppenspezifische Wahrnehmung des Staates oder das Bedrohungsbewusstsein der Menschen zeitigten. 7 Wallfahrten, die Berührung bestimmter Reliquien oder das Sprechen von Gebeten sind - um nur ein weiteres Beispiel zu nennen - nicht nur Phänomene der Frömmigkeitsgeschichte und unter religiösem Aspekt bedeutsam; solche ›vormodernen‹ Praktiken geben auch Aufschluss über das Verhältnis von individueller und sozialer Dimension von Krankheit, woran sich, noch fundamentaler, erkennen lässt, wie sehr die Semantiken im Begriffsfeld von ›Krankheit‹ und ›Gesundheit‹ vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext abhängig waren bzw. sind. 4 Zu diesem Begriff M ICHEL F OUCAULT , Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/ 1979, Frankfurt am Main 2006. 5 Einen Überblick über die vielfältigen Aspekte des Medikalisierungsbegriffes bieten W OLF - GANG U WE E CKART / R OBERT J ÜTTE , Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 312-318 (mit einer Bibliographie). 6 Vgl. für den deutschsprachigen Raum insbesondere die wegweisenden Regionalstudien von U TE F REWERT , Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 62), Göttingen 1984, und F RANCISCA L OETZ , Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750-1850 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 2), Stuttgart 1993, die jeweils unterschiedliche Medikalisierungsbegriffe favorisieren. 7 Beispielhaft nehmen neuerdings M ALTE T HIESSEN , Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 225), Göttingen 2017, oder C HRISTINE H OLMBERG / S TUART B LUME / P AUL G REENOUGH (Hg.) The Politics of Vaccination. A Global History, Manchester 2017, solche Perspektiven ein. <?page no="15"?> E INFÜHR UNG 15 Liegt der Schwerpunkt der aktuellen medizinhistorischen Forschung stärker auf derartigen thematischen, epochen- oder personenbezogenen Fragestellungen, war es Ziel der Tagung des Memminger Forums, die verschiedenen Ansätze integrativ zu verbinden, um am Beispiel Schwabens und seiner Nachbarn die Entstehung und Entwicklung einer medikalen Region näher zu untersuchen. Nicht der herausragende Arzt, das vorbildliche Krankenhaus oder die Folgen einzelner Seuchen sollten im Fokus stehen, sondern vielmehr die Frage, was die Menschen in einer Region aus Sorge um ihre Gesundheit unternahmen, um sich vor Krankheit und Tod zu schützen. Gerade ein solch epochenübergreifender landeshistorischer Ansatz kann die aktuellen prozessbezogenen Fragestellungen einer Kulturgeschichte des Medikalen aufgreifen und den Horizont für neue Fragestellungen öffnen. Aus diesem Blickwinkel geht es dann beispielsweise nicht mehr nur um die Darstellung der medizinischen Versorgung in einer Stadt oder Region, sondern darüber hinaus um die Frage, ob oder wie entsprechende Einrichtungen - vom Pilgerziel über das Spital bis zum Kurzentrum - kommunikative Zusammenhänge im Raum schufen und medikale Regionen entstehen ließen, die sich gegebenenfalls mit anderen vergleichen lassen. In einem abstrakteren Verständnis gehören hierher auch die inzwischen häufiger verfolgten Fragestellungen einer Raumgeschichte des Medikalen, die den Blick z. B. auf transitorische Räume wie Wartezimmer oder Krankenwagen lenkt. Immer geht es dabei darum, wie Räume durch medikale Praktiken generiert werden. 8 Dieser zentralen Thematik nähern sich die für den Druck überarbeiteten Vorträge auf verschiedene Weise. Die ebenso klassische wie pragmatische Gruppierung der Aufsätze nach Stadt, Land und raumübergreifenden Ordnungen kann ganz in diesem Sinne als dezidiert raumsensibler Zugriff verstanden werden. Die Gliederung folgt der Strukturierung der Tagung des Memminger Forums vom 15. bis 17. November 2019. Dem städtischen Gesundheitswesen (Sektion 1) wurden medikale Phänomene auf dem ›Land‹ (Sektion 2) an die Seite gestellt. Regional übergreifende Gesundheitspolitiken (Sektion 3) nahmen ergänzend eine Perspektive ›von oben‹ ein. Zeitlich erstrecken sich die Tagungsbeiträge vom späten Mittelalter bis in die Zeitgeschichte. Räumlich umfasst ihr Horizont im Schwerpunkt das südlich der Donau gelegene Schwaben, ergänzt um Beiträge aus den Nachbarregionen Bayern, Tirol, Vorarlberg und Württemberg. Die der städtischen Perspektive gewidmete erste Sektion eröffnet S TEFAN D IETER , der am Beispiel der Reichsstadt Kaufbeuren zeigt, wie sich das spätmittelalterliche Vertrauen auf die Wirkmächtigkeit von Heiligen als Nothelfer auf das konkrete Handeln einer Stadtgesellschaft auswirkte und in der sakralen Topographie einer Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung niederschlug. Insbesondere die Auswahl der Patrozinien für die um Kaufbeuren errichteten Kirchen und Kapellen 8 D AGMAR H ÄNEL / A LOIS U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung des Medikalen, in: D IES ., Medikale Räume, Bielefeld 2010, S. 7-20. <?page no="16"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 16 erweist sich für die zentrale Fragestellung der Tagung als aufschlussreich. Wenn man das Bildprogramm der städtischen Kirchen mitberücksichtigt, entsteht ein über die Stadtmauern von Kaufbeuren hinausgreifender, gleichsam medikaler Sakralraum, in dem dreizehn der Vierzehn Nothelfer zum Schutz der Bewohner aufgeboten wurden. Dass den Menschen des Spätmittelalters zugleich bewusst war, wie begrenzt die Wirkung der Anbetung von Heiligen war, macht P ATRICK S TURM deutlich. Wirklichen Schutz vor Seuchen schien nur die Flucht geboten zu haben. An zahlreichen Beispielen süddeutscher Reichsstädte zeigt er, dass das spätmittelalterliche Konzept der Flucht aus der Stadt in die umliegenden Dörfer oder Nachbarstädte im Laufe des 16. Jahrhunderts durch verschiedene Vermeidungsstrategien zunächst ergänzt und dann schrittweise abgelöst wurde. Dadurch wurde einerseits die weitere Verbreitung der Seuche eingedämmt und andererseits die Handlungsfähigkeit städtischer Gremien auch in Pestzeiten gewährleistet. Dieser rationalere und pragmatischere Umgang mit der Seuche zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der auf Abschottungs- und Quarantänemaßnahmen setzte, verwandelte gleichzeitig das ursprünglich als positiv und gesund wahrgenommene Umland in eine zumindest in Seuchenzeiten bedrohliche und krankmachende Nachbarschaft. A NNEMARIE K INZELBACH untersucht drei ganz unterschiedliche Institutionen: das Leprosorium und das Spital der Reichsstadt Überlingen sowie das von den Fuggern 1560 gestiftete Schneidhaus in Augsburg, eine der ältesten privaten chirurgischen Einrichtungen in Europa. Gemeinsam ist ihnen eine weit ausgreifende Raumwirksamkeit. So kamen etwa die Patienten des Fugger’schen Schneidhauses aus insgesamt 467 verschiedenen Orten der näheren und weiteren Umgebung Augsburgs. Gleichzeitig wird deutlich, dass Gründung und Betrieb derartiger medizinisch-karitativer Einrichtungen immer auch eine die jeweilige Herrschaft stabilisierende Wirkung entfalteten. M ICHAEL B AUMANN konzentriert sich mit seiner Analyse der Arbeiten des Ulmer Polyhistors Martin Zeiller auf die nichtakademische Verbreitung medizinischen Wissens in der Frühen Neuzeit. Die große Resonanz und weite Verbreitung seiner Schriften resultiere, so Baumann, aus dem Umstand, dass Zeiller sich ganz bewusst als Nicht-Mediziner präsentierte, der medizinisches Wissen für diejenigen anbot, die sich keinen Arzt leisten konnten. Die empfohlenen Rezepturen enthielten daher auch keine teuren Zutaten, sondern gehörten eher zum Arsenal der ›Dreckapotheke‹. Mit seiner Buntschriftstellerei befriedigte Zeiller die Bedürfnisse einer breiten Leserschaft und schuf so gleichsam einen virtuellen medikalen Raum. Dass sich nicht nur mit der Publikation derartiger Beratungsliteratur Geld verdienen ließ, sondern dass das gesamte Gesundheitswesen einer Stadt auch als begehrter und umkämpfter Markt verstanden werden kann, ist der Leitgedanke des Beitrags von P EER F RIESS . Am Beispiel der Reichsstadt Memmingen zeichnet er die fachliche Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung des medikalen Angebots während der Frühen Neuzeit nach, wie es sich in den, das Wechselspiel von <?page no="17"?> E INFÜHR UNG 17 Angebot und Nachfrage regulierenden Ordnungen für Bader, Barbiere, Hebammen, Wundärzte, Apotheker und Physici widerspiegelt. Ergänzt um heimliche und geduldete Laienheiler bot der Memminger Gesundheitsmarkt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Versorgungsniveau, das zum Teil weit über die Stadtgrenzen hinaus wahrgenommen wurde und die Reichsstadt zu einem anerkannten regionalen Zentrum medizinischer Versorgung im südlichen Ostschwaben machte. Die medizinische Tätigkeit der Scharfrichter untersucht W OLFGANG S CHEFF - KNECHT anhand von Beispielen aus dem Bodenseeraum und aus Oberschwaben. Er kann nachweisen, dass magische Praktiken seit dem 16. Jahrhundert langsam in den Hintergrund traten und Scharfrichter auf vielen Feldern der medizinischen Heiltätigkeit aktiv waren. Dies wurde ihnen anfangs in ihren Bestallungsurkunden auch ausdrücklich erlaubt. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich allerdings wachsende Einschränkungen zugunsten der mit ihnen konkurrierenden Stadtärzte und Chirurgen feststellen. Dass es den Scharfrichtern dennoch gelang, bis zum Ende des Alten Reiches ihr Recht auf veterinär- und humanmedizinische Aktivitäten zu bewahren, lag u. a. daran, dass sich kleinere Herrschaften nur durch die Gewährung des dadurch generierbaren Zusatzeinkommens die statuswahrende Anstellung eines Scharfrichters leisten konnten. Mit ihrem Beitrag, der die zweite Sektion einleitet, schlägt C LAUDIA R IED die Brücke in die Neuzeit. Sie untersucht die Rolle, die jüdische Ärzte bei der Versorgung der Bevölkerung Bayerisch-Schwabens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielten. Dabei wird einerseits deutlich, dass für die Patienten die religiöse Überzeugung der sie behandelnden Ärzte kaum von Bedeutung war. Andererseits kann Claudia Ried zeigen, wie die behördliche Praxis jüdischen Ärzten das Leben so schwer machte, dass viele gut qualifizierte Mediziner lieber auswanderten, als unter den restriktiven Bedingungen weiter in Bayern zu arbeiten. Der Beitrag von E LENA T ADDEI weitet den Horizont nicht nur auf die Südseite der Alpen, sondern richtet den Blick gleichzeitig auf psychische Erkrankungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als medizinisches Phänomen wahrgenommen wurden. Anhand der bekannten Aufzeichnungen des Tiroler Landarztes Franz von Ottenthal konnte Taddei zeigen, wie auch dieser Bereich des Gesundheitswesens einer schrittweisen Professionalisierung und staatlichen Reglementierung unterworfen wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts verfügte das Kronland Tirol über drei staatliche psychiatrische Kliniken, in denen sich fachlich geschultes Personal der Kranken annahm, die aus der gesamten Region in diese Einrichtungen gebracht wurden. Ähnlich war die Situation in dem von R ALPH H ÖGER untersuchten Württemberg. Die beiden von ihm näher betrachteten Einrichtungen in Zwiefalten und Schussenried waren staatliche Behörden, die der Regierung in Stuttgart unterstanden und jeweils für einen bestimmten Bezirk zuständig waren. Trotz dieser landesweiten <?page no="18"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 18 Bedeutung entfalteten sie allerdings im lokalen Umfeld keine besondere Raumwirkung nach außen. Die Kliniken bildeten vielmehr autarke und abgeschottete Räume mit einer systematischen Binnengliederung. Dies entsprach den therapeutischen Ansätzen der Zeit, die den Patienten durch klare Strukturen und geregelte Tätigkeiten eine Rückkehr in den bürgerlichen oder bäuerlichen Alltag ermöglichen wollten. Die sich im Laufe des Untersuchungszeitraums von 1870 bis 1914 wandelnden therapeutischen Ansätze standen in unmittelbarem Bezug zur räumlichen Gestaltung bzw. Umgestaltung der Anstalten, wobei das Hoheitsrecht über den Raum eine zentrale Rolle für den Anstaltsalltag spielte. Dass ›religiöser Wahn‹ im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit knapp 40 % zu den häufigsten Diagnosen bei Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Einrichtungen zählte, veranschaulicht M ARIA C HRISTINA M ÜLLER -H ORNUF in ihrem Vortrag über die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Ähnlich wie in Württemberg oder Tirol begegneten die dort tätigen Fachärzte diesem Phänomen sehr kritisch, sahen sie doch oft im Wirken der Geistlichkeit bzw. in der Religion an sich Ursachen oder zumindest Katalysatoren von Wahnvorstellungen. Aus den erhaltenen Patientenakten der aus dem gesamten Bezirk Schwaben nach Kaufbeuren bzw. Irsee verlegten Kranken ließ sich feststellen, dass insbesondere in der ländlichen Bevölkerung religiös konnotierte und/ oder induzierte Wahnvorstellungen deutlich stärker verbreitet waren als in den Städten der Zeit. S ARAH W ALTENBERGER greift mit ihrer Arbeit über Bad Wörishofen das auch bei anderen Beiträgen angeklungene Thema der Badekultur auf. Der Schwerpunkt ihrer Ausführungen liegt allerdings weniger auf therapeutischen Methoden oder der Frage nach der Gesundheitswirkung der auf Kneipp zurückgehenden Wasserkur, sondern auf der durch ihn angestoßenen sprunghaften Entwicklung des Ortes. Dabei kann sie zeigen, dass die anfänglich skeptisch zurückhaltenden Honoratioren Wörishofens zu geschickten Vermarktern Kneipps wurden, was eine Fortsetzung der Prosperität auch nach dem Tod des weithin berühmten Geistlichen ermöglichte. Die abschließende dritte Sektion widmet sich ›Übergreifenden Gesundheitspolitiken‹. C HRISTINE R OGLER untersucht die Rolle der Bader als soziale Akteure im Kurfürstentum Bayern. Die in Altbayern als Ehaftgewerbe besonders privilegierten ländlichen Badestuben bildeten ein Netz von Einrichtungen für die medizinische Elementarversorgung der ländlichen Bevölkerung. In zahlreichen Streitfällen wird zwar deutlich, dass die Dorfbevölkerung die gesetzlich vorgeschriebene Basisfinanzierung der Bader als große Last empfand. Da es aber keine praktikablen Alternativen gab, wurde das System auch von der Hauptstadt München aus grundsätzlich unterstützt. Konkret geschah das u. a. dadurch, dass die Behandlung mittelloser Landbewohner orientiert an einer allgemeinen Taxordnung - den heutigen Fallpauschalen vergleichbar - aus der Armenkasse bezahlt wurde. <?page no="19"?> E INFÜHR UNG 19 ›Modern‹ und zukunftsweisend agierte das gerade eben erst zum Königreich erhobene Bayern dann mit der Einführung der verpflichtenden Pockenschutzimpfung im Jahre 1807. W OLFGANG P ETZ kann in seinem Beitrag nachweisen, dass die frühen Versuche einzelner Ärzte in Oberschwaben, durch Variolation (mit Menschenpocken), später dann auch durch Vakzination (mit Kuhpocken) einen Schutz vor den endemisch auftretenden Pocken aufzubauen, zwar partiell erfolgreich waren, dass eine nachhaltige Bekämpfung der Krankheit aber erst durch den mit staatlicher Macht verordneten Impfzwang gelang. Zumindest in den ersten Jahren bedurfte es zusätzlich der Überzeugungsarbeit engagierter Geistlicher, um Vorbehalte und Widerstände in der Bevölkerung zu überwinden. Insofern gingen von der Gesundheitspolitik integrierende Wirkungen für das junge Staatswesen aus, deren Tragweite nicht unterschätzt werden darf. Tradierte Verhaltensweisen prägten auch den Umgang der Mütter mit ihren Säuglingen, wie C HRISTINE W ERKSTETTER in ihrem Beitrag herausarbeitet. Dabei stellt sie nicht nur eine zunehmende Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt fest, sondern beschreibt auch, wie der natürliche Vorgang des Stillens zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse sowie ärztlicher Anweisungen und Ermahnungen wurde. Das Erfahrungswissen von Hebammen trat dabei zunehmend in den Hintergrund, um am Ende des 18. Jahrhunderts den Vorstellungen akademisch ausgebildeter Ärzte Platz zu machen. Diese setzten sich in zahlreichen Schriften für das Stillen des eigenen Kindes ein und kritisierten das offenbar weit verbreitete frühe Füttern der Säuglinge mit Milchbrei und Mus. Letztlich orientiert an der Theorie der Physiokraten wollten sie dadurch die Kindersterblichkeit senken und die Prosperität des Landes durch einen Anstieg der Bevölkerung fördern. Nachhaltigen Erfolg hatten sie allerdings nicht, da die Obrigkeit offenbar nicht gewillt war, das Stillen des eigenen Kindes anzuordnen. Lässt man die Ergebnisse der einzelnen Beiträge Revue passieren, dann zeigt sich, dass das aus organisatorischen Gründen für die Tagung und für diesen Sammelband gewählte räumliche Ordnungsprinzip der historischen Wirklichkeit nur unzureichend entspricht. Es wird vielmehr deutlich, wie städtische Maßnahmen einerseits auf das Land wirkten und andererseits das Land auf städtischen Zentren bezogen war. Bereits in der Schlussdiskussion der Tagung wurde daraus die etwas pointierte These abgeleitet, dass vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart die urbanen Zentren zwar Taktgeber der Medikalisierung und damit prägend für die Ausformung einer regionalen medikalen Struktur und Kultur waren. Ohne Rückkoppelung und Verflechtung mit dem Umland geschah dies jedoch kaum. Eine Umkehr der medikalen Ausrichtung innerhalb der untersuchten Regionen erfolgte zumindest in einzelnen Segmenten im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Einrichtung psychiatrischer Anstalten, die ganz bewusst im ländlichen Raum gegründet wurden, und der wachsenden Popularität von Kur- und Badeorten, deren Einrichtung an frühere Traditionen anknüpfte. <?page no="20"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 20 In vielen Beiträgen wurde außerdem deutlich, dass dem Bemühen staatlicher Obrigkeiten, ein geordnetes, dem Gemeinwohl dienendes und modernen Standards genügendes Gesundheitswesen aufzubauen, eine erstaunlich lang anhaltende Beharrungskraft tradierter, teilweise magischer, überwiegend aber humoralpathologischer Vorstellungen entgegenstand. Das zeigte sich bei der heilenden Tätigkeit von Scharfrichtern im Bodenseeraum ebenso wie bei dem Wirken der Bader in Bayern oder von Laienheilern in Tirol. Die offenbar im engsten familiären Umfeld und von frühester Kindheit an erfolgende Vermittlung grundlegender Vorstellungen von gesund sein und krank werden sind durch staatliche Maßnahmen nur schwer zu beeinflussen und lassen sich am ehesten noch mit dem Konzept der longue durée fassen. Wie ein roter Faden zieht sich durch nahezu alle Beiträge die Bedeutung von Religion und Kirche für die Deutung und die Bewältigung von Krankheit. Ob bei der Seuchenprophylaxe oder dem Umgang mit psychisch Kranken, stets spielten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein religiöse und spirituelle Faktoren neben oder zusammen mit der handwerklichen bzw. wissenschaftlich fundierten medizinischen Betreuung eine gewichtige Rolle. Die Aufklärung, so scheint es, stellte zumindest für den Bereich des Gesundheitswesens in der Region - jenseits der rein akademischen Welt - keine Wasserscheide zwischen einem spirituell-geistlich geprägten, letztlich mittelalterlichen, und einem rational-säkularen neuzeitlichen Gesundheitsverständnis dar. Auffällig ist gleichzeitig, dass konfessionelle Unterschiede für die Behandlungen von Patienten nachrangig waren. Daneben haben die Vorträge auch deutlich gemacht, dass es eine Reihe von Forschungsdesideraten gibt, die es wert sind, angegangen zu werden. Dazu zählt zum einen die für Schwaben bislang wenig untersuchte Entwicklung von den Narrenhäusern der Frühen Neuzeit zu den Psychiatrischen Kliniken des 19. Jahrhunderts. 9 Zum anderen gilt das für die Geschichte der oberschwäbischen Bäderkultur. Auch die Untersuchung einzelner Spezialfragen, wie z. B. nach der Entstehung eines medizinischen Marktes oder nach der Bedeutung jüdischer Ärzte, steht zumindest in Süddeutschland erst in den Anfängen. Es bleibt daher zu wünschen, dass dieser Sammelband nicht nur dazu beiträgt, ein differenzierteres Bild von der Region Schwaben als medikaler Landschaft entstehen zu lassen, sondern auch dazu anregt, die offenkundig gewordenen Lücken dieses Bildes durch weitere Forschungen zu füllen. 9 Auch die Mitwirkenden der Tagung › ›Irrsinn‹ in Oberschwaben. Historische Exkursionen von der Gründung staatlicher psychiatrischer Einrichtungen bis ins späte 20. Jahrhundert‹ (12.10.2019, Bad Schussenried) gingen in ihren Beiträgen nicht hinter die Schwelle von 1800 zurück (https: / / www.hsozkult.de/ conferencereport/ id/ tagungsberichte-8547). <?page no="21"?> I. Städtisches Gesundheitswesen <?page no="23"?> 23 S TEFAN D IETER Heilige Helfer. Frömmigkeit und Krankheit im spätmittelalterlichen Kaufbeuren Dieser Beitrag nimmt nicht die verschiedenen Institutionen und Personen in den Blick, die sich im spätmittelalterlichen Kaufbeuren der Pflege und Heilung von Kranken widmeten. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang beispielsweise das Spital zum Hl. Geist und das Siechenhaus jenseits der Wertach oder auch die Ärzte, Seelschwestern und Apotheker. All dies ist bereits quellenbasiert und fundiert dargestellt worden. 1 Im Mittelpunkt steht vielmehr der Versuch, sich der religions- und frömmigkeitsgeschichtlichen Seite von Krankheit und medikalem Handeln im späten Mittelalter am Beispiel der Reichsstadt Kaufbeuren anzunähern. Für die Menschen jener Zeit war nämlich über die rein körperlichen Gesichtspunkte von Krankheit hinaus deren Einordnung in das christliche Weltbild von grundlegender Bedeutung: So konnte Krankheit als Strafe Gottes oder eines Heiligen angesehen werden; es war aber gleichzeitig möglich, die himmlischen Mächte zur Linderung der Leiden anzurufen, allen voran Christus selbst, der als höchster aller Ärzte galt, aber auch die unter ihm stehende große Schar der Heiligen. 2 »Sie spielten«, so der Medizinhistoriker Kay Peter Jankrift, »für die Behandlung von Krankheiten und die Hoffnung auf Heilung während des gesamten Mittelalters eine kaum zu hoch einzuschätzende Rolle.« 3 Eng mit diesem Komplex verbunden war für die spätmittelalterlichen Menschen das Thema ›Tod und Sterben‹: Ein jäher Tod, in der Regel durch Krankheiten hervorgerufen, ließ keine Zeit für die Vorbereitung auf das Jenseits, etwa durch Beichte und Sterbesakrament, und ohne diese, dessen war man sich sicher, war man den teuflischen Mächten schutzlos ausgeliefert. 4 Damit fiel die Hoffnung auf himmlische Hilfe bei Krankheit zusammen mit der auf himmlischen Beistand in der letzten Stunde. 1 Insbesondere ist hier zu nennen A DOLF F UCHS , Geschichte des Gesundheitswesens der freien Reichsstadt Kaufbeuren, Kempten 1955. 2 J OHANNES G RABMAYER , Krankheit, Sterben und Tod im frühen 16. Jahrhundert, in: A LBRECHT C LASSEN (Hg.), Religion und Gesundheit. Der heilkundliche Diskurs im 16. Jahrhundert, Berlin-Boston 2011, S. 49-78, hier 57; K AY P ETER J ANKRIFT , Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, 2. Aufl. Darmstadt 2012, S. 31. 3 K. P. J ANKRIFT , Krankheit und Heilkunde (Anm. 2), S. 31. 4 J. G RABMAYER , Krankheit (Anm. 2), S. 63. <?page no="24"?> S TE FAN D IE TER 24 Parallel zur Entwicklung etwa im ökonomischen Bereich - man denke an die immer breitere Auffächerung der verschiedenen Berufszweige - kam es gegen Ende des Mittelalters auch bei den Heiligen zu einer immer breiteren ›Spezialisierung‹. Dabei spielte für die ihnen zugeschriebenen Helferqualitäten häufig ihre Leidensgeschichte eine Rolle: Erasmus beispielsweise war aufgrund seines Martyriums - die Legende berichtet, dass man ihm die Gedärme mit einer Seilwinde aus dem Leib gezogen hatte - zuständig für Magen- und Unterleibsbeschwerden. 5 Auch die von den Heiligen ausgeübten Berufe konnten ausschlaggebend sein, etwa bei den Ärztebrüdern Cosmas und Damian. Oder aber der Name gab Hinweise auf das ›Spezialgebiet‹, so bei Blasius, der u. a. für Blasenleiden zuständig war. 6 Insgesamt machten schließlich die Krankheitsschutzpatrone rund die Hälfte aller Heiligen aus. 7 Anhand der eben genannten Heiligen und noch etlichen weiteren, die in der spätmittelalterlichen Reichsstadt Kaufbeuren verehrt wurden, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, inwieweit man mit den Mitteln der Religiosität dem Phänomen ›Krankheit‹ zu begegnen versuchte. Im Mittelpunkt stehen dabei Kirchenpatrozinien und die Ausstattung von Sakralbauten sowie die damalige Frömmigkeitspraxis: Zu letzterer zählen zum Beispiel obrigkeitliche Maßnahmen, die Nennung von Krankheitsheiligen im Jahrzeitbuch des Heilig-Geist-Spitals und Formen der Volksfrömmigkeit. Abgeschlossen werden soll das Ganze mit der Frage, inwieweit die Verehrung von ›heiligen Helfern‹ Auswirkungen auf die Rufnamengebung 8 im spätmittelalterlichen Kaufbeuren hatte. 1. Patrozinien und Kirchenausstattung 1.1 Sakralbauten vor den Toren der Stadt Von Memmingen kommend führte im späten Mittelalter die Landstraße nach Kaufbeuren ein gutes Stück westlich der Stadt auf diejenige, welche Reisende aus Kempten zu nehmen pflegten. Zwischen dem Dorf Oberbeuren und der Reichsstadt 5 O LGA A LICE N YGREN , Art. Erasmus (Elmo) von Formio, in: LCI 6, Freiburg i. Br. 1974/ 94, Sp. 156-158, hier 156. 6 J OHANNES G RABMAYER , Heilige, Heiler und Hexen. Volksmedizin um 1500, in: A LBRECHT C LASSEN (Hg.), Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen, Berlin-New York 2010, S. 183-200, hier 193. 7 L OTHAR K OLMER , Heilige als magische Helfer, in: Mediävistik 6 (1993), S. 153-175, hier 162. 8 Vor der Herausbildung fester Familiennamen, der ›Nach‹-Namen, sollte noch nicht von ›Vor‹-Namen, sondern von Rufnamen gesprochen werden: V OLKER K OHLHEIM , Mittelalterliche und gegenwärtige Vornamengebung. Ein Vergleich, in: J ÜRGEN E ICHHOFF / W ILLFRIED S EIBICKE / M ICHAEL W OLFFSOHN (Hg.), Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung, Mannheim u. a. 2001, S. 88-103, hier 88. <?page no="25"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 25 Kaufbeuren steht nicht weit von dieser Straße entfernt auf freiem Feld das Kirchlein, das den heiligen Ärztebrüdern Cosmas und Damian geweiht ist. Es wurde im Jahre 1494 wohl als Wallfahrtskirche errichtet, um sich der Fürsprache der beiden bei Seuchen und insbesondere der Pest zu versichern. 9 Abb. 1: Sakralbauten vor den Toren der Stadt: St. Cosmas und Damian, St. Sebastian, St. Dominikus (Kaufbeuren in einer Ansicht aus dem Jahr 1699; bearbeitet). 9 H ELMUT L AUSSER , St. Martin zu Kaufbeuren. Zur Geschichte einer schwäbischen Stadtpfarrkirche (Kaufbeurer Schriftenreihe 19), Thalhofen 2018, S. 125. <?page no="26"?> S TE FAN D IE TER 26 Reisende, die aus Richtung Augsburg kamen, passierten, kurz bevor sie durch das Spitaltor die Stadt betraten, ebenfalls ein Gotteshaus, das eine spezielle medizinische Bedeutung hatte: die um 1180 erbaute und später dem Hl. Dominikus geweihte Kirche. Dominikus ist zwar kein spezieller Krankheitsheiliger, sein Patrozinium ist in diesem Falle jedoch dem Umstand geschuldet, dass sich die Dominikaner zwischen 1263 und 1340 in Kaufbeuren der Leprosen angenommen hatten, für die unmittelbar bei der Kirche das Siechenhaus eingerichtet worden war. 10 Der dritte Zugangsweg nach Kaufbeuren führte von Füssen und Schongau, also von Süden, in die Stadt. Ein gutes Stück vor dem Rennweger Tor befand sich seit 1484 der städtische Friedhof, nachdem zwei Jahre zuvor ein ›großes Sterben‹ in Kaufbeuren zu wüten begonnen hatte und der bisher als Friedhof genutzte Kirchhof um die St.-Martins-Kirche die vielen Toten nicht mehr aufnehmen konnte. Die zum neuen Gottesacker gehörende Kirche wurde der Gottesmutter Maria und dem Pestheiligen Sebastian geweiht. Eine zeitgenössische Notiz nimmt ausdrücklich auf die Hoffnungen Bezug, die in beide gesetzt wurden: Das Patrozinium, so heißt es, sei gewählt worden, damit wir dez geprechen der pestilentz entlediget würden. 11 Im Inneren der Kirche befand sich ein Altar, der Antonius Eremita geweiht war, welcher - wie der Hl. Sebastian - als Helfer gegen Seuchen und Epidemien angerufen wurde. 12 Seine Verehrung in Kaufbeuren wird später noch ausführlicher thematisiert. Egal auf welchem der drei Zufahrtswege man sich im ausgehenden 15. Jahrhundert der Reichsstadt Kaufbeuren also näherte, man durchquerte eine sakral gestaltete Landschaft mit Gotteshäusern, die speziell medikale Funktionen innehatten: eine Wallfahrtskirche, die den Ärztepatronen geweiht war, eine Kirche, die dem seelischen Heil Todkranker gewidmet war, sowie eine Kirche, deren Schutzheilige vor der pestilentz bewahren sollten. Wie Grenzsteine umgaben diese drei Sakralbauten die Stadt und bezeugten so die Hoffnung, die die Kaufbeurerinnen und Kaufbeurer in die dort verehrten Heiligen gesetzt haben mögen: Sie sollten Krankheiten und Leiden bereits vor den Toren der Stadt Einhalt gebieten. 10 M ARCUS S IMM , Des Königs Stadt zu Buron. Eine stadtarchäologische Studie zu Genese, früher Entwicklung und Topographie (Kaufbeurer Schriftenreihe 11), Thalhofen 2012, S. 250. 11 H ELMUT L AUSSER , Eine schwäbische Reichsstadt im Reich. Die Quellen zu den Beziehungen der Reichsstadt Kaufbeuren zu Kaiser und Reich 1240 bis 1500 (Kompendium der Quellen zur Geschichte Kaufbeurens im Mittelalter 2.1), Thalhofen 2014, Nr. 19, S. 119f. 12 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 123f. <?page no="27"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 27 1.2 Die St.-Blasius-Kirche Verließ man den Raum außerhalb der Mauern und betrat die Stadt durch das Kemptener Tor, fiel sofort die St.-Blasius-Kirche ins Auge, die hoch über der Stadt auf der Buchleuthe thront. Ihre spätgotische Ausstattung hat sich nahezu vollständig erhalten, was sie für das Thema dieses Beitrags besonders interessant macht. Die Gründe, die zur Entstehung der Kirche geführt haben, sind quellenmäßig nicht fassbar. Wahrscheinlich ist, dass sie die erste Pfarrkirche Kaufbeurens war und dass dort die Kaufbeurer ihre Toten bestatteten, bis im 13. Jahrhundert der Kirchhof von St. Martin das Areal um St. Blasius als Friedhof ablöste. Doch das Begräbnisrecht erlosch deswegen nicht: Im ausgehenden Mittelalter ließ eine namentlich nicht mehr bekannte, hochgestellte Kaufbeurer Familie in der St.-Blasius-Kirche eine Familiengruft anlegen und bestattete hier ihre Toten. 13 Aus diesen Umständen lassen sich wohl die zahlreichen Bezüge zu den Themen Krankheit und Sterben erklären, auf die man in der Kirche stößt. Der Hochaltar aus den Jahren 1517/ 18 zeigt bei aufgeklappten Flügeln im Hauptschrein die Heiligen Blasius, Ulrich und Erasmus. Die drei Figuren sind älter als die übrigen Teile und stammen offenbar vom Vorgängeraltar; datiert werden sie in die Zeit um 1430. 14 In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um für die Stadt wichtige Schutzheilige handle, weswegen sie von Jörg Lederer, dem Schöpfer des Altars, übernommen werden mussten. Als Begründung wird dabei ausgeführt, dass sie die Patrone der Weber und Waffenschmiede seien, zweier Zünfte also, die in jener Zeit in Kaufbeuren in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht in der Tat eine wichtige Rolle spielten. 15 Diese hätten vermutlich auch den Lederer-Altar in Auftrag gegeben. 16 Damit habe die St.-Blasius-Kirche als »zentrales 13 M. S IMM , Des Königs Stadt (Anm. 10), S. 205-207. Ein Bestattungsrecht für die St.-Blasius-Kirche bestand demnach im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit weiter; ein zugehöriger Friedhof wird in einer Urkunde von 1319 genannt, in Stadtkanzleiprotokollen von 1693 und 1698 ist vom St. Blasius-Gottesäckerle die Rede; ebd., S. 206. 14 A NKE R OTHE , St. Blasius. Der Jörg-Lederer-Altar, in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN D IETER (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. 2: Kunstgeschichte, Bürgerkultur und religiöses Leben, Thalhofen 2001, Tafeln X-XI, hier Tafel X. 15 Zur Stellung der Weber- und der Schmiedezunft im spätmittelalterlichen Kaufbeuren: S TEFAN D IETER , Die Formierung der reichsstädtischen Gesellschaft und Wirtschaft. Die Sozial- und Gewerbestruktur im spätmittelalterlichen Kaufbeuren (1280 bis 1500), in: J ÜR - GEN K RAUS / S TEFAN D IETER / J ÖRG W ESTERBURG (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. 3: Wirtschaftsentwicklung, Sozialgeschichte und Bevölkerungsstruktur, Thalhofen 2006, S. 26- 45, hier 33. 16 B ERNHARD D ECKER , Das Ende des mittelalterlichen Kultbildes und die Plastik Hans Leinbergers (Bamberger Studien zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege 3), Bamberg 1985, <?page no="28"?> S TE FAN D IE TER 28 Standesheiligtum« für diese »bürgerliche[n] Gruppen aus handwerklichen Berufen mit erheblichem Gewerbeanteil« gegolten. 17 Diese These soll hier nicht diskutiert werden. Sie scheint aber zumindest ergänzungsbedürftig zu sein, wie ein Blick auf das weitere Bildprogramm des Altars und der übrigen Innenausstattung der Kirche zeigt. Die drei Bischöfe im Hauptschrein sowie Antonius Eremita, der auf der Außenseite eines der Altarflügel dargestellt ist, werden an den Wänden der Kirche in großformatigen Bilderzyklen den Besuchern nahegebracht. Diese Bilder datieren aus der Zeit zwischen 1485 und 1490. 18 Dabei fällt auf, dass in allen vier Zyklen mindestens ein Bild zu sehen ist, auf denen der jeweilige Heilige entweder selbst krank ist oder aber Kranke heilt. Blasius als Hauptpatron der Kirche ist der mit 20 Tafeln umfangreichste Bilderzyklus gewidmet. Das für das Thema ›Krankheit und Frömmigkeit‹ interessante Bild zeigt den Heiligen, wie er - so die Beschriftung unterhalb der Tafel - ein kind [heilt,] so ain fischgretn geschluckt. Diese Szene ist in den nicht selten vorkommenden Blasiuszyklen ein übliches Motiv. 19 Auch Ulrichs-Zyklen sind durchaus verbreitet 20 und in diesen finden sich, wie in Kaufbeuren, ebenfalls ›medikale‹ Bilder: 21 Zum einen die Austreibung eines Dämonen aus einer Klosterschwester und zum anderen der sterbenskranke Ulrich im Bett, dem zwei Engel gebieten, die Messe zu lesen. Bemerkenswert ist, dass von den insgesamt zehn Tafeln des Ulrichszyklus zwei dem Thema Krankheit gewidmet sind, jedoch das für die sonstige Wahrnehmung seines Lebens so bedeutsame Fischwunder, die Lechfeldschlacht gegen die Ungarn und seine reichspolitischen Aktivitäten gänzlich fehlen. 22 Dies mag die bereits genannte These von der St.-Blasius-Kirche als zentralem Standesheiligtum der Waffenschmiede und Weber relativieren. S. 146; H EIKE W EBER , »Mausoleum Stat in medio Chori«. Zum Bildgebrauch in Kollegiatstiftskirchen im Mittelalter, dargestellt am Beispiel des Moosburger Hochaltars von Hans Leinberger, Bamberg 2006, S. 227 (http: / / d-nb.info/ 999834606/ 34; aufgerufen am 24.7.2020). 17 So B. D ECKER , Das Ende des mittelalterlichen Kultbildes (Anm. 16), S. 146. 18 K ARL P ÖRNBACHER , St. Blasius in Kaufbeuren, Lindenberg 2008, S. 10. 19 K ARL G EORG K ASTNER , Art. Blasius (Vlasij) von Sebaste, in: LCI 5, Freiburg i. Br. 1973/ 94, Sp. 418-420, hier 418. 20 F RIEDRICH Z OEPFL , Art. Ulrich (Udalricus) von Augsburg, in: LCI 8, Freiburg i. Br. 1976/ 94, Sp. 507-510, hier 509. 21 Vgl. dazu: K ARL H AUPT , Die Ulrichsvita in der mittelalterlichen Malerei, in: ZHVS 61 (1955), S. 1-159, v. a. 78f., 92. 22 Vgl. dazu U LRICH K LINKERT , Der heilige Ulrich, die Kaufbeurer Weber und das Tänzelfest, in: S TEFAN D IETER (Hg.), Von Schilden und Dichtern, von Webern und Bildern. Vier Beiträge zur Geschichte Kaufbeurens im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Kaufbeurer Schriftenreihe 21), Thalhofen 2019, S. 192-231, hier 194. <?page no="29"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 29 Abb. 2: Der Hl. Blasius heilt einen Knaben, der eine Fischgräte verschluckt hat (um 1485; St. Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler). <?page no="30"?> S TE FAN D IE TER 30 Abb. 3: Der Hl. Ulrich heilt eine Klosterfrau, die von einem Dämon besessen ist (um 1485; St. Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler). <?page no="31"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 31 Abb. 4: Der Hl. Ulrich liegt krank im Bett (um 1485; St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler). <?page no="32"?> S TE FAN D IE TER 32 Bilderzyklen, die Erasmus gewidmet sind, sind nur vereinzelt anzutreffen, insofern stellt das Kaufbeurer Exemplar eine Seltenheit dar. 23 Auf einer der Tafeln ist zu sehen, wie er einen Toten auferweckt - eine Fähigkeit, über die jeder ernstzunehmende Heilige im Zusammenhang mit Heilungswundern verfügen musste: »Denn die Angst vor Sterben und Tod, die unter dem Eindruck der verheerenden Pestepidemien um 1500 noch einmal stärker ins Bewusstsein rückt[e], gründet […] nicht primär in den medizinischen Ungewissheiten, sondern vielmehr in der Angst, das Seelenheil könne verwirkt werden«, sollte der Tod jäh und plötzlich erfolgen. 24 Abb. 5: Der Hl. Erasmus weckt einen Toten auf (um 1485; St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler). 23 Im Artikel ›Erasmus (Elmo) von Formio‹ im Lexikon der christlichen Ikonographie (Anm. 5) findet sich kein einziger Beleg. 24 J. G RABMAYER , Krankheit (Anm. 2), S. 64. <?page no="33"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 33 Im Gegensatz zum Kult der anderen drei dargestellten Heiligen war die Verehrung des Antonius Eremita in Kaufbeuren recht jung. Sie geht wohl auf Dr. Andreas Rohner zurück, der von 1462 bis 1481 als Pfarrer der Kaufbeurer St.-Martins-Kirche genannt wird. Zuvor war er von 1443 bis 1448 Stellvertreter des Antoniter- Hochmeisters Petrus Mitte de Caprariis und zugleich Verwalter der Niederlassung des Antoniterordens in Memmingen. 25 Von dort dürfte er den Antonius-Kult an die Wertach gebracht und die Ausführung der Tafelgemälde zum Leben des Heiligen angeregt haben. Bilderzyklen über Antonius Eremita sind weit verbreitet. 26 Als singulär ist jedoch die Kaufbeurer Szene zu bezeichnen, in der zu sehen ist, wie Christus den kranken Antonius heilt. Die Beschriftung am unteren Rand der Tafel lautet Hie erschin im ain himlische gstalt und [er] ward gesund. Im Bild selbst fragt Antonius Christus: Jesu guter herre got wau wast du jn minr not und dieser antwortet: Ich was all hie din Sig zesechen din lob tund alle zungen jechen. In keiner der zeitgenössischen Bildfolgen zum Leben dieses Heiligen ist eine ähnliche Szene zu sehen 27 - ein wichtiger Hinweis darauf, welche bedeutsame Rolle das Thema Heilung im Kaufbeurer Zyklus spielt. Diese Bedeutung wird durch den Umstand unterstrichen, dass die Szene sowohl durch ihre mittige Position in der unteren Tafelreihe als auch durch die Spruchbänder im Bild selbst besonders hervorgehoben ist. Grund dürfte sein, dass die Heilungskompetenz des Antonius, dessen Kult erst vor Kurzem in Kaufbeuren eingeführt worden war, der Bevölkerung besonders verdeutlicht werden sollte. 25 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 111f. Zum Antoniterorden vgl. A DALBERT M ISCH - LEWSKI , Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts, Köln-Wien 1976. 26 E KKART S AUSER , Art. Antonius Abbas (der Große), Stern der Wüste, Vater der Mönche, in: LCI 5, Freiburg i.Br. 1973/ 94, Sp. 205-217, hier 211-214. 27 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang: Der Altar der Stadtkirche Prettin (entstanden um 1490); H EINRICH T REBBIN , Prettin in Sachsen-Anhalt. Stadt, Kirche und Altar, in: Antoniter-Forum 6 (1998), S. 29-38. - Das Gemälde der Antonius-Legende aus Köln, jetzt in der Alten Pinakothek München (entstanden um 1500); D ERS ., Das Gemälde der Antonius- Legende aus Köln, in: Antoniter-Forum 9 (2001), S. 70-82. - Die Antoniustafel im Lübecker Dom (entstanden 1503); M IRIAM H OFFMANN , Die Antoniustafel von 1503 im Dom zu Lübeck, in: Antoniter-Forum 16 (2008), S. 100-133. - Die vier Antoniustafeln des Martin Schaffners aus Ulm in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (entstanden 1517). - Der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald im Museum Unterlinden in Colmar (entstanden 1512- 1516). - Der Altar der Antoniterkirche Bern (entstanden um 1520); G ÜNTHER E NGEL , Das Antoniusfeuer in der Kunst des Mittelalters: die Antoniter und ihr ganzheitlicher Therapieansatz, in: Antoniter-Forum 7 (1999), S. 7-35. - Die Fresken in der Memminger Kinderlehrkirche (entstanden um 1520); R OTRAUT A CKER , Die spätmittelalterlichen Wandfresken in der Kinderlehrkirche (früher Antoniuskapelle) in Memmingen, in: Antoniter-Forum 19 (2011), S. 45-76. - Der St.-Antonius-Altar im Annen-Museum Lübeck (entstanden 1522); https: / / www.kultur-port.de/ index.php/ blog/ kulturmanagement/ 9358-der-antonius-altarim-st-annen-museum-in-luebeck.html (aufgerufen am 24.7.2020). <?page no="34"?> S TE FAN D IE TER 34 Abb. 6: Der Hl. Antonius Eremita wird von Christus geheilt (um 1485; St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler). <?page no="35"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 35 Blasius heilt einen Knaben, Ulrich befreit eine Klosterschwester von einem Dämonen und ist selbst krank, Erasmus weckt einen Toten auf und Antonius wird von Christus geheilt - das Betrachten dieser Szenen in den vier Bilderzyklen verhieß dem gläubigen Betrachter Hilfe und Beistand bei allen Arten von gesundheitlichen Bedrängnissen bis hin zum Tod. War doch der Glaube in allen Gesellschaftsschichten üblich, dass durch das Schauen von derartigen Bildern Heilung zu erfahren sei und dass dieses Schauen die gleiche Wirkmächtigkeit wie etwa die Berührung von Reliquien haben könne. 28 Auf reges Interesse bei Gläubigen, die Zuflucht in ihren Krankheitsnöten und -ängsten suchten, dürften auch die Bilder an den Außenseiten der Altarflügel gestoßen sein. Diese waren normalerweise zu sehen, denn nur an den Hochfesten und den Festtagen der Kirchenheiligen waren die Flügel geöffnet und gaben den Blick auf das Innere des Altars frei. Das Bildprogramm der Außenflügel in Verbindung mit den beiden seitlich angebrachten ›Schreinwächtern‹ sowie den Figuren im Gesprenge und in der Predella weisen nochmals auf das für dieses Gotteshaus wichtige Thema Heilung hin und - damit eng verbunden - einen im christlichen Sinne ›gelungenen Tod‹. Auf dem - vom Betrachter aus gesehen - linken Altarflügel sind unten die beiden Heiligen Valentin und Castulus und oben die beiden Diakone Stephanus und Laurentius dargestellt. Diese vier verbindet ihr Schicksal als Märtyrer, worauf auch der über ihnen im Gesprenge thronende und von Pfeilen durchbohrte Pestheilige Sebastian hinweist. Als ›Schreinwächter‹ an der Seite fungiert Johannes der Täufer, der ebenfalls das Martyrium erlitt. Auf dem rechten Altarflügel sind unten der im Allgäu besonders verehrte Magnus und der offenbar durch Pfarrer Rohner vermittelte Antonius Eremita zu sehen, beides Äbte und Einsiedler, sowie oben die beiden Bischöfe Martin, Patron der Stadtpfarrkirche, und Nikolaus. Diese vier eint der Umstand des ›guten‹, also wohl vorbereiteten Todes, für den sinnbildlich der Hl. Christophorus über ihnen im Gesprenge steht - reichte es doch nach damaligen Vorstellungen aus, einmal am Tag sein Bildnis gesehen zu haben, um einem unbußfertigen Tod vorzubeugen. 29 ›Schreinwächterin‹ ist hier eine Anna selbdritt, die ebenfalls wohlvorbereitet den Tod erwartete. Mit Johannes dem Täufer und Anna, beide der Überlieferung nach Verwandte und Zeitgenossen Jesu, finden die Außenseiten der Altarflügel gewissermaßen biographischen und chronologischen Anschluss an die Innenseiten, die Szenen aus der Kindheit des Heilands zeigen. 28 P ETER D INZELBACHER , Die Realpräsenz der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in: D ERS ./ D IETER R. B AUER (Hg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfindern 1990, S. 115-174, hier 145f.; J. G RABMAYER , Krankheit (Anm. 2), S. 59f. 29 F RIEDERIKE W ERNER , Art. Christophorus, in: LCI 5, Freiburg i. Br. 1973/ 94, Sp. 496- 508, hier 497; P. D INZELBACHER , Realpräsenz (Anm. 28), S. 146. <?page no="36"?> S TE FAN D IE TER 36 Abb. 7: Der 1517/ 18 geschaffene Hauptaltar der St.-Blasius-Kirche mit geschlossenen Altarflügeln. Neben den Altarflügeln stehen als ›Schreinwächter‹ Johannes der Täufer (links) und Anna selbdritt (rechts); auf den Altarflügeln sind dargestellt: Valentin und Castulus (links unten), Stephanus und Laurentius (links oben), Magnus und Antonius Eremita (rechts unten), Martin und Nikolaus (rechts oben). In vertikaler Leserichtung nimmt das Bildprogramm des Hochaltars bei geschlossenen Flügeln damit Bezug auf das Ende des Lebens, das im spätmittelalterlichen Sinne als ›gelungen‹ zu bezeichnen war, wenn es sich in der Hingabe für Jesus erfüllte oder wenn es genügend Zeit zur Vorbereitung ließ. Während der Märtyrertod selten geworden war, blieb die Möglichkeit eines ›guten Todes‹ angesichts der vielen Krankheiten und Seuchen, denen man schutzlos ausgeliefert war, stets gefährdet. <?page no="37"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 37 Die Sorge um ihren Tod begleitete die Menschen ihr ganzes Leben lang. Gebete, Bußakte und schließlich der Empfang der Sterbesakramente sollten darauf vorbereiten. Aber auch die Imitatio von Vorbildern, die in die Gnade eines ›guten Todes‹ gekommen waren, war zu empfehlen. 30 Solche Vorbilder zeigen die Außenseiten der Altarflügel in der St.-Blasius-Kirche in horizontaler Leserichtung: In der oberen Reihe sind Heilige zu sehen, die im Sinne der christlichen Caritas ein Leben im Dienst ihrer Nächsten führten, die beiden Diakone Stephanus und Laurentius sowie die beiden Bischöfe Martin und Nikolaus. Die untere Reihe zeigt Heilige, die durch Krankenheilungen bewiesen hatten, dass sie bereits zu Lebzeiten Anteil am jenseitigen Heil besaßen: Valentin und Castulus sowie Antonius Eremita und Magnus. Das Betrachten dieser vier sollte den Menschen Gottvertrauen vermitteln und die Angst vor Tod und Sterben nehmen 31 - durften sie doch auf die Hilfe jener in ihrer letzten Stunde hoffen. Es fällt auf, dass drei der vier Zweierpaare jeweils gleiche kirchliche Funktionen ausübten und dementsprechend in ähnlicher Gewandung dargestellt sind. Aus der Reihe fallen lediglich Valentin und Castulus, die weder ein geistliches Amt noch ein weltlicher Stand miteinander verbindet. Die genauen Gründe für diese Abweichung sind unbekannt, es könnte sich um Heilige handeln, die eine gewisse lokale Verehrung genossen: Castulus vermutlich wegen eines Pestwunders, das er zu Beginn des 15. Jahrhunderts im nicht weit entfernt gelegenen Dorf Aitrang gewirkt haben soll und von dem später noch die Rede sein wird. Valentin dagegen war für die ›Fallsucht‹ 32 zuständig, besser bekannt als Epilepsie; seine rechte Hand weist auf einen ihm zu Füßen liegenden Epileptiker. 33 30 J. G RABMAYER , Krankheit (Anm. 2), S. 63. 31 J. G RABMAYER , Krankheit (Anm. 2), S. 65. 32 Auch hier handelt es sich, wie beispielsweise bei Blasius, um eine Ableitung des Heilungsgebiets aus dem Namen des Heiligen: ›Valentin‹ - ›fallen‹. 33 Ob es sich bei den 1485 und 1489 in Kaufbeurer Urkunden mit den Worten siner synne entsetzt und beraubt bzw. der synn und vernunft ettlich zeit her entsetzt beschriebenen Krankheiten um Epilepsie handelt, ist ungewiss (R ICHARD D ERTSCH , Die Urkunden der Stadt Kaufbeuren 1240 bis 1551. Stadt, Spital, Pfarrei, Kloster (Veröff. SFG 2a/ 3), Augsburg 1955, Nr. 1355, S. 426f., Nr. 1434, S. 450f.), doch wurde im späten Mittelalter die Epilepsie unter die Geisteskrankheiten eingereiht (L UC C AMPANA , Die 14 Heiligen Nothelfer, 2. Aufl. Lauerz 2008, S. 125-127). - In den Valentin-Darstellungen nördlich der Alpen werden Elemente aus dem Leben der Bischöfe Valentin von Terni, der den Märtyrertod starb, und Valentin von Rätien, der eigentlich kein Märtyrer war, vermischt (I SO M ÜLLER , Art. Valentin von Rätien, in: LCI 8, Freiburg i. Br. 1976/ 94, Sp. 529f., hier 529). <?page no="38"?> S TE FAN D IE TER 38 Abb. 8: Ausschnitt aus der 1517/ 18 von Jörg Mack gemalten Predella des Hauptaltars der St.-Blasius-Kirche. Dargestellt sind von links nach rechts: Katharina, Barbara, das Pfingstwunder, Margaretha und Dorothea (St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren). Auf der Predella schließlich sind in zwei Zweiergruppen die vier ›virgines capitales‹ abgebildet, die heiligen Jungfrauen Katharina, Barbara, Margaretha und Dorothea, dazwischen ist eine Darstellung des Pfingstwunders zu sehen. Die vier Heiligen stehen aufgrund ihres Märtyrertodes für das Sterben für Christus und die Legenden berichten, dass ihnen die Erhörung aller ihrer Fürbitten zugesagt worden sei. 34 Zusammen mit den ebenfalls auf dem Altar vertretenen Blasius, Christophorus und Erasmus gehören Katharina, Barbara und Margaretha zu den klassischen 14 Nothelfern, die als Heiligengruppe sämtliche Krankheitsbereiche abdecken 35 und in der Literatur auch als ›Sterbepatrone‹ bezeichnet werden. 36 Im süddeutschen Raum schwankte bis ins 16. Jahrhundert hinein die Zusammensetzung dieser Reihe, so dass hier auch u. a. Antonius Eremita, Dorothea, Magnus, Laurentius, Nikolaus, Sebastian und Stephanus unter die 14 Nothelfer gereiht werden konnten. 37 Damit kann der Hochaltar der Kaufbeurer St.-Blasius-Kirche fast schon als ein Nothelfer- Altar angesehen werden, sind auf ihm doch 13 mögliche von 14 Nothelfern zu sehen. Dass die Gottesmutter Maria im Gesprenge den Altar bekrönt, mag dieses 34 F RIEDERIKE T SCHOCHNER , Art. Virgines Capitales (Heilige Madl’n), in: LCI 8, Freiburg i. Br. 1976/ 94, Sp. 574. 35 L. C AMPANA , Nothelfer (Anm. 33), S. 85, 93. 36 So z. B. R OMUALD B AUERREIS , Kirchengeschichte Bayerns 4, St. Ottilien 1974, S. 175. 37 J OSEF D ÜNNINGER , Art. Vierzehn Nothelfer, in: LCI 8, Freiburg i.Br. 1976/ 94, Sp. 546- 550, hier 547; L. C AMPANA , Nothelfer (Anm. 33), S.166-183. <?page no="39"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 39 Bild abrunden, gilt sie doch als ›Königin der Nothelfer‹ und wird oftmals zusammen mit ihnen dargestellt. 38 2. Frömmigkeitspraxis als Gesundheitsfürsorge 2.1 Obrigkeitliche Maßnahmen Von der St.-Blasius-Kirche aus gesehen befindet sich am anderen Ende der Stadt das Rathaus. Dort bestimmte der Rat die Politik der Reichsstadt und ließ sich dabei auch von religiösen Erwägungen beeinflussen. Für das spätmittelalterliche Selbstverständnis der reichsstädtischen Bürgerschaft war eine geschlossene Haltung im Glauben von großer Wichtigkeit. Dahinter stand die Vorstellung, die Stadtgemeinde als ganze und jeder Einzelne als Teil dieses Ganzen müsse für das Heil aller Sorge tragen. Nicht abgestellte religiöse Missstände zögen den Zorn Gottes oder seiner Heiligen auf sich, der sich etwa in Form von Krankheiten oder Seuchen äußern konnte. 39 So ist es zu erklären, dass sich reichsstädtische Räte verpflichtet fühlten, sich in Krankheitsnöten im Namen ihrer Stadt an Gott und die Heiligen um Hilfe zu wenden und auch auf das religiöse Verhalten ihrer Bürgerschaft Einfluss zu nehmen. Nach der Pestwelle von 1482/ 84 begab sich der Rat der Reichsstadt Kaufbeuren im Jahr 1486 zusammen mit anderen schwäbischen Reichsstädten in den Schutz des im Kloster Stams in Tirol verehrten Johannes des Täufers. 40 Stams war in jener Zeit ein weithin bekannter Wallfahrtsort, an dem eine Reliquie des Täufers und ein Teil des Schädelknochens seines Vaters Zacharias verehrt wurden und an dem angeblich viele Heilungswunder geschahen. Das Mirakelbuch des Klosters nennt als Einzugsgebiet der frommen Wallfahrer die Schweiz, Süddeutschland, Salzburg, Südtirol und Slowenien. 41 Zum Zeichen ihres Schutzbegehrens unterhielten die städtischen Räte in der dortigen Klosterkirche Sühnekerzen. Darüber hinaus stifteten sie aus Dankbarkeit für die überwundene Pest Johannes dem Täufer einen silbernen und vergoldeten Kelch. 42 Aus der Sicht des Kaufbeurer Rates war der Gedanke, sich an die in Stams verehrten Heiligen zu wenden, naheliegend, pflegte die Stadt doch zu diesem 38 L. C AMPANA , Nothelfer (Anm. 33), S. 45-47. Vgl. auch J. D ÜNNINGER , Nothelfer (Anm. 37), Sp. 548. 39 Vgl. dazu B ERND H AMM , Bürgertum und Glaube, Göttingen 1996, S. 73-76. 40 H ELMUT L AUSSER , Grundherrn, Söldner und Studenten. Die Quellen zu Besitz und Aktivitäten der Einwohner Kaufbeurens außerhalb der Mauern ihrer Stadt (Kompendium der Quellen zur Geschichte Kaufbeurens im Mittelalter 4.1), Thalhofen 2013, Nr. 55, S. 133. 41 Vgl. dazu K ARL C. B ERGER , Die dreifache Wallfahrt begann mit dem Täufer, in: M ICHAEL F ORCHER (Hg.), Stift Stams. Ein Tiroler Juwel mit wechselvoller Geschichte, Innsbruck 2016, S. 26-34. 42 H. L AUSSER , Grundherrn (Anm. 40), Nr. 55, S. 133. <?page no="40"?> S TE FAN D IE TER 40 Kloster enge Beziehungen: Abt Georg Ried, der von 1436 bis 1481 regierte und 1483 starb, war ein Sohn Kaufbeurens; auch verfügte das Kloster seit Beginn des 14. Jahrhunderts über mehrere Besitzungen in der Stadt. 43 Die Hoffnung auf himmlischen Beistand stellte für die spätmittelalterlichen Menschen und ihre Obrigkeiten einen zentralen Aspekt auf dem Weg zu ihrer Genesung und zur Bewahrung vor dem Tod dar. Neben dem Betrachten von Bildern, der Berührung von Reliquien oder dem Darbringen von Sühneopfern spielten die Sakramente eine wichtige Rolle. Wie aber sollte man mit Menschen umgehen, die diese wegen ansteckender Krankheiten nicht empfangen konnten? Im Pestjahr 1521 entschied der Kaufbeurer Rat, dass die Pestkranken zwar nicht den Markt und die Bäder, wohl aber den Gottesdienst in der Pfarrkirche besuchen durften. Sie sollten jedoch unter dem Chor der Franziskanerinnen im Nordwestteil des Gotteshauses stehen bleiben. 44 Vermutlich wurde das Altarsakrament zu ihnen dorthin gebracht, um der Ansteckungsgefahr Einhalt zu gebieten. Um die Krankheit selbst einzudämmen, wurden mehrere Maßnahmen ergriffen: So wurde ein Seelhaus als Seuchenkrankenhaus eingerichtet, eine Meldepflicht für auswärtige Kranke eingeführt, die in die Stadt kamen, und Ausgangsbeschränkungen für Bewohner erlassen, in deren Häusern sich Kranke aufhielten. 45 Darüber hinaus intensivierte der Rat die Anrufung Gottes und seiner Heiligen - doch alles schien vergebens zu sein, die Seuche wütete weiter. Da machte der Rat als Grund für die ausbleibende Hilfe das Verhalten der Bevölkerung aus, denn sie habe die Himmlischen mit sweren lesterungen belaidiget. Daher wurde bei Androhung ainer sweren straff verfügt, dass die Bürgerschaft gott den allmechtigen, die reine junckhfraw marie vnd die liebe hailigen mit dhainen schweren noch vngeschickten wortten belaidigen noch bekimern sollen. Gleiches gelte auch, sollte jemand freuentliche zesweren erfunden werden, also beim Fluchen erwischt werden. 46 2.2 Krankheitsheilige im Jahrzeitbuch des Heilig-Geist-Spitals Folgt man dem Rosental, das am Rathaus vorbei in den nordöstlichen Bereich der Reichsstadt hinab führt, gelangt man zum Heilig-Geist-Spital. Dort war während des 43 H ELMUT L AUSSER , Pfarrer, Bürgermeister, Künstler. Quellen zur Lebensgeschichte ausgewählter Kaufbeurer Persönlichkeiten des späten Mittelalters (Kompendium der Quellen zur Geschichte Kaufbeurens im Mittelalter 10.1), Thalhofen 2018, Nr. 150-155, S. 207-212; D ERS ., Die Bürger in ihrer Stadt. Die Quellen zum bürgerlichen Alltag in der mittelalterlichen Stadt Kaufbeuren (Kompendium der Quellen zur Geschichte Kaufbeurens im Mittelalter 3), Thalhofen 2011, Nr. 477-482, S. 575-584. 44 A. F UCHS , Geschichte des Gesundheitswesens (Anm. 1), S. 185. 45 A. F UCHS , Geschichte des Gesundheitswesens (Anm. 1), S. 184f. 46 H. L AUSSER , Pfarrer, Bürgermeister, Künstler (Anm. 43), Nr. 448, S. 291f. <?page no="41"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 41 gesamten späten Mittelalters ein sogenanntes Jahrzeitbuch in Gebrauch, 47 in dem aufgezeichnet wurde, welcher Heiligen in der Messopferliturgie zu gedenken war und für welche Verstorbene gebetet werden sollte. Bei etlichen Einträgen handelt es sich um Wohltäter der Einrichtung, denn bei ihnen ist der Name um Angaben zum Umfang und zur Verwendung von Stiftungsgut erweitert. Angelegt ist das Kaufbeurer Jahrzeitbuch in Form des römischen Kalenders mit Sonntagsbuchstaben und Nennung der Tagesheiligen. 48 Diese sind für das Thema ›Frömmigkeit und Krankheit‹ von besonderem Interesse. Bei der Anlage des Buches, für die das Jahr 1323 plausibel gemacht wird, 49 wurden zwei Gruppen unterschieden: In roter Farbe sind die Heiligen aufgeführt, deren Gedenktage besonders festlich begangen wurden; in schwarzer Farbe sind die übrigen vermerkt. 50 In der letztgenannten Gruppe finden sich auch Heilige, deren Kult in Kaufbeuren erst in späterer Zeit populär wurde, wie Cosmas und Damian, Sebastian und Antonius Eremita. Vor allem für den Beginn der intensiven Verehrung der Ärztebrüder Cosmas und Damian, die es immerhin zu einer lokalen Wallfahrt brachten, mag dies mangels anderer Quellen einen gewissen Anhaltspunkt bieten, wie im Folgenden noch näher ausgeführt werden wird. Nun wird es bei einem Jahrzeitbuch eines Spitals nicht sonderlich überraschen, dass über die Hälfte aller darin genannten Heiligen spezielle Krankheitspatrone sind. 51 Noch deutlicher wird der medikale Schwerpunkt der Heiligenauswahl, betrachtet man lediglich die roten Einträge, also die besonders wichtigen: Rund 70 Prozent dieser Heiligen sind Krankheitspatrone. 52 Unter diesen tauchen natürlich die Patrone der Spitalkirche auf: Neben dem Hl. Geist waren dies die Gottesmutter 47 Das Jahrzeitbuch wurde offenbar im Jahr 1323 begonnen, umfasst aber auch Einträge ab etwa 1270; geführt wurde es bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, also rund 150 Jahre lang; M IRJAM Z ITZMANN , Das Jahrzeitbuch des Heilig-Geist-Hospitals Kaufbeuren (Kaufbeurer Schriftenreihe 9), Thalhofen 2009, S. 19-24. Es befindet sich heute im Stadtarchiv Kaufbeuren (StadtA Kaufbeuren, B 3). Ediert wurde es auch von H ELMUT L AUSSER , Zinsen, Schulden, Seelgeräte. Quellen zur Einkünftesituation von Spital, Pfarrkirche und Steuerbürgern der Stadt Kaufbeuren im 14. und 15. Jahrhundert (Kompendium der Quellen zur Geschichte Kaufbeurens im Mittelalter 7), Thalhofen 2013, S. 7-152. 48 M. Z ITZMANN , Jahrzeitbuch (Anm. 47), S. 11-13; W ILHELM R. D IETRICH , Arzt und Apotheker im Spiegel ihrer alten Patrone Kosmas und Damian, Lindenberg-Warthausen 2005, S. 146. 49 M. Z ITZMANN , Jahrzeitbuch (Anm. 47), S. 19. 50 So auch beim Jahrtagbuch der Ravensburger Karmeliter: W. D IETRICH , Arzt und Apotheker (Anm. 48), S. 147. 51 Von insgesamt 232 im Kaufbeurer Jahrzeitbuch genannten Heiligen weisen 119 ein spezielles Krankheitspatrozinium auf, das entspricht 51,3 %. 52 Von insgesamt 43 im Kaufbeurer Jahrzeitbuch in roter Farbe eingetragenen Heiligen weisen 30 ein spezielles Krankheitspatrozinium auf, das entspricht 69,8 %. <?page no="42"?> S TE FAN D IE TER 42 Maria, die Apostel Bartholomäus und Andreas sowie Elisabeth von Thüringen. 53 Aber auch der für Kaufbeuren wichtige Blasius, der im Allgäu verehrte Magnus und der über alle Volksschichten hinweg beliebte Veit 54 finden sich darunter. Insgesamt deckt die Heilungskompetenz der als wichtig gekennzeichneten Heiligen die verbreitetsten Leiden oder die der Gesundheit und dem Seelenheil besonders gefährlichen Situationen ab, denen sich die mittelalterlichen Menschen ausgesetzt sahen: Geburt und Entbindung (Leonhard), Kinderkrankheiten (Blasius, Othmar, Ursula, Veit), Kopf- und Halsleiden (Blasius, Katharina, Leonhard, Magnus, Thomas, Veit), Hautkrankheiten (Bartholomäus, Blasius, Laurentius), Beschwerden in Bezug auf Magen, Darm und Blase (Blasius, Markus), Geschlechtskrankheiten (Leonhard), Nervenleiden (Bartholomäus, Moritz, Peter und Paul, Veit), ansteckende Krankheiten (Laurentius, Matthias), ›guter Tod‹ (Markus, Michael, Stephanus) und vieles andere mehr. Zusammen mit den Heiligen, deren Namen im Jahrzeitbuch mit schwarzer Tinte geschrieben wurden, wurde damit jahraus jahrein die Verehrung der himmlischen Helferschar für alle möglichen Krankheiten, Gebrechen und Todesnöte gewährleistet und auf diese Weise eine umfassende Gesundheits- und Sterbefürsorge auf sakraler Ebene praktiziert. Unabhängig von der farblichen Eintragung der Heiligen im Jahrzeitbuch gab es bei der Bevölkerung offenbar besonders beliebte himmlische Helfer. Zwar wurde in den meisten Fällen eines Verstorbenen an dessen Todestag gedacht, mitunter aber war ein bestimmter Tagesheiliger für die terminliche Platzierung frommer Stiftungen ausschlaggebend. Am beliebtesten waren demnach gemäß der Anzahl der Eintragungen die Krankenpatrone Blasius, Gertrud, Leonhard, Magnus und der Apostel Thomas. 55 Daneben zeichnen sich durch auffällig viele Einträge unter ihrem Namen die aufgrund lokaler oder regionaler Besonderheiten wichtigen Heiligen Martin sowie Gordian und Epimachus aus, die allerdings keine besondere medikale Funktion hatten. 56 53 T HOMAS P FUNDNER , Die Spitalkirche zum Hl. Geist, in: Kaufbeurer Geschichtsblätter 10 (1984/ 86), S. 28-32, hier 29. 54 L. C AMPANA , Nothelfer (Anm. 33), S. 159. 55 M. Z ITZMANN , Jahrzeitbuch (Anm. 47), S. 27. Blasius gehört der Gruppe der 14 Nothelfer an, zu denen auch Leonhard und Magnus gezählt werden konnten; L. C AMPANA , Nothelfer (Anm. 33), S. 86, 88. Gertrud ist für Krankenhäuser, Arme, Witwen, Pilger, Herbergen, Reisende und Fieberkranke zuständig, kann also als typische Spitalpatronin bezeichnet werden; der Apostel Thomas gilt als zuständig für Rückenschmerzen und Augenleiden. 56 Der Hl. Martin ist der Patron der Kaufbeurer Stadtpfarrkirche, Gordian und Epimachus sind die Patrone Kemptens. <?page no="43"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 43 Abb. 9: Eintrag des Hl. Blasius (Blasii epi et m) im Jahrzeitbuch des Kaufbeurer Heilig-Geist-Spitals in roter Tinte. Darunter stehen fromme Stiftungen, die an seinem Gedenktag terminiert wurden und fast den gesamten Raum unterhalb des Eintrags einnehmen. <?page no="44"?> S TE FAN D IE TER 44 2.3 Volksfrömmigkeit Die nächste Station, die Hinweise zum Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und Krankheit liefert, ist die im Zentrum der Stadt stehende Pfarrkirche St. Martin. Von der spätgotischen Ausstattung des zwischen 1438 und 1444 vergrößerten und in wesentlichen Teilen neu errichteten Gotteshauses ist nur wenig bekannt, da im Zuge der Einführung der Reformation im Sinne der zwinglianisch-oberdeutschen Richtung im Jahre 1545 die Bildwerke und Altäre entfernt wurden. 57 Einige Kunstwerke haben sich jedoch erhalten, so die wichtigsten Figuren des von Michael Erhart um 1480 geschaffenen Hochaltars. Zu ihnen gehören neben Maria sowie den Bischöfen Ulrich und Martin die für das Thema dieses Beitrags bedeutsamen Cosmas und Damian. 58 Von den beiden Ärztebrüdern war bereits im Zusammenhang mit der ihnen geweihten Wallfahrtskirche vor den Toren der Stadt die Rede. Bei dieser Wallfahrt handelte es sich um eine eher regional begrenzte Angelegenheit, fiel die Errichtung des Kirchleins doch in eine Zeit, in der sich das Netz der Nahwallfahrten im süddeutschen Raum stark verdichtete. 59 Seine Ursache fand das Phänomen der Nahwallfahrten im immer stärker zunehmenden Wunsch der Gläubigen, durch direkten Kontakt mit Reliquien, Bildern oder Hostien, die im Zusammenhang mit den aufgesuchten Heiligen standen, leibliche und seelische Heilung zu erfahren. So wurden auch kleinere Kultorte auf- und ausgebaut und mit Ablässen ausgestattet, was wiederum zeit- und geldintensive Wallfahrten zu den großen Gnadenstätten überflüssig machte. 60 Ein Erlangen himmlischer Hilfe war nun gewissermaßen vor der eigenen Haustüre möglich. Ihren Ausgangspunkt dürfte die Wallfahrt zum Cosmas-und-Damian-Kirchlein bei Kaufbeuren am Hochaltar der Stadtpfarrkirche St. Martin genommen haben. Zu welcher Zeit dies allerdings geschah, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie um 1320, als das Jahrzeitbuch des Spitals angelegt wurde, in Kaufbeuren noch nicht zu den besonders wichtigen Heiligen gezählt wurden, da ihr Eintrag mit schwarzer Tinte erfolgte, die für die weniger wichtigen Heiligen verwendet wurde. 57 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 100f.; G UDRUN L ITZ , Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007, S. 247f.: Zuvor wurde Stiftern von Kunstwerken Gelegenheit gegeben, diese in Sicherheit zu bringen. 58 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 116f.; A NNELIESE W ITTMANN , Kosmas und Damian. Kultausbreitung und Volksdevotion, Berlin 1967, S. 208f. 59 W ALTER B RANDMÜLLER (Hg.), Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte I/ 2, St. Ottilien 1999, S. 1059, 1068. 60 J. G RABMAYER , Krankheit (Anm. 2), S. 60f. <?page no="45"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 45 Abb. 10 und 11: Das von dem Ulmer Bildhauer Michael Erhart um 1480 geschaffene Ärztebrüderpaar Cosmas (links) und Damian (rechts) aus dem spätgotischen Hochaltar der St.-Martins-Kirche Kaufbeuren (St.-Martins-Kirche Kaufbeuren). 160 Jahre später hatte ihre Verehrung einen bedeutsamen Aufschwung genommen, denn sie bekamen damals prominente Plätze im Hochaltar der Stadtpfarrkirche und wenig später eine eigene Wallfahrtskirche. Schon wenige Jahrzehnte danach fiel ihre Verehrung der Reformation zum Opfer, wurde aber nach dem Dreißigjährigen Krieg vom katholischen Bevölkerungsteil neu belebt 61 und machte Kaufbeuren - so das Lexikon der christlichen Ikonographie - neben Rom, Florenz, Essen und Gutenzell zu einem ihrer wichtigsten Kultzentren in Mittel- und Westeuropa. 62 61 A. W ITTMANN , Kosmas und Damian (Anm. 58), S. 209-224. 62 W OLFGANG A RTELT , Art. Kosmas und Damian, in: LCI 7, Freiburg i. Br. 1974/ 94, Sp. 344-352, hier 348. <?page no="46"?> S TE FAN D IE TER 46 In der spätgotischen St.-Martins-Kirche stand auch ein Nebenaltar, der dem als Krankheitspatron sehr beliebten Veit geweiht war. 63 Der Heilige, der zu den klassischen 14 Nothelfern zählt und Mitpatron des Chores und des Hochaltars der Kaufbeurer Spitalkirche war, 64 wurde bei über 30 Gebrechen angerufen. 65 An seinem Altar in der St.-Martins-Kirche wurde vermutlich auch das Veit-Heiltum verwahrt, mit dem der dortige Mesner bis ins 16. Jahrhundert hinein Leute bestrich, die sich davon Bewahrung vor oder Heilung von Krankheiten erhofften. Allerdings verrichtete der Mesner diese Tätigkeit widerrechtlich. 66 Anders stellte sich dagegen in der benachbarten Reichsstadt Biberach die Veit-Verehrung dar: Dort wurden am Gedenktag des Heiligen, dem 15. Juni, Personen mit einer Monstranz bestrichen, in der eine Veit-Reliquie eingearbeitet war. 67 Der Unterschied bestand darin, dass in Kaufbeuren eine von Seiten der Kirche nicht legitimierte Person - der Mesner - tätig war, wohingegen in Biberach ein Priester handelte. Dies zeigt, auf welch schmalem Grat sich die Heiligenkulte und die von ihnen erhofften Wunder bewegten: Einerseits stellten Heilungswunder ein sehr effektives Mittel dar, um auf Gläubige einzuwirken, was sich die Kirche nicht entgehen lassen wollte. Andererseits bestand ständig die Gefahr, dass die Heiligenkulte der Kirche entglitten. Deswegen erhob sie einen Monopolanspruch auf Heilungswunder und versuchte, die entsprechenden Kulte zu steuern. 68 So erkannte die Kirche auch ein Wunder an, das, wie bereits im Zusammenhang mit der St.-Blasius-Kirche erwähnt, der Hl. Castulus im nahegelegenen Dorf Aitrang gewirkt haben sollte: Als dort zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine pestartige Seuche gewütet habe, sei Barbara Kolerin in solcher grosser gefahr kein laid widerfahren, sonder sey vor der Pestilentz genediglich erhalten worden, wie Martin Kreittmann, Dechant des nahe Freising gelegenen Chorherrenstifts Moosburg, im Jahr 1584 schreibt. Ursache dafür sei gewesen, dass sie den dort verehrten Hl. Castulus angerufen habe. 69 Vermutlich 63 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 90f. 64 R. D ERTSCH , Urkunden (Anm. 33), Nr. 865, S. 261f. 65 L. C AMPANA , Nothelfer (Anm. 33), S. 160 Anm. 1. 66 J OSEPH S IEBER , Pest und Caritas. Ein Beitrag zur Caritas- und Kulturgeschichte, Kaufbeuren 1935, S. 44. 67 H EINRICH K ÖNIGS , Der hl. Vitus und seine Verehrung. Beiträge zur Vitusforschung anläßlich der 1100-Jahrfeier der Vitustranslation von St. Denys nach Korvey, Münster 1939, S. 182. 68 L. K OLMER , Heilige (Anm. 7), S. 161. 69 M ARTIN K REITTMANN , Histori von dem Fürtreffentlichen Ritter und ansehlichen Martyr S. Castl, München 1584, fol. 26r (https: / / daten.digitale-sammlungen.de/ 0002/ bsb000214 76/ images/ index.html? id=00021476&groesser=&fip=yztssdasxdsydeayaqrsxdsydewqewqe ayafsdr&no=6&seite=52; aufgerufen am 24.7.2020). - Zu Kreittmann: A NTON M. K OBOLT , Ergänzungen und Berichtigungen zum Bayerischen Gelehrten-Lexikon, Landshut 1824, S. 359. - Für das Jahr 1405 lässt sich ein Hans Koler in Aitrang urkundlich nachweisen; <?page no="47"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 47 hält der Kaufbeurer Castulus deswegen auch eine Fahne mit dem Moosburger Stadtwappen in der Hand und nicht, wie sonst üblich, einen Spaten, der auf sein Martyrium hinweist. 70 Woher Kreittmann seine Kenntnis von diesem Wunder hatte, ist unbekannt, doch galt dessen Faktizität als so glaubwürdig, dass er es durch die Aufnahme in sein Mirakelbuch erneut bezeugte. Im Rückgriff darauf wurde 1729 ein Teil des Deckenfreskos im Chorraum der St.-Kastulus-Kirche in Puchschlagen bei Dachau dieser Begebenheit gewidmet: Zu sehen ist Barbara Kolerin, wie sie ihre Hände flehend zum Himmel erhebt, während hinter ihrem Haus Leichen liegen. Darunter ist zu lesen: Dem bösen Lufft und Pestilentz wehret Castl. den Sententz. 71 3. Krankheitsheilige und Rufnamengebung Den Heiligen wurde von der Bevölkerung in Bezug auf den Schutz vor und die Heilung bei Krankheiten großes Vertrauen entgegengebracht. Hatte dieser Aspekt der Heiligenverehrung, so ist in Zusammenhang mit unserem Thema zu fragen, auch Auswirkungen auf die Vergabepraxis der Rufnamen? Lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen den in Kaufbeuren besonders verehrten Krankheitsheiligen und der Rufnamengebung im späten Mittelalter? Diese Fragen stellen sich fast zwangsläufig in der St.-Martins-Kirche, da hier der spätromanische Taufstein steht, über dem im späten Mittelalter die Kaufbeurer Kinder ihre Taufe empfingen. Auf der Suche nach einer Antwort wurden für diese Untersuchung die Vornamen von 2.698 Kaufbeurer Bürgerinnen und Bürgern des Zeitraums zwischen 1461 und 1550 ausgewertet. 72 Zu bedenken ist dabei stets, dass in den Urkunden in der Regel erwachsene Personen auftauchen, was bedeutet, dass die Zeit der Namengebung für diese Personen in der Regel mindestens 20 bis 30 Jahre vor ihrer ersten urkundlichen Nennung stattfand. Gewiss wird man nicht die Gleichung aufstellen dürfen, wonach eine besonders intensive Verehrung bestimmter Heiliger automatisch eine Nachbenennung nach R. D ERTSCH , Urkunden (Anm. 33), Nr. 365, S. 120f. - Eine seuchenartige Krankheit ist zu Beginn des 15. Jahrhunderts zwar nicht in Kaufbeuren belegt, aber in Füssen (1400) und Memmingen (1407); K ONRAD M. M ÜLLER , Das »Große Sterben« im Allgäu, Pest und andere Seuchen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Memminger Geschichtsblätter 2004/ 05, S. 157. 70 M ARTIN L ECHNER , Art. Castulus, in: LCI 5, Freiburg i. Br. 1973/ 94, Sp. 480. 71 H ERMANN B AUER / B ERNHARD R UPPRECHT (Hg.), Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland 5: Freistaat Bayern, Regierungsbezirk Oberbayern, Landkreis Dachau, München 1996, S. 221. Ein Bild des Freskos ist auf S. 215 zu sehen. 72 Die Rufnamen wurden erhoben aus R. D ERTSCH , Urkunden (Anm. 33), sowie aus S TEFAN D IETER / G ÜNTHER P IETSCH , Die Urkunden der Stadt Kaufbeuren (Stadt, Spital, Kirchengemeinden, Kloster), 1501 bis 1551 (Veröff. SFG 2a/ 14), Thalhofen 1999. Insgesamt wurden die Rufnamen von 1.944 männlichen und von 754 weiblichen Personen erhoben. <?page no="48"?> S TE FAN D IE TER 48 sich zog, sind doch bei der Rufnamenwahl mehrere Faktoren zu beachten: Bei den bis Mitte des 15. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum vorwiegend gebräuchlichen germanischen Namen 73 beispielsweise ist schwer zu entscheiden, ob dynastische Vorbilder eine Rolle spielten - man denke nur an die vielen hochmittelalterlichen Könige und Kaiser mit Namen Heinrich und Konrad -, ob sie als Heiligennamen vergeben wurden oder ob deren Vergabe einer seit Jahrhunderten gewohnten Namentradierung folgt. 74 Besonders letzterer Punkt verdient Beachtung, denn speziell christliche Rufnamen nichtgermanischen Ursprungs konnten sich im deutschen Sprachraum erst ab dem späten Mittelalter durchsetzen. 75 Auch gab es ›Modenamen‹ schon damals: So stand im 15. Jahrhundert der Rufname Johannes bzw. Hans unangefochten auf Platz 1 der Beliebtheitsskala - dies war in größeren Städten wie Köln, Leipzig oder Nürnberg nicht anders als in kleineren Städten wie Weißenburg oder Kaufbeuren: Rund ein Viertel bis ein Drittel der männlichen Einwohner trug dort diesen Namen. 76 Schließlich konnten auch Familientraditionen, Eltern- oder Patennamen ebenso Einfluss auf die Namenwahl ausüben wie der Name des Tagesheiligen des Tauftages - das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl Martin Luther, der am 11. November 1483 getauft wurde. 77 Und dennoch begann sich ab dem Ende des 12. Jahrhunderts allmählich ein Mentalitätswandel hin zu einer individualistischen Namenwahl zu vollziehen, der im deutschen Sprachraum im 15. und 16. Jahrhundert seinen Höhepunkt finden sollte: 78 »[D]ie Person, nach der der Täufling jetzt benannt wird, […] ist eine ideelle Bezugsperson, welche um ihres geistlichen Beistands, ihrer Fürbitte vor Gott, ihres Schutzengelcharakters willen bei der Geburt des Kindes angerufen wird und welche die darauf getaufte Person ihr Leben lang begleiten soll.« 79 73 V. K OHLHEIM , Vornamengebung (Anm. 8), S. 90: Mitte des 15. Jahrhunderts trugen beispielsweise 40,3 % der männlichen Regensburger germanische Rufnamen, in Bayreuth waren es zwischen 1430 und 1472 rund 62 %. 74 R OSA K OHLHEIM / V OLKER K OHLHEIM , Heiligennamen als Rufnamen, in: K ATHRIN D RÄGER / F ABIAN F AHLBUSCH / D AMARIS N ÜBLING (Hg.), Heiligenverehrung und Namengebung, Berlin 2016, S. 41-66, hier 50. 75 V. K OHLHEIM , Vornamengebung (Anm. 8), S. 90. 76 Köln (1417): 24,2 %; R. K OHLHEIM / V. K OHLHEIM , Heiligennamen (Anm. 74), S. 48; Nürnberg (1440-1467): 19,0 %; H ORST P OHL , Einflüsse auf die Vornamenwahl in Leipzig und Nürnberg vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Neustadt/ A. 1998, S. 71; Leipzig (1440- 1467): 30,9 %; ebd., S. 64; Weißenburg (1400-1493): ca. 24 %; R. K OHLHEIM / V. K OHL - HEIM , Heiligennamen (Anm. 74), S. 48; Kaufbeuren (1440-1467): 28,2 %. 77 H EINZ S CHILLING , Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 23. 78 V. K OHLHEIM , Vornamengebung (Anm. 8), S. 91. 79 W ILFRIED S EIBICKE , Pietistische und andere christliche Namen. Zum Verhältnis von Vornamengebung und Religion, in: J. E ICHHOFF / W. S EIBICKE / M. W OLFFSOHN (Hg.), Name und Gesellschaft (Anm. 8), S. 104-112, hier 104. <?page no="49"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 49 Männliche Heilige, die uns im Zusammenhang mit dem Thema ›Frömmigkeit und Krankheit‹ in Kaufbeuren mehrfach begegnet sind, waren Antonius, Blasius, Cosmas und Damian, Erasmus, Magnus, Sebastian, Thomas, Ulrich und Veit. Aufgrund ihres geringen Vorkommens in den Kaufbeurer Urkunden zwischen 1461 und 1550 tauchen die Rufnamen Cosmas, Damian und Erasmus in der folgenden Grafik nicht auf. 80 Dies mag insbesondere bei den ersten beiden überraschen, da das heilige Brüderpaar nicht nur am Hochaltar der Stadtpfarrkirche mit lebensgroßen Figuren prominent vertreten war, sondern weil auch eine Wallfahrtskirche mit ihrem Patrozinium vor den Toren der Stadt existierte. Grafik 1: Namen von männlichen Krankheitsheiligen als Rufnamen in Kaufbeuren (1461-1550) 80 Im Zeitraum zwischen 1461 und 1550 taucht Cosmas nur einmal auf (0,05 %), Damian kein einziges Mal, Erasmus zweimal (0,1 %). 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Antonius Blasius Magnus Sebastian Thomas Ulrich Veit Vorkommen der Rufnamen in Prozent 1461-70 1471-80 1481-90 1491-1500 1501-10 1511-20 1521-30 1531-40 1541-50 <?page no="50"?> S TE FAN D IE TER 50 Doch passt der Befund zu der Beobachtung, die auch andernorts gemacht wurde, wonach ein Kirchenpatrozinium nicht unbedingt unmittelbar auf die Rufnamengebung in dessen direkter Umgebung wirkte. 81 Bei Cosmas und Damian mag hinzukommen, dass die Heiligen ein Brüderpaar waren, was Eltern davon abgehalten haben mag, einen der Namen zu verwenden, wenn sie nur einen Sohn zur Taufe trugen. Doppelnamen waren bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts nicht üblich. 82 Von den über den lokalen oder engeren regionalen Bezugsrahmen hinaus bedeutsamen Krankheitsheiligen waren in Kaufbeuren Ulrich und Thomas beliebt. Der Rufname Ulrich war zwischen 1461 und 1550 nach Johannes/ Hans und Georg/ Jörg der drittbeliebteste Vorname in der Stadt. 83 Bischof Ulrich war der Augsburger Diözesanpatron, der während des Mittelalters zu den in Süddeutschland besonders verehrten Heiligen gehörte. 84 Mit größerem Abstand folgt der Apostel Thomas, an dessen Gedenktag besonders viele fromme Stiftungen ins Jahrzeitbuch des Spitals eingetragen sind: Er belegt in Kaufbeuren den 16. Rang der beliebtesten Rufnamen zwischen 1461 und 1550. 85 Seine Popularität geht in den Jahrzehnten zurück, in denen insbesondere die von Antonius und Blasius zunimmt. Die Häufigkeit von deren Namen sowie der von Veit und Sebastian deuten auf besondere lokale Umstände hin; die Namen dieser Heiligen belegen die Plätze 10, 12, 18 und 20 der beliebtesten männlichen Rufnamen zwischen 1461 und 1550: 86 Der Hl. Blasius erfreute sich schon zuvor einer gewissen Beliebtheit in Kaufbeuren, da sein Gedenktag im Jahrzeitbuch des Spitals als besonders wichtig markiert war und an diesem besonders viele Stiftungen eingetragen wurden. Im oben genannten Zeitraum steigt die Nennung dieses Namens in den Kaufbeurer Urkunden jedoch sprunghaft ab 1521 an, um bis 1550 auf relativ hohem Niveau zu bleiben. Dies mag damit zusammenhängen, dass rund 35 Jahre zuvor der spätgotische Neubau der St.- Blasius-Kirche geweiht und etwa 30 Jahre zuvor die Bilderfolgen in dieser Kirche vollendet wurden, die die Lebensgeschichte dieses Heiligen zeigen. Beides trug sicherlich zur Popularität des Hl. Blasius bei. Ähnliches, wenn auch in abgeschwächter Form, gilt für Antonius Eremita, der in der 1485 geweihten Friedhofskirche und in der St.-Blasius-Kirche verehrt wurde: 87 Hier an einem eigenen Altar, dort auf einem Außenflügel des Hochaltars und mittels einer Bilderfolge zu seiner Vita. 81 W. S EIBICKE , Pietistische und andere christliche Namen (Anm. 79), S. 104. 82 H. P OHL , Einflüsse (Anm. 76), S. 27. 83 Johannes/ Hans: 25,7 % der Nennungen zwischen 1461 und 1550; Georg/ Jörg: 9,6 %; Ulrich: 5,5 %. 84 H. P OHL , Einflüsse (Anm. 76), S. 16. 85 Thomas: 1,6 %. 86 Blasius: 1,9 %; Antonius: 1,8 %; Veit: 1,3 %; Sebastian: 0,9 %. 87 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 123. <?page no="51"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 51 Veit und Sebastian rangieren mit deutlichem Abstand hinter Blasius und Antonius. Bei ersterem mögen der diesem Heiligen geweihte Altar in der Pfarrkirche und die vermutlich dort verwahrte Bestreichungs-Reliquie die Namenwahl von Eltern beeinflusst haben, bei Sebastian die Erfahrungen der Pestwelle von 1482/ 84 und die damit verbundene Errichtung der Sebastian-Kapelle: In den Jahrzehnten 1481/ 90 und 1491/ 1500 steigt das Vorkommen dieses Rufnamens in den Kaufbeurer Urkunden merklich an, hält sich auf diesem Niveau bis 1511/ 20 und verschwindet danach für zwei Dekaden. Im letzten Jahrzehnt 1541/ 1550 taucht Sebastian als Rufname wieder auf - eventuell eine Folge der pestartigen Seuche von 1521. Magnus schließlich belegt in der Rangfolge der beliebtesten Rufnamen mit 0,8 % nur Rang 22. Die allgäuweite Verehrung dieses Heiligen, 88 die für Kaufbeuren mit einer Darstellung auf dem Hochaltar der St.-Blasius-Kirche dokumentiert ist, schlug sich demnach kaum in der Kaufbeurer Rufnamengebung zwischen 1461 und 1550 nieder. Das Inventar der weiblichen Rufnamen war wesentlich schmäler als das der männlichen. In Kaufbeuren belegen die Krankheitsheiligen Barbara, Margaretha, Elisabeth und Katharina hinter Anna die Plätze 2 bis 5 der beliebtesten Namen. Dorothea folgt etwas abgeschlagen auf Platz 12. 89 Die breite Verankerung dieser weiblichen Rufnamen in Kaufbeuren ist keineswegs untypisch, wie namenkundliche Untersuchungen zu anderen Städten des deutschen Sprachraums zeigen. 90 Daher ist es schwer zu entscheiden, ob die Darstellung der vier ›virgines capitales‹ auf der Predella des Hochaltars der St.-Blasius-Kirche, der Katharinen- und der Margarethen-Altar in der Stadtpfarrkirche St. Martin und das Mitpatronat der Hl. Elisabeth über die Spitalkirche ausschlaggebend für die Vergabe dieser Rufnamen waren. Versucht man angesichts dieser Ergebnisse eine Antwort zu finden auf die Frage, ob sich ein Zusammenhang zwischen den in Kaufbeuren besonders verehrten Krankheitsheiligen und der Rufnamengebung in jener Zeit herstellen lässt, so wird man feststellen müssen, dass dieser Zusammenhang nur undeutlich zu erkennen ist. Bei den weiblichen Rufnamen ist nicht zu entscheiden, ob sich die Praxis der Rufnamenvergabe in Kaufbeuren im Rahmen der allgemeinen damaligen Entwicklung bewegt oder ob die kultische Präsenz dieser Heiligen in der Stadt die Rufnamengebung beeinflusste. 88 S TEFAN V ATTER , St. Magnus - Apostel des Allgäus. Leben, Wirkung und Bedeutung, 2. Aufl. Lindenberg 2013, S. 104. 89 Barbara: 87 Nennungen (11,5 %); Margaretha: 70 Nennungen (9,3 %); Elisabeth: 60 Nennungen (7,9 %); Katharina: 42 Nennungen (5,6 %); Dorothea: 17 Nennungen (2,2 %). 90 R. K OHLHEIM / V. K OHLHEIM , Heiligennamen (Anm. 74), S. 50. <?page no="52"?> S TE FAN D IE TER 52 Grafik 2: Namen von weiblichen Krankheitsheiligen als Rufnamen in Kaufbeuren (1461-1550) Bei den männlichen Rufnamen können wir am ehesten einen gewissen Zusammenhang zwischen lokalen Kulten und der Vergabe der dort verehrten Heiligen in Bezug auf Blasius und Antonius Eremita erkennen, eventuell noch bei Sebastian. Bei Ulrich spielt wohl der regionale Bezug als Diözesanheiliger eine größere Rolle als seine Funktion als Helfer bei Krankheit. Allerdings ist auch zu bedenken, dass unter den zwanzig beliebtesten männlichen Rufnamen in Kaufbeuren zwischen 1461 und 1550 sechs für Kaufbeuren typische Krankheitsheilige auftauchen: Ulrich auf Platz 3, Blasius auf Platz 10, Antonius auf Platz 12, Thomas auf Platz 16, Veit auf Platz 18 und Sebastian auf Platz 20. 91 Insgesamt bestätigt sich damit die These des Namenforschers Volker Kohlheim für den deutschen Sprachraum in jener Zeit auch für das spätmittelalterliche Kaufbeuren: »Man wird den Zusammenhang zwischen Heiligenkult und Namengebung nicht als allzu eng und sozusagen automatisch ansehen dürfen.« 92 91 Ulrich: 106 Nennungen (5,5 %); Blasius: 38 Nennungen (1,9 %); Anton: 35 Nennungen (1,8 %); Thomas: 31 Nennungen (1,6 %); Veit: 25 Nennungen (1,3 %); Sebastian: 18 Nennungen (0,9 %). 92 V. K OHLHEIM , Vornamengebung (Anm. 8), S. 90. 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 Barbara Dorothea Elisabeth Katharina Margaretha Vorkommen der Rufnamen in Prozent 1461-70 1471-80 1481-90 1491-1500 1501-10 1511-20 1521-30 1531-40 1541-50 <?page no="53"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 53 4. Frömmigkeit und Krankheit im spätmittelalterlichen Kaufbeuren: Ein sakral-medikales System Die Untersuchung des Themas ›Frömmigkeit und Krankheit im spätmittelalterlichen Kaufbeuren‹ offenbarte ein komplexes sakral-medikales System mit vielfältigen Bezügen in alle Richtungen: Innerhalb der Stadt gab es Krankheitsheilige, die seit alters verehrt wurden und die der Bevölkerung in mannigfachen Aspekten und in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder vergegenwärtigt wurden. Als Beispiel möge der Hl. Blasius dienen, der das Patrozinium über eine Kirche innehatte, in der er figürlich und bildhaft dargestellt war; darüber hinaus zählte sein Gedenktag im Spital zu den bedeutsameren Festen. Dass an diesem Tag im Jahrzeitbuch besonders viele Stiftungen getätigt wurden und sein Name im spätmittelalterlichen Kaufbeuren häufig vergeben wurde, bezeugt seine Popularität. Von außen kamen im späten Mittelalter nach Kaufbeuren beispielsweise die überregional verbreiteten Kulte um den Pestheiligen Sebastian und um die vier ›virgines capitales‹ Barbara, Dorothea, Katharina und Margaretha. Durchaus regionale Bezüge weist der Kult um Bischof Ulrich auf, der nicht nur als Krankheitsheiliger galt, sondern auch Patron der Diözese Augsburg war, der Kaufbeuren zugehörte. In diesem Zusammenhang ist zudem Antonius Eremita zu nennen: Obwohl der Kult um diesen Heiligen in nahezu ganz Europa verbreitet war, wurde er nach Kaufbeuren erst recht spät über das Antoniterkloster in Memmingen in Person des Pfarrers Andreas Rohner vermittelt. Von Kaufbeuren aus wiederum wirkte - zwar in bescheidenem Rahmen, aber doch über die Mauern der Stadt hinausgehend - die Wallfahrt zu dem Kirchlein, das dem Ärztebrüderpaar Cosmas und Damian geweiht war. Darüber hinaus suchte der Rat das körperliche Wohl und das seelische Heil durch religiöse Beziehungen zu dem im Tiroler Kloster Stams verehrten Johannes dem Täufer zu sichern. Dieses sakral-medikale System war keineswegs starr und in sich abgeschlossen. Zwar wiesen einige Heilige seit dem hohen Mittelalter eine stabile Verehrung auf, wie etwa Blasius, andere aber erscheinen neu und wurden dann stark verehrt, beispielsweise Antonius Eremita. Wieder andere büßten ihre Popularität im Laufe der Zeit ein, wie der Apostel Thomas, dessen Gedenktag im Jahrzeitbuch zwar viele Stiftungen aufweist, dessen Name aber zwischen 1461 und 1550 hinsichtlich seiner Verbreitung stark abnimmt. Und schließlich gab es die Krankheitsheiligen, die es nie zu rechter Volkstümlichkeit brachten, wie etwa Magnus, obwohl hier ein regionaler Bezug vorhanden gewesen wäre. Gewisser Kulte bemächtigte sich die Volksfrömmigkeit, was die Kirche unterstützte, zu nennen wären hier Cosmas und Damian mit ihrer Wallfahrt; anderes wiederum suchte sie zu unterbinden, weil ihr die Kontrolle darüber zu entgleiten drohte, zu denken ist hier an die Veit-Reliquie und ihren Gebrauch durch den Mesner der Pfarrkirche. <?page no="54"?> S TE FAN D IE TER 54 Schließlich wirkte dieses System über die Zeiten hinweg: Die Wallfahrt zum Ärztepaar Cosmas und Damian blühte nach den Stürmen der Reformation im 17. Jahrhundert wieder auf und das Pestwunder des Kastulus aus dem beginnenden 15. Jahrhundert wurde über 300 Jahre später bei der Ausschmückung der St.-Castulus- Kirche in Puchschlagen aufgegriffen und bildlich verewigt. Überschaubar blieben dagegen die Auswirkungen auf die Rufnamengebung: Nur bei den Heiligen Blasius, Antonius und Sebastian lassen sich Zusammenhänge zwischen deren Kult und der Vergabepraxis ihrer Namen plausibel machen. Dennoch spielten Krankheitsheilige allgemein bei der Rufnamengebung im spätmittelalterlichen Kaufbeuren eine große Rolle. In Kaufbeuren hatte dieses System seinen Höhepunkt mit der Aufstellung und Weihe des Hochaltars der St.-Blasius-Kirche im Jahr 1518 erreicht. 93 Doch war es weniger stabil als es den Anschein erweckte: Im Jahr zuvor hatte in der fernen sächsischen Provinz ein Augustinermönch namens Martin Luther 95 Thesen veröffentlicht, die die Grundfesten der mittelalterlichen Kirche und mit ihr auch die traditionelle Heiligenverehrung erschüttern sollten. Die Wellen dieser Erschütterung erreichten Kaufbeuren Anfang der 1520er Jahre und führten schließlich 1525 zu einem Religionsgespräch, bei dem sieben von einem Kaufbeurer Geistlichen formulierte Thesen die Diskussionsgrundlage bildeten. 94 Darin hieß es in aller Deutlichkeit: Alle, die danach trachten, nicht durch Jesus Christus als durch die richtige Türe [ins Himmelreich] einzugehen, sondern durch die Vermittlung und Fürbitte der Heiligen, sind Diebe und Mörder. 95 Etwas eleganter, aber nicht weniger nachdrücklich hatte Erasmus von Rotterdam in seinem ›Enchiridion oder Handbüchlein eines christlichen und ritterlichen Lebens‹ formuliert: Es gibt etliche, die gewisse Heilige mit besonderen Diensten und Werken ehren. Einer grüßt Christophorus jeden Tag, indem er sein Bildnis ansieht. Was will er damit? Er meint, an diesem Tag sicher vor einem jähen Tod zu sein. Ein anderer betet Rochus an. Warum? Damit der die Pest von ihm fernhalte. […] Dieser fastet für Appolonia, dass sie ihn vor Zahnweh bewahre. Der sucht das Bildnis des Hiob auf, damit er ihn vor den Blattern verschone. […] Das alles ist nicht christlich und es macht kaum einen Unterschied zum Aberglauben der Heiden, die ehedem […] dem Äskulap einen Hahn versprachen, damit sie von einer Krankheit geheilt würden. […] Die Namen sind zwar andere, der Zweck aber ist derselbe. 96 93 H. L AUSSER , St. Martin (Anm. 9), S. 140. 94 T HOMAS P FUNDNER , Die evangelische Gemeinde Kaufbeurens von der Reformationszeit bis zur Gegenwart, in: J. K RAUS / S T . D IETER (Hg.): Die Stadt Kaufbeuren, Bd. 2: (Anm. 14), S. 272-322, hier 273f. 95 T HOMAS P FUNDNER , Das Memminger und Kaufbeurer Religionsgespräch von 1525. Eine Quellenveröffentlichung mit einem Überblick, in: Memminger Geschichtsblätter 1991/ 92, S. 23-66, hier 46 (Übertragung ins Neuhochdeutsche durch den Verfasser). 96 E RASMUS VON R OTTERDAM , Enchiridion oder Handbüchlein eines christlichen und ritterlichen Lebens, Basel 1520, fol. 53 (https: / / daten.digitale-sammlungen.de / ~db/ ausgaben/ zweiseitenansicht.html? id=00025752&seite=129&image=bsb00025752_00129.jp <?page no="55"?> H EILIG E H E LF ER . F RÖMM IGKEIT UND K R ANKHEIT 55 Die Kritik von Reformation und Humanismus macht nicht nur das Unbehagen weiter Teile der abendländischen Christenheit an den Auswüchsen der überkommenen Heiligenverehrung deutlich, sie läutete auch deren Ende ein. In der Folge sahen sich die sich etablierenden Konfessionskirchen vor die Herausforderung gestellt, neue Wege zu finden, Krankheiten mit religiösen Mitteln zu begegnen. g&fip=193.174.98.30; aufgerufen am 24.7.2020; Übertragung ins Neuhochdeutsche durch den Verfasser). <?page no="57"?> 57 P ATRICK S TURM Flucht und Meidung. Reaktionen auf die Pest in spätmittelalterlichen Reichsstädten Die Menschen reagierten im späten Mittelalter in vielfältiger Weise auf den Ausbruch der Pest. Sie wandten verschiedene geistlich-religiöse, magisch-mysthische sowie medizinische Mittel, die an den damaligen Seuchenkonzepten orientiert waren, an. 1 Hierzu zählten auch Flucht und Meidung. Flucht ist eine von der Forschung wiederholt thematisierte Reaktion der Menschen auf den Ausbruch der Pest. 2 Zu 1 Zu den Seuchenkonzepten des Mittelalters und der frühen Neuzeit vgl. exemplarisch N EITHARD B ULST , Die Pest verstehen. Wahrnehmungen, Deutungen und Reaktionen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: D IETER G ROH (Hg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Literatur und Anthropologie 13), Tübingen 2003, S. 145-163; T HILO E SSER , Pest, Heilsangst und Frömmigkeit. Studien zur religiösen Bewältigung der Pest am Ausgang des Mittelalters (Münsteraner Theologische Abhandlungen 58), Altenberge 1999, S. 27-39; P ATRICK S TURM , Leben mit dem Tod in den Reichsstädten Esslingen, Nördlingen und Schwäbisch Hall. Epidemien und deren Auswirkungen vom frühen 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert (Esslinger Studien. Schriftenreihe 23), Ostfildern 2014, S. 73-101; J OHANN W ERFRING , Der Ursprung der Pestilenz. Zur Ätiologie der Pest im loimographischen Diskurs der frühen Neuzeit (Medizin, Kultur und Gesellschaft 2), Wien 1998; K ATHARINA W OLFF , Krankheit, Konzept und Kollektiv. Städtische Pestbewältigung und die Suche nach ihren Wurzeln, in: S TEFAN L EENEN u. a. (Hg.), Pest! Eine Spurensuche, Darmstadt 2019, S. 231-241, hier 232-235. 2 Vgl. exemplarisch H EINRICH D ORMEIER , Die Flucht vor der Pest als religiöses Problem, in: K LAUS S CHREINER (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen und politisch-soziale Zusammenhänge (Schriften des Historischen Kollegs 20), München 1992, S. 331-397; M ONIKA H ÖHL , Die Pest in Hildesheim. Krankheit als Krisenfaktor im städtischen Leben des Mittelalters und der frühen Neuzeit (1350-1750) (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim 28), Hildesheim 2002, v. a. S. 254-281; H EINZ -P ETER S CHMIEDEBACH / M ARIACARLA G ADEBUSCH -B ONDIO , »Fleuch pald, fleuch ferr, kum wider spet …«. Entfremdung, Flucht und Aggression im Angesicht der Pestilenz (1347-1350), in: I RENE E RFEN / K ARL -H EINZ S PIESS (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, S. 217-234; zur Flucht aus bzw. in Reichsstädte siehe C HARLOTTE B ÜHL , Die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Nürnberg (1483/ 84 bis 1533/ 34), in: R UDOLF E NDRES (Hg.), Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete (Erlanger Forschungen A 46), Erlangen 2000, S. 121-168, hier 127-133; F RITZ D ROSS , Ich aber will hinauß spatziern, Da ich frisch, frey und sicher bin. Aussatz- <?page no="58"?> P ATRICK S T UR M 58 verstehen ist darunter der Ortswechsel angesichts eines Pestausbruchs am Wohnort. Das Verhalten stellte damit auch eine Form der Meidung dar, indem eine Umgebung mit krankmachenden Einflüssen verlassen und ihr dadurch ferngeblieben wurde. Meidung als bewusstes Sich-Fernhalten von einer Sache, in diesem Fall von schädlichen Einflüssen und Infektionsquellen, ist in Bezug auf die Pest und deren Bewältigung relativ weit gefasst. Sie bezeichnet im Gegensatz zur Flucht nicht eine einzelne konkrete Maßnahme, sondern ein Bündel verschiedenster Handlungsformen. Diese reichen vom Ablassen von einem sündhaften Lebenswandel über das Meiden stinkender, ›giftiger‹ Luft und das Sich-Fernhalten von Infizierten und Kontaktpersonen bis hin zum Vermeiden bestimmter Lebensmittel und Handlungen gemäß humoralpathologischer Vorstellungen. Nachfolgend ist Meidung beschränkt auf Verhaltensweisen nach damaligem medizinischem Verständnis im Umgang mit Menschen und Dingen, die eine nicht fliehende Person zu ihrem Schutz ergriff oder die Personen aus pestfreien Orten im Umgang mit Betroffenen anwendeten, um sich krankmachenden Einflüssen und Infektionsrisiken im Alltag zu entziehen. Im vorliegenden Beitrag ist zu zeigen, wie die beiden Reaktionen der Flucht und der Meidung im ausgehenden Mittelalter auf Grundlage der seuchentheoretischen Vorstellungen als Mittel zum Seuchenschutz hergeleitet und davon ausgehend praktisch umgesetzt wurden. Neben den Unterschieden werden die Verbindungen und Wechselwirkungen beider Maßnahmen dargestellt. Es waren im Verständnis der Zeit nämlich keine gegenläufigen Handlungsweisen. Den Menschen standen angesichts der vielen damals vermuteten Seuchenursprünge stets mehrere Mittel zum Seuchenschutz zur Verfügung. 3 praktiken im frühneuzeitlichen Nürnberg, in: G UY T HEWES / M ARTIN U HRMACHER , Extra muros: vorstädtische Räume in Spätmittelalter und früher Neuzeit: Espaces suburbains au bas Moyen Âge et à l’époque moderne (Städteforschung A 91), Wien 2019, S. 299-332, hier 320-325; C AROLIN P ORZELT , Die Pest in Nürnberg. Leben und Herrschen in Pestzeiten in der Reichsstadt Nürnberg (1562-1713) (Forschungen zur Landes- und Regionalgeschichte 7), St. Ottilien 2000, v. a. S. 45-52; P ATRICK S TURM , »[…] dass die burger niemanden frembden, dern orten die pestis regiert, ohne eins erbarn raths wissen unnd bewilligen, sollen einemen« - Theorie und Praxis von Fluchtaktionen vor der Pest am Beispiel der Reichsstadt Nördlingen, in: C ARL C HRISTIAN W AHRMANN / M ARTIN B UCHSTEINER / A NTJE S TRAHL , Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten (Historische Forschungen 95), Berlin 2012, S. 187-209; P. S TURM , Leben (Anm. 1), v. a. S. 362-380. Zur Flucht von Universitätsangehörigen vgl. U LRICH K NEFELKAMP , Die Viadrina flieht vor der Pest, in: Jahresbericht. Forschungsstelle für vergleichende Universitätsgeschichte gemeinsam mit dem Förderverein zur Erforschung der Geschichte der Viadrina 1 (1997), S. 52-67; K ONRAD M. M ÜLLER , Flucht der Universitäten Freiburg, Heidelberg und Tübingen vor der Pest, in: Freiburger Universitätsblätter 50 (2011), S. 41-60. 3 Vgl. K. W OLFF , Krankheit (Anm. 1), S. 237. <?page no="59"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 59 1. Flucht und Meidung in der Seuchentheorie Der Ratschlag des Ulmer Stadtarztes Heinrich Steinhöwel aus dem Jahr 1473, Fluich bald / fluich ferr / kom spaet herwider wann fuir war das synd drui nuiczere kruiter wann ein gancze apoteck, gehörte in verschiedenen Varianten zum Repertoire mittelalterlicher Pestschriften und benennt wesentliche, bei einer Pestflucht zu berücksichtigende Aspekte. 4 Die Empfehlung zur Flucht »als die erste und einzige einigermaßen verläßliche Präventivmaßnahme« wird von der Forschung als Ausdruck der »Hilflosigkeit« der Ärzte im ausgehenden Mittelalter interpretiert. 5 Sie gilt im Sinne retrospektiver Diagnostik aber auch in Ermangelung wirksamer Behandlungsmethoden als einzig sinnvoller ärztlicher Ratschlag gegen die Pest. 6 Diese Darstellung ist insofern unkritisch, als sie heutige medizinische Standards an die historischen Verhältnisse anlegt. Aus damaliger Sicht stellte die Flucht ebenfalls ein medizinisch sehr effizientes Mittel zum Schutz vor der Pest dar. Mit ihrer Hilfe konnten sich Menschen dem krankmachenden Einfluss verunreinigter Luft, dem sogenannten Miasma, die im Mittelalter als wesentlicher Ursprung der Seuche galt, entziehen. Daher sollte man, so der Magister Philipp Culmacher aus Eger 1495, in stette in dem die pestelentz nicht regirt/ oder in dem sie tzu voran gereigirt hat/ do selbst ein iar vorgangen oder auffs wenigst vor sechß monaten auff gehort, [ziehen,] wann in solicher zeit, ist moglichen das dy vorgifftige lufft, aldo vorgangen oder gereiniget ist. 7 Neben der Vermeidung der schädlichen Auswirkungen der Luft galt es auch, sich von den Erkrankten zu distanzieren. So heißt es in einer Straßburger Pestschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, [d]az beste vnd daz sicherste ist sere fliehen von den die iß hant. 8 Es war folglich nicht nur das Aufsuchen eines Ortes mit gesunder, reiner Luft intendiert, sondern auch der Schutz vor einer direkten Ansteckung. So bezeichnete es der Nürnberger Arzt Johann Lochner zu dieser Zeit in einer umfas- 4 H EINRICH S TEINHÖWEL , Büchlein der ordnung, wie sich der mensch halten sol, zu den zyten diser grusenlichen Kranckheit, Ulm 1473, [S. 11]. Siehe verschiedene Varianten dieses auf den persischen Arzt Rhazes (854-925) zurückgehenden Ratschlags bei J OHANNES N OHL , Der schwarze Tod. Eine Chronik der Pest 1348 bis 1720 (Der Kulturspiegel 2), Potsdam 1924, S. 105. 5 H. D ORMEIER , Flucht (Anm. 2), S. 332. 6 N. B ULST , Pest (Anm. 1), S. 160; N EITHARD B ULST , Der »Schwarze Tod« im 14. Jahrhundert, in: M ISCHA M EIER (Hg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 142-161, hier 148. 7 P HILIPP C ULMACHER , Regimen zu deutsch Magistri philippi Culmachers von Eger wider die grausamen erschrecklichenn Totlichen pestelentz, Leipzig um 1495, fol. 5v-6r. 8 K ARL S UDHOFF , Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des »schwarzen Todes« 1348, XVI. Pesttraktate aus Südwestdeutschland und der Schweiz, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 16 (1924), S. 1-69 [Nr. 167- 192], hier Nr. 175/ 176, S. 15. <?page no="60"?> P ATRICK S T UR M 60 senden Auslegung als das pest [ = beste] remedium, weyt vnd breyt zu fliehen den selben lufft vnd do pey tzu negst vnd die wonung, die stet, die gemecht, die person, die leut, die pestilentz haben vnd die in dem lufft der pestilentz wonen oder dar auß kommen oder die pey pestilentzigen lewten gewesen sin. 9 Die Flucht schützte vor mehreren Infektionsquellen, indem sie gleichermaßen Schutz vor Kranken und Kontaktpersonen wie auch vergifteter Luft und davon belasteten Örtlichkeiten bot. Damit stellte sie ein umfassendes prophylaktisches Mittel in Pestzeiten dar, das zumindest für den Moment in vielerlei Hinsicht Sicherheit verschaffen konnte. Einschränkend zu dem aus medizinischer Sicht positiven Bild der Flucht ist anzumerken, dass die Pestflucht aus religiöser Perspektive auch negative Zuschreibungen erfuhr. Seit dem 14. Jahrhundert stellten Prädestinationslehren sie als unsinniges Unterfangen dar, weil das Schicksal eines Menschen ohnehin von Gott vorherbestimmt sei. Somit könne sich ein Mensch durch einen Ortswechsel nicht der Pest entziehen. Ebenso wurde kritisiert, dass die Flucht gegen das Gebot der Nächstenliebe verstoße. 10 Schützte die Flucht nach zeitgenössischer medizinischer Auffassung somit am besten vor der Pest, sollten alle am Ort des Seuchengeschehens befindlichen Menschen zumindest durch die Meidung krankmachender Einflüsse und Kontakte einer Ansteckung vorbeugen. Die vorrangige Bedeutung vergifteter Luft als Ursache der Pest rückte diese wie bei der Flucht auch hier in den Fokus der Pestschriften. Einschlägige Empfehlungen folgten für gewöhnlich unmittelbar auf den Ratschlag zur Flucht. So riet der Nürnberger Wundarzt Hans Folz in seiner Pestschrift von 1482 wegen der Luft als Ursache der Pest zum Verlassen des verseuchten Ortes. Wer hingegen nicht fliehe, solle sein Haus durch Räuchern präparieren. 11 In erster Linie war die eigene Wohnstätte sauber zu halten und die dortige Luft von Gestank zu befreien, wie der Arzt Dr. Hartmann Schedel empfahl. Dieser wies auf verschiedene Mittel und Wege zum korrekten Lüften und Räuchern hin und mahnte vor Nordwind. 12 In den Pestschriften wurde auch zwischen der Luft in einer Wohnung und derjenigen im Freien differenziert. Heinrich Laufenberg empfahl in seinem 1500 gedruckten Pesttraktat, am besten im Haus zu bleiben und nur selten hinauszugehen. 9 K ARL S UDHOFF , Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des »schwarzen Todes« 1348, XIV. Pesttraktate aus Süddeutschland in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 14 (1922), S. 79-105 [Nr. 135-146], hier Nr. 138, S. 85. 10 N. B ULST , Pest (Anm. 1), S. 160; H. D ORMEIER , Flucht (Anm. 2), S. 343-349, 363. 11 H ANS F OLZ , [Von der Pestilenz] Item ein fast köstlicher spruch von der pestilencz, Nürnberg 1482, fol. 3v. 12 K ARL S UDHOFF , Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des »schwarzen Todes« 1348, XV. Pesttraktate aus dem östlichen Süddeutschland, Böhmen und Österreich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 14 (1923), S. 129-168 [147-166], hier Nr. 151, S. 141. <?page no="61"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 61 Von Kranken und deren Häusern habe man sich fernzuhalten. 13 In ähnlicher Weise riet Philipp Culmacher 1495, lieber im Haus zu verharren, weil es an der Luft infolge des Einflusses der Gestirne gefährlicher sei. 14 Die beiden Ratschläge dürften nicht zuletzt auch dem Umstand geschuldet sein, dass innerhalb der Wohnung eine Luftkorrektur einfacher umzusetzen war als unter freiem Himmel, wo sich Duftstoffe rasch verflüchtigen. Darüber hinaus diente die Empfehlung, stinkende Materie und Orte zu meiden oder solche gesundheitsgefährdenden Zustände abzuschaffen, dem Schutz vor verunreinigter Luft. 15 Heinrich Steinhöwel riet, dass Din hus sy ferr als du magst von stinckenden stetten/ als schlachthuiser kirchhoff/ vnd deß gelichen. 16 Philipp Culmacher führte als belastete Orte auch heimliche Gemächer und stinkende Pfützen an. 17 Der Bezug zwischen Wohnstätte und Umweltbedingungen, wie er sich auch in zeitgenössischen Traktaten zum Bauwesen findet, verdeutlicht, dass Pestprävention, oder hier im Speziellen die angeführte Meidung krankmachender Einflüsse, nicht nur während einer Pestepidemie Bedeutung besaß. Sie war ebenso in seuchenfreien Zeiten von den Menschen zu berücksichtigen. 18 Die Meidung von Infektionsquellen betraf schließlich auch die Pestkranken selbst, von denen sich die Menschen fernhalten sollten. In einer anonymen Pestschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird etwa ausgeführt, man solle beim Sprechen nicht zu nahe bei Infizierten stehen. 19 Der Augsburger Arzt Ambrosius Jung erläuterte diesbezüglich, dass sich in schlecht oder gar nicht durchlüfteten 13 H EINRICH L AUFENBERG , Ein tractat contra pestem. Preservative und regiment, Straßburg 1500, fol. 8v. 14 P. C ULMACHER , Regimen (Anm. 7), fol. 9r. 15 Zu Fäkalien vgl. P ATRICK S TURM , »sagen all natürlich arczt, der mensch, der von bösem gestanck kranck wirdet, dem sey nit ze helffen« - Fäkalien in der Seuchentheorie und -bekämpfung an der Wende von Mittelalter zur Frühneuzeit, in: O LAF W AGENER (Hg.), Aborte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Bauforschung, Archäologie, Kulturgeschichte (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 117), Petersberg 2014, S. 219- 227, hier besonders S. 220f. 16 H. S TEINHÖWEL , Büchlein (Anm. 4), S. 13. 17 P. C ULMACHER , Regimen (Anm. 7), fol. 8r-8v. 18 Vgl. jüngst A NNEMARIE K INZELBACH , Policing Environment in Premodern Imperial Cities and Towns. A Preliminary Approach, in: C AROLE R AWCLIFFE / C LAIRE W EEDA (Hg.), Policing the Urban Environment in Premodern Europe, Amsterdam 2019, S. 231-270. 19 K ARL S UDHOFF , Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des »schwarzen Todes« 1348, VII. Pesttraktate aus dem südlichen Deutschland bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 8 (1915), S. 175-215 [Nr. 71-81], hier Nr. 74, S. 180. <?page no="62"?> P ATRICK S T UR M 62 Räumen Gesunde durch den Atem der Kranken infizieren könnten. 20 Überhaupt sind in Pestschriften für gewöhnlich Regeln für das Atmen sowie für das Präparieren der (Atem-)Luft durch Riechmittel und durch Räuchern angeführt. 21 Philipp Culmacher riet in seiner Pestschrift neben dem Fernhalten von Pestkranken auch dazu, das Essen mit ihnen zu meiden und ihre Kleidung nicht zu benutzen. Er dehnte ferner den zu meidenden Bereich über die pestkranke Person hinaus auf Menschen und Häuser aus, die mit der Pest umgeben waren. 22 Ebenso empfahl Hans Folz 1482: auch wo ein menschen sterb in eym haws do meyd all die gen ein vnd aws. 23 Hier bestand eine unmittelbare Verbindung zur Flucht. Starb nämlich im eigenen Haus oder in der Nachbarschaft jemand an der Pest, so riet auch Dr. Hartmann Schedel zur baldigen Flucht an einen unverdächtigen Ort. 24 Im Hinblick auf eine direkte Ansteckung war zudem von Genesenen und Kontaktpersonen fernzubleiben. Ihnen haftete das Stigma an, eine Quelle für die Ansteckung mit der Pest zu sein. Um solche Kontakte zu vermeiden, sollte man von Versammlungen bzw. der Gemeinschaft vieler Menschen fernbleiben, weil einer viele anstecken könne. 25 In diesem Sinne waren öffentliche Orte mit erhöhtem Menschenaufkommen zu meiden, nämlich Kaufhaus, Märkte, Kirchen, Wirtshäuser und Badestuben. 26 Straßburger Ärzte wiesen überdies auf das Fernhalten von infizierten Gemeinschaften hin. Dabei erachteten sie neben der Ansteckung über die Atemluft durch Anhauchen auch längere Beiwohnung als eine Ursache für die Übertragung der Pest. 27 20 A MBROSIUS J UNG , Ein außerwelt loblich tractat und regiment in dem schwären zeit der pestilentz, Augsburg 1494, fol. BIIr. 21 Vgl. A NTON B REHER , Der Memminger Stadtarzt Ulrich Ellenbog und seine Pestschriften, Diss. Med. Berlin [1942], S. 45, 53, 94; K ARL S UDHOFF , Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des »schwarzen Todes« 1348, II., in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 4 (1911), S. 389-424 [10-20], hier Nr. 20; D ERS ., Pestschriften VII. (Anm. 19), Nr. 74; D ERS ., Pestschriften XIV. (Anm. 9), Nr. 137a, 138; D ERS ., Pestschriften XV. (Anm. 12), Nr. 147. 22 P. C ULMACHER , Regimen (Anm. 7), fol. 8v. 23 H. F OLZ , Von der Pestilenz (Anm. 11), fol. 8v. 24 K. S UDHOFF , Pestschriften XV. (Anm. 12), Nr. 153, S. 145. 25 Dr. Hartmann Schedel empfahl dies zum Beispiel in einem Schreiben an den Abt und die Brüder des Klosters Heilsbronn aus dem Jahr 1494: Caueant multorum conuersacionem precipue de locis suspectis veniencium, quia vnus multociens multos inficit. K. S UDHOFF , Pestschriften XV. (Anm. 12), Nr. 151, S. 141; vgl. auch D ERS ., Pestschriften XV. (Anm. 12), Nr. 153, S. 145. 26 P. C ULMACHER , Regimen (Anm. 7), fol. 8v; K. S UDHOFF , Pestschriften VII. (Anm. 19), Nr. 74, S. 180; D ERS ., Pestschriften XV. (Anm. 12), Nr. 147, S. 130. 27 […] behudent uch wol vor der geselschafft, die da beklept sind mit der pestilentie, want die pestilentie gern von eynn zu dem andern mit anhuchen ader lange wonende bij in. K. S UDHOFF , Pestschriften XVI. (Anm. 8), Nr. 175/ 176, S. 17f. <?page no="63"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 63 2. Pestflucht in der Praxis Die Flucht vor der Pest ist in den Quellen wiederholt als Reaktion der Zeitgenossen auf einen Seuchenausbruch belegt. Zum Beispiel flüchteten in den Jahren 1437, 1494, 1505 und 1533 Menschen aus Nürnberg vor der Pest 28 sowie 1420, 1463 und 1521 aus Augsburg. Ziel waren zumeist andere Städte. 29 Die Augsburger Flüchtlinge begaben sich 1521 beispielsweise nach Ulm, Lauingen und Donauwörth. 30 Belege über die Flucht vor der Pest und ihre Auswirkungen enthalten neben Chroniken zeitgenössische Korrespondenz und städtisches Verwaltungsschriftgut. Hier finden sich Berichte über abwesende Ratsangehörige, so in Nördlingen 1438/ 39, 1503 und 1521. 31 Dies schränkte die Handlungsfähigkeit der Ratsgremien zuweilen ein, und Gerichtssitzungen mussten wegen der Abwesenheit von Beteiligten aufgeschoben werden. 32 Schulen blieben wegen der Flucht der Schulmeister geschlossen. 33 Auch das private Lebensumfeld blieb von der Pestflucht nicht unberührt. Ortswechsel mussten kommuniziert werden, sonst wurden zum Beispiel Handelspartner nicht angetroffen, wie es 1438 einem Nördlinger Bürger in Augsburg passierte. 34 Mit der Flucht war allerdings das Risiko zu einer Verbreitung der Seuche verbunden. So mahnte der Arzt Dr. Hermann Schedel 1453 in einem Schreiben an Bischof Johann von Aich zu Eichstätt, dass die Pest durch die Flucht weiter einreißen könne. Er riet zum Einstellen von Beziehungen zu infizierten Orten. 35 Trotz derartiger 28 Endres Tucher’s Memorial, 1421 bis 1440, in: Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, Bd. 2 (DStChr 2), Leipzig 1864, S. 1-51, hier 26f.; Leonhart Widmann’s Chronik von Regensburg, 1511-1543, 1552-1555, in: Die Chroniken der baierischen Städte. Regensburg, Landshut, Mühldorf, München (DStChr 15), Leipzig 1878, S. 1-244, hier 128; Tucher’sche Fortsetzung der Jahrbücher bis 1469-1499, in: Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, Bd. 5 (DStChr 11), Leipzig 1874, S. 443-531, hier 506. 29 ›Cronica newer geschichten‹ von Wilhelm Rem 1512-1527, in: Die Chroniken der schwäbischen Städte, Augsburg, Bd. 5 (DStChr 25), Leipzig 1896, S. 1-241, hier 162; Chronik des Burkard Zink. 1368-1468, in: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg, Bd. 2 (DStChr 5), Leipzig 1866, S. 68, 293. 30 ›Cronica newer geschichten‹ von Wilhelm Rem (Anm. 29), S. 162. 31 StadtA Nördlingen, Denkbuch Schmalfolio 1439-1454, S. 3; Missiven 1438, fol. 160; Missiven 1521, fol. 132.; Missivenbuch 1503, fol. 139v. 32 Vgl. zu den Auswirkungen der Pestflucht exemplarisch C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 131-133; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 234, 236f., 239-242. 33 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 251-254. 34 StadtA Nördlingen, Missiven 1438, fol. 151. 35 Terra enim inquit, in qua antrax et pestilentia afluerit, fugenienda erit. Eo etiam casu fugiendi sunt, qui a locis infectis vernerint quantumcunque sanissimi apparuerint. Persepe enim visum est, solum cum talibus colloquentes peste mori, quamuis illi non moriantur et est simile. Nam interdum ignis in straminibus quantumcumque siccis existens nequit inflammare utrumque, et causa a se quia actus actiuarum non reperitur nisi in subiecto et bene disposito secundo de anima et prima quarti, capitulo de pestilentia. Et illo modo per viam <?page no="64"?> P ATRICK S T UR M 64 Warnungen ist das Einschleppen der Pest in andere Städte wiederholt belegt. 36 Der Nürnberger Flüchtling Linhart Tucher berichtete seinem Vater Anton in einem Schreiben vom 9. Oktober 1520, dass in Nördlingen durch fremdt lewt […] auch zway hewßer sein vergyft worden. 37 Genauere Informationen erhielt Anton Tucher von Hans Volkmer am 26. November 1520, wonach das Sterben vom Neckar und aus Dinkelsbühl nach Nördlingen eingeschleppt worden sei. 38 Ungeachtet des Risikos zur Verbreitung der Pest ist die Flucht im Empfinden der Zeitgenossen des ausgehenden Mittelalters als übliches Phänomen während der Pestgänge anzusehen. Dies mag Burkard Zinks Beschreibung der Verhältnisse in Augsburg unterstreichen: Item da man zalt 1420 jar da starb hie fast vil volk und fluhen die leut auß der stat, als man dann tuet, dann iedermann wolt geren leben. 39 Je nach Ausmaß des Fluchtgeschehens ergaben sich mehr oder minder spürbare Auswirkungen auf die Verwaltung und das Leben in den Städten. Bei starken Fluchtbewegungen waren ganze Häuser verwaist, die wie in Nürnberg vor Einbrüchen und Plünderungen geschützt werden mussten. 40 Den Zurückgebliebenen gelang es jedoch immer wieder, insbesondere das infolge der Pestflucht eintretende Machtvakuum in der städtischen Führungsschicht zu kompensieren. Das Verwaltungshandeln und das städtische Leben erfuhren zwar angesichts der Abwesenheit von Bürgermeistern, Ratsherren sowie anderen Amtsträgern und Bürgern Veränderungen, zuweilen auch Störungen. Zu nachhaltigen Schädigungen oder gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen führten die Fluchtbewegungen allerdings nicht. Vielmehr machten sich die Kommunen die Abwesenheit von Führungskräften zunutze und setzten sie argumentativ geschickt zu ihrem politischenVorteil ein. 41 contagij plures civitates, ville et domus sepius inficiuntur, quadecausa rei publice gubernatores conversationem loca inhabitantium infecta suis debent inhiberi, ymmo collucucionem talium de propinquo; K. S UDHOFF , Pestschriften XIV. (Anm. 9), Nr. 140, S. 93. 36 Vgl. C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 127f.; M ARIUSZ H ORANIN , Die Pest in Augsburg um 1500. Die soziale Konstruktion einer Krankheit, Diss. Göttingen 2019, in http: / / hdl. handle.net/ 11858/ 00-1735-0000-002E-E61D-4 (aufgerufen am 2.2.2020), hier S. 107; P. S TURM , Theorie (Anm. 2), S. 203. 37 StadtA Nürnberg, E 29/ IV, Nr. 316. 38 StadtA Nürnberg, E 29/ IV, Nr. 1571. 39 Chronik des Burkard Zink (Anm. 29), S. 68. 40 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 129. 41 Vgl. etwa die Ambivalenz zwischen entschuldigendem Gebaren der zurückgebliebenen Ratsherren und der Rückforderung flüchtiger Räte mit dem Hinweis auf die Amtsgeschäfte bei C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 133. Siehe auch weiterführend C HRISTINE O TTNER , Argumentieren mit der Pest. Frühneuzeitliche Beispiele aus Perspektive der Stadtobrigkeit von Krems an der Donau, in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 74 (2003), S. 238-251, hier 239-243; P. S TURM , Leben (Anm. 1). S. 128-134. <?page no="65"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 65 Viele Belege zur Pestflucht beziehen sich auf ehrbare, reiche Bürger, die Angehörigen der städtischen Führungsschicht, des Patriziats oder zumindest gut situierte Amtsträger und Händler. Sie besaßen die nötigen Ressourcen, um die nicht unwesentlichen Kosten für Reise, Kost und Logis in der Fremde zu tragen und sich über mehrere Monate durch einen Ortswechsel der Pest zu entziehen. Ein wichtiges Kriterium für eine Pestflucht stellten damit die finanziellen Möglichkeiten dar. 42 Nicht zu unterschätzen waren allerdings auch persönliche Beziehungen, die die Organisation eines Quartiers an einem seuchenfreien Ort erleichterten und die Kosten verringern konnten. Die Flucht vor der Pest blieb als Handlungsoption aber nicht auf die Reichen beschränkt. Berichte wie in Endres Tuchers Memorial über das Sterben 1437 in Nürnberg (es waren erber leut und arm leut, maide und knecht und junge kint geflohen 43 ) oder 1467 aus Memmingen (Es flohen die Reichen und viel Volks hinaus 44 ) weisen eindeutig auch auf die Flucht von Angehörigen der mittleren und unteren sozialen Schichten hin. 45 Genauer weiß der Augsburger Kaufmann Wilhelm Rem über das Pestjahr 1521 zu berichten, dass die Handwerksleute in die Dörfer an den Ausfallstraßen der Reichsstadt flohen. 46 Hier zeigt sich, dass Fluchtaktionen ärmerer Menschen angesichts der Voraussetzungen anders verliefen. Nicht in weit entfernten Städten, sondern in nahegelegenen Dörfern - und möglicherweise bei Verwandten auf dem Land - suchten sie Schutz. Aus Kleinstädten ist die Flucht auf die Felder belegt, wo die Menschen vorübergehend in notdürftig errichteten Hütten kampierten. 47 Die lediglich punktuelle Überlieferung macht die Flucht ärmerer Bevölkerungsgruppen quantitativ nicht greifbar, um sie annähernd sicher in Relation zum Fluchtverhalten der städtischen Eliten zu setzen. Es ist jedoch anzunehmen, dass Handwerker und ärmere Menschen insgesamt seltener und weniger zahlreich das Mittel 42 Vgl. zu den Kosten einer Fluchtaktion exemplarisch die beiden Teile des Rechnungsbuchs der Magarethe Tucher aus den Jahren 1533/ 34; StadtA Nürnberg, E29/ IV, Nr. 978, 982; hierzu auch P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 376f. 43 Endres Tucher’s Memorial (Anm. 28), S. 26. 44 K ARL W ANKMÜLLER , Die Pest in der freien Reichsstadt Memmingen, Diss. med. masch. Frankfurt am Main 1951, S. 3. 45 1597 floh zum Beispiel eine Magd aus Dinkelsbühl nach Nördlingen, wo sie eine Unterkunft bei einer Fürkäuflerin fand; P. S TURM , Leben (Anm. 2), S. 106. 46 ›Cronica newer geschichten‹ von Wilhelm Rem (Anm. 29), S. 162. 47 P ATRICK S TURM , Die Pest in Camberg. Beeinflussung eines kleinstädtischen Lebensraumes durch die Pest vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in: Historisches Camberg 45 (2010), S. 38-64, hier 45f. Vgl. analoge Verhaltensweisen im 17. Jahrhundert bei E LKE S CHLENKRICH , Gevatter Tod. Pestzeiten im 17. und 18. Jahrhundert im sächsisch-schlesisch-böhmischen Vergleich (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 36), Stuttgart 2013, S. 156; K IRSTEN R ENATE S EELBACH , In dieser harten und sterbenden Zeit. Maßnahmen gegen die Pest 1620-1750, Marburg 2007, S. 171. <?page no="66"?> P ATRICK S T UR M 66 der Flucht ergriffen als wohlhabende Bürger, worüber die angeführten Belege nicht hinwegtäuschen sollen. In diesem Sinne sind auch die 1533 verfassten Zeilen des Nürnbergers Michael Behaim an seinen in Krakau befindlichen Vetter Paulus zu verstehen, dass mer dan 1/ 3 der gantzen stadt wegk geflohen, forderlich was die erbarn belangt, nyemandt in Nurmbergk ist, dan die 7 alten herrn. Auch ist bey menschen gedechtnus nie erhoerdt worden, daß das handtwergksvolck den sterben so seer geflohen hat, als dismals. 48 Die Flucht von Handwerkern - und ärmeren Menschen - stellte demnach nichts Außergewöhnliches dar, ihr massives Auftreten hingegen schon. Denn war die Flucht schon für vermögende Bürger nicht zuletzt mit wirtschaftlichen Risiken verbunden, 49 so galt dies insbesondere für die ärmeren Stadtbewohner. In einem Augsburger Traktat von 1518 heißt es vor diesem Hintergrund, dass viele Menschen geschäffts und zerung halben an ihrem Heimatort bleiben müssten. 50 Es waren alltäglich-existenzielle Zwänge, die zumeist in Verbindung mit finanziellen Möglichkeiten für viele Menschen eine längere Abwesenheit vom Heimatort bzw. der Werkstätte nicht zuließen. Die Beispiele mögen verdeutlichen, dass die verbreitete Forschungsmeinung, dass nur oder zumeist vermögende Personen vor der Pest flohen, 51 zu relativieren ist. In der Tat ergriffen in Seuchenzeiten die Reichen und Angehörigen der städtischen Führungsschicht regelmäßig die Flucht und besaßen hierzu bessere Voraussetzungen. Nicht minder reagierten auch ärmere Menschen mit Flucht, 52 was in der Überlieferung aber nur sporadisch abgebildet ist. Die Forschungsposition zur Pestflucht als primärer Handlungsoption der Reichen und Eliten ist daher nicht zuletzt als Folge eines Quellenproblems anzusehen. 3. Flucht nach Anleitung? Die Verfasser der Pestschriften rieten den Menschen dazu, die Flucht rasch anzutreten, weit weg zu gehen und erst spät zurückzukehren. Wenn Nürnberger Bürger wiederholt nach Nördlingen im Ries flohen oder Augsburger Bürger in Ulm, Lauin- 48 J OHANN K AMANN , Aus Paulus Behaims I. Briefwechsel, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 3 (1881), S. 73-154, hier 107. 49 Vgl. die Ausführungen des Nürnberger Dichters Hans Sachs von 1563 bei C. P ORZELT , Pest (Anm. 2), S. 46f. Bereits 1533 stellte der Nürnberger Stadtrat einen Wachtmeister an, um die leerstehenden Häuser der Geflüchteten »vor Einbrüchen und Plünderungen zu schützen«; C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 1), S. 129. 50 M. H ORANIN , Pest (Anm. 36), S. 107. 51 F. D ROSS , Aussatzpraktiken (Anm. 2), S. 320f.; M. H ORANIN , Pest (Anm. 36), S. 107; A NNEMARIE K INZELBACH , Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500-1700 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 8), Stuttgart 1995, S. 205. 52 H.-P. S CHMIEDEBACH / M. G ADEBUSCH -B ONDIO , Fleuch pald (Anm. 2), S. 227. <?page no="67"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 67 gen und Donauwörth Schutz suchten, wurde das Kriterium der hinreichenden Entfernung erfüllt. Der genauere Blick auf die Fluchtaktionen einzelner Personen offenbart jedoch Abweichungen zu den Empfehlungen der Traktatliteratur als den medizinischen Handlungsleitfäden der Zeit. 1462, so berichtet Burkard Zink, habe trotz mehrerer Seuchen niemand Augsburg verlassen, was ungewöhnlich gewesen sei. Erst als im Folgejahr das Sterben über längere Zeit stärker wurde, ward den reichen leuten grausen und fluhen sicher gar vil, daß man es wol prüefet ze kirchen und zu straß, es was überall weit in den kirchen und auf den gaßen. 53 Konnte die Flucht in schweren Sterbensläuften sichtbare Spuren im täglichen Leben der Reichsstädte hinterlassen, so war das Ausmaß einer Epidemie bzw. die Gefahr durch die Pest ein Regulativ für das Fluchtverhalten. Die Menschen flohen in erster Linie, wenn die Situation es angesichts ihrer Bedrohlichkeit erforderte und nicht unmittelbar beim Ausbruch der Pest, sozusagen einem Automatismus folgend. Die Nürnberger Familie Rosenberger war zum Beispiel 1533 wegen einer Seuche nach Nördlingen geflohen. Als auch dort die ersten Seuchenfälle auftraten, zog sie im Oktober 1533 weiter nach Ulm. Ungefähr fünf Wochen später kehrten die Rosenbergers nach Nördlingen zurück. Margarethe Tucher zog daraus den Schluss, dass in Ulm ebenfalls die Pest ausgebrochen sei. 54 Die Familie Rosenberger entschied sich wohl für den Aufenthalt in Nördlingen, weil es dort trotz des moderaten Seuchengeschehens im Vergleich zu anderen Städten am sichersten gewesen sein dürfte. Belege über die Motive und das Verhalten von Pestflüchtigen lassen das Bemühen der Menschen erkennen, den Verlauf einer Epidemie genau zu verfolgen. Sie sammelten Informationen zum Seuchengeschehen, kommunizierten über die Ausbreitung der Pest. Brach sie in der eigenen Stadt aus, waren die Bürger alarmiert, aber beobachteten zunächst das Geschehen. Begann die Pest stärker zu grassieren, entschied der Einzelne, wann für ihn das Infektionsrisiko zu hoch wurde, um dann die Stadt zu verlassen. 55 Margaretha und Lorenz Tucher, 1533 vor der Pest von 53 Chronik des Burkard Zink (Anm. 29), S. 293. 54 StadtA Nürnberg, E 29/ IV, Nr. 978. 1520 zogen ebenso die Augsburger Flüchtlinge nach dem Pestausbruch in ihrem Refugium Donauwörth weiter nach Ulm; ›Cronica newer geschichten‹ von Wilhelm Rem (Anm. 29), S. 162. Die Nürnberger Familie Tetzel stellte 1520 Überlegungen hinsichtlich einer Risikoeinschätzung der Pest an ihrem Fluchtort Weißenburg und einer möglichen Übersiedlung in ein anderes Refugium an; M ATTHIAS B EER , Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400-1550) (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 44), Nürnberg 1990, S. 280f. 55 P ATRICK S TURM , Johannes Reuchlin und die Pest. Kenntnisse, Erfahrungen und Reaktionen eines Humanisten, in: K LARA D EECKE / S ONJA H ILLERICH (Hg.), Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, Bd. 6, Heidelberg u. a. 2020, S. 55-84, hier 72f., 75-78; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 363f.; O TTO U LBRICHT , Pesterfahrung: »Das Sterben« und der Schmerz in der Frühen Neuzeit, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 15 (1996), S. 9-35, hier 17f. <?page no="68"?> P ATRICK S T UR M 68 Nürnberg nach Nördlingen geflohen, führten mit Linhart Tucher im heimischen Nürnberg einen regen Briefwechsel, in dem auch das Seuchengeschehen in den beiden Reichsstädten thematisiert wurde. 56 Als die ersten Seuchenfälle in Nördlingen bekannt geworden waren, suchte man zunächst Schutzmöglichkeiten am Fluchtort für den Fall eines stärkeren Einreißens der Seuche. Andere Nürnberger Flüchtlinge zogen indessen an andere, vermeintlich sichere Orte weiter - wie am Beispiel der Familie Rosenberger gezeigt. 57 Überstürztes, panikartiges Verhalten lässt sich für gewöhnlich nicht nachweisen. Vielmehr herrschten Pragmatismus und Planung vor: Linhart Tucher war im Pestjahr 1520 mit seiner Familie von Nürnberg nach Nördlingen geflohen. Am Fluchtort hielt das Sterben ebenfalls Einzug. Am 22. Oktober schrieb er seinem in Nürnberg verbliebenen Vater Anton, mit demm sterbenn ist es hie noch leydlich und hoff, es hab dyssenn wintter kein nott mer. Sollte die Pest in Nördlingen wider Erwarten stärker werden, sei mit den Verwandten in Nürnberg abzustimmen, ob es mit demm sterbenn dahaymbt hett nachgelaßen und villeicht dahaymbt sicherer dann hie mocht sein, dann etwann vormals dahaymbt umb weinachten albeg pesser ist wordenn und so die kinder hinein kemme. 58 Der Pestausbruch im vermeintlich sicheren Nördlingen ließ die Familie Tucher nicht sofort an einen anderen Ort weiterziehen. Sie blieb in der Reichsstadt im Ries, weil das Sterben ihrem Empfinden nach kein bedrohliches Ausmaß besaß, in Nördlingen folglich ausreichend Schutz vor einer Infektion herrschte. Der Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer war sich 1520 ebenfalls der Gefahr durch die vor Ort ausgebrochene Pest bewusst. Er verließ die Stadt aber nicht überstürzt, sondern ordnete zunächst seine offziellen und privaten Geschäfte. Bis er für die Abreise bereit war, vergingen daher noch zwei Monate, die er weiterhin im verseuchten Nürnberg verbrachte. 59 Willibald Pirckheimers Fluchtort war 1520/ 21 das Dorf Neunhof, ca. neun Kilometer nördlich von Nürnberg. 60 Weite Distanz zum Seuchengeschehen erreichte er damit nur bedingt, ebenso wie sein Freund Johannes Reuchlin, der sich 1502 pest- 56 M ATTHIAS B EER , Private Correspondence in Germany in the Reformation Era: A Forgotten Source for the History of the Burgher Family, in: Sixteenth Century Journal 32 (2001) 4, S. 931-951, hier besonders S. 931-943; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 262, 377. Zur Korrespondenz der Familie Tucher im 16. Jahrhundert allgemein vgl. W ALTER B AUERNFEIND , Marktinformationen und Personalentwicklung einer Nürnberger Handelsgesellschaft im 16. Jahrhundert - Das Briefarchiv von Anthoni und Linhart Tucher in der Zeit von 1508 bis 1566, in: A NGELIKA W ESTERMANN / S TEFANIE VON W ELSER (Hg.), Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger, Husum 2011, S. 23-60. 57 StadtA Nürnberg, E 29/ IV, Nr. 978; vgl. auch P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 378f. 58 StadtA Nürnberg, E 29/ IV, Nr. 317. 59 H ELGA S CHEIBLE (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, IV. Bd., München 1997, Nr. 709. 60 H. S CHEIBLE , Briefwechsel (Anm. 59), Nr. 754. <?page no="69"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 69 bedingt von Stuttgart in das Kloster nach Denkendorf begeben hatte. 61 War in letzterem Fall die Distanz zum infizierten Heimatort etwas größer, so ist anzumerken, dass in der nur wenige Kilometer nördlich von Denkendorf liegenden Reichsstadt Esslingen ebenfalls die Pest grassierte. 62 Gegenbeispiele zeigen, dass die Flucht durchaus an weiter entfernt liegende Orte erfolgte. Im Jahr 1501 hatte Willibald Pirckheimer dem Professor Prothasius Bozulus aus Pavia angeboten, dessen Sohn wegen der Pest in Italien bei sich in Nürnberg aufzunehmen. 63 Ungeachtet dieser Gegenbeispiele für weiter entfernt gelegene Fluchtorte konnte die Distanz des Exils zum Pestgeschehen somit nicht alleine entscheidend für die Auswahl eines Fluchtortes gewesen sein. Es mussten noch andere Voraussetzungen erfüllt sein. Die Pest sollte nicht im unmittelbaren Lebensumfeld grassieren oder zumindest nur moderat. Darüber hinaus bedurfte es einer Unterkunft in der Fremde. Städte wurden daher wegen der geeigneten Aufnahmemöglichkeiten häufig aufgesucht. Vornehmlich Angehörige der Oberschicht besaßen überdies persönliche Beziehungen in andere Kommunen, was ihnen bei der Organisation einer Unterkunft zugutekam. Als Fluchtorte dienten weiterhin Orte, in denen Verwandte oder Bekannte vorübergehend eine Unterkunft zur Verfügung stellten, oder eigene Landgüter. Willibald Pirckheimer wohnte 1520/ 21 zum Beispiel in Neunhof auf dem Gut seines Schwagers Martin III Geuder. Johannes Reuchlin erhielt 1502 Zuflucht im Kloster Denkendorf durch seinen Bekannten, den Propst Petrus Wolf. Erneut verhalfen ihm 1519 seine persönlichen Beziehungen zu einer Unterkunft, als er vor der Pest in Stuttgart fliehen musste. Johannes Eck überlies ihm kostenfrei eine Wohnung in Ingolstadt. 64 Eine späte Rückkehr war ebenfalls nicht im Sinne aller Flüchtlinge. Die Angehörigen der Familie Tucher verfolgten in den Jahren 1520 und 1533 von ihrem Fluchtort Nördlingen aus genau den Verlauf der Pest im heimischen Nürnberg. Es galt, den richtigen Zeitpunkt für die Rückkehr zu finden. Mitte Dezember 1533 waren nach Aussage von Lorenz Tucher bereits viele andere geflüchtete Nürnberger Familien für die Heimreise bereit. 65 Anfang Januar 1534 berichtete er, dass vill gewichens volcks widerumb haymzeucht und der sterben flux nachlast. 66 Margarethe Tucher kehrte mit den ihr anvertrauten Kindern Linhart Tuchers Mitte Januar nach Nürnberg zu- 61 P. S TURM , Johannes Reuchlin (Anm. 55), S. 72. Vgl. auch E. S CHLENKRICH , Gevatter (Anm. 47), S. 156. 62 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 37. 63 E MIL R EICKE / H ELGA S CHEIBLE (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, I. Bd., München 1940, Nr. 44. 64 P. S TURM , Johannes Reuchlin (Anm. 55), S. 72f., 81. 65 StadtA Nürnberg, E 39/ IV, Nr. 447. 66 StadtA Nürnberg, E 39/ IV, Nr. 452. <?page no="70"?> P ATRICK S T UR M 70 rück, Lorenz Tucher etwas später. 67 Gänzlich abgeklungen war die Pest in Nürnberg zu diesem Zeitpunkt hingegen noch nicht. 68 Das Bedürfnis einer baldigen Rückkehr äußerte sich nicht zuletzt bei den zu ihrem Schutz an fremden Orten untergebrachten Kindern und Jugendlichen durch Heimweh und Trennungsschmerz. 69 Es bleibt festzuhalten, dass die Menschen den Seuchenverlauf genau verfolgten und eher spät mit Flucht reagierten, wenn die Gefahr für ihre Gesundheit nach eigenem Ermessen zu groß wurde. Der Fluchtort war nicht zwangsläufig weit entfernt. Vielmehr galt es, überhaupt ein sicheres Refugium an einem seuchenfreien Ort zu finden. Die Rückkehr erfolgte tendenziell eher frühzeitig, ohne dass die Pest am Heimatort vollständig erloschen sein musste. 4. Meidung im Alltag Unter dem Begriff Meidung lassen sich zahlreiche Handlungsweisen aufzeigen, mit denen die Menschen sich krankmachenden Einflüssen zu entziehen versuchten. Angesichts ihrer Vielfalt ist an dieser Stelle nur auf einige ausgewählte Praktiken einzugehen. Sie finden vornehmlich in den seit dem 16. Jahrhundert verdichteten Quellen ihren Niederschlag, wobei die Belege nicht immer die Ausführlichkeit der Überlieferung zur Flucht besitzen. Im Jahr 1533 war die Nürnbergerin Margarethe Tucher mit den Kindern ihres Schwagers Linhart vor der Pest nach Nördlingen geflohen. Dort bewohnte sie ein Eckhaus mit Fenstern und Türen an zwei Seiten. Als im Nachbarhaus der Sohn einer Schusterin an der Pest erkrankte, gebrauchte Margarethe aus Furcht vor einer möglichen Verbreitung der Seuche der fenster und thuer gegen derselben seytten diser zeit nit, helts gespert. Wirt also wachen, ob mee jemands im selben schusterhauß am prechen kranck wurde. Bei Bedarf könne die Familie in das örtliche Karmeliterkloster umziehen, wo es geräumige und luftige Gemächer gebe, wie Margarethe berichtete. 70 Die Tucher reagierten mit Abschottung und Vorsicht gegenüber den Betroffenen und achteten auf die Luftqualität. Das Beispiel demonstriert zugleich die kombinierte Anwendung von Flucht und Meidung, um Schutz vor der Pest zu erreichen. Erst verließen die Tucher das stark infizierte Nürnberg, um sich dann in ihrem Refugium Nördlingen der dort ebenfalls ausgebrochenen, aber schwächer grassierenden Seuche zu erwehren. Die Meidung vergifteter Luft als vermeintliche Ursache der Pest demonstriert darüber hinaus das Bemühen der Menschen um Sauberkeit. In Nördlingen suppli- 67 Einen Großteil seiner Habe hatte Lorenz bereits vor seiner persönlichen Abreise von Nördlingen nach Nürnberg verbringen lassen; StadtA Nürnberg, E 39/ IV, Nr. 456. 68 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 126. 69 M. B EER , Eltern (Anm. 54), S. 274f.; O. U LBRICHT , Pesterfahrung (Anm. 55), S. 14f. 70 StadtA Nürnberg, E 29/ IV, Nr. 441. <?page no="71"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 71 zierten um 1495, möglicherweise unter dem Eindruck des schweren Seuchenjahres 1494, 24 Nachbarn an den Stadtrat, dieser möge hygienische Missstände in Verbindung mit einer Miststätte in ihrem Stadtviertel, dem sogenannten heiligen Mist, beseitigen. Ihre Eingabe begründeten sie mit dem Hinweis, dass all naturlich arczet [sagen], der mensch, der von bösem gestanck kranck wirdet, dem sey nit ze helffen. Diese Einschätzung teilten wohl noch weitere Bewohner der Reichsstadt, die sich von besagtem Viertel fernhielten. 71 Ebenso mied man größere Menschenansammlungen, auch wenn dies im Widerspruch zu gemeinschaftlichen Mitteln religiöser Pestabwehr wie etwa Prozessionen stand. Nach dem Tod Graf Ludwigs X. von Helfenstein im Jahr 1494 wurde der Esslinger Stadtrat informiert, dass die Reichsstadt zum Begräbnis und zum Totengedächtnis am dreißigsten Tag keine Abordnung entsenden solle. Die Trauerfeiern würden ohne Auswärtige begangen, weil es angesichts der gegenwärtigen Sterbensläufte misslich sei, viele Menschen zu versammeln. Stattdessen sei des Toten in Esslingen mit Gebeten zu gedenken. 72 Gerade in der Interaktion mit Auswärtigen tritt die Meidung Betroffener besonders deutlich hervor. Brach in einer Stadt die Pest aus bzw. war dies bekannt, so hielten sich die Menschen von diesem Ort fern oder gingen dort nur widerwillig hin - unabhängig von dem Vorhandensein gesetzlicher Zugangsbeschränkungen. Als 1450 in Ulm die Pest grassierte, entstanden Bedenken unter den Mitgliedern im schwäbischen Städtebund, ob deren Gesandte überhaupt noch dorthin gingen und nicht direkt wieder forteilten. Die Augsburger sprachen sich deshalb für die Rechnungslegung des Bundes an einem anderen, seuchenfreien Ort aus. 73 In diesem Sinne vermied auch der Nürnberger Drucker Anton Koberger 1502 die Reise in das pestbefallene Frankfurt, 74 und 1520 fand der erste Reichstag Kaiser Karls V. wegen der Seuche nicht in Nürnberg, sondern in Worms statt, 75 um einige weitere Beispiele zu nennen. Das Meiden verseuchter Orte führte zu Problemen für betroffene Reichsstädte. Bei Gerichtsverhandlungen wollten Beklagte oder Zeugen nicht erscheinen. Des Weiteren hemmte die Pest die Besetzung städtischer Ämter. Auswärtige Kandidaten erschienen nicht zu ihrem Amtsantritt, sondern vertrösteten die Stadträte bis zum Ende der Epidemie. 76 Hintergründe für die Meidung infizierter Orte legte der neue 71 StadtA Nördlingen, R 39 F 6, Nr. 14 [um 1495]. 72 StadtA Esslingen, RS, Fasz. 204, Nr. 9. 73 StadtA Nördlingen, Missiven 1450, fol. 132. 74 A LFRED H ARTMANN (Hg.), Die Briefe aus der Zeit Johann Amerbachs. 1481-1513 (Die Amerbachkorrespondenz 1), Basel 1942, Nr. 165. 75 A DOLF W REDE , Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, Deutsche Reichsstagsakten unter Kaiser Karl V., 2. Bd., Gotha 1896, S. 181, 184f. 76 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 235. <?page no="72"?> P ATRICK S T UR M 72 Schulmeister der Esslinger Lateinschule Johann Schmid, der im Herbst 1521 seinen Dienst in der Reichsstadt am Neckar antreten sollte, in einer Supplik an den Stadtrat dar. Er hatte nämlich von dem dortigen Seuchengeschehen erfahren. Angeblich habe die vergifft pestilenczische lufft zur Folge, dass teglichs alt unnd junge in guter anzale auß dißem ellende an berurtem gebrechen mit todt verscheiden. Johann Schmid sah hierin eine Gefahr für die eigene Gesundheit. Gegenüber dem Stadtrat begründete er dies explizit mit Bezug auf die Vorstellung der vergifteten Luft als Krankheitsursprung. Er habe sich in Memmingen in frischer, guter Luft befunden und sei diese gewohnt. Eine Übersiedlung nach Esslingen, wo die Luft vergiftet sei, würde ihm in besonderem Maße zum Nachteil gereichen, da er ehe kranck und brechenhafftig wurde dan ander, so desselben luffts gewont und darin verhartt hätten. Aus diesem Grund ersuchte Johann Schmid, ihn noch sechs bis acht Wochen außerhalb der Stadt wohnen zu lassen. Innerhalb dieser Zeit hoffte der Schulmeister, dass sich der lufft widerumb durch götlich hielff gereinigt und vergiefftung dermaß außgetriebenn [sei], das wir gesunds leibs fridens und eynigkayt bey einander wonen unnd leben mögen. 77 Verharrten die Menschen, wie weiter oben gezeigt wurde, vor einer Flucht durchaus noch gewisse Zeit an infizierten Orten, so zeigen diese Beispiele, dass Städte, in denen die Pest grassierte, bewusst gemieden oder nur gezwungenermaßen aufgesucht wurden, wenn die Heimatstadt selbst noch seuchenfrei war. Furcht vor der Pest und damit das Verhalten der Menschen unterlagen in der gleichen Weise wie die angewendeten Mittel zum Schutz individuellen Einschätzungen. Dies wird auch darin deutlich, dass Flucht und Meidung hemmend auf den reichsstädtischen Alltag wirkten, ohne dass das Leben in den Reichsstädten durch Abwesenheit und Abschottung zum Erliegen kam. Erträge aus Torzöllen, Marktstandsgebühren oder Stadtwaage, Aufzeichnungen der Rats- und Gerichtsprotokolle sowie amtliche und private Korrespondenz zeigen, dass viele Menschen trotz der Sterbensläufte versuchten, ihren ›gewohnten‹ Alltag fortzuleben. In Esslingen hatten 1520 zwar namhaffte […] leut ihre Kinder aus der Lateinschule genommen und waren geflohen. Andere Eltern bestanden hingegen weiterhin auf den Unterricht für ihre Kinder. 78 Auch scheute nicht jeder den Kontakt mit Pestkranken und anderen Risikogruppen, trotz des Infektionsrisikos. Zu nennen sind insbesondere Bader, Barbiere, Krankenwärter, Geistliche und nicht zuletzt Familienangehörige und Bekannte. Innerhalb der Klöster und geistlichen Gemeinschaften in den Städten bestand etwa infolge des engen Zusammenlebens ein Infektionsrisiko, vor allem wenn erkrankte Mitbrüder oder Mitschwestern der Pflege bedurften. Eindrücklich beschreibt Konrad Pellikan, der Humanist und spätere Reformator, in dieser Hinsicht seine Erkrankung an der Pest im Jahr 1494, die ihn am Ende seines Probejahres im Franziskanerkloster zu Rufach ereilte. Nachdem der vom Guardian veranlasste Aderlass keine 77 StadtA Esslingen, RS, Fasz. 223, Nr. 2. 78 StadtA Esslingen, RS, Fasz. 223, Nr. 2. <?page no="73"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 73 Wirkung zeigte, schien [ich] bereits ein Sterbender zu sein. Da rief er [der Guardian; Anm. d. Verf.] die Brüder zu den Gebeten, versah mich mit beiden Sakramenten und legte mir ein Pflaster auf. Das Geschwür zog sich zusammen, öffnete sich, und ich genas allmählich, mußte aber acht Wochen lang die Krankenzelle hüten. Die guten Brüder verpflegten mich alle treulich in jeder Hinsicht. 79 Im Kloster existierte mit der Krankenzelle eine Möglichkeit zur Isolierung des Pestkranken Pellikan. Trotzdem kam es zu wiederholten Kontakten mit den anderen Brüdern und dem Guardian. Fürsorgepflicht und Nächstenliebe, vor allem gegenüber Verwandten, führten ebenso im weltlichen Bereich zum Umgang zwischen Gesunden und Kranken. Sixtus Pirckheimer besuchte 1505 mehrfach seine an der Pest erkrankte Schwester Caritas, die Äbtissin des Nürnberger Klarissenklosters. Der Pfleger des Klarissenklosters fühlte sich daher veranlasst, ihn zu ermahnen, seine wiederholten Besuche bei der pestkranken Äbtissin einzustellen, 80 wohl aus Sorge um eine weitere Verbreitung der Seuche. 5. Flucht und Meidung im Spiegel reichsstädtischer Seuchenpolitik Seuchenpolitisches Handeln ist seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in den süddeutschen Reichsstädten zunächst in Form von Einzelverordnungen überliefert. Seit dem frühen 16. Jahrhundert werden die Belege häufiger und es entstanden zusammenhängende Seuchenordnungen als neuer Normtypus in den Reichsstädten. 81 Die Stadträte erstellten diese Ordnungen mit Unterstützung der Stadtärzte, wie es beispielsweise 1517/ 19 in Nürnberg, 1521 in Augsburg oder 1528 in Esslingen geschah. 82 Der Einfluss der Stadtärzte führte zu inhaltlichen Anlehnungen der Seuchengesetze an die medizinischen Pestschriften. 79 T HEODOR V ULPINUS , Die Hauschronik Konrad Pellikans von Rufach. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit, Straßburg 1892, S. 12f. 80 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 137f. 81 M. H ORANIN , Pest (Anm. 36), S. 125-151; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 137-142. Neben den Seuchengesetzen enthielten bereits im Mittelalter andere Gebote etwa zur Sauberkeit oder zur Sittenzucht Maßnahmen zur Vorbeugung eines Pestausbruchs, die teilweise in die späteren Seuchenordnungen aufgenommen wurden. Zudem ist für die Zeit vor 1500 von seuchenpolitischem Handeln ohne eine schriftliche Dokumentation auszugehen; vgl. A. K IN - ZELBACH , Policing (Anm. 18). 82 M. H ORANIN , Pest (Anm. 36), S. 134-136; H UBERT M ATTAUSCH , Das Beerdigungswesen der freien Reichsstadt Nürnberg (1219 bis 1806). Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung an Hand der Ratsverlässe und der vom Rat erlassenen Leichenordnungen, Diss. jur. Würzburg 1970, S. 68-75, 158-163; C. P ORZELT , Pest (Anm. 2), S. 69f.; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 139f. <?page no="74"?> P ATRICK S T UR M 74 Flucht war nur indirekt Gegenstand von Seuchenordnungen. Einreiseverbote für Personen aus verseuchten Orten sind zum Beispiel für Regensburg bereits 1412 83 oder Nürnberg 1494 84 belegt. Gerade in den frühen Verordnungen waren die Restriktionen oftmals auf Kranke und/ oder Genesene beschränkt, während gesunde Pestflüchtlinge nicht unmittelbar berührt waren. 85 Sie gerieten erst im Laufe des 16. Jahrhunderts stärker in den Fokus obrigkeitlicher Verordnungen, als Reisebeschränkungen als Mittel der Seuchenabwehr zunahmen. 86 Bis dahin kann die Pestflucht als weitgehend akzeptiertes Verhalten gelten, wie eine Stellungnahme des Esslinger Stadtrats an den Edelknecht Sefrid von Zulnhart aus dem Jahr 1438 bezüglich der Aufnahme von Pestflüchtlingen aus Schwäbisch Gmünd und anderen Orten verdeutlicht. Auf die Bitte, die Flüchtlinge der Stadt zu verweisen, heißt es: Han wir wol verstannden und laußen uch wissen, das die und ander von sterbender not wegen, icz an vil ennden synd, in unser stat geflohen sind unn da irn pfenning zerend. Als nun unser stat ain rychsstat ist, verstannden wir nit, das wir in sölcher not das gepurlichen niemand weren verzyhen oder versagen mugen. 87 Es gehörte bei Reichsstädten sozusagen zum guten Ton, von der Pest bedrohten Menschen zu helfen, was die zahlreichen Belege über die Flucht in andere Reichsstädte demonstrieren. Zwischen Gastgebern und Gästen entwickelte sich auch zumeist ein besonderes Verhältnis, sofern dieses nicht ohnehin bereits vor der Übersiedlung bestand. Ein Trinkstubenschild legt darüber eindrücklich Zeugnis ab, den geflüchtete Nürnberger Patrizier zum Dank für die ihnen erwiesene Gastfreundschaft bei ihrer Rückkehr dem Nördlinger Stadtrat 1563 zum Geschenk machten. 88 Im Gegensatz zur Flucht erfuhren die hier behandelten Aspekte der Meidung unmittelbaren Niederschlag in den Seuchengesetzen. Die bereits im Mittelalter gängigen Hygienegebote zählten zum Standardrepertoire der Pestabwehr und waren 83 H ERMANN S CHÖPPLER , Geschichte der Pest zu Regensburg, München 1914, S. 36. 84 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 137. 85 F. D ROSS , Aussatzpraktiken (Anm. 2), S. 313; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 171-173. 86 M ARTIN D INGES , Süd-Nord-Gefälle in der Pestbekämpfung. Italien, Deutschland und England im Vergleich, in: W OLFGANG U. E CKART / R OBERT J ÜTTE (Hg.), Das europäische Gesundheitssystem. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 3), Stuttgart 1994, S. 19-51, hier 33f. Zu Kontrollen und Zugangsbeschränkungen in Reichsstädte vgl. A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 51), S. 230; C. P ORZELT , Pest (Anm. 2), S. 130-134; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 174-189. 87 StadtA Esslingen, RS, Missivbuch 2, S. 304. 88 Zu dem Trinkstubenschild siehe F RIEDRICH N ÜZEL , Nürnberger Patrizier in Nördlingen im Jahre 1562, in: Jahrbuch des historischen Vereins für Nördlingen und das Ries 1 (1912), S. 80-86, hier 85f.; zur Fluchtaktion der Nürnberger Patrizier 1562 vgl. auch C. P ORZELT , Pest (Anm. 2), S. 47-49; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 364f., 375, 378-380; D ERS ., Theorie (Anm. 2), S. 193-195. <?page no="75"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 75 elementarer Bestandteil von Seuchenordnungen. 89 Sie richteten sich gegen Unrat auf den Gassen, Urinieren auf den Straßen und das öffentliche Deponieren von Mist. Auch die Tierhaltung wurde mit Auflagen versehen. Dies betraf etwa seit dem 15. Jahrhundert in Nürnberg die Schweinehaltung, weil die ›Unlust‹ der Tiere auf den Gassen wegen des Gestanks als Auslöser für Krankheiten und Seuchen im Sinne der Miasmatheorie galt. 90 Die Isolierung von Betroffenen war ebenfalls Gegenstand der Seuchenordnungen. Infizierten und Genesenen wurde geboten, bis zu mehreren Wochen, meist vier, nach ihrer Gesundung im Haus zu bleiben und nicht unter die Leute zu gehen. 91 1494 wurde Pestkranken in Nördlingen der Gang an bestimmte öffentliche Orte explizit untersagt. Sie sollten under die gemainschafft der lewt zu kirchen, bad noch straß nit komen […], solanng solich kranckhait an im ist. 92 In Memmingen durften 1512 Pestkranke und Kontaktpersonen nicht bei Gericht vorgeladen werden. 93 Die hier genannten Kranken waren in der Regel nur selten Adressaten der Seuchenordnungen. Vermutlich wurde ihnen auf Grund der Bettlägerigkeit geringere Relevanz bei der Verbreitung der Pest beigemessen - angemerkt sei an dieser Stelle die Einrichtung von Pesthäusern als kommunalen Isolieranstalten für Pestkranke in Reichsstädten seit der Wende zum 16. Jahrhundert. 94 Im Gegensatz zu den Infizierten unterlagen vielmehr die mobilen Rekonvaleszenten und Kontaktpersonen seit dem 16. Jahrhundert Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit. 95 Im weiteren Kontext der Isolation stand schließlich der Umgang mit Kleidung und Bettwäsche von Pestkranken, also giftfangenden Kontaktgegenständen. Diese durften nicht von Gesunden benutzt oder gehandelt werden. 96 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts stieß eine strikte Umsetzung ärztlicher Empfehlungen bezüglich Hygiene und Isolation in Seuchengesetzen an ihre Grenzen. Der 89 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 51), S. 230; P. S TURM , Fäkalien (Anm. 15), S. 223f. 90 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 134f. 91 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 137; A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 51), S. 231; F RITZ K RÄMER , Pestbekämpfung und -abwehr in Freiburg im Breisgau von 1550 bis 1750, Diss. Med. masch. Freiburg 1987, S. 247; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 172; K. W ANK - MÜLLER , Pest (Anm. 44), S. 37f. 92 StadtA Nördlingen, R 39 F 2, Nr. 6 [10.9.1494]. 93 K. W ANKMÜLLER , Pest (Anm. 44), S. 37. 94 O TTO U LBRICHT , Pesthospitäler in deutschsprachigen Gebieten in der Frühen Neuzeit. Gründung, Wirkung und Wahrnehmung, in: D ERS . (Hg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit, Köln 2004, S. 96-132, hier v. a. S. 99-118; zu Pesthäusern in süddeutschen Reichsstädten vgl. exemplarisch C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 140f.; M. H ORA - NIN , Pest (Anm. 36), S. 128-130, 139-144; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 300-311; K. W ANKMÜLLER , Pest (Anm. 44), S. 13-18. 95 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 51), S. 231f.; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 173. 96 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 189-192. <?page no="76"?> P ATRICK S T UR M 76 Esslinger Stadtarzt Dr. Franziscus Schnierlein legte dem Stadtrat 1528 zwölf Artikel zur Beseitigung und damit Vermeidung von Infektionsquellen und hygienischen Missständen vor. Wegen Bedenken hinsichtlich der praktischen Umsetzbarkeit fanden diese mit nur einer Ausnahme - der Entsorgung von Blut und gebrauchten Pflastern durch die Scherer und Bader im Neckar - lediglich in modifizierter Form Eingang in die erste Seuchenordnung der Reichsstadt oder wurden gänzlich zurückgewiesen. 97 Der Blick auf die seuchenpolitischen Maßnahmen zeigt, dass die Flucht durch obrigkeitliche Eingriffe seit der Wende zum 16. Jahrhundert Veränderungen unterworfen war. Hinsichtlich der Meidung führten die Seuchengesetze zu Eingriffen in den Alltag der Menschen. Im Gegensatz zur Flucht unterstützten die Seuchenordnungen jedoch die medizinisch empfohlene Meidung und stärkten sozusagen deren Breitenwirkung, indem die zuvor freiwillige Umsetzung der ärztlichen Empfehlungen durch die Aufnahme in die kommunale Ordnungsgesetzgebung verpflichtend wurde. Die Gebote zur Meidung entsprachen dem überwiegenden Bedürfnis der Menschen zum Schutz vor den Ursachen der Pest. Bereits angeführt wurden die Nördlinger Nachbarn, die sich für das Abschaffen pestverursachender hygienischer Missstände in ihrem Stadtviertel einsetzten. In Memmingen erregte 1519 das öffentliche Auftreten des pestkrankten Hans Burkhart, verbunden mit grob fahrlässigem Handeln - er schöpfte Wasser aus einem Brunnen, trank und schüttete den Rest zurück -, Furcht und Unmut in der Bürgerschaft. Die Missachtung eines Ausgangsverbots des Stadtrats führte schließlich zum Verweis Burkharts aus der Reichsstadt. 98 Sofern die Menschen demnach zu ihrem eigenen gesundheitlichen Wohlergehen und dem anderer nicht ohnehin bereits nach den medizinischen Ratschlägen umsichtig handelten, wurde mit den Seuchenordnungen und obrigkeitlicher Kontrolle in diesem Sinne und zum Schutz der Gemeinschaft auf ein solches Verhalten hingewirkt. 6. Umgang mit geflüchteten Amtsträgern Die Abwesenheit von Amts- und Funktionsträgern infolge der Pestflucht konnte das Verwaltungshandeln in den Kommunen nachhaltig beeinträchtigen. 99 Um die Handlungsfähigkeit der Stadtregimenter in Sterbensläuften zu erhalten, sind seit der Wende zum 16. Jahrhundert aus Reichsstädten dezidierte Aufforderungen an geflüchtete Ratsangehörige zur Rückkehr in die Heimatstadt belegt. Die geflüchteten 97 StadtA Esslingen, RS, Fasz. 78, Nr. 4; vgl. auch P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 139f. 98 K. W ANKMÜLLER , Pest (Anm. 44), S. 38. 99 Vgl. den eindrücklichen Bericht des stellvertretenden Tübinger Untervogts aus dem Jahr 1482; M AX D UNCKER , Ein Brief aus der Tübinger Pestzeit, in: Reutlinger Geschichtsblätter 20 (1909) 2, S. 31f. <?page no="77"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 77 Nürnberger Stadträte erhielten 1505 die Aufforderung, wieder zurückzukehren. Die älteren Bürgermeister brauchten hingegen nicht persönlich anwesend zu sein. Im Seuchenjahr 1520 mussten sie allerdings ebenfalls vor Ort bleiben und ihr Amt ausüben. Die jüngeren Bürgermeister durften sich vertreten lassen, wobei ihren Vertretern der doppelte Sold gezahlt wurde. Zahlreiche Amtsträger, darunter die obersten Vormünder, Stadtrichter, Stadtärzte, Baumeister usw., mussten 1520 ebenfalls in Nürnberg bleiben und ihren Dienst verrichten, sofern sie vom Stadtrat keine Erlaubnis zur Flucht erhielten. 100 Wie ernst man die Rückforderungen der Ratsherren nahm, verdeutlichen die Strafandrohungen bei Zuwiderhandlung, die bis zum Verlust des Bürgerrechts reichten. Trotz dieser drakonischen Strafe kamen nicht alle Flüchtigen umgehend wieder in ihre Heimatstadt zurück. Christoph Scheurl, Doktor der Rechte und Losunger zu Nürnberg, erhielt mehrere Ermahnungen, in die Reichsstadt zurückzukehren. Er selbst argumentierte gegenüber dem Stadtrat immer wieder mit auswärtigen Geschäften und der Gefahr durch die Pest in seinem Haus. 101 Wurde der Entzug des Bürgerrechts 1542 dem Esslinger Ratsherren Hans Sachs sowie geflüchteten Soester Ratsherren nur angekündigt, 102 so handelte es sich dennoch um keine leeren Drohungen. Denn im Fall des flüchtigen Nürnbergers Martin Pfeyffern aus Wöhrd war es 1534 zum Vollzug der Strafe gekommen. 103 Ziel des Zurückbeorderns flüchtiger Ratsmitglieder war es, die Handlungsfähigkeit der Stadtverwaltung in Pestzeiten zu erhalten bzw. wiederherzustellen. In Augsburg führte man 1521 zu diesem Zweck ein rollierendes System ein. Jeweils ein Drittel der Ratsherren musste während der Pestepidemie immer für einen Monat vor Ort sein. Die übrigen durften fortziehen. Die Entscheidung über die Anwesenheitszeiten wurde per Losentscheid herbeigeführt. 104 Von den Baumeistern, Einnehmern und Ungeldherren brauchte auch nur einer zur Wahrnehmung der dringlichsten Amtsgeschäfte anwesend zu sein. 105 Das Verfahren schien sich zu bewähren. Die 100 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 130f. 101 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 129. In der gleichen Weise reagierte der Esslinger Ratsherr Hans Sachs auf seine Rückforderung; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 232f. 102 K AY P ETER J ANKRIFT , … daß diese kranckheit ein ansteckend und bekleibend Seuche sey - Soest in Zeiten der Pest, in: Soester Zeitschrift 111 (1999), S. 31-55, hier 41; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 232f. 103 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 129f. 104 ›Cronica newer geschichten‹ von Wilhelm Rem (Anm. 29), S. 162f. Vgl. auch M. H ORA - NIN , Pest (Anm. 36), S. 137; R AINER K ÖSSLING , Der Schwarze Tod in zeitgenössischen Zeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: O RTRUN R IHA (Hg.), Seuchen in der Geschichte: 1348-1998. 650 Jahre nach dem Schwarzen Tod, Aachen 1999, S. 74-88, hier 81. 105 M. H ORANIN , Pest (Anm. 36), S. 137. <?page no="78"?> P ATRICK S T UR M 78 Reduzierung von Stadtrat und Amtsträgern wurde im Seuchenjahr 1535 nach dem gleichen Prinzip erneut praktiziert. 106 Andere Kommunen etablierten ›Sicherheitsmaßnahmen‹ für die Ratsmitglieder. In Nürnberg war seit 1494 ein Barbier in Sterbensläuften allein für die Angehörigen der städtischen Verwaltung im Rathaus angestellt worden. 107 In Ulm hatte ein Stadtarzt diesen Dienst zu versehen. 108 1533 erfolgte in Nürnberg zudem die Reinigung der Luft im Umkreis des Rathauses durch täglich vor dem Gebäude zu entzündende Feuer. 109 Das Räuchern in Amtsstuben wurde ebenso in Nördlingen und Schwäbisch Hall in Pestzeiten ausgiebig praktiziert. 110 In den beiden Reichsstädten wirkten während Pestgängen Ratsherren auch nicht mehr an der Nachlassinventarisierung mit, sondern es sollten andere taugliche Bürger oder Knechte die Aufgabe übernehmen. 111 Nachgeordneten Amtsträgern und Bediensteten wurde die Flucht zuweilen gestattet, wobei lokale Gewohnheiten zu berücksichtigen sind. Memmingens Henker erhielt 1512 die Erlaubnis hierzu. Er musste allerdings sein Ziel angeben, damit er bei Bedarf zurückbeordert werden konnte. Schulmeister, Kantor und Apotheker durften sich 1519 »ein Zeit lang«, wie es heißt, aus Memmingen absentieren. 112 War es den lateinischen Schulmeistern der Reichsstadt Esslingen in den Pestjahren 1472 und 1521 gestattet, sich für einige Zeit außerhalb der Stadt aufzuhalten, so schlug der Stadtrat ein entsprechendes Gesuch im Jahr 1542 aus. Der Schulbetrieb sollte trotz einer grassierenden Seuche fortgeführt werden. Der Unterricht fand aber fortan in der Bürgerstube statt. 1564 wurde der geflohene Schulmeister Martin Stötter nach Esslingen zurück zitiert, um den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. 113 Auch (Stadt-)Ärzte befanden sich unter den Pestflüchtigen. 114 Der Ulmer Stadtarzt Hans Würker musste gemäß seiner Paktverschreibung aus dem Jahr 1436 nicht zu Pestkranken gehen und durfte die Reichsstadt bei einem Seuchenausbruch wie jeder andere Bürger verlassen. 115 Als sich sein Amtskollege Nikolaus Winckler wäh- 106 M. H ORANIN , Pest (Anm. 36), S. 156. 107 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 131. 108 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 51), S. 208. 109 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 131. 110 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 234f. 111 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 234, 246f. 112 K. W ANKMÜLLER , Pest (Anm. 44), S. 4f. 113 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 251-253. 114 Die Flucht von Ärzten vor der Pest ist seit dem 14. Jahrhundert wiederholt belegt; vgl. U LRICH K NEFELKAMP , Das Verhalten von Ärzten in Zeiten der Pest (14.-18. Jahrhundert), in: J AN C. J OERDEN (Hg.), Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin. Bloß ein Mittel zum Zweck? (Schriften des interdisziplinären Zentrums für Ethik an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/ Oder 2), Berlin-Heidelberg 1999, S. 13-39. 115 H. D ORMEIER , Flucht (Anm. 2), S. 336. Der Nürnberger Stadtarzt Hieronymus Münzer unternahm während der Epidemie 1494 ebenfalls eine längere Reise nach Spanien und Portu- <?page no="79"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 79 rend des Sterbens 1572 des Öfteren aus Schwäbisch Hall entfernte - er floh nicht, ging aber wohl Geschäften außerhalb der Reichsstadt nach -, schärfte ihm der dortige Stadtrat ein, gemäß seiner Bestallung gerade in Seuchenzeiten vor Ort zu bleiben. 116 Die unterschiedliche Behandlung der beiden Stadtärzte geht auf eine Entwicklung seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zurück, wonach Heilkundigen sukzessive geboten wurde, sich in Pestzeiten vor Ort aufzuhalten. Entsprechende Klauseln fanden zunehmend Eingang in die Paktverschreibungen und Eide. 117 Das Einschränken der Flucht von Amtsträgern entsprach der zunehmenden Forderung der Bürgerschaft nach Anwesenheit ihrer Obrigkeit, was seit dem 16. Jahrhundert in den Quellen nachweisbar wird. In Memmingen zeigte sich die Bürgerschaft zum Beispiel empört, als neben anderen Bürgern der Bürgermeister 1541 als einziges Mitglied des Stadtrats vor der Pest floh. 118 Die Flucht von Amtsträgern erhielt ein negatives Image, das auch in der zeitgenössischen Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Pestflucht anklang. Seit dem 14. Jahrhundert diskutierten verschiedene Autoren über die Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit der Flucht; eine Debatte, die im deutschsprachigen Raum vor allem durch Martin Luthers Schrift ›Ob man vor dem Sterben fliehen möge‹ bekannt ist. 119 Vor allem Amtspersonen wie Ratsherren, Bürgermeister, Geistliche, aber auch Heilkundige gerieten aus moralischen Gründen in den Fokus. Die Flüchtigen verließen andere Menschen, darunter Hilfsbedürftige, und verstießen damit gegen das christliche Gebot der Nächstenliebe. 120 Gerade Amtsträger sollten sich aber nicht durch Flucht ihren Pflichten entziehen, sondern vor Ort den Kranken und Hilfsbedürftigen beistehen. Denn nur wenn andere durch die eigene Flucht nicht im Stich gelassen wurden, konnte sie unter moralischen Gesichtspunkten rechtmäßig erfolgen. Anwesenheitsverpflichtung, Rückforderung, Schaffung eines möglichst sicheren Tätigkeitsumfelds und öffentlicher Druck trugen zur Entwicklung eines modernen Amtsverständnisses in Pestzeiten bei, wie es Martin Dinges anführt. 121 Dadurch vergal. Anfang August 1494 verließ er die von der Pest befallene Reichsstadt und kehrte erst Mitte April 1495 wieder zurück; C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 128. 116 P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 279. 117 C. B ÜHL , Pestepidemien (Anm. 2), S. 144; F. D ROSS , Aussatzpraktiken (Anm. 2), S. 321; A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 51), S. 246, 249; P. S TURM , Leben (Anm. 1), S. 280f. 118 K. W ANKMÜLLER , Pest (Anm. 44), S. 5. 119 M ARTIN L UTHER , Ob man vor dem Sterben fliehen möge, Wittenberg 1527; zur Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Flucht seit dem Mittelalter siehe H. D ORMEIER , Flucht (Anm. 2), S. 340-384. 120 Vgl. die Edition bei K URT A LAND (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. 6. Kirche und Gemeinde, 3., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1983, S. 228-246, hier 229f. 121 M ARTIN D INGES , Pest und Staat: Von der Institutionengeschichte zur Konstruktion? , in: D ERS ./ T HOMAS S CHLICH (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte (Medizin, Gesell- <?page no="80"?> P ATRICK S T UR M 80 ringerte sich die Flucht städtischer Amtsträger, die fortan auch in Seuchenzeiten ihren Dienst vor Ort erfüllten. Verließen Angehörige dieser Gruppe bis in das frühe 16. Jahrhundert hinein bei einem Pestausbruch noch regelmäßig die Städte, so änderten sich in der Folge die Beteiligten am Fluchtgeschehen. Sofern nicht bereits zuvor wegen der Abkömmlichkeit, wie im Fall der Straßburger Drucker-Familie Amerbach, nur die Kinder fortgeschickt wurden, 122 blieb nunmehr auch in anderen Fällen, etwa der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher seit 1521, der Haushaltsvorstand vor Ort. 123 Das Eindämmen der Flucht von Ratsherren und anderen städtischen Funktionsträgern schloss diese ehemaligen Pestflüchtlinge ›erster Ordnung‹ von dem Kreis der Flüchtlinge aus. Die restriktiven Reisebeschränkungen zu Pestzeiten in der Frühen Neuzeit und der Einsatz des Banns zur strikten Abschottung infizierter Orte sorgten indessen für eine generelle Verringerung der Fluchtmöglichkeiten, 124 ohne diese jedoch gänzlich zu unterbinden. Dies reduzierte das Risiko einer Einschleppung der Pest durch Seuchenflüchtlinge. 7. Fazit Flucht und Meidung stellten komplementäre Verhaltensweisen dar, mit denen die Menschen im ausgehenden Mittelalter zu ihrem Schutz auf den Ausbruch der Pest reagierten. Die Flucht war in diesem Zusammenhang ein extremes Mittel, indem die Pest durch einen Ortswechsel aus dem unmittelbaren Lebensumfeld sozusagen verbannt wurde. Der Preis dafür war das Verlassen der Heimatstadt, verbunden mit einem in der Regel kostenintensiven, längeren Aufenthalt in der Fremde. In erster Linie, aber nicht ausschließlich, bedienten sich ihr privilegierte gesellschaftliche Gruppen, was die reichsstädtische Führungsschicht in Pestzeiten ausdünnte. Zunehschaft und Geschichte, Beiheft 6), Stuttgart 1995, S. 71-103, hier 79; M ARTIN D INGES , Pest und Politik in der europäischen Neuzeit, in: M ISCHA M EIER (Hg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 283-313, hier 291f. 122 A. H ARTMANN , Briefe (Anm. 74), Nr. 168. Kinder wurden des Öfteren in Seuchenzeiten von ihren Eltern an vermeintlich sichere Orte geschickt; M. B EER , Eltern (Anm. 54), S. 274- 282; M. H ÖHL , Pest (Anm. 2), S. 258, 267f., 271-273, 275-277; K. R. S EELBACH , Maßnahmen (Anm. 47), S. 174. 123 W. B AUERNFEIND , Marktinformationen (Anm. 56), S. 34; vgl. auch M. H ÖHL , Pest (Anm. 2), S. 266-271. 124 Vgl. E. S CHLENKRICH , Gevatter (Anm. 47), vor allem S. 134-146; B ERNHARD S CHRET - TER , Die Pest in Tirol 1611-1612. Ein Beitrag zur Medizin-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Innsbruck und der übrigen Gerichte Tirols (Veröff. des Innsbrucker Stadtarchivs NF 12/ 13), Innsbruck 1982, S. 303-318; K. R. S EELBACH , Maßnahmen (Anm. 47), S. 168-198. <?page no="81"?> F LUCH T UND M EID UNG . R EAKTI ONEN A U F DI E P ES T 81 mende Kritik an der Flucht von Amtsträgern im 16. Jahrhundert führte zu deren Verbleib in den Städten, wodurch sich der Kreis der Flüchtigen änderte. Die verschiedenen Varianten der Meidung signalisieren demgegenüber, dass die Flucht nicht allen Menschen offenstand oder von allen gewollt war. Nicht minder musste sich der Flüchtige in seinem Refugium im Falle eines dortigen Pestausbruchs mittels Meidung schützen. Die Meidung steht für eine Auseinandersetzung mit der Pest im unmittelbaren Lebensumfeld mit dem Ziel, trotz des Verharrens am Wohnort, im gewohnten Lebensumfeld, die eigene Gesundheit zu erhalten. Um Infektionsquellen in den Reichsstädten zu minimieren und damit Schutz für weite Teile der Gemeinschaft zu gewährleisten, war allerdings die Disziplin aller Einwohner gefordert, sei es im privaten Umgang mit der Pest und deren Ursprüngen, sei es bei der Umsetzung von Seuchenordnungen. Unabhängig von der gewählten Verhaltensweise ergaben sich für die betroffenen Menschen, aber auch für Dritte Auswirkungen im Alltag. Zunächst resultierend aus der Absenz oder dem Fernbleiben von bestimmten Orten oder Personen, waren es seit der Wende zum 16. Jahrhundert zunehmend die seuchenpolitischen Maßnahmen der Stadträte, die das Leben in den Reichsstädten während der Pestgänge auch im Sinne der Meidung prägten und die Möglichkeiten zur Flucht modifizierten. Waren mit Ausnahme kollektiver religiöser Bewältigungsformen wie Gottesdiensten oder Prozessionen die unmittelbaren Reaktionen auf die Pest bis zum Ende des 15. Jahrhunderts weitgehend von individuellen Verhaltensweisen und Erfahrungswerten der Betroffenen geprägt, begannen die Stadträte seit der Wende zum 16. Jahrhundert mit ihren seuchenpolitischen Erlassen zunehmend das Verhalten und die Reaktionsweisen der Bürgerschaft zur Pestbewältigung zu beeinflussen und zu steuern. <?page no="83"?> 83 A NNEMARIE K INZELBACH Reichsstädtische Hospitäler und Region in der Vormoderne Zwischen Hospitälern in Reichsstädten und der Region im geographischen Sinne bestanden intensive Beziehungen in mehrfacher Hinsicht. 1 Die Form der damit verbundenen Interaktionen und Funktionen sind abhängig vom Hospitaltyp. Dies erörtert dieser Beitrag anhand von drei verschiedenen Typen: dem eng mit der Gemeinschaft verknüpften, in die Stadtmauern integrierten kommunalen Hospital, dem peripheren, im Vorfeld der Stadt platzierten kommunalen Leprosen-Hospital und dem in privat erworbenen Räumen verorteten Stifterhospital einer Familie, das jedoch mit der städtischen Gemeinschaft verknüpft war. 2 Diese beispielsweise in Reichsstädten des Heiligen Römischen Reiches (HRR) verbreiteten Ausprägungen eignen sich besonders gut dazu, das starke In-, Mit- und gelegentlich auch Gegeneinander von Reichsstädten und Region aufzuzeigen, insbesondere bezogen auf Interaktionen im Kontext von Hospitälern und den damit verbundenen politischen Aspekten von Gesundheit und Krankheit und somit des Gemeinwohls. 3 In diesem Zusammenhang bezieht sich der Begriff Hospital auf Einrichtungen, deren Insassen aus sozialen Gründen aufgenommen wurden, wobei gesundheitliche 1 Die Einbeziehung von Reichskreisbeschlüssen würde den Rahmen sprengen. Seit W IN - FRIED D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des alten Reiches und ihr Eigenleben (1500-1806), Darmstadt 1989, haben zahlreiche Studien zum Thema Reichskreis beigetragen. Das Spektrum reicht von mehrbändigen Quellensammlungen mit einordnenden Ausführungen (W OLFGANG W ÜST , Die »gute« Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches, 8 Bde., Berlin 2001-2018) bis zur differenzierten Betrachtung in spezifischem Kontext; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Kleinterritorium und Heiliges Römisches Reich. Der »Embsische Estat« und der Schwäbische Reichskreis im 17. und 18. Jahrhundert (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs NF 13), Konstanz 2018. 2 Diese Form der raum- und stiftungsbezogenen Typisierung unterscheidet sich gezielt von derjenigen, die M ARTIN S CHEUTZ / A LFRED S TEFAN W EISS , Das Spital in der Frühen Neuzeit. Eine Spitallandschaft in Zentraleuropa (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 64), Wien 2020, S. 55-215, vornehmen. 3 Den Zusammenhang zwischen Gesundheit, Krankheit und Gemeinwohl zeigt schon A NNEMARIE K INZELBACH , Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500-1700 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 8), Stuttgart 1995, u. a. S. 88-133. <?page no="84"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 84 Aspekte eine zentrale Rolle spielten. 4 Die Aufnahme oder Unterstützung erfolgte primär wegen eines körperlichen Zustands, der es ratsam erscheinen ließ, diese Personen von ihren alltäglichen Aufgaben zu befreien und ihren Zustand durch medizinische oder pflegerische Leistungen zu verbessern. Im Gegensatz zum prototypischen Verständnis gehörte spätestens seit dem 16. Jahrhundert in der reichsstädtischen Gesellschaft auch das Leprosen-Hospital zu diesen Einrichtungen. 5 Ein kurzer Blick in medizinische Abhandlungen und auf Schauzettel, die eine Voraussetzung für die Aufnahme in ein Leprosorium darstellten, legt nahe, dass diese Einrichtungen bereits seit dem späten Mittelalter Personen vorübergehend aufnahmen, um deren meist auf der Haut sichtbaren Beschwerden zu behandeln oder beginnende Lepra, lepre oder maltzey, die doch nit bestätiget ist, zu heilen. 6 Der Begriff Region kann für vormoderne Reichsstädte auf sehr unterschiedliche politische und kommunikative Zusammenhänge bezogen werden. Im engeren Sinne bezieht sich Region in Schwaben auf das direkt und indirekt reichsstädtisch beherrschte Territorium, das ein Mehrfaches der Einwohner der jeweils beherrschenden Stadt umfassen konnte, wie beispielsweise in Ulm und Überlingen. Umfangreiche Territorien besaßen zahlreiche schwäbische, aber auch fränkische Reichsstädte; sie waren im Namen der städtischen Gemeinschaft oder ihrer Hospitäler erworben oder letzteren testamentarisch vermacht worden. 7 Im weiteren Sinne bildete - gerade 4 Es geht folglich nicht um Orte, in denen »Verwahrung« eine ausschließliche Rolle spielte; F ALK B RETSCHNEIDER , Die Geschichtslosigkeit der totalen Institutionen. Kommentar zu Erving Goffmanns Studie »Asyle« aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, in: wiener zeitschrift zur geschichte der neuzeit 8 (2008), S. 135-142. 5 Zum prototypischen Verständnis F RITZ D ROSS , Hospital/ Krankenhaus, in: Europäische Geschichte Online, (S. 8), http: / / ieg-ego.eu/ de/ threads/ crossroads/ wissensraeume/ fritzdross-hospital-krankenhaus urn: nbn: de: 0159-2014031009 (aufgerufen am 24.9.2014); zur Nutzung von Leprahospitälern seit dem Spätmittelalter A NNEMARIE K INZELBACH / P AT - RICK S TURM , Der Siechenhauskomplex vor den Toren Nördlingens. Entwicklung, Funktion und bauliche Gestalt vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch Historischer Verein für Nördlingen und das Ries 33 (2011), S. 25-54; A NNEMARIE K INZELBACH , Negotiating on paper: councillors, medical officers and patients in an early modern city, in: A NDREW M EN - DELSOHN / A NNEMARIE K INZELBACH / R UTH S CHILLING (Hg.), Civic Medicine. Physician, Polity and Pen in Early Modern Europe, London 2019, S. 161-180. 6 H ANS VON G ERSDORFF , Feldbuch der Wundartzney, Straßburg 1517, fol. 78-82, Zitat 78v; A NNEMARIE K INZELBACH , »an jetzt grasierender kranckheit sehr schwer darnieder«. »Schau« und Kontext in süddeutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: C ARL C HRISTIAN W AHRMANN / M ARTIN B UCHSTEINER / A NTJE S TRAHL (Hg.), Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten (Historische Forschungen 95), Berlin 2012, S. 269-282; K ARL S UDHOFF , Lepraschaubriefe aus dem 15. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte der Medizin 4 (1911), S. 370-378, hier 372f. 7 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 71-74. <?page no="85"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 85 auch mit Blick auf dessen seuchenpolizeiliche Kompetenzen - der Reichskreis den regionalen Bezugsrahmen einer Reichsstadt ebenso wie jene Nachbarschaft, zu der engere kommunikative Beziehungen bestanden, die durch herrschaftliche und damit politische, konfessionelle oder wirtschaftliche Interessen geprägt waren. 8 Solche durch kommunikative Handlungsweisen generierte und Praktiken hervorbringende Beziehungen stehen im Mittelpunkt meiner Ausführungen. 9 Anhand von Fallbeispielen aus verschiedenen schwäbischen Reichsstädten werde ich zeigen, dass den drei oben genannten Hospitaltypen vorwiegend differierende, in Teilaspekten auch übereinstimmende Beziehungen zur Region und mit diesen situativ verknüpfte Praktiken zugeordnet werden können. 1. Zentral-Hospital und herrschaftliche Beziehungen zur Nah-Region Die Beziehungen von Zentralhospitälern (in süddeutschen Quellen häufig der Spital) wiesen selten über den engeren Bereich des städtischen Territoriums hinaus, trugen aber zur Verklammerung von Stadt und Umland bei: 10 Einerseits sorgten bekanntlich Besitz von Land und Feudalrechten der Spitäler dafür, dass die Arbeit der Landbevölkerung aus der näheren Region den städtischen Bürgern nutzte. Andererseits 8 Zur Kommunikation innerhalb der Region und darüber hinaus beispielsweise C HRISTINE W ERKSTETTER , Die Pest in der Stadt des Reichstags. Die Regensburger »Contagion« von 1713/ 14 in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive, in: J OHANNES B URKHARDT / D IES . (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (Historische Zeitschrift, Beihefte NF 41), München 2005, S. 267-292. Zu Faktoren, die Beziehungen in Regionen prägen, beispielsweise D ANIEL S CHLÄPPI , Geschäfte kleiner Leute im Spannungsfeld von Markt, Monopol und Territorialwirtschaft. »Regionaler Handel« als heuristische Kategorie am Beispiel des Fleischgewerbes der Stadt Bern im 17. und 18. Jahrhundert, in: M ARK H ÄBERLEIN / C HRISTOF J EGGLE (Hg.), Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit (Irseer Schriften 6), Konstanz 2010, S. 451-476. Vgl. grundlegend R OLF K IESSLING , Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung 29), Köln u. a. 1989; C ARL A. Hoffmann/ R OLF K IESSLING (Hg.), Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Memmingen 2001. 9 Orientiert an D ANIEL S CHLÄPPI , Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Forschungsperspektiven hinsichtlich von Praktiken menschlichen Wirtschaftens im Umgang mit Ressourcen, in: A RNDT B RENDECKE (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Bd. 3, Köln 2015, S. 684-695, hier 687f. 10 Zum Begriff ›der Spital‹ siehe die Quellenbelege zum Lemma ›Spital‹ im Deutschen Rechtswörterbuch online https: / / drw-www.adw.uni-heidelberg.de/ drw-cgi/ zeige? index=lemmata &term=spital (aufgerufen am 18.4.2021). <?page no="86"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 86 übernahm die städtische Regierung in bestimmten Situationen die Sorge für das körperliche und seelische Wohl ihrer ländlichen Untertanen. 11 Diese Aspekte werde ich im Folgenden näher ausführen und vor allem die jeweiligen Hinter- und Beweggründe für solches Handeln im situativen Kontext beleuchten. Wie im Fall der Heilig-Geist-Hospitäler lagen die in der Literatur auch ›Bürgerspital‹ benannten, zentralen und multifunktionalen Hospitäler im Inneren der Stadtmauern und befanden sich somit lokal und kulturell inmitten der städtischen Gemeinschaft. 12 Die städtischen Bürger trugen durch Legate, Almosen und Arbeitsleistungen zu diesen Einrichtungen bei, sorgten damit gleichzeitig für bürgerliche Repräsentation und nahmen darüber hinaus das Spital seit dem späten Mittelalter auch zunehmend für sich in Anspruch. 13 Reichsstadtregierungen machten diese Hospitäler bekanntlich zu Verwaltungszentralen, von denen aus sie auch andere Häuser, darunter die Seuchen- und Leprahospitäler, kontrollieren sowie teilweise finanzieren konnten. Die Ratsmitglieder definierten das Bürgerrecht oder langjährige Dienste in der Stadt als Voraussetzung für die Aufnahme in diese Häuser. 14 Zur selben Zeit verfügten vor allem Heilig- 11 Zur Multifunktionalität A NNEMARIE K INZELBACH , Hospitals, medicine, and society: southern German imperial towns in the sixteenth century, in: Renaissance studies 15 (2001), S. 217-228; für eine aktuellere Zusammenfassung zu einem einschlägigen Reichsstadthospital S TEFAN S ONDEREGGER , Das Stadtsanktgaller Spital (Heiliggeistspital) im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeit für Medizin! Einblicke in die St. Galler Medizingeschichte, hg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen (Neujahrsblatt 151), St. Gallen 2011, S. 69- 74. Aktuelle, allgemeine Forschungsüberblicke für andere Regionen bieten M. S CHEUTZ / A. S T . W EISS , Spital (Anm. 2), S. 15-48; M ICHEL P AULY , Peregrinorum, pauperum ac aliorum transeuntium receptaculum; Hospitäler zwischen Maas und Rhein im Mittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 190), Stuttgart 2007. Über das HRR hinausgehend T HOMAS F RANK , The Lands of Saint Mary. The Economic Bases of the Hospital of Santa Maria dei Battuti. Treviso, 15th-16th Century, in: Reti Medievali Rivista 17 (2016), S. 249-279. 12 U LRICH K NEFELKAMP , Stadt und Spital im späten Mittelalter, in: P ETER J OHANEK (Hg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800 (Städteforschung A 50), Köln 2000, S. 19-40; A. K INZELBACH , Hospitals (Anm. 11), S. 217-228; M. S CHEUTZ / A. S T . W EISS , Spital (Anm. 2), Spital, S. 57-70. 13 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 325-350; zur repräsentativen Absicht von Stiftungen u. a. G ISELA D ROSSBACH , Bild und Text im »Liber Regulae« des römischen Hospitals von Santo Spirito in Sassia, in: N EITHARD B ULST / K ARL H EINZ S PIESS (Hg.), Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler (Vorträge und Forschungen 65), Ostfildern 2007, S. 125-161. 14 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 323-352; U LRICH K NEFELKAMP , Über die Pflege und medizinische Behandlung von Kranken in Spitälern vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: M ICHAEL M ATHEUS (Hg.), Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich, Stuttgart 2005, S. 175-194. <?page no="87"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 87 Geist-Hospitäler über ausgedehnte Besitzungen, deren Erwerb auf Kreditvergabe, Kauf, Nachlässe und Stiftungen zurückzuführen ist. 15 Reichsstädten gelang es vielfach, Herrschafts- und damit Territorialrechte in Gebieten mit ausgedehnten Besitzungen des Hospitals zu erwerben. 16 So trug beispielsweise in Überlingen das Heiliggeistspital mit seinem weit verteilten Streubesitz wesentlich zum städtischen Territorium der innerhalb der Mauern nur etwa 3.500 Einwohner umfassenden Reichsstadt bei. 17 Im Alltag konnte die reichsstädtische Obrigkeit, zu der häufig die Pfleger des Hospitals gehörten, die Ressourcen ihres (Spital-)Territoriums direkt nutzen, um Gesundheit und Wohlergehen der Stadtbewohner zu fördern. 18 Denn Feudalabgaben trugen wesentlich zur Ernährung von Hospitalinsassen und Almosenempfängern, aber auch von zahlreichen Personen in Ämtern sowie Handwerkern und Tagelöhnern bei, die für das Hospital und meist auch die Stadt arbeiteten. 19 Vorschriften für die Bauern im Territorium sorgten dafür, dass diese durch ihr Angebot 15 Dazu schon grundlegend U LRICH K NEFELKAMP , Stiftungen und Haushaltsführung im Heilig-Geist-Spital in Nürnberg. 14.-17. Jahrhundert, Bamberg 1989, S. 9-107; aber auch H ANNES L AMBACHER , Das Spital der Reichsstadt Memmingen. Geschichte einer Fürsorgeanstalt, eines Herrschaftsträgers und wirtschaftlichen Großbetriebes und dessen Beitrag zur Entwicklung von Stadt und Umland (Memminger Forschungen 1), Kempten 1991, S. 11- 96, 265-300. Dies gilt nicht nur für Hospitäler von Reichsstädten, siehe u. a. J ENS A SPEL - MEIER , Die Haushalts- und Wirtschaftsführung landstädtischer Hospitäler in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Eine Funktionsanalyse zur Rechnungsüberlieferung der Hospitäler in Siegen und Meersburg, Diss. phil. Univ. Siegen, Siegen 2009, v. a. S. 6-8, 343-346. 16 U. K NEFELKAMP , Stadt und Spital (Anm. 12), S. 39; A NDREA R IOTTE , Das Biberacher Heilig-Geist-Spital 1500-1806, in: M ARTIN L OTH (Hg.), Der Hospital zum Heiligen Geist in Biberach. Gegenwart und Geschichte, Biberach 1997, S. 119-190; H ERMANN F RICKHINGER , Die Stiftungen der Stadt Nördlingen, in: Jahrbuch Historischer Verein für Nördlingen und Umgebung 9 (1922/ 1924), S. 28-112, hier 47-78; H EINRICH W ILHELM B ENSEN , Ein Hospital im Mittelalter. Beitrag zu der Geschichte der Wohlthätigkeitsstiftungen, Regensburg 1853, S. 47-62. 17 Siehe die Karte in W OLFGANG B ÜHLER , Ein Gang durch die Geschichte. Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsfreiheit, in: D ERS . (Hg.), Überlingen, Bild einer Stadt. In Rückschau auf 1200 Jahre Überlinger Geschichte 770-1970, Überlingen 1970, S. 19-33. 18 H ANS G REINER , Geschichte des Ulmer Spitals im Mittelalter, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte NF 16 (1907), S. 78-156, hier 144f.; W ILFRIED E NDERLE , Konfessionsbildung und Ratsregiment in der katholischen Reichsstadt Überlingen (1500- 1618) im Kontext der Reformationsgeschichte der oberschwäbischen Reichsstädte (Veröff. KfgLK BW B 118), Stuttgart 1990, S. 425-455; R UDOLF B ÜTTNER , Das Konstanzer Heilig- Geist-Spital und seine Besitzungen im Linzgau. Studien zur ländlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vornehmlich zwischen 1548 und 1648 (Konstanzer Dissertationen 140), Konstanz 1986, S. 113-128, 519. 19 Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. 4°486 b, fol. 50v; StadtA Überlingen, Spitalarchiv, <?page no="88"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 88 die Lebensmittelversorgung der Stadt sicherten, das städtische Kaufhaus mit Getreide versorgten und damit indirekt zum Einkommen der Stadtbewohner beitrugen. 20 Diese Herrschaftsbeziehung zwischen Reichsstadtregierung und Bewohnern der ländlichen (territorialen) Region kann jedoch nicht auf die beschriebenen, für die Stadtgemeinde profitablen Verhältnisse begrenzt werden. 21 Vielmehr zeigten die Ratsmitglieder ihren Untergebenen ein Janusgesicht, weil die herrschaftliche und rechtliche Gemengelage Feudalherren dazu zwang, politische, juristische und soziale Handlungsweisen mit ihren Untergebenen auszuhandeln. Im Bodenseeraum, beispielsweise, konkurrierten Vertreter der Habsburger, von verschiedenen Klöstern und Abteien mit Ratsmitgliedern, Grafen und Rittern sowie Freiherren teilweise im selben Dorf um die konkrete und symbolische Ausübung von Herrschaft. Sogar relativ kleine Reichsstädte wie Überlingen verfügten über Besitzungen des Spitals sowie stadteigene Territorien, die sich nach drei Himmelsrichtungen um jeweils mehr als 20 Kilometer ausdehnten und Dörfer, Siedlungen und Höfe umfassten, in denen sich Feudal- und Besitzrechte überschnitten. Dies erforderte Abstimmungsprozesse mit sozial und konfessionell diversen Partnern. Unter diesen befanden sich das zunächst reichsstädtische, dann vorderösterreichische Konstanz, das Konstanzer Bistum, Abteien und Klöster wie Salem (Salmansweiler), Vögte und Herrscher von Fürstentümern und Grafschaften wie Vorderösterreich, Hohenzollern, Heiligenberg, Nellenburg oder einzelne Reichsritter. 22 Die daraus immer wieder resultierenden Nr. 5, 6, 9, 108, 109, 112a/ 2, 1361; StadtA Überlingen, Nr. 760, 1419, 2516; Fürtragbuch 1626-1627; s. a. A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 305-317, 344-352. 20 H ERMANN H EUSCHMID , Die Lebensmittel-Politik der Reichsstadt Überlingen bis zum Anfall an Baden, Freiburg 1909, v. a. S. 46-62; F RANK G ÖTTMANN , Getreidemarkt am Bodensee. Raum - Wirtschaft - Politik - Gesellschaft (1650-1810) (Beiträge zur südwestdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 13), St. Katharinen 1991; allgemeiner S TEFAN S ONDEREGGER , Städtisches Geld regiert auf dem Land. Die Territorialpolitik der Reichsstadt St. Gallen im Vergleich mit Zürich, in: M ICHAEL R OTHMANN / H ELGE W ITTMANN (Hg.), Reichsstadt und Geld. 5. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Petersberg 2018, S. 201-228. 21 Die Reichsstädte Ulm und Nürnberg verfügten über Territorien, in denen einzelne Siedlungen mehr als 50 km von der Stadt entfernt lagen; H ANS E UGEN S PECKER , Ulm Reichsstadt, publiziert am 10.8.2010, in: Historisches Lexikon Bayerns, http: / / www.histori sches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Ulm,_Reichsstadt (aufgerufen am 19.4.2021); M ICHAEL D IEFENBACHER , Nürnberg, Reichsstadt: Territorium, publiziert am 10.3.2010, in: ebd. http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Nürnberg,_Reichsstadt: _Territorium (aufgerufen am 19.4.2021) 22 Digitaler Atlas zur Geschichte Europas, Heiliges Römisches Reich in Mitteleuropa 1648, bearb. von A NDREAS K UNZ / C AROLIN H EYMANN / R OBERT M OESCHL https: / / www.atlaseuropa.de/ t01/ mitteleuropa/ HRR_1648/ web/ index.html (aufgerufen am 30.9.2020); zu Kooperation und Konkurrenz mit umgebenden Herrschaftsträgern auch A NNEMARIE K INZELBACH , Leprosaria: The Simultaneity of Segregation and Integration in Early Modern <?page no="89"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 89 Spannungen ließen es notwendig erscheinen, dass sich Überlinger Bürgermeister und Rat als vorbildliche Herrscher über ihre Untertanen im Territorium präsentierten. Dazu gehörte wesentlich, Leben und Gesundheit, Rechte und Besitz der Abhängigen zu schützen, was insbesondere in konfliktreichen oder kriegerischen Situationen sowohl diplomatisches Geschick als auch teilweise Kooperation und erhebliche Ressourcen erforderte. Dies illustrieren die folgenden beiden Beispiele: 23 Wie gegnerische Seiten versuchten, Gesundheit als Argument zu instrumentalisieren, und welche Formen der Einsatz für Bewohner ländlicher Territorien annehmen konnte, illustriert die Abwehr eines Übergriffes auf einen ›Untertanen‹ des Überlinger Heiliggeistspital. 24 Eine genauere Analyse des Hintergrundes deutet darauf hin, dass territoriale Rivalität und konfessionelle Gegnerschaft eine wichtige Rolle spielten, gleichzeitig wird deutlich, wie sich gesundheitliche Fürsorge auf sehr verschiedene Weise politisch inszenieren ließ. Jerg Wagner aus Sipplingen hatte seine Lehens- und Gerichtsherren, Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Überlingen, im Mai 1543 veranlasst, zu seinen Gunsten einzugreifen, weil er sich nicht krank fühlte, aber wegen Aussatz von seinem Besitz vertrieben worden war. Die Überlinger Regierungsmitglieder schilderten in ihrem Schreiben die nächtliche und gewaltsame Entführung Wagners nach Konstanz. 25 Mit dieser Aktion hatten die Gegner des Überlinger Untertanen nicht nur ihre Macht über diesen vor Augen geführt, sondern ihn auch in das konfessionell gegnerische Lager geführt. Gleichzeitig demonstrierten die Konstanzer ihren traditionellen Rivalen um Besitz und Feudalrechte in der Umgebung von Sipplingen ihre Einflussmöglichkeiten auf Überlinger Spitaluntertanen. 26 Vor diesem Hintergrund ist nicht nur das Ergebnis der Konstanzer Lepraschau einzuordnen, die auf schuldig lautete. 27 Vielmehr gehören dazu zum einen die Reaktionen des Bauern, der seine Herrschaft mit Erfolg um Hilfe bat, seinen wirtschaftlich und sozialen Ruin zu verhindern und das pseudo-gesundheitliche Argument zu ent- Southern German Towns, in: J ANE S TEVENS C RAWSHAW / I RENA B ENYOVSKY L ATIN / K ATHLEEN V ONGSATHORN (Hg.), Tracing Hospital Boundaries. Integration and Segregation in Southeastern Europe and Beyond, 1050-1970 (Clio medica 102), Leiden 2020, S. 46-66. 23 Zu den Herrschaftskriterien U RTE W EEBER , Republiken als Blaupause. Venedig, die Niederlande und die Eidgenossenschaft im Reformdiskurs der Frühaufklärung (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 42), Berlin-Boston 2016, S. 265-406. 24 StadtA Überlingen, Spitalarchiv 113: Briefkonzept, 10.5.1543. Im Unterschied zu den Jahrhunderten davor, in denen kurzerhand Besitzungen von Gegnern zerstört und dessen Untergebene getötet wurden, beispielsweise: Die Chroniken der schwäbischen Städte, Augsburg, Bd. 2, hg. v. F RIEDRICH R OTH (DStChr 5), Leipzig 1866, S. 2-11. Ausführlicher zum Folgenden A. K INZELBACH , Leprosaria (Anm. 22), v. a. S. 51-59. 25 StadtA Überlingen, Spitalarchiv 113: Briefkonzept, 10.5.1543. 26 A. K INZELBACH , Leprosaria (Anm. 22), S. 54-57. 27 StadtA Überlingen, Spitalarchiv 113: Briefkonzept, 10.5.1543. <?page no="90"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 90 kräften. Seine Gesundheit bestätigte, wie erwartet, eine zweite medizinische Untersuchung in Überlingen. Zum andern belegt das weitere Vorgehen der Überlinger Ratsmitglieder einen diplomatischen Vorstoß, der das Taktieren der Gegner mit Hilfe rechtlicher und gesundheitlicher Argumentation untergraben sollte. Vorsichtig juristische und medizinische Argumente formulierend machten sie klar, dass sich keine der Maßnahmen rechtfertigen ließ, diese zudem gegen Überlinger Privilegien verstießen und schließlich auch der Konstanzer Befund laut der eigenen, dezent als medizinisch präzise geschilderten Untersuchungsmethode, falsch sei. Vor allem aber umgingen sie die Gegner in Sipplingen und Konstanz, indem sie ihr Schreiben an den habsburgischen Landvogt zu Nellenburg, den Ritter Hans Jacob von Landau zu Landau richteten. 28 Damit schalteten sie zwar einen weiteren Konkurrenten um Territorien ein, aber offensichtlich rechneten die Überlinger zu Recht damit, dass die konfessionelle Übereinstimmung zu diesem Zeitpunkt den Ausschlag geben würde. 29 Solch fürsorglichem Handeln lag folglich ein Gemisch aus konfessionellen, politischen und wirtschaftlichen Interessen zugrunde. Ein begrenztes Maß an Fürsorge war in alltäglichen wie in außergewöhnlichen Situationen üblich. Sie erstreckte sich ebenso auf die Bauern im Territorium von Stadt und Spital wie auf städtische Bürger und Einwohner. Die Almosenfonds sowohl katholischer als auch lutherischer Reichsstädte, deren Mittel teilweise aus Heilig-Geist-Hospitälern stammten, versorgten in der engeren Region ›Arme‹ bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. 30 Besondere Herausforderungen sowohl hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft als auch des Ressourceneinsatzes brachten Kriegszeiten mit sich: Die Bauern des Territoriums suchten dann Zuflucht in der Stadt. Wo Egodokumente erhalten sind, wie in Ulm, ist dieses Verhalten seit dem 16. Jahrhundert schriftlich festgehalten. 31 Am Exempel Überlingens wird außerdem deutlich, dass auch in solchen Fällen reichsstädtische Regierungen das eigene Handeln mit benachbarten Herrschaften 28 StadtA Überlingen, Spitalarchiv 113: Briefkonzept, 10.5.1543. 29 In den Jahren 1547 und 1548 versuchte Überlingen sogar, im konfessionellen Konflikt zwischen Kaiser, Bischof und Gemeinde in Konstanz zu vermitteln; StadtA Überlingen, Reutlinger Collectaneen, Bd. 2,2, fol. 318-325, 335-337. 30 StadtA Überlingen, Nr. 116, 144, 145, 760; C 161, 1592-1634; Reutlinger Collectaneen, Bd. 9, fol. 91v, 95-100; Spitalarchiv, Nr. 1, 5, 131b, 131c; StadtA Ulm A 3531, 8, fol. 638- 640; 10, fol. 853-854; 11, fol. 47-102, 171-177, 297-309, 336-344, 399, 407-418; A [4152], [4152/ 1]; A [9595]. 31 S EBASTIAN F ISCHER , Sebastian Fischer’s Chronik, besonders von Ulmischen Sachen, hg. v. G USTAV K. V EESENMEYER , Ulm 1896, S. 126 (1546 Flucht der Bauern vor kaiserlichen Truppen); G ERD Z ILLHARDT , Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung, Hans Heberles »Zeytregister« (1618-1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium, ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 13), Ulm 1975 (30-malige Flucht aus dem ländlichen Territorium nach Ulm). <?page no="91"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 91 eng abstimmten. In Absprache mit Vertretern der Städte Konstanz und Radolfzell erließ der Überlinger Rat am 9. November 1632 folgende Aufforderung an alle Bewohner seiner Landgemeinden: Sie sollten sich unverzüglich in den Schutz der reichsstädtischen Mauern begeben und jeweils zwei Malter Korn oder einen Malter Korn und einen Malter Mehl mit sich bringen. Nach Ablauf von zwei Wochen beschloss die Ratsversammlung, widerspenstige Underthon zur Not mit gewalt einschließlich ihrer Ernte, ihres Viehs und ihrer Pferde in die Stadt bringen zu lassen. 32 Diese Maßnahmen verfolgten zweierlei Ziele: Einerseits sollten sie Gut, Leib und Leben der Landbewohner schützen, andererseits trugen die Vorräte der Bauern unmittelbar zur Lebensmittelversorgung der Stadt bei. Eine ausreichende Versorgung mit Grundnahrungsmitteln stand prinzipiell im Fokus der Ratspolitik und richtige sowie ausreichende Ernährung stuften vormoderne Ärzte, aber auch Bürger als entscheidend für die Bewahrung der Gesundheit ein. 33 In diesem Fall verstärkte der Rat seine Bemühungen, da eine Belagerung durch konfessionell gegnerische Truppen zu befürchten war, die schon 1632 für sehr kurze Zeit stattgefunden hatte. Die dann aufgrund stark anwachsender Soldatenaufmärsche im Januar 1634 erfolgte Flucht der ländlichen Untertanen in die Stadt erforderte im Gegenzug auch den Einsatz städtischer Ressourcen für 439 Landbewohner (und deren Familien), die durch Lebensmittelspenden und Allmosen unterstützt wurden. Mit der Aufnahme in die Mauern der Stadt und seinen Unterstützungsleistungen hatte der Überlinger Rat Fürsorge für die Bauern des Territoriums übernommen. Aber aufgrund der nunmehr beengten Verhältnisse in der im April 1634 von den Schweden belagerten Stadt kam es zum Ausbruch einer verheerenden Epidemie mit vielen Opfern. Zahlreiche Gebäude außerhalb und innerhalb der Stadtmauern wurden von den Belagerern zerstört. 34 Landbewohner, die nicht in der Reichsstadt Zuflucht gesucht hatten, erlitten teilweise Ausplünderung, Folter und Tod durch die überall herumschweifenden schwedischen Truppen, wie aus Berichten von Zeitgenossen hervorgeht. Auch sie blieben - vermutlich in Folge der Truppendurchzüge - nicht von der Epidemie verschont. Nicht wenige Bauern aus dem Territorium von Stadt und Spital bevorzugten deshalb die Enge der Stadt. Sogar Bewohner anderer catholischer Herrschaften in der Region suchten in den Überlinger Mauern Schutz; in dieser akuten Kriegssituation 32 StadtA Überlingen, Ratsprotokolle 1632, fol. 11, 19v. 33 A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 108-133, Tabelle A 1; allgemeiner zum Hintergrund von Lebensmittelbevorratung V ALENTIN G ROEBNER , Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993, v. a. S. 61-110. 34 StadtA Überlingen, Ratsprotokolle 1632, fol. 11, 19v; 1635, S. 4; Reutlinger Collectaneen, Bd. 2, fol. 390v; Missiva 1635 (unnummeriert); Spitalarchiv, Nr. 131b, 136b; J OHANN H EIN - RICH VON P FLUMMERN , Die Tagebücher des Dr. Johann Heinrich von Pflummern. 1633- 1643, hg. v. A LFONS S EMLER (Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Beiheft 98, NF 59), Karlsruhe 1950, S. 125-145. <?page no="92"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 92 traten Unabhängigkeits- und Konkurrenzdenken sowie Konflikte in den Hintergrund. 35 Zumindest teilweise erfolgte die notwendige Finanzierung der Almosen aus den Einkünften des Heilig-Geist-Hospitals. Die Spitalbauern hätten somit sowohl ihren Beitrag zur Gesunderhaltung der Stadtbevölkerung durch Nahrung geleistet, als auch selbst davon erheblich profitieren können, wenn die auftretende Seuche nicht solch positive Effekte überlagert hätte. 36 2. Das periphere Hospital als Manifestation vielfältiger Beziehungen zwischen Stadt und Region In Abbildung 1 wird die Unterschiedlichkeit der beiden Hospitaltypen - Zentralhospital und peripheres Hospital - auch optisch deutlich. Wie in anderen schwäbischen Reichsstädten lag das Heilig-Geist-Hospital von Nördlingen, hier gekennzeichnet mit den Buchstaben C und D, dominant innerhalb des Mauerrings, während im Vordergrund des Merian-Stiches mit dem Buchstaben Q Teile des deutlich bescheidener dargestellten Leprosen-Hospital-Komplexes angedeutet sind, der außerhalb der städtischen Mauern und Gräben lag. Der Komplex befand sich zur hier dargestellten Erfassungszeit möglicherweise noch im Wiederaufbau, weil er während des Dreißigjährigen Krieges abgerissen worden war. 37 Die Beziehung zwischen den reichsstädtischen Leprosorien als periphere Hospitäler und der Region waren zwar komplex, aber im Prinzip trug dieser Hospitaltyp zur Intensivierung von gesundheitsbezogenen regionalen Beziehungen bei. Dieser Intensivierung war stets nur vorübergehend abträglich, dass lokale Herrscher mit Demonstrationen ihrer Macht oder durch die Beteiligung an überregionalen Konflikten diese Einrichtungen zerstörten oder Anlass für ihre Zerstörung gaben. Wie Informationen zu Augsburg, Memmingen, Nördlingen, Ulm und Überlingen zeigen, 35 J OHANN H EINRICH VON P FLAUMERN [Johann Heinrich von Pflummern], Überlingische Belagerung. Das ist: Abdruck-Schreibens an die Römische Kayserliche Majestät Ferdinandum II. von Burgermeistern, und Rath des H. Röm. Reichs-Stadt Uberlingen, Konstanz 1756, S. 3-32; S EBASTIAN B ÜRSTER , Beschreibung des Schwedischen Krieges 1630-1647, hg. v. F RIEDRICH VON W EECH , Leipzig 1875, S. 37-81. Insbesondere die schrecklichen Erlebnisse von Landbewohnern während des Dreißigjährigen Krieges wurden allgemein literarisch verarbeitet in H ANS J AKOB C HRISTOFFEL VON G RIMMELSHAUSEN , Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. Abdruck der editio princeps (1669) mit der stark mundartlich gefärbten, nicht von einem berufsmäßigen Korrektor überarbeiteten Originalsprache des Verfassers, hg. v. J. H. S CHOLTE (Neudrucke deutscher Literaturwerke 302-309), Tübingen 1954. 36 StadtA Überlingen, Ratsprotokolle 1632, fol. 11; 1642, S. 630; Spitalarchiv, Nr. 131b. 37 A. K INZELBACH / P. S TURM , Siechenhauskomplex (Anm. 5), S. 36-47. <?page no="93"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 93 Abb. 1: Ausschnitt mit Heilig-Geist-Hospital (C, D) und Leprosen-Hospital (Q) aus Nördlingen; M ARTIN Z EILLER / M ATTHAEUS M ERIAN d. Ä., Topographiae Sveviae […], Frankfurt a. M. 1643/ 55, zwischen S. 140f. erfolgte meist ein Wiederaufbau. 38 Damit entwickelten sich die in schwäbischen Quellen auch Siechen-, Sondersiechen- oder Arme Kinderhäuser genannten Hospitäler zu Verkörperungen regionaler Beziehungen. Diese Beziehungen verbanden 38 P AUL VON S TETTEN , Beschreibung der Reichs-Stadt Augsburg nach ihrer Lage, jetzigen Verfassung, Handlung und den zu solcher gehörenden Künsten und Gewerben […], Augsburg 1788, S. 89; F RANZ W ILHELM A YMAIR , Exhortatio, Das ist: Kurtze Red-Verfassung Dardurch […] möglichste Hülff zu leisten, […], Augsburg 1701; C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronick, Oder Kurtze Erzehlung vieler denckwürdigen Sachen […] Ulm 1660, S. 4f., 19, 69 (Chronikteil); S. F ISCHER , Chronik (Anm. 31), S. 127 (Abriss 1546); StadtA Ulm, A [9595]: das mehrfach abgerissene und wieder aufgebaute Leprosorium existierte noch im <?page no="94"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 94 Herrschaften sowohl innerhalb politisch definierter Regionen wie den Reichskreisen Schwaben und Franken als auch in geographisch geprägten Regionen wie der Bodenseeregion und dem Ries. Diese gebaute Manifestation regionaler Beziehungen lässt sich schon im Mittelalter feststellen. Sie wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein im Kontext spezifischer Interessen fortgesetzt, intensiviert oder neu begonnen, wie die folgenden Ausführungen zeigen. 39 An den Bewegungsfiguren in Abbildung 1 wird deutlich, dass Menschen in sehr unterschiedlichen Absichten das vor den Mauern gelegene Leprosorium passierten. Mit kirchlichen, wohnlichen und zweckgebundenen Gebäuden sowie einer Gartenanlage empfing und verabschiedete die Einrichtung Besucher der Reichsstadt und erfüllte deshalb auch Aufgaben als Vorposten der städtischen Gemeinschaften und als Teil ihrer Selbstdarstellung. 40 Wie bereits erwähnt, dienten diese Hospitäler seit etwa dem 15. Jahrhundert nur noch in Ausnahmefällen der Verwahrung von Aussätzigen, die im deutschsprachigen Raum generell selten als solche diagnostiziert wurden, obwohl entsprechende Beschuldigungen verbreitet waren. 41 18. Jahrhundert; J. H. v. P FLAUMERN [Pflummern], Überlingische Belagerung (Anm. 35), S. 21; StadtA Überlingen, Spitalarchiv, Nr. 106a/ 2, 112a, 113. 39 Schon in der Hospitalgründung sowie bei erweiternden Schenkungen werden häufig regionale Beziehungen sowie politische Statements verschiedener Seiten deutlich; StadtA Überlingen, Spitalarchiv, Nr. 1, 5, 60-67, 77, 113, 664-667; Reutlinger Collectaneen, Bd. 3, fol. 11-16, 21-34, 46-57; siehe beispielsweise auch A RTUR D IRMEIER , 800 Jahre St. Katharinenspital in Regensburg. Karitas im Spannungsfeld kirchlicher und weltlicher Herrschaft, in: D ERS . (Hg.), Leben im Spital. Pfründner und ihr Alltag, 1500-1800 (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens 12), Regensburg 2018, S. 119-139, v. a. S. 119-125; H EINZ M USCHEL , Das Spital der Reichen Siechen zu St. Katharina in Ulm. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung zur Inkorporation von Wohlfahrtsanstalten durch die Reichsstadt im ausgehenden Mittelalter (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 5), Ulm 1965, v. a. S. 49-50. 40 A. K INZELBACH , Leprosaria (Anm. 22), S. 61-66; zu Nürnberg W ALTER S TEINMAIER , St. Jobst. Das Aussätzigenspital am Empfangsweg des Kaisers; Herrscherkult und Siechenhaus. Ein Beitrag zum Stadtausbau unter Karl IV. und zum Spitalwesen der freien Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 2006, S. 59-122. 41 Die Bezeichnungen Aussatz und Lepra sowie davon abgeleitete Wörter werden hier - wie auch in der frühneuzeitlichen Literatur - synonym verwendet. Während im mittelalterlichen Frankreich 46 % der schriftlich überlieferten Schaudokumente auf ›leprös‹ lauteten, waren dies im deutschsprachigen Raum seit 1500 nur 10 %; L UKE D EMAITRE , Official Objectives of the Visitatio Leprosorum. Ambiguity, Ambivalence, and Variance, in: C AROLE R AW - CLIFFE / C LAIRE W EEDA (Hg.), Policing the Urban Environment in Premodern Europe (Premodern crime and punishment 1), Amsterdam 2019, 271-312, hier 281. Zu den Mechanismen der Beschuldigung A NDREW J. M ENDELSOHN / A NNEMARIE K INZELBACH , Common Knowledge: Bodies, Evidence, and Expertise in Early Modern Germany, in: Isis 108 (2017), S. 259-279, hier v. a. S. 266-271. <?page no="95"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 95 Darüber hinaus galt Lepra im Anfangsstadium als heilbar. 42 In größeren und mittleren schwäbischen Reichsstädten nahmen die Leprosorien Personen mit sehr verschiedenen, als behandelbar eingeschätzten Leiden auf. 43 Darunter befanden sich auch solche, die an als endemisch und behandelbar eingeschätzten Krankheiten litten und beispielsweise mit Schorbock bzw. scorbutischen Krankheiten geplaget waren. 44 Obgleich es sich bei den Lepra-Hospitälern um peripher gelegene Bauten der städtischen Gemeinschaft handelte, deren Bestand immer wieder durch Einwirkungen von außen gefährdet war, wurde nicht auf Schaufassaden verzichtet. Durch die architektonische Gestaltung sandten die Reichsstädte in Stein gebaute Botschaften in nachbarliche Regionen, die sowohl die Vorbildlichkeit der städtischen Regierung als auch die Karitas der Bürger unterstrichen. In Nördlingen diente die repräsentative Gestaltung des Leprosoriums darüber hinaus auch der bewussten Selbstdarstellung der protestantischen Stadt gegenüber den benachbarten katholischen Grafen von Oettingen-Wallerstein. 45 Vor allem aber konnten Reichsstadtregierungen ihre Lepra-Hospitäler auch als Mittel einsetzen, mit dem sie gegenüber verschiedenen Herrschaften der politisch oder landschaftlich definierten Region ihre Kooperationsbereitschaft im Gesundheitswesen und darüber hinaus demonstrierten, wie die folgenden Beispiele illustrieren: Mit einer vorübergehenden Aufnahme von Fremden (Leprosen) ins Hospital oder dem Angebot einer damit verbundenen Dienstleistung wie der Siechenschau für Untergebene anderer Herrschaftsträger signalisierten die städtischen Regierungen ihre Bereitschaft zu deren Unterstützung. Die meisten Siechenhausordnungen sahen vor, dass Fremde über Nacht aufgenommen werden und sich eine begrenzte Zeit in den Einrichtungen aufhalten durften. In Nördlingen wies die spätmittelalterliche Ordnung sogar explizit darauf hin, dass nach Torschluss eintreffenden Reisenden im dortigen Leprosorium Unterkunft gewährt werden sollte. In Überlingen existierte eine Fremden Stube, in der sich 1604 insgesamt 26 Personen aufhielten, von denen 42 Zur Meinung praktizierender Ärzte beispielsweise H. VON G ERSDORFF , Feldbuch (Anm. 6), S. 78-82; J OACHIM S TRUPP , Nützliche Reformation, zu guter Gesundtheit, und christlicher Ordnung, sampt hierzu dienlichen Erinnerungen […], Frankfurt am Mayn 1573, S. 17-18. Siehe auch E LISABETH C LEMENTZ , Leprosen im Elsaß im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit. Fürsorge oder Ausgrenzung? , in: K ONRAD K RIMM / D OROTHEE M USSGNUG / T HEODOR S TROHM (Hg.), Armut und Fürsorge in der frühen Neuzeit (Oberrheinische Studien 29), Ostfildern 2011, S. 96-111, hier 110. 43 P. VON S TETTEN , Beschreibung (Anm. 38), S. 89; StadtA Nördlingen, R 39 F 2, Nr. 12-48; A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 359-363. 44 Ärzte schrieben die Ursache sowohl bestimmten Regionen und Organen wie auch bestimmten Nahrungsmitteln zu; G REGOR H ORST , Büchlein von dem Schorbock […] Durch Gregorium Horstium der Artzney Doctorn, Professorn, vndd Fürstlichen Hallischen Leib Medicum […], Giessen 1615, v. a. S. 3-10, 15-21. 45 A. K INZELBACH / P. S TURM , Siechenhauskomplex (Anm. 5), S. 38-46. <?page no="96"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 96 zehn über längere Zeit versorgt wurden. In dieses Leprosorium wurde überdies zum jährlichen Armenfest an Allerseelen ein Mehrfaches aus der näheren und weiteren Region zum Verweilen über Nacht eingeladen. Ob ein Allerseelenfest in Memmingen die Reformation überdauerte und vergleichbar mobile Leprose anzog, bleibt unklar. Ein weit größeres Fest für Arme und Leprose aus der Region anlässlich der Sondersiechenschau im evangelischen Nürnberg während der Osterwoche könnte indes darauf hinweisen, dass solche Festveranstaltungen eher die Regel als eine Ausnahme gewesen sind. 46 Am Einzelfall lässt sich ausloten, welche Bedeutung Leprosorien zugeschrieben werden muss, wenn es darum ging, auf Gegenseitigkeit beruhende politische und konfessionelle Allianzen in der Bodenseeregion und in Schwaben zu festigen und zu etablieren, die auf gemeinsamen Interessen im Gesundheitswesen basierten, aber weit darüber hinausreichende Funktionen hatten. Mit Leprosorien verbundene Handlungsweisen konnten beispielsweise dazu dienen, Herrschaftsansprüche und Privilegien gegenseitig zu bestätigen, dies illustriert das folgende Fallbeispiel, sobald man es in seinem historischen Kontext betrachtet. Abbildung 2 zeigt die Textseite eines Schreibens des Untervogts von Bludenz an Rat und Bürgermeister der Reichsstadt Überlingen vom 12. Juni 1532. Der über eine rein informative Mitteilung hinausgehende Stellenwert des Schriftstücks lässt sich schon an einem münz-großen Siegel ablesen, dessen rückseitiger Durchschlag im Papier links unten noch sichtbar ist. Der Untervogt teilte mit, im Namen des Kaisers und von Wolf Dietrich (1507-1538) von Ems zu Hohenems, Vogt zu Bludenz und Sonnenberg, übersende er einige Personen aus der Herrschaft Bludenz. Sechs Frauen und fünf Männer waren auf einem beigefügten Zettel namentlich aufgeführt. Diese seien der vssetzigkait verleumpt, d. h. ihre Umgebung beschuldigte sie, leprös zu sein. Zwei Boten dienten als Begleitung auf die schaw in Überlingen, wo die elf Beschuldigten von dortigen geschworenen Leprabeschauern untersucht werden sollten. Der Vogt bitte um einen schriftlichen Bericht darüber, welche der vssezigkait schuldig, ald ledig seyen. Die Befunde sollten den Boten ausgehändigt werden, einschließlich der Auskunft über die entstandenen Kosten, die Vogt und Untervogt begleichen würden. 47 Zu diesen Kosten zählte nicht nur die Schaugebühr, sondern 46 StadtA Nördlingen, Bestand Siechenhaus unverz. 1487; Chronik Sixt Stoll, fol. 17-28; C HR . S CHORER , Chronick (Anm. 38), S. 24 (Chronikteil); A. K INZELBACH , Gesundbleiben (Anm. 3), S. 360-361; F RITZ D ROSS / A NNEMARIE K INZELBACH , »nit mehr alls sein burger, sonder alls ein frembder«. Fremdheit und Aussatz in frühneuzeitlichen Reichsstädten, in: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 1-23. Siehe auch M ARTIN R IEGEL , Lepra, Pest und andere Seuchen. Krankheit und Krankenpflege in Kitzingen am Main zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 29), Hamburg 2002, S. 77, 80. 47 StadtA Überlingen, Spitalarchiv, Nr. 113: 12.6.1532. <?page no="97"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 97 auch die Unterbringung und Verköstigung im Überlinger Leprosorium für ein bis zwei Nächte. Abb. 2: Schreiben des Untervogts von Bludenz an Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Überlingen, 12. Juni 1532. <?page no="98"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 98 Eine solche Reise von Untertanen über weit mehr als 100 Kilometer zur medizinischen Begutachtung wiederholte sich im Juli und November 1538 mit drei Personen aus der Herrschaft Sonnenberg und mit acht Verdächtigten aus Bludenz unter dem kaiserlichen Vogteiverwalter Georg Sigmund (1495-1547) von Ems. 48 Vor dem Hintergrund der politischen und konfessionellen Veränderungen im Heiligen Römischen Reich und damit auch im Bodenseeraum während des zweiten und dritten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts weist das Dokument in Abbildung 2 ebenso wie die beiden weiteren Briefe von Untervögten in Bludenz auf die überaus enge Verknüpfung von gesundheitlichen, politischen und religiösen Aspekten in den Handlungsweisen der involvierten Herrschaftsvertreter und kirchlichen Amtsinhaber hin. Durch ihre Nachfrage nach den Urteilen der Schauexperten bestätigten die vorderösterreichischen Vögte ein Privileg der Reichsstadt Überlingen. Das Privileg der Leprosen-Schau hatte der Konstanzer Bischof den Stadtärzten von Überlingen nämlich erst kurz zuvor zugesprochen, nachdem in der benachbarten Reichsstadt Konstanz die Streitigkeiten zwischen den Anhängern der Reformation und dem Bischof eskaliert waren. Im Laufe dieses Konfliktes entzog der Bischof den Insassen des Konstanzer Leprosoriums das alleinige regionale Vorrecht zur Lepraschau, das seine Vorgänger ihnen im späten Mittelalter gewährt hatten. 49 Die Überlinger profitierten sowohl von ihrer Treue zum alten Glauben als auch von ihrer Nähe zu den Habsburgern, deren Herrschaftsbereich die erwähnten Vogteien in Vorarlberg zugehörten. 50 Durch diese tatkräftige Nachfrage nach den Dienstleistungen der Überlinger in diesem Bereich des Gesundheitswesens erhielten Bürgermeister und Rat der Reichsstadt eine Bestätigung ihres Privilegs für eine sehr weit gefasste, den Bodensee und das Montafon verbindende und damit die schwäbische Kreisgrenze weit überschreitende Region. In vergleichbarer Weise waren für die Absender der Schreiben sowohl die Einforderung der Überlinger Lepraschauexpertise als auch die damit verbundenen Handlungsweisen von Vorteil. Die Habsburger hatten Teile der betroffenen Herrschaftsgebiete erst im 16. Jahrhundert erworben. 51 Mit der Gefangennahme und Überführung von Beschuldigten (Aussätzigen) demonstrierten sie sowohl ihre 48 StadtA Überlingen, Spitalarchiv, Nr. 113: 26.7.1538, 6.11.1538. Daten zu den Vögten nach B RUNO O PRIESSNIG , Emser Regesten, 1291-1606, Vorarlberger Archiv 2015, S. 79-81. 49 A. K INZELBACH , Leprosaria (Anm. 22), S. 54. 50 Zur konfessionellen Politik Überlingens W ILFRIED E NDERLE , Konfessionsbildung und Ratsregiment in der katholischen Reichsstadt Überlingen (1500-1618) im Kontext der Reformationsgeschichte der oberschwäbischen Reichsstädte (Veröff. KfgLK BW B 118), Stuttgart 1990, S. 29-34, 120-189; zur Herrschaft in Vorarlberg A LOIS N IEDERSTÄTTER , Die Vogteien Bregenz, Feldkirch, Bludenz und Neuburg bis 1750. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte Vorarlbergs, in: Montfort. Zeitschrift für Geschichte Vorarlbergs 63 (2011), S. 77-95. 51 A. N IEDERSTÄTTER , Vogteien (Anm. 50), S. 77-81. <?page no="99"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 99 Handlungsfähigkeit und Gesundheitsfürsorge als auch ihre Bereitschaft, Frieden zu stiften, denn andere Beispiele zeigen, dass sich hinter Aussatz-Beschuldigungen Konflikte innerhalb der Gemeinden verbergen konnten. 52 Auch die jeweiligen Vögte konnten durch diese Maßnahmen ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, den kaiserlichen Landesherren wirkungsvoll zu vertreten und die politische Führung in der Region zu übernehmen. Wolf Dietrich von Ems hatte 1532 die Anordnung sogar noch vor dem Tod seines Vorgängers und Vaters getroffen. Georg Sigmund von Ems versandte die angeblich erkrankten Bewohner aus Bludenz und dem Territorium Sonnenberg sogar als bloßer Verwalter des Amtsbezirks in Vertretung der Witwe seines Bruders Wolf Dietrich und machte so klar, dass er auch in dieser Position bereit war, Konflikte umgehend zu unterbinden und sich fürsorglich um die Gesundheit der Bewohner der Territorien zu kümmern. 53 Schließlich waren diese Schreiben auch für diejenigen wichtig, die als jeweilige Untervögte in Bludenz die Maßnahmen stellvertretend durchführten. Gerade diese Stellvertreterfunktion der Untervögte war nämlich umstritten. 54 Mit den Schriften und den damit verbundenen Handlungsweisen gegenüber Gesunden und Kranken untermauerten die Untervögte für alle sichtbar ihre Ansprüche auf diese Vertretungs-Funktion. Leprose selbst oder zumindest ihre Familien nahmen gleichfalls Beziehungen zwischen Herrschaften in einer Region in Anspruch, durch ihr Verhalten forderten sie Interaktionen sogar ein. In unterschiedlicher Weise machen dies die Beispiele von Hans Esperlin aus Biberachzell und von Jacob Brotmann, einem Bürger des Überlinger Leprosoriums, besonders deutlich: Im Jahre 1556, also kurz nach dem Augsburger Religionsfrieden, wandte sich Hans Christoff von Thürheim im Namen von Hans Esperlin an die Herren vnnd freundt in Überlingen, obwohl ihm diese vnbekhanndt waren. 55 Der Adlige bat darum, ein Töchterchen seines armen mann vnnd hindersassen im Überlinger Lepra-Hospital aufzunehmen, weil bekannt sei, dass dort solch arme Personen betreut würden. Obwohl die Distanz zwischen Überlingen und Biberachzell ungefähr 112 Kilometer betrug, hatte dieser Vertreter der sich immer enger an die Habsburger bindenden Adelsfamilie Thürheim offensichtlich auf eine Allianz der politisch und konfessionell Gleichgesinnten gehofft. Durch die gute 52 A. J. M ENDELSOHN / A. K INZELBACH , Common Knowledge (Anm. 41), S. 268-271. 53 StadtA Überlingen, Spitalarchiv, Nr. 113: 26.7.1538, 6.11.1538. Merk Sittich von Ems starb erst am 25.7.1533; B. O PRIESSNIG , Regesten (Anm. 48), S. 79-81. 54 A. N IEDERSTÄTTER , Vogteien (Anm. 50), S. 78-82. 55 StadtA Überlingen, Spitalarchiv, Nr. 113: 1.10.1556, auch im Folgenden, soweit nicht anders angegeben. Hanns Cristoph von Thürheim zu Biberachzell, vermutlich Sohn von Christoph von Türheim (ca. 1500-1571); C ONSTANTIN VON W URZBACH , Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 44, Wien 1882, S. 274. Zum Augsburger Religionsfrieden F ER - DINAND , Kaiser HRR, Abschiedt Der Römischen Königlichen Maiestat, vnd gemeiner Stendt, auff dem Reichßtag zu Augspurg, Anno Domini M.D.L.V. auffgericht, Meyntz 1555, BSB urn: nbn: de: bvb: 12-bsb10941746-6. <?page no="100"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 100 Unterbringung des Kindes in Überlingen könnte sich für Hans Christoff eine Gelegenheit ergeben haben, als vorbildlicher Herrscher in einem erst kürzlich erworbenen Territorium zu gelten. Verschiedene Indizien deuten darauf hin, dass es schwierig war, sich in einer konfessionell und politisch heterogenen Region gegenüber dem einflussreichen lutherischen Ulm zu behaupten. 56 Im zweiten Beispiel forderte im Jahr 1666 der leprose Spitalbürger Brotmann die Kooperation zwischen der Reichsstadt Überlingen und der 40 Kilometer entfernt liegend Grafschaft Montfort ein, damit es ihm möglich werde, das Überlinger Leprosorium gegen dasjenige in Tettnang einzutauschen und eine dortige Leprose zu heiraten. 57 Die bislang angeführten Beispiele stehen stellvertretend für eine Vielzahl solcher auf Gegenseitigkeit beruhenden und nur auf den ersten Blick hauptsächlich Krankheiten bekämpfenden Maßnahmen. Gesundheitspolitik war untrennbar mit anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zielen verbunden. Sie förderte, wie gezeigt, den inneren Zusammenhalt einer politisch oder landschaftlich definierten Region. Vor allem im Kontext von Epidemien griffen die Herausforderungen allerdings weit über regionale Maßnahmen und Interaktionen hinaus. 58 Die Frage, welche Rolle dabei die um sogenannte Lazarette ergänzten oder durch solche umdefinierten Lepra- Hospitäler spielten, kann zwar in Einzelfällen wie dem Nördlinger Leprosoriums- Komplex andeutungsweise erörtert werden, einen umfassenderen Einblick könnten aber erst künftige Studien vermitteln, die sich eingehend mit der Verortung von verschiedenen Lazaretten und deren Wechselwirkungen mit der Region befassen. 59 56 Zu den Thürheim und der sie umgebenden Region S ARAH H ADRY , Neu-Ulm, der Altlandkreis (HAB, Teil Schwaben 18), München 2011, S. 289-522, v. a. S. 312-327, 478. 57 F. D ROSS / A. K INZELBACH , Fremdheit (Anm. 46), S. 2-9, 16-18. 58 C HR . W ERKSTETTER , Pest (Anm. 8); A NNEMARIE K INZELBACH , Warum die Pest aus vormodernen Reichsstädten verschwinden musste. Süddeutsche Beispiele, in: S TEFAN L EENEN u. a. (Hg.), Pest! Eine Spurensuche, Darmstadt 2019, S. 256-264. Hierbei handelte es sich um keine auf Süddeutschland begrenzte Interaktion; U LF W ENDLER , Pestilentz im Norden. Seuchen in der nördlichen Lüneburger Heide und im Süden Hamburgs; 1657-1716 (Schriften des Freilichtmuseums am Kiekeberg 75), Rosengarten-Ehestorf 2012, S. 71-208. Allgemeiner A NNEMARIE K INZELBACH , Chirurgen und Chirurgie-Praktiken. Wundärzte als Reichsstadtbürger, 16. bis 18. Jahrhundert, Mainz 2016, S. 7-34. 59 A. K INZELBACH / P. S TURM , Siechenhauskomplex (Anm. 5), S. 31-46. Auf entsprechende Umwidmungen weist schon D IETER J ETTER , Grundzüge der Hospitalgeschichte, Darmstadt 1973, S. 15-19, hin. <?page no="101"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 101 3. Das ›Schneidhaus‹ der Fugger: Interaktionen zwischen einer Stifterfamilie, einer Reichsstadt und der Region Die Interaktionen zwischen der Stifterfamilie Fugger, der Reichsstadt Augsburg und der Region im Kontext des Schneidhauses waren vielfältig und änderten sich, abhängig von der jeweiligen politischen Situation sowie der jeweils maßgeblichen Generation der Fugger-Familie. Aufgrund der Komplexität dieser Beziehungen vermitteln die folgenden Ausführungen lediglich einen bruchstückhaften ersten Einblick bis zum Dreißigjährigen Krieg als zeitlicher Grenze, obwohl Formen des Hospitals bis zur Mediatisierung weiterbestanden. Ein mehrjähriges DFG-Projekt zum Schneidhaus befasst sich mit diesem sehr speziellen chirurgischen Hospital, dessen Charakteristika im Folgenden als Voraussetzung weiterer Ausführungen skizziert werden. Die sich bereits abzeichnenden komplexen Verhältnisse können hier nur ganz grob und in Einzelaspekten skizziert werden. 60 Das Schneidhaus ist in den Zusammenhang einer differenzierten und spezialisierten Augsburger Hospital-Landschaft einzuordnen. Zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit sowie zur Pflege von chronisch Kranken und hilfsbedürftigen alten Menschen trugen unter anderem das bürgerlich verwaltete Heilig- Geist-Hospital, spezialisierte Einrichtungen wie Siechenhäuser, Pesthospitäler und das Blatterhaus bei. Aber auch Stiftungshospitäler wie das Pilgerhaus und die Einrichtungen der Fugger gehörten zu diesem Kontext - die ›Holzhäuser‹ in der Fuggerei und auf dem Gänsbühl, das Schneidhaus bzw. die Schneidhäuser am ›Rossmarkt‹ sowie ein Haus für kranke Bedienstete in der Fuggerei. 61 60 Einige Informationslücken sind darauf zurückzuführen, dass das Projekt erst seit 13 Monaten bearbeitet wird und darüber hinaus pandemiebedingte Archivschließungen die Quellenarbeit erschwert haben. Gerade deshalb bedanke ich mich besonders herzlich bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Fuggerarchivs in Dillingen, des Stadtarchivs in Augsburg und des Stadtarchivs in Ingolstadt für ihre Bemühungen, mir einen möglichst unkomplizierten Zugang zu den erwünschten Archivalien zu verschaffen. 61 Ein Überblick bei C LAUDIA S TEIN , Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 19), Stuttgart 2003, S. 95-139, dieser ist allerdings nicht in jedem Detail korrekt. Zur Ergänzung dienen Informationen aus J OSEF W EIDENBACHER , Die Fuggerei in Augsburg: die erste deutsche Kleinhaus-Stiftung. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Kleinhauses, Augsburg 1926, S. 58f., 118; J OHANN T ROMETER , Das Augsburger Pilgerhaus. Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte einer caritativen Einrichtung vom 16. Jahrhundert bis 1806, Diss. Uni Augsburg 1997 [Mikrofiches]; und M ARIUSZ H ORANIN , Die Pest in Augsburg um 1500. Die soziale Konstruktion einer Krankheit, Diss. phil. Göttingen 2019, S. 128-155, sowie die folgenden Ausführungen. <?page no="102"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 102 Jedes Augsburger Hospital stand in einer spezifischen Beziehung zur Region im engeren oder weiteren Sinn, die bislang noch nicht untersucht wurde. Dieser Abschnitt soll Teilaspekte zur Analyse des Beziehungsgeflechts beitragen. Als Voraussetzung dieser Analyse steht zunächst die besondere Rolle im Mittelpunkt, die das Schneidhaus im Kosmos der Augsburger Hospitäler spielte; dazu gehört die Frage, inwieweit und seit wann dieses Hospital auf eine genau benennbare chirurgische Behandlung spezialisiert war. In diesem Zusammenhang können Formen der Kooperation mit der Reichsstadt Augsburg nur angedeutet werden. Dasselbe gilt für die schwierige Lokalisierung des Hospitals, die kennzeichnend war für die Anfangsphase sowie die hier nicht behandelte Phase nach dem Dreißigjährigen Krieg. In den frühen Nachweisen legt die Hospitalbezeichnung zwar eine Spezialisierung auf bestimmte chirurgische Maßnahmen nahe, die sich aber erst nach einigen Jahrzehnten und zugleich mit der stabilen Verortung der Einrichtung nachweisen lässt. Nahezu zeitgleich mit der Verortung setzen serielle Quellen für diese Einrichtung ein, aus denen hervorgeht, dass fast ausnahmslos Hernien behandelt und Blasensteine entfernt wurden. 62 Ein erstes als das Fuggerische Schneidhauß bezeichnetes Hospital wird durch den Werbetext eines Flugblattes im Jahr 1540 auf dem Krautmarckt in der Jakobervorstadt, d. h. unmittelbar bei St. Jakob, verortet. 63 Mit dieser Platzierung entstand ein enger Bezug zur Fuggerei, dem großen sozialen Stiftungsprojekt Jakob Fuggers (1459-1525). 64 Allerdings handelt es sich bei dem in Abbildung 3 dargestellten Flugblatt um eines der wenigen Quellenzeugnisse, das die Existenz eines Schneidhauses zu diesem Zeitpunkt bezeugt. 65 62 FA 88.2-88.6 (Rechnungsbücher). 63 FA 5.3.2d. Seit 1529 lag einer von zwei Krautmärkten bey St. Jacobs Kirche; P AUL VON S TET - TEN , Geschichte Der Heil. Röm. Reichs Freyen Stadt Augspurg, Teil 1, Augsburg 1743, S. 311; im 19. Jahrhundert dagegen fand der Herbst-Krautmarkt über große Teile des Oberen Grabens statt; Intelligenz-Blatt und wöchentlicher Anzeiger der königlich baierischen Stadt Augsburg 1810, S. 43. 64 J. W EIDENBACHER , Fuggerei (Anm. 61), 56-61, 112-120; M ARION T IETZ -S TRÖDEL , Die Fuggerei in Augsburg. Studien zur Entwicklung des sozialen Stiftungsbaus im 15. und 16. Jahrhundert, überarb. Diss. phil. LMU München, Tübingen 1982. 65 Im Detail dazu A NNEMARIE K INZELBACH , Von Wohltätern und Heilkundigen. Die Akteure im Schneidhaus der Fugger, in: D IETMAR S CHIERSNER (Hg.), Augsburg - Stadt der Medizin. Historische Forschungen und Perspektiven, Augsburg 2021, S. 252-265. <?page no="103"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 103 Abb. 3: Flugblatt mit Werbung für das Schneidhaus der Fugger am Krautmarkt, 1540. Wie aus dem Text in Abbildung 3 hervorgeht, stifteten die Grafen Fugger 1540 ein zwar durch die Bezeichnung Schneidhauß auf Chirurgie als Spezialisierung anspielendes Hauß. Aber die Aufzählung Blindheit / Stein / Brüch / Krebs / Carnifl / Scharbock / Franzosen / und dergleichen Zuständt mehr deutet auf ein breites Spektrum an angebotenen Kuren. Aus dem Schlusssatz geht hervor, dass ein Fokus auf der Behandlung von Hernien lag, da alle Junge Brüchige Leuth das Versprechen erhielten, dass ihre Hernien ohne eine Operation behandelt werden könnten. 66 Das Flugblatt stellt einen eindeutigen Bezug zur Region her. Allerdings wird diese auf das gräfliche Territorium begrenzt, indem alle Fuggeris. Unterthanen auf die Möglichkeit hingewiesen werden, sich mit einschlägigen Beschwerden im Hospital anzumelden. Der Text unterstreicht dabei die Initiative der potentiellen Insassen und deren gute Aussichten, dort eine unentgeltliche Behandlung zu erhalten. 67 Der Mangel an einschlägigen Quellen zum Betrieb eines Schneidhauses während der 1540er Jahre könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, dass das Flugblatt ein fiktionales oder kurz darauf in anderer Weise genutztes Hospital benennt. Allerdings finden sich punktuell Belege dafür, dass ab dieser Zeit einschlägige Operationen von Hernien und Blasensteinen durch Anton Fugger (1493-1560) finanziert wurden, der 66 FA 5.3.2d, soweit nicht anders angegeben auch für die nachfolgenden Ausführungen. 67 FA 5.3.2d. <?page no="104"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 104 auch kurz vor seinem Tod die großzügige finanzielle Grundlage für eine ›ewige‹ Existenz des spezialisierten Schneidhauses stiftete. Die frühen, lückenhaften Nachweise für eine Schneidhaus-Funktion schließen zum einen Frauen ein, die Anton Fugger entlohnen ließ, weil sie die Krankenpflege oder alternative Kuren von Patienten mit einschlägigen Beschwerden übernommen hatten. Zum andern deutet sich eine Kooperation mit der Reichsstadt an, denn es ist immer wieder der städtisch bestallte Pruchvnnd Stainschneider aus der Familie Stromair als Operateur und Vermittler angeführt. Dessen Familienangehörige fungierten während der besser dokumentierten Periode ab den 1570er Jahren ebenso als städtisch bestallte chirurgische Spezialisten als auch hauptamtlich als diejenigen Schneidarzet, die im Auftrag und auf Kosten der Fugger spezialisierte medizinische Dienstleistungen erbrachten und von den Grafen für das verortbare Schneidhaus bestallt worden waren. 68 Eine Lesart des Textes in Abbildung 3 könnte auf eine sehr einseitige Beziehung zwischen Hospital, Reichsstadt und Region hinweisen: Die Einrichtung i n der Stadt, hätte in ihrer karitativen Wirkung ausschließlich Personen a u ß e r h a l b genutzt, den Bewohnern des Territoriums der Fugger, die 1540 direkt angesprochen wurden. Auf eine vielseitigere Beziehungsstruktur deutet jedoch schon der bruchstückhafte Einblick in Anton Fuggers Vergabe von Almosen an Personen, die sich an Hernien oder Blasensteinen medizinisch behandeln ließen. Im Jahr 1543 erfasste sein Faktor Anton Mangold († 1550) keineswegs nur Unterthanen. Vielmehr befanden sich unter den Begünstigten auch Bewohner Augsburgs und von bayerischen Orten wie Ingolstadt. 69 Die ab den 1570er Jahren dichter werdenden Quellenbelege im Fuggerarchiv unterstreichen diesen Befund nicht nur. Vielmehr zeichnet sich neben einer Präferenz für Begünstigte aus Augsburg und nahe gelegenen Orten sowie dem eigenen Herrschaftsgebiet ab, dass zahlreiche Verbindungen zu anderen Regionen und Herrschaftsgebieten bestanden, die im Laufe der Säkularisation und Mediatisierung überwiegend den Territorialstaaten Württemberg und Bayern zufielen. Seit den 1580er Jahren ist eine feste Verortung von Großem Schneidhaus und Kleinem Schneidhaus in der Reichsstadt auf dem Roßmarckt in der Jakobervorstadt nachweisbar. Damit verbunden setzen sowohl qualitativ als auch quantitativ auswertbare Rechnungsbücher ein. Bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein führte diese in der Regel der Fuggereiverwalter spezifisch für die Schneidhäuser und vereinte sie mit der separaten Abrechnungen für das Holtzhauß auf dem Genßpüchel in einer gemeinsamen Schluss-Bilanz, da 68 Die wichtigsten Quellennachweise sind: FA 1.2.1, fol. 2v, 4f., 7f., 14, 18, 20, unpaginiert: 8.7., 14.9., 28.9., 29.10.1543; M ARIA G RÄFIN VON P REYSING , Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Bd. 2: Edition der Testamente. Mit einer Einführung von G EORG S IM - NACHER (Veröff. SFG 4/ 25; Studien zur Fuggergeschichte 34), Weißenhorn 1992, S. 160; FA 88.2. Dazu ausführlich A. K INZELBACH , Von Wohltätern (Anm. 65). 69 FA 1.2.1, fol. 8, 14v, 18v, 20; unpaginiert: 8.7., 28.9.1543. <?page no="105"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 105 beide Hospitäler aus einem Stiftungsfonds Anton Fuggers und seiner Nachfahren finanziert wurden. 70 Abb. 4: Herkunftsorte von Patienten im Schneidhaus; rot: Aufnahmen 1600-1610 (FA), blau: 1610-1625 (MS 112). Größenstufung jeweils plus 1 bis zu 12 Patienten, Augsburgs 93/ 65 Patienten wurde bei 12 begrenzt. 70 FA 88.2-88.6. Ausführlich zur Verortung des Schneidhauses bzw. der Schneidhäuser und zum Stiftungszusammenhang A. K INZELBACH , Von Wohltätern (Anm. 65). <?page no="106"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 106 Die in Abbildung 4 dargestellten Herkunftsorte von Patienten für die Zeiträume 1600 bis Sommer 1625 lassen intensive Beziehungen zwischen dem Hospital der Fugger und der Reichsstadt Augsburg sowie den verschiedenen Regionen in einem Umkreis von ungefähr 100 Kilometern erkennen. 71 Die Punkte repräsentieren von eins bis maximal zwölf anwachsend die Zahl der Aufgenommenen pro Ort. Einzelne Herkunftsorte, wie Augsburg mit weit darüber liegenden Aufnahmezahlen von 93 bzw. 65, sind gleichfalls bei zwölf beschnitten. Alle Orte, aus denen fünf und mehr Personen aufgenommen wurden, sind beschriftet. Die roten Punkte entsprechen der Herkunft von überwiegend männlichen Patienten, die im Zeitraum 1600 bis 1610 in den Rechnungsbüchern der Fugger für das Schneidhaus dokumentiert sind. 72 Die blauen Punkte repräsentieren die Zahlen von Behandelten, die während des zweiten Zeitraums, von 1610 bis zur Mitte des Jahres 1625, in das Schneidhaus aufgenommen wurden. Während der beiden Zeiträume hoffte die große Mehrzahl der Aufgenommenen (660/ 713 insgesamt), entweder von Bruchbeschwerden (434/ 461) oder einem Blasenstein (210/ 239) befreit zu werden. Ihre Aufnahme im zweiten Zeitabschnitt diente eindeutig auch repräsentativen Zwecken, denn sie wurden in einem aufwendig illustrierten Manuskript dokumentiert, das individualisierte Blasensteine farbig abbildete und die übrigen Behandlungen in verzierten Kartuschen katalogartig aufführte. 73 71 Für die Herstellung dieser Karte danke ich herzlich unserer studentischen Hilfskraft David Wimmer. Dargestellt sind innerhalb unseres hier verwendeten Radius liegende, eindeutig zu identifizierende Herkunftsorte aus einer Gesamtheit von 65,21 % der Herkunftsorte. Der Anteil der Personen, die diese Orte repräsentieren, liegt jedoch weit über der genannten Identifikationsquote (z. B. Augsburg 93/ 65 Personen), weil mit Ausnahme des Inntals aus weiter entfernten Orten nur einzelne Personen stammten. Wir haben den Radius der dargestellten Orte auf ca. 100 km beschnitten, so dass weit entfernte österreichische Orte wie das ca. 160 km entfernte Schwaz im Inntal, auf das ich wegen der vergleichsweise häufigen, aber zeitlich begrenzten Frequenz zurückkommen werde, sowie mehrere hundert Kilometer entfernte Orte in Österreich und der Schweiz nicht dargestellt werden. 72 FA 88.3, die Jahre 1604 und 1606 sind nicht dokumentiert. 73 FA 88.3; Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt, MS 112. An dieser Stelle können weder die Quellen noch diese Karte erschöpfen diskutiert werden, vielmehr bleiben zahlreiche Details zur Veröffentlichung an anderer Stelle, beispielsweise A NNEMARIE K IN - ZELBACH , Transforming Skills: Two Early Modern Manuscripts and Surgery of Hernia in Early Modern Imperial cities, Vortrag am 2.9.2020, ESHS-conference, Bologna, online, room 10, S4 Learning by Doing and Doing to Learn: Skills, Texts and the Materiality of Surgical Knowledge in Early Modern Europe - 2, Abstracts https: / / sites.google.com/ view/ eshsbologna2020/ program/ final-program#h.3tfhu73p25q1 (28.8.2020), S. 190f. (Veröffentlichung demnächst). <?page no="107"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 107 Die hohen Zahlen von Patienten, die aus Augsburg in das Schneidhaus kamen, könnten einerseits mit dem Hinweis auf Patientenwege bzw. dem Argument der räumlichen Nähe erklärt werden. 74 Gleichzeitig wäre es naheliegend, das Hospital unter die sogenannten »Bollwerke« der katholischen Konfession einzureihen, die von den Fuggern in Augsburg errichtet wurden. 75 Andererseits steht die Aufnahme von aus Augsburg stammenden Patienten im Widerspruch zum oben zitierten Flugblatt-Text, der das Fuggerische Schneidhauß als Einrichtung für die Bewohner von Territorien der Fugger kennzeichnete. 76 Die Aufnahme-Modalitäten gerade der beiden betrachteten Zeitabschnitte könnten sich aus verschiedenen Gründen unterscheiden. Eine Änderung hätte beispielsweise durch den Tod des langjährigen Administrators Marx Fugger (1564-1614) herbeigeführt worden sein können. 77 Die räumliche Nähe bleibt aber ein wesentlicher Faktor für den Weg von Patienten und vereinzelt auch Patientinnen ins Hospital der Fugger. Auch die Fuggerei könnte als mögliche soziale Herkunft der Patienten, die dort ja aufgrund ihrer Bedürftigkeit aufgenommen worden waren, ausschlaggebend gewesen sein. 78 Aber gleichzeitig deutet die Kritik an der eigenmächtigen Aufnahmepraxis des zuständigen Schneidarztes während einiger Jahre der zweiten Periode darauf hin, dass Erklärungsansätze sorgfältig, zumindest zeitlich, differenziert werden müssen. Angeblich sollen einige Jahre lang die Grafen nur mangelhaft in die Entscheidung einbezogen worden sein - insbesondere über Personen, die persönlich vorsprechen konnten. 79 Allerdings wäre in diesem Fall eher eine Zunahme als eine Abnahme der Patienten aus Augsburg und unmittelbar benachbarten Orten zu erwarten, statt dessen ist ein Rückgang der Reichsstadt-Patienten um 30 % in der zweiten Periode zu beobachten. Die jeweilige politische und kulturelle Situation entschied über die Beziehungen zwischen den Fuggern - vermittelt hier durch das Schneidhaus - und der Region. Dies illustriert hier abschließend ein Vergleich der Aufnahmen aus den beiden Orten Mindelheim und Pfaffenhofen a. d. Roth. Diese spielten zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Rollen für die Territorialpolitik der Grafen. Augsburg war weder aus Mindelheim noch aus Pfaffenhofen einfach zu erreichen, aufgrund einer Entfernung 74 Zu Patientenwegen M ARION M ARIA R UISINGER , Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683-1758) in der Trew-Sammlung Erlangen (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 28), Stuttgart 2008. 75 Die Blatterhäuser der Fugger deutet C. S TEIN , Behandlung (Anm. 61), S. 245f., als » ›Bollwerke‹ des katholischen Glaubens«. 76 FA 5.3.2d. 77 FA 88.1, 26.11.1615; FA 5.1.11, 23.8.1621 unpaginiert; FA 88.3 (Bilanz 1601, 1603/ 04, 1609, 1610); FA 88.4 (1611, 1623). 78 Dem Thema der sozialen Herkunft und der sozialen Netzwerke von Patienten wird eine separate Studie gewidmet werden. 79 FA 5.1.10, 1.6.1630. <?page no="108"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 108 von 53 bzw. 60 Kilometern. Vielmehr erforderte die Reise in die Stadt und das Hospital mehrere Tage Fußmarsch, was für Personen eher auszuschließen ist, die an Steinschmerzen oder einer Hernie litten und deshalb eines kostspieligen Transportmittels bedurften. 80 Trotzdem kamen während der ersten Periode (in Abbildung 4 rot gekennzeichnet) jeweils neun Patienten aus den beiden Orten zur Behandlung ins Schneidhaus. Mit der Periode 1610 bis 1624 blieb die Zahl der Patienten aus Pfaffenhofen konstant, dagegen änderte sich dies für Mindelheim grundlegend: Nur noch zwei Patienten aus Mindelheim wurden aufgenommen, und zwar beide vor 1616. 81 Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Orten lag in der Zuordnung territorialer und feudaler Rechte und den damit verbundenen Interessen der Nachfolgegenerationen von Anton Fugger. Sein Sohn Hans Fugger (1531-1598) hatte seit den 1590er Jahren beabsichtigt, die Herrschaft Mindelheim zu erwerben, ein Plan, der nach dem Tod von dessen beiden Söhnen Marx (1564-1614) und Christoph (1566-1615) Fugger scheiterte, obwohl Christoph durch Heirat ein Anrecht auf die Erbfolge in Mindelheim erworben hatte. Trotz ungeklärter Rechtsverhältnisse besetzte im Jahr 1616 der bayerische Herzog kurzerhand das Gebiet. 82 Damit ließ das Interesse nach, die Bewohner der Herrschaft Mindelheim in die karitative Förderung der Fugger einzuschließen. Im Gegensatz dazu stand Pfaffenhofen a. d. Roth in enger Verbindung zur Fugger-Herrschaft Weißenhorn, die den Erben Anton Fuggers vorbehalten war, und blieb dies bis ins 18. Jahrhundert. Spannungen, die aus einer stets vorhandenen Konkurrenz anderer Herrschaftsträger resultierten, insbesondere der konfessionell entgegengesetzten Ulmer und der württembergischen Herzöge, gehörten für die Fugger zum Alltag, insbesondere weil die konfessionell gleichgesinnten Habsburger als Konkurrenten auftraten. 83 Wie schon in den vorhergehenden Abschnitten zu anderen Hospitaltypen gezeigt, galt es deshalb auch für die Grafen Fugger, dem Idealbild einer fürsorglichen Herrschaft durch die Unterstützung der eigenen bedürftigen Untertanen zu entsprechen. Dies führten die Administratoren der Fugger aus, indem sie leidende Personen aus der Herrschaft 80 Gelegentlich übernahmen die Fugger sogar die Rückführungskosten des Transportes abgelehnter Bewerber für eine Behandlung im Schneidhaus; FA 88.6, 1617, fol. 13. 81 Abgleich zwischen FA 88.3, 88.4 und Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt, MS 112. 82 F RANZ K ARG / A NGELA F UGGER VON G LÖTT , Schloß Kirchheim, anlässlich der Ausstellung »Ein Schön Werk und Wolgestalt« zum 400. Todestag von Hans Fugger 1998, 3. Aufl. Lindenberg 2008, S. 31; S TEPHANIE H ABERER , Ott Heinrich Fugger (1592-1644). Biographische Analyse typologischer Handlungsfelder in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges (Veröff. SFG 4/ 29; Studien zur Fuggergeschichte 38), Augsburg 2004, S. 35-39. 83 Zur Geschichte von Pfaffenhofen G ERHART N EBINGER , Pfaffenhofen an der Roth. Chronik, Pfaffenhofen a. d. Roth 1982, S. 27-32; zur Vielfalt von Herrschaftsgebieten sowie zur Konkurrenz der Ulmer und Habsburger S. H ADRY , Neu-Ulm (Anm. 56), S. 121-253. <?page no="109"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 109 Pfaffenhofen im Schneidhaus aufnehmen und kurieren ließen. Sie unterstrichen dadurch mehrere Herrschertugenden. Sie stellten eine beständige - auch gesundheitsbezogene - Kommunikation mit ihren bedürftigen Untertanen unter Beweis. 84 Darüber hinaus ließen sie den Bewohnern ihres Territoriums eine durch die Spezialisierung fokussierte, medizinische Entwicklungen reflektierende Behandlung zukommen, für die bislang kein Vergleich in Europa gefunden werden konnte. 85 4. Resümee Die Vielfalt der Beziehungen zwischen reichsstädtischen Hospitälern und der Region wurde zwar vom Hospitaltyp geprägt und nahm unterschiedliche Formen an. Aber - abhängig von bestimmten Situationen und historischen Zusammenhängen - zeigen sich auch gemeinsame Merkmale, die sich auf Herrschaft und Kommunikation beziehen. 86 Die Zentral- oder sogenannten Bürgerspitäler, oft als Heilig-Geist-Hospitäler bezeichnet, standen im engen Austausch mit der stadtnahen Region. Besitz- und Feudalrechte, die mit dem Hospital verbunden waren, trugen wesentlich zur Erweiterung des reichsstädtischen Territoriums in teilweise verschiedenen Regionen bei. Die reichsstädtischen Ratsmitglieder als Vertreter der Bürgerinteressen und gleichzeitige Verwalter oder Administratoren der Hospitäler zeigten den Bewohnern dieser Regionen ein Janusgesicht. Auf der einen Seite mehrten die regionalen Bauern, gezwungenermaßen, durch Feudal-Abgaben und Marktvorschriften das wirtschaftliche und auch unmittelbar körperliche Wohl der Stadtbewohner. Die Bewohner der stadtnahen Region erhielten auf der anderen Seite in Situationen der Not teilweise erhebliche Unterstützung. Die Untertanen in den reichsstädtischen Territorien profitierten doppelt. Sie fanden innerhalb der Mauern Schutz und wurden dort durch Sozialleistungen versorgt. Angesichts der seit dem Spätmittelalter häufigen Trias von Hunger, Krankheit und Krieg ist dieser Aspekt der Beziehung zwischen reichsstädtischem Hospital und der näheren Region nicht zu unterschätzen, da sie einen Beitrag 84 Zu anderen Formen des Beistandes D IANA E GERMANN -K REBS , Jacob Fugger-Babenhausen (1542-1598). Güterpolitik und Herrschaftspraxis (Veröff. SFG 4/ 34; Studien zur Fuggergeschichte 43), Augsburg 2015, S. 386-411. 85 Dazu A. K INZELBACH , Transforming Skills (Anm. 73). 86 Zusammenfassend zu kommunikationsbezogener Herrschaft C ORNEL Z WIERLEIN , Politische Theorie und Herrschaft in der Frühen Neuzeit (Einführungen in die Geschichtswissenschaft, Frühe Neuzeit 2), Stuttgart 2020, v. a. S. 51-65. <?page no="110"?> A NNEMA RI E K INZEL BA C H 110 zur Resilienz der Region leistete. 87 Gleichzeitig konnte die Obrigkeit durch institutionalisierte Fürsorge die Zugehörigkeit der Bauern im ländlichen reichsstädtischen Territorium unterstreichen, was angesichts der heterogenen rechtlichen Verhältnisse gerade im schwäbischen Reichskreis auch politisch von Bedeutung war. 88 Stark ausgeprägt und vielfältig waren die regionalen Beziehungen des zweiten Hospitaltypus, der peripheren reichsstädtischen Hospitäler wie der Leprosorien. Dabei spielten zwar auch gesundheitliche Aspekte eine wichtige Rolle, aber die damit verbundene Kommunikation und die aus ihr resultierenden Maßnahmen blieben nicht darauf beschränkt. Vor allem ließ sich zeigen, dass die Beziehungen über politisch definierte Grenzen hinaus reichten und landschaftlich zusammenhängende Regionen einschlossen, wenn sich neben gesundheitlichen vor allem gemeinsame politische oder konfessionelle Interessen verfolgen ließen oder beide, Region und Reichsstadt, davon profitieren konnten. 89 Den dritten Hospitaltypus, das Stiftungshospital, dessen Administration und Verwaltung bei einer Familie blieb, kennzeichnet eine Vielfalt von Beziehungen sowohl zur Reichsstadt als auch zu verschiedenen Regionen. Dies geht jedenfalls aus den ersten Untersuchungsergebnissen zum Schneidhaus der Fugger in Augsburg hervor. Eine quantitative Auswertung von Quellen zeigt, dass Reichsstadtbewohner ebenso wie Bewohner verschiedener Regionen von der Stiftung profitieren konnten. Obwohl die Stiftung explizit Bewohner des gräflichen Territoriums als Begünstigte nannte, behandelten die Chirurgen sowohl Augsburger (9-14 %) als auch eine Mehrheit von Bewohnern anderer Territorien im Schwäbischen Reichskreis und in Bayern, für die das Hospital gut erreichbar war. Die Erreichbarkeit des Hospitals bei akuten Beschwerden bildete jedoch nicht das alleinige Kriterium für Erkrankte, wie ein Blick auf die Verteilung der Patienten und Patientinnen in Abbildung 4 zeigt. Die weite Anreise aus habsburgischen Regionen dürfte sowohl auf die breite Streuung von Unternehmen der Fugger zurückzuführen sein als auch auf die Verfolgung spezifischer Interessen seitens der Grafen. Alle erfassten Männer, Frauen und Kinder ließen sich im Schneidhaus durch einen bestallten chirurgischen Spezialisten von 87 Allgemein zur Resilienz frühneuzeitlicher Siedlungen D ANIEL R. C URTIS , Coping with Crisis. The Resilience and Vulnerability of Pre-Industrial Settlements, Farnham 2014. 88 Zum differenzierten Vorgehen in Ostschwaben R OLF K IESSLING , Eine italienische Option? Zur Politik der schwäbischen Reichsstädte in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: R EGINA D AUSER / W OLFGANG E. J. W EBER (Hg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500-1800, Berlin 2008, S. 95-113. 89 Als Überblick über landwirtschaftliche, gewerbewirtschaftliche und ordnungspolitische Anliegen S TEFAN S ONDEREGGER , Austausch über den Bodensee im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Perspektiven einer Edition von Missiven der ehemaligen Reichsstadt St. Gallen, in: H ARALD D ERSCHKA / J ÜRGEN K LÖCKLER / T HOMAS Z OTZ (Hg.), Konstanz und der Südwesten des Reiches im hohen und späten Mittelalter (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 48), Ostfildern 2017, S. 171-189, v. a. S. 179-187. <?page no="111"?> R EIC HS S TÄDTIS CH E H OS PITÄLER UND R EGION IN D ER V OR MOD ER NE 111 Leiden befreien, die zu Arbeitsunfähigkeit oder Tod führen konnten, zumindest aber starke Schmerzen verursachten oder - bei falscher Behandlung - in Zeugungsunfähigkeit resultierten. 90 Damit leisteten die Grafen Fugger nicht nur einen Beitrag zur Differenzierung der medizinisch orientierten Hospitallandschaft in Augsburg mit damit verbunden Möglichkeiten zur politischen und konfessionellen Kommunikation. 91 Vielmehr zeigten die beiden diskutierten Beispiele der Herrschaften Mindelheim und Pfaffenhofen a. d. Roth, dass das Schneidhaus unter anderem die Möglichkeit eröffnete, kommunikative Beziehungen zu bestimmten Regionen dann zu vertiefen, wenn es erstrebenswert oder notwendig erschien, eine Herrschaft hinzuzugewinnen oder sie in einem Gemenge vielseitig konkurrierender Einflüsse innerhalb einer Region zu stabilisieren. Für alle drei analysierten Hospitaltypen ließ sich eine stabilisierende Funktion nachweisen: Die Fürsorge für die Gesundheit verband sich mit politischen Bedürfnissen wie einer vertieften kommunikativen Beziehung zu den eigenen Untertanen ebenso wie zu den Territorialherren näherer (und ferner) Regionen. Diese Kommunikation ermöglichte, Bindungen und Allianzen zu schaffen oder zu vertiefen und Konflikte umzulagern oder aufzulösen. 90 Zu den chirurgisch-medizinischen Aspekten M ARION R UISINGER , Von Brüchen und Steinen. Das Behandlungsspektrum im Schneidhaus der Fugger, in: D. S CHIERSNER (Hg.), Augsburg - Stadt der Medizin (Anm. 65), S. 266-279. 91 Diese Aspekte standen hier nicht im Fokus; s. A. K INZELBACH , Von Wohltätern (Anm. 65). <?page no="113"?> 113 M ICHAEL B AUMANN Da man weder Doctores noch Apotecken hat. Selbstmedikation mit den Rezepten des Ulmer Buntschriftstellers Martin Zeiller Nicht nur eine Vielzahl von Institutionen und Berufen widmete sich in der Frühen Neuzeit der Sorge um die Gesundheit. Mit der Verbreitung des Buchdrucks wuchs auch die Flut volkssprachiger Schriften, die sich des Themas annahmen: Nicht zuletzt die sog. Polyhistorie oder Buntschriftstellerei entdeckte Gesundheit, Krankheit und Medizin für sich und bearbeitete das Thema im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Anwendung und Unterhaltung auf ihre eigene Weise. 1 Am Beispiel des Ulmer Buntschreibers Martin Zeiller wirft dieser Aufsatz sowohl ein Schlaglicht auf Gesundheit als außerwissenschaftliches Diskursthema der Frühen Neuzeit als auch auf die Möglichkeiten der Selbstmedikation, die sich aus der Lektüre entsprechender Texte ergaben. Dazu wird hier zunächst die Biographie Zeillers skizziert, insbesondere in Hinblick auf seine spezifischen Voraussetzungen als Buntschriftsteller. Im Folgenden wird seine schriftstellerische Programmatik im Kontext des buntschriftstellerischen Genres unter besonderer Berücksichtigung seiner hier in den Blick genommen Werke, der ›Einhundert Fragen‹ und Folgebände, aufgezeigt, die eine Einordnung der medizinischen Fragestellungen zwischen Unterhaltung, Belehrung und Selbstmedikation möglich machen. In einem letzten Schritt werden stichprobenartig Rezepte Zeillers mit der Ulmer Apothekertax auf Übereinstimmung und die Möglichkeiten und Grenzen einer tatsächlichen praktischen Anwendung als Selbstmedikation abgeglichen. 1 Von zahlreichen Einzelveröffentlichungen zu konkreten Autoren (allerdings oft unter Schwerpunkten wie den Berufen, eigenem wissenschaftlichen Wirken etc. der Autoren oder zu einzelnen ihrer Werke, selten unter dem Aspekt ihrer Genrezugehörigkeit) und gelegentlichen Bearbeitungen buntschriftstellerischer Werke in konkreten thematischen Zusammenhängen abgesehen gibt es relativ wenig einschlägige Forschung zum deutschsprachigen Polyhistorismus der Frühen Neuzeit, die die Buntschriftstellerei tatsächlich als eigenständiges Genre über die Einzelwerke hinaus in den Blick nimmt. Grundlegend zu nennen sind W IL - HELM K ÜHLMANN , Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982; sowie F LE - MING S CHOCK (Hg.), Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit - Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 169), Berlin 2012. <?page no="114"?> M ICHA EL B A UMANN 114 1. Aus Ulm die Welt beschreiben - das Leben Martin Zeillers Auff Herrn Zeillers vortreffliche Schrifften Eyle! Edler Zeiller / Eyle / Eyle / zeille; nicht verweile: Eyle Zeille fort und fort / dann dein wohlgesetzte Wort seynd ein Sinn-geschärfte Feyele / seynd wie faust-gefeste Pfeile / tringend hin durch Ost und Nord / seynd ein Schanz an hohem Orth / seynd ein unbewegte Säule. Drumb so Eyle / mit uns theile Deine klug-gelehrte Wort / Guter Künste Weg und Port. Eyle zeille / nicht verweyle / Edler Zeiller / Edle zeille. - so lobpreist Hans 2 Michael Moscheroschs Sonett als Nachruf den Ulmer Buntschriftsteller Martin Zeiller (1589-1661). 3 In der sprach-, spiel- und sprachspielverliebten Welt der Barockgelehrten war die klangliche Ähnlichkeit von Zeiller und Zeile nicht verborgen geblieben, und auch wenn man dem als Satiriker geehrten wie verschrienen Moscherosch durchaus nebst dem Lob einen gewissen gutmütigen Spott in sein Sonett zu interpretieren vermag, so stimmt er doch ein in den von Kollegen und Wissenschaft, Mit- und Nachwelt einstimmig geteilten kleinsten gemeinsamen Nenner Martin Zeillers: Seine ungeheure Produktivität. Der schreib-gierige Zeilerio 4 wird 2 Eigentlich Johann Michael Moscherosch, genannt Philander; die hier verwendeten Initialen H. M. statt J. M. finden sonst in Bezug auf seine Person, soweit mir bekannt, keine Verwendung. 3 P ETER F RANCKEN VON S CHLEUSINGEN , Denck- und Danckmahl dem Edlen Grosachtbaren und Hochgelährten Herrn Martin Zeillern, weltberühmten Historien Schreiber, Coburg 1661, S. 34. 4 E BERHARD W ERNER H APPEL , Relationes curiosae, Oder Denckwürdigkeiten der Welt, worinnen allerhand remarquable Seltenheiten, merckwürdige und bissher unbekannte Geschichte, Lebens-Beschreibungen berühmter, insonderheit um die Hamburgische Republique und Kirche verdienter Männer, ernsthaffte und lustige Sinn- und Grab-Schrifften, durch und durch mit schönen Kupferstücken und andern Figuren ausgezieret. Einem jeden curieusen Liebhaber zur sonderbahren Gemüths- Belustigung aus der Physic, Moral-Philosophie, Mathematic und andern Wissenschaften mit allem Fleiss zusammen gertragen, und mit einem nöthigen Register versehen worden; Dass also diese Arbeit gar füglich E. G. Happelii <?page no="115"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 115 in dieser Eigenschaft besonders hervorgehoben bei Eberhard Werner Happel - selbst Autor von gut 30 kompilatorischen Texten, einem guten Dutzend Romanen und Übersetzer der Schriften des Valerius Maximus ins Deutsche. Ebenso lapidar wie monumental hält Georg Philipp Harsdörffer, seinerseits ein Autor mit überbordendem Oeuvre, in der Vorrede seines ›Poetischen Trichters‹ fest: Des Zeylers Fleyss ist unerreicht. 5 Weniger barock in der Sprache, dafür gleichsam anerkennend stellt Walter Brunner fest: »Es gibt nur wenige Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, die nicht nur so viele Bücher wie Martin Zeiller geschrieben haben, sondern die auch mit so viel Begeisterung gelesen worden sind. Zeillers Werke finden sich in fast allen älteren Bibliotheken des deutschen Sprachraumes und darüber hinaus, vielfach sogar in mehreren Exemplaren. Nur wenige Bücher sind damals so oft nachgedruckt und neu aufgelegt worden wie jene von Zeiller.« 6 Zeiller nahm seine schriftstellerische Tätigkeit 1632 auf und veröffentlichte bis einschließlich 1661, dem Jahr seines Todes, im Schnitt etwas mehr als zwei Bücher pro Jahr. Bei dieser Berechnung zählte sein Biograph Walter Brunner allerdings mehrbändige Werke nur als eines. 7 Was diese Einschränkung in der Praxis bedeutet, zeigt ein Blick auf das Werk, das hier näher in den Fokus genommen werden soll: Relativ spät, 1658, publizierte Zeiller die ›Ein Hundert Fragen‹ 8 mit 397 Textseiten, gefolgt von - als Teile der mehrbändigen Reihe und somit nach Brunners Zählung als ein Werk - ›Das Ander Hundert Fragen‹ 9 mit 452 sowie ›Das Dritte Hundert Fragen‹ 10 mit 491 Textseiten im Jahr 1659 und ein Jahr später schließlich ›Das Vierte Hundert Fragen‹ 11 mit 501 Textseiten, womit sich ohne die in wissenschaftlichen Continuation seiner hibevor gedruckten curieusen Relationen genannt werden könne, Hamburg 1707, S. 538. 5 G EORG P HILIPP H ARSDÖRFFER , Poetischen Trichters zweyter Theil. Samt einem Anhang von der Teutschen Sprache: durch ein Mitglied der hochlöblichen fruchtbringenden Gesellschaft, Nürnberg 1648, S. 11. 6 W ALTER B RUNNER , Martin Zeiller. 1589-1661. Ein Gelehrtenleben, Graz 1989, S. 8. 7 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 66. 8 M ARTIN Z EILLER , Centuria Variarum Quaestionum, oder / Ein Hundert Fragen / von allerley Materien und Sachen. Samt unvorgreifflicher Antwort darauf / aus vornehmer und gelehrter Leute Schrifften genommen / und gesamlet, Ulm 1658. 9 M ARTIN Z EILLER , Centuria II. Variarum Quaestionum, Oder Das Ander Hundert Fragen / von allerley Materien und Sachen. Samt unvorgreifflicher Antwort darauf / aus vornehmer und gelehrter Leute Schrifften genommen / und gesamlet, Ulm 1659. 10 M ARTIN Z EILLER , Centuria III. Variarum Quaestionum, Oder / das Dritte Hundert Fragen / von allerley Materien und Sachen. Samt unvorgreifflicher Antwort darauf / aus vornehmer und gelehrter Leute Schrifften genommen / und gesamlet, Nürnberg 1659. 11 M ARTIN Z EILLER , Centuria IV. Variarum Quaestionum, Oder / das Vierte Hundert Fragen / von allerley Materien und Sachen. Samt unvorgreifflicher Antwort darauf / aus vornehmer und gelehrter Leute Schrifften genommen / und gesamlet, Ulm 1660. <?page no="116"?> M ICHA EL B A UMANN 116 Werken des Barock obligatorischen Errata die stolze Seitenzahl von 1.841 Seiten ergibt, was Brunner als e i n Buch zählt. Bei einer anderen Zählweise käme man also auf weit über hundert Werke, größtenteils mit mittleren dreistelligen Seitenzahlen. Die explizit rein übersetzerische Tätigkeit Zeillers sowie seine alleinige Autorschaft der Texte bei Matthäus Merians berühmten 30 Bänden Topographien sind hierin nicht einmal enthalten. Wenn Zeiller bis heute so etwas wie einen breiteren Nachruhm erfährt, dann wegen seiner Autorschaft beim Großprojekt des Kupferstechers und Kunstverlegers Merian. Zeillers erste Veröffentlichungen waren Länder- und Reisebeschreibungen, die ihn schnell bekannt und berühmt machten und auch eine erste Zusammenarbeit mit Merian zur Folge hatten: Das ›Itinerarium Italiae‹ 12 wurde von Merian, der das Werk auch verlegte, mit Kupferstichen und Radierungen bebildert. Ob, wie Brunner vermutet, der Erfolg der Veröffentlichung Merian zu seiner großangelegten historischen Topographie erst inspirierte, 13 sei dahingestellt - jedenfalls war sie die Grundlage einer Zusammenarbeit, die mit dem ›ersten Merian‹ über die Schweiz 1642 begann und 1658 mit dem 30. Band, der sich Italien widmete, enden sollte. Neben der Bebilderung war es sicherlich das nicht nur umfangreiche, sondern in vielerlei Hinsicht auch inhaltlich relativ neuartige und einheitlich strukturierte 14 Textkorpus, 15 das den Erfolg des ›Merian‹ begründete. Für Zeiller selbst scheint die Mammutaufgabe eher eine Arbeit nebenbei gewesen zu sein, und erst nach dem Tode Merians wird er überhaupt, und dann auch nur mit den Initialen M. Z., genannt. Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts findet er sich als Mitautor ausgeschrieben. 16 Aus dem Schatten zu treten beginnt er in dieser Hinsicht eigentlich erst mit Carl Schuchards editionsphilologischem Aufsatz von 1896, der mit nicht von der Hand zu weisender Logik den Titel ›Die Zeiller-Merianschen Topographieen‹ trägt. 17 12 M ARTIN Z EILLER , Itinerarium Italiae Nov-Antiquae; Oder / Raiß-Beschreibung durch Italien, Frankfurt 1640. 13 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 107. 14 Weitgehender Verzicht auf ›Wundergeschichten‹, Einfügung statistischer Daten über Länder und Städte, Etymologien und Historie, Gesetze, Schulen, Geographie, Kirchen und Klöster sowie - last but really not least - umfangreiche und exakte Literaturangaben der von Zeiller genutzten Quellen. 15 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 110f. 16 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 112f. 17 C ARL S CHUCHARD , Die Zeiller-Merianschen Topographieen. Bibliographisch beschrieben, in: Centralblatt für Bibliothekswesen XIII (1896), 5. und 6. Heft, S. 195-232. <?page no="117"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 117 Es war dem »wohl bedeutendsten deutschsprachigen Kompilationsautor und Wissensvermittler der Jahrhundertmitte, dem Ulmer Schulmann, de facto aber freien Schriftsteller Martin Zeiller« 18 nicht in die Wiege gelegt, zum vielleicht vielschreibendsten der Buntschreiber zu werden - immerhin veröffentlichte er über die Hälfte seines Lebens nichts. 1589 wurde Martin Zeiller im steirischen Ranten geboren; sein Vater, Martin Zeiller der Ältere, war dort seit 1553 als Pfarrer angestellt. Dessen Herkunft ist nicht geklärt, es spricht aber manches dafür, dass er selbst aus dem steirischen Murtal stammte. Als sicher gilt, dass er 1527 geboren wurde, 1545 das Zwickauer Gymnasium besuchte und ab 1550 in Wittenberg bei Melanchthon studierte; trotz der soweit bekannt rein protestantischen Ausbildung und Ausrichtung empfing er die katholische Priesterweihe. Gestützt haben dürfte ihn in Ranten der lutherische Vogtherr Otto von Liechtenstein-Murau; Zeiller der Ältere scheint nach 1553 relativ offen seine protestantische Sichtweise gelebt und gelehrt zu haben, heiratete zweimal (der zweiten Ehe entstammte Martin Zeiller der Jüngere), wurde auch im Zuge der Rekatholisierung ab 1580 unter Erzherzog Karl II. von Innerösterreich zunächst nicht wesentlich eingeschränkt und konnte mit expliziter Billigung der Grundherren bis 1600 sein lutherisches Predigtamt ausüben. 19 Ab 1597 wurde Zeiller der Jüngere in Murau lutherisch unterrichtet, wie nicht nur der aus dem sächsischen Meißen stammende Lehrer Wolfgang Pensold nahelegt, sondern auch die dem neunjährigen Jungen von der Religionskommission 1598 beschlagnahmten und verbrannten lutherischen Schulbücher. Schon zwei Jahre später musste die Familie das Land verlassen. 20 Die Exulanten machten sich, wie viele andere auch, auf den Weg in die evangelischen Städte des Deutschen Reiches; in Ulm sind ab 1600 mehrere finanzielle Zuwendungen der Stadt an die weitgehend mittellose Familie belegt, bis Zeiller der Ältere 1605 eine Anstellung als Pestseelsorger bekam. 21 Auch wenn unter diesen Umständen die finanzielle Lage der Familie nicht rosig gewesen sein kann, muss es offensichtlich möglich gewesen sein, Martin Zeiller dem Jüngeren den Schulbesuch an der lateinischen Schule in Ulm von 1601 bis 1608 zu finanzieren. Seit 1608 bis wohl 1612 studierte er in Wittenberg Geschichte und Rechtswissenschaft. 22 Auch über die Finanzierung dieses Studiums herrscht Unklarheit; nach 1612 jedenfalls 18 W ILHELM K ÜHLMANN , Polyhistorie jenseits der Systeme, in: F. S CHOCK (Hg.), Polyhistorismus (Anm. 1), S. 21-42, hier 33. 19 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 12-18. 20 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 25-27. 21 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 35-41; nach älteren Beschreibungen soll die Familie längere Zeit in Regensburg verbracht haben. Brunner weist an einer Fülle von Archivfunden schlüssig nach, dass für einen längeren Aufenthalt in Regensburg seit Mai 1600 bis zum Tode des Vaters 1609 eigentlich kein nennenswertes Zeitfenster übrigblieb. 22 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 43-45. <?page no="118"?> M ICHA EL B A UMANN 118 musste sich Zeiller nach einer Anstellung umsehen. Wohl schon in Wittenberg bekam er ein Angebot, als Hauslehrer und Erzieher für die Söhne mehrerer Linzer Adelsgeschlechter tätig zu werden. Er war jedoch nicht nur Privatlehrer, sondern wurde 1615 auch als Praeceptor an die Landschaftsschule berufen. Wie für Hauslehrer seinerzeit nicht ungewöhnlich, begleitete er seine adeligen Schüler auf den üblichen Reisen, die ein fester Bestandteil standesgemäßer Bildung waren. Weite Teile Mitteleuropas, insbesondere die protestantischen Städte des Deutschen Reiches, erlebte Zeiller also nicht nur als Reisender, sondern gezwungenermaßen auch als Organisator der Unternehmungen, der sich über Orte, Wege, Sehenswürdigkeiten, Sitten, Gesetze etc. in geeigneter Literatur und bei Reiseerfahrenen informieren musste. 23 »Fast zehn Jahre war Zeiller in den Diensten der Familie Tattenbach gestanden und hatte während dieser Zeit vielfältige Gelegenheit gehabt, auf den Bildungsreisen viele Länder und Städte kennenzulernen. Er dürfte während dieser jahrelangen Reisetätigkeit bereits systematisch alles Wissenswerte über deren Geschichte und Topographie gesammelt haben. Außerdem wissen wir, daß er minuziös Tagebuchaufzeichnungen über diese Reisen und seine Wahrnehmungen gemacht hat, die später zusammen mit den aus Büchern angelesenen Informationen die Grundlage seiner Werke bilden sollten.« 24 Nach weiteren Lehr- und Reisetätigkeiten kehrte Zeiller, der auf seinen Reisen auch längere Zeiten im von ihm wohl schon als Heimat empfundenen Ulm verbrachte, nach der Vertreibung des protestantischen Adels aus der Steiermark 1628/ 29 endgültig nach Ulm zurück. 25 Das Ratsprotokoll des 11. Novembers 1629 sicherte ihm dort zwar das Bürgerrecht zu, bot ihm aber für seinen Lebensunterhalt nur wenig Hoffnung: […] so solle Er zue ainem alhiesigen burger gnädig uff- und angenommen sein und ime uff hievormalige vertröstung nochmalen angezeigt werden, wann künftig ein dienst oder gelegenheit für in verhanden, mann seiner gnädig ingedenkh sein wolle, weil es jetziger Zeit wegen der bewiesten fürgehenden beschwerlichen Leuff nit sein könnte. 26 Mit 40 Jahren hat sich Zeiller also dauerhaft in Ulm niedergelassen und ein Haus erworben. 27 Er heiratete im Januar 1630 die Witwe Magdalena Mehrer - und stand ohne die Möglichkeit einer Anstellung da, obwohl er mit seiner Vorgeschichte wohl nicht grundlos auf eine Beschäftigung im Schulbereich gehofft hatte. 28 23 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 46-49. 24 W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 53. 25 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 59f. 26 StadtA Ulm, Ratsprotokoll 1629, Nr. 79, S. 321. 27 Die genaue Adresse ist umstritten, jedenfalls verlor er es wahrscheinlich aus finanziellen Gründen bald wieder. 28 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 63f. <?page no="119"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 119 Neben den schon erwähnten umfangreichen Exzerpten von seinen Reisen 29 standen ihm in Ulm die umfassenden Bibliotheken von Stadt und Pfarramt zur Verfügung sowie eine nicht erhaltene, aber umfangreiche eigene Bibliothek, so dass er aus einem beträchtlichen Wissensschatz schöpfen konnte. 30 Dass seine Talente und sein Lebensweg sich in einer Karriere als Schriftsteller, dem neben Ruhm und einer pädagogischen Wirkungsbasis auch finanzieller Erfolg in Aussicht standen, verwerten ließen, scheint dennoch vorher nicht in seiner Absicht gelegen zu haben. Der fortgeschrittene Buchdruck und eine auf seine Art des Schreibens begierige Leserschaft begünstigten die Vermarktung seiner Werke in einer Weise, wie es vor der frühen Neuzeit noch nicht möglich gewesen wäre. Bis zu seinem Lebensende war er nach den ersten Veröffentlichungen dadurch finanziell unabhängig. Der Vielgereiste, der nun vor allem über Reisen schrieb, verließ Ulm nie wieder. Die ihm später angetragenen Ämter - 1633 Visitator der lateinischen Schule, 1641 Zensor für historische und philosophische Schriften, 1643 Inspektor der deutschen Schulen - brachten Ehre und festigten sicherlich auch seine Stellung als Ulmer Bürger. Ämter, die mit Einnahmen, aber erheblichem Arbeitsaufwand verbunden gewesen wären, wie der Ulmer Lehrstuhl für Geschichte und Moral, lehnte Zeiller hingegen 1646 ab, hätten sie ihn doch am Schreiben gehindert. 31 1660 konstatiert er noch in einem Brief die Dankbarkeit für seine nach wie vor hohe Sehkraft - und wie er sie zu nutzen gedachte: Dann obwoln mit lesen Einer auch die Zeit vertreiben mag, so ist doch das Schreiben mir viel angenehmer. 32 2. Kompilieren, lehren, nützen, erfreuen - die Rezeptur der buntschriftstellerischen Programmatik Die Bewertung seiner Schreibtätigkeit fällt allerdings sehr unterschiedlich aus. Von den Zeitgenossen und auch danach oft hochgelobt - »solange man seine Bücher mangels Besserem benötigte, blieb auch sein Ruhm ungebrochen« 33 - bis zu Kühlmanns oben zitiertem Verdikt zieht sich zwar durchaus eine lange Reihe der Anerkennung; doch seine Art des Schreibens, aber neben vielen anderen explizit ihn als Person kanzelt bereits Zedlers Universallexikon im Band von 1741 ab, eben weil die unüberschaubare Wissensfülle so nur verwässert werde: »Die Polyhistorey ist eine 29 Es deutet viel darauf hin, dass er überall auch Bibliotheken besuchte und Abschriften machte. 30 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 82. 31 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 68f. 32 P. F RANCKEN VON S CHLEUSINGEN , Denck- und Danckmahl (Anm. 3), S. 176. 33 Vgl. W. B RUNNER , Zeiller (Anm. 6), S. 121. <?page no="120"?> M ICHA EL B A UMANN 120 Sache, darauf man sich nicht zu legen.« 34 Obwohl sich darauf seinerzeit sehr viele gelegt haben, blieb Zedlers Sichtweise doch lange dominierend. Noch 2012 beklagt Fleming Schock das Fehlen gründlicher Auseinandersetzungen der Forschung mit dieser nicht rein akademischen Seite der Enzyklopädien und ihres Wissens: »Dabei war das enzyklopädische Feld der Epoche größer und die Schnittstellen zwischen gelehrter und ›halb-gelehrter‹ Wissenskultur und Wissensproduktion vielfältig«. 35 Kühlmann führt aus, dass diese Literatur typologisch zwischen zwei Polen schwankt: Auf der einen Seite orientiert sie sich an der irgendeinem organisatorischen Schema folgenden Fach- oder Universalenzyklopädie, die zumindest tendenziell sich auch schon im 17. Jahrhundert dem alphabetischen Ordnungsschema nähert. Ein Beispiel der Buntschreiberei im medizinischen Bereich wäre Paullinis Dreckapotheke von 1696, 36 die in einer erkennbaren Logik nach Gliedern, Organen und den vier Temperamenten zuzuordnenden Krankheiten aufgebaut ist. Auf der anderen Seite zeigt sie Verwandtschaft zu latein- und volkssprachlichen Lehrbüchern aller artes. 37 Zur Buntschreiberei im engeren Sinn bemerkt Kühlmann nun: »Zwischen diesen Grenzen spannte sich ein literarisches Feld bewusst ungeordneter, dem Prinzip der ›varietas‹ gehorchender, jedenfalls nur andeutungsweise systematisierter, jedenfalls polyhistorisch gemeinter […] Kompilationsliteratur, die oft nur durch einen allegorischen Titelrahmen (Schatzhaus, Theater, Spiegel, Museum, Blütenlese und dgl.) […] zusammengehalten wurde und in dem der Lesereiz des Heterogenen kultiviert wurde.« 38 Einen solchen Rahmen bilden natürlich auch die ›Hundert Fragen‹. Wenn Kühlmann von »journalistisch-seriellen Formen der Wissensvermittlung« 39 spricht, sind damit sicher beispielsweise eher Happels ›Relationes Curiosae‹ gemeint als Zeillers ›Hundert Fragen‹; dennoch befindet sich Zeiller auf dem Terrain, aus dem nicht nur das moderne Lexikon, sondern auch die moderne Zeitung sprießen werden. Auch wenn sein Nachruhm zurecht mehr auf seiner Tätigkeit für Merian beruht, wäre es ein Fehlschluss, sein Schaffen in die echten, bedeutenden topographischen Bereiche 34 Vgl. J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste […], Leipzig 1732-1754, hier Bd. 28 (1741), S. 1315-1320, Zitat 1319. 35 F LEMING S CHOCK , Wissensliteratur und ›Buntschriftstellerei‹ in der frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation. Einführung, in: D ERS ., Polyhistorismus (Anm. 1), S. 1- 20, hier 18f., 20 (Zitat). 36 K RISTIAN F RANZ P AULINI [sic! ], Heylsame Dreck-Apotheck: wie nemlich mit Koth u. Urin fast alle, ja auch d. schwerste, gifftigste Kranckheiten u. bezauberte Schäden vom Haupt biss zun Füssen, innu. äusserl., glückl. curiret worden, Frankfurt am Main 1734 (Erstauflage 1696). 37 Vgl. W. K ÜHLMANN , Polyhistorie (Anm. 18), S. 22. 38 W. K ÜHLMANN , Polyhistorie (Anm. 18), S. 23. 39 W. K ÜHLMANN , Polyhistorie (Anm. 18), S. 23. <?page no="121"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 121 und die Nebenher-Produktion der ›Hundert Fragen‹, der ›Epistolischen Schatzkammer‹ 40 oder der ›Dialogi‹ 41 zu trennen. Als ein Beleg der prinzipiellen Gleichartigkeit mag gerade einer seiner schärfsten Kritiker gelten: Max von Waldberg wirft ihm noch 1898 vor, in seinem ›Itinerarium Italiae‹ nur oberflächlich vorzugehen; der Raphael etwa werde gar nicht erwähnt, von Michelangelo kenne er den David nicht, stattdessen zähle er wahllos Kuriosa wie einen Altar aus Pfauenfedern auf, die er von anderen zusammengeschrieben habe, weil es ihm selbst an Wissen und Einbildungskraft ermangele - kurz, Zeillers Schriften seien »gelehrte Trödelbuden«. 42 Der Ulmer Polyhistor selbst hätte den Gegensatz von Gelehrtheit und Kuriosum so nicht gesehen, wie aus seiner (in der Buntschreiberei allerdings nicht so einzigartigen) schriftstellerischen Programmatik hervorgeht: Grosgünstiger Leser / als die Fragen für grossen Nutzen schaffen / kann man ohnschwer auch aus dem abnehmen / weilen der Gottes: der Rechten: und der Artzney Gelehrten / auch vieler anderer Leute Bücher derselben voll seyn: dabei auch gemeinlich die Antwort zu finden: Wiewol es leichter ist / zu fragen / als zu antworten. 43 Dem Titelrahmen - der Frage - wird hier Gewicht verliehen durch die Autorität einer großen Anzahl anderer Autoren. Zeiller umreißt hier nur drei Themenbereiche; es wäre wie bei vielen polyhistorischen Werken leichter aufzuzählen, welche Themen nicht berücksichtigt werden, so dass hier neben Religion, Recht und Arzneikunde (also nicht direkt Medizin als ars! ) zumindest noch Kriegskunst, Wetterphänomene und natürlich Topographie genannt werden müssten. Dennoch ist die Aufzählung genau dieser drei Bereiche durchaus ein Beleg, dass der Arzneikunde von Zeiller selbst eine hohe Bedeutung zugemessen wurde - und er sich für diesen von ihm hier so prominent platzierten Bereich auch ein besonderes Interesse der Leserschaft erwartete. In der Folge wird Zeillers Autorität gestärkt durch ein Zitat Senecas, der seinerzeit schon der Meinung war, dass das Antworten den schwierigeren Teil der Aufgabe darstelle. Zeiller weiß um die ehrwürdigen Ursprünge seiner Tätigkeit sehr wohl. Wie viele andere Buntschreiber stellt er sich immer wieder in die Tradition der antiken Poikile Historia von Aelian, Athenaios, Macrobius, Gellius und anderen, mit denen beginnend seine Quellenbasis über die Florilegienliteratur 40 M ARTIN Z EILLER , Wolseeliger Gedächtnüß/ Epistolische SchatzKammer Bestehend Von Siebenhundert und Sechs Send-Schreiben […], Ulm 1700. 41 M ARTIN Z EILLER , Einhundert Dialogi, oder Gespräch/ Von unterschiedlichen Sachen/ zu erbaulicher Nachricht/ auch nützlichem Gebrauch/ Und Belustigung auß Vornehmer und berühmter Leuten Schrifften/ und sonderlich etlichen Neuen Historischen Büchern/ so in unterschiedlichen Sprachen außgegangen seyn/ zusammen getragen/ und also eingetheilter verfertigt/ Durch Martin Zeillern/ , Ulm 1653. 42 M AX VON W ALDBERG , Martin Zeiller, in: ADB 44, Leipzig 1898, S. 782-791, Zitat 789. 43 M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8), S. 3. <?page no="122"?> M ICHA EL B A UMANN 122 und Enzyklopädien aller Art reicht. Natürlich greift Zeiller auch zeitgenössische Quellen von Fachliteratur bis zu Flugblättern auf. 44 Gerade aus dieser Schwierigkeit der Antwort heraus begründet Zeiller aber den hohen Maßstab, den er an seinen Fragenkatalog anlegt: Und soll man daher nicht von einem jeden Ding Fragen vorlegen, sondern nur von nützlichen / erbaulichen / ehrlichen / wohlanständigen / und züchtigen Sachen. 45 Martin Zeiller war nicht nur ein zutiefst religiöser Mann, sondern besaß auch ein pädagogisches, protestantisch geprägtes Sendungsbewusstsein in seiner Wissensvermittlung. Die Welt ist das schöne offne Buch, darinn sich Gott lässet lesen von allen Leuthen und in allerhand Sprachen, 46 so Zeiller in einem seiner Briefe - womit er sicher nicht zufällig die mittelalterliche Zwei-Bücher-Lehre 47 aufgreift, die besagt, dass neben der Bibel Gott im Buch der Welt dem Menschen alles zum Verständnis Gottes und seiner selbst offenbart. Damit sind die scheinbar wirren, an varietas so reichen Kompilationen 48 gerade der protestantischen Buntschreiber aber auch umfassende, in ihrer eigenen Ordnungssystematik durchaus stringent zu verstehende Predigten. Dennoch sollte man bei diesem ästhetischen und didaktischen Programm nicht vergessen, dass Zeiller vom Schreiben lebte und leben musste; neben dem docere tritt also auch das delectare in den Mittelpunkt, und das weit mehr, als es der Text des Vorworts zugeben möchte. Zeiller schrieb dem Geschmack und Interesse des Publikums nach und lieferte sowohl Wissenskompendium als auch Spiel, Unterhaltung, Konversationsgrundlage: »Solcherart aufbereitet, waren die kompilierten Themen ideales Rüstzeug für ›galante‹ ad hoc-Konversationen und […] lassen auf eine sich stark verändernde Lesekultur schließen. […] [I]m Zeichen der neuen Periodizität […] wandelte sich auch die Wahrnehmung des geduldigen Buchmediums und seiner Lektüremodi weg von der klassischen, sequentiell-intensiven Ganztextlektüre, hin 44 So findet sich etwa erstmals außerhalb der ›Wunderzeichen‹-Flugblätter die immer wieder auftauchende Beschreibung des Meerwunders (ein Meermensch wird gefangen, entflieht schließlich wieder) in Zeillers ›Theatrum Tragicum‹ (eig. Autor F RANCOIS DE R OSSET ; Übersetzung (und freie Überarbeitung, Anm. M. Baumann) Martin Zeiller: M ARTIN Z EILLER , Franc. D. Roset Theatrum Tragicum, oder Wunderlich und Traurige Geschichten. II. Editio, Corrigirt, mit figurn geziehrt und vilen Neuen und denckwürdigen Historien augurirt durch Martinum Zeyllern Styrum, Tübingen 1628) wieder; vgl. F LEMING S CHOCK , Flugblätter als Quellen der Buntschriftstellerei, in: A LFRED M ESSERLI / M ICHAEL S CHILLING (Hg.), Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2015, S. 157-182, hier 172. 45 M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8), S. 3f. 46 P. F RANCKEN VON S CHLEUSINGEN , Denck- und Danckmahl (Anm. 3), S. 76. 47 Zur langen mittelalterlichen Tradition der Metaphorik des Buches der Natur vgl. F RIED - RICH O HLY , Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, insb. S. XXXI (Einleitung) sowie 289-292. 48 »Die ›andere‹, das heißt ungeordnete Seite des enzyklopädischen Zeitalters«; s. F. S CHOCK , Einführung (Anm. 35), S. 3. <?page no="123"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 123 zu selektiv-extensiven, flüchtigen Rezeptionsweisen eines mobilen, städtisch urbanen Medienkonsumenten«. 49 Zudem war Zeiller durch seinen Output schlicht genötigt, alle Informationen, die sich ihm zu einem Thema boten, zu verwerten. Ein besonders schönes Beispiel dieses Spagats der Polyhistoren bietet die Rezeption der ersten Rhinoplastiken des italienischen Arztes Gaspare Tagliacozzi, der um das Jahr 1579 herum Nasenrekonstruktionen aus Armgewebe des Patienten vornahm. Obwohl man wusste, dass die tradierte Variante der Geschichte einer Fremdgewebetransplantation - meist die Nase eines Sklaven des Patienten, gefolgt davon, dass der Nasenspender viele Jahre später an einem anderen Ort stirbt, seine Nase dann zugleich durch Sympathie (im Galen’schen Sinne) an ihren Besitzer gebunden, abstirbt - falsch war, wird sie noch 1689 bei Happel und 1653 bei Zeiller 50 tradiert - schon mit dem Hinweis, dass die Sache sich nicht so verhalte, aber die Geschichte eben gar zu schön sei. 51 Die Notwendigkeit, Fragen über die genannten hochwertigen Sachen vorzulegen, die man aus vieler Leute vornehmer Schriften / sambt der Antwort darauff / zusammengelesen, 52 begründet Zeiller damit, dass die Bücher / daraus sie genommen / den meisten Theil nit in deutscher Sprach geschrieben / und ob gleich theils in deutscher Sprach vorhanden / sie jedoch nicht jedermanns kauff / auch nit aller Orten zu bekommen seyn 53 - und wiederholt damit abermals typische Rechtfertigungen der Buntschreiber. 54 Zumindest rhetorisch sieht Zeiller allein darin seine Aufgabe schon beendet; die immer wieder auftretende Problematik sich widersprechender Quellen überlässt er ausschließlich dem Leser bzw. der Konversation der Leser - Dann er, der Collector, sich in solchen Streit nicht legen wird. 55 Ein Plädoyer für modernere, fortschrittlichere Methoden und Ansätze der Medizin ist damit von Zeiller nicht nur mangels eigenem Wissen, sondern auch durch die Konzeption kompilatorischen Sammelns nicht zu erwarten. Die spezifische Auslegung dieser Programmatik auf unser Thema folgt im Vorwort des zweiten Bandes; stolz verweist Zeiller auf den Erfolg der ›Hundert Fragen‹ des Vorjahres auf der Frankfurter Herbstmesse, der seinen Verleger genötigt habe, bei ihm um eine Fortsetzung anzusuchen, die eben auch wieder Arzneien behandeln solle, 56 die Er / an unterschiedlichen Orten / da er sich aufgehalten / aus Erfahr: und Erzehlung; 49 F. S CHOCK , Einführung (Anm. 35), S. 6. 50 Vgl. M ARTIN Z EILLER , Fidus Achates, Oder Getreuer Reisgefert, Ulm 1653, S. 317. 51 Vgl. A NNEMARIE G EISSLER -K UHN , »Nach dem Probier-Stein der Vernunft examiniret«. Popularisierung realkundlichen Wissens in der Buntschriftstellerei der Frühen Neuzeit, Zürich 2017, S. 11-14. 52 So im Titel; vgl. M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8). 53 M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8), S. 4. 54 Vgl. W. K ÜHLMANN , Polyhistorie (Anm. 18), S. 33f. 55 M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8), S. 6. 56 M. Z EILLER , Das Ander Hundert Fragen (Anm. 9), S. 3f. <?page no="124"?> M ICHA EL B A UMANN 124 auch aus Büchern / und geschribnen Verzeichnussen / nach und nach / (dann er sonst die Artzney-Kunst nicht gstudirt) gesamlet hat. 57 Es ist also nicht nur (laienhafte) Arzneikunde für, sondern auch vom Volk, die er hier anbietet - eine deutliche Ausweitung der möglichen Quellenbasis, also eben genau nicht nur ›vornehme Schriften‹. Gerade die Betonung der Laienhaftigkeit von Autor und (teils) Quellen erschließt sich dadurch, dass Zeiller die Rezepte nur zu dem Ende communicieret, daß man […] in der Eil und da man etwas theils Orten / da man weder Doctores, noch Apotecken hat / oftmals grossen Nutzen schaffen. 58 Die Wichtigkeit dieser Volksmedizin aus der so bezeichneten Drecksapotheke lässt Zeiller gleich ein Beispiel anbringen, ist ihm doch just beim Verfassen der letztzitierten Zeilen ein Rezept untergekommen: daß / in dem man solches geschriben / Eine vom Adel zedel herfür kommen / darinn der selbe berichtet / wie er in seiner Frau Mutter geschribenen Sachen / für das Podagra un Vergicht / folgendes Recept gelesen habe: Nimm Hauswurtz / stoß die gar wol / nimm ferners ein Tügel voll guten Essig / und ein halben Tügel mit guter Milch / thu es alles wol untereinander; zu lezt nimm von vier Eiern das Weisse / zerschlag das selbe gar wol / misch alles aufs beste unter einander / streichs sodann auff den Fueß / oder wo es dir wehe thut / und bind es mit einem weissen Tuch wol zue / so wirstu von stunden an / und dann ie länger ie mehr / besserung empfinden. 59 - Ein kurzes Rezept, das heute noch viele Haushalte nicht vor Probleme stellen sollte, und dennoch auch ein für die Lektüre werbendes Vorwort-Rezept, das in den eigentlichen Fragen in der Länge meist deutlich geschlagen wird. Im Folgenden sei eine Frage beispielhaft de-kompiliert, die - soweit dies in der varietas auch der Einzelbeispiele möglich ist - typisch erscheint: Die 52. Frag des 3. Hundert: Was dienet absonderlich zu des Hirns Gebresten? Das Hirn ist das öberste und höchste unter allen innerlichen Gliedern des Menschen / ein Sitz / und Wohnung des Verstands / Gedächtnus / und Urtheilens / welches von der Natur / mit mancherley wunderbarlichen unterschiedlichen Eigenschaften erschaffen; Dann ist es ohn Blut / ohne Fleisch / weiß / weich / gleich als ein Schaum zusammengepackt / wie das Marck / feucht / kalt / […] Sihe Christoph Wirsung / und Jac. Theodor Tabernamontanum, in ihrem Arzneybuch / part. I cap. 12 fol. 91 seqq. 60 - Entgegen seiner Versicherungen, nur Rezepte anbieten zu wollen, legt Zeiller die selbstgestellte Frage nach Hirnerkrankungen doch recht weit aus; zunächst also eine allgemeine Beschreibung des Gegenstandes. Die Quellen - hier das Arzneibuch des Heidelberger Apothekers Christoph Wirsung 61 sowie das Werk des Apothekers, Arztes und Wormser Medizinprofessors Jakob Theodor aus Bergzabern (latinisiert Tabernaemontanus) 62 - lassen dabei sehr 57 M. Z EILLER , Das Ander Hundert Fragen (Anm. 9), S. 4. 58 M. Z EILLER , Das Ander Hundert Fragen (Anm. 9), S. 4f. 59 M. Z EILLER , Das Ander Hundert Fragen (Anm. 9), S. 5f. 60 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 226. 61 C HRISTOPH W IRSUNG , Ain new Artzney-Buch, Heidelberg 1568; mit etwa 14.000 Rezepten ein Standardwerk zeitgenössischer Pharmazie. 62 J AKOB T HEODOR , Ein neuwes Artzneybuch, Frankfurt am Main 1577. <?page no="125"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 125 wohl gelehrte Mediziner erkennen, welche die ihrer Disziplin theoretisch zugrunde liegende Humoralpathologie - also die seit der Antike behutsam, aber kontinuierlich weiterentwickelte Lehre Galens von den Säften und Temperamenten - kennen. Auch aus der gleichsam verstümmelten, zumindest unsystematischen Wiedergabe Zeillers ist dem Kundigen das Hirn als Produzent eines der vier Körpersäfte Schleim (Phlegma) erkennbar, dem die Eigenschaften feucht und kalt, das Element des Wassers und die Farbe Weiß zugeordnet wurden. 63 Diese zugrundeliegende Logik spiegelt sich auch in der späteren Reihung von Rezepten wider, die sich in Stärkung des Gehirns (als schwaches Element/ Temperament), zu kalt und zu heiß gewordenes sowie verstopftes (also jeweils dem gesunden Säftefluss widerstehendes) Hirn aufteilen. Selbst die Erscheinungen, die dem Überfressenen im Traum erscheinen mögen, sind entsprechend humoralpathologisch angebunden: Wann einem eine schwarze Gestalt erscheinet / so bedeutet es vil melancholische Feuchtigkeit; wann eine feurige / vil gallen; wann eine Wässerige / viel Koth. 64 Inwieweit ein zeitgenössischer Leser ohne medizinische Vorbildung diese Reminiszenzen ohne weitere Erklärung durchschauen konnte, ist zumindest fraglich. Zwar kommen noch weitere medizinische Autoritäten zu Wort: Der vortreffliche Medicus, Io. Crato, 65 hat einem alten Mann / zu Stärckung des Hirns / folgende Saiffen geordnet […]. Daraus solle man / mit Rosenwasser / Kügelein machen / und damit oft das Haubt ein Stund vor Abends salben, 66 allerdings lässt die Genauigkeit der Quellenangaben bereits nach. Zeillers umfangreiche Bibliothek kam zumindest in seinen zahlreichen Exzerpten und selbst ungenau formulierten oder formulierenden Quellen an die Grenzen ihrer enzyklopädischen Leistungsfähigkeit, wenn man einen strengen wissenschaftlichen Maßstab anlegt. Doch darum geht es eben nicht bzw. nicht vordergründig. Spätestens beim Übergang in den zweiten Teil seiner Antwort, die sich nach den körperlichen Gebresten, zu denen sich noch die Behandlung offener Kopfwunden gesellt, den geistigen Krankheiten zuwendet, 67 wird klar, dass neben dem, was die Moderne unter Quellen verstehen würde, auch zahlreiche andere Authentizitätsbelege gleichberechtigt hineinspielen. Zeiller empfiehlt zunächst gegen den Aberwitz, 68 das Haupthaar zu scheren und mit lauwarmem Essig zu spülen, wie J. Cocus, in libel. De Anima Philippi, berichtet. 69 Mit kleinen Unterschieden wird dieselbe Behandlung auch von anderen bestätigt: Die Frau Gräfin von Ortenburg / in Bayern / sol vielen 63 Vgl. überblicksweise: K LAUS B ERGDOLT / G UNDOLF K EIL , Humoralpathologie, in: LMA 5, München 1999, S. 211-213. 64 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 232. 65 Gemeint ist wohl der Preßburger Arzt Johannes Cratus (gest. 1548). 66 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 227. 67 Wobei dies in klarer Trennschärfe natürlich eine moderne Aufteilung ist. 68 Hier zu verstehen als Wahnsinn, geistige Zerrüttung. 69 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 228; gemeint ist Philipp Melanchthon, Liber de Anima, Wittenberg 1553. <?page no="126"?> M ICHA EL B A UMANN 126 leuten / so etlich jahr seyn zerrüt gewesen / damit geholffen haben. 70 Ist diese Angabe noch potentiell prüfbar (und bietet einem Publikum Stoff für galante Ad-Hoc-Konversationen, s. o.), so stützen sich andere Angaben indirekt auf die Glaubwürdigkeit des bekanntermaßen weitgereisten, berühmten und vertrauenswürdigen Erfolgsschriftstellers Zeiller: In einem Bericht stehet also: […] Sonsten hab ich auch dises gefunden: […] Einer hat geschriben, 71 […] In eines geschriebenen Arzney-Büchlein hab ich gelesen, 72 […] In einem Zettelein stund folgendes 73 oder auch quasi direkt dem Volksmund entnommen, hier zur Ursache des Alpdrucks: Daher die alten Weiber glauben, es seye entweder der Teufel / oder ein Mensch / den ein Mensch lieb habe; da es doch ein Dampf / oder zäher Schleim / ist / so den hindern Teil des Hirns beschwert. 74 Obwohl Zeiller also der Ansicht war, dass die Erklärung in einem humoralpathologischen Ungleichgewicht zu suchen sei und dem Leser auch mitteilte, dass der Volksglaube in diesem Fall falsch liege - eine Quelle, die genannt werden musste, waren die alten Weiber denn doch. Noch ein weiterer Quellentypus tritt mit großer Häufigkeit auf, die Selbstreferenz: Das beste Mittel gegen durch Trunkenheit verursachten kleinen Aberwitz sei entweder Schlaf oder der Sud eingelegter Zitronenschalen, morgens und abends eingenommen - ein Rezept, das dem damaligen Leser bekannt vorkommen könnte, worauf auch Zeiller gleich verweist: im vorherigen eigenen Kapitel (51. Frage) zum Kopf findet sich unter dem Punkt Haubtwehe genau diese Behandlungsmethode. 75 Wenig später wird daran erinnert: Von Verwirrung des Hirns von eines wütenden Hunds Biß / ist in der 71. Frag des Ersten Hunderts / Bericht geschehen. 76 Nachdem gegen den Alpdruck und den von ihm her drohenden Hirnschlag die Rezepturen nach Cocus aufgeführt werden, schließt Zeiller den Absatz: Sihe hievon auch etwas oben in der 26. Frag 77 (die sich eigentlich damit beschäftigt, was von der Zauberei zu halten sei). Beim Alpdruck bringt Zeiller neben Schriftquellen und allgemeinem Volksglauben auch persönliche Erinnerungen an seine Reisen ein: Daher werden die innere Sinn ihnen einbilden / es steige etwas / von den Füßen / biß zur Brust herauff / als wie mir im Stättlein Bitterfeld / in Sachsen begegnet / als man mich in eine Kammer / so voller Schuncken / Speckschwarten/ und dergleichen / allein gelegt hat. 78 Zeiller hat sich von seinem Speisekammeralptraum offensichtlich erholt, aber nicht immer lief die Sache so glimpflich ab: Ist eine gefährliche Krankheit. Ich hatte im Land Mähren einen Kostwirt / der / bey der nacht / mit bloßem Degen herumgefochten / und vermeint / die Trutt / so ihn druckte / und er für ein böses 70 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 229. 71 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 229. 72 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 238. 73 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 236. 74 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 231f. 75 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 230. 76 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 230. 77 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 234. 78 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 232. <?page no="127"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 127 Weib hielte / zu treffen […] gleichwol ist der guete Mann / wie auch ein Lediger Mahler / und die Köchin / darüber ganz Contract 79 worden / seyn auch beide gestorben. Er aber / wie auch seine Ehefrau […] seyn gleichwol am Leben bliben. Er hat hernach / unter der Thürschwellen […] graben laßen / da sich dann Beiner / Haar / und anderer Unrath […] gefunden haben 80 - und somit die Ursache des Alpdrucks. Eine praktische Nutzanwendung der Hausapotheke darf bei diesen Teilen von Zeillers Rezepturen dann doch ebenso angezweifelt werden wie die eschatologische Ausdeutung für den Einzelnen. Dass solche Berichte aber Konversationslücken füllen und Langeweile vertreiben, somit das vom Leser in den Kauf des Namens Zeiller gesetzte Vertrauen rechtfertigen konnten, scheint unzweifelhaft. Ganz in diesem Sinne sei des Hirns (dem humoralpathologisch der Mond als Gestirn zugeordnet wird, somit auch alle dem Mond unterworfenen Wesen wie der Werwolf) Gebresten noch ein Sonderfall der Melancholie zugefügt: Hieher ziehet man auch die Lycanthropiam, da die Leut sagen / sie seyen in Wölfe verändert / auch den Wölfen nacharten / todtes Fleisch / oder Aas / fressen / auch oft Menschliche Cörper ausgraben: Welcher Zuestand / wie die Melancholia / curieret wird / und ist das beste / wann man die Krancke zu Haus behelt. Ob nun wol die Doctores J. Cocus, 81 Jacobus Martini, 82 und andere mehr / es nur für eine Einbildung / und Melancholi / halten: So seyn doch auch vil / die da glauben / daß die leuth zu gewisser Zeit in Wölff verwandelt werden / sonderlich in den kalten Ländern / davon anderswo gesagt worden. 83 Es ist zwar richtig, dass Zeiller im Vergleich zu seinen Autorenkollegen relativ wenige Wundererzählungen übernimmt; dennoch bleiben seine Schriften Teil des buntschriftstellerischen Kanons an Topoi, zu denen auch zweiköpfige Ziegen, Froschregen und Werwölfe gehören, Dinge eben, wie sie sich bekanntermaßen in den weit entfernten Ländern abspielen. Zu konstatieren bleibt nach dieser doch fast lückenlosen De-Kompilation einer Frage: Zeillers Arbeitsweise, der ökonomische Zwang des Schreibens großer Mengen in kurzer Zeit, und die buntschriftstellerische varietas bedingen sich gegenseitig. Die Zusammenstellung aller erreichbaren Quellen garantiert Fülle und ermöglicht einerseits die Einbindung wissenschaftlicher Erkenntnisse, was allerdings nicht im Sinne einer stringenten Vermittlung medizinischer Theoriegebäude zu verstehen ist. Andererseits werden ebenso Anekdoten - im barocken Sinne der Merkwürdigkeiten und Kuriositäten - und gelegentlich direkte Do-It-Yourself-Anleitungen mit einem zumindest subjektiv gegebenem Nutzwert und Reiseerlebnisse des Autors eingebracht. Auch mit dieser Methodik bleibt des Zeylers Fleyss unerreicht, aber wird doch zum Teil nachvollziehbar. Zeiller nur als positivistischen Sammler zu sehen, 79 Hier: gliederlahm, steif, starr. 80 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 233. 81 Der oben schon erwähnte polnische Arzt Jakob Cocus. 82 Jakob Martini (1570-1649), u. a. Professor für Logik und Metaphysik in Wittenberg. 83 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 235. <?page no="128"?> M ICHA EL B A UMANN 128 greift zu kurz. Seine Person hatte als bekannter Reiseschriftsteller Autorität, seine Erlebnisse standen gleichberechtigt neben den Erkenntnissen der akademisch gebildeten Mediziner. Den Spagat zwischen Unterhaltung und Wissensvermittlung dabei auflösen zu wollen, wäre ein anachronistisches und hier irreführendes Ordnungssystemdenken der Moderne. Beides geht nahtlos ineinander über. Die zeitgenössische Medizin als wissenschaftliches System spielt praktisch keine Rolle. Wissen ist hier die Aneinanderreihung von Einzelinformationen, auch wenn der Aufbau nicht willkürlich ist. Dafür, dass die Rezepte eher das Beiwerk zu den medizinischen Kuriosa waren, gibt es zumindest einige Indizien. Werfen wir einen beispielhaften Blick auf die 89. Frage im vierten Band, Was ist guet wider den Schrecken und die Forcht? Wider den Schrecken lobet man folgendes Waßer: Nimm Schwarz Kerschen: Lindenblühe: Kerbel / oder Cerefolii-Wasser / ieds 2. Löffel vol / misch / und wann du schlafen gehen willst, so trink davon 2 Löfel vol. 84 Zum einen ist auffällig, dass der Schrecken - anders als ein Organ - nicht beschrieben und erklärt werden muss. Zum andern wird durch die stattdessen sofort erfolgende Beschreibung einer Behandlungsmöglichkeit klar, dass dessen Behandlung in den medizinischen Bereich fällt. Die sich anschließenden Rezepte fallen aber deutlich aus diesem Rahmen: Wenn die Schlangen zum Fressen aus dem Wasser steigen, soll man sie mit einem Stock erschlagen; dieser Stock schützt sodann vor Raub und Mord. Wer Schelwurz 85 auf ein Maulwurfherz legt, überwindet seine Feinde. Auch eine Hasenpfote schützt gegen Raub; die Sigmarswurzel 86 in der rechten Hand sowie eine zeitgleich unter den linken Fuß gebundene Geierzunge schrecken Widersacher aller Arten zuverlässig ab. Die Einreibung mit Löwenschmalz schützt vor Raubtierangriffen. 87 Nun muss man nicht gleich den Dr. Eisenbarth persönlich bemühen, um sich vorzustellen, wie einem Ulmer Bürger auf dem Markt ein Tiegelchen Löwenschmalz verkauft wird, dessen Spender womöglich noch vor wenigen Tagen miauend durch Kaufbeuren gelaufen sein mag. Dennoch scheint eine realistische Nutzanwendung dieser Rezepte doch auf einer anderen Ebene zu liegen als der die Frage anführende Lindenblütentee, der ja bis heute als beruhigend gilt. Zeillers Kommentar nach der Aufzählung der (zumindest nach modernem Verständnis) magischen Rezepte deutet eher darauf hin, dass diese - trotz der im Vorwort nahegelegten Absicht, Hausmittel zu empfehlen - weder dem docere noch dem prodesse, sondern dem delectare zuzuordnen sind: Ich könnte Dir noch ein mehrers schreiben / weilen ich aber von solchen / und dergleichen Sachen / wenig oder gar nichts halte; 88 und sicherer ist / in 84 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 450. 85 Schöllkraut. 86 Rosenmalve. 87 Vgl. M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 450f. 88 Womit sich der Collector dann doch ganz unpositivistisch ein Urteil über seine Quellen wie auch eine Belehrung seiner Leserschaft erlaubt. <?page no="129"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 129 dem Schutz des Höchsten zu wandern / und sich demselben durch ein eifferiges Gebet / zu beweisen; so mag ich von dergleichen Sachen weiter nichts melden. Ich bin manchmal in großer Gefahr / sonderlich zu Kriegs-Zeiten / auff den Raisen / und sonsten / gewesen; aber allezeit durch Gottes des Herren Beystand / (deme ich auch darfür demütigst Lob und Dank sage) behütet worden. 89 Meines Erachtens wäre es fatal, an dieser Stelle die ›Hundert Fragen‹ nur als historische Quelle der populären Wissensvermittlung zu lesen und nicht auch als literarische: mag der barocke Stil für uns gewöhnungsbedürftig sein, so ist Zeiller seinerzeit doch auch für seine klare, eindringliche Sprache gelobt worden. Der religions- und rechtsstudierte Zeiller war sehr wohl vertraut mit rhetorischen Techniken und Effekten, so dass gerade hier, im Umfeld besonders der Sensationslust der Leser entgegenkommender Rezepturen, dann doch noch ein Axiom medizinischer (und im übertragenen Sinne allgemein wissenschaftlicher) Theorie seiner Zeit und nicht zuletzt seiner Konfession vermittelt wird: Ein Rezept heilt letztlich nicht aufgrund seiner Wirkstoffe und Zubereitung, sondern ausschließlich aufgrund der göttlichen Gnade, die zu erflehen dem Kranken wohl ansteht und letztlich mehr Hilfe erwarten lässt als jede Arznei. Denn im Sinne eschatologischer Weltdeutung galt der Kranke stets auch als ein Sünder, dessen Sünde sich in der Krankheit offenbarte. Andererseits ist es dann gerade eine der Fragen, die für die reine Sensationslust aus heutiger Sicht wie geschaffen erscheint - Die 88. Frag. Was braucht man in Franzosen-Kranckheiten? 90 , also der Syphilis, die den Anwendungscharakter in den Vordergrund rückt. Zeiller sprach hier den Leser besonders deutlich an und ging offensichtlich davon aus, dass ein ganz realer Bedarf an heilender Arznei vorhanden sei: Wann ich nicht dein keusches Gemüt kennete / wollt ich dir hierauf keun Antwort geben. Dieweil ich aber leichtlich erachten kann / du vernommen haben wirst / daß nicht nur von leichtfertigen Hueren / wann man sich zu denselben helt; sondern auch vom anhauchen / in den Betten/ auf dem Gestül / durch Kanten / Gläser / Löffel / Kleider / und dergleichen / solche Krankheit / in Italia / und Franckreich / dahin du zu raisen begehrst / man bekommen könne ; daß du deswegen die Frag fürbringen thuest. 91 Auch hier ist Zeiller als Schrift-Handwerker nicht zu unterschätzen: Mit sanfter Ironie bietet er sowohl sich selbst, der hier ja im weiteren Text Anweisungen gibt, wie die Folgen der Sünde zu heilen seien, als auch dem Sünder Exkulpation - hinter der der mahnende Zeigefinger doch überdeutlich sichtbar bleibt. Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass Nutzanwendung nicht die einzige, ja nicht einmal unbedingt die plausibelste Lesart bleibt, wie die Rezepte Zeillers denn nun aufzufassen sind. Zum einen sind sie aus religiös-didaktischer Perspektive eine weltanschauliche Leutpredigt, deren medizinische Bezüge exemplarisch eschatologisches Wissen vermitteln sollen. Zum anderen sind sie leicht verkäufliche 89 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 451f. 90 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 446. 91 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 446. <?page no="130"?> M ICHA EL B A UMANN 130 Massenware mit entsprechend sensationsheischender Ausrichtung medizinischer Anekdoten. Gleichwohl bleibt die Frage, ob sich die Nutzanwendung zumindest plausibel machen lässt: Können die Hausmittel der Drecksapotheke so angewendet worden sein? Im Folgenden werden zwei Stichproben mit den Möglichkeiten abgeglichen, die das Ulmer Stadtarchiv mit seiner ausführlichen Apothekertax von 1648 92 bietet. 3. Da man weder Doctores noch Apotecken hat? Zur Machbarkeit von Zeillers Rezepturen Zunächst soll ein kurzer Blick auf den Fragenbestand geworfen werden, den die hier näher untersuchten Texte bieten: Im ersten Hundert Fragen beziehen sich 25, im zweiten Hundert Fragen 18, im dritten Hundert Fragen 17 und im vierten Hundert Fragen 12 auf medizinische Themen. Somit entfallen immerhin 72 von 400 Fragen auf den medizinischen Bereich - ein knappes Fünftel also, ein Beleg dafür, wie sehr die zeitgenössischen Diskurse sich um Fragen von Gesundheit und Krankheit drehten. Andererseits ist dies ein Befund aus moderner Perspektive; die Frage, welcher Disziplin ein Kapitel zuzuordnen wäre, geht großenteils am Wesenskern der Buntschriftstellerei vorbei. Wie oben gezeigt wurde, kann sich eine medizinische Rezeptur auch in der Frage über Zauberei finden; umgekehrt behandeln ›Medizinfragen‹ ebenfalls Themen, die wir heute anders einordnen würden. Ob eine Frage wie die des sauberen Trinkwassers oder der Gegengifte heute so ohne Weiteres dieser Disziplin zugeschlagen werden könnten, wäre streitbar. Ob andererseits drei konsekutive Fragen, die alle das Thema der Adern und des Aderlasses bezeichnen, nicht besser als eines gezählt würden, mag ebenfalls offen bleiben. Auffällig - und damit doch wieder einen Schritt in Richtung des modernen Lexikons tuend - ist die Häufung der entsprechenden Fragen in Blöcken. Das erste Hundert behandelt von Frage 53 (Adern) bis 79 (Ansteckungsgefahr durch Lebende und Leichen) durchgehend medizinische Themen (und die Folgebände setzen ähnliche Blöcke - im zweiten Band Frage 51 bis 67, im dritten Band Frage 51 bis 66, im vierten Band Frage 87 bis 100). 93 92 Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX/ aller Artzneyen / welche daselbsten in den Apothecken gefunden werden. Im Jahr M.DC.XLIIX, Ulm 1648. 93 Allerdings sind diese Blöcke nicht ungebrochen; Bd. 1 Frage 72 (Ameisen und Wanzen) kann man sicher ohne große Mühe medizinisch einordnen, zwingend ist das allerdings nicht. Die 93. Frage des vierten Hundert - warum Salz eine Opfergabe darstellt - steht zwar inmitten medizinischer Fragen, hier ließ sich aber beim besten Willen keine thematische Relevanz herstellen. Diese Zählung berücksichtigt also etwa diese Fragen nicht, hat allerdings durch ähnliche Häufungen bei den anderen Bänden auch Zusammenhänge hergestellt, die <?page no="131"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 131 Für den Blick auf die Nutzanwendung seien hier exemplarisch zwei Fragen herausgegriffen. Die 91. Frage des vierten Bandes, Was hastu etwan von den Zänen auffgemercket, 94 widmet sich den Zähnen und liefert nach einer allgemeinen Beschreibung von Anzahl, Form und Funktion, der Einbettung in Kiefer und Zahnfleisch sowie der Unterscheidung in Schneide-, Eck- und Backenzähne zahlreiche Rezepte gegen Schmerzen von Zähnen und Zahnfleisch, aber auch zur Heilung von Fäulnis, Fisteln, Blutungen etc. sowie zwei kosmetische Anweisungen für weiße(re) Zähne. Für diesen Zusammenhang genügt aber eine formalere Aufzählung der benötigten Zutaten. Als ›Rezept‹ gilt hier jede klar unterscheidbare Einheit, die eine in sich geschlossene und - so insinuiert der Text zumindest - aus sich heraus ohne weitere Zutaten wirksame Therapie gegen eines der genannten Leiden verspricht. Obwohl Mehrfachnennungen 95 bereits ausgeklammert bleiben, ergibt sich so die für zehn Druckseiten beachtliche Zahl von 58 Rezepten: 1. Ammoniacum, Eßig, gestoßen Bilsensamen 2. Wolffmilchkrautsafft, Meel 3. SparglenWurtzel 4. zerstoßene Coralle 5. Wurtzel von Scheelkraut 6. Schelwurtz-Safft 7. Gummi, Armoniak, Operment, Rhebarbar, Weineßig 8. Canarien-Zucker, Honig, frisches Brunnenwaßer 9. Wegrich-Wasser 10. Mastigöl, Wein 11. Burzelwasser 12. Fünffingerkrautwaßer, Rosenhonig, Maulbeersafft oder unzeitiger Baumnusssafft 13. Mausöhrleinkraut, herber Wein 14. Stabwurz gesotten man nicht unbedingt herstellen müsste, und etwa die Furcht und den Hunger mitgezählt. Die 89. Frage des zweiten Hunderts blieb, weil sie alleinsteht, ungezählt - dabei wären Liebestränke und die Frage, wie und ob der Geilheit ein Gebiss angelegt werden könne, vielleicht durchaus medizinisch zu sehen. Als grober Überblick der thematischen Dichte mag die Auskunft ›72‹ genügen. 94 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 456-466; im Folgenden werden hier Zutaten in der Schreibweise der Quelle zitiert, aber nur herausgehobene wörtliche Zitate genauer angeben. 95 So helfen Schöllkraut, Fünffingerkraut und Kamille gegen Zahnschmerzen u n d Zahnfleischschmerzen, das Fünffingerkraut zusätzlich gegen Mundgeruch. 15. Tormentilwurzel, Rosenhonig 16. Rautenwaßer 17. Gerstenbrühlein 18. Wolgemut 19. Indianisch Beinwelle oder Nicotiana Safft, Rosenhonig, Granatensafft 20. Schlehenbeer 21. Rinden von Wurzeln in saurem Wein gesotten, Alaun, Honig 22. Lavendelwaßer, Wein, gedörte Rosen 23. Mastix 24. Stabwurz, Honig 25. Wegrichsafft aus den Blättern geprest 26. Wasser / darinn Hirschzungen gesotten wurden 27. Ölmagen, Sauerampfer, Seeblumen 28. Dotter von einem Ey 29. Theriak 30. Teschelkraut <?page no="132"?> M ICHA EL B A UMANN 132 31. Erdbeerkraut, Erdbeerwurtzel, Wein 32. Hirschhornpulver, Osterlucey-Pulver 33. Osterlucey-Wasser 34. Gebranter Alaun, Myrrhe, Honig 35. Praeonien-Wurtzel 36. Rinde von Roggenbrot, frisches Brunnenwasser 37. Gerstenmeel, Salz, Honig 38. Finffingerkraut 39. Fenchelsamen 40. Römischer Kümmel, Salz, ungestampfte Kirschen 41. Wacholderbeer, Kümmich, rother Wein, (Rosen-)Essig 42. Chamillen, Dillenkraut, Wasser 43. Scheelkrautwurzel, Essig 44. Rosmarin-Holz 45. Chamillensafft 46. Ysop, Alaun 47. Gesottenes Eichenlaub, Alaun 48. Pfirsichblätter, Odermennigblätter, Dillblätter 49. Kampferöl 50. Natterwurz, Bertram, gebrannter Alaun, Honig 51. Pfeffer 52. Pfeffer, Rosinen 53. Bibergeil, Spicanardi-Öl, Saffran, Wolle 54. Attichwurtzel 55. Lam- oder Schafwollen / die nie gewaschen worden, Weinrautenöl 56. Schelffen von frischen Pomerantzen 57. Latwerge: R. Castor, Mayrrh. Piper nigr. L. asa foetid. ana H. Storac, calamit. Aristol. Rot. ZinZib [? ]. Sem. Jusquiami, Opii. ana H. Mellis despum.[? ] Q.s. Misce, fiat Elect. 96 58. das Körnlein / welches im Kott des Wolffs gefunden werde 97 Auch hier muss angemerkt werden, dass es sich nicht nur um eine reine Kompilation handelt, sondern Zeiller durchaus kommentiert und wertet. So erscheint ihm zum selben Zweck die zerstoßene Koralle zuverlässiger als das Schöllkraut zu sein: Stoße die Corallen zu pulver / und lege dasselbe in die schadhafte Zän / so dir wehe thun / so fallen sie aus. Oder leg nur die Wurtzel von Scheelkraut darauff. Welches dann zu probiren stehet. 98 Es ist also keineswegs so, dass der Autorität von Rezepten blind vertraut wird, auch dann nicht, wenn die Autorität der Quelle selbst ungetadelt bleibt: Es hat ein vornehmer Mann / vor etlichen Jahren / geschriben / wann man Sparglen Wurtzel / oder radicem Asparagi, auff die Zän lege / so fallen Sie ohne Schmertzen aus: Welches man aber / in der Prob / nicht also befunden hat. Müsten nur in Franckreich dieselben stärcker / als im Teutschland / seyn. 99 Selbst vermindert wirksame oder vermutlich unwirksame Rezepturen müssen also, der enzyklopädischen Vollständigkeit halber, mit angegeben werde. Auch das hier als Nummer 57 in Gänze aufgeführte Rezept einer Latwerge, also einer breiigen Rezeptur, wird nicht nur explizit als Verordnung eines Medicus - und somit genau nicht zur Selbstmedikation, wie ja dem Leser eigentlich versprochen - bezeichnet, 100 sondern ist durch die Abfassung in formelhaftem Latein einem medizinischen Laien 96 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 465. 97 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 465. 98 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 458. 99 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 458. 100 Vgl. M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 465. <?page no="133"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 133 (selbst wenn er das Lateinische beherrscht) ohnehin nicht verständlich. Wiederum zeigt sich, dass der Blick auf die Nutzanwendung allein dem Text nicht gerecht wird - und wiederum ist Zeiller eben keineswegs nur Sammler, sondern deutlich gestaltender und überformender Autor eines kommerziellen Unterhaltungstextes: Die Reihung nützlicher Rezepturen bekommt mit dem Rat des Medicus, überdies in Latein, einen Höhepunkt, der dem Leser zwar als Rezept kaum nützen kann, der allerdings die Gelehrsamkeit des Autors und die hohe Bedeutung der Thematik Zähne an sich rhetorisch noch einmal unterstreicht. Der erheiternde Ausblick einer konversationsanregenden Gelegenheitslektüre bietet sich dann im letzten Rezept, das der Autor selbst schon mit Unterhaltungscharakter kennzeichnet: Wenn einer sich in den Besitz der Körnchen aus dem Wolfskot gebracht hat und die Zähn damit schmiere / so werdens ihme nimmermehr wehe thun. Ob es nun zur Vexation / oder ernstlich gemeint / last man dahin gestelt seyn. 101 Der Abgleich mit der Ulmer Apothekertax zeigt, dass sich nahezu alle Bestandteile der angegeben Rezepturen in den Ulmer Apotheken hätten käuflich erwerben lassen; in den allermeisten Fällen auch schon in der gewählten Zubereitungsweise, so findet sich der Portulak (Burzel) mehrfach in der Tax, aber auch, so wie für die Anwendung gegen Zahnfäule (Rezept 11) gewünscht, als Portulakwasser, 102 ebenso der Wegerich getrocknet, zerstoßen, als Blatt und als Wurzel und eben auch als Wegrichwasser, 103 Schafwolle als explizit ungewaschene, also fette Schafwollen 104 etc. Sicherlich gab es für zahlreiche Zutaten auch Möglichkeiten, diese außerhalb der städtischen Apotheken zu beziehen oder selbst zu sammeln und zuzubereiten. Nur wenige Zutaten sind nicht in der Tax zu finden; im Einzelnen sind dies neben Grundzutaten wie Wasser, Wein und Essig: Spargelwurzel, wobei die Spargelsamen in der Tax erwähnt sind, 105 Gerstenbrühlein - wohl als eine Art Grütze zu verstehen und durchaus kein der Medizin unbekanntes Hausmittel, so findet sich die Zutat ausführlich bei Tabernaemontanus besprochen 106 -, Rinden von Wurzeln in saurem Wein gesotten. Da hier völlig unklar bleibt, woher Zeiller dieses Rezept hat, lässt sich nicht auflösen, ob diese Zutat im Original näher spezifiziert ist oder ob Zeiller vielleicht implizit von essbarem Wurzelgemüse ausgeht. Ferner gehören zu den nicht in der Apotheke vorrätigen Stoffen Dotter von einem Ei, Rinde von Roggenbrot, 101 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 465f. Die Anwendung von Kot als Heilmittel ist nicht nur in der Dreckapotheke im engeren Sinne verbreitet, auch die Ulmer Tax kennt Albi Graeci, weisser Hundskoth als Zutat; Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 36. 102 Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 75. 103 Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 74. 104 Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 37. 105 Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 19. 106 Vgl. J AKOB T HEODOR T ABERNAEMONTANUS , Neu vollkommen Kräuterbuch […], Das Erste Theil […], Basel 1633, S. 635. <?page no="134"?> M ICHA EL B A UMANN 134 Gerstenmehl, ungestampfte Kirschen, Rosmarin-Holz - wiewohl die Tax natürlich zahlreiche Hölzer als Zutaten listet 107 - sowie Wolfskot. Im Großen und Ganzen besteht in der Erreichbarkeit der Zutaten also kein Problem. Viele Rezepte bestehen nur aus einer Zutat. Bei anzumischenden Rezepturen sind drei Typen zu unterscheiden: Es gibt Rezepte die überhaupt kein Mischungsverhältnis angegeben (wann man das Mastigöl mit Wein vermischet / und den Mund damit schwencket), 108 solche mit der Angabe sehr einfacher bzw. (wieviel Essig? ) vager Mischungsverhältnisse (man solle Gummi Armoniak / Operment / und Rhebarbar / jedes gleich vil / zu einem reinen Pulver stoßen / mit starckem Weineßig ein Teiglein daraus machen) 109 und solche mit komplexen Mischungsverhältnissen (vgl. die Latwerge, Nummer 57), die sich der üblichen Kürzel und Maßeinheiten bedienen, wie sie auch die Ulmer Tax in Sectio XXX. De Ponderibus Medicinalibus. Vom Apotecker Gewicht / wie es von den Medicis verschrieben wird 110 auflistet und vorschreibt. Mit sehr vorsichtiger und notwendigerweise nicht repräsentativer Schätzung lassen sich die Varianten im Schnitt aller medizinischen Beiträge in ein prozentuales Verhältnis von etwa 60 - 20 - 20 setzen. Eine Thematik, die dem heutigen Leser wie prädestiniert für Hausmittelchen und Selbstmedikation erscheint, greift die 54. Frage des dritten Bandes auf: Woher komt der Catharr / Schnuder / oder Schnuppen / und was pflegt man in solchem vorzunehmen. 111 Allerdings handelt es sich gerade hier um eine der kürzesten Antworten überhaupt mit nur fünf Druckseiten. Neben allgemeinen medizinischen Ratschlägen - viel Schlaf, kräftiges Reiben gegen kalte Füße, Verzicht auf allzu üppiges Mittagessen - finden sich auch hier dicht gedrängt 23 Rezepturen: 112 1. Rosen [in die Nase gesteckt; gemeint sind wohl die Blätter] 2. Eichenlaub, Burtzelblätter 3. Veiel-Zucker 4. Süßholtz-Zucker 5. Majoran-Waßer 6. Fenchel-Waßer 7. Aquapendentis pilulae Aloëticae […] oder andere Haubt-Pilulen, Agtstein 8. Edle Steyrische Rauchkertzen / Waldrauch 9. [Rauchkerze] Aloës opt., mastic Charyophyll 10. [Rauchkerze] Olib, Sandaracc, Succin. albiss. odoris. Laud. f. Trochisci 107 Vgl. Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 29f. (Sectio VII. De Lignis. Von den Höltzern). 108 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 459. 109 M. Z EILLER , Das Vierte Hundert Fragen (Anm. 11), S. 458. 110 Vgl. Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 98. 111 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 248-252. 112 Eine vergleichbare kompilatorische Verdichtung von vier bis sechs Rezepturen pro Druckseite ist - wie bereits bei den Zähnen gesehen werden konnte - bei praktisch allen Fragen des medizinischen Bereichs zu finden. <?page no="135"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 135 11. [Rauchkerze] Benzoni, Lign. Aloës, Laudan, Storac. Calam. 12. [Rauchkerze] Rosen, Dragog. Maryoph. Musc. cum mucil, M f. Trochisci vel Candelae. 13. [Rauchkerze] Schwartzwurz, Meisterwurz, Haselwurz, Tormentilwurz, Bibernelwurz, Angelicawurz, Rothe Myrrhen, schwarze Myrrhen, Weyrauch, Agtstein. Päonienkörner, Spaich, Naterschlauch, Wilden Hanff, Wilden Saffran, gelben Agtstein, weiße Corallen, Wax, Hannff, Gold, Silber, Seidenfäden 14. Confect. Dianthos oder Rosmarinzeltlein 15. Des. Elixiri Proprietat. Paracelsi 16. Crem. Tartari 17. Confect. Pineocatae cum Cort. Citri 18. Semin. Coriandripraepar. 19. Anisi Foeniculi 20. Nucis Mosch., confect. Diagalangae 21. Gummi Armoniak, gepulverten Bertram, Himmelschwertelwurtz-Safft 22. Meisterwurz / die dürr ist [zum Räuchern] 23. Gersten-Stroh, Haber-Stroh, Pappelnkraut, Baumwollen Auch hier sind nahezu alle Zutaten in der Apothekertax aufgeführt; Ausnahmen bilden Spaich (für mich nicht klärbar; evtl. Ähren von lat. spica? ), Gold, Silber, Seidenfäden. 113 Auffällig ist, dass alle diese Zutaten in der extrem komplexen Rezeptur 13 zu finden sind. Es scheint doch plausibel, diese Rezeptur nicht als Anleitung zur Selbstmedikation zu deuten, sondern der kompilatorischen Fülle zuzuschreiben. Allerdings sind die Rezepte 11 und 12, vielleicht ist auch 13 noch mitgemeint, ausdrücklich mit dem Zusatz Für Fürstliche Kinder 114 versehen - komplexere und teurere Zutaten müssen also für Zeiller noch keineswegs zwingend den Rückgriff auf die Anfertigung durch den Fachmann bedeuten. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber außerdem der Befund, dass der Text, der mit den Aquapendentis pilulae Aloëticae, aber auch den Rezepturen 15-20 durchaus komplexere Composita ohne detaillierte Rezeptur aufführt, wie sie der Apotheker fertig angemischt verkauft, vor den letzten drei Rezepten eine Abgrenzung vollzieht: Daneben / und zuvorderst aber / wann der Fluß gar starck / und Gefahr vorhanden / soll man die Medicos, wann man die haben kann / zu Rath ziehen. Folgende seyn Haus-Mittel. 115 Ebenfalls nicht aufgeführt sind Rosmarinzeltlein, wobei sich zahlreiche vergleichbare Zubereitungen mit anderen Gewürzen finden, 116 sowie Gersten- und Haberstroh. Auch hier werden zahlreiche Rezepte aufgeführt, die zur Selbstmedikation möglich gewesen wären, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf Mittel, die man wohl ohne immensen Aufwand nur in 113 Zumindest nicht als Faden; sehr wohl aber die zur Seidengewinnung nötigen Serici crudi, Seydenwurmhäuslin; Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 38. 114 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 250. 115 M. Z EILLER , Das Dritte Hundert Fragen (Anm. 10), S. 252. 116 Vgl. Der H. Reichs-Statt Ulm Ernewerter TAX (Anm. 92), S. 64f. (Brustzeltlin). <?page no="136"?> M ICHA EL B A UMANN 136 der Apotheke (allerdings dank Zeiller ohne vorherige Zuziehung und eines verschreibenden Arztes, auch wenn er dazu ja dringend rät) bekommen hätte. Stellen also die Rezepturen der viermal ›Hundert Fragen‹ nur eine verstümmelte, zusammenhanglos aneinandergereihte Version dessen dar, was ein kundiger zeitgenössischer Arzt und/ oder Apotheker ohnehin empfohlen hätte? Es ist zumindest auffällig, dass ein erheblicher Teil (etwa 90 Prozent) der Rezepturen in der Herstellung nicht sehr aufwendig ist; auf- und einkochen bzw. verrühren ist auch ohne die Ausstattung einer Apotheke zu leisten. Eine Mehrheit der Rezepte sind Simplicia oder doch sehr, sehr einfach herstellbare Composita, deren Zutat(en) sich meist keineswegs nur in der Apotheke finden ließen, sondern bei Materialisten, auf dem Markt oder in freier Natur. (Ein zumindest interessantes Kuriosum stellt die Tatsache dar, dass ausgerechnet der hochkomplexe, aus bis zu 60 Zutaten zusammengestellte und nicht selten in einer öffentlich gezeigten Zurschaustellung des Könnens der Apotheker hergestellte Theriak 117 völlig unkommentiert unter den zahlreichen Simplicia gegen Zahnleiden geführt wird; preislich wie in der Herstellung wäre diese Rezeptur unmöglich zur Selbstmedikation geeignet gewesen.) Somit lösen die einzelnen Fragen durchaus ein, was Zeiller ankündigt: Selbstmedikation ist anhand des dargebotenen Wissens auch ohne Ärzte möglich, der Rückgriff auf Apotheken nützlich, aber nicht zwingend. Dass Zeillers Rezepte von seinen Lesern als konkrete medizinische Handlungsanweisungen wahrgenommen und umgesetzt wurden, ist zumindest plausibel. Auf der Ebene der Rezepte bietet ein Abgleich mit der Ulmer Apothekertax aber definitiv keine Basis für eine klare Trennung nach Zutaten und Herstellungsverfahren in eine fach- und eine volksmedizinische Richtung. Das theoretische Wissen wird allenfalls in Ansätzen vermittelt. Auf der Seite des praktischen Anwendungswissens bleiben die meisten Rezepte zwar unter der Komplexität, die ein Apotheker fachhandwerklich zu bieten hatte, dennoch war man hier als Leser von Zeillers Schriften medizinisch innerhalb des allgemeinen Wissensstandes der Zeit. Da man weder Doctores noch Apotecken hat lässt sich also durchaus auch so lesen, dass man nicht statt der fachwissenschaftlichen Expertise sich mit minderen Mitteln und Wirkstoffen begnügen müsse, sondern selbst anhand des dargebotenen Wissens so tätig werden könne, wie Ärzte und Apotheker es ebenso tun würden. 4. Fazit Die historische Quellenlage lässt hier in vielen Fragen nur das Formulieren von Plausibilitäten zu. Wer Zeillers Texte las, wie und zu welchem Zweck das geschah, ob nun Unterhaltung, Belehrung, Selbstmedikation oder eine Mischung aus all dem im 117 Vgl. überblicksweise G IUSEPPE O LMI : The prince of all drugs: Theriac, in: A TTILIO Z ANCA (Hg.), Pharmacy through the ages. Ancient drugs, Parma 1990, S. 105-122. <?page no="137"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 137 Fokus des Interesses stand, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Dass Zeillers Gesamtwerk eine weite Verbreitung im schwäbischen Raum fanden, wird schon durch die Druckorte belegt; die Bayerische Staatsbibliothek listet 274 Titel von Martin Zeiller auf, immerhin 217 davon sind in Ulm (v. a. bei Georg Wildeysen und bei Balthasar Kühnen) verlegt worden. 118 Ohne die Verbreitungswege frühneuzeitlicher Literatur zu unterschätzen, kann damit doch auf eine regionale Verankerung eines erheblichen Teils seiner Leserschaft geschlossen werden. Dafür spräche nicht zuletzt, dass Zeiller 1653 ein Werk herausgab, das schwerpunktmäßig diese Leserschaft ansprach: Das ›Chronicon Parvum Sueviae‹. 119 Eine stichprobenartige Recherche im weiteren geographischen Umkreis ergab, dass diverse Werke Zeillers sich nebst Ulm in den Stadtarchiven und/ oder -bibliotheken von Biberach, Dillingen an der Donau, Göppingen, Heidenheim an der Brenz, Heilbronn, Immenstadt, Isny, Kaufbeuren, Kempten, Kirchheim unter Teck, Konstanz, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Rottenburg am Neckar, Schwäbisch Gmünd, Stuttgart, Tübingen und Weingarten erhalten haben. Die Relevanz von Zeillers ›Hundert Fragen‹ und ähnlicher Schriften dafür, welche gesundheitlichen Fragen das schwäbische Bürgertum der Frühen Neuzeit beschäftigten und in welcher Form diese thematische Auseinandersetzung im Bürgertum geschah, ist so sehr plausibel zu machen. Ein genauerer Einblick in Sozial- und Regionalstruktur von Zeillers Leserschaft wäre wünschenswert, ist aber angesichts der Quellen- und Forschungslage nicht zu leisten. Literaturwissenschaftlich gesprochen kann als Intention des Textes durchaus textimmanent ein Fokus des Belehrens herausgearbeitet werden. Das ist insofern schon bemerkenswert, als dass die rein fachwissenschaftliche Entwicklung hier bereits andere Wege einschlägt - die Fixierung des Mittelalters auf die Personalautorität Galens, Hippokrates’, Avicennas und anderer wird durch die Sachautorität der Neuzeit abgelöst. 120 Das spiegelt sich auch bei Zeiller, wenn Rezepte Proben unterworfen werden, Reiseerlebnisse und Hörensagen gleichberechtigt mit medizinischen Autoritäten genannt und den Exempeln Anekdoten beigefügt werden - und vor allem, wenn dieser Paradigmenwechsel nicht für einen und von einem kleinen 118 Der Rest verteilt sich annähernd gleichmäßig auf Frankfurt am Main, Straßburg, Antwerpen und Nürnberg; viele davon wiederum sind Neuauflagen von bereits in Ulm verlegten Werken, nahezu alle davon sind topographische und reiseliterarische Werke. 119 M ARTIN Z EILLER , Chronicon Parvum Sueviae, Oder kleines Schwäbisches Zeitbuch: darin[n]en die vornehmsten und bekantisten Geschichten, und Sachen, so sich, nach Ankunfft der Schwaben, in das heutige Schwabenland, in demselben, biß auff das jetzund angehende 1653. Jahr, begeben haben, Ulm 1653. 120 Vgl. ausführlich A XEL W. B AUER , Die Medizin im Renaissance-Humanismus auf dem Weg von der mittelalterlichen Personalautorität zur neuzeitlichen Sachautorität am Beispiel von Botanik, Anatomie und Chirurgie, in: D OMINIK G ROSS / M ONIKA R EININGER (Hg.), Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. FS für Gundolf Keil, Würzburg 2003, S. 11-26. <?page no="138"?> M ICHA EL B A UMANN 138 Expertenkreis vorgenommen, sondern das gleichberechtigte Nebeneinander divergierender Sichtweisen einem breiten Publikum dargeboten wird. Dennoch bleibt Zeillers religiöser und letztlich außer- und überwissenschaftlicher Ansatz, der die Frage der Gesundheit final in Gottes Hand legt, schon hinter dem (freilich auch in der medizinischen Fachwelt noch keineswegs allgemein verbreiteten) zunehmend säkularen Wissen seiner Zeit zurück - bereits 1531 formuliert Paracelsus den Primat direkt aus der (selbstverständlich auch für Paracelsus weiterhin göttlich erschaffenen, notabene) Natur herstammender Wirksamkeit der Materie: So sol doch die arznei nit im glauben sten sonder in den augen. nichts stet im glauben als der seelen krankheit und selikeit. Alle arznei des leibs stet sichtbar on allen glauben. 121 Aspekte der Unterhaltung und der Nützlichkeit (in diesem Fall also der Selbstmedikation) haben textimmanent ihre Eigenberechtigung, dienen aber in der Buntschriftstellerei auch zum Transport der Belehrung, des tieferen Sinns. In der externen Motivation - also außerhalb des streng textanalytischen Bereichs - der Werke, die ökonomisch erfolgreich sein mussten und sollten, ist es zumindest plausibel, dass beide Zwecke auch erreicht wurden. Ein Blick auf die Struktur der nicht-medizinischen Fragen kann diese Annahme zumindest stärken: Wie seyn die Testamenten / oder letzten Willens Geschäffte / aufzurichten / und zu ordnen? 122 ist eine Frage, deren Nutzanwendung sich sofort erschließt; Ob Königlich- und Fürstliche Personen sonderbare Erinnerungs-Zeichen ihres zukünfftigen Todtes / haben sollen? 123 muss hingegen von eher anekdotischem, Konversations- und Denkanregung bietendem Interesse gewesen sein. Man darf also davon ausgehen, dass die Rezepte der viermal ›Hundert Fragen‹ konkretes medizinisches Handeln ihrer Leser wurden. Der literaturwissenschaftlich implizite Leser 124 Zeillers war aber auch Adressat einer Weltwissenskompilation ›ad maiorem dei gloriam‹, in der die Gesundheit als pars pro toto ihren Platz einnahm - ob und in welchem Ausmaß der konkrete, historische Leser diese Ebene des Textes ebenfalls wahrnahm und vielleicht im Diskurs fortsetzte, bleibt aber unklar. Peer Frieß zeichnet in diesem Band exemplarisch für den Memminger Gesundheitsmarkt der Frühen Neuzeit das Bild einer Gesellschaft, die an einem vielfältigen und konkurrierenden Angebot aus Sorge um die 121 P ARACELSUS , Sämtliche Werke. Abt. 1: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. IX, hg. v. K ARL S UDHOFF , Berlin 1928, S. 44. 122 M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8), S. 93. 123 M. Z EILLER , Ein Hundert Fragen (Anm. 8), S. 139. 124 Nach der Konzeption Wolfgang Isers; vgl. v. a. W OLFGANG I SER , Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972 - eine Konzeption, die nicht zuletzt wegen ihrer potentiellen A-Historizität kritisiert wird; vgl. u. a. M ARCUS W ILLAND , Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest. Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode, in: A NDREA A LBRECHT u. a. (Hg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin 2015, S. 237-270, hier v. a. 238-242. <?page no="139"?> S ELB S TM EDIKATI ON MIT DEN R EZE P TEN D ES M A R TIN Z EILL ER 139 Gesundheit interessiert war, mit Akteuren, die sich als Kunden frei und selbstbewusst in diesem Angebot bewegten. Es ist zwar - analog zu den Klagen heutiger Mediziner, deren Kunden von Fachwissen weitgehend unbeeinflusst, aber selbstbewusst bereits eigene Diagnosen dank ›Dr. Google‹ in die Anamnese einbringen - durchaus vorstellbar, dass der schwäbische Bürger, seinen Zeiller unter dem Arm, die Apotheke betrat oder den Arzt aufsuchte und eher als fachliche Hilfe nur die Bestätigung seines dadurch erworbenen Wissens verlangte. Der über solche Szenarien hinausweisende Kern vermittelte sich einer frühneuzeitlichen Gesellschaft im schwäbischen Raum auch und wohl nicht unwesentlich durch Schriften des Ulmer freien Autors Zeiller: Gerade im Informationsflut-Konglomerat von Wissen, Unterhaltung und Anwendung ist »die Anerkennung eines prinzipiell offenen, als Herausforderung verstandenen Wissenshorizontes […] die Anerkennung des Zweifels als erfahrungsadäquater Welthaltung.« 125 Im buntschreiberischen ›Curiösen‹, den Werwölfen aus fernen Ländern und Rezepten aller Arten, liegt als Gegenbewegung zur Enzyklopädie als eindeutiger Wissenserfassung einer wissenschaftlichen Elite eben auch die Relativierung des Wissens. Die ›Hundert Fragen‹ spiegeln hier die Vielfalt des medizinischen Angebots, vom studierten Arzt über den Apotheker als Fachhandwerker auch komplexer Rezepturen zum weiten Feld der Selbstmedikation und dem Rückgriff auf Mittel und Wissen von weiteren Akteuren des Gesundheitsmarktes wie Materialisten und ›weisen Frauen‹. Die Buntschriftstellerei zeigt hier aber auch ein diskursives Feld auf, das sonst nicht oder kaum in schriftlichen Quellen erfassbar wird: Das bürgerliche Interesse an medizinischen Fragen im Spannungsfeld verschiedener Autoritäten, die Sorge um die Gesundheit jedes Einzelnen als Akteur im medizinischen Feld. 125 W. K ÜHLMANN , Polyhistorie (Anm. 18), S. 38. <?page no="141"?> 141 P EER F RIESS Der Memminger Gesundheitsmarkt in der Frühen Neuzeit Das 16. Jahrhundert gilt als Epoche des Aufbruchs in der Medizin. Andreas Vesalius begründete die moderne Anatomie. Michael Servetus entdeckte den Kleinen Blutkreislauf und Girolamo Fracastoro entwickelte die Kontagienlehre, die Krankheiten auf ansteckende Keime zurückführte. Leonhard Fuchs gilt mit seinen Kräuterbüchern als Vater der modernen Botanik und Pharmakologie, Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, als Begründer der chemischen Medizin. Sie alle wandten sich von der scholastischen Methode des Mittelalters ab, die primär die alten Autoritäten berücksichtigte, also Hippokrates, Galen oder Avicenna. Mediziner der Frühen Neuzeit stellten eigene Beobachtungen an, führten Experimente durch und betrieben selbst anatomische Studien. Es dauerte allerdings sehr lange, bis das durch naturwissenschaftliches Forschen erworbene neue medizinische Wissen tatsächlich zum Allgemeingut wurde und das Leben der Menschen nachhaltig veränderte. 1 Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein blieben mittelalterliche Vorstellungen über die Ursachen von Krankheiten und die Wirksamkeit von besonderen Heilmitteln sowie tradierten Behandlungsmethoden lebendig. 2 Demgegenüber erfolgte die mit dem Begriff der Medikalisierung beschriebene Professionalisierung, Spezialisierung, Institutionalisierung und obrigkeitliche Reglementierung des Gesundheitswesens sehr viel zügiger. 3 Insbesondere die Reichsstädte erwiesen sich auf diesem 1 B ERND R OECK , Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, 2. Aufl. München 2018, S. 824-834; S TEPHANIE A RMER , Wissen auf dem Seziertisch. Das anatomische Zeitalter, in: A LEXANDER S CHUBERT (Hg.), Medicus. Die Macht des Wissens, Ausstellungskatalog, Speyer 2019, S. 198-205, hier 204f. Einen knappen Überblick bietet M ICHAEL S TOLBERG , Medizin und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2008), S. 85-95. Ein umfassenderes und differenzierteres Bild ärztlichen Handelns in der Renaissance zeichnet D ERS ., Gelehrte Medizin und ärztlicher Alltag in der Renaissance, Berlin 2020. 2 W OLFGANG U. E CKART , Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, 8. Aufl. Berlin 2017, S. 117. Ein Beispiel unter vielen ist die auf der antiken Humoralpathologie basierende Praxis des Aderlassens; vgl. R OBERT J ÜTTE , Norm und Praxis in der ›Medikalen Kultur‹ des Mittelalters und der Frühen Neuzeit am Beispiel des Aderlasses, in: G ERHARD J ARITZ (Hg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Wien 1997, S. 95-106. 3 R OBERT J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2013, S. 19; Zur Begrifflichkeit vgl. U TE F REVERT , Akademische Medizin und soziale Unterschichten im <?page no="142"?> P EER F RI ES S 142 Feld als Vorreiter und Impulsgeber, deren Beispiel Territorialfürsten meist mit einigen Jahrzehnten Verspätung nachfolgten. 4 Die Ausbildung der obrigkeitlichen Strukturen in den Reichsstädten der Frühen Neuzeit ist insbesondere für die Bereiche Sozialfürsorge, Kirchenzucht sowie Handel und Handwerk relativ gut erforscht. 5 Was das konkret für den medizinischen 19. Jahrhundert. Professionsinteressen - Zivilisationsmission - Sozialpolitik, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 4 (1985), S. 41-59, hier 42; F RANCISCA L OETZ , »Medikalisierung« in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, 1750-1850: Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, in: W OLFGANG U WE E CKART / R OBERT J ÜTTE (Hg.), Das europäische Gesundheitssystem. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive, Stuttgart 1994, S. 123-161; W OLFGANG U WE E CKART / R OBERT J ÜTTE , Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 312-318. Angesichts des Fortwirkens vorrationaler Methoden wird auch dafür plädiert, für den Beginn der Frühen Neuzeit von einer Proto-Medikalisierung zu sprechen; vgl. H ARRY K ÜHNEL , Der Arzt und seine soziale Stellung in der frühen Neuzeit, in: H EINZ D OPSCH , Paracelsus und Salzburg, Salzburg 1994, S. 33-43, hier 34. 4 So wurde in der 1562 veröffentlichten Landgesäz- und Pollicey Ordnung des benachbarten Fürststifts Kempten der medizinische Bereich überhaupt nicht erwähnt. Und selbst in der 1641 publizierten Neufassung gab es nur einen Abschnitt Von sterbenden läufen; vgl. P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Bearb.), Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern Abt. II/ 4, München 1979, Nr. 110, S. 400 und Nr. 135, S. 436. In den Landesordnungen des Herzogtums Bayern finden sich im 16. Jahrhundert nur kleine Partikularregelungen, z. B. zu Apotheken; vgl. M ONIKA R UTH F RANZ , Die Landesordnung von 1516/ 20. Landesherrliche Gesetzgebung im Herzogtum Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, München 2003, S. 160. Eine differenziertere Medizinalpolicey setzte in Bayern offenbar erst im 17. Jahrhundert ein; vgl. A LEXANDER VON H OFFMEISTER , Das Medizinalwesen im Kurfürstentum Bayern, München 1975. Zur Vorreiterrolle der Städte siehe S IBYLLA F LÜGGE , »Reformation oder erneuerte Ordnung die Gesundheit betreffend« - Die Bedeutung des Policeyrechts für die Entwicklung des Medizinalwesens zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: B ETTINA W AHRIG / W ERNER S OHN (Hg.), Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750-1850, Wiesbaden 2003, S. 17-37. Einen allgemeinen Einstieg in das Thema bietet A NDREA I SELI , Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 50-55. Wichtige Impulse für die Diskussion des Medikalisierungs-Konzepts in Deutschland setzte nach wie vor die Arbeit von F RANZISCA L OETZ , Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750.1850, Stuttgart 1993, S. 43-56. 5 Nach wie vor grundlegend O TTO B RUNNER , Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 50 (1963), S. 329-360, hier 344-350; vgl. auch H EINZ S CHILLING , Die Stadt in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 24), Oldenburg 1993, S. 78-80. Als süddeutsche Fallstudien seien genannt: U RS H AFNER , Republik im Konflikt. Schwäbische Reichsstädte und bürgerliche Politik in der frühen Neuzeit (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 8), Tübingen, 2001, insb. S. 187-199; S TEPHANIE A RMER , Friedens- <?page no="143"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 143 Bereich bedeutete, welche Möglichkeiten es für die Bürger einer Reichsstadt gab, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, wurde bislang allerdings weniger beachtet. Von einzelnen Arbeiten abgesehen, widmete sich die medizinhistorische Forschung überwiegend enger begrenzten Teilaspekten der reichsstädtischen Geschichte. Neben der Betrachtung einzelner Berufsfelder, wie etwa der Ärzte, Apotheker, Bader oder Hebammen, sowie der Erforschung der Geschichte bestimmter Institutionen, wie z. B. den Spitälern, Leprosorien oder Krankenhäusern, wurde das Gesundheitswesen als Ganzes meist nur am Rande berücksichtigt. Lokalhistorische Arbeiten gehen oft nicht über eine Chronologie der Gründung einschlägiger Institutionen und die Erläuterung der Aufgabenfelder der offiziellen Heilberufe anhand der einschlägigen städtischen Ordnungen hinaus. Dabei wird die Entwicklung in der Regel aus obrigkeitlicher Perspektive betrachtet. 6 Das Zusammenwirken aller Akteure und Institutionen über den gesamten Zeitraum der Frühen Neuzeit hinweg wird dagegen nur selten in den Blick genommen. Dies soll im Folgenden in Form einer ersten Skizze am Beispiel der Reichsstadt Memmingen geschehen. Es geht dabei darum nachzuvollziehen, wie die verschiedenen Akteure, die sich in dem überschaubaren Kosmos einer kleinen Stadt mit dem Gesundbleiben und dem Gesundwerden beschäftigten, interagierten, kurz - wie das medizinische System in Memmingen funktionierte. Theoretische Grundlage der folgenden Skizze sind die Überlegungen Robert Jüttes, der ausgehend vom typischen Konsultationsverhalten in dieser Epoche die Vorstellung entwickelt hat, dass es sich angesichts der Fülle unterschiedlicher Anbieter auf dem Feld des Gesundheitswesens um ein System handelte, in dem die Patienten selbst bestimmten, wen sie wann konsultierten, und in dem die Anbieter demzufolge um die Nachfrager konkurrierten. 7 Diese Idee, das frühneuzeitliche Gesundheitswesen - in dem Fall einer wahrung, Krisenmanagement und Konfessionalisierung. Religion und Politik im Spannungsfeld von Rat, Geistlichen und Gemeinde in der Reichsstadt Ulm 1552-1629 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 35), Ulm 2015, insb. S. 273-316. 6 B ERND K IRCHGÄSSNER / J ÜRGEN S YDOW (Hg.), Stadt und Gesundheitspflege (Stadt in der Geschichte 9), Sigmaringen 1982. Instruktive Ausnahmen sind die Arbeiten von A NNE - MARIE K INZELBACH , Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500-1700 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 8), Stuttgart 1995; und R OBERT J ÜTTE , Die medizinische Versorgung einer Stadtbevölkerung im 16. und 17. Jahrhundert am Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Medizinhistorisches Journal 22 (1987), S. 173-184, in denen ein integrativer Ansatz verfolgt wird. 7 R. J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit (Anm. 3), S. 123-127; D ERS ., Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München-Zürich 1991, S. 17-32. Ähnlich auch K AY P ETER J ANKRIFT , Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 72-76, hier 72, der für das spätmittelalterliche München von einem »Konkurrenzkampf auf dem ›medizinischen Markt‹« spricht. <?page no="144"?> P EER F RI ES S 144 Reichsstadt - als einen Gesundheitsmarkt zu verstehen, erlaubt es, neben den akademisch gebildeten Ärzten, den medizinischen Handwerkern und der bunten Vielzahl nichtapprobierter Heiler auch die mit Kräutern, Hölzern oder Mineralien Handel treibenden Krämer sowie die städtische Obrigkeit als einen das Marktgeschehen regulierenden Akteur mit in die Betrachtung aufzunehmen und so ein umfassenderes Bild zu zeichnen. Darüber hinaus kann das Einzugsgebiet dieses Marktes ermittelt und damit die regionale Wirksamkeit einer Reichsstadt auf dem Feld der Medizin untersucht werden. 8 Dazu soll zunächst eine Bestandsaufnahme des Neben- und Miteinanders aller Anbieter medizinischer Produkte und Dienstleistungen erfolgen, die während der Frühen Neuzeit in der Reichsstadt Memmingen aktiv waren (1). Daran anschließend werden die Konfliktlinien nachgezeichnet, die Hinweise auf spezifische Konkurrenzverhältnisse zwischen einzelnen Akteuren geben (2). Vor diesem Hintergrund kann dann die Rolle der städtischen Obrigkeit beschrieben und der Frage nachgegangen werden, welchen Prinzipien das obrigkeitliche Handeln im Bereich des Gesundheitswesens in der Frühen Neuzeit folgte (3). Anschließend soll untersucht werden, ob es sich im Falle Memmingens um ein im Wesentlichen statisches Marktsystem gehandelt hat oder ob sich im Laufe der Frühen Neuzeit Veränderungen ergeben haben und charakteristische Dynamiken erkennbar wurden (4). Als letzter Aspekt wird die Raumwirksamkeit des Memminger Gesundheitsmarktes in der Region in den Blick genommen (5), bevor abschließend Bilanz gezogen werden kann (6). 1. Das medikale Angebot im frühneuzeitlichen Memmingen Während des Hoch- und Spätmittelalters war die Sorge um die Gesundheit primär eine private Angelegenheit. Zwar nahmen geistliche Orden auch erkrankte Pilger auf oder versorgten hilfsbedürftige Mitbürger, doch nur wenige konzentrierten sich auf die Krankenpflege, wie das der in Memmingen ansässige Antoniterorden tat. Seine Spezialisierung auf die Bekämpfung des als ignis sacer oder Antoniusfeuer bezeichneten Mutterkornbrandes schränkte den Nutzen für die Memminger Bürgerschaft aller- 8 Der gewählte methodische Ansatz, das Gesundheitswesen einer Reichsstadt als medizinischen Markt von Angebot und Nachfrage zu betrachten, kann das weite Feld der Sorge um die Gesundheit nicht vollständig erfassen. Einzelaspekte, wie die Pandemiebekämpfung, allgemeine Hygienemaßnahmen, die hohe Kindersterblichkeit und der damit verbundene Diskurs über die Ernährung von Säuglingen, die Rolle der Geistlichkeit sowie die Beharrungskraft volkstümlicher Vorstellungen von Ansteckung, Erkrankung und Heilung müssen auch aus Raumgründen ausgeklammert werden. Dasselbe gilt für die Frage, ob der Memminger Befund repräsentativ ist oder andere Reichsstädte der Region abweichende Konzepte realisiert haben. All das muss weiterführenden Forschungen überlassen bleiben. <?page no="145"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 145 dings ein. Mit der 1365 erfolgten Kommunalisierung des um 1212 gegründeten Heilig-Geist-Spitals sicherte sich die Stadt daher eine eigene multifunktionale Fürsorgeeinrichtung. Sie diente zwar hauptsächlich zur Versorgung armer und alter Mitbürger. Darunter waren aber immer auch Kranke, die vorübergehend aufgenommen und gepflegt wurden. 9 Als private Stiftung entstand 1399 zusätzlich das sogenannte Seelhaus. Diese drei Institutionen waren jedoch keine primär medizinischen Einrichtungen, sondern hatten eher den Charakter von Pflegeheimen. 10 Natürlich wurden die Insassen, wenn sie denn krank wurden, von den Ordensangehörigen oder der Spitalmutter und ihren Mägden versorgt und von den städtischen Fachkräften behandelt, aber es waren keine Krankenhäuser im heutigen Sinn. 11 Erste Vorstufen dazu entstanden im Spätmittelalter sowohl zum Schutz der Nachbarschaft vor ansteckenden Krankheiten als auch zur besseren Versorgung der Erkrankten oder Hilfsbedürftigen. So richtete man in der Stadt ein Kindshaus, eine Kindbettstube und ein Narrenhaus ein. Neben dem bereits im 14. Jahrhundert in einiger Entfernung vor der Stadt gegründeten Haus der Sondersiechen, 12 in dem die Leprakranken untergebracht waren, erwarb die Stadt 1521 in der Ottobeurer Gasse ein Gebäude zur Versorgung von Pestkranken und widmete 1535 das neben dem Leprosorium bei St. Leonhard gelegene ehemalige Wohnhaus des Pfarrers in ein 9 H ANNES L AMBACHER , Das Spital der Reichsstadt Memmingen (Memminger Forschungen 1), Kempten 1991, S. 19, 97-118. Zum Thema ignis sacer s. P EER F RIESS , Das ›Heilige Feuer‹. Umweltgeschichtliche Aspekte eines medizinischen Phänomens, in: R OLF K IESSLING / W OLFGANG S CHEFFKNECHT (Hg.), Umweltgeschichte in der Region (Forum Suevicum 9), Konstanz 2012, S. 239-279, hier: 272-277, mit weiterführender Literatur. 10 J OACHIM B ERGER , Spital und Seelhaus. Entstehung und Wandel wohltätiger Stiftungen für das Seelenheil am Beispiel der Dreikönigskapelle und Vöhlins Klösterle in der Reichsstadt Memmingen, in: MGbl 1993/ 96, S. 61-123, hier 71f.; H. L AMBACHER , Das Spital (Anm. 9), S. 85-133; A DALBERT M ISCHLEWSKI , Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte), Köln-Wien 1976, S. 268-273. 11 H ANNES L AMBACHER , Klöster und Spitäler in der Stadt (Augustiner-Eremiten, Augustinerinnen im Elsbethenkloster, Franziskanerinnen und der Heilig-Geist-Orden - Unterhospital), in: J OACHIM J AHN (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart 1997, S. 293-348, hier 331-336. Einen knappen Überblick zur Entwicklung in Deutschland bietet R OBERT J ÜTTE , Vom mittelalterlichen Spital zum modernen Krankenhaus - oder: »Die Geburt der Klinik« in Deutschland, in: A NDREAS S CHMAUDER (Hg.), Macht der Barmherzigkeit. Lebenswelt Spital (Historische Stadt Ravensburg 1), Konstanz 2000, S. 9-14. Ganz anders war die Situation beispielsweise in Florenz, wo Spitäler über eigenes medizinisches Personal verfügten, das zu den besten der Stadt gehörte; J OHN H ENDERSON , Das Spital im Florenz der Renaissance. Heilung für Leib und Seele, Stuttgart 2014, S. 311-343. 12 P HILIPP L. K INTNER , Memmingen in den vergessenen Jahren, in: J. J AHN (Hg.), Geschichte (Anm. 11), S. 457-540, hier 521. <?page no="146"?> P EER F RI ES S 146 weiteres Toten- oder Brechenhaus um. 13 Patienten, die die ersten Tage einer Pesterkrankung überlebt hatten, wurden zur weiteren Beobachtung in ein als Gesundhaus bezeichnetes anderes Gebäude verlegt. In dem Sterbent von 1541 nutzte man dazu das gerade leer stehende Franziskanerinnenkloster Maria Garten. 14 Die Gebäude waren anfangs nur periodisch in Seuchenzeiten geöffnet. In seuchenfreien Zeiten nutzte man das neue Totenhaus allerdings auch für die Behandlung der an Syphilis erkrankten Personen, woher es den Namen Blatterhaus erhielt. 15 Die Bezeichnungen der verschiedenen Einrichtungen variieren in den Quellen, so taucht in unterschiedlichen Zusammenhängen auch der Begriff ›Krankenhaus‹ auf. 16 Trotz dieser begrifflichen Unschärfe darf man aber davon ausgehen, dass zu Beginn der Frühen Neuzeit in Ergänzung zu einzelnen, periodisch genutzten Häusern in der Stadt vor dem Kalchtor bei der St. Leonhardskapelle ein kleiner Gebäudekomplex entstanden war, der primär der Behandlung ansteckender Krankheiten diente. 17 Die Kapazitäten dieser Einrichtungen waren allerdings begrenzt. Während der Krisenjahre 1572-1574 verfügten das Totenhaus und das Gesundhaus jeweils über 23 Betten. 18 In besonders schweren Notzeiten wurden daher zusätzlich das Frauenhaus 13 K ONRAD M. M ÜLLER , Das »Große Sterben im Allgäu«, in: MGbl 2004/ 2005, S. 3-160, hier 20f. Der Begriff Brechenhaus leitet sich vom mittelhochdeutschen gebreche (Mangel, Gebrechen, Krankheit) ab und wurde im 15. und 16. Jahrhundert wie die Begriffe sterbend oder schwäre ruotten als Synonym für die Pest oder allgemein für Seuchen verwendet; R UDOLF S TEPP , Krankenhäuser und Krankenpflege in Memmingen im Laufe der Jahrhunderte, in: MGbl 1951, S. 2-6, hier 3. 14 C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronick, Memmingen 1660, S. 82. Die Franziskanerinnen wichen 1531 zwar dem wachsenden Druck der reformatorisch gesinnten Memminger Obrigkeit aus und begaben sich in den Schutz des Abtes von Ottobeuren, kehrten aber nach dem Erlass des Interims 1548 wieder zurück und blieben dann bis zum Ende der Reichsstadtzeit in der Stadt; H. L AMBACHER , Klöster und Spitäler (Anm. 11), S. 315-319. 15 K. M. M ÜLLER , Sterben (Anm. 13), S. 19-22. Zur Renovierung des Blatterhauses s. StadtA Memmingen, A RP vom 24.1.1564. Zur Syphilistherapie insbesondere in Süddeutschland siehe A NNEMARIE K INZELBACH , »Böse Blattern« oder »Franzosenkrankheit«: Syphiliskonzept, Kranke und die Genese des Krankenhauses in oberdeutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: M ARTIN D INGES / T HOMAS S CHLICH (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stuttgart 1993, S. 43-69. 16 J ACOB F RIEDRICH U NOLD , Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Anfang der Stadt bis zum Tod Maximilian Josephs I. Königs von Bayern, Memmingen 1826, S. 209f., der für das Jahr 1611 davon berichtet, dass angesichts einer Pestepidemie das Brechenhaus, das Krankenhaus, das Totenhaus und das Gesundhaus geöffnet wurden. 17 T HOMAS W OLF , Memmingen im 17. Jahrhundert, in: J. J AHN (Hg.), Geschichte (Anm. 11), S. 541-677, hier 588; R. S TEPP , Krankenhäuser (Anm. 13), S. 3. 18 StadtA Memmingen, A 404/ 7: Inventare der Toten-, Gesund- und Krankenhäuser aus den Jahren 1571-1575. Die im Durchschnitt doppelt so hohe Zahl an Bettwäsche kann als Vor- <?page no="147"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 147 und phasenweise ein nicht genauer identifizierbares zusätzliches Gebäude in der Nähe des Krugstors für die Aufnahme von Pestkranken genutzt. 19 Auch der Kreis der Akteure, die sich um die Gesundheit der Memminger in der Frühen Neuzeit gekümmert bzw. ihre Kenntnisse und Fertigkeiten auf dem medizinischen Markt der Stadt angeboten haben, war seit dem ausgehenden Spätmittelalter kontinuierlich angewachsen. Wenn man den Lebenszyklus als Ordnungsprinzip zugrunde legt, wären zunächst die Hebammen zu nennen. 20 Memmingen hatte fünf bis sechs offizielle städtische Hebammen, die von drei vom Rat verordneten, fürgesetzten Frauen überwacht wurden. 21 Die Hebammen halfen nicht nur bei der Geburt, sondern begleiteten die Schwangeren auch schon in den Wochen davor und unterstützten die jungen Mütter im Wochenbett. Die ihnen vorgesetzten matronen oder fürgesetzten Frauen waren verantwortlich für die Ausbildung der angehenden Hebammen und ihre Approbation. Sie prüften auch die Eignung der Kinderpflegerinnen. 22 Ausgehend von den seit 1533 vorliegenden Taufbüchern der beiden städtischen Pfarreien von St. Martin und Unser Frauen kamen in Memmingen während des 16. Jahrhunderts im Schnitt 300 Kinder pro Jahr auf die Welt. Im 17. Jahrhundert sank diese Zahl kriegsbedingt auf fast die Hälfte, um im 18. Jahrhundert dann wieder auf etwa 240 Geburten pro Jahr anzusteigen. 23 Wenn man das für die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts ermittelte Verhältnis von Totzu Lebendgeburten von 1 : 35 für die gesamte Frühe Neuzeit zugrunde legt und die Zahl der betreuten Schwangerschaften entsprechend erhöht, 24 dann wird deutlich, dass die Memminger Hebammen gut beschäftigt waren. Ihre Dienste standen allen Memminger Frauen zur Verfügung, auch denen, die wenig oder kein Vermögen hatten. Hebammen gehörten damit zur Grundversorgung der Memminger Bevölkerung. ratshaltung interpretiert werden, kann aber auch darauf verweisen, dass in einem Bettgestell mehrere Personen lagen. 19 R. S TEPP , Krankenhäuser (Anm. 13), S. 4. 20 M ERRY E. W IESNER , The midwives of south Germany and the public/ privat dichotomy, in: H ILARY M ARLAND (Hg.), The art of Midwifery. Early Modern Midwifes in Europe, London-New York 2003, S. 77-94. 21 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Hebammenordnung 1578; vgl. P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 12), S. 528; M. E. W IESNER , Midwives (Anm. 20), S. 80f. Zur Vergütung der vorgesetzten Frauen siehe StadtA Memmingen, A RP vom 22.5.1579. Ausgehend von einer durchschnittlichen Bevölkerungszahl von ca. 6.000 Einwohnern ergibt das einen Versorgungsgrad von 1 : 1.000, den Territorialstaaten wie Bayern erst Ende des 18. Jahrhunderts erreichten; vgl. F. L OETZ , Medikalisierung (Anm. 3), S. 145. 22 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Hebammenordnung 1578. 23 G OTTLIEB VON E HRHART , Kurze Geschichte der königlich baierischen Stadt Memmingen im Illerkreis. Nebst 6 Tabellen über die Geborenen, Getrauten und Gestorbenen, Memmingen 1813, Tafel III. 24 G. VON E HRHART , Geschichte (Anm. 23), S. 372. <?page no="148"?> P EER F RI ES S 148 Das gilt in ähnlicher Weise für die Bader und Scherer. Neben den in der Mitte des 15. Jahrhunderts nachweisbaren drei offiziellen Badstuben, dem Oberbad, dem Neuen Bad und dem Schulbad in der Altstadt, existierten trotz der spätmittelalterlichen Pestepidemien und der seit 1500 um sich greifenden Syphilis im 16. Jahrhundert noch weitere Badstuben in Memmingen. 25 Sie boten eine breite Palette an Dienstleistungen, was sich auch im Personal widerspiegelte. Neben dem offiziellen Bader gab es in jedem Bad in der Regel auch einen Scherer, einen Schröpfer und noch mehrere Badknechte und -mägde. Außerdem arbeiteten die Familienangehörigen des Baders ganz selbstverständlich mit. In diesem Segment der medizinischen Versorgung der Memminger Bevölkerung dürfte mit etwa 25 Personen die größte Berufsgruppe beschäftigt gewesen sein. Die Badstuben boten die Alltagsversorgung für die breite Masse der städtischen Bevölkerung. Neben der einfachen Körperpflege, dem Schrubben und Bürsten, dem Haareschneiden und Rasieren wurde in den Badstuben auch geschröpft, manchmal zur Ader gelassen. Man konnte dort kleinere Wunden behandeln oder Zähne ziehen lassen und sich Pflaster und Salben besorgen. 26 Auch wenn sich wohlhabende Memminger bereits im 16. Jahrhundert eigene Badstuben einrichten ließen, um sich dort von den eigenen Badknechten oder -mägden versorgen zu lassen, 27 waren die öffentlichen Badstuben für die meisten der zentrale Anlaufpunkt für die elementare Erstversorgung und für die klassische Prophylaxe. Die Behandlung von Verletzungen sowie komplizierte chirurgische Eingriffe waren Sache der Barbiere, Wundärzte oder Chirurgen. 28 Sie gehörten zu den ehrbaren 25 L UDWIG M AYR , Memminger Bader und Bäder, in: MGbl 6 (1920), S. 35-52, hier 20; zumindest zeitweise existierten zusätzlich das Niedergassenbad und ein Negelins Bad, von denen aber nicht bekannt ist, wo sie exakt lagen. Vgl. auch J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 183f. Wenn Badstuben geschlossen wurden, dann lag das häufig an den gestiegenen Holzpreisen; vgl. R. J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit (Anm. 3), S. 42f. 26 Der Bader des Niedergassenbades erhielt z. B. 1578 die Erlaubnis, »baden, zur Ader zu lassen und Zähne auszubrechen, aber nicht sonst Wundarzneykunst treiben zu dürfen.« J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 191; vgl. U TE L ÖFFLER , Die Bader- und Barbier-Ordnungen der Reichsstadt Memmingen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Chirurgie, Ulm 1991, S. 17. Archäologische Befunde der Memminger Badstuben sind bislang nicht vorhanden. Die Erkenntnisse in Wangen dürften aber übertragbar sein. Vgl. B IRGIT T UCHEN , »… wolher ins bad, reich und arm …«. Die »Obere Badstube« zu Wangen im Allgäu (Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg 26), Stuttgart 1994; D IES ., Zur Architektur und Ausstattung städtischer Badestuben in Südwestdeutschland, in: P ETER J OHANEK (Hg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800 (Städteforschung A 50), S. 93-109. 27 P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 12), S. 524. 28 Einen Einblick in die Lebens- und Arbeitswelt der städtischen Wundärzte in Ulm ermöglicht A NNEMARIE K INZELBACH , Chirurgen und Chirurgiepraktiken. Wundärzte als Reichs- <?page no="149"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 149 Handwerkern der Stadt, waren in der Lodnerzunft inkorporiert und mussten den üblichen Ausbildungsweg als Lehrling bzw. Geselle durchlaufen, bevor sie eine frei werdende Meisterstelle übernehmen konnten. 29 Neben der Versorgung äußerlicher Wunden behandelten sie auch Augenleiden, z. B. durch das Stechen des Grauen Stars, schnitten Blasensteine heraus und öffneten Pestbeulen. In Memmingen lassen sich die ersten Wundärzte im ausgehenden 15. Jahrhundert nachweisen. 30 Zwar ist über die konkrete Arbeit der Memminger Wundärzte bislang noch wenig bekannt, doch darf man davon ausgehen, dass ihre Fertigkeiten auf der Höhe der Zeit waren. Darauf verweist etwa die relativ ausdifferenzierte Frageliste, die bei einem Examen der zwölf im Jahre 1555 aktiven Wundärzte verwendet wurde. 31 Auch die überwiegend erfolgreiche Behandlung der zahlreichen Kriegsverletzten während des Dreißigjährigen Krieges ist ein Indiz für das Können der Memminger Wundärzte. 32 Wie vielfältig die von ihnen durchgeführten Operationen waren, geht aus dem Bericht über die Prüfung des Johannes Kleiber aus dem Jahre 1713 hervor. Neben der Amputation von Gliedmaßen, der Korrektur von Hasenscharten, der Entfernung von Geschwülsten, Hernien und Steinen wagten sich Wundärzte in speziellen Fällen offenbar auch an die Öffnung der Schädeldecke. 33 Aus dem Kreis dieser Praktiker rekrutierte die Memminger Obrigkeit stets die Pest- oder Brechenärzte, die in Seuchenzeiten mit ihrer Familie in die dafür vorgesehenen Quarantäneeinrichtungen, wie z. B. das Brechenhaus, einziehen und die Erkrankten behandeln mussstadtbürger, 16. bis 18. Jahrhundert, Mainz 2016. Die Geschichte der Memminger Wundärzte und Chirurgen ist noch nicht geschrieben worden. Einen wertvollen Baustein dafür bietet U. L ÖFFLER , Bader- und Barbierordnungen (Anm. 26). Die Begrifflichkeit ist in den erhaltenen Dokumenten für die Frühe Neuzeit wechselnd. Im 16. und 17. Jahrhundert wird von Barbieren und Wund- oder Brechenärzten gesprochen, im 18. Jahrhundert findet sich dann häufiger der Begriff Chirurg. Vgl. StadtA Memmingen, A 404/ 7: Eid der städtischen Chirurgen 1722. 29 StadtA Memmingen, A 405: Ordnung der Wundärzte 5.1.1583; U. L ÖFFLER , Bader- und Barbierordnungen (Anm. 26), S. 33. 30 Während in den Rechnungsbüchern der Antoniter noch unterschiedslos die Bezeichnung ›Bader‹ erscheint (A. M ISCHLEWSKI , Grundzüge (Anm. 10), S. 271f.), erwähnt Christoph Schorer für das Jahr 1492 erstmals einen Barbier (C H . S CHORER , Chronick (Anm. 14), S. 53). 31 StadtA Memmingen, A 405/ 2; L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 37. In Relation zu einer durchschnittlichen Bevölkerungsgröße von ca. 6.000 Einwohnern entspricht das einer Versorgungsdichte mit Wundärzten, die über den Werten liegt, die Württemberg oder Bayern im ausgehenden 18. Jahrhundert erreichten; vgl. F. L OETZ , Medikalisierung (Anm. 3), S. 143. 32 R. S TEPP , Krankenhäuser (Anm. 13), S. 5; weitere Belege für die fachliche Kompetenz bei L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 41. 33 U. L ÖFFLER , Bader- und Barbierordnungen (Anm. 26), S. 53. <?page no="150"?> P EER F RI ES S 150 ten. 34 Wie aus der Bestallung des Enderlin Mayr vom 2. Juni 1553 hervorgeht, hatte er sich nicht nur um die Insassen des Brechenhauses zu kümmern, sondern es wurde erwartet, dass er auch in die Wohnungen aller anderen Memminger ging, die von der Pest befallen waren. 35 Beaufsichtigt wurden sie, wie alle anderen offiziellen Akteure auf dem Felde der medizinischen Versorgung, von den akademisch gebildeten Physici oder Stadtärzten. Sie hatten ein Universitätsstudium absolviert und sich dadurch zu anerkannten Autoritäten entwickelt, die zur obersten gesellschaftlichen Schicht der Stadt zählten und häufig in das Patriziat aufgenommen wurden. So stellten etwa die Zwicker 36 und Wolfhart 37 im 16. Jahrhundert, die Waldner 38 im 17. Jahrhundert oder die Ehrhart 39 und Wogau 40 im 18. Jahrhundert gleich mehrere Stadtärzte. Sie gehörten fast alle dem Patriziat an und bestimmten in den höchsten Ratsgremien die Politik der Stadt mit. 41 Während der Frühen Neuzeit waren in Memmingen in der Regel zwei bis drei 34 StadtA Memmingen, D 261/ 1: Bestallungen der Brechenärzte Enderlin Mayr (2.6.1553), Thoman Kerler (10.2.1556) und Hans Kraus (16.11.1556). 35 StadtA Memmingen, A 261/ 1: Bestallung des Enderlin Mayr vom 2.6.1553. 36 R AIMUND E IRICH , Memmingens Wirtschaft und Patriziat 1347-1551. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung über das Memminger Patriziat während der Zunftverfassung, Weißenhorn 1971, S. 313-315. 37 Aus der Familie Wolfhart stammen anfänglich mehrere Apotheker, deren Nachfahren dann offenbar lieber die Position des Stadtarztes anstrebten: Ulrich Wolfhart (Apotheker), sein Sohn Dr. Ulrich Wolfhart (Arzt und zeitweilig Apotheker), sein Bruder Albanus Wolfhart (Kramer und zeitweilig Apotheker), Dr. Bartholomäus Wolfhart und Dr. Marx Wolfhart (beide Stadtärzte); vgl. R. E IRICH , Wirtschaft und Patriziat (Anm. 36), S. 310-312. 38 StadtA Memmingen A 404/ 1: Liste der Memminger Stadtärzte; Dr. Elias Felix Waldner war der Schwiegervater von Dr. Christoph Schorer; vgl. F RIEDRICH B RAUN , Christoph Schorer aus Memmingen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteslebens im 17. Jahrhundert (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 3), o. O. 1926, S. 119- 152; P AUL S CHATTENMANN , Christoph Schorer, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 28 (1959), S. 184-189. 39 Stammvater dieser Medizinerfamilie, die das Memminger Gesundheitswesen im 18. Jahrhundert dominierte, war Balthasar Ehrhart (1639-1706), dessen Sohn Johann David Ehrhart (1676-1727) nach einigen Jahren in Kaufbeuren 1704 nach Memmingen zurückkehrte. Sein Sohn Johann Balthasar Ehrhart (1700-1756) war noch in Kaufbeuren geboren. Ihnen folgten in dritter und vierter Generation Jodokus Ehrhart (1740-1805) und Gottlieb von Ehrhart (1763-1826); vgl. A. H OLLER , Memminger Aerzte aus der Familie Ehrhart, Memmingen 1897. 40 H ANS -U LRICH F RHR . VON R UEPPRECHT , Die Memminger Patrizier, in: MGbl 1981/ 82, S. 91-93. 41 H.-U. VON R UEPPRECHT , Patrizier (Anm. 40), 27f., 35, 63-65; vgl. die ausführlich kommentierte Liste der Memminger Ärzte bei G OTTLIEB VON E HRHART , Physisch-medizinische Topographie der k. b. Stadt Memmingen im Illerkreis, Memmingen 1813, S. 330-351. <?page no="151"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 151 Stadtärzte angestellt. 42 Sie waren verpflichtet alle krankhen vund siechen jn jeren kranckheiten vnd gebrechen, darumben sie zu jme komen oder jne zu sich fordern werden, güetlich empfachen, auffnemen und iren nach seinem bösten verstand und vermögen nach gelegenheit aines jeden krankheit, in der artznei getreulich und fleißig rathen vnnd helfen vnd sich in solchem gegen reichen vnd armen für seine mühe vnd arbeit zimlich belonung benügen lassen jnn sonderhait aber den armen vnnd unvermöglichen jnn der statt vnd auf dem land so einem ehrsamen Rat zuversprechen stehen, und jn als einen Arzt suchen vnd gebrauchen wurden, getreulich rathen vnd sich der belohnung halb ziemlich vnd guotwillig bedenken und halten. 43 Sie waren es, die offizielle Gutachten verfassten, die jährliche Visitationen und Kontrollen der Apotheken durchführten und Mitbürger, die im Ruf standen, ansteckende Krankheiten zu haben, auch gesundschreiben und damit vor einer sozialen Ausgrenzung bewahren konnten. 44 Sie hatten maßgeblichen Einfluss auf die Gestal- 42 Ausnahmen bestätigen diese Regel: 1609 wurde mit Dr. Ludwig Eben und 1621 mit Dr. David Stegmann jeweils ein Arzt mit dem Sonderauftrag angestellt, in Seuchenzeiten ausschließlich den Mitgliedern des Rates zur Verfügung zu stehen; StadtA Memmingen, A 404/ 3: Bestallung Dr. Eben 1609; Bestallung Dr. Stegmann 1621. Im Jahr 1656 hatte man mit Hans Jakob Schuster zusätzlich einen frei praktizierenden Arzt als Extraordinarius angenommen, dem zugesichert wurde, die nächste freiwerdende offizielle Stelle zu erhalten; vgl. K URT N EUMÜLLER , Ärzte und Sanitätsverhältnisse in Memmingen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, Diss. masch. Leipzig 1923, S. 34. Bis 1664 versorgte der katholische Medicus Dr. Johann Gufer die umliegenden altgläubigen Adeligen und Geistlichen von Memmingen aus; vgl. F. B RAUN , Schorer (Anm. 38), S. 125. Eine besondere ärztliche Betreuung stiftete 1750 Samuel Dobosi für die aus seiner siebenbürgischen Heimatstadt Herrmannstadt stammenden Einwohner Memmingens und für die Künersberger. Für diese Sonderbetreuung sollte ein Physicus jährlich 40 fl. erhalten; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 384; H ARTMUT Z ÜCKERT , Memmingens Bedeutung im 18. Jahrhundert, in: J. J AHN (Hg.), Geschichte (Anm. 11), S. 783-874, hier 839. Insgesamt gesehen war damit eine Versorgungsdichte mit approbierten Ärzten geboten, die weit über dem lag, was in Territorialstaaten Ende des 18. Jahrhunderts erreicht wurde; vgl. F. L OETZ , Medikalisierung (Anm. 3), S. 143. 43 StadtA Memmingen, A 404/ 1: Bestallung des Dr. Hans Funk aus dem Jahre 1588; nahezu identische Formulierungen finden sich auch in den folgenden Jahrhunderten; vgl. StadtA Memmingen, A 404/ 3: Bestallungen von Dr. Philip Ludwig Eben aus dem Jahre 1609 oder die von Dr. Philip Jakob Düttel aus dem Jahre 1707. Zur Rolle des Stadtarztes siehe allgemein M. S TOLBERG , Gelehrte Medizin (Anm. 1), S. 402-409. 44 So wandte sich z. B. Joß Zembrecht an seine Herrschaft mit der Bitte um Unterstützung, da er beschrait vnd gescheucht werden welle, als ob er mit der erblichen krankheit deß ussatz oder morbo gallico behafft sein soll. Diese bat dann die Memminger Obrigkeit, ihn untersuchen zu lassen, damit er von dem Vorwurf befreit werden könne; StadtA Memmingen, A 408/ 2: Schreiben der Erbtruchsessin Johanna von Waldburg vom 24.5.1597. Tatsächlich stellten die Memminger Ärzte fest, dass er weder an Lepra noch an Syphilis, sondern an Wassersucht litt; StadtA Memmingen, A 408/ 2: Gutachten der Stadtärzte vom 30.5.1597. Zur sozialen Ausgrenzung von Syphilis-Kranken siehe R OBERT J ÜTTE , »wider die abschewliche Krankckheit der Fran- <?page no="152"?> P EER F RI ES S 152 tung obrigkeitlicher Verordnungen, insbesondere auf dem Feld der Seuchenprophylaxe, 45 und waren als einzige befugt, Rezepte auszuschreiben, mit denen die Patienten bei den städtischen Apotheken diverse Tinkturen, Salben oder Pillen erwerben konnten. 46 Zu ihren Aufgaben zählte es auch, die Frauen im Frauenhaus zu untersuchen. 47 Unentgeltlich hatten sich die Memminger Ärzte außerdem um die bedürftigen Insassen der städtischen Fürsorgeanstalten zu kümmern. 48 Mit der praktischen Behandlung von Kranken beschäftigten sie sich allerdings weniger. Bis ins 18. Jahrhundert hinein überließen die studierten Ärzte operative Eingriffe den handwerklich ausgebildeten Wundärzten. 49 Das Feld der Stadtärzte war die Diagnose innerer Erkrankungen, beginnend mit der Harnschau, der Untersuchung der Urinproben ihrer Patienten bis zur Krankenschau, d. h. der Identifikation bestimmter Krankheiten, wie z. B. Lepra, Mutterkornbrand, Syphilis oder Pest. 50 War im spätmittelalterlichen Memmingen der Physicus meist gleichzeitig auch derjenige, der die Medikamente herstellte oder besorgte, 51 hatten sich die Apotheker zu zosen«: Geschlechtskrankheiten als Herausforderung an die Gesundheitsfürsorge deutscher Reichsstädte im 16. und 17. Jahrhundert, in: U LRICH W AGNER (Hg.), Stadt und Stadtverderben (Stadt in der Geschichte 37), Ostfildern 2012, S. 291-308, hier 296f. 45 Das Thema Seuchenprophylaxe kann hier nicht näher untersucht werden, da es einerseits den Rahmen sprengen würde und andererseits ein primär obrigkeitliches Tätigkeitsfeld berührt, das nur am Rande ökonomische Implikationen aufweist. Angesichts der vergleichsweise guten Quellenlage wäre es aber ein lohnendes Feld für weitergehende Forschungen. Vgl. etwa StadtA Memmingen, A 407, die Ratsverkündungen Bd. 12-19 und zahlreiche Bezüge in den Ratsprotokollen. 46 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 421. 47 StadtA Memmingen, A RP vom 16.11. und 16.12.1524. 48 Das galt allerdings nicht für die reichen Pfründner, sondern nur für die Bewohner der Dürftigenstube; H. L AMBACHER , Klöster und Spitäler (Anm. 11), S. 334. 49 Zur Rolle und zum Selbstverständnis frühneuzeitlicher Ärzte vgl. M. S TOLBERG , Gelehrte Medizin (Anm. 1), S. 402-409; H. K ÜHNEL , Der Arzt (Anm. 3), S. 33-43; G IANNA P OMATA , A sense of Place. Town Physicians and the Resources of Loyality in Early Modern Medicine, in: A NDREW M ENDELSOHN u. a. (Hg.), Civic Medicine. Physician, Polity, and Pen in Early Modern Europe, London-New York 2020, S. 210-234. Zur Abgrenzung siehe R OBERT J ÜTTE , Zur Sozialgeschichte der Handwerkschirurgen im 16. Jahrhundert, in: H. D OPSCH , Paracelsus und Salzburg (Anm. 3), S. 45-60. 50 So sollte etwa Dr. Jodokus Stoppel eine Magd untersuchen, die als leprös galt; StadtA Memmingen, A RP vom 2.8.1525. Dr. Marx Wolfhart wurde verpflichtet, einzelne Memminger Bürger zu untersuchen, wofür er je einen halben Taler erhielt; StadtA Memmingen, A RP vom 29.4.1590; zur besonderen Funktion der dabei ausgestellten Schauzettel siehe A NNE - MARIE K INZELBACH , Negotiating on Paper. Councilors, Medical Officers, and Patients in an Early Modern City, in: A. M ENDELSOHN u. a. (Hg.), Civic Medicine (Anm. 49), S. 161-180. 51 R OLF K IESSLING , Memmingen im Spätmittelalter (1347-1520), in: J. J AHN (Hg.), Geschichte (Anm. 11), S. 163-245, hier 223; 1463 wurde mit Walter Kellner der erste Apotheker <?page no="153"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 153 Beginn des 16. Jahrhunderts emanzipiert und eine eigene Berufsgruppe gebildet. Die noch heute existierende Einhornapotheke geht ebenso auf diese Zeit zurück wie die Mohrenapotheke. 52 Die Apotheker waren bereits damals mehr als nur Erfüllungsgehilfen der Ärzte, die deren Rezepturen anmischten, obwohl diese Tätigkeit weiterhin im Zentrum ihrer täglichen Arbeit stand. Daneben betrieben sie einen regen Handel mit unterschiedlichsten Heilmitteln. Sie verkauften Kräuter, Öle, Sirups oder Latwerge an Kunden, die sich aus eigenem Antrieb an sie wandten. Außerdem gehörte die Belieferung der städtischen Fürsorgeeinrichtungen mit allen dort gebrauchten Medikamenten zum Tätigkeitsfeld der Apotheker. Dabei wurden sie von Lehrlingen und Gesellen unterstützt. Auch Familienmitglieder haben regelmäßig ausgeholfen. Frauen war es jedoch verboten, sogenannte Komposita herzustellen oder treibende Arzneien zu verkaufen, also Arzneien, die heftige körperliche Reaktionen, wie bei Abführmitteln z. B. Durchfall, hervorriefen. Das Destillieren und die Zubereitung komplexer Arzneien nach den Rezepten der Physici war ausschließlich dem gelernten und amtlich approbierten Apotheker vorbehalten. 53 Diese unterschiedlichen Berufsgruppen arbeiteten teils nebeneinander, teils in enger Kooperation. Ein typisches Beispiel stellt der Fall eines namentlich nicht genannten Bauern aus Dickenreishausen im Sommer 1572 dar. Der zuständige Stadtarzt Dr. Marx Wolfhart hat ihn zunächst zusammen mit dem städtischen Wundarzt untersucht. Das Ergebnis fiel zugunsten einer Behandlung des an einer Hautkrankheit leidenden Bauern aus: vermeinten wir, man ließe ihn baden, mit den siechen, darnach, wenn er glatt würde, möchte man in mit dem Spital begauben. Bei Gelegenheit dieser Schau hatten die beiden auch gleich einen Knecht des Seelhausmeisters untersucht, der an Syphilis litt. Obwohl er schon in Biberach eine Kur versucht hatte, die ohne Wirkung geblieben war, schlugen die Ärzte vor, ihn nochmals in die Holzkur zu geben, da er noch jung sei. 54 Der Rat folgte den Vorschlägen, was dazu führte, dass die weitere Behandlung der beiden Männer den Mitarbeitern des Siechenbzw. des Blatterangestellt. Vgl. R ICHARD H OLLER , Die Memminger Apotheken, in: MGbl 13 (1927), S. 46- 50, und 14 (1928), S. 1f., hier 46; Holler erwähnt Kellner als Ulmer Apotheker und gibt einen Apotheker Jörg im Jahr 1489 als ersten Memminger Apotheker an. 52 R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 46; für das Jahr 1566 verzeichnet J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 180, sogar drei Apotheken. Die Trennung der Apotheke vom Amt des Stadtarztes bedeutete allerdings nicht, dass manche studierte Ärzte nicht zugleich als Apotheker arbeiteten, wie etwa 1534 Adam Zwicker, 1704 Johann David Ehrhart oder 1727 Johann Balthasar Ehrhart. 53 StadtA Memmingen, A 402/ 3: Apothekerordnung 1589; R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 47. 54 StadtA Memmingen, A 406/ 4: Bericht des Stadtarztes Marx Wolfhart vom 11.7.1572. <?page no="154"?> P EER F RI ES S 154 hauses übertragen wurde. Die für die Therapie notwendigen Medikamente und das für die Holzkur verwendeten Guajakholz lieferten die städtischen Apotheken. 55 Während die städtischen Bader ihrem Geschäft in den Badstuben nachgingen, die Apotheker einen eigenen Laden hatten, in dem sie Medikamente herstellten und verkauften, und die Wundärzte eine eigene Werkstatt einrichten durften, waren die Hebammen und Physici eher in den Wohnungen der Patienten anzutreffen. 56 Das galt auch für die Betschwestern des sogenannten Vöhlins Klösterle. Sie waren ursprünglich durch die Stifterin Elisabeth Lauginger dazu verpflichtet, Sterbenden spirituelle Begleitung zu bieten. Mit der Übernahme der Verwaltung durch den Rat im Jahre 1531 wurde ihnen zusätzlich die häusliche Pflege aller Kranken aufgetragen, die nach ihnen verlangten. Dank einer Zustiftung Balthasar Funks konnten sie die Bedürftigen auch mit Medikamenten, Salben, Pflastern und Sirups versorgen. 57 Spätestens im 18. Jahrhundert waren sie außerdem dazu verpflichtet, die Leichen der Verstorbenen für die Beerdigung vorzubereiten und ins Leichentuch einzunähen. 58 Die auch nach der Reformation weiter in Memmingen ansässigen Franziskanerinnen hatten es sich dagegen zur Aufgabe gemacht, Kranke zu pflegen, allerdings nicht bei sich im Kloster, sondern ebenfalls in den Häusern der Kranken. 59 55 StadtA Memmingen, A 406/ 4: Bericht des Stadtarztes Marx Wolfhart vom 11.7.1572, Dorsalvermerk vom 14.7.1572. Die Entscheidung, wer ins Blatterhaus aufgenommen wurde, traf der Rat jeweils auf der Basis der Voten der Ärzte. Vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 24.11.1559, 8.12.1559, 13.12.1559, 6.8.1560, 15.1.1563. Ein Automatismus entstand hier aber nicht. So sollte am 7.1.1564 Dr. Zwicker angehalten werden, fleißiger zu arbeiten oder es seinen Sohn tun zu lassen, damit keine hoffnungslosen Fälle ins Blatterhaus aufgenommen würden; StadtA Memmingen, A RP vom 7.1.1564. Zur Zusammenarbeit mit den Apotheken siehe StadtA Memmingen, A RP vom 26.1.1564. Auch der Brechenarzt bekam konkrete Handlungsanweisungen von den Stadtärzten; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 23.9.1564. 56 R. J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit (Anm. 3), S. 205. 57 StadtA Memmingen, D 157/ 5: Stiftungsurkunde vom 26.8.1538. Dass die konfessionellen Veränderungen des 16. Jahrhunderts relativ wenig Einfluss auf das reichsstädtische Gesundheitssystem hatten, konnte auch für andere oberschwäbische Reichsstädte nachgewiesen werden; vgl. P EER F RIESS , Poor Relief and Health Care Provision in South-German Catholic Cities During the Sixteenth Century, in: T HOMAS M AX S AFLEY , The Reformation of Charity. The Secular and the Religious in Early Modern Poor Relief, Boston-Leiden 2003, S. 76-91. 58 J. B ERGER , Spital und Seelhaus (Anm. 10), S. 90, 115; vgl. J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 379. 59 H. L AMBACHER , Klöster und Spitäler (Anm. 11), S. 316-319; B ERNARDIN L INS , Geschichte des Frauenklosters vom Dritten Orden des hl. Franziskus Maria Garten in Memmingen, in: Franziskanische Studien 34 (1952), S. 265-289, 407-424, hier 274-284; S CHLE - WECK , Die grauen Schwestern zu Memmingen, in: Historisch Politische Blätter 64 (1869), S. 784-794. Diese spirituelle Begleitung Sterbender durch die ›grauen Schwestern‹ war erwünscht und geschätzt, weshalb der Rat der Stadt dies auch während einer Epidemie mit einer Sonderzuwendung von 6 fl. vergütete; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 28.4.1592. <?page no="155"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 155 Am Ende des Lebenszyklus stehen die Totenwäscherinnen, die Totenträger, Totenscherer und Totengräber. Sie gehörten nicht zu den besonders geschätzten Mitbürgern, wie eine Notiz in den Ratsprotokollen verdeutlicht. Darin wird das ihnen gegenüber ausgesprochene Verbot, in Wirtshäuser oder Badstuben zu gehen, damit begründet, dass man abscheus ob ime haben und etwan eins oder mer erschrecken mecht. 60 Dass sie dennoch wichtig waren, um elementare Hygienemaßnahmen umzusetzen, war den Verantwortlichen gleichwohl bewusst. Deshalb bewilligte der Rat zwei Totenträgern in einer heraufziehenden Seuchenzeit 1 fl. Wartgeld pro Woche, verpflichtete sie aber dazu, nichts davon zu erzählen, weil es die Mitbürger in Angst und Schrecken versetzen könnte. 61 Mit mehreren Spezialeinrichtungen und insgesamt etwa 75 Fachkräften unterschiedlicher Professionen hatte das offizielle medizinische Versorgungsangebot der Reichsstadt Memmingen am Ende des 16. Jahrhunderts ein respektables Niveau erreicht, das sich bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht mehr wesentlich änderte. Gegenüber dem Mittelalter lässt sich eine starke Ausdifferenzierung und Professionalisierung der medizinischen Angebote feststellen, die allen Einwohnern der Stadt und den Untertanen des städtischen Territoriums zugutekamen. Neben diesem erweiterten und spezialisierten medikalen Angebot bestand gleichzeitig ein medizinischer Graubereich fort, der intensiv nachgefragt wurde. Während sich wohlhabendere Bürger kostspielige Therapien und sogar private Bäderreisen gönnten, um z. B. in Überkingen durch intensives Trinken des bereits damals berühmten Quellwassers Nierensteine loszuwerden, 62 mussten die Handwerker und Krämer, Knechte, Mägde und Tagelöhner, also der größte Teil der Memminger Bevölkerung, andere Wege gehen. Für sie waren derartige Kuren ebenso unerschwinglich wie teure Arzneien und wiederholte Beratungen durch die studierten Ärzte. Sie griffen daher auf das sehr viel günstigere Angebot fahrender Heiler zurück, die ihre Dienste zusammen mit wundersamen Säften und Tinkturen auf Wochen- und Jahrmärkten anboten. 63 Im Alltag dominierte weiterhin die Selbst- 60 StadtA Memmingen, A RP vom 20.12.1563. 61 StadtA Memmingen, A RP vom 17.3.1564; siehe auch die Ratsprotokolleinträge zum 9.8., 11.8. und 11.9.1564. 62 Ein Beispiel unter vielen war der Memminger Stadtschreiber Georg Meurer, der 1532 nach Überkingen ins Bad reiste; vgl. P EER F RIESS , Der Memminger Stadtschreiber Georg Meurer. Beobachter, Ratgeber und Akteur im Zeitalter der Reformation, in: D IETMAR S CHIERSNER u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte (FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag), Augsburg 2011, S. 155-171, hier 167f. Ähnlich verhielt sich Alban Wolfhart, der im Jahr 1551 zur Kur ins Wildbad reiste; siehe R. E IRICH , Wirtschaft und Patriziat (Anm. 36), S. 311. 63 In seiner Unterweisung an die Landbevölkerung warnt Christoph Schorer ausdrücklich davor, diesen Leuten Glauben zu schenken: Solle man sich wol hueten vor Marck-Schreyern/ Landläuffern und dergleichen Leuthen/ welche sich unterstehen/ mit einer besonderen/ ihnen allein bekanten <?page no="156"?> P EER F RI ES S 156 medikation unter Verwendung einer Vielzahl von Heilpflanzen, unterstützt durch die Ratschläge erfahrener Frauen aus dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft. 64 Das belegen verschiedene Krankenberichte, in denen z. B. gesagt wird, dass zunächst allerhanndt medicamenta vnd mitel versucht wurden, bevor man sich an offizielle Stellen gewandt hätte. 65 Offenbar war es bis dahin durchaus üblich, bei den sogenannten ›Weisen Frauen‹ Rat und Hilfe zu holen. 66 Neben der Privathilfe bei diesen erfahrenen Frauen suchten die Memminger auch Unterstützung beim Scharfrichter der Stadt, der offenbar regelmäßig bei Verletzungen und Verrenkungen half. Auf eine entsprechende Klage der städtischen Wundärzte gegen dieses aus ihrer Sicht geschäftsschädigende Verhalten erwiderte ›Meister Jörg‹ 1651 entschuldigend, er nehme nur die Patienten an, die die Barbiere nicht heilen könnten. 67 Ein Einzelfall war das nicht. Schon zum Jahre 1573 berichtet der spätere Stadtarzt und Chronist Christoph Schorer äußerst kritisch, dass die Memminger Obrigkeit die medizinischen Praktiken ihres Scharfrichters toleriert habe. 68 Zu diesem Graubereich des Memminger Gesundheitsmarktes gehörten auch die ›Trockenscherer‹, die außerhalb des städtischen Bades und außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten in den Privathäusern der Memminger Bürger arbeiteten und den offiziellen Badern die Kunden abspenstig machten. Diese beklagten außerdem den Trend, immer mehr Freunden und Bekannten die Mitnutzung privater Bäder zu erlauben, was für sie ebenfalls zu Einkommenseinbußen führte. 69 Artzney die Pest zu vertreiben […]; C HRISTOPH S CHORER , Kurtzer Underricht/ Vornemlich von der Cur der Pest […], Memmingen 1667, S. 5. 64 E DGARDA K ÜNSSBERG , Die Anwendung von Heilpflanzen zur Zeit des Paracelsus und heute, in: H. D OPSCH , Paracelsus und Salzburg (Anm. 3), S. 139-148. 65 StadtA Memmingen, A 406/ 4: Schreiben des Rats von Kempten vom 9.12.1604; ähnliche Berichte finden sich in anderen Gesuchen um Unterstützung; StadtA Memmingen A 408/ 2: Anfrage des Laux von Freyberg vom 3.10.1570; Fürbitte des Fürstabt Johann Adam von Kempten vom 8.3.1597. 66 R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 46; R. J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit (Anm. 3), S. 47; P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 12), S. 527. Zur Bedeutung der sog. Volksmedizin vgl. J OHANNES G RABMAYER , Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500, in: A LBRECHT C LASSEN (Hg.), Paracelsus im Kontext der Wissenschaft seiner Zeit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen, Berlin-New York 2010, S. 183-200. Zu den verschiedenen Alternativen zur ärztlichen Behandlung siehe M. S TOLBERG , Gelehrte Medizin (Anm. 1), S. 486-501. 67 L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 18. 68 C H . S CHORER , Chronick (Anm. 14), S. 103: Ist ein schändlich Ding/ daß den Nachrichtern hin und wider das curiren zugelassen wird. Muß vor diesem hier auch der Brauch gewesen sein […]. 69 L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25); siehe auch die Bewilligung des Rates für den Scharfrichter, eine eigene Badstube einzurichten; StadtA Memmingen, A RP vom 16.9.1524. <?page no="157"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 157 2. Ein umkämpfter Markt Die offiziellen Heilberufe wehrten sich demnach bereits im 16. Jahrhundert gegen die Konkurrenz medizinisch versierter, aber nicht approbierter Laien. Einen ersten Niederschlag fand dieser Widerstand in der Apothekerordnung von 1589. Darin wird festgelegt, dass keine Rezepturen angemischt werden dürfen, die von unerfahrenen Weibspersonen stammten. 70 Trotz dieses obrigkeitlichen Verbots dürfte das aber weiterhin praktiziert worden sein. So klagten die Barbiere 1651 gegenüber dem Rat, dass drei ganz normale Mitbürger - Michel Schob, Sabina Lebin und Elsbeth Heiß - Arzneien verabreicht, Wunden verbunden und zur Ader gelassen hätten. Während sich die ersten beiden herauszureden versuchten, stand Elsbeth Heiß zu dem, was sie tat, mit den Worten, sie heile jedermann. Wenn sie im Sterbent gut genug gewesen sei, so sei sie auch jetzt gut. 71 Fahrende Augenstecher und Zahnbrecher stellten zudem eine ernsthafte Konkurrenz für die städtischen Bader und Wundärzte dar, behandelten sie doch Bürgerinnen und Bürger der Stadt, die eigentlich zu ihnen hätten gehen sollen. 72 Wenn berichtet wird, dass die städtischen Bader Schultern einrenkten, offene Schnittverletzungen versorgten und Syphiliskranke behandelten, dann wird gleichzeitig die interne Konkurrenz zu den Wundärzten deutlich. 73 Diese wiederum gaben ihren Patienten immer wieder einmal diagnostische Ratschläge und empfahlen bestimmte Pflaster und Salben, wodurch sie auf einem Gebiet aktiv wurden, das sich die studierten Physici vorbehalten hatten. 74 Den Apothekern erging es nicht viel besser, boten doch Kramer und Merzler ebenfalls Heilkräuter, Salben und Tinkturen an, was immer wieder zu Auseinandersetzungen führte. Letztlich ging es dabei um die Frage, welche Produkte apothekenpflichtig und welche frei verkäuflich waren. 75 Die zunehmend populär gewordene 70 StadtA Memmingen, A 402/ 3: Apothekerordnung 1589; R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 46. 71 L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 18. 72 Das scheint von der Memminger Obrigkeit phasenweise sogar toleriert worden zu sein. So verweist Christoph Litscher in einem Schreiben an den Rat der Stadt darauf hin, dass einem yeden landschreyen, wasser-, wurtzen- und salbenkramer, zanbrecher vnd schreyer der markt allhie offen steht vnd sein nahrung zu suchen verstattet wirtt; StadtA Memmingen, A 408/ 9: Schreiben Christoph Litschers an den Rat o. D., wohl Juli/ August 1616. 73 StadtA Memmingen, A RP vom 9.8.1564. 74 StadtA Memmingen, A 403/ 4: Replik von Dr. Eben und Dr. Eckolt auf eine Rechtfertigungsschrift der Memminger Apotheker vom 25.1.1650. 75 StadtA Memmingen, A 403/ 4: Visitation des Ladens von Georg Christoph Hurter 1653 mit einer Auflistung der gefundenen Apothekerwaren. A SKAN W ESTERMANN , Memminger Handel und Handelsgesellschaften um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: MGbl 6 (1920), S. 11, der die Spezereien und Apothekerwaren als die kostbarsten Handelswaren an <?page no="158"?> P EER F RI ES S 158 Gesundheitsliteratur erweiterte dieses Marktsegment. Insbesondere in den zahlreichen Pestschriften wurde eine Vielzahl von Rezepturen propagiert, die man selbst anfertigen konnte, wenn man sich die notwendigen Zutaten besorgte. 76 Als potentielle Kunden konnten daher fast alle Bewohner der Stadt gelten. Angesichts einer wachsenden Nachfrage war dieser Heilmittelmarkt durchaus lukrativ, so dass zahlreiche Anbieter den Apothekern Konkurrenz machten. 77 Einzelne Ärzte und Apotheker sahen sich daher dazu gezwungen, selbst zu publizieren. Der Memminger Dr. Adam Zwicker pries etwa in seiner Pestschrift aus dem Jahre 1532 unter anderem eine besondere Latwerge an, sagte aber nicht, wie sie hergestellt wurde: Vnd wirdt die latwerg hie nit geschrifftlich gestelt inn ein Recept/ auß mancherley vrsach wegen/ hie on not zu schreiben/ dann du wirsts bey mir zu Memmingen in der apothek finden/ vnd da ichs vertrawen werd zu machen geben. 78 Sein Ziel war es offensichtlich, Kunden für seine Apotheke zu gewinnen. Auch die Versorgung der großen städtischen Einrichtungen war umkämpft, da die Belieferung der Schwelle zur Neuzeit bezeichnet, die ausschließlich über den Fernhandel eingeführt wurden. Vgl. auch das Warensortiment der Kaufmannsfamilie Zangmeister; D ERS ., Die Zangmeister als Memminger Kramer und Großkaufleute, in: MGbl 13 (1927), S. 27. 76 Vgl. etwa die zeitgenössischen Memminger Autoren U LRICH E LLENBOG , Instruktion wider die Pestilenz. Ain wunderbaere jnstruction vnd vnderwysung wider die pestilentz: herfliessend von kayserlichem hoff vnd aller bewaertesten doctoribus jn cristenlicher vnd haydescher nacion funden wärden mügen, Memmingen 1494; U LRICH W OLFFHART , Ain kurtzer Bericht […], wie man sich vor der erschrockenlichen Kranckhait des geprechens der Pestilenz preservieren unnd bewaren mög, Augsburg 1535. Bis ins 18. Jahrhundert hinein verfassten Memminger Ärzte Publikationen, die sich an eine breite Leserschaft wandten; vgl. Stadtbibliothek Memmingen 18,3-18,7; 18,23-18,25; 18,37. 77 Wenn man z. B. die für die Herstellung des von Matthias Böham in seinem 1560 in Augsburg erschienen Werk Ain nutzliche/ vnnd für den gemainen Man/ genugsam gegründte vnderricht wie sich diser zeyt der Pestilentz halben zuhalten sey, Bl. IIIr, empfohlenen Rezepts zur Pestprophylaxe notwendigen zehn Kräuter zusammen mit den geforderten 1,5 Lot Theriak erwerben wollte, musste man ca. 25 kr. ausgeben; vgl. StadtA Memmingen, A 402/ 2: Preistaxe von 1563. Das konnten sich Kaufleute und besser verdienende Handwerksmeister leisten und damit einen Pulvervorrat bereitstellen, mit dem sich ca. drei Monate lang jeden Morgen das empfohlene Quentlein Medizin einnehmen ließ. Für Handwerksgesellen mit einem Wochenlohn von ca. 6 kr. war das Rezept zu teuer. Deswegen enthielten alle Ratgeber auch einfachere Rezepte, die für alle erschwinglich waren. Vgl. P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 12), S. 510, und den Beitrag von Michael Baumann in diesem Band. 78 A DAM Z WICKER , Eine kurtze wolgegründte vnderrichtung […], Augsburg 1532, S. 5; Dr. Adam Zwicker entstammte der Memminger Patrizierfamilie Zwicker, gehörte der Patriziergesellschaft zum Goldenen Löwen an und praktizierte evtl. auswärts als Arzt, da er die Gebühren für die Gesellschaft nicht regelmäßig zahlte; R. E IRICH , Wirtschaft und Patriziat (Anm. 36), S. 314f. <?page no="159"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 159 mit Medikamenten, Salben und Tinkturen durchaus einträglich war. 79 Da konnte es schon vorkommen, dass ein Stadtarzt und ein Apotheker geheime Absprachen trafen, sich jeweils gegenseitig empfahlen und so die kommunal finanzierten Erträge zu monopolisieren versuchten. 80 Ärzte und Apotheker konnten aber auch Konkurrenten sein. So kam es immer wieder einmal vor, dass Apotheker ihren Kunden Ratschläge gaben, die man als Diagnose oder Therapieempfehlung verstehen konnte, was die Stadtärzte regelmäßig als Eingriff in ihr ureigenstes Geschäftsfeld empfanden. 81 Selbst zwischen den Totenscherern kam es zu Auseinandersetzung um Zuständigkeiten. Am 20. Oktober 1564 beschwerte sich z. B. der Memminger Totenscherer darüber, dass sich Gretlin Schererlin auch um Männer kümmere. Das wurde ihr daraufhin vom Rat verboten. Sie dürfe nur Frauen behandeln: alein die weib und die so nach ir schicken (wie sie dann der maß bestellt) zucurieren. 82 Diese Notiz deutet gleichzeitig an, dass die Totenscherer offenbar auch therapeutisch tätig waren. Einen ungewöhnlich anschaulichen und lebendigen Einblick in das Geflecht konkurrierender Interessen und das Ringen um Anteile am medizinischen Markt bietet der Konflikt zwischen dem Apotheker Christoph Litscher und den städtischen Ärzten Dr. Elias Waldner und Dr. Ludwig Eben. Der aus Feldkirch stammende Litscher war in Nürnberg bei dem Arzt und Apotheker Georg Trischler in die Lehre gegangen, hatte danach in Rothenburg ob der Tauber als Diener in einer Apotheke gearbeitet und war 1588 nach Memmingen gekommen, wo er durch Heirat das Bürgerrecht erwarb und die Leitung einer dritten Apotheke übernahm. 83 Schon damals wollte er nicht nur Medikamente herstellen, sondern auch medizinieren, was ihm per Ratsdekret im Jahre 1600 verboten wurde. Daraufhin zog er nach Leutkirch. Dort konnte er beide Tätigkeiten, die des Apothekers und des Arztes, ungehindert ausüben, da es in Leutkirch keinen Stadtarzt gab. Aus persönlichen Gründen kehrte er 1608 wieder nach Memmingen zurück, konnte dort aber seine Apotheke nicht wieder eröffnen. So verlegte er sich darauf, in der Stadt und in den Dörfern des 79 Alleine für die Lieferung des bei den Syphiliskuren im Blatterhaus verwendeten Guajak- Holzes wurden Ende des 16. Jahrhunderts bis zu 188 fl. pro Jahr bezahlt; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 11.12.1588. Die Entscheidung des Rates, alle Apothekenwaren im Folgejahr ausschließlich beim Apotheker Prenzler zu beziehen, war demnach für diesen ein ausgesprochen lukratives Geschäft; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 30.10.1588. 80 So beklagte sich der Apotheker Johann Prenzler darüber, dass der Arzt Dr. Marx Wolfhart es seinen Patienten zur Auflage machte, seine Rezepte nur in der Apotheke seines Vaters einzureichen; StadtA Memmingen, A RP vom 22.2.1587; und StadtA Memmingen, A 403/ 2: Supplikation Prenzlers 23.10.1587. Der Streit weitete sich zu einer Auseinandersetzung zwischen den drei Apothekern und den Stadtärzten aus und zog sich bis 1591 hin. 81 Streit zwischen Dr. Felix Waldner und dem Apotheker Johann Prenzlein im Jahre 1599; vgl. StadtA Memmingen, A 404/ 2. 82 StadtA Memmingen, A RP vom 20.10.1564. 83 R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 47. <?page no="160"?> P EER F RI ES S 160 Memminger Umlandes allen mit Ratschlägen, Rezepten, Medikamenten und Behandlungen zu helfen, die ihn darum baten, um sich auf diese Weise seinen Unterhalt zu verdienen. Dadurch nahm er allerdings den Barbieren, den Apothekern und den approbierten Ärzten in Memmingen die Kunden weg, was zu einem jahrelangen Streit führte, der an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden kann. 84 Für die hier im Zentrum stehenden Fragen ist jedoch aufschlussreich, dass das unangefochtene Recht jedes Bürgers, selbst zu entscheiden, wessen Hilfe er im Krankheitsfall in Anspruch nahm, dazu führte, dass dieser Laienarzt auf Grund seiner Erfolge eine sehr große Anhängerschaft an sich binden konnte. Da es den approbierten Medizinern offenkundig nicht gelang, ihre Patienten durch eine bessere Behandlung zurückzugewinnen, erwirkten sie mit Verweis auf das Fehlen einer akademischen Bildung wiederholt Ratsdekrete, in denen Litscher faktisch ein Arbeitsverbot erteilt wurde. Sehr zum Ärger der etablierten Ärzte umging Litscher diese Verbote immer wieder. Im Jahre 1617 gelang es ihm sogar, ein Privileg von Kaiser Matthias I. zu erlangen, das es ihm offiziell erlaubte, als Arzt zu arbeiten, obwohl er nie Medizin studiert hatte. 85 Auch wenn vordergründig formale Bildungsabschlüsse und obrigkeitliche Regelungskompetenzen debattiert wurden, im Kern ging es sowohl den Stadtärzten als auch Christoph Litscher darum, sich einen möglichst großen Anteil am medizinischen Markt zu sichern. 3. Obrigkeitliche Regulierungsmaßnahmen Bei der Sorge um Kranke und der Vorbeugung von Erkrankungen ist es in der Reichsstadt Memmingen offenbar nicht alleine um die angemessene Prophylaxe, die richtige Diagnose oder die wirkungsvollste Therapie gegangen, sondern immer wieder auch um finanzielle Fragen. Ein erheblicher Teil des Geldes, das im Gesundheitswesen verdient werden konnte, kam aus kommunalisierten Stiftungen oder unmittelbar aus der Stadtkasse, denn die zentralen Einrichtungen und Angebote des Memminger Gesundheitssystems waren öffentlich finanziert. Allein für die amtlich bestallten Stadtärzte, deren Grundgehalt in der Regel 150 bis 200 fl. pro Jahr betrug, gab Memmingen einen stattlichen Betrag aus. 86 Die Ärzte handelten individuelle Verträge aus, die unterschiedliche Laufzeiten und stark variierende Vergütungen vorsahen. Am erfolgreichsten war dabei Dr. Elias Waldner, dem 1629 als Basishonorar 84 Ausführliche Dokumente im StadtA Memmingen, A 408/ 9. 85 Das Privileg selbst liegt im Memminger Stadtarchiv nicht vor. Dass es jedoch ausgestellt wurde, ergibt sich aus StadtA Memmingen, A 408/ 9: Stellungnahme des Rates vom 25.8./ 7.9.1617. 86 Vgl. die Liste der Stadtärzte mit ihren Jahresgehältern in StadtA Memmingen, A 404. <?page no="161"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 161 250 fl. Jahresgehalt zugesichert wurden. 87 Eine deutlich geringere, in der Art aber vergleichbare Basisfinanzierung erhielten die Leiter der Spezialeinrichtungen, wie z. B. der Hausvater des Blatterhauses, dem jährlich 34 fl. ausbezahlt wurden, 88 sowie der zum Brechenarzt ernannte Wundarzt Peter Spamann, der alleine als Wartgeld 52 fl. im Jahr bekam. 89 Ähnlich wie die Pflegekräfte in allen anderen Spezialeinrichtungen der Stadt waren sie Dienstleute des Unterhospitals, das in dieser ökonomischen Hinsicht eine wichtige Schlüsselposition im Gesundheitswesen der Reichsstadt Memmingen einnahm. Selbst die Lebensmittelversorgung des Personals und der Patienten wurde vom Unterhospital organisiert und finanziert. 90 Dazu kamen noch eine ganze Reihe Sonderkosten. 1578 konnten etwa die Physici durchsetzen, dass der Arzt, der turnusgemäß ein Jahr lang das Blatterhaus betreute, 25 fl. zusätzlich erhielt. 91 Das Blatterhaus produzierte auch Apothekenkosten, z. B. im Jahre 1578 in Höhe von 163 fl. 14 kr. und 4 Hellern, die aus öffentlichen Mitteln bezahlt wurden. 92 In Seuchenzeiten schnellten die Ausgaben sprunghaft nach oben. So wurden während der laydigen infections- und sterbens leuffen vom 14. September 1629 biß vff 18 Februar 1630 für das Kranken- und das Gesundhaus zusammen mehr als 500 fl. zusätzliche Personalkosten aufgewandt. 93 Dazu kamen noch die gestiegenen Verpflegungskosten und die Ausgaben für Bettwäsche und Leintücher. 94 87 StadtA Memmingen, A 404/ 3 VO4: Bestallung Elias Waldners vom 27.6.1629. Dazu kamen zwei Klafter Buchenholz zu Neujahr sowie pro Krankenschau nochmals je 30 kr. 88 StadtA Memmingen, A RP vom 4.7.1589. 89 StadtA Memmingen, A 404/ 7: Bestallung des Wundarztes Peter Spamann zum Brechenarzt vom 29.3.1649. Ein Vergleich der Bestimmungen der Anstellungsverträge von 1553, 1556, 1649 und 1690 zeigt, dass die Höhe des Wartgeldes, die finanzielle und materielle Vergütung dieser vergleichsweise gefährlichen Tätigkeit und die Absicherung der Hinterbliebenen im Todesfall stetig angehoben wurden und erst mit dem Abklingen der Pest Ende des 17. Jahrhunderts wieder leicht zurückgingen, was darauf verweist, dass auch die Personalgewinnung den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage folgte; StadtA Memmingen, D 251/ 1 und A 405. 90 H. L AMBACHER , Klöster und Spitäler (Anm. 11), S. 333. 91 StadtA Memmingen, A RP vom 30.5.1578. 92 StadtA Memmingen, A RP vom 20.6.1578. Zu den Kosten der damaligen Syphilisbehandlungen siehe R. J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit (Anm. 3), S. 50. 93 StadtA Memmingen, A 407. Im Einzelnen: 194 fl. 20 kr. für das Kranken- und das Gesundhaus, die Totentrager und ihre Frauen, 55 fl. für die Totengraber, 22 fl. 50 kr. für eine Hebamme als Wartgeld, 30 kr. für Dr. Waldner für eine Schau; Michael Lamenit hat 12 fl. und der für das Krankenhaus bestellte Wundarzt Remundus Blickhlin für seine Tätigkeit 71 fl. 30 kr. erhalten. Ein zweiter Wundarzt Michael Rimmeln erhielt 41 fl. 30 kr. Der Hausvater des Krankenhauses bekam 44 fl. 10 kr., die Magd im Krankenhaus 8 fl. 45 kr., der Hausvater des Gesundhauses 18 fl. 30 kr. 94 StadtA Memmingen, A RP vom 30.5.1578. <?page no="162"?> P EER F RI ES S 162 Auch die Apotheker verdienten in Seuchenzeiten gut. Die Versorgung der Insassen des Brechenhauses brachte dem Apotheker Daniel Lutz im Zeitraum vom 1. Oktober 1628 bis 17. Februar 1629 einen Umsatz von 160 fl. 20 kr. Sein Kollege Johann Vogt rechnete für den Zeitraum vom 13. August 1628 bis zum 22. Januar 1629 insgesamt 213 fl. 54 kr. für die Lieferung von Medikamenten in das Brechenhaus ab. 95 Ähnliches gilt für Kriegszeiten. Alleine die Kosten der Wundärzte während der Belagerung Memmingens im Jahre 1647 beliefen sich auf 943 fl. 96 Diese Aktivitäten im öffentlichen Auftrag, sei es in Kriegs- oder Seuchenzeiten, sei es bei der amtlichen Schau oder bei der Beschaffung des für die Syphiliskuren im Blatterhaus benötigten Borkenholz, 97 machten einen wesentlich Teil des Umsatzes nahezu aller Akteure im Gesundheitsbereich aus. Daneben waren alle aber auch private Anbieter ihrer medizinischen Dienstleistungen, die sie den Bürgerinnen und Bürgern Memmingens zur Verfügung stellten. Anders als in ländlich geprägten Territorialstaaten, wo es zum dörflichen Bader kaum eine praktikable Alternative gab, hatten die Memminger die freie Wahl, welchem Arzt sie ihre Urinprobe sandten, welche Hebamme sie zur Geburtsbegleitung holten, bei welchem Bader sie sich schröpfen ließen und welchem Apotheker sie ein paar Lot Theriak abkauften. 98 Sie konnten sich genauso inoffiziellen Heilern anvertrauen oder mit selbst hergestellten Arzneien gegen ihre Erkrankung vorgehen. Die Bereitschaft der Memminger Bürger, für die eigene Gesundung oder den Schutz vor tödlichen Seuchen erhebliche Anstrengungen auf sich zu nehmen, war offenbar groß. Die Zahlungsmoral scheint allerdings nicht ganz so ausgeprägt gewesen zu sein. So entschloss man sich 1582 dazu, eine Mindestgebühr von 12 kr. für jede Geburt festzulegen, da die Hebammen nit allein schlechtlich vnd vngleich belohnt, sondern auch sollichs oftermals lang aufgezogen vnd nit bezahlt worden sei. 99 Bei der Totenmesse 95 StadtA Memmingen, A 408/ 5. Auch in früheren Pestwellen wurde das Betreuungspersonal aufgestockt; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 27.9.1564. 96 StadtA Memmingen, A 408/ 7. 97 Es wurde z. B. durch den Stadtarzt Albanus Wolfhart geliefert, dessen Auslagen von 90 fl. 12 kr. aus der Dreikönigskappellen-Stiftung und der sog. Spendflege, der kommunal verwalteten Fusion eines Großteils der spätmittelalterlichen Wohltätigkeitsstiftungen der Stadt, bezahlt wurden; StadtA Memmingen, A RP vom 12.10.1580. 98 Der ›gemeine Mann‹ gehörte durchaus zum Kundenkreis von studierten Ärzten und nutzte alle Angebote des medikalen Marktes; vgl. R. J ÜTTE , Krankheit und Gesundheit (Anm. 3), S. 17. Im Jahre 1523 kostete in Memmingen beispielsweise ein Lot Theriak (15 gr.) 5 Pfennige, was sich im Notfall auch einfache Handwerksmeister leisten konnten, so dass auch sie zum Kundenkreis der anfangs zwei, später drei Apotheken in Memmingen gehörten; StadtA Memmingen, A 402/ 2: Taxordnung von 1523. 99 StadtA Memmingen, A 343/ 5: Verkündung vom 28.10.1582. Bei mittellosen Frauen übernahm die St. Leonhardspflege die Bezahlung von zumindest 8 kr. Sowohl in dieser Maßnahme als auch in der Argumentation der Verkündung, die in den beiden Stadtpfarrkirchen von der <?page no="163"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 163 für den 1592 verstorbenen Stadtarzt Dr. Marx Wolfhart sah sich der Memminger Pfarrer Johannes Lang sogar veranlasst, den anwesenden Gläubigen ins Gewissen zu reden und sie zu ermahnen, dass wir uns auch nit allein mit schuldiger Reuerenz vnd ehrerbietung/ sonder auch mit gebürlicher verehrung vnd belohnung danckbar gegen ihnen [= die Ärzte] erzeigen sollen. 100 Die Memminger sollten ihre Ärzte also nicht nur respektieren, sondern auch angemessen bezahlen. 101 Der Memminger Gesundheitsmarkt war demnach zwar durchaus lukrativ, aber er war auf Grund der vielfältigen Konkurrenz und der relativ starken Position der Patienten kein einfacher Markt. Diesen Markt nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage sich selbst zu überlassen und nur in eskalierenden Streitfällen die Obrigkeit als Schlichter anzurufen, war den Menschen der Frühen Neuzeit allerdings fremd. Es wurde von der Obrigkeit vielmehr erwartet, dass sie reglementierend eingriff. 102 Und das hat sie in Memmingen auch getan. So wurde die Zahl der unterschiedlichen Spezialisten, der Bader, der Wundärzte, der Hebammen, der Apotheker und Physici begrenzt. Fahrende Zahnbrecher und Augenheiler durften ihre Dienstleistungen nur noch auf den Jahrmärkten anbieten. 103 Um ein Überangebot zu vermeiden, sollten die Bader nur am Dienstag, Donnerstag und Samstag öffnen. 104 Sie Kanzel verlesen wurde, spricht eine hohe Wertschätzung gegenüber den Hebammen, deren Bezahlung offenbar häufig zu gering ausfiel oder völlig vergessen wurde. Bei 350 Geburten ergäbe die Vergütung im Jahr im Durchschnitt pro Hebamme ca. 10 fl., was bestenfalls ein Zubrot für die Familie sein konnte. Daran ändert das jährliche Neujahrsgeschenk von einem Scheffel Roggen wenig; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 5.1.1571, 7.1.1577, 5.1.1582. Im Jahr 1596 gab die Stadt für ihre sechs Hebammen insgesamt 67 fl. aus, was den obengenannten Durchschnittswert bestätigt; vgl. T HOMAS W OLF , Reichsstädte in Kriegszeiten. Untersuchungen zur Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Isny, Lindau, Memmingen und Ravensburg im 17. Jahrhundert (Memminger Forschungen 2), Memmingen 1991, S. 255. 100 J OHANNES L ANG , Ein Christliche Predigt […] Bey der […] Leych weiland deß […] Herrn Marci Wollfhards […], Tübingen 1592, S. 17. 101 In der Bestallung des Dr. Stoppel im Jahre 1501 waren noch Gebühren festgelegt worden; vgl. A LFRED S TROPPEL , Dr. med. Jakob Stroppel (genannt Stoppel). Stadtarzt der Reichsstadt Memmingen im Spätmittelalter (1470-1535). Ein Beitrag zur Familiengeschichte und zur Geschichte der Stadt Memmingen, in: MGbl 2015/ 16 S. 55-71, hier 71; bei den folgenden Bestallungen fiel das weg. 102 So sah etwa A. Z WICKER , Vnderrichtung (Anm. 78), S. 5, die Obrigkeit in der Verantwortung, geeignetes medizinisches Personal einzustellen und angemessen zu besolden. 103 StadtA Memmingen, A 405: Novellierte Barbierordnung vom 6.6.1616; darin wird festgehalten, dass Schreier und Landfahrer abgeschafft werden sollten. In der Ordnung von 1618 wird den Badern verboten, mit mehr dann mit vier Ehalten auf dem Bad [zu] arbeiten. Zu den Versuchen, den Überbesatz im Bereich der Bader und Barbiere im ausgehenden 18. Jahrhundert zu reduzieren, siehe L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 51f. 104 StadtA Memmingen, A RP vom 6.11.1570; A 405: Baderordnung 1618. <?page no="164"?> P EER F RI ES S 164 durften auch nicht durchgehend Lehrlinge ausbilden, sondern mussten nach Abschluss der Ausbildung eines Lehrjungen ein Jahr aussetzen. 105 Durch jährlich wechselnde Zuständigkeiten, z. B. der Stadtärzte für die Aufsicht über die städtischen Fürsorgeeinrichtungen oder der Apotheker für deren Versorgung mit Medikamenten, wurde gleichzeitig der Aufbau von Monopolstellungen verhindert. Außerdem versuchte die Memminger Obrigkeit, die Tätigkeitsfelder der einzelnen Professionen möglichst klar voneinander abzugrenzen. Die Bader durften nicht mehr zur Ader lassen, das sollte den Wundärzten vorbehalten bleiben. Diese durften zwar Verletzungen behandeln, aber keine Medikamente verabreichen. 106 Scharfrichtern wurde das Behandeln von Patienten ebenso verboten wie allen anderen Laienheilern. 107 Auch im Streit zwischen dem Apotheker Litscher und den approbierten Ärzten bezog der Rat der Stadt klar für die Ärzte Position und blieb damit auf der Linie früherer Entscheidungen, die den Apothekern konsequent verboten hatten, Diagnosen zu stellen, Therapien zu empfehlen oder gar Behandlungen durchzuführen. 108 Sehr viel schwerer fiel es der Obrigkeit, die Trennungslinie in den häufigen Auseinandersetzungen zwischen den Apothekern und den sogenannten Materialisten, also den Kramern oder Mertzlern zu ziehen. Schon im 16. Jahrhundert kam es hier wiederholt zu Konflikten. 109 Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Kompetenzabgrenzung erneut diskutiert, als die Apotheker in einer Petition vom 25. Januar 1650 darum baten, Abführmittel verkaufen zu dürfen. Die um ein Gutachten gebetenen städtischen Ärzte lehnten das rundweg ab, weil sie darin ein Einfallstor für Stimplereien sahen. Um den Apothekern gerecht zu werden, führten diese in ihrer Stellungnahme aus, solle man vielmehr den Kramern verbieten, Substanzen zu verkaufen, die eigentlich in die Apotheke gehörten. Genannt wurden: Mythridat, Theriac, Brustzucker, Manus Christ täfelin mit Perlen, Rhabarbar, Sennesblätter, Mandelöl, Coloquinth, 105 StadtA Memmingen, A 405 Ratsdekret vom 2.9.1618. 106 StadtA Memmingen, A 405: Wer in oder vßerhalb der zunfft wider die ordnung thut 1618 (erneuert 1630, 1635 und 1643). 107 StadtA Memmingen, A RP vom 26.5.1582. Der Rat untersagt dem Scharfrichter und seiner Frau jegliche medizinische Aktivität. Lediglich Schweinesalben durften die Scharfrichter noch herstellen und verabreichen. Zu den Versuchen, die medizinischen Aktivitäten der Memminger Nachrichter einzuschränken, siehe auch H ELMUT S CHUHMANN , Der Scharfrichter. Seine Gestalt - seine Funktion (Allgäuer Heimatbücher 67), Kempten/ Allgäu 1964, S. 215-217, sowie S. 277 Anm. 1751, S. 278 Anm. 1756. 108 Wer es gar wagte, sich als Arzt auszugeben, ohne jegliche Ausbildung durchlaufen zu haben, musste mit massiven Strafen rechnen. Der Sohn eines Schmieds aus Erkheim wurde am 2.9.1580 wegen so eines Vergehens in Memmingen enthauptet; G. VON E HRHART , Physischmedizinische Topographie (Anm. 41), S. 19. 109 In der Diskussion zwischen dem Rat, den Apothekern und den Ärzten im Zusammenhang der Neufassung der Apothekenordnung in den Jahren 1563/ 64 wurde auch die Rolle der Kramer debattiert; vgl. StadtA Memmingen, A 402/ 2. <?page no="165"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 165 Antimonium, Cassiam etc. insbesondere auch Venenata, als Mercurium crudum & sublimatum, Arsenic vnd dergleichen. 110 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Rat im Oktober 1687 dem aus Biberach nach Memmingen zuwandernden Dr. Wogau zwar erlaubte, eine Materialhandlung zu gründen, ihn gleichzeitig aber darauf verpflichtete, sich praecise in den schrankhen eines Materialistens [zu] halten. 111 Am 11. Januar 1700 musste der Rat erneut einen Streit zwischen den Apothekern und den Materialisten regeln. Einmal mehr bestand der Kompromiss darin, dass den Kramern zwar erlaubt wurde, mit Simplicia und einfachen Salben, Säften und Sirups Handel zu treiben. Der Verkauf von Composita sollte aber den Apothekern vorbehalten bleiben. Außerdem sollten sie in der Stadt und auf dem Land damit aufhören zu medizinieren. Die Apotheker dürften im Gegenzug zwar auch Simplicia verkaufen, aber nur in minima dosi, während die Materialisten das pfundweise tun konnten. 112 Zwei Jahre später musste sich der Rat mit der Frage beschäftigen, ob Rosen- und Zimtwasser nur von den Apothekern oder auch von den Kramern vertrieben werden dürften. Nachdem man sich in Ulm und Augsburg erkundigt hatte, wie die Nachbarstädte die Sache behandelten, erhielten die Kramer die Erlaubnis, diese beiden Wasser zu verkaufen, wogegen die Apotheker wiederum Einspruch erhoben, weil sie befürchteten, dass man damit die Tür zu anderen Produkten öffnete. 113 Dieses hier etwas genauer nachgezeichnete Ringen um Marktanteile macht vor allem deutlich, dass der Handel mit den unterschiedlichsten Heilmitteln offenbar ein sehr einträgliches Geschäft war, dessen Aufteilung zwischen den beteiligten Akteuren durch die Obrigkeit immer wieder neu austariert werden musste. An Versuchen, die obrigkeitlichen Vorgaben zu umgehen oder zu unterlaufen, fehlte es nicht. Deshalb mussten Absprachen zwischen Ärzten und Apothekern ausdrücklich verboten werden. Bereits im Bestallungsdokument wurde vermerkt, dass Ärzte ihre Rezepte so ausstellen müssten, dass die Kranken frei entscheiden könnten, von welchem Apotheker sie sich die Medikamente besorgen wollten. 114 Damit hier eine gewisse Transparenz herrschte und gleichzeitig ein Preiskampf zwischen den 110 StadtA Memmingen, A 403/ 4: Stellungnahme der Ärzte zu einer Petition der Apotheker vom 25.1.1650. 111 StadtA Memmingen, A 403: Ratsdekret vom 31.10.1687. Selbst wenn eine Apotheke in Memmingen frei würde, so der Beschluss, müsse Wogau Bürgersöhnen, die sich darum bewürben, den Vortritt lassen. 112 StadtA Memmingen, A 403/ 7: Abschließendes Ratsdekret vom 11.1.1700. 113 StadtA Memmingen, A 403/ 7: Extrakt der Ratsprotokolle zum Streit zwischen den Apothekern und den Materialisten von 1671-1715. 114 Vgl. StadtA Memmingen, A 404/ 1: Bestallungsvertrag für Dr. Hans Funk vom 1.1.1588 bis zum 1.1.1592. <?page no="166"?> P EER F RI ES S 166 Memminger Apotheken vermieden wurde, erließ man ausführliche Preistaxen. 115 Preisvorgaben existierten auch bei den Badern, wobei eine soziale Staffelung für das Baden, Scheren und Schröpfen vorgesehen war. 116 Interessanterweise gab es weder bei den Wundärzten noch bei den Physici oder Leibärzten eine Gebührenordnung. Hier galt vielmehr die Regel, dass man von dem Patienten einen angemessenen Lohn erbitten solle. Da es ganz offensichtlich wiederholt zu Auseinandersetzungen darüber kam, was ein angemessener Preis sei, wurde bereits in den Bestallungsverträgen der Physici festgehalten, dass diese Streitigkeiten nicht vor dem Stadtgericht, sondern vor dem Rat entschieden werden sollten. Auch die Beschwerden über die Memminger Wundärzte wurden dem Rat vorgetragen. 117 Offenbar war es der Memminger Obrigkeit wichtig, in dem sensiblen Feld der Gesundheitsfürsorge unmittelbar eingreifen zu können. Die dabei während der gesamten Frühen Neuzeit unverändert verfolgte Maxime der sozialen Ausgewogenheit des medikalen Angebots zeigt sich in einer zentralen Bestimmung, die sowohl bei den Berufungen der Hebammen als auch bei den Anstellungsverträgen der Wundärzte und Physici immer wiederkehrt. Sie wurden alle regelmäßig darauf eingeschworen, grundsätzlich zu allen Mitbürgern zu gehen, wenn sie um Hilfe gerufen wurden, unabhängig vom Wohlstand des Einzelnen und damit unabhängig vom finanziellen Gewinn, den eine Behandlung einbringen würde. 118 Die Fürsorge der Obrigkeit erstreckte sich auch auf die Qualitätskontrolle der medizinischen Leistungen. Das begann schon bei der Auswahl des Personals und setzte sich im Bereich der Aus- und Weiterbildung fort. So wurde die Lehrzeit der Badknechte und der Apothekenhelfer ebenso reglementiert wie die der Hebammen 115 StadtA Memmingen, A 402/ 403. Dabei orientierte man sich an den Taxordnungen zahlreicher anderer süddeutscher Städte; R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 46. 116 L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 44. 117 Vgl. StadtA Memmingen, A 405/ 13-18. 118 Die Gleichbehandlung von Arm und Reich war eine grundlegende Maxime, der zu folgen für alle Heilberufe Pflicht war und deren vorbildliche Befolgung lobende Würdigung erfuhr. Vgl. die Leichenpredigt auf den verstorbenen Dr. Adam Zwickers d. J. von J OHANN L ANG , Christliche Predigt […] bey der Leich des Ehrnvesten unnd Hochgelehrten Herrn Adam Zwickers, des jüngern, weiland der Artzney berhümben Doctors zu Memmingen, Tübingen 1588, S. 27: Er hat auch den Leutten/ beiden reichen vnnd armen/ gern gedienet: vnd sonderlich hat er/ als ein von Gott beruffner vnd verordneter Medicus vnd Doctor der Artzney/ vilen Leutten/ in dieser Statt/ vnd an den vmbligenden orten/ zu ihrer Leibesgesundheit/ wohlbedächtlich vnd trewlich gerathen. Ähnlich werden seine Nachfolger gelobt: D AVID L ANG , Eine christliche Leichenpredigt bey dem Begäbnuß des Ehrenvesten […] Doctoris Heliae Waldners […], Augsburg 1615, S. 15; J OHANN G EORG H ERMANN , Ehrengedächtnis Herrn Christoph Schorer’s […] der Reichsstadt Memmingen Physici Ordinarii, Memmingen 1755, S. 30. <?page no="167"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 167 und Wundärzte. 119 Ohne bestandene Prüfung durften weder Hebammen noch Bader, Wundärzte oder Apotheker ihrem Gewerbe nachgehen. 120 Geleitet von den städtischen Physici überprüften Ratsdeputationen regelmäßig die Apotheken und die städtischen Einrichtungen zur Krankenpflege. 121 Dabei achtete man z. B. bei den Apotheken nicht nur auf Sauberkeit und Ordnung, sondern ebenso auf die Qualität der angebotenen Produkte. Beurteilungsmaßstab war unter anderem das 1535 in Nürnberg erschienenen Standardwerk Dispensatorium pharmacorum omnium, quae in usu potissimum sunt von Valerius Cordus. Bereits in der Ordnung von 1564 wurden die Apotheker angewiesen, sich daran zu orientieren. 122 Das obrigkeitliche Eingreifen in den Gesundheitsmarkt verfolgte demnach mehrere Zielsetzungen zugleich. Zum einen galt es, ein qualitativ anspruchsvolles medizinisches Fürsorgeangebot für alle Bewohner der Stadt und des städtischen Territoriums sicherzustellen. Zum anderen sollte allen im Gesundheitswesen Arbeitenden ein angemessenes Auskommen gewährleistet werden. Die aus dem Spätmittelalter stammenden Leitgedanken des ›gerechten Preises‹, des ›Nahrungsprinzips‹ und des ›Gemeinen Nutzens‹ bildeten auch während der Frühen Neuzeit den Orientierungsrahmen für die obrigkeitliche Regulierung des medizinischen Marktes in Memmingen. 123 Dies geschah durch Einzelfallentscheidung im Rat, 124 durch Verkündung spezifischer Neuerungen, die von den Kanzeln der Pfarrkirchen verlesen wurden, und durch grundlegende Regelungen vornehmende Ordnungen. Vollständig in den Griff bekamen die städtische Obrigkeit den medizinischen Markt dadurch allerdings nicht. Das zeigt beispielhaft der Fall des Memminger 119 Vgl. StadtA Memmingen, A 405: Ordnungen der Barbiere und Wundärzte aus den Jahren 1583, 1616, 1618, 1630, 1635 und 1643; A 406: Hebammenordnung 1578; vgl. A RP vom 30.5.1578: Der Rat nahm das ärztliche Gutachten zustimmend zur Kenntnis, das darauf drängte, keine Frau als Hebamme zuzulassen, die nicht von den Ärzten und den geschworenen Frauen examiniert worden war. Letztere erhielten jährlich 4 fl. Aufwandsentschädigung für diese Gutachtertätigkeit. 120 Vgl. z. B. die Einführung von Prüfungen bei den Badern; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 167. 121 Diese Visitationsberichte waren wiederholt Auslöser längerer Konflikte zwischen Apothekern und Ärzten, die mehrfach vor dem Rat entschieden werden mussten; vgl. StadtA Memmingen A 403/ 4: Stellungnahmen der Apotheker und der Visitatoren sowie ein Extrakt aus den Ratsprotokollen zu den Konflikten der Jahre 1653/ 54. 122 StadtA Memmingen, A 402/ 2. 123 E BERHARD I SENMANN , Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550, 2. Aufl. Stuttgart 2014, S. 959f., 976, 986-988. 124 Z. B. die Erlaubnis für den Scharfrichter, ein Bad zu errichten, die Aufnahme eines armen Wandergesellen ins Blatterhaus oder die an die städtischen Bader gerichtete Ermahnung, keine Syphiliskranken zu behandeln; StadtA Memmingen, A RP vom 16.9.1524, 24.1.1559 und 9.8.1564. <?page no="168"?> P EER F RI ES S 168 Webers Conrad Mauchenberger, dem der Rat 1632 verbot, irgendjemanden medizinisch zu behandeln oder in die Cur zu nemen. Der Streit war bereits 1629 entstanden, als sich die etablierten Ärzte und Apotheker gegen Mauchenberger und seine Praktiken wandten. Dieser hatte an Syphilis Erkrankte mit einer Lohe-Kur behandelt. Seinem Vater war das noch erlaubt worden, wohl weil man dieses Verfahren früher nicht wirklich ernst genommen hatte. Inzwischen wurde aber auch im städtischen Blatterhaus mit Lohe-Kuren gearbeitet, so dass Conrad Mauchenberger zu einem ernsthaften Konkurrenten geworden war. Offenbar gab es neben dem offiziellen weiterhin einen grauen Markt, der einfache Bedürfnisse der Bürgerschaft bediente und toleriert wurde, solange er weder die Gesundheitspolitik der Obrigkeit noch die Wirtschaftsinteressen der professionellen Akteure des städtischen Gesundheitswesens beeinträchtigte. 125 4. Kontinuität und Wandel Diese Form der Duldung eines grauen Marktes kennzeichnet das medikale System Memmingens während der gesamten Frühen Neuzeit. So wird zum Jahr 1621 berichtet, dass der Scharfrichter anlässlich einer öffentlichen Leichensektion etwas Menschenfett bekam, was damals als besonders wirksames Heilmittel galt und von ihm gewinnbringend an seine Kunden verkauft werden konnte. 126 Offenbar akzeptierte die Obrigkeit in dieser Zeit eine gewisse medizinische Nebentätigkeit ihres Scharfrichters. In den erhaltenen Bestallungsverträgen war das nicht verboten worden. Bei der Anstellung von Johann Georg Widemann versuchte der Memminger Rat 1735 den therapeutischen Aktivitäten seines neuen Scharfrichters dann engere Grenzen zu setzen. In der Bestallungsurkunde wurde festgehalten, dass es ihm bey namhafter straff undersagt sei, Arzneien zu verabreichen und sich des Praktizierens anzunehmen, wie es seine Vorgänger getan hatten. Es wird ihm ausdrücklich verboten, Urinproben von Patienten in der Stadt zu beschauen, noch die geringst consilia, recepta umd arzneyen, es mögen ihn dieselben darum ansprechen oder nicht, zuerthailen und zu geben. Er solle sie vielmehr an die Ärzte verweisen. 127 Daraus kann geschlossen werden, dass es 125 So wurde etwa nach längerer Duldung die Nutzung von Privatbädern durch Freunde und Bekannte am 24.11.1577 verboten, als die städtischen Bader spürbare Einkommenseinbußen hatten; P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 10), S. 525. 126 R. H OLLER , Apotheken (Anm. 51), S. 48; hier schwangen magische Vorstellungen mit, die auch in der Verfolgung von Hexen und Hexenmeistern in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhunderts wirksam waren; vgl. P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 10), S. 494-500; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 270, 272, 274. 127 StadtA Memmingen, A 263/ 1: Reversbrief zur Anstellung Johann Georg Widemanns als Nachrichter der Reichsstadt Memmingen vom 9.2.1735. Unabhängig von der in akademischen Kreisen mittlerweile erfolgten Relativierung der Aussagekraft der Harnschau galt sie <?page no="169"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 169 zumindest bis dahin durchaus üblich war, dass Scharfrichter auch in Memmingen als Akteure auf dem medizinischen Markt auftraten und nachgefragt waren. An diesem Markt partizipierten auch im 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche Laienheiler. Den offiziellen Weg ging 1721 ein gewisser Christian Ruprecht, der sich ein kaiserliches Privileg beschaffte und dann seinen »indianischen Lebensbalsam« vertrieb. 128 Andere agierten weiterhin im Graubereich. 1750 berichteten die Memminger Ärzte z. B. vom tödlichen Ausgang einer Geburt in Trunkelsberg, bei der Anna Maria Leonhardt als Hebamme auftrat, ohne dazu ausgebildet worden zu sein. Die Ärzte beklagen, dass so etwas tagtäglich vorkomme. Sie sahen darin ein Beispiel der allhier aufs alleräußerste eingerissenen Stimpeleien. 129 Das Nebeneinander von offiziell approbierten Spezialisten und nichtapprobierten Laienheilern bestand demnach bis ins 18. Jahrhundert fort. Auch die medizinische Infrastruktur veränderte sich kaum. 130 Lediglich der Gebäudekomplex vor dem Kalchtor erfuhr eine bauliche Veränderung. Nach der Zerstörung der Vorläuferbauten durch kaiserliche Soldaten im Jahre 1632 wurde 1658 an Stelle der kleineren Gesund-, Toten- und Brechenhäuser ein einziger größerer Backsteinbau errichtet, der bis ins 19. Jahrhundert hinein als allgemeines Krankenhaus für alle Kranken bestimmt war. 131 1665 wurde noch ein neues Siechen- oder Seelhaus für die chronisch unter Lepra, Syphilis oder verwandten Krankheiten Leidenden errichtet. 132 An der Funktionalität änderte sich dadurch aber nichts. So in breiten Bevölkerungskreisen auch im 18. Jahrhundert noch als zentrales diagnostisches Verfahren; vgl. M ICHAEL S TOLBERG , Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln u. a. 2009, S. 30. Zur Rolle der Scharfrichter in dieser Zeit siehe J UTTA N OWOSADTKO , Rationale Heilbehandlung oder abergläubische Pfuscherei? Die medizinische Kompetenz von Scharfrichtern und ihre Ausgrenzung aus heilenden Tätigkeiten im 18. Jahrhundert, in: B. W AHRIG / W. S OHN , Genese des Medizinalwesens (Anm. 4), S. 109-130. 128 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 334. Derartige Geschäftsmodelle waren im 18. Jahrhundert keine Seltenheit; vgl. C HRISTIAN P ROBST , Fahrende Händler und Heilmittelhändler. Medizin von Marktplatz und Landstraße, Rosenheim 1992, S. 113-118. Vgl. auch G ABRIELE B EISSWANGER , Der Arzneimittelmarkt um 1800: Arzneimittel zwischen Gesundheits-, Berufs- und Gewerbepolitik, in: B. W AHRIG / W. S OHN , Genese des Medizinalwesens (Anm. 4), S. 147-161. 129 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Ärztliches Gutachten vom 9.9.1750 zu Anna Maria Leonhardts Hebammentätigkeit bei einer Geburt in Trunkelsberg am 11.8.1750. 130 Vgl. die Übersicht bei G. VON E HRHART , Physisch-medizinische Topographie (Anm. 41), S. 517f. zum Stand des Jahres 1813. 131 R. S TEPP , Krankenhäuser (Anm. 13), S. 5. 132 Vgl. den Umgebungsplan von Memmingen aus dem Jahr 1720 bei G ÜNTER B AYER , Memmingen. Alte Ansichten aus Stadt und Land. Topographische Darstellungen aus fünf Jahrhunderten, Memmingen 1990, S. 32; und die Grundrisse aus den Jahren 1734 und 1761 in K. M. M ÜLLER , Sterben (Anm. 13), S. 19; siehe auch J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 273. <?page no="170"?> P EER F RI ES S 170 konnte man es ohne größeren Aufwand als Zentralgebäude für ein provisorisches Lazarett nutzen, in dem die erkrankten preußischen Kriegsgefangenen einquartiert wurden, die Memmingen 1761-1763 aufnehmen musste. 133 Die Badstuben bestanden trotz der Konkurrenz von Trockenscherern ebenso weiter. 134 Die Einrichtung eines Bades in dem zum Unterhospital gehörenden Weiler Dankelsried stellt in diesem Zusammenhang keine grundsätzliche Neuerung dar. Memmingen knüpfte hier an eine seit dem 16. Jahrhundert nachweisbare Tradition der Naturbäder an. 135 So waren bereits 1553 das Bergerbad und das Dickenreiser Bad sehr beliebt. 136 1597 wurde in Memmingerberg sogar für 5.000 fl. ein neues Bad errichtet, das bald weithin berühmt wurde. 137 Das blieb bis ins 18. Jahrhundert so, wie Jakob Friedrich Unold 1826 berichtete: »Jährlich einmal in der schönen Jahreszeit ein Bad zu gebrauchen, war sehr gewöhnlich.« 138 Entscheidend war hier weniger das hygienische oder medizinische Begleitangebot, sondern die besonderen Eigenschaften des lokal verfügbaren Wassers. Die Memminger Stadtärzte Dr. Johann Funk und Dr. Elias Waldner hatten bereits 1597 die beiden Quellen bei Memmingerberg untersucht und zur genaueren Analyse des Wassers den Apotheker und erfahrenen Chymicum Christoph Werner hinzugezogen. Mitte des 17. Jahrhunderts wiederholten Dr. Jakob Eckolt, Dr. Philipp Ludwig Eben und Dr. Johann Sigmund diese Prüfung, die sie zudem auf die Quelle in Dickenreishausen erweiterten. 139 133 H ANS -W ALTER V OIGTLÄNDER , Preußische Kriegsgefangene in Memmingen. Ein Beitrag zur Geschichte der reichsfreien Stadt während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) (Memminger Forschungen 7), Memmingen 2000, S. 17, 20, 33, 61, 71. 134 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 298. Laut L. M AYR , Bader und Bäder (Anm. 25), S. 49-51, verschmolzen allerdings die Handwerke des Baders, Scherers und Barbiers im Beruf des Chirurgen. Für das Jahr 1810 wurden in einer statistischen Übersicht - Bader und Chirurgen zusammenfasst - insgesamt zehn Meister aufgeführt; vgl. G. VON E HRHART , Physisch-medizinische Topographie (Anm. 41), S. 398. 135 Zur quantitativen Zunahme und qualitativen Differenzierung des Bäderbetriebs im 16. Jahrhundert siehe F RANK F ÜRBETH , Zur Bedeutung des Bäderwesens im Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: H. D OPSCH , Paracelsus und Salzburg (Anm. 3), S. 463-487, hier 479. 136 Zum Bergerbad siehe J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 164, 249 (1632 abgebrannt, 1641 wieder aufgebaut und 1644 für 600 fl. verkauft); vgl. zum ersten dokumentierte Verkauf der Badgerechtigkeit in Memmingerberg StadtA Memmingen, A RP vom 27.1.1578, bei dem sich der Memminger Rat ein dauerhaftes Mitspracherecht sicherte. Zum Bad in Dickenreishausen siehe P H . L. K INTNER Memmingen (Anm. 12), S. 524; L. M AYR -T IEFENBACH , Alt- Memminger Wildbäder, in: MGbl 19 (1933), S. 38-41. 137 P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 12), S. 525; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 199. 138 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 394. 139 C H . S CHORER , Chronik (Anm. 12), S. 31-36; G. VON E HRHART , Physisch-medizinische Topographie (Anm. 41), S. 336. <?page no="171"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 171 Auch in Dankelsried stand die Qualität des dortigen Quellwassers im Mittelpunkt des Interesses. Mit wissenschaftlicher Akribie wurde es von den Memminger Stadtärzten untersucht, die seine besondere Eignung für die damals beliebten Trinkkuren attestierten. 140 Ihr Abschlussbericht Medicinische Instruction von der Beschaffenheit, Nutzen und Gebrauch des im Günz-Thal gelegenen Dankelsrieder Gesundbrunnens von 1740 liest sich passagenweise allerdings weniger wie ein wissenschaftliches Traktat, sondern eher wie eine Werbebroschüre. Da wird die schöne Aussicht auf die Allgäuer Alpen, die panoramische Anordnung der Bäume, die Wasserkunst, mit der man das Wasser in das Kurhaus pumpte, und die Nähe zu den gut ausgestatteten Memminger Apotheken herausgestellt, bevor die Untersuchungsmethoden und -ergebnisse genannt werden. Offenbar versuchte das städtische Unterhospital seine Ökonomie um einen zeitgemäßen Kurbetrieb zu erweitern, was durch die wissenschaftlich aufgemachte Publikation gefördert werden sollte. 141 Bei der Weiterentwicklung im Bereich der Apotheken ergibt sich ein ganz ähnliches Bild. Vordergründig lässt sich eine deutliche Ausdifferenzierung des pharmazeutischen Angebots feststellen. So umfasste die Memminger Taxordnung 1523 noch schmale fünf Seiten. Die novellierte Fassung wuchs 1563 auf 16 und 1654 auf 61 Seiten an. 142 Dahinter verbergen sich jedoch keine vertieften wissenschaftlichen Erkenntnisse über neue Wirkstoffe. Der Anstieg der Zahl aufgeführter Produkte ist vielmehr das Ergebnis einer längeren Entwicklung, die bereits im 16. Jahrhundert einsetzte. Anstelle wirklich neuer Medikamente entwickelten die Apotheken aus einem Medikament, wie z. B. dem Theriak, mehrere Unterprodukte, die im Kern keine andere oder neue Wirksamkeit entfalteten, oder sie differenzierten einzelne Produktgruppen stärker aus. 143 Wurde 1523 schlicht zwischen Sirup mit Zucker und Sirup mit Honig unterschieden, listete die Ordnung von 1654 insgesamt 86 verschiedene Sirups auf. Diese Entwicklung folgt weitaus stärker marktwirtschaftlichen als medizinischen Prinzipien, denn mit Hilfe der Taxordnungen wurden die Preise durch die Obrigkeit über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg weitgehend stabil gehalten. Einkommenszuwächse ließen sich also nur durch eine Ausweitung des Angebots erzielen, u. a. auch durch die Aufnahme von Hölzern, Blüten oder Mineralien. Nicht umsonst setzten sich die Streitigkeiten zwischen den Apothekern und 140 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 349f. zum Jahr 1736. 141 P HILIPP J ACOB D ITTEL / J OHANN D AVID W OGAU / B ALTHASAR E HRHART , Medicinische Instruction von der Beschaffenheit, Nutzen und Gebrauch des im Günz-Thal gelegenen Dankelsrieder Gesundbrunnens, Memmingen 1740, S. 5-11; siehe auch J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 402. 142 StadtA Memmingen, A 402/ 1-3: Taxordnungen aus den Jahren 1523, 1563, 1654. 143 1523 wurde nur zwischen Theriak und Mithridat einerseits sowie anderen Opiaten andererseits unterschieden. 1654 werden dagegen 17 verschiedene Opiate aufgeführt; StadtA Memmingen, A 402/ 1. <?page no="172"?> P EER F RI ES S 172 Materialisten um die Frage, wer was verkaufen durfte, gerade auf diesem Feld ungebrochen bis ins 18. Jahrhundert fort. 144 Die Epoche der Aufklärung hat offenbar nur wenige Spuren im Medizinalwesen der Reichsstadt Memmingen hinterlassen. 145 Die akademisch gebildeten Stadtärzte standen zwar in zeittypischer Manier mit anderen Ärzten in Süddeutschland in regem Briefwechsel. 146 Johann Balthasar Ehrhart engagierte sich zudem für die durch das Nürnberger Ärztekollegium 1731 gegründete medizinische Wochenschrift ›Commercium litterarium‹. 147 Wegen seiner naturkundlichen Belemniten-Forschungen war er sogar zum Mitglied der Leopoldina gewählt worden. 148 Der Memminger Bevölkerung brachte das allerdings wenig. Gegen die nach wie vor grassierenden Epidemien wussten auch die Memminger Ärzte des 18. Jahrhunderts keine wirksame Therapie. 149 So blieb oft nichts anderes übrig, als über ganze Ortschaften eine 144 StadtA Memmingen, A 403; vgl. oben Anm. 109. Die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Arzneimitteltherapie im 17. und 18. Jahrhundert scheint in Memmingen keine Resonanz gefunden zu haben; vgl. G ÜNTHER S TILLE , Kräuter, Geister, Rezepturen. Eine Kulturgeschichte der Arznei, Stuttgart 2004, S. 82-112. 145 Zur allgemeinen Entwicklung siehe T HOMA B ROMAN , Zwischen Staat und Konsumgesellschaft: Aufklärung und die Entwicklung des deutschen Medizinalwesens im 18. Jahrhundert, in: B. W AHRIG / W. S OHN , Genese des Medizinalwesens (Anm. 4), S. 91-107. 146 R UTH H EINZELMANN , Johann Balthasar Ehrhart (1700-1756) und seine Korrespondenz mit Christoph Jacob Trew (1695-1769), Diss. Erlangen 2011. Der wissenschaftliche Briefwechsel mit gelehrten Kollegen war eine in Memmingen seit dem Spätmittelalter gepflegte Kultur. Als Beispiele seien genannt: der Briefwechsel zwischen Nikolaus Ellenbog und Jakob Stoppel zwischen 1504 und 1532 sowie der Briefwechsel zwischen Nikolaus Ellenbog und Bartholomäus Wolfhart aus dem Jahr 1540; siehe Datenbank Frühneuzeitliche Ärztebriefe des deutschsprachigen Raumes 1500-1700, hier z. B. www.aerztebriefe.de/ id/ 00018595 und www.aerztebriefe.de/ id/ 00022972. Dabei werden medizinische Fragen, aber auch Medikamente und astrologische Gutachten thematisiert. Als Beispiel für das 17. Jahrhundert sei auf Jakob Eckolt verwiesen, der zwischen 1623 und 1625 mehrere Krankenberichte und Beobachtungen zum Zwecke wechselseitiger fachlicher Konsultationen an seinen Ulmer Kollegen Gregor Horst sandte; vgl. z. B. http: / / www.aerztebriefe.de/ id/ 00028843. 147 A NNEMARIE K INZELBACH / M ARION M ARIA R UISINGER , Trading Information. The City of Nuremberg and the Birth of a Latin Medical Weekly, in: A. M ENDELSOHN u. a. (Hg.), Civic Medicine (Anm. 49), S. 286. 148 R UDOLF H IRSCH , Art. Ehrhart, Johann Balthasar, in: NDB 4, Berlin 1959, S. 358. 149 1665 erkrankten zahlreiche Bürger an »ungarische[m] Fieber«, 1672 grassierte die rote Ruhr, 1680 die Blattern, 1713 eine ansteckende Krankheiten im Umland. Diese führte dazu, dass man verfügte, von dort keine Kleider mehr zu kaufen und die Briefe in Essig zu tauchen. 1729 herrschte im Winter in fast jedem Haus »heftiger Husten und Katharr«; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 276, 326, 340f. Weitere Epidemien folgten: 1763 die Ruhr, 1792 das Wechselfieber, 1793/ 94 die Ruhr, 1795/ 96 Typhus, 1798 die Blattern; G. VON E HR - HART , Physisch-medizinische Topographie (Anm. 41), S. 19f., 24, 401-403. <?page no="173"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 173 Quarantäne zu verhängen, wie es 1669 mit Erkheim geschah. 150 Auch die Behandlungsmethoden muten nach wie vor archaisch an. So hoffte man 1698, den von einem tollwütigen Hund gebissenen Sohn des Stadtarztes Dr. Jakob Wachter dadurch zu retten, dass man ihm die Leber des Hundes zu essen gab. 151 Die Bemühungen im Jahre 1766, die von einem tollwütigen Hund gebissene Näherin Elisabeth Baumer durch die Amputation des Beines zu retten, scheiterten ebenfalls. 152 Gegen die epidemisch auftretenden Seuchen wie Typhus oder Ruhr und die endemischen Krankheiten wie Pocken, Scharlach oder Masern stand auch im 18. Jahrhundert kein wirksames Mittel zur Verfügung. Noch 1793/ 94 versuchten die Memminger Ärzte die grassierende Ruhrepidemie mit Aderlass zu bekämpfen. Neu waren lediglich erste Versuche, durch Variolation einen gewissen Schutz vor den wiederkehrenden Pockenepidemien zu erreichen. 153 Grundlegendere und für die Bevölkerung wirklich spürbare Veränderungen des Memminger Gesundheitssystems bzw. des medikalen Marktes der Reichsstadt erfolgten nur im Bereich der Geburtshilfe. War die Aufgabe, den werdenden Müttern in der Schlussphase der Schwangerschaft und während der Geburt zu helfen, im Spätmittelalter ausschließlich Sache der städtischen Hebammen gewesen, beschloss der Rat auf Initiative der Stadtärzte am 30. Mai 1578, den Hebammen eine eigene Ordnung zu geben, die unter anderem festlegte, dass eine Hebamme in Memmingen 150 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 274. 151 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 293. 152 P HILIPP L. K INTNER , Memmingen vor 250 Jahren - eine »tolle« Geschichte, in: MGbl 2008, S. 185-213, hier 187f., Transkription des ärztlichen Berichts 209f. 153 Ob die von Gottlieb von Ehrhart nach eigener Aussage seit 1786 praktizierte Inokulation von Blattern Nachahmer in Memmingen gefunden hat, ist allerdings nicht belegbar. Zumindest die von ihm 1798 behandelten 40 Kinder haben überlebt; G. VON E HRHART , Physischmedizinische Topographie (Anm. 41), S. 403. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Petz in diesem Band. Zum Quellenwert der Physikatsberichte siehe P ETER F ASSL , Die Physikatsberichte als historische und volkskundliche Quelle, in: G ERHARD W ILLI (Bearb.), Volks- und landeskundliche Beschreibungen »Entlang der Iller«. Die Physikatsberichte der Stadtbzw. Landgerichte Neu-Ulm, Roggenburg, Illertissen, Babenhausen, Memmingen, Ottobeuren und Grönenbach (1858 ‒ 1861) (Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 4), Augsburg 2013. Vgl. auch E BERHARD J. W ORMER , Die bayerischen Physikatsberichte aus medizingeschichtlicher Sicht. Landgerichtsärzte, medizinische Praxis und die Perspektive des Kranken, in: P ETER F ASSL / R OLF K IESSLING (Hg.), Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen (Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde 2), Augsburg 2003, S. 125-142. Generell war die Kindersterblichkeit in Memmingen während der Frühen Neuzeit relativ hoch. Vgl. dazu A DOLF H AIL , Die Sterblichkeit der Stadt Memmingen in den Jahren 1644 bis 1870, Diss. München-Berlin 1937, S. 10, der auf das »Unmodernwerden« des Selbststillens als möglicher Ursache für die hohe Kindersterblichkeit verweist. Vgl. den Beitrag von Christine Werkstetter in diesem Band. <?page no="174"?> P EER F RI ES S 174 erst dann bei Schwangerschaft und Geburt helfen durfte, wenn sie vorher eine Lehrzeit absolviert hatte. 154 Außerdem wurde in derselben Sitzung festgelegt, dass zukünftig keine Frau als Hebamme arbeiten dürfe, die nicht von den Ärzten im Beisein der geschworenen Frauen […] examiniert vnd darzu taugenlich erkhanndt vnd befunden. 155 Ein Jahr später wurden alle amtierenden Hebammen verpflichtet, bei der Ausbildung neuer Hebammen mitzuwirken und ihnen in der Praxis beizustehen. Dafür zahlte ihnen der Rat jeweils ein jährliches Lehrgeld von 2 fl. 156 Diese Regelungen blieben bis ins 18. Jahrhundert hinein im Kern unverändert. Die Erneuerung der Hebammenordnung im Jahre 1668 änderte an den Verpflichtungen und Kompetenzen nichts. Es wurde lediglich die acht Punkte umfassende Liste der Examensfragen auf 14 erweitert und ausdifferenziert. 157 Auch in der 1729 veröffentlichten Abhandlung über die Ausbildung der Memminger Hebammen spielen die approbierten Ärzte für die Praxis der Geburtshilfe keine besondere Rolle. Sie hatten aber damit begonnen, an der Aus- und Weiterbildung der Hebammen mitzuwirken. 158 1739 trat dann erstmals ein Accoucheur in Memmingen in Erscheinung. 159 Der Chirurg und Geburtshelfer Christian Heil hatte angefragt, welche Gebühren er für seine Hilfe bei schweren Geburten erheben dürfe. In dem daraufhin von den Stadtärzten erstellten Gutachten wurden vergleichsweise hohe Beträge von 5-6 fl. bei ärmeren Mitbürgern und bis zu 12 fl. für durchschnittlich vermögende Handwerkerhaushalte genannt. Mit den Wohlhabenderen sollten diskrete Absprachen getroffen werden, was bedeutet, dass hier noch höhere Summen flossen. Im selben Gutachten regten die Ärzte an, die alte Hebammenordnung zu reformieren, um die mittlerweile beschlossenen Neuerungen umfassend zu kodifizieren. 160 In der wenige Wochen später im Druck erschienenen novellierten Hebammenordnung wurde 154 StadtA Memmingen, A 406: Hebammenordnung von 1578 mit dem Fragstückh darauff ein jede hebamm verhöret werden solle. Mit Frauenheilkunde an sich beschäftigten sich die Memminger Ärzte aber wohl schon früher, wie eine auf 1564 datierte Widmung des Züricher Arztes Caspar Wolf in seiner 1566 in Basel erschienenen Sammlung Gynaeciorum hoc est de mulierum tum aliis, tum gravidarum […] libri […] aliquot für die Memminger Kollegen Johanns Funk und Marx Wolffhart nahelegt. 155 StadtA Memmingen, A RP vom 30.5.1578. 156 StadtA Memmingen, A RP vom 22.5.1579. 157 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Hebammenordnung von 1578 renoviert am 21.2.1668. 158 Der Kayserl. und deß H. R. Reichs Freyen Stadt Memmingen Ordnung samt des Collegii Medici allda nothwendigem Unterricht für die bestellten Hebammen, Memmingen 1729 (Stadtbibliothek Memmingen, Medizinalia 18,21). 159 Das widerlegt die Darstellung von Unold, der zum Jahre 1775 die Leistungen des besonders in der Entbindungskunst bekannten Dr. Ehrhardt erwähnt und weiter schreibt: »Immer waren hier die Herren Doktoren zugleich Akkoucheurs und wünschten, die Stadt möge nie einen Akkoucheur lernen lassen.« J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 427. 160 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Gutachten der drei Stadtärzte vom 3.12.1739. <?page no="175"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 175 dann tatsächlich die Organisation der Ausbildung genauer festgelegt und anstelle des ehemaligen Dreier-Gremiums der geschworenen Frauen das neue Amt eines Hebammenmeisters eingeführt. 161 Auf der Grundlage zahlreicher Dokumente, die seine Fachausbildung in Straßburg belegen, konnte sich Christian Heil dieses Amt sichern. 162 In den folgenden 30 Jahren war er nicht nur bei vielen schwierigen Geburten dabei, er übernahm auch neben den Stadtärzten Teile der Ausbildung der neuen Hebammen und gehörte regelmäßig der Examenskommission an, die sowohl die grundlegende Eignung einer Memmingerin für die Ausbildung zur Hebamme als auch die abschließende Prüfung ihrer erlangten Qualifikation übernahm. 163 Das gesamte städtische Personal, das Frauen bei der Geburt unterstützte, erhielt im Gegensatz zu früheren Zeiten mittlerweile ein festes Grundgehalt, was vermutlich dazu beitragen sollte, dass auch weniger wohlhabende Frauen in der Stadt und in den Dörfern des Memminger Territoriums eine professionelle Geburtshilfe erhielten. 164 Die im Spätmittelalter noch weitgehend autonom arbeitenden Hebammen waren dadurch allerdings zu städtischen Angestellten geworden, die man außerdem unter die Aufsicht männlicher Spezialisten gestellt hatte. 165 Neben diesen personellen und strukturellen Veränderungen gab es im Bereich der Geburtshilfe eine praktische Weiterentwicklung. Insbesondere durch Dr. Jodokus Ehrhart wurde die Verwendung der Geburtszange eingeführt und wohl auch erfolgreich angewandt. Er hatte sich eingehend mit Fragen der Gynäkologie beschäftigt und publizierte 1773 eine Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshilfe. 166 161 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Nota wegen Accoucheur und der Hebammen Bestallung 1758. 162 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Gedruckte Hebammenordnung 1740. 163 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Diverse Atteste aus den Jahren 1757, 1758, 1763, 1766, 1767, 1770. 164 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Aktennotiz aus dem Jahre 1758; darin wird ausgeführt, dass anstelle der geschworenen Frauen ein Accoucheur angestellt sei, der jährlich 80 fl., 3 Waldklafter Holz, 1 Scheffel Korn und 1 Scheffel Roggen bekam. Die fünf Hebammen erhielten jede 20 fl. Jahresgehalt und 3 Waldklafter Tannenholz. Für die Ausbildung standen dem Hebammenmeister 10 fl. und der Lehrfrau auch 10 fl. zu. Für das Examen erhielten die Prüfer zusammen 8 fl. 165 In der Liste der Anstellungsgebühren für städtische Ämter aus dem Jahre 1738 tauchten Hebammen noch nicht auf. Vgl. J ULIUS M IEDEL , Reichsstädtische Ämter in Memmingen, in: MGbl 16 (1930), S. 40; 17 (1931), S. 2. 166 Vgl. J ODOKUS E HRHART , Dissertatio medica de methodo medendi morbis, quae adstruit: per morbos produci salutares effectus, Jena 1761; D ERS ., Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshülfe, Frankfurt-Leipzig 1773. Zur Verwendung der Geburtszange siehe ebd., S. 31. Jodokus Ehrhart war in verschiedenen naturwissenschaftlichen Gesellschaften aktiv und pflegte eine gelehrte Korrespondenz mit so berühmten Ärzten wie Albrecht von Haller und Johannes Geßner; vgl. C HRISTINE W ERKSTETTER , »… eine so gefährlich güfftig und an- <?page no="176"?> P EER F RI ES S 176 Vor diesem Hintergrund sah er sich als der eigentlich Berufene, die Hebammen auszubilden und schwierigere Geburten zu betreuen. Sein Bemühen, hier exklusiv aktiv zu werden, führte allerdings bereits seit 1769 zu erheblichen Spannungen innerhalb der Ärzteschaft. Um den seit Jahrzehnten etablierten Accoucheur Christian Heil aus seiner Position zu verdrängen, mobilisierte Ehrhart sogar seinen Schwiegervater, den Leutkircher Bürgermeister Gottlieb Seiler, der sich in einem Schreiben vom 7. September 1771 an den Memminger Rat für ihn einsetzte. Darin beklagt er, dass sein Schwiegersohn beim Accouchment immer auf die saithe gesetztet - vnd solches dem altten Christian Heil zugeschantzt werde. Außerdem übernähmen seine Kollegen auch die in der Ordnung von 1740 eingeführte wöchentliche Hebammenlehre, was Ehrhart ganz alleine gebühre. 167 In ihrer Erwiderung verweisen die beiden Kollegen, Dr. Johann Georg Kölderer und Dr. Johann Konrad von Wogau, darauf, dass seit vielen Jahren eine alternierende Rollenverteilung praktiziert werde. Dem Arzt, der turnusgemäß die Aufgabe habe, kostenlos die Patienten in den städtischen Fürsorgeanstalten zu betreuen, sei es auch vorbehalten, alle anderen anfallenden offiziellen Aufgaben zu übernehmen, damit solcher Gestalt derjenige, welcher diese Geschäfte, die nichts eintragen, verricht[e], auch diejenigen desselben Jahr[s] zu gleicher Zeit habe, die noch einigen Verdienst abwerfen. 168 Und dazu zählte eben auch die Ausbildung der Hebammen. Die zunehmend persönlich geführte Auseinandersetzung wurde von beiden Seiten sogar an die Öffentlichkeit getragen. Dr. Ehrhart fügte in seine Publikation zur Geburtshilfe mehrere Invektiven gegen Dr. Kölderer ein, 169 und dieser antwortete mit einer Streitschrift, in der er seinem Kollegen direkt vorwarf, aus Eigennutz den verdienten Accoucheur der Stadt um sein Einkommen zu bringen. 170 In diesem Konflikt, der hier nicht detailliert nachgezeichnet werden kann, ging es offenkundig nicht alleine um Rangstreitigkeiten oder um die Beharrungskraft tradierter Praktiken gegenüber neuen Methoden, sondern auch um den privilegierten Zugang zu einem einträglichen Bereich des Memminger Gesundheitsmarktes. stekende Krankheit« und »… warum es die Juden vorzüglich betroffen habe«. Zum Seuchendiskurs im 18. Jahrhundert, in: R. K IESSLING / W. S CHEFFKNECHT (Hg.), Umweltgeschichte (Anm. 9), S. 287-313, hier 304. 167 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Schreiben Gottlieb Seilers vom 7.9.1771. 168 StadtA Memmingen, A 406/ 1: Stellungnahme von Dr. Wogau und Dr. Kölderer vom 23.4.1772. 169 J ODOKUS E HRHART , Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshilfe, Leipzig 1773, Vorrede S. XXVII, XXX-XXXIII, XL . Kölderer wird zwar nicht namentlich erwähnt. Für die Zeitgenossen war aber der wiederholt angegriffene »Senior« eindeutig als Dr. Kölderer zu identifizieren. 170 J OHANN G EORG K OELDERER , Anmerkungen über des Herrn Jodokus Ehrhart […] Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshilfe, Leipzig 1774, S. 9f., 16-19, 25f. <?page no="177"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 177 5. Regionale Ausstrahlung des Memminger Gesundheitsmarktes Die medizinische Versorgung der Memminger Bevölkerung war zwar nicht mit den medikalen Angeboten großer Metropolen zu vergleichen. Nach den Maßstäben der Zeit erreichte die Reichsstadt Memmingen jedoch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Niveau, das in personeller, materieller und qualitativer Hinsicht erst wieder in den sehr viel größeren Städten München, Augsburg, Ulm oder Konstanz anzutreffen war. Nutznießer waren auch die Bewohner des Memminger Umlandes. Im Fokus obrigkeitlicher Fürsorge standen nämlich neben der städtischen Bürgerschaft durchgehend auch die Untertanen auf dem Land. Bereits in den Bestallungsurkunden wurde festgehalten, dass die Memminger Stadtärzte sich auch um sie kümmern sollten. Dieser Verpflichtung sind die Physici ebenso nachgekommen wie die Wundärzte und Apotheker. Sowohl durch die Bereitstellung von Medikamenten als auch durch Krankenbesuche, Visitationen und Begutachtungen während kritischer Seuchenzeiten bemühte man sich darum, die Landbevölkerung medizinisch angemessen zu betreuen. 171 Dabei arbeiteten die Memminger Physici mit den lokalen Badern zusammen. Sein 1667 erschienenes Pestbüchlein widmete Christoph Schorer sogar ausdrücklich dem Landvolck/ und ihren jungen Baderen/ welche in solchen Seuchen keine Erfahrung haben. 172 Für alle sichtbaren Ausdruck fand diese in das Umland wirkende medikale Kultur der Reichsstadt im Leprosorium und dem Blatterhauskomplex bei der St. Leonhardskapelle vor dem Kalchtor sowie in den Bädern in Memmingerberg, Dickenreishausen und Dankelsried. Die Reputation der Stadt reichte allerdings weit über die Grenzen des Territoriums hinaus, stand Memmingen doch in der Region im Ruf, über sehr gute medizinische Einrichtungen und sehr erfahrene Fachkräfte zu verfügen. Das zeigte sich etwa am Versuch Zürichs, den Memminger Stadtarzt Dr. Ulrich Wolfhart abzuwerben, oder der an ihn gerichteten Bitte des Obervogts zu Waldburg, sich auch um die 171 StadtA Memmingen, A 407: Stellungnahme zu einem Pestverlauf in Steinheim 11.1.1651. Der Einsatz für das Wohlergehen der Untertanen auf dem Lande wurde beispielsweise auch in der Leichenpredigt auf Adam Zwicker d. J. lobend erwähnt; vgl. J. L ANG , Christliche Predigt (Anm. 113), S. 27. 172 C H . S CHORER , Underricht (Anm. 63). Die dörfliche Badekultur im Memminger Umland ist noch nicht untersucht worden, obwohl sich zahlreiche Belege für dörfliche Badstuben für Benningen, Memmingerberg, Frickenhausen, Illerbeuren, Holzgünz, Woringen, Egg und Erolzheim finden; vgl. L. M AYR ; Bader und Bäder (Anm. 25), S. 41; P ETER B LICKLE , Memmingen (HAB, Teil Schwaben 4), München 1967, S. 249; R OBERT S TEPP , Die Herrschaft Woringen im Mittelalter, Teil III, in: MGbl 1959, S. 13; P ETER B LICKLE , Ortsgeschichte Egg, in: MGbl 1971, S. 48, 62; H ERWIG H OCHDORFER , Regeln des Dorflebens, in: K ONSTANTIN M AIER , Erolzheim. Ein Marktflecken im Illertal, Weißenhorn 1990, S. 67; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 219. <?page no="178"?> P EER F RI ES S 178 truchsessischen Untertanen zu kümmern. 173 Weitere Indikatoren sind die Berufungen Memminger Mediziner zu persönlichen Leibärzten durch die Adeligen der Umgebung. Dr. Cyriacus Weber war Anfang des 16. Jahrhunderts Leibarzt von Adam und Ulrich von Frundsberg, von Johann Graf zu Sonnenberg und Wolfegg sowie von Graf Christoph von Werdenberg. 174 Er behandelte auch die Mutter des Ritters Adam von Stein. 175 Dr. Jakob Stoppel sollte 1515 als medizinischer Betreuer mit dem Abt von Kempten Johann Rudolf von Raitenau ins Wildbad gehen und war 1519 neben seiner Verpflichtung in Memmingen gleichzeitig Stadtarzt von Kaufbeuren. 176 Dr. Marx Wolfhart wurde 1556 Leibarzt des Priors Franziscus Hernich von Buxheim, dessen Nachfolger Lucas Pomisius ihn 1587 ebenfalls engagierte. 177 Dr. Christoph Schorer war gleichzeitig herzoglich württembergischer Rat und Leibarzt des Grafen Franz Fugger zu Kirchberg sowie Arzt der Klöster Ochsenhausen, Ursberg, Ottobeuren, Klosterbeuren und Gutenzell und in den Herrschaften Erolzheim, Osterberg und Grönenbach. 178 Balthasar Ehrhart wurde 1678 als geeigneter Kandidat für den Posten des Hofarztes des Herzogs von Württemberg gehandelt. 179 Jodokus Ehrhart war Leibarzt des Grafen von Babenhausen 180 und sein Sohn Gottlieb von Ehrhart wurde 1789 vom Reichsgrafen Fugger zum Landschaftsphysikus ernannt. 181 Ähnlich renommiert war Konrad von Wogau. Er wurde 1758 vom Reichsgrafen zu Oettingen-Spielberg auf Schwendi, 1767 von Fürstabt Honorius von Kempten sowie 1779 von Bischof Maximilian von Konstanz zum Leibarzt ernannt und kümmerte sich auch um die Gesundheit der Stiftsdamen in Edelstetten. Seit 1760 fungierte er überdies als ordentlicher Arzt aller drei in Memmingen verbliebenen Klöster sowie des Klosters Rot. Sein Sohn Johann Sigmund von Wogau übernahm diese letztgenannten Aufgaben ab dem Jahr 1786. 182 173 Schreiben von Heinrich Bullinger an Ulrich Wolfhart vom 11.12.1549 (Datenbank Frühneuzeitliche Ärztebriefe des deutschsprachigen Raumes 1500-1700, http: / / www.aerzte briefe.de/ id/ 00032599); StadtA Memmingen, A RP vom 24.3.1564. 174 StadtA Memmingen, A 404/ 1; A RP vom 24.3.1564. 175 StadtA Memmingen, A RP vom 12.9.1516. 176 R. K IESSLING , Memmingen im Spätmittelalter (Anm. 51), S. 223. 177 StadtA Memmingen, A 404/ 1: Bestallungen vom 9.8.1556 und 12.11.1587 mit der Zusicherung eines Jahresgehalts von 50 fl. und der zusätzlichen Vergütung jedes einzelnen Behandlungstages vor Ort. 178 F. B RAUN , Schorer (Anm. 38), S. 149 Anm. 30; J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 16), S. 276. 179 Schreiben von Eberhardt Ludwig an die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen vom 15.10.1678 (Datenbank Frühneuzeitliche Ärztebriefe des deutschsprachigen Raumes 1500-1700, www.aerztebriefe.de/ id/ 00006676). 180 J. E HRHART , Sammlung (Anm. 169), Vorrede S. XL. 181 A UGUST H IRSCH , Art. Ehrhart, Gottlieb von, in: ADB 5 (1877), S. 714. 182 G. VON E HRHART , Physikalischmedizinische Topographie (Anm. 41), S. 348-350, 358. <?page no="179"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 179 Andere Adelige erbaten die Unterstützung Memminger Hebammen. Margarethe von Frundsberg hatte sogar ganz konkrete Vorstellungen. Sie wollte unbedingt Katharina Fäcker, da sie von ihrem großen Können und ihrer Erfahrung gehört hatte. 183 In einem Schreiben vom 28. Februar 1556 bat Hans Christoph Vöhlin zu Frickenhausen um die Überlassung einer Hebamme, die seiner Frau bei der Entbindung beistehen sollte. 184 Ganz ähnlich argumentierte Ferdinand von Freyberg am 15. September 1570, der für die Frau des Reichserbmarschalls Alexander von Pappenheim zu Grönenbach ebenfalls eine gute Hebamme gewinnen wollte. Die Erbmarschallin reiste eigens nach Öpfingen an die Donau, um dort gut betreut ihr Kind auf die Welt zu bringen. Und dazu bat Ferdinand von Freyberg den Memminger Rat um Überlassung einer Hebamme, was ihm wie allen anderen auch bewilligt wurde. 185 Nachbarstädte, wie z. B. Ravensburg, Biberach und Kempten, orientierten sich an den Memminger Ordnungen, holten von den Memminger Ärzten fachliche Gutachten ein oder ersuchten den Rat um die zeitweilige Überlassung medizinischen Fachpersonals. 186 Ravensburg sandte noch 1503 eine erkrankte Person ins Memminger Antonierhaus, Mindelheim bat um die Aufnahme einer Kranken ins Blatterhaus. 187 Nicht nur die Grafen zu Rechberg, 188 sondern auch zahlreiche Adelige und geistliche Würdenträger der näheren Umgebung haben die Memminger für einzelne Hintersassen um medizinische Hilfe gebeten. 189 Insbesondere die Äbte von Ochsenhausen wurden wiederholt vor dem Memminger Rat mit der Bitte vorstellig, mittellose junge Frauen ihres Herrschaftsgebietes, die an Syphilis erkrankt waren, zur Holzkur ins Blatterhaus aufnehmen zu lassen. 190 Noch im Jahre 1777 bat der Ortsherr von 183 Vgl. StadtA Memmingen, A 406/ 2: Schreiben von Margarete von Frundsberg vom 14.4., 17.4., 23.4., 4.5. und 26.5.1536. 184 StadtA Memmingen, A 406/ 2: Hans Christoph Vöhlins Schreiben vom 28.2.1556 mit der Bitte um eine Memminger Hebamme. 185 StadtA Memmingen, A 406/ 2: Schreiben Ferdinands von Freyberg und Alexanders zu Pappenheim vom 15. und 18.9.1570, 17.11.1570 und 20.3.1571. 186 StadtA Memmingen, 403/ 1: Anfrage Ravensburgs zur Memminger Apothekerordnung vom 16.7.1568; 406/ 4: Anfragen Biberachs vom 9.12.1604 und Kemptens 28.4.1615, 17.6.1617. 187 StadtA Memmingen, A 408/ 2: Begleitschreiben Ravensburg vom 1503; zu Mindelheim A RP vom 10.4.1564. 188 StadtA Memmingen, A 406/ 4: Schreiben Wilhelm Leo Graf zu Rechberg vom 12.10.1617. 189 StadtA Memmingen, A 408/ 2: Zahlreiche Bittgesuche von 1570-1617. Siehe auch R OLF K IESSLING , Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung A/ 29), Köln-Wien 1989, S. 350, mit weiteren Einzelbelegen für das frühe 16. Jahrhundert. 190 StadtA Memmingen, A 408/ 2: Schreiben der Äbte von Ochsenhausen vom 8.11. und 24.11.1603, 3.8.1612, 3.1., 16.1. und 20.5.1613, 13./ 21.2. und 22.3.1615, 19. und 23.12.1617. <?page no="180"?> P EER F RI ES S 180 Fellheim Franz Marquard Freiherr Reichlin von Meldegg die Memminger Ärzte um Unterstützung bei der Suche nach einer angemessenen Reaktion auf eine überwiegend unter den dort lebenden Juden ausgebrochenen bösartig hitzige[n] Krankheit. 191 Auch der Wirkungskreis Gottlieb von Ehrharts reichte weit über die Grenzen des Memminger Territoriums hinaus. Mit dem Ziel, die Vakzination als Mittel gegen die Pocken zu popularisieren, versandte er kurz nach 1800 Impfstoffe nicht nur an die benachbarten Orte Babenhausen, Ottobeuren oder Balzheim, sondern auch nach Meersburg, Lindau, Ravensburg, Leutkirch, Kempten, Isny, Krumbach und Weißenhorn. 192 Fasst man alle genannten Hinweise auf die Ausstrahlung des Memminger Gesundheitsmarktes zusammen, dann zeigt sich, dass er im engeren Kreis einer 2- Meilen-Zone, die auch wirtschaftlich von großer Bedeutung war, seine stärkste regionale Wirksamkeit entfaltete. 193 Gleichzeitig wird deutlich, dass Memmingen die Funktion eines regionalen medizinischen Zentrums einnahm, dessen Einzugsbereich über den 2-Meilen-Radius hinausreichte und den südlichen Teil Ostschwabens umfasste. 6. Bilanz In seiner 1810 erschienenen Abhandlung ›Ueber das Medizinalwesen in der vormaligen königlich-baier’schen Provinz in Schwaben‹ zeichnet Johann Evangelist Wetzler ein vernichtendes Bild von den medizinischen Verhältnissen in Ostschwaben. In seiner Funktion als Medizinalrat der kurfürstlich bayerischen Landesdirektion für Schwaben habe er seit 1804 nur zu viele grässliche Misshandlungen und Morde verüben sehen, an Kreissenden durch unwissende alte Weiber, die sich herausnahmen, Hebammendienste zu thun; an Kranken durch Bader, Scharfrichter, Abdecker und andere Pfuscher aller Art und sonder Zahl, die sich erfrechten, medizinische Praxis zu treiben. 194 191 Die Ereignisse sind detailliert dargelegt bei C H . W ERKSTETTER , Seuchendiskurs (Anm. 166), S. 290-306, das Zitat 297. 192 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Petz in diesem Band. 193 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 189), S. 527-529. Bei der Ausgestaltung medikaler Räume spielten auch andernorts Patienten auf Grund ihrer Wahlfreiheit eine gewisse Rolle; vgl. B ETTINA W AHRIG / W ERNER S OHN , Einleitung, in: D IES ., Genese des Medizinalwesens (Anm. 4), S. 9-15, hier 10. 194 J OHANN E VANGELIST W ETZLER , Ueber das Medizinalwesen in der vormaligen königlichbaier’schen Provinz in Schwaben, Augsburg 1810, Vorrede S. V. <?page no="181"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 181 Karte 1: Ausstrahlung des Memminger Gesundheitsmarktes 1500-1650 Über mehrere Seiten hinweg zeichnet er in seiner Abhandlung ein Bild, das von Desinteresse der Obrigkeit und Inkompetenz des gesamten medizinischen Personals geprägt war. 195 Den Verhältnissen in Memmingen wurde er damit allerdings nicht gerecht. Während der Frühen Neuzeit hatte sich hier ein differenziertes Gesundheitswesen entwickelt, das bei allen Einschränkungen die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger 195 J. E. W ETZLER , Medizinalwesen (Anm. 194), S. 3-13. <?page no="182"?> P EER F RI ES S 182 sehr viel besser befriedigte, als es Wetzlers Darstellung suggeriert. Ein erheblicher Teil der medizinischen Fürsorgeangebote war kommunal organisiert und finanziert. Das galt sowohl für Spezialeinrichtungen, wie das Blatterhaus, das Toten- und das Gesundhaus, als auch für das Fachpersonal, vom Totenscherer, über den Brechenhausvater bis zum städtischen Wundarzt und zum Physikus. Diese Strukturen hatten sich im 16. Jahrhundert entwickelt und blieben bis ins 18. Jahrhundert hinein erhalten. Zumindest für die Reichsstadt Memmingen könnte man das als eine Art Proto- Medikalisierung deuten, die der in den Territorien erfolgenden Medikalisierung des ausgehenden 18. Jahrhunderts voranschritt, dann allerdings auf dem um 1600 erreichten Niveau stagnierte. Eine Erweiterung erfuhr das kommunale Gesundheitssystem lediglich im Bereich der Geburtshilfe durch die Berufung eines Accoucheurs, die Etablierung eines kontinuierlichen Hebammenunterrichts und die Aufnahme der Hebammen in den Kreis des städtisch besoldeten Personals. Ergänzt wurde diese kommunale Grundversorgung durch privatwirtschaftlich betriebene, aber obrigkeitlich kontrollierte und reglementierte Angebote. Dazu zählte die individuelle Behandlung durch die Physici, Barbiere, Bader, Scherer und Schröpfer ebenso wie die Versorgung mit Medikamenten durch Apotheker, Kramer und Mertzler. Insbesondere im Bereich der Krankenpflege blieben in der spätestens seit 1528 evangelischen Reichsstadt auch Reste altkirchlich-religiöser Angebote erhalten. Daneben boten mehr oder weniger geduldete Laienheiler ihre Dienste an. Zu diesem Graubereich zählten neben den Scharfrichtern, den fahrenden Zahnbrechern und Okulisten auch nichtapprobierte männliche und weibliche Heiler. Den Bürgerinnen und Bürgern Memmingens wie auch den Untertanen in den zum reichsstädtischen Territorium zählenden Dörfern war es vollkommen frei gestellt, wessen Rat sie einholten, von wem sie sich behandeln ließen und bei wem sie sich ihre Medikamente besorgten. Sie konnten aus dem reichhaltigen Angebot medizinischer Dienstleistungen nach eigenem Gutdünken auswählen. Dieses für die Reichsstadt Memmingen während der Frühen Neuzeit charakteristische medikale System wurde hier als medizinischer Markt interpretiert, in dem die zahlreichen Anbieter um die Gunst der Kunden konkurrierten. Die Memminger Obrigkeit griff in diesen Markt ebenso steuernd und reglementierend ein, wie sie es auch beim Lebensmittel- oder Textilmarkt tat. Orientiert an den bereits im Spätmittelalter entwickelten Maximen des ›Gemeinen Nutzens‹, des ›Gerechten Preises‹ und des ›Nahrungsprinzips‹ verfolgten die Ratsherrn zwei konkrete Ziele. Zum einen sollte für Arm und Reich stets ein quantitativ und qualitativ angemessenes medizinisches Fürsorgeangebot bereitgehalten werden. Dafür war man bereit, relativ hohe Gehälter zu bezahlen, teure Einrichtungen zu finanzieren sowie Examina und Visitationen zur Qualitätskontrolle durchzuführen. Zum anderen sollte der medizinische Markt so reguliert werden, dass alle Beteiligten ihr Auskommen fanden. <?page no="183"?> D ER M EMMING ER G ES UNDH EIT S MA RKT IN DER F RÜHEN N E UZEIT 183 Das Ringen um Marktanteile verbunden mit dem Bestreben der studierten Ärzte, eine herausgehobene Position in diesem System für sich zu erlangen und zu sichern, führte allerdings immer wieder zu Konflikten. Mit wiederholt angepassten Taxordnungen, Ausbildungs-, Prüfungs- und Beschäftigungsregelungen sowie insbesondere durch Kompetenzabgrenzungen zwischen den einzelnen Professionen bemühte sich die Obrigkeit, schlichtend einzugreifen, was jedoch nie abschließend gelang. Die Politik des Rates auf dem Feld des Gesundheitswesens ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass die divergierenden bzw. konfligierenden Interessen zwischen den verschiedenen offiziellen Professionen und zwischen approbierten bzw. nichtapprobierten Heilern immer wieder aufs Neue ausbalanciert werden mussten. 196 Dieser Befund stützt die Modellvorstellung der »medikalen Vergesellschaftung« von Francisca Loetz, die nicht in einem Antagonismus zwischen approbierten Ärzten und Laienheilern den Motor der Medikalisierung sieht, sondern das Ringen aller Beteiligten um eine optimale medizinische Versorgung in den Vordergrund rückt. 197 Da es offenkundig gelang, durch dieses permanente Ringen ein dynamisches Gleichgewicht der Kräfte zu sichern, blieb die Stadt für kompetente Fachkräfte attraktiv, so dass während der gesamten Frühen Neuzeit ein nach den Maßstäben der Zeit quantitativ und qualitativ anspruchsvolles medizinisches Angebot vorgehalten werden konnte. Die Reputation der Reichsstadt auf diesem Feld schuf dem medizinischen Markt Memmingens ein Einzugsgebiet, das deutlich über die Grenzen des eigenen Territoriums hinauswirkte. Diese raumwirksame Komponente des Memminger Gesundheitswesens fügt sich sehr gut in das schon länger bekannte Bündel ökonomischer, kultureller, rechtlicher und politischer Faktoren ein, das Memmingen in der Frühen Neuzeit zu einem regionalen Zentrum Oberschwabens gemacht hat. 198 196 Dies galt auch für Konflikte innerhalb einer Berufsgruppe. So ermahnte der Rat z. B. die Barbiere zu mehr friedlicher Kooperation, weil der Streit unter ihnen letztlich den Kranken schade; StadtA Memmingen, A RP vom 22.2.1581. 197 F. L OETZ , Medikalisierung (Anm. 3), S. 148-153; das Modell der medizinischen Vergesellschaftung wird ausführlich entwickelt in: D IES , Vom Kranken zum Patienten (Anm. 4), S. 304-316, hier v. a. 314. 198 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 190), S. 795-799. <?page no="185"?> 185 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Segner oder gelehrter Mediziner? Die medizinische Tätigkeit der frühneuzeitlichen Scharfrichter im Bodenseeraum und in Oberschwaben 1. Einleitung Die medizinische Tätigkeit der Scharfrichter in der Frühen Neuzeit hat die Forschung seit jeher fasziniert. Die Zuweisung der professionellen Strafvollstrecker zu den unehrlichen Leuten und die Tatsache, dass ihre Unehrlichkeit mitunter durch Berührung übertragen werden konnte, erschien im Kontext ihrer häufig bezeugten ärztlichen und veterinärmedizinischen Praxis als ein Widerspruch, der meistens dadurch aufgelöst wurde, dass diese in den Bereich des Geheimen, des Magischen verwiesen und so gewissermaßen zu einer ›alternativen‹ Medizin umgedeutet wurde. Auch mit der - selten genug durch Quellen untermauerten - Behauptung, bei den Patienten der Scharfrichterärzte habe es sich selbst um gesellschaftlich Deklassierte und Ausgegrenzte gehandelt, meinte man das scheinbar Widersprüchliche erklären zu können. 1 Zu diesen beiden ›Klischees‹ der Scharfrichtermedizin gesellte sich ein drittes, das durch eine ganz spezifische Quellenlage bedingt war. Da wir bis heute über nur relativ wenige Nachlässe oder persönliche Papiere von frühneuzeitlichen Henkern verfügen, 2 sind wir zum allergrößten Teil auf amtliches Schriftgut angewiesen. In den Verhörprotokollen, den Urteilen und Rechnungsbüchern spiegelt sich 1 So beispielsweise A LBRECHT K ELLER , Der Scharfrichter in der deutschen Kulturgeschichte, Hildesheim 1968 (Nachdruck der Ausgabe Bonn-Leipzig 1921), S. 224-237. 2 Vgl. J. M. F. v. E NDTER (Hg.), Meister Frantzen Nachrichter alhie in Nürnberg, all sein Richten am Leben, so wohl seine Leibs Straffen, so Er ver Richt, alles hierin Ordentlich beschrieben, aus seinem selbst eigenen Buch abgeschrieben worden; Genau nach dem Manuscript abgedruckt, Nürnberg 1801 (Nachdruck Harenberg 1980); Neuedition: Das Tagebuch des Franz Schmidt (Maister Franntzn Schmidt Nachrichters in Nürnberg all sein Richten), in: Hinrichtungen und Leibstrafen. Das Tagebuch des Nürnberger Henkers Franz Schmidt (Schriften aus dem Henkerhaus 2), 2. Aufl. Nürnberg 2015, S. 9-119; G ISELA W ILL - BERTZ , Das Notizbuch des Scharfrichters Johann Christian Zippel in Stade (1766-1782), in: Stader Jahrbuch NF (1975), S. 59-78; P ETER P UTZER (Hg.), Das Salzburger Scharfrichter Tagebuch (1757-1817) (Schriften des Instituts für historische Kriminologie 1), St. Johann- Wien 1985, S. 51-87; R UTH S CHILLING , Johann Friedrich Glaser (1707-1789). Scharfrichtersohn und Stadtphysikus in Suhl (Veröff. der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 40), Köln u. a. 2015, S. 189-227. <?page no="186"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 186 einseitig die Tätigkeit der Scharfrichter als Strafvollstrecker wider. Wir sind also in der Lage, einigermaßen zu rekonstruieren, wann sie wo die Peinliche Frage, Körper- oder Todesstrafen vollzogen haben. Ihre ärztliche oder veterinärmedizinische Tätigkeit fand in den amtlichen Quellen aber meistens nur dann Eingang, wenn es deswegen zu Konflikten kam. So musste fast zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass es sich dabei um eine reine Nebentätigkeit der Henker gehandelt habe, bestenfalls um eine Art ›Zubrot‹. Die jüngeren Forschungen - stellvertretend sei hier in alphabetischer Reihenfolge auf Hester Margreiter, 3 Jutta Nowosadtko, 4 Kathy Stuart 5 und Gisela Wilbertz 6 verwiesen - haben diese Vorstellungen gründlich widerlegt oder wenigstens dazu geführt, sie zu hinterfragen. In diesem Beitrag soll zunächst nachgezeichnet werden, welcher Art die scharfrichterliche Medizin war und welche Position sie auf dem frühneuzeitlichen Gesundheitsmarkt einnahm. Zum zweiten soll der Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Scharfrichter als Strafvollstrecker und ihrer medizinischen Kompetenz beleuchtet werden. Danach soll ein kurzer Blick auf weitere Aufgaben geworfen werden, die die Scharfrichter in den regionalen Gesundheitssystemen wahrgenommen haben. Und zum Schluss soll schließlich noch danach gefragt werden, inwiefern regionale Voraussetzungen wie Struktur, Größe oder Wirtschaftskraft einer Herrschaft die obrigkeitliche Akzeptanz gegenüber der medizinischen Tätigkeit der Scharfrichter beeinflusst haben. 3 H ESTER M ARGREITER , Der Henker als Heiler. Medizin als Nebenerwerbsstrategie frühneuzeitlicher Scharfrichter, Dipl. Innsbruck 2015. 4 J UTTA N OWOSADTKO , Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben. Scharfrichter und Wasenmeister als Heilkundige in der Frühen Neuzeit, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 12 (1993), S. 43-74; D IES ., Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier »unehrlicher Berufe« in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994. 5 K ATHY S TUART , Des Scharfrichters heilende Hand - Medizin und Ehre in der Frühen Neuzeit, in: S IBYLLE B ACKMANN u. a. (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana 8), Berlin 1998, S. 316-348; D IES ., Unehrlichkeitskonflikte in Augsburg in der frühen Neuzeit, in: ZHVS 83 (1990), S. 113-128; D IES ., Unehrliche Berufe. Status und Stigma in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs (Veröff. SFG 1/ 36), Augsburg 2008. 6 G. W ILBERTZ , Notizbuch (Anm. 2); D IES ., Der Abdecker - oder: Die Magie des toten Körpers. Ein Beruf im Umgang mit Tier- und Menschenleichnamen, in: M ARKWART H ERZOG / N ORBERT F ISCHER (Hgg.), Totenfürsorge - Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination (Irseer Dialoge 9), Stuttgart, S. 89-120. <?page no="187"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 187 2. ›Segner‹ oder gelehrter Mediziner? - Arten der Scharfrichtermedizin Die medizinische Tätigkeit der frühneuzeitlichen Scharfrichter ist für das Heilige Römische Reich und die Schweizer Eidgenossenschaft vielfach bezeugt. Entsprechende Zeugnisse lassen sich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - bringen für Luzern (16./ 18. Jahrhundert, mit Resten bis ins frühe 19. Jahrhundert), 7 Chur (17. bis frühes 19. Jahrhundert), 8 Zürich (17. Jahrhundert), 9 Bern (16. bis 18. Jahrhundert), 10 St. Gallen (17./ 18. Jahrhundert), 11 Schaffhausen (17. Jahrhundert), 12 den Thurgau (18. Jahrhundert), 13 für die meisten Städte des Elsasses und Lothringens, 14 7 A. D ETTLING , Die Scharfrichter des Kantons Schwyz, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 20 (1909), S. 1-204, hier 195-199; noch 1822 wurde dem Vogt des jungen Scharfrichters empfohlen, einen Wasenknecht anzustellen, der nicht nur in der Tiermedizin bewandert sei, sondern der sich auch auf die Behandlung von menschlichen Arm- und Beinbrüchen verstehe (S. 199); D ORIS H UGGEL , Abdecker und Nachrichter in Luzern, fünfzehntes bis neunzehntes Jahrhundert, in: J ÜRG M ANSER u. a. (Hg.), Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke (16.-19. Jahrhundert). Archäologische und historische Untersuchungen zur Geschichte von Strafrechtspflege und Tierhaltung in Luzern, Bd. 2 (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 19), Basel 1992, S. 193-221, hier 197, 208f. 8 M ARTIN S CHMID , Die Geschichte des Bündner Scharfrichters, in: Bündner Monatsblatt 12 (1915), S. 413-419, hier 416; P ETER R ÖTHLISBERGER , Aussenseiter Scharfrichter. Die Spielregeln in der Stadtchurer Gesellschaft an der Wende zur Neuzeit, in: Bündner Monatsblatt 5 (1996), S. 319-331, hier 323. 9 M ARC S TEINFELS / H ELMUT M EYER , Vom Scharfrichteramt ins Zürcher Bürgertum. Die Familie Vollmar-Steinfels und der Schweizer Strafvollzug, Zürich 2018, S. 199-204. 10 P ETER S OMMER , Scharfrichter von Bern, Bern 1969, S. 72f. 11 C ARL M OSER -N EF , Die freie Reichsstadt und Republik St. Gallen, Bd. 7: Das Strafverfahren, Zürich-Leipzig 1955, S. 172, 176-180. 12 O TTO K ELLER , Apotheken und Apotheker der Stadt Schaffhausen, in: Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 56 (1979), S. 29-142, hier 140. 13 A LFONS B IEGER , Schröpfende Heiler - schwitzende Kranke. Das Thurgauer Medizinalwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Thurgauer Beiträge zur Geschichte 140), Frauenfeld 2004. 14 J. T OUBA , Lothringer Scharfrichter, in: Jahrbuch der Elsaß-Lothringischen wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg 11 (1938), S. 160-184, hier 170. Genauere Angaben über den Umfang und die Dauer der medizinischen Tätigkeit der Lothringer Scharfrichter sowie eine genauere Zuordnung zu den Henkern der einzelnen Gerichtsbezirke fehlen bei Touba leider. <?page no="188"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 188 für Stockach (17./ 18. Jahrhundert), 15 Lindau (16. bis 18. Jahrhundert), 16 Wangen im Allgäu (18. Jahrhundert), 17 Biberach (16. Jahrhundert), 18 Ulm (16. Jahrhundert), 19 Memmingen (16. bis 18. Jahrhundert), Kempten (Fürststift, 17./ 18. Jahrhundert), Kaufbeuren (17./ 18. Jahrhundert), Günzburg (18. Jahrhundert), 20 Augsburg (17. Jahrhundert), 21 München (15. bis 18. Jahrhundert), 22 Schongau (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts), 23 Landau, 24 Frankfurt (15. Jahrhundert), Schwäbisch Hall, 25 Nürnberg 15 H ANS W AGNER , Stockacher Scharfrichter, in: Hegau. Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebiets zwischen Rhein, Donau und Bodensee 17/ 18 (1972/ 73), S. 149-163, hier 159. 16 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Scharfrichter. Vom römischen Carnifex bis zum frühneuzeitlichen Staatsdiener, in: B ERND -U LRICH H ERGEMÖLLER (Hg.), Randgruppen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 3. neu bearbeitete Aufl. Warendorf 2001, S. 122-172, hier 141; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Stigmatisierung und Stigma-Management. Bemerkungen zur Geschichte der Lindauer Scharfrichter in der Frühen Neuzeit, in: B ERND M AR - QUARDT / A LOIS N IEDERSTÄTTER (Hg.), Das Recht im kulturgeschichtlichen Wandel. FS für Karl Heinz Burmeister zur Emeritierung, Konstanz 2002, S. 247-282. 17 A LBERT S CHEURLE , Aus der Geschichte der Heilkunst in der Reichsstadt Wangen im Allgäu. Von Ärzten, Badern und Chirurgen, in: Westallgäuer Heimatblätter 10/ 30 (1965), S. 117-118; D ERS ., Verschwundene Berufe in der ehemaligen Reichsstadt Wangen. Torwärter - Wächter auf den Türmen und Gassen - Scharfrichter, in: Westallgäuer Heimatblätter 11/ 1 (1967), S. 1f. 18 M ARTINA S CHMID , Die Biberacher Scharfrichter, in: S ÖNKE L ORENZ (Hg.), Hexen und Hexenverfolgungen im deutschen Südwesten. Aufsatzband (Volkskundliche Veröff. des Badischen Landesmuseums Karlsruhe 2/ 2), Ostfildern 1994, S. 411-415, hier 413. 19 G ERHARD S CHWARZ , Die Ulmer Scharfrichter nach den Ratsprotokollen 1501-1693, in: Südwestdeutsche Blätter für Familien- und Wappenkunde 14/ 5 (1974), S. 24-28, hier 24f. 20 H ELMUT S CHUHMANN , Der Scharfrichter. Seine Gestalt - seine Funktion (Allgäuer Heimatbücher 67), Kempten/ Allgäu 1964, S. 215-217, 277f. Zu Kaufbeuren auch: A DOLF F UCHS , Geschichte des Gesundheitswesens der freien Reichsstadt Kaufbeuren (Allgäuer Heimatbücher 54), Kempten 1955, S. 123-137; O SKAR K RONSCHABL , Das Kaufbeurer Gesundheitswesen unter besonderer Berücksichtigung der reichsstädtischen Zeit, in: J ÜR - GEN K RAUS / S TEFAN D IETER / J ÖRG W ESTERBURG (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. 3: Sozialgeschichte, Wirtschaftsentwicklung und Bevölkerungsstruktur, Thalhofen 2006, S. 216-233, hier 226-228. 21 K. S TUART , Unehrlichkeitskonflikte (Anm. 5), S. 117-120; H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 215f. 22 J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 4), S. 165-167. 23 F RITZ K UISL , Die Kuisl, Scharfrichter und Wasenmeister von Schongau, in: Der Welf. Jahrbuch des Historischen Vereins Schongau - Stadt und Land 2 (1994), S. 93-100, hier 97. 24 K ARL H EINRICH , Die Landauer Scharfrichter und Wasenmeister in ihrem Leben und Wirken, in: Mitteilungen des historischen Vereins der Pfalz 78 (1980), S. 301-380, hier 308. 25 A NDREAS D EUTSCH , Der Henker als Heiler - dargestellt am Beispiel der Schwäbisch Haller Scharfrichter, in: H ERTA B EUTTER / A RMIN P ANTER / M ARTIN W IDMANN (Hg.), <?page no="189"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 189 (16. Jahrhundert), Donauwörth (17. Jahrhundert), 26 Bochum und Kleve (17. Jahrhundert), 27 Lemgo (17. Jahrhundert), 28 Braunschweig (ab 1559), 29 Stade in Niedersachsen (noch im 18. Jahrhundert), 30 für den gesamten Bereich des ehemaligen Hochstifts Osnabrück (17./ 18. Jahrhundert), 31 für Frauenstein in Sachsen, 32 für die Mark Brandenburg (17./ 18.Jahrhundert), 33 für Bregenz (17. Jahrhundert), 34 Hall und Ärzte, Bader und Barbiere. Die medizinische Versorgung vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reichs. Ausstellungskatalog, Schwäbisch Hall 2011, S. 44-59. 26 W OLFGANG O PPELT , Über die »Unehrlichkeit« des Scharfrichters. Unter bevorzugter Verwendung von Ansbacher Quellen (Lengfelder Libellen 1), Lengfeld 1976, S. 376-378. Zu Nürnberg auch: J OEL F. H ARRINGTON , Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert, München 2014, S. 271-324; S ABINE W ÜST , Meister Frantz. Henker aus »Leidenschaft«, in: W OLFGANG W ÜST / S ABINE W ÜST / M ARKUS H IRTE , Kriminalitätsgeschichte - Tatort Franken (Schriftenreihe der Fränkischen Arbeitsgemeinschaft e. V. 3), St. Ottilien 2020, S. 22-37, hier 35f. 27 G ISELA W ILBERTZ , Von Bochum nach Kleve. Zur Sozialgeschichte von Scharfrichtern und Abdeckern im märkisch-niederrheinischen Raum - Westfalen und Rheinland im Vergleich, in: Der Märker 42/ 3-5 (1993), S. 95-107, 163-176, 211-222, hier 99. 28 G ISELA W ILBERTZ , Der Nachlaß der Scharfrichterfamilie Clauss/ Clausen in Lemgo, in: S ILKE U RBANSKI / C HRISTIAN L AMSCHUS / J ÜRGEN E LLERMEYER (Hg.), Recht und Alltag im Hanseraum. FS für Gerhard Theurkauf zum 60. Geburtstag (Die Sulte 4), Lüneburg 1993, S. 439-461, hier 454f. 29 G ISELA W ILBERTZ , Scharfrichter und Abdecker - Aspekte ihrer Sozialgeschichte vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: B ERND -U LRICH H ERGEMÖLLER (Hg.), Randgruppen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch, 2. neubearbeitete Aufl. Warendorf 1994, S. 121-156, hier 148. 30 G. W ILBERTZ , Notizbuch (Anm. 2), S. 59-78. 31 G ISELA W ILBERTZ , Scharfrichter und Abdecker im Hochstift Osnabrück. Untersuchungen zur Sozialgeschichte zweier »unehrlicher« Berufe im nordwestdeutschen Raum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 22), Osnabrück 1979, S. 67-76. 32 A LEXANDER K ÄSTNER , Die zufriedenen Kunden und die unzufriedene Konkurrenz eines Pfuschers. Johann Christian David Zipser als Abdecker, Scharfrichter und Heiler in Frauenstein, in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz 2 (2016), S. 20-30. 33 I LSE S CHUMANN , Forschungen zu brandenburgischen Scharfrichter- und Abdeckerfamilien. Eine Zwischenbilanz, in: Herold-Jahrbuch NF 1 (1996), S. 127-156, hier 148-150. 34 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Fahrende Leute und Scharfrichter. Beispiele für nicht-seßhafte und seßhafte Außenseiter und Randgruppen in der Geschichte Vorarlbergs, in: Dornbirner Schriften. Beiträge zur Stadtkunde 8 (1990), S. 23-51, hier 41. <?page no="190"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 190 Meran 35 sowie für Eger (16. Jahrhundert). 36 Die Dichte der Belege ist so groß, dass wir wohl von einem flächendeckenden Phänomen des Alten Reiches und der Alten Eidgenossenschaft ausgehen können. Ein genauer Blick auf die Einzelbelege zeigt, dass wir es bei der Scharfrichtermedizin keineswegs mit einer einheitlichen Form der Heilkunde zu tun haben. Ihre Vielfalt zeigt sich schon in der kleinteiligen Welt des Bodenseeraumes und Oberschwabens. Sowohl in regionaler als auch in zeitlicher Hinsicht lassen sich etliche Unterschiede feststellen. Veränderungen entlang der Zeitachse zeigen sich besonders deutlich in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Lindau. Hier behandelten die Scharfrichter ihre Patienten noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfolgreich mit dem so genannten Segenswerk. Dabei wurden Krankheiten mit Hilfe von magischen Sprüchen, Segensformeln und Ritualen bekämpft. 1587 untersagte der reichsstädtische Rat diese Praxis. Im Dienstrevers des neuen Scharfrichters Othmar Teubler heißt es dazu, er solle sich aller segen werckhs und dergleichen sachen gänzlich enthalten. Dagegen wurde ihm ausdrücklich erlaubt, Kranken durch Natturliche Mittel Hilff [zu] erzeigen. 37 Die Scharfrichtermedizin sollte hier also Ende des 16. Jahrhunderts auf das Feld der ›gelehrten‹ Medizin eingeengt werden. In den folgenden Jahrzehnten scheinen Teubler und seine Nachfolger Kranke in Lindau und Umgebung unbehelligt auf diese Weise behandelt zu haben. Mitte des 17. Jahrhunderts deutete sich eine weitere Einschränkung ihrer medizinischen Tätigkeit an. Im April 1656 wurde dem Lindauer Nachrichter durch den Rat nochmalen gebotten […], daß er der Jnnerlichen medicumenten und purgantien sich enthalten und bemüssigen soll bei gewartender straf. 38 Dieses Ratsgebot scheint zunächst weitgehend wirkungslos geblieben zu sein, denn es wurde fünf Monate später fast wortgleich wiederholt. 39 An der Praxis der Scharfrichtermedizin änderte sich offenbar aber nach wie vor nichts. 1658 sah sich der reichsstädtische Rat daher erneut gezwungen einzugreifen. Er ließ Meister Johannes Meder durch einen Ratsboten den Befehl übermitteln, dass er sich Vortherhin der Artzney mittlen, in sonderheit mit trünckhlen eingeben gäntzlichen und Zwar bey Verlust [s]eines Diensts enthalten solle. Der Scharfrichter wehrte sich gegen diese Einschränkung und verwies auf seine Bestallungsurkunde, in der es zwar hieß, dass er sich des seegen sprechens und was solchen anhängig gäntzlichen enteußern 35 H EINZ M OSER , Die Scharfrichter von Tirol. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafvollzuges in Tirol von 1497-1787, Innsbruck 1982, S. 43-44. 36 F RIEDRICH -C HRISTIAN S CHROEDER , Nachwort, in: J OHANN D ACHS , Tod durch das Fallbeil. Der deutsche Scharfrichter Johann Reichart (1893-1972) (Bayerische Biographien), Regensburg 1996, S. 145-162, hier 157. 37 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Dienstrevers für Meister Othmar Teubler, 1587. 38 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1656, S. 135. 39 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1656, S. 333. <?page no="191"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 191 und underlassen solle, im übrigen aber denen Zu mir kommenden und meiner Hilff begehrenten patienten mit meinen gebührenden, erlehrnten artzneymitteln begegnen und Zu Hilff kommen solle. Er berief sich weiter darauf, dass es den Meistern Zu Ulm, Memmingen Und Viel andern orthen gestattet sei, das Sie den patienten, die ihrer Hilff begehren, mit artzneyen Und andern mitteln ohne nachtheil woll begegnen und Curieren dörffen. Schließlich betonte er noch: Dahero […] nicht ohnbillich köndte gefragt werden, ob ich einen patienten, der arm und einen Medicum Zu Consulieren nicht Viel gelt hette, die noth ihne aber, da etwan die thor verschloßen, trängete, Zu mir käme Und Ihme mit Gottes Hilff und Zwar etwan mit geringen gueten mitteln ohne grossen Costen woll helffen köndte, sollte abschaffen, hilfloß Von mir gehen und verderben lassen, ich halte darfür, das ich mit guetem gewissen solches nicht thun köndte. Zum Schluss versuchte er außerdem noch das Argument zu entkräften, dass er mit seiner Tätigkeit eine unbillige Konkurrenz für die promovierten Ärzte der Reichsstadt darstelle. Er argumentiert folgendermaßen: Dan der Kranckhe suchet den Artzt und geschicht Zu mehrmahlen, das alhiesige Burgere auch frembde Medicos, alß Zu Costantz und anderstwoh gebrauchen. Wie nun dieses keinem burger kann gewehrt werden, also hoffe ich in gleichem, werde keinnem patienten, der meiner Vonnöthen, solches verbotten werden, in Betrachtung der eines Doctorem Medicum brauchen will, gewiß Zu mir nicht kommen wirdt. Derowegen ist […] min gantz underthenig und demüetig bitten, Sie geruhen den an mich abgangenen befelch großgl. Zu endern, Hergegen aber Zu geben, das ich wie vorhin, denen mich umb Hilff anrueffenden patienten mit meinen erlehrnten Christlichen mitteln, deren ich mich Zu offenbahren keineswegs scheuche, mit Hilff beyspringen und Curieren dörffe. 40 Meder positionierte sich also selbstbewusst auf dem Lindauer Gesundheitsmarkt. Er war bereit, sich der Konkurrenz der promovierten Ärzte zu stellen und nachzuweisen, dass die von ihm verordneten Medikamente und Therapien dem allgemeinen Standard entsprachen. Aus seinen Zeilen spricht überdies eine Haltung, die man durchaus als ärztliches Ethos bezeichnen kann, wenn er darauf verwies, dass er es mit seinem christlichen Gewissen nicht vereinbaren könne, einen hilfesuchenden Patienten abzuweisen. Meder scheint mit seiner Strategie Erfolg gehabt zu haben. Der Versuch, das medizinische Betätigungsfeld des Scharfrichters auf äußerliche Kuren nach Art der Chirurgen einzuschränken, hatte in Lindau zunächst keinen Erfolg. Auch in der Folgezeit übten Meder und seine Nachfolger offenbar die gesamte Palette der Medizin 40 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Johann Meder an Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Lindau, 17.3.1658. <?page no="192"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 192 aus. Ein gutes Vierteljahrhundert später sah sich der Rat jedenfalls erneut gezwungen, dagegen vorzugehen. 1684 entschied er, dem Nachrichter solle gebotten werden, sich der innerlichen Curen zu bemüssigen bei gewarttender straf. 41 Anstoß erregte auch ein anderer Aspekt der medizinischen Praxis des Lindauer Scharfrichters. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts führte Meister Abraham Näher Hausbesuche bei seinen Patienten durch. Der reichsstädtische Rat ließ ihm 1754 deswegen vorhalten, daß er sich seiner bestallung schnurstrackhs entegegen unterfangen, so wol in der Stadt als auf dem Land Patienten zu bedienen und sich so gar in die Häuser zu begeben und einzuschleichen, als weßwegen schon öftere Beschwerden vorgekommen. Näher entschuldigte sich damit, daß es in der Stadt über 4 mal nicht passirt seje, und Zwar hab er sich dessen mit unlieb unterzogen, wolle sich jedoch künftig der Kranken in der Stadt und in die Häuser zu gehen gerne bemüssigen. Hingegen aber auf dem Land bitte Er sich unterthg. die Erlaubnus aus, solches zu thun und den Leuthen behülflich seyn zu dörffen, dann er sonsten ohnmögl. bej der bestallung bestehen köndte. Es geschehe auch hierdurch denen Hll. Physicis und Apotheckhern der geringste Abbruch, zumalen die Leuthe allenfalls nur denen barbierern und Wundärzten auf dem Land zulaufen würden, und werde er auch gar oft in Nothfällen bej der Nacht, da man nicht mehr in die Stadt kommen könne, gesucht, wo er dann nicht billich fände, jemanden abzuweisen. Betröste sich also der Hochobrigkeitl. Willfahr, unter verspruch, sich ferner ohnklagbar zu bezeigen und niemanden einigen Eingriff zu thun. Der Rat entschied daraufhin, Meister Näher solle sich bey verlust seines dienstes enthalten in der Stadt und den inneren Gerichten Zu den Burgern und Unterthanen in die Häuser zu gehen. 42 Der Wirkungsbereich des Scharfrichters als Mediziner wurde zunehmend auf das Umland der Stadt eingeschränkt. Damit veränderte sich seine Position auf dem Lindauer Gesundheitsmarkt nicht nur räumlich. Dass die medizinische Tätigkeit des Scharfrichters gleichsam aus der Stadt verbannt wurde, hatte auch Rückwirkungen auf seine Patientenklientel. Wie aus der gegenseitigen Argumentation deutlich wird, sollte er auf diese Weise aufhören, ein Konkurrent der städtischen Ärzte und Apotheker zu sein, und seine Patienten unter jenen suchen, die traditionellerweise Bader und Handwerkschirurgen konsultierten. Ins letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts fällt eine weitere Etappe auf dem Weg zur Verdrängung des Scharfrichters vom Lindauer Gesundheitsmarkt. Im Februar 1793 erging ein Ratsdekret an die Adresse Abraham Nähers. Darin wurden ihm seine medicinischen Pfuschereyen vorgehalten. Er würde sich trotz mehreren Signeten mit dem mediciniren immer abgebe[n] u. sich wiewohl solchen Kuren unterziehe[n], die seine Wissenschaft 41 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1684, S. 55. 42 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Ratsdekret, 2.4.1754. <?page no="193"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 193 u. Kräfte überstiegen, wodurch nicht nur Unheil angerichtet, sondern auch Menschen über die ihnen drohende Gefahr nicht unterrichtet, oder ältere […] irre geführt werden. 43 Die medizinische Kompetenz des Lindauer Scharfrichters wurde nun grundsätzlich infrage gestellt. Unbeeindruckt von diesem Mandat ging Abraham Näher seiner medizinischen Tätigkeit zunächst weiter nach. Als aber drei Jahre später eine seiner Patientinnen starb, während sie sich bei ihm in Behandlung befand, war der reichsstädtische Rat bereit, energisch gegen ihn vorzugehen. Dieser Fall erhielt eine besondere Brisanz dadurch, dass die Verstorbene ein Kind erwartet hatte, das zusammen mit ihr ums Leben kam. Näher wurde vorgeworfen, dass durch seinen Kunstfehler die Leibesfrucht sowohl als die Mutter zum Tode befördert worden seyn solle. 44 Näher sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, eine Abtreibung durchgeführt zu haben. In seiner schriftlichen Rechtfertigung setzte er sich jedenfalls damit besonders auseinander und schrieb: Ich gebe keiner Hure, ihrer Leibesfrucht schädliche Mittel, geschweige einem Eheweib. Ein solcher Pfuscher und Ignorant bin ich nicht! Seine Verteidigungsschrift lässt profunde medizinische Kenntnisse erkennen. Er behauptete, die Patientin wäre von keinem Arzt zu retten gewesen. Dies schloss er aus ihrer gelben Hautverfärbung. Er meinte weiter, man hätte bei einer Sektion ohne Zweifel eine verdorbene Leber und noch andere beträchtliche Fehler der Eingeweyde, nebst einem äusserst schlechten Geblüte gefunden. Das Vertrauen der Patienten in die medizinische Kompetenz Abraham Nähers scheint nach wie vor ungebrochen gewesen zu sein. So konnte sich der Lindauer Scharfrichter unwidersprochen rühmen, dass sich bis dahin weder ein Patient noch ein Angehöriger eines von ihm Behandelten beschwert oder sich auch nur unzufrieden gezeigt habe. 45 Die Spannweite der Lindauer Scharfrichtermedizin reichte während der Frühen Neuzeit also von der Anwendung magischer Mittel bis zur gewöhnlichen Wundarznei und zur gelehrten, wissenschaftlichen Medizin der damaligen Zeit. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts machte sich hier die Tendenz einer stufenweisen Verdrängung der Scharfrichter aus dem Bereich der medizinischen Dienstleistungen bemerkbar. Es dauerte allerdings etwa zweihundert Jahre, bis es gelang, den Scharfrichter zu einem Arzt für die Armen und die Bewohner des städtischen Umlandes zu machen. Eine ähnliche Entwicklung können wir auch in anderen Städten oder Territorien des Bodenseeraumes und Oberschwabens beobachten. In Schaffhausen ermahnte der Rat den dortigen Scharfrichter um 1645, »sich innerlicher Arzneimittel gänzlich zu enthalten, alle Mittel zur Heilung ›äußerlicher Schäden‹ aus öffentlichen Apotheken zu beziehen und seine Winkel-Apotheke aufzugeben.« Wie seine Lindauer Kollegen 43 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Ratsdekret, 20.2.1793. 44 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Ratsdekret, 12.2.1796. 45 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Abraham Näher an den Rat der Reichsstadt Lindau, 2.3.1796. <?page no="194"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 194 widersetzte er sich dieser Anordnung. Anders als dieser wurde er durch den Rat allerdings seines Amtes enthoben und aus der Stadt gewiesen. 46 In St. Gallen untersagte der Rat 1711 auf »Bitte der Ärzte, Chirurgen, Barbiere und Bader« dem Sohn des Scharfrichters, in der Stadt Beinbrüche zu kurieren und andere medizinische Behandlungen vorzunehmen. Die Wirksamkeit des Ratsgebots war - ähnlich wie in der Reichsstadt Lindau - sehr begrenzt. Für 1732 ist bezeugt, dass der Nachrichter einen Mann in seinem Haus in Pflege nahm, der durch einen Degenstich in den Leib verwundet worden war. 47 1740 beklagten sich die Ärzte der Stadt erneut darüber, dass besonders ärmere Bürger Medikamente vom Scharfrichter bezogen. Wenige Jahre später, 1747, nahmen die Chirurgen und Bader der Stadt einen Wechsel im Scharfrichteramt zum Anlass, um den Rat zu ersuchen, dem neuen Nachrichter die Verabreichung äußerliche[r] Mittel zu untersagen. Dieser setzte daraufhin bereits bestehende Vorschriften neuerlich in Kraft. Dem St. Galler Scharfrichter wurden Hausbesuche in der Stadt sowie Behandlungen, die Sache der Chirurgen und Barbiere waren, untersagt. 48 In der Allgäuer Reichsstadt Wangen klagten 1765 die städtischen Chirurgen vor dem Rat, dass der Scharfrichter ohne Scheu Patienten, welche alleinig einem Wundarzt zustehen, in den Bürgerhäusern besuche, solche traktiere und mit Bandagen versehe. 49 Für die Reichsstadt Memmingen sind mehrere Mandate oder Ratsentscheidungen bekannt, durch welche die ärztliche Praxis der Scharfrichter eingeschränkt oder verboten werden sollte. Zeitlich verteilen sie sich über die ganze Frühe Neuzeit: Um 1573 hat die Obrigkeit das curiren, das ihm bis dahin hin vnd wider erlaubt war, abgeschaffet, nachdem deß Müllers Sohn von Buxheim allhier beym Nachrichter, der ihne in der Chur hatte, Suizid begangen hatte. 50 Um 1680 wurde dem Scharfrichter erlaubt, Patienten Salben zu einer Behandlung zu verkaufen. Er durfte aber nicht selbst Hand anlegen, andernfalls sollten er und sein Patient bestraft werden. 51 Dieses Verbot wurde um 1721 mit Modifikationen erneuert. Nun wurde verordnet, dass Patienten, die Menschen- oder Hundeschmalz beim Nachrichter kaufen wollten, vorher die 46 O. K ELLER , Apotheken und Apotheker (Anm. 12), S. 140. 47 H UBERT P ATSCHEIDER , Zur Geschichte der gerichtlichen Medizin in St. Gallen, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 107 (1989), S. 1-67, hier 34. 48 H UBERT P ATSCHEIDER , Die Stadtärzte im alten St. Gallen, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 115 (1997), S. 89-132, hier 100. Dazu auch: S TEFAN Z IEGLER , »Alles getreulich und ohne gefährde« - Die Eidbücher der Stadt St. Gallen von 1511, 1657, 1740 und 1757 (Neujahrsblatt des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen 139), St. Gallen 1999, S. 65f. 49 A. S CHEURLE , Geschichte der Heilkunst (Anm. 17), S. 117. 50 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 277, Anm. 1751. 51 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 278, Anm. 1756. <?page no="195"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 195 Erlaubnis dazu beim Amtsbürgermeister einholen sollten. 52 1732 musste sich der Nachrichter Johann Conrad Neher dafür rechtfertigen, dass er das Medizinverbot nicht einhielt. Er tat das, indem er darauf verwies, daß er sich nirgendß bey einigen Patienten recommendire und trotzdem häufig um Hilfe gebeten werde. Ähnlich wie sein Lindauer Kollege 74 Jahre vorher, brachte er eine Art ärztliches Ethos ins Spiel, indem er behauptete, es würde ihme Gewissen halber unmöglich fallen nach denen ihm von Gott verlihenen Gaben diese ohne hülff zu lassen. 53 Überall scheinen Hausbesuche durch den Scharfrichter üblich gewesen zu sein. Und überall setzten die Magistrate Maßnahmen, um dessen ärztliches Betätigungsfeld einzuschränken. In den meisten Fällen wurde dabei zuerst die Ausübung der ›inneren‹ Medizin durch die Scharfrichter infrage gestellt. Sie sollten aus jenem Bereich des Gesundheitsmarktes verdrängt werden, der die Domäne der universitär gebildeten Ärzte war, während ihnen das weite Feld der Handwerkschirurgie weiterhin offenstand. In Schaffhausen verlief die Entwicklung dagegen in umgekehrter Richtung. Hier wurde dem Scharfrichter schon ungewöhnlich früh, 1569, auf Betreiben der örtlichen Barbiere »[d]ie Behandlung frischer Wunden und Beinbrüche« untersagt, die Heilung »ältere[r] Schäden und Uebel« blieb ihm dagegen erlaubt. 54 Eine ähnliche Bestimmung begegnet uns etwa zwei Jahrhunderte später in Günzburg. Hier wurde dem Scharfrichter Joseph Anton Klingensteiner und seiner Ehefrau 1778 gestattet, Patienten, »die mit alten Schäden behaftet waren und die von den obrigkeitlich aufgestellten und approbierten Chirurgen aufgegeben worden waren«, zu behandeln. Der jeweilige Patient musste allerdings vorher bei der Obrigkeit eine Erlaubnis dazu einholen. Ein Jahr später wurde dem Nachrichter die Verabreichung innerer Medizin gänzlich verboten. 55 Die Wirksamkeit der Mandate, durch die die ärztliche Tätigkeit der Scharfrichter eingeschränkt werden sollte, war, wie bereits mehrfach angedeutet, praktisch überall begrenzt. Trotz der einschlägigen Verbote konsultierten Kranke die Nachrichter auch weiterhin. Deren breitgefächertes Tätigkeitsfeld bot ausreichend Möglichkeiten, um die entsprechenden Verordnungen zu umgehen. So wurde der St. Galler Scharfrichter, der auch als Veterinär tätig war, mitunter »zu einem Pferd oder Hund gerufen […], um in Wirklichkeit die Leiden des Besitzers zu heilen.« 56 In den meisten Fällen dürfte eine derartige ›Tarnung‹ gar nicht notwendig gewesen sein. Es hat vielmehr den Anschein, dass die Magistrate die populäre Scharfrichtermedizin stillschweigend geduldet haben, solange keine der auf dem Gesundheitsmarkt präsenten 52 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 278, Anm. 1756. 53 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 278, Anm. 1756. 54 A LBERT S TEINEGGER , Das Handwerk der Scherer und Balbierer im alten Schaffhausen, in: Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 32 (1955), S. 157-173, hier 172. 55 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 216, 278, Anm. 1759, 1760. 56 S T . Z IEGLER , Eidbücher (Anm. 48), S. 65. <?page no="196"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 196 Berufsgruppen dadurch allzu sehr geschädigt wurde. In diese Richtung deutet jedenfalls eine Ratsentscheidung aus Kaufbeuren: Hier drängten 1685 der Stadtphysicus und zwei Apotheker darauf, dass dem eben bestellten Scharfrichter Christoph Seiz das Arzeneyen verboten werden sollte. Der Rat erklärte sich zu einem Verbot allerdings nur für den Fall bereit, dass sich der neue Scharfrichter deß Arzneyaußgebens allzuviel anmaßen würde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Rat seinem Vorgänger, dem Scharfrichter Hanns Conrad, nur drei Monate vorher erlaubt hatte, im Zuge der Renovierung seines Hauses noch ein Zimmerlein zu seinen Arzeney- Sachen zu errichten. 57 Es fällt auch auf, dass die genannten obrigkeitlichen Verordnungen häufig mit einem Wechsel im Scharfrichteramt zusammenfallen. Das könnte darauf deuten, dass der eigentliche Zweck der Mandate darin bestand, allen Beteiligten deutlich vor Augen zu führen, wer ihrem Tun Grenzen setzen konnte, und den Verhandlungsspielraum für mögliche künftige Konflikte abzustecken. 58 Somit lässt sich als erstes Zwischenfazit festhalten, dass die Scharfrichtermedizin im Untersuchungsraum seit dem 16. Jahrhundert tendenziell zwar zunehmend durch obrigkeitliche Mandate eingeschränkt und mehr und mehr auf das Betätigungsfeld der Wundärzte und Bader gedrängt, aber vor 1800 fast nirgends gänzlich beseitigt wurde. Diese Entwicklung verlief im Grunde ähnlich wie in den großen Territorien Norddeutschlands, weist aber eine deutliche zeitliche Verzögerung auf. 59 Auch wenn sich hinsichtlich der obrigkeitlichen Bemühungen um eine zunehmende Einschränkung der scharfrichterlichen Medizin eine einigermaßen lineare Entwicklung erkennen lässt, darf das nicht zum Schluss verleiten, dass dies gleichermaßen für die Art der praktizierten Therapien gilt. Die unterschiedlichen Arten der von den Nachrichtern angebotenen Heilkunde kamen vielmehr in einem engen zeitlichen Nebeneinander vor. Dies lässt sich in fast allen Städten des Untersuchungsraums beobachten. Für Augsburg ist belegt, dass die als Ärzte tätigen Scharfrichter im 17. Jahrhundert Krankheiten mit magischen Therapien und mit Mitteln der damaligen wissenschaftlichen Medizin behandelten. 1632 soll der dortige Nachrichter einer Wurzel- und Kräuterhändlerin ein geheimes Medikament verraten haben, mit dem Männer ihre verloren gegangene Manneskraft wiedererlangen konnten. Es handelte sich um eine Substanz aus geweihtem Brot, Salz und Wachs, die des Nachts 57 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 216. 58 Zu den vergleichbaren Verhältnissen in Zusammenhang mit den Policeygesetzen vgl. J OHANNES B URKHARDT , Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 11), Stuttgart 2006, S. 200, sowie allgemein zur frühneuzeitlichen Gesetzgebung vgl. J ÜRGEN S CHLUM - BOHM , Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? , in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647-663. 59 G ISELA S TIEHLER -A LEGRIA , Axungia humana und seine Zulieferer. Die ambivalente Rolle der Scharfrichter im frühneuzeitlichen Gesundheitswesen, in: Geschichte der Pharmazie 65/ 2 (2013), S. 29-34, hier 31. <?page no="197"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 197 unter das Kopfkissen des betroffenen Mannes gelegt werden musste. 60 Nur ein Vierteljahrhundert später findet sich im Nachlass des Augsburger Scharfrichters Marx Philipp Hartmann eine medizinische Büchersammlung von beachtlichem Umfang, die es mit den Bibliotheken der gelehrten Ärzte durchaus aufnehmen konnte. 61 In Kaufbeuren legte ein frühneuzeitlicher Scharfrichter eine handschriftliche medizinische Rezeptsammlung an, die von mehreren Nachfolgern weitergeführt wurde und das medizinische Wissen mehrerer Generationen von Nachrichtern zusammenfasste. 62 Diese enthielt sowohl Therapien der gelehrten Medizin - sie beginnt bezeichnenderweise mit einer genauen Beschreibung der Urinschau, die zum Kernbestand der frühneuzeitlichen Schulmedizin gehörte -, als auch Rezepte, die sich eher der ›Dreckapotheke‹ oder dem magischen Denken zuordnen lassen. Nach Gisela Stiehler-Alegria »handelt es sich um ein zeittypisches Sammelsurium, das Parallelen zu Werken vom Typus ›Dreck-Apotheke‹ aufweist«. Sie konstatiert aber, dass »[d]ie Verordnungen […] den medizinisch-therapeutischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts« entsprechen, und vermutet weiter, dass sie auf Vorlagen basieren, die »im Umkreis von Johann Joachim Becher zu suchen« seien. 63 Der Stühlinger Scharfrichter wurde nach Schaffhausen zur Behandlung eines offensichtlich psychisch kranken Jungen gerufen und diagnostizierte, dass dieser von einer Frau, die im selben Haus wohnte, verhext worden sei. Die beschuldigte Frau setzte sich gegen diese Unterstellung beim Rat erfolgreich zur Wehr. Dieser wandte 60 B ERND R OECK , Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30), Sigmaringen 1987, S. 12. 61 1659 sicherte Marx Philipp Hartmann seiner Tochter vertraglich eine Aussteuer zu, zu der u. a. 21 Medizinbücher gehörten; vgl. K. S TUART , Unehrlichkeitskonflikte (Anm. 5), S. 118f. Vgl. mit ähnlichen Beispielen für die Vererbung umfangreicher medizinischer Bibliotheken innerhalb von Scharfrichterfamilien in Nord- und Nordwestdeutschland vgl. G. W ILBERTZ , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 29), S. 148. Für den letzten Schongauer Scharfrichter Johann Michael Kuisl vgl. F. K UISL , Die Kuisl (Anm. 23), S. 97. 62 Hester Margreiter hat das Manuskript der bislang ausführlichsten Analyse unterzogen. Sie verweist darauf, dass im Titel zwar angegeben wird, dass die Rezeptsammlung von Johann Seitz 1715 angefangen wurde. Aufgrund des paläographischen Befundes müssen wir aber davon ausgehen, dass es von zwei unterschiedlichen Händen verfasst wurde. Die ersten 163 Blatt, die einer Hand A zugewiesen werden können, dürften um 1550 entstanden sein. Die Hand B verweist auf die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die Bindung der Handschrift wiederum ist typisch für das 17. Jahrhundert. Die Annahme, dass die erste Hälfte der Rezeptsammlung von Johann Seitz und die zweite Hälfte von seiner Ehefrau - das Buch enthält einen entsprechenden Besitzeintrag - verfasst wurde, muss damit aufgegeben werden. Dass die zweite Hälfte von einer Scharfrichtersgattin verfasst wurde, scheint aber aus inhaltlichen Gründen durchaus plausibel; H. M ARGREITER , Der Henker als Heiler (Anm. 3), S. 71f. 63 G. S TIEHLER -A LEGRIA , Axungia humana (Anm. 59), S. 30. Dazu auch: H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 217f. (Übersicht über Arzneien). <?page no="198"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 198 sich »mit der Bitte« an den Stühlinger Rat, »dem Unwesen des dortigen Scharfrichters ein Ende zu bereiten«. 64 Auch das Handeln des St. Galler Scharfrichters im 17. Jahrhundert verweist darauf, dass sein medizinisches Wissen auf dem Stand der Zeit war. 1658 gab eine Mutter ihr Kind, dem ein knütterle wie ein eißen auf dem herzlin aufgeschoßen war, beim St. Galler Scharfrichter in Behandlung. Es litt also an einem Abszess oder einem Furunkel auf der Brust. 65 Der Scharfrichter verordnete ein pfästerlin, das über die Geschwulst gelegt wurde und in wenig tagen den knütter aufzogen und eröffnet habe, wobei ein ganze vile von ayteriger matery lange zeit heraus gefloßen. Zu Meinungsverschiedenheiten mit der Mutter kam es, als diese verlangte, dass er dem Kind das schädle wieder zuheile. Der Nachrichter weigerte sich aber, die Wunde, durch die der Eiter aus dem Abszess abgeführt worden war, zu verschließen, weil es sey große gefar darbj, dz schädle sey zu nach beim herzle und wan es gheilet wurde, möchte der unrath dem herzen zutringen und das kind gehlich ums leben kommen. 66 Hier wird deutlich erkennbar, dass sich sowohl die vom Scharfrichter gestellte Diagnose als auch die von ihm verordnete Therapie im Rahmen der damals vorherrschenden Viersäftelehre bewegte. Er hatte den Abszess geöffnet, um den darin gebildeten Eiter - den nach Ansicht der zeitgenössischen Schulmedizin schädlichen Saft - abzuführen, und warnte davor, die Wunde zu früh wieder zu verschließen, weil dann der Saft nicht abfließen würde und dies zum Tode führen könnte. Auch der Lindauer Nachrichter orientierte sich am Regelwerk der Humoralpathologie, wenn er Ende des 18. Jahrhunderts aus der gelblichen Hautverfärbung seiner Patientin auf ein schweres Leberleiden schloss, das er auf ein schlechtes Geblüt, also auf eine Störung des Säftehaushalts, zurückführte. Die Leber galt in diesem System als Sitz der gelben Galle. 67 Er gab überdies an, dass er seinen Patienten nur Medikamente verschreibe, die aus hiesiger Lutzischen Apothec und Simplicia aus Hr. Bißmeyers und andern Läden stammten. 68 Dagegen behandelte der Thurgauer Scharfrichter Johannes Näher, der seit 1805 als amtlich anerkannter Arzt praktizierte, einen Teil seiner Patienten bis weit ins 19. Jahrhundert mit Amuletten oder einem »sympathetische[n] Heilritual«, wenn er ihre Leiden auf eine magische Ursache zurückführte. Als in einem derartigen Fall die 64 A. S TEINEGGER , Handwerk (Anm. 54), S. 172. 65 Zur Bedeutung von ›Knütter‹ oder ›Chnüder‹ vgl. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 3, Frauenfeld 1895, Sp. 736f. 66 StadtA St. Gallen (Vadiana), Bd. 904: Examinationsprotokoll, Buch der Gefangenen 1653- 1661, fol. 162r. 67 B IRGIT B OLOGNESE -L EUCHTENMÜLLER , Heilkunde und Krankenpflege im Spiegel sozial-kultureller Entwicklung. Menschenbild, Lebensverständnis und Weltsicht als Schlüsselkategorien, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 24/ 2 (1994), S. 40-51, hier 43. 68 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Abraham Näher an den Magistrat der Reichsstadt Lindau, 2.3.1796. <?page no="199"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 199 Heilung ausblieb, wurde er vom Ortspfarrer deswegen verklagt und durch das Sanitätskollegium zu einer Geldstrafe von 20 Gulden verurteilt. 69 Weiter zeigt sich an den genannten Beispielen, dass Heimlichkeit kein bestimmendes Kennzeichen der Scharfrichtermedizin war. Die Nachrichter waren durchaus bereit, vor den Magistraten offenzulegen, welche Medikamente oder Therapien sie verordneten. In Lindau bot beispielsweise Meister Johannes Meder dem reichsstädtischen Rat an, die mitteln, mit denen er seine Patienten behandelte, Zu offenbahren. 70 Der Augsburger Scharfrichter Johann Georg Thränckhler beschrieb 1747 in einem Brief an den Rat der Reichsstadt die Zusammensetzung einer von ihm verwendeten Salbe - einer ihrer Bestandteile war Menschenfett - sowie den Einsatz von Menschenhaut in der Geburtshilfe. 71 Der Hinweis, an einer früheren Dienststelle auch Medicamentis verwaltet zu haben, erhöhte nach Einschätzung der Scharfrichter ihre Chancen, eine Anstellung zu bekommen. Wir finden ihn beispielsweise in einem Schreiben des Schaffhauser Meisters Johannes Näher an den Lindauer Rat, mit dem er sich im August 1623 erfolgreich um das Amt des reichsstädtischen Nachrichters bewarb. 72 Die Scharfrichter behandelten ihre Patienten mit Wissen der Magistrate, manchmal sogar auf deren Empfehlung. In dem oben geschilderten Fall einer Mutter, die mit dem St. Galler Nachrichter in einen Streit um die Fortsetzung der Behandlung ihres Kindes geriet, empfahl ihr der Bürgermeister, sie soll mit dem kind zum nachrichter wider gon. 73 Die Magistrate griffen selbst immer wieder auf die medizinischen Kompetenzen der Scharfrichter zurück. So wurden diese als Gutachter herangezogen, wenn es darum ging festzustellen, ob es sich bei einem Todesfall um einen Suizid handelte oder nicht. Dies war im 18. und 19. Jahrhundert im Thurgau mehrfach der Fall. 74 Wiederholt ermöglichten es die Räte Scharfrichtern, die sich durch ihre medizinische Kompetenz ausgezeichnet hatten, aus dem Amt des Strafvollstreckers auszuscheiden und sich ganz der Tätigkeit als Mediziner zu widmen. Der Rat der Stadt St. Gallen nahm Meister Hans Stuntz »nach zehnjähriger Tätigkeit als Nachrichter mit hochobrigkeitlicher Vergünstigung als Wundarzt« an und unterstützte seine Ehrlichkeitserklärung, scheiterte aber mit dem Versuch, ihm zur Aufnahme in die 69 A. B IEGER , Schröpfende Heiler - schwitzende Kranke (Anm. 13), S. 139f. 70 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Johannes Meder an den Rat der Reichsstadt Lindau, 17.3.1658. 71 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 277, Anm. 1747. 72 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Johannes Näher an den Rat der Reichsstadt Lindau, 18.8.1623. 73 StadtA St. Gallen (Vadiana), Bd. 904: Examinationsprotokoll, Buch der Gefangenen 1653- 1661, S. 11. 74 A. B IEGER , Schröpfende Heiler - schwitzende Kranke (Anm. 13), S. 95, 153. <?page no="200"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 200 Schmiedezunft zu verhelfen, der neben den Badern auch die Wundärzte und Chirurgen angehörten. 75 Der 1795 zum Thurgauer Scharfrichter bestellte Johannes Näher, der seit 1792 auch als Arzt praktizierte, wurde 1805 durch den Sanitätsrat als »Arzt für leichte Fälle« anerkannt. 76 Die Scharfrichterärzte konnten auch auf die Unterstützung der Magistrate zählen, wenn es darum ging, vereinbarte Honorare, die nicht entrichtet wurden, einzuklagen. So wandte sich 1727 beispielsweise der St. Galler Scharfrichter Johannes Näher mit der Bitte um Hilfe an den Rat, als sich ein Patient aus Basel weigerte, ihn zu bezahlen. Selbstverständlich schilderte er in seinem Schreiben die von ihm verordnete Therapie genau: Ein Blattmacher aus Basel hatte seinen bereits erwachsenen Sohn, der an der Fallsucht litt, bei Näher in Behandlung gegeben. Diese zog sich über etwa ein halbes Jahr hin und bestand aus einer Kombination von Diätvorschriften und Medikamenten. Die Kur war erfolgreich. Der Patient hatte vorher im Durchschnitt alle vierzehn Tage einen Anfall gehabt. Aufgrund der Behandlung blieb er drei Monate lang beschwerdefrei, brach dann - gegen den ausdrücklichen Willen des Scharfrichters - die Therapie ab und kehrte nach Basel zurück. 77 3. Zusammenhang zwischen scharfrichterlicher und medizinischer Tätigkeit Es liegt auf der Hand, dass der Scharfrichterberuf fast zwangsläufig gewisse anatomische und medizinische Kenntnisse mit sich brachte bzw. voraussetzte. So benötigte man anatomische Grundkenntnisse, um Hinrichtungen, Verstümmelungsstrafen und insbesondere die Tortur fachgemäß durchführen zu können. Letztere musste bekanntlich so dosiert werden, dass beim Delinquenten keine bleibenden Schäden verursacht wurden. Und wenn es - was zwangsläufig immer wieder der Fall war - zu Verletzungen kam, war es die Aufgabe des Scharfrichters, diese so zu versorgen, dass der Delinquent bei seiner Entlassung oder Hinrichtung wieder einigermaßen hergestellt war. Dies hat sicherlich zu einer berufsbedingten wundärztlichen Kompetenz geführt, die in der Literatur immer wieder als Grund dafür angegeben wird, weshalb er als Arzt konsultiert wurde. 78 75 S T . Z IEGLER , Eidbücher (Anm. 48), S. 65. 76 A. B IEGER , Schröpfende Heiler - schwitzende Kranke (Anm. 13), S. 95. 77 StadtA St. Gallen (Vadiana), Bd. 640: Missivenprotokoll, S. 150-152. 78 Beispielsweise: P HILIP L. K INTNER , Memmingen in den vergessenen Jahren 1550-1600, in: J OACHIM J AHN / H ANS -W OLFGANG B AYER / U LI B RAUN (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart 1997, S. 457- 540, hier 533; A. B IEGER , Schröpfende Heiler - schwitzende Kranke (Anm. 13), S. 94. <?page no="201"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 201 Weiter trug der ständige Umgang mit den Leichen Hingerichteter zu einer Vertiefung dieser Kenntnisse bei. Er eröffnete den Scharfrichtern die Möglichkeit zu anatomischen Studien. In Lindau wurde dies gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Seiten der Wundärzte und anderer Mediziner gleichsam als ein ›unlauterer‹ Vorteil wahrgenommen. Daher suchte der Stadtmedicus 1694 beim Rat an, man möge ihme den Maleficanten zukhommen […] lassen, damit er die hiesige chyrurgos darmit in einem u. anderen informiren und weisen khönne, was zu wolfahrt ihrer und des gemeinen wesens diensamb sein möge. Der Rat entschied im Sinne des Arztes, [o]bwolen es allhier ohngewohnlich sei. Der Leichnam sollte ihm noch am Abend nach der Hinrichtung zugestellt werden. 79 In diesem Kontext darf aber ein Aspekt nicht übersehen werden: Von großer Bedeutung war, dass es sich bei den Leichen, mit denen die Scharfrichter zu tun hatten, um die Überreste von Menschen handelte, die vor der Zeit und in weitgehend gesundem Zustand gestorben waren. Nur derartigen Körpern konnten nach zeitgenössischer Auffassung Substanzen entnommen werden, die begehrte Grundstoffe für frühneuzeitliche Medikamente waren. Gemeint sind Leichenteile wie Haut, Herz, Blut oder Fett. Ihre Verwendung basierte auf der Annahme, dass sich in einem Leichnam Spuren der ursprünglichen Lebenskraft erhalten hatten. Man erhoffte sich von den genannten Stoffen eine sympathetische Wirkung. Diese konnte sich aber nur dann voll einstellen, wenn die Körpersäfte des Gestorbenen keiner Störung durch eine Erkrankung unterlegen waren. War der Delinquent zum Zeitpunkt der Hinrichtung jedoch krank, so wurde die Sache problematisch. Die von einem derartigen Leichnam gewonnene Haut galt als wertlos. Deshalb warf ein St. Galler Totengräber um 1671 Hautstücke, die er der Leiche einer Hingerichteten entnommen hatte, wieder weg, als er erfuhr, dass es sich um einen kranken Menschen gehandelt hatte. 80 Weiters spielten selbstverständlich auch rechtliche und theologische Gründe eine gewichtige Rolle: Nur der Körper eines hingerichteten Verbrechers konnte rechtmäßig geöffnet und ausgeschlachtet werden. 81 Auch im Bodenseeraum hatten die Scharfrichter einen weitgehend monopolartigen Zugriff auf die Leichen der von ihnen Hingerichteten. Das belegt eindrucksvoll ein Fall aus der Stadt St. Gallen: Im November 1671 hatte der Totengräber Heinrich Schirmer auf dem Friedhof einem mit dem Schwert hingerichteten Mann, den er beerdigen sollte, die Haut bis auf den Nabel abgezogen und der Leiche das Armensünderfett entnommen. Er gab später an, eine derartige Praxis beim Scharfrichter beobachtet und von diesem erfahren zu haben, »dass Schmalz und Haut gut als Heilmittel zu gebrauchen seien«. 82 Das Auflegen der Menschenhaut - so wusste 79 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1694, S. 123. 80 E RNST Z IEGLER , Aberglauben im alten St. Gallen, in: Oberländer Chronik. Heimatblätter des Südkuriers 1988; S T . Z IEGLER , Eidbücher (Anm. 48), S. 30. 81 J. N OWOSADTKO , Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben (Anm. 4), S. 51-53. 82 S T . Z IEGLER , Eidbücher (Anm. 48), S. 30. <?page no="202"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 202 er weiter zu berichten - verhelfe Frauen zu einer leichteren Geburt. Als das Verhalten des Totengräbers bekannt wurde, wurde er verhaftet. Er musste die Leichenteile, die er noch nicht verkauft hatte, herausgeben, damit sie auf dem Friedhof am Linsebühl beigesetzt werden konnten. Sein Amt als Totengräber verlor er. Der Rat bestrafte Heinrich Schirmer »nicht wegen seiner Tat an sich, sondern weil er sie ohne obrigkeitliches Vorwissen und ohne Bewilligung begangen hatte«. 83 Wie aus dem Verfahren gegen den Totengräber ersichtlich wird, entnahm der St. Galler Nachrichter - mit Erlaubnis des Rates - den Leichen der von ihm Hingerichteten wiederholt derartige Substanzen. Menschenhaut und Armensünderfett waren in der frühneuzeitlichen Pharmakologie gesuchte Substanzen. Der Glaube an die geburtsfördernde Wirkung der Menschenhaut war weit verbreitet. Auch Hebammen setzten dieses Mittel ein. Vom Münchener Scharfrichter Hans Stadler ist beispielsweise bekannt, dass er jeder Hebamme, die seiner Gattin Geburtshilfe leistete, einen Sondertarif dafür gewährte. Menschenhaut galt außerdem als wirksames Mittel gegen Geschwülste verschiedener Art, gegen einen dicken Hals, gegen das Podagra, gegen Krämpfe und Zittern, und es wurde zur Stärkung kranker Gliedmaßen, gegen Kröpfe, Leibschmerzen usw. verwendet. 84 Auch das Armensünderfett galt als wirksames Mittel gegen Podagra und zur Stärkung lahmer Glieder. Bei diesem Stoff war der Glaube an seine sympathetische Wirkung besonders stark verbreitet, galt doch gerade das Fett oder Schmalz als Sitz der Seelenkräfte. 85 Der Zugriff der Scharfrichter auf die Leichen von Hingerichteten war jedoch keineswegs völlig frei. Er wurde durch die Obrigkeiten gesteuert: 1611 wurde der Kaufbeurer Scharfrichter Matthias Pickel vom Rat mit einer Geldstrafe belegt, weil er den hingerichteten Urban Schmelzer von Immenhofen in der Siechen Capellen schinden und das Schmalz ausschneiden lassen ohn erlaubnis. 86 In vielen Fällen untersagten die Stadträte aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen das ›Ausschlachten‹ einer Leiche. Dennoch hatten die Scharfrichter einen privilegierten Zugang zu den genannten Substanzen, die sie entweder selbst verwendeten, um Medikamente herzustellen, oder mit denen sie die Apotheker belieferten. Insbesondere Klosterapotheken erwiesen sich als dankbare Abnehmer. Der Augsburger Scharfrichter Johannes Thränckler belieferte beispielsweise vor allem die Klosterapotheke Ottobeuren mit Menschenfett und Menschenhaut. 87 83 S T . Z IEGLER , Eidbücher (Anm. 48), S. 30 (Zitat); E. Z IEGLER , Aberglauben (Anm. 80). 84 J. N OWOSADTKO , Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben (Anm. 4), S. 51. 85 E. Z IEGLER , Aberglauben (Anm. 80). 86 Zitiert nach: O. K RONSCHABL , Das Kaufbeurer Gesundheitswesen (Anm. 20), S. 226. 87 G. S TIEHLER -A LEGRIA , Axungia humana (Anm. 59), S. 30. <?page no="203"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 203 In den großen Territorien verloren die Scharfrichter den privilegierten Zugang zu Leichen, als Anatomien gegründet wurden. Im Kurfürstentum Bayern war dies 1753 der Fall. Fortan mussten die Leichen Hingerichteter an diese geliefert werden. 88 Es zeigt sich also, dass das Milieu der frühneuzeitlichen Scharfrichter sehr gute Voraussetzungen dafür bot, um medizinische Kompetenzen aufzubauen. Dies galt in mehrfacher Hinsicht: Über die Durchführung der Folter, die Vollstreckung der Körper- und Todesstrafen sowie den Umgang mit den Leichen der Hingerichteten ließen sich anatomische Kenntnisse erwerben und Substanzen wie menschliche Haut und Fett gewinnen, die in der frühneuzeitlichen Pharmazie gesucht waren. Außerdem erleichterte das endogame Heiratsverhalten der Scharfrichter die Weitergabe und Geheimhaltung medizinischer Kenntnisse von Generation zu Generation und führte so zu einer exklusiven Wissensakkumulation. 89 4. Abdeckerei Die frühneuzeitlichen Scharfrichter waren auch noch in einem weiteren Sinn Teil des frühneuzeitlichen Gesundheitssystems. Praktisch überall im Untersuchungsraum stand ihnen das Wasenmeisteramt zu. Die Hauptpflicht eines Wasenmeisters oder Abdeckers bestand darin, dafür zu sorgen, dass verendetes Vieh ordnungsgemäß entsorgt wurde. Im Zentrum stand dabei die Feststellung der Todesursache der Tiere. Wenn diese an einer ansteckenden Krankheit gelitten hatten - die Rede ist meist von den vier Hauptmängeln 90 -, dann verloren ihre Besitzer das Recht am Kadaver. Damit erfüllten die Wasenmeister eine wichtige hygienepolizeiliche Aufgabe, denn es ging darum, die örtlichen Viehbestände, aber auch die Menschen vor Seuchen zu schützen. 91 Besonders deutlich kommt das in einem Tagebucheintrag 88 Vgl. G. S TIEHLER -A LEGRIA , Axungia humana (Anm. 59), S. 31. 89 Robert Jütte verweist darauf, dass sich beispielsweise das »Heilermilieu« durch ein ausgeprägtes Bemühen ausgezeichnet habe, »das Wissen um den rechten Spruch geheimzuhalten«. Die verwendeten Sprüche, Segensformeln und Rituale wurden dabei normalerweise in der Familie oder allenfalls an bestimmte Vertrauenspersonen weitergegeben; R OBERT J ÜTTE , Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München 1996, S. 99. 90 Zu den vier Hauptmängeln »Räude«, »Rotz«, »Syphilis bei Rindern« und »Herzschlechtigkeit« vgl. J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 4), S. 154-158. 91 Für Vorarlberg: W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Scharfrichter. Eine Randgruppe im frühneuzeitlichen Vorarlberg, Konstanz 1995, S. 118-125; D ERS ., Wasenmeister im Südteil Vorarlbergs, in: A NDREAS R UDIGIER / P ETER S TRASSER (Hg.), Montafon. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart. FS für Frau Eleonore Schönborn zum 75. Geburtstag (Bludenzer Geschichtsblätter 24-26), Bludenz 1995, S. 246-263. Für Memmingen: P H . L. K INTNER , Memmingen (Anm. 78), S. 520. Für Wangen: A. S CHEURLE , Verschwundene Berufe (Anm. 17), <?page no="204"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 204 des Fürstabts von St. Gallen, Cölestin Gugger von Staudach, zum Ausdruck. Am 4. November 1748 berichtet er über einen äbtischen Bierbrauer, der von kemptischen Metzgern 60 Schafe gekauft hatte, von denen vile mit Seüch angestekhet waren. Die Tiere mussten getötet werden, und der Fürstabt ließ alle durch den Scharpfrichter mit Haut und Haar verlochen […] ob periculum publicum. 92 In kaum einem anderen Betätigungsbereich stießen die Scharfrichter aber auf so viel Widerstand wie bei ihrer Tätigkeit als Abdecker. Ihre Klagen darüber, dass ihnen gefallenes Vieh nicht gemeldet und von den Besitzern selbst beseitigt werde, sind geradezu zahllos. Im August 1691 meldete beispielsweise der Lindauer Scharfrichter dem Rat der Reichsstadt, dass es Leute gebe, die das Vich, so umbfallen, wollen selbs abziehen. Diese würden das Fleisch der verendeten Tiere in Fässer schlagen lassen und eingraben. Einem von denen, so es gethan, einem Metzger, sei der armb aufgeschwollen, daß er ihn curiren müssen. 93 Ein Jahr später beklagte er sich darüber, daß einige zue Reitin verstorbene Kälber selbst vergraben, so wasenmeister zustendig. 94 Auch in den Jahren 1694 95 und 1700 96 sah der Lindauer Scharfrichter diesbezüglich Grund zur Klage. Aus den anderen Teilen des Untersuchungsgebiets ließen sich ähnliche Beispiele bringen. 97 Bei diesen Konflikten ging es im Grunde genommen immer darum, wer den Kadaver auswerten durfte. Entscheidend war, woran ein Tier gestorben war. In Hohenems stand dem Wasenmeister die Haut eines verendeten Tieres zu, wenn dieses an einem der vier Hauptmängel gelitten hatte. 98 Diese Regelung gilt als besonders konfliktträchtig. Zum einen bedeutete es für den Besitzer eines verendeten Tieres einen erheblichen finanziellen Verlust, wenn er dessen Haut dem Abdecker abtreten musste. Zum anderen war es die Aufgabe des Wasenmeisters festzustellen, ob einer der vier Hauptmängel vorlag. Ihm wurde daher von Seiten der Tierbesitzer regelmäßig unterstellt, auch bei gesunden Tieren diese Diagnose zu stellen. 99 Die eigentliche Ursache der Konflikte liegt jedoch sehr viel tiefer. Über die Frage, wie mit den S. 1f. Für St. Gallen: S T . Z IEGLER , Eidbücher (Anm. 48), S. 66. Für Kaufbeuren, das Hochstift Augsburg und Landsberg: H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 219, 278f. 92 Zitiert nach: E RNST Z IEGLER , Bier im alten St. Gallen, in: T HÉO B UFF / L ORENZ H OLLENSTEIN / E RNST Z IEGLER , Bier in St. Gallen. 1250 Jahre St. Galler Brautradition. Von der Klosterbrauerei zum »Schützengarten«, St. Gallen 2004, S. 24-48, hier 35. 93 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1691, S. 483. 94 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1692, S. 239f. 95 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1694, S. 484. 96 StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1700, S. 346. 97 Für den Süden Vorarlbergs vgl. W. S CHEFFKNECHT , Wasenmeister (Anm. 91), S. 246-263. 98 VLA, Reichsgrafschaft Hohenems 69,19: Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Johannes Reichle, 27.3.1680; Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Hans Martin Miller, 20.3.1685; Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Christian Rauch, 1.4.1691; Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Michael Reichle, 23.4.1738. 99 J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 4), S. 153f. <?page no="205"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 205 Kadavern dieser Tiere umgegangen werden sollte, gingen die Auffassungen allzu weit auseinander. Auf der einen Seite stand die begründete Sorge der Obrigkeit, dass von ihnen ein nicht geringes Risiko für die Gesundheit von Menschen und Tieren ausgehe, auf der anderen Seite war bei der Bevölkerung das diesbezügliche Gefahrenbewusstsein nur sehr schwach ausgeprägt. Sie war es vielmehr gewohnt, auch Tierkadaver bis zum äußersten auszuwerten. 100 Aus der Tätigkeit als Wasenmeister ergab sich eine wertvolle veterinärmedizinische Kompetenz. Für den städtelosen Reichsstand Hohenems ist eine intensive Betätigung der dortigen Nachrichter als Tiermediziner belegt. In dieser Eigenschaft wurden sie auch häufig als Gutachter im Pferdehandel, der hier eine bedeutende Rolle spielte, konsultiert. 101 Auch der Bregenzer Scharfrichter war ein geschätzter Tiermediziner. Sein Einsatz und Rat waren bei Viehseuchen stets gesucht. In den Jahren von 1749 bis 1754 griff man deswegen im Allgäu nicht nur auf die Dienste eines Dr. Zollikofer aus St. Gallen, sondern auch auf jene Meister Jakob Vollmars zurück. Obwohl Vollmar offiziell die Ausübung der Tierheilkunde verboten war, erstellte er im Auftrag des Bregenzer Oberamtes mehrere Sachverständigengutachten. In diesen berichtete er, dass er beim Kronenwirt zu Bregenz zwei Stück Vieh mit einem gewüssen Bulfer geheilt habe. Im Unterschied zu Zollikofer gab er die Zusammensetzung seiner Heilmittel nicht bekannt. 102 Sein Amtsbezirk war indes so groß, dass er für die abgelegenen Gebiete - beispielsweise für das Montafon - einen eigenen Freimann anstellte. 103 Er wurde also gewissermaßen zum Unternehmer. Auch der von ihm angestellte Freimann wurde dazu verpflichtet, die Tiermedizin auszuüben. So heißt es im Anstellungsvertrag Meister Christoph Müllers - es handelte sich übrigens um einen voll ausgebildeten Scharfrichter -, dass er sich, wo man ihn im Land bei krankem oder verendetem Vieh benötige, getreulich brauchen lassen und dass er krankem Vieh seine Medizin um billigen Lohn verabreichen solle. Dazu kamen noch die üblichen Aufgaben eines Wasenmeisters. 104 100 Dazu: W. S CHEFFKNECHT , Wasenmeister (Anm. 91), S. 249f. 101 W. S CHEFFKNECHT , Scharfrichter (Anm. 91), S. 126-128. Zum jüdischen Pferdehandel in Hohenems: K ARL H EINZ B URMEISTER , Der jüdische Pferdehandel in Hohenems und Sulz im 17. und 18. Jahrhundert (Veröff. der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 3), Wiesbaden, 1989; D ERS ., Der Hohenemser Pferdehändler Mayer Moos Jäcklis (ca. 1715- 1779), in: Jüdisches Museum Hohenems Jahrbuch 1 (1989), S. 14-28. 102 M. W IEDEMANN , Eine Allgäuer Scharfrichter-Familie, Teil 2, in: Holunder 9/ 48 (1931), S. 1f., hier 2. 103 In der Bregenzer Nachrichterordnung von 1574 heißt es dazu ausdrücklich, es solle das wasenmaisterambt gemeltem nachrichter in der herrschafft Bregennz, so weit er dasselbig erraichen unnd versehen khan, zustehen; VLA, Urkunden 6553: Bregenzer Nachrichterordnung 1574. 104 VLA, Vogteiamt Bludenz, Schachtel 25, Nr. 190. <?page no="206"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 206 In der Reichsstadt Kaufbeuren griff der Rat bei Tierseuchen im 18. Jahrhundert mehrfach auf die tierärztliche Expertise ihrer Scharfrichter zurück. 105 Auch im Hochstift Augsburg und in Landsberg am Lech wirkten Scharfrichter erfolgreich als Veterinäre. 106 Abraham Näher, der Nachrichter von Lindau, galt Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls als erfahren in der Tierheilkunde. Anfang 1791 unterstützte der Rat der Reichsstadt seine Bewerbung um die Wasenmeisterei der benachbarten Herrschaft Wasserburg und betonte in einem Schreiben an das dortige Obervogteiamt, Näher sei wirklich ein brafer mann und fähig, in allen Fällen auch in der Vieharzneykunde gute Dienste zu leisten. 107 Darüber hinaus erfüllten die Scharfrichter weitere hygienepolizeiliche Aufgaben. In den Städten des Untersuchungsraums gehörte vor allem die Reinigung der Abwassergräben von Unrat zu ihren Aufgaben. 108 Insbesondere in Pestzeiten kam dieser Art der Tätigkeit erhöhte Bedeutung zu. 109 5. Regionale Faktoren Die medizinische Tätigkeit der frühneuzeitlichen Scharfrichter wurde in ihrem Umfang auch durch eine Reihe regionaler Faktoren bestimmt. Von Bedeutung war sicherlich die Stellung der örtlichen Ärzte und Chirurgen. In Lindau waren die Stadtärzte bestrebt, die Tätigkeit der Scharfrichter auf den Bereich der Handwerkschirurgen einzuengen. In St. Gallen und Schaffhausen setzten sich dagegen die Bader und Chirurgen durch, indem es ihnen gelang, Ratsverbote für die Behandlung von Beinbrüchen und ähnlichen Verletzungen durch die Nachrichter zu erwirken. In St. Gallen gingen freilich auch die Ärzte gegen die lästige Konkurrenz vor. Sie strebten aber kein Verbot an, sondern schlugen vor, dass die bedürftigen Patienten in der Stadt nur noch dann Unterstützung aus den kommunalen Sozialwerken erhalten sollten, wenn sie ihre Medikamente von den Ärzten oder Apothekern bezogen. 110 Dennoch gelang es den universitär gebildeten Ärzten sowie den Badern und Chirurgen nirgends im Untersuchungsraum, eine konsequente Ausschaltung der Scharfrichterärzte durchzusetzen. Der Hauptgrund dafür, dass die Magistrate ein allzu 105 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 219. 106 H. S CHUHMANN , Scharfrichter (Anm. 20), S. 219, 278f., Anm. 1771. 107 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Magistrat der Reichsstadt Lindau an das Obervogteiamt Wasserburg, 19.1.1791. 108 Für Lindau beispielsweise: StadtA Lindau, Ratsprotokolle 1691, S. 239f.; Ratsprotokolle 1693, S. 228-229; Ratsprotokolle 1694, S. 484. 109 R OSMARIE A UER , »Sterbende Läufft«. Pestepidemien in und um Lindau, in: Jahrbuch des Landkreises Lindau 12 (1997), S. 28-34, hier 30. 110 H. P ATSCHEIDER , Stadtärzte (Anm. 48), S. 100. <?page no="207"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 207 rigoroses Vorgehen gegen die medizinische Tätigkeit der Nachrichter scheuten, ist, dass sie - wie auch der Wasendienst und die damit verbundene Tiermedizin - für diese eben keine unbedeutende Nebentätigkeit darstellte, sondern einen wesentlichen Beitrag zu ihrer wirtschaftlichen Absicherung und damit zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems leistete. Um dies verstehen zu können, müssen wir einen kurzen Blick auf das Amt des frühneuzeitlichen Scharfrichters, wie es sich im Reich während des 16. Jahrhunderts ausdifferenziert hatte, werfen. Das peinliche Strafsystem mit seiner breiten Palette an Todes-, Körper- und Ehrenstrafen und der Inquisitionsprozess, der einen genau reglementierten Einsatz der Folter als Mittel der Wahrheitsfindung vorsah, benötigten einen gut ausgebildeten und professionellen Vollstrecker. 111 ›Gelegenheitshenker‹, wie wir sie aus dem frühneuzeitlichen England kennen, hatten in diesem System keinen Platz. 112 Da der frühneuzeitliche Staat, dessen Strukturen sich etwa zur selben Zeit zunehmend verfestigten, »die Strafjustiz als eine seiner Hauptpflichten begriff«, musste ständig ein Scharfrichter verfügbar sein. 113 Aufwändige Hinrichtungsarten wie das Verbrennen oder das Rädern machten es notwendig, dass dieser meist mehrere Knechte beschäftigte. Scharfrichter wurde damit zu einem Beruf, der eine mehrjährige Ausbildung verlangte, die mit jener im zünftigen Handwerk durchaus vergleichbar war. Um die Inhaber dieses Amtes und ihre Familien sozial abzusichern, bildete sich fast überall im Reich im Laufe des 16. Jahrhunderts ein Entlohnungssystem heraus, das ein jährliches Wartgeld mit Naturalleistungen - beispielsweise der Zuteilung von Behausung, Brennholz etc. - und fixe Taxen für einzelne Tätigkeiten kombinierte. 114 Damit blieb eine gewisse Abhängigkeit des Scharfrichtereinkommens von den konjunkturellen Schwankungen des Strafvollzugs bestehen. In den kleinen Territorien, wie wir sie im Bodenseeraum und in Oberschwaben häufig finden, mussten sich 111 Zur Ausdifferenzierung des frühneuzeitlichen Scharfrichteramts vgl. W. S CHEFFKNECHT , Carnifex (Anm. 16), S. 131-137. 112 J UTTA N OWOSADTKO , »Scharfrichter« - »Hangman«. Zwei soziokulturelle Varianten im Umgang mit dem Vollzug der Todesstrafe, in: Archiv für Kulturgeschichte 74/ 1 (1992), S. 147-172. 113 G ISELA W ILBERTZ , Scharfrichter, in: F RIEDRICH J AEGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 11, Stuttgart-Weimar 2010, Sp. 658-661, hier 659. 114 Vgl. dazu beispielsweise: VLA, Urkunden 6553: Bregenzer Nachrichterordnung, 1574; Urkunden 4988: Bregenzer Nachrichterordnung, 30.5.1608; Urkunden 8956: Gebührenordnung für Meister Mathäus Fux, 28.2.1711; Urkunden 7183: Bregenzer Nachrichterordnung, 13.9.1762; VLA, Reichsgrafschaft Hohenems 69,19: Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Johannes Reichle, 27.3.1680; Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Hans Martin Miller, 20.3.1685; Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Christian Rauch, 1.4.1691; Bestallungsurkunde für den Nachrichter Meister Michael Reichle, 23.4.1738. <?page no="208"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 208 diese Schwankungen besonders stark auswirken. Hier stoßen wir auf Hochgerichtsbezirke, in denen mitunter jahrelang keine einzige Hinrichtung anstand. 115 Das stellte insbesondere für die dortigen Scharfrichter ein erhebliches finanzielles Problem dar. Aus rein ökonomischen Gründen wäre es für die kleinen Territorien sinnvoll gewesen, auf die Anstellung eines eigenen Nachrichters zu verzichten und im Bedarfsfall auf den eines größeren Nachbarterritoriums zurückzugreifen. Vor dem Dreißigjährigen Krieg finden wir im Gebiet des heutigen Vorarlberg eine derartige Lösung. Der Bregenzer Scharfrichter war lange Zeit für alle österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg sowie für das reichsunmittelbare Hohenems und einige Territorien außerhalb der heutigen Landesgrenzen zuständig. Erst nach 1649 finden wir in Hohenems einen eigenen Scharfrichter. 116 Auf den ersten Blick erscheint das widersinnig, da die finanzielle Situation der Reichsgrafen nun sehr viel schlechter war als vor dem Dreißigjährigen Krieg. Tatsächlich entsprach ihr Verhalten aber der politischen Logik der Frühen Neuzeit. Gerade im ›vielherrigen‹ Schwaben gehörte die sichtbare Betonung der Hochgerichtsbarkeit zu den wichtigsten Rechtsargumenten, um die Landesherrschaft zu begründen. 117 Man konnte also auf einen eigenen Scharfrichter fast ebenso wenig verzichten wie auf einen eigenen Galgen, wenn man seine Eigenständigkeit nicht auf Spiel setzen wollte. Die Tätigkeit als Human- und Veterinärmediziner oder als Wasenmeister half, den Scharfrichter von den konjunkturellen Schwankungen der Strafjustiz unabhängiger zu machen. Dies mag wenigstens zum Teil erklären, weshalb die Obrigkeiten gerade in den Reichsstädten um den Bodensee und in Oberschwaben die medizinische Tätigkeit der Scharfrichter trotz aller Beschwerden der Ärzteschaft lange duldeten. Das Beispiel Lindau belegt dies eindrucksvoll. Hier übten die Scharfrichter ihre medizinische Tätigkeit nicht nur bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit aus, zeitweise erhöhte der Verweis auf entsprechende Kompetenzen die Chancen eines Bewerbers auf eine Anstellung. 118 Die Räte waren stets bestrebt, die Kontrolle über die Art der medizinischen Tätigkeit der Scharfrichter zu behalten und die Konkurrenzsituation zwischen diesen und den ›gelehrten‹ Ärzten zu moderieren. Dabei spielte die soziale Situation der 115 Vgl. für ein Beispiel: W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Hochgerichtsbarkeit und Galgen im Reichshof Lustenau, in: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 135 (1991), S. 217-222. 116 W. S CHEFFKNECHT , Scharfrichter (Anm. 91), S. 23-29. 117 S ABINE U LLMANN , Methodische Perspektiven der Herrschaftsgeschichte in komplexen territorialen Landschaften der Frühen Neuzeit, in: S IGRID H IRBODIAN / C HRISTIAN J ÖRG / S ABINE K LAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, S. 191-208, hier 199. 118 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Johann Näher von Schaffhausen an Rat und Bürgermeister der Reichsstadt Lindau, 18.8.1623. <?page no="209"?> S EGNER ODER G EL EHR T ER M ED IZIN ER ? 209 Scharfrichter eine zentrale Rolle. Johannes Meder wusste seine medizinische Tätigkeit 1658 in Lindau auch zu verteidigen, indem er darauf verwies, dass er ohne sie mit seinen fünff kinderlein darben und mangel leiden müsste und auch kein gesind erhalten köndte. 119 Meder konnte dem Rat deutlich machen, dass es ihm ohne diese Einkünfte nicht möglich wäre, den Scharfrichterbetrieb mit den fallweise notwendigen Knechten aufrecht zu halten. 1754 argumentierte einer seiner Nachfolger, Abraham Näher, ähnlich: Er bat den Rat nachdrücklich, auf dem Land weiterhin Patienten behandeln zu dürfen, dann er sonsten ohnmögl. bej der bestallung bestehen köndte. 120 Auch er konnte den reichsstädtischen Räten seinen Standpunkt offensichtlich ausreichend klar machen, denn ihm wurde in der Folge lediglich verboten, in der Stadt und den inneren Gerichten Zu den Burgern und Unterthanen in die Häuser zu gehen. 121 In den Reichsstädten scheint die ärztliche Tätigkeit eine geradezu unverzichtbare Einkunftsquelle gewesen zu sein. Jutta Nowosadtko spricht zu Recht von einem »originäre[n] und gleichwertige[n] Bestandteil des Berufsfeldes«. 122 Das dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass die städtischen Obrigkeiten trotz der zunehmenden »Professionalisierung des Gesundheitsmarkts« 123 bedeutend länger bereit waren, die Scharfrichtermedizin zuzulassen, als in den großen Territorien wie beispielsweise im Herzogtum Bayern oder in Tirol. Anders war die Situation in einem städtelosen Kleinterritorium wie Hohenems oder in den österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg. Für Hohenems ist bislang keine humanmedizinische Tätigkeit der dortigen Scharfrichter bekannt geworden. Im österreichischen Vorarlberg ist das lediglich für die Stadt Bregenz der Fall. Nach allem, was bekannt ist, erreichte sie aber nie auch nur annähernd den Stellenwert, den sie etwa in Lindau hatte. Dies dürfte vor allem mit der landwirtschaftlichen Ausrichtung der Gesellschaft in diesen Territorien zusammenhängen. Der mit dem österreichischen Scharfrichteramt in Bregenz verbundene Wasenbezirk war so groß, dass der Bregenzer Meister, wie gezeigt, gezwungen war, Teile davon zu verpachten. In Hohenems spielte der Pferde- und Viehhandel eine bedeutende Rolle. Der dortige Scharfrichter konnte in seiner Eigenschaft als Wasenmeister ausreichend Betätigung als Sachverständiger in diesem Zusammenhang finden. Das Amt war in den österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg und in Hohenems durch Einkünfte aus der Wasenmeisterei und ihrem Umfeld finanziell ausreichend abgesichert. 119 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Johannes Meder an Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Lindau, 17.3.1658. 120 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Ratsdekret, 2.4.1754. 121 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Resolution des Geheimen Rats der Reichsstadt Lindau, 3.4.1754. 122 J. N OWOSADTKO , Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben (Anm. 4), S. 44. 123 J. N OWOSADTKO , Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben (Anm. 4), S. 54. <?page no="210"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 210 In Lindau dagegen war die Situation anders. Hier klagten die Scharfrichter darüber, dass ihr Wasenbezirk zu klein sei. 1791 führte Meister Abraham Näher in einer Eingabe an den Lindauer Magistrat aus, dass in den meisten Reichs- und landesherrlichen Städten den Scharfrichtern der Wasendienst zugewiesen worden sei, damit sie für ihre benöthigte Knechte, Nahrung und Beschäftigung haben, folglich auch auf alle sich ereignende Fälle mit solchen versehen seyen. In Lindau sei der Ertrag des Wasens aber so gering geworden, dass er damit nicht einmal den Lohn seiner Knechte bezahlen könne, weil viele Pferdte abgeschaft worden und viele den Wasen-Knechten zugehörigen Verrichtungen und Geschäfte durch Metzger, Soldaten, Bauren, Viehärzte etc. verrichtet werden. Wenn er aber dennoch gebraucht würde, dann seien die Unkosten für ihn höher als der Nutzen. Daher habe er sich auswärtiger Wasenknechte bedienen müssen. Diese seien so in Lindau bekannt geworden und kämen nun an Markttagen oft in die Stadt, durchzogen die Märkte und Pferdte-Ställe, und entführten mir Pferdt und Hunde etc. Näher bat den Magistrat, das abzustellen, damit er in die Lage versetzt werde, künftig wieder einen Knecht anstellen zu können. 124 Noch im selben Monat unterstützte der Rat den Scharfrichter bei seinen Bemühungen um den Wasendienst in der Herrschaft Wasserburg. 125 Es kam also der Obrigkeit entgegen, wenn die Scharfrichter auch andere Tätigkeiten ausübten, die weniger konjunkturabhängig waren als der Strafvollzug. Hier dürfte beispielsweise die Verleihung des Wasendiensts an die Nachrichter ihren Ursprung haben. Eine florierende medizinische oder veterinärmedizinische Tätigkeit der Scharfrichter konnte deswegen im Interesse der Obrigkeit liegen. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass sich die Scharfrichtermedizin in den kleinen Territorien des Untersuchungsraums, vor allem in den Reichsstädten, besonders lange halten konnte. Hier mussten die Nachrichter ihre Heilkunst in der Regel auch nicht im Geheimen ausüben, sondern konnten ihre Dienste selbstbewusst auf dem Gesundheitsmarkt anbieten. Regionale Faktoren wie die Stärke der jeweiligen Baderzunft oder der lokalen Ärzteschaft entschieden, ob sie sich dabei eher im Bereich der Wundarznei oder in jenem der inneren Medizin positionieren mussten. Auch die Struktur der jeweiligen Herrschaft scheint eine wichtige Rolle gespielt zu haben. In den urban geprägten Teilen des Untersuchungsraums war die Präsenz der Scharfrichterärzte ungleich höher als in jenen, die eher landwirtschaftlich ausgerichtet waren. In einem städtelosen Territorium wie dem Reichsstand Hohenems weist bislang nichts auf eine humanmedizinische Tätigkeit der Nachrichter hin. Hier scheint die Veterinärmedizin an deren Stelle getreten zu sein. 124 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Meister Abraham Näher an den Rat der Reichsstadt Lindau, 4.1.1791. 125 StadtA Lindau, Reichsstädtische Akten 49,7: Rat der Reichsstadt Lindau an das Obervogteiamt Wasserburg, 19.1.1791. <?page no="211"?> II. Medizin auf dem Land <?page no="213"?> 213 C LAUDIA R IED Chance zur gegenseitigen Annäherung? Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in christlichjüdischen Gemeinden Bayerisch-Schwabens während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts * Seine ärztliche Hilfe widmete er stets ohne Unterschied unverdrossen und mit immer gleichem Eifer Juden u. Christen, Reichen u. Armen. Mit diesen Worten charakterisierte das Bezirksamt Donauwörth am 14. Juli 1879 in einem Schreiben an die Regierung von Schwaben und Neuburg rückblickend das beinahe 50-jährige Wirken des jüdischen Arztes Dr. Raphael Mai in Harburg. Die Aussage der Behörde belegt, dass sich mit Dr. Mai im Verlauf des 19. Jahrhunderts in einer ländlich geprägten Gegend Bayerisch-Schwabens ein jüdischer Arzt etablieren konnte, dessen Klientel sowohl christliche als auch jüdische Patienten umfasste. 1 Das Schlaglicht auf die medizinische Tätigkeit von Dr. Mai soll im Folgenden in den Kontext der gesundheitlichen Versorgung in christlich-jüdischen Landgemeinden in Bayerisch-Schwaben während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingebettet werden. Dazu beschäftigt sich der vorliegende Beitrag zunächst kurz mit der Quellenlage (1.), um dann in einem zweiten Schritt abklären zu können, wie die medizinische Versorgung in christlich-jüdischen Gemeinden auf dem Land gewährleistet wurde und welche Veränderungen sich nach dem Übergang Schwabens an das Königreich Bayern feststellen lassen (2.). In einem dritten Punkt wird anschließend die Frage in den Fokus rücken, welchen Perspektiven und Beschränkungen sich gerade jüdische Mediziner im Verlauf des 19. Jahrhunderts gegenübersahen (3.), um abschließend zu bewerten, inwieweit die gesundheitliche Versorgung zu einer gegenseitigen Annäherung von Juden und Christen beitragen konnte (4.). * Grundlegend zur Geschichte der Juden in Bayern: R OLF K IESSLING , Jüdische Geschichte in Bayern. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern 11), Berlin 2019. 1 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 352: Schreiben des Bezirksamts Donauwörth an die Regierung von Neuburg und Schwaben vom 14.7.1879. <?page no="214"?> C LA UDIA R IED 214 1. Quellenlage Beim derzeitigen Forschungsstand ist festzustellen, dass sich für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bayerisch-Schwaben keine Nachlässe jüdischer Landärzte oder anderer medizinisch Tätiger wie beispielsweise Hebammen erhalten haben. Das heißt, es existieren weder Akten über deren Patienten noch Verzeichnisse oder Aufzeichnungen, die detaillierten Aufschluss über die alltägliche Arbeit vor Ort geben, weshalb zum medikalen Handeln an sich im Folgenden kaum Aussagen getroffen werden können. Darüber hinaus hat sich im Zuge umfangreicher Recherchen gezeigt, dass sich weder in den einschlägigen kommunalen Archiven noch in den Central Archives for the History of Jewish People nennenswerte Informationen über Juden und Jüdinnen befinden, die zur fraglichen Zeit im Zusammenhang mit dem medizinischen Bereich standen. Für einen Eindruck von der medizinischen Situation sind deswegen die administrativen Quellen der schwäbischen Unter- und Mittelbehörden ein wichtiger Bestand, da mit der zunehmenden Staatlichkeit im 19. Jahrhundert auch eine verstärkte Aufsicht über das Gesundheitswesen einherging. Die Archivalien, die einen Bezug zur jüdischen Bevölkerung aufweisen, enthalten einige Übersichtslisten, Statistiken sowie Korrespondenz im Zusammenhang mit der Niederlassung von Ärzten und sogenanntem medizinischen Hilfspersonal. Darüber hinaus existieren ein paar wenige Spezialakten zur Leichenbeschau, 2 zur Entschädigung von Ärzten für die Visitation von Eisenbahnarbeitern 3 und zur Ausübung der Heilkunde durch nicht approbierte Personen. 4 Insgesamt geben diese Unterlagen jedoch nur vereinzelt Informationen zur medizinischen Versorgung in den in Frage kommenden Kommunen auf dem Land wieder. Obgleich der vorhandene Quellenbestand zudem in entscheidender Weise durch die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv gelagerten Personalakten der jüdischen Mediziner Dr. Max Binswanger 5 und Dr. Raphael Mai 6 ergänzt werden kann, muss dennoch konstatiert werden, dass die Überlieferung zum Thema äußerst lückenhaft ist. 2 Vgl. dazu u. a.: StA Augsburg, BA Krumbach 2912/ 1 sowie 2912/ 2. 3 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330. 4 Vgl. dazu u. a.: StA Augsburg, BA Wertingen 2192; BA Zusmarshausen 2066; BA Donauwörth Neue Serie 8740. 5 BayHStA, Ministerium des Innern 60456. 6 BayHStA, Ministerium des Innern 60338. <?page no="215"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 215 2. Die medizinische Versorgung in christlich-jüdischen Landgemeinden in Schwaben vor und nach dem Übergang an das Königreich Bayern Wie Gregor Maier nachweisen konnte, sind in der Region jüdische Ärzte erstmals um 1350 in Augsburg belegbar. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese Ärzte bereits damals nicht nur jüdische, sondern auch christliche Patienten behandelten, die meist der Oberschicht zuzurechnen waren. 7 Auch für das mittelalterliche Würzburg gibt es ähnliche Befunde, 8 und während der Frühen Neuzeit kann ein ursprünglich aus Ulm stammender jüdischer Arzt namens Lazarus nachgewiesen werden, der u. a. in Burgau, Esslingen und ab 1544 in Günzburg praktizierte und offenbar sowohl bei Juden als auch Christen großes Ansehen genoss. 9 Allerdings sind die jüdischen Mediziner des Mittelalters und der Frühen Neuzeit quellenmäßig nur sehr schwer zu greifen und bildeten in Relation zur jüdischen Gesamtbevölkerung eine Seltenheit. 10 Deshalb suchten - wie Sabine Ullmann gezeigt hat - die schwäbischen Juden im 18. Jahrhundert in gesundheitlichen Notsituationen durchaus christliche Bader auf, die sich in ihrer Funktion als Wundärzte auch um das medizinische Wohlergehen ihrer Patienten kümmerten. Diese Praxis scheint gegen Ende der Frühen Neuzeit nicht unüblich gewesen zu sein, da aufgrund der oftmals sehr angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse der meisten Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinden ein Besuch bei einem Arzt in der Regel unerschwinglich war. Dementsprechend lohnte sich für die jüdischen Ärzte selbst eine Niederlassung nur in Gemeinden mit einem solventen Patientenkreis, und deshalb können jüdische Mediziner fast immer lediglich in stadtnahen Gemeinden wie beispielsweise 1742 in Kriegshaber nachgewiesen werden. 11 Mit der Eingliederung in den bayerischen Staat am Anfang des 19. Jahrhunderts begann für die schwäbischen Landjuden schließlich sowohl in rechtlicher als auch 7 G REGOR M AIER , Händler, Ärzte, Bauarbeiter. Die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden 1276-1348, in: M ICHAEL B RENNER / S ABINE U LLMANN (Hg.), Die Juden in Schwaben (Studien zur Geschichte und Kultur der Juden in Bayern 6), München 2013, S. 41-62, hier 53f., 60. 8 G. M AIER , Händler, Ärzte, Bauarbeiter (Anm. 7), S. 61. 9 S TEFAN L ANG , Zwischen Reich und Territorien. Innen- und Außenperspektiven jüdischen Lebens im »Land zu Schwaben« in der Frühen Neuzeit, in: M. B RENNER / S. U LLMANN (Hg.), Die Juden in Schwaben (Anm. 7), S. 115-131, hier 122. 10 G. M AIER , Händler, Ärzte, Bauarbeiter (Anm. 7), S. 53f. 11 S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), Göttingen 1999, S. 389f. <?page no="216"?> C LA UDIA R IED 216 sozialer Hinsicht eine einschneidende Phase. 12 Wie die neuere Forschung gezeigt hat, war es einigen schwäbischen Landjudengemeinden aufgrund der spezifischen Herrschaftsverhältnisse während der Frühen Neuzeit nämlich gelungen, weitgehende Autonomie und in manchen Belangen sogar Gleichberechtigung gegenüber den christlichen Kommunen zu erlangen. 13 Demgegenüber verhinderten die bayerischen Herzöge und Kurfürsten jahrhundertelang jüdische Niederlassungen in ihrem Herrschaftsgebiet, weshalb mit der Ausweisung von Juden aus dem Herzogtum durch Albrecht V. 1553 Bayern lange als ein ›Staat ohne Juden‹ galt. Erst mit der Auflösung des Alten Reiches und den damit einhergehenden Gebietszuwächsen zwischen 1777 und 1806 sahen sich die Wittelsbacher erstmals wieder mit einem deutlichen Anwachsen des jüdischen Bevölkerungsanteils konfrontiert. 14 Infolgedessen erließ König Maximilian I. 1813 das bayerische Judenedikt, das die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens im Königreich bis in die 1860er-Jahre hinein in entscheidender Weise bestimmte und die rechtliche Gleichstellung der Juden mit den christlichen Untertanen über mehrere Jahrzehnte hinweg konsequent verhinderte. 15 Gleichzeitig fiel der Übergang der schwäbischen Landjudengemeinden an das Königreich Bayern auch im Hinblick auf das Gesundheitswesen in eine Umbruchphase. Da das im Kurfürstentum Bayern seit 1755 eigentlich für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung sowie für die Ausbildung von Heilberufen zuständige Collegium medicum seinen Aufgaben nur ungenügend nachkam, zielten die unter Maximilian von Montgelas bis 1808 durchgeführten Reformen auf eine weitere Professionalisierung des medizinischen Personals sowie auf eine staatliche Monopolisierung bzw. Vereinheitlichung des Gesundheitswesens. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Einführung staatlich angestellter Landgerichtsbzw. Physikatsärzte, denen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen »die medizinische Versorgung bzw. gesundheitliche Beaufsichtigung der Bevölkerung« oblag. Unterstellt waren diese 12 Vgl. dazu u. a.: C LAUDIA R IED , Die bayerische Judenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deren Folgen für das schwäbische Landjudentum, in: Aschkenas 21,1-2 (2011), S. 79-104. 13 Vgl. dazu vor allem: R OLF K IESSLING / S ABINE U LLMANN , Christlich-jüdische »Doppelgemeinden« in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17./ 18. Jahrhunderts, in: C HRISTOPH C LUSE u. a. (Hg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung (5.-18. Jahrhundert) (Forschungen zur Geschichte der Juden A/ 13), Hannover 1999, S. 513-534; sowie R OLF K IESSLING , Gab es einen pragmatischen Weg zur Emanzipation? Die jüdischen Gemeinden in Schwaben an der Schwelle zur Moderne, in: M. B RENNER / S. U LLMANN (Hg.), Die Juden in Schwaben (Anm. 7), S. 175- 199, hier bes. 193-196. 14 S TEFAN S CHWARZ , Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten, München 1980, S. 51-57. 15 Vgl. dazu u. a.: C LAUDIA R IED , Zeit des Umbruchs? Die Auswirkungen des bayerischen Judenedikts auf die schwäbischen Landjudengemeinden (1813-1850) (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte 6) [im Druck]. <?page no="217"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 217 Landgerichtsärzte den jeweiligen Kreisregierungen, die ihrerseits gegenüber dem Staatsministerium des Innern weisungsgebunden waren. 16 Mit diesem für ihn charakteristischen Vorgehen schuf Montgelas auch im Gesundheitswesen ein zentralistisch orientiertes Modell, das einen reibungsloseren Ablauf der medizinischen Versorgung garantieren sollte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit den schwäbischen Juden Möglichkeiten zur Verfügung standen, an diesem System zu partizipierten. Bei der Suche nach Juden im Untersuchungsgebiet, die sich unter den neuen politischen Rahmenbedingungen im gesundheitlichen Bereich betätigten, findet sich 1807 zunächst die 52-jährige Hebamme Monika Ullmann aus Fellheim, die den Frauen ihrer Heimatgemeinde während ihrer Schwangerschaften und Geburten zur Seite stand. Vermutlich verdiente die verwitwete Frau mit ihrer Tätigkeit den Lebensunterhalt für sich und ihre fünf Kinder, 17 genauere Informationen über die berufliche Ausbildung der Hebamme, die 1843 im Alter von 88 Jahren starb, 18 über ihr medizinisches Wirken sowie über die Religionszugehörigkeit ihrer Patientinnen liegen jedoch nicht vor. Da die Gesamtbevölkerung der Landgemeinde Fellheim 1819 insgesamt gerade einmal 570 Einwohner umfasste, 19 ist allerdings davon auszugehen, dass Monika Ullmann nicht nur Jüdinnen betreute, sondern auch Christinnen zu ihren Klientinnen zählten. Denn gerade in medizinisch schlecht versorgten ländlichen Gebieten scheint im 19. Jahrhundert für die Hilfesuchenden die Religionszugehörigkeit nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Ausschlaggebend für die Betroffenen war vielmehr eine Linderung ihrer Beschwerden und so erklärt sich der ziemliche Zulauf von christlichen und jüdischen Patienten, den der Buttenwiesener Bierwirt Carl Sänger zum Ärger des Landgerichts Wertingen ab 1883 für sich verbuchen konnte. 20 Der Mann, der keine medizinische Ausbildung besaß, galt in der 16 E BERHARD J. W ORMER , Die bayerischen Physikatsberichte aus medizingeschichtlicher Sicht. Landgerichtsärzte, medizinische Praxis und die Perspektive des Kranken, in: P ETER F ASSL / R OLF K IESSLING (Hg.), Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen (Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde 2), Augsburg 2003, S. 125-142, hier 131-133, Zitat 132. 17 StA Augsburg, Regierung, Kammer des Innern 3901: Übersicht der in dem Königl. Bayerischen Patrimonialgericht Fellheim des Königl. Bayerisch. Landgerichts Illertißen Bezirk Ulm befindlichen Judenfamilien vom 7.2.1807. 18 StA Augsburg, BA Memmingen 1234: Eintrag in das Geburts-, Trauungs- und Sterberegister der israelitischen Gemeinde Fellheim 1835-1849. 19 W ILHELM R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim an der Iller/ Landkreis Memmingen, Fellheim 1960, S. 134. 20 StA Augsburg, BA Wertingen 2192: Verzeichniß derjenigen Individuen des ärztlichen Bezirkes Wertingen, welche ohne approbirte Ärzte zu sein, im Jahre 1883 die Heilkunde an Menschen ausgeübt haben vom 20.1.1884. <?page no="218"?> C LA UDIA R IED 218 weiteren Umgebung Buttenwiesens als Specialist in Behandlung von Brandwunden mittelst einer von seinem Vater, welcher diese Specialität gleichfalls übte, vererbten sogenannten »Brandsalbe« 21 und verfügte mit seiner Bierwirtschaft vor Ort über eine ideale Vertriebsmöglichkeit für sein Produkt. 22 Zudem zeigte Sängers Brandsalbe offensichtlich Wirksamkeit, denn nach der Übernahme von seinem Vater betrieb er noch weit mehr als zehn Jahre lang unerlaubterweise die Herstellung und den Verkauf seines Präparates, und das auch dann noch, als er im September 1886 durch das Landgericht Wertingen mit einer Strafe von 12 Mark sanktioniert worden war. 23 Doch nicht nur christliche Patienten wandten sich in Krisenzeiten an jüdische Dienstleister und Ärzte. Wie sich anhand der Armenrechnungen der jüdischen Kultusgemeinde Altenstadt belegen lässt, wurden zur medizinischen Versorgung der jüdischen Ortsarmen beinahe bis zur Jahrhundertmitte ausschließlich christliche Ärzte hinzugezogen. 24 Auch die Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde Buttenwiesen wurden in Ermangelung eines niedergelassenen praktischen Arztes bis 1837 durch den christlichen Distriktchirurgen medizinisch versorgt, der die Gemeinde einmal wöchentlich besuchte. Darüber hinaus vertrauten die Buttenwiesener Juden genau wie ihre Vorfahren bis weit in das 19. Jahrhundert hinein bei gesundheitlichen Problemen trotz aller staatlichen Reformversuche zur Vereinheitlichung und Professionalisierung des Medizinwesens christlichen Badern, Schäfern sowie Heilern, die bei vielen Krankheiten eine günstigere Abhilfe versprachen als akademisch ausgebildete Ärzte. 25 Obwohl es Juden während der Frühen Neuzeit nicht explizit verboten war, Medizin zu studieren und anschließend als Ärzte zu praktizieren, 26 gestaltete sich die Suche nach einem Studienplatz für viele Juden oftmals als sehr mühsam. Zudem war die Ausbildung abgesehen von dem hohen Zeit- und Kostenaufwand wie Hannes Ludyga zeigen konnte, durchaus auch mit antijüdischen Anfeindungen verbunden. 21 StA Augsburg, BA Wertingen 2192: Verzeichniß der nicht approbierten Personen im ärztlichen Bezirke Wertingen, welche [sich] im Jahre 1886 mit Behandlung von Krankheiten abgegeben haben vom 12.1.1887. 22 StA Augsburg, BA Wertingen 2192: Verzeichniß derjenigen Individuen des ärztlichen Bezirkes Wertingen, welche ohne approbirte Ärzte zu sein, im Jahre 1883 die Heilkunde an Menschen ausgeübt haben vom 20.1.1884. 23 StA Augsburg, BA Wertingen 2192: Verzeichniß der nicht approbierten Personen im ärztlichen Bezirke Wertingen, welche [sich] im Jahre 1886 mit Behandlung von Krankheiten abgegeben haben vom 12.1.1887. 24 CAHJP, Altenstadt NE/ 50: Jahresabrechnungen der Armenpflege der jüdischen Kultusgemeinde Altenstadt, Einträge vom 28.10.1833, 30.12.1838, 15.10.1839 sowie 30.10.1840. 25 I SRAEL L AMMFROMM , Chronik der Marktgemeinde Buttenwiesen, Buttenwiesen 1911, S. 77. 26 Vgl. dazu beispielsweise: StA Augsburg, Regierung, Kammer des Innern 3901: Schreiben des Königlichen Generalkommissariats Schwaben an das Ministerium des Innern vom 2.8.1808. <?page no="219"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 219 Mit dem Übergang Schwabens an das Königreich änderte sich diese Situation zunächst nicht grundlegend, 27 weshalb erst ab 1831 mit Dr. Raphael Mai in Harburg 28 und spätestens ab 1840 mit Dr. Ludwig Mannheimer in Fellheim zwei jüdische Ärzte im heutigen Bayerisch-Schwaben nachgewiesen werden können. 29 Genau wie ihre mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kollegen beschränkten Dr. Mai und Dr. Mannheimer ihre Tätigkeit keineswegs auf einen jüdischen Patientenkreis, sondern behandelten selbstverständlich auch Christen. Wie aus den vorhandenen Akten hervorgeht, etablierten sich beide schnell in einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft durch ihr medizinisches Können sowie ihren Umgang mit ihren Patienten und dementsprechend berichtete das Landgericht Illertissen 1852 in einem Schreiben an die Regierung von Schwaben und Neuburg von dem ausgezeichneten Ruf, den sich Dr. Mannheimer bei seinen Patienten in und um Fellheim erarbeitet hatte, weshalb er in den Königl. Bayeri. Gerichtsbezirken Illertissen, Babenhausen, Ottobeuren, Grönenbach pp eine ziemlich große Praxis [betrieb], was ihm wiederum durchaus auch viele Neider unter seinen Collegen der Umgegend [einbrachte]. 30 3. Perspektiven und Beschränkungen für jüdische Ärzte Die Feststellung des Landgerichts Illertissen wirft die Frage auf, mit welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich jüdische Ärzte im Verlauf des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen mussten und welche Perspektiven sich ihnen dabei langfristig möglicherweise geboten haben. Nach dem Erlass des bayerischen Judenedikts im Jahr 1813 verwehrte der sogenannte Matrikelparagraph den Juden im Königreich bis 1861 eine freie Niederlassung, d. h. sie durften sich unter bestimmten Voraussetzungen nur an den Orten ansässig machen, an denen bereits eine jüdische Kultusgemeinde existierte. Diese Bestimmung betraf von einigen Ausnahmen abgesehen in der Regel auch jüdische Ärzte, weshalb für diese angesichts der jüdischen Siedlungsstruktur in Bayerisch- Schwaben hauptsächlich Stellen auf dem Land in Betracht kamen. 27 H ANNES L UDYGA , Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (Juristische Zeitgeschichte Abt. 8: Judaica - Jüdisches Recht, Judenrecht, Recht und Antisemitismus 3), Berlin 2007, S. 204. 28 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 352: Schreiben des Bezirksamts Donauwörth an die Regierung von Neuburg und Schwaben vom 14.7.1879. 29 StA Augsburg, Schlossarchiv Fellheim 40: Verzeichnis sämtlicher Schutzjuden in Fellheim und ihrer an die Gutsherrschaft zu leistenden jährlichen grundherrlichen Abgaben vom 30.5.1840. 30 StA Augsburg, Regierung von Schwaben und Neuburg, Präsidium (1837-1935) 3680: Schreiben des Landgerichts Illertissen an die Regierung von Schwaben, Präsidium vom 17.2.1852. <?page no="220"?> C LA UDIA R IED 220 Einer der sechs jüdischen Mediziner, die 1852 im Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg lebten, ist der bereits erwähnte Dr. Raphael Mai. 31 Anhand seines Werdegangs kann die Situation jüdischer Ärzte in christlich-jüdischen Gemeinden besonders gut abgelesen werden. Deshalb soll er im Folgenden etwas näher vorgestellt werden. Der am 4. Mai 1806 in Harburg 32 geborene Raphael Mai wurde 1829 in Würzburg promoviert, anschließend legte er im Oktober 1831 in München die Approbationsprüfung sowie die Prüfung für die Anstellung im Staatsdienst ab. Im gleichen Monat kam er als Choleraarzt nach Harburg und wurde dort als praktischer Arzt tätig. 33 Vermutlich aufgrund der Bestimmungen des bayerischen Judenedikts konnte sich Dr. Mai allerdings erst 1845 in Harburg ansässig machen 34 und seine Verlobte Mina Hechinger heiraten. 35 Wahrscheinlich um die Chancen für einen positiven Bescheid seines Niederlassungsgesuchs zu erhöhen, 36 erwarb Mai, der zu dieser Zeit über ein Vermögen von immerhin 7.700 fl. verfügte, 1845 die obere Hälfte eines zentral in Harburg gelegenen Hauses (heute Donauwörther Straße 6), wo er neben seiner Wohnung auch seine Arztpraxis einrichtete. 37 Besonders charakteristisch für die Dienstzeit von Dr. Mai ist sein ausgeprägtes wissenschaftliches Interesse. So reiste er während einer Cholera-Epidemie Ende 1831 eigens nach München, um die Krankheit besser erforschen zu können. Anschließend setzte er sein dort gewonnenes Wissen erfolgreich bei der Behandlung von Cholerapatienten im Ries ein. Außergewöhnliches Engagement bewies Dr. Mai zudem auch, als Ende der 1830er-Jahre die Pocken das Ries fest im Griff hatten und 31 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben der Regierung von Schwaben und Neuburg an das Staatsministerium des Innern vom 22.8.1852. 32 StA Augsburg, Regierung von Schwaben und Neuburg, Präsidium (1837-1935) 1854: Schematismus sämtlicher Civil-Ärzte im Regierungsbezirk von Schwaben und Neuburg vom 2.1.1871. 33 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 352: Schreiben des Dr. Raphael Mai an das Bezirksamt Donauwörth vom 9.7.1879. 34 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 25.5.1848. 35 CAHJP, Harburg S 161/ 2: Eintrag im Protokollbuch der jüdischen Kultusgemeinde Harburg vom 3.6.1845. 36 In einigen Landgerichtsbezirken begünstigte der Nachweis von Hausbesitz den Erhalt einer Matrikelstelle. Vgl. dazu beispielsweise: StA Augsburg, BA Krumbach 2747: Schreiben der Regierung des Oberdonaukreises an das Landgericht Ursberg vom 21.10.1823; BA Krumbach 2759: Schreiben des Landgerichts Ursberg an Bernhard Levinger vom 16.12.1826; BA Krumbach 26841 I (1831-1835): Schreiben der Gemeindeverwaltung Hürben an das Landgericht Ursberg vom 5.7.1832; BA Krumbach 26841 I (1831-1835): Entschließung des Staatsministeriums des Innern vom 20.12.1832. 37 CAHJP, Harburg S 161/ 2: Eintrag im Protokollbuch der jüdischen Kultusgemeinde Harburg vom 3.6.1845. <?page no="221"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 221 er durch den fürstlichen Gerichtsarzt Dr. von Jan die Behandlung aller Fälle dieser höchst ansteckenden Virusinfektion übertragen bekam. Wie aus einem Bericht des Harburger Bürgermeisters hervorgeht, gelang es Dr. Mai Durch seinen regen Eifer und die nun angeordneten Maßregeln […] dieser Krankheit Einhalt [zu gebieten]. In der Folge begnügte sich Mai jedoch keineswegs damit, eine weitere Verbreitung der Pocken verhindert zu haben, sondern er stellte kurz darauf intensive Recherchen an, wie sich die Krankheit so rasch über beinahe das gesamte Ries hatte ausbreiten können. Tatsächlich konnte er nach langen Forschungen nachweisen, dass die Verbreitung auf einen Zeugmachergesellen aus Hürnheim zurückging, der erst kurze Zeit vorher aus Sachsen ins Ries gekommen war. Da viele Frauen der Gegend bei diesem Gesellen regelmäßig ihre Waren abholten, gelang Dr. Mai schließlich die Beweisführung, wie sich die Krankheit über den direkten Kontakt des Gesellen mit den Frauen so schnell im gesamten Ries ausgedehnt hatte. Seine Erkenntnisse kamen Dr. Mai und damit auch seinen Patienten bei einer weiteren Pockenepidemie im Jahr 1871 zu Gute, die der Mediziner relativ schnell eindämmen konnte. 38 Großes Pflichtbewusstsein und Geduld ließ Dr. Mai darüber hinaus auch im Zusammenhang mit dem Bau der Ludwig-Süd-Nord-Eisenbahn durch das Ries erkennen. Um der Verbreitung ansteckender Krankheiten wie beispielsweise der Syphilis entgegenzuwirken, hatte die bayerische Staatsregierung u. a. am 21. Januar 1845 verfügt, alle Eisenbahnarbeiter vor ihrem Dienstantritt vor Ort von den zuständigen Gerichtsärzten entsprechend untersuchen zu lassen. 39 Da der für den Oettingen-Wallersteinischen Gerichtsbezirk zu dieser Zeit zuständige Arzt Dr. Reubel seinen Sitz im fußläufig etwa drei Stunden entfernt gelegenen Wallerstein hatte, beauftragte das Herrschaftsgericht Harburg kurzerhand den in Harburg ansässigen Dr. Mai mit den notwendigen Visitationen der Eisenbahnarbeiter, die angesichts der Größe des Bauprojekts etwa ab Oktober 1845 zu Hunderten nach Harburg strömten. Während die staatlichen Gerichtsärzte die Untersuchungen der Männer im Rahmen ihrer Tätigkeit ohne zusätzliche Bezahlung erbrachten, weil sie in ihren offiziellen Aufgabenbereich fielen, übernahm der als praktischer Arzt niedergelassene Dr. Mai den Auftrag des Herrschaftsgerichts angesichts der Dringlichkeit offenbar, ohne vorher verbindliche Absprachen über seine Entlohnung getroffen zu haben. Dementsprechend hatte er bereits im November 1845 den Gesundheitszustand von 366 Eisenbahnarbeitern überprüft, wobei nach Einschätzung des Herrschaftsgerichts Harburg es zu erwarten stand, daß täglich [noch] mehr Arbeiter sich einfinden. 40 Angesichts 38 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 352: Schreiben des Bürgermeisters von Harburg an das Bezirksamt Donauwörth vom 11.7.1879. 39 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben des Gerichtsarztes Dr. Reubel an das Herrschaftsgericht Harburg vom 13.3.1846. 40 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben des Herrschaftsgerichts Harburg an den Fürsten von Oettingen-Wallerstein vom 12.11.1845. <?page no="222"?> C LA UDIA R IED 222 des mit den Visitationen verbundenen nicht unerheblichen zeitlichen Aufwands, wandte sich Dr. Mai im Oktober 1845 an das Herrschaftsgericht, um eine entsprechende Vergütung einzufordern. Zwar erkannten die fürstlichen Beamten die Ansprüche des Mediziners durchaus als gerechtfertigt an, sahen aber nicht sich, sondern die Eisenbahnbausektion Donauwörth in der Pflicht, für die Bezahlung des Arztes aufzukommen. 41 Daraufhin entspann sich eine über mehrere Jahre hinweg andauernde Diskussion zwischen der Eisenbahnbausektion bzw. der -kommission sowie den einzelnen Behörden - angefangen vom Herrschaftsgericht Harburg bis hin zur bayerischen Staatsregierung -, wer Dr. Mai zu entlohnen habe und wie seine Dienste - um zusätzliche Kosten einzusparen - zukünftig umgangen werden könnten. 42 Ungeachtet dieser Umstände und seiner weiterhin ausstehenden Bezahlung führte Dr. Mai in Ermangelung tragfähiger Alternativen die Visitationen im Sinne der Eisenbahnarbeiter in Harburg fort. Allein bis März 1846 untersuchte er 1.500 Männer, 43 bis zum 26. August 1846 hatte Dr. Mai dann insgesamt 2.766 Männer visitiert, 44 wobei sich diese Zahl bis Ende Februar 1847 noch einmal deutlich auf über 3.600 erhöhte. 45 Aufgrund des vergleichsweise weit entfernt gelegenen Wohnsitzes des von Amts wegen für die Untersuchungen der Eisenbahnarbeiter eigentlich zuständigen Gerichtsarztes Dr. Reubel sowie der beharrlichen Weigerung der wallersteinischen Standesherrschaft, Dr. Mai für seine Dienste zu bezahlen, 46 gestattete das bayerische Staatsministerium des Innern am 12. April 1848 schließlich ausnahmsweise […], daß dem genannten praktischen Arzte Dr. May, welcher eine Besoldung nicht genießt […], [eine] Renumeration von 300 fl. aus der Eisenbahnbaukasse bezahlt und vorschriftsmäßig verrechnet 41 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben des Herrschaftsgerichts Harburg an die Eisenbahnbausektion Donauwörth vom 18.10.1845. 42 Vgl. dazu u. a.: StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben der Eisenbahnbausektion Donauwörth an das Herrschaftsgericht Harburg vom 2.11.1845; BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben der Regierung von Schwaben und Neuburg an das Herrschaftsgericht Harburg vom 21.12.1845; BA Donauwörth Alte Serie 330: Herrschaftsgericht Harburg an die Eisenbahn-Kommission in Nürnberg vom 7.2.1846; BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben der Eisenbahn-Kommission in Nürnberg an das Herrschaftsgericht Harburg vom 14.2.1846; BA Donauwörth Alte Serie 330: Entschließung des bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 5.2.1847. 43 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben des Gerichtsarztes Dr. Reubel an das Herrschaftsgericht Harburg vom 13.3.1846. 44 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Protokoll des Herrschaftsgerichts Harburg vom 25.11.1846. 45 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Protokoll des Herrschaftsgerichts Harburg vom 27.2.1847. 46 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Herrschaftsgericht Harburg an die Eisenbahn-Kommission in Nürnberg vom 7.2.1846. <?page no="223"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 223 werde. Außerdem verfügte das Ministerium, da es unter den nun obwaltenden Verhältnissen unthunlich ist, die sich dessen weigernden Arbeiter zur Visitation in das entfernte Donauwörth und Nördlingen zu veranlassen, […] dass von nun an und bis auf weiteres die Visitation dieser Arbeiter wieder durch den Dr. May vorgenommen werde. Für seine zukünftige Tätigkeit sollte Dr. Mai auf Weisung des Staatsministeriums ebenfalls aus der Eisenbahnbaukasse bezahlt werden. 47 Die Höhe dieser Bezüge wurde im Dezember 1848 durch die Regierung von Schwaben und Neuburg auf 120 fl. festgesetzt. Die wenigen Arbeiter, die ab Januar 1849 noch in die Sektionen Donauwörth und Nördlingen kamen, wurden nach dem Willen der bayerischen Staatsregierung dann nur noch durch die zuständigen Gerichtsärzte visitiert, wodurch der Einsatz von Dr. Mai schließlich ein Ende fand. 48 Obwohl Dr. Mai beinahe zweieinhalb Jahre lang nicht genau absehen konnte, von wem er in welchem Umfang entschädigt würde, hatte er die Visitation der Eisenbahnarbeiter dennoch bis Ende 1848 fortgeführt. Beschwerden wegen seiner Untersuchungsmethoden sind dabei weder seitens der Arbeiter noch von den zuständigen Behörden überliefert, weshalb davon auszugehen ist, dass Mai seine Aufgabe gewissenhaft und zuverlässig erledigte. Zudem spielte für die Tausenden Eisenbahnarbeiter, die Dr. Mai in diesem Zeitraum untersuchte, die Religionszugehörigkeit des Mediziners offensichtlich überhaupt keine Rolle, was wiederum belegt, dass in der alltäglichen Praxis die ärztliche Kompetenz von Dr. Mai ausschlaggebend war und ihm seine beinahe ausschließlich christlichen Patienten keine antijüdischen bzw. antisemitischen Vorbehalte entgegenbrachten. Neben seinem medizinischen Forscherdrang und seinem Durchhaltevermögen bewies Dr. Mai zudem immer wieder seine soziale Orientierung, denn wie aus mehreren Quellen hervorgeht, verlangte der Arzt für die Behandlung von christlichen und jüdischen Armen über viele Jahrzehnte hinweg nur eine sehr geringe oder gar keine Gebühr, was ihm vor Ort große gesellschaftliche Achtung einbrachte. 49 Der selbstlose Einsatz des Mediziners für seine armen christlichen und jüdischen Patienten verdient umso mehr Anerkennung, als sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts gerade auf dem Land die finanzielle Situation zahlreicher praktischer Ärzte im 47 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Entschließung des bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 12.4.1848. 48 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Entschließung des bayerischen Staatsministeriums des Handels und der öffentlichen Arbeiten vom 7.12.1848. 49 Vgl. dazu u. a.: CAHJP, Harburg S 161/ 2: Eintrag im Protokollbuch der jüdischen Kultusgemeinde Harburg vom 3.6.1845; BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 25.5.1848; sowie StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 352: Schreiben des Bürgermeisters von Harburg an das Bezirksamt Donauwörth vom 11.7.1879. <?page no="224"?> C LA UDIA R IED 224 Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg sehr prekär gestaltete. Selbst die Regierung von Schwaben und Neuburg räumte 1852 ein, ihr seien zahlreiche Mediziner bekannt, welche bereits seit langer Zeit einen schlechten, ihre Existenz kaum dürftig sichernden Posten innehaben, und sich daher nach endlicher Verbesserung ihrer Lage, nämlich nach Versetzung an einen einträglicheren Platz sehnen. 50 Neben der unzureichenden Bezahlung sowie der ständigen Verfügbarkeit rund um die Uhr erschwerte das ausgeprägte Misstrauen der Landbevölkerung gegenüber akademisch ausgebildeten Medizinern den Landärzten ihre Tätigkeit, bevorzugten die Menschen auf dem Land in vielen Unglücks- und Krankheitsfällen doch nach wie vor die Konsultation von Heilern und Badern. 51 Vor diesem Hintergrund erschien allen Doktoren unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit eine Anstellung im Staatsdienst besonders attraktiv. Vermutlich weil das bayerische Staatsministerium des Innern bereits im Zuge der Visitationen der Eisenbahnarbeiter 1846 das eigenthümliche Verhältniß - wonach für die drey Herrschafts- Gerichte Wallerstein, Bissingen und Harburg nur ein Gerichts=Arzt aufgestellt ist, bemängelt hatte und die Regierung von Schwaben und Neuburg aufforderte, regulierend einzugreifen, 52 hoffte Dr. Mai 1848 vielleicht auch im Zuge der bevorstehende[n] neue[n] Organisation der Gerichte auf die Einrichtung einer eigenen Gerichtsarztstelle in Harburg. Neben seiner langjährigen Tätigkeit als praktischer Arzt hatte er mehrfach die Vertretung des Bezirksarztes übernommen, wenn dieser in Urlaub war oder krankheitsbedingt ausfiel, zudem wurden ihm wie im Falle der Untersuchungen der Eisenbahnarbeiter wiederholt Aufgaben übertragen, weil der Sitz des Bezirksarztes in Wallerstein weit entfernt lag. Angesichts seines mitunter doch als beschwerlich empfundenen Berufe[s], den Landbewohnern aerztliche Hilfe zu gewähren, und um sein Einkommen zu sichern, bewarb sich der Mediziner im Mai 1848 deshalb als Gerichtsarzt in Harburg. 53 Letztendlich entschied sich die Regierung von Schwaben und Neuburg dessen ungeachtet gegen die Einrichtung eines eigenen Gerichtsarztes in Harburg, sondern beschränkte sich auf die Schaffung einer dauerhaften Physikatsverweserstelle vor Ort, um die sich Dr. Mai daraufhin ebenfalls bemühte. Von der Regierung von Schwaben und Neuburg erhielt Mai indessen den mündlichen Bescheid, er könne von der königl. Regierung zu dieser Stelle nicht ernannt werden, weil er sich zur mosaischen Religion 50 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben der Regierung von Schwaben und Neuburg an das Staatsministerium des Innern vom 22.8.1852. Vgl. dazu außerdem: BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 17.10.1855. 51 E. W ORMER , Die bayerischen Physikatsberichte (Anm. 16), S. 133. 52 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 330: Schreiben des bayerischen Staatsministeriums des Innern an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 12.9.1846. 53 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 25.5.1848. <?page no="225"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 225 bekenne! und zwar sei dieses der alleinige und einzige Grund, da er außerdem vollkommen dazu befähigt und berechtigt wäre […]. 54 Auf Nachfrage des bayerischen Staatsministeriums des Innern bestätigte die Regierung von Schwaben und Neuburg die mündliche Aussage des zuständigen Kreismedizinalrates, würde diese doch Aufschluß über das Thatsächliche geben. Dr. May ist Jude und wird als solcher bis die Ausnahmsgesetze aufgehoben sind diesseits des Rheines in keinen Staatsdienst treten können. 55 Wie nachdrücklich sich die Regierung von Schwaben und Neuburg in dieser Phase gegen die Dienste Dr. Mais stellte, zeigt darüber hinaus ihre Ablehnung, den Mediziner entgegen vorheriger Gepflogenheiten während eines von Dr. Reubel geplanten Urlaubs als vorübergehenden Physikatsverweser zu akzeptieren. Dr. May, so begründeten die Beamten ihre Entscheidung rückblickend […] ist nämlich Jude. Er hatte daher […] diesseits des Rheins das volle Staatsbürgerrecht nicht, der Eintritt in die Staatsdienste war ihm versagt, somit konnte er auch stellvertretend nicht zugelaßen werden. 56 Weshalb Dr. Mais Religionszugehörigkeit in den Jahren zuvor in gleichgelagerten Fällen keine Rolle für die Behörde bei der Genehmigung von bis zu dreimonatigen Urlaubsvertretungen gespielt hatte, muss offen bleiben. Möglicherweise war Dr. Mai während der Revolutionszeit aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen in Misskredit geraten. 57 Die für ihn jedoch völlig unverständliche Vorgehens- und Verhaltensweise der Regierung von Schwaben und Neuburg veranlasste ihn, sich zum wiederholten Mal in einem Schreiben direkt an den bayerischen König zu wenden. In seinen Ausführungen brachte der Mediziner klar zum Ausdruck, dass ihn die Entschließung der Behörde nicht nur in [seinen] staatsbürgerlichen Rechten tief verletzt [hatte], sondern auch in [seiner] Stellung als praktischer Arzt, da dieses von der kgl. Regierung gegen mich ausgesprochene Mißtrauen, wenn es bekannt wird, mein bisheriges Vertrauen als Arzt beim Publicum nothwendig schwächen muß. 58 54 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 31.10.1848. 55 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben der Regierung von Schwaben und Neuburg an den bayerischen König vom 5.2.1849. 56 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben der Regierung von Schwaben und Neuburg an den bayerischen König vom 2.3.1849. 57 R EINHARD J AKOB , Die jüdische Gemeinde von Harburg (1671-1871), Nördlingen 1988, S. 180. 58 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 18.2.1849. <?page no="226"?> C LA UDIA R IED 226 Nur seinem vehementen Protest und zähen Verhandlungen ist es zuzuschreiben, dass das bayerische Staatsministerium des Innern Dr. Mai am 4. September 1849 doch noch als Physikatsverweser 59 mit einem jährlichen Gehalt von 200 fl. berief. 60 Dieses Einkommen erleichterte Dr. Mai den Unterhalt seiner ärztlichen Praxis, zumal er von seinen sozial schlecht gestellten Patienten kaum Honorar erhob. Mit der Auflösung der Gerichts- und Polizeibehörde Harburg im Oktober 1852 wurde Dr. Mais Stelle als Physikatsverweser ersatzlos gestrichen, woraufhin er wirtschaftlich wieder auf den spärlichen Ertrag seiner Praxis, der sich seit der Auflösung des Gerichts in Harburg sehr vermindert hatte, zurückgeworfen war. Deshalb sah der inzwischen 49- Jährige in Harburg für sich und seine Familie keine Zukunftsperspektive mehr, besonders weil er nach eigener Einschätzung wegen seiner Confession als Israelit [keine] Hoffnung hatte, als Gerichtsarzt eingestellt zu werden. Nachdem ein jüdischer Mediziner in München verstorben war, bewarb sich Dr. Mai deshalb im Oktober 1855 in einem direkten Schreiben an König Maximilian II. um die Übernahme der vakant gewordenen praktischen Arztstelle. Gewährt wurde ihm sein Antrag jedoch nicht. 61 Die Probleme Dr. Mais, aufgrund seiner Religionszugehörigkeit keine dauerhafte Stelle im Staatsdienst oder in München zu finden, stehen beispielhaft für viele akademisch gebildete Juden dieser Zeit. Weder das bayerische Judenedikt von 1813 noch die bayerische Verfassungsurkunde hatte Juden explizit vom Staatsdienst ausgeschlossen, ihnen andererseits aber auch keine entsprechenden Rechte zugebilligt. Wie Hannes Ludyga gezeigt hat, verwehrten in der Folgezeit vor allem Ludwig I. sowie die bayerische Staatsregierung trotz ihrer zunehmenden Akademisierung Juden den Eintritt in den Staatsdienst. Dabei instrumentalisierte die Staatsregierung die vorhandene Rechtslücke, »um Juden auf dem Verwaltungsweg in willkürlicher Art und Weise Staatsämter zu verschließen.« 62 Ein Blick in die einschlägigen Akten zeigt, dass es sich bei Dr. Mai nicht um den einzigen schwäbischen Landarzt handelte, der aufgrund seiner Religionszugehörigkeit in seinem beruflichen Fortkommen eingeschränkt wurde. Auch der am 23. Juli 1823 in Hürben geborene Dr. Max Binswanger kämpfte mit ähnlichen Problemen 59 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 17.10.1855. 60 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Aktenvermerk des bayerischen Staatsministeriums des Innern [ohne Datum]. 61 BayHStA, Ministerium des Innern 60338: Schreiben des Dr. Raphael Mai an den bayerischen König vom 17.10.1855. 62 H. L UDYGA , Die Rechtsstellung der Juden (Anm. 27), S. 200f., Zitat 201. Vgl. dazu auch: A NASTASIA A NTIPOVA , Ludwig Binswanger sen. (1820-1880): Die Heilung der Melancholeia, in: https: / / uni-tuebingen.de/ einrichtungen/ universitaetsbibliothek/ ueber-uns/ veran staltungen-ausstellungen/ objekt-des-Monats/ 2020/ ludwig-binswanger/ (aufgerufen am 22.10.2020). <?page no="227"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 227 wie sein Rieser Kollege. 63 Binswanger hatte in München Medizin studiert, war dort promoviert worden und wurde unter nicht näher bekannten Umständen Inhaber einer Badergerechtsame in der Stadt. Genau wie Dr. Mai zeigte Binswanger auch nach seiner Promotion großes medizinisches Interesse, außerdem verspürte er einen innere[n] Drang zu den Wissenschaften, der mich noch immer zu höherer Ausbildung hinleitet, die nur in einer Universitäts- und Residenzstadt, wie München, mit ihren reichhaltigen wissenschaftlichen Quellen mir zu Theil werden kann. Dementsprechend bestand Binswangers vornehmliches Ziel darin, sich dauerhaft als Arzt in München niederzulassen. Keinesfalls wollte er eine Landarztstelle übernehmen, denn dort fürchtete er, wie er in seinem Gesuch angab, als Jude noch mit großen Vorurtheilen und Unannehmlichkeiten konfrontiert zu werden. 64 Wobei dieses Argument, berücksichtigt man die bisher gewonnenen Einblicke in die Arbeit jüdischer Mediziner auf dem Land, nicht unbedingt zutraf, sondern vielmehr Binswangers Wunsch geschuldet zu sein schien, in der Wissenschaftsstadt München zu bleiben. Genau wie das Gesuch von Dr. Mai wurde auch der Antrag von Dr. Binswanger von den Behörden abgelehnt. 65 Und obwohl Binswanger seine Eingabe mehrfach wiederholte, 66 blieben seine Bemühungen erfolglos, weil den offiziellen Angaben der Regierung von Oberbayern zufolge zum einen bereits zu viele Ärzte in München niedergelassen seien und zum anderen zunächst ältere Mediziner bei der Besetzung vakanter Stellen Berücksichtigung finden sollten. Dass es sich bei der Einschätzung von Dr. Mai und Dr. Binswanger, wegen ihrer Religionszugehörigkeit an ihrem beruflichen Fortkommen gehindert zu werden, jedoch keineswegs um eine subjektive Empfindung handelte, geht ebenfalls eindeutig aus dem Schreiben der Regierung von Oberbayern an den bayerischen König hervor. Denn Binswangers Bitte, wegen möglicher Vorurteile gegen Juden auf dem Land in der Stadt München praktizieren zu dürfen, veranlasste die Beamten für den Fall einer positiven Bescheidung zu der Befürchtung, dass sich [dann] auch bald alle jüdischen Aerzte in München einnisten und bei ihrer Bekannten, nie zu vermeidenden Strebsamkeit die christlichen Ärzte verdrängen. Die israelitische Bevölkerung von München hält sich Erfahrungsgemäß in Krankheiten mehr an die 63 StA Augsburg, Regierung von Schwaben und Neuburg, Präsidium (1837-1935) 1854: Schematismus sämtlicher Civil-Ärzte im Regierungsbezirk von Schwaben und Neuburg vom 2.1.1871. 64 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben des Dr. Binswanger an den bayerischen König vom 5.4.1851. 65 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben des bayerischen Staatsministeriums des Innern an die Regierung von Oberbayern vom 17.7.1851. 66 Vgl. dazu u. a.: BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben des Dr. Binswanger an den bayerischen König vom 10.1.1852. <?page no="228"?> C LA UDIA R IED 228 christlichen Aerzte; würden aber auch in ihren Glaubensgenossen eine genügende Auswahl haben; da bereits 4 jüdische Aerzte in München sind, die vielen getauften gar nicht zu bedenken. 67 Binswangers wissenschaftliches Interesse und sein unbestreitbares Talent spielte für die Regierung von Oberbayern bei ihrer Entscheidungsfindung augenscheinlich keine Rolle. Immerhin war der junge Mediziner während seines praktischen Studienabschnittes als Assistent der Dr. Reinerschen Heilanstalt für Augen-, Ohren- und Kinderkrankheiten tätig gewesen und hatte 1850 Eine von der Kgl. Medic. Fakultät zu München im Jahre 1849 mit dem ersten Preis gekrönte Schrift über die pharmakologische Wirkung zweier Kreuzdorngewächse veröffentlicht. 68 Auch seiner inneren Liebe zur weiteren Ausbildung, der Binswanger in der Folgezeit gerne nachgekommen und deswegen für weitere Studien nach Wien gereist [wäre], wenn ihm hiezu nicht die Mittel gefehlt hätten, 69 unterstützte der bayerische Staat nicht und verweigerte das beantragte Reisestipendium. 70 Letztendlich führte die berufliche Perspektivlosigkeit in München doch zur Übernahme einer praktischen Arztstelle auf dem Land. Über Umwege gelangte Binswanger 1853 nach Buttenwiesen, 71 wo der an Bildung und Wissenschaften weiterhin stark interessierte Mann sogar unter Hinzuziehung eigener privater Gelder eine Schulbibliothek gründete, 72 die zu seinem Leidwesen bei den jüdischen Glaubensgenossen nicht auf die gewünschte Resonanz stieß. 73 Über das medizinische Wirken Binswangers während seiner Tätigkeit in Buttenwiesen sind aufgrund der Quellenlage keine Aussagen möglich. Es bleibt aber fraglich, ob er sich in der Landgemeinde heimisch fühlte, denn bereits kurz nach der Aufhebung des Judenedikts bewarb er sich um die Stelle des Krumbacher Bezirksarztes. Unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen war Juden die Aufnahme in den Staatsdienst gestattet und dementsprechend übte Binswanger als erster jüdischer Arzt in Schwaben ab dem 16. Mai 67 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben der Regierung von Oberbayern an den bayerischen König vom 20.4.1851. 68 M AX B INSWANGER , Pharmacologische Studien über Rhamnus Frangula und Rhamnus cathartica zur Ermittlung ihrer arzneilichen Wirksamkeit. Ein Beitrag zur organischen Chemie und Heilmittellehre, München 1850. 69 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben des Dr. Binswanger an den bayerischen König vom 20.6.1851. 70 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Schreiben des Dr. Binswanger an den bayerischen König vom 21.8.1852 71 I. L AMMFROMM , Chronik (Anm. 25), S. 78. 72 M OSES S ONN , Schulgeschichtliche Aufzeichnungen über die israelitische Volksschule Buttenwiesen, in: Mitteilungen des Israelitischen Lehrervereins für Bayern 5 (1928), S. 1f., hier 2. 73 M OSES S ONN , Schulgeschichtliche Aufzeichnungen über die israelitische Volksschule Buttenwiesen, in: Mitteilungen des Israelitischen Lehrervereins für Bayern 6 (1928), S. 13. <?page no="229"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 229 1871 für ein jährliches Gehalt in Höhe von 800 fl. das Amt eines Bezirksarztes aus. 74 1874 erfolgte auf Grundlage der Verordnung der Gehälter für Staatsdiener die Erhöhung seines Verdienstes auf 1.000 fl. pro Jahr, 75 ab 1877 erhielt er schließlich eine Besoldung von 2.520 Mark. 76 Mit diesem Einkommen waren die früheren finanziellen Sorgen des Mediziners weitgehend überwunden und der Vater von insgesamt elf Kindern konnte seiner Familie damit einen einträglichen Lebensunterhalt sichern. 77 Inwieweit sich Binswanger während seines 17-jährigen Dienstes in Krumbach - er verstarb am 28. Juni 1888 - 78 weiter seinen wissenschaftlichen Interessen widmen konnte, ist nicht belegt. Vielmehr oblag ihm in seiner neuen Funktion u. a. die Aufsicht über die Ausübung der Heilkunde, 79 der Leichenbeschau, 80 das Führen von Statistiken über Geburten, Sterbe- und Krankheitsfälle sowie das Verfassen gerichtsmedizinischer Gutachten. Als Zeichen seiner staatlichen Anerkennung, die ihm aufgrund seiner Religionszugehörigkeit lange Zeit verwehrt geblieben war, durfte Binswanger als Beamter nun eine entsprechende Uniform mit Frack, Zweispitz und Degen tragen, die seinen sozialen Aufstieg zu einem gleichberechtigten Mitglied des Untertanenverbands zwei Jahrzehnte nach seinem Studienabschluss auch nach außen hin sichtbar machte. 81 Angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen sich jüdische Ärzte während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konfrontiert sahen, verwundert es nicht, dass sich jüdische Nachwuchsmediziner wie beispielsweise der aus Hürben stammende Dr. Heinrich Dick 1843 zur Auswanderung nach Hagenau in Frankreich entschlossen, um sich dortselbst gänzlich nieder[zu]lassen. 82 Dass dem bayerischen Staat mit der Emigration hochqualifizierter jüdischer Ärzte wichtige Impulsgeber für den medizinischen Fortschritt im Königreich verloren gingen, belegt auch das Beispiel des am 25. Juni 1820 in Osterberg als fünfter Sohn eines jüdischen Hausierhändlers geborenen Ludwig Binswanger. Nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Abitur 74 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Entschließung des bayerischen Königs vom 16.5.1871. 75 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Entschließung des bayerischen Königs vom 26.3.1874. 76 BayHStA, Ministerium des Innern 60456: Entschließung des bayerischen Königs vom 17.3.1877. 77 Gemeindearchiv Buttenwiesen, Sammlung von Franz Xaver Neuner. Von den elf Kindern, die Binswanger mit seiner Ehefrau Mina bekam, erreichten sieben das Erwachsenenalter. 78 StA Augsburg, BA Krumbach 204: Bezirksamt Krumbach an das Staatministerium des Innern vom 28.6.1888. 79 Vgl. dazu u. a.: StA Augsburg, BA Krumbach 2910. 80 Vgl. dazu u. a.: StA Augsburg, BA Krumbach 2912/ 1 sowie 2912/ 2. 81 E. W ORMER , Die bayerischen Physikatsberichte (Anm. 16), S. 132. 82 StA Augsburg, BA Krumbach 3209: Protokoll des Landgerichts Krumbach vom 6.2.1843. <?page no="230"?> C LA UDIA R IED 230 am Gymnasium bei St. Stephan in Augsburg studierte der junge Mann zunächst kurze Zeit Philosophie in Erlangen, um sich ab 1841 in München und Heidelberg der Medizin zuzuwenden. 1845 kehrte Binswanger für die Ableistung der nach dem Studium vorgeschriebenen klinischen Praxis nach Augsburg zurück und übernahm als Assistent am dortigen Krankenhaus die eigenständige Leitung der sogenannten ›Irrenabteilung‹. Trotz seiner preisgekrönten Promotion und seines 1846 mit der Note eins absolvierten Staatsexamens blieb auch ihm in der Folgezeit der Eintritt in den bayerischen Staatsdienst aufgrund seiner Religionszugehörigkeit verwehrt, weshalb er sich im März 1848 bei Demonstrationen in München öffentlich für die Gleichberechtigung der Juden einsetzte. Angesichts seiner erfolglosen Bewerbung um die Aufnahme in das bayerische Sanitätskorps, deren Ablehnung aus religiösen Gründen der exzellent ausgebildete Binswanger als »Ächtung« empfunden hatte, verließ er wenig später das Königreich, um als Assistenzarzt an der Medizinischen Klinik in Tübingen zu arbeiten, wo er auch eine Zulassung zur Privatdozentur erhielt. 83 Ab 1850 leitete Ludwig Binswanger die schweizerische ›Irrenanstalt‹ in Münsterlingen, ehe er 1857 die Privatklinik Bellevue in Kreuzlingen gründete, eine »Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslandes«, um dort Nerven- und sogenannte Geisteskranke zu behandeln. 84 Mit seinen modernen psychiatrischen Therapieansätzen gewann Binswangers Klinik schnell an Renommee und letztendlich legte er auf diese Weise wichtige Grundlagen für die Weiterentwicklung der Heilbehandlung psychisch kranker Menschen, die zweifellos den zeitgenössischen Wissenschaftsstandort Bayern bereichert hätten. Sowohl seine Söhne als auch sein Enkelsohn Ludwig Binswanger jun. sowie weitere Nachkommen setzten Binswangers Werk bis in die 1980er-Jahre hinein in der Schweiz fort und etablierten sich über mehrere Generationen hinweg als hochangesehene Psychiater, die mit ihrem Können das Leid ihrer Patienten zu lindern versuchten. 85 83 W ALTER E RTZ , Ludwig Binswanger aus Osterberg, in: P ETER F ASSL (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben 2: Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte (Irseer Schriften 5), Stuttgart 2000, S. 81-86, hier 82f. 84 J OHANNES M ICHEL W ISCHNATH / I RMELA B AUER -K LÖDEN / H ENRIK F RITZSCH , »Beglücktes Haus, gesegneter Beruf.« Die Binswangersche Heilanstalt Bellevue in Kreuzlingen im Spiegel des Tübinger Binswanger-Archivs, Eine Ausstellung des Universitätsarchivs Tübingen, Tübingen 2003, S. 6f. 85 W. E RTZ , Ludwig Binswanger (Anm. 83), S. 85f. <?page no="231"?> C HAN CE ZUR GEG EN S EITIG EN A NNÄHER UNG ? 231 Abb. 1: Ludwig Binswanger im Jahr 1877 auf einer Fotografie Charles Reutlingers. <?page no="232"?> C LA UDIA R IED 232 4. Resümee Bei der Beantwortung der Frage, inwieweit die Interaktion von Juden und Christen im medizinischen Bereich in Bayerisch-Schwaben während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer gegenseitigen Annäherung führte, können angesichts der gewonnen Erkenntnisse vor allem zwei Ergebnisse festgehalten werden. 1. Die unabdingbaren Grundlagen bei allen Handlungen, die im Zusammenhang mit dem gesundheitlichen Wohl des Menschen stehen, sind zum einen die Kompetenz des Helfenden und zum anderen das Vertrauen, das ihm der Hilfesuchende entgegenbringt. Wie gezeigt werden konnte, haben sich im Untersuchungsgebiet bei gesundheitlichen Beschwerden sowohl Christen an jüdische Heilkundige als auch umgekehrt Juden an christliches Gesundheitspersonal gewandt. Die Religionszugehörigkeit der Beteiligten spielte dabei offenbar auf allen Ebenen der im weitesten Sinne mit Gesundheitsvorsorge betrauten Menschen - angefangen von der Hebamme bis hin zum akademisch gebildeten Arzt - in der Regel eine untergeordnete Rolle. Dementsprechend konnten bei der Behandlung von Patienten Vorurteile abgebaut werden und wie im Falle des Dr. Raphael Mai in Harburg vor Ort ein respektvolles Miteinander gelebt werden, das 1879 in der Feststellung des Bezirksamts Donauwörth seinen Niederschlag fand, Dr. Mai würde bei Hoch u. Nieder die allgemeine Achtung, die Hochschätzung seiner Collegen u. ein unbegrenztes Vertrauen in Stadt u. Land genießen. 86 2. Während die medizinische Tätigkeit auf der gesellschaftlichen Ebene vor Ort durchaus zu einer Annäherung zwischen den Religionen führen konnte, verweigerten hingegen die übergeordneten Behörden wie die Regierung von Schwaben und Neuburg sowie die bayerische Staatsregierung und die jeweiligen Könige mehreren jungen jüdischen Medizinern trotz überdurchschnittlicher Studienergebnisse allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit die staatliche Anerkennung. Diese einseitig verweigerte Annäherung bedeutete für die jeweiligen jüdischen Ärzte aus Bayerisch- Schwaben nicht nur den fehlenden Zugang zu universitären Forschungsprojekten sowie den vorenthaltenen Eintritt in den Staatsdienst, sondern sie führte auch zu deutlichen Einschnitten in den Biographien der Betroffenen. Im Gegenzug bedeutete diese Vorgehensweise für den bayerischen Staat einen Verlust von wissenschaftlichem Potential. Denn gerade im 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf zahlreiche grundlegende medizinische Erkenntnisse gewonnen wurden, hätten junge jüdische Ärzte wie Dr. Raphael Mai, Dr. Max Binswanger und Dr. Ludwig Binswanger durch ihr Engagement und ihre Fertigkeiten durchaus einen weit größeren Beitrag für das Gemeinwohl im Königreich Bayern leisten können als es ihnen unter den gegebenen Umständen gestattet wurde. 86 StA Augsburg, BA Donauwörth Alte Serie 352: Schreiben des Bezirksamts Donauwörth an die Regierung von Neuburg und Schwaben vom 14.7.1879. <?page no="233"?> 233 E LENA T ADDEI Die Verwaltung des ›Irrsinns‹ im Kronland Tirol am Beispiel des Landarztes Franz von Ottenthal (1818-1899) 1. Einleitung Das 19. Jahrhundert brachte auch im Kronland 1 Tirol, als einem ›Randgebiet‹ der Monarchie, einen Medikalisierungsschub im Sinne Ute Freverts, die darunter »ein immer dichteres, von akademischen Experten kontrolliertes Netz medizinischer Versorgung« 2 versteht. Medikalisierung war im 19. Jahrhundert nach Wolfgang Uwe Eckart und Robert Jütte »eine auf Verhaltensregeln basierende Gemeinschaftsarbeit, eine ›Interessenskoalition von Ärzten und Staat‹«. 3 Diese Interaktion prägte die Entwicklung medikaler Räume. Jedoch spielte auch die Nachfrage nach Angeboten zur Erhaltung und Wiederherstellung körperlicher und geistiger Gesundheit, im Sinne einer Medikalisierung von unten, wie Eberhard Wolff 4 und Iris Ritzmann 5 gezeigt haben, eine bedeutende Rolle. Die Medikalisierungsbestrebungen des 18. und 19. Jahrhunderts führten sukzessive zum verwissenschaftlichten, technisierten, professionalisierten und institutionalisierten Gesundheitswesen unserer Tage mit allen damit einhergehenden Aspekten der versuchten Objektivierung von Krankheiten und ihrer Kategorisierung, der Entmündigung der Patientinnen und Patienten und der Stilisierung der Ärzteschaft. 6 1 Die Gefürstete Grafschaft Tirol war seit 1804 mit Vorarlberg ein Kronland des Kaisertums Österreich, 1861 wurde Vorarlberg von Tirol herausgelöst und ein eigenes Kronland. 2 U TE F REVERT , Akademische Medizin und soziale Unterschichten im 19. Jahrhundert. Professionsinteressen - Zivilisationsmission - Sozialpolitik, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 4 (1985), S. 41-59, hier 42. 3 W OLFGANG U WE E CKART / R OBERT J ÜTTE , Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 313. 4 E BERHARD W OLFF , Medikalisierung von unten? Das Beispiel der jüdischen Krankenbesuchsgesellschaften, in: B ETTINA W AHRIG / W ERNER S OHN (Hg.), Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750-1850, Wiesbaden 2003, S. 179-190. 5 I RIS R ITZMANN , Der Faktor Nachfrage bei der Ausformung des modernen Medizinalwesens - Überlegungen am Beispiel der Kinderheilkunde, in: B. W AHRIG / W. S OHN , Aufklärung (Anm. 4), S. 163-178. 6 C LAUDIA H UERKAMP , Ärzte und Professionalisierung in Deutschland. Überlegungen zum Wandel des Arztberufes im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), <?page no="234"?> E LENA T ADDEI 234 Der Antrieb war und ist seitdem die behördliche Sorge um die physische und psychische Gesundheit, die sich in der mehr oder weniger gelungenen Entwicklung eines medikalen Raumes, 7 einer medizinischen Versorgungslandschaft abbildet. Dieser Beitrag möchte am Beispiel eines Landarztes und seiner Einbindung in die Sorge um das psychische Wohl bzw. die sichere Verwahrung von psychisch Kranken den Aspekt der Medikalisierung im historischen Raum Tirol im 19. Jahrhundert beleuchten. 2. Dr. Franz von Ottenthal Der Landarzt, der dank eines reichen schriftlichen Nachlasses Einblick in seine Tätigkeit gewährt, ist Franz von Ottenthal (1818-1899), Doktor der gesamten Heilkunde, Doktor der Chirurgie und Magister der Geburtshilfe. Dieser an der Universität Wien ausgebildete Arzt war in vielerlei Hinsicht ein Agent, also ein operativer Vorantreiber der Medikalisierung auf dem Lande. In seinem Heimatort Sand in Taufers im Tauferertal, einem Seitental des Pustertales im heutigen Südtirol, eröffnete er 1847 eine Privatarztpraxis. Anders als Gemeinde-, Gerichts- oder Bezirksärzte war er somit nicht bzw. nicht von Anfang an in der sanitätspolitischen Struktur seines Bezirkes verankert. Trotzdem er für etliche Jahrzehnte seiner langen ärztlichen Tätigkeit das war, was wir heute einen Wahlarzt bezeichnen würden, und er besonders zu Beginn seiner Karriere nicht Arme oder Zugewiesene (z. B. für Atteste) behandeln musste, hatte er dennoch eine bemerkenswert große und weitverstreute Patientenschaft. Vor allem seine akademische Ausbildung in Geburtshilfe erhöhte das Vertrauen der Patientinnen in den Arzt, den sie oft nur in einem mehrstündigen Fußmarsch erreichten. Im Laufe seiner 50-jährigen Tätigkeit vertrat er wiederholt den Gemeindearzt in Sand und war hierbei für die Verwaltung von Gesundheit und Krankheit, so z. B. für die Ausstellung von Tauglichkeitsattesten zur Wehrpflicht und für den Anspruch auf Zuwendungen aus dem Armenfonds sowie für das Impfgeschäft zuständig. Darüber hinaus war er über längere Zeit Gerichtsarzt und übte als solcher alle vom Staat vorgesehenen Tätigkeiten aus, z. B. die Leichenbeschau S. 349-382; R OBERT J ÜTTE , Die Entwicklung des ärztlichen Vereinswesens und des organisierten Ärztestandes bis 1871, in: D ERS . (Hg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisation, Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 15-42; E LISABETH D IETRICH -D AUM / R ODOLFO T AIANI , Editorial, in: D IES . (Hg.), Medikalisierung auf dem Lande/ Medicalizzazione in area alpina (Geschichte und Region/ Storia e regione 14/ 1) (2005), S. 5-18, hier 6f. 7 Zu diesem Begriff siehe besonders den einführenden Beitrag von D AGMAR H ÄNEL / A LOIS U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung des Medikalen. Zur Einführung in den Band, in: N I - CHOLAS E SCHENBRUCH / D AGMAR H ÄNEL / A LOIS U NTERKIRCHER (Hg.), Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld 2010, S. 7-20. <?page no="235"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 235 und Gutachtenerstellung in Kriminalfällen und bei Unfällen sowie bei der Feststellung der geistigen Zurechnungsfähigkeit. In dieser Funktion aber auch ganz allgemein als zugelassener Arzt oblag ihm die Organisation und Umsetzung der staatlichen Sanitätspolitik vor Ort und er hatte die Pflicht, die Behörden bei der Erstellung von Statistiken zur Volksgesundheit, bei der Durchführung von Schutzimpfungen und der Eindämmung von Epidemien durch frühzeitige Meldung von Krankheitsfällen zu unterstützen. 8 Zahlreiche Briefe des für Ottenthals Einzugsgebiet zuständigen Bezirkshauptmannes, der die erste vorgesetzte Instanz für niedergelassene Ärzte darstellte, zeigen allerdings, dass der Landarzt, als letztes Glied im Kommunikationsstrang mit den lokalen, regionalen und staatlichen Behörden, der Informationspflicht nicht immer im erwünschten Maß nachkam. Zahlreichen Schreiben ist nämlich zu entnehmen, dass die Behörden über andere, nicht-ärztliche Kanäle, z. B. durch das Gendarmerieposten-Kommando, über Typhus- oder Pockenerkrankungen in Gemeinden seiner Zuständigkeit informiert wurden, während der Arzt keine diesbezügliche Meldung gemacht hatte. 9 1884 rügte der Bezirkshauptmann Ottenthal, weil er einen an Blattern (Pocken) Verstorbenen unter allgemeiner Beteiligung beerdigen hatte lassen und die Teilnehmenden so der Ansteckungsgefahr ausgesetzt hätte. Daraufhin klärte dieser den offensichtlich nicht auf dem neuesten medizinischen Stand stehenden Beamten auf: Die Hypothese der flüchtigen Kontagien ist durch die neueren mikroskopischen Untersuchungen vieler Forscher unhaltbar geworden […]. Es besteht die an Gewißheit gränzende Wahrscheinlichkeit, daß auch die Blattern durch solche mikroskopische Lebewesen vom Kranken auf solche Individuen übertragen werden, welche einen hinzu geeigneten Nährboden besitzen. Mir scheint es undenkbar, daß solche mikroskopische Lebewesen in der Zeit von 1-2 Tagen durch einen wohlgefügten und sorgfältig verpichten Sarg durchdringen und nach Außen gelangen können […]. 10 8 Wie § 10 in den Verordnungen in Bezug auf Ärzte der Gesetzessammlung des Doktors Ignaz Laschan bereits 1847 verlangte: Das Entstehen einer Epidemie unter Menschen, oder einer Seuche unter Thieren hat er also gleich bei schwerer Verantwortung an die Ortsobrigkeit, und wenn diese in Erfüllung ihrer Pflicht saumselig wäre, an das Kreisamt anzuzeigen. Mit solchen Anzeigen soll nicht gezaudert werden, bis die Epidemie oder Seuche überhand genommen hat; sondern sobald in einem Orte (nach der verschiedenen Größe desselben) 4, 6, 8 Personen, oder eben so viele Thiere mit der nämlichen Krankheit behaftet werden; so ist dieß ohne weiters anzuzeigen; I GNAZ L ASCHAN , Systematisch geordnete Sammlung der in der Provinz Tirol und Vorarlberg bis Ende Juni 1845 erflossenen und noch in Wirksamkeit bestehenden Gesetze und Verordnungen im Sanitätswesen, Innsbruck 1874, S. 75. 9 Dazu die Beispiele in dem im Südtiroler Landesarchiv in Bozen aufbewahrten Nachlass von Franz von Ottenthal unter ›Verordnungen und Dekrete‹. Besonders im Faszikel 20, Akt 7870, monierte die Bezirkshauptmannschaft am 26.8.1892, dass es leider noch zu oft vorkomme, dass Infektionskrankheiten weder dem Bezirkshauptmann noch der Gemeindevorstehung gemeldet würden. 10 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal 252, Akten zu Einzelfällen 5535: Der k. k. <?page no="236"?> E LENA T ADDEI 236 Diese Entgegnung zeigt uns, dass sich der Arzt trotz seiner Verankerung im Sanitätsgefüge und seiner Rechenschaftspflicht bezüglich der von ihm ergriffenen Maßnahmen zur Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung nicht als bloßer medizinischer und sanitätspolitischer Handlanger des Bezirkshauptmannes, als verlängerter Arm des Staates, sondern als akademisch gebildeter und demzufolge entscheidungsbefugter Experte sah. Wenn in seinen Äußerungen durchaus kritisch und nicht immer der Erwartungshaltung der vorgesetzten Behörden entsprechend, fand sich Ottenthal dennoch im Laufe seiner 50-jährigen Arzttätigkeit des Öfteren in der Rolle eines Funktionärs der staatlichen Gesundheitspolitik im medikalen Raum wieder. Diese Tatsache, der sich selten ein Arzt dieser Zeit entziehen konnte, stellte auch der zum Ministerialrat avancierte ›Nachbar‹ von Ottenthal, Dr. Josef Daimer jun., Sohn des Gemeindearztes von Sand in Taufers, Josef Daimer sen., in seiner Darstellung des Sanitätspersonals in Österreich fest: Die in den letzten 25 Jahren vollzogenen Organisationen und eingeführten socialen und humanitären Einrichtungen haben nach und nach dahin geführt, dass auch der früher in seiner grossen Mehrzahl frei bewegliche Aerztestand mehr und mehr in die Stellung gedrängt wurde, welche demselben für die Besorgung der Berufsgeschäfte besondere Verpflichtungen auferlegt, die über jene eines Privatarztes hinausgehen, und dass die Zahl der Aerzte, welche nicht nach irgend einer Richtung besonderen Verbindlichkeiten nachzukommen haben, bedeutend gesunken ist. Die Aerzte sind, zumal auf dem Land, gewissermassen Beamte geworden. 11 Die ›besonderen Verpflichtungen‹ in Daimers Einschätzung betrafen Ottenthal auf Lokalebene nicht nur im medizinischen und sanitätspolitischen, sondern auch im administrativen und gemeindepolitischen Bereich. Als akademisch gebildeter Arzt, Adeliger und Grundbesitzer war er in Sand in Taufers eine ›Autoritätsperson‹ und Mitglied der lokalen Elite. Über seine Arztpraxis hinaus war er als Gemeinderat und Ortsschulaufseher tätig. Er hatte für gesunde und saubere Schulräume, den regelmäßigen Schulbetrieb, die Einhaltung der Schulpflicht und die Beschaffung des Unterrichtsmaterials zu sorgen. Als Gerichtskassier seiner Landgemeinde war er auch in die finanzielle Verwaltung des medikalen Raumes involviert, denn er musste jährlich die Gehaltsliste des Sanitätspersonals (Gemeindearzt, Gerichtswundarzt, Hebammen) erstellen, das aus der Tauferer Gerichtskasse besoldet wurde. Ab 1861 übernahm er nach der Wahl zum Landtagsabgeordneten Verantwortung auf einer höheren, regionalen Entscheidungsebene. In seiner neuen Funktion leistete Ottenthal unter anderem seinen Beitrag für den Ausbau der psychiatrischen Landschaft im historischen Raum Tirol. Bezirkshauptmann an Franz von Ottenthal am 16.6.1884 mit beigefügter Abschrift der Antwort. 11 J[ OSEF ] D AIMER , Österreichs Wohlfahrts-Einrichtungen 1848-1898, Bd. III: Gesundheitspflege, Wien 1900, S. 114. <?page no="237"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 237 3. Die psychiatrische Versorgung im Kronland Tirol Der von der Forschung der letzten Jahre immer häufiger verwendete Begriff ›Psychiatrische Landschaft‹ meint einen politisch-geografischen in diesem Fall historischen Raum, der von zum Teil ineinander verwobenen medikalen Strukturen charakterisiert ist. In diesen entwickelten sich im 19. Jahrhundert zumeist mit staatlichem Zutun gemeinsame oder getrennte und auch miteinander konkurrierende Formen medizinischer Versorgung für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. 12 Als 1847 der approbierte akademische Arzt Franz von Ottenthal nach zweijähriger Berufserfahrung als Gerichts- und Gemeindearzt in Windisch-Matrei im heutigen Osttirol im Familienansitz Neumelans in Sand in Taufers seine Privatpraxis einrichtete, sah das psychiatrische Versorgungsystem im Kronland Tirol folgendermaßen aus: Der Großteil der psychisch Erkrankten wurde zeitüblich privat in den Familien gepflegt. 13 Daneben gab es Armen- und Versorgungshäuser 14 oder die Verpflegung in sogenannten ›Irrenzimmern‹ in den lokalen Spitälern. Über ein solches ›Irrenzimmer‹ verfügte auch das 1835 gegründete Spital in Windisch-Matrei neben 13 Krankenzimmern, einer Badeanstalt und einer Vierzimmerwohnung für den Arzt. Einen ähnlichen Gesundheitsmarkt gab es im Physikatsbezirk Bruneck, zu dem das Tauferer Tal und das Ahrntal gehörten. Neben Ottenthal waren ab den 1860er Jahren drei Gemeindeärzte und zwei Stadt- und Spitalärzte sowie acht Wundärzte, ein Tierarzt und 42 Hebammen im Physikatsbezirk tätig. Öffentliche Apotheken befanden sich je eine in Bruneck und in Cortina d’Ampezzo. Aufgrund dieser gegebenen Unterversorgung in einem weitläufigen Einzugsgebiet verfügten die meisten Ärzte pflichtgemäß über eine Hausapotheke. Es gab auch drei Heilbäder: Bad Winkel, Mühlbacher Badl und ein Heilbad bei Schloss Neuhaus. Zusammen mit seinem 12 E LISABETH D IETRICH -D AUM / M ICHAELA R ALSER , Die »Psychiatrische Landschaft« des »historischen Tirol« von 1830 bis zur Gegenwart - Ein Überblick, in: E LISABETH D IETRICH - D AUM u. a. (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 17-42, hier 18. 13 E. D IETRICH -D AUM / M. R ALSER , Die »Psychiatrische Landschaft« (Anm. 12), S. 18f; H ANS W EISS , Geschichte der Psychiatrie in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 2 (1978), S. 41-57. 14 Auf den deutschsprachigen medikalen Raum fokussiert: E LISABETH D IETRICH -D AUM , »Care« im »ultimum refugium«. Versorgungshäuser als Orte kommunaler Armenpflege und -politik im 19. Jahrhundert, in: E RNA A PPELT u. a. (Hg.), Who Cares? Betreuung und Pflege in Österreich. Eine geschlechterkritische Perspektive, Innsbruck u. a. 2010, S. 165-176. Für den italienischsprachigen Raum des Kronlandes Tirol siehe: F ELICE F ICCO , Centri privati per la custodia dei mentecatti nel Trentino dell’Ottocento. »Le case dei matti« del Basso Sarca, in: El ISABETH D IETRICH -D AUM / R ODOLFO T AIANI (Hg.), Psychiatrielandschaft/ Oltre il manicomio (Geschichte und Region/ Storia e regione 17/ 2), Innsbruck u. a. 2008, S. 68-102. <?page no="238"?> E LENA T ADDEI 238 Arztkollegen Daimer sen. bemühte sich Ottenthal auch in Sand in Taufers um die Errichtung eines ›Irrenzimmers‹. 15 Während die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen zuhause gepflegt bzw. verwahrt wurden, nahm die 1830 in Hall in Tirol gegründete Anstalt nur den kleinsten Teil der sogenannten heilbaren oder gefährlichen Irren auf. Hier gab es zunächst nur Platz für 80 Männer und Frauen aus dem Kronland Tirol und Vorarlberg. 16 Aufgrund der steigenden Nachfrage wurde die Anstalt mehrfach erweitert, so 1845 um eine Tobabteilung und 1868 um das Frauenhaus, ohne jedoch die zahlreichen Ansuchen um Aufnahme befriedigen zu können. Um die Jahrhundertmitte begann sich nämlich das Verhältnis von Anstaltszu Familienbetreuung langsam aber stetig umzukehren und bis 1895 waren fast ein Drittel aller betreuungsbedürftigen psychisch Kranken in Anstalten untergebracht. 17 Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollte die Anstalt in Hall eine Kapazität von über 1.000 Betten erreichen. 1864, also drei Jahre nachdem Ottenthal neben seiner Arztpraxis die Tätigkeit als Abgeordneter am Tiroler Landtag in Innsbruck aufgenommen hatte, wurde die Versorgung und Pflege von psychisch Kranken per Gesetz zu einer Aufgabe des Landes. Nachdem die Anstalt 1830 auf Staatskosten erbaut worden war und von der Wiener Zentrale geführt wurde, wurde sie in die Verwaltung und Kostentragung der Tiroler Landschaft gestellt. Die Irrenversorgung wurde Landessache, wie auch der neue Name zeigen sollte: k. k. Provinzial-/ oder Landesirrenanstalt Hall in Tirol. Als Berichterstatter des Ausschusses, der sich mit der Irrenfrage auseinandersetzen musste, befürwortete Ottenthal die Übernahme der Anstalt mitsamt allen Räumlichkeiten, Liegenschaften und Inventaren in das Eigentum des Landes. Das Land kaufte dem Staat seine erste Institution der Versorgung von psychisch Kranken in Tirol und Vorarlberg ab und änderte sogleich die Statuten, die nun vorsahen, dass nur im Land Tirol heimatberechtigte Kranke mittels Ansuchen durch Angehörige, einer Gemeindevorstehung 15 E LENA T ADDEI , Franz von Ottenthal. Arzt und Tiroler Landtagsabgeordneter (1818- 1899), Wien u. a. 2010, S. 84-86; G ERTRUD M ARIA R ITSCH -E GGER , Beiträge zur Geschichte des Heil- und Gesundheitswesens im Pustertal zwischen 1500 und 1900, unveröff. Diss. Univ. Innsbruck 1990. 16 Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung dieser ersten Anstalt im Kronland Tirol siehe: J OHANN T SCHALLENER , Beschreibung der k. k. Provinzial-Irren-Heilanstalt zu Hall in Tirol; mit Rücksicht auf die Statuten der Anstalt, auf die therapeutischen und psychologischen Grundsätze der Behandlung der Geisteskranken und auf ihre achtjährigen Resultate, Innsbruck 1842; A NGELA G RIESSENBÖCK , Von Heilung, Pflege und Verwahrung: Zur Geschichte der Landesirrenanstalt in Hall in Tirol und ihrer Patientinnen und Patienten (1882- 1918), Leipzig 2017. 17 E. D IETRICH -D AUM / M. R ALSER , Die »Psychiatrische Landschaft« (Anm. 12), S. 18f. <?page no="239"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 239 oder eines Gerichtes aufgenommen werden konnten. Da Vorarlberg eine eigene Anstalt baute, 18 war die regionale psychiatrische Versorgung durch die Haller Anstalt auf den Raum von Kufstein im Norden bis Ala im Süden begrenzt. Doch auch das Heimatrecht und die damit einhergehende Eingrenzung des Versorgungsraumes konnte in der Zeit des sogenannten »Irrenbooms« 19 den Bedarf an Anstaltsbetten nicht decken. Die chronische Überbelegung 20 der zunächst auf 250 Betten erweiterten Haller Anstalt entwickelte sich zur Dauerdebatte im Landtag. Angereichert wurde die Diskussion durch die Klagen der Vertreter des südlichen Landesteils über die schlechte(re) Versorgung der italienischsprachigen Irren/ mentecatti. Die in der Presse wie im Landtag geführten politisch aufgeladenen Diskussionen zwischen Liberalen und Konservativen waren nicht frei von Nationalismendebatten. Auch in der medizinischen Versorgung wie in der Frage der Hochschulbildung galt es von Seiten der Vertreter des südlichen Teils Tirols, die empfundene Benachteiligung der italienischsprachigen Gebiete der Donaumonarchie zu unterstreichen. 21 Der Vorschlag einer neuen Pflegeanstalt für chronisch Kranke im nördlichen Teil des Kronlandes wurde deswegen heftig kritisiert. Die italienischsprachigen Kranken aus dem Trentino mussten, so die Argumente italienischer Abgeordneter und zahlreicher deutscher Liberaler im Landtag, eine beschwerliche und weite Anreise auf sich nehmen, um dann in Hall - wenn überhaupt ein Platz für sie frei war - in einer soziokulturell und sprachlich fremden Umgebung versorgt zu werden. 22 In den ›Blättern aus Tirol‹ bettete der Bürgermeister von Bozen und Vertreter der Handels- und Gewerbekammer im Landtag, Dr. Streiter, 23 die Entscheidung 18 Vgl. dazu N ORBERT S CHNETZER / H ANS S PERANDIO (Hg.), 600 Jahre Valduna. Der lange Weg - vom Klarissenkloster zum Landeskrankenhaus, Rankweil 1999. 19 C ARLOS W ATZKA , Der ›Irrenboom‹ in der Steiermark. Zum Problem der Zunahme psychischer Erkrankungen in der Moderne, in: newsletter MODERNE 5/ 1 (2005), S. 21-26. 20 Siehe die Zahlen und die Vergleichsstudie bei A NGELA G RIESSENBÖCK , Die »Landes- Irrenanstalt Hall in Tirol« (1830-1913) dargestellt im Vergleich mit der »Landes-Irrenanstalt Feldhof bei Graz«, in: C ARLOS W ATZKA / M ARCEL C HAHROUR (Hg.), VorFreud. Therapeutik der Seele vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin 7), Wien 2008, S. 89-108, hier 91-96. 21 Vgl. J OSEF F ONTANA , Der Kulturkampf in Tirol (1861-1892), Bozen 1978. 22 Zu dieser Problematik siehe G IAN P IERO S CIOCCHETTI , Sulla strada per Hall. Il ricovero dei malati di mente nel Tirolo Meridionale tra il 1804 ed il 1882, in: E. D IETRICH -D AUM / R. T AIANI , Psychiatrielandschaft (Anm. 14), S. 47-67. 23 E LENA T ADDEI , Art. Joseph Streiter, in: H ELMUT R EINALTER (Hg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa 2/ 2 (Österreich/ Schweiz) (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850 43), Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 99-101. <?page no="240"?> E LENA T ADDEI 240 über die Art der zukünftigen Versorgung von psychisch Kranken folgendermaßen in die Nationalitätendebatte der ›Welschtiroler‹ ein: Nur hie und da flammte ihr [der Welschtiroler E. T.] verletztes Nationalgefühl auf wie bei der Verhandlung über die Errichtung einer Anstalt zur Versorgung gefährlicher und unheilbarer Irren. Man stritt sich, ob die schon gegenwärtig bestehende Irrenanstalt in Hall durch einen Zubau vergrößert oder eine neue im südlichen Theile Tirols errichtet werden soll. Der Berichterstatter Dr. v. Ottenthal, ein Arzt, hielt die Frage aus Mangel allseitiger Vorerhebungen nicht für spruchreif, anders der nun in Gries bei Bozen residierende Abt von Muri, Adalbert Regli, der sie wie ein Rechenexempel betrachtete und als guter Schwabe den Zweck über die Kosten vergaß. Dagegen erhoben sich mehrere Wälschtiroler, die auf eine Heilung ihrer Geisteskranken in Nordtirol kein Vertrauen setzten. Zuerst Freiherr von Cresseri, der auf die Lage Halls in einem Winkel des Landes, die den Südländern abträglichen klimatischen Verhältnisse, namentlich den warmen Wind und die Kälte zur Winterzeit verwies, […]. 24 Das Tiroler Beispiel zeigt sehr deutlich, dass Medikalisierung im 19. Jahrhundert stets auch ein Politikum war und in der Donaumonarchie von der Nationalstaatsbildung und dem kulturellen Pluralismus geprägt war. Die ›Sorge um die Gesundheit‹ wurde auf verschiedenen Ebenen, im Landtag wie in der Presse, diskutiert und diente auch politischen Zwecken. Die Klagen und Debatten führten schließlich zur Entscheidung für die Errichtung einer zweiten Institution im südlichen Landesteil. 1882 wurde die neue Heil- und Pflegeanstalt/ Manicomio provinciale di Pergine Valsugana 25 eröffnet. In seinem diesbezüglichen Ausschussbericht im Landtag hielt Ottenthal fest, dass die 13 km östlich von Trient gelegene Einrichtung die vom einstigen Direktor der Haller Anstalt Josef Stolz konzipierten und bewährten Anstaltsstatuten übernommen hatte, so dass die beiden Anstalten nur das jeweils sprachlich andere Pendant voneinander waren und die Region mit nun zwei miteinander im Austausch stehenden psychiatrischen Institutionen versorgten. Die Statuten legten fest, dass die beiden im Besitz des Landes Tirol befindlichen Anstalten in Hall und in Pergine zur Heilung von heilbaren und gefährlichen, sowie auch zur Verwahrung und Pflege von unheilbaren und zugleich gemeinschädlichen Geisteskranken beiderlei Geschlechts, welche nach Tirol zuständig sind, dienen sollten. Zur Führung und Verwaltung 24 J OSEPH S TREITER , Der Landtag von 1865, in: Blätter aus Tirol, Wien 1868, S. 228f. 25 Zu dieser zweiten Anstalt im Kronland Tirol siehe R ODOLFO T AIANI (Hg.), Alla ricerca delle menti perdute: viaggi nell’istituzione manicomiale, Trento 2003; C ASIMIRA G RANDI , Il manicomio in un territorio di confine: note storiche sull’ospedale psichiatrico di Pergine Valsugana, in: E. D IETRICH -D AUM / R. T AIANI (Hg.), Medikalisierung (Anm. 6), S. 112-142; M ARINA P ASINI / A NNALISA P INAMONTI (Hg.), Ospedale psichiatrico di Pergine Valsugana. Inventario dell’archivio (1882-1981), Trento 2003. <?page no="241"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 241 wurden jeweils ein Direktor, ein Hilfsarzt, ein Assistent, ein Kaplan, ein Rechnungsführer, eine Wäscheaufseherin und zugleich Besorgerin des Magazins und der Küche, ein Portier, ein Hausmeister, etliche Wärter und Wärterinnen sowie ein Amtsdiener bestellt. Der Paragraph 7 der Statuten über die Ernennung der beiden Anstaltsdirektoren durch den Landtag oder, wenn dieser nicht versammelt war, durch den Landesausschuss löste erneut Befürchtungen aus, dass, da kein welschtirolisches Mitglied im Landesausschuss sei, die Interessen der Anstalt im südlichen Landesteil schlechter vertreten würden. Gegen diese Zweifel an der Unparteilichkeit des Landesausschusses verwehrte sich Ottenthal mit dem Argument, dass die regionalen Entscheidungsträger die Sorge um das Wohl der Bürger und Bürgerinnen in den Vordergrund stellen würden: Der Landesausschuss kann und wird sich kümmern um die Wünsche der Bewohner des südlichen Theiles des Landes, und ich wenigstens habe noch nicht beobachtet, daß je einmal in solchen Fällen partheiisch vorgegangen wurde, und kann auch nicht befürchten, daß er bei Ernennung solcher Direktoren partheiisch vorgehen würde, und ich glaube, daß aus diesem Grunde, der § 7, wie ihn der Ausschuss stylisiert hat, angenommen werden soll. 26 Kurz vor der Jahrhundertwende und vor Ottenthals Lebensende besaß das Kronland Tirol also zwei Anstalten mit einer Kapazität von ca. 500 Betten für heilbare oder gefährliche Irre, die kontinuierlich erweitert wurde, weil die steigende Nachfrage nach psychiatrischer Versorgung nicht gedeckt war. Erst 1891 eröffnete die Universitätsklinik in Innsbruck eine psychiatrisch-neurologische Abteilung mit einigen Betten. 27 Die Unterbringung von psychisch Kranken bzw. von pflegebedürftigen älteren Familienmitgliedern mit typischen Alterserkrankungen wie Altersdemenz in den zumeist von Orden geführten Versorgungshäusern blieb daher weiterhin bestehen. Der lokalen Ebene der Gemeinden und den Landärzten fiel es zu, für die medizinische Versorgung der Gemeindeangehörigen zu sorgen, wie es ja die Heimatrechtsbestimmungen bereits 1849 gesetzlich festgelegt hatten. 28 Als Privatarzt und zeitweise Gemeinde- und Gerichtsarzt war Ottenthal während seines Engagements auf der Landesebene gleichzeitig in die Verwaltung des Irrsinns vor Ort, also in seinem Sanitätsbezirk, involviert. 29 Es stellt sich nun die Frage, welchen Beitrag 26 Tiroler Landesarchiv, Stenographische Sitzungsprotokolle des Tiroler Landtages, V. Periode, 4. Session vom 22.9.1881, S. 158-168, hier 162. 27 M ICHAELA R ALSER , Im Vordergrund die Klinik. Das Beispiel der Innsbrucker Psychiatrisch-Neurologischen Klinik um 1900, in: E. D IETRICH -D AUM / R. T AIANI , Psychiatrielandschaft (Anm. 14), S. 135-146. 28 Provisorisches Heimatgesetz vom 17.3.1849 (Reichsgesetzesblatt Nr. 170). Siehe I LSE R EI - TER , Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechtes in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2000. 29 D ORIS K AUFMANN , Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850, Göttingen 1995, S. 236-260. <?page no="242"?> E LENA T ADDEI 242 der Arzt bei diesem besonderen Aspekt der Medikalisierung auf dem Lande leistete und wie und unter welchen behördlichen Rahmenbedingungen er für die Patientinnen und Patienten mit psychischen Gebrechen sorgte. 4. Das Wissen über psychische Erkrankungen Franz von Ottenthal hatte von 1837 bis 1843 in Wien an einer durch große Mediziner wie den Pathologen Carl von Rokitansky (1804-1878) 30 oder den Anatomen und Internisten Josef von Škoda (1805-1881) 31 zu hohem Ruhm avancierten Hochschule 32 Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe studiert. Dennoch ist festzuhalten, dass seine Ausbildung in der Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen - entsprechend der Zeit - mehr als rudimentär war. 33 Weder in Tirol noch in anderen Teilen der Monarchie gab es Mitte des 19. Jahrhunderts frei praktizierende Spezialisten für psychische Erkrankungen. Das Fach ›Psychiatrie‹ befand sich erst in Ausformung und die wenigen frühen Fachärzte arbeiteten vorrangig an Universitätskliniken oder in den privaten Sanatorien und öffentlichen sogenannten Irrenanstalten. 34 Erste Schritte in Richtung einer psychiatrischen Ausbildung an Universitätskliniken wurden in Wien ab 1870 und in Graz ab 1872 gemacht. Als die Universitätsklinik in Innsbruck 1891 ein Institut für Psychiatrie eröffnete, war Ottenthal bereits über vierzig Jahre in der Praxis und wie sein Kollege, der Gemeindearzt von Sand in Taufers, Dr. Daimer sen., für die Behandlung der Irren vor Ort zuständig. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah der Studienplan der Medizinischen Fakultät in Wien nur eine einzige Lehrveranstaltung zu chronischen Krankheiten mit Sitz im Nervensystem vor, in der auch die Merkmale der Melancholie, 30 Vgl. H ELMUT R UMPLER / H ELMUT D ENK (Hg.), Carl Freiherr von Rokitansky (1804- 1878). Pathologe - Politiker - Philosoph. Gründer der Wiener Medizinischen Schule des 19. Jahrhunderts, Wien u. a. 2005. 31 D ANIELA A NGETTER , Art. Škoda Josef von, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 12, Wien 2005, S. 326. 32 Vgl. L EOPOLD S CHÖNBAUER , Das medizinische Wien. Geschichte - Werden - Würdigung, 2. Aufl. Wien 1947. 33 Vgl. H EINZ S CHOTT / R AINER T ÖLLE , Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006, S. 295-296. 34 Zu diesem Etablierungsprozess siehe auch E RIC E NGSTROM / V OLKER R OELKE (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Medizinische Forschung 13), Mainz 2003. <?page no="243"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 243 des Wahnsinns und des Jähzorns vorgetragen wurden. 35 Ottenthal musste sich somit im Eigenstudium und vor allem durch eigene Erfahrung und Praxis Wissen über Charakteristika, Begutachtung, Behandlung und Heilungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten aneignen. Im Allgemeinen aber wuchs ab den 1840er Jahren das Interesse für die Psyche und ihre Erkrankungen, wie die bemerkenswerte Zunahme medizinischer Abschlussarbeiten an der Universität Wien zu bestimmten Phänomenen wie Kretinismus, Hysterie oder Melancholie bezeugt. 36 Sechs solcher Dissertationen mit psychiatrischem Schwerpunkt sind in der Bibliothek von Franz von Ottenthal erhalten geblieben und tragen eine Widmung seiner Wiener Studienkollegen. 37 Dass das Interesse auch immer mehr sanitätspolitischer Natur war, belegt eine 1857 von der Akademie der Wissenschaften in Wien begonnene Erfassung 38 der Zahl und der Lebensbedingungen von ›Kretinen‹ in den einzelnen Kronländern, der noch weitere statistische Erhebungen folgen sollten. 39 Ob Ottenthal die Werke früher ›Psychiater‹, etwa den ›Traité médico-philosophique sur l’alienation‹ (1801) von Philippe Pinel, das Buch von Jean Etienne Dominique Esquirol ›Von den Geisteskrankheiten‹ (1838), Wilhelm Griesingers 1845 erschienenes Hauptwerk ›Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹, das als Magna Charta der Psychiatrie bezeichnet wird, oder zumindest die Veröffentlichungen der ersten Anstaltsdirektoren in Hall besaß, 40 ist auf Grund der Unvollständigkeit des Nachlasses ungewiss. 35 Für das medizinisch-chirurgische Studium waren fünf Jahrgänge zu je zwei Semestern vorgesehen. Der Lehrplan und die Reformvorschläge von 1846-1848 sind nachzulesen bei R ICHARD M EISTER , Entwicklung und Reformen des Österreichischen Studienwesens, Teil II: Dokumente (Veröff. der Kommission für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 6), Wien 1963, S. 189-225, hier 213f. Die letzte Aufarbeitung dieser Studienreformen erfolgte von C HRISTOF A ICHNER / B RIGITTE M AZOHL (Hg.), Die Thun-Hohenstein’schen Universitätsreformen 1849-1860. Konzeption - Umsetzung - Nachwirkungen, Wien u. a. 2017. 36 Allein zwischen 1825 und 1850 wurden in Wien sechs Dissertationen zum Thema ›Kretinismus‹, sechs zu ›Melancholie‹, fünf über die ›Psyche‹ und 21 zu ›Geisteskrankheiten‹ angenommen. Siehe die Datenbank der Österreichischen Nationalbibliothek, Katalog 1501-1929, unter den Stichwörtern ›Melancholie‹, ›Paranoia‹, ›Cretinismus‹, ›Psychica‹ (www.onb.ac.at/ ). 37 E. T ADDEI , Franz von Ottenthal (Anm. 15), S. 280-290. Er selbst verfasste eine Abschlussarbeit über Asthma. 38 Siehe die schriftliche Aufforderung zur Mitarbeit von Seiten der Akademie der Wissenschaften vom 23.3.1857 und die direkte Aufforderung Ottenthals und Daimers durch den Bezirksvorstand vom 6.7.1857 in Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Verordnungen und Dekrete 17, Nr. 1051. 39 StA Bozen, Landgerichtsakten Taufers, 1857, 1061. J OSEF Š KODA , Referat über den Inhalt der Berichte welche über den Kretinismus in der Österreichischen Monarchie eingelangt sind, Wien 1861, in: Tiroler Landesarchiv, Statthalterei, Sanität 11062, 1862. 40 J. T SCHALLENER , Beschreibung (Anm. 16); J OSEF S TOLZ , Mechanischer Zwang (körperliche Beschränkung) der der Behandlung der Geisteskranken und die allmälige Beseitigung <?page no="244"?> E LENA T ADDEI 244 5. Die Sorge um die Gesundheit in den schriftlichen Quellen Ottenthals Nachlass war bis vor kurzem im Ansitz Neumelans in Sand in Taufers aufbewahrt, wo der Privatarzt bis 1899 seine Praxis mit eigener Hausapotheke führte. Das Gebiet seiner Tätigkeit umfasste aber nicht nur die Ortschaft Sand, sondern den gesamten Sprengel des weitläufigen Landgerichts, ab 1850 Bezirksgerichts Taufers, somit das gesamte Ahrntal und Tauferer Tal von Gais, nordöstlich von Bruneck gelegen, bis zum Talschluss in Kasern. Abgesehen von den hochalpinen Übergängen war dieser Sprengel verkehrsgeografisch abgeschlossen, ohne ausgebaute Verbindungen zu den Nachbartälern. 1847 zählte das Gericht 10.315 Einwohner in 19 Gemeinden. Neben Ottenthal arbeitete im Sprengel ein bestellter Gemeindearzt in Sand, den er oft vertrat. In Steinhaus, am Ende des Tales, übte noch ein Wundarzt sein Gewerbe aus. Somit kamen in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf ca. 10.000 Einwohner des Ahrntals und Tauferer Tals drei Ärzte, während der Landesdurchschnitt bei einer vergleichbaren Bevölkerungszahl bei fünf Ärzten lag. Die Region war landwirtschaftlich geprägt und unterlag extremen klimatischen Verhältnissen mit schneereichen, harten und langen Wintern. Die Infrastruktur war rückständig, die gewerbliche Entwicklung schwach. 41 Während seiner 50-jährigen Tätigkeit konsultierten den Landarzt über 53.000 Patientinnen und Patienten aus Sand und der gesamten Talschaft. Diese Konsultationen fanden Niederschlag in Ottenthals sogenannten Historiae Morborum, 244 handgeschriebenen Heften im Quartformat, die im Rahmen eines mehrjährigen Projektes in einer Datenbank erfasst wurden. 42 Die Historiae Morborum geben Auskunft über desselben in der Irrenanstalt zu Hall in Tirol, in: Zeitschrift für Psychiatrie 28 (1871), S. 519- 551. Derselbe hat auch eine Reihe von Artikeln zu Behandlungsmethoden bei Geisteskrankheiten in der Tageszeitung ›Tiroler Stimmen‹ unter dem Titel ›Eine brennende Frage‹ veröffentlicht; siehe Tiroler Stimmen vom 22., 23., 29. und 30.1.1863. 41 Siehe die Beschreibung des Einzugsgebietes bei W ALTER N EUHAUSER , Eine Beschreibung des Landgerichtes Taufers aus dem Jahre 1834. Die »Topographisch-statistische Darstellung des Landgerichtes Taufers« des Landrichters Augustin von Leys. Mit Edition des Textes (Veröff. des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum 81), Innsbruck 2001, S. 5-71; A NDREAS O BERHOFER , Eine Landarztpraxis im 19. Jahrhundert am Beispiel der Ordination des Dr. Franz von Ottenthal (1818-1899), in: E LISABETH D IETRICH -D AUM u. a. (Hg.), Arztpraxen im Vergleich: 18.-20. Jahrhundert (Veröff. des Südtiroler Landesarchivs 26), Innsbruck u. a. 2008, S. 167-191; W OLFGANG M ESSNER , Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Tauferer Tales/ Ahrntales im ausgehenden 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts, unveröff. Diplomarbeit Univ. Innsbruck 2004. 42 Die Originaljournale der Krankengeschichten ›Historiae morborum‹ befinden sich als Dauerleihgabe im Südtiroler Landesarchiv und sind zugleich in einer vom Interreg III-A- Projekt (Italien-Österreich 2002-2007) geförderten Datenbank an der Universität Innsbruck abrufbar: www.uibk.ac.at/ ottenthal/ . <?page no="245"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 245 die vom Arzt erfassten physischen und psychischen Symptome und Leiden der Patientinnen und Patienten. Die Bedeutung von Krankengeschichten für das Verständnis von zeitgenössischen medizinischen Erklärungsmodellen für psychische Leiden ist bereits mehrfach belegt worden. 43 Wie auch andere ärztliche Nachlässe zeigen, kam nur ein kleiner Teil der Patientinnen und Patienten wegen psychischer Leiden oder psychiatrischer Erkrankungen in Ottenthals Praxis. Immerhin führen insgesamt über 2.000 Einträge im Praxisjournal des Arztes Diagnosen an, die dem Spektrum der psychiatrischen Erkrankungen der Zeit zugerechnet werden können: 705 der insgesamt über 90.000 Einträge der Historiae Morborum führen hysteria, 227 Einträge paranoia, 88 Einträge verschiedene Formen des Wahnsinns (vesania), 34 Einträge ›Tobsucht‹ (ira) an. In weiteren 764 Krankengeschichten notierte der Arzt die Diagnose Melancholie. Nach der schwierigen, oft wenig eindeutigen Diagnoseerstellung im Rahmen einer oder zumeist mehrerer, schriftlich festgehaltener Konsultationen eröffneten sich dem Landarzt verschiedene Wege der Versorgung des Patienten/ der Patientin mit psychischen Beschwerden: Die medikamentöse Behandlung mit zumeist beruhigenden Arzneimitteln, die auf die Stabilisierung der physiologischen Körperprozesse hinzielten, war die gängige Therapie. 44 So verschrieb Ottenthal der 46-jährigen Agnes P., die 13 Mal zwischen 1885 und 1887 in die Ordination kam und über Bauch- und Magenschmerzen klagte, wohingegen er auch eine alteratio intellectus, eine Geistesverwirrung, und kurz darauf paranoia festhielt, zunächst ein gängiges opiathaltiges Mittel zur Beruhigung (Pulvis Opii 0.1 Extractum Catechu 1 Artemisia 5). 45 Nachdem er in den darauffolgenden Konsultationen wegen des Onkels der Mutter, der zwei Jahre lang unter religiösem Wahn gelitten hatte, 46 eine erbliche Belastung eruierte, die Patientin sowohl Durchfall hatte als auch von Selbstmord sprach, variierte er immer wieder die Medikation. Der Fall zeigt beispielhaft, wie psychische und somatische Störungen parallel auftreten konn- 43 U LRIKE H OFFMANN -R ICHTER / A SMUS F INZEN , Die Krankengeschichte als Quelle. Zur Nutzung der Krankengeschichte als Quelle für Wissenschaft und psychiatrischen Alltag, in: BIOS 11/ 2 (1998), S. 280-297. 44 Dazu siehe bereits E LISABETH D IETRICH -D AUM / E LENA T ADDEI , Curare - segregare - amministrare. L’assistenza e la gestione dei »mentecatti« in un contado del Tirolo: l’esempio del medico generico Franz von Ottenthal (1818-1899) di Campo Tures, in: E. D IETRICH - D AUM / R. T AIANI , Psychiatrielandschaft (Anm. 14), S. 103-134. 45 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1885/ 5, 1737: […] avunculus a matre vesanus erat per 2 annos, paranoia religiosa. 46 Zu dieser auch in Ottenthals Aufzeichnungen weit verbreiteten ›Diagnose‹ siehe: M ARIA H EIDEGGER , Religiöser Wahn, Identität und die psychiatrische Erzählung in der säkularisierten Anstalt (Tirol 1830-1859), in: E RNA A PPELT u. a. (Hg.), Identitäten verhandeln - Identitäten de/ konstruieren (Innsbrucker Gender Lectures III), Innsbruck 2015, S. 97-120. <?page no="246"?> E LENA T ADDEI 246 ten und wie der Wechsel der Symptomatik die Variation in der Medikamentenverschreibung des Landarztes bedingte. Außerdem kann angenommen werden, dass Ottenthal bei Erfolglosigkeit und aus Mangel sowohl an theoretischem Wissen wie an Expertise verschiedene Medikationen ausprobierte. Anscheinend war die Selbstmorddrohung der Agnes P. seiner Einschätzung nach nicht ernst zu nehmen oder sie verflüchtigte sich mit der Behandlung. Andernfalls hätte er bei Gefahr für die Patientin oder ihre Umgebung einen anderen Weg der Fürsorge eingeschlagen, der mit einem ärztlichen Gutachten begann. Meistens nach Aufforderung durch das Bezirksgericht, an das sich Angehörige, 47 Priester 48 und manchmal auch Ärzte selbst wandten, verfasste der Arzt ein psychiatrisches Parere, die sogenannte ›Irrengeschichte‹ oder das ›Irrengutachten‹. Ergebnis einer solchen ärztlichen Expertise konnte der Beginn der Hospitalisierung durch das anschließende Ansuchen der Gemeinde oder des Bezirksgerichtes um Aufnahme in einer Anstalt, die Verhängung der Kuratel und somit die Entmündigung des/ der Betroffenen und/ oder die Verwahrung mit ärztlicher Pflege in der eigenen Familie 49 oder in einer Gemeindelokalität, dem sogenannten ›Irrenzimmer‹, sein. Alternativ standen in weniger ländlichen Gemeinden Versorgungshäuser zur Verfügung, worin vor allem Patientinnen und Patienten ohne Familienangehörige aufgenommen wurden. Waren diese mittellos, so musste die Gemeinde für die Pflegekosten aufkommen. 6. Das psychiatrische Gutachten als Ausgangspunkt der Hospitalisierung Die Struktur des psychiatrischen Gutachtens, das den Prozess der Hospitalisierung einleitete, folgte einem Schematismus, 50 den der Direktor der Haller Anstalt, Johann Tschallener, in den 1860er Jahren für das Kronland Tirol entwickelt hatte. Seine Vorgaben sollten Einheitlichkeit in der Erfassung, Kategorisierung und Dokumentation von psychischen Erkrankungen ermöglichen, scheiterten jedoch am noch 47 Auch in Ottenthals Journalen findet sich der Hinweis, dass Familienangehörige um Begutachtung baten, so z. B. im Fall von Maria M., die untersucht wurde, da ihr Bruder behauptete, sie leide unter Wahnsinn oder Kretinismus; Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal 252, Nr. 2133 IVb3. 48 Die Rolle der Religion und der Priesterschaft in der Festlegung und z. T. Überwindung von Psychosen hat bereits Lederer am Beispiel Bayerns untersucht: D AVID L EDERER , Madness, Religion and the State in Early Modern Europe. A Bavarian Beacon, Cambridge 2006. 49 Vgl. T HOMAS M ÜLLER , Das Vorbild Gheel und die psychiatrische Familienpflege im 19. Jahrhundert, in: Sozialpsychiatrische Informationen 4 (2004), S. 7-11. 50 Eine Kopie des Schematismus ist im StA Bozen, Kreisamt Bruneck 1848, 906/ 2, Sanität, Infoblatt; die Fragen des Formulars sind abgedruckt in E. T ADDEI , Franz von Ottenthal (Anm. 15), S. 133f. <?page no="247"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 247 mangelhaften Grundlagenwissen über die verschiedenen Geisteszustände und die sie auslösenden Ursachen. Entlang von 16 Fragen sollten die Ärzte von den biografischen Daten über Informationen zu Bildung, sozialem Verhalten und Umfeld des/ der Betroffenen ein Bild der Psychose und ihrer Ursache zeichnen können. Die spätere Erweiterung des Fragebogens auf 26 Punkte sollte der genaueren Eruierung von Ursachen dienen, die psychische Erkrankungen hervorriefen. Die Unterteilung in erbliche Vorbelastung und Traumata sollte schärfer definiert werden, denn davon versprach man sich Rückschlüsse auf die Heilbarkeit der Krankheit, die Voraussetzung für die Aufnahme in eine Anstalt war, während der Aspekt der Gefährdung von sich und anderen mitunter auch eine Unterbringung in einer Haftanstalt legitimierte. Die Tatsache, dass die Anzahl der Fragen in den 1880er Jahren wieder auf zehn reduziert wurde, war sicherlich eine Folge der zahlreichen leeren Felder dieser Formulare, die an die Anstalt gerichtet wurden. Selbst mit Hilfe der Seelsorger und sogar bei eigenen, auch langjährigen Patientinnen und Patienten konnte Ottenthal durchschnittlich ein Drittel der Fragen nicht beantworten. In den erhaltenen Fragebögen fehlen Hinweise auf Vorerkrankungen; auch die Möglichkeit, ältere Familienangehörige nach ähnlichen erblichen Vorbelastungen zu befragen, war nicht immer gegeben. Selbst dort, wo Angehörige Auskunft geben konnten, dürfte die Angst vor sozialer Stigmatisierung den Informationsfluss gehemmt haben. Ottenthal selbst hat in seinen Aufzeichnungen ein Verweissystem entwickelt, nach dem er Angehörige oder Bedienstete (Knechte und Mägde) dem Familienoberhaupt zuordnen konnte. Inwieweit dieses System der Überprüfung von ähnlichen Krankheitsmustern oder aber nur der Zuordnung offener Honorare diente, lässt sich nicht genau nachzeichnen. In einigen Fällen, wie z. B. im Gutachten über Sebastian O., worin er festhielt, dass weder seine Eltern noch Geschwisterte oder Verwandte […] mit einer Krankheit behaftet [waren], welche mit seinem gegenwärtigen Leiden in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden kann, lässt die weitere Feststellung, dass über seine Kinderkrankheiten nichts bekannt sei, den Schluss zu, dass die Informationen von der Erinnerung der Angehörigen und nicht von seinen eigenen Aufzeichnungen herrührten. 51 Unter diesen Voraussetzungen hätte selbst der tüchtigste Funktionär des Staates diese von den Anstaltsdirektoren vorgeschriebenen Auflagen der Erforschung von Heredität und anderen Ursachen für psychische Erkrankungen nicht erfüllen können. Für die Eruierung, Erfassung und Beschreibung der auslösenden Ursachen von psychischen Erkrankungen fehlten dem in anderen Bereichen gut ausgebildeten Arzt die theoretischen Grundlagen und eine ›patient compliance‹ im weitesten Sinn, wie sie die moderne Medizin definieren würde. 51 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum, 1864/ 2, 940 mit beigelegtem Gutachten. <?page no="248"?> E LENA T ADDEI 248 Wenn Ärzte wie Franz von Ottenthal mit einer auf der Praxis und nicht auf theoretischer Kenntnis basierenden Expertise bei einer psychischen Erkrankung Heilungschancen diagnostizierten, dann unter der Annahme, dass eine Besserung oder Genesung nur in einer Anstalt zu erreichen war, wie das Beispiel von Gertraud R. zeigt, die nicht Ottenthals Patientin war, aber von diesem für das Bezirksgericht Taufers begutachtet wurde. Der Landarzt erfuhr durch den Seelsorger sowie seinen Arztkollegen, den Gemeindearzt von Sand, über ihre erbliche Belastung und hielt im Gutachten Folgendes fest: Ihr Bruder Alois war vor 3 Jahre durch ¼ Jahr irrsinnig, die Schwester ihrer Mutter Nothburg W[…] starb vor 10 Jahren ebenfalls geisteskrank, der Vater starb vor 3 Jahren u. delirierte zeitweise in den letzten 3 Jahren seines Lebens. Sie selbst war der Gemeinschaft aufgrund ihrer Zornausbrüche aufgefallen. In ihrer Furcht vor der Hölle lief sie oft davon, ohne sich oder andere zu gefährden. Wenn auch Ottenthal dezidiert dem Gericht und in Weiterleitung seines Pareres der Haller Anstalt mitteilte, dass eine Ursache ihrer Erkrankung […] außer der erblichen Anlage nicht zu ermitteln 52 und bis dato keine ärztliche Behandlung eingeleitet worden sei, muss die Hoffnung auf Heilung oder Besserung dennoch geäußert worden sein. Tatsächlich wurde Gertraud 1883 in der Anstalt in Hall aufgenommen und den Aufnahme- und Entlassungsbüchern zufolge ein Jahr später gebessert entlassen. 53 Wenn auch Ottenthal große Erwartungen an die Anstaltstherapie hatte, 54 so hemmte die eingeschränkte Aufnahmekapazität der Institution die von ihm angestrebte Behandlung für seine Patientinnen und Patienten. Das Beispiel des oben genannten Sebastian O., 55 der sich nach mangelhaftem Schulbesuch dem Studium des Katechismus mit mehr Eifer als Erfolg widmete und wegen der von einem Ordensmann aufgrund seiner Geistesverwirrung verweigerten Absolution bei der Beichte randalierte, zeigt, dass nach der Auffassung des Arztes nur in der Anstalt eine Verbesserung zu erwarten war, zumal der Patient auch gefährlich sein konnte. Zweimal wurde der magere aber kräftige Kranke mit einem Messer in der Hand getroffen einmal wollte er sich gegen die Häscher verteidigen das andere Mal behauptete er mit sich selbst ein Ende machen zu müßen. Man hofft daß bei der kurzen Krankheitsdauer der Kranke der leicht sich und anderen gefährlich zu werden droht bei der methodischen Behandlung des Irrenhauses geheilt werden könnte, hielt der Landarzt gegenüber dem Gericht fest. 56 Doch dieser Patient scheint nicht 52 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum, 1885/ 5, 1737 mit beigelegtem Gutachten vom 30.9.1883. 53 Archiv des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall, Aufnahmebuch Frauen, Laufnummer 3579. 54 Vgl. dazu M ARIA H EIDEGGER / O LIVER S EIFERT , »Nun ist aber der Zweck einer Irrenanstalt Heilung …«. Zur Positionierung des »Irrenhauses« innerhalb der psychiatrischen Landschaft Tirols im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: E. D IETRICH -D AUM / R. T AIANI , Psychiatrielandschaft (Anm. 14), S. 24-46. 55 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1864/ 2, 940. 56 Das Gutachten vom 13.9.1864 ist der Krankengeschichte beigelegt. <?page no="249"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 249 in den Aufnahmebüchern der Haller Anstalt auf. Ein Grund dafür könnte die auf dem Arztgutachten basierende Einschätzung des Anstaltsdirektors sein, dass im genannten Fall nur geringe oder gar keine Heilchancen zu erwarten seien. Außerdem war zu befürchten, dass der offensichtlich gewalttätige Patient schwer zu betreuen war. Wenn das Profil des Pfleglings nicht in das Konzept der Anstalt passte, dieser also bereits in der Ferndiagnose als unheilbar oder ungefährlich galt, dann erfolgte keine Aufnahme, zumeist mit der Begründung der allgemeinen Unterbringungsprobleme. Vielleicht aber - und das scheint am wahrscheinlichsten - war in der chronisch überfüllten Anstalt tatsächlich kein Bett mehr frei. Die Beispiele zeigen indes, dass der Arzt, der sich in seinen Gutachten bemühte, die Voraussetzungen für eine Aufnahme in der Anstalt als erfüllt darzustellen, der Willkür des Entscheidungsträgers und den geringen Kapazitäten der einzigen Institution im medikalen Raum unterlag. 7. Die Entmündigung als Instrument der übertragenen Fürsorge Wo keine Hospitalisierung möglich oder sinnvoll war, wurden Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen in lokalen Versorgungshäusern, z. B. der Barmherzigen Schwestern, oder in den Familien betreut. In diesen Fällen kam es meist zur Entmündigung, denn die Kuratelverhängungen waren mit der Unzurechnungsfähigkeit des/ der Betroffenen im weiten Spektrum der noch schwer kategorisierbaren psychischen Erkrankungen verbunden. Nach den Paragraphen 269, 270 und 273 des ›Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches‹ von 1811 wurde die Kuratel über jene Personen verhängt, die einem gerichtsärztlichen Urteil nach, ihre Angelegenheiten nicht selbst besorgen, und ihre Rechte nicht selbst verwahren konnten. 57 Diese mussten einem männlichen Vormund unterstellt werden, der ihre Vermögensangelegenheiten verwaltete und einziger Entscheidungsträger war. Als Gerichtsgutachter in Kuratelfragen griff Ottenthal, wo dies möglich war, auf seine Krankenakten zurück, um sich und dem Gericht ein Bild des/ der Betroffenen zu machen. Er hielt die ihm bekannten Krankheiten, etwaige Anstaltsaufenthalte, aber auch Berichte über ein auffälliges Verhalten fest und plädierte für eine Entmündigung besonders bei unheilbaren Diagnosen wie Kretinismus oder Blödsinn. Genannt sei das Beispiel von Johann M. Er litt seit seiner Kindheit an Kretinismus und war taubstumm. Ottenthal schloss sein Urteil über die Entmündigung mit der Behauptung, dass nach der ärztlichen Erfahrung Cretinismus und Taubstummheit in so hochgradiger 57 Allgemeines buergerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie (ABGB), Theil 1, Wien 1811. Siehe auch U RSULA F LOSSMANN , Österreichische Privatrechtsgeschichte, 3. verbess. Aufl. Wien-New York 1996, S. 47f. <?page no="250"?> E LENA T ADDEI 250 Entwicklung unheilbar sind, weshalb der Betroffene weder jetzt noch in Zukunft der vormundschaftlichen Aufsicht und Pflege entbehren könne. 58 Dabei unterstrich er seine Begründung mit ihm bekanntem oder zugetragenem von der Norm abweichendem Verhalten der Begutachteten wie Streunen, Betteln, Verwahrlosung oder aber Unruhestiftung. Zu Kuratelverhängungen kam es häufig auch, nachdem eine Person aus der Anstalt ungeheilt entlassen worden oder entwichen war. Ein besonderes Problem, das in der sich etablierenden Kategorisierung der Geisteserkrankungen noch keinen eigenen Platz gefunden hatte, waren die Suchterkrankungen. Sie kommen sowohl in den Krankengeschichten als auch in den Gutachten zur Kuratelverhängung im gleichen Ausmaß vor, wie die oben genannten erblichen Leiden (Kretinismus). Im Parere über die zwei Schwestern Maria und Cäcilia M., beide Patientinnen Ottenthals, hielt dieser gegenüber dem Bezirksgericht fest, dass sie beide unter Säuferwahnisnn (delirium tremens potatorum) litten, Maria zudem auch an Fallsucht (epilepsia). Da sie beide während ihrer Anfälle von Säuferwahnsinn gänzlich, dazwischen nur beschränkt zurechnungsfähig waren und da nur die wenigsten Säufer ihre Leidenschaft aufgeben, weshalb sie dem anhaltenden Wahnsinn verfielen, empfahl der Landarzt die Entmündigung. 59 Wo Ottenthal hingegen ansatzweise eine selbstständige Lebensweise erahnte, zögerte er, dem Gericht die Entmündigung vorzuschlagen, wissend welche administrativen und finanziellen Folgen für Gemeinde und Gericht und welche sozialen Folgen für die Angehörigen diese mit sich brachte. Dies war bei Anton P. der Fall, dem der Arzt trotz eines vorangegangenen Aufenthalts in der Haller Anstalt genügend Zurechnungsfähigkeit attestierte, um sein Vermögen selbst zu verwalten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. 60 8. Fazit Wie das Beispiel des Landarztes Franz von Ottenthal aus Sand in Taufers zeigt, spielten Ärzte - Gemeinde-, Armen-, Gerichts- und Privatärzte - vor Ort als Primärbehandler innerhalb eines in Ausformung befindlichen Sanitätssystems eine zentrale Rolle in der Behandlung von Menschen mit psychischen Krankheiten und in der Verwaltung des Irrsinns. Die ärztliche Versorgung und die Verwahrung der zahlenmäßig überwiegenden nicht-hospitalisierten Irren prägte ihren Berufsalltag. Im Gerichtsbezirk Bruneck z. B. wurden 1880 insgesamt 61 Irrsinnige in Familien mit 58 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1888/ 4, 1687 mit beigelegtem Gutachten. 59 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1887/ 3, 1320 mit beigelegtem Gutachten. 60 Südtiroler Landesarchiv, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1898/ 1, 142. <?page no="251"?> D IE V ER WALT UNG DES ›I R R S INN S ‹ IM K R ONLAND T IR OL 251 der Unterstützung der Gemeinden versorgt. 61 Durchschnittlich fielen drei Viertel der psychisch Kranken in die Zuständigkeit der Ärzte vor Ort. Erst nach der Jahrhundertwende drehte sich das Verhältnis von Privatpflege zu Anstaltspflege um. Ottenthal spielte wie viele andere Ärzte in der psychiatrischen Landschaft sogar auf mehreren Ebenen eine Rolle, ohne allerdings für die Heilung, Pflege und Verwahrung von psychisch Erkrankten während seines akademischen Studiums in Wien ausgebildet worden zu sein. Die Behandlung von psychisch Kranken war Teil der allgemeinen medizinisch-ärztlichen und sozial-administrativen Aufgaben der Ärzte. Man sah dafür aber noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts keine spezielle Ausbildung, Fortbildung oder Expertise jenseits der eigenen Erfahrungen vor. Mit den Angehörigen, den Gemeinden, Gerichten, der Polizei und den wenigen psychiatrischen Institutionen war Ottenthal auf lokaler Ebene durch seine Gutachtertätigkeit in der Initialphase vieler Psychiatrisierungsprozesse - der Anstaltseinweisung und der Kuratelverhängung - involviert. Auf regionaler Ebene trug er als Landtagsabgeordneter durch die Befürwortung der Gründung einer zweiten Landesirrenanstalt zur Weichenstellung für die voranschreitende Medikalisierung und die in seinen Augen erfolgreichere, anstaltsbezogene Sorge um die psychische Gesundheit bei. Obwohl er sich, wie eingangs gezeigt wurde, in medizinischen Dingen von den sanitätspolitischen Behörden nicht gerne bevormunden ließ, war Ottenthal ein Funktionär des Staates. Seine Arztpraxis in Sand in Taufers und seine langjährige Tätigkeit in verschiedenen sanitätspolitischen Bereichen stellten einen wichtigen Versorgungspunkt im medikalen Raum eines ländlich geprägten Einzugsgebietes dar. Als Arzt, Gutachter, lokale Autoritätsperson und Landtagsabgeordneter war er im Medikalisierungsprozess auf dem Lande und in der Region auf verschiedenen Ebenen eingebunden. Seiner Sorge um die psychische Gesundheit seiner Patienten und Patientinnen waren aber Grenzen gesetzt: Die beschränkte Aufnahmekapazität der Landesirrenanstalten, der von den politischen Behörden bestimmte Hospitalisierungsprozess, seine Unkenntnis in den Therapieformen und die vorrangig familiäre Pflege und Verwahrung von psychisch Kranken machten aus dem Landarzt mehr einen Verwalter als einen Behandler von psychisch Kranken. Dennoch stellte er, wie viele andere, quellenmäßig weniger gut greifbare Ärzte und Versorgungsinstitutionen des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Mosaikstein in der psychiatrischen Landschaft des Kronlandes Tirol dar. 61 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium des Inneren, allg. Sign. 36, Kt. 977, Zl. 4909 ex 1885: Ergänzungsbericht über Sanitätsangelegenheiten im politischen Bezirke Bruneck im Jahr 1880. <?page no="253"?> 253 R ALPH H ÖGER Orte der Heilung? Die württembergischen Irrenanstalten Schussenried und Zwiefalten (1875-1914) In den Kulturwissenschaften lässt sich in jüngerer Zeit eine vermehrte Aufmerksamkeit für Fragen der Raumkonstituierung und der räumlichen Strukturierung erkennen. Seit nunmehr dreißig Jahren wird von einem ›spatial turn‹ gesprochen. Der Humangeograph Edward W. Soja hatte den Begriff 1989 beiläufig in einem Unterkapitel seiner Monographie ›Postmodern Geographies‹ verwendet und sich dabei auf den französischen Soziologen Henri Lefebvre und seine Studie ›La production de l’espace‹ (1974) bezogen. 1 Obgleich es einige Kritik an dem inflationären Gebrauch der Begrifflichkeit der zahllosen ›turns‹ gibt 2 und zu fragen ist, inwiefern überhaupt eine »grundlegende Kehre zum Raum« stattgefunden hat, 3 hat sich die Fokussierung auf den Raum als Forschungsperspektive mittlerweile durchgesetzt. Zentral ist hierbei insbesondere die Fokussierung auf die »Aneignung und Umnutzung« und das »soziale Gemacht-Sein« von Räumen. 4 Laura Kajetzke und Markus Schroer grenzen sich aus soziologischer Sicht von dem weitgefassten Begriff ›spatial turn‹ ab und sprechen stattdessen von ›space studies‹. Sie spezifizieren das Programm dieser kulturwissenschaftlichen Hinwendung zu Raumfragen genauer als die Fokussierung auf die handlungsanleitenden Wirkungen von räumlichen Settings, die Prozesshaftigkeit des Verräumlichungsvorgangs und die Abkehr von einem Dualismus zwischen physischem und sozialem Raum. Vielmehr müssten die Beziehungen von ›natürlichem‹ und ›kulturellem‹ Raum mehr in den Blick gerückt werden. Es gehe um die Verschränkung von Körpern, Räumen und Praktiken und die »Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Räumen«. Drei Elemente sehen Kajetzke und Schroer als konstituierend für das Raumverständnis der ›space studies‹ an: ein Bewusstsein für koexistierende Raumkonzepte, ein Ver- 1 J ÖRG D ÖRING / T RISTAN T HIELMANN , Einleitung. Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: D IES . (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7. 2 J. D ÖRING / T. T HIELMANN , Einleitung (Anm. 1), S. 12. 3 M ARKUS S CHROER / L AURA K AJETZKE , Space-Studies, in: M ARKUS S CHROER (Hg.), Räume der Gesellschaft, Wiesbaden 2019, S. 43-69, hier 44. 4 J. D ÖRING / T. T HIELMANN , Einleitung (Anm. 1), S. 24. <?page no="254"?> R ALPH H ÖG ER 254 ständnis für die soziale Konstruktion des Raumes und eine poststrukturalistisch geprägte Theorieauffassung. 5 Besonders hervorgehoben werden Michel Foucaults Ideen zu Diskursen sowie zu Macht-Wissens-Komplexen. Foucault hatte bereits Ende der 1970er-Jahre auf die Notwendigkeit eines eigenen Forschungsfeldes zu Räumlichkeiten hingewiesen: »Man müsste eine ganze Geschichte der Räume schreiben - die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre -, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen. Es überrascht, wenn man sieht, welch lange Zeit das Problem der Räume gebraucht hat, um als historisch-politisches Problem aufzutauchen.« 6 In seinen Studien ›Geburt der Klinik‹ (1963) und insbesondere ›Überwachen und Strafen‹ (1975) hatte Foucault bereits deutlich gemacht, wie sehr der Einfluss von räumlichen Ordnungen in den Institutionen Klinik und Gefängnis die sozialen Beziehungen und Identitäten der Insassen prägten und wie sich in ihnen neuartige Macht-Wissenskomplexe entfalteten. In der deutschsprachigen Medizingeschichte wurden Ansätze aus den ›space studies‹ insbesondere in dem Sammelband ›Medikale Räume‹ (2010) für verschiedene Kontexte umgesetzt. Auch hier heißt es: »Der Raum soll nicht mehr still und starr ruhen, einem Behälter für Heimatliches gleich, als vielmehr dynamisch sein, fluktuierend und angeeignet in Prozessen.« 7 Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den im 19. Jahrhundert entstehenden Institutionen für Geistes- und Nervenkranke. Die verschiedenen Einrichtungen werden dabei als »Verräumlichung der Geisteskranken«, als aufeinander bezogenes Netzwerk und »psychiatrische Landschaft« gedeutet, die in einem »Relationennetz der Fürsorge« stünden. 8 In dieser Perspektive stehen Institutionen nicht außerhalb räumlicher Strukturen, sondern werden maßgeblich durch solche Netzwerke mitbestimmt. Räumliche Arrangements wirken sich auf das Handeln aus, fungieren als »Medium der Durchsetzbarkeit« und 5 M. S CHROER / L. K AJETZKE , Space-Studies (Anm. 3), S. 61. 6 M ICHEL F OUCAULT , Das Auge der Macht, in: D ERS ., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976-1979, Frankfurt/ Main 2003, S. 250-271, hier 253. 7 D AGMAR H ÄNEL / A LOIS U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung des Medikalen. Zur Einführung in den Band, in: N ICHOLAS E SCHENBRUCH / D AGMAR H ÄNEL / A LOIS U NTERKIR - CHER (Hg.), Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld 2010, S. 7-20, hier 7. 8 D. H ÄNEL / A. U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung (Anm. 7), S. 9f. <?page no="255"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 255 fordern bzw. unterdrücken bestimmte Handlungsweisen. 9 In einer solchen relationalen Raumkonzeption gilt es nicht nur physische Objekte und materielle Anordnungen zu untersuchen, sondern auch raumprägende Vorschriften und Anweisungen in den Blick zu nehmen. Eine analytische Trennung zwischen physischem und sozialem Raum ist somit aufgehoben. Zudem sind Räume nicht einfach vorgängig präsent, sondern werden erst über die Zeit konstituiert, unterliegen Veränderungen und Wandlungsprozessen, an denen verschiedene Akteursgruppen mitwirken. 10 Ein besonderes Augenmerk liegt dabei in psychiatrischen Institutionen auf der Abtrennung von »innen« und »außen«, also konkreten Praktiken der Grenzziehung und Grenzüberschreitung. 11 Ausgehend von diesen Überlegungen und Prämissen werde ich in meinem Beitrag vor allem danach fragen, wie der psychiatrische Raum hergestellt wurde, welche ›Orte‹ das psychiatrische Handeln hatte und wie räumliche Settings dieses Handeln strukturierten und prägten. Dabei wird deutlich, wie sehr die Psychiatrie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich entlang von Raumfragen konstituierte. Ortswechsel und Verlegungen, Raumzuweisungen, Raumentzug, Separierungen und Isolierungen, räumliche Beschränkungen und Freiheiten waren zentral für das psychiatrische Handeln. Als Quellen meiner knappen Übersicht über knapp 40 Jahre Psychiatriegeschichte in Württemberg ziehe ich Baubeschreibungen, Hausordnungen sowie ärztliche Chroniken und Jahresberichte heran. Mit der 1812 gegründeten Irren- und späteren Pflegeanstalt in Zwiefalten, der ersten Anstalt Württembergs, und der 1875 gegründeten verbundenen Heil- und Pflegeanstalt Schussenried nehme ich zwei staatliche Einrichtungen in den Blick. Der Untersuchungszeitraum von 1875 bis 1914 markiert eine Zeit großer Dynamik in der württembergischen Anstaltspsychiatrie. Nach langen Jahren des Reformstaus wurden ab 1875 wieder neue Anstalten eingerichtet und neue Behandlungskonzepte erprobt. Gleichzeitig wuchs die Zahl der sogenannten Anstaltsbedürftigen im gesamten Kaiserreich enorm. 12 1914 ging diese Periode zu Ende. Große Teile des männlichen Wartpersonals wurden zum Kriegsdienst eingezogen. In Zwiefalten sind ab 1915 Gewichtsabnahmen der Patient_innen * feststellbar. Mit dem Ernteausfall von 1916 verschärfte sich der Hunger und viele geschwächte Kranke starben an Infektionskrankheiten. 13 9 D. H ÄNEL / A. U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung (Anm. 7), S. 12. 10 D. H ÄNEL / A. U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung (Anm. 7), S. 15. 11 D. H ÄNEL / A. U NTERKIRCHER , Die Verräumlichung (Anm. 7), S. 11. 12 B ERND W ALTER , Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996, S. 75. * Bei dem Wartbzw. Pflegepersonal und der internierten Anstaltsbevölkerung werden die Pluralformen Patient_innen und Wärter_innen bzw. Pfleger_innen verwendet, um die diverse Geschlechtlichkeit dieser Personengruppen hervorzuheben. 13 U TA K ANIS -S EYFRIED , Eine kurze Geschichte der Psychiatrie Württembergs am Beispiel der Anstalt Zwiefalten, in: T HOMAS M ÜLLER / B ERND R EICHELT / U TA K ANIS -S EYFRIED <?page no="256"?> R ALPH H ÖG ER 256 In Schussenried wurden anlässlich zahlreicher Patientenbeschwerden die mangelnde Ernährungslage und ihre tödlichen Folgen in einem Bericht an das württembergische Medizinalkollegium offen benannt: […] [S]o ist zunächst rückhaltlos anzuerkennen, was wir selbst den Kranken bei persönlichen Vorstellungen auch stets selbst zugeben mussten, dass die Verpflegung der dritten Klasse im Verlauf des Krieges zunehmend bescheidener geworden ist und sehr zu wünschen übrig lässt. Ein unzweideutiger Massstab hiefür gibt die Körpergewichtsliste, an deren Hand die Abnahme des Körpergewichts der einzelnen Kranken nachgewiesen werden kann. Allein nicht bloss diese Liste auch die Morbitität und die Sterblichkeit beweisen diese misslichen Ernährungsverhältnisse ganz unzweideutig. 14 Das flächendeckende Hungersterben in den Anstalten war in vollem Gange. Heinz Faulstich hat aus den Anstaltsstatistiken eine Opferzahl von ca. 70.000 Patient_ innen in den deutschen Anstalten errechnet. 15 Die Anstalten waren spätestens jetzt keine Orte der Heilung mehr, sondern Räume der Gefährdung und Vernachlässigung. Das erste große Hungersterben in den Anstalten markiert einen Bruch in der psychiatrischen Fürsorge. Der Anstaltsraum hatte sich in den Kriegsjahren von einem Ort der Verwahrung, Pflege und Therapie zu einem Ort der systematischen Vernachlässigung mit tödlichen Folgen gewandelt. Zudem erhielten die Anstalten in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt negative Konnotationen. Sie wurden problematisch: zu laut, zu groß, zu teuer. Reformkonzepte der Weimarer Republik wie Hermann Simons ›Aktivere Krankenbehandlung‹ 16 oder Gustav Kolbs ›Offene Fürsorge‹ 17 zielten auf eine tiefgreifende Umgestaltung bzw. partielle Auflösung des Anstaltsraumes hin. Beide Konzepte waren in ihren Grundzügen schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt worden. Durch die angespannte finanzielle Situation erhielten sie jetzt aber einen massiven Auftrieb. Die Anstalt war der zentrale Ort des psychiatrischen Handelns im 19. Jahrhundert. Nicht nur als eine Formation von Gebäuden, sondern als eine Idee - sie bestimmte über weite Strecken das Denken und Handeln der Psychiater und war gleichzeitig das zentrale Produkt des psychiatrischen Projekts - mit den Anstalten kam die Psychiatrie zum Vorschein, materialisierte sich für jedermann sichtbar in (Hg.), Nach dem Tollhaus. Zur Geschichte der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten, Zwiefalten 2012, S. 9-56, hier 39-41. 14 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 526: Bericht der Heilanstalt Schussenried an das Medizinalkollegium vom 24.7.1919, S. 2. 15 H EINZ F AULSTICH , Hungersterben in der Psychiatrie. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg 1998. 16 H ERMANN S IMON , Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Berlin 1929. 17 G USTAV K OLB , Die offene psychiatrische Fürsorge, in: O SWALD B UMKE u. a. (Hg.), Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge, Leipzig 1931, S. 117-120. <?page no="257"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 257 großen, schönen und eindrücklichen Fassaden. Gleichzeitig bekamen die Irren nun einen eigenen, für sie nach ärztlichen Vorgaben strukturierten und auf ihre Bedürfnisse hin spezialisierten Ort. Über diesen spezifischen Ort, der sie nun deutlich von anderen devianten Gruppen wie Armen, Vagabunden oder Arbeitsscheuen unterschied, wurden sie zu etwas Neuem - zu Geisteskranken. 18 Die Anstalt war damit auch, besonders zu Beginn, eine konkrete Utopie 19 - der steingewordene Anspruch der Ärzte, die Irren heilen zu können. Die Anstalten Schussenried und Zwiefalten waren medikale Räume, Orte an denen die Psychiatrie als eigenständiges Fach sich herausbildete und formierte. Psychiatrie im 19. Jahrhundert war primär Anstaltspsychiatrie - erst ab den 1870er-Jahren ergänzten universitäre Kliniken die meist in der Peripherie gelegenen Anstalten. 20 Die beiden württembergischen Anstalten bildeten mit den anderen Einrichtungen im Königreich ein »Relationennetz der Fürsorge« - hier kamen Gebäude, Instrumente, Medikamente, Aufnahmestatuten, Dienstvorschriften, Zeittaktungen und Hausordnungen mit Ärzten, Wartpersonal, Patient_innen und Angestellten zusammen. Sie bildeten gemeinsam einen sozialen Raum, eine ›Mikrolandschaft‹, die durch zahllose Interaktionen und Bezüge miteinander vernetzt war. Die Anstalten Zwiefalten und Schussenried waren im Untersuchungszeitraum beide enorm dynamische, expansive Räume. Sie griffen wortwörtlich in die Landschaft aus: mit zahllosen Bauvorhaben, Gärten und Feldern, Kolonien und Familienpflege-Projekten. Dabei sind die Mikrostrukturierungen, die sich verschiebenden Grenzziehungen und Neuausdeutungen des Raumes besonders hervorzuheben. Der Medizinalrat Rudolf Camerer (1869-1921) und der ärztliche Direktor Zwiefaltens, Emil Krimmel (1868-1935), beschreiben den Wandel des psychiatrischen Raumes in ihrer Chronik der Heilanstalt Zwiefalten von 1912 folgendermaßen: Aus dem ehemaligen Verwahrungshaus für gemeingefährliche Irre ist in langsamer, aber stetig fortschreitender Entwicklung ein wohlausgestattetes Krankenhaus geworden. Statt der Verwahrung in düsteren Zellen nun menschenfreundliche Behandlung in luftigen und lichten, gesunden und freundlichen Räumen, geleitet nach allen Regeln ärztlicher Kunst. 21 Diese Transformation nimmt besonders ab Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Fahrt auf. Zu beachten ist ferner die Beschreibungsweise des psychiatrischen 18 Zu dem Konnex von Internierung und ›Irresein‹ vgl. R OBERT C ASTEL , Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens, Frankfurt/ Main 1983, S. 266f. 19 Das Potential der Anstalten wurde nicht nur zu Beginn der Anstaltspsychiatrie aufgerufen: zur utopischen Figurierung der »modernen Anstaltspsychiatrie« um 1900 vgl. S OPHIE L EDE - BUR , Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne. Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien, Wien 2015, S. 62. 20 E RIC E NGSTROM , Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca-London 2003, S. 4. 21 R UDOLF C AMERER / E RNST K RIMMEL , Geschichte der königl. württembergischen Heilanstalt Zwiefalten, 1812-1912, Stuttgart 1912, S. 176. <?page no="258"?> R ALPH H ÖG ER 258 Raumes in dieser Passage. Die Geschichte Zwiefaltens und der gesamten Psychiatrie Württembergs wird als klassisch aufklärerische, europäisch-bürgerliche Fortschrittsgeschichte des 19. Jahrhunderts erzählt: Von der Dunkelheit der düsteren Zellen ins Licht der ganzheitlich-menschenfreundlichen Behandlung in gesunden und freundlichen Räumen. Die Transformation des psychiatrischen Raums wird als Meistererzählung präsentiert. Die ewige Geschichte des Fortschritts in der Psychiatrie, die immer wieder neu tradiert wird - von der Befreiung von den Ketten mit Philippe Pinel (1745- 1826) in Paris 1792 bis zur Psychiatrieenquete und Psychiatriereform ab 1975. Wenn man andere Aufbrüche wie die Recovery- oder die Soteria-Bewegung 22 in den Blick nimmt, ist diese Erzählung bis heute in Gebrauch. Die Architekturhistorikerin Leslie Topp hat gezeigt, dass diese »zirkuläre Historiographie«, die zum Zweck der Abgrenzung von der alten und inhumanen Behandlung eine »history of ever-increasing enlightenment, humanity, and freedom« immer wieder neu aufrief, in Debatten um das Anstaltswesen in Europa besonders um 1900 weit verbreitet war und als Verteidigungsstrategie gegen die damalige psychiatriekritische Bewegung zu verstehen ist. 23 1. Psychiatrie in Oberschwaben statt oberschwäbischer Psychiatrie Bei der Konstituierung des psychiatrischen Raumes spielte die geographische Lage eine besondere Rolle. Die umfunktionierten alten Klostergebäude in Schussenried und Zwiefalten bildeten die Grundlage für die psychiatrische Raumstrukturierung und lagen von der Landeshauptstadt aus gesehen in der Peripherie. Die beiden Anstalten waren zunächst Fremdkörper in dem neuen oberschwäbischen Landesteil Württembergs und folgten den administrativen Zentralisationsbemühungen der Stuttgarter Landesregierung nach 1810. 24 Sie schlossen nicht an die traditionellen kommunalen Versorgungsformen an, wie die durch lokale Stiftungen finanzierten Spitäler Oberschwabens. 25 Es gab dabei durchaus eine eigenständige kommunale Irrenversorgung. Während die Irren zunächst in Irrenzimmern von Spitälern, wie etwa in Biberach, untergebracht 22 Dieses alternative Konzept zielt auf die Behandlung psychotischer Krisen »in einem möglichst normalen und entspannenden Milieu« und wird heute in Zwiefalten praktiziert. Vgl. die Homepage der Zentren für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg: https: / / www.zfpweb.de/ fachgebiete/ allgemeine-psychiatrie/ zwiefalten/ stationen/ ? fsize=722 (aufgerufen am 12.4.2021). 23 L ESLIE T OPP , Freedom and the cage. Modern architecture and psychiatry in Central Europe (1890-1914), University Park (PA) 2017, S. 21f. 24 P ETER E ITEL , Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Der Weg ins Königreich Württemberg (1800-1870), Ostfildern 2010, S. 79-81. 25 P. E ITEL , Geschichte Oberschwabens (Anm. 24), S. 243-245. <?page no="259"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 259 waren, 26 zielte ein 1853 verfasster Erlass des württembergischen Innenministeriums darauf ab, in jedem der 64 Oberämter jeweils ein Irrenlokal einzurichten. 27 Die Anstalten waren also nicht die einzigen staatlich geförderten Orte der Behandlung Geisteskranker. Die kommunalen Behörden konnten in den Irrenlokalen temporär psychisch Kranke unterbringen. Die Irrenlokale waren oft sehr spartanisch eingerichtet und als bloße Verwahrzellen konzipiert. Eine kontinuierliche medizinische Betreuung fand hier nach Auffassung des Arztes Gastpar nicht statt: Der Heilzweck trat dabei übrigens nicht so sehr in den Vordergrund […]. 28 Vielmehr sollten die Lokale als Aushilfsmaßnahmen bei akuten Symptomen dienen: Dass die Bestimmung dieser Lokale nur auf den eben bezeichneten Zweck einer temporären Aushilfe sich erstrecken kann, und dass namentlich Kranke, die noch Aussichten auf Heilbarkeit darbieten, sobald als thunlich in Anstalten, welche die Mittel für eine zweckmässige psychische und leibliche Pflege solcher Kranken in sich vereinigen, gebracht werden sollen, ist aus der Natur der Sache für eine nur etwas tiefer gehende Erwägung der Kräfte und der Einrichtungen, welch zu der Heilbehandlung des Irreseins, sowie zu einer wirklich human zu nennenden Verpflegung von Irren zusammenwirken müssen, von selbst einleuchtend. 29 Trotz zahlreicher Missstände und ärztlicher Kritik an den Lokalen waren diese auch noch um die Jahrhundertwende in Betrieb. Noch 1897 befanden sich in Württemberg 280 Personen in den ländlichen Irrenlokalen, 30 die von dem Schussenrieder Anstaltsdirektor Heinrich Kreuser (1855-1917) als Arrestlokale bezeichnet wurden. 31 Die staatlichen Irrenanstalten waren dagegen Gründungen ›von oben‹. Ihre Leitung oblag verbeamteten Ärzten, die in der Regel aus dem württembergischen Kernland und nicht aus der Region stammten. Die Aufsicht über die Anstalten führte eine höhere Landesbehörde, die direkt dem Medizinalkollegium und Innenministerium in Stuttgart unterstand. 32 In den Anstalten materialisierten sich die zentralstaatlichen Modernisierungsbemühungen der württembergischen Landesherren. Mit ihrem rationalisierenden Zugriff auf die kranke Bevölkerung - insbesondere durch die Bereitstellung einer eigenen formalen Gesundheitsbürokratie - wirkten die Anstalten aktiv 26 P. E ITEL , Geschichte Oberschwabens (Anm. 24), S. 258. 27 A. G ASTPAR , Die Behandlung Geisteskranker vor ihrer Aufnahme in die Irrenanstalt. Mit besonderer Berücksichtigung der amtlichen Fürsorge, Stuttgart 1902, S. 33. 28 A. G ASTPAR , Die Behandlung Geisteskranker (Anm. 27), S. 34. 29 Beilage zum Erlass des Ministeriums des Innern an die Kreisregierungen vom 21.1.1853, in: J ULIUS K RAUSS (Hg.), Das Medizinalwesen im Königreich Württemberg, 2. Aufl. Stuttgart 1901, S. 581. 30 A. G ASTPAR , Die Behandlung Geisteskranker (Anm. 27), S. 37. 31 A. G ASTPAR , Die Behandlung Geisteskranker (Anm. 27), S. 34. 32 Die Aufsichtsbehörde wurde später als ›Abteilung für die Staatskrankenanstalten‹ in das Medizinalkollegium eingegliedert; vgl. Statut der Staatsirrenanstalten vom 20.3.1899, in: J. K RAUSS , Das Medizinalwesen (Anm. 29), S. 587. <?page no="260"?> R ALPH H ÖG ER 260 an der staatlichen Durchdringung des neuen Landesteils mit. Durch Irrenzählungen wurden bereits ab den 1830er-Jahren systematisch Bevölkerungsdaten über die geistige Gesundheit des gesamten Landes erhoben - der Raum psychiatrischer Krankheit wurde erstmals genau vermessen und kartiert. 33 Der Zwiefaltener Anstaltsdirektor Ludwig August Koch (1841-1908) initiierte 1875 sogar von Zwiefalten aus eine eigenständige Zählung, deren Ergebnisse er in einer Monographie veröffentlichte. 34 Die Anstalten waren von der lokalen Bevölkerung entrückte Räume, deren Volksferne von Reformkräften kritisiert wurde. Der Oberamtsarzt von Waldsee bei Ravensburg, Dr. Wörz, hatte in einem Artikel im ›Medicinischen Correspondenzblatt‹, dem Hausblatt des württembergischen ärztlichen Vereins, bereits im Jahr 1864 die aus seiner Sicht zu grosse Centralisation des württembergischen Anstaltswesens angemahnt und sich für die Schaffung von kleineren, in die regionale Gesundheitsbürokratie eingebundenen Kreisirrenanstalten ausgesprochen. 35 Nach Ansicht von Dr. Wörz waren die großen, von der Stuttgarter Zentralregierung verwalteten Institutionen, die Kranke aus weit entfernten Landesteilen aufnahmen, für die lokale Bevölkerung kaum greifbar: In der That wird es keine staatliche Institution geben, die den Augen des Volkes ferner gerückt und verschlossener ist. Nur der Eingeweihte wird über die inneren Verhältnisse dieser unserer Staatsanstalten Genaueres wissen. 36 Wörz’ Vorschlag, durch Kreisirrenanstalten die psychiatrische Versorgung aus der unnahbaren Ferne in die Nähe zu rücken und mitten unter dem Volke einzurichten, 37 wurde nicht umgesetzt. 38 Stattdessen blieb die psychiatrische Versorgung Staatssache und wurde anhand eigener medizinalstatistischer Erhebungen und einer kleinen Zahl psychiatrischer Experten geplant. Kommunale Interessen fanden in der Planung der »psychiatrischen Landschaft« 39 Württembergs wenig Gehör. 33 Die erste flächendeckende Zählung in Württemberg fand im Jahr 1832 statt. Weitere folgten in den Jahren 1853 und 1864; vgl. A UGUST L ANDENBERGER , Beiträge zur württembergischen Irrenstatistik, in: Medicinisches Correspondenzblatt des württembergischen ärztlichen Vereins 35 (1865), Nr. 10/ 11, S. 73-90, hier 74. 34 J ULIUS L UDWIG A UGUST K OCH , Zur Statistik der Geisteskrankheiten in Württemberg und der Geisteskrankheiten überhaupt, Göttingen 1878. 35 Dr. W ÖRZ , Die gegenwärtige Irrenfrage, in: Medicinisches Correspondenzblatt des württembergischen ärztlichen Vereins 34 (1864), Nr. 31, S. 246. 36 Dr. W ÖRZ , Die gegenwärtige Irrenfrage (Anm. 35), S. 246. 37 Dr. W ÖRZ , Die gegenwärtige Irrenfrage (Anm. 35), S. 246. 38 Solche ›Kreisirrenanstalten‹ gab es dagegen im Nachbarland Baden; vgl. H EINZ F AULSTICH , Von der Irrenfürsorge zu ›Euthanasie‹. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993. 39 Zum Begriff der ›psychiatrischen Landschaft‹ vgl. E LISABETH D IETRICH -D AUM / M ICHA - ELA R ALSER , Die »Psychiatrische Landschaft« des »historischen Tirol« von 1830 bis zur Gegenwart - Ein Überblick, in: E. D. D AUM u. a. (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die <?page no="261"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 261 Die meisten Patient_innen stammten nicht aus den Regionen um Zwiefalten oder Schussenried, sondern wurden bis zur Jahrhundertwende aus ganz Württemberg entsprechend ihrer psychiatrischen Prognose auf Heilbarkeit und Unheilbarkeit verteilt. Bis 1875 wurden die heilbaren Kranken aus ganz Württemberg in die Heilanstalt Winnenthal bei Ludwigsburg gebracht. Die Unheilbaren kamen in die Pflegeanstalt Zwiefalten. Schussenried wurde 1875 als verbundene Heil- und Pflegeanstalt eingerichtet. Erst mit der Änderung des ›Statuts für die Staatsirrenanstalten‹ von 1899 wurden den Anstalten lokale Aufnahmebezirke zugeteilt. Zwiefalten bezog nun seine Kranken hauptsächlich aus dem Schwarzwaldkreis (von 1902 bis 1910 im Durchschnitt 56 % der Aufnahmen) und dem Donaukreis. Während in den Jahren 1902, 1903 und 1904 noch jeweils über 20 % der aufgenommen Patient_innen aus dem Neckarkreis stammten, nahm die Zahl für Zwiefalten kontinuierlich ab, bis im Jahr 1910 überhaupt keine Kranken mehr aus dieser Region neu aufgenommen wurden. 40 Die Anstalt in Schussenried war primär für die Kranken aus dem Jagst- und Donaukreis zuständig. Im Jahr 1910 stammte hier jeweils knapp ein Drittel der Neuaufgenommen aus dem Jagstkreis und knapp zwei Drittel aus dem Donaukreis. 41 Tabelle 1: Verteilung der Aufnahmekreise Aufnahmekreise Aufnahmen Zwiefalten (1910) 42 Aufnahmen Schussenried (1910) 43 I. Neckarkreis 0 % 6,57 % II. Schwarzwaldkreis 61 % 4,38 % III. Jagstkreis 9 % 27,74 % IV. Donaukreis 30 % 61,32 % Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 17-41. 40 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1910, S. 8f. 41 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1910, Statistisches Verzeichnis der Aufnahmen nach Kreisen und Oberämter, S. 1-4. 42 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1910, S. 8f. 43 Der Zahlenfehler findet sich so auch im Schussenrieder Jahresbericht; vgl. StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1910, Statistisches Verzeichnis der Aufnahmen nach Kreisen und Oberämter, S. 1-4. <?page no="262"?> R ALPH H ÖG ER 262 Karte 1: Verwaltungsgliederung Württemberg (1818-1924). Die meisten Patient_innen stammten damit zwar aus angrenzenden Regionen, die Distanz zum Heimatort konnte dennoch über hundert Kilometer betragen. Auch bei der praktischen Umsetzung der Statutsbeschlüsse von 1899 wurden die lokalen Bedürfnisse kaum berücksichtigt. Der Schussenrieder Anstaltsdirektor berichtete etwa im Jahr 1900 von abnehmenden Aufnahmegesuchen […] in Folge der Ministerial- Verfügung vom 18. April 1899, nach der für 6 Oberamtsbezirke, die früher ihre Kranken schon der günstigen Verkehrsbedingungen wegen in der Regel hierher geliefert hatten, die hiesige Anstalt verschlossen worden ist. Diese Maßregel, die dem sonst allgemein hochgehaltenen Prinzip einer freien Arztwahl zuwiderläuft, wird sicherem Vernehmen nach an verschiedenen Orten, wo das wünschenswerte Vertrauen zu der Anstalt sich einigermaßen eingebürgert hatte, recht peinlich empfunden. 44 44 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1900, S. 10. <?page no="263"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 263 Die Anstaltsleitungen wie auch die Angehörigen waren hier also an die ministerial angeordneten Weisungen gebunden und hatten wenig Handlungsspielraum bei der Ortswahl - die Nähe des Wohnorts zur Anstalt war kein ausschlaggebendes Kriterium bei der Zuweisung der Kranken. Interaktionen mit der lokalen Bevölkerung werden in der ärztlichen Berichterstattung selten erwähnt. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums finden sich im Hinblick auf die baulichen Veränderungen der Anstaltsareale Belege für eine zunehmende Separation und Autarkie der Anstalten. 1875 etwa wurde in Schussenried zur Vergrößerung eines Anstaltsgartens der Weg zur katholischen Kirche verlegt: Diese Veränderung, welche anfänglich von der Ortsgemeinde sehr schal angesehen wurde und namentlich den lebhaften Unwillen der im alten Kloster wohnenden kathol. Ortspfarrers erregte, mit welcher sich aber als nicht nur einer […] ganz zweckmäßigen sondern auch als der augenscheinlich ästhetisch richtigsten Lösung der Frage jetzt alles befreundet hat, brachte uns noch den weiteren Vorteil, den Verkehr auf einem ziemlich viel begangenen Wege in gehöriger Entfernung vom Hause zu halten. 45 Die Anstaltsstrukturen und das dörfliche Leben mussten sich erst aufeinander abstimmen und die Überschneidungsräume der beiden Sphären erst ausgehandelt werden. Im Jahr 1875, kurz nach ihrer Einrichtung und dem Einzug der ersten Patient_innen, suchte die Anstalt mit der Verlegung des stark genutzten Weges zunächst die Trennung der beiden Lebenswelten deutlicher zu markieren und die Distanz zur Dorfgemeinde zu vergrößern. Nähe zur lokalen Bevölkerung entstand andererseits durch die örtlichen Gottesdienste in Schussenried und Zwiefalten, an denen sowohl die Dorfbevölkerung als auch ausgewählte Patient_innen teilnahmen. Ab der Jahrhundertwende finden sich Belege für eine intensivierte Interaktion zwischen den Anstalten und den Ortsgemeinden. In Schussenried wurde 1897 die Anstaltszeitung ›Schallwellen‹ gegründet, die das Innenleben der Anstalt transparenter für die Dorfbevölkerung machen sollte. Zudem wurden dort Feste und Kulturveranstaltungen angekündigt. 46 Eine weitere Möglichkeit der Integration des Anstaltslebens in das Dorfleben bestand in den neuen Versorgungsformen der agrikolen Kolonien und der Familienpflege. Bei den Kolonien handelte es sich um landwirtschaftliche Güter außerhalb der Anstaltsmauern, die von Kranken unter der Anleitung von Wartpersonal bewirt- 45 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 783: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1875, S. 10. 46 U TA K ANIS -S EYFRIED , Zum Verhältnis von Heimat und Ferne, Fremdem und Eigenem. Aspekte zeitgeschichtlicher Wechselbeziehungen in der Württembergischen Anstaltszeitung »Schallwellen« (1897-1936), in: T HOMAS M ÜLLER (Hg.), Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie. Regionale, nationale und internationale Perspektiven (Kulturanamnesen 9), Stuttgart 2017, S. 43-66, hier 46. <?page no="264"?> R ALPH H ÖG ER 264 schaftet wurden. In der Familienpflege übernahmen Pflegefamilien aus der unmittelbaren Umgebung der Anstalt gegen eine Kostenpauschale die häusliche Pflege von insbesondere ruhigen Kranken, während der behandelnde Arzt nur einmal pro Woche zur Visite die Familien besuchte. Beide Versorgungsformen waren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen europäischen Ländern eingeführt worden. 47 In Schussenried wurde bereits 1891 mit dem Bau einer landwirtschaftlichen Kolonie begonnen. Später kam eine zweite dazu. Zusammen boten beide Hofgüter 66 Pflegeplätze, die meist vollständig besetzt waren. 48 In Zwiefalten wurde die erste Kolonie 1897 auf dem Hofgut ›Loreto‹ eingerichtet. 49 Zunächst wurden dort zwölf männliche Kranke untergebracht. Eine Frauenkolonie folgte im Jahr 1903 im zwanzig Minuten entfernten Gossenzungen für sechs Kranke. Eine größere Zunahme erfuhr die koloniale Versorgung aber nicht. 1912 lebten und arbeiteten elf männliche und sieben weibliche Kranke in den Kolonien. 50 Dennoch waren die Kolonien auch in Zwiefalten Vorzeigeeinrichtungen: Die koloniale Pflege erwies sich als eine äußerst schätzenswerte Form der Verpflegung. Sie gewährt den Kranken neben völliger Bewegungsfreiheit ein behagliches Heim und Gelegenheit, sich nach Neigung zu beschäftigen. Die Kranken setzen zumeist großen Stolz darein, sich durch pünktliche Besorgung der ihnen zugewiesenen oder selbstgewählten Arbeit hervorzutun. 51 Die Familienpflege wurde in Württemberg zuerst in Zwiefalten 1896 eingeführt. Im ersten Jahr wurden neun männliche und drei weibliche Kranke in Familien aus dem Umland versorgt, 52 im Jahr 1900 waren es um die 20. 53 In Schussenried wurde der erste Versuch der Einführung einer Familienpflege wegen fehlender Pflegeeltern bald wieder eingestellt. Erst 1904 begann man wieder systematisch mit der Auslagerung der Kranken in ausgewählte Familien im Umland. Im Jahr 1905 waren 15 Patient_innen außerhalb der Anstalt untergebracht. 54 Mit diesen neuen Versorgungsformen expandierte das psychiatrische Projekt wortwörtlich über die Anstaltsmauern hinaus in die dörfliche Umgebung der Anstalten hinein. Obgleich beide Verpflegungsformen in Schussenried und Zwiefalten nur 47 A UDE F AUVEL , »Ausserhalb der Mauern«. Für eine neue Geschichte der Irrenanstalten in der Moderne, in: Therapeutische Umschau 72/ 7 (2015), S. 429-435, hier 433. 48 Dr. G ROSS , Ueber die familiale Verpflegung von Geisteskranken, in: Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen ärztlichen Vereins 75 (1905), Nr. 47, S. 933-938, hier 934. 49 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 142. 50 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 176. 51 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 168. 52 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 141f. 53 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1900, S. 57. 54 Dr. G ROSS , Ueber die familiale Verpflegung (Anm. 48), S. 934. <?page no="265"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 265 einen geringen Anteil der versorgten Patient_innen betrafen, spielten sie im Selbstverständnis der Anstalt eine wichtige Rolle. 55 Das zeigte sich unter anderem an ihrer detaillierten Beschreibung und Erwähnung in den jährlichen Anstaltsberichten. Im Jahr 1900 wird etwa in Schussenried berichtet, wie die koloniale Versorgung Übertritte vom Patientenin den Mitarbeiterstatus von lokalen Betrieben ermöglichte: Gearbeitet wurde dort stets fleißig und sorgfältig, so daß reconvalescente Kolonisten nicht selten in der Umgebung von Schussenried mit Vorliebe als landwirtschaftliche Dienstboten eingestellt werden, selbst bevor alle ärztlichen Anforderungen an ihre Wiederherstellung erfüllt sind. 56 Die Dorfbevölkerung profitierte in diesem Fall von der Anstalt und griff gerne auf die gut eingelernten Mitarbeiter_innen zurück. Neben der Einstellung von lokalem Wartpersonal waren die Anstalten auch ein großer Arbeitgeber für Handwerksbetriebe und Bauunternehmungen der Umgebung - insbesondere bei den zahlreichen Ausschreibungen für An- und Umbauten. 57 Zudem profitierten die Anwohner_innen auch von Grundstücksverkäufen an die sich beständig vergrößernden Anstalten. 58 Obgleich die Berührungspunkte mit der oberschwäbischen Bevölkerung wuchsen und jede Anstalt ein eigenes Profil in Wechselwirkung mit der (sozial-) räumlichen Umgebung entwickelte, blieben die Staatsirrenanstalten maßgeblich durch die Vorgaben und Statuten aus Stuttgart bestimmt. 2. Heilsame Lage und Architektur Ein Blick in die jährlichen Berichte, die die Anstaltsdirektoren verfassten, zeigt, wie sehr sich die verbeamteten Ärzte als Raumgestalter verstanden. Fast jedes Jahr wurden Erneuerungen, Verschönerungen und Verbesserungen vorgenommen. Die Anstalt selbst sollte als Heilcomplex wirken. 59 Ihre Lage, die Abgeschiedenheit und Ruhe, aber auch ihre vernünftige Ordnung sollte therapeutische Effekte zeitigen. 60 Für die Neueinrichtung der Heil- und Pflegeanstalt in Schussenried im Jahr 1875 zeigt sich, wie wichtig insbesondere die Lage der Anstalt für die Zeitgenossen war. Der 55 Die ›freieren‹ Behandlungsformen erfüllten auch legitimatorische Funktionen und sollten die Außenwirkungen der Anstalten verbessern; vgl. S. L EDEBUR , Wissen der Anstaltspsychiatrie (Anm. 19), S. 56. 56 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1900, S. 8. 57 Vgl. zum Beispiel die öffentliche Ausschreibung der Aufträge zum Bau der Schussenrieder agrikolen Kolonie im Jahr 1891 in der ›Schwäbischen Kronik‹ vom 17.8.1891. 58 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1900, S. 59f. 59 A LBERT Z ELLER , Bericht über die Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal vom 1. März 1846 bis 28. Februar 1854, in: Medicinisches Correspondenz-Blatt des württembergischen ärztlichen Vereins 24 (1854), Heft 38, S. 297-318, hier 298. 60 A. Z ELLER , Bericht über die Wirksamkeit (Anm. 59), S. 323. <?page no="266"?> R ALPH H ÖG ER 266 württembergische Baurat Albert von Bok erläuterte die Lageerfordernisse in einem Vortrag 1877: Es zeigte sich dasselbe nämlich wie kein anderes im Lande befindliches, disponibles Gebäude, hierzu besonders geeignet, sofern 1) das Klostergebäude an sich durch seine große Ausdehnung, seine zweckmäßige innere Eintheilung (1bündig mit 4 m. breiten und 4 m. hohen Korridors und entsprechend schönen Wohnräumen und Treppenanlagen) sich auszeichnet; 2) die Lage desselben eine freie, ruhige, schöne, hochgelegene und gesunde ist; 3) als das in der Umgebung desselben befindliche Areal auf größere Ausdehnung, wenigstens 3 Seiten, in Händen des Staats sich befindet und dadurch sowohl der erforderlichen Ausdehnung der Anstalt, als auch der Anlage von Gärten kein Hinderniß entsteht. Auf der Ostseite ist zwar - wie der beigegebene Situationsplan zeigt - in ziemlicher Nähe das Anwesen eines Bräumeisters, und ist dasselbe sogar etwas erhöht gelegen; indessen ist ein nachtheiliger Einfluß auf die Anstalt von dieser Seite nicht zu befürchten; 4) als vortreffliches Trinkwasser in nächster Nähe vorhanden ist, und der Anstalt zugeleitet werden kann. Sodann ist als weiterer Vorzug hervorzuheben: 5) Die Nähe der nur 20 Minuten entfernten Eisenbahnstation und die unmittelbare Nähe des Orte Schussenried mit nahezu 2000 Einwohnern (incl. Filialen), wodurch es möglich ist, die wichtigeren Lebensbedürfnisse sich leicht zu verschaffen. 61 Die Anstalt sollte allein durch ihre gesunde Lage, durch eine schöne Aussicht und eine besondere Ruhe ihre Heilwirkung entfalten. Dazu sollte aber auch Platz um die Anstalt vorhanden sein - eine mögliche Ausdehnung des Geländes war also bereits angedacht -, um Gärten anlegen und weitere Gebäude errichten zu können. Zudem bedurfte es einer gewissen Infrastruktur in der unmittelbaren Umgebung: Zugang zu Trinkwasser und ein nahgelegenes Dorf für die wichtigeren Lebensbedürfnisse sowie die nur unweit gelegene, 1850 erbaute Bahntrasse Ulm-Friedrichshafen, mit der Patient_innen und Angehörige an- und abreisen konnten. Die abgeschiedene und gleichzeitig verkehrsgünstige Lage bot für die Anstaltseinrichtung eine ideale Voraussetzung. Die Raumordnung innerhalb des Gebäudekomplexes selbst war darüber hinaus von großer Bedeutung für den Anstaltsalltag. Maßgebliches Prinzip war dabei die Separierung verschiedener Patientengruppen. Männer- und Frauenabteilungen waren streng voneinander geschieden. Jede Form der Begegnung galt es zu unterbinden. Sogar ein Zusammensehen der beiden Geschlechter sollte verhindert werden. 62 Darüber hinaus wurden die Kranken in die ruhigen oder wenig aufgeregten Kranken der I., II. und III. Klasse von den unreinlichen (blödsinnigen) und aufgeregten (tobsüchtigen) Kranken getrennt. 61 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 515: Vortrag über die Anstalt, gehalten im Verein für Baukunde am 12.5.1877 durch Baurat Albert von Bok in Stuttgart, S. 1. 62 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 515: Vortrag über die Anstalt, gehalten im Verein für Baukunde am 12.5.1877 durch Baurat Albert von Bok in Stuttgart, S. 3. <?page no="267"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 267 Abb. 1: Situationsplan Schussenried. <?page no="268"?> R ALPH H ÖG ER 268 Während die ersteren im Hauptgebäude untergebracht sein sollten, waren für letztere besondere Gebäude vorgesehen. Damit ergibt sich eine symmetrische Ordnung. Die Geschlechterachse teilte den Anstaltsraum in einen männlichen Teil auf der westlichen und einen weiblichen auf der östlichen Seite. Der Grad an Fügsamkeit bezüglich der Hausordnung gliederte den psychiatrischen Raum in Nord-Süd- Richtung. Am Anstaltseingang und zur dörflichen Öffentlichkeit hin befanden sich die administrativen Räume und Wohnräume des Anstaltsdirektors und Verwaltungsleiters. In den oberen Stockwerken waren die Kranken der I. und II. Klasse untergebracht. Im ganz südlich gelegenen Hauptgebäude befanden sich die Abteilungen der ruhigen oder wenig aufgeregten Kranken. Es folgten in weiter nördlicher Richtung, in separaten, durch Korridore verbundenen Gebäuden die Abteilungen der Unruhigen, Unreinlichen und zuletzt der Aufgeregten, die am nördlichen Rand der Anlage in beiden Flügeln in Zellen untergebracht wurden. Zudem wurde im hintersten Anstaltsgebäude Platz für die neue Raumform der Wachabteilungen geschaffen, die bereits den Übergang vom alten Klosterstil und Korridorbau bis zur modernen Aufnahme- und Wachabteilung 63 andeuten. Der Begriff bezog sich auf die andauernde Überwachung in diesen speziellen Abteilungen, die bereits um die Jahrhundertmitte in Frankreich eingeführt und im deutschen Sprachraum zuerst von dem Reformpsychiater Wilhelm Griesinger (1817-1868) befürwortet wurde. Ab den 1870er-Jahren fand das System eine größere Anhängerschaft in der deutschen Anstaltspsychiatrie. 64 Weitere Bedeutung erlangte das System der großen Wachabteilungen durch die Einführung der Bettbehandlung ab den 1890ern, die als neues Behandlungsprinzip den psychiatrischen Raum massiv umgestaltete und zur Durchführung des allgemeinen Krankenhausregimes in den Anstalten beitrug. 65 Auch die Alltagsaktivitäten waren räumlich vorstrukturiert. Tagsüber wurden die Korridore als Aufenthaltsräume genutzt. Für die ruhigen Kranken wurden zudem besondere Speise- und Gesellschaftsräume eingerichtet. Der Aufenthalt der Kranken im Freien spielte eine besonders wichtige Rolle. Jede Abteilung verfügte über einen jeweils eigenen Garten, der direkt über die Tagesräume erreicht werden konnte und durch Mauern nach außen und Zäune gegenüber den anderen Gärten abgegrenzt war. 66 Die Standeszugehörigkeit wurde ebenfalls in die räumliche Ausstattung eingeschrieben. Die Kranken der I. Klasse bekamen besondere Zimmer, welche sehr hübsch und 63 C LEMENS N EISSER , Die Weiterentwicklung der praktischen Psychiatrie insbesondere der Anstaltstherapie im Sinne Griesingers, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 63 (1927), S. 314-335, hier 322. 64 E. E NGSTROM , Clinical Psychiatry (Anm. 20), S. 65. 65 C. N EISSER , Die Weiterentwicklung (Anm. 63), S. 325. 66 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 515: Vortrag über die Anstalt, gehalten im Verein für Baukunde am 12.5.1877 durch Baurat Albert von Bok in Stuttgart, S. 3. <?page no="269"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 269 wohnlich möblirt sind, während die übrigen Kranken in gemeinschaftliche[n] Wohn- und Schlafräumen untergebracht waren. 67 Damit waren die Anstalten hochgradig stratifizierte Räume, in denen die Kranken sowohl nach Klasse, Geschlecht und Sozialverhalten im Raum verteilt wurden. Zum Abschluss seines Vortrags lobte Baurat Bok die Form und Fassade der auf eine Kapazität von 320 Kranken ausgelegten Anstalt: Ich erlaube mir in dieser Hinsicht nur auf die Konzentrirung, die der Anstalt gegeben werden konnte, hinzuweisen im Gegensatz zu den häufig abschreckend weitläufigen, umfangreichen andern neueren Anstalten, bei welchen namentlich die ökonomischen Gelasse nur schwer und auf größeren Umwegen zu erreichen und schwer zu kontroliren sind [Hervorhebungen im Original, R.H.]. Auch die äußere Erscheinung der Anstalt hat durchaus nichts Abstoßendes, nichts Kasernenartiges, sondern im Gegentheil macht dieselbe einen sehr günstigen, großartigen und vornehmen Eindruck, was der Bauart des Klosters zu verdanken ist. 68 Die Anstalt sollte einen möglichst freundlichen und repräsentativen Eindruck machen. Jede Assoziation mit einem Tollhaus oder einem Gefängnis galt es zu vermeiden. In dieser Hinsicht war allein die äußere Erscheinung der Anstalt wichtig. Die innere Organisation der Einrichtung sollte dagegen durchaus rigide geordnet sein. Der Tagesablauf war in der Hausordnung strikt getaktet und die Bewegungsmöglichkeiten der Kranken genau festgeschrieben. Zu den Kernaufgaben des ärztlichen Direktors gehörte es, die Raumzugänge der Kranken zu moderieren. Renitentes Verhalten gegenüber den Anordnungen des Direktors wurde streng geahndet: Eine hartnäckige Unfolgsamkeit aber gegen seine Anordnungen oder ein widerspenstiges und trotziges Benehmen eines Kranken zieht für einen solchen nothwendig ein entsprechendes Maß von Beschränkung, von Entbehrung, von Entfernung desselben aus der annehmlichen und freieren Lage, in welcher er die Ordnung und den gesetzlichen Gang des Hauses stört, so lange nach sich, bis er wieder der allgemeinen Ordnung folgsam und der Güte zugänglich und lenksam sich zeigt. 69 Für alle Tages- und Nachtzeiten gab es exakte Anweisungen, in welchen Räumen die Kranken sich aufhalten durften. Das Bett musste im Sommer morgens um sechs und im Winter um sieben Uhr von den Kranken verlassen werden. Eine halbe Stunde später hatten sie sich alle zu einer Morgenandacht in den Speisezimmern 67 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 515: Vortrag über die Anstalt, gehalten im Verein für Baukunde am 12.5.1877 durch Baurat Albert von Bok in Stuttgart, S. 3. 68 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 515: Vortrag über die Anstalt, gehalten im Verein für Baukunde am 12.5.1877 durch Baurat Albert von Bok in Stuttgart, S. 1. 69 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 11. <?page no="270"?> R ALPH H ÖG ER 270 einzufinden. Je nach Anweisung des Direktors wurden manche Kranke dann in Einzelzimmern, andere in den gemeinschaftlichen Speisesälen mit dem Frühstück versorgt. 70 Besonders deutlich wird in der Hausordnung das disziplinierende Moment der Raumzuteilung. Bei Störungen fand Raumentzug statt. Bei ungebührlichem Benehmen im Gottesdienst wurden störende Kranke möglichst rasch entfernt. 71 Bei Störungen der Nachtruhe wurden Kranke in besonderen Abtheilungen des Hauses untergebracht. 72 Für die Mittagsmahlzeit heißt es: Da das Speisen in Gesellschaft nur ruhigen, sich gesittet betragenden Kranken gewährt werden kann, so werden alle Ruhestörer, wenn sie sich nicht schnell in Güte beschwichtigen lassen, durch den Oberwärter beziehungsweise die Oberwärterin vom Tische weggeführt; dem Direktor muß jedoch hievon sogleich Anzeige gemacht werden. 73 Bei gutem Sozialverhalten wurden Bewegungsfreiheiten und Raumzugänge erteilt. Den gesitteteren und ruhigeren Kranken wurden nach dem Mittagessen die Versammlungssäle geöffnet, um sich mit Musik, Gespräch, Spielen, Lektüre zu unterhalten. 74 Das Verlassen des Anstaltsgeländes für Spaziergänge und für manche Kranken auch freier Ausgang konnten zudem gewährt werden. Die Öffnung und der Zugang zu bestimmten Räumen war ein Privileg, das der ärztliche Direktor an Kranke vergeben und als disziplinarische Maßnahme auch wieder entziehen konnte. Zudem war der Kontakt der Patient_innen untereinander streng reguliert: Sowohl die Wärter, als der Oberwärter und die Oberwärterin haben genau darauf zu achten, daß die vom Direktor angeordnete Vertheilung und Sonderung der Kranken in den verschiedenen Abtheilungen auf keine Weise von denselben überschritten werden. Kranke verschiedener Abteilungen dürfen nicht mit einander verkehren - falls nicht der Direktor besondere Bewilligung dazu erteilt -, außer beim Zusammensein in demselben Garten, bei derselben Arbeit. 75 Die psychiatrische Raumstrukturierung war maßgeblich Sache des Direktors, der die Bewegungsfreiheit des Kranken flexibel steuerte. Die hochgradige Stratifizierung des Raumes wurde durch die direktorialen Anordnungen immer wieder aktiv hergestellt. In der strengen Ordnung des Hauses hatte jede Form der Übertretung Konsequenzen und konnte durch Raumentzug oder Isolierung geahndet werden. Dieses 70 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 3-5. 71 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 9. 72 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 9. 73 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 6. 74 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 7. 75 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 10. <?page no="271"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 271 Hoheitsrecht über den Raum übte der Direktor auch gegenüber Besucher_innen und Bediensteten aus. Patientenangehörige hatten nur bei expliziter Erlaubnis des Direktors Zugang zur Anstalt, und auch das Dienstpersonal konnte nur gegen Vorlage einer Ausgangskarte die Anstalt verlassen. 76 Psychiatrischer Raum war hierarchisierender und separierender Raum. Der wichtigste Akteur im Mittelpunkt war der Direktor - seine Anweisungen erlaubten oder verwehrten spezifische Raumzugänge. Über Raumzuteilungen wurde das Patientenverhalten diszipliniert und normiert. Normübertretungen wurden sogleich mit Raumentzug bestraft. Spezifische Bewegungsfreiheiten und die Teilhabe an Gruppenveranstaltungen mussten sich die Patient_innen durch ruhiges Verhalten verdienen. Dennoch wurden diese Raumpraktiken nicht pädagogisch, sondern medizinisch begründet. Obgleich die Sanktionierungen eher an die Raumordnungen von Kasernen oder Gefängnissen erinnern, sollte nach außen ein vornehmer Eindruck vermittelt werden. Ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts orientierte sich die Psychiatrie zudem am Erscheinungsbild der Allgemeinkrankenhäuser. Mit der Hervorhebung der Bedeutung den Außenareale nahm man Bezug auf diätetische Traditionen: Luft, Licht und Bewegung sollten heilsam wirken. Der vielfach geäußerte Anspruch, die Irren ins Freie zu holen, stand aber im Widerspruch zu der fortgesetzten Praxis der Isolierungen, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird. 3. Patientenbewegungen und Therapieansätze Die Zwecksetzungen der Anstalten wurden in ihrem Titel angegeben. In Württemberg unterschied man von 1834 bis 1875 in die Heilanstalt Winnenthal (1834 gegründet), die auf die Behandlung von heilbaren Kranken ausgerichtet war, und die Pfleganstalt Zwiefalten (1812 gegründet), die vornehmlich der Verpflegung der unheilbaren Kranken dienen sollte. Im psychiatrischen Fachdiskurs wurde diese Form der institutionellen Trennung aber bald wieder verworfen. Schussenried als nächste württembergische Neugründung einer Staatsirrenanstalt erhielt deshalb 1875 den Titel Heil- und Pfleg-Anstalt. Auch die Anstalt in Winnenthal wurde nun als verbundene Heil- und Pflegeanstalt geführt. Zwiefalten blieb dagegen bis 1903 eine reine Pflegeanstalt. Erst in diesem Jahr wurde die institutionelle Trennung für alle staatlichen Anstalten aufgehoben. Zwiefalten und Schussenried erhielten nun wie die anderen staatlichen Anstalten den Titel Königliche Heilanstalt. 1905 wurde die Verteilung der Zuständigkeiten bei der Aufnahme von Kranken neu geregelt und explizit per Erlass 76 StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg- Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 15. <?page no="272"?> R ALPH H ÖG ER 272 des Medizinalkollegiums verlautbart: Jede Anstalt hat nunmehr die aus ihrem Aufnahmebezirk stammenden Kranken ohne Rücksicht auf die Genesungsaussichten aufzunehmen und zu behandeln. 77 Raumfragen und Vorstellungen von Heilung waren in der Psychiatrie von Beginn an eng miteinander verknüpft. Einerseits sollte eine Verbringung von Patient_innen in psychiatrische Anstalten die Betroffenen aus ihrem gewohnten, teilweise auch krankheitsverursachenden Umfeld herauslösen, um sie überhaupt für therapeutische Einwirkungen zugänglich zu machen. Andererseits sollte eine gestaffelte Erweiterung der Bewegungsfreiheiten den Weg zurück in den Alltag bahnen. Der Tübinger Medizinprofessor Johann Autenrieth (1772-1835) formulierte in seinen Vorlesungen bereits 1807 die Bedeutung von sozialräumlichen Konstellationen und Ortswechseln für die Therapie der psychischen Krankheiten: […] so ist ein zweytes Erforderniſs ein schicklicher Plaz, wo der Kranke, wenn man ihn seiner Freyheit nicht überlassen kann, aufbewahrt wird. Nie vielleicht wird ein Wahnsinniger im Schooſse seiner Familie wieder hergestellt; weil der Kranke, ergriffen anfangs von einer unbestimmten Verstimmung, häufig in seinen Umgebungen die Ursache aufsucht, die doch in seinem Innern liegt, immer wieder durch den Anblick und den Umgang mit diesen Gegenständen erinnert wird an seine falsche Vorstellungen […]. 78 Und auch bei sich anbahnenden Genesungen spielte für Autenrieth die räumliche Umgebung eine herausragende Rolle. Zum erfolgreichen Genesungsprozess gehörten nicht nur der tröstende Zuspruch des Arztes und die Verbringung des Kranken aus seinem Zimmer in ein Umfeld, wo andere arbeiten, sondern auch die Entfernung des Kranken aus dem Kurort und die Rückkehr in die eigene Familie: Und mit diesem allem wird er doch selten völlig zurücktreten in den Kreis der Gesunden; wenn er jezt nicht wieder entfernt von seinem Kurort, in seine Familie zurückgebracht wird, und diese ihm bald mit Liebe, bald aber mit einer Art Hitze erklärt, es seye nicht mehr Krankheit, sondern Trägheit und schlechter Wille, daſs er, da er es zu thun wohl im Stande seye, als wieder ganz gesund nicht seine Pflicht erfüllen wolle. Entfernt von allem nun, was ihn an seinen Krankheitsverlauf erinnern kann, machen diese Vorwürfe, daſs er unmuthig zwar, aber doch wieder manches Geschäft ergreift, unvermutet sich vergiſst, und wie nach einem Traume sich selbst gesund wieder findet. 79 77 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 175. 78 J OHANN A UTENRIETH , Ueber die im Clinicum in Tübingen getroffene Einrichtungen für Wahnsinnige, in: D ERS . (Hg.), Versuche für die praktische Heilkunde aus den clinischen Anstalten von Tübingen, Bd. 1, Heft 1, Tübingen 1807, S. 208f. 79 J. A UTENRIETH , Ueber die Einrichtungen (Anm. 78), S. 228. <?page no="273"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 273 Die Auffassung, dass das räumliche Setting für die Heilung von Wahnsinnigen eine besondere Bedeutung spielte, war dabei keineswegs eine württembergische Erfindung. Der französische Chirurg und Pathologe Jacques-René Tenon (1724-1816) formulierte bereits 1788, dass Krankenhäuser für Wahnsinnige nicht einfach Hilfsmittel für die Durchsetzung des medizinischen Regimes, sondern in sich selbst genuine Heilmittel seien, indem sie dem Kranken innerhalb der Institution eine gewisse Bewegungsfreiheit ermöglichten. 80 Der Einfluss der örtlichen Umgebung und des sozialen Umfelds für die Genesung der psychisch Kranken wurde insbesondere für die Neukonzeption der ersten konsequent unter ärztlicher Leitung stehenden und ausschließlich auf kurative Zwecke ausgerichteten Heilanstalt in Winnenthal hervorgehoben. Ihr erster ärztlicher Direktor, Albert Zeller (1804-1877), stellte in seinem ersten Bericht über die Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal von 1837 die naturnahe Lage der Institution hervor: Das ganze Haus sei durch einen Garten umgeben und die mit einem sanften Grün bemalten Zimmer erlaubten eine durch mannichfach gestaltete und bepflanzte Berge und Thäler abwechselnd gemachte […] Aussicht. 81 Auch die unmittelbare Umgebung der Anstalt wird betont: Die Hauptfront des Hauses ist gegen ein äusserst freundliches, anmuthiges, zu heiterer heimathlicher Ruhe und stillen Freuden einladendes Wiesenthal gerichtet, dessen Grün fast das ganze Jahr nicht erstirbt. 82 Nachdem Zeller auch die positiven Einwirkungen der reinen, nie zu trockenen, nie zu feuchten, stets leichtbewegten und erneuerten Luft und das äusserst kohlensäurereiche Trinkwasser als besonders heilsam beschrieben hat, kommt er zu dem Schluss: Von welch günstigem Einflusse diese athmosphärischen Verhältnisse, und die den freien Zutritt der Luft und des Lichts in alle Teile des Hauses stets gestattende Lage der Anstalt auf die, den Geistesstörungen zu Grunde liegenden körperlichen Leiden, so wie auf die gemüthliche Stimmung der Kranken seyn müssen, ist einleuchtend. 83 Die Lage und Örtlichkeit der Anstalten waren also von Anfang an in der Ausgestaltung des psychiatrischen Projekts ein zentraler Aspekt. Die Positionierung des Kurorts orientierte sich dabei an diätetischen Konzepten. Licht, Luft und ein mildes Klima sollten den Genesungsprozess vorantreiben. Die verschiedenen Zweckrichtungen der Anstalten werden am deutlichsten in dem Vergleich der Entlassungszahlen sichtbar (siehe die Tabellen 2 und 3). 1875 bildet für Schussenried ein Ausnahmejahr, da bei der Eröffnung der Anstalt viele Langzeitpatient_innen aus den umliegenden Privatanstalten übernommen wurden. In Schussenried schwankt der Anteil der Genesenen zwischen 1 % (1875) und 5,8 % (1885) und der Gebesserten zwischen 5,8 % (1875) und 12,1 % (1900). Der Anteil der Verstorbenen liegt zwischen 0,5 % (1875) und 5,9 % (1900). 80 L. T OPP , Freedom and the cage (Anm. 23), S. 24f. 81 A. Z ELLER , Bericht über die Wirksamkeit (Anm. 59), S. 323. 82 A. Z ELLER , Bericht über die Wirksamkeit (Anm. 59), S. 323. 83 A. Z ELLER , Bericht über die Wirksamkeit (Anm. 59), S. 323. <?page no="274"?> R ALPH H ÖG ER 274 In Zwiefalten wurden sogar erst im Stichjahr 1910 Kranke als genesen entlassen - 1,2 % des Gesamtbestands der Anstaltspatient_innen. Die Zahl der Gebesserten schwankt hier zwischen 0 % (1885) und 6,4 % (1875). Der Anteil der Verstorbenen ist in Zwiefalten etwas geringer (zwischen 2,9 % und 4 %) und es wurden kaum Patient_innen als ungeheilt in andere Institutionen oder die häusliche Pflege abgegeben. Der Vergleich mit der reinen Heilanstalt Winnenthal zeigt die Bedeutung der Arbeitsteilung zwischen den württembergischen Anstalten. Winnenthal hatte im Zeitraum von 1875 bis 1883 jährlich zwischen 13,2 % und 21 % Genesene. Im Durchschnitt betrug der Anteil der Genesenen am Gesamtbestand der Kranken in diesem Zeitraum 17,3 %. Der Anteil der Verstorbenen bewegte sich zwischen 1,5 % (1875) und 7,6 % (1881). 84 Die Anstalten in Schussenried und Zwiefalten waren also, zumindest den Zahlen zufolge, nicht primär Heilungsorte. 85 Dennoch wurden Patient_innen hier nicht einfach lebenslänglich verwahrt. Die hohe Zahl an Besserungen und Entlassungen ohne erkennbaren Behandlungserfolg zeigt, dass die Anstalten oft als Durchgangsinstitutionen dienten und insbesondere für Krankheitsepisoden der besonderen Pflegebedürftigkeit zuständig waren. Gleichzeitig übernahmen sie erzieherische und rehabilitative Funktionen, indem sie durch strikte Hausordnungen und durch die Arbeitstherapie das Sozialverhalten und die Arbeitsfähigkeit der Kranken in den Mittelpunkt der pflegerischen Zuwendung stellten, wie im Folgenden erläutert werden soll. Tabelle 2: Entlassungen Schussenried 86 Jahr genesen gebessert ungeheilt gestorben Krankenbestand 1875 2 12 36 1 207 1885 18 14 11 14 313 1900 19 53 62 26 438 1910 6 47 52 24 506 84 H EINRICH K REUSER , Die königliche Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal. Fünfzigjähriger Anstaltsbericht, Tübingen 1885, Tabelle I. 85 Die Zahl der ›Heilungen‹ ging in den württembergischen Anstalten am Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt zurück. Die Heilungsquote aller württembergischen Anstalten sank von 17 % im Jahr 1898 auf 11,6 % im Jahr 1902. Gross führt diesen Rückgang auf »strengere« Maßstäbe zurück, die die Ärzte anlegten; vgl. Dr. G ROSS , Geisteskrankheit und Anstaltsbedürftigkeit, in: Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen ärztlichen Vereins 75 (1905), Nr. 24, S. 493-517, hier 499. 86 Entnommen aus den ärztlichen Jahresberichten der jeweiligen Stichjahre. <?page no="275"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 275 Tabelle 3: Entlassungen Zwiefalten 87 Jahr genesen gebessert ungeheilt gestorben Krankenbestand 1875 0 19 3 12 298 1885 0 0 4 20 393 1900 0 23 6 25 527 1910 8 24 24 19 646 Die leitenden Ärzte beharrten dennoch auf der vorgängig therapeutischen Funktion der Anstalten und verwehrten sich einer rein pflegerischen Aufgabenstellung. Der Schussenrieder Direktor Heinrich Kreuser äußerte in diesem Kontext im ärztlichen Bericht des Jahres 1900, dass er durchaus unzufrieden mit den Entlassungszahlen war: Wohl zeigen die günstigen Behandlungsresultate, Genesungen wie Besserungen eine bescheidene Zunahme gegenüber dem Vorjahre, sie bleiben aber wesentlich zurück hinter den besseren Zeiten um die Mitte des letzten Jahrzehntes; die Anstalt muß eben trotz ihrer noch ziemlich lebhaften Krankenbevorzugung immer mehr den Charakter einer Pflegeanstalt annehmen [Unterstreichung im Original, R.H.], seitdem das ihr günstig gelegene Aufnahmegebiet gekürzt worden ist. Aus entlegenen Landestheilen werden ihr erfahrungsgemäß vorzugsweise prognostisch ungünstige Fälle zugeführt. 88 Kreuser machte also nicht die Behandlungsweisen in Schussenried für das schlechte Abschneiden der Anstalt verantwortlich, sondern die administrativen Veränderungen, die zu einer Verlegung der Aufnahmebezirke und daraus folgend zur vermehrten Aufnahme Unheilbarer führte. Für die Anstalten gab es neben der Hausordnung 89 kein formalisiertes, übergreifendes Therapieregime. Zwei Entwicklungen in den Behandlungsweisen sind aber für die Jahre von 1875 bis 1914 hervorzuheben. Der Übergang von der Isolation zur Bett- und Bäderbehandlung und die Ergänzung der Patientenarbeit durch die freieren Behandlungsformen sowie ihre semantische Umwidmung zur Arbeitstherapie. Je nach Anstalt und Anstaltsdirektor wurden unterschiedliche Akzentuierungen deutlich. Für den Zwiefaltener Anstaltsdirektor und bekennenden Protestanten Ludwig August Koch kamen unter anderem religiöse Momente im Behandlungsplan zum Tragen: 87 Entnommen aus den ärztlichen Jahresberichten der jeweiligen Stichjahre. 88 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1910, S. 14. 89 Die Inhalte der Hausordnungen blieben in Schussenried und Zwiefalten über den Untersuchungszeitraum nahezu identisch und übernahmen in weiten Teilen die Paragraphen der Winnenthaler Hausordnung von 1834. <?page no="276"?> R ALPH H ÖG ER 276 Und können ungünstige psychische Einwirkungen den Ausbruch einer Geisteskrankheit herbeiführen, so sind auch zweckentsprechende psychische Einwirkungen im Stande, zu deren Heilung beizutragen oder doch ein Leiden zu lindern und zu mildern. Handelt es sich aber um Trost für die Kranken und um eine nützliche psychische Beeinflussung derselben überhaupt, so soll ebenso bestimmt, wie wir vor unpassender religiöser Bearbeitung der Kranken gewarnt haben, nun auch darauf hingewiesen sein, daß die rechte religiöse Führung und Tröstung eine vornehme Stätte in der Psychiatrie hat. Nicht soll jemand von seiner Krankheit belehrt werden, ein solcher Versuch wäre Unsinn, nicht soll man ärztliche und religiöse Gegenstände mit einander verwechseln; aber man darf auch, wo ein verlangendes Gemüt und überhaupt ein empfänglicher Boden und die rechte Zeit dazu vorhanden ist, einen Trost, eine Stütze und Hilfe nicht vorenthalten, deren Macht erfahrungsgemäß im menschlichen Leben wirksam ist, wie keine andere. 90 Mit den therapeutischen Grundsätzen wurden insbesondere auch Raumzugänge und individuelle Bewegungsfreiheiten der Kranken verhandelt. Die Formen des Umgangs mit den als unruhig gelesenen Kranken sind hier entscheidend. War das Non- Restraint-System des englischen Arztes John Conolly (1794-1866), also die Abschaffung von mechanischen Zwangsmitteln wie Zwangsjacken oder Zwangsstühlen, bereits ab den 1870ern verstärkt in Angriff genommen und um die Jahrhundertwende in den psychiatrischen Institutionen des deutschsprachigen Raums weitgehend umgesetzt worden, 91 sah man die nächste Herausforderung in der Verminderung der Isolierung unruhiger und aufgeregter Kranker. Letztere wurden in Einzelzimmer oder Zellen während Erregungsphasen eingesperrt und dort oftmals ohne weitere pflegerische Zuwendung sich selbst überlassen. In Zwiefalten befanden sich im Jahr 1875 von den 217 Kranken 62 (28,6 %) Kranke vorübergehend und 57 (26,3 %) über längere Zeiträume in der Isolierung - davon 27 (12,4 %) in festeren Isolierräumen. 92 Das Isolationsregime betraf folglich in Zwiefalten in unterschiedlichem Umfang mehr als die Hälfte aller Patient_innen. An dieser Praxis wurde bis in die 1890er-Jahre festgehalten. Konsequenten Wandel und die Umgestaltung der Verhältnisse sehen Camerer und Krimmel für Zwiefalten erst ab 1895. Für dieses Jahr attestieren die beiden Autoren einen allgemeinen Aufschwung der Psychiatrie in Württemberg. Veranlasst durch öffentliche Kritik 93 an 90 J ULIUS L UDWIG A UGUST K OCH , Kurzgefaßter Leitfaden der Psychiatrie. Mit besonderer Berücksichtigung auf die Bedürfnisse der Studierenden, der praktischen Ärzte und der Gerichtsärzte, 2. erg. Aufl. Ravensburg 1889, S. 177. 91 S. L EDEBUR , Wissen der Anstaltspsychiatrie (Anm. 19), S. 41—43. 92 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 117. Damit entsprach die Zahl in etwa dem Durchschnitt der Anstaltspsychiatrie des 19. Jahrhunderts von 10 % aller Plätze; vgl. S. L EDEBUR , Wissen der Anstaltspsychiatrie (Anm. 19), S. 42. 93 Für Württemberg ist in diesem Kontext besonders der Stuttgarter Buchhändler Robert Lutz zu nennen, der ab 1894 mehrere kritische Berichte und Selbstzeugnisse ehemaliger Patient_innen veröffentlichte; vgl. A NGELA R OTH , Würdig einer liebevollen Pflege. Die <?page no="277"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 277 den Zuständen in der Psychiatrie wurden nun neue Arztstellen geschaffen und ein psychiatrisch ausgebildetes Mitglied in das Medizinalkollegium aufgenommen. Zudem wurde in Zwiefalten die Krankenzahl reduziert und die Tübinger Klinik eröffnet. 94 Federführend bei den praktischen Umstellungen in Zwiefalten war der in diesem Jahr neu eingestellte Sekundärarzt Paul Kemmler (1865-1929), der dort die Bettbehandlung einführte und auf eine Reduktion der Isolierräume zugunsten der Wachabteilungen hinwirkte: Als Schüler von Wernicke und Kräpelin [sic] ging er voll Begeisterung für die bedeutsamen Errungenschaften, die die Irrenheilkunde in den letzten Jahren gemacht hatte, daran, die neuen Behandlungsarten, die unter Preisgabe aller Zwangsmittel und tunlichster Einschränkung der Isolierung sich vor allem der Behandlung im Bett und im Dauerbad, verbunden mit ständiger Überwachung, sowie der Erziehung zur Arbeit sich bedient. 95 Die Verminderung der Isolierungen wurde auch in den nächsten Jahren weitergeführt. 96 Ganz abgeschafft war das System aber auch 1912 nicht: Bettruhe mit Überwachung, hydrotherapeutische und diätetische Maßnahmen sowie Beschäftigung bilden die Hauptmittel der tunlichst individualisierenden und möglichst wenig beschränkenden Behandlung. Die Behandlung im Einzelzimmer bei geschlossener Türe wird tunlichst zu vermeiden gesucht, jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Von arzneilichen Beruhigungsmitteln wird nur sparsam Gebrauch gemacht. Neben der symptomatischen Behandlung einzelner Krankheitszustände wird auf eine umfassende, allgemeine und individuelle, somatische und psychische Diätetik besonderer Wert gelegt. 97 Mit der Bäder- und Bettbehandlung folgte man in Zwiefalten dem allgemeinen therapeutischen Trend in der deutschsprachigen Anstaltspsychiatrie. Beide Behandlungsformen stammten aus Allgemeinkrankenhäusern und sollten den psychiatrischen Raum stärker medikalisieren und den Eindruck einer ›modernen‹ Behandlung vermitteln: 98 »[…] keine Tobabteilungen mehr, keine mit Kot verschmierten Zellen und Aborte, keine zerrissenen Bettlaken, keine Kleider aus unzerreißbaren Stoffen, keine Strohsäcke und keine Schraubenschuhe mehr, keine üblen Gerüche.« 99 Die Dauerbadbehandlung wurde wie die Bettbehandlung in den 1890ern eingeführt und die Kombination beider Ansätze setzte sich bald durch. Unruhige Kranke aus den württembergische Anstaltspsychiatrie im 19. Jahrhundert, Zwiefalten 1999, S. 38f. 94 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 134-136. 95 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 135. 96 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 148-150. 97 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 161f. 98 M ONIKA A NKELE , Materielle Konfigurationen der Pflege und ihre ethischen Implikationen. Das Dauerbad in der Psychiatrie, in: European Journal für Nursing History and Ethics 2/ 2020, S. 101-124, hier 104. 99 M. A NKELE , Materielle Konfigurationen (Anm. 98), S. 103. <?page no="278"?> R ALPH H ÖG ER 278 Wachabteilungen wurden für mehrere Stunden bis Wochen in Badewannen mit lauwarmem Wasser gesetzt, was beruhigend wirken sollte. Beide Behandlungsformen strukturierten die architektonische Verfasstheit der Anstalten neu: Mauern wurden eingerissen, Einzelzimmer miteinander verbunden und die alten Zellenabteilungen sukzessive aufgelöst. Neben der Zusammenlegung der kleinen Einzelzimmer zu großen Wachsälen wurden zusätzliche, räumlich dicht angeschlossene Bäderabteilungen eingerichtet. 100 Mit dem Prinzip der dauerhaften Überwachung und den höheren technischen Voraussetzungen der Bäder setzte auch ein allmählicher Wandel der Pflegepraxis ein, der nach dem Ersten Weltkrieg auch in der offiziellen Bezeichnung des Personals sichtbar wurde: aus Wärter_innen wurden Pfleger_innen. 101 Die Umgestaltung des Anstaltsraums nach 1895 war zeitintensiv. Bis 1898 waren in Zwiefalten zwei Wachabteilungen für männliche Kranke und die Verbesserung der vorhandenen Bäderinfrastruktur vorangetrieben worden. Zudem war ein großer Krankensaal für weibliche Kranke entstanden. 102 Im Jahr 1900 wurden zusätzlich weite Teile der Frauenzellenabteilungen umgebaut und die meisten Isolierräume aufgelöst. Bald darauf wurde eine dritte Wachabteilung für Männer errichtet. 103 Für die männlichen Kranken standen damit 92 Plätze in den neuen Räumen zur Verfügung. 104 Ein weiteres, den Raum der Anstalt maßgeblich strukturierendes Moment war die Patientenarbeit. Sie war laut Hausordnung für alle Patient_innen zwingend vorgeschrieben: Eine regelmäßige Beschäftigung ist ein Grundgesetz des Hauses, dem sich keiner seiner Bewohner - außer mit ausdrücklicher Erlaubnis des Direktors - entziehen darf. 105 Die Patientenarbeit ordnete die Verteilung der Patient_innen über das gesamte Anstaltsgelände und verlagerte viele Tagesaktivitäten außerhalb der Wachabteilungen, Tagesräume und Korridore ins Freie. Auch hier entschied der Direktor über die Zuteilung der Kranken zu Arbeitsorten und Beschäftigungsgelegenheiten. 106 100 M. A NKELE , Materielle Konfigurationen (Anm. 98), S. 107. 101 M. A NKELE , Materielle Konfigurationen (Anm. 98), S. 108; B ERND R EICHELT , Von der Verwahrung zur Fürsorge. Der Pflegealltag und die sich wandelnde psychiatrische Praxis am Beispiel der Psychiatrie in Weissenau und in Südwürttemberg 1892 bis 1975, in: T HOMAS M ÜLLER u. a. (Hg.): Psychiatrie in Oberschwaben. Die »Weissenau« bei Ravensburg zwischen Versorgungsfunktion und universitärer Forschung, Zwiefalten 2017, S. 61-103, hier 75. 102 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 136. 103 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 148. 104 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 150. 105 StA Sigmaringen, Bestand Wü 63 T3 Bü 1: Haus-Ordnung für die königliche Pfleganstalt Zwiefalten, Stuttgart 1891, S. 5; StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg-Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 5. 106 StA Sigmaringen, Bestand Wü 63 T3 Bü 1: Haus-Ordnung für die königliche Pfleganstalt Zwiefalten, Stuttgart 1891, S. 5f.; StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 513: Haus-Ordnung für die königliche Heil- & Pfleg-Anstalt Schussenried, Biberach 1875, S. 5f. <?page no="279"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 279 Patientenarbeit wurde in Schussenried und Zwiefalten kontinuierlich über den gesamten Untersuchungszeitraum eingesetzt, um die Kranken tagsüber zu beschäftigen. Die Konzeptualisierung dieser Praxis änderte sich jedoch. Während Camerer und Krimmel in ihrer Darstellung bis zur Jahrhundertwende von Beschäftigung und Erziehung zur Arbeit sprechen, 107 verwenden sie für den Zeitraum nach 1898 den Begriff der Arbeitstherapie. 108 In den ärztlichen Jahresberichten und Hausordnungen lässt sich dieser Begriff dagegen nicht nachweisen. Inwiefern eine ›Therapeutisierung‹ der Arbeit tatsächlich stattfand und worin sie genau bestand, ist anhand der bearbeiteten Quellen schwer zu eruieren. Die Arbeitsangebote wurden zumindest stark ausgeweitet. Ab 1895 entstanden neue Werkstätten und Arbeitsmöglichkeiten. 109 Insbesondere der Zwiefaltener Direktor Oskar Binder trieb eine Intensivierung der Patientenarbeit voran. Er gliederte große Teile der Patientenschaft in den Arbeitsbetrieb ein und ermöglichte die Ausübung von 19 verschiedenen Arten des Handwerks, so dass zahlreiche Reparaturdienste in der Anstalt selbst geleistet werden konnten. Die Geschlechtertrennung wurde auch in der Beschäftigung fortgeschrieben. Für Männer war Außen- und Werkstättenarbeit die Regel. Frauen wurden zwar zunehmend auch auf dem Feld, weiterhin aber vornehmlich in der Haus- und Handarbeit, in der Nähstube, am Spinnrad und der Küche beschäftigt. 110 Die Patientenarbeit wurde definitiv nicht ausschließlich zu Heilzwecken betrieben. Zunehmend wurden in den Berichten die ökonomischen Erträge der Werkstätten, der Land- und Viehwirtschaft, der Gemüse- und Obstgärten herausgestellt. Und so wurde durchaus Kritik geäußert, wenn die für die Anstalt ›wertvollen‹, gut eingearbeiteten Kranken diese zu verlassen hatten. 1910 äußerte der Direktor Schussenrieds: Leider hat die Zahl der arbeitenden Pfleglinge durch die infolge des Ministerialerlasses vom 6. Februar erfolgte Versetzung arbeitsfähiger Kranken in die Landarmenanstalten oder sonstige Pflegeanstalten eine weitere, nicht unerheblich Abnahme erfahren […]. 111 107 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 135, 138, 177. 108 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 150, 165, 177. 109 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 137. 110 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 150f. 111 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1910, Statistisches Verzeichnis der Aufnahmen nach Kreisen und Oberämter, S. 3. <?page no="280"?> R ALPH H ÖG ER 280 4. Überfüllung und Grenzen der psychiatrischen Raumordnung Die Überfüllungsproblematik begleitete die württembergische Anstaltspsychiatrie von ihren Anfängen an. Die Ärzte waren trotz ihres Reformbestrebens und Gestaltungswillens bei der Ausgestaltung des psychiatrischen Raums in Württemberg an die Beschränkungen der Gelder aus Stuttgart gebunden. Psychiatrischer Raum - insbesondere Anstaltsraum - war kostspielig und wurde deshalb mehr und mehr zur knappen Ressource. Gleichzeitig stieg die Zahl der Anstaltsbedürftigen ab den 1860er Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum stark an. 112 Teilhabe an psychiatrischer Fürsorge wurde so zum umkämpften Gut. In Württemberg lässt sich das Phänomen der Überfüllung bereits ab den 1840ern nachweisen. In den Zwiefaltener Anstaltsberichten wird diese in den Stichjahren 1845, 113 1855 114 und 1865 115 thematisiert. Bis zur Einrichtung der neuen Staatsanstalt in Schussenried behalf man sich in Württemberg aus Kostengründen mit Verträgen zur Aufnahme von Staatspfleglingen in Privatirrenanstalten. 116 Infolge der Übernahme der Patient_innen aus den Privatirrenanstalten war auch die Heil- und Pfleganstalt in Schussenried bald überfüllt. 117 Diesen Raumforderungen begegnete die württembergische Gesundheitsadministration zunächst nicht durch Neubauten, sondern durch den massiven Ausbau der bestehenden Anstalten. Von 1875 bis 1892 wuchs in Zwiefalten die Patientenzahl von 298 auf 565 Kranke, in Schussenried von 204 im Jahr 1875 auf 438 im Jahr 1900 (vgl. Tabelle 3). Aber auch damit ließ sich die Nachfrage nach Anstaltsunterbringung nicht decken, was sich in den Aufnahmemöglichkeiten niederschlug. Zwischen 1897 und 1901 konnte nur 61 % der Aufnahmegesuche für die württembergischen Staatsirrenanstalten nachgekommen werden. In Schussenried lag die Abweisungsquote im Jahr 1904 sogar deutlich höher. Von 354 Gesuchen wurden 231 abgelehnt. 118 Auch im Stichjahr 1910 war die Überfüllungsproblematik besonders auf den Stationen für Unruhige in Zwiefalten 119 und Schussenried 120 noch präsent. Mit dem Anwachsen der Patientenzahlen entstand zudem ein Mangel an Ärzten und Pflegepersonal. 1891 kamen in Zwiefalten auf einen Wärter durchschnittlich 8,1 Kranke - dabei waren nur sieben zulässig. Bei den Ärzten war die Situation sogar 112 E. E NGSTROM , Clinical Psychiatry (Anm. 20), S. 30-33. 113 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 782: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1845, S. 4. 114 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 782: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1855, S. 12. 115 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 783: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1865, S. 10f. 116 U. K ANIS -S EYFRIED , Eine kurze Geschichte (Anm. 13), S. 38. 117 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 121. 118 Dr. G ROSS , Geisteskrankheit und Anstaltsbedürftigkeit (Anm. 85), S. 493. 119 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1910, S. 7. 120 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1910, Statistisches Verzeichnis der Aufnahmen nach Kreisen und Oberämter, S. 3. <?page no="281"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 281 noch gravierender. Erst 1888 erhielt Ludwig August Koch in Zwiefalten einen zweiten Assistenzarzt 121 - so dass drei Ärzte für durchschnittlich über 400 Patient_innen zuständig waren. 122 Die Assistenzärzte waren für den Direktor nur eine bedingte Hilfe, da sie in der Regel ohne psychiatrische Vorbildung in die Anstalt eintraten und oft nur für kurze Zeit blieben. 123 Offen gab Koch zu, dass durch den Personalmangel der Einsatz von mehr Zwangsmitteln nötig wurde. 124 Die ärztlich formulierten Ansprüche an die Verfasstheit des psychiatrischen Raums wurden so immer wieder unterlaufen. Erst 1895 wurde im Zuge des allgemeinen Aufschwung[s] der Psychiatrie das Problem der Überfüllung stärker adressiert. Infolge des öffentlichen Drucks durch eine bürgerliche psychiatriekritische Bewegung 125 wurde die Umgestaltung der Geisteskrankenfürsorge nun auch wieder von höchster Stelle vorangetrieben. Die Maximalbelegungsziffer wurde heruntergesetzt, nicht mehr unbedingt anstaltsbedürftige Kranke wurden entlassen. In Zwiefalten reduzierte man die Zahl der Patient_innen im Jahr 1895 von 557 Kranken auf 476. Gleichzeitig wurde mehr Personal eingestellt - mit 44 Wärtern und 33 Wärterinnen 126 erreichte die Zwiefaltener Anstalt nun eine Ratio von sechs Kranken pro Wartperson. Mit dem Etatbeschluss von 1897/ 99 entstanden zudem neue Oberarztstellen. Zwiefalten und Schussenried erhielten je zwei unbefristete Oberarztstellen, die mit erfahrenen Psychiatern besetzt wurden. 127 Die pflege- und überwachungsintensiven unruhigen und unreinlichen Kranken, die sich die meiste Zeit in Bettbehandlung befanden, blieben aber weiterhin das Hauptproblem des psychiatrischen Raums. Bald waren die neuen Wachabteilungen wieder überfüllt, so dass Camerer und Krimmel auch für die Jahre zwischen 1901 und 1912 zum Schluss kommen: Das schwerste Hemmnis für den Betrieb bildete die anhaltende Überfüllung. 128 Eine besonders gravierende negative Folge der Überfüllung war die Ausbreitung der Tuberkulose in den Anstalten. Im Anstaltsbericht von Zwiefalten von 1900 heißt es etwa: 121 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 132. 122 Der Anfangsbestand im Jahr 1888 betrug 398 Kranke und war bis zum Jahresende auf 444 Kranke angestiegen; vgl. R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 192. 123 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 132. 124 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 132f. 125 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 134. 126 Erste Reformen der Ausbildung des Wartpersonals wurden in Württemberg im Jahr 1912 umgesetzt; vgl. B. R EICHELT , Von der Verwahrung zur Fürsorge (Anm. 101), S. 70-75. 127 Für Zwiefalten siehe R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 140; für Schussenried siehe StA Ludwigsburg, Bestand E 163 Bü 527/ 528. 128 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S.171. <?page no="282"?> R ALPH H ÖG ER 282 Insgesamt fanden sich somit in 15 Fällen (7 m, 8 w) = 60 % aller Todesfälle tuberkulöse Veränderungen, die wohl sämtliche in der Anstalt erworben worden sein dürften. […] Tuberkulöse Affektionen waren häufig; unter den Ursachen für die Verbreitung der Tuberkulose in der Anstalt sind außer den im vorjährigen Bericht eingehend geschilderten noch weiter zu erwähnen die sehr trockene (durch Hypometer festgestellte) Beschaffenheit der Zimmerluft im Winter und die zunehmende Überfüllung der Wachabteilungen. 129 Um dem Problem Herr zu werden, wurde in Zwiefalten eine eigene, von der Anstalt relativ abgelegene Lungenheilstätte eröffnet: Einen bedeutsamen Fortschritt im Kampf gegen die Tuberkulose bedeutete die 1903 erfolgte Aufstellung einer Döckerschen Baracke nebst einer von einem Kranken gezimmerten Liegehalle. Die Baracke wurde am Südabhang des Bergrückens, auf dessen Höhe die Kolonie Loreto steht, etwa 710 m über dem Meer, an einem gegen den Wind geschützten, aussichtsreichen Platz aufgestellt, unmittelbar daneben die Liegehalle. 130 Die schwersten Fälle von Tuberkuloseerkrankungen konnten so notdürftig versorgt werden. Zusätzlich ließ sich in Zwiefalten einer der Oberärzte in der Tuberkulosebehandlung fortbilden. Damit reagierte Württemberg eher zögerlich auf neue Erkenntnisse über diese Infektionskrankheit. In Preußen hatte man schon 1889 Schutzbestimmungen für Anstalten und Allgemeinkrankenhäuser erlassen und 1891 auf der Jahressitzung des ›Vereins der deutschen Irrenärzte‹ ebenfalls Forderungen zur Eindämmung der Tuberkulose in den Anstalten gestellt. 131 Dass eine Baracke aber auch für die damaligen Standards keinen bedeutsamen Fortschritt im Kampf gegen die Tuberkulose darstellte, wird anhand eines Artikels des Anstaltspsychiaters Karl Osswald deutlich. Der Oberarzt in Goddelau und spätere Direktor der Heil- und Pflegeanstalt in Alzey schlug darin den Bau eines eigenen Pavillons für Tuberkulosekranke vor, der 6-7 % aller Kranken aufnehmen und alle Freizeit- und Beschäftigungsmöglichkeiten erlauben sollte, so dass sie die Abteilung nicht mehr wechseln müssten. 132 Das Aufstellen einer einfachen Baracke war dagegen eine kostengünstige Minimallösung. Spätestens um 1900 galt im psychiatrischen Fachdiskurs der Zusammenhang zwischen Exposition und Ansteckung in den Anstalten als erwiesen und insbesondere die Überfüllung als besonders gefährdend. 133 Dr. Georg Cornet (1858-1915), ein Schüler Robert Kochs, hatte intensiv zur Prophylaxe der Tuberculose geforscht und 129 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1900, S. 22. 130 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 164. 131 K ARL O SSWALD , Die Tuberkulose in den Irrenanstalten mit besonderer Berücksichtigung der großherzoglich hessischen und ihre Bekämpfung, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 59 (1902), S. 437-480, hier 438f. 132 K. O SSWALD , Tuberkulose in den Irrenanstalten (Anm. 133), S. 471f. 133 K. O SSWALD , Tuberkulose in den Irrenanstalten (Anm. 133), S. 461. <?page no="283"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 283 den Krankheitserreger experimentell in Staubproben aus drei Irrenanstalten nachgewiesen. 134 Nachdem man lange über die größere Disposition der Geisteskranken für die Lungenkrankheit diskutiert hatte, 135 war der Beweis nun erbracht. Für die hessischen Anstalten zeigte Osswald, dass zwei Drittel der an Tuberkulose Verstorbenen sich im Zuge ihres Anstaltsaufenthalts angesteckt hatten. 136 Die großen, überfüllten Wachabteilungen verwandelten den Anstaltsraum in eine Brutstätte für Infektionskrankheiten. Die Tuberkulose blieb bis zum Ersten Weltkrieg die Todesursache Nummer eins in Zwiefalten und Schussenried. 1892 fanden in Zwiefalten Versuche mit Robert Kochs Tuberkulin statt. 137 Nach dem Skandal um die Wirkungslosigkeit von Kochs Therapeutikum wurden Versuche ab 1911 mit dem Neutuberkulin wiederaufgenommen. 138 Insgesamt blieb die Tuberkulose die häufigste Todesursache in der Anstalt. In Zwiefalten ließen sich zwischen 1901 und 1910 im Durchschnitt 25,6 % der Todesfälle auf Tuberkulose zurückführen. In manchen Jahren lag sie sogar bei über 30 %. 139 In Schussenried lag der Anteil der Sterblichkeit im Zeitraum von 1903 bis 1908 mit durchschnittlich 26,5 % auf einem ähnlich hohen Niveau. 140 Neben der Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten 141 wurde der psychiatrische Raum auch durch zahlreiche Bauvorhaben beeinträchtigt. Durch die dauerhafte Überfüllung war ein permanenter Druck zur Erweiterung und effizienteren Ausnützung der Räumlichkeiten entstanden. Beständig wurden deshalb im gesamten 134 G EORG C ORNET , Experimentelle Untersuchungen über Tuberkulose, in: E. L EYDEN , E MIL P FEIFFER (Hg.), Verhandlungen des Congresses für Innere Medicin. Siebenter Congress. Gehalten zu Wiesbaden, vom 9.-12. April 1888, Wiesbaden 1888, S. 299-311, hier 302. 135 Richard von Krafft-Ebing wies etwa in seinem Lehrbuch von 1883 auf die »antihygienische[n] Momente überfüllter Irrenanstalten« hin, machte aber vor allem eine krankheitsbedingte schlechte Ernährung und Respiration »melancholischer Irrer« sowie eine »neuropathische […] Constitution« für die hohe Morbidität in den Anstalten verantwortlich; vgl. R ICHARD VON K RAFFT -E BING , Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studirende, Stuttgart 1883, S. 243. 136 K. O SSWALD , Tuberkulose in den Irrenanstalten (Anm. 133), S. 462. 137 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 133. 138 R. C AMERER / E. K RIMMEL , Geschichte Zwiefalten (Anm. 21), S. 165. Ob das Tuberkulin vornehmlich zur Therapie oder Diagnose eingesetzt wurde, kann aus den eingesehenen Quellen nur schwer entschieden werden. 139 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1910, S. 15. 140 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 51: Ärztlicher Jahresbericht Schussenried 1910, Statistisches Verzeichnis der Aufnahmen nach Kreisen und Oberämter, S. 7f. 141 Dr. W UNDERLICH , Die Influenzaepidemie in der Anstalt Schussenried im Frühjahr 1895, in: Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen ärztlichen Vereins 66 (1895), Heft Nr. 19, S. 145-147. <?page no="284"?> R ALPH H ÖG ER 284 Untersuchungszeitraum Neu-, Um- und Anbauten vorgenommen. Ganze Abteilungen wurden dafür neu eingerichtet - meist mussten die Kranken zeitweise umziehen, auf andere Abteilungen verlegt und verteilt werden. Die Umbauarbeiten erstreckten sich manchmal über Jahre. Eine besondere Brisanz erhielten diese Bauvorhaben bei der Verlegung von kriminellen Kranken, die ab den 1870er-Jahren vermehrt in Zwiefalten untergebracht wurden. 142 Dort spitzte sich die Lage um die Jahrhundertwende gefährlich zu: Im Jahresbericht von 1899 wurde unter VII. erwähnt, daß die Störungen, welche durch kriminelle Irre im Krankendienst verursacht wurden, sehr erheblich geworden sind. Nach Aufhebung der sogenannten »Zuchthausabteilung« die u. A. auch wegen des bevorstehenden Umbaus des Fraterbaus erfolgt war, hatten sich die Schwierigkeiten dadurch, daß die kriminellen Irren den Wach- und anderen Abteilungen zugeteilt werden mußten, noch weiter gesteigert. 143 Die anstehenden Umbauten machten eine Verteilung der kriminellen Irren auf verschiedene Abteilungen notwendig. Einzelne Patient_innen konnten den Schilderungen zufolge ganze Abteilungen gegen die behandelnden Ärzte aufbringen. Selbst bei den Routinevisitationen durch das Medizinalkollegium konnte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht werden: Durch viele Wochen hindurch kamen fast bei jeder Visite die erregtesten Szenen vor, maßlose Schimpfereien, die gefährlichsten Drohungen und nicht selten brutale Angriffe, namentlich von Seiten des Kranken Kühner den die anderen für ihre Zwecke benützten und anstifteten, öfter war ein Teil der Abteilung in vollem Aufruhr begriffen, so daß nur unter größerer Bedeckung die Begehung der Krankenzimmer möglich war. Eine solche bedrohliche Szene entwickelte sich u. A. auch bei der Revision der Anstalt durch Herrn Präsident von Gessler und Herrn Medizinalrat Dietz am 11. Mai 1900. Eine Berücksichtigung der übrigen Kranken der Abteilung, einer Untersuchung derselben, ein Gespräch mit ihnen war dem Direktor meistenteils zur Unmöglichkeit gemacht. 144 Der von den Psychiatern klar strukturierte und gegliederte Raum verlor unter dem Einfluss der kriminellen Kranken seine Wirksamkeit. Das medikale Raumregime brach kurzzeitig zusammen. Der ›Erfolg‹ protestierender Kranker zeigt deutlich, dass die Aufrechterhaltung der Hausordnung nur durch die Partizipation der Patient_innen möglich war. Ihre Handlungsmacht wird für einen kurzen Moment sichtbar. Ihr bereitwilliges oder widerständiges Handeln gegenüber den ärztlichen Raumvorstellungen konstituierte den psychiatrischen Raum mit. Die ärztliche Dominanz, verkörpert 142 Erst 1905 wurde eine eigene Abteilung für psychisch kranke Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt auf dem Hohenasperg bei Ludwigsburg eingerichtet; vgl. R UDOLF C AMERER , Die Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreich Württemberg, Halle 1911, S. 303. 143 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1900, S. 25f. 144 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1900, S. 27f. <?page no="285"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 285 insbesondere in der Figur des Direktors, war nicht so allumfassend wie die offiziellen Anweisungen vermuten lassen. Die Hierarchie drehte sich für einen Moment um: nicht die Ärzte beschrieben die Kranken und dokumentierten deren Äußerungen, sondern Patient_innen notierten das Verhalten der Ärzte: In wirklich unerquicklicher Weise aber mußte es empfunden werden, daß die Visiten und die Thätigkeit der Unterzeichneten in zunehmenden Grade ihres ärztlichen Charakters entkleidet wurde; der Besuch der erwähnten Abteilungen brachte zeitweise nichts Anderes mit sich, als auf Schritt und Tritt Vorwürfe, Beschwerden, Desiderien, die von vornherein nicht erfüllt werden konnten, Verleumdungen, wüste Beschimpfungen, Drohungen mit Angriffen und Broschüren [um 1900 wurden in Württemberg zahlreiche anstaltskritische Berichte, sog. ›Irrenbroschüren‹ veröffentlicht, R.H.] 145 ; der Dienst der Ärzte, ihre Äußerungen wurden kontrollirt und schriftlich fixirt von einzelnen Kranken; dazu kamen sehr zahlreiche lange Beschwerdeschreiben an die Direktion, an Behörden, Gerichte, deren Durchsicht und Richtigstellung viel Zeit kosteten und endlich Denunciationen gegen das Wartpersonal, welche zeitraubende Untersuchungen und Protokollaufnahmen notwendig machten. Die für die übrigen Kranken und für anderweitige Zwecke des Hauses verfügbare Zeit erlitt durch solche z. Teil recht nutzlose Inanspruchnahme der Ärzte eine unliebsame Verkürzung, die Familienpflege und die freie Behandlung der Kranken mußte darunter notleiden. 146 Hier werden die Grenzen der ärztlichen Macht über den psychiatrischen Raum sichtbar. Auch die Ärzte mussten sich den bürokratischen Prozeduren und Protokollen fügen. Die ärztlich bestimmten Raumordnungen konnten überschrieben werden und der ›eroberte‹ Raum als »Medium der Durchsetzbarkeit« die Patientenforderungen untermauern. 5. Fazit Insgesamt war der psychiatrische Raum zwischen 1875 und 1914 nicht »still und starr«, sondern befand sich in einem beständigen Veränderungsprozess. Er wurde verschiedenartig angeeignet und mit zahlreichen Anweisungen ›beschrieben‹ sowie kontinuierlich um- und ausgebaut. Die enge Verbindung zwischen Psychiatrie und Anstaltsraum blieb trotz öffentlicher Kritik, der Einrichtung von Universitätskliniken und der Erprobung alternativer Behandlungsansätze bestehen. Das ›Psychiatriemachen‹ erschien für die ärztlichen Fachvertreter ohne die Anstalten nicht denkbar. An den Außenrändern der Institutionen ergaben sich aber manche Öffnungen: mit der Familienpflege und den landwirtschaftlichen Kolonien konnten ausgewählte Patient_ 145 A. R OTH , Würdig einer liebevollen Pflege (Anm. 93), S. 38-40. 146 StA Ludwigsburg, Bestand 163 Bü 41: Ärztlicher Jahresbericht Zwiefalten 1900, S. 41f. <?page no="286"?> R ALPH H ÖG ER 286 innen die Anstaltsmauern überwinden, während sie gleichzeitig Teil des Anstaltsverbandes blieben. Zahlreiche Interaktionen mit der lokalen oberschwäbischen Bevölkerung deuten ebenfalls auf die Durchlässigkeit der Anstaltsmauern hin. Der Wandel des psychiatrischen Raums in Württemberg kann im Untersuchungszeitraum in vier sich überlagernde Entwicklungen gegliedert werden: 1. der kontinuierliche Ausbau der Anstaltskapazitäten ab 1875, 2. der Wandel des psychiatrischen Behandlungsangebots und daraus folgend der räumlichen Anordnungen durch die freieren Behandlungsformen sowie die Bett- und Bäderbehandlung ab den 1890er-Jahren, 3. die umfassenden Reformschritte der württembergischen Gesundheitsadministration um 1895, die insbesondere die personelle Situation in den Anstalten verbesserte, und 4. die Bemühungen um die Eindämmung der Tuberkulose, die unter dem Eindruck des Siegeszugs der modernen Bakteriologie angestoßen wurden. Die permanente Bautätigkeit in den Anstalten wirkte sich vor allem auf die Arzt- Patienten-Beziehung und insbesondere das direktoriale Prinzip der Anstalten aus. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Anstaltsdirektors in der unmittelbaren therapeutischen Beziehung nahmen ab. Mit der Zunahme der Patientenzahlen gerieten leitender Arzt und Patient_in in eine zunehmende Distanz zueinander und die Versorgungssituation wurde unübersichtlicher. Der Direktor konnte nicht mehr täglich alle Kranken besuchen, sondern übernahm mehr und mehr die Rolle des koordinierenden Raumplaners. Zudem wurden die Bauvorhaben durch die beständige Überfüllung zu einem heiklen Unterfangen. Das in den Hausordnungen formulierte Raumregime konnte unter Bedingungen der Raumnot nicht immer eingehalten werden. Die reglementierenden Dokumente blieben trotz der massiven Veränderungen des Anstaltsraums über den gesamten Untersuchungszeitraum in ihrer Textgestalt nahezu unverändert. Der Wandel der Therapieformen veränderte die spezifischen Konstellationen von Körpern, Räumen und Praktiken. Das Beschränkungsmittel ›Raum‹ wurde größtenteils aufgegeben. Stattdessen übernahm das Pflegepersonal mehr Verantwortung. Das Beobachten in den Wachabteilungen und das aufwendige Verpflegen der Kranken in den Bädern stellten Körper und Räume in ein neues Verhältnis zueinander. Auch wurde die Patientenarbeit ausdifferenziert. Zudem veränderten sich die Orte psychiatrischer Behandlung: das Bett, Werkstätten, landwirtschaftliche Güter und extramurale Familienunterkünfte ergänzten die klassischen Behandlungsorte. Die strenge Grenzziehung zwischen dem ›Inneren‹ und ›Äußeren‹ der Anstalt wurde damit stellenweise aufgebrochen. Der Reformschub der württembergischen Psychiatrie um 1895 beförderte den Wandel der Raumsemantik. Die Herausbildung spezifischer psychiatrischer Raumregime war immer auch eine Kostenfrage. Während in Zeiten des Personalmangels die räumliche Beschränkung in den Isolierzellen ein zentrales Mittel des medizinischen Repertoires war, konnten mit der Aufstockung des Personals die neuen, pflegerisch <?page no="287"?> O RT E DER H EILUNG ? D IE I R RENANS TALT EN S CH US S EN RI ED UND Z WIEFALT EN 287 anspruchsvollen Behandlungsmethoden breitenwirksam umgesetzt werden. Statt Isolierung wurde nun Überwachung zum leitenden Prinzip der Behandlung. Der Anstaltsraum musste mit dem Einreißen von Zwischenwänden für die großen Wachsäle darauf angepasst werden. Zudem eröffneten sich mit den geschaffenen Oberarztstellen neue Möglichkeiten der therapeutischen Spezialisierung. Zuletzt wandelte sich die Raumwahrnehmung auch durch wissenschaftliche Entwicklungen. Der Durchbruch der modernen Bakteriologie machte die Ansteckungsgefahren in geschlossenen Häusern sichtbar. Die Enge durch die überfüllten Wachsäle erhielt eine zusätzliche Brisanz. Neue, separate Abteilungen und Gebäudekomplexe für Tuberkulosekranke wurden geplant. Die bereits seit den 1870ern genutzte Pavillonbauweise fand zur Jahrhundertwende nun auch im Medizinalkollegium breite Anerkennung. Die letzte württembergische Anstaltseröffnung im Jahr 1903, die Königliche Heilanstalt Weinsberg, wurde dementsprechend als Neubau mit verteilten Häusern konzipiert. Im Fokus dieses Beitrags standen Raumvorstellungen und Raumpraktiken der leitenden Ärzte und der Gesundheitsadministration in den Fokus gerückt. Die Umdeutungen und Umgestaltungen, die der psychiatrische Raum zwischen 1875 und 1914 ›von oben‹ erfuhr, zeigen aber nur eine Seite der Anstaltswirklichkeit und sollten durch patientengeschichtliche Ansätze ergänzt werden. Die Schilderungen von protestierenden Kranken in den Jahresberichten zeigen deutlich, dass die Durchführung des Raumregimes im Anstaltsalltag oft nicht den nach außen kommunizierten Idealvorstellungen entsprach. 147 Die »Aneignung und Umnutzung« des psychiatrischen Raums durch die Patient_innen bleibt an dieser Stelle nur angedeutet. Weitere Untersuchungen anhand von Krankenakten und weiteren Quellen könnten in diesem Kontext den Analysegegenstand ›psychiatrischer Raum‹ noch weiter dynamisieren. Anders als Rudolf Camerer und Ernst Krimmel in ihrer Jubiläumsschrift zum 100-jährigen Bestehen Zwiefaltens ausführen, war die menschenfreundliche Behandlung in luftigen und lichten, gesunden und freundlichen Räumen, geleitet nach allen Regeln ärztlicher Kunst in den beiden württembergischen Anstalten oft nicht umsetzbar. Psychiatrische Räume waren in Württemberg über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg, und bis auf wenige Ausnahmeeinrichtungen und Ausnahmezeiten, prekäre Räume: Räume die überfüllt waren, in denen Enge und Unruhe herrschte, Räume, die stellenweise der ärztlichen Kontrolle entglitten und in denen die Tuberkulose grassierte. Im Zeitraum von 1875 bis 1914 durchliefen diese Räume eine Transformation vom Idealtyp der harmonischen Anstaltsfamilie zur Zeit der Gründergeneration, mit dem alles überragenden, patriarchalischen Direktor an der Spitze, hin zu 147 Zu fragen ist aber auch, inwiefern die Ärzte in ihren Berichten die Zustände nicht bewusst zugespitzt darstellten, um ihre professionspolitischen Forderungen (etwa die Ausgliederung von kriminellen Kranken in andere Einrichtungen) durchsetzen zu können. <?page no="288"?> R ALPH H ÖG ER 288 dorfbzw. fabrikähnlichen, differenziert organisierten Behandlungs-, Arbeits- und Lebensorten. Ausschlaggebend ist dafür das enorme Wachstum der in Anstalten verpflegten Kranken. Die Anstalten wurden zu diesem Zweck immer weiter ausgebaut. Ab den 1890er-Jahren entstand unter dem Eindruck einer psychiatriekritischen Öffentlichkeit die Figur der ›modernen Anstaltspsychiatrie‹, die sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und therapeutischen Programm an Allgemeinkrankenhäusern orientierte und von dem ›alten Irrenwesen‹ des 19. Jahrhunderts abgrenzte. Die hohen ärztlichen Ansprüche konnten im Untersuchungszeitraum kaum erfüllt werden. Die württembergischen Anstalten waren häufig überforderte Institutionen und nur selten Heilungsorte. <?page no="289"?> 289 M ARIA C HRISTINA M ÜLLER -H ORNUF Religiöser Wahn. Zur Deutung religiöser Praktiken am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg 1 1. Einleitung Mit ›Wahn‹ wird heute in der Psychopathologie eine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine formale Denkstörung, also eine krankhaft entstandene Fehlbeurteilung der Realität. Christian Kupke erklärt, dass »[i]m Wahn Wahrnehmungen in ungewöhnlicher Weise gedeutet bzw. gewusst« 2 werden. ›Wahn‹ wird heute als Symptom vieler neuropsychiatrischer Erkrankungen wie der Schizophrenie diagnostiziert. Dennoch ist es auch in der modernen Psychopathologie eine der großen Herausforderungen, wahnhafte Vorstellungen eindeutig zu erkennen. Bis heute ist es sowohl für die Forschung als auch im Klinikalltag kaum möglich, eine klare Grenze zwischen ›normalen‹ und ›anormalen‹ psychischen Zuständen und somit zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Wahn‹ zu ziehen. Im Zusammenhang mit Wahnthemen spielt der ›religiöse Wahn‹, das zentrale Thema des vorliegenden Aufsatzes, in der heutigen Psychiatrie jedoch nur eine marginale Rolle. Seit den letzten 30 Jahren ungefähr werden religiöse Vorstellungen in der psychiatrischen Praxis in der Regel nicht mehr zur Diagnosestellung psychiatrischer Erkrankungen herangezogen, wenn es sich um die einzige psychische Auffälligkeit handelt. Es ist problematisch, ›religiösen Wahn‹ festzustellen, weil die Erzählungen über religiöses Denken und Wahrnehmen auch Teil einer kulturellen Übereinkunft sein können. Historisch betrachtet galt ›Wahn‹, also jene Erzählungen über Wahrnehmungen, die von Dritten als unmöglich und irrsinnig gedeutet wurden, als das zentrale Problem der Psychopathologie. Gerade der ›religiöse Wahn‹, also Erzählungen mit religiösen Inhalten, die Ärzte als pathologisch diagnostizierten, nahm eine zentrale Rolle 1 Wesentliche Gedanken dieses Aufsatzes entstammen meiner Dissertation: M ARIA C HRI - STINA M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit«. Teufel, Gott und Magnetismus in der Psychiatrie Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2019. 2 C HRISTIAN K UPKE , Von der symbolischen Ordnung des Wahns zum Wahn der symbolischen Ordnung. Ein vorläufiger philosophischer Versuch, in: G ERHARD U NTERTHURNER / U LRIKE K ADI (Hg.), Wahn. Philosophische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Wien-Berlin 2012, S. 107-136, hier 109. <?page no="290"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 290 bei der Bestimmung von Wahnthemen ein. In der Phase während des 19. Jahrhunderts, als sich die Psychiatrie als Disziplin herauszubilden begann, war die Suche nach Symptomen, z. B. die unglaubwürdige Erzählung eines Betroffenen, von größter Bedeutung, um anhand der Erzählung am Krankenbett etwas über psychische Erkrankungen zu lernen. Mit der Ausbildung der Diagnostik, also der Kanonisierung des psychiatrischen, autoritativen Wissenssystems über psychische Erkrankungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sollten Symptome größeren Krankheitsentitäten zugeordnet und als spezifische Krankheit objektiviert werden. 3 Da der Kranke die völlige Unsinnigkeit der Wahnvorstellungen 4 der eigenen Einbildungen selbst nicht mehr erkennen könne, so Emil Kraepelin (1856-1926) in seinem Lehrbuch zur Psychiatrie von 1903, müsse dies durch eine fremde Instanz erfolgen. Wie aber ließ sich ›Wahn‹ von ›Wirklichkeit‹ in der psychiatrischen Praxis unterscheiden? Die Ärzte in den Universitäten, Kliniken und Anstalten versuchten, den von den Patientinnen und Patienten beschriebenen Graubereich zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Dummem und Genialem, zwischen Religion und Medizin zu entschlüsseln, so Richard Noll in seinem historischen Überblick über Psychosen. 5 Die Merkmale psychischer Normbereiche sollten ausgelotet, Grenzen neu gezogen und wenn nötig anders definiert werden. Um ›normale‹ psychische Zustände von ›pathologischen‹ sinnvoll zu unterscheiden, galt es Verfahren zu finden, diese Bereiche voneinander zu trennen. 6 Ziel des vorliegenden Aufsatzes zu religiösen Wahnthemen ist es herauszufinden, welche Themen die Betroffenen in ihren Erzählungen aufgriffen. Welche religiösen Erzählungen der Patientinnen und Patienten wurden von den Ärzten als Teil einer psychiatrischen Erkrankung erkannt? Wo endete die anerkannte Sorge, die verstehbare Furcht, die gängige Wahrnehmung und der vernünftige Glaube? Inwiefern wandelten sich die religiösen Vorstellungswelten durch kulturelle und religiöse Veränderungen? Letztlich dienten die religiösen Bilder den Betroffenen dazu, das eigene Denken und Wahrnehmen, sich selbst und die Welt zu erklären. Mithilfe von religiösen Themen wurde versucht, das eigene Leiden zu verstehen und teilweise auch zu ertragen. Bevor im Folgenden die Erzählungen über religiöse Wahnthematiken der Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee betrachtet 3 Dazu ausführlich T HOMAS F UCHS , Anthropologische und phänomenologische Aspekte psychischer Erkrankungen, in: H ANS J ÜRGEN M ÖLLER / G ERD L AUX / H ANS -P ETER K APF - HAMMER (Hg.), Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Berlin-Heidelberg 2016, S. 417-431. 4 E MIL K RAEPELIN , Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Bd. 1: Allgemeine Psychiatrie, 7. Aufl. Leipzig 1903, S. 216. 5 R ICHARD N OLL , Psychosis, in: G REG E GHIGIAN (Hg.), The Routledge History of Madness and Mental Health, London-New York 2017, S. 331-349, hier 333. 6 Siehe hierzu J OHN C. B URNHAM , Psychotic Delusions as a Key to Historical Cultures: Tasmania 1830-1940, in: Journal of Social History 13/ 3 (1980), S. 368-386. <?page no="291"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 291 werden, soll auf die Problematik eingegangen werden, überhaupt die Symptome psychischer Erkrankungen im Alltag zu erkennen. Anschließend wird der Blick auf die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, die im Kontakt mit den Patientinnen und Patienten entstandenen Krankenakten und die verschiedenen religiösen Wahnthemen gerichtet. Im weiteren Verlauf wird dargelegt, in welchem Verhältnis die Erzählungen der Patientinnen und Patienten über Religiöses zu jenen in der religiösen Gruppe bzw. der religiösen Kultur standen. Abschließend soll eine Betrachtung der Kriterien erfolgen, nach denen die religiösen Wissensangebote der Patientinnen und Patienten zur Erklärung des Denkens und Wahrnehmens von den Ärzten bewertet wurden. Die Geschichte der Psychiatrie war lange Zeit auf die Erforschung des Lebens und Wirkens wichtiger Ärzte an bedeutenden Universitäten beschränkt. Die Patientinnen und Patienten in den Kliniken und Anstalten spielten in den Untersuchungen nur eine Nebenrolle, sei es in Form von Krankengeschichten oder Statistiken, sei es im Fall bekannter Persönlichkeiten. Dieser Aufsatz hingegen fokussiert die Patientinnen und Patienten, ihre Erzählungen über ihr Denken und Wahrnehmen und die Einschätzungen dieser Erzählungen durch die Ärzte. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in Bayerisch-Schwaben dient als Untersuchungsbeispiel, weil gerade in ländlich geprägten Anstalten der Spagat zwischen dem Agieren einer an Spitzenuniversitäten ausgebildeten Ärzteschaft einerseits und den traditionellen Lebensgewohnheiten der Patientinnen und Patienten andererseits besonders deutlich wird. Dieser Widerspruch ist bei der Feststellung von ›religiösem Wahn‹ aufschlussreich, weil die tief verwurzelte Religiosität bei den Menschen auf dem Land und in den kleinen Städten die Ärzte immer wieder aufs Neue mit der Frage konfrontierte, welche Erzählungen als wahnhaft zu bewerten seien und wo die Grenze zum vernünftigen Glauben liege. 2. Die Schwierigkeit des Erkennens einer psychiatrischen Erkrankung außerhalb der Irrenanstalten Ob eine wahnhafte Erkrankung erkannt und letztlich auch behandelt wurde, hing stark von der Deutung verschiedener Symptome als Indikatoren für eine psychische Erkrankung ab. Betroffene waren mit vielen verschiedenen Vorstellungen von Krankheit - von Ärzten, Familien, Nachbarn und anderen Laien - konfrontiert. 7 So zeugt beispielsweise der Bericht des praktischen Arztes und Distriktsarztes Dr. Preitner 8 7 C ORNELIA B RINK , Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860- 1880 (Moderne Zeit 30), Göttingen 2010, S. 87. 8 Bei Dr. Preitner handelt es sich wahrscheinlich um Dr. Friedrich Preitner, der 1871/ 72 als Assistenzarzt in Irsee tätig war. <?page no="292"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 292 von Oberkirchberg aus dem Jahr 1878 von Deutungen psychischer Störungen und dem Umgang mit ihnen im ländlich geprägten Raum Schwabens. Der Distriktsarzt hatte u. a. die Aufgabe, die Bevölkerung über die staatlich geführten Kliniken und Anstalten, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, zu informieren, für sie zu werben und ggf. eine Anstaltsbehandlung voranzutreiben. Preitner selbst beschrieb in dem Bericht, den er dem Direktorium der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zukommen ließ, welche trostlosen Erfahrungen 9 er im Umgang mit Geisteskranken mache. Nur in vier von ungefähr 30 Fällen von ›Geisteskrankheiten‹ sei es ihm gelungen, die Betroffenen einer Anstalt in Bayern oder Württemberg zuzuführen. Preitner machte deshalb auf die problematische Situation bei psychischen Erkrankungen aufmerksam: Das Loos der Geisteskranken auf dem Lande ist trostlos u. [hat] mir schon manche traurige Stunde verursacht, wenn sie so machtlos der entsetzlichen Behandlung der armen Kranken gegenüberstehen. 10 Die Frage nach psychischer Gesundheit oder Krankheit und die Einschätzung, ob eine Anstaltsbehandlung notwendig sei, war im 19. und weit ins 20. Jahrhundert nicht nur eine Frage der Mediziner, sondern beschäftigte auch die Geistlichen. Preitner kritisierte scharf, dass im mehrheitlich katholisch geprägten Distrikt in der Nähe von Ulm, für den er zuständig war, bei medizinischen Fragen zuerst der Ortspfarrer konsultiert werde, bevor man sich an einen Arzt wende. Der Distriktsarzt sprach den Geistlichen jegliche Kompetenz dafür ab, psychische Krankheiten zu erkennen: Theologen haben meist keine Idee von psych[ischer] Störung. 11 Welche Folgen dies für die Betroffenen habe, illustrierte er am Fall eines Müllersohnes aus Ay. Der Soldat des 1. Train-Bataillons in München soll angeblich an Heimweh erkrankt gewesen sein. Der Pfarrer habe acht Tage lang versucht, die Schwermut ›wegzureden‹. Erst als der Kranke durch die anhaltende Nahrungsverweigerung sehr schwach geworden sei, habe man den Arzt zu Hilfe geholt. 12 Preitners Beispiel verdeutlicht, dass in ländlichen Gegenden des 19. Jahrhunderts bei Krankheitsfragen oftmals ein Geistlicher und nicht der approbierte Arzt aufgesucht wurde. Dies hatte zum einen finanzielle Gründe, zum anderen hing die Entscheidung mit der sozialen Distanz zwischen Laien und Medizinern zusammen. Während bürgerliche Patientinnen und Patienten in einer vergleichbaren sozialen Position wie die Ärzte standen, war der soziale Unterschied bei Bauern und Handwerkern besonders groß. 13 Die gängige Praxis, dass Geistliche gerade auf dem Land 9 HistA BKH KF, Bericht des Distriktsartzes Dr. Preitner an das Direktorium der Anstalt, Beilage des Jahresberichtes aus dem Jahre 1878, S. 1. 10 HistA BKH KF, Bericht des Distriktsarztes Dr. Preitner, 1878 (Anm. 9), S. 6. 11 HistA BKH KF, Bericht des Distriktsarztes Dr. Preitner, 1878 (Anm. 9), S. 6. 12 HistA BKH KF, Bericht des Distriktsarztes Dr. Preitner, 1878 (Anm. 9), S. 3. 13 Karen Nolte führt in diesem Zusammenhang aus, dass die Patientinnen und Patienten bürgerlicher Schichten im Begutachtungsverfahren für Strafprozesse und Rentenanträge <?page no="293"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 293 oftmals die ersten Ansprechpartner bei psychischen Auffälligkeiten waren, erforderte umgekehrt von den Priestern gewisse medizinische Kompetenzen. Im Rahmen der Spezialdisziplin Pastoralmedizin im Fächerkanon der christlichen Theologie wurden die Geistlichen in gewissem Maße auch für die Krankenseelsorge und somit für psychiatrische Grundfragen sensibilisiert. Anselm Rieker führt beispielsweise in seinem Lehrbuch zur Pastoralpsychiatrie von 1889 an, dass bei psychiatrischen Zweifelsfällen eine Überweisung an einen erfahrenen Nervenarzt angezeigt sein könne, zum Ziel der Rettung des ewigen Heiles, um die Heilung der Seele, die bei solchen Kranken in der grössten Gefahr schwebt. 14 Für Preitner dagegen ergab sich aus dem Misstrauen gegenüber den approbierten Ärzten und dem Nicht-Erkennen psychischer Krankheiten das Problem, dass die Betroffenen falsch behandelt oder gar misshandelt würden. Der Distriktsarzt beschrieb in diesem Zusammenhang den Fall einer melancholischen Patientin aus Harthausen in Württemberg, die unter religiösen Wahnideen litt. Nach Angaben des Arztes schrie und weinte die Betroffene oft wochenlang und versuchte, sich in der Iller zu ertränken oder sich den Leib aufzuschneiden. 15 Daraufhin wurde sie von ihren Angehörigen eingesperrt und auch geschlagen, wenn sie zu laut war. 16 An Preitners Fallbeispiel wird deutlich, dass die Frage, ob eine irrenärztliche Behandlung veranlasst wurde, stark mit dem Verhalten der Betroffenen zusammenhing. Bestand eine Gefahr für den Leib oder den Besitz, oder fürchtete die Familie eine ökonomische Krise durch den Verlust der Arbeitsfähigkeit, wurde dieser eher einer Anstaltsbehandlung zugeführt als bei zurückgezogenem Verhalten. Letztlich erhoffte man sich durch die Behandlung hauptsächlich die Wiedererlangung der körperlichen Arbeitsfähigkeit. 17 3. Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Bevor nun der Blick auf Berichte über ›religiösen Wahn‹ in den historischen Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee gerichtet wird, soll kurz die Geschichte der Einrichtung skizziert werden. Der Blick auf den Einzelfall ist deshalb einen Vorteil gegenüber Patientinnen und Patienten unterbürgerlicher Schichten hatten. Sie konnten ihre »bildungsbürgerliche Eloquenz zu ihren Gunsten einsetzen«; K AREN N OLTE , Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900 (Geschichte und Geschlechter 42), Frankfurt a. M. 2003, S. 309. 14 A NSELM R ICKER , Pastoral-Psychiatrie zum Gebrauche für Seelsorger, 2. Aufl. Wien 1889, S. 3. 15 HistA BKH KF, Bericht des Distriktsarztes Dr. Preitner, 1878 (Anm. 9), S. 4. 16 HistA BKH KF, Bericht des Distriktsarztes Dr. Preitner, 1878 (Anm. 9), S. 4. 17 Siehe hierzu ausführlich M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 55-66. <?page no="294"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 294 geboten, weil die Art und Weise, wie in einer Anstalt Symptome erkannt und Krankheiten definiert wurden, stark von spezifischen ärztlichen, psychiatriereformerischen und damit auch juristischen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten abhingen. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee kann daher wie jede Anstalt als Mikrokosmos verstanden werden, weil durch das individuelle Wirken der Ärzte eigene Standards beispielsweise in der Diagnostik, in der Behandlung oder Führung von Krankenakten geschaffen wurden. Gleichzeitig können die Verhältnisse in der Unterbringung von psychisch kranken Menschen in Bayerisch-Schwaben ähnlich wie in anderen kleineren Anstalten dieser Zeit bewertet werden. Die Kreisirrenanstalt Irsee in der Nähe von Kaufbeuren wurde am 1. September 1849 im säkularisierten Benediktinerkloster Irsee für den damaligen Oberdonaukreis eröffnet. Irsee war damit eine der ersten öffentlichen Anstalten im Königreich Bayern und die einzige im Gebiet des heutigen Regierungsbezirks Bayerisch-Schwaben. 18 Das umgebaute Kloster bot Platz für 80 Patientinnen und Patienten. Schon bald nach der Eröffnung wurde die Anlage mit einem ›Tobhaus‹ erweitert, so dass nun circa 140 Patientinnen und Patienten aufgenommen werden konnten. Von Anfang an war die Anstalt mit zu wenig Personal ausgestattet. Friedrich Wilhelm Hagen (1814-1888), der erste Direktor der Kreisirrenanstalt Irsee, publizierte 1854 im ›Amtsblatt für Schwaben und Neuburg‹ eine Liste, die neben einem Oberarzt und einem Hilfsarzt einen Oberwärter und eine Oberwärterin sowie 13 Wärter und elf Wärterinnen aufführt. Außerdem gab es noch einen Verwalter, einen Rechnungs-, einen Kanzleigehilfen, einen katholischen sowie einen protestantischen Geistlichen und einen Lehrer. 19 Zum siebten Jahresfest der Irrenanstalt Irsee berichtete das ›Augsburger Anzeigblatt‹, dass der Kreis stolz sein könne auf seine Irrenanstalt und die erzielten Resultate im Zeichen der Wissenschaft und Humanität. 20 Gut dreißig Jahre später drehte sich die Stimmung in den Medien gegenüber den psychiatrischen Anstalten. Es wurde über die stetig steigenden Zahlen von Patientinnen und Patienten geklagt. 21 Tatsächlich war die Kreisirrenanstalt Irsee schon kurz nach der Eröffnung mit teilweise bis zu 300 Patientinnen und Patienten völlig überfüllt, so dass am 1. August 1876 eine weitere Anstalt im nahe gelegenen Kaufbeuren eröffnet wurde. Während das als Einrichtung der Reformpsychiatrie geltende Kaufbeuren als Heilanstalt genutzt wurde, diente Irsee als Pflegeanstalt für chronisch Kranke. Beide Anstalten wurden nun ›Kreis-Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren‹ genannt. Es folgten Erweiterungen und Aufstockungen sowie der Bau von vier Landhäusern, bis 1915 die Heil- und 18 Zu den Planungen der Anstaltsgründung und zu Fragen der Stellenbesetzungen: BayHStA, MInn 62100, Nr. 1, 2, 3, 4. 19 Königlich Bayerisches Kreis-Amtsblatt von Schwaben und Neuburg, Augsburg 1854, S. 13. 20 Augsburger Anzeigblatt vom 4.9.1856, Meldung. 21 Augsburger Neueste Nachrichten vom 13.8.1886, Meldung. <?page no="295"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 295 Pflegeanstalt Günzburg errichtet wurde. Ab der Jahrhundertwende wurden sukzessive die damals gängigen Therapien eingeführt - die Bäderbehandlung, die Malariabehandlung bei Paralysen, die offene Fürsorge und die Arbeitstherapie. 22 Die arbeitstherapeutischen Maßnahmen sowie die folgenschwere Versorgungskrise in den Psychiatrien während des Ersten Weltkrieges forcierte Anfang der 1920er-Jahre das ansatzweise mit dem Erwerb eines Ökonomieguts 1893 erkennbare Bestreben, eine autark erwirtschaftete Lebensgrundlage für die Anstalt zu schaffen. Aus diesen Gründen erfolgte die Bereitstellung eigener Versorgungsbetriebe wie einer Bäckerei, einer Metzgerei und einer Gärtnerei. Zudem wurden ab 1924 der Gutshof Bickenried bei Irsee für die Vieh- und Feldwirtschaft einbezogen. 23 Doch der kontinuierliche Anstieg der Zahl der Patientinnen und Patienten hatte zuvor mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Versorgungslage verschärft und die vorerst schlimmsten Ausmaße angenommen. Ein Großteil der Bediensteten der Anstalt wurde zum Kriegsdienst eingezogen, worunter nicht nur die Nahrungsmittelversorgung, sondern zunehmend auch die medizinische Behandlung litt. 24 Die Zahl der Todesfälle in der Anstalt erreichte 1917 einen Höchstwert, die ›Euthanasie‹- Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus ausgenommen. 25 Die wirtschaftliche Krise und fortgesetzte Rationalisierungsmaßnahmen nach dem Ersten Weltkrieg stürzten die psychiatrischen Anstalten in eine finanzielle Notlage. 26 Während die Zahl der Patientinnen und Patienten stark zunahm, wurde das 22 M ARTIN S CHMIDT / R OBERT K UHLMANN / M ICHAEL VON C RANACH , Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, in: M ICHAEL VON C RANACH / H ANS -L UDWIG S IEMEN (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999, S. 265-326, hier 266. Allgemein zum Thema Arbeit in den psychiatrischen Anstalten siehe M ONIKA A NKELE / E VA B RINKSCHULTE (Hg.), Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit, Stuttgart 2015. 23 100 Jahre Nervenkrankenhaus Kaufbeuren, Kaufbeuren 1976, S. 39f. 24 Siehe M. S CHMIDT / R. K UHLMANN / M. VON C RANACH , Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren (Anm. 22), S. 266. Zur Behandlung von Soldaten während des Ersten Weltkrieges in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren siehe P ETRA S CHWEIZER -M ARTINSCHEK , Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee während des Ersten Weltkriegs, in: T HOMAS B ECKER u. a. (Hg.), Psychiatrie im Ersten Weltkrieg (Irseer Schriften NF 12), Konstanz-München 2018, S. 351-364. 25 100 Jahre Nervenkrankenhaus Kaufbeuren (Anm. 23), S. 46. In der Regensburger Anstalt Karthaus-Prüll lag die Sterberate während des Ersten Weltkrieges sogar bei 20 Prozent; C LEMENS C ORDING , Die Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll/ Regensburg, in: M. VON C RANACH / H.-L. S IEMEN (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus (Anm. 22), S. 175-230, hier 176. 26 Dazu H ANS -L UDWIG S IEMEN , Die bayerischen Heil- und Pflegeanstalten während des Nationalsozialismus, in: M. VON C RANACH / H.-L. S IEMEN (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus (Anm. 22), S. 417-474, hier 419. <?page no="296"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 296 Personal drastisch reduziert und die Arbeitszeit auf 66 Stunden pro Woche erhöht. 27 Des Weiteren hatten die aufkommenden sozialdarwinistischen Ideen zur Folge, dass sich die Einstellung gegenüber psychisch kranken Menschen stark zum Negativen hin veränderte. Zusammengefasst wurde argumentiert, kranke und behinderte Menschen würden in den Kliniken und Anstalten am Leben erhalten, während junge, gesunde Männer im Krieg sterben müssten. 28 Die Kosten für die Versorgung psychisch kranker Menschen wurde zunehmend infrage gestellt. 29 Ab der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurden diese Tendenzen aufgegriffen und ins Extreme gesteigert. Bereits 1934 begann die Zwangssterilisierungen. Auf der Grundlage der Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte Kempten und Augsburg wurden 1.503 Männer und Frauen ihrer Fruchtbarkeit beraubt. 30 Während des Nationalsozialismus fielen - wie in anderen psychiatrischen Anstalten - auch in Kaufbeuren- Irsee Patientinnen und Patienten den von Angestellten der Einrichtung verübten sogenannten ›Euthanasie‹-Verbrechen zum Opfer. Über 2.000 Menschen wurden allein aus der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in Vernichtungs- und Konzentrationslager deportiert oder wurden Opfer des Hungersterbens, missbräuchlicher Medikationen oder von TBC-Versuchen. Zur Aufarbeitung der Verbrechen, im Gedenken an die Opfer und zur Mahnung an künftige Generationen entstanden nach 1945 zahlreiche Publikationen und Denkmäler. 31 4. Berichte über ›religiösen Wahn‹ in den Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee (1849-1939) Aufgrund glücklicher Umstände und des persönlichen Engagements mehrerer Beteiligter sind von der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee nahezu alle historischen Krankenakten seit der Anstaltsgründung 1849 erhalten geblieben. Sie erlauben es, auf breiter Basis auf Quellen von Patientinnen und Patienten aus dem ländlichen Bereich Bayerisch-Schwabens, aber auch aus kleineren und großen Städten wie Augsburg zurückzugreifen. Der Großteil der Kranken kam seit der 27 100 Jahre Nervenkrankenhaus Kaufbeuren (Anm. 23), S. 47. Die Erhebung zum Kranken- und Totenstand in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufeuren-Irsee von 1914 bis 1918 durch Corinna Malek ergab, dass die Zahl der Todesfälle 1916 bei ca. 7 Prozent und damit unter dem Wert für Gesamtbayern liegt. Die Sterberate hat sich auch 1917 nur leicht erhöht. 28 H EINZ S CHOTT / R AINER T ÖLLE , Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006, S. 303. 29 H. S CHOTT / R. T ÖLLE , Geschichte der Psychiatrie (Anm. 28), S. 303. 30 M. S CHMIDT / R. K UHLMANN / M. VON C RANACH , Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren (Anm. 22), S. 317. 31 Mehr hierzu M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 66-84. <?page no="297"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 297 Gründung der Anstalt 1849 aus dem gesamten Kreis, also dem heutigen Bezirk Schwaben. Dabei ist auffallend, dass bereits während der Gründungszeit viele Patientinnen und Patienten aus den ländlichen Regionen Bayerisch-Schwabens stammten. Dass dennoch der größere Teil der Kranken aus der Stadt kam, lag dem ersten Direktor Friedrich Wilhelm Hagen zufolge daran, dass in den Städten die Akzeptanz gegenüber den Irrenanstalten größer gewesen sei als auf dem Land, mehr finanzielle Ressourcen für den Anstaltsaufenthalt zur Verfügung standen und im Zweifelsfall städtische Stiftungen für die entstehenden Behandlungskosten einspringen konnten. 32 Historische Krankenakten sind als Teil eines systematischen Dokumentationsprozesses zu werten, der einerseits Mitte des 19. Jahrhunderts die noch junge Disziplin der Psychiatrie gegenüber dem Geldgeber, den traditionellen medizinischen Fächern und der Gesellschaft legitimieren sollte. Andererseits dienten Krankenakten dazu, eine möglichst transparente Beobachtung und Beschreibung von Äußerungen, Handlungen und Verhaltensweisen der Patientin oder des Patienten am Krankenbett durch den Arzt zu gewährleisten. Dabei spiegeln Krankenakten nicht die authentischen Aussagen oder individuellen Erfahrungen der Kranken, sondern sie zeigen in der Verschriftlichung des Psychiaters das, was der Patient oder die Patientin verbalisierte. Burkhart Brückner nennt es die »eigenartige Verwobenheit der Welten von Psychiatern und Patienten«, 33 die durch eine kulturhistorische Perspektive von Krankenakten sichtbar werde. 34 Die Analyse der von den Ärzten erstellten Berichte in den Krankenakten - sie sollten das Krankheitssymptom ›Wahn‹ dokumentieren - zeigt, dass generell alles, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur denkbar ist, im ›Wahn‹ zum Ausdruck kommen kann. Die Themen gehen von technikbezogenen Vorstellung, wie der Bedrohung durch Röntgenstrahlen, über die Beeinflussung von Elektrizität bis hin zur drahtlosen Telegraphie. Auch die Furcht, von außen beeinflusst oder vergiftet zu werden, wurde von den Betroffenen häufig geäußert. Der Inhalt der Wahnthemen hängt dabei in den meisten Fällen unmittelbar von historischen Gegebenheiten ab. Die Erzählungen über das Denken und Wahrnehmen der Patientinnen und Patienten schließen an kulturelle, dabei insbesondere an technische, wissenschaftliche, religiöse und okkulte Themenbereiche der Zeit an. Klaus Leferink weist darauf hin, dass die Themen nicht wahllos aus dem »Supermarkt der 32 F RIEDRICH W ILHELM H AGEN , Aerztlicher Bericht aus der Kreis-Irrenanstalt Irsee, Halle 1853, S. 32. 33 B URKHART B RÜCKNER , Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert - Deutschland, Hürtgenwald 2007, S. 19. 34 Zur Bedeutung historischer Krankenakten für geschichtswissenschaftliche Studien siehe M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 93-121. <?page no="298"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 298 Ideologien« 35 herausgegriffen werden. In den Äußerungen der Betroffenen reflektierte sich vielmehr - oftmals in zugespitzter Form - das, was zu der betreffenden Person aus ihrer Sicht passte und womit es ihr möglich wurde, sich selbst und die eigenen außergewöhnlichen Erfahrungen zu erklären. »Der psychotische Wahn ist ein Versuch, den Auswirkungen des ununterbrochenen Gleitens des Sinns der Dinge und des Subjekts ein Ende zu bereiten«, so Rudolf Bernet. 36 Grafik 1: Auftreten von »religiösen Wahnvorstellungen« von 1849 bis 1899 und von 1900 bis 1939 35 K LAUS L EFERINK , Kultur - Schizophrenie - Diskurs - Selbst, in: M ARTIN H EINZE / C HRI - STIAN K UPKE / C HRISTOPH K URTH (Hg.), Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins (Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche 3), Würzburg 2003, S. 221-248, hier 235. 36 R UDOLF B ERNET , Wahn und Realität in der Psychose, in: G. U NTERTHURNER / U. K ADI (Hg.), Wahn (Anm. 2), S. 9-36, hier 19. 6% 37% 13% 10% 26% 15% 35% 16% 16% 25% 0% 10% 20% 30% 40% Technik Religion Fernwirkung Gift Andere Themen Anzahl der themenbezogenen Narrative von 1849 bis 1899 (N=416 Beobachtungen) Anzahl der themenbezogenen Narrative von 1900 bis 1939 (N=929 Beobachtungen) <?page no="299"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 299 Wie die Grafik 1 zeigt, kamen religiöse Wahnthematiken im Untersuchungszeitraum von 1849 bis 1939 mit Abstand am häufigsten vor. Die Äußerungen, die sich auf Technik, Fernwirkung oder Gift beziehen, traten deutlich seltener auf. Die Gegenüberstellung der Perioden von 1849 bis 1899 und von 1900 bis 1939 macht deutlich, dass religiöse Wahnthematiken mit 37 Prozent bzw. 35 Prozent während des zweiten Zeitraums am häufigsten vorkommen und sich in der Häufigkeit ihres Auftretens nur marginal verändern. In den meisten Fällen der untersuchten Krankenakten aus der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee bot also im 19. und noch weit bis ins 20. Jahrhundert der allgemein intensiv gelebte religiöse Glaube ein reichhaltiges und mitunter auch das überzeugendste Repertoire, um sich selbst und das eigene Denken und Wahrnehmen zu erklären. Von allen Themen, die in Wahnerzählungen vorkamen, wurden bis in die 1930er-Jahre religiöse Themen am häufigsten vorgebracht. In Krankenakten von Patientinnen und Patienten vom Land lassen sich häufiger religiöse Wahnthemen finden als von solchen aus der Stadt. Ebenso berichteten Betroffene mit katholischem Hintergrund häufiger von religiösen Themen, die Ärzte als wahnhaft diagnostizierten, als Patientinnen und Patienten mit protestantischem Hintergrund. Auch Protestanten vom Land berichteten häufiger über Religiöses als Protestanten aus der Stadt. Der Einzelne konnte sich auf dem Land dem Sog des Religiösen und der religiösen Kultur kaum entziehen, sei es im Sinne von innerem Glauben oder von dörflicher Tradition. Von Frauen wurde dabei etwas häufiger über Religiöses berichtet, das Ärzte als pathologisch einschätzten, als von Männern. 37 Im Folgenden werden die unterschiedlichen Vorstellungen skizziert, die die Ärzte mit ›religiösem Wahn‹ in Zusammenhang brachten. In den historischen Krankenakten vieler Patientinnen und Patienten finden sich Berichte, aus denen der Glaube an die Existenz einer höheren Macht spricht, die größtenteils einen positiven Einfluss auf die Welt nimmt. Meist wird diese Macht mit Gott, mit Jesus oder der Gottesmutter Maria gleichgesetzt. Die empfundene Manifestation transzendentaler Mächte wird von den Betroffenen meist als befreiend und unterstützend empfunden. Auch wenn in der individuellen Gedankenwelt Gott auch strafend in Erscheinung treten kann, fühlten sich viele Patientinnen und Patienten in positiver Weise beeinflusst und identifizierten sich mit dem Guten. Sie standen Gott näher als es die allgemeine Glaubenslehre, aber auch die psychiatrischen Institutionen vorsahen. Die 20-jährige Patientin Mina G. mit mosaischem Religionshintergrund aus Hürben bei Krumbach sah sich den Berichten ihrer Krankenakte von 1852 zufolge von Gott besonders bevorzugt, denn sie sei der Liebling Gottes. 38 Andere Patientinnen und Patienten vermuteten, von Gott dazu berufen zu sein, die Welt 37 Zu den Wahnthemen im Überblick, dem soziobiografischen Hintergrund der Patientinnen und Patienten und den Bedingungen der Datenerhebung siehe M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 121-203. 38 HistA BKH KF, Akten 2498: Krankenprotokoll vom 30.09.1852. <?page no="300"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 300 zu verbessern 39 oder von Gott zu etwas Besonderem bestimmt 40 zu sein. Die Betroffenen gingen davon aus, von Gott dazu bemächtigt worden zu sein, eine höhere Mission auszuführen 41 oder die sündige Menschheit zu erretten und zu erlösen. 42 Im Fall des katholischen Melkers Kaspar F. aus Mattsies bei Mindelheim waren die Vorstellungen, von Gott in einer besonderen Weise bevorzugt zu sein, konkreter: Gott befehle ihm, er solle brav sein und fleißig beten, dann komme er in den Himmel. 43 Er bete so oft er Zeit habe, auch Nachts, wenn er gerade Zeit habe. 44 Auf die Frage des Arztes, ob er zu etwas Höherem auserwählt sei, weil er die Stimme Gottes höre, bejahte Kaspar F. die Frage damit, dass dies allerdings der Fall sei. Er spreche aber auch nicht gerne über seine Visionen, weil man ihm nicht glaube. 45 Der Arzt protokollierte daraufhin, dass er auf ›Zureden‹ dann doch etwas über die konkreten Vorstellungen herausfinden konnte: Gott habe ihm mitgeteilt, er solle ›das Geheimniß‹ sein, und zwar ›das Geheimniß des h[ei]l[igen] Altarsakraments‹; er solle zum h[ei]l[igen] Geist ernannt werden; der h[ei]l[ige] Geist sei vorerst nur in geistiger, nicht in leiblicher Weise vorhanden; wenn er aber einmal sterbe und in den Himmel komme, dann nehme der hl. Geist seinen […] Leib an und so werde es dann kommen, daß er der h[ei]l[ige] Geist werde und an der Seite Gottvaters die Welt regiere. Darin bestehe im wesentlichen das Geheimniß. Hier auf Erden sei er nur ein einfacher, armer Bauernknecht, der vor anderen Menschen nichts voraus habe; erst nach seinem Tode werde er erhöht werden. 46 Überdies begleiteten Kaspar F. nachts himmlische Gestalten. Es erscheine ihm das ›Auge Gottes‹ in überirdischem Glanze, das er als Vorsehung beurteilte. Des Weiteren zeigten sich ihm während seiner nächtlichen Visionen die Gottesmutter Maria, die heilige Familie sowie Engel und Heilige. 47 Neben den Visionen von Gott, den Engeln als Mittler zwischen Himmel und Erde, war auch der Himmel selbst ein wichtiges Motiv im Denken und Wahrnehmen vieler Betroffener. Manche Patientinnen und Patienten wähnten sich schon mehr oder weniger im Himmel, 48 glaubten bereits dort gewesen zu sein 49 oder meinten, 39 HistA BKH KF, Akten 683: Fragebogen zur ärztlichen Untersuchung des Gemüths- und Geisteszustandes vom 29.4.1880. 40 HistA BKH KF, Akten 1286: Krankenprotokoll vom 5.4.1891. 41 HistA BKH KF, Akten 1382: Krankenprotokoll vom 5.10.1892. 42 HistA BKH KF, Akten 4830: Krankenprotokoll vom 12.6.1901. 43 HistA BKH KF, Akten 1677: Krankenprotokoll vom 20.5.1905. 44 HistA BKH KF, Akten 1677: Krankenprotokoll vom 20.5.1905. 45 HistA BKH KF, Akten 1677: Krankenprotokoll vom 20.5.1905. 46 HistA BKH KF, Akten 1677: Krankenprotokoll vom 20.5.1905. 47 HistA BKH KF, Akten 1677: Krankenprotokoll vom 20.5.1905. 48 HistA BKH KF, Akten 95: Krankenprotokoll vom 31.5.1856. 49 HistA BKH KF, Akten 14: Krankenprotokoll vom 15.5.1876. <?page no="301"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 301 Gottvater wolle [sie] mit nachhause nehmen. 50 Der Kaufmann Michael S. konnte bereits über seine Erfahrungen im Himmel berichten: Er glaubte, gemeinsam mit seiner Frau drei Tage lang im Himmel gewesen zu sein. Wie beide in den Himmel gekommen seien, erklärte Michael S. damit, dass sie [m]it einem Korb hinaufgezogen worden seien. Im Himmel habe er dann Petrus gesehen, ein[en] alte[n] Mann mit einem langen Bart. Während der drei Tage im Himmel habe Michael S. selbst nur im Lehnstuhl gesessen. 51 Neben Gott und der Welt des Guten hatte deren dunkle Gegenmacht eine große Bedeutung in den Erzählungen der Patientinnen und Patienten. Die Topoi von der Hölle und vom Teufel traten in den Krankenakten sehr häufig und in beeindruckender Detailliertheit auf. 52 Der Teufel wurde von den Zeitgenossen mit seinen unterschiedlichen Assoziationen mit dem Bösen in Verbindung gebracht und als äußerst beängstigend wahrgenommen. Die zahlreichen Beschreibungen des Höllenfürsten in den Krankenakten zeigen, wie sehr das Leben von dieser Art der Volksfrömmigkeit geprägt war. Bis in die 1930er-Jahre verliert der Teufelsglaube keineswegs an Präsenz. Trotz der zunehmenden Rationalisierung der Welt scheint man ohne die beängstigende Kraft des Satans nicht ausgekommen zu sein. Ferner konnte sich die Kirche nicht vom traditionellen Teufelsbild verabschieden, auch wenn man sich in der christlichen Glaubenslehre beim Teufel auf ein körperloses, rein geistiges Wesen verständigte. Seine Personifikation und die Vorstellung konkreter Erscheinungsformen, wie man sie seit dem Mittelalter kannte, blieben im Volksglauben aktuell. So wurde auch in einigen Krankenberichten das Äußere des Teufels beschrieben: Er sei in unerfreulicher Gestalt einer schwarzen Katze […] vor dem Fenster gesessen, 53 sei mit 50 HistA BKH KF, Akten 2235: Krankenprotokoll vom 4.3.1904. 51 HistA BKH KF, Akten 9255: Krankenprotokoll vom 22.5.1935. 52 Der Teufel aus psychiatrischer Sicht siehe M ICHAEL H. S TONE , Evil in Historical Perspective: At the Intersection of Religion and Psychiatry, in: P ETER J. V ERHAGEN u. a. (Hg.), Religion and Psychiatry: Beyond Boundaries (World Psychiatric Association. Religion, Spirituality and Psychiatry Section), Oxford-New York 2010, S. 13-38. Zum Teufelsglauben in der Gegenwart siehe U TE L EIMGRUBER , Kein Abschied vom Teufel. Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Rede vom Teufel im Volk Gottes (Werkstatt Theologie 2), Darmstadt 2003. Der Teufel aus kulturgeschichtlicher Sicht siehe V ILÉM F LUSSER , Die Geschichte des Teufels, 2. Aufl. Göttingen 1996; G USTAV R OSKOFF , Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert, Köln 2003; A NNA M ARIA C RI - SPINO / F ABIO G IOVANNINI / M ARCO Z ATTERIN , Das Buch vom Teufel. Geschichte, Kult, Erscheinungsformen, aus dem Italienischen übers. von W ERNER R AITH , Bindlach 1991. 53 HistA BKH KF, Akten 282: Krankenprotokoll vom 2.8.1858. Die schwarze Katze ist eine typische Assoziation mit dem Teufel. Siehe hierzu A LFONSO M. D I N OLA , Der Teufel. Wesen, Wirkung, Geschichte, aus dem Italienischen übers. von D AGMAR T ÜRCK -W AGNER , München 1993, S. 384. <?page no="302"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 302 seinem Zahne in den Krallen auf die betreffende Person zugegangen, 54 in einem feurigen Wagen gesehen worden 55 oder in Gestalt wilder Tiere [der betreffenden Person] entgegengeritten. 56 Im Krankenbericht von Gerhard S. aus Niederstaufen bei Lindau findet sich 1895 der Eintrag, dass er wiederholt den Teufel auf einem Wagen gesehen habe und glaube, dass sein Körper langsam auf diesem verbrennen müsse. Wenn der Teufel es einmal nicht geschafft habe, Gerhard S. auf den Wagen zu ziehen, habe er ihm glühende Funken auf seinen Körper geworfen. Die dadurch hervorgerufenen Verbrennungen hätten einen abscheulichen Gestank verursacht. 57 Andere berichteten vom schwarzen Teufel, 58 von roten Teufeln, 59 Teufeln mit roten Zipfelmützen 60 oder davon, den Teufel mit einem schwarzen Körper und ein paar lange[n] Füße[n] gesehen zu haben. 61 Der Höllenfürst erschien auch in der Weise, dass er in feuriger Gestalt beispielsweise seinen Kopf zur Türe hereingestreckt habe. 62 Wie in der christlichen Ikonografie wurde der Teufel oftmals als Mischwesen mit verschiedenen Attributen wahrgenommen. So berichtete der Patient Josef E. 1921, der Teufel habe Hörner gehabt und einen Bocksfuß, er stank nach Schwefel und hat ganz schwarz ausgeschaut, recht grausam. 63 Das Beispiel der Patientin Maria K. von 1914 zeigt auch, wie sich im Erleben traditionelle Teufelsvorstellungen mit technischen Innovationen verwoben. Sie erklärte, dass an Weihnachten der Teufel mit dem Automobil vorgefahren sei und ihre Angehörigen in die Hölle abgeholt habe. 64 54 HistA BKH KF, Akten 1172: Krankenprotokoll vom 1.5.1869. 55 HistA BKH KF, Akten 2181: Ärztliches Zeugnis der Gemeinde Niederstaufen vom 26.3.1895. 56 HistA BKH KF, Akten 2554: Krankenprotokoll vom 24.3.1902. 57 HistA BKH KF, Akten 2181: Krankenprotokoll vom 26.3.1895. Bei jenen Krankengeschichten, in denen von ›Gestank‹ oder von ›üblen Gerüchen‹ die Rede ist und bei denen es sich tatsächlich um Halluzinationen handelt, würde man aus heutiger Perspektive von Geruchshalluzinationen sprechen. Bei Teufelsvorstellungen ist diese Beurteilung jedoch schwierig, weil Satan ikonografisch meist mit Feuer und Schwefelgestank erschien. 58 HistA BKH KF, Akten 2562: Krankenprotokoll vom 12.10.1902. 59 HistA BKH KF, Akten 5389: Krankenprotokoll vom 23.12.1913. 60 HistA BKH KF, Akten 4885: Krankenprotokoll vom 14.7.1914. 61 HistA BKH KF, Akten 5003: Krankenprotokoll vom 1.4.1913. Zu der Frage, warum rot und schwarz häufig als Dämonenfarben verwendet wurden siehe I SABEL G RÜBEL , Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation, München 1991, S. 124f. 62 HistA BKH KF, Akten 3689: Krankenprotokoll vom 21.3.1910. 63 HistA BKH KF, Akten 2896: Krankenprotokoll vom 22.3.1921. Der Teufel wird traditionellerweise mit Hörnern dargestellt. Siehe hierzu ausführlich A. M. D I N OLA , Der Teufel (Anm. 53), S. 386; P ETER -A NDRÉ A LT , Ästhetik des Bösen, München 2010, S. 78. 64 HistA BKH KF, Akten 4740: Krankenprotokoll vom 11.4.1914. <?page no="303"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 303 Einige Patientinnen und Patienten glaubten, eine direkte Beeinflussung des eigenen Körpers durch die Macht des Teufels zu bemerken: Sie fühlten sich physisch bzw. im Körperinneren von einem gewalttätigen Höllenfürsten verfolgt, geschlagen, 65 drangsaliert 66 und geplagt. 67 Die Patientin Maria D. aus Osterbuch berichtete 1865 beispielsweise davon, dass der Teufel […] in ihr sei. Er treibe sie hin und her, sie habe ihn hineingefressen. Jetzt plage er sie so sehr, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehe, als sich zu erhängen. 68 Andere Betroffene glaubten, man habe den Teufel in die Brust gebannt, 69 sperre den Teufel in [den] Leib hinein. 70 Teilweise wurde von dem Gefühl berichtet, dass beispielsweise 20 Teufel am Leib 71 oder gar eine Million Teufel im Körper wären. 72 In der Wahrnehmung der Patientinnen und Patienten sitze der Teufel im Unterleib und rufe heraus. 73 In diesem Kontext notierte der behandelnde Arzt von Karl R. aus Augsburg mit evangelischem Hintergrund, er dürfe den Mund nicht aufmachen, da sonst der Teufel hineinfliege. 74 Oftmals spreche der Teufel auch durch eine Person, 75 schreie aus ihr heraus 76 oder sitzt […] auf der Zunge, weshalb auch Schwefel […] im Munde zu schmecken sei, so eine Patientin 1932. 77 Johann H. aus Kempten berichtete dem behandelnden Arzt 1938, dass er nachts Teufel und Kobolde [sehe], die sein Glied angreifen. 78 In einigen Fällen wurde auch davon berichtet, dass man selbst der Teufel [sei], die Hörner lägen im Garten draußen. 79 Auf die Frage des behandelnden Arztes, ob der Patient Xaver G. tatsächlich an die Leiblichkeit des Teufels glaube und es für möglich halte, daß dieser in solcher Gestalt in seinem Körper sich aufzuhalten vermöge, antwortete er, daß ihm die Unmöglichkeit dessen sein Pfarrer selbst schon vorgestellt [habe und] daß er auch glaube, es sei solches bei den übrigen Menschen nicht leicht oder wohl unmöglich, bei ihm aber leider in Wirklichkeit bestehe. 80 65 HistA BKH KF, Akten 562: Krankenprotokoll vom 23.4.1885. 66 HistA BKH KF, Akten 2562: Bezirksärztliches Gutachten vom 6.10.1902. 67 HistA BKH KF, Akten 2571: Fragebogen zur ärztlichen Untersuchung des Gemühts- und Geisteszustandes der Gemeinde Daxberg, ohne Datum. 68 HistA BKH KF, Akten 93: Krankenprotokoll vom 2.7.1887 Gutachten Wertingen. 69 HistA BKH KF, Akten 1684: Krankenprotokoll vom 1.3.1894. 70 HistA BKH KF, Akten 1684: Krankenprotokoll vom 5.2.1906; dazu auch HistA BKH KF, Akten 9680: Krankenprotokoll vom 2.11.1926. 71 HistA BKH KF, Akten 2296: Krankenprotokoll vom 15.5.1901. 72 HistA BKH KF, Akten 6474: Krankenprotokoll vom 20.6.1921. 73 HistA BKH KF, Akten 2236: Krankenprotokoll vom 3.5.1870. 74 HistA BKH KF, Akten 8496: Krankenprotokoll vom 18.10.1931. 75 HistA BKH KF, Akten 2474: Krankenprotokoll vom 12.7.1900. 76 HistA BKH KF, Akten 8849: Krankenprotokoll vom 7.12.1932. 77 HistA BKH KF, Akten 8329: Krankenprotokoll vom 21.2.1932. 78 HistA BKH KF, Akten 8128: Krankenprotokoll vom 28.9.1938. 79 HistA BKH KF, Akten 10308: Krankenprotokoll vom 12.4.1927. 80 HistA BKH KF, Akten 1445: Gerichtsärztliches Gutachten von Dr. Höger, Neuburg/ D. vom 25.7.1870. <?page no="304"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 304 Die Erzählungen vom Teufel gingen oft mit der Vorstellung ewiger Strafen in der Hölle einher. Die Betroffenen fürchteten sich vor endlosen Qualen, dem Jüngsten Gericht und dem Fegefeuer. Die Bilder von der Hölle ähneln der christlichen Ikonografie, wie sie seit dem Mittelalter tradiert wurden. Die Hölle galt als Gegenort zum Himmel 81 und sollte eine Mahnung für diejenigen sein, die sich von Gott abwenden. 82 Für die Patientinnen und Patienten entsprach die Hölle einem dunklen, heißen und feurigen Ort, wo der Teufel und andere böse Mächte wohnen. 83 Hinter den zahlreichen, meist nicht näher ausgeführten Höllenvisionen steckte die Vorstellung einer begangenen Sünde, die nach dem Tod gesühnt werden müsse. Ein Arztbericht von 1892 beinhaltet beispielsweise die Äußerung von Anna Maria K. aus Kaufbeuren, die darüber klagte, in die Hölle zu kommen, weil sie keine reine Jungfrau mehr sei. 84 Sie vernehme Stimmen aus ihrem Körper, die ihr zuriefen, dass sie sich dem Teufel verschrieben habe und sie deshalb in die Hölle komme. 85 In der Vorstellung von Karl F. aus Westendorf hatte die Hölle die Funktion, Menschen durch das höllische Feuer von ihren Sünden zu reinigen. 86 Häufig vermuteten die Patientinnen und Patienten, dass der Teufel sie bereits in die Unterwelt gebracht habe. Dem Krankenbericht von 1896 zufolge fürchtete die Patientin Marie K. aus Mindelheim, dass der Teufel schon an der Thüre stehe und auf sie warte. Satan führe sie in ein finsteres Loch, in den Wald hinaus, in das Feuer. 87 Oftmals wurde von den Patientinnen und Patienten die Angst geäußert, dass sie der Höllenfürst auf eine hinterlistige Art holen und in die Hölle bringen werde. Dort würden die schlimmsten Qualen auf sie warten, die sie schon im diesseitigen Leben fürchten müssten. Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung religiöser Inhalte thematisierten die Patientinnen und Patienten sehr häufig, sich schuldig zu fühlen oder sich versündigt zu haben. Hinter diesen Äußerungen steht allgemein die Vorstellung, gegen eine 81 Siehe hierzu ausführlich H ARTMUT B ÖHME , Himmel und Hölle als Gefühlsräume, in: C LAUDIA B ENTHIEN / A NNE F LEIG / I NGRID K ASTEN (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u. a. 2000, S. 60-81; A. M. C RISPINO / F. G IOVANNINI / M. Z ATTERIN , Das Buch vom Teufel (Anm. 52), S. 16; P. A. A LT , Ästhetik des Bösen (Anm. 63), S. 245. 82 Zur didaktischen Funktion der Hölle siehe I. G RÜBEL , Die Hierarchie der Teufel (Anm. 61), S. 74. 83 HistA BKH KF, Akten 1643: Krankenprotokoll vom 20.2.1891. Zum klassischen Bild von der Hölle siehe A. M. D I N OLA , Der Teufel (Anm. 53), S. 391f. 84 HistA BKH KF, Akten 1219: Krankenprotokoll vom 23.5.1892. 85 HistA BKH KF, Akten 1219: Krankenprotokoll vom 23.5.1892. 86 HistA BKH KF, Akten 1087: Gutachten Wertingen vom 8.7.1869. Zur reinigenden Kraft des Feuers siehe P. A. A LT , Ästhetik des Bösen (Anm. 63), S. 241. 87 HistA BKH KF, Akten 33: Krankenprotokoll vom 3.1.1896. <?page no="305"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 305 religiöse Norm zu verstoßen, die man für sich anerkannt hatte. 88 Durch ihre begangene Sünde glaubten viele Betroffenen, der Gnade Gottes verlustig geworden zu sein, wie es in einer Krankenakte von 1895 heißt. 89 Oftmals wurde von der Furcht gesprochen, die Sakramente nicht ordnungsgemäß empfangen oder die Sünden nicht gebeichtet zu haben. Am schlimmsten war für einen Gläubigen wohl die Vorstellung, sich direkt an Gott oder den Heiligen versündigt zu haben. So glaubte beispielsweise Johann S. aus Asch nicht nur, dass er unwürdig kommuniziert habe, sondern auch, dass er die Muttergottes vom Himmel gestürzt [und] den Herrgott gekreuzigt habe. 90 Außerdem habe er Gott mit allen Heiligen aus dem Himmel geworfen. 91 Es gäbe gar keine Strafe, die hart genug für ihn sei, daß er seine Verbrechen büßen könne. 92 Auch andere Patientinnen und Patienten bezichtigten sich selbst beispielsweise, das Christentum ausgerottet [und] alle guten Christenseelen gemordet 93 oder sich gegen den heiligen Geist versündigt zu haben. 94 Darüber hinaus lassen sich Selbstanklagen dahingehend finden, sich mit unserem Heiland geschlechtlich vergangen zu haben 95 oder die Hostie profaniert [und damit] den Herrgott geschändet [zu] habe[n]. 96 Die wahrgenommene persönliche Verfehlung stand in engem Zusammenhang mit jenseitigen Straffantasien, wie man sie sich in der Hölle vorstellte: Als Sühne für das gewähnte Fehlverhalten und die schweren Sünden hatten viele Patientinnen und Patienten Vorstellungen, lebendig verbrannt, an das Kreuz genagelt [und den] wilden Thieren vorgeworfen zu werden. 97 Auch die Patientin Anna M. aus Obergünzburg bezeichnete sich als öffentl[iche] Sünderin. Sie forderte, dass sie getötet werden müsse, denn sie habe es verdient. [M]an solle mit ihr fertig machen, sie verschneiden, sie wolle nicht mehr leben, sagt, sie komme in die Hölle, möchte in der Zelle ihre Sünden ableisten, will gepeinigt, gemartert werden. 98 Andere Betroffene forderten ein, als Strafe gegeißelt 88 C HRISTINA VON B RAUN , Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich-München 2001, S. 521-550. Zur Sünde allgemein siehe z. B. C HRISTIAN B ERKEN - KOPF , Sünde als ethisches Dispositiv. Über die biblische Grundlegung des Sündenbegriffs, Paderborn 2013. 89 HistA BKH KF, Akten 33: Krankenprotokoll vom 27.4.1895. 90 HistA BKH KF, Akten 934: Krankenprotokoll vom 4.6.1889. 91 HistA BKH KF, Akten 934: Krankenprotokoll vom 28.6.1889. 92 HistA BKH KF, Akten 934: Krankenprotokoll vom 28.6.1889. 93 HistA BKH KF, Akten 4830: Krankenprotokoll vom 27.12.1901. 94 HistA BKH KF, Akten 10046: Krankenprotokoll vom 10.4.1909. 95 HistA BKH KF, Akten 3280: Fragebogen zur ärztlichen Untersuchung des Gemühts- und Geisteszustandes der Gemeinde Ottobeuren vom 26.8.1906. 96 HistA BKH KF, Akten 4307: Krankenprotokoll vom 22.8.1930. 97 HistA BKH KF, Akten 2350: Krankenprotokoll vom 29.7.1898. 98 HistA BKH KF, Akten 2867: Krankenprotokoll vom 28.10.1904. <?page no="306"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 306 zu werden, 99 oder befürchteten, aufgrund der begangenen Sünden lebendig begraben zu werden. 100 5. Der kulturgeschichtliche Hintergrund von religiösen Wahnthemen Die Frage, warum gerade religiöse Inhalte im Denken und Wahrnehmen der Betroffenen vorkommen, lässt sich nicht einfach beantworten. Horst Lederer geht davon aus, dass Religion »vorgefertigte Bilder an[bietet], an denen sich das individuelle Phantasma orientieren kann«. 101 Vielleicht hielt die reiche Bildlichkeit vor allem im katholischen Glauben nur das entsprechende Material für die Vorstellung bereit, um die Komplexität der erlebten Welt begreifbar zu machen, wenn die säkularen Erklärungsmodelle nicht ausreichten. Möglicherweise handelte es sich bei den religiösen Bildern also mehr um Metaphern, um eine Übersetzung als Hilfe zur Gedankenexploration, um ein Sprachrohr zur Erklärung des Unerklärlichen - kurz: um eine anerkannte Fiktion. Ronald Mundhenk weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Verbindung der aktuellen Erfahrungen des Subjekts zu den erzählten religiösen Orten gesehen werden könne: »Insbesondere die Kombination aus inneren Nöten und einer widrigen äußeren Umgebung legt das Bild der Hölle als einer schon hier gegebenen Wirklichkeit nahe.« 102 Daher sei zu hinterfragen, ob das Bild der Hölle beispielsweise lediglich als ›Chiffrierung‹ gebraucht werde oder ob der Betroffene tatsächlich auf die von ihm erlebte Realität der Hölle anspiele. 103 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie diese Erzählungen im Verhältnis zu jenen in der religiösen Gruppe und der Kultur insgesamt stehen. Im 19. Jahrhundert war der Glaube der meisten Menschen stark von religiösen Traditionen und der lebensweltlichen Frömmigkeit geprägt. Das Beten des Vaterunsers für die Armen Seelen, Kranken und verstorbenen Familienangehörigen war dabei genauso Teil der täglichen religiösen Praktik wie Gebete zum gekreuzigten Heiland, das Abendgebet, das Freitagsgebet oder der Rosenkranz. Viele Katholiken führten den Rosenkranz außer Haus zum Schutz von Leib und Seele mit und verehrten Heiligenbilder in Wallfahrtsstätten. Torsten Gebhard zufolge beteten die Menschen im 99 HistA BKH KF, Akten 4118: Krankenprotokoll vom 12.3.1908. 100 HistA BKH KF, Akten 4117: Krankenprotokoll vom 5.10.1909. Zur Ausgestaltung religiöser Wahnthemen in den historischen Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee siehe ausführlich M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 229-284. 101 H ORST L EDERER , Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose, Köln 1986, S. 57. 102 R ONALD M UNDHENK , Sein wie Gott. Aspekte des Religiösen im schizophrenen Erleben und Denken, Neumünster 1999, S. 138. 103 R. M UNDHENK , Sein wie Gott (Anm. 102), S. 138. <?page no="307"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 307 Allgäu beispielsweise auch während des Melkens den »Rosenkranz und Gebete zu den Viehpatronen St. Mang und Wendelin«. 104 Vor allem die Menschen in bäuerlichen Berufen, die besonders von der Witterung und den Naturgewalten abhängig waren, vertrauten auf traditionelle Rituale und die überlieferten Erfahrungen. Neben diesen privaten Glaubenspraktiken ist gerade das 19. Jahrhundert von einer antimodernistischen Erweckungsbewegung sowie von den großen religiösen Erneuerungen, Erscheinungen und Visionen geprägt. Die gesteigerte Volksfrömmigkeit führte sowohl bei der katholischen als auch bei der protestantischen Konfession im außerkirchlichen Bereich zu einem enormen Aufschwung kirchlicher Gebräuche und religiöser Feste. Offensichtlich werden diese zunehmenden religiösen Betätigungen im spektakulären Aufschwung der Marienverehrung und dem Wallfahrtswesen im katholischen Bereich, der bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet werden kann. Trost oder Heilung bzw. Besserung bei Krankheiten erhofften sich die Gläubigen auch durch die christliche Pilgerreise zu einer Kultstätte oder eine Flur- oder Bittprozession. Damit sollte Buße getan sowie Dank oder ein bestimmtes Anliegen zum Ausdruck gebracht werden. Von der Anziehungskraft des Wallfahrens waren Katholiken auf dem Land genauso betroffen wie Menschen in der Stadt, so Werner Troßbach und Clemens Zimmermann. 105 Das religiöse Leben des 19. und in großen Teilen des 20. Jahrhunderts ist nicht nur vom Wallfahrtswesen gekennzeichnet, sondern auch von spektakulären Erfahrungen mit Erscheinungen, Stigmatisierungen, religiösen Visionen und anderen Offenbarungen. Als bayerische Beispiele sind die fünf Frauen mit ekstatischen Zuständen in vier oberbayerischen Pfarrgemeinden zu nennen, wie sie Bernhard Gißibl untersuchte, 106 oder die Seherin Louise Beck aus Altötting, der Otto Weiß in seiner Studie nachforschte. 107 Die aufkommende Volksfrömmigkeit, insbesondere die Marienverehrung seien David Blackbourn zufolge durch Kriege, die politischen Krisen aufgrund der deutschen Nationalstaatsgründung und durch Seuchen wie Pocken 104 T ORSTEN G EBHARD , Landleben in Bayern in der guten alten Zeit. Altbayern, Franken, Schwaben, München 1986, S. 90. 105 W ERNER T ROSSBACH / C LEMENS Z IMMERMANN , Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 182. 106 B ERNHARD G ISSIBL , Frömmigkeit, Hysterie und Schwärmerei. Wunderbare Erscheinungen im bayerischen Vormärz (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte 23), Frankfurt a. M. 2004; D ERS ., Zeichen der Zeit? Wunderheilungen, Visionen und ekstatische Frömmigkeit im bayerischen Vormärz, in: N ILS F REYTAG / D IETHARD S AWICKI (Hg.), Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München 2006, S. 83-114. 107 O TTO W EISS , Die Macht der Seherin von Altötting. Geisterglaube im Katholizismus des 19. Jahrhunderts, Kevelaer 2015; D ERS ., Seherinnen und Stigmatisierte, in: I RMTRAUD G ÖTZ VON O LENHUSEN (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1995, S. 51-82. <?page no="308"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 308 oder Cholera zu erklären: »Der Glaube an die Macht der Fürbitte Marias gab den einzelnen Hoffnung und nährte zudem das kollektive Vertrauen in die Erscheinungen«. 108 6. ›Wahn‹ und ›Wirklichkeit‹ - Das wichtigste psychologische Urteil Neben den spezifischen Themen der religiösen Wahnbilder geben die Erzählungen über Religiöses in historischen Krankenakten auch einen Hinweis auf die Beurteilung von religiösem Denken und Wahrnehmen durch den behandelnden Arzt. Wie anderes Erleben und Wahrnehmen war für die Ärzte das religiöse Denken und Wahrnehmen ein wichtiger Anhaltspunkt für die Suche nach Symptomen zur Feststellung einer psychiatrischen Erkrankung. Der Blick auf die historische Definition von religiösen Wahnthemen durch Ärzte zeigt, dass die Fachelite äußerst negativ gegen traditionelle Glaubenspraktiken eingestellt war. 109 Religiöse Institutionen und Praktiken, Aberglaube und Wundererscheinungen waren ein gesellschaftliches Phänomen, über das Psychiater ab Mitte des 19. Jahrhunderts urteilten. Auf diese Weise nahmen, Peter Schmiedebach zufolge, »nicht wenige Psychiater für sich ein Wirken in Anspruch, das weit über die Aufgaben und das Selbstverständnis eines Irrenarztes im engen Sinne hinausreichte«. 110 Bei der Frage nach der Deutung kultureller und gesellschaftlicher Phänomene durch die Psychiatrie nimmt die Diskussion um den ›religiösen Wahn‹ eine besondere Position ein. So schreibt Johannes Bresler in ›Religionshygiene‹ von 1907, dass die Psychiatrie zwar auf der einen Seite die Religion als etwas Gegebenes anerkenne. Auf der anderen Seite beanspruche die Psychiatrie 108 D AVID B LACKBOURN , Marpingen. Das deutsche Lourdes in der Bismarckzeit (Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken 6), verb. u. erw. Neuaufl. Saarbrücken 2007, S. 54. Dazu ausführlich M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 376-390. 109 Dazu ausführlich das Kapitel zur Kultur- und Religionskritik der Psychiatrie in der vorliegenden Studie. 110 H EINZ -P ETER S CHMIEDEBACH , Entgrenzungsphänomene des Wahnsinns - Einleitung, in: D ERS . (Hg.), Entgrenzungen des Wahnsinns. Psychopathie und Psychopathologisierungen um 1900 (Schriften des Historischen Kollegs 93), Berlin-Boston 2016, S. 1-28, hier 11. Dazu auch P AUL H OFF , Leib & Seele - Gehirn & Geist - Gesundheit & Krankheit: Die Psychiatrie als Schnittstelle medizinischer, philosophischer und gesellschaftlicher Kontroversen, in: F RIEDRICH H ERMANNI / T HOMAS B UCHHEIM (Hg.), Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, München 2006, S. 39-67; M ARIETTA M EIER u. a., Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich 1870-1970, Zürich 2007, S. 30. <?page no="309"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 309 die Position, religiöse Praktiken zu prüfen bzw. zu korrigieren. Damit sei die Psychiatrie maßgebend für die Entscheidung, ob die Art, wie Religion gelehrt und gepflegt wird, den Anforderungen der Gesundheit, besonders der seelischen entspricht, so Bresler weiter. 111 Das auffallend häufige Auftreten religiöser Wahnthemen in den Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee macht deutlich, dass so ziemlich jedes religiöse Erleben, Denken und Wahrnehmen von den Ärzten aufgeschrieben und als Merkmal einer psychischen Erkrankung definiert wurde. Aus der Sicht der behandelnden Ärzte standen die Aussagen der Patientinnen und Patienten im offensichtlichen Widerspruch zu allgemein anerkannten Glaubensäußerungen. Die Kritik an den Konfessionen, den religiösen Glaubenspraktiken und Deutungen, die sich im Konzept des ›religiösen Wahns‹ spiegeln, war letztlich für die Etablierung und Professionalisierung der Disziplin Psychiatrie von enormer Bedeutung. Die Theorie des ›religiösen Wahns‹ wurde in den Kliniken und Anstalten institutionell verankert und zu einem wichtigen handlungsleitenden Moment bei der Beschreibung psychopathologischer Symptome. Im Folgenden sollen ausgewählte theoretische Texte zum Thema ›religiöser Wahn‹ analysiert werden, um einen Anhaltspunkt dafür zu bekommen, auf welcher Grundlage die Psychiater in den Anstalten religiöse Narrative zum Symptom für eine psychische Erkrankung erklärten. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurde in der psychiatrischen Forschung intensiv darüber diskutiert, in welcher Weise Religion Einfluss auf Geisteskrankheiten, insbesondere auf den ›Wahn‹ nehme. Viele Psychiater und andere Theoretiker gaben den Konfessionen sogar die Schuld für die Entstehung des Wahnsinns und fragten, wie man die Bevölkerung davor schützen könne. Der französische Psychiater Philippe Pinel (1745-1826) war beispielsweise fest davon überzeugt, dass die Religion die Menschen insgesamt negativ beeinflusse, daher seien auch religionsbezogene Krankheiten schwer zu behandeln. Sein Vorschlag war es, die betroffenen Personen von anderen Erkrankten zu trennen und alle religiösen Gegenstände aus ihrer Umgebung zu entfernen. In ähnlicher Weise nahm der englische Arzt George Man Burrows an, dass Religion, welche den inneren Menschen […] influcirt, eine Ursache des Wahnsinns seyn könne. 112 Gleichzeitig wies er darauf hin, dass Schwärmerei und Wahnsinn […] so nahe mit einander verwandt [sind], daß die Abstufungen beider zu unbestimmt sind, um die eine und den andern genau abzugränzen. 113 111 J OH [ ANNES ] B RESLER , Religionshygiene, Halle a. d. S. 1907, S. 30. 112 G EORGE M AN B URROWS , Commentare über die Ursachen, Gestaltungen, Symptome und moralische wie medicinische Behandlung des Wahnsinns (Klinische Hand-Bibliothek. Eine auserlesene Sammlung der besten neuen klinisch-medicinischen Schriften des Auslandes 4), aus dem Englischen übers., Weimar 1831, S. 31. 113 G. M. B URROWS , Commentare über die Ursachen (Anm. 113), S. 41. Siehe dazu allgemein M AREK K RZYSTANEK u. a., Religious content of hallucinations in paranoid schizophrenia, in: Psychiatria Danubina 24 (2012), S. 65-69, hier 65. <?page no="310"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 310 Auch Psychiater im deutschsprachigen Raum nahmen Stellung zum negativen Einfluss, den die Beschäftigung mit religiösen Inhalten für das Individuum haben könne. Sie gingen der Frage nach, ob Religion per se psychisch krank mache oder lediglich bestimmte religiöse Praktiken: Gustav Blumröder 114 vermutete in seinem Postulat von 1837 den Ursprung psychischer Erkrankungen entweder primär im Hirn oder sah sie von Büchern oder Religionslehren veranlaßt. [D]urch einseitige Denkrichtung, Denkverwirrung, Phantasieaufregung, Einschüchterung [oder] religiösen Terrorismus könnten Geisteskrankheiten entstehen. 115 Seiner Meinung nach würde gerade die starke Bildlichkeit in Wort und Schrift von Religion die Fantasie zu stark befeuern. Gerade die Versinnlichung, also die sinnliche Erfahrbarmachung religiöser Glaubensinhalte, führe zu Religionsfanatismus, so Blumröder. 116 Dabei gehe die Gefahr nicht unbedingt von den Predigten auf der Kanzel aus, sondern hauptsächlich von privaten Gesprächen im Zusammentreffen von Geistlichen und Gläubigen zu Hause oder im Beichtstuhl. 117 Außerdem würden sexuelle Regungen, die durch die kirchliche Auslegung als Wirkungen des Satans, als Sünde definiert seien, die Menschen erschrecken und betrüben. 118 Friedrich Wilhelm Hagen unterschied Mitte der 1850er-Jahre im Zusammenhang mit der Gefahr, die von religiösen Praktiken ausgehe, zwischen einer moderaten und einer traditionellen Glaubensauslegung. Ihm zufolge werde zwar in Fachkreisen angenommen, dass Religiosität an und für sich [nicht] zu Geisteskrankheiten führe. 119 Zu wahnhaften Visionen, wie sie im ›religiösen Wahn‹ sichtbar würden, verleite jedoch insbesondere eine ausgeartete, knechtische, mystische, abergläubische Religionsdeutung. Diese Art der Glaubensauslegung kenne man aus dem Mittelalter und unsre modernen Reactionsmänner in der Theologie [möchten] sie gerne wieder herstellen. 120 Daher sei es Hagen zufolge wichtig, mehr über den religiösen Hintergrund der betreffenden Person 114 Zu Gustav Blumröder siehe U DO B ENZENHÖFER , Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hürtgenwald 1993, S. 157-170. Zum politischen Hintergrund von Gustav Blumröder siehe M ARITA K RAUSS , Herrschaftspraxis in Bayern und Preußen im 19. Jahrhundert (Historische Studien 21), Frankfurt a. M.-New York 1997, S. 245-247. 115 G USTAV B LUMRÖDER , Ueber religiösen Trübsinn, in: J. B. F RIEDREICH / G USTAV B LUM - RÖDER (Hg.), Blätter für Psychiatrie 1 (1837), S.14-26, hier 16. 116 G. B LUMRÖDER , Ueber religiösen Trübsinn (Anm. 115), S. 16. 117 G. B LUMRÖDER , Ueber religiösen Trübsinn (Anm. 115), S. 16. Zur ›Beichte als Ausgangspunkt einer individuellen Krise‹ siehe E DITH S AUER , Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung. Kommentare zur religiösen Melancholiediskussion, in: R ICHARD VAN D ÜLMEN (Hg.), Dynamik der Tradition (Studien zur historischen Kulturforschung 4), Frankfurt a. M. 1992, S. 213- 239, hier 232. 118 G. B LUMRÖDER , Ueber religiösen Trübsinn (Anm. 115), S. 16. 119 F. W. H AGEN , Aerztlicher Bericht (Anm. 32), S. 32. 120 F RIEDRICH W ILHELM H AGEN , Die Sinnestäuschungen in Bezug auf Psychologie, Heilkunde und Rechtspflege, Leipzig 1837, S. 144. <?page no="311"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 311 mit ›religiösem Wahn‹ zu erfahren, bevor dieser diagnostiziert werde. Es sei insbesondere in Erfahrung zu bringen, ob schon vor der Erkrankung eine Neigung zum Aberglauben und zum Lesen religiöser Gedichte bestanden habe. 121 Grundsätzlich vertrat Hagen eine ähnliche Position wie Blumröder: Seiner Ansicht nach seien religiöse Wahnwelten auf Illustrationen in sakralen Büchern und althergebrachten dogmatischen Religionslehren zurückzuführen. Gerade materialisierte Darstellungen von himmlischen Visionen, wie von Gott im Himmel, thronend mit Krone und Zepter in der Hand und von einer Schar Engel umgeben, würden die menschliche Fantasie stark anregen. Sie seien Quelle von Sinnestäuschungen und führten letztlich zu Selbstkreuzigungen und Suiziden. 122 In den Traktaten werde die Seele abgemalt, so Hagen, wie sie zu ihrem himmlischen Bräutigam hinauffliegt, und der Teufel aus der Hölle grinzend nachschaut. 123 Ferner wies er darauf hin, dass in vielen Kirchen noch die Ikonografie des Mittelalters zu sehen sei. Dort sehe man auf den Gemälden und Sculpturen daher die Heiligen, die Leiden Christi, die heilige Jungfrau, den Teufel, das Fegefeuer und die Hölle. 124 Es liege nahe, dass - angeregt von den bildlichen Darstellungen - auch die Phantasie mit fast lauter religiösen Gegenständen angefüllt wurde. 125 Deshalb müsse der dogmatischen Religionsauslegung vorgebeugt werden. Der Fanatismus sei allgemein zu bekämpfen und die Religion müsse von Schwärmerei, Mystik und Pietismus befreit werden, so Hagen weiter. 126 In der Psychopathologie stand insbesondere die Frage im Raum, aufgrund welcher medialen Basis religiöse Themen zu Inhalten wahnhaften Denkens und Wahrnehmens werden konnten. Wilhelm Griesinger (1817-1868) widmete sich in seinem Lehrbuch von 1845 insbesondere der religiösen Ausgestaltung von Halluzinationen. Die Betroffenen hörten Stimmen vom Himmel, bald Menschenopfer heischend, bald messianische Sendungen dem armen Wahnsinnigen verkündend. 127 Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phantasie und der höchste Inhalt des menschlichen Gemüths findet am liebsten in selbsterzeugten Bildern seine Bestätigung. 128 Seiner Meinung nach sei der konkrete Inhalt des religiösen Denkens und Wahrnehmens zum einen vom Bildungshintergrund der Patientinnen und Patienten abhängig. Zum anderen spiegele er den Zeitgeist wider: In früheren Zeiten hätten die Menschen vermehrt über die Engelsdichtungen von Lord Byron oder über die ›Apokalypse‹ und die ›Urania‹ von Christoph 121 F. W. H AGEN , Aerztlicher Bericht (Anm. 32), S. 32. 122 F. W. H AGEN , Die Sinnestäuschungen (Anm. 120), S. 143. 123 F. W. H AGEN , Die Sinnestäuschungen (Anm. 120), S. 144. 124 F. W. H AGEN , Die Sinnestäuschungen (Anm. 120), S. 225. 125 F. W. H AGEN , Die Sinnestäuschungen (Anm. 120), S. 225. 126 F. W. H AGEN , Die Sinnestäuschungen (Anm. 120), S. 343. 127 W ILHELM G RIESINGER , Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende, Stuttgart 1845, S. 80. 128 W. G RIESINGER , Pathologie und Therapie (Anm. 127), S. 79f. <?page no="312"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 312 August Tiedge gesprochen. Heute hörten die Betroffenen besonders häufig Stimmen vom Himmel und göttliche Botschaften, die Menschenopfer abverlangten. 129 Neben der religiösen Ausprägung von Halluzinationen sah Griesinger ein weiteres Problem darin, dass religiöse Halluzinationen von der ›Volksmasse‹ sowie von der Kirche und von der Politik nicht als solche erkannt würden. Im Gegenteil: Eine Person mit religiösen Halluzinationen gelte innerhalb der Bevölkerung als inspiriert oder würde von einem Erzbischoff und einem Polizeiminister für einen göttlichen Gesandten gehalten. 130 Diese Beispiele sollen den strikten kirchen- und religionskritischen Standpunkt der Psychiater Mitte des 19. Jahrhunderts nachzeichnen und die historische Kontroverse um die Deutungshoheit psychischer Erkrankungen und die theoretische Vormachtstellung verdeutlichen. 131 Die Legitimation der Psychiatrie als medizinische Profession gelang nur über die entschiedene Abgrenzung von allen theologischen Ausrichtungen der Psychiatrie. 132 Die glaubens- und kirchenkritische Haltung der Psychiatrie richtete sich auch an ein Massenpublikum: August von Solbrig (1809- 1872) erklärte in der ›Allgemeinen Zeitung‹ 1857, dass seiner Meinung nach ein ohnehin kranke[r] Ideenkreis durch Ekstase und Gefühlsschwärmerei intensiviert werde. Eine religiös schwärmerische Contemplation, so heißt es in den psychiatrischen Briefen, könnte neben anderen auslösenden Faktoren als leitende Devise über der Eingangspforte zum Wahnsinn [stehen], und wirkt Nahrung und Inhalt gebend in der vollentwickelten Seelenkrankheit fort und fort. 133 Ende des 19. Jahrhunderts wurde über das Thema ›religiöser Wahn‹ in der psychiatrischen Profession verstärkt diskutiert. Das Aufflammen dieser Debatte hänge Benjamin Kocherscheidt zufolge mit dem Aufkommen der Erweckungsbewegungen und der kritischen Positionierung der Anstaltspsychiater gegenüber der Religion 129 W. G RIESINGER , Pathologie und Therapie (Anm. 127), S. 79f. 130 W. G RIESINGER , Pathologie und Therapie (Anm. 127), S. 80. 131 »Das Konzept des religiösen Wahns verstand sich hier als Demaskierung und Bekämpfung der Erweckungsbewegungen«, so E. S AUER , Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung (Anm. 117), S. 222. Allgemein hierzu J ACOB A. VAN B ELZEN , Psychopathologie und Religion. Kulturpsychologische Notizen zu einem Totschlag im geisteskranken Zustand, in: U LRIKE P OPP -B AIER (Hg.), Religiöses Wissen und alltägliches Handeln - Assimilationen, Transformationen, Paradoxien (Empirische Theologie 2), Münster 1998, S. 123-148. 132 Zum Säkularisierungsprozess der Wissenschaften siehe allgemein L UTZ R APHAEL , Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22/ 2 (1996), S. 165-193, hier 165. 133 Allgemeine Zeitung vom 23.1.1858, »Psychiatrische Briefe«. <?page no="313"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 313 zusammen. 134 Die Kritik der Psychiater richtete sich in dieser Zeit mit Nachdruck gegen die katholische Kirche, weil sie trotz dogmatischer Vorgaben problematische Heiligenverehrungen durch das Volk toleriere. Da die Grenze zwischen religiösen Praktiken, Aberglauben und ›religiösem Wahn‹ verschwömme, solle den extremen Formen von Religiosität Einhalt geboten werden, so die Ansicht vieler Psychiater. Adolf Hoppe argumentierte in diesem Zusammenhang, dass [s]elbst die katholische Kirche, trotz ihres strengen dogmatischen Gefüges, […] doch aus Opportunismus manchen populären Brauch [duldet], ohne ihn direkt zu billigen oder anzuerkennen, und hat Platz für mehr als einen dem Volke liebgewordenen Heiligen, auch wenn sie ihn niemals selbst kanonisiert hat. 135 Auch im Protestantismus sah Hoppe in Besessenheit und Teufelsbeschwörungen solche Fragen, an denen sich Orthodoxie und liberale Theologie scheiden. 136 Denn [w]er an ein Reich persönlicher Teufel nicht mehr glaubt, muß notwendig den Exorzismus als wüsten Aberglauben betrachten, während sich die Altgläubigen hier immer auf die gewichtige Stimme der Bibel berufen können. 137 Aus diesem Grunde sei der Aberglaube für die Psychopathologie von großem Interesse, weil er als echter Mittelbegriff nicht nur Beziehungen zum Glauben, sondern auch zum Wahn und sogar zu den Zwangsvorstellungen aufweist, so Hoppe. 138 Neben der Kritik an den religiösen Praktiken wurde innerhalb der Psychopathologie versucht, weitere Antworten auf die Fragen zu finden, was ›religiöser Wahn‹ überhaupt sei und wie er von anderem Denken und Wahrnehmen abgegrenzt werden könne. 139 Nach Hoppe handele es sich beim ›Wahn‹ und beim ›Glauben‹ keineswegs um etwas ›Identisches‹, wohl aber um etwas ›Analoges‹. Die strukturelle Ähnlichkeit von ›Wahn‹ und ›Glauben‹ liege darin, dass beide im stillen empfangen [werden]; beide breiten sich aus im Kampfe gegen die Welt, unter Verfolgungen und Anfechtungen, um schließlich in dem Glücksgefühl des standhaft Gläubigen wie in den Größenideen des Kranken die 134 Siehe hierzu und zur Rolle der Geistlichen in den Kliniken und Anstalten B ENJAMIN K OCHERSCHEIDT , Deutsche Irrenärzte und Irrenseelsorger. Ein Betrag zur Geschichte und Psychiatrie und Anstaltsseelsorge im 19. Jahrhundert, Diss. Hamburg 2010, S. 25. 135 A DOLF H OPPE , Wahn und Glaube. Eine psychiatrische und religionsphilosophische Studie, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 51 (1919), S. 124-207, hier 151. 136 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 151. 137 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 151. »Besonders die Offenbarung Johannes, die ja auch unter Theologen die mannigfachste Auslegung erfährt und zu ihrem Verständnis viel Kultur- und römische Zeitgeschichte voraussetzt, hat von jeher sowohl Wahnvorstellungen Einzelner als bei den Sekten und religiösen Volkskrankheiten des Mittelalters und der Neuzeit eine grosse Rolle gespielt.« O TTO C RAEMER , Zur Psychopathologie der religiösen Wahnbildung, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 53 (1914), S. 275-301, hier 297. 138 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 151. 139 Dazu S TEPHANIE G RIPENTROG , Anormalität und Religion. Zur Entstehung der Psychologie im Kontext der europäischen Religionsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhundert (Diskurs Religion 12), Würzburg 2016, S. 91-96. <?page no="314"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 314 Welt zu überwinden. 140 So wie der echte religiöse Glaube […] keine Einwände der Wissenschaft dulde, so sei auch der ›Wahn‹ gegenüber aller Erfahrung, ja selbst gegenüber dem Augenschein und der einfachen, logischen Überlegung immun. 141 Sowohl für die ›Religion‹ als auch für den ›Wahn‹ gebe es kein Unmögliches. 142 Trotz allem habe man in der Psychopathologie aber kein objektives Maß, an dem wir die Berechtigung oder Krankhaftigkeit neuer religiöser Vorstellungen prüfen könnten, auch nicht in der Offenbarung, die, wie ohne weiteres einzusehen, doch nur die Gläubigen verpflichtet. Daher reiche der erste Blick oft nicht aus, um ›religiösen Wahn‹ von anderem Denken und Wahrnehmen unterscheiden zu können. 143 Ausgehend von der fehlenden Objektivierbarkeit pathologisch religiöser Vorstellungen wurde die weit verbreitete Praktik, ›religiösen Wahn‹ festzustellen, unter den Psychiatern ab den 1910er-Jahren kritisch hinterfragt. Angeregt von den phänomenologisch-hermeneutischen sowie den tiefenhermeneutischen Strömungen in der Psychiatrie stellte man infrage, ob ›religiöser Wahn‹ überhaupt eindeutig identifiziert werden könne. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern sich ›religiöser Wahn‹ von anderem Denken und Wahrnehmen abgrenzen lasse. Um die Äußerungen der Patientinnen und Patienten verstehen, erklären bzw. deuten zu können, wurde der Fokus verstärkt auf die Erfahrung durch die Außenwelt gelegt. Es gelte zu hinterfragen, inwiefern die Menschen im kulturellen Raum des Betroffenen ähnliche Ansichten pflegten. Dieser Gedanke sollte auf Überprüfung abzielen, ob das Denken und Wahrnehmen nur eine Privatmeinung oder Teil eines Kollektivs sei. Sven Hedenberg wies in diesem Zusammenhang 1927 auf die Schwierigkeit der Unterscheidbarkeit hin, weil bei religiösen Wahnvorstellungen nicht unbedingt eine Privatmeinung zum Ausdruck komme. Deshalb sei sie, rein auf ihren Inhalt bezogen, nicht von anderem Denken und Wahrnehmen zu unterscheiden: Wenn also eine religiöse Glaubensvorstellung als Wahnidee betrachtet werden soll, so muß man sich ja fragen, welche Wirklichkeit es denn ist, die in den Urteilen dieser Glaubensvorstellungen entstellt wird. Verhält es sich nicht eher so, daß Glaubensvorstellungen gerade in die Wirklichkeit eingehen, die dem Kulturniveau des Individuums entspricht, also in die Wirklichkeit, die entstellt werden soll. Das Pathologische der ›Wahnidee‹ liegt ja in den Urteilen. An dem Inhalt einer Vorstellung kann man ja oft nicht sehen, ob es sich um eine Wahnidee handelt oder nicht. 144 In ähnlicher Weise thematisierte Karl Jaspers (1883-1969) 1913, dass Wahnideen von anderem Denken und Wahrnehmen schwer zu trennen seien, weil die Ideen 140 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 125. 141 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 146. 142 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 146. 143 A. H OPPE , Wahn und Glaube (Anm. 135), S. 189. 144 S VEN H EDENBERG , Über die synthetisch-affektiven und schizophrenen Wahnideen, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 80 (1927), S. 665-751, hier 667. <?page no="315"?> R ELIGIÖS ER W AHN . Z UR D EU TU NG R ELIGIÖS ER P R AKTIK EN 315 eines Wahnkranken genauso wie die Ideen eines religiösen Fanatikers keiner Kritik zugänglich und damit nicht zu korrigieren seien. Auch Eugen Bleuler konstatierte, dass der Unterschied von Wahnideen zu unbeweisbaren Überzeugungen des Gesunden kein absoluter [ist]. 145 Daher dürfe man in der Psychopathologie nicht von Wahnideen reden, wenn ein frommer Mensch sich von religiösen Dingen eine eigene Ansicht schafft. 146 7. Fazit Anhand des Berichtes des Distriktsarztes Dr. Preitner und der Erzählungen von Patientinnen und Patienten aus der ländlich geprägten Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee wird das grundlegende Problem der Psychopathologie des 19. und weiter Teile des 20. Jahrhunderts besonders deutlich, nämlich ›Wahn‹ von ›Wirklichkeit‹ zu unterscheiden. Diese Differenzierung war bei religiösen Erzählungen besonders problematisch, weil die erlebten über- und unterirdischen Mächte auch Teil des kulturellen Zusammenhangs der betreffenden Person sein konnten. Die Ärzte mussten anhand der erzählten Lebensgewohnheiten und religiösen Auffassungen, die sich meist deutlich von ihrer eigenen Lebenswelt unterschieden, jedes Mal aufs Neue definieren, was sie unter ›Wahn‹ verstanden. Tief verwurzelte Religiosität konnte den Ärzten bisweilen als krankhaft erscheinen, während eine bis ins Irrationale gesteigerte Gottesverehrung von der Umgebung oder den lokalen Autoritäten als tief gläubig interpretiert wurde. An den Erzählungen über Religiöses wird also die Verwobenheit von persönlichem Denken und Wahrnehmen sowie individuellen Glaubensauffassungen, Praktiken und Überzeugungen deutlich. Zugleich spiegeln sich in den Darstellungen, die die Ärzte als ›religiösen Wahn‹ deuteten, auch allgemeine Praktiken der Volksfrömmigkeit wider. Glaubensformen, wie sie in einer extremen Ausprägung auch in den schwärmerischen Visionen, Erscheinungen, im Herz-Jesu- Kult und im Wallfahrtswesen des 19. Jahrhunderts auftraten, erklären in gewissem Maße das häufige Auftreten von religiösen Schilderungen, die Ärzte als wahnhaft einschätzten. Grundsätzlich wird durch die Fülle und Häufigkeit von erzählten religiösen Vorstellungen die enorme Bedeutung der christlichen Kultur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sichtbar. Dabei sind die religiösen Wahnbilder von einer beeindruckenden Stabilität ihres Inhalts geprägt. Heinrich Kranz beschreibt in seiner Studie von 1955, dass jedoch ein »Szenen- und Figurenwechsel« in den religiösen Wahnthemen in den 145 E UGEN B LEULER , Lehrbuch der Psychiatrie, hg. v. M ANFRED B LEULER , 13. Aufl. Berlin u. a. 1975, S. 49. 146 E. B LEULER , Lehrbuch der Psychiatrie (Anm. 145), S. 49. Zu den theoretischen Annäherungen von Wahn in der Psychopathologie siehe ausführlich M. C. M ÜLLER , Zwischen »Wahn« und »Wirklichkeit« (Anm. 1), S. 413-491. <?page no="316"?> M A RIA C HRIS TINA M ÜLL ER -H OR NUF 316 Krankenakten stattgefunden habe. 147 Diese Beobachtung lässt sich für das Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee nur bis zu einem gewissen Grad treffen. Zwar können in Nuancen Wandlungen der religiösen Vorstellungswelten dahingehend festgestellt werden, dass der Teufel beispielsweise nun mit dem Automobil herbeigefahren kam und nicht mehr mit einem brennenden Wagen. Wichtiger als diese Details scheint jedoch die Beobachtung, dass in vielen Erzählungen der Krankenakten offensichtlich wird, dass traditionelle Glaubensauffassungen, wie die Anerkennung der Macht des Teufels, vom 19. Jahrhundert bis in die 1930er-Jahre fester Bestandteil der Lebenswelt und des Wissenshorizontes vieler Menschen waren. Es wird das Ineinander und Nebeneinander verschiedener moderner und traditioneller Glaubenspraktiken sichtbar. Von den Ärzten wurde jedoch selten hinterfragt, ob es sich bei den religiösen Äußerungen der Patientinnen und Patienten um krankhafte Wahnvorstellungen oder um individuelle Glaubensauslegungen handelte. Zumindest seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in der Psychopathologie mystischreligiöse Wahrnehmungen genauso behandelt wie alle anderen Vorstellungen. Für die Mediziner waren es durchaus strittige Fragen, wie mit dem ›religiösen Wahn‹ theoretisch umzugehen sei und welchen Ursprung er habe. Die Haltung war Mitte des 19. Jahrhunderts noch relativ eindeutig: Menschen würden sich durch traditionelle Glaubensmuster infizieren, die christliche Bildlichkeit rege die Fantasie zu intensiv an und das strenge Sündenverständnis würde die Menschen negativ beeinflussen. Man problematisierte, dass die Kirche und die Gesellschaft pathologische Glaubensäußerungen entweder gar nicht bemerkten oder sogar positiv besetzten. Gleichzeitig wiesen einige Psychiater darauf hin, dass man mehr über die Glaubenspraktiken des jeweiligen sozialen Zusammenhanges erfahren müsse, um ›religiösen Wahn‹ wirklich exakt zu bestimmen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in der hermeneutisch-phänomenologischen Richtung die Idee des ›religiösen Wahns‹ zunehmend hinterfragt. Mediziner kamen zu der Auffassung, dass eine der Logik zugrundeliegende Unterscheidung weder bei Glauben noch bei Wahn möglich sei. Daher kommt es in der heutigen Psychopathologie nicht mehr in Betracht, ›religiösen Wahn‹ festzustellen. 147 H EINRICH K RANZ , Das Thema des Wahns im Wandel der Zeit, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 23 (1955), S. 58-72. <?page no="317"?> 317 S ARAH W ALTENBERGER Kneipps Wörishofen. Ein Dorf wird Kurort Die Untersuchung der Kulturgeschichte des Medikalen bietet epochenübergreifende Einblicke hinsichtlich der Einstellungen zu Gesundheit und Krankheit, deren Wandel bzw. Persistenz. Zugleich lässt sich das Verständnis der ›Sorge um Gesundheit‹ auch regional verorten. Die Entstehung von Gesundheitszentren und medikalen Regionen ist gleichsam der materialisierte Diskurs bezüglich der Frage: Was ist gesund bzw. was macht krank? Im Folgenden wird die Prägekraft der Medikalisierung für einen Ort wie auch der Einfluss des medikalen Ortes auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse dargelegt. 1. Wörishofen als Kneipps letzte Station Wer schon einmal auf der A 96 von München Richtung Westen unterwegs war, dem dürfte Sebastian Kneipps (1821-1897) Konterfei bekannt vorkommen. Circa 35 Kilometer östlich von Memmingen grüßt der wohlwollend dreinblickende Priester vom Autobahnschild und lädt ein, in der Kurstadt Bad Wörishofen Halt zu machen. Dass ausgerechnet ein Beichtvater als Aushängeschild des Ortes gewählt wurde, ist kein Zufall. Der Aufstieg von Wörishofen vom einfachen Dorf zur größten Stadt im Unterallgäu ist bis heute untrennbar mit dem Namen Kneipp verbunden. 1 1 Die Vielzahl an Publikationen zu Sebastian Kneipp darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um einen historiographisch kaum bearbeiteten Themenkomplex handelt. Bei der Masse handelt es sich aber um ältere Biographien, denen tendenziell ein pathetischer Tonfall gemein ist; z. B. H ARALD K LOFAT , Idee, Überzeugung und Lehre. Sebastian Kneipp - die Wörishofer Jahre, Altusried 2009; L UDWIG B URGHARDT , Helfer der Menschheit Sebastian Kneipp. Eine Dokumentation nach historischen Quellen, Bad Wörishofen 1988; E UGEN O RTNER , Ein Mann kuriert Europa. Der Lebensroman des Sebastian Kneipp, 11. Aufl. München 1985. Die Fokussierung auf Kneipps Lebensdaten hat zur Folge, dass seine changierende Rezeption bisher kaum untersucht wurde. Überblicksgeschichten zur Naturheilkunde streifen die Kneippbewegung nur am Rande; z. B. C ORNELIA R EGIN , Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914), Stuttgart 1995. Zu Kneipps Einfluss auf Wörishofen liefert die Ortschronik von Seitz jedoch wichtige Hinweise; R EINHARD H. S EITZ (Hg.), Wörishofen auf dem Weg zum Kneippkurort, zu Bad und Stadt, Lindenberg 2004. Aktuelle Arbeiten sucht man vergeblich. Einzig Torma erwähnt Kneipp in ihrem Kurzüberblick zur Kulturgeschichte des Wassers; F RANZISKA <?page no="318"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 318 Nicht selten gerät dabei aus dem Blick, dass es sich bei Wörishofen um die letzte Station seines langen Weges handelte. 2 Sebastian Kneipp wurde am 17. Mai 1821 in Stephansried im heutigen Landkreis Unterallgäu als viertes Kind einer Weberfamilie geboren. Da er früh selbst mitarbeiten musste, endete sein regulärer Schulbesuch bereits mit zwölf Jahren. Sein Ziel, Geistlicher zu werden, konnte er dennoch durch die Unterstützung eines verwandten Kaplans verwirklichen: Dr. Matthias Merkle bereitete ihn auf den Besuch des Dillinger Gymnasiums vor, das den damals bereits 23-jährigen Kneipp im Herbst 1844 aufnahm. In seinem zweiten Schuljahr in Dillingen erkrankte Kneipp jedoch an einem Lungenleiden, aufgrund der beschriebenen Symptomatik höchstwahrscheinlich an Tuberkulose. Sein angeschlagener Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend im Verlauf seines Theologiestudiums in Dillingen und München (1848-1852). 1849 stieß er jedoch in der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek auf ein Buch von Johann Sigmund Hahn, das ihn auf die Anwendung kalten Wassers als Heilmittel aufmerksam machte. 3 Zurück in Dillingen unternahm er erste Versuche, sein angelesenes Wissen in die Praxis umzusetzen. Ab November 1849 badete er regelmäßig in der Donau. Außerdem experimentierte er mit Halbbädern und Gießungen. Seinen Angaben zufolge wurde er dadurch vollständig gesund. Kneipps eigene Genesung bildete den Ausgangspunkt seiner Krankenbehandlung - zunächst von Kommilitonen, dann von Gemeindemitgliedern und später von Tausenden Kurgästen. Die eigene Heilung einer Krankheit, bei deren Behandlung die Schulmedizin versagt hatte, ist dabei ein gängiges Muster, das sich insbesondere unter den Vertretern der Naturheilkunde finden lässt. 4 Dieses Detail in Kneipps Biographie spielte sowohl für seine Popularität als auch für die Legitimation seiner Behandlungsmethoden eine tragende Rolle. So folgerte Kneipp: Was aber mir zur Gesundheit verholfen hat, als ich ein Kandidat des Todes war, das dürfte wohl auch Andere zu heilen geeignet sein. 5 Indem Sebastian Kneipp immer T ORMA , Wasser, Ditzingen 2020. Allerdings stützt sich Torma ausschließlich auf die 2013 publizierte Qualifikationsarbeit der Verfasserin (Anm. 2). 2021 sind zum 200-jährigen Geburtstag von Sebastian Kneipp weitere Neuerscheinungen zu erwarten; z. B. A LOIS E PPLE , Sebastian Kneipp. Vorträge zum 200. Geburtstag, Norderstedt 2021. 2 Ausführlich zur Person Sebastian Kneipp und zu der Erinnerung an ihn S ARAH W ALTEN - BERGER , Sebastian Kneipp. Die Genese eines Erinnerungsortes (Umwelt und Erinnerung 1), München 2013. 3 J OHANN S IGMUND H AHN , Unterricht von der Krafft und Würkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen, bes. der Krancken, bey dessen innerlichem u. äußerlichem Gebrauch, Breslau 1738. 4 S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 64-78. 5 S EBASTIAN K NEIPP , So sollt ihr leben! Winke und Rathschläge für Gesunde und Kranke zu einer einfachen, vernünftigen Lebensweise und einer naturgemäßen Heilmethode. In der Kneipp’schen Urfassung, Kempten 1897, S. V. <?page no="319"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 319 wieder die Wirksamkeit seiner Heilweise mit der eigenen Gesundung belegte, konstruierte er sich zum lebenden Beweis seines Schaffens. Zunächst galt es allerdings, eine ganze Reihe von Widrigkeiten zu überwinden: Nachdem er 1852 in Augsburg die Priesterweihe empfangen hatte, trat er in den folgenden Jahren verschiedene Stellen in Biberach, Boos und Augsburg an. Während dieser Zeit musste er sich aufgrund seiner Krankenbehandlungen erstmals gegen eine Anzeige wegen Kurpfuscherei verantworten. Eine weitere Klage wegen Gewerbebeeinträchtigung und Schädigung zwangen ihn, eine Unterlassungserklärung zu unterzeichnen - gegen die er allerdings verstieß. Im April 1855 erhielt er dann die Aufforderung, sich als Beichtvater der Dominikanerinnen nach Wörishofen zu begeben. 6 Die Bedeutung dieser Versetzung wird klar, wenn man sich die damalige Situation vor Ort bewusst macht. Das Augsburger Katharinenkloster hatte 1717 beschlossen, auf seinem Grundbesitz in Wörishofen ein Zweigkloster zu errichten, das aber bereits 1802 im Zuge der Säkularisation wieder aufgehoben wurde. Die Restitution erfolgte 1848 mit der Auflage, dass die noch verbliebenen acht Klosterschwestern eine Mädchenschule und eine Erziehungsanstalt für verwaiste Kinder einrichteten. Die damalige Priorin bat daraufhin den Bischof um personelle Unterstützung - und hier schien Kneipp seinen Vorgesetzten als die ideale Besetzung. Es ist naheliegend, von einer Art Strafversetzung auszugehen: Angesichts der wenigen Klosterschwestern und der Abgeschiedenheit des Ortes sollte sich das Problem mit dem kurpfuschenden Priester von selbst erledigen. Kneipps letzte Station Wörishofen schien damit für ihn zur Endstation zu werden. Zu dieser These passt auch die Schilderung seiner ersten Eindrücke von Wörishofen: Zuerst habe ich den Ort nur so angesehen und ein düsteres Gesicht gemacht, weil ich Beichtvater bei Klosterfrauen werden musste. Das hat mir nicht eingehen wollen; aber mich hat der Bischof beauftragt, ich musste daher, er wollte es haben. 7 Im Nachhinein gab er außerdem zu, dass er weitaus lieber in Augsburg geblieben wäre. 6 Archiv Kneipp Museum, D 7 f: Sebastian Kneipp als III. Stadtkaplan bei St. Georg in Augsburg, 25.11.1854; D 7 g: Sebastian Kneipp Beichtvater im Frauenkloster zu Wörishofen, 13.4.1855. 7 Zitiert nach E BERHARD S CHOMBURG , Sebastian Kneipp 1821-1897. Die Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Mannes, Bad Wörishofen 1985, S. 60. <?page no="320"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 320 2. Wörishofen als Keimzelle der Wasserkur Zunächst schien es so, als sei der widerspenstige Kneipp gebändigt. Seine ersten Jahre in Wörishofen waren vor allem von der Arbeit in der klösterlichen Wirtschaftsführung geprägt. 8 Durch den Einsatz von Entwässerungsverfahren, die Einführung neuen Saatguts und Versuche mit künstlichen Düngemitteln gelang es ihm, die Klosterwirtschaft gewinnbringend auszubauen. Auch in der Viehhaltung verzeichnete er beträchtliche Erfolge, indem er neue Rinderrassen zur Zucht einsetzte und die Stallungen erweiterte. Aufgrund seiner besonderen Verdienste in der Bienenzucht avancierte er unter anderem zum schwäbischen Bienenvater. 9 Den Grund für die Interessenverlagerung - weg von den Wasserbehandlungen und hin zur Landwirtschaft - sah sein späterer Biograph und Wegbegleiter Alfred Baumgarten in Kneipps Bestreben, den Verdacht einer gewinnsuchtorientierten Krankenbehandlung abzuwenden. Baumgarten war sich aber sicher, dass es gerade diese stillen Jahre von 1855-1880 gewesen seien, in denen Kneipp seine Methode entwickelte, prüfte und verbesserte. 10 Während dieser Zeit therapierte er die Ordensfrauen und Bediensteten in der Badeküche des Klosters. Seinen Angaben zufolge experimentierte er auch mit der Behandlung kranker Tiere durch Wasseranwendungen. 11 Obwohl er sich bei der Krankenbehandlung während dieser Zeit zurückhielt, verbreitete sich sein Ruf als Heilkundiger. Hilfesuchende aus der Umgebung, aber auch aus Augsburg und München baten ihn um Rat. Wie schon in seiner Zeit in Boos und Augsburg stieß dies auf den Unmut der ortsansässigen Ärzte. Nachdem die Anfragen der Patienten stetig zugenommen hatten, riet ihm sein ehemaliger Lateinlehrer Matthias Merkle, während der Behandlungen einen Arzt heranzuziehen. Kneipp sprach sich vorerst aber noch dagegen aus, da er keinen Kurbetrieb einrichten wollte, sondern lediglich in der Waschküche von der Medizin bereits aufgegebene Menschen behandle. 12 Apotheker und Schulmediziner, die eine Gewerbebeeinträchtigung oder Kurpfuscherei befürchteten, versuchten ihn wiederholt per richterlichem Beschluss zu 8 Siehe seine frühen Publikationen: S EBASTIAN K NEIPP , Fritz, der fleißige Landwirt, Augsburg 1874; D ERS ., Die Kaninchenzucht, Kempten 1874; D ERS ., Bienenbüchlein, Augsburg 1874; D ERS ., Fritz, der fleißige Futterbauer, Augsburg 1875; D ERS ., Fritz, der eifrige Viehzüchter, Donauwörth 1877. 9 L. B URGHARDT , Helfer der Menschheit (Anm. 1), S. 20f. 10 A LFRED B AUMGARTEN , Sebastian Kneipp, 1821-1897. Biographische Studie, Berlin 1898, S. 53. 11 S EBASTIAN K NEIPP , Codizill zu meinem Testamente für Gesunde und Kranke, München 1928, S. 347f. Vgl. auch die Bezeichnung »Horse Doctor«: M. W EILLER , Origin of water cure, in: The Washington Post vom 20.9.1896, S. 17f. 12 K ARL P ÖRNBACHER , Sebastian Kneipp (17. Mai 1821-17. Juni 1897) - ein Lebensbild, in: R. H. S EITZ (Hg.), Wörishofen (Anm. 1), S. 77-91, hier 82. <?page no="321"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 321 stoppen. Als dies scheiterte, wandten sie sich 1866 an das bischöfliche Ordinariat. 13 Kneipps Popularität tat dies keinen Abbruch - im Gegenteil. Der sich selbst als Samariter bezeichnende Priester erfreute sich wachsender Beliebtheit. 14 Dabei war er zutiefst überzeugt, Wasser sei das vorzüglichste und allgemeinste Heilmittel. 15 Dieser Universalanspruch kulminierte bei Kneipp in einer Mystifizierung des Wassers als ein durch Gott gegebenes Allheilmittel. Obwohl Kneipp nicht der einzige Verfechter der Wasserheilkunde war, vermied er es, an seine Vorgänger bzw. andere Hydrotherapeuten anzuknüpfen, und betonte immer, durch die eigene Erfahrung die rechte Therapie entwickelt zu haben. 16 Dabei berief er sich stets auf seine bäuerliche Herkunft, die ihm die einzig wahre, durch Bescheidenheit geprägte Lebensweise nahe gebracht habe und für ihn das Ideal und Vorbild sinnvoller Existenz blieb: Die Ernährung, die Art der Kleidung und das Barfußgehen übernahm er aus dem Milieu des bäuerlichen Elternhauses. Als weitere Quelle benannte er die Volksheilkunde, aus der er zahlreiche Anwendungen übernahm, so etwa die Kräuterbäder, Fußbäder und Essigwaschungen. 17 Neben den Wasseranwendungen als Heilmethode entwickelte er ein umfassendes Gesundheitssystem, das auf folgenden fünf Säulen basiert: Hydrotherapie als Lehre der Heilung, Bewegungstherapie als Lehre der Gesunderhaltung, 18 richtige Ernährung unter Einschränkung von Genussmitteln 19 und Einbeziehung der Heilkraft von Kräutern 20 sowie Ordnungstherapie als Lehre des seelischen Gleichgewichts. 21 Immer wieder war Kneipp aufgefordert worden, seine Erfahrungen niederzuschreiben. Nachdem er sich lange verwehrt hatte, folgte er dem Vorschlag des Abtes von Beuron und erzählte dem Pater Ildefons Schober jeden Morgen einige Episoden aus seiner Krankenbehandlung. 1886 stellte Schober seine Aufzeichnungen zusammen und publizierte sie im Folgejahr unter dem Titel ›Meine Wasser-Kur‹. Auflage um Auflage folgten - in den ersten zehn Jahren rund 60 Stück; ebenso zahlreiche 13 Archiv Kneipp Museum, D 6: Aufforderung des bischöflichen Ordinariates an Beichtvater Kneipp, Erklärungen wegen der Beschwerde des Arztes Dr. Sauter, Mindelheim und Dr. Schmidt, Türkheim abzugeben, 24.2.1866. 14 S. K NEIPP , So sollt ihr leben! (Anm. 5), S. VIII. 15 S. K NEIPP , So sollt ihr leben! (Anm. 5), S. V. 16 Vgl. S EBASTIAN K NEIPP , Mein Leben, Regensburg 1949, S. 24: Das meiste habe ich gelernt aus der Schule der Erfahrung und nur weniges aus Büchern, weil ich keine Bücher gelesen habe als das bezeichnete Schriftchen. 17 S. K NEIPP , So sollt ihr leben! (Anm. 5), S. 22-26. 18 Z. B. S. K NEIPP , So sollt ihr leben! (Anm. 5), Kap. 5, S. 29-51. 19 Z. B. S. K NEIPP , So sollt ihr leben! (Anm. 5), Kap. 7 und 8, S. 56-96. 20 Z. B. S EBASTIAN K NEIPP , Mein Testament für Gesunde und Kranke. In der Kneipp’schen Urfassung, 6. Aufl. Kempten 1896, S. 299-310. 21 Z. B. S. K NEIPP , So sollt ihr leben! (Anm. 5), S. 332-334. <?page no="322"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 322 Übersetzungen. Kneipps Publikationen ›Meine Wasser-Kur‹ (1887) und ›So sollt ihr leben‹ (1889) markieren eindeutig den Endpunkt der ›stillen Zeit‹ in Wörishofen. Grafik 1: Besucher in Wörishofen 1884-1933 Quelle: S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 32. Die Besucherzahlen in Wörishofen wurden auf Basis der seit 1884 geführten Gästebücher des Klosters erstellt. Die Klosteraufzeichnungen erfassten jedoch ausschließlich die Namen der Geistlichen, die während ihres Aufenthaltes im Kloster beherbergt wurden. 22 Eine aussagekräftige Ermittlung des Besucheraufkommens kann erst ab 1889 erfolgen, da nun die Gemeinde Wörishofen alle Gäste dokumentierte. 23 Es soll jedoch keinesfalls der Eindruck entstehen, dass zuvor kein Besucherverkehr stattgefunden habe. Simpert Kreuzer, ein Zeitgenosse Kneipps, berichtete zu Beginn von zehn bis zwanzig Kranken pro Tag, die um Hilfe baten. Meist kamen sie aus der näheren Umgebung. Allerdings veränderte sich 1887 das Geschehen grundlegend. Rückblickend lässt sich bilanzieren: Es gab ein Wörishofen vor ›Meine Wasser-Kur‹ und eines danach. 22 Allerdings lassen die Zahlen auf ein wachsendes Besucherinteresse schließen: 1885 trugen sich 60 Geistliche ein, 1887 bereits 156 und 1888 325; J OSEF W OLF , Ein Bauerndorf wird Weltbad. Sebastian Kneipp und sein Wörishofen, Bad Wörishofen 1965, S. 65. 23 Wörishofener Kur- und Bade-Blatt mit amtlicher Fremdenliste. Amtliches Publikations- Organ der Gemeinde Wörishofen 0 2.000 4.000 6.000 8.000 10.000 12.000 14.000 16.000 18.000 20.000 Besucher Jahre Besucher in Wörishofen von 1884-1933 <?page no="323"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 323 Abb. 1: Ansprache des Pfarrers Sebastian Kneipp in der offenen Halle in Bad Wörishofen. Der ab 1887 einsetzende Andrang und die spontan eingerichteten Massenherbergen stellten den Beginn eines schicksalhaften Jahrzehnts für Wörishofen und seine Bewohner dar. Der beinahe 100-prozentige Anstieg der Besucher zwischen 1889 und 1890 zeigt, dass Kneipp abrupt über eine immense Breitenwirkung verfügte. Während 1888 circa 200 Kurgäste ständig vor Ort waren, betrug 1890 deren tägliche Zahl um die 1.200. Hausbesitzer räumten Kammern und Dachböden, um Gäste aufzunehmen. Obwohl die Voraussetzungen für eine Kur - also ein unter ärztlicher Aufsicht und Betreuung durchgeführtes Heilverfahren - kaum vorhanden waren, mussten 1891 11.000 Gäste beherbergt und versorgt werden. Bedenkt man zudem, dass Kuren damals ein mehrmonatiger Prozess waren, kann man sich den enormen logistischen Aufwand für das Dorf Wörishofen vorstellen. 24 Der zunehmende Besucherstrom nach Wörishofen veranlasste Kneipp ab 1890, täglich öffentliche Ansprachen zu halten - seine Zeit reichte schlicht nicht mehr aus, um mit jedem Hilfesuchenden einzeln in Kontakt zu treten. Zugleich übernahm ein im selben Jahr gegründeter Kneipp-Verein die Koordination der Besuchermassen in 24 L UDWIG W AIBL , Zur Geschichte der Kneippkur in Bad Wörishofen, in: R. H. S EITZ (Hg.), Wörishofen (Anm. 1), S. 93-118, hier 98f. <?page no="324"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 324 Wörishofen. Als Vereinsorgan erschienen erstmals 1892 die ›Kneipp-Blätter‹, die der Verbreitung der Grundsätze des Herrn Pfarrers Kneipp 25 dienen sollten. Kneipp wirkte aber nicht nur in Wörishofen. Um seine Heilmethode im Ausland bekannter zu machen, unternahm Kneipp ab 1892 zahlreiche Vortragsreisen durch ganz Europa, unter anderem 1894 nach Rom, wo er anlässlich seiner Ernennung zum Päpstlichen Geheimkämmerer in einer persönlichen Audienz von Papst Leo XIII . empfangen wurde. Zwischen 1890 und 1896 unternahm Kneipp insgesamt 32 größere Vortragsreisen durch ganz Europa, wobei ihn Schätzungen zufolge bis zu eine Million Zuschauer erlebt haben sollen. Häufig löste sein Besuch neue Vereinsgründungen aus. Hierdurch steigerte Kneipp nicht nur seinen Bekanntheitsgrad, sondern er konnte auch neue Vereins-Mitglieder und Spendengelder akquirieren. 26 3. Kneipp als Modernisierungsmotor Der durch Kneipps Schriften ausgelöste Besucherandrang in Wörishofen veränderte das Erscheinungsbild des Ortes grundlegend. Bereits 1888 können erste bauliche Maßnahmen als Reaktion auf den wachsenden Kurbetrieb registriert werden. Neben einem Restaurant entstand das erste eigens für Kneipp’sche Wasseranwendungen konzipierte Badehaus. Nur zwei Jahre später befanden sich bereits drei weitere Badeanstalten im Ort. Im Zeitraum von 1889 bis 1897 erfolgten insgesamt 132 Neu- und 243 Um- und Erweiterungsbauten, um den wachsenden Besucherstrom bewältigen zu können. 27 Interessant hierbei ist, dass es sich bei den Bauherren überwiegend um Besucher und Kneipp-Anhänger von auswärts handelte. Besonders zu Beginn war nämlich unter den Wörishofern die Skepsis groß, dass der Ansturm nur eine vorübergehende Erscheinung sei. Neben Hotels und Restaurants entstanden auch zahlreiche Kaufläden, die Utensilien wie Gießkannen, Wannen oder auch die berühmten Kneipp-Sandalen vertrieben. Die neue Möglichkeit, mit dem Fremdenverkehr Geschäfte zu machen, und die Modernisierungsmaßnahmen innerhalb des Ortes ließen die Bevölkerung von 1880 25 Kneipp Blätter 1 (1891), S. 3. 26 Zwar waren die Vereine zunächst lokal organisiert, allerdings bündelten die beiden Dachverbände (Kneipp-Bund in Berlin und Kneipp-Verband in Wörishofen) die Mitglieder nach Kneipps Tod 1897. 1921 wurden die Organisationen zum Kneipp-Bund e. V. mit Sitz in Wörishofen zusammengefasst, ehe 1934 die Gleichschaltung mit der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Heil- und Lebensweise erfolgte. 1949 gelang die erfolgreiche Neukonstitution des Kneipp-Bunds. Zur Vereinsstruktur: S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 34-37, 139f. 27 L UDWIG B URGHARDT , Wörishofen am Wendepunkt, in: D ERS . (Hg.), Wörishofen. Beiträge zur Geschichte des Ortes zusammengestellt aus Anlaß der 900. Wiederkehr seiner ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1967, Bad Wörishofen 1967, S. 101-144, hier 112. <?page no="325"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 325 bis 1900 um 250 Prozent anwachsen. 28 Die Einwohnerstatistik des Ortes ist daher auch ein Indikator für den Erfolg der Kneipp’schen Lehre. Die wachsende Bevölkerung ließ nicht nur die Zahl privater Neubauten ansteigen, sondern erforderte in den 1890er Jahren auch eine Anpassung der Infrastruktur an die neuen Anforderungen: Eine neue Wasserleitung wurde gebaut, ein neuer Friedhof angelegt, das Postwesen entsprechend den Bedürfnissen des internationalen Publikums modifiziert. Ebenso erfolgte ab 1893 der Ausbau der Kanalisation. Ein weiteres infrastrukturelles Problem war die Erreichbarkeit des Ortes. Obwohl das zuständige Ministerium dem Bau einer Lokalbahn zugestimmt hatte, waren keine finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt worden. Man zweifelte daran, dass der Besucheransturm von Bestand sei. 1894 gab die Eisenbahn-Generaldirektion zu bedenken: [E]s dürfte sehr fraglich sein, ob die Bahn dauernd einen zu ihrer Alimentierung genügenden Verkehr aufzuweisen hätte, da der nicht zu verkennende Aufschwung des Ortes Wörishofen als Kurort auf den Schultern eines einzigen, bereits in sehr vorgerückten Lebensjahren stehenden Mannes beruht. 29 Um die Finanzierung zu ermöglichen, gründete Kneipp daher am 4. Juni 1895 gemeinsam mit Erzherzog Joseph Karl Ludwig von Österreich (1833- 1905) - einem seiner bekanntesten Kurgäste - sowie weiteren Anhängern seiner Heilkunst eine Aktiengesellschaft. Nur ein Jahr später konnte die Bahnstrecke Türkheim-Bad Wörishofen in Betrieb genommen werden. Die elektrisch betriebene Bahn brachte neben der verbesserten Verkehrsanbindung noch einen weiteren Vorteil - den Bau eines Elektrizitätswerkes, das am 7. Februar 1896 erstmals die Hauptstraße in Wörishofen in elektrisches Licht tauchte. 30 4. Wörishofen wird Kurort Neben Infrastrukturmaßnahmen stand die touristenkompatible Förderung des gesellschaftlichen Lebens - schließlich wollte man dem Anspruch eines Kurortes gerecht werden. Dass man davon 1890 noch weit entfernt war, bezeugte Joseph Speyer, ein Unternehmersohn aus Luxemburg. Seinen Aufenthalt in Wörishofen beschrieb er folgendermaßen: Naturschönheit geht dem Ort völlig ab. […] Zählt man noch dazu, daß das Dorf für Verbesserung der schlechten Wege so zu sagen gar nichts thut, das Klima 2/ 3 des Jahres sehr rauh und feucht ist, daß die Wohnungen kaum den bescheidensten Ansprüchen genügen, die Verpflegung sehr viel zu wünschen läßt, für Unterhaltung und Zerstreuung gar nichts 28 Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (Hg.), Statistik kommunal 2020. Stadt Bad Wörishofen, München 2021, S. 2. Siehe dazu auch S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 39. 29 Zitiert nach A UGUST F ILSER , Leben und Streben in Wörishofen, in: R. H. S EITZ (Hg.), Wörishofen (Anm. 1), S. 15-50, hier 32. 30 J. W OLF , Ein Bauerndorf (Anm. 22), S. 79. <?page no="326"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 326 gethan wird, und daß schließlich die Einwohner den Kranken oft unfreundlich entgegentreten, so wird man gewiß staunen, daß selbst gegen Neujahr 1891 die Zahl der Kurgäste nicht unter 300 gesunken war. 31 Hier galt es also dringend Abhilfe zu schaffen. Ein erster Schritt war 1889 die Gründung eines Verschönerungsvereins, der sich für die Gestaltung eines Kurparks einsetzte. Um neben dem regulären Kurbetrieb für Unterhaltung zu sorgen, wurde 1895 das ›Museum Artis‹ eröffnet, das als Veranstaltungsort für Konzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen genutzt wurde. Weitere Freizeitanlagen wie der 1902 geschaffene Tennisplatz mit Clubhaus und das 1906 eröffnete Spielcasino machten Wörishofen endgültig zum Kurort. Ein winterliches Freizeitangebot wurde zudem mit der Aufstauung des Dorfbachs geschaffen, so dass die Kurgäste bei Blasmusikbegleitung Schlittschuh laufen konnten. 32 Zehn Jahre nach Speyers vernichtendem Urteil bewarb das ›Centralblatt für das Kneipp’sche Heilverfahren‹ Wörishofen als internationalen Kurort mit subalpinem Klima und ozonreichen Wäldern, der allen Forderungen der Hygiene und des modernen Comforts gerecht werde. 33 Infolge der Modernisierung wurde Wörishofen zunehmend auch für die höhere Gesellschaft als Kurort interessant. Längst war es nicht mehr die arme Landbevölkerung, die Wörishofen aus Mangel an Alternativen bei Gesundheitsfragen aufsuchte. Vielmehr reiste ein großer Teil des internationalen Hochadels, geistliche sowie weltliche Würdenträger und Repräsentanten des Großbürgertums nach Wörishofen zur Kur. 5. Wörishofen als Kneipps Ort Kneipps gezielte Öffentlichkeitsarbeit spielte bei der Etablierung Wörishofens als Kurort eine tragende Rolle. So war ihm durchaus bewusst: je mondäner die Besucher, desto besser für das Image und die finanzielle Situation des Dorfes. Als Beleg für Kneipps Engagement dient die Anstellung des ehemaligen Hoffotografen Fritz Grebmer. Seine Aufgabe bestand darin, Kneipp gemeinsam mit berühmten Gästen zu fotografieren. Anschließend hatte Grebmer dafür Sorge zu tragen, dass die Bilder europaweit in Zeitungen veröffentlicht wurden. 34 In diesem Zusammenhang spielte auch Kneipps Sekretärin Vera Freifrau von Vogelsang eine bedeutende Rolle, da sie in ihren Berichten und Nachrichten gesellschaftliche Geschehnisse festhielt und diese auf Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch verbreitete. 31 J OSEPH S PEYER , Wörishofen Anno 1890/ 91 (1893), in: R. H. S EITZ (Hg.), Wörishofen (Anm. 1), S. 119-122, hier 129. 32 L. B URGHARDT , Helfer der Menschheit (Anm. 1), S. 51f. 33 Kneippsche Wasserheilanstalten. Kurort Wörishofen, in: Centralblatt für das Kneipp’sche Heilverfahren 3 (1900), S. 33-36, hier 33f. 34 H. K LOFAT , Idee (Anm. 1), S. 83. <?page no="327"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 327 Abb. 2: Fritz Rehm, Werbeplakat - Wörishofen (1902). Und auch die enge Beziehung zwischen Kneipp und Erzherzog Joseph Karl Ludwig von Österreich erwies sich als äußerst gewinnbringend: Der Erzherzog, der wiederholt in Wörishofen kurte und als großzügiger Geldgeber auftrat, gilt als Initiator für Kneipps Ernennung zum Päpstlichen Geheimkämmerer und zeigte sich vor allem in Adelskreisen als erfolgreicher Propagandist der Kneipp’schen Heilweise. So war es vor allem seine Kneipp-Begeisterung, die zu dem hohen Anteil österreichischer Kurgäste um die Jahrhundertwende beitrug. 35 Sebastian Kneipp wirkte nicht nur auf die Bekanntheit des Ortes ein, sondern beteiligte sich auch aktiv an Wörishofens Gestaltung. Gleichzeitig steuerte er damit die Wahrnehmung seiner Person. Zahlreiche Stiftungen, aus deren Benennungen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein spricht, sollten sein karitatives Wirken öffentlich 35 Zu den statistischen Auswertungen vgl. S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 30-52. <?page no="328"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 328 sichtbar werden lassen. Bereits 1890 erfolgte die Grundsteinlegung des Kurhauses ›Sebastianeum‹. Dem folgte 1893 die Einweihung des so genannten ›Kinderasyls‹, mit dessen Eröffnung am Sebastianstag Kneipp wiederum Bezug auf sich selbst nahm. Das 1896 seine Pforten öffnende Kurhaus ›Kneippianum‹ verwies abermals unmittelbar auf den Stifter. Ferner widmete sich Kneipp nach seiner Ernennung zum Pfarrer 1881 umfangreichen Restaurationsarbeiten, infolgedessen er der Pfarrkirche 1891 eine neue Glocke, die ›Sebastiana‹, stiftete. 36 Den Grundstein für die heute übermächtige Omnipräsenz in ›seinem‹ Ort hat Kneipp demnach selbst gelegt. Der Umstand, dass Wörishofens Popularität stark an die Person Sebastian Kneipp gebunden war, wurde bereits von den Zeitgenossen als Problem begriffen. Wie sich schon bei der Finanzierung der Lokalbahn gezeigt hatte, wurde dieser Personenkult als Argument gegen langfristige Investitionen angeführt. Und so warnte auch der luxemburgische Unternehmersohn Speyer, Kneipps Tod könne dazu führen, dass der wie ein Pilz über Nacht aus Nichts hervorgegangene Kurort sich dann mit einem Schlag in das früher unbekannte schwäbische Bauerndorf zurück verwandeln wird. 37 6. Ohne Kneipp zum Kneipp-Bad Nur wenige Jahre nach dem einsetzenden Besucherboom verschlechterte sich ab 1894 Kneipps Gesundheitszustand zusehends, so dass er nicht mehr in der Lage war, seine Wassergüsse selbst vorzunehmen und sich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückzog. Am 17. Juni 1897 starb Sebastian Kneipp im Alter von 76 Jahren in Wörishofen. Die enorme Zahl der Trauergäste verdeutlicht, welche Berühmtheit er erlangt hatte. Insgesamt sollen sich 6.000 Gäste anlässlich seiner Beerdigung in Wörishofen eingefunden haben. 38 Die Prophezeiungen der Skeptiker wurden allerdings Realität: Der bis 1897 anhaltende Aufwärtstrend der Besucherzahlen fand mit Kneipps Tod ein jähes Ende. Während 1892 12.107 Gäste in Wörishofen zur Kur waren, wurden 1898 lediglich 6.341 und 1899 sogar nur 6.035 Besucher erfasst. 36 L. B URGHARDT , Helfer der Menschheit (Anm. 1), S. 19, 25. 37 J. S PEYER , Wörishofen Anno 1890/ 91 (Anm. 31), S. 129. 38 L. B URGHARDT , Helfer der Menschheit (Anm. 1), S. 59f. Vgl. hierzu auch die Zug-Ordnung anlässlich des Leichen-Begräbnisses des hochwürdigen Herrn Prälaten und Pfarrers Sebastian Kneipp aus dem ›Wörishofener Tagblatt‹, abgedruckt bei E. S CHOMBURG , Sebastian Kneipp (Anm. 7), S. 157. <?page no="329"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 329 Abb. 3: Fritz Grebmer: Kneipp und seine berühmten Gäste. Um diese Krise zu überwinden, lag es vor allem im Interesse des Ortes, die Erinnerung an die Person Sebastian Kneipp wach zu halten und gleichzeitig die enge Beziehung zwischen Wörishofen und seiner Heilmethode als Mittelpunkt der Kneippbewegung zu betonen. 39 Zu diesem Zweck setzte unmittelbar nach Kneipps Tod eine aktive Erinnerungspflege durch den Bau von Denkmälern, z. B. dem Kneipp-Brunnen 1897, der Kneipp-Büste 1899, dem Kneipp-Standbild 1903 sowie von zahlreichen 39 Kurort Wörishofen, in: Centralblatt für das Kneipp’sche Heilverfahren 3 (1900), S. 33-36, hier 34. <?page no="330"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 330 Gedenktafeln im Ort und durch Straßenumbenennungen ein. 40 Wie erfolgreich diese Strategie war, zeigt sich im erneuten Anwachsen der Gästezahlen (Grafik 1): Besonders in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg verzeichnete Wörishofen neue Besucherrekorde: 1913 wurden knapp 11.000 Gäste gezählt. In Anbetracht der damaligen Einwohnerzahl von knapp 3.000 wird die Dimension des Fremdenverkehrs für den Ort deutlich. In diesem Kontext muss auch die Wappenverleihung an Wörishofen durch König Ludwig III. im Mai 1915 erwähnt werden. Der ausdrückliche Wunsch des Wörishofer Gemeinderats, eine Gießkanne abzubilden, lehnte jedoch das Reichsheroldamt aus künstlerischen und heraldischen Gründen ab. Der grüne Lindenzweig über einem blauen Schildhaupt mit silbernen Wellenbalken nimmt allerdings deutlich Bezug auf die Lage des Ortes und seine Eigenschaft als Kurbad. 41 Abb. 4: Fritz Grebmer: Gebäudeansichten Wörishofen (um 1900). Der Erste Weltkrieg stellte für Wörishofen eine Zäsur sowohl im Hinblick auf die Gästestatistik als auch die Bewohnerzahl dar. Während der Kurbetrieb stark zurückging, stieg die Einwohnerzahl, da Kurorte als Lazarette verwendet wurden. In den Jahren 1915 bis 1919 waren in den Hotels und Kurkliniken knapp 10.000 Verwundete untergebracht, die bei den Volkszählungen miterfasst wurden. Ab 1918 bis 40 M ICHAEL P ETZET (Hg.), Denkmäler in Bayern, Bd. 7: Schwaben, München 1986, S. 389. 41 A. F ILSER , Leben und Streben (Anm. 29), S. 38. <?page no="331"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 331 zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der Kurbetrieb wieder aufgenommen und die Gästezahlen stiegen wieder Jahr für Jahr. Das nächste zentrale Ereignis für die Ortsentwicklung lässt sich auf den 6. März 1920 datieren: Das Bayerische Staatsministerium des Innern verlieh dem Ort Wörishofen das Prädikat ›Bad‹ - und das obwohl er über kein ortsgebundenes Heilmittel wie z. B. eine Quelle verfügte. 42 Die ein Jahr später stattfindenden Jubiläumsfeierlichkeiten zu Kneipps 100. Geburtstag am 17. Mai 1921 wurden von den Wörishofern zum Anlass genommen, ihrem berühmtesten Bewohner aktiv zu gedenken. 43 Gleichzeitig erfolgte ein umfassender Spendenaufruf, mit dessen Hilfe man die Errichtung eines Kneipp-Museums plante. 44 7. Wörishofen als Modell-Ort Dass Wörishofens vielversprechende Entwicklung auch für andere Gemeinden und Städte als nachahmenswertes Modell galt, ist verständlich. Das erste Kneippbad außerhalb von Wörishofen war das am 1. Mai 1889 eröffnete Jordanbad bei Biberach an der Riss. Relativ zügig kam es zu weiteren Gründungen von Kneippkurorten in Immenstadt, Ulm, Rosenheim, Traunstein, Aistersheim (Oberösterreich) und Brixen (Südtirol). 45 Interessant ist auch, dass sich bereits bestehende Badeorte zum Kneippkurort entwickelten, indem sie ihre Behandlungsmethoden umstellten. So wandelte sich die seit 1857 bestehende Molkekuranstalt in Bad Berneck im Fichtelgebirge ab 42 A. F ILSER , Leben und Streben (Anm. 29), S. 38. Üblicherweise ist das Vorhandensein eines natürlichen Heilmittels prägend für einen Kurort. Die ersten modernen Kurorte entstanden im 18. Jahrhundert in Belgien und in England für die Ober- und Mittelschicht. Ab dem 19. Jahrhundert übertrug sich diese Entwicklung auf das europäische Festland. Die Prädikatisierung als Kurbad erfolgt bis heute durch das zuständige Ministerium des jeweiligen Bundeslandes. Grundlage in Bayern ist eine Verordnung. Die staatliche Anerkennung als Kurort ist wiederum die Voraussetzung für die Erhebung der Kurtaxe; A NDREAS F ÖRDERER , Playgrounds of Europe. Europäische Kurstädte und Modebäder des 19. Jahrhunderts. Vergleichsstudie, Baden-Baden 2010. 43 Hundertjahrfeier Sebastian Kneipp, in: Die Kneipp-Kur. Zeitschrift zur Erhaltung und Verbreitung der arzneilosen und naturgemäßen Gesundheitslehre von Sebastian Kneipp. Offizielles Organ des Verbandes der Kneipp-Vereine 3/ 4 (1921), S. 23. 44 Kneipp-Blätter. Monatsschrift für Volksgesundheitspflege, für Kneipp’sche Heil- und Lebensweise 31 (1921), S. 133f. 45 S EBASTIAN K NEIPP , Meine Wasserkur, durch mehr als 30 Jahre erprobt und geschrieben zur Heilung der Krankheiten und Erhaltung der Gesundheit. In der Kneipp’schen Urfassung, 5. vermehrte und berichtigte Aufl. Kempten 1888, Vorrede zur 5. Aufl.; D ERS ., So sollt ihr leben! (Anm. 5), Nachwort, S. 355-357. <?page no="332"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 332 1930 ausschließlich zum Kneippkurbad. 46 Auch im Ausland wurden Kneippkurorte gegründet. Zum Beispiel existiert ein Bericht über eine Kneipp-Heilanstalt, die von französischen Missionaren in Kairo betrieben wurde. 47 Aber auch in Böhmen, Holland, Frankreich, Norwegen, Spanien, Portugal, Italien, Kroatien, Ungarn und Polen sind Kneipp’sche Kuranstalten verzeichnet. Selbst in Russland und Amerika schlug sich die Verbreitung der Lehre von Kneipp in Form von Kurorten und Heilanstalten nieder. 48 In der Entwicklung des Kneipp-Kurwesens lassen sich drei Abschnitte unterscheiden: Der erste war vor allem durch die Bildung des Kurbetriebs in Wörishofen geprägt, dessen wirtschaftlicher Aufschwung eine Vorbildfunktion für andere Orte hatte. Kneipps Vortragstätigkeit führte bis zu seinem Tod zur Gründung weiterer Kuranstalten. Der zweite Entwicklungsabschnitt war durch seinen Tod 1897 bestimmt, der die Initiativen vorerst stagnieren ließ. Der Besucherrückgang in Wörishofen und die Ungewissheit, ob die Zäsur überwunden werden könne, mehrten die Skepsis hinsichtlich der Erfolgsaussichten für neue Kurorte. Die ab 1905 wieder deutlich wachsende Zahl der Kurgäste in Wörishofen schlug sich zwar unmittelbar in neuen Einrichtungen nieder, allerdings stoppte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die weitere Ausbreitung. Zudem kann ab 1914 ein völliges Abreißen der Verbindungen ins Ausland beobachtet werden. Die dritte Phase nach Kriegsende bis 1933 war, parallel zur Entwicklung in Wörishofen, durch einen extremen Aufschwung gekennzeichnet. Besonders die staatliche Anerkennung Wörishofens als Bad 1920 schuf neue Anreize zur Kurortgründung. Da keine geographischen Voraussetzungen vonnöten waren, stand dieses Prädikat theoretisch auch anderen Kneippkurorten offen. Für die Gründung neuer Kneipp-Wasserheilanstalten und Kurorte war maßgeblich eine Berufsgruppe verantwortlich: die Schulmediziner. 8. Wörishofen als medizinisches Zentrum Der Umstand, dass die Ärzteschaft nicht nur an der Verbreitung der Kneipp’schen Lehre beteiligt war, sondern Wörishofen zum medizinischen Zentrum machte, soll an dieser Stelle besonders betont werden. Diese Entwicklung war nämlich alles andere als selbstverständlich. Wie bereits erwähnt, war insbesondere der Beginn von 46 C HRISTIAN F EY , Die deutschen Kneippkurorte. Entwicklung und Bedeutung. Ein dokumentarischer Bericht zur Geschichte der Kneippkur in neuerer Zeit, Bad Wörishofen 1951, S. 67. 47 J OSEF H. K AISER , Das große Kneippbuch, München 1980, S. 23. 48 J. W OLF , Ein Bauerndorf (Anm. 22), S. 107. Zu den Gründungen von Kneippkurorten S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 41. <?page no="333"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 333 Kneipps Heiltätigkeit von Distanzierung und Bekämpfung seitens der Schulmediziner geprägt. Nachdem Kneipp während seiner Zeit in Boos zunehmend als ›Cholera- Kaplan‹ Bekanntheit erlangt hatte, stand er im Fadenkreuz der konservativen Schulmedizin. 49 Die Behandlung einer Magd brachte Kneipp eine Anzeige. Dem folgten zahlreiche weitere Anklagen wegen Gewerbebeeinträchtigung, Kurpfuscherei und Körperverletzung durch Vertreter der Ärzteschaft. Die Ablehnung durch den Ärztestand erklärt sich zum einen mit dem zu dieser Zeit neu etablierten Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Humorale, solidare und vitalistische Theorien, die auch Kneipp vertrat, 50 wurden wissenschaftlich widerlegt. Stattdessen rückte nun der lokale pathologische Prozess ins Zentrum einer strikt naturwissenschaftlichen Betrachtung. Die daraus resultierende Überzeugung, Krankheiten überwiegend mit Medikamenten behandeln zu können, führte zu erbitterten Kämpfen mit der Naturheilkunde. 51 Zum anderen war die schlechte Organisation des Berufsstandes der Ärzte bis Mitte des 19. Jahrhunderts für die aggressiven Abgrenzungsversuche von den Nichtprofessionellen im Gesundheitswesen verantwortlich. Die Etablierung der Ärzteschaft als Beruf mit staatlich legitimierter Sachkompetenz ist erst ein Produkt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es bedurfte mehrerer Medizinalreformen, um exakte Trennlinien zwischen den unterschiedlichen medizinischen Kompetenzbereichen zu ziehen und deren Einhaltung zu garantieren. Zudem führten die verschiedenen Theorien von Krankheit, Heilung und Behandlung und die Vielfalt der Fachrichtungen dazu, dass innerhalb der Ärzteschaft der Zusammenhalt eher gering ausgeprägt war. In einem Punkt waren sich aber alle einig: Den Kurpfuschern musste das Handwerk gelegt werden. 52 Sebastian Kneipp, dem Laien ohne universitäre Ausbildung und naturwissenschaftliche Arbeitsweise, musste daher Einhalt geboten werden. Das Mittel dazu bildete das sogenannte Kurierverbot von 1851, das die Ausübung des Heilerberufes an die Bedingung einer staatlichen Genehmigung knüpfte. Aber auch nach der Wiederherstellung der Kurierfreiheit 1873 bewegte sich Kneipp mit seiner Heiltätigkeit in einer rechtlichen Grauzone. Die vehemente Bekämpfung der Naturheiler hinderte die Vertreter der Schulmedizin allerdings nicht, sich für deren Behandlungsmethoden zu begeistern. 49 E. S CHOMBURG , Sebastian Kneipp (Anm. 7), S. 39. 50 S. K NEIPP , Meine Wasserkur (Anm. 45), S. 15. 51 L UDWIG A SCHOFF / P AUL D IEPGEN / H EINZ G OERKE , Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin, 7. Aufl. Berlin u. a. 1960, S. 37. 52 R OBERT J ÜTTE , Die Entwicklung des ärztlichen Vereinswesens und des organisierten Ärztestandes bis 1871, in: D ERS ./ T HOMAS G ERST (Hg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 15-42, hier 39f. <?page no="334"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 334 Trotz des starken Aufschwungs der Klinischen Hydrotherapie im späten 19. Jahrhundert blieb es zunächst für die Schulmedizin das oberste Anliegen, sich von Kneipp, einem Mitglied der Sekte von Naturärzten, abzugrenzen. 53 Es galt, die Hydrotherapie als Tätigkeitsfeld innerhalb der Schulmedizin zu etablieren und Kneipps unwissenschaftliche Arbeitsweise zu diffamieren, da diese dem gesamten Ärztestand bedeutenden moralischen und materiellen Schaden gebracht hätte. 54 Trotz dieser Konflikte waren es letztlich approbierte Ärzte, die Kneipps Wasseranwendungen wissenschaftlich begründeten und für die Überlieferung seines Erbes sorgten. Die Grundlage hierfür hatte Kneipp noch zu seinen Lebzeiten gelegt: Da sich mit seiner wachsenden Popularität die Angriffe der Mediziner häuften, entschloss sich Kneipp 1887, Ärzte in seinen Sprechstunden hinzuzuziehen, die ihn vor Fehldiagnosen und Kurpfuscher-Klagen bewahren sollten. 55 Der erste ständig anwesende Arzt und Kneipps erster Badearzt war der Türkheimer Chirurg Dr. Friedrich Bernhuber († 1912). Ihm folgte 1888 Dr. Franz Kleinschrod (1860-1934), der Kneipps Lehre unter medizinischen Gesichtspunkten weiterentwickelte. Ein weiterer wichtiger Arzt, der sich in Kneipps Dienst stellte, war Dr. Alfred Baumgarten (1962-1924). Ihm war es ein Anliegen, Kneipps Lehre wissenschaftlich zu begründen und die Verbreitung der Kneipp’schen Heilmethode voranzutreiben. 56 Neben dem sogenannten ersten Badearzt waren weitere Ärzte als Assistenten und als Angestellte im Kurhaus Sebastianeum, im Kneippianum und im Kinderasyl tätig. Außerdem befanden sich immer auch Gastärzte vor Ort, die sich hydrotherapeutisch weiterbilden wollten. In der Zeit von Alfred Baumgarten beziffert ein Verzeichnis der Kneippärzte insgesamt 271 Mediziner in Wörishofen. 57 Wohl wichtigstes Ergebnis dieser Zusammenarbeit ist die Gründung des Internationalen Vereins Kneipp’scher Aerzte 1894. Neben dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch galt die wissenschaftliche Erforschung und Vertretung des Kneipp’schen Heilverfahrens in der Öffentlichkeit als Zweck dieser Organisation. 58 Ebenso sollte mit Hilfe einer theoretischen Grundlage um Akzeptanz innerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin geworben und der Beweis erbracht werden, 53 S IMON B ARUCH , Das Wasser in der ärztlichen Praxis, Stuttgart 1896, S. 17. 54 H UGO D AVIDSOHN , Die Technik der Hydrotherapie, Berlin 1906, S. 6. 55 Zu den Kneippärzten: S. W ALTENBERGER , Sebastian Kneipp (Anm. 2), S. 88-99; L. W AIBL , Zur Geschichte (Anm. 24), S. 103-117. 56 L. B URGHARDT , Helfer der Menschheit (Anm. 1), S. 41. 57 L. W AIBL , Zur Geschichte (Anm. 24), S. 104. 58 Zur Gründungssitzung vgl. A LFRED B AUMGARTEN , Ein Fortschritt des Wasser-Heilverfahrens. Untersuchung und Kritik der Systeme Priessnitz und Kneipp, Wörishofen 1901, S. 344. <?page no="335"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 335 dass nicht Sinnestäuschungen, Suggestionen und fanatische Ideen für die Heilung verantwortlich seien. 59 Abb. 5: Sebastian Kneipp mit Dr. Alfred Baumgarten (links) zusammen mit den Gründern des Kneipp-Ärztebundes 1894. Neben der Kooperation mit approbierten Ärzten war Kneipps Entscheidung, sein Erbe an die Medizin weiterzureichen, zukunftsweisend. Indem Ärzte durch therapeutische Neuerungen zur weiteren Ausgestaltung des Heilverfahrens beitrugen und sich in aktuelle medizinische Diskussionen einschalteten, hielten sie seine Methode am Leben. Auch die Tatsache, dass sich die Kneippärzte, im Gegensatz zur Naturheilbewegung, in kritischen Fragen wie dem Impfzwang eher zurückhaltend äußerten, trug bedeutend zu ihrer breiten Akzeptanz bei. 60 59 A LFRED B AUMGARTEN , 300 Fälle nach Kneipp’scher Heilmethode geheilet oder gebessert, Kaufbeuren 1898, S. 7. 60 Vgl. Wörishofener Kur- und Bade-Blatt mit amtlicher Fremdenliste. Amtliches Publikations-Organ der Gemeinde Wörishofen 5 (1899), S. 2. <?page no="336"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 336 9. Kneipp-Medizin Seit etwa 1920 kann eine zunehmende Annäherung der Schulmedizin an die Kneipp- Methode festgestellt werden. Als bedeutendes Ereignis ist die am 10. Juni 1923 veranstaltete Exkursion des medizinischen Lehrstuhls der Universität München nach Bad Wörishofen zu erwähnen. Diese Lehrveranstaltung markierte einen Wendepunkt im gegenseitigen Verständnis. Erstmals informierten sich Vertreter der naturwissenschaftlich ausgerichteten Universitätsmedizin vor Ort über das in Bad Wörishofen praktizierte Verfahren. Prof. Gottfried Böhm, der damalige Abteilungsleiter für physikalische Therapie des Krankenhauses rechts der Isar, resümierte: Die Zeiten, in welchen speziell die medizinischen Universitätskreise das Kneipp’sche Heilverfahren gleichgültig oder ablehnend behandelten, sind vorüber. 61 Eine weitere Begebenheit, die im Kontext der Annäherung nicht unerwähnt bleiben darf, ist die Errichtung klinischer Stützpunkte in Krankenhäusern. Durch den Einsatz Kneipp’scher Heilmethoden im Rahmen der stationären und ambulanten Behandlung waren diese nun nicht mehr auf den Kurbetrieb beschränkt. 62 Damit war nicht nur eine Annäherung von Schulmedizin und Kneipps Lehre vollzogen worden, die Schulmedizin begann auch die einzelnen Verfahren in ihren Behandlungsablauf zu integrieren. Dieser Meinungsumschwung erklärt sich zum Teil durch das neue Interesse der Schulmedizin an Kneipps ›Abhärtungsmaßahmen‹, die eine Fülle von Beispielen für die an Bedeutung gewinnende Präventivmedizin boten. 63 Zum anderen deckte sich die von Kneipp propagierte ganzheitliche Behandlung mit der neuen Ganzheitsbetrachtung des Patienten, die nicht nur den lokalen Krankheitsprozess, sondern den ganzen Menschen berücksichtigte. Und schließlich waren es die verstärkten Autarkiebestrebungen, die Kneipp als billige und einfache Alternative zum Medikamenteneinsatz attraktiver werden ließen. Letzteres kann insbesondere nach 1933 für den Erfolg der Kneipp’schen Heilmethoden verantwortlich gemacht werden. Im Zuge der umfassenden Veränderung von Gesellschaft, Kultur und politischem System wandelte sich auch die Erinnerung an Sebastian Kneipp ab 1933 grundlegend. Signifikant ist hierbei vor allem die bewusste Reminiszenz an den deutschen, gesunden, volkstümlichen Arzt, der für die Parteiinteressen und politischen Ziele 61 A LBERT S CHALLE , Es dämmert, in: Kneipp-Blätter. Monatsschrift für Volksgesundheitspflege, für Kneipp’sche Heil- und Lebensweise 33 (1923), S. 50f., hier 50. 62 Z. B. P AUL H AGGENEY , Die Kneipp’sche Heilweise im Großstadt-Krankenhaus, in: Kneipp-Blätter. Monatsschrift für Volksgesundheitspflege, für Kneipp’sche Heil- und Lebensweise 45 (1935), S. 110-114. 63 Kneipps Credo lautete: Die beste Abhärtung ist der beste Schutz; sie kann nur durch das kalte Wasser erreicht werden; S. K NEIPP , Meine Wasserkur (Anm. 45), S. 9. Kneipp geht sogar so weit, von einem Zeitalter der Verweichlichung zu sprechen; D ERS ., Mein Testament (Anm. 20), S. 12. <?page no="337"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 337 instrumentalisiert wurde. 64 Dass hier der nationalsozialistische Topos der Volksgemeinschaft Pate stand, ist offenkundig. Innerhalb des NS-Konzepts der ›Gesundheitsführung‹ erlangte die Naturheilkunde, der auch Kneipp zugerechnet wurde, einen speziellen Stellenwert, da diese für die sozialdarwinistische Politik der Artverbesserung und Wehrertüchtigung nützlich erschien. Ziel war eine breite ›Volksgesundheitsbewegung‹, für die in der Neuen Deutschen Heilkunde ( NDH ) eine Synthese von Elementen der Naturheilkunde und der Schulmedizin angestrebt wurde. Kneipps Lehre, die genau diese Verschmelzung wiedergab, wurde zum Musterbeispiel für die NDH . Besonders seine Anleitungen zur Abhärtung und seine alternative Kräutermedizin rückten ins Zentrum des Interesses. Angeregt durch seine Arbeit wurde er insbesondere für das SS-Heilkräuterprogramm zur Referenz. 65 Die neu entfachte Kneipp-Begeisterung schlug sich auch in Wörishofen nieder. 1937 wurde der Bau eines Kneipp-Mausoleums, bestehend aus Gruftkapelle und Marmorsarkophag, verwirklicht. 66 Die Besucherstatistiken zeigten ebenfalls Rekorde. 67 1942 verzeichnete Wörishofen mit 29.208 Kurgästen einen neuen Höchststand. Verantwortlich hierfür war außerdem die Praxis der Kinderlandverschickungen nach Bad Wörishofen durch die 1933 gegründete Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ( NSV ). 68 Ebenso trug die Aufnahme der Kneipp-Kurorte in den Reichsfremdenverband und in das Amt für Reisen, Wandern und Urlaub ( RWU ) einen Teil dazu bei. Als Abteilung der nationalsozialistischen Tourismusorganisation Kraft durch Freude ( KdF ) garantierte die RWU eine konstante Besucherzahl. 69 Zweifellos kann somit dem staatlich verordneten Tourismus im Dritten Reich eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der Kneipp-Kurorte zugedacht werden. Wie schon während des Ersten Weltkriegs wurde Bad Wörishofen ab 1940 zur Lazarettstadt und der Kurbetrieb brach zusammen. Das 1945 von der amerikanischen Militärverwaltung eingerichtete Lager zur Unterbringung von Displaced Persons und die vielen Kriegsflüchtlinge führten dazu, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Ort neben 5.036 Einwohnern auch 5.231 Flüchtlinge beherbergte. 64 Dass Sebastian Kneipp ein katholischer Geistlicher war, wurde zu dieser Zeit weitgehend ausgeblendet. 65 U WE H EYLL , Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt a. M. 2006, S. 225. 66 M. P ETZET , Denkmäler in Bayern (Anm. 40), S. 389. 67 Die Daten zu den Kurgästen nach 1933 beziehen sich auf die Statistik von Filser; A. F IL - SER , Leben und Streben (Anm. 29), S. 44. 68 L. B URGHARDT , Helfer der Menschheit (Anm. 1), S. 131. 69 Zwischen 1934 und 1939 war das RWU das größte Reiseunternehmen der Welt. Insgesamt 7 Mio. Touristen wurden in diesen Jahren befördert. Hinzu kamen 8,4 Mio. Kurzreisen; vgl. H ASSO S PODE , Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« - ein Volk auf Reisen? in: D ERS . (Hg.), Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berlin 1991, S. 79-94, hier 8. <?page no="338"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 338 10. Stadt Wörishofen und Kneipp-Tourismus Das Schicksal des Ortes war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst weiterhin eng an das Interesse der Schulmedizin gebunden. Im Februar 1948 organisierten sich die verbleibenden Kneippärzte im so genannten Kneippärztebund und initiierten eine wegweisende Entscheidung: Am 12. Oktober 1948 wurde beim Deutschen Bädertag Bad Wörishofen als erstes ›Kneipp-Heilbad‹ anerkannt und 1949 in den bayerischen Heilbäderverband aufgenommen. Im Gegensatz zum einfachen Kneippkurort, der auch das Prädikat Bad trägt, muss das Kneippheilbad über ein umfassendes Angebot an Kureinrichtungen und über mehr als drei geeignete Kurbetriebe zur Durchführung einer Kneippkur verfügen. Außerdem muss sich das Kneippheilbad mindestens zehn Jahre als Kneippkurort bewährt haben. 70 Für die Zukunft war damit die Grundlage für die Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen geschaffen worden, die unter dem Slogan ›Reha vor Rente‹ lange Zeit die Kneipp-Kur in Bad Wörishofen förderten. Im Frühjahr 1949 zeigt die Besucherstatistik wieder die Aufnahme des Kurbetriebs: Das Kurhaus wurde renoviert und die Parkanlagen und Wassertretplätze instandgesetzt. Im selben Jahr folgte die Erhebung der Gemeinde zur Stadt. Die Übernachtungszahlen wuchsen rasant von 1955 mit 719.000 auf 1,4 Millionen Übernachtungen im Jahr 1975. Um die Attraktivität als Kurbad zu bewahren, versuchten die Wörishofer, auf die neuen Bedürfnisse der Gäste einzugehen: Die Errichtung eines Hallenbads 1962 und einer Kunsteisbahn 1972 steigerten die Attraktivität des Ortes. Der 1978 eröffnete Golfplatz, die Erweiterung des Kurhauses und das Kneipp-Museum sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Zugleich führte die gestiegene Einwohnerzahl in den 1950er und 1960er Jahren zu Wohnungsbauprojekten und Infrastrukturmaßnahmen wie einer neuen Kläranlage und einem Kraftwerksbau an der Wertach. In den 1980er und 1990er Jahren erfolgte ein weiterer Bauboom - ausgelöst durch die wachsende Einwohnerzahl in Wörishofen. Dabei handelte es sich v. a. um Ruheständler, die sich in der Kneippstadt niedergelassen hatten. Ergebnis dieser Entwicklung war, dass Ende der 1990er Jahre ein Drittel der Stadtbevölkerung über 66 Jahre alt war. 71 In den 1990er Jahren setzte dann eine Trendwende bei den Gästeankünften bzw. v. a. bei den Übernachtungszahlen ein, die auf die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen zurückzuführen sind. Mit der Neubewertung der ambulanten Badekur und den damit verbundenen Kürzungen trat auch eine Neuorientierung der Wörishofer ein. Der Kurbetrieb als alleiniges Standbein schien nicht mehr zukunftsfähig. Den 70 Bayerische Anerkennungsverordnung (BayAnerkV) vom 17.9.1991 (GVBl. S. 343, 371, BayRS 2024-1-1-I), die zuletzt durch § 1 Abs. 58 der Verordnung vom 26.3.2019 (GVBl. S. 98) geändert worden ist, § 4. 71 A. F ILSER , Leben und Streben (Anm. 29), S. 47. <?page no="339"?> K NEIP P S W ÖR IS H OF EN . E IN D OR F WIRD K UR OR T 339 rückläufigen Gästezahlen wurde mit der Planung eines Thermalbads begegnet. Mit der Eröffnung des Erlebnisbads im Mai 2004 sollte ein neues Publikum für Bad Wörishofen gewonnen werden. 72 Die anfänglichen Bedenken einiger Kritiker, die ›Südsee-Therme‹ führe zu einer ›Verwässerung der Kneipp-Lehre‹, zeugen vom Bewusstsein um das große Erbe der Stadt. 73 Gleichzeitig offenbarte sich in dieser Diskussion der Spagat der Wörishofer zwischen Traditionspflege und Modernisierung. Themen wie Wellness bzw. Kneippness, das als das deutsche Ayurveda 74 vermarktet wurde, drängten die klassische Krankenbehandlung zunehmend in den Hintergrund. Diese Strategie führte dazu, dass zwar wieder mehr Menschen nach Bad Wörishofen kamen, allerdings nahm die Verweildauer stetig ab. 2017 wurden für Bad Wörishofen insgesamt zwar 148.000 Ankünfte, aber nur 687.000 Übernachtungen verzeichnet. Vergleicht man diese Zahlen mit denen in den 1970er Jahren, so scheinen die goldenen Zeiten für Kneipps Wörishofen vorüber zu sein. 11. Bad Wörishofen als regionales Modell Die vorangegangenen Ausführungen stellten Bad Wörishofen als Beispiel einer medikalisierten Region und zugleich auch als Modell für die (urbanen) Potentiale der ›Sorge um Gesundheit‹ vor. Das lokale und zeitgebundene Ereignis Sebastian Kneipp wurde in die von außen herangetragenen Einstellungen von Gesundheit und Krankheit eingebunden und interpretiert - und das immer wieder neu. Kneipp lieferte mit seinen Wasseranwendungen und seiner Vita einen leicht zugänglichen Anknüpfungspunkt, der jeweils mit aktuellen Gesundheitsvorstellungen in Bezug gesetzt wurde. Der Samariter, der Volksarzt, der Naturheiler etc. wurde nicht vergessen - im Gegenteil. Er wurde zum Wirtschaftsfaktor einer ganzen Region, und das mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Die extreme Fokussierung auf Kneipp, die sich bereits 1897 als Krisenpotential abzeichnete und in den 1990er Jahren Schwierigkeiten bereitete, zeigt aktuell ihre negativen Folgen im vollen Umfang. Die Corona-Krise, die dem Tourismus im Allgäu einen herben Dämpfer versetzte, traf die Kurstadt Bad Wörishofen besonders hart. 75 Im März 2021 bemühte sich die Stadt daher um eine Bewerbung als 72 A. F ILSER , Leben und Streben (Anm. 29), S. 48-50. 73 M ARKUS H EINRICH , Das Wasser als Zauberformel (Unsere Städte 11), in: Augsburger Allgemeine vom 15.4.2006. 74 Wellness Kneipp-Kuren: »Das ist das deutsche Ayurveda«, in: Focus online vom 9.7.2010. 75 S TEFAN B INZER / M ARKUS H EINRICH , Corona: Tourismus-Einbruch in Bad Wörishofen stärker als befürchtet, in: Augsburger Allgemeine vom 3.3.2021. <?page no="340"?> S A R AH W ALTEN BER G ER 340 ›Coronakommune‹ nach Tübinger Vorbild. 76 Es bleibt abzuwarten, ob die Pandemie eine Veränderung in der Kneipp-Interpretation bewirkt. Denkbar wäre zum Beispiel eine Abkehr von der an Beliebigkeit grenzenden Kneipp-Wohlfühl-Atmosphäre im Kontext von Wellness und Körperpflegeprodukten. Stattdessen träfe eine stärkere Akzentuierung der ursprünglichen Krankenbehandlung eher den Zeitgeist und könnte so vielleicht ökonomisch den Kneipport Bad Wörishofen sichern. Dass sich Kneipps Konzepte wie Barfußgehen, Abhärtung und frische Luft auch unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln umsetzen lassen, könnte dabei als glücklicher Zufall gelten. Es wäre nicht das erste Mal, dass Kneipps Interpretation im Kontext der ›Sorge um die Gesundheit‹ den Wörishofern eine vielversprechende Zukunft in Aussicht stellt. 76 M ARKUS H EINRICH , Öffnen trotz Corona: Bad Wörishofen und Mindelheim wollen Modellstädte werden, in: Augsburger Allgemeine vom 26.3.2021. <?page no="341"?> III. Übergreifende Gesundheitspolitiken <?page no="343"?> 343 C HRISTINE R OGLER Vormoderne Daseinsvorsorge? Ländliche Badestuben im Kurfürstentum Bayern Im Mai 1733 drohte Matthias Wildenauer, Bader im bayerischen Sandelzhausen (Landgericht Moosburg), 1 das Dorf zu verlassen und die öffentliche Badestube im etwa 20 Kilometer entfernten Siegenburg 2 zu übernehmen. Sein Weggang hätte für die Einwohnerschaft des Dorfes weitreichende Folgen, wie er betonte. Sie müsste dann nit allein bey eraigneten vnglickhsfählen, painbrüchen, gefährlichen zueständten vnd verwundtung mit grossen vncossten von anderen ohrten her einen baader berueffen lassen, sondern auch (gott verhiett es genediglich) bey einreissenter pestilenzischen Sucht vnd anderen contagioren krankheiten ohne hüllf vnd trost armsellig darin niderligen. 3 Der Bader verwies selbstbewusst auf seine bedeutende Rolle bei der Versorgung kranker und verwunderter Dorfbewohner. Er hatte wohl recht, denn studierte Ärzte waren im 18. Jahrhundert auf dem Land kaum zu finden. 4 Der Mangel an Ärzten hat maßgeblich zum anhaltenden Topos der medizinischen Unterversorgung im ländlichen Raum beigetragen. Über die vermeintliche Versorgungslücke berichtete nicht zuletzt der ärztliche Berufsstand selbst in seiner Publizistik des 18. und 19. Jahrhunderts. 5 Entgegen diesem Topos wirkten jedoch zahlreiche - lizensierte 1 Sandelzhausen, LK Kelheim. Eine Beschreibung der Güter und ihrer Grundherrschaften nach der Güterzählung von 1752 für das Hofmarksdorf Sandelzhausen in S EBASTIAN H IE - RETH , Das Landgericht Moosburg (HAB, Teil Altbayern 1), München 1959, S. 45. 2 Siegenburg, LK Kelheim. 3 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 9919: Matthias Wildenauer [nach dem 7.5.1733]. 4 In nur einem Drittel der Städte und Märkte des Kurfürstentums Bayern hielten sich um 1800 Ärzte auf; C HRISTIAN P ROBST , Die Reform des Medizinalwesens in Bayern zwischen 1799 und 1808, in: E BERHARD W EIS (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 4), München 1984, S. 195-210, hier 196. Neben den Stadtbzw. Marktärzten war seit 1612 in jedem Rentamt ein Landschaftsarzt tätig, den die Landschaft für die Behandlung ständischer Personen anstellte. Analog zu den Landschaftsärzten beschäftige die kurfürstliche Landesverwaltung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in jedem Rentamt einen von der jeweiligen Regierung eingesetzten Rentamtsphysicus; T HOMAS P ARINGER , Die bayerische Landschaft. Zusammensetzung, Aufgaben und Wirkungskreis der landständischen Vertretung im Kurfürstentum Bayern (1715-1740) (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 27), München 2007, S. 246-248. 5 So z. B. A NONYM , Bitte eines baierischen Landmannes an Max Joseph III. bei dessen <?page no="344"?> C HRIS TIN E R OGL ER 344 wie auch unlizenzierte - Heilkundige mit ihren Dienstleistungen auf dem Land. 6 Um die Wundversorgung, therapeutische Maßnahmen wie Schröpfen oder Aderlassen, Krankenpflege, sogar operative Eingriffe kümmerten sich hier vor allem die Bader. Als Betreiber öffentlicher Badestuben boten sie zudem Dienstleistungen im Bereich Hygiene mit Schwitz- oder Wannenbädern und anderen Leistungen der Körperpflege an: Haarewaschen, Haareschneiden und Rasieren. Das Handwerk der Bader erfuhr seit dem 16. Jahrhundert weitreichende Transformationen. So gelten steigende Holzpreise, sich ausbreitende Infektionskrankheiten wie die Syphilis und private Badestuben der Bürger und Bauern als Ursachen für den langsamen Niedergang des öffentlichen Badewesens und den einsetzenden Wandel des Baders zum Wundarzt und Chirurgen. 7 Der Funktionswandel war regional allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Während die »Badertätigkeit im Sinne der Betreibung einer Badestube« 8 in Württemberg im 18. Jahrhundert nicht mehr üblich war, bestanden Badestuben in Oberschwaben weiter fort. 9 Auch aus dem fränkischen Raum rund um Nürnberg sind Badehausneubauten des 17. und Widerkehre um Ärzte, Wundärzte und Geburtshelfer auf das Land, o. O. 1801 (Exemplar: BSB, Bavar. 259). Auch in der medizinhistorischen Forschung war der Topos lange verbreitet, siehe etwa A LEXANDER VON H OFFMEISTER , Das Medizinalwesen im Kurfürstentum Bayern (Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften. Medizinhistorische Reihe 6), München 1975, S. 67; und R UDOLF S CHENDA , Stadtmedizin - Landmedizin. Ein Versuch zur Erklärung subkulturalen medikalen Verhaltens, in: G ERHARD K AUFMANN (Hg.), Stadt-Land-Beziehungen, Göttingen 1975, S. 147-170. 6 Inzwischen rückt die medizinhistorische Forschung von der Annahme medizinischer Wüsten auf dem Land ab; vgl. dazu für den württembergischen, badischen und bayerischen Raum S ABINE S ANDER , Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 83), Göttingen 1989, S. 180-183; F RANZISCA L OETZ , Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750-1850 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 2), Stuttgart 1993, S. 176-179; M ICHAEL S TOLBERG , Ärzte und bayerische Landbevölkerung im 19. Jahrhundert, in: F RANZISKA L OBENHOFER -H IRSCHBOLD / A RIANE W EIDLICH (Hg.), Sauber! Hygiene früher in Oberbayern. Eine Annäherung an historische Wirklichkeiten (Schriften des Freilichtmuseums des Bezirks Oberbayern an der Glentleiten 20), Großweil 1995, S. 71-80, hier 74-76. 7 A LFRED M ARTIN , Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen. Nebst einem Beitrag zur Geschichte der deutschen Wasserheilkunde, Jena 1906, S. 196-221; M ARTIN W IDMANN , Krise und Untergang der Badstube, in: Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences 56 (1999), S. 220-240. 8 S. S ANDER , Handwerkschirurgen (Anm. 6), S. 233. 9 E BERHARD F RITZ , Badstuben im Konstitutionsprozess der ländlichen Gemeinde in Südwestdeutschland an der Wende der Frühen Neuzeit, in: ZWLG 65 (2006), S. 11-35, hier 16. <?page no="345"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 345 18. Jahrhunderts bekannt. 10 Für das Kurfürstentum Bayern zeigen Landesbeschreibungen wie die ›Dachsbergsche Volksbeschreibung‹ von 1771 11 und eine Gewerbebeschreibung aus dem Jahr 1805, 12 dass sich öffentliche Badestuben noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts über das Land verteilten. Tiefergehende Untersuchungen für Bayern stehen hierzu noch aus. Die öffentliche Badestube existierte in Bayern jedenfalls noch über das 16. Jahrhundert hinaus. Doch was in den ländlichen Badestuben des 17. und 18. Jahrhunderts geschah, darüber geben die Quellen nur sehr spärliche Antworten. Gingen Dorfbewohner noch zum (Schwitz-)Baden in die Badestube? Oder waren die Badestuben in erster Linie Einrichtungen für die Versorgung Kranker oder Verwundeter? Wer waren Patienten und Kunden der Bader; wie weit reichte das Einzugsgebiet einer Badestube? Kurz: Wie können wir uns den täglichen Betrieb im Bad vorstellen? Patientenakten, Rezeptbücher oder Egodokumente wie Tage- und Haushaltsbücher, die tiefere Einblicke in den Alltag und die Praktiken einer ländlichen Badestube geben könnten, sind in den Archiven nur spärlich überliefert. Fiktionale Texte, etwa Meisterlieder, Gesänge oder Gedichte, erlauben es zwar, vorsichtig Rückschlüsse auf Abläufe in Badestuben zu ziehen; die mit Metaphern und Allegorien versehenen Texte spiegeln dabei freilich keine historische Realität wider. 13 Die aufgeworfenen Fragen zum täglichen Betrieb eines vormodernen öffentlichen Bades im dörflichen Kontext sind auf diesem Weg kaum zufriedenstellend zu beantworten. »[W]ir müssen auch in den Archiven kreativ arbeiten und müssen - besonders in der Medizingeschichte - doch unser Netz viel weiter auswerfen«, 14 fordert die Medizin- 10 S USANNE G ROSSER / H ERBERT M AY , »Wolher ins Bad reich vnde arm«. Öffentliche Badhäuser im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: B IRIGT A NGERER u. a. (Hg.), Sauberkeit zu jeder Zeit! Hygiene auf dem Land (Schriften Süddeutscher Freilichtmuseen 7), Petersberg 2019, S. 39-57, hier 41. 11 Statistik der Professionisten im Kurfürstentum Baiern nach der Dachsbergschen Volksbeschreibung (1771-1781), hg. v. M ARKUS A. D ENZEL (Quellen und Forschungen zur historischen Statistik von Deutschland 22), St. Katharinen 1998. 12 BayHStA, GR Fasz. 401: Ehehaftsbeschreibung Generalakt 1805. 13 So z. B. das Meisterlied Lörles Pad von Hans Sachs (1535) oder die weltlichen Gesänge der sogenannten Stubenberg Handschrift: Gesänger Buch. Der Zweyte Theill Worinnen! Die Weltliche Gesänger zu finden seind, gesammelt und geschrieben von Philipp Lenglachner (1769-1823). Edition der Handschrift Cgm 7340 der Bayerischen Staatsbibliothek München, transkribiert von W ILLIBALD E RNST , hg. v. G ABRIELE W OLF / W ILLIBALD E RNST (Stubenberger Handschriften 2/ 2; Quellen und Studien zur musikalischen Volkstradition in Bayern 6), München 2017, S. 62. Zur kritischen Hinterfragung fiktionaler Quellen: S. G ROSSER / H. M AY , Öffentliche Badhäuser (Anm. 10), S. 43-46; S IMONE L OLEIT , Wahrheit, Lüge, Fiktion: Das Bad in der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts, Bielefeld 2008, bes. S. 111-119. 14 M ARY L INDEMANN , Wie ist es eigentlich gewesen? Krankheit und Gesundheit um 1800, <?page no="346"?> C HRIS TIN E R OGL ER 346 historikerin Mary Lindemann. Unterschiedliche Quellen aus verschiedenen Provenienzen heranzuziehen ist denn auch ein wesentliches Merkmal landes- und regionalgeschichtlicher Forschung zur Untersuchung konkreter Verhältnisse. 15 Auf die ländlichen Badestuben angewendet, zeigt sich, dass im Verwaltungsschriftgut und in Prozessakten auf den verschiedenen Ebenen der kurbayerischen Administration reichhaltiges Quellenmaterial verborgen liegt. Zudem sind für Bayern nach dem Ausbau von Zentralbehörden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und infolge der stark intensivierten Kontrolle der Unterbehörden seit Herzog/ Kurfürst Maximilian I. (1598-1651) landesherrliche Maßnahmen im Medizinalwesen besonders gut nachvollziehbar. 16 Neben landesherrlichen Mandaten stehen zur Untersuchung der dörflichen Badestuben im Kurfürstentum Bayern ländliche Rechtsquellen in Form von sogenannten Ehaftordnungen zur Verfügung. An deren Entstehung waren meist sowohl Teile der Dorfbewohner als auch Herrschaft und landesherrliche Verwaltung beteiligt. 17 in: B ETTINA W AHRIG / W ERNER S OHN (Hg.), Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750-1850 (Wolfenbütteler Forschungen 102), Wiesbaden 2003, S. 191-207, hier 199. 15 Zu Methoden der Landesgeschichte siehe etwa: W ALTER R UMMEL , Landes- und Regionalgeschichte. Komplementärdisziplinen im gesellschaftlichen Umfeld, in: S IGRID H IRBO - DIAN / C HRISTIAN J ÖRG / S ABINE K LAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, S. 29-40; F ERDINAND K RAMER , Landesgeschichte in europäischer Perspektive, in: S. H IRBODIAN / C. J ÖRG / S. K LAPP (Hg.), Methoden, S. 209 ‒ 217; W OLFGANG E. J. W EBER , Kulturhistorische Perspektiven der Landesgeschichte, in: J OHANNES B URKHARDT / T HOMAS M AX S AFLEY / S ABINE U LLMANN (Hg.), Geschichte in Räumen. FS für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 323-344; W ERNER F REITAG , Landesgeschichte als Synthese - Regionalgeschichte als Methode? , in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 291-305. 16 Zur bayerischen Behördenorganisation in der Frühen Neuzeit: D IETER A LBRECHT , Staat und Gesellschaft. Zweiter Teil: 1500-1745, in: HBG II, 2. bearb. Aufl. München 1988, S. 625-663, hier 651-657; zum Visitationswesen vgl. auch: B IRGIT N ÄTHER , Die Normativität des Praktischen. Landesherrliche Visitationen im frühneuzeitlichen Bayern (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden 4), Münster 2017. 17 Zur Forschungslage und zu -kontroversen über die Bezeichnung, das Alter und die Genese der ländlichen Rechtsquellen: C HRISTIANE B IRR , Weistümer und »Ländliche Rechtsquellen«, in: J OSEF P AUSER / M ARTIN S CHEUTZ / T HOMAS W INKELBAUER (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien-München 2004, S. 390-408; G ABRIELE VON T RAUCHBURG , Ehehaften und Dorfordnungen. Untersuchungen zur Herrschafts-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des Rieses anhand ländlicher Rechtsquellen aus der Grafschaft Oettingen (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 23), Augsburg 1995, S. 7-28; P ANKRAZ F RIED , Einleitung, in: D ERS . <?page no="347"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 347 Der landeshistorische Zugriff erlaubt eine Annäherung an das vormoderne Bad im Dorf, an dessen Betreiber und an die Dorfbewohner - immer in Abhängigkeit zu administrativ-institutionellen und landesherrlich-obrigkeitlichen Verfügungen. Erst in der Zusammenschau bieten die genannten Quellen die Chance, die Bader auch außerhalb ihrer Tätigkeit in der Badestube in den Blick zu nehmen: Der Bader wirkte als sozialer Akteur in der Wechselbeziehung mit seinem regionalen und lokalen Umfeld schließlich selbst auf gesellschaftliche Normen des Zusammenlebens ein und war als Heilkundiger zugleich wichtige Stütze dieses Zusammenlebens. Bei den für die Badestuben relevanten ländlichen Rechtsquellen handelt es sich um Ordnungen, in denen die Rechte und Pflichten der Bader für ihren Wirkungskreis festgehalten wurden. Denn die ländliche Badestube zählte im Kurfürstentum Bayern zu einer besonderen Rechtsform, der ›Ehaft‹. Ehaftgewerbe, wozu neben den Badestuben auch Mühlen, Tavernen und Schmieden gehörten, deckten den Grundbedarf regelmäßig benötigter Leistungen im Dorf. Wie die Bezeichnung ›Ehaft‹ andeutet - sie meint »nach dem Gesetz zulässig« oder »gültig« 18 -, unterlagen sie einer strengen Reglementierung. Dienstleistungen und Preise der Ehaftgewerbe waren grundsätzlich genauestens vorgegeben; (legale) Konkurrenz durch gleichartige Gewerbe im Ort schloss die landesherrliche Gesetzgebung aus 19 und nicht selten bestand für die Dorfbewohner - zusätzlich zu den obligatorischen Abgabeleistungen an die Gewerbetreibenden - eine Nutzungspflicht. 20 Das skizzierte rechtliche Gefüge der Ehaftgewerbe blieb bis zu den Reformmaßnahmen durch Maximilian von Montgelas zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestehen. 21 Die Landbevölkerung (Hg.), Die ländlichen Rechtsquellen aus den pfalz-neuburgischen Ämtern Höchstädt, Neuburg, Monheim und Reichertshofen vom Jahre 1585 (Rechtsquellen aus dem bayerischen Schwaben 1), Sigmaringen 1983, S. 9-36. 18 A NDREAS S CHMELLER , Bayerisches Wörterbuch. Sammlung von Wörtern und Ausdrücken […]. Erster Theil, enthaltend die Buchstaben A, E, I, O, U, B, P, D, T, F, V, Stuttgart-Tübingen 1827, S. 4. 19 Ehaftgewerbe waren durch die Landesfreiheit Herzog Albrechts V. von Bayern seit 1553 rechtlich auf landesweiter Ebene verankert: Erclärung der Landesfreihait in Obern vnnd Nidern Bairn […], München 1553 (Exemplar: BSB, 2 Bavar. 248, Teil 3, Artikel V), fol. XIXr. 20 Zur Ehaft und zu Ehaftgewerben u. a.: W ALTER H ARTINGER , Ehaftgewerbe, publiziert am 6.4.2016, in: Historisches Lexikon Bayerns, http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexi kon/ Ehaftgewerbe (aufgerufen am 8.9.2020); G. VON T RAUCHBURG , Ehehaften (Anm. 17); R UDOLF W ILHELM , Rechtspflege und Dorfverfassung. Nach niederbayerischen Ehehaftsordnungen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Verhandlungen des historischen Vereins für Niederbayern 80 (1954), S. 1-151; H EINZ L IEBERICH , Einige Grundbegriffe des kurbayerischen Verfassungsrechts, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Oberbayern 2 (1940), S. 41-47. 21 W ALTER H ARTINGER , »… wie von alters herkommen …«. Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern, Bd. 3: Nachträge, Ehehaft-Gewerbe (Bader, Schmiede, <?page no="348"?> C HRIS TIN E R OGL ER 348 stellte die Sonderstellung der Ehaftgewerbe jedoch bereits im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend in Frage und nicht wenige Gemeinden versuchten, sich vom ewigen onus 22 zu lösen. Das System lokal begrenzter Reglementierungen der Gewerbeausübung scheint, wie es Rainer Beck formuliert, »nicht mehr ganz zeitgemäß« 23 gewesen zu sein. Gleichwohl maßen lokale Amtsträger und die Landesverwaltung der Ehaft weiter eine bedeutende Rolle in der medizinischen und hygienischen Grundversorgung für die Menschen im ländlichen Raum bei. Vor diesem Hintergrund ist die Relevanz des Ehaftbaders in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit zu untersuchen. Für die Analyse der ländlichen Gesundheitseinrichtung Badestube soll im Folgenden das Konzept der Daseinsvorsorge angewandt und auf seine Tauglichkeit in der Analyse frühneuzeitlicher Regulierung erprobt werden. Zunächst wird das für das Verständnis der ländlichen Badestuben zentrale Rechtssystem der Ehaft und dessen idealtypische Einbettung in das Normengefüge der ländlichen Gesellschaft anhand eines Beispiels erläutert. Daran anschließend wird dargelegt, wie die verschiedenen Akteure - Bader, ländliche Bevölkerung und Herrschaft - die Funktion des Ehaftbads für die öffentliche Gesundheitsfürsorge jeweils bewerteten. Die Bedeutung des interpersonalen Verhältnisses zwischen Bader und Landbevölkerung, welche die vorgeschriebenen Ordnungen und landesherrlichen Vorstellungen vielfach unterlief, soll abschließend aufgezeigt werden. Im Fokus stehen die wechselseitigen Beziehungen und Dynamiken, welche die Ehaft letztlich formten. 1. Die ländlichen Badestuben als Ehaftgewerbe Im September 1688 einigten sich die Vertreter der Gemeinde Affing im Landgericht Aichach 24 mit ihrem Bader Jakob Niehl auf Regeln zu Betrieb und Nutzung der örtlichen Badestube. Sie ließen die Ergebnisse in einer Ehaftordnung festhalten. 25 Entsprechend sollte Jakob Niehl jeden Samstag die Badestube ganztägig für die Dorfbewohner einheizen 26 und seinen Gästen warmes Wasser bereitstellen. Jedem Gast Wirte) und andere Detail-Ordnungen (Passauer Studien zur Volkskunde 20), Passau 2002, S. 16f. 22 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 9919: Hauptverantwortung der Gemeinde Sandelzhausen, 7.5.1733. 23 R AINER B ECK , Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993, S. 254. 24 Affing, LK Aichach-Friedberg. Zu Affing siehe auch: G ERTRUD D IEPOLDER , Das Landgericht Aichach (HAB, Teil Altbayern 2), München 1950, S. 32. 25 BayHStA, GR Fasz. 401: Abschrift des Ehaftbriefs der Gemeinden Affing und Katzenthal vom 22.9.1688. 26 Ausgenommen war die Erntezeit, da die leute selbiger Zeit mit der Feldarbeit beschäftiget [waren] vnd dene nit abwarten können. <?page no="349"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 349 wurde ein Badehut aus Stroh gereicht. Dazu sollte in der Badestube stets Lauge in ausreichender Menge vorhanden sein, damit sie auch von armen Gästen, die dergleichen selbst nicht können gießen, genutzt werden konnte. Der Bader schnitt Haare und Bärte und bot jede[r] Persohn, groß oder klein das Schröpfen für 1 Heller pro Schröpfkopf an; zur Ader ließ er seine Kundschaft für 6 Kreuzer. 27 Im allgemeinen Verständnis der Frühen Neuzeit konnten die Menschen in der Badestube therapeutische Eigenschaften des Wassers im Sinne der Humoralpathologie mit Maßnahmen wie dem Aderlassen, Schröpfen und Schwitzen kombinieren. Es galt, die menschlichen Körpersäfte - Blut (warm und feucht), Schleim (kalt und feucht), gelbe Galle (warm und trocken) sowie schwarze Galle (kalt und trocken) - im Gleichgewicht zu halten, denn ein Ungleichgewicht dieser Säfte konnte Krankheit 28 mit sich bringen. Wasser, in seiner natürlichen Form kalt und feucht, fand hierbei auf unterschiedliche Weise Anwendung: »Die Feuchte des Wassers ist dort nützlich, wo ein Zuviel an Trockenheit ist; die Kälte dort, wo es gilt, Hitze zu kühlen. Heißes Wasser, wie es in den Badestuben zu finden ist, wirkt durch seine Wärme, dergestalt etwa, daß ein Zuviel an Feuchtigkeit, das sich zwischen Haut und Fleisch ablagert, in dem Schweißbad erhitzt, dadurch verflüssigt und nach außen getrieben wird.« 29 Weitere ausleitende Maßnahmen, etwa das Aderlassen und Schröpfen, wurden sowohl vorbeugend, um das Gleichgewicht der Körpersäfte zu erhalten, als auch zur Wiederherstellung des Gleichgewichts angewandt. 30 Beide Verfahren spielten in 27 6 Kreuzer waren für den nicht ungefährlichen Eingriff sehr günstig, so bezahlte die Hofmarksherrin von Tutzing, Maria Theresia Cäsilia von Vieregg, für das Aderlassen durch einen Bader 54 Kreuzer; B EATE S PIEGEL , Bader, Arzt und Apotheke im Tutzinger Schloss um 1740, in: F. L OBENHOFER -H IRSCHBOLD / A. W EIDLICH (Hg.), Sauber! Hygiene früher (Anm. 6), S. 81-96, hier 89. 28 ›Krankheit‹ bzw. ›krank sein‹ konnte heißen, dass sich die betroffene Person schwach fühlte, körperliche Beschwerden hatte oder ohne erkennbare Ursache unter ›Zuständen‹ wie z. B. Müdigkeit litt. Die Bedeutung von Krankheit in der Frühen Neuzeit ist schwer zu fassen, weil sie nicht an eine spezifische Ursache und erkennbare Symptome gebunden war. Zum Krankheitsbegriff siehe: O RTRUN R IHA , »krank und siech«. Zur Geschichte des Krankheitsbegriffs, in: A RNDT F RIEDRICH / F RITZ H EINRICH / C HRISTINA V ANJA (Hg.), Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte. Zum 500. Geburtstag Landgraf Philipps des Großmütigen (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien 11), Petersberg 2004, S. 191-201, hier 196f.; M. L INDEMANN , Krankheit (Anm. 14), S. 194f. 29 F RANK F ÜRBETH , Zur Bedeutung des Bäderwesens im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: H EINZ D OPSCH / P ETER F. K RAMML (Hg.), Paracelsus und Salzburg. Vorträge bei den internationalen Kongressen in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993 (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 14, Ergänzungsbd.), Salzburg 1994, S. 463-487, hier 465. 30 S. G ROSSER / H. M AY , Öffentliche Badhäuser (Anm. 10), S. 41-43; B. S PIEGEL , Bader (Anm. 27), S. 87f. <?page no="350"?> C HRIS TIN E R OGL ER 350 der präventiven Gesundheitspflege eine wesentlich Rolle wie Darstellungen in Bauernkalendern verdeutlichen, die an das regelmäßige Aderlassen erinnerten. 31 Die Einwohner Affings konnten im Ehaftbad somit auf gängige Anwendungen der Körper- und Gesundheitspflege zugreifen. Weitere Dienstleistungen des Baders benennt der Ehaftbrief nicht explizit, vielmehr unterlagen alle sonstige[n] Handlungen und die dafür anfallenden Kosten seinem eigenen Ermessen. 32 Die beschriebenen Praktiken führen vor Augen, dass die dörfliche Badestube im Verständnis der Zeitgenossen und in deren Vorstellung von Gesundheit und Krankheit ein Ort der aktiven Gesundheitspflege war. Im Gegenzug waren die Affinger durch die Ehaft verpflichtet, die in der Badestube in Anspruch genommenen Dienstleistungen nicht nur zu einem Fixpreis zu bezahlen, sondern auch ihrem Bader jährlich eine bestimmte Menge Roggen und Gerste zu liefern oder Holzfuhren zu leisten - unabhängig davon, ob sie das Bad tatsächlich nutzten oder nicht. 33 Ländliche Badestuben, die der Ehaft unterlagen, waren damit streng regulierte, durch die Einwohner aufrechterhaltene Gesundheits- und Hygieneeinrichtungen. Die Einwohnerschaft eines Dorfes setzte sich aus verschiedenen, in sich wiederum keineswegs homogenen Gruppen, mit großen sozialen Unterschieden zusammen. 34 So dominierten Bauern das dörfliche Leben am stärksten, unterschieden sich aber in den Hofgrößen und der Ertragskraft erheblich voneinander. In der Regel standen wenige Vollbauern zahlreichen kleineren Halbbzw. Viertelhöfen oder Sölden gegenüber. Letztere machten für ihre Inhaber meist einen gewerblichen Nebenverdienst außerhalb der Landwirtschaft erforderlich. 35 Neben dieser bäuerlichen Gruppe lebten landlose, zur Miete wohnende Personen und das Gesinde im Dorf. Wie aus dem Ehaftbrief des Dorfes Affing ersichtlich wird, waren alle ländlichen Gesellschaftsgruppen abgabepflichtig und berechtigt, das Bad und die Leistungen des Baders zu nutzen. 31 A NNEMARIE K INZELBACH , Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm 1500- 1700 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 8), Stuttgart 1995, S. 89, Anm. 296. 32 BayHStA, GR Fasz. 401: Abschrift des Ehaftbriefs der Gemeinden Affing und Katzenthal vom 22.9.1688. 33 BayHStA, GR Fasz. 401: Abschrift des Ehaftbriefs der Gemeinden Affing und Katzenthal vom 22.9.1688. 34 H ELMUT R ANKL , Landvolk und frühmoderner Staat in Bayern 1400-1800, Bd. 1 (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 17), München 1999, S. 21. 35 Die Badestube in Affing war laut Beschreibung des Jahres 1805 ein Leerhäusel mit nur fünf Juchart Ackerland; BayHStA, GR Fasz. 401: Abschrift des Ehaftbriefs der Gemeinden Affing und Katzenthal vom 22.9.1688. <?page no="351"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 351 Tabelle 1: Jährliche Ehaftabgaben an den Bader in Affing (LG Aichach) und daraus entstehende Leistungen des Baders. Gut/ Person Naturalabgabe/ Dienst Geldabgabe zustehende Leistungen Ganzer Hof 2 Metzen Roggen 2 Eier 36 Fuhre von 1 Fuder Holz zur Badestube 3 Kreuzer (je 1 kr an Weihnachten, Ostern und Pfingsten) Badnutzung jeden Samstag 1 Sechter 37 Wasser Badehut Lauge Halber Hof (Hube) 2 Metzen Roggen 2 Eier Fuhre von 1 Fuder Holz zur Badestube 3 Kreuzer (je 1 kr an Weihnachten, Ostern und Pfingsten) Badnutzung jeden Samstag 1 Sechter Wasser Badehut Lauge Sölde 1 Metzen Roggen 2 Eier 3 Schwarze Pfennige 38 (je einen an Weihnachten, Ostern und Pfingsten) Badnutzung jeden Samstag 1 Kübel Wasser Badehut Lauge Pfarrhof 2 Metzen Roggen k.A. k.A. Wirt 2 Metzen Roggen k.A. k.A. 36 Alle Eier waren am Mittwoch vor dem Gründonnerstag in der Karwoche abzugeben. Alternativ zur Eierabgabe war die Zahlung von 1 Kreuzer möglich. 37 Schenkeimer mit einem Hohlmaß von etwa 64 Litern; vgl. R EINHARD H EYDENREUTER / W OLFGANG P LEDL / K ONRAD A CKERMANN , Vom Abbrändler zum Zentgraf. Wörterbuch zur Landesgeschichte und Heimatforschung in Bayern, München 2009, S. 193. Es ist davon auszugehen, dass diese Menge Wasser für die gesamte Bauernfamilie gedacht war. 38 Geringwertige Pfennige; vgl. R. H EYDENREUTER / W. P LEDL / K. A CKERMANN , Wörterbuch (Anm. 35). <?page no="352"?> C HRIS TIN E R OGL ER 352 Gut/ Person Naturalabgabe/ Dienst Geldabgabe zustehende Leistungen Inwohner 39 1 Metzen Roggen 2 Eier 3 Schwarze Pfennige (je einen an Weihnachten, Ostern und Pfingsten) Badnutzung jeden Samstag Wasser 40 Badehut Lauge Witwer ohne Hausbesitz 1 Metzen Gerste 2 Eier 3 Schwarze Pfennige (je einen an Weihnachten, Ostern und Pfingsten) Badnutzung jeden Samstag Wasser Badehut Lauge Witwe ohne Hausbesitz 1 Metzen Hafer 2 Eier 3 Schwarze Pfennige (je einen an Weihnachten, Ostern und Pfingsten) Badnutzung jeden Samstag Wasser Badehut Lauge (Ober-) Knechte mit Bart 1 Metzen Gerste - Badnutzung jeden Samstag Rasur Wasser Badehut Lauge Knechte ohne Bart, Mägde 1 Metzen Hafer - Badnutzung jeden Samstag Wasser Badehut Lauge Grundlage: BayHStA, GR Fasz. 401: Abschrift des Ehaftbriefs vom 22.9.1688. 39 Zur Miete lebende Person; R. H EYDENREUTER / W. P LEDL / K. A CKERMANN , Wörterbuch (Anm. 35). 40 Im Gegensatz zu den Bauern und Söldnern ist die Menge des zustehenden Wassers für andere Gruppen im Ehaftbrief nicht genannt. Ausdrücklich untersagt ist jedoch das selbstständige Entnehmen von Wasser aus dem Kessel, vermutlich auch, um Unfälle mit dem heißen Wasser zu vermeiden. <?page no="353"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 353 Die Ordnungen berücksichtigten die ländliche Gesellschaftsstruktur zumindest prinzipiell und schufen einen begrenzten sozialen Ausgleich, indem größere Höfe im Vergleich zu Söldeninhabern und Inwohnern höhere Abgabeleistungen an den Bader zu entrichten und zusätzlich Holzfuhren zu leisten hatten. Innerhalb der Inwohner unterschied man zwischen Personen im Familienverbund und verwitweten Inwohnern bzw. Inwohnerinnen, die mit günstigerer Gerste bzw. günstigerem Hafer anstelle des Roggens zum Unterhalt des Baders beitrugen. 41 Die entscheidende Kategorie, an der die Abgabelast festgemacht wurde, war demnach der Haushalt, 42 als Wirtschaftseinheit verbunden mit der besetzten Hofstelle und dem Hausbesitz. Allerdings weiß die historische Forschung spätestens seit Eckart Schremmers Untersuchung der vormodernen Wirtschaft Bayerns, 43 wie sehr der ländliche Raum von Gewerbe durchdrungen war, weshalb die sozioökonomische Stellung im Dorf nicht ausschließlich von Hof und Besitz abhängig war. 44 Im System der Ehaft spiegelt sich dieser Umstand allerdings nicht wider, denn die Abgabelast beruhte ausschließlich auf der Hofgröße und dem Hausbesitz. Das gesamte Dorf war berechtigt, die Badestube zu nutzen, jedoch wirkten nicht alle Bewohner an der Abfassung des Ehaftbriefs mit. Nur die Mitglieder der ›Gemeinde‹ waren berechtigt, die Vertragsbedingungen auszuhandeln. Die institutionalisierte versammelte Gemeinde, nach außen von sogenannten Dorfführern oder -vierern vertreten, verwaltete die Allmende und die dörfliche Infrastruktur. Sie war »Adressat[in] von Ansprüchen der Obrigkeit, aber auch Organisationsverband des 41 Nach einer Zusammenstellung der Preise für Getreide im Zeitraum von 1720 bis 1750 von Rainer Beck war Hafer im Raum Landsberg im Schnitt um etwa 40 Prozent günstiger als Roggen: R. B ECK , Unterfinning (Anm. 23), S. 516. 42 So ist womöglich zu erklären, weshalb Kinder selten eigens Erwähnung in Ehaftbriefen finden - sie sind Teil eines aufgeführten Haushalts. Eine Ehaftordnung des Dorfes Eitting (Landgericht Erding) ermahnt alle im Ort lebenden Knechte, Mägde und Kinder, es mit dem wasser nemmen behuetsam [zu] halten […], damit die andere Leuth auch mit wasser versehen seyen; StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10460: Ehaftbrief der Gemeinde Eitting, 23.12.1675. 43 E CKART S CHREMMER , Die Wirtschaft Bayerns vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. Bergbau, Gewerbe, Handel, München 1970. 44 A NKE S CZESNY , Kontinuität und Wandel. Ländliche Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben. Geschichte und Kultur 7), Tübingen 2002, S. 245. Zu den Schwierigkeiten, die sich aus der Analyse der dörflichen Schichtung durch die Hofgröße ergeben: R AINER B ECK , Jenseits von Euclid. Einige Bemerkungen über den »Hoffuß«, die Staatsverwaltung und die Landgemeinden in Bayern, in: ZBLG 53 (1990), S. 697-741. <?page no="354"?> C HRIS TIN E R OGL ER 354 Widerstands gegen sie«. 45 Nur Hausbesitzer, die am Grundbesitz der Gemeinde nutzungsberechtigt waren, gehörten zu ihrem Verbund. Zur Miete lebende Tagelöhner sowie das Gesinde waren damit ausgeschlossen. 46 Der Umfang der aufgezeichneten Rechte und Pflichten eines Ehaftbaders unterschied sich von Ortschaft zu Ortschaft; er wurde für jeden Ort individuell ausgehandelt. 47 Im Wesentlichen repräsentiert das Affinger Beispiel mit seinen Verfügungen die üblichen Regelungsbedürfnisse. Nur in seltenen Fällen geben Ehaftordnungen zudem noch detaillierte Einblicke in das intendierte Geschehen in einer Badestube. Die Ehaftordnung für die Ortschaft Eitting (Landgericht Erding) 48 führt zusätzlich zum Bader einen Badreiber auf, der die Kunden am Badetag mit Wasser versorgen und sie waschen sollte sowie für die Sauberkeit in der Badestube zuständig war. Dafür musste der Bader einen festgelegten Teil seiner Einkünfte aus der Ehaft an den Badreiber abführen. 49 Trotz inhaltlicher Unterschiede war das zentrale zugrundeliegende Prinzip der Ehaftbriefe immer dasselbe: Die Dorfbewohner verpflichteten sich zum Unterhalt ihrer medizinischen und hygienischen Versorgungseinrichtung, der Bader bot im Gegenzug festgelegte Dienstleistungen zu einem bestimmten Preis an. Indem die Dorfbewohner die Badestube also unterhielten, stand dem gesamten Gemeinwesen die Gesundheitseinrichtung Badestube zur Ver- 45 H. R ANKL , Landvolk (Anm. 39), S. 43. 46 M ONIKA O FER , Nachbarschaft und Gemeinde. Zur dörflichen Selbstverwaltung im westlichen Oberbayern im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, in: T ORE I VERSEN / J OHAN R AGNAR M YKING / G ERTRUD T HOMA (Hg.), Bauern zwischen Herrschaft und Genossenschaft. Peasant relations to Lords and Government. Scandinavia and the Alpine region 1000- 1750, Trondheim 2007, S. 41-57, hier 44-46; vgl. auch P ANKRAZ F RIED , Die ländliche Gemeinde in Südbayern (Altbayern), in: A LOIS S TADLER (Hg.), Die ländliche Gemeinde. Il comune rurale. Historikertagung in Bad Ragaz 16.-18.X.1985 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer 1), Bozen 1988, S. 15-30. 47 Die Ehaftordnungen entstanden im Zusammenwirken des Baders, der Gemeinde, lokaler Amtsträger sowie der landesherrlichen Verwaltung. Die Feststellung Birrs, dass sich die kommunikative und interaktive Beziehung dieser Parteien bei der Entstehung von Ordnungen als enges Miteinander darstellt, bestätigen die Vorgänge um die Festsetzung von Ehaftbriefen für Badestuben. Sowohl die Gemeinden als auch Bader werden in den Akten als selbstbewusste Akteure sichtbar; C HRISTIANE B IRR , Ordnung im Dorf. Eine Skizze zur Normgenese in Weistümern und Dorfordnungen, in: G ISELA D ROSSBACH (Hg.), Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn-München 2010, S. 153- 165, hier 159. 48 Eitting, LK Erding. Zu Eitting siehe: S USANNE M ARGARETHE H ERLETH -K RENTZ / G OTTFRIED M AYR , Das Landgericht Erding (HAB, Teil Altbayern 58), München 1997, S. 170, die Beschreibung der Güter und ihrer Grundherrschaften 396. 49 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10460: Ehaftbrief der Gemeinde Eitting, 23.12.1675. <?page no="355"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 355 fügung. Dieses Prinzip des sozialen Zusammenlebens war im Wertesystem der ländlichen Gesellschaft in Form des Gemeinnutzes und der sogenannten Notdurft fest verankert: 50 Der Begriff des ›gemeinen Nutzens‹ oder ›Gemeinnutzes‹ taucht in den Quellen gemeindlicher Verbände zu wirtschaftlichen oder rechtlichen Bestimmungen häufig auf. Im Verständnis der Bauern bezog sich der Gemeinnutz immer auf die Belange der Gemeinde, wie Peter Blickle anhand Tiroler ländlicher Rechtsquellen zeigen konnte. 51 Er schloss die Satzungstätigkeit der Gemeindemitglieder ebenso ein wie deren Nutzungsrechte an Allmende oder dörflicher Infrastruktur. In diesem Verständnis war auch die Gemeinschaftseinrichtung Ehaftbadestube als Ort der Gesundheitspflege für die Wohlfahrt des Gemeinwesens essentiell und damit Teil des Gemeinnutzes. Während der Gemeinnutz das gesamte Gemeinwesen einbezog, war die ›Notdurft‹ an das einzelne Haus gebunden. Die ›Hausnotdurft‹ zielte auf den materiellen Bedarf eines Hauses, dessen Existenzsicherung, und stellte ein »Fundamentalrecht« (Renate Blickle) auf auskömmliche Nahrung für jeden Haushalt dar. 52 Übertragen auf die Ehaftbadestube sicherte die Gemeindepflicht, dem Bader jährlich eine festgelegte Menge Naturalabgaben zu leisten, die Notdurft des Baders und seines Haushalts. Der Gemeinnutzen und die Notdurft waren gleichsam die Rechtsgüter der Ehaftordnung für die Badestuben, welche die medizinische und hygienische Grundversorgung innerhalb der Gemeinde sicherstellten - eine Art vormoderner Daseinsvorsorge. 50 P ETER B LICKLE , Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Bd. 1: Oberdeutschland, München 2000, S. 87-130. 51 P. B LICKLE , Kommunalismus (Anm. 50), S. 98f. Zum Gemeinnutz und Eigennutz auch: W INFRIED S CHULZE , Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 13), München 1987; A NKE S CZESNY , Nahrung, Gemeinwohl und Eigennutz im ostschwäbischen Textilgewerbe der Frühen Neuzeit, in: R OBERT B RANDT / T HOMAS B UCHNER (Hg.), Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk, Bielefeld 2004, S. 131-154. 52 P. B LICKLE , Kommunalismus (Anm. 50), S. 106-110. Maßgeblich zum Begriff der ›Notdurft‹: R ENATE B LICKLE , Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: G ÜNTER B IRTSCH (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft (Veröff. zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2), Göttingen 1987, S. 42-64. <?page no="356"?> C HRIS TIN E R OGL ER 356 2. ›Vormoderne Daseinsvorsorge‹ als Analyseinstrument für Ehaftbadestuben ›Daseinsvorsorge‹ ist ein in Justiz, Politik und Verwaltung des 20. und 21. Jahrhunderts häufig verwendeter, aber selten eindeutig definierter Begriff, weswegen er für unterschiedliche Themen anschlussfähig ist. 53 Der Begriff geht maßgeblich auf Ernst Forsthoff und seine im Jahr 1938 erschienene Schrift ›Die Verwaltung als Leistungsträger‹ 54 zurück. Unter Daseinsvorsorge verstand Forsthoff die Daseinsverantwortung des Staates gegenüber den versorgungsbedürftigen Menschen der industriellen Welt. Den Umfang der Daseinsvorsorge, die Abgrenzung zwischen notwendigen Bedürfnissen und Luxusbedürfnissen ließ er unbestimmt, sprach dem Staat aber eine generelle Allzuständigkeit zu. 55 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen Politik- und Rechtswissenschaften die Daseinsvorsorge als staatliche Verantwortung für die individuelle Grundversorgung und gemeinnützige Infrastruktur. Die Bestimmung des Umfangs und die Ausführung der Daseinsvorsorge obliegen dem Gesetzgeber. 56 Bei aller Offenheit in der inhaltlichen Ausrichtung ist das Konzept der staatlichen Daseinsvorsorge dezidiert an den Verhältnissen der Industriegesellschaft und des modernen Sozialstaats orientiert und nicht ohne weiteres auf die Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit übertragbar. Neuere Studien über infrastrukturelle Baumaßnahmen im Mittelalter haben jedoch gezeigt, dass der moderne Begriff der Daseinsvorsorge als Analyseinstrument für die gesellschaftliche Versorgung in der Vormoderne nutzbar gemacht werden kann. 57 Denn Grundelemente des modernen Konzepts wie Versorgung der Bevölkerung und Schutz vor natürlichen Gefahren waren auch in der Frühen Neuzeit zu diskutieren. 53 »Der Unbegriff Daseinsvorsorge ist gern gebraucht, weil nie geklärt«; B ODO B ÖRNER , Irrwisch Daseinsvorsorge, in: Bayerische Verwaltungsblätter 17 (1971), S. 406-408, hier 406. 54 E RNST F ORSTHOFF , Die Verwaltung als Leistungsträger, Berlin 1938. 55 D IETER S CHEIDEMANN , Der Begriff Daseinsvorsorge. Ursprung, Funktion und Wandlungen der Konzeption Ernst Forsthoffs (Göttinger politikwissenschaftliche Forschungen 5), Göttingen 1991, S. 165f. Auch jüngere Definitionen der Daseinsvorsorge lassen die Frage nach deren Umfang meist offen: H ANS P ETER B ULL , Daseinsvorsorge im Wandel der Staatsformen, in: Der Staat 47 (2008), S. 1-19, hier 1. 56 H. P. B ULL , Daseinsvorsorge (Anm. 55), S. 15. 57 G ERRIT J ASPER S CHENK / S TEPHANIE E IFERT , »Kritische Infrastrukturen« als Ergebnisse individueller und kollektiver Kritikalitätszumessungen - ein Ansatz für die Mediävistik? , in: J ENS I VO E NGELS / A LFRED N ORDMANN (Hg.), Was heißt Kritikalität? , Bielefeld 2018, S. 47-96, bes. 55-58; M ARTIN B AUCH , Die Magdalenenflut 1342 am Schnittpunkt von Umwelt- und Infrastrukturgeschichte. Ein compound event als Taktgeber für mittelalterliche Infrastrukturentwicklung und Daseinsvorsorge, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 27 (2019), S. 273-309. <?page no="357"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 357 Im Kontext der Policey, der guten Ordnung und Wohlfahrt, entwickelten Landesherren Strategien zur Sicherung ihrer Untertanen. Im Fokus stand nicht das Individuum, sondern die gute Ordnung des gesamten Territoriums. 58 Wiederum sind ›Gemeinnutz‹, ›Notdurft‹ und ›gutes Auskommen‹ die zentralen Schlagworte, welche die normativen Vorstellungen der Zeitgenossen prägten. 59 Obgleich sich die moderne institutionelle soziale Sicherung und Versorgung der Bevölkerung bzw. des Einzelnen mittels Sozialhilfe und Renten-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung in Ausmaß und Ausführung erheblich von der vormodernen Praxis unterscheidet, ähneln sich die Ansprüche an ›gute Herrschaft‹ und an Daseinsvorsorge in vielen Punkten. 60 Indem also frühneuzeitliche Vorstellungen der gesellschaftlichen Versorgung mit dem modernen Verständnis der Daseinsvorsorge in Beziehung gesetzt werden, können Unterschiede und Ähnlichkeiten der jeweiligen (staatlichen) Vorsorge stärker fassbar gemacht werden, ohne vormoderne Praktiken als lineare Vorläufer moderner Institutionen zu interpretieren. Bezogen auf die Ehaft wird durch einen solchen »kontrollierten Anachronismus« 61 deutlich, welchen Nutzen die bayerische Landesherrschaft den vermeintlich unzeitgemäßen Ehaften noch im 17. und 18. Jahrhundert für die gesellschaftliche Versorgung zuschrieb. Im Folgenden wird die Daseinsvorsorge verstanden als Gewährleistung des Zugangs zu preiswerten Gütern und Leistungen, die für ein menschliches Dasein zur Sicherung der alltäglichen Grundbedürfnisse notwendig sind. Der Ingolstädter Jurist und kurbayerische Rat Dominicus Bassus (1643-1704) betonte in einem Kommentar über das Recht der Ehaft, die Ehaftgewerbe auf dem Land seien für die Gemeinschaft unbedingt nötig und keineswegs zu entbehren. 62 Die unter herrschaftlicher Aufsicht stehenden Gewerbe stellten demnach die Grundversorgung an regelmäßig benötigten Leistungen auf dem Land sicher. Diese 58 K ARL H ÄRTER , Security and ›Gute Policey‹ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: Historical Social Research 35 (2010), S. 41-65, hier 43. Bestimmte soziale Gruppen, etwa Arme, Vaganten oder ehemalige Soldaten, wurden durch Policeymaßnahmen stigmatisiert und kriminalisiert. 59 G ERD S CHWERHOFF , Soziale Sicherheit in der Frühen Neuzeit? Zur Einführung in die Sektion, in: C HRISTOPH K AMPMANN / U RLICH N IGGEMANN (Hg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm, Praxis, Repräsentation (Frühneuzeit-Impulse 2), Köln u. a. 2013, S. 465- 470, hier 466f. 60 G. J. S CHENK / S. E IFERT , Kritische Infrastrukturen (Anm. 57), S. 56. 61 P ETER VON M OOS , Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: G ERT M ELVILLE / P ETER VON M OOS (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln u. a. 1998, S. 3-83, bes. 10. 62 D OMINICUS B ASSUS , Semi-Centuria controversiarum totidemque decisionum, sive rerum in supremis electoratus Bavariae dicasteriis, et praecipue excelso concilio revisorio iudicatarum, Ingolstadt 1680 (Exemplar: Regensburg Staatliche Bibliothek, 999/ 4/ Jur. 405), S. 202: Quasi dicat, Caupona, officina fabris, molendinum, balneum, necessitati Communi inserviens. <?page no="358"?> C HRIS TIN E R OGL ER 358 Leistungen konnten nicht ohne weiteres von einem beliebigen Dorfbewohner erbracht werden, sondern erforderten spezifische Kenntnisse und die passende Infrastruktur - im Fall der Badestuben zum einen Erfahrungen im Umgang mit medizinischen Maßnahmen wie Aderlassen, Schröpfen oder Wundversorgung, zum anderen Räumlichkeiten mit der notwendigen Ausstattung: Ofen, Kessel, ›Bade‹- und Behandlungszimmer. 63 Um weiterhin guete wundärzt und taugliche maister in den Dörfern zu halten, erklärte Herzog Albrecht V. von Bayern die Ehaftbadestube bereits im Landrecht des Jahres 1578 zur einzig erlaubten Form einer Badestube. 64 Auch das Landrecht Maximilians I. aus dem Jahr 1616 gestattete keine neuen Badestuben, weil durch diese die alte[n] ehehafft Bäder vnd Badstuben/ dabey hieuor guete Wundarzt gefunden worden/ in abödigung gerathen/ vnd durch solche taugliche Maister nit mehr bewohnt werden. 65 Der landesherrliche Zugriff zielte früh auf Anzahl und Monopolisierung der grundversorgenden Badestuben, um der Bevölkerung auf diese Weise - im Sinne der Daseinsvorsorge - möglichst flächendeckend Zugang zu diesen Einrichtungen zu gewährleisten. Davon unberührt bleibt die Frage nach den inneren Verhältnissen, etwa dem Behandlungsangebot in den Badestuben. Im Folgenden soll der Blick daher auf den medikalen Markt der ländlichen Gesellschaft gerichtet werden: Inwiefern konnten sich Ehaftbader gegenüber anderen Heilkundigen behaupten? 3. Das Ehaftbad im medikalen Markt der ländlichen Gesellschaft Der Entwurf einer Taxordnung aus dem Jahr 1770 66 zeigt, wie weit das Leistungsspektrum der Bader zusätzlich zu den in Ehaftbriefen festgelegten Dienstleistungen reichen konnte. Der Gebührenentwurf umfasst 49 Posten, darunter etwa Amputati- 63 Neuste Forschungsergebnisse zu Räumlichkeiten und Materialität einer spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Badestube am Beispiel der Badestube Wendelstein im Fränkischen Freilandmuseum Bad Windsheim: S. G ROSSER / H. M AY , Öffentliche Badhäuser (Anm. 10), S. 46-52. Zu bauhistorischen und archäologischen Befunden frühneuzeitlicher Badestuben v. a. im süddeutschen Raum vgl. auch B IRGIT T UCHEN , Öffentliche Badhäuser in Deutschland und der Schweiz im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Petersberg 2003. 64 Der fürstlichen bayrischen Landßordnung weittere Erclerung, sambt etlichen von newem daran gehengten und zu Anstellung guter löblicher Policey dienstlichen Satzungen, München 1578 (Exemplar: BSB, 2 Bavar. 256), fol. XIIv. 65 Landrecht. Policey- Gerichts- Malefizvnd andere Ordnungen. Der Fürstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn, München 1616 (Exemplar: BSB, 2 Bavar. 1629x), S. 749. 66 Der von einem nicht namentlich genannten Bader erstellte Entwurf sollte festlegen, welche Summe die Bader in der Stadt und auf dem Land aus der Bettelkasse für ihre Dienste an mittellosen Patienten erhalten sollten; StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 16466: Entwurf einer Taxordnung, 28.4.1770. <?page no="359"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 359 onen diverser Gliedmaßen, die Behandlung von Brüchen, Operationen von Krebsschäden oder Geschwüren im Mund und Hals sowie das Pflegen und Kurieren von erkrankten Personen. Dass es ein solch vielfältiges wundärztliches Angebot an jedem Ort gegeben hat, darf allerdings bezweifelt werden. Denn Klagen über allerhand vnerfahrne Baader vnd Wundarzten, 67 die vor allem auf dem Land anzutreffen seien, waren allgegenwärtig und kamen durchaus auch aus den eigenen Reihen: Die Zunft der Bader und Wundärzte in Landshut führte Verzeichnisse über unzureichend oder gar nicht geprüfte Landbader im Rentamt, welche die Gesundheit ihrer Patienten gefährden würden, 68 während die Münchner Zunft versuchte, eben solchen Zuständen mit einer für das gesamte Rentamt München gültigen Baderordnung entgegenzuwirken. 69 Auch viele Dorfbewohner forderten ein verbessertes und differenzierteres Leistungsangebot ihrer Bader. Entsprechend beschwerten sich etwa Vertreter der Gemeinde Schwaig 70 beim zuständigen Landrichter über das Angebot ihres Baders, dann wochentlich das padt haizen, auch die laugen vnd wasser wärmben, item den kopf waschen, wie nit weniger das schrepfen, vnd harr abschneiden, so guet als der gegner [= der Bader] khan, vnd waiß, khan es auch ein iedes altes weib, vngeacht sie es ihr lebtag nit gelehrnt hat. 71 Offenbar konnte der Bader namens Wolf Schmidt den Anforderungen der Dorfbewohner an gute wundärztliche Versorgung nicht gerecht werden. Deswegen war es für sie nicht mehr hinnehmbar, ihm regelmäßig Naturalabgaben zu liefern. Sie forderten die Neubesetzung der Baderstelle. Ihr Bader berief sich dagegen auf seinen Ehaftbrief, in dem ausdrücklich nur die Dienste Schröpfen, Haareschneiden, Waschen und Badheizen genannt waren. Für alle anderen khunstreiche[n] Verrichtungen sei eine viel höhere Bestallung als die derzeitige Ehaft nötig. Der Bader betonte, dass im Dorf lediglich vier Bauern, dafür aber 16 Tagelöhner lebten, weswegen die Gemeinde nicht mehr Ehaftabgaben aufbringen könne. 72 Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem. Der Erfolg der Ehaft als ganzheitliches System vormoderner Daseinsvorsorge war maßgeblich von der Sozialstruktur 67 StadtA München, NL-HOE-01: Bader- und Wundarztordnung für das Rentamt München, 6.8.1727. 68 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 979 II. 69 StadtA München, NL-HOE-01: Bader- und Wundarztordnung für das Rentamt München, 6.8.1727. 70 Schwaig, LK Erding. Zur Beschreibung der Güter und ihrer Grundherrschaften nach der Güterzählung von 1752 für Schwaig siehe: S. M. H ERLETH -K RENTZ / G. M AYR , Erding (Anm. 48), S. 358. 71 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 8887: Gemeinde Schwaig (LG Erding) [vor dem 26.5.1695]. 72 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 8887: Wolf Schmidt, Ehaftbader in Schwaig (LG Erding) [vor dem 19.4.1695]. <?page no="360"?> C HRIS TIN E R OGL ER 360 des Ortes und deren Konstanz bestimmt. Waren in einem Dorf wie Schwaig mehrheitlich Tagelöhner vertreten, so fielen die jährlichen Ehaftabgaben an den Bader entsprechend gering aus. Ein khunstreiche[r] Bader und Wundarzt ließ sich in einem solchen Ort kaum nieder. Es ist aus heutiger Perspektive nicht möglich, allgemeingültige Aussagen über den Ausbildungs- und Wissensstand der Bader auf dem Land zu treffen. Das Spektrum reichte vom sogenannten einfachen ›Landbader‹, der (Schwitz-)Bäder bereitete, Haareschneiden und Rasieren anbot, Salben zubereitete oder Schröpfköpfe anlegte, bis hin zum ›Bader und Wundarzt‹, der kleinere operative Eingriffe durchführte. Spezialisiertere Formen wie Chirurgen oder Accoucheure boten aufwendige Operationen an und fassten in der bislang von Frauen dominierten Geburtshilfe Fuß. 73 Eine offizielle Einteilung in Kompetenzklassen, wie es sie etwa in Württemberg gab, 74 scheint im Kurfürstentum Bayern nicht existiert zu haben. Dies mag mit der insgesamt schwachen Stellung des Collegium Medicum und dem Fehlen einer für das gesamte Territorium gültigen Medizinalordnung in Bayern zusammenhängen. 75 Die Heterogenität der Berufsgruppe macht jedenfalls den vormodernen Charakter dieser Form von Daseinsvorsorge besonders deutlich. Denn obwohl landesherrliche Mandate sichergestellt hatten, dass im Land ausreichend Ehaftbäder vorhanden waren, so war damit noch keine vollständige institutionelle Durchdringung dieses Feldes gewährleistet. Zu unterschiedlich war die Qualität der Versorgung in den Badestuben. Eine entsprechend große Rolle spielte folglich das Vertrauen der Menschen zu ihrem Bader. Das Vertrauen, das die Landbevölkerung ihrem Ehaftbader entgegenbrachte, formte den lokalen Gesundheitsmarkt entscheidend mit. Obwohl durch die Naturalabgaben der Ehaft einige Dienste des Baders unentgeltlich, andere gegen eine geringe Gebühr in Anspruch genommen werden konnten, nahmen die Menschen häufig zusätzliche Kosten in Kauf, um andernorts einen Bader oder gar eine heilkundige Person ohne spezifische Ausbildung aufzusuchen. Aus diesem Grund sahen sich etwa die beiden Bader Ignatz Döbsl und Josef Bacher im Jahr 1717 veranlasst, gegen einen Fassbinder namens Peter Eschlböck Klage einzureichen. Der Fassbinder hatte sich in der Region um Vilsbiburg offenbar einen Namen als Heilkundiger gemacht, denn die beiden Bader nahmen ihn als ernsthafte Konkurrenz wahr. Eschlböck gab demnach Medikamente aus, behandelte Krankheiten und Wunden 73 Zum ländlichen Hebammenwesen siehe: E VA L ABOUVIE , Selbstverwaltete Geburt. Landhebammen zwischen Macht und Reglementierung (17.-19. Jahrhundert), in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S. 477-506. 74 S. S ANDER , Handwerkschirurgen (Anm. 6), S. 58. 75 C HRISTIAN P ROBST , Fahrende Heiler und Heilmittelhändler. Medizin von Marktplatz und Landstraße, Rosenheim 1992, S. 53-55. <?page no="361"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 361 und versorgte - wie die Bader betonten - sogar Knochenbrüche. 76 Die Behandlung eines Bruches konnte bis zu 18 Gulden einbringen und gehörte damit zu einer der teuersten Behandlungsleistungen der Bader. 77 Insofern verwundert es nicht, dass Döbsl und Bacher durch den wundärztlich tätigen Fassbinder ihrerseits wirtschaftliche Einbußen befürchteten. Im Laufe des Rechtsstreits hatte jede Partei Gelegenheit, ihre Argumente vorzubringen: Der Fassbinder Eschlböck berief sich auf die innerhalb der Familie weitergegebene Erfahrung im Umgang mit Krankheiten und Wunden. Sowohl sein Vater als auch dessen Vater hätten mit ihren Hausmitteln und Behandlungen seit jeher zahlreichen Menschen geholfen. 78 Genau diese allein auf persönliche Erfahrungswerten beruhende Behandlungsmethodik griffen die beiden Bader auf das Schärfste an. Der Behandlungserfolg war in ihren Augen reine Glückssache. Sie verwiesen daher darauf, durch ihre jahrelange Ausbildung, in der sie die zum Handwerk gehörige Wundarznei erlernt hatten, fachlich beurteilen zu können, welche Behandlungsmethode im konkreten Fall angemessen sei. 79 Bemerkenswert ist nun die an die landesherrliche Behörde in Landshut übermittelte Stellungnahme des Landrichters. Er gab den beiden klagenden Badern insofern Recht, als der Fassbinder ohne wundärztliche Ausbildung und abgelegte Prüfung keine Patienten aufnehmen dürfe. Rechtlich gesehen klassifizierte er Eschlböck somit als illegal tätigen ›Medizinalpfuscher‹. 80 Diese Meinung revidierte der Landrichter in seiner Stellungnahme jedoch sofort, indem er die Räte in Landshut darüber informierte, dass der Fassbinder weit mehr Menschen erfolgreich kuriert habe, als die beiden klagenden Bader oder irgendein anderer Landbader. 81 Die Landbader hätten es sich durch ihre unverantwortlichen Behandlungsmethoden selbst 76 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10987: Ignatz Döbsl und Josef Bacher, Bader [vor dem 9.1.1719]. 77 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 16466: Entwurf einer Taxordnung, 28.4.1770. 78 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10987: Peter Eschlböck, Fassbinder in Wurmsham (LG Vilsbiburg) [vor dem 31.10.1718]. 79 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10987: Ignatz Döbsl und Josef Bacher, Bader [vor dem 9.1.1719]. 80 Zur Bezeichnung ›Medizinalpfuscher‹: C. P ROBST , Fahrende Heiler (Anm. 75), S. 49-51. Als Pfuscher galten auch diejenigen Bader und Heilkundigen, die zwar ausgebildet waren, jedoch keine abschließende Prüfung abgelegt hatten; M AXIMILIAN P ROKOP VON F REYBERG , Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung und Staatsverwaltung, Leipzig [1836] (Exemplar: BSB, 4 Bavar. 761 sad-2), S. 71. 81 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10987: Johannes Thadeus Nicolaus Mändl, 24.5.1719: [I]edoch khan ich vngeacht dessen vnnd meines selbst wider ihme [= Peter Eschlböck, Fassbinder] ergangnen gerichtlichen bschaidts zu gegen, ambtshalber pflichtmessig in vnderthenigkheit vnerinderter nit lassen, daß nemblichen der appelant [= Peter Eschlböck, Fassbinder] schon weith mehrere curn <?page no="362"?> C HRIS TIN E R OGL ER 362 zuzuschreiben, wenn Patienten alles credit und glauben in den Berufsstand verlieren würden, khein verthrauen mehr hätten und darum lieber zu eigenen Hausmitteln griffen oder sich an einen Fassbinder wendeten. 82 In diesem Fall sprach sich ein Landrichter, der auf lokaler Ebene die ausführende Kraft der kurfürstlichen Zentralbehörden war, dafür aus, Behandlungen durch Heilkundige ohne spezifische Ausbildung weiterhin zu tolerieren. Zwar legte bereits die von Maximilian I. erlassene Landesordnung von 1616 Maßnahmen wie die ärztliche Kontrolle und Beaufsichtigung der Heilberufe zur Regulierung des Gesundheitsmarkts fest, 83 jedoch blieb das Angebot an unterschiedlichen Heilkundigen breit gefächert. So drohte Badern nicht nur die Konkurrenz anderer Heilkundiger wie Ärzte, Apotheker oder Hebammen, 84 sondern auch fahrender Heiler und Heilmittelhändler, die ihre Waren und Dienstleistungen vor allem auf Märkten anboten. 85 Ebenso wurden Hirten, Abdecker und Scharfrichter häufig als Heilkundige konsultiert, da sie sich durch ihre Profession spezifische Kenntnisse in der menschlichen und tierischen Anatomie angeeignet hatten. Insbesondere Scharfrichter galten als fähige Heilkundige, so dass die Behandlung von kranken oder verletzten Patienten durchaus die Hälfte ihres Einkommens ausmachen konnte. 86 Konkurrenz drohte, wie im oben geschilderten Fall, selbst von Personen, die aufgrund ihrer eigenen oder durch Familienmitglieder weitergebenen Erfahrung Kenntnisse im gethan, alß sye beede cleger [= Ignatz Döbsl und Josef Bacher, Bader], vnnd sonst noch ain so anderer Geypaader. 82 StA Landshut, Regierung Landshut (Rep. 199) A 10987: Johannes Thadeus Nicolaus Mändl, 24.5.1719: Viele Landbader hätten die patienten offt solchergestalten ybern[o]mben vnnd selbe noch anzue lange zeit vergebens vnnd ohne hilff in curn herumbziehen [lassen], das es vnverantworttentlich ist, mithin ihnen die leuth selbst abtreiben, vnnd vf solche weis alles credit vnnd glauben verliehren, daß solchemnach niemandt zuueryblen oder zu verwöhren sein würdt, wan ein so anderer patient, da es zu denenselben [= Landbadern] diser vrsach halber khein verthrauen haben, sich vmb bewertte haus mitln bewerben, oder woll gar zu den appellanten in die würkliche cur begeben. 83 A. H OFFMEISTER , Medizinalwesen (Anm. 5). S. 22. 84 Die Konkurrenz zum nahen Berufszweig der Barbiere spielte außerhalb der Städte in Bayern keine Rolle. Laut einer Tabelle über die Landeskonskription im Rentamt Landshut standen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 278 Bader einem einzigen, in der Stadt Landshut ansässigen Barbier gegenüber; BSB, Cgm 2754, fol. 4v. Andersherum wirkten auch Bader in Tätigkeitsfelder anderer Heilberufe ein, wenn sie z. B. Medikamente verkauften. Zur Konkurrenz der Bader für Apotheken: M ARIO T AMME , Apotheken in Bayern. Die Arzneimittelversorgung im Rentamt Landshut bis 1808 (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens 9), Regensburg 2009, S. 109-116. 85 C. P ROBST , Fahrende Heiler (Anm. 75). 86 J UTTA N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier »unehrlicher Berufe« in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994, S. 163. <?page no="363"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 363 Umgang mit Krankheit und Verletzungen erlangt hatten. 87 Erst mit dem Generalmandat von 1756, die Arzt, Apotheker, und Baader betreffend, wird eine verstärkte staatliche Einflussnahme auf die Rekrutierung, Ausbildung und Approbation von Heilkundigen in Bayern erkennbar; 88 im selben Jahr trat außerdem das Verbot heilkundlicher Tätigkeit für Scharfrichter in Kraft. 89 Inwieweit solche Mandate in der Praxis umgesetzt wurden, hing allerdings von den Beamten vor Ort ab. 90 Obgleich der erwähnte Landrichter von Vilsbiburg im Sinne des landesherrlichen Rechts urteilte und dem Fassbinder die heilkundliche Tätigkeit untersagte, zeugt die Stellungnahme doch von seiner abweichenden persönlichen Einschätzung der konkreten Praxis der Gesundheitsversorgung vor Ort. De facto konnte das Wohlwollen einzelner Beamter somit über die - eigentlich durch Landesrecht gesicherte - Monopolstellung der ländlichen Ehaftbadestube entscheiden. Angebot und Nachfrage bestimmten den medikalen Markt der Frühen Neuzeit, wodurch dem Faktor des personellen Vertrauens in der Wahl des Heilkundigen eine hohe Bedeutung beizumessen ist. 91 Eine tiefere institutionelle Durchdringung der vormodernen Daseinsvorsorge war im Bereich der Gesundheitsfürsorge damit nicht gegeben. Die Vorstellung von Ehaftbadestuben als gesundheitssichernde Einrichtungen der Daseinsvorsorge spiegelt sich dennoch in zahlreichen Äußerungen wider, etwa wenn Dorfbewohner bzw. die jeweilige Gemeinde für den Wiederaufbau von infolge des Dreißigjährigen Krieges zerstörten Ehaftbadestuben in ihren Ortschaften eintraten und dementsprechend an die Herrschaft appellierten 92 oder Badern im Landgericht Moosburg mit dem Entzug ihrer Ehaftgerechtigkeit gedroht wurde, falls diese bei Infektionskrankheiten, als[o] in einer sachen, daran landt vnd leithen merkhlich 87 C HRISTINA V ANJA , Medizin, Religion und Magie - Krankheit und Heilung in der Frühen Neuzeit, in: M ARTIN M OMBURG / D IETMAR S CHULTE (Hg.), Das Verhältnis von Arzt und Patient. Wie menschlich ist die Medizin? , München 2010, S. 9-35, hier 13-18. 88 W IGULÄUS X AVER A LOYS VON K REITTMAYR , Sammlung der neuest und merkwürdigsten churbaierischen Generalien und Landesverordnungen, München 1771 (Exemplar: BSB, 2 Bibl. Mont. 4499), S. 444-446. 89 J. N OWOSADTKO , Scharfrichter (Anm. 86), S. 165. 90 Zur Stellung lokaler Amtsträger in Rechtsprechung und Verwaltung im Alten Reich: S TE - FAN B RAKENSIEK , Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: R ONALD G. A SCH / D AGMAR F REIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2005, S. 49-67. 91 Zur ökonomischen Dimension des medikalen Marktes siehe: R OY P ORTER , Health for sale. Quackery in England 1660-1850, Manchester-New York 1989, S. 21-59. 92 StA München, RMA München Unterbehörden 1638: Einträge im Ehaftbriefprotokoll des Landgerichts Aichach, Die Gemeinde Unterbernbach im Jahr 1684, fol. 15r, und die Gemeinde Gundelsdorf im Jahr 1685, fol. 16v. <?page no="364"?> C HRIS TIN E R OGL ER 364 gelegen ist, nichts auszurichten wüssten. 93 Umgekehrt warnte der Landrichter von Aichach die Hofkammer in München davor, dem Wunsch der Gemeinde zu entsprechen und die sehr nüzlich[e] vnd wohlanstendig[e] Ehaft des Bades in der Ortschaft Oberschneitbach unüberlegt aufzuheben und damit zu riskieren, im Falle von Infektionskrankheiten keinen Bader im Ort zu haben, um Erkrankte zu versorgen und behandeln. 94 In den staatlichen Archiven Bayerns sind Konflikte um die Aufhebung der Ehaft zwischen Gemeinden, Badern und lokaler Herrschaft zahlreich überliefert. Der konkrete Ausgangspunkt war in den meisten Fällen die Abgabenlast der Ehaft und nicht die Qualität der Gesundheitsversorgung. Erst im Verlauf des gerichtlichen Streits nutzen die Gemeindeführer ihre vorgebliche Unzufriedenheit über die Arbeit des Baders, um die Reduzierung oder Abschaffung ihrer Abgaben zu erreichen. Meistens kamen solche Vorwürfe dermaßen plötzlich, nachdem beide Parteien jahre- oder sogar jahrzehntelang bestens miteinander ausgekommen waren, dass man in diesen Fällen nicht immer von schlecht ausgebildeten Badern ausgehen kann. Hinter den Beschwerden standen vielmehr ökonomische Motive der dörflichen Gesellschaft. In der Regel stellten sich die lokalen Gerichtsbeamten in diesen Situationen schützend vor die Bader und beharrten auf dem Fortbestand der Ehaft, welche unentbehrlich für die ländliche Gesundheitsversorgung sei. Insbesondere im Falle einer plötzlich eintretenden Seuche galten die Bader mit ihrer Kenntnis im Aderlassen, welches man im anfang […] für ein bewehrtes Remedium haltet, als unverzichtbar. 95 In der Wahrnehmung der klagenden Gemeinden stellte sich dieser fast schon reflexhafte Schutz der Baderehaft seitens der Herrschaft als unumgängliche Tatsache dar, wenn die Untertanen aus dem Weiler Gagers 96 beispielweise bemerkten, dass das hiesige Richteramt also des baaders Advocat seyn 97 müsste - ein Umstand, der in der Gemeinde Gallenbach (Landgericht Aichach) sogar normativ fixiert war. Sollte hier jemand gegen die 93 StA Landshut, Schlossarchiv Au A 38: Regierung Landshut an das Pfleggericht Moosburg, 26.12.1679. 94 StA München, RMA München Unterbehörden 1720: Berichtskopie des Landrichters von Aichach, 11.5.1772. 95 StA München, RMA München Unterbehörden 1720: Berichtskopie des Landrichters von Aichach, 11.5.1772. Die hohe Bedeutung, die Badern bei der Bekämpfung von Seuchen beigemessen wurde, spiegelt sich auch in den regelmäßig erlassenen Pestmandaten der bayerischen Herzöge/ Kurfürsten wider. Vgl. etwa Punkt 4 des von Maximilian I. am 19.8.1634 erlassenen Mandats in: Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. 1: Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800, Bd. 3: Altbayern von 1550-1651, Teil 2, hg. v. K ARL B OSL , bearb. v. W ALTER Z IEGLER , S. 1074f. 96 Gagers, LK Aichach-Friedberg. 97 StA München, RMA München Unterbehörden 1721: Abschrift des Berichts des Hofmarkspflegers Weikertshofen vom 15.9.1788. <?page no="365"?> V OR M ODERN E D A S EIN S V OR S OR G E ? 365 Ehaftabgaben Klage einreichen, müsse dem Bader immer zu seinem Recht verholfen werden; die Gerichtskosten hatte allein die klagende Gemeinde zu tragen. 98 4. Schlussbemerkung Die Ehaft sicherte dem Berufsstand der Bader im dörflichen Kontext ein einträgliches, regelmäßiges Auskommen in Form von Naturalien sowie einen rechtlich gebundenen Kundenkreis. Gleichzeitig waren durch die Ehaft Preise für medizinische und hygienische Leistungen so gestaffelt, dass allen sozialen Schichten die Versorgung im Bad möglich war. Diese Leistungen konnten sooft sie benötigt wurden in Anspruch genommen werden. Mit dem Festhalten an der Rechtsform Ehaft stärkten lokale Herrschaften und die Landesherren somit das existierende Netz der medizinischen Grundversorgung auf dem Land und sicherten der gesamten ländlichen Gesellschaft Behandlungsmöglichkeiten. Zwar war mit der Ehaftgerechtigkeit eine konkurrenzlose Monopolstellung für den Geltungsbereich der Ordnung verbunden, jedoch musste sich die Badestube im medikalen Markt gegenüber einer Vielzahl von Konkurrenten behaupten. Maßgebend für die Wählbarkeit des Heilkundigen war nicht eine erfolgte Examination und damit Lizenz zum Praktizieren, sondern das interpersonelle Vertrauen in die heilkundige Person. Wie gezeigt wurde, lassen Klagen der Gemeinden über ihren Bader nicht automatisch auf schlechte Versorgung zurückschließen, sondern sind als Teil einer Verhandlungsstrategie zur Reduzierung der Ehaftabgaben zu sehen. Ein wesentliches Merkmal der Ehaft liegt in den Aushandlungsprozessen bestimmter Rechte und Pflichten zwischen Herrschaft, Gemeinde und Bader. Die fixierten Rechte und Pflichten brachten gegenseitige Erwartungen mit sich, die sowohl von den Gemeinden als auch von den Badern selbstbewusst kommuniziert wurden. Vor allem Aspekte wie die Akzeptanz innerhalb der Gemeinde und der Ruf als Heilkundiger prägten diese lokalen Diskurse und die Normen des Zusammenlebens. Grundsätzlich sicherte das System der Ehaftbäder die ländliche medizinische und hygienische Daseinsvorsorge in zweifacher Weise: Zum einen versorgte es einen Berufsstand und deckte dessen ökonomische Existenz zu jeder Zeit durch die Bereitstellung von Naturalien ab. Zum anderen gewährleistete die Ehaft die gesundheitliche Grundversorgung der Bevölkerung, indem die Badestuben im landesherrlichen Interesse in der Summe für das gesamte Kurfürstentum Behandlungsmöglichkeiten gegenüber alltäglichen Verletzungen und Wunden schufen sowie Vorsorge gegenüber natürlichen Bedrohungen wie sich ausbreitenden Krankheiten trafen. 98 StA München, RMA München Unterbehörden 1638: Ehaftbriefprotokoll des Landgerichts Aichach, Vergleich zwischen der Gemeinde Gallenbach und dem Ehaftsbader (1718). <?page no="367"?> 367 W OLFGANG P ETZ Die Einführung der Pockenschutzimpfung in der bayerischen Provinz Schwaben 1. Die Ausrottung einer Seuche Smallpox is dead! Die Todesanzeige löste Triumphgefühle aus. Noch nie in der Geschichte der Menschheit war es gelungen, eine Infektionskrankheit zum völligen Verschwinden zu bringen. Aber am 26. Oktober 1979, zwei Jahre nach dem letzten Auftreten der Seuche in Somalia, konnte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für ausgerottet erklären. 1 Damit war ein Ziel erreicht, das die medizinische Wissenschaft bereits Generationen zuvor zu propagieren gewagt hatte: An ein leichtes, sicheres, und nichts weniger als kostspieliges Mittel, […] die Menschen nicht bloß gegen die natürlichen Pocken zu schützen, sondern diese auch gänzlich auszurotten, glaubte bereits 170 Jahre zuvor der in bayerischen Diensten wirkende Impfarzt Dr. Johannes Evangelist Wetzler. 2 Die lange Vorgeschichte dieses Erfolgs ist in den letzten Jahrzehnten wiederholt zum Gegenstand historischer Untersuchungen geworden. 3 Sie zeigen, dass die Durch- 1 C HRISTIAN V UTUC / H EINZ F LAMM , Dreißig Jahre weltweite Ausrottung der Pocken durch die Weltgesundheits-Organisation, in: Wiener klinische Wochenschrift 122 (2010), S. 276- 279; D ONALD A INSLIE H ENDERSON , Smallpox Eradication, in: Public Health Reports 95/ 5 (1980), S. 422-426; vgl. dazu die Verkündung des Erfolgs auf der Titelseite von ›World Health. The Magazine for the World Health Organzisation‹ (Mai 1980), https: / / www.who. int/ csr/ disease/ smallpox/ WHO_RAS_SEP_ID0556_WorldHealth_May1980_ENG.pdf? ua=1 (aufgerufen am 10.11.2020). 2 J OHANNES E VANGELIST W ETZLER , Aktenstücke über die Schutzpocken-Impfung in der königlich-baier’schen Provinz Schwaben, Ulm 1807, S. 113. 3 Als Beispiele seien genannt: M ALTE T HIESSEN , Immunisierte Gesellschaft: Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 225), Göttingen 2017; B ÄRBEL -J UTTA H ESS , Seuchengesetzgebung in den deutschen Staaten und im Kaiserreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Reichsseuchengesetz 1900, Diss. Heidelberg 2009; A LOIS U NTERKIRCHER , »Tyroler! lasset eure Kinder impfen« - Sterblichkeitsverhältnisse und frühe Seuchenprophylaxe in Tirol am Beispiel der Pocken im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 14/ 1 (2005), S. 42-69; E BERHARD W OLFF , Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 10), Stuttgart 1998; S ABINE F ALK / A LFRED S TEFAN W EISS , »Hier sind die Blattern.« Der <?page no="368"?> W OL FGANG P ETZ 368 setzung des Impfgedankens keineswegs so geradlinig verlief, wie es im Rückblick zunächst erscheinen mag, und belegen, dass aktuelle Debatten um die Vakzination, beispielsweise gegen Masern oder das Coronavirus, Positionen spiegeln, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Bayern kommt in der Geschichte des Feldzugs gegen die Pocken eine Vorreiterrolle zu. Bereits am 26./ 27. August 1807 führte das Königreich als einer der ersten deutschen Staaten die allgemeine Impfpflicht ein. 4 Das Bayern dieser Jahre befand sich in einem tiefgreifenden Wandel. Gerade die Reformen des Medizinalwesens griffen massiv in die Lebensbedingungen der Menschen ein. Von den vielen Veränderungen der Ära Montgelas sind gerade diese trotzdem bislang nur wenig untersucht. 5 Die folgende Studie konzentriert sich räumlich auf die bayerische Provinz Schwaben, eine Eingrenzung, die durch die besondere Verantwortung der Mittelbehörde bei der Bekämpfung der Pocken nahegelegt wird. Bei der 1803 geschaffenen, aus alt- und neubayerischen Gebieten zusammengesetzten Verwaltungseinheit handelt es sich um eine Region von großer sozialer Vielfalt und mit sehr unterschiedlichen staatlichen Traditionen. Dass die kurzlebige Provinz in ihrem Zuschnitt immer wieder verändert wurde, ist bei der historischen Analyse in Rechnung zu stellen. Bis Ende Oktober 1807 waren, wenn man den offiziellen Statistiken Glauben schenken mag, in der bayerischen Provinz Schwaben 69.328 Impfungen vorgenommen worden, davon allein 19.267 in den zehn Monaten dieses Jahres. 6 Das sind Zahlen, die zunächst einen gewissen Respekt einfordern. Sie sind aber auch Anlass für Kampf von Staat und Kirche für die Durchsetzung der (Kinder-)Schutzpockenimpfung in Stadt und Land Salzburg (Ende des 18. Jahrhunderts bis ca. 1820), in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 131 (1991), S. 163-186; U TE F REVERT , Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, S. 60-74. 4 Die Markgrafschaft Bayreuth führte die Impfpflicht am 5.5.1807 ein, das Großherzogtum Hessen-Darmstadt am 6.8.1807; B.-J. H ESS , Seuchengesetzgebung (Anm. 3), S. 121. 5 Grundlegender Überblick bei: C HRISTIAN P ROBST , Die Reform des Medizinalwesens in Bayern zwischen 1799 und 1808, in: E BERHARD W EIS , Reformen im rheinbündischen Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs 4), München 1984, S. 195-212. Als instruktive Lokalstudie sei genannt: R OLAND B REY , »Zum Beweise seines Bestrebens, dem Staate nützlich zu seyn und immer nützlicher zu werden«. Die Gesundheitsberichte des Landgerichtarztes Dr. Schleis von Löwenfeld (1772-1852), in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 3 (2017), S. 64-79. 6 Bekanntmachung vom 4.12.1807 und Tabellarische Übersicht der bis zum Ende des Monats Oktober 1807 mit den Schuzpocken Geimpften in der königlichen Baierischen Provinz Schwaben, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt, LIV. Stück vom 26.12.1807, Sp. 1914- 1916. Die Bevölkerung der Provinz Schwaben wird 1806 (unter Einschluss der jüngsten Gebietsgewinne) auf 518.313 Seelen veranschlagt. Das entspricht einer Impfquote von ca. 13 Prozent; Königlich-Baierisches Regierungsblatt, XVII. Stück vom 20.4.1808, Sp. 867-878. <?page no="369"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 369 Fragen: Welche Voraussetzungen waren es, die die rasche Durchsetzung der Vakzination in Schwaben ermöglichten, vielleicht sogar begünstigten? Welche Strukturen wurden im Zusammenhang mit der Organisation des Medizinalwesens in der Provinz Schwaben aufgebaut und wie wurden diese genutzt, um sie in den Dienst der Schutzimpfung zu stellen? Welche Widerstände traten dabei auf und welche Strategien wurden entwickelt, um ihnen zu begegnen? Antworten wird man nur dann näherkommen, wenn auch die Verhältnisse in der vorbayerischen Zeit, insbesondere im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, ins Blickfeld genommen werden. Abschließend soll ein exemplarischer Fall aus den ersten Jahren nach der Einführung der Impfpflicht den raschen Wandel der Aufgabenstellung für Mediziner und Behörden verdeutlichen. 2. Der Zyklus mörderischer Epidemien Die Pocken werden in der Frühen Neuzeit in Süddeutschland meist als (Kinds-) Blattern, im Unterschied zu den geimpften (Kuh-)Pocken auch als natürliche Blattern bezeichnet. Krankheitsauslöser ist das Variolavirus aus der Gruppe der Orthopoxviren. Der hochinfektiöse Erreger kann durch körperlichen Kontakt, über Kleidungsstücke und selbst auf dem Luftweg übertragen werden. Die Krankheit beginnt mit hohem Fieber, dann tritt ein typischer Hautausschlag auf, der fast den gesamten Körper erfasst. Es bilden sich Bläschen oder Pusteln, die mit Flüssigkeit gefüllt sind; diese Symptome sind es auch, die der Krankheit ihren Namen gaben. 7 Eine ursächliche Behandlung ist bis heute nicht möglich. Die Verlaufsformen können erheblich variieren, was daran liegt, dass der Erreger in Formen von unterschiedlicher Gefährlichkeit auftritt. Der Kemptner Stadtarzt Christoph Jakob Mellin beziffert die Mortalität der Blattern nach seinen Erfahrungen auf etwa jedes sechste oder siebte Kind (rund 15 Prozent). 8 Hirnschäden, Erblindung oder schwere Pockennarben sind häufige dauerhafte Folgen der Krankheit. Wer die Blattern überlebt, ist in der Regel gegen eine erneute Ansteckung lebenslang geschützt. Welche Bedeutung die Krankheit für die Bevölkerung im 18. Jahrhundert hatte, sei anhand von Zahlenmaterial aus der Reichsstadt Memmingen veranschaulicht (Grafik 1). Die Quellengrundlage bilden die jährlichen gedruckten Verzeichnisse der städtischen Totengräber, die auch Angaben zu den Todesursachen festhalten. Die auf dieser Grundlage erstellte Statistik weist für die Jahre zwischen 1759 und 1805 insgesamt 476 Todesfälle aufgrund von Pocken auf; das entspricht 3,4 Prozent aller Gestorbenen. Sie verteilen sich nicht gleichmäßig über den genannten Zeitraum. 7 V ERA Z YLKA -M ENHORN , Pocken. Wie man sie erkennt und wie man sich schützen kann, in: Deutsches Ärzteblatt 100/ 13 (2003), S. A 821-A 824. 8 C HRISTOPH J AKOB M ELLIN , Der Kinderarzt, Kempten 1781, S. 226. <?page no="370"?> W OL FGANG P ETZ 370 Längere Intervalle, in denen Memmingen offenbar ganz oder weitgehend von der Krankheit verschont blieb, lösen sich ab mit Seuchenereignissen, die etwa alle vier bis sechs Jahre die Bevölkerung trafen. In diesen Unheilsjahren war unter Umständen, wie das Beispiel 1798 zeigt, mehr als ein Viertel aller Todesfälle den Blattern geschuldet. 9 Grafik 1: Pockentote in der Reichsstadt Memmingen 1759 bis 1805. 9 J OHANN J ACOB O ETTERLEIN , Verzeichniß aller in dem zurück gelegten 1759. Jahre in dieser der Heil. Röm. Reichs Stadt Memmingen verstorbenen Personen, Memmingen 1760. Ab 1765 wurde das Verzeichnis von Andreas Hofbauer verantwortet, ab 1785 von David Heckel. In den Listen erfasst sind auch Katholiken und auswärtige Personen auf der Durchreise. Die Verlässlichkeit der Diagnose ist bei den Pocken aufgrund der auffälligen Symptomatik als sehr hoch einzustufen; Verwechslungen mit anderen Infekten (z. B. Windpocken) sind zwar denkbar, aufgrund deren geringer Letalität aber für die Verzeichnisse nicht relevant. Vgl. dazu auch A DOLF H AIL , Die Sterblichkeit der Stadt Memmingen in den Jahren 1644 bis 1870, München 1937, S. 12-16. Wie viele andere Städte war Memmingen im zweiten und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aufgrund der hohen Kindersterblichkeit auf den Zuzug von außen angewiesen, um seinen Bevölkerungsstand zu halten. <?page no="371"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 371 Wie lässt sich diese auffällige Verteilung erklären? In Mitteleuropa waren die Pocken in der Frühen Neuzeit endemisch, das heißt, sie traten fortwährend und überall auf. Da die Krankheit bei den Überlebenden zu einer dauerhaften Immunität führt, war die erwachsene Bevölkerung Memmingens überwiegend gegen eine Infektion geschützt. Nicht so die Kinder. Sobald eine ausreichend große Population von sensiblen Kindern (also solchen, die die Blattern noch nicht durchgemacht hatten) ein Reservoir für den Erreger bilden konnte, kam es zum Ausbruch einer lokalen Epidemie, veranlasst durch die zufällige Einschleppung des Virus aus benachbarten Regionen. Besonders verheerend wirkten sich in der Reichsstadt Memmingen die Ausbrüche von 1759 mit 59 und von 1798 mit 102 Todesfällen aus. Allgemein waren in der Bevölkerung im süddeutschen Raum unterschiedliche Konzepte verbreitet über die Entstehung der Krankheit und den Umgang mit ihr. Neben der Beobachtung der Übertragbarkeit stand die Vorstellung einer Verursachung durch körpereigene Faktoren, durch ein natürliches ›Gift‹, das sich einen Weg nach außen suchen müsse. 10 Akademisch gebildete Mediziner empfahlen unterschiedliche Therapien zur Unterstützung des Heilungsprozesses. Die Heranziehung eines Arztes war aber keine Selbstverständlichkeit; besonders nicht bei Eltern aus ärmeren Schichten. 11 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Krankheit wachsende Aufmerksamkeit zuteil. Der Memminger Stadtarzt Jodokus von Ehrhart veröffentlichte Beobachtungen während der Pockenepidemie von 1768, die 44 Menschenleben forderte. 12 Ganz im Sinne der traditionellen Schulmedizin macht er die Witterung für den Ausbruch verantwortlich, insbesondere eine anhaltende strenge Kälte, die die Anstekkung begünstigt habe. Auch die Ursache einer Verschlechterung des Zustands sieht er, humoralpathologischen Erklärungsmodellen folgend, in den schnellen Abänderungen der Witterung und deren Einfluss auf die Körpersäfte. Bei dieser Epidemie, welche nicht in genauem Verstand bösartig genant werden 10 E. W OLFF , Maßnahmen (Anm. 3), S. 214-246. 11 Anlässlich eines Ausbruchs der Pocken in Ulm wird festgestellt: In allen den Häusern, in welchen in Rücksicht der natürlichen Blattern Nachsuchung angestellt wurde, wurde kein Arzt, und nur in einem einzigen, nämlich bei dem Fischer Hailbronner, aber erst als die Krankheit vorüber war, und wegen Verstopfung des Unterleibes ein Wundarzt, nemlich der Chirurgus Adam gebraucht; StadtA Ulm, A [3131]: Bericht der Polizeidirektion vom 30.1.1805. Im Zusammenhang mit der Einführung der Impfpflicht konstatiert Wetzler, es seien bisher schon höchst selten Ärzte oder Wundärzte zu pokenkranken Kindern gerufen worden; StA Augsburg, Regierungsprotokolle 2037: Sessionsprotokoll I. Deputation II. Sektion vom 17.11.1807. 12 Zu Jodokus von Ehrhart (1740-1805) und seiner Familie vgl. C HRISTINE W ERKSTETTER , »… eine so gefährlich güfftig und ansteckende Krankheit« und »… warum es die Juden vorzüglich betroffen habe«. Zum Seuchendiskurs im 18. Jahrhundert, in: R OLF K IESSLING / W OLFGANG S CHEFFKNECHT (Hg.), Umweltgeschichte in der Region (Forum Suevicum 9), Konstanz 2012, S. 287-313, bes. 303-305; A UGUST H OLLER , Memminger Aerzte aus der Familie Erhart, Memmingen 1897, S. 23-28. <?page no="372"?> W OL FGANG P ETZ 372 konnte, ob dieselbe gleich an einigen Kindern schadhafte Folgen hinterlies, starben von seinen mindestens 31 Patienten lediglich drei. 13 Jodokus von Ehrharts ›Beobachtungen‹ schöpften in ihrer subjektiven Sichtweise die Möglichkeiten der zeitgenössischen medizinischen Analyse nicht aus, dokumentieren aber immerhin ein gesteigertes Bemühen um die exakte Erfassung der Symptomatik. Dreißig Jahre später erlebte sein Sohn und Nachfolger Dr. Gottlieb von Ehrhart den Pockenausbruch von 1798 in der Reichsstadt. Er spricht von einer geradezu mörderischen Epidemie und konstatiert: Ich habe mehrere Pocken-Epidemien beobachtet, aber keine war verderblicher, als die im Jahre 1798. Man darf annehmen, daß in der damaligen Blattern-Epidemie das vierte Blatternkind gestorben ist. 14 Gottlieb von Ehrhart war es aber auch vergönnt, das Ende der Bedrohung zu erleben und daran mitzuwirken, dass die Pocken aufhörten, die Stadt heimzusuchen. 3. Von der Variolation zur Vakzination Die Frage, ob und wie diese Krankheit zu bekämpfen, möglicherweise sogar auszurotten sei, wurde im 18. Jahrhundert zu einem zentralen Thema aufgeklärter Diskurse, auch jenseits der Fachwissenschaft. Hoffnungen weckte die Methode der Variolation, die ab den 1760er Jahren von England aus auch in Deutschland eine gewisse Verbreitung fand. Sie beruhte darauf, Kinder gezielt mit infektiösem Material aus milde verlaufenden Erkrankungen zu impfen. Das mit dieser sogenannten Blatterninokulation verbundene Risiko wird aus medizinhistorischer Sicht mit einer Letalität von 0,5 bis 2 Prozent beziffert, durch den Zeitgenossen und Kemptner Stadtarzt Dr. Christoph Jakob Mellin mit 0,28 Prozent. 15 Die mediale Berichterstattung über die Inokulation weckte Fragen und Hoffnungen. So berichtete die ›Augsburger Ordinari-Postzeitung‹ immer wieder über Fortschritte bei der Verbreitung und Anwendung, etwa über die Blatterninokulation von 1768 am Kaiserhof in Wien und deren glücklichen Verlauf. Maria Theresia, die selbst 13 J ODOKUS VON E HRHART , Fragmente von Beobachtung bey einer Pokkenepidemie im Jahre 1768, in: Samlung von Beobachtungen aus der Arzneygelahrtheit und Naturkunde, Bd. 3, Nördlingen 1771, S. 1-72, Zitate 3, 29, 69f. Ein Austausch oder gar eine Zusammenarbeit mit Kollegen findet keinen Niederschlag in der Darstellung; ebenso fehlt ein Überblick über den Verlauf der Epidemie insgesamt, den Ehrhart den Verzeichnissen der Totengräber hätte entnehmen können. 14 G OTTLIEB VON E HRHART , Physisch-medizinische Topographie der königl. baier. Stadt Memmingen im Illerkreis, Memmingen 1813, S. 403. Zu Gottlieb von Ehrhart (1763-1826) s. A. H OLLER , Aerzte (Anm. 12), S. 29-35. Ein reich illustriertes ›Liber amicorum‹ aus seiner Studentenzeit wird in der Wellcome Library (London) verwahrt (MS. 2284). 15 C HR . V UTUC / H. F LAMM , Geschichte (Anm. 1), S. 266; C HR . J. M ELLIN , Kinderarzt (Anm. 8), S. 226. <?page no="373"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 373 im Vorjahr lebensgefährlich an den Pocken erkrankt war und mehrere Angehörige durch die Krankheit verloren hatte, ließ den niederländischen Arzt Jan Ingenhousz vier ihrer Kinder einimpfen. 16 Schon einige Monate vorher hatte der Kaufbeurer Stadtphysikus Dr. Christoph Jacob Apin in Oberschwaben mit dem Blatterbelzen begonnen. Apin berichtete darüber knapp, aber nicht ohne Stolz in einem Brief vom 21. Februar 1768 an den Nürnberger Mediziner und Naturforscher Christoph Jacob Trew: Ansonsten habe [ich] auch mit vielem Vergnügen anzufügen, dass ich gegenwärtig der erste in hiesiger Gegend, welcher die Vorurtheile gegen die Inoculation der variolarum benommen; da nemlich vor wenigen Wochen meinem kleinen Sohn a. 7 Monath alt mit glücklichem und besten Erfolg inoculieret. 17 Ende 1767 oder spätestens Anfang 1768 dürfte also diese erste Blatterninoculation in Schwaben durchgeführt worden sein. 18 Weitere Fälle schlossen sich rasch an. Im Herbst 1768 meldete die Postzeitung eine glücklich erfolgte Einpfropfung an sechs Kindern beiderlei Religion sowie von unterschiedlichem Geschlecht und Alter in Augsburg durch den Blatternhausphysikus Dr. Georg Jacob Biermann und den Wundarzt Salomon Ambrosius Khephalides; 17 weitere Kinder wurden zu Jahresbeginn 1769 inoculiert. 19 In Nördlingen bemühten sich drei Jahre lang der Stadtphysikus Daniel Friedrich Stang und sein Memminger Kollege Jodokus von Ehrhart darum, eine Inoculation durchführen zu können. Es fand sich aber nur ein einziger potentieller Impfling, ein Knabe aus dem Waisenhaus. Im November 1768 erhielten sie von Hofrat Delius in Erlangen geeignete Impfmaterie und führten am 7. März des folgenden Jahres die Einpfropfung durch. Sie gelang, und weitere Impfungen folgten, so in Biberach durch Dr. Christoph David Mann, in Kaufbeuren durch Apin und in Warthausen durch die Ärzte Baylies und Bourdon. 20 16 Augspurgische Ordinari-Post-Zeitung Nr. 226 vom 21.9.1768, Nr. 238 vom 5.10.1768; C HR . V UTUC / H. F LAMM , Geschichte (Anm. 1), S. 266. 17 Brief an Trew, urn: nbn: de: bvb: 29-bv043484906-4 (aufgerufen am 5.9.2019). 18 Herr Apin, in Kaufbeuren Physikus, hat vor drei Jahren in Oberschwaben mit dem Blatterbelzen den ersten Anfang gemacht. Diese Zeitangabe lässt 1767 als wahrscheinlich vermuten; J ODOKUS VON E HRHART , Zu der Geschichte des Blatterbelzens in Schwaben, in: Sammlung von Beobachtungen aus der Arzney-Gelahrtheit, Bd. 2, Nördlingen 1770, S. 183-236, bes. 210. Auch die Postzeitung informierte ihre Leser über Apins erfolgreichen Eingriff: Augspurgische Ordinari Postzeitung Nr. 56 vom 5.3.1768. 19 Augspurgische Ordinari Postzeitung Nr. 274 vom 16.11.1768, Nr. 27 vom 1.2.1769. 20 J. VON E HRHART , Geschichte (Anm. 18), S. 183-195, 207-212. Die Nördlinger Impfungen wurden in den lokalen ›Wöchentlichen Anzeigen‹ veröffentlicht. Zeitgenössisch erwähnt wird auch eine Veröffentlichung des Biberacher Stadtphysikus C HRISTOPH D AVID M ANN , Nachricht von der Einpropfung der Kinderblattern in Oberschwaben, Ulm 1770, von der jedoch kein Exemplar ausfindig gemacht werden konnte; Dictionaire des sciences médicale. Biographie médicale, Bd. 6, Paris 1826, S. 176. <?page no="374"?> W OL FGANG P ETZ 374 In der Reichsstadt Kempten konnte der Stadtarzt Mellin offenbar über längere Zeit Erfahrungen mit der Blatterninoculation sammeln und berichtete darüber in seiner für den medizinischen Laien gedachten und weit verbreiteten Schrift ›Der Kinderarzt‹. 21 Mellin war es auch, der den Kemptner Schulreformer und späteren Stadtpfarrer Johann Georg Lunz bei der Blatterneinimpfung seines vierjährigen Sohnes anleitete. Der Vater führte sie 1782 selbst durch und veröffentlichte darüber ein Tagebuch. Lunz besorgte sich dazu Impfmaterie von einem gutartig verlaufenden Blatternfall und injizierte sie mit einer Nähnadel unter die Haut. Wie erhofft, zeigte sich ein milder Krankheitsverlauf, der dennoch deutliche Blattern erzeugte. Am Ende seines kleinen Aufsatzes zieht Lunz die Schlussfolgerungen: Durch entsprechende Anleitungen sei die Methode so einfach, daß jeder Vater und jede Mutter einpfropfen können. Die Geistlichen sind, nach der Meinung von Lunz, ohne Zweifel verpflichtet, dieses Rettungsmittel so vieler Menschen, nicht nur bey jeder Gelegenheit zu empfehlen, sondern auch an ihren eigenen Kindern mit gutem Beyspiel vorzugehen. 22 Lunz’ Einschätzung erwies sich jedoch als zu optimistisch. Die Vorbehalte gegenüber der Inoculation waren beträchtlich. In Biberach und ähnlich in Kaufbeuren verbreitete sich das Gerücht, die geimpften Kinder seien träge und dumm geworden. 23 Ernster zu nehmen waren die Nachrichten von bedrohlichen oder sogar tödlichen Krankheitsverläufen. Der Kaufbeurer Aufklärer Christian Jakob Wagenseil verlor seinen erstgeborenen Sohn im Alter von drei Jahren durch eine fehlgeschlagene Impfung und musste in seinem Nachruf die schmerzliche Bilanz ziehen: So vielen Eltern hatte ich die Inokulation mit Erfolg gerathen und war allein der Unglückliche, mein eigen Kind zu verlieren. 24 Der beklagte Kaltsinn gegenüber der Variolation war also nicht einfach mit fehlenden Kenntnissen und Vorurtheil zu erklären, sondern konnte sich, genauso wie das Verfahren der Inoculation, auf die Empirie stützen. Trotz derartiger Rückschläge wurde das Blatterbelzen bis zum Ende des Jahrhunderts vor allem in Kaufbeuren, aber auch in Augsburg und Kempten fortgesetzt; in welchem Umfang dies geschah, ist freilich schwer einzuschätzen. Der Sohn und Nachfolger des Memminger Stadtarztes Jodokus von Ehrhart, Dr. Gottlieb von Ehrhart, machte es 1786 auch in Memmingen bekannt und veröffentlichte eine kleine Schrift darüber. Nach eigenen Angaben führte er insgesamt mehrere hundert Inoku- 21 C HR . J. M ELLIN , Kinderarzt (Anm. 8), S. 223-228. 22 J OHANN G EORG L UNZ , Anmerkung über den Anfang, Fortgang und Erfolg der Blattereinimpfung meines 4jährigen Sohns Johann Georgs, in: Gazette de Santé: Oder gemeinnütziges medicinisches Magazin für Leser aus allen Ständen […], 1. Jg. (1782), 5. und 6. Stück, S. 659-662. Der Aufsatz dürfte allerdings erst im folgenden Jahr gedruckt sein, denn er ist auf den 4.1.1783 datiert. 23 J. VON E HRHART , Geschichte (Anm. 18), S. 212. 24 Denkmahl meinem unvergeßlichen Sohn Johann Jakob Wagenseil, in: C HRISTIAN J AKOB W AGENSEIL , Gedichte und Schauspiele, Kempten 1794, S. 169-176, Zitat 173. <?page no="375"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 375 lationen durch und verlor dabei kein einziges Kind, ein Glück, welches nicht vielen Inokulatoren zu Theil wurde, wie er selbst zugibt. Die vierzig von ihm während der Epidemie von 1798 inokulierten Kinder überlebten allesamt. 25 Ein vollständiger Sieg über die Pocken wäre aus heutiger Sicht durch die Variolation nicht möglich gewesen. Eine gewisse Verbreitung erfuhr die Methode in erster Linie unter den städtischen Eliten. Dennoch steckte sie wichtige Themenfelder ab. Sie machte die Bevölkerung mit dem Grundprinzip des Impfens bekannt, rückte eine Ausrottung der Krankheit in den Bereich des Denkbaren und eröffnete die Diskussion um eine durch den Staat zu verordnende Impfpflicht. 26 Vor allem dort, wo die Variolation praktiziert worden war, fand auch die Vakzination frühzeitig eine günstige Aufnahme. 27 Sie geht auf den englischen Arzt Edward Jenner zurück, der auf der Suche nach einer sicheren und ungefährlichen Immunisierung war. Ab 1798 veröffentlichte er seine Erfahrungen mit dem Konzept der Kuhpockenimpfung, die eine schnelle und weithin auch begeisterte Aufnahme fanden. Die Impfung nach Jenners Methode versprach einen hohen Schutz und war zudem ungleich gefahrloser, sowohl für den Impfling als auch für dessen Umfeld, das bei der Variolation stets durch eine Ansteckung mit Menschenpocken bedroht war. Schon 1799 kam es zu ersten Vakzinationen (wie man die neue Methode im Unterschied zur Variolation bald nannte) in Mitteleuropa. 28 Wie rasch wurde die Impfung in Oberschwaben aufgenommen? In und um Memmingen begann Physikus Gottlieb von Ehrhart vermutlich bereits 1800 mit der Kuhpockenimpfung und konnte in anderthalb Jahren mehrere hundert Kinder impfen. 29 Ehrhart wurde rasch ein enthusiastischer Propagandist der neuen Methode. 25 G OTTLIEB VON E HRHART , Darstellung der Gründe für und gegen die Blatterneinpfropfung für Leser aus allen Ständen, Memmingen 1789, bes. die unpaginierte Vorrede; D ERS ., Topographie (Anm. 14), S. 403. 26 Hinzuweisen ist vor allem auf die von dem Ulmer Arzt Albrecht Friedrich Faulhaber übersetzte und herausgegebene Schrift von J OHANN F RIEDRICH C LOSS , Joh. Fried. Clossens neue Heilart der Kinderpocken nebst einem Versuche vermischter Beobachtungen zur Erläuterung der Arzneywissenschaft, Ulm 1769. Der Autor bejaht die grundsätzliche Frage, ob die Obrigkeit das Recht habe, die Blatterninoculation anzuordnen. 27 Diesen Zusammenhang erkannten bereits Zeitgenossen: Die Inokulazion der natürlichen Blattern hat ihr [der Schutzpockenimpfung] freilich den Weg gebahnt […]; [P HILIPP J ACOB K AR - RER ], Die Kuhpockenimpfung moralisch betrachtet, Augsburg 1802, S. 3. 28 Als erste Massenimpfung außerhalb Englands gilt die von Johann von Carro durchgeführte Maßnahme in Brunn am Gebirge in Niederösterreich im Dezember des Jahres 1800; C HR . V UTUC / H. F LAMM , Geschichte (Anm. 1), S. 267. 29 G. VON E HRHART , Topographie (Anm. 14), S. 404. Die Jahreszahl 1801 als Zeitpunkt der Einführung bei: Chronik des Melchior Eglof Gerstmayer. Handschriftlich von 1813; StadtA Memmingen, Memminger Chronik 2,99 4°, S. 161. Vgl. dazu auch den gedruckten Vortrag von A UGUST H OLLER , Die Anfänge der Schutzpockenimpfung in Memmingen, in: Schwäbi- <?page no="376"?> W OL FGANG P ETZ 376 Er veröffentlichte darüber nicht nur, sondern verschickte Impfstoff an andere oberschwäbische Orte wie Meersburg, Lindau, Ravensburg, Leutkirch, Kempten, Babenhausen, Ottobeuren, Balzheim, Isny, Krumbach und Weißenhorn. Vor allem um die Entdeckung auch auf dem Land einzubürgern, forderte Ehrhart Unterstützung durch die Obrigkeiten und die Geistlichen. 30 Im Juli 1801 begann man mit der Schutzpockenimpfung in der Reichsstadt Kempten, wobei die Initiative vom Stadtarzt Mellin ausging. Aufgrund seiner Belastung mit anderen Geschäften überließ er die weitere Ausführung aber den örtlichen Wundärzten und dem jüngeren Kollegen Dr. Johann Georg Lunz, der wiederum die Impfung bei einigen Landwundärzten bekannt machte. Die erforderliche Lymphe wurde Mellin aus Stuttgart oder aus dem Ansbachischen übersandt; mit ihr impfte er als erstes den dreijährigen Sohn des Bleichermeisters Jacob Wiedeman und seiner Frau Sibilla. Zu den in den nächsten Tagen Geimpften gehörten drei Kinder des Bürgermeisters Johann Jacob von Jenisch sowie Kinder aus der Stiftsstadt, von Bauern des Umlands und eines Wirtes aus Nesselwang. Bis September 1803 wurden auf diese Weise 267 Vakzinationen durchgeführt. 31 Mellin ließ den Impfstoff seinem Kollegen Dr. Flacho in Immenstadt zukommen. 32 In Ulm wurde im Sommer 1801 gleichfalls bereits geimpft und in der Folge scher Erzähler Nr. 1/ 12 (1896), S. 1-4; Nr. 2/ 12 (1896), S. 9-12. Die von Ehrhart genauer geschilderten Fälle datieren aus den Jahren 1801 und 1802; G OTTLIEB VON E HRHART , Ueber die Jennerischen Pocken, in: Gottlieb von Ehrharts […] Sammlung von Beobachtungen und Aufsätzen 1/ 1 (1803), S. 36-93, bes. 80; D ERS ., Kuhpockenkrankheitsgeschichten, in: Ebd., S. 99-145. 30 Weitere Schriften Ehrharts zur Vakzination: G OTTLIEB VON E HRHART , Ueber die Kuhpockenimpfung, und ihre Empfehlung, aus der Geschichte derselben dargestellt, Memmingen 1801; D ERS ., Sendschreiben an die Herren Geistlichen zur Beförderung der Schutzpockenimpfung, Memmingen 1801; D ERS ., Resultate der Kuhpocken- oder Schutzpockenimpfung in unserer Vaterstadt Memmingen, Memmingen 1804. Ehrhart veröffentlichte auch in der Beilage zum ›Memmingischen Erkundigungsblatt‹ für 1801, Nr. 44, 45 und 46, zur Pockenschutzimpfung. Jedoch sind nicht alle Kleinschriften des Memminger Stadtarztes in Bibliotheken nachweisbar. Bibliographische Zusammenstellungen bei: A DOLPH C ARL P ETER C ALLISEN , Medicinisches Schriftsteller-Lexicon der jetzt lebenden Verfasser, Bd. 27, Kopenhagen 1827, S. 429f.; J OHANNES W ETZLER , Gottlieb von Ehrhart, in: Neuer Nekrolog der Deutschen, Weimar 1828, S. 937-939, bes. 939; A. H OLLER , Schutzpockenimpfung (Anm. 29), S. 2f. 31 StadtA Kempten, AV 1-62 (mit dem 19.7.1801 als Datum der ersten Impfung); mit etwas abweichenden Angaben zur Herkunft der Lymphe und zu den Tagesdaten bei A LOYS VON F LACHO , Meine Beobachtungen über die Kühpockenimpfung, Kempten 1801, S. 6f. 32 Die Angaben Mellins und Flachos über das genaue Tagesdatum der ersten Impfungen in Kempten und Immenstadt sind widersprüchlich; vgl. A. VON F LACHO , Beobachtungen (Anm. 31), S. 8 (wohl irrtümlich mit dem Datum 4.7., eher der 14.7.). Die Angabe von Dr. Geiger, die Impfung sei in Immenstadt erst 1802 durch den Chirurgen Kösel eingeführt <?page no="377"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 377 das Landgebiet einbezogen. 33 Auch in der Fuggerherrschaft Kirchheim wurde früh schon vakziniert. 34 In Augsburg impfte 1801 Dr. Karl Friedrich Niethammer, doch wurde die neue Methode aufgrund von Vorbehalten im Collegium Medicum zunächst nur zögernd aufgenommen. 35 Welche Bilanz lässt sich aus diesen Beobachtungen für die Bekämpfung der Pocken in der vorbayerischen Zeit ziehen? In den ostschwäbischen Reichsstädten, vor allem in Memmingen, Kempten, Kaufbeuren und Ulm, sammelte man seit den ausgehenden 1760er Jahren vielfältige Erfahrungen mit der Variolation. Diese unterstützten die Aufnahme der weniger gefährlichen Vakzination nach Jenner. Die relativ hohe Impfquote, die die Behörden der bayerischen Provinz Schwaben 1804 in den genannten Städten konstatierten, ist auf diese Vorarbeit engagierter Ärzte zurückzuführen. 36 worden, ist vermutlich unzutreffend; S EBASTIAN G EIGER , Physisch-Medizinische Topographie des K. Baier. Landgerichts-Bezirkes Immenstadt im Ober-Donaukreise, Kempten 1819, S. 120. 33 Schwäbischer Merkur Nr. 161 vom 10.9.1801. StadtA Ulm, A [3131]: Denkschrift des Collegiums Medicum vom 11.2.1803: Soviel uns bekannt ist, so hat die Vaccination schon hie und da auf dem Lande angefangen in Aufnahme zu kommen; so hat z. B. der Chirurgus Wimmer in Bermaringen sich der Impfung der Kuhpocken unter der Leitung des Herrn Dr. Vetters von Geißlingen theils in Bermaringen selbst, theils in anderen Orten im vorigen Jahre, mit sehr gutem Erfolge unterzogen, wie solches der Bericht des H. Pfarrer Dieterichs von Bermaringen, und erst neuerlich des H. Landphysici Dr. Hämmerlens deutlich bezeugt. Von den Chirurgis Wagner in Geißlingen, Barth in Langenau und Eberhart in Lonsee wissen wir ebenfalls, dass sie schon viele Kinder mit dem besten Erfolg vacciniert haben. 34 StA Augsburg, Regierung 4248/ 1: Schreiben des Gräflich Fuggerschen Hochamts Kirchheim vom 27.11.1807. Zu weiteren frühen Impfungen im östlichen Schwaben: Schwäbischer Merkur Nr. 157 vom 7.8.1801 (Wallerstein), Nr. 208 vom 16.10.1801 (Neresheim). Die rasch zunehmende Popularität der Impfung fand ihren Niederschlag auch im Anzeigenteil derselben Zeitung: Schwäbischer Merkur Nr. 181 vom 10.9.1801 (»KuhPockenLied für Stadt- und LandLeute«; ein Ulmer Druck überliefert in StadtA Ulm, G 4 Chronik Beilagen - 096) sowie Nr. 199 vom 5.10.1801 (illuminierter Kupferstich mit Darstellung der Kuhpocken, für Eltern, Ärzte und Schulen, für 20 kr.). 35 Die Bedenken der Ärzteschaft waren im ›Augsburgischen Intelligenzblatt‹ veröffentlich worden; A. VON F LACHO , Beobachtungen (Anm. 31), S. 7f.; F RIEDRICH G EORG A UGUST B OUCHHOLZ , Vollständige Abhandlung über die Kuhpocken, das wahre Schutzmittel gegen die Blatternansteckung, Berlin 1802, S. 500; F RANZ S ERAPH G IEL , Die Schutzpocken- Impfung in Bayern, München 1830, S. 22. 36 Übersicht der bisherigen Fortschritte der Schuzblatternimpfung in der Kurpfalzbaierischen Provinz in Schwaben, in: Regierungsblatt für die Kurpfalzbaierische Provinz in Schwaben XXV. Stück vom 23.6.1804, Sp. 446-452; XXVI. Stück vom 30.6.1804, Sp. 461-472; XXVII. Stück vom 7.7.1804, Sp. 487f.; XXVIII. Stück vom 14.7.1804, Sp. 501-504; XXIX. Stück vom 21.7.1804, Sp. 525-536; XXX. Stück vom 28.7.1804, Sp. 549-552; XXXI. Stück <?page no="378"?> W OL FGANG P ETZ 378 Allerdings konnten diese Bemühungen gerade die ländlichen Gebiete nur in Ansätzen erreichen, weil eine energische Unterstützung durch die Obrigkeiten fehlte. Zwar zählte die Seuchenprävention im 18. Jahrhundert zum festen Bestandteil des policeylichen Aufgabenbereichs der örtlichen Kleinterritorien wie auch des Schwäbischen Kreises, aber den zyklisch wiederkehrenden Pocken wurde nicht dieselbe obrigkeitliche Beobachtung und Kontrolle zuteil wie beispielsweise pestartigen Erkrankungen. 37 Staatliche Maßnahmen scheinen in der vorbayerischen Zeit kaum eingeleitet worden zu sein, sieht man von der Unterstützung statistischer Umfragen ab. 38 Erst das konsequente Vorgehen der bayerischen Verwaltung eröffnete eine völlig neue Ära im Kampf gegen die Seuche. 4. Der Weg zur Impfpflicht Für die neuerworbenen Gebiete in Schwaben war im November 1802 ein Generallandeskommissariat mit Sitz in Ulm eingerichtet und im Juli des folgenden Jahres in eine Provinzialbehörde umgewandelt worden. Sie wurde direkt den Zentralbehörden in München unterstellt. Auf unterer Ebene wurden vier Landeskommissariate (Dillingen, Kempten, Mindelheim und Ulm) und 25 Landgerichte geschaffen. 1805 vom 4.8.1804, Sp. 569-574; XXXII. Stück vom 11.8.1804, Sp. 591-596; XXXIII. Stück vom 18.8.1804, Sp. 627-632; XXXIV. Stück vom 25.8.1804, Sp. 659-680. 37 Zu den Pestpatenten des Schwäbischen Kreises und zum Vorgehen im Falle drohender Epidemien s. C HRISTINE W ERKSTETTER , »… auß Wohlmeinender Vorsorg vor deß gesamten Creises Wohlfahrt«: Gesundheitspoliceyliche Maßnahmen des Schwäbischen Reichskreises in Zeiten der Pest, in: R OLF K IESSLING / S ABINE U LLMANN (Hg.), Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum 6), Konstanz 2005, S. 225-257, bes. 227-245; C HR . W ERKSTETTER , Seuchendiskurs (Anm. 12), S. 294f. 38 Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Nördlingen beschlossen 1797, auf Anregung des vom Hallenser Medizinprofessor Johann Christian Wilhelm Juncker herausgegebenen ›Archivs wider die Pockennot‹ zur besseren Bekämpfung und zur gänzlichen Ausrottung der Pocken die Zahl der Pockentoten in der Stadt und im Umland genau zu erfassen; Dekret vom 28.7.1797, in: Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennoth 3. Stück (1797), S. 169-171. Ähnlich kooperativ verhielten sich auch die Obrigkeiten von Ulm und Augsburg; Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennoth 4. Stück (1797), S. 301f.; Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennoth 2. Stück (1798), S. 220. In der Grafschaft Oettingen-Wallerstein legte die Fürstin am 18.7.1804 den Untertanen die Kuhpockenimpfung nahe, befahl den Landärzten deren kostenlose Durchführung und forderte die Seelsorger auf, ihren Einfluss entsprechend geltend zu machen; W OLFGANG J ULIUS J OACHIM J AN , Wesentlicher Innhalt der kurzen Belehrung, über das in England entdeckte Verwahrungsmittel gegen die wahren Blattern, oder die sogenannten Kuhpocken […], in: Oettingisches Wochenblatt Nr. XXXVIIII vom 30.9.1801, Nr. XL vom 7.10.1801, Nr. XLI vom 14.10.1801. <?page no="379"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 379 und 1806 erfuhr diese Provinz erheblichen Zuwachs, als ihr unter anderem die Reichsstadt Augsburg, Vorarlberg und kleinere Adelsherrschaften zugeschlagen wurden. Die Aufteilung der Provinz Schwaben und die Bildung der Iller-, Lech- und Oberdonaukreise im Sommer 1808 fallen in eine Zeit, in der die Grundlagen für die bayerische Impfkampagne bereits gelegt waren 39 (Abb. 1 a und b). Abb. 1 a und b: Die bayerische Provinz Schwaben 1804 und 1807. 39 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Beharrung und Reform: Vorarlberg zwischen Österreich und Bayern, in: C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert (Forum Suevicum 7), Konstanz 2007, S. 91-122; J ÖRG W ESTERBURG , Integration trotz Reform. Die Eingliederung der ostschwäbischen Territorien und ihrer Bevölkerung in den bayerischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Thalhofen 2001, S. 38-57; W ILHELM V OLKERT (Hg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799-1980, München 1983, S. 35f.; W OLFGANG Z ORN , Die Eingliederung Ostschwabens in den bayerischen Staat unter den ersten Königen Max I. und Ludwig I., in: P ANKRAZ F RIED (Hg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 2), Sigmaringen 1982, S. 79-92. <?page no="380"?> W OL FGANG P ETZ 380 Da erst in diesem Jahr beim Innenministerium eine zentrale Leitung in medizinischen Angelegenheiten geschaffen wurde, besaßen die Provinzialbehörden bis dahin einen relativ großen Handlungsspielraum. Bei ihrer Etablierung wurde die Landesdirektion für die Provinz Schwaben in drei Deputationen eingeteilt. Die Medizinalsektion wurde zusammen mit der Polizeisektion der staatsrechtlichen Deputation unterstellt, wobei eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten nicht stattfand und es auch personell Überschneidungen gab, bis beide Sektionen schließlich vereinigt wurden. Zunächst führten zwei Medizinalräte die Geschäfte, nämlich der Ulmer Stadtphysikus Dr. Paul Schmidt und der frühere praktische Arzt in Straubing, Dr. Johannes Evangelist Wetzler. Der Landesdirektion zugeordnet waren als Unterbehörden die Land- und Stadtphysikate, die ab 1803 eingeführt wurden. Die Umsetzung der bayerischen Impfstrategie oblag im Wesentlichen diesen Landbzw. Stadtgerichtsärzten. Sie waren als Beamte gegenüber höheren Organen weisungsgebunden, mussten freilich auch mit den örtlichen Justiz- und Polizeibehörden zusammenarbeiten. Zwar hatten sie Anspruch auf eine Besoldung, doch genügte diese nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts, so dass sie neben ihren Amtspflichten eine Praxis führen mussten. 40 Die Einführung der Schutzimpfung gegen die Pocken war Teil eines unter den gegebenen Umständen ambitionierten Programms, um vor allem auf dem Land die medizinische Versorgung zu verbessern. Die Durchführung von Impfungen hatten die zuständigen Stellen in München bereits seit 1801 durch entsprechende Verlautbarungen unterstützt und ihre Wirksamkeit bekräftigt. 41 Schon im April 1803 nahm sich auch die Generallandesdirektion in Ulm mit einem Dekret des Themas an. Publiziert wurde darin ein Aufsatz, der vom Sanitätskollegium in München bereits im Sommer 1801 für das Kurfürstentum veröffentlicht worden war. Er wendet sich explizit an alle Ärzte und Wundärzte, um sie darüber aufzuklären, welche Maßregeln bei der Impfung zu beachten seien. Untergeordneten Behörden und der gesamten Geistlichkeit wird nun auch in Schwaben auferlegt, für die Verbreitung dieses Reskripts zu sorgen. 42 Welchen Stand hatte die Vakzination in Schwaben erreicht, welche Lücken galt es zu schließen? In der Provinz wirkte mit dem jungen Medizinalrat Wetzler ab dem Beginn des Jahres 1804 ein besonders engagierter Impfbefürworter. 43 Er hatte in 40 C HR . P ROBST , Reform (Anm. 5), S. 200-203; J OHANNES E VANGELIST W ETZLER , Über das Medizinalwesen in der vormaligen königlich-baier’schen Provinz in Schwaben, Augsburg 1810, S. IVf., 13-17, 22-27, 119-128. 41 Hintergrund waren vor allem Anschuldigungen, dass geimpfte Kinder dennoch die echten Blattern bekämen; F. S. G IEL , Schutzpocken-Impfung (Anm. 35), S. 20, 40f. 42 Verordnung vom 15.4.1803, abgedruckt bei J. E. W ETZLER , Aktenstücke (Anm. 2), S. 13-21. 43 Ein biografischer Abriss zu Wetzler liegt von H ELMUT A. S EIDL vor: »Aus der Najaden Umarmung gingen sie verjüngt hervor! «: Der bayerisch-schwäbische Mediziner J. E. Wetzler <?page no="381"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 381 München mit der Vakzination Bekanntschaft geschlossen, führte sie im Juli 1801 in Straubing ein und veröffentlichte über seine Erfahrungen. Im Oktober 1802 begann er eine Impfkampagne im Gericht Riedenburg (Regierung Straubing), die allerdings nicht zum gewünschten Erfolg führte, weil der Impfstoff sich teilweise als unbrauchbar erwies. Seine frühen Veröffentlichungen über seine Erfahrungen mit der Einimpfung der Schutzblattern, wie man die neue Methode jetzt amtlich nannte, dürften seine Berufung nach Ulm maßgeblich gefördert haben. Die von ihm in Schwaben angetroffenen Verhältnisse beurteilte Wetzler im Nachhinein sehr kritisch. Am besten sei die Lage noch in den größeren Städten. Vor allem auf dem Land erschien ihm die ärztliche Versorgung als völlig unzureichend; die Chirurgen und Wundärzte seien schlecht ausgebildet, die Hebammen und Apotheker nur mangelhaft überwacht. 44 Wetzler war davon überzeugt, dass durch eine enge Allianz von Staat und Heilkunst beide gewinnen könnten, denn weil die Heilkunde jetzt mehr Gewißheit als jemals gewährt, haben die Regierungen auch mehr Ursache, die Heilkunde in die Staatsverwaltung aufzunehmen, und ihren Einfluß auf das Ganze zuleiten. 45 Die Möglichkeiten, die der administrative Zugriff bot, nutzte Wetzler bald, um sich einen Überblick zu verschaffen. In der ersten Jahreshälfte 1804 erging eine Umfrage an alle zu diesem Zeitpunkt unter bayerischer Herrschaft stehenden Pfarreien in Schwaben. 46 Diese Anweisung bedeutete den ersten Schritt zu einer statistischen Erfassung, die in den folgenden Jahren immer konsequenter ausgebaut wurde. Im (1774-1853), in: M ARKUS W ÜRMSEHER / R ENÉ B RUGGER (Hg.), Grenzüberschreitungen zwischen Altbayern und Schwaben (FS Wilhelm Liebhart), Regensburg 2016, S. 261-294. Wetzler war schon früh durch sein selbstbewusstes Auftreten (das den ›Straubinger Ärztestreit‹ auslöste) aufgefallen. In späteren Jahren machten ihn vor allem seine balneologischen Veröffentlichungen bekannt. Für die Impfthematik einschlägig ist von seinen Schriften vor allem: J OHANNES E VANGELIST W ETZLER , Ueber die Kuhpocken und deren Impfung, Straubing 1802; D ERS ., Belehrung des Landvolkes über die Schutzblattern, Straubing 1802; D ERS ., Gedanken über die beste Art und Weise, die Impfung der Kuhpocken allgemein zu machen, und Maas- und Vorsichtsregeln bey vorzunehmender Impfung der Kuhpocken in einem ganzen Distrikte, München 1803; D ERS ., Gesundheitskatechismus für den Bürger und Landmann und zum Gebrauche der Feyertagsschulen in den kurpfalzbaierischen Staaten, Ulm 1804, bes. S. 97-109; D ERS ., Aktenstücke (Anm. 2); D ERS ., Medizinalwesen (Anm. 40), S. 120. 44 J. E. W ETZLER , Medizinalwesen (Anm. 40), S. 3-13. 45 J. E. W ETZLER , Medizinalwesen (Anm. 40), S. 19. 46 Verordnung vom 10.4.1804, in: Regierungsblatt für die Kurpfalzbaierische Provinz in Schwaben. XVII. Stück vom 28.4.1804, Sp. 289-294. Zur weiteren Entwicklung der behördlichen Erfassung vgl. H ILDEGARD L ORENZ , Geschichte der amtlichen Medizinalstatistik in Bayern im 19. Jahrhundert, in: Bayern in Zahlen 1 (2006), S. 13-28. Die auf der Grundlage der Einsendungen erstellte tabellarische Übersicht vermerkt 6.812 geimpfte Personen; Übersicht (Anm. 36), bes. Sp. 680. <?page no="382"?> W OL FGANG P ETZ 382 Kampf gegen die Pocken sollten Zahlen empirische Begründungen liefern und eine Kontrolle der Wirksamkeit aller Maßnahmen ermöglichen. Geistlichen und Behörden wurde die Registrierung der Impflinge und der blatterfähigen Subjekte (ungeimpfte Kinder, die die Pockenkrankheit nicht durchgemacht hatten) zur Auflage gemacht. Ergänzend wurden die Pfarrer auch zur Anzeige epidemischer Krankheiten, vor allem der Blattern, verpflichtet. 47 Das Verbot der Einimpfung mit Menschenpocken, also der Variolation, folgte im selben Jahr. 48 Für das Impfpersonal hatte es zunächst keinerlei Beschränkungen gegeben. Neben studierten Ärzten impften meist Chirurgen oder Ortsbader, manchmal auch ein Student oder Apotheker. Es war sogar möglich, dass beispielsweise in Gundremmingen ein Metzger seine Kinder selbst impfte. 49 Nach negativen Erfahrungen mit ungeübtem Personal befürchtete die Regierung, dass die Impfung generell in Misskredit geraten könne. Darum wurde nun bei Strafandrohung bestimmt, dass in Zukunft nur ordentliche Ärzte und solche Wundärzte und Geistliche, die eine Prüfung vor der Medizinalsektion in Ulm abgelegt hatten, zur Durchführung der Vakzination berechtigt seien. Die Wundärzte meldeten sich zahlreich für diese Aufgabe, die mit 15 kr. pro Kind vergütet wurde. Ihre Einbeziehung war nicht unumstritten. Die Regelung wurde vor allem mit dem Vertrauen begründet, das die Wundärzte in der Bevölkerung genossen: Die Landleute, und untere Klasse in den Städten seyen einmahl noch zu sehr an die Chirurgen, und zu wenig an die Ärzte gewöhnt, auch könne sich ein fähiger Chirurg die Kenntnisse zur Vaccination leicht erwerben. 50 Von erheblicher organisatorischer Bedeutung war die Einrichtung von Schutzblatternanstalten, um die Versorgung mit Impfstoff zu gewährleisten. Die Impfung mit Lymphe fand in dieser Zeit vor allem von Impfling zu Impfling statt, eine Methode, die einen kontinuierlichen Zustrom von Impfwilligen voraussetzte. Als erstes wurde 1804 in Ulm eine Schutzblatternanstalt eingerichtet, zunächst im Waisenhaus, dann in der sogenannten Unteren Stube der Landesdirektion. Im Folgejahr musste die Anstalt zwar aus Mangel an Impfstoff schließen; eine weitere wurde jedoch in Memmingen eröffnet und dem Stadtarzt Ehrhart unterstellt. 51 1807 wurde 47 Verordnung vom 24.4.1804, abgedruckt bei J. E. W ETZLER , Aktenstücke (Anm. 2), S. 41f. 48 Verbot vom 23.10.1804, abgedruckt bei J. E. W ETZLER , Aktenstücke (Anm. 2), S. 47f. 49 Übersicht (Anm. 36), bes. Sp. 592. 50 Verordnung vom 10.4.1804, in: Regierungsblatt für die Kurpfalzbaierische Provinz in Schwaben XVII. Stück vom 28.4.1804, Sp. 289-294; StA Augsburg, Regierungsprotokolle 1972: Medicinalsessionsprotokoll vom 14.8.1804 (nach einem Einspruch von Dr. Johannes Merk in Ravensburg). 51 Bekanntmachungen vom 6.11.1804, 8.5.1805 und 12.5.1805, abgedruckt bei J. E. W ETZLER , Aktenstücke (Anm. 2), S. 48, 60f.; StA Augsburg, Regierungsprotokolle 2029: Sessionsprotokoll I. Deputation II. Sektion vom 23.3.1807; Regierungsprotokolle 2037: Sessionsprotokoll I. Deputation II. Sektion vom 17.11.1807; Regierungsprotokolle 2002: Medicinalsessionsprotokoll vom 4.5.1805. <?page no="383"?> D IE E INFÜHR UNG DER P OC KEN S CHU T ZIM P FUNG 383 auch in Augsburg ein Impfungs-Institut eingerichtet. 52 Alle Impfärzte konnten von diesen Instituten Impfstoff beziehen, der mittels getränkter Baumwollfäden und versiegelt zwischen zwei hohl geschliffenen Glasplatten verschickt wurde. 53 Im wichtigen Punkt der Versorgung mit Impfmaterie besaß die Provinz Schwaben damit einen deutlichen Vorsprung vor dem benachbarten Württemberg, wo man erst 1814 zur Gründung solcher staatlicher Anstalten schritt. 54 Die Ergebnisse der Umfrage von 1804 untermauerte die Vermutung Wetzlers, die Kosten seien das größte Hindernis für eine flächendeckende Durchsetzung der Vakzination. 55 In Ulm hatte man zu dieser Zeit bereits die unentgeltliche Impfung eingeführt, zunächst auf Antrag in Fällen der Bedürftigkeit, die vom zuständigen Pfarrer bestätigt werden mussten. In der Schutzblatternanstalt erhielten die Kinder später sogar eine kleine Geldprämie. 56 1805 wurden für ganz Schwaben die Kostenfreiheit und die Gabe eines Geschenks von 24 kr. bestätigt; die Auslagen wurden den örtlichen Stiftungen auferlegt. 57 In einer Weisung an alle Impfärzte vom selben Jahr wurden die Vorgaben für die Impfung noch einmal präzisiert, um Fehlschläge zu verhindern, die den Ruf der Impfmethode gefährden konnten; zudem wurde das Ausstellen von Impfzeugnissen verpflichtend. 58 Die territorialen Zugewinne, die sich durch den Preßburger Frieden und die Rheinische Bundesakte ergaben, bedeuteten in der Folge eine enorme Herausforderung, eröffneten aber auch neue Chancen. Insbesondere in den ehemals österreichischen Gebieten war der Rückstand gegenüber dem übrigen Schwaben beträchtlich und erforderte große Anstrengungen. In Vorarlberg, aber auch in den neu eingerichteten Landgerichten Günzburg und Tettnang, wurden 1807 mehr Kinder geimpft als im gesamten Zeitraum zuvor. 59 Insgesamt sah sich die Mittelbehörde genötigt, 52 Bekanntmachung vom 23.3.1807, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt XV. Stück vom 11.4.1807, Sp. 575; V